Max Weber-Gesamtausgabe, Band I/6: Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums: Schriften und Reden 1893-1908 3161488008, 9783161488009

Dieser Band enthalt die zwischen 1893 und 1908 entstandenen Arbeiten Max Webers zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte de

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Max Weber-Gesamtausgabe, Band I/6: Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums: Schriften und Reden 1893-1908
 3161488008, 9783161488009

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Siglen, Zeichen, Abkürzungen
Einleitung
Schriften und Reden
[Rezension von:] Silvio Perozzi, Perpetua causa nelle servitù prediali romane
Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur
Agrarverhältnisse im Altertum (1. und 2. Fassung)
Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts
Agrarverhältnisse im Altertum (3. Fassung)
Kapitalismus im Altertum
Agrargeschichte. Altertum
Verzeichnisse und Register
Personenverzeichnis
Glossar
Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur
Quellenregister
Personenregister
Sachregister
Seitenkonkordanzen
Aufbau und Editionsregeln der Max Weber-Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden
Bandfolge der Abteilung II: Briefe
Bandfolge der Abteilung III: Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften

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Max Weber Gesamtausgabe Im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Herausgegeben von

Horst Baier, Gangolf Hübinger, M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen t, Wolfgang Schluchter, Johannes Winckelmann t Abteilung I: Schriften und Reden Band 6

J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen

Max Weber Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums Schriften und Reden 1893 -1908

Herausgegeben von

Jürgen Deininger

J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen

Redaktion: Karl-Ludwig Ay - Ursula Bube - Edith Hanke Die Herausgeberarbeiten wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, vom Freistaat Bayern und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

ISBN 3-16-148800-8 Leinen ISBN-13 978-3-16-148800-9 Leinen ISBN 3-16-148802-4 Hldr ISBN-13 978-3-16-148802-3 Hldr 978-3-16-158124-3 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2006 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde gesetzt und gedruckt von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier. Den Einband besorgte die Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

VII

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

XIII

Einleitung

1 Schriften und Reden

Rezension von: Silvio Perozzi, Perpetua causa nelle servitù prediali romane Editorischer Bericht Text

71 76

Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur Editorischer Bericht Anhang zum Editorischen Bericht Text

82 90 99

Agrarverhältnisse im Altertum (1. und 2. Fassung) Editorischer Bericht Anhang zum Editorischen Bericht Text

128 141 146

Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts Editorischer Bericht Text

228 240

Agrarverhältnisse im Altertum (3. Fassung) Editorischer Bericht Text

300 320

Kapitalismus im Altertum Vortrag am 23. Februar 1908 in Heidelberg Editorischer Bericht Text

748 752

VI

Inhaltsverzeichnis

Agrargeschichte. Altertum Editorischer Bericht Text

754 758

Verzeichnisse und Register Personenverzeichnis

769

Glossar

802

Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur

841

Quellenregister

879

Personenregister

889

Sachregister

901

Seitenkonkordanzen

960

Aufbau und Editionsregeln der Max Weber-Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden 967 Bandfolge der Abteilung II: Briefe

976

Bandfolge der Abteilung III: Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften

977

Vorwort

In diesem Band der Max Weber-Gesamtausgabe werden insgesamt acht Studien Max Webers zum Altertum aus den Jahren 1 8 9 3 - 1 9 0 8 ediert, die bei allen z.T. erheblichen äußeren Unterschieden doch thematisch dicht miteinander zusammenhängen. Ihren nicht wegzudenkenden Ausgangspunkt bildete, materialmäßig wie in der charakteristischen Art der Fragestellungen, Webers „Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht" von 1891. Während die nur wenige Seiten umfassende Besprechung einer italienischen juristischen Abhandlung (1893) einer Spezialfrage der Grunddienstbarkeiten im römischen Bodenrecht galt und kaum mehr als eine Art nachträglicher Fußnote zur Römischen Agrargeschichte darstellte, vertiefte und erweiterte der berühmt gewordene Essay über die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur (1896) wichtige allgemeine Überlegungen Webers zum Altertum, deren Keime sich bereits vielfach in der „Römischen Agrargeschichte" finden. Die - kürzeren - ersten beiden Fassungen der „Agrarverhältnisse im Altertum" für das Handwörterbuch der Staatswissenschaften von 1897 und 1898 boten dann eine gezielte Ausweitung nicht nur der agrar-, sondern insgesamt der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Problematik der Antike zunächst auf Griechenland, dann auch auf den Alten Orient, während eine sechs Jahre später entstandene Studie der von Weber in seinen agrargeschichtlichen Untersuchungen bis dahin nur gestreiften germanischen Sozialverfassung der Zeit von Caesar und Tacitus galt. Das unbestrittene „opus magnum" der hier edierten Arbeiten Webers aber bildete mit Abstand die große dritte Fassung des Artikels „Agrarverhältnisse im Altertum" für das Handwörterbuch, die 1907/08 in wenigen Monaten auf der Grundlage der vorangegangenen Fassung von 1898 entstand und mit ihrem Reichtum an neuen Materialien und Aspekten den eindrucksvollen Höhepunkt von Max Webers Auseinandersetzung mit der antiken Welt als ganzer darstellt. Ein ebenfalls für das Handwörterbuch (ursprünglich bereits zusammen mit der ersten Fassung der „Agrarverhältnisse" geplanter) Artikel über den „Kolonat" blieb dagegen ungeschrieben; ein kurzer weiterer lexikalischer Beitrag sowie ein Vortrag, beide 1908 in unmittelbarem Anschluß an die „Agrarverhältnisse" verfaßt, brachten diesen gegenüber substantiell nichts Neues. Wissenschaftsgeschichtlich gehört Max Weber geltenden Arbeiten in den Zusammenhang ökonomischen und sozialhistorischen Interesses, ten Vorläufern wie Johann Karl Rodbertus gegen

mit seinen dem Altertum jenes neuen nationaldas sich nach vereinzelEnde des 19. und zu Be-

VIII

Vorwort

ginn des 20. Jahrhunderts auf die Antike richtete u n d das durch Namen wie - w e n n man sie nach ihrem Alter ordnet - Karl Bücher, Robert Pöhlmann, Eduard Meyer, Karl Julius Beloch u n d Ludo Moritz Hartmann repräsentiert wurde, aber a u c h durch Paul Guiraud in Frankreich, Henri Francotte in Belgien und als J ü n g s t e m von allen den Russen Michael Rostovtzeff, der später z u m b e d e u t e n d s t e n Sozial- u n d Wirtschaftshistoriker der Antike im 20. Jahrhundert w e r d e n sollte. Einen in vieler Hinsicht charakteristischen Ausd r u c k fand die neue Fragestellung in der vielzitierten, 1895 durch Eduard Meyer eröffneten, sich lange u n d in unterschiedlichen Formen fortsetzenden „Bücher-Meyer-Kontroverse" über die Grundstrukturen der antiken im Vergleich zur neuzeitlichen Wirtschaft. Für Max Weber, der v o m römischen Recht zur antiken Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte kam, g i n g es d a b e i u.a. um die A n w e n d u n g von modernen, d e m antiken Denken d u r c h a u s fremden analytischen Kategorien u n d Begriffen, etwa die Probleme von „Natural-" u n d „Geldwirtschaft", „Verkehrswirtschaft", d e n ö k o n o m i s c h e n G e g e n s a t z von Küste und Binnenland, um „Oikos" u n d „Markt", „Rente" u n d „Gewinn", u n d vor allem um die Frage n a c h der Existenz von „Kapitalismus" im Altertum u n d nach d e s s e n Gegenspielern, womit sich ein in vielem neuartiges Bild der Antike abzeichnete, ebensoweit entfernt von der traditionellen Fokussierung auf die politische G e s c h i c h t e wie der Sichtweise z.B. von J a k o b Burckhardts „Griechischer Kulturgeschichte". Freilich blieb die systematische sozial- u n d wirtschaftshistorische Erforschung des Altertums g e r a d e in D e u t s c h l a n d im g a n z e n von eher begrenzter B e d e u t u n g , w o b e i im Falle W e b e r s überdies charakteristisch erscheint, daß - ähnlich wie s c h o n die Römische A g r a r g e s c h i c h t e u n d mit alleiniger A u s n a h m e der erw ä h n t e n kleinen Rezension von 1893 - keine seiner e i n s c h l ä g i g e n A b h a n d lungen in einem altertumswissenschaftlichen Publikationsorgan bzw. Verlag erschien. Beeinflußt durch die politische Entwicklung in D e u t s c h l a n d wurde a u c h die antike Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Folgezeit, zumal nach d e m I. Weltkrieg, d u r c h die politische G e s c h i c h t e verstärkt in den Hint e r g r u n d g e d r ä n g t u n d trat ein deutlicher Wandel auf breiterer Front in dieser Hinsicht erst viel später, etwa seit d e n 60er Jahren d e s letzten Jahrhunderts, ein, womit d a n n erst wieder Max Webers w i s s e n s c h a f t s g e schichtliche Vorreiterrolle in seinen Schriften z u m Altertum klarer erkennbar wurde. Was die Stellung der in d i e s e m Band edierten Texte innerhalb von W e b e r s e i g e n e m Werk betrifft, so ist offenkundig, daß sie zunächst seinem Überg a n g von der Rechtswissenschaft in Berlin (Habilitation 1892) zur Nationalökonomie in Freiburg (1894) u n d Heidelberg (1897) e n t s p r a c h e n . Die Studie von 1904 über die g e r m a n i s c h e Sozialverfassung n a c h d e n literaris c h e n r ö m i s c h e n Quellen entstand in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Protestantischen Ethik und einem Teil der m e t h o d o l o g i s c h e n Arbeiten, stellte

Vorwort

IX

aber dennoch in der Hauptsache eine Fortsetzung der früheren agrarhistorischen Studien dar. Was die Anfang 1908 beendete letzte Fassung der „Agrarverhältnisse" betrifft, so entstand auch sie noch vor den .soziologischen' Schriften von „Wirtschaft und Gesellschaft", der Entdekkung des Charismas und der Herrschaftstypen sowie vor der Wirtschaftsethik der Weltreligionen, andererseits aber doch auch nach den methodologischen Schriften, der Protestantischen Ethik und den Rußlandstudien, so daß man fragen könnte, ob es sich bei ihnen um eine Art nicht gerade selbstverständlichen „Rückschritts" Webers in die nationalökonomische Periode seines Schaffens vor der Neuorientierung seit der Protestantischen Ethik handelt. Zu leicht wäre es freilich, eine Bestätigung dafür in Webers heftigen eigenen Klagen über die lästige - und doch geradezu im Übermaß erfüllte - Pflicht der Neubearbeitung des Artikels von 1898 finden zu wollen. Ganz abgesehen von dem innovativen Potential auch der älteren „historischen" Arbeiten steht immerhin noch fast am Schluß seines Gesamtwerks die Münchener Vorlesung von 1919/20, „Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte", und damit ein gewiß durch die .soziologischen' Perspektiven des vorangegangenen Jahrzehnts entscheidend bereichertes, aber doch zugleich, wie die „Agrarverhältnisse" von 1908, teilweise die nationalökonomisch-sozialgeschichtlichen Arbeiten vor der Protestantischen Ethik fortsetzendes Werk. Ebenso läßt aber auch die dritte Fassung der „Agrarverhältnisse" eine tiefgehende Zäsur gegenüber den früheren Arbeiten zur Antike erkennen, mit dem Kapitalismus im Altertum als einer jetzt zentralen Fragestellung, der Auseinandersetzung um ein idealtypisches Verständnis der antiken Wirtschaftsstrukturen wie dem Versuch einer typologischen Erfassung der politischen Strukturen des ganzen Altertums, jedoch auch z.B. der generellen Analyse der antiken „Polis" und ihrem Vergleich mit der Stadt des Mittelalters. Die Römische Agrargeschichte (MWG I/2) und der vorliegende Band zusammen enthalten alle Studien Max Webers zum Altertum bis zum Jahre 1908. Sein Interesse an der Antike endete damals jedoch keineswegs, auch wenn ihre Behandlung danach - auf den bis dahin gelegten Grundlagen in neuer Weise, und zwar nunmehr im Kontext vergleichender historischer bzw. soziologischer Analysen erfolgte, wie dies in erster Linie für „Die Stadt" (MWG I / 2 2 - 5 ) sowie andere Teile von „Wirtschaft und Gesellschaft", zumal für „Recht" (MWG I / 2 2 - 3 ) und „Herrschaft" (MWG I/22-4), gilt. Dazu kommt im Rahmen der wirtschaftsethischen Untersuchungen Webers „Das antike Judentum" (MWG 1/21), dem er sich zuerst in der dritten Fassung der „Agrarverhältnisse" zugewandt hatte. Im übrigen aber bleiben die „Agrarverhältnisse" dasjenige Werk Max Webers, das in allen drei Fassungen unter jeweils erweiterten und zugleich differenzierteren Fragestellungen stets das Altertum als ganzes in den Blick nahm.

X

Vorwort

In der Bandeinleitung wird versucht, die Beschäftigung Webers mit der Antike vom Abschluß seiner römischrechtlichen Habilitation bis zur letzten Version der „Agrarverhältnisse" zu dokumentieren. Vor allem sollten dabei die vielfachen unmittelbaren Zusammenhänge zwischen den veröffentlichten Texten Webers und seiner Vorlesungstätigkeit bis 1898, zumal Teilen seiner Hauptvorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie", verdeutlicht werden. Die hier vorliegenden Berührungen sind durch die viel Zeit in Anspruch nehmende Transkription der erhaltenen Vorlesungsnotizen Webers zunehmend klarer geworden, die künftig in der III. Abteilung der Gesamtausgabe, Band 1, ediert werden. In den Sacherläuterungen des Herausgebers wird zumal im Falle der in aller Regel keine Detailbelege bietenden Handwörterbuchartikel Wert auf die Erfassung von Quellen und wissenschaftlicher Literatur gelegt, die von Weber nur .indirekt' zitiert werden, auf denen seine Darlegungen jedoch erkennbar fußen. Der Ergänzung der Erläuterungen dient ein ausführliches Glossar der vielen von Weber verwendeten, aber oft nicht allgemein verständlichen altertumswissenschaftlichen Termini. Auch das Personen- und Quellenregister sowie das detaillierte Sachregister, dazu eine Synopse und eine Konkordanz zu den drei Fassungen der „Agrarverhältnisse" dürften zur besseren Erschließung der Texte beitragen. Ein Eingehen auf den jeweiligen gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussionsstand kann dagegen auch in diesem Fall naturgemäß nicht die Aufgabe einer historisch-kritischen Edition sein. Als „Glanzstücke" des vorliegenden Bandes können wohl besonders „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur" sowie die letzte Fassung der „Agrarverhältnisse" insgesamt, speziell auch deren Einleitung „Zur ökonomischen Theorie der antiken Staatenwelt" sowie das Schlußkapitel „Grundlagen der Entwickelung in der Kaiserzeit" mit der scharfsichtigen Gegenüberstellung von antiker „Polis" und der Stadt des europäischen Mittelalters gelten. Aber a u c h - b e i s p i e l s w e i s e - W e b e r s Überlegungen zum Alten Orient, zur athenischen Sklavenwirtschaft der .klassischen' Zeit wie zur älteren römischen Sozialgeschichte erscheinen auch heute noch lesenswert und immer wieder erhellend. Wie man sich in der gegenwärtigen und zukünftigen Forschung letztlich auch zu den „großen" Fragen Webers an die Alte Welt: „Kapitalismus" und „leiturgischer Staat", Sklaverei, Oikoswirtschaft, „Stromufer-" „Küsten-" und „Binnenlandskultur", „Grundherrschaft" in der Antike, „Idealtyp" und „Eigenart" des empirisch faßbaren geschichtlichen Objekts (und zum Altertum überhaupt als einem eigenen kulturhistorischen Ganzen mit teilweise speziellen „Kategorien") stellt: selbst nach teilweise mehr als einem Jahrhundert bleiben die antike .Wirtschaft und Gesellschaft' in den hier präsentierten Schriften Max Webers ein ebenso anregendes wie kaum zu erschöpfendes Thema. Der Abschluß des Bandes hat sich wesentlich länger hingezogen, als ursprünglich erwartet und angekündigt. Umso mehr freue ich mich, an dieser

Vorwort

XI

Stelle all jenen den ihnen gebührenden Dank abstatten zu können, die sich um seine Entstehung und Fertigstellung besonders verdient gemacht haben. Von den Hauptherausgebern der Max Weber-Gesamtausgabe weiß ich mich vor allem Horst Baier und M. Rainer Lepsius verbunden, deren Vertrauen und Ermutigung mir stets eine verläßliche Stütze waren. Als schmerzlich empfinde ich es, daß Wolfgang J. Mommsen, der mich seinerzeit für die Edition der altertumswissenschaftlichen Arbeiten Max Webers gewonnen hatte, das Erscheinen dieses Bandes nicht mehr erleben kann. Von den verschiedenen Arbeitsstellen der Max Weber-Gesamtausgabe habe ich stets großzügig und reibungslos alle benötigten Materialien erhalten. Wichtig und immer ergiebig war die Zusammenarbeit mit Manfred Schön (Düsseldorf), dem Kenner und Herausgeber der Briefe Max Webers, der mir jede Hilfe gewährt hat. Von besonderer Bedeutung war naturgemäß die vielfältige Unterstützung durch die erfahrene Münchener Generalredaktion der Gesamtausgabe für das Gelingen der Arbeit. Hier darf ich in erster Linie Dr. Karl-Ludwig Ay (der bereits die Edition der „Römischen Agrargeschichte" Max Webers betreut hatte), Dr. Edith Hanke und - in der sehr intensiven Schlußphase - Ursula Bube nennen. Frau Ingrid Pichler, die schon früher die akribische Textvergleichung zwischen der ersten und zweiten Fassung der „Agrarverhältnisse" auf sich genommen hatte, bin ich für das von ihr angefertigte Personenregister des Bandes verpflichtet. Thomas Gerhards, M.A. (Düsseldorf) gebührt Dank für die souveräne und engagierte Vorbereitung des Sachregisters für den Druck. Wichtiges beigetragen haben ferner Ilona Braune, M.A. als Assyriologin und Selke Eichler, M.A. als Ägyptologin, die im Anfangsstadium des Editionsprojekts und dank finanzieller Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft die dem Alten Orient gewidmeten Abschnitte der „Agrarverhältnisse" bearbeitet haben. Von den Mitarbeitern an der Universität Hamburg, die Arbeiten für diesen Band geleistet haben, kann ich hier stellvertretend nur Jan Huismann nennen, der sich insbesondere mit den Ägypten betreffenden Teilen der „Agrarverhältnisse" befaßt hat, sowie Andreas Schiller, M.A. (zeitweise ebenfalls von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert), der vor allem mit dem Leihverkehr und den zahlreichen bibliographischen Arbeiten betraut war. Ein besonderes Bedürfnis ist mir schließlich der Dank an den Verlag und den Verleger, Herrn Dr. h.c. Georg Siebeck, für die immer wieder bewiesene Geduld und das Entgegenkommen bei der langwierigen Herstellung des Bandes. Gar nicht abzuschätzen aber ist all das, was ich meiner Frau, Dr. Helga Deininger, für das Zustandekommen auch dieses zweiten Altertumsbandes der Max Weber-Gesamtausgabe verdanke. Hamburg, im Mai 2006

Jürgen Deininger

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

I [] I: :l () § % f

A 1, A 2, A 3 A 1 I, A 1 r, A 2 I, A 2 r a b 0 , , a ...a, b ... b

Seiten- oder Spaltenwechsel Hinzufügung des Editors Einschub Max Webers Von Max Weber gestrichene Textstelle Paragraph Prozent gestorben siehe Verswechsel, Zellenwechsel Indices der Anmerkungen Max Webers Indices der Anmerkungen des Edltors Siglen für die Textfassungen Max Webers In chronologischer Folge Seltenzählung der Textvorlagen linke oder rechte Spalte der Druckvorlage Indices für textkritische Anmerkungen Beginn und Ende von Varlanten oder Texteingriffen

a.a.O. Abh. Abt., Abth. a.D. äg.,ägypt. akkad. altschwed. a.M. Anm., Anmerk. a.o. Prof. Ap. Apr. Art. a.S. a.u.c. Aufl. Aug.

am angegebenen Ort Abhandlung Abteilung, Abtheilung außer Dienst ägyptisch akkadisch altschwedisch am Main Anmerkung außerordentlicher Professor Appius April Artikel an der Saale ab urbe condlta, nach Gründung der Stadt (Rom) Auflage August

BA Bd., Bde. Bearb. bes. bezw. BGU Bl. BSB bzw.

Bundesarchiv Band, Bände Bearbeiter besonders beziehungsweise Berliner griechische Urkunden Blatt Bayerische Staatsbibliothek beziehungsweise

/ >>, 2 \ 3> \ 2, 3 A, B

XIV

Siglen, Zeichen,

c. C. ca. cap. cf. Chr. C i e , Co., C o m p . cit. cos.

capitulum, caput (Kapitel) Gaius circa capitulum, caput (Kapitel) confer (vergleiche) Christus Compagnie, Company citata; - » D. [...] cit., I. [...] cit. Consul

D., Dig. D. [...] cit. dän. dergl., dgl. ders. Dez. d.Gr. d.h. Dr. Dr. h. c. Dr. iur. Dr. med. Dr. phil. Dr. rer. pol. DSB dt. Dyn.

Digesta Digesta [...] citata (die zitierte Digestenstelle) dänisch dergleichen derselbe Dezember der Große das heißt Doktor Doctor honoris c a u s a Doctor iuris Doctor medicinae Doctor philosophiae Doctor rerum politicarum Deutsche Staatsbibliothek deutsch Dynastie

ebd. ed. engl. eod. etc. ev.

ebenda edidit, edited englisch e o d e m [loco] ( e b e n d a ) et cetera (und so weiter) eventuell

f. f., ff., fg. fasc., Fasz. Febr. Fn. fr. frz.

für folgende fascicoio, fascicule, Faszikel Februar Fußnote fragmentum (Fragment) französisch

g, g. gall. geb. german. Geschichtsw. gest. ggf. gr., griech. GStA

Gramm gallisch geboren, geborene germanistisch Geschichtswissenschaft gestorben gegebenenfalls griechisch Geheimes Staatsarchiv

Abkürzungen

Siglen, Zeichen,

h. ha Handelsgesellschaften HdStW 1 , 2 , 3

Abkürzungen

XV

hebr. Held. Hs. hg. Hg. Honorarprof. h.v.

heute Hektar -> Weber, Handelsgesellschaften Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. von Johannes Conrad, Ludwig Elster, Wilhelm Lexis, Edgar Loening, 1. Aufl., 6 Bände und 2 Supplementbände. - Jena: Gustav Fischer 1890-1897; 2. Aufl., 7 Bände, ebd. 1898-1901; 3. Aufl., 8 Bände, ebd. 1909-1911 hebräisch Heidelberger Handschriftensammlung herausgegeben Herausgeber Honorarprofessor hoc verbo, hac voce (unter diesem [Stich-]Wort)

i.B., i.Br. i.E. IHK

im Breisgau im Elsaß Industrie- und Handelskammer

Jahrh., Jhdt. Jan. JE

Jg. Jtsd. jun.

Jahrhundert Januar The Jewish Encyclopedia. A descriptive record of the history, religion, literature, and customs of the Jewish people from the earliest times to the present day, hg. von Isidore Singer, 12 vols.-New York, London: Funk and Wagnalls 1901-1906 Jahrgang Jahrtausend junior

kaiserl. Kap. kgl., königl. Korr.

kaiserlich Kapitel königlich Korrespondenz

I, I.

I.[...]cit. L. lat. I.e.

Lie. M. M. m.a.W. m.E. mittelhochdt. m.W. MWG MWS

Liter lex (Gesetz; Juristenexzerpt in den Digesten) lex citata (das zitierte Digestenexzerpt) Lucius lateinisch loco citato (am angeführten Ort) Licentiatus Marcus Mark mit anderen Worten meines Erachtens mittelhochdeutsch meines Wissens Max Weber-Gesamtausgabe (die bibliographischen Angaben zu den Einzelbänden finden sich unten, S. 970-972) Max Weber-Studienausgabe

XVI

Siglen, Zeichen,

NB n.Chr. N.F. NI. N.N. No., Nr., h Nov. n.s., N.S.

nota bene (wohlgemerkt) nach Christus Neue Folge Nachlaß normen nescio (Name unbekannt) Nummer November nuova serie, nouvelle sèrie, New Series

o.J. Okt. o.Prof.

ohne Jahresangabe Oktober ordentlicher Professor

P. P. PK

pagina (Seite) Publius Preußischer Kulturbesitz pergite (und so weiter) principium (Anfang einer lex in den Digesten) Privatdozent Professor

PPpr. Priv.-Doz. Prof. p.u.c. Q.

Abkürzungen

post urbem conditam (nach Gründung der Stadt [Rom]) Quintus

R RE

Rückseite Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, hg. von Georg Wissowa, Bände 1,1-6,1 (Aal-Eutychos). - Stuttgart: J. B. Metzler 1893-1907 Rechtsgeschichte Rechtsgesch. Repertorium Rep. respective resp. RGG1 Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 5 Bände, 1. Aufl. -Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1909-1913 Römische Agrargeschichte -»Weber, Römische Agrargeschichte s. S. sächs. SC seil. sen. Sept. Sing. Sit v.v. s.o. sog. Sp. spez. Sr. st.

siehe Seite sächsisch senatus consultum (Senatsbeschluß) scilicet (nämlich) senior (der Ältere) September Singular sit venia verbo (Bitte um Verzeihung für das Wort) siehe oben sogenannt Spalte speziell Seiner stündig

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

XVII

s.u. sum. sup. s.v. s.v.v. s.Z.

siehe unten sumerisch supra(oben) sub verbo, sub voce (unter dem [Stich-]Wort) Sit venia verbo (Bitte um Verzeihung für das Wort) seinerzeit

t. T. TH TL tit., Tit. Tl.

tome Titus Technische Hochschule Tiberius titulus (Einteilung von juristischen Werken, insbesondere der einzelnen Bücher der Digesten) Transliteration

u. u.a. UB u. dgl. Univ. u.ö. usf. u.s.w., usw.

und und andere, und anderswo, unter anderem Universitätsbibliothek und dergleichen Universität, university und öfter und so fort und so weiter

v. VA v.Chr. vergl., vgl. VfSp vol., vols. vv. VWSG

von Verlagsarchiv vor Christus vergleiche Verein für Sozialpolitik volume, volumes verba, voces (die Worte) Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Weber, Marianne, Lebensbild

Weber, Marianne, Max Weber. Ein Lebensbild. - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1926 (Nachdruck = 3. Aufl. Tübingen 1984) Weber, Max, Agrarverhältnisse im Altertum, in: HdStW 1 , 2. Supplementband 1897, S. 1 - 1 8 ; ders., Agrargeschichte. I. Agrarverhältnisse im Altertum, In: HdStW 2 , Band 1, 1898, S. 57-85; dass., in: HdStW 3 , Band 3, 1909, S. 5 2 - 1 8 8 Weber, Max, Agrarrecht, Agrargeschichte, Agrarpolitik. Vorlesungen 1894-1899, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 31, Band 2 (MWG III/5) Weber, Max, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, Vorlesung 1894-1898, Deponat Max Weber, BSB München, Ana 446, OM 3 (= M, Blattzählung) und GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 31, Band 1 (= B, Band- und Blattzählung) (MWG 111/1) Weber, Max, Börsengesetz, in: HdStW 1 , 2. Supplementband, 1897, S. 2 2 2 - 2 4 6 (MWG I/5, S. 791-869)

Weber, AgrarVerhältnisse 1 , 2 , 3 Weber, Agrarvorlesungen Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie Weber, Börsengesetz

XVIII

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

Weber, Börsenwesen

WS

Weber, Max, Börsenwesen. (Die Vorschläge der Börsenenquetekommission.), in: HdStW 1 ,1. Supplementband, 1895, S. 241 - 2 5 2 (MWG I/5, S. 558-589) Weber, Max, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach südeuropäischen Quellen. - Stuttgart: Ferdinand E n k e l 889 (MWG 1/1) Weber, Max, Jugendbriefe. - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1936 (MWG 11/1-2) Weber, Max, Die protestantische Ethik und der „Geist" des Kapitalismus. I. Das Problem, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 20, Heft 1, 1904, S. 1 - 5 4 ; II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: ebd., Band 21, Heft 1, 1905, S. 1 - 1 1 0 (MWG I/9) Weber, Max, [Rezension von:] Lotmar, Philipp, Der Arbeitsvertrag. Nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches. - 1. Band, Leipzig: Duncker & Humblot, 1902, in: Archiv für sociale Gesetzgebung und Statistik, Band 17, Heft 3, 1902, S. 7 2 3 - 7 3 4 (MWG I/8, S. 3 7 - 6 1 ) Weber, Max, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. - Stuttgart: Ferdinand Enke 1891 (MWG I/2, S. 291-361; MWS I/2, S. 7 - 1 5 8 ) Weber, Max, Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie. (1898). Nachdruck. - T ü b i n g e n : J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1990 (MWG 111/1) Wintersemester

Z. z.B. Zeitschr. z.T. z.Z.

Zeile zum Beispiel Zeitschrift zum Teil zur Zeit

Weber, Handelsgesellschaften Weber, Jugendbriefe Weber, Protestantische Ethik

Weber, Rezension Lotmar, Der Arbeitsvertrag Weber, Römische Agrargeschichte Weber, VorlesungsGrundriß

Einleitung

I. Max Weber und das Altertum 1 8 9 3 - 1 9 0 8 , S. 1 - II. Von der „Römischen Agrargeschichte" zur .ökonomischen Deutung der antiken Geschichte': Die „Sozialen Gründe" und die ersten beiden Fassungen der „Agrarverhältnisse" ( 1 8 9 2 - 1898), S. 6 - III. Vom Verzicht auf die Vorlesungstätigkeit bis zur „altgermanischen Sozialverfassung" ( 1 8 9 9 1904), S. 30 - IV. Die dritte Fassung der „Agrarverhältnisse": Polls, Kapitalismus und Jeiturglscher' Staat des Altertums ( 1 9 0 7 - 1908), S. 34 - V. Die „Agrarverhältnisse" von 1908 und Ihre Rezeption, S. 57 - VI. Zur Anordnung und Edition der Texte in diesem Band, S. 65

I. Max Weber und das Altertum

1893-1908

Unter dem Titel „Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums. Schriften und Reden 1893-1908" werden in diesem Band der Max Weber-Gesamtausgabe die nach Webers „Römischer Agrargeschichte" von 1891 zwischen 1893 und 1908 entstandenen Schriften zur Antike vorgelegt. Dabei bildet die 1908 erschienene letzte Fassung der „Agrarverhältnisse im Altertum" aus der 3. Auflage des „Handwörterbuchs der Staatswissenschaften" 1 zweifellos den bei weitem gewichtigsten Teil. Darüber hinaus handelt es sich bei den hier edierten Texten um die Rezension einer italienischen Untersuchung über eine spezielle Frage des römischen Bodenrechts aus dem Jahr 1893, 2 den besonders bekannt gewordenen, auf einem .populären Vortrag' beruhenden und 1896 erschienenen Aufsatz „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur", 3 ferner um die ersten beiden Fassungen des HandwörterbuchArtikels über die „Agrarverhältnisse im Altertum" von 1897 bzw. 1898, 4 des weiteren um einen 1904, zwischen der zweiten und dritten Fassung der „Agrarverhältnisse", veröffentlichten Aufsatz zur Kontroverse über die sozialen Verhältnisse bei den Germanen in der Zeit von Caesar und Tacitus 5 sowie einen kurzen Artikel „Agrargeschichte Im Altertum" für das evangelische Handwörterbuch „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" (1908). 6 Dazu tritt schließlich ein aus nur drei Sätzen bestehendes 1 2 3 4 5 6

Weber, Weber, Weber, Weber, Weber, Weber,

Agrarverhältnisse 3 , unten, S. 320-747. Perozzl, unten, S. 7 6 - 8 1 . Soziale Gründe, unten, S. 99-127. Agrarverhältnisse 1 , 2 , unten, S. 146-227. Streit, unten, S. 240-299. Agrargeschichte Im Altertum, unten, S. 758-765.

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Kurzprotokoll Max W e b e r s über einen eigenen, nicht veröffentlichten Heid e l b e r g e r Vortrag im Eranos-Kreis aus d e m Jahre 1908, „Kapitalismus im Altertum". 7 Der innere Z u s a m m e n h a n g der Texte ist im g a n z e n sehr viel enger, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Die relativ kurze, fast rein rechtssystematische B e s p r e c h u n g des Werkes von Silvio Perozzi, die den B a n d in der c h r o n o l o g i s c h e n Reihenfolge eröffnet, paßt freilich nur, w e n n man sie als eine Art Exkurs zur „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " gelten läßt, unter den Gesamttitel. A u c h ist es für nahezu alle hier edierten altertumswissenschaftlichen Arbeiten charakteristisch, daß sie ihre Entstehung eher zufälligen äußeren Anstößen als dezidierten e i g e n e n Publikationsabsichten Webers verdanken. Dies gilt für die B e s p r e c h u n g der Arbeit Perozzis nicht weniger als für den Vortrag über die „Sozialen G r ü n d e des U n t e r g a n g s der antiken Kultur", bei d e m a u c h die Veröffentlichung in der Zeitschrift „Die Wahrheit" offenbar vor allem auf Wunsch von deren H e r a u s g e b e r Christoph Schrempf erfolgte. Es gilt e b e n s o für d e n Aufsatz über die altgermanische Sozialverfassung, der u r s p r ü n g l i c h d u r c h die Einladung W e b e r s z u m .Kongreß der Wissenschaften und Künste' w ä h r e n d der Weltausstellung in St. Louis (USA) 1904 veranlaßt war, vielleicht a u c h für die „Agrarverhältnisse d e s Altertums" im Handwörterb u c h der Staatswissenschaften, für deren letzte Fassung sogar die zahlreichen a u s d r ü c k l i c h e n Klagen über die nur „anständigerweise" übern o m m e n e „Pflichtarbeit" überliefert sind. Es trifft ferner für den sehr k n a p p e n Artikel über die A g r a r g e s c h i c h t e des Altertums in „Religion in G e s c h i c h t e und G e g e n w a r t " zu, wo die Aufforderung d u r c h d e n Mithera u s g e b e r des Werkes, Oskar Siebeck, d o k u m e n t a r i s c h belegt ist, 8 und schließlich für W e b e r s Eranos-Vortrag von 1908. D o c h so heterogen und zufällig die Texte auf den ersten Blick anmuten mögen, zeigt sich bei näherer Betrachtung d o c h rasch ihr tatsächlicher innerer Z u s a m m e n h a n g , der durch die kontinuierliche Entwicklung von Webers Sicht auf die Antike dank der fortschreitenden Erweiterung seiner Frageperspektiven wie seines Begriffsapparates bestimmt ist. Den festen G r u n d dafür hatten in erster Linie die Ergebnisse der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " geschaffen. W ä h r e n d W e b e r s teilweise als Dissertation benutzte „Handelsgesellschaften" d e n A n f ä n g e n der Organisation des G e w e r b e s im Mittelalter an s ü d e u r o p ä i s c h e n Beispielen gegolten hatten, hatte die Habilitationsschrift von der U n t e r s u c h u n g der bodenrechtlichen Verhältnisse in Rom zu den sozialen und wirtschaftlichen A s p e k t e n von d e s s e n agrarischer Entwicklung geführt, i n s b e s o n d e r e

7 Weber, Kapitalismus im Altertum, unten, S.752f. 8 Vgl. unten, S.754.

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d e m Aufstieg der Sklavenwirtschaft und eines a u s g e s p r o c h e n e n agrarischen Kapitalismus wie auch zu d e s s e n Ende und Wandel zu Kolonenwirtschaft und Grundherrschaft. Max Webers H i n w e n d u n g zu umfangreichen neuen Themen, zunächst vor allem der zeitgenössischen Landarbeiterproblematik, brachte es in der f o l g e n d e n Zeit zwangsläufig mit sich, daß jedenfalls die Veröffentlichungen zum Altertum eine vergleichsweise diskontinuierliche A b folge aufweisen. Dies gilt für die Berliner Zeit 1 8 9 2 - 1 8 9 4 e b e n s o wie für die Zeit nach der Ü b e r n a h m e d e s Freiburger nationalökonomischen Lehrstuhls im Jahre 1894. D o c h blieb das Altertum vor allem in Webers Vorles u n g e n stets präsent. In den Berliner Jahren galt dies für das römische Recht einschließlich des Agrarrechts. Seit d e m Wechsel n a c h Freiburg, d . h . d e m Herbst 1894, war es dann die Wirtschaft des Altertums, die, s c h o n angesichts der in der Nationalökonomie noch allenthalben herrs c h e n d e n .historischen Schule', bei Weber zu einem festen Teil seiner Lehre wurde, insbesondere in seiner Hauptvorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie". Die bisherige Perspektive Webers v e r s c h o b sich d a d u r c h innerhalb des Altertums über Rom hinaus, und zwar zunächst auf die g r i e c h i s c h e Antike. A u c h trat nicht zuletzt dank der Rezeption des Nationalökonomen Karl Bücher eine Reihe neuer Gesichtspunkte g e g e n ü b e r der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " hinzu. Der Kontrast der antiken g e g e n ü b e r der mittelalterlich-neuzeitlichen Entwicklung verstärkte sich in Webers Sicht, w ä h r e n d der früher von Weber betonte, teilweise .moderne' Hintergrund der agrarischen Entwicklung Roms hinter ihrer Einordnung in einen mittelmeerisch-antiken Kontext zurücktrat. Der Vortrag über den U n t e r g a n g der antiken Kultur (1896) zeigte erstmals diesen neuen Rahmen, e b e n s o die Ende 1897 im zweiten S u p p l e m e n t b a n d der ersten Auflage des H a n d w ö r t e r b u c h s der Staatswissenschaften erschienene erste Fassung der „Agrarverhältnisse im Altertum". Weber war wohl über seine Arbeiten z u m Börsenwesen mit d e m 1889 auf Initiative des Verlegers Gustav Fischer in J e n a sowie der Nationalökonomen Johannes C o n r a d und L u d w i g Elster g e g r ü n d e t e n H a n d w ö r t e r b u c h in Verbindung g e k o m m e n . 9 Bereits in der 1898 erschienenen zweiten Auflage des H a n d w ö r t e r b u c h s erfolgte eine Ausweitung des Artikels a u c h auf den Alten Orient, u n g e a c h t e t der Tatsache, daß Weber bei den Quellentexten in d i e s e m Bereich auf Ü b e r s e t z u n g e n a n g e w i e s e n war. Es fehlt nicht an Hinweisen, daß er d a m a l s w e i t e r g e h e n d e Pläne a u c h hinsichtlich der Antike hatte, 1 0 d o c h erzwang bekanntermaßen seine fortschrei-

9 Vgl. unten, S. 129. 10 Vgl. unten, S.29f.; dazu 31 f.

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tende Erkrankung die vorläufige allgemeine Unterbrechung seiner Arbeiten. Max Weber hat diese Pläne nach dem allmählichen Abklingen der Krankheit (und der Aufgabe des Heidelberger Lehrstuhls) jedoch insoweit wieder aufgenommen, als er für den erwähnten Kongreß in St. Louis im Jahre 1904 zunächst auf Studien zur Agrarstruktur bei den Germanen aus der Zeit nicht lange vor dem Ausbruch der Krankheit zurückgreifen wollte, was dann zu einem lediglich gedruckten, längeren Aufsatz führte. Als dann drei Jahre später - inzwischen waren insbesondere der Objektivitätsaufsatz und andere methodologische Arbeiten, die „Protestantische Ethik" sowie die Rußland-Studien von 1906 erschienen - mit der Vorbereitung der dritten Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften die Überarbeitung des Artikels „Agrarverhältnisse im Altertum" anstand, hat sich Weber eine außergewöhnliche Arbeits- und Kraftleistung zugemutet, um anstelle der beiden kurzen früheren Fassungen, wenn auch im Kern an die zweite Fassung anknüpfend, in wenigen Monaten eine umfassende, einer eigenen Monographie gleichkommende Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Grundstrukturen des gesamten Altertums einschließlich des Alten Orients zu liefern. Auch wenn die Arbeit allein von ihrem äußeren Umfang her, dem nahezu Fünffachen der vorangegangenen Fassung, dem Rahmen des Handwörterbuchs gänzlich disproportional war, gewannen - bei aller Bedeutung der „Römischen Agrargeschichte" - erst durch sie Max Webers Studien zum Altertum einen gleichsam wissenschaftsgeschichtlichen Rang. Im Zentrum stand jetzt, wenn auch aus einer durchaus anderen Perspektive als in der „Protestantischen Ethik", die Frage nach den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ursachen der von der Neuzeit abweichenden Entwicklung des nach Weber bereits im Altertum vielfach auftretenden, aber immer wieder zusammengebrochenen Kapitalismus. Unmittelbar mit dieser Fragestellung hing auch der von Weber im Schlußkapitel des Artikels angestellte Vergleich zwischen der antiken und der mittelalterlichen Stadt zusammen. Als kleinere Nebenprodukte verbanden sich mit dieser Arbeit, die ursprünglich noch durch einen weiteren, jedoch am Ende nicht zustandegekommenen Artikel „Kolonat" ergänzt werden sollte, 11 der für „Religion in Geschichte und Gegenwart" verfaßte kurze Artikel über die Agrargeschichte des Altertums, in dem die Frage nach d e m antiken Kapitalismus nur am Rande erscheint, sowie der nicht publizierte, im Wortlaut auch nicht überlieferte Eranos-Vortrag, der speziell d e m Thema des Kapitalismus im Altertum galt.

11 Vgl. unten, S . 3 1 2 f .

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In den ganzen Arbeiten zum Altertum von 1892 bis 1908 spiegeln sich zugleich wesentliche äußere Etappen in Webers Entwicklung wider, der Beginn seiner akademischen Laufbahn als Dozent (1892) und außerordentlicher Professor der Rechte (1893) an der Berliner Universität, der Wechsel zur Nationalökonomie mit der Übernahme einer ordentlichen Professur zuerst in Freiburg (1894), dann in Heidelberg (1897). Es folgte die 1898 einsetzende Erkrankung, jenes anhaltende Erschöpfungssyndrom, das Weber veranlaßte, seine Professur zum 1. Oktober 1903 aufzugeben. Er war seither „ordentlicher Honorarprofessor" ohne Sitz und Stimme in der Fakultät und unterrichtete nicht mehr. In der danach einsetzenden neuen großen Schaffensperiode war Weber nicht mehr in der gleichen Weise wie zuvor an ein bestimmtes akademisches Fach gebunden. Während die Besprechung der Schrift von Perozzi noch dem Bereich des römischen Privatrechts verhaftet war, stehen sowohl der Freiburger Vortrag über den Untergang der antiken Kultur wie auch die „Agrarverhältnisse" in den beiden Fassungen von 1897 und 1898 ganz im Zeichen von Webers nationalökonomischem bzw. sozial- und wirtschaftshistorischem Interesse. Dieses hatte zwar bereits in fast allen Teilen der „Römischen Agrargeschichte" eine wichtige Rolle gespielt, trat aber jetzt gegenüber der juristischen Betrachtungsweise, wenn man von dem Rom gewidmeten, weitgehend aus der „Römischen Agrargeschichte" übernommenen Teil der „Agrarverhältnisse" absieht, stärker in den Vordergrund. Die dann nach der Krankheit verfaßte „altgermanische Sozialverfassung" steht zwar noch ganz im Konnex der agrarhistorischen Arbeiten der neunziger Jahre, läßt aber stellenweise doch deutlich das vertiefte methodologische Interesse Webers erkennen, wie es sich in einer Reihe von Arbeiten seiner neuen Schaffensphase seit 1903 ausprägte. Danach folgte jenes Werk, welches Webers eigentliches ,opus magnum' zum Altertum werden sollte, die dritte Fassung der „Agrarverhältnisse" von 1908 als umfassender, nicht zuletzt auch begrifflich-kategorial sorgfältig angelegter Strukturvergleich der wichtigsten Gesellschaften des Altertums und ihrer wirtschaftlichen Grundlagen vom Alten Orient bis zum römischen Reich unter dem Blickwinkel insbesondere von antiker „Polis", „Kapitalismus" und „leiturgischem" Staat. Wenn Weber danach - von der wichtigen Ausnahme des den religionssoziologischen Schriften zuzurechnenden „Antiken Judentums" abgesehen - keine ausschließlich dem Altertum gewidmete Arbeit mehr verfaßt hat, so offensichtlich nicht, weil er das Interesse an der Antike verloren hätte. Nur rückten bei ihm jetzt Kulturvergleich und systematische Gesellschaftsanalyse ins Zentrum und erscheint damit das Altertum, wie jeder Blick sei es in „Die Stadt", „Wirtschaft und Gesellschaft" oder die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen" zeigt, in neuen, größeren Zusammenhän-

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gen. Einen ersten systematischen Übergang dazu markiert bereits der Schlußteil der dritten Fassung der „Agrarverhältnisse" mit dem Vergleich zwischen der antiken und der mittelalterlichen Stadt, der bereits auf die wenige Jahre später entstandene Studie „Die Stadt" vorausweist. Damit, wie auch mit weiteren Forschungsansätzen, insbesondere der Konzeption des „Charisma", der Lehre von den .reinen' Herrschaftstypen und der Bedeutung der Religion für die Wirtschaftsethik, stieß Weber in neue Bereiche gegenüber den bis 1908 verfaßten sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Studien zum Altertum vor. Man könnte die Frage stellen, warum er nach der „Protestantischen Ethik" nicht auch die antike Gesellschaft und den dort von ihm konstatierten Kapitalismus auf seine religiösen Zusammenhänge hin untersucht hat, so wie er dem Thema auch in den späteren Studien zu Konfuzianismus und Taoismus sowie Hinduismus und Buddhismus vorrangig vom religiösen Aspekt aus nachging, während er es in den „Agrarverhältnissen" im Anschluß an seine früheren Studien in diesem Bereich so gut wie ausschließlich von der Analyse der ökonomischen und sozialen Verhältnisse aus verfolgte. Teile der Antwort 1 2 liegen zweifellos in dem vorgegebenen Thema der „Agrarverhältnisse", in der notwendigen unmittelbaren Anknüpfung an die vorangegangene Fassung, aber vielleicht auch in der durch die vielfältigen Formen und Überlieferungen des Altertums gebotenen Möglichkeiten der Entwicklung und Erprobung eines universellen Begriffsinstrumentariums für die verschiedensten Gesellschafts-, Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen.

II. Von der „Römischen Agrargeschichte" zur,ökonomischen Deutung der antiken Geschichte': Die „Sozialen Gründe" und die ersten beiden Fassungen der „Agrarverhältnisse" (1892- 1898) Nach der am 1. Februar 1892 abgeschlossenen Habilitation für „Römisches (Staats- und Privat-)Recht und Handelsrecht" 1 3 war Max Weber zunächst als Privatdozent für diese Fächer tätig, bis er noch im November 1893 zum außerordentlichen Professor der Rechte ernannt wurde. Dementsprechend hielt er in dieser Zeit auch mehrere Lehrveranstaltungen zum römischen Recht ab. Im Sommersemester 1892, Webers erstem

12 Vgl. auch die briefliche Äußerung gegenüber Carl Neumann im Jahre 1898 (unten, S.24). Die knappen Ausführungen z.B. über die Entstehung einer .weltlichen Kultur' in Griechenland (im Anschluß an Eduard Meyer und Paul Stengel; unten, S. 5 0 4 - 5 0 6 ) ändern daran nichts. 13 Zu Webers Habilitationsverfahren aufgrund der nachträglich zugänglich gewordenen Fakultätsakten siehe die Studienausgabe der Römischen Agrargeschichte, MWS I/2, S. 193-196, sowie die Bandeinleitung zu MWG 1/1.

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Semester als Universitätsdozent, ist neben einem „Exegeticum" zu römischen Rechtsquellen ein offenbar zweistündiges „Privatkolleg" mit dem für Weber bezeichnenden Titel „Römisches Sachenrecht auf historischer und wirthschaftlicher Grundlage" zu nennen. 1 4 In einem Brief vom 28. April 1892 an den Onkel Hermann Baumgarten klagte Max Weber über den vergleichsweise hohen Zeitaufwand für die Vorbereitung der Lehrveranstaltungen und faßte die Umwandlung der Vorlesung in ein „Conversatorium" ins Auge. 1 5 Was speziell die römische Agrargeschichte betrifft, so kündigte Weber im selben Brief einen „Feldzug" gegen die ihm „schon erstandenen und noch erstehenden Kritiker" an, „voran Mommsen" und „dessen sachlich sehr ablehnende, persönlich recht freundliche Auseinandersetzung" mit dem Buch im „Hermes", die ihm „Veranlassung zu eingehender Opposition" biete. 16 Aus diesem „Feldzug" sollte freilich nichts werden, zumal Weber damals bereits die Mitarbeit an der Landarbeiterenquete des Vereins für Socialpolitik übernommen hatte. Auch nachdem sein umfangreicher Band über das ostelbische Deutschland bereits Ende 1892 erschienen war, 17 beherrschten die zeitgenössischen Agrarfragen seine Veröffentlichungen in den folgenden Jahren nahezu ausschließlich, so daß das Altertum demgegenüber weit zurücktrat. Andererseits war jedoch charakteristisch, daß auch in Webers agrarpolitischen Schriften aus den Jahren 1 8 9 2 - 1 8 9 4 immer wieder einzelne Erkenntnisse der „Römischen Agrargeschichte", insbesondere zu den „Sklavenkasernen", zum Vergleich herangezogen werden. 1 8 Insgesamt vernachlässigte Weber über den Agrarfragen der Gegenwart das Altertum keineswegs. So hielt er im Wintersemester 1892/93 eine vierstündige Vorlesung zur Geschichte des römischen Rechts. 1 9 14 Vgl. Verzeichniß der Vorlesungen, welche auf der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Sommer-Semester vom 19. April bis 15. August 1892 gehalten werden. Berlin 1892, S.3f.; Aufzeichnungen dazu sind nicht überliefert. 15 Brief Max Webers an Hermann Baumgarten vom 28. Apr. 1892, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 7, Bl. 5 9 - 6 2 , Zitate: Bl. 60 (MWG II/2); vgl. Weber, Jugendbriefe, S. 3 4 3 - 3 4 7 (ebd., S.343, irrtümlich auf den 18. April datiert). 16 Gemeint ist Mommsen, Zum römischen Bodenrecht. 17 Weber, Landarbeiter. 18 Vgl. Weber, Max, „Privatenqueten" über die Lage der Landarbeiter, in: MWG I/4, S. 71 - 1 0 5 , hier S.93 (Zerfall der [Sklaven-]Großbetriebe; 1892); ders., Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter, ebd., S. 120-153, hier S. 127-129 (.Ungesundheit' der römischen Sklavenwirtschaft; 1893); ders., Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, ebd., S. 3 6 2 - 4 6 2 (hinfort: Weber, Entwickelungstendenzen), hier S.381 f. sowie 397 (Sklavenkasernen; 1894). 19 Vgl. Verzeichniß der Vorlesungen, welche auf der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Winter-Semester vom 16. October 1892 bis 15. März 1893 gehalten werden. - Berlin 1892, S.3; Aufzeichnungen dazu sind nicht überliefert.

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B e z e i c h n e n d ist seine Reaktion auf einen von Lujo Brentano ü b e r s a n d t e n Aufsatz über die .konkreten G r u n d b e d i n g u n g e n ' der Volkswirtschaft, in d e m Brentano mit Entschiedenheit Rodbertus' Auffassung der Volkswirtschaft zurückwies, die, obwohl bereits vergessen, erst von A d o l p h Wagner wieder verbreitet w o r d e n sei. 2 0 In einem Brief v o m 25. Februar 1893 2 1 zeigte sich Weber „etwas überrascht" über Brentanos Heftigkeit der A b l e h n u n g von Rodbertus, falls diese auch die „historischen, speziell die auf Rom b e z ü g l i c h e n Arbeiten" von Rodbertus mit einschlösse (worüber sich d e m Text von Brentanos Artikel nichts e n t n e h m e n ließ). Mit einer unmittelbar an eine etwas knappere Formulierung in der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " erinnernden B e m e r k u n g fährt Weber d a n n fort: „So völlig falsch mir fast alle seine Aufstellungen a u c h hier scheinen, so g l a u b e ich d o c h , daß er die Sache selbst m ä c h t i g gefördert hat. Er schlägt meist vorbei, aber nicht ins Blaue, sondern trifft fast stets auf einen Punkt, der in der Tat central liegt, und ich kann wohl sagen, daß mir a u c h seine crassesten Einseitigkeiten und Construktionen meist u n g e m e i n f r u c h t b a r |:und anregend:] erschienen sind". 2 2 Rodbertus hatte für W e b e r s „Römis c h e A g r a r g e s c h i c h t e " und ü b e r h a u p t seine G r u n d a n s c h a u u n g e n von der Wirtschaft des Altertums eine b e d e u t s a m e Rolle gespielt 2 3 und sollte, nicht zuletzt in der W i e d e r b e l e b u n g seiner Theorie von der antiken Oikenwirtschaft durch Karl Bücher, 2 4 für Weber auch weiterhin von nicht zu unterschätzender B e d e u t u n g sein.

20 Vgl. Brentano, Volkswirthschaft, S. 77-148. Dort findet sich (S.92-101) eine kritische Auseinandersetzung mit der .sozialistisch-organischen Lehre' von Rodbertus und eine eingehende Bekämpfung der Gleichsetzung von sozialen Gebilden mit physischen Organismen. Das Leben in der Volkswirtschaft gehe von den einzelnen Teilen aus, und es sei unglücklich von Rodbertus, seine Postulate aus dem Wesen des Organismus abzuleiten. Seine .sozialistisch-organische' Auffassung sei lange vergessen gewesen und erst von der .polternden Reklame Adolph Wagners dem Publikum wieder aufgedrängt' worden (vgl. ebd., S. 100f.). Seither spiele seine Auffassung von der Volkswirtschaft wieder eine Rolle. 21 Brief Max Webers an Lujo Brentano vom 25. Febr. 1893, BA Koblenz, Nl. Brentano, Nr. 67 (MWG II/2); in Weber, Jugendbriefe, S.363, irrtümlich auf den 20. Februar datiert. 22 Weber, Entwickelungstendenzen (wie oben, S. 7, Anm. 18), S.364; ders., Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S.317. - Vgl. ferner Brentano, Volkswirthschaft, S. 101 — 148, zum Streit über den Ursprung der Gesellschaft sowie zur Promiskuität, wo es S. 125 heißt: „Vor Allem führt, wie schon Maine geltend gemacht hat, ein unterschiedsloser Geschlechtsverkehr bekanntlich zur Sterilität". Brentano zitiert hier Maine, Henry Sumner, Dissertations on Early Law and Custom, chiefly selected from lectures at Oxford. - London: John Murray 1883, S.204f. Dazu unten, S. 111 mit Anm. 58. 23 Vgl. dazu unten, S.226f. Exzerpte Webers zu Rodbertus, Entwickelung Roms, sind erhalten im GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr.31, Band 2, Bl. 211-212 und 338339. 24 Vgl. unten, S. 12-14.

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Wie weit der Ruf Webers als Erforscher des römischen Agrarwesens in diesen Jahren bereits reichte, läßt ein bezeichnender Brief des jungen russischen Historikers Wjatscheslaw Iwanowitsch Iwanow aus Moskau an seinen Freund Iwan Michajlowitsch Grews in St. Petersburg erkennen, der sich auf eine wissenschaftliche Karriere im Fach Alte Geschichte vorbereitete und im Sommer 1893 eine (dann nicht zustandegekommene) Reise nach Berlin plante. In diesem Brief, in dem es u.a. um mögliche Kontakte mit Mommsen und Otto Hirschfeld ging, bemerkt Iwanow, daß Grews keinerlei Schwierigkeit haben werde, „mit jüngeren Gelehrten, besonders Dessau und Weber", Bekanntschaft zu schließen. 25 An Publikationen Webers zum Altertum entstand in der Berliner Zeit lediglich im Sommer 1893 die eher kurze Besprechung der Schrift des italienischen Romanisten Silvio Perozzi zu einem Spezialproblem des römischen Bodenrechts, nämlich der Bedeutung einer „causa perpetua", d.h. einer .dauerhaften Grundlage' für die Konstituierung von Grunddienstbarkeiten, in der Savigny-Zeitschrift. 2 6 Weber verwies hier u.a. auf die Möglichkeit einer Begründung der Servituten bereits bei der ursprünglichen Assignation. Doch hat diese Arbeit keine praktisch faßbaren Spuren in den altertumswissenschaftlichen Teilen seines weiteren Werkes hinterlassen. Anders sah es in der Lehre aus. Im Wintersemester 1893/94 hielt Weber erneut eine vierstündige Vorlesung über die Geschichte des römischen Rechts. Ihr folgte im Sommer 1894 eine zweistündige Vorlesung „Agrarrecht und Agrargeschichte", die einen Überblick über die Entwicklung der wichtigsten .Agrarverfassungen' von der römischen Zeit bis in die Gegenwart vermittelte. Dazu ist das Stichwortmanuskript Webers erhalten. Ihm läßt sich entnehmen, daß § 1 , „Begriff und Methode des Agrarrechts", vor allem unter rechtlichen Gesichtspunkten, den allgemeinen Zügen der ältesten Entwicklung des Ackerbaus galt, wobei Weber, nach einem Hinweis auf den Ackerbau als „nur sporadische A[rbeit] des Nomaden" vor allem auf die mit dem „Moment der definitiven Ansiedlung" eintretenden Veränderungen, aber auch die Abfolge von Haus- und Stadtwirtschaft einging, ohne dies allerdings mit irgendwelchen konkreten historischen Verhältnissen in Verbindung zu bringen. 2 7 Damit, daß die

25 Bongard-Levin, Grigorij Michajlovic/Ljapustina, Elena Valer'evna, Vjaceslav Ivanov i dissertacija I.M. Grevsa po istorii rimskogo zemlevladenlja (Wjatscheslaw Iwanow und die Dissertation von I.M. Grews über die Geschichte des römischen Grundeigentums, russ.), in: Vestnik drevnej istorii 247, 2003, S. 1 7 8 - 2 0 9 , hier S. 183f. (hinfort: BongardLevin/Ljapustina, Iwanow). - Zu Grews vgl. auch unten, S. 39 f., Anm. 61. 26 Unten, S. 7 6 - 8 1 . O b die besondere Hervorhebung der „Wasserservituten" unten, S.369, einen Nachklang zu Perozzi darstellt, erscheint fraglich. 27 Weber, Agrarvorlesungen, Bl. 321 f.

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G e s a m t e n t w i c k l u n g im g e g e b e n e n Z u s a m m e n h a n g nur soweit von Bed e u t u n g sei, als eine „ p r a k t i s c h ] continuierl[iche] Entwicklung o d e r Einflüsse auf das g e l t e n d e |:deutsche:| R[echt] v o r h a n d e n " seien, begründete er am Schluß dieser Einleitung, warum er im f o l g e n d e n „rückwärts" bis z u m römischen Recht gehe. 2 8 D e m e n t s p r e c h e n d stellte er dann in § 2 u n d 3 die „römische Agrarverfassung" bzw. „Grundherrlichkeit und Gutswirtschaft bis zur Karolingerzeit" dar. Dabei hielt er sich, mit Ausn a h m e des k n a p p e n letzten Abschnitts über die Zeit von der Völkerwand e r u n g bis zu den Karolingern, in großem U m f a n g an die Ergebnisse seiner „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " . Ein Hinweis auf Mommsens B e s p r e c h u n g von 1892, 2 9 A n g a b e n zur Größe des u r s p r ü n g l i c h e n römis c h e n L a n d g e b i e t s (ager Romanus antiquus) 3 0 und w e n i g e andere Details g e h e n über das bereits in der Habilitationsschrift Dargelegte hinaus. Die Emanzipation der Plebejer b e s t a n d nach der hier v e r w e n d e t e n A u s d r u c k s w e i s e in der Beseitigung ihrer „feudalen" A b h ä n g i g k e i t . 3 1 A u c h hier fehlt nicht der Hinweis auf d e n in Rom durch die private Nutzung des ager p u b l i c u s entstandenen , a g r a r i s c h e n ] Capitalismus'. 3 2 Über d a s Ende des römischen Imperiums notierte Weber lapidar: „Zerfall des Reic h e s in Gutsbezirke".33 § 4 dieser Vorlesung galt, teilweise im Anschluß an Meitzen, Kelten u n d Slaven bis ins 19. Jahrhundert, § 5 der „ g e r m a nischen A g r a r v e r f a s s u n g " , w o b e i Weber zu Beginn s u m m a r i s c h als „älteste Nachrichten" einige Stellen aus Caesar und Tacitus nannte. 3 4 Die zum 1. Oktober 1894 erfolgte Berufung Max W e b e r s auf das Freiburger Ordinariat für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, das er als Nachfolger von Eugen von Philippovich übernahm, b e d e u t e t e eine merkliche Zäsur a u c h in seiner B e s c h ä f t i g u n g mit d e m Altertum. Zwar war ein H a u p t m e r k m a l bereits der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " Max Webers b e s o n d e r e s Interesse an d e n sozialen und ö k o n o m i s c h e n Z u s a m m e n h ä n g e n d e s Rechts 3 5 u n d hat er jedenfalls in Freiburg (anders

28 Weber, Agrarvorlesungen, Bl. 323. 29 Vgl. oben, S.7. 30 Vgl. unten, S.628, Anm.92. 31 Weber, Agrarvorlesungen, BL 328. „Rechtliche Emanzipation des Grundeigentums" bzw. „Sieg der von patrimonialen wie gemeinwirtschaftlichen Lasten freien Individualwirtschaft" hatten Webers Formulierungen in der „Römischen Agrargeschichte" gelautet (MWG I/2, S. 205). 32 Weber, Agrarvorlesungen, Bl. 336. 33 Ebd., Bl. 160. 34 Ebd., Bl. 311. 35 Bereits in seinem Habilitationsgesuch vom 22. Oktober 1891 hatte Weber ausdrücklich formuliert, es sei ihm darum gegangen, „einige Probleme der römischen Rechtsgeschichte unter Zuhilfenahme wirtschafts- und sozialhistorischer Gesichtspunkte zu behandeln" (MWS I/2, S. 194). In seiner Freiburger Antrittsvorlesung „Der Natio-

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als anschließend in H e i d e l b e r g ) noch einzelne juristische Lehrveranstalt u n g e n a b g e h a l t e n . 3 6 D o c h v e r m o c h t e dies nichts daran zu ändern, daß von jetzt an a u c h im Altertum die ö k o n o m i s c h e n Fragen g e g e n ü b e r den R e c h t s p r o b l e m e n bei ihm deutlich in den Vordergrund rückten. Praktisch a m wichtigsten für Webers weitere altertumswissenschaftliche Studien w u r d e d a b e i die große Vorlesung zur theoretischen Nationalökonomie, die er von seinem ersten Freiburger Semester im Winter 1894/95 bis z u m Sommersemester 1899 in Heidelberg insgesamt fünf Mal gehalten hat (im ersten Semester vier-, im Sommersemester 1897 sechs-, sonst stets fünfstündig), 3 7 wobei neben d e m umfangreichen Stichwortmaterial W e b e r s 3 8 ein gedruckter „Grundriß" für die Vorlesung von 1898 existiert. 3 9 So w e n i g bisher die g e n a u e zeitliche Z u o r d n u n g der einzelnen Manuskriptblätter geklärt w e r d e n konnte, wurde hier das Altertum d o c h offenbar von A n f a n g an mitbehandelt, und zwar jedenfalls nach d e m „Grundriß" von 1898 in einem Kapitel unter d e m für Webers n u n m e h r i g e volkswirtschaftliche Perspektive charakteristischen Titel: „Die ökonomische Entwicklung der antiken Küstenkultur". 4 0 Hier tritt dreierlei hervor: z u m einen die Tatsache, daß - zweifellos dank der „Römischen Agrargeschichte" - in dieser Vorlesung überhaupt das Altertum und zumal Rom eine relativ umfangreiche und a u c h für die d a m a l i g e Zeit kaum übliche e i n g e h e n d e B e r ü c k s i c h t i g u n g fanden, zum andern, daß d a b e i w i e d e r u m die eigenen Ergebnisse der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " - ganz ähnlich wie in der Berliner Vorlesung „Agrarrecht und A g r a r g e s c h i c h t e " von 1894 4 1 - eine H a u p t g r u n d l a g e bildeten, Weber aber jetzt a u c h G e w e r b e und Handel sowie (anders als dies in Berlin durch seine Venia g e b o t e n war) n e b e n Rom G r i e c h e n l a n d und später den Alten Orient mit e i n b e z o g ,

nalstaat und die Volkswirtschaftspolitik" von 1895 äußerte er sich grundsätzlich über das Vordringen der .ökonomischen Betrachtungsweise' in Rechts- und Geschichtswissenschaft (MWG I/4, S.561 f.). 36 Handelsrechtspraktikum, 2st., im Sommersemester 1895 und Sommersemester 1896; Geschichte des deutschen Rechts, 4st., im Wintersemester 1895/96; Deutsche Rechtsgeschichte, 5st., im Wintersemester 1896/97. 37 Vgl. dazu Weber, Marianne, Lebensbild, S. 241. Wintersemester 1894/95: „Allgemeine und theoretische Nationalökonomie", 4st.; Wintersemester 1895/96 sowie Sommersemester 1896: „Theoretische Nationalökonomie", 5st.; Sommersemester 1897 und 1898 (Heidelberg): „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie", 6- bzw. 5st.; Sommersemester 1899: „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie", 5st., jedoch krankheitshalber abgebrochen. 38 Vgl. Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie. 39 Vgl. Weber, Vorlesungs-Grundriß. 40 Ebd., S. 13 (9), wobei Weber im übrigen außer der „antiken Küstenkultur" auch den „Orient" betrachtete. Näheres vgl. unten, S. 136. 41 Oben, S. 10.

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und schließlich die besondere B e d e u t u n g der Arbeiten eines anderen Nationalökonomen für Webers Sicht der antiken Wirtschaft, nämlich d e s seit 1892 in Leipzig w i r k e n d e n Karl Bücher. Dieser, der selbst ursprünglich von der Klassischen Philologie her kam, hatte in mehreren, g e r a d e in jenen Jahren einsetzenden U n t e r s u c h u n g e n an den für Max Weber so wichtigen J o h a n n Karl Rodbertus und die von d i e s e m b e g r ü n d e t e Lehre von der Oikenwirtschaft der Antike a n g e k n ü p f t . 4 2 Als einflußreich erwiesen sich vor allem Büchers zuerst 1892 im H a n d w ö r t e r b u c h der Staatswissenschaften erschienene Artikel „Gewerbe", insbesondere aber das erstmals 1893 als Vortragssammlung publizierte, überaus erfolgreiche Werk „Die Entstehung der Volkswirtschaft" sowie ein Aufsatz von 1894 über das s o g e n a n n t e Maximalpreisedikt Diokletians von 301 n.Chr. 4 3 Was Bücher Max Weber damit vor allem bieten konnte, war eine systematisch b e g r ü n d e t e , spezifisch nationalökonomische Konzeption der Wirtschaft des Altertums. Unter Verweis auf die . b a h n b r e c h e n d e n Aufsätze' von Rodbertus aus d e n Jahren 1 8 6 5 - 1 8 6 7 hatte Bücher bereits in d e m Handwörterbuchartikel von 1892 erneut die g r u n d l e g e n d e Bedeutung der Oikenwirtschaft für die Antike betont. 4 4 In d e m ebenfalls mit „Die Entstehung der Volkswirtschaft" betitelten ersten Vortrag seines Buches, seiner erweiterten Karlsruher Antrittsvorlesung von 1890, hatte Bücher e n t s p r e c h e n d der Länge des Weges der wirtschaftlichen Güter v o m Produzenten z u m Konsumenten drei große Perioden der allgemeinen ö k o n o m i s c h e n Entwicklung postuliert, und zwar die g e s c h l o s s e n e Hausbzw. Oikenwirtschaft, die Stadt- und schließlich die Volkswirtschaft, die er jeweils ungefähr d e m Altertum und d e m frühen Mittelalter bis ca. 1000 n.Chr., d e m späteren Mittelalter sowie der Neuzeit zuordnete. 4 5 Zwar hatte Weber g e g e n Rodbertus' Auffassung der Oikenwirtschaft als quasi d u r c h g ä n g i g dominierender Struktur der Wirtschaft im g a n z e n Altertum s c h o n in der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " e n t s c h i e d e n Stellung b e z o g e n . 4 6 Er beharrte gleichwohl - wie a u c h in d e m erwähnten

42 Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft1, bes. S. 15, 23 (dort Verweis auf Rodbertus; vgl. noch ebd., S.7). Bereits 1874 ging Bücher von der „geschlossene^] Hauswirthschaft" in Rom aus: ders., Die Aufstände der unfreien Arbeiter 143-129 v.Chr. Frankfurt/M.: J.D. Sauerländer 1874 (hinfort: Bücher, Aufstände), S. 13 (ohne Nennung von Rodbertus). 43 Vgl. Bücher, Gewerbe 1 ; ders., Entstehung der Volkswirtschaft1; ders., Diokletianische Taxordnung. 44 Vgl. Bücher, Gewerbe 1 , S. 924-926. 45 Vgl. Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft1, S. 15f. (Die „Welt"wirtschaft sollte im wesentlichen der Zukunft vorbehalten bleiben.) - Aus Webers Handbibliothek ist Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft 2 (von 1898), erhalten (Max Weber-Arbeitsstelle der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). 46 Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S.317.

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Brief an Brentano aus d e m Jahre 1892 4 7 - auf der g r u n d l e g e n d e n Bed e u t u n g des R o d b e r t u s s c h e n Oiken-Modells für das Verständnis der speziellen ö k o n o m i s c h e n Entwicklung im Altertum u n d sah sich darin d u r c h Bücher offensichtlich bestätigt. So zeigen die Vorlesungsmanuskripte zum Altertum nicht zuletzt ein überaus starkes Insistieren auf der Relevanz der Sklaverei für die (Oiken-)Wirtschaft der (Küsten-)Städte, w o Weber - offenkundig nach Bücher - immer wieder die „große Billigkeit der Sklavenarbeit", 4 8 den Charakter des Krieges als „Sklavenjagd", 4 9 aber a u c h die w a c h s e n d e arbeitsteilige A n h ä u f u n g von Sklaven innerhalb des Oikos als charakteristische Art des „Fortschritts" im Altertum hervorhebt. 5 0 Nicht weniger wichtig waren für Weber außerdem Büchers Arbeiten zur Entwicklung d e s G e w e r b e s , wie dieser sie 1892 mit d e m g e n a n n t e n Artikel „ G e w e r b e " sowie 1893 d e m in der „Entstehung der Volkswirtschaft" enthaltenen Aufsatz „Die g e w e r b l i c h e n Betriebssysteme in ihrer g e s c h i c h t l i c h e n Entwickelung" - ursprünglich ein Dresdener Vortrag von 1892 - vorgelegt hatte. 5 1 Bücher trennte hier insgesamt fünf historisch aufeinander f o l g e n d e .Betriebssysteme', nämlich den .Hausfleiß', das .Lohnwerk', das .Handwerk', das .Verlagssystem' bzw. die .Hausindustrie' u n d schließlich die .Fabrik'. Insbesondere Büchers Trennung von „Lohn"- und „Preiswerk", d . h . der Bearbeitung der v o m K u n d e n gelieferten Rohstoffe g e g e n Lohn bzw. der Bearbeitung von im e i g e n e n Besitz b e f i n d l i c h e m Rohstoff für Kunden, ist für die B e s c h ä f t i g u n g Webers mit d e m antiken Gewerbe, wie allein schon die vielfache Verw e n d u n g dieser Begriffe in allen drei Fassungen der „Agrarverhältnisse" unter s t ä n d i g e m a u s d r ü c k l i c h e m Verweis auf Bücher zeigt, immer g r u n d l e g e n d geblieben. Ähnliches gilt für die von Bücher analysierten Struktureigentümlichkeiten der neuzeitlichen „Fabrik" g e g e n ü b e r den gew e r b l i c h e n Betrieben des Altertums. Aber auch - z . B . - Büchers wiederholte B e z u g n a h m e n auf das „Capitulare de vi II is" Karls des Großen als charakteristisches Dokument einer a u s g e b i l d e t e n frühmittelalterlichen

47 Vgl. oben, S.8. 48 So Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 89, sowie In fast gleichlautenden Formulierungen ebd., M 83, 91, 92, 97, 97R, 89R. 49 So ebd., M83; vgl. M83, 89R, 92: „Die überseeischen Kriege z[um] T[eil] (Sklavenkriege) Sklavenjagdenj,] cf. Bücher, Aufst[ände] der unfr[eien] Arbeiter"; ebd., M 97: „Sklaven-Zufuhr d[urch] Kriege". - Zur Herkunft beider Vorstellungen, der „Billigkeit" und der „Sklavenjagden", von Bücher vgl. auch unten, S. 105, Anm.33. 50 Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 83: „Daher Fortschritt d[urch] Menschenanhäufung in H[äusern] der Sklavenbesitzer"; ebd., M 89: „technischer Fortschritt u[nd] Arbeltstellung d[urch] Menschenanhäufung In großen Wirtschaften"; ebd. M 97: „unfreie] A[rbelts-]T[ellung,] begünstigt Anschwellen der Olken - Fortschritt nur In diesen^.] Sie technisch überlegen"; ebd.: „daher nur unfreie A[rbelts-]T[eilung]". 51 Vgl. Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft 1 , S. 79-118.

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Oikenwirtschaft h a b e n Weber wohl A n r e g u n g e n geliefert. 5 2 Schließlich spielten für Weber a u c h Büchers D a r l e g u n g e n z u m Handel in der Antike sowie z u m Problem der Naturalwirtschaft In der Spätantike in d e m Aufsatz über das Maxlmalprelsedikt Diokletians von 1894 eine wesentliche Rolle. 5 3 Die zahlreichen Veröffentlichungen Max Webers In den Jahren 1894 und 1895 waren, n e b e n der Freiburger Antrittsvorlesung „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik", g a n z ü b e r w i e g e n d den aktuellen Agrar- und Landarbeiterfragen sowie, seit Ende 1894, d e m B ö r s e n w e s e n g e w i d m e t , d e m a u c h Webers erster, 1895 erschienener Artikel In d e m für seine Arbeiten zum Altertum d a n n so wichtig g e w o r d e n e n „Handwörterb u c h der Staatswissenschaften" galt. 5 4 Was die Lehre betraf, so sind aus d e m Sommersemester 1895 zwei Vorlesungen zu nennen, nämlich die durch eine Nachschrift bekannte Vorlesung „Die d e u t s c h e Arbeiterfrage in Stadt und L a n d " 5 5 sowie die Vorlesung „Agrarpolitik". 5 6 In § 2 der „deutschen Arbeiterfrage" w u r d e n in allerdings erheblicher Kürze die allg e m e i n e Entwicklung von freier und unfreier Arbelt im Altertum sowie im Anschluß an Bücher H a u p t t y p e n der freien Arbeit (Störer, Heim- und Preis- bzw. Handwerker) skizziert; 5 7 im f o l g e n d e n § 3 wird ein kurzer Blick auf „Grundherrschaften" und „bäuerliche Gemeinschaften" als zwei Hauptformen der mittelalterlichen Wirtschaftsorganisation geworfen, wobei g a n z k n a p p a u c h auf die „altgermanische Markverfassung" eingeg a n g e n wird. 5 8 Bei der Vorlesung „Agrarpolitik" handelte es sich offensichtlich um eine Art N e u b e a r b e i t u n g von „Agrarrecht und A g r a r g e schichte" v o m S o m m e r s e m e s t e r 1894 in Berlin, wobei jetzt j e d o c h der g a n z e römische .Vorspann' wegfiel und allein die mittelalterllch-neuzeitllche Entwicklung mit einem kurzen Blick auf die g e r m a n i s c h e n Verhältnisse behandelt wurde, w ä h r e n d das Altertum allenfalls In einigen R a n d b e m e r k u n g e n über den römischen ager p u b l l c u s oder zur römischen Guts52 Vgl. unten, S. 113f„ 124f. 53 Bei Bücher, Diokletianische Taxordnung, findet sich auch z.B. S.684 eine charakteristische, heftige Polemik gegen Hugo Blümner wegen dessen Verwendung des Begriffs „Fabrik" für die Antike und die .Entdeckung' des modernen Fabrikarbeiters bereits im Altertum. Mit den Merkmalen der neuzeitlichen „Fabrik" befaßte sich Weber naturgemäß auch etwa In der „Allgemeinen (.theoretischen') Nationalökonomie", z.B. M 136, 138, 139. 54 Vgl. Weber, Börsenwesen. 55 Eine Nachschrift von unbekannter Hand befindet sich im Bestand Max WeberSchäfer, Deponat BSB München, Ana 446 (hinfort: Nachschrift „Arbeiterfrage"); die Aufzeichnungen von Webers Hand befinden sich Im GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 31, Band 5, Bl. 9 9 - 2 3 0 (MWG III/4). 56 Aufzeichnungen Max Webers befinden sich ebd., Nr.31, Band 2 (MWG III/5). 57 Vgl. die Nachschrift „Arbeiterfrage" (wie oben, Anm.55), S. 7 - 1 4 . 58 Ebd., S. 15f.

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herrschaft als Vorläufer der mittelalterlichen Grundherrschaft zur Sprache kam. Nichtsdestoweniger hatte Weber die Antike Immer mit im Blick. So find e n sich in einem Ende Oktober 1895 In Gießen gehaltenen Vortrag „Die B e d e u t u n g des Luxus" erneut charakteristische Seitenblicke auf die Antike. 5 9 Vor allem aber setzten seit 1896 neue und jetzt primär wlrtschaftsund sozlalgeschlchtlich orientierte Publikationen Max Webers zum Altertum ein, w o b e i in w e n i g e n Jahren der Vortrag „Die sozialen G r ü n d e des U n t e r g a n g s der antiken Kultur" sowie die ersten b e i d e n Fassungen der „Agrarverhältnisse Im Altertum" Im H a n d w ö r t e r b u c h der Staatswissenschaften rasch aufeinander folgten. Was d a b e i zunächst „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur" von 1896 betrifft, 6 0 so ist zwar offenkundig, wie wichtig dafür als unmittelbarer Anstoß Eduard Meyers kategorischer W i d e r s p r u c h von 1895 g e g e n Karl Bücher und d e s s e n Erneuerung der R o d b e r t u s s c h e n Theorie von der Oikenwlrtschaft als der das Altertum e n t s c h e i d e n d präg e n d e n Wirtschaftsform waren. Doch ist bei allem unübersehbaren Büc h e r s c h e n Einfluß nicht weniger klar, daß Weber a u c h hier allenthalben auf Erkenntnissen aus seiner „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " aufbaute, die er jetzt Im Blick auf das alte Problem des „ U n t e r g a n g s der antiken Kultur", aber a u c h auf die Frage des Verhältnisses von antiker und mittelalterllch-neuzeltllcher Kultur erweiterte. War die „Römische A g r a r g e schichte" in gewisser Welse noch von der Meitzenschen Sicht der deuts c h e n Agrarentwicklung v o m Hufensystem bis zu den Reformen des 19. Jahrhunderts als einer Art Folie g e p r ä g t , so unternahm Weber in den „Sozialen G r ü n d e n " die Einordnung der wirtschaftlichen Entwicklung des Altertums In einen spezifischen G e s a m t r a h m e n der .antiken Küstenkultur', w o b e i er z u g l e i c h - von nun an ein g r u n d l e g e n d e s Kennzeichen seiner historischen Perspektive - die e n t s c h e i d e n d e n Unterschiede z w i s c h e n der antiken und der mittelalterlichen, zur Neuzelt führenden Entwicklung hervorhob. Den quasi folgerichtigen „Zerfall" des römischen Reiches in „territoriale Sondergebiete" hatte Weber In der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " bereits kurz berührt und ihn mit d e m unüberwlndbaren G e g e n s a t z z w i s c h e n der naturalwirtschaftlichen Entwicklung, wie sie sich e t w a in der A u s b i l d u n g der „Grundherrschaften" der Kaiserzeit spiegelte, und den Verkehrsnotw e n d i g k e i t e n eines .Weltstaats' des Altertums erklärt und a u c h s c h o n dort auf die z u n e h m e n d regionale Ergänzung d e s Heeres als Paralleler-

59 Weber, Max, Die Bedeutung des Luxus, in: MWG I/4, S. 732-742, hier S.737f.; vgl unten, S. 100 sowie S. 92. 60 Unten, S. 99-127.

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s c h e i n u n g hingewiesen. 6 1 Wesentlich z u g r u n d e lag offenbar die ökonomische Erklärung von Karl Rodbertus, der einen w i c h t i g e n Faktor d e s schließlichen .Verderbens' des römischen Reiches in d e m vorherrschend e n naturalwirtschaftlichen Charakter des Steuersystems erblickt hatte, obwohl die staatlichen Bedürfnisse ( d . h . vor allem für das Beamtentum und das Heer) eine wesentlich stärkere geldwirtschaftliche Entwicklung erfordert hätten. N a c h Rodbertus war dies w i e d e r u m die Folge des Z u r ü c k b l e i b e n s d e s Steuerwesens hinter der W a n d l u n g Roms von einer ,Polis' (der als wirtschaftliche Grundstruktur der naturalwirtschaftliche ,Oikos' korrespondiert hätte) zu einem Weltreich. 6 2 Weber ü b e r n a h m zwar von Rodbertus d e n G e g e n s a t z von naturalwirtschaftlicher Realität und geldwirtschaftlichen Notwendigkeiten als einer wesentlichen Ursache des Zerfalls des Reiches, betrachtete j e d o c h als Resultat seiner eigenen Fors c h u n g e n den .verkehrslosen' Oikos nicht als A u s g a n g s p u n k t , sondern als „Entwicklungsprodukt" der antiken Wirtschaftsstruktur und hatte dies bereits in seiner „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " Rodbertus g e g e n ü b e r auch nachdrücklich hervorgehoben.63 In d e m .populären', z u g l e i c h freilich außerordentlich voraussetzungsreic h e n Freiburger Vortrag über die „Sozialen G r ü n d e des U n t e r g a n g s der antiken Kultur" skizzierte Weber zunächst erstmals ein allgemeines Modell der Entwicklung der ö k o n o m i s c h e n Strukturen in der Antike, das sehr stark von d e n R o d b e r t u s - B ü c h e r s c h e n Auffassungen g e p r ä g t erscheint. D a n a c h hätte zwar anfänglich die Stadt als Sitz des freien G e w e r b e s und im A u s t a u s c h mit der ländlichen U m g e b u n g sich im Prinzip nicht von der des Mittelalters unterschieden. Dann aber sei, anders als dort und in enger V e r b i n d u n g mit d e m - wie es in Übereinstimmung mit Bücher heißt - quantitativ e n g begrenzten .internationalen' Handel und der „Billigkeit" der M e n s c h e n als Sklaven infolge der s t ä n d i g e n Kriege 6 4 die Rolle des auf unfreier Arbeitsteilung b e r u h e n d e n ländlichen Oikos langsam immer mehr a n g e w a c h s e n , so daß insbesondere a u c h das freie G e w e r b e anders als später im Mittelalter in seiner Entwicklung erheblich g e h e m m t g e w e s e n sei. Im b e s o n d e r e n Fall Roms kam es im Z u g e einer grundsätzlich ähnlichen Entwicklung mit d e m Scheitern der gracchischen Reformversuche z u m ,Sieg der unfreien Arbeit', w o b e i die w a c h s e n d e

61 Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S.291. 62 So Rodbertus, Römische Tributsteuern, S. 445-452; zum „Verderben" vgl. ebd., S. 446. 63 Vgl. oben, S.8, Anm.23. 64 Auf die Wichtigkeit des mittelmeerlschen Handels In der Frühzelt trotz quantitativer Beschränktheit und Extensivität weist Weber immer wieder hin, vgl. z.B. unten, S.447, 487, 501 f., 514f. und 533; zum Fehlen des Handels unten, S.543; zur Kritik Gothelns unten, S.752f. - Zur Billigkeit der Menschen oben, S. 13, Anm.49.

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Ausdehnung der römischen Herrschaft von Küstenregionen auf weite, noch weniger für den Verkehr erschlossene binnenländische Gebiete ein wesentlicher Faktor gewesen sei, der ebenfalls die Ausbreitung des tendenziell auf Bedürfnisbefriedigung durch interne Arbeitsteilung gerichteten Oikos begünstigte. Ein definitiver Wandel bahnte sich jedoch mit dem Ende der römischen Eroberungskriege und damit auch des laufenden Sklavennachschubs an: Mit der Ausbildung des Kolonats und der Grundherrschaft vor allem in den großen binnenländischen Bereichen kam es in der letzten Phase der antiken Kulturentwicklung zur vollen Ausbildung des naturalwirtschaftlichen, .verkehrslosen' Oikos mit seiner Tendenz zur Abschließung von der Marktproduktion und den Städten, von denen viele auf diese Weise mehr und mehr verkümmerten - und mit ihnen die antike Kultur. Die gleichen naturalwirtschaftlichen Tendenzen machten sich insbesondere auch bei den staatlichen Finanzen bzw. dem Unterhalt für die Beamten und das Heer geltend, obwohl in einem Weltreich Geldsteuern und Geldwirtschaft unentbehrlich gewesen seien. Das .Schwinden des Verkehrs', das sich in all diesen Vorgängen und speziell auch bei den Staatsfinanzen und der Verwaltung manifestiere, hätte den Zerfall des Reiches herbeigeführt, wobei der Endzustand des ganzen Prozesses durch die Situation des bereits von Karl Bücher zum Vergleich herangezogenen Karolingerreiches und dessen .feudaler' Verfassung repräsentiert wurde, 6 5 ein Reich (aber kein .Weltreich' mehr) auf .streng naturalwirtschaftlicher Grundlage', in dem die Grundherrschaft dominierte und das weder ein besoldetes Beamtentum noch ein stehendes Heer, Städte oder einen .interlokalen Güterverkehr' kannte. Der Vortrag lehnte sich neben zahlreichen Rückgriffen auf die nationalökonomische Hauptvorlesung in vielen Details und Formulierungen unmittelbar an die „Römische Agrargeschichte", vor allem deren letztes Kapitel, an. Dies gilt für den ,Sieg der unfreien Arbeit in Rom' nach d e m Scheitern der Gracchen ebenso wie für die lebhafte Schilderung der landwirtschaftlichen Betriebe mit ihren Sklaven„kasernen" (während ihre Charakterisierung als „Plantagen" sich bei Bücher findet), 6 6 für den Wendepunkt der Gesamtentwicklung infolge des Endes der Eroberungskriege und damit des Absinkens des Sklavennachschubs, die Entstehung von Kolonat und Grundherrschaft, für die Entwicklung der Städte zu bloßen „Schröpfköpfen" und schließlich auch für den von Weber besonders betonten .Gesundungsprozeß', den die Rückgabe von Familie und Besitz an die Unfreien bedeutet habe. 6 7 65 Vgl. oben, S. 13. 66 Vgl. bereits Bücher, Aufstände (wie oben, S. 12, Anm. 42), S. 13 („Plantagensystem"). 67 Vgl. unten, S. 126, dazu MWG I/2, S.349, sowie oben, S.7, Anm. 18.

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Weber bot damit eine ö k o n o m i s c h e Erklärung des „ U n t e r g a n g s der antiken Kultur" primär auf der G r u n d l a g e der .Verkehrserscheinungen', und zwar vor allem von festen Kategorien wie Natural- und Geldwirtschaft, freier und unfreier Arbeit und Arbeitsteilung, d e m hier zuerst von ihm v e r w e n d e t e n (aber zuvor wohl s c h o n in der nationalökonomischen Hauptvorlesung eingeführten) g e o g r a p h i s c h - v e r k e h r s m ä ß i g e n G e g e n s a t z von ,Küste' und .Binnenland' 6 8 sowie d e m in der „Römischen A g r a r g e schichte" noch nicht b e g e g n e n d e n Begriff „feudal". 6 9 Er legte d a b e i wie in der nationalökonomischen Vorlesung - ein Strukturmodell der antiken Kultur als z u g l e i c h Stadt-, Sklaven- und Küstenkultur z u g r u n d e , die sich neben d e m durch d e n Küstencharakter ermöglichten .internationalen', w e n n auch m e n g e n m ä ß i g sehr begrenzten Handel in erster Linie d u r c h die starke Entwicklung des Sklaven-Oikos grundsätzlich von der mittelalterlichen Entwicklung unterschied, ein für Weber e n t s c h e i d e n d e s Moment, das ihn zu einer b e s o n d e r s starken, später von ihm selbst allerd i n g s teilweise widerrufenen Betonung der B e d e u t u n g der Sklaverei und ihrer sozialen und wirtschaftlichen Folgen in der Antike führte. Ü b e r h a u p t ist für diesen Vortrag Webers betontes Interesse für die - in seiner Sicht und in G e g e n s a t z zu Eduard Meyer - prinzipiell differierende ökonomis c h e und soziale Entwicklung im Altertum einer- und in Mittelalter und Neuzeit andererseits und deren Ursachen kennzeichnend, ein Interesse, das d a m a l s zweifellos durch die alle Perioden umfassende Vorlesung gefördert wurde, das d a r ü b e r hinaus aber letztlich schon in der kontrastiven Thematik von Webers Dissertation über die mittelalterlichen „Handelsgesellschaften" und seiner Habilitationsschrift über die „Römische A g r a r g e s c h i c h t e " a n g e l e g t war. Aus der w e i t e r g e h e n d e n und a u c h heute keineswegs a b g e s c h l o s s e n e n Debatte über d e n Zerfall des römischen Reiches ist als Reaktion auf W e b e r s „Soziale G r ü n d e " insbesondere der Aufsatz von H e r m a n n A u b i n hervorzuheben, der bei aller A n e r k e n n u n g des grundsätzlichen Wertes der Begriffe .Küsten'- und .Binnenkultur' d o c h deren Charakter als „extreme Typen" kritisiert und ihre Gegensätzlichkeit samt den von Weber her-

68 Vgl. Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, besonders M 83, 89, 89R, 97 (.antike Küstencultur'), sowie ebd., 93, 96R (.Binnencultur' u.a.), ohne daß sich die Blätter freilich genau datieren ließen. 69 Noch Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 2 [1892], S.4f., spricht von dem „Schlagworte Feudalismus" und dem „sogenannten Feudalismus"; vgl. auch unten, S. 123, Anm.2. In den Vorlesungen ist der Begriff im Sommer 1894 belegt (vgl. oben, S. 10); in den gedruckten Texten Webers scheint der Begriff .feudal' zum ersten Mal in einem Aufsatz über die „Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter" (1894) vorzukommen; vgl. MWG I/4, S.377 („Gutsverfassung des Feudalzeitalters").

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ausgearbeiteten Folgen bestreitet. 7 0 Bücher äußerte, Weber habe in seinem Vortrag, w e n n a u c h „nur in dürftigen Umrissen", gezeigt, wie die historische Rekonstruktion der antiken Wirtschaft „mit ö k o n o m i s c h e m Verständnis" auszusehen habe. 7 1 Der italienische Althistoriker Mazzarino urteilte 1959 über Webers Vortrag, „Genialeres und Grundsätzlicheres über die wirtschaftliche Krise der antiken Welt" sei nie g e s a g t w o r d e n . 7 2 Alfred Heuß nannte in seiner W ü r d i g u n g Max Webers die These, die Antike sei auf die Dauer an ihrem ursprünglichen Charakter als „Küstenkultur" gescheitert, „ein wenig outriert". 7 3 Der G e g e n s a t z von Küsten- und Binnenlandkultur blieb seither j e d o c h eine wesentliche Kategorie in Webers Sicht des Altertums. 7 4 Z u m Sommersemester 1897 wechselte Weber als Nachfolger von Karl Knies nach H e i d e l b e r g auf d e n dortigen Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften. N a c h d e m auf die Problematik des .Unterg a n g s ' des römischen Reiches ausgerichteten Freiburger Vortrag ergriff er in d e m Ende dieses Jahres erschienenen Artikel „Agrarverhältnisse im Altertum" für das H a n d w ö r t e r b u c h der Staatswissenschaften erstmals in einer Publikation die Gelegenheit zu einer e i g e n e n .ökonomischen Deutung' eines größeren Teils der antiken Geschichte, a u c h wenn er sich d a b e i s c h o n aus R a u m g r ü n d e n , wie er betonte, auf die „allgemeinsten A n d e u t u n g e n " b e s c h r ä n k e n mußte und es sich zunächst nur um die Erweiterung der Darstellung der römischen Agrarverhältnisse um einen ents p r e c h e n d e n Überblick über das „hellenische Altertum" sowie eine allgemeine Einleitung handelte. Wie sehr ihn diese Thematik, die „ökonomis c h e Entwicklung der antiken Kultur", d a m a l s beschäftigte, geht a u c h

70 Allbin, Hermann, Küsten- und Binnenkultur im Altertum. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Galliens und Germaniens, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, Jg. 48, 1925, S. 407-430. Aubin selbst schrieb den wirtschaftlichen Niedergang (auch) im Binnenland in erster Linie dem staatlichen Zentralismus zu (ebd., S.429f.). 71 Vgl. Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft 2 [1898], S.67. 72 Mazzarino, Santo, Das Ende der antiken Welt. - München: R. Piper & Co 1961, bes. S. 145-150, hier: S. 149 (zuerst: ders., La fine del mondo antico. - Mailand: A. Garzanti 1959, dort: S. 148-152, Zitat: S. 151). 73 So Heuß, Alfred, Max Webers Bedeutung für die Geschichte des griechisch-römischen Altertums, in: Historische Zeitschrift, Band 201, 1965, S. 529-556, hier S.555 (hinfort: Heuß, Max Webers Bedeutung). Vgl. aber z.B. noch unten, S. 716-719. 74 Erwähnung verdient, daß im Jahre 1904 in einer russischen „populär-wissenschaftlichen" Zeltschrift eine von E.S. Petrusevskaja angefertigte und von ihrem Mann, dem auch an der Antike interessierten Mediävisten Dmitrij Mojsevic Petrusevskij, redigierte Übersetzung erschien (Veber, Maks, Social'nye prlciny padenija anticnoj kul'tury, In: Naucnoe Slovo, Populjarno-naucnyj Illjustrlrovannyj Zurnal, 1904, Heft 7, S. 108124).

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aus einem Brief an den amerikanischen Nationalökonomen Edwin R.A. Seligman vom März 1897 hervor.75 Die Tatsache, daß die Erst- wie dann auch die alsbald folgende Zweitfassung der „Agrarverhältnisse" durch die weit umfangreichere dritte und letzte Fassung von 1908 „überholt" und wohl auch deswegen in dem von Marianne Weber im „Lebensbild" vorgelegten Schriftenverzeichnis Max Webers übergangen wurde, 76 hat dazu geführt, daß die ersten beiden Fassungen lange Zeit überhaupt in Vergessenheit gerieten, obwohl bereits in ihnen ein nicht unerheblicher Teil der Grundgedanken und -kategorien der dann maßgeblichen letzten Fassung von 1908 enthalten ist.77 Als allgemeine Grundlage für die zuerst 1897 erschienenen „Agrarverhältnisse" 78 dienten neben der „Römischen Agrargeschichte" offenkundig die entsprechenden Partien der großen nationalökonomischen Vorlesung, auch wenn zumindest die erhaltenen Stichwortblätter Webers ganz überwiegend Rom betreffen. Damit, daß die Vorlesung nicht nur dem Agrarwesen, sondern der ökonomischen Entwicklung insgesamt galt, dürfte wohl zusammenhängen, daß Weber zwar durchaus dem Thema entsprechend die „Agrarverhältnisse", d.h. Landwirtschaft, Viehzucht, Entwicklung des Bodenrechts, der Abgaben usw. - behandelte, aber doch zugleich darüber hinausgehend sowohl Gewerbe und Handel wie auch die sozialen, politischen und geographischen Rahmenbedingungen mit einbezog und auf diese Weise zumindest ansatzweise eine generelle Analyse von .Wirtschaft und Gesellschaft' der Antike und auch deren Verhältnis zu der späteren, schließlich bis in die Gegenwart hinführenden Entwicklung in den Blick faßte. Schon die „Vorbemerkungen" des Artikels von 1897 dienen vor allem dazu, Webers bereits in den „Sozialen Gründen" formuliertes, in Gegensatz zu Eduard Meyer und dessen Schrift von 1895 79 stehendes Bild von den grundsätzlichen Differenzen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Antike und in Mittelalter/Neuzeit deutlich zu machen, wo Meyer weitreichende Parallelen erkennen zu können gemeint hatte: In der Antike sei es im Küstenbereich zwar schon in der Frühzeit zur Entstehung von Stadtstaaten und einem weitgespannten Verkehr gekommen, wogegen am Anfang der mittelalterlichen Entwicklung die binnenländi-

75 Vgl. unten, S. 130. 76 Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 715f. 77 Auch Weber selbst äußerte sich später negativ über die 2. Fassung „des ([...] schon an sich ungleichwertigen und vollends nach dem jetzigen Forschungsstand wertlosen) Aufsatzes", vgl. unten, S.728, was zur Übergehung Im Schriftenverzeichnis von Marianne Weber (oben, Anm.76) beigetragen haben dürfte. 78 Unten, S. 146-227. 79 Gemeint ist: Meyer, Entwickelung.

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sehe Grundherrschaft g e s t a n d e n habe. A n d e r s als im Mittelalter sei jed o c h in der Antike die w e i t e r g e h e n d e Entfaltung einer .lokalen u n d interlokalen Verkehrswirtschaft' „stecken g e b l i e b e n " , und zwar „zufolge des Anschwellens d e s Sklavenunterbaues der antiken Gesellschaft", 8 0 wesw e g e n die Entwicklung von Verkehrs- und Geldwirtschaft seit d e m späteren Mittelalter u n d in der Neuzeit trotz teilweise scheinbar ähnlicher Begleiterscheinungen etwas gänzlich anderes g e w e s e n sei als die Entstehung einer - im Vergleich zur späteren Entwicklung grundsätzlich begrenzten - Verkehrswirtschaft in der Antike. Wenn Weber in dieser Hinsicht eine G e g e n p o s i t i o n zu Eduard Meyer formulierte, so folgte er dessen A n s c h a u u n g e n freilich insoweit, als er von nun an z u n e h m e n d das Altertum mit der ihrerseits als ein Ganzes aufgefaßten mittelalterlichneuzeitlichen Entwicklung verglich. Der A b s c h n i t t über das „hellenische Altertum", für das Weber über keine der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " vergleichbaren e i g e n e n Vorarbeiten verfügte und in d e m G r i e c h e n l a n d im wesentlichen von d e n A n f ä n g e n bis in die Zeit des 4. Jahrhunderts v. Chr. behandelt wird, ist vor allem durch die Frage n a c h d e m Verhältnis von Natural- u n d Geldwirtschaft, der A u s b i l d u n g von Verkehrswirtschaft u n d der B e d e u t u n g der politis c h e n Strukturen für die ö k o n o m i s c h e Entwicklung g e p r ä g t . Von der .dorfweisen Siedlung' der Frühzeit führen die D a r l e g u n g e n über die (mykenischen) Burgen zur Stadtentstehung durch .Synoikismos' und der Rolle der Polis als militärische .Festung' und Markt. 8 1 Dabei arbeitet Weber neben d e m G e g e n s a t z des g e o g r a p h i s c h e n Schauplatzes von .Küste' und .Binnenland' - h a u p t s ä c h l i c h die Wichtigkeit des militärischen Elements bzw. des .selbstequipierten' Heeresaufgebots für die innere Entw i c k l u n g der Poleis heraus, w o b e i er z w i s c h e n d e m .Stadtfeudalismus' Spartas u n d ähnlich strukturierter .binnenländischer' Poleis einerseits u n d Küstenstädten mit sich entfaltendem wirtschaftlichem Verkehr wie Athen und der Mehrzahl der g r i e c h i s c h e n Poleis andererseits unterscheidet. 8 2

80 Vgl. unten, S. 149. 81 Vgl. z.B. unten, S. 177f. und 476. 82 Zum „Stadtfeudalismus" besonders unten, S.148, 181, 183-185, 323, 483, 485, außerdem S. 705. - Zur Auseinandersetzung über die Bedeutung des Stadtfeudalismus in der Antike bei Max Weber vgl. Capogrossi Colognesi, Luigi, Max Weber und die Wirtschaft der Antike. Aus dem Italienischen von Brigitte Szabö-Bechstein (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge, Band 259). - Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 [zuerst italienisch 2000], S. 318-324 u.ö. (hinfort: Capogrossi Colognesi, Max Weber); Will, Édouard, En marge d'un livre récent, in: Topoi. Orient - Occident, tome 3, 1993, S. 23-38, hier S. 33-38; Breuer, Stefan, Max Webers Herrschaftssoziologie (Theorie und Gesellschaft, hg. von Axel Honeth u.a., Band 18). - Frankfurt, New York: Campus-Verlag 1991, bes. S. 127-156.

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Die bereits in d i e s e m Griechenland-Teil der „Agrarverhältnisse" von 1897 deutlich faßbare A b f o l g e von der Dorfsiedlung über die Burg zur Stadt, bei welcher, wie a u c h allenthalben sonst in d i e s e m Teil der von Weber selbst ausdrücklich erwähnte Einfluß von Eduard Meyers „Geschichte des Altertums" eine wesentliche Rolle spielt, bildet d e n Kern der förmlichen .¡dealtypischen' Klassifizierung der .politischen Organisationsstadien' im g e s a m t e n Altertum, die Weber in der letzten Fassung von 1908 entwickelte und dieser a u c h d u r c h g e h e n d z u g r u n d e legte. 8 3 In d e n .spätgriechischen' Zeiten glaubte Weber in Analogie zur allgemeinen Entw i c k l u n g Roms a u c h für G r i e c h e n l a n d einen gewissen R ü c k g a n g der Sklaverei und eine S c h w e r p u n k t v e r l a g e r u n g ins Binnenland konstatieren zu können. Während Weber bei d i e s e m G r i e c h e n l a n d a b s c h n i t t sich mehr auf die zeitgenössische wissenschaftliche Literatur stützen mußte als daß er, wie im Falle Roms, von einer eigenen gezielten S a m m l u n g des Quellenmaterials a u s g e h e n konnte, zu d e m er hier natürlich d e n n o c h einen selbständ i g e n Z u g a n g hatte, bildete für die b e i d e n A b s c h n i t t e über das republikanische und das kaiserzeitliche Rom, wie sich allenthalben leicht erkennen läßt, die „Römische A g r a r g e s c h i c h t e " noch immer die materielle und konzeptionelle H a u p t g r u n d l a g e . An d e n G e s i c h t s p u n k t e n und Ergebnissen dieses Werkes hielt Weber g a n z ü b e r w i e g e n d fest, von d e n .gemeinwirtschaftlichen' Z ü g e n der A n f ä n g e und deren S p r e n g u n g mit der Hera u s b i l d u n g eines rechtlich scharf gesicherten agrarischen Privateigentums seit der Z w ö l f t a f e l g e s e t z g e b u n g neben d e m ager p u b l i c u s bis zur Entstehung des für Rom k e n n z e i c h n e n d e n .unerhörten agrarischen Kapitalismus', zu d e m ,Sieg' der Sklavenarbeit und a m Ende, in der späteren Kaiserzeit, der charakteristischen „Schrumpfung des Verkehrs" und der H e r a u s b i l d u n g von Kolonat und Grundherrschaft, mit der in ,,direkte[r] D e s c e n d e n z " die Grundherrschaft im Frankenreich z u s a m m e n h ä n g e . 8 4 D o c h treten Elemente der Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" und des Vortrags über die „Sozialen G r ü n d e " zumal in d e m Versuch hinzu, Parallelen z w i s c h e n der römischen und der g r i e c h i s c h e n

83 Hinzuweisen ist darauf, daß Webers eigene Exemplare der 1. Auflage von Eduard Meyers „Geschichte des Alterthums" erhalten sind (Max Weber-Arbeitsstelle der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Sie weisen (wie auch andere seiner Handexemplare) zahlreiche Markierungen von Webers Hand auf: vorwiegend Randanstreichungen, daneben Wortunterstreichungen, gelegentlich Frage- oder auch Ausrufezeichen, praktisch niemals eigentliche Marginalien. So charakteristisch sie für Webers Lesegewohnheiten sind (und allein schon durch die Konzentration auf seine Hauptinteressengebiete zeigen, daß sie von ihm selbst stammen müssen), so wenig ergiebig sind sie für Webers Arbeitsweise oder gar die Textgeschichte. Vgl. noch unten, S. 141. 84 Vgl. unten, S.219, dazu 224.

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Entwicklung herauszuarbeiten. Hierher gehören die Charakterisierung der Frühzeit Roms als Entwicklung von der .Dorfsiedlung' zum .feudalen Stadtstaat' mit patrizischer Geschlechterherrschaft, der Hinweis auf den Zusammenhang zwischen der Ausbildung der Geldwirtschaft und dem agrarischen „Umschwung", der in Parallele zu den „Gesetzgebungen" in den archaischen griechischen Poleis gesehen wird, die Hervorhebung der sich wandelnden Rolle des .sich selbst equipierenden (Grundbesitzer-)Heeres', 85 aber auch die wiederholte These vom späteren Zerfall des Reiches infolge des Gegensatzes von .geldwirtschaftlicher Verwaltung' und wachsender naturalwirtschaftlicher .Unterlage'. 86 Für die älteste Zeit ist die, freilich hier nicht explizit gemachte, Distanzierung von der Erklärung der römischen Agrarverhältnisse durch die germanische Hufenordnung im Sinne Meitzens deutlich. 87 Dagegen sind längere Ausführungen wie die über den Zusammenhang zwischen den agrimensorischen Fluraufteilungen und dem Bodenrecht, über die Betriebsweise der römischen Landwirtschaft nach den Agrarschriftstellern oder die Rechtsnatur der einzelnen Besitzstände inhaltlich unmittelbar aus der „Römischen Agrargeschichte" geschöpft. Die kaiserzeitliche Entwicklung wird auch hier mit Hilfe des erst in Webers nationalökonomischer Hauptvorlesung und in den „Sozialen Gründen" von 1896 verwendeten Begriffs des „Binnenlandes" präziser gefaßt. 88 - Der im Romteil dieser ersten Fassung angekündigte weitere Artikel „Kolonat" blieb unausgeführt. 89 Daß Weber mit seiner zunächst vor allem der Rodbertus-Bücherschen Tradition entstammenden Sichtweise der antiken Ökonomie wie schon In dem Freiburger Vortrag im Gegensatz nicht zuletzt zu dem von Eduard Meyer entworfenen Bild des antiken Wirtschaftslebens stand und einen weitgreifenden Gegensatz zwischen antiker und moderner Wirtschaftsentwicklung vertrat, ist auch hier offenkundig. In den abschließenden Bemerkungen zur Literatur spricht Weber denn auch erstmals expressls verbis von den prinzipiellen Unterschieden Im Verständnis der antiken Wirtschaft zwischen Eduard Meyer und den Rodbertus-Bücherschen Theorien und kritisiert seinerseits zugleich die fehlende Schärfe der ökonomischen Begriffe Meyers, 90 der in der Tat .Historiker' und - anders als Rodbertus, Bücher oder Max Weber - nicht .Ökonom' war.

85 Vgl. unten, S.207. 86 Vgl. unten, S. 211. 87 Vgl. dazu unten, S. 199f. 88 Vgl. Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 93, 93R, 96R, 97, sowie unten, S.86f. Zur „Küstenkultur" vgl. ebd., M 83, 89, 89R, 97, und unten, S.86f. 89 Vgl. dazu unten, S. 129. 90 Vgl. unten, S.226.

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Nicht unerwähnt darf bleiben, daß sich Weber der Grenzen einer .ökonomischen Interpretation' des Altertums durchaus bewußt war, wie ein Brief an den Heidelberger Kunsthistoriker und Byzantinisten Carl Neumann vom März 1898 zeigt, der Weber einen Aufsatz über Jacob Burckhardt zugesandt hatte. 91 Weber bekundete darin sein besonderes Interesse an Neumanns „Andeutungen" von der „Kulturentwicklung und - noch mehr - dem Kulturniedergang des Altertums", wobei er freilich auch feststellte: „Da mein Fach mich verdammt, mich zunächst in die Zustände des Altertums zu vergraben und nur über diesen zäh-materiellen Umweg an den Menschen des Altertums gelangen zu können, so fehlt für mich vorerst noch die - nicht objektiv, aber nach dem .Geist' meines Ressorts - notwendige Brücke zu dem Gebiet Ihrer Studien, z.B. über Psellos". 92 Zugleich bekannte er seine Schwierigkeiten, die Anschauungen Neumanns in seine eigenen, „freilich noch unvollkommenen Vorstellungen vom Wesen des sinkenden Altertums eingliedern zu können". Neumann sah die Renaissance zumindest in ihrem Kern weniger (wie Burckhardt und auch Weber selbst) 93 als Neu-Anknüpfung an die Kultur der Antike denn als Ergebnis der kulturellen Entwicklung des Mittelalters: „Der Individualismus war das Resultat und die feinste Blüthe des Mittelalters, zu Tage gefördert durch die seelische Verfeinerung und Durchknetung der menschlichen Natur in der Schule des Christenthums". 94 Zugleich sah er auch in der byzantinischen Geschichte eine Reihe von „Analogieen zum italienischen Humanistenwesen", 95 für die Michael Psellos im 11. Jahrhundert ein besonders eindrucksvolles Beispiel war. 96 In der schon kurz darauf, im gleichen Jahr 1898, in der zweiten Auflage des Handwörterbuchs erschienenen Neufassung des Artikels 1 ließ Weber die Einleitung wie auch die beiden Rom betreffenden Abschnitte praktisch unverändert, während er an dem Abschnitt über Griechenland eine größere Anzahl von Erweiterungen und Änderungen vornahm, die

9 1 Brief Max Webers an Carl Neumann vom 14. März 1898, GStA PK, VI. HA, NI. Max Weber, Nr. 30, Band 4, Bl. 72 (MWG II/3). Gemeint ist Neumann, Carl, Jacob Burckhardt, in: Deutsche Rundschau, Band 94, 1898, S. 3 7 4 - 4 0 0 (hinfort: Neumann, Burckhardt). 9 2 Vgl. auch die einschränkende Bemerkung Webers zu seiner Fachkompetenz, unten, S. 127. 9 3 Vgl. unten, S.90 und 92. 9 4 Vgl. Neumann, Burckhardt (wie oben, Anm.91), S. 381. 95 Ebd. 9 6 Michael Psellos ( 1 0 1 8 - n a c h 1081) war ein bedeutender, auch am Hof tätiger byzantinischer Gelehrter, Autor zahlreicher Schriften. Ein eingehendes Porträt seiner Persönlichkeit findet sich bei Neumann, Carl, Die Weltstellung des byzantinischen Reiches vor den Kreuzzügen. - Leipzig 1894: Duncker & Humblot, S . 8 1 - 9 4 . 1 Unten, S. 146-227.

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allerdings Im wesentlichen nur Detailpunkte betrafen. Der wichtigste Unterschied g e g e n ü b e r der ersten Version b e s t a n d in der Ausweitung der Darstellung auf den Alten Orient bzw. Ä g y p t e n und Mesopotamien, obwohl Weber hier anders als bisher keinen Z u g a n g zu d e n originalsprachlichen Quellen hatte und daher neben der wissenschaftlichen Literatur auf Ü b e r s e t z u n g e n a n g e w i e s e n war. 2 Es war j e d o c h ein erster Schritt a u c h im Blick auf die spätere A u s d e h n u n g von Webers Fragestellungen auf China und Indien. A u c h im Alten Orient g i n g es Weber - über die „Agrarverhältnisse" im engeren Sinne hinaus - um eine allgemeinere .ökonomische Betrachtung', und zwar in erster Linie um die Frage nach d e m Ausmaß der Entwicklung von Verkehrswirtschaft bzw. die nach d e m g e g e n s e i t i g e n Verhältnis von Verkehrs- und Oikoswirtschaft in Ä g y p t e n und im Zweistromland. In b e i d e n Fällen, a m Nil wie an Euphrat und Tigris, war es nach Weber die Notwendigkeit der Regulierung der Bewässerung, die zu ausg e p r ä g t e n gemeinwirtschaftlichen Strukturen und z u g l e i c h zu einem H a u p t k e n n z e i c h e n des Alten Orients, einem starken Königtum einschließlich eines .bürokratischen' Verwaltungsapparats führte, w o b e i Weber hier den Oikos-Begriff auch auf die Wirtschaft des Königs ausdehnte. So wurde in Ä g y p t e n s c h o n im Alten Reich der einzelne z u m „Staatsfröner", 3 wobei in Ä g y p t e n außerdem anders als z . B . in G r i e c h e n l a n d d a s Fehlen einer äußeren B e d r o h u n g im Alten Reich die Entstehung „eigentlich militärischer Institutionen" 4 und das Staatsfrönertum die Bildung von .Geschlechter-Institutionen' verhinderte. 5 Im Mittleren Reich m a c h t e vorüberg e h e n d der faktisch erbliche .Nomarchen-Feudaladel' 6 die einzelnen in großen .Grundherrschaften', neben denen noch die Güter der Tempel und des Königs standen, zu .grundherrlichen Frönern'. Für das Neue Reich ist d a n n die Zentralisierung in d e m .einen ungeheuren königlichen Oikos' 7 kennzeichnend, neben d e m es nur noch die Tempelpriesterschaften als b e d e u t e n d e e i g e n s t ä n d i g e Organisation g a b . Die „Staatssklaverei" bedeutete die „absolute K n e c h t u n g d e s Landes", 8 zumal die eigene Wehrhaftigkeit dank einer .überwiegend s t a m m f r e m d e n Berufskriegerschaft' nach wie vor unentwickelt blieb. Dies alles habe dazu geführt, daß die Verkehrswirtschaft in Ä g y p t e n stets e n g begrenzt

2 Vgl. unten, S. 150 und 157. Zu Webers späterer Klage über die Publikation ägyptischer Texte ohne Übersetzung unten, S.731. 3 Unten, S. 152. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Unten, S. 154. 8 Unten, S. 155.

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blieb, im Alten Reich durch die gemeinwirtschaftlichen Elemente, im Mittleren Reich d u r c h d e n „ N o m a r c h e n f e u d a l i s m u s " u n d im Neuen Reich durch die Oikenwirtschaft des Pharao, in d e s s e n H a n d ganz überwieg e n d a u c h der Außenhandel lag. Dem e n t s p r a c h eine geringe Entwicklung der handwerklichen Organisation, auch w e n n teilweise s c h o n im Alten Reich die Stufe des B ü c h e r s c h e n „Preiswerks" erreicht w u r d e , sowie des privaten Binnenhandels, der im wesentlichen Naturaltauschverkehr blieb u n d für den d a n e b e n ein .Naturalrentenverkehr' bei Stiftungen für Tempel und U m w a n d l u n g e n von Naturaldeputaten k e n n z e i c h n e n d war. In M e s o p o t a m i e n waren es außer d e m „ n o t w e n d i g in irgend einer Form gemeinwirtschaftliche[n] Kanalbau", der hier ebenfalls zur Entstehung eines ü b e r m ä c h t i g e n Königtums geführt h a b e u n d die Einzelnen z.T. zu bloßen „Besitzobjekten" des Königs machte, a u c h die vielen Eroberungskriege, die .Untertanen' schufen. 9 D e m e n t s p r e c h e n d überragte a u c h hier der königliche ,Oikos' die Privatwirtschaften, w o b e i die ö k o n o m i s c h e n Fragen der Aufstellung u n d Unterhaltung des Heeres zumal in d e m .spezifischen Militärstaat' Assyrien für Weber z.T. offen b l e i b e n . 1 0 Trotz einer anfänglichen Einschnürung der .Bewegungsfreiheit des privaten Verkehrs' d u r c h d e n königlichen Oikos kam es j e d o c h in Mesopotamien, anders als in Ä g y p t e n , zu einer außerordentlichen Entwicklung eines .offenbar z u n e h m e n d freien' Verkehrs, die in Babylon noch stärker war als in Assur. So w u r d e der B o d e n früh faktisch frei veräußerlich u n d teilbar und entstand eine ,hoch entwickelte Naturaltausch-Technik', in der sich a u c h das Geld von Silberringen als Wertmesser bis zu A n f ä n g e n der Münzform entwickelte, selbst w e n n von „Geldwirtschaft" nach Weber nur b e d i n g t g e s p r o c h e n w e r d e n kann. 1 1 N e b e n .bankartigen Unternehmungen' erscheinen Vorstufen der .Hauptgeschäftsformen der Geldwirtschaft', darunter außer Darlehen u n d Pfand die „kapitalistische Unternehm u n g " in der Form der K o m m e n d a . 1 2 Im G e w e r b e entwickelte sich neben d e m .Lohnwerk' a u c h d a s .Preiswerk'. Der .Naturalrentenverkehr' entfaltete sich noch stärker als in Ä g y p t e n . Trotz der hohen t e c h n i s c h e n Entwicklung des Verkehrs wird die Preisbildung freilich d a n n d o c h überw i e g e n d d u r c h d e n Einfluß der königlichen u n d der Tempel-Magazine bestimmt. Die generelle wirtschaftliche Entwicklung im Alten Orient zur königlic h e n Oikos- und zur Verkehrswirtschaft erinnert in einzelnen Z ü g e n an das von Weber bereits für Rom und Griechenland entworfene Bild, a u c h

9 Unten, S. 158 f. 10 Unten, S. 159. 11 Vgl. unten, S. 161. 12 Unten, S. 166 f.

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w e n n die politischen Strukturen einander insofern völlig e n t g e g e n g e s e t z t waren, als sich im Orient früh ein starkes Königtum entwickelte, das sich auf ein a b h ä n g i g e s Heer stützte, während in Griechenland und Rom das selbstequipierte Heeresaufgebot einen Hauptfaktor der nichtmonarchis c h e n Entwicklung darstellte, jedenfalls in der vorhellenistischen Zeit bzw. in der republikanischen Epoche Roms. In den a u c h hier a m Schluß des Handwörterbuchartikels s t e h e n d e n kurzen Literaturhinweisen, in d e n e n er g e g e n ü b e r der ersten Fassung eine Reihe von Ä n d e r u n g e n vornahm, erwähnt Weber a u c h die „israelitis c h e Wirtschaftsgeschichte", die aber hier fortgelassen sei. 1 3 Für Rom betont er das Festhalten an den H a u p t e r g e b n i s s e n der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " . Er kündigt z u g l e i c h eine A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e m 1897 erschienenen B u c h von Biagio Brugi über die juristischen Lehren der römischen Agrimensoren an (zu der es aber, vielleicht m i t b e d i n g t d u r c h die Erkrankung, nicht kam) und betont a u s d r ü c k l i c h .Rodbertus' g r u n d l e g e n d e Verdienste' für die Erkenntnis der römischen „Gesamtentwicklung". Außerdem weist er erneut auf die .neuerdings heftiger geword e n e Kontroverse' z w i s c h e n Eduard Meyer und Karl Bücher über die antike Oikenwirtschaft hin, w o b e i er j e d o c h auf eine grundsätzliche Stellungnahme in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g verzichten müsse. Versucht man, die b e i d e n ersten Fassungen der „Agrarverhältnisse im Altertum" bzw. die hier von Weber unternommene skizzenhafte .ökonomis c h e Deutung der antiken Geschichte' mit ihrer trotz d e s g e r i n g e n äußeren U m f a n g s außergewöhnlich großen Vielfalt von G e s i c h t s p u n k t e n auf eine spezifische Hauptfragestellung zurückzuführen, so ist es offensichtlich die nach der A u s p r ä g u n g und Entwicklung von „Verkehrswirtschaft" in unterschiedlichen Regionen und Epochen des Altertums, und zwar im Vergleich zur mittelalterlich-neuzeitlichen Epoche. Insofern übernimmt Weber nicht die B ü c h e r s c h e A b f o l g e Haus-, Stadt-, Volks- und Weltwirtschaft, sondern sieht, bei aller W ü r d i g u n g der Wichtigkeit und Erklärungskraft eines Begriffs wie Haus- bzw. Oikenwirtschaft von Ä g y p t e n bis in die spätrömische Zeit, die allgemeine Entwicklung differenzierter. Einen Höhepunkt der Verkehrswirtschaft, wie ihn der „Kapitalismus" darstellt, hatte er bereits in der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " für eine bestimmte Periode der römischen Agrarentwicklung festgestellt. A u c h in der gleichzeitigen nationalökonomischen Hauptvorlesung wurde e t w a die erste Phase der antiken Küstenkultur als „die Zeit aufsteigender capitalist[ischer] Entwicklung" charakterisiert und für die mittlere römische Republik ein „enormer Kapitalismus [...] auf a g r a r i s c h e m Gebiet" konsta-

13 Vgl. auch unten, S.226; dazu S. 158.

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tiert. 1 4 A u c h hier heißt es, daß in Rom durch das „Versiegen des Sklavenmarktes seit Tiberius [...] der capitalistischen Oikenwirtschaft der B o d e n entzogen" w o r d e n sei, 1 5 so daß sich „statt capitalis1[ischem] Sklavenvermögen naturalv^irtschaftliche] Grundherrschaff bzw. der große Oikos der Spätantike durchsetzen konnte, der „anticapitalistisch" war. 1 6 Dies fand seinen N i e d e r s c h l a g a u c h in d e n Handwörterbuchartikeln von 1897 u n d 1898, w o Weber außerdem .kapitalistische Unternehmungen' bereits in M e s o p o t a m i e n konstatierte, ohne daß der Kapitalismus allerdings aufs Ganze g e s e h e n in d e n b e i d e n ersten F a s s u n g e n eine größere Rolle spielen würde. Deutlich ist außerdem s c h o n in der ersten Fassung, daß die wirtschaftliche Entwicklung Roms in ihren - nicht zuletzt .kapitalistischen' - Dimensionen für Weber viel weiter g i n g als die Griechenlands; die zweite Fassung, wo a u c h die Verhältnisse d e s Alten Orients dargestellt werden, zeigt, daß in Webers Sicht a u c h dieser dahinter zurückblieb. Indes hatte a u c h die ö k o n o m i s c h e Entwicklung Roms ihre Grenzen, w o d u r c h schließlich, nach Webers Analyse, der Zerfall des Imperiums herbeigeführt wurde. Insofern kann man die „Agrarverhältnisse des Altertums" in ihren b e i d e n ersten Fassungen wesentlich als eine systematische Reflexion - wie sie in nuce bereits in der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " zu erkennen ist - über das Ausmaß, vor allem aber a u c h die quasi immanenten Grenzen der „Verkehrswirtschaft" im Altertum g e g e n ü b e r der mittelalterlich-neuzeitlichen Entwicklung verstehen. Erst rund ein Jahrzehnt später sollte Weber diese Fragestellung systematisch auf das Problem des „Kapitalismus" im Altertum zuspitzen. Festzuhalten ist im übrigen, daß Weber auch in diesen Jahren sich zwar nicht in Veröffentlichungen, aber d o c h in Vorlesungen, Vorträgen u n d eigenen Studien wiederholt a u c h mit der g e r m a n i s c h e n Agrar- u n d Sozialentwicklung befaßte. In der z w i s c h e n 1894 und 1898 mehrfach gehaltenen Vorlesung über „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" finden sich nur relativ w e n i g e B e m e r k u n g e n zur „ d e u t s c h e n Siedlung", in d e n e n Weber im wesentlichen den Vorstellungen Meitzens v o m d e u t s c h e n G e w a n n h u f e n s y s t e m folgte 1 7 und z . B . a u s d r ü c k l i c h die „Gleichheit der Genossen" in der u r s p r ü n g l i c h e n d e u t s c h e n Dorfsiedlung

14 So Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 85, 91. 15 Ebd., M 93. 16 Ebd., M 93R, 96R. 17 In dem gedruckten „Grundriß" der Vorlesung vom Sommersemester 1898 handelt es sich um § 10, „Die agrarischen Grundlagen der mittelalterlichen Binnenkultur" (Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 14 (10)); etwas anders In Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 99 (§9, anscheinend versehentlich für §6): „Die agrarischen Grundlagen der europäischen Blnnencultur". Vgl. Insbesondere ebd., M 100102, 105-105R, 106-106R.

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notierte. 1 8 A u c h in der Vorlesung „Die d e u t s c h e Arbeiterfrage in Stadt u n d Land" im Sommersemester 1895 äußerte sich Weber in ä h n l i c h e m Sinn. 1 9 Im gleichen Jahr erschien die große z u s a m m e n f a s s e n d e Darstellung von Meitzens agrarhistorischen Forschungen, d e n e n Werner Wittich, ein Schüler Georg Friedrich K n a p p s , in zwei Arbeiten aus d e n Jahren 1896 und 1897 a l s b a l d die These von der Existenz der G r u n d h e r r s c h a f t bereits in g e r m a n i s c h e r Zeit entgegensetzte. 2 0 Über eine Auseinandersetzung damit läßt sich in den überlieferten Äußerungen Webers in diesen Jahren nichts erkennen. In mehreren Vorträgen g i n g Max Weber damals, w e n n a u c h kurz, so d o c h ebenfalls im Sinne der Meitzenschen Theorien a u c h auf die g e r m a n i s c h e n Agrarverhältnisse ein. 2 1 Aus einer Äußerung im Jahr 1904 g e g e n ü b e r Georg von Below geht hervor, daß er damals „einige frühere Studien über Caesar u.s.w." verwertete, 2 2 die er möglicherweise vor allem im Z u s a m m e n h a n g mit d e m W i d e r s p r u c h Wittichs g e g e n Meitzen betrieben hatte. Von diesen Studien ist sonst nichts Näheres bekannt. Einen unmittelbaren Anlaß könnte die von Weber einmal, u n d zwar im Wintersemester 1896/97, d a r g e b o t e n e fünfstündige Vorlesung „Deutsche Rechtsgeschichte" g e b o t e n haben. 2 3 Aus zwei Briefen des Verlages O l d e n b o u r g an Max Weber v o m Februar und März 1897 geht sogar hervor, daß O l d e n b o u r g damals ein „Präliminar-Abkommen" mit Weber über das Erscheinen einer „im Laufe der nächsten 5 Jahre" von d i e s e m „event[uel]l zu verfassenden .Deutschen A g r a r g e s c h i c h t e ' " als a b g e s c h l o s s e n betrachtete. 2 4 D o c h ist aus d e m Plan, d e m Weber sich a b d e m Sommersemester 1899 „mit voller Kraft" w i d m e n wollte, 2 5 schon aus den bekannten gesundheitlichen G r ü n d e n nichts geworden. Z u n ä c h s t jedenfalls hielt Weber im Wintersemester 1897/98 die Vorlesung „Agrarpolitik". Hier g i n g er in § 2 , „Die G r u n d l a g e n der europäi-

18 So ebd., M 100; dazu ebd.: „freie Genossenschaften unter sich gleichstehend". 19 Näheres dazu unten, S. 236. 20 Vgl. Meitzen, Siedelung und Agrarwesen, sowie Wittich, Grundherrschaft, und ders., Wirtschaftliche Kultur (1901 folgte noch Wittich, Freibauern). 21 Vgl. im einzelnen unten, S. 236f. 22 Brief Max Webers an Georg von Below vom 19. Juli 1904, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 30, Band 4, Bl. 9 6 - 9 7 (MWG II/4). 23 Vgl. unten, S.237. 24 So In dem Brief R[udolf] Oldenbourgs vom 16. März 1897 (IHK München, WA F5/v 311); vgl. jedoch auch dessen Brief an Weber vom 26. Febr. 1897 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Aus letzterem Schreiben geht hervor, daß die Verbindung zwischen Weber und dem Verlag von Friedrich Meinecke hergestellt worden war. In dem späteren Brief wird ein Schreiben Max Webers vom 9. März 1897 erwähnt, In dem dieser offenbar auf die detaillierten Vorschläge des Verlags hinsichtlich des „Prällmlnar-Abkommens" eingegangen war. 25 Brief des Verlags vom 26. Febr. 1897, vgl. die vorhergehende Anm.

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sehen Ansiedlung", zunächst auf die allgemeinen Z ü g e der frühen Agrarentwlcklung vor und nach der festen A n s i e d l u n g ein 2 6 und b e h a n d e l t e d a n a c h , wie bereits In der Frelburger .Vorgängervorlesung' v o m Sommersemester 1895, lediglich die mittelalterlich-neuzeitliche Entwicklung. Dabei b e s p r a c h er auch die g e r m a n i s c h e n Verhältnisse im Sinne Meltzens, d . h . der g e n o s s e n s c h a f t l i c h e n Hufenverfassung mit Gewannflur, u n d kam auch, aber nur soweit sie nach seiner Auffassung für die spätere Grundherrschaft eine Rolle spielten, kurz auf die römischen Gutswirtschaften der Kaiserzeit zu sprechen. Festzuhalten Ist, daß sich In Webers erhaltenen eigenen Notizen zu dieser Vorlesung e b e n s o w e n i g explizite Erwähn u n g e n der römischen Quellenautoren finden wie in d e n e n zu der „Agrarp o l i t i k - V o r l e s u n g von 1895.

III. Vom Verzicht auf die Vorlesungstätigkeit schen Sozialverfassung" (18991904)

bis zur

„altgermani-

Die Pläne, die Max Weber etwa 1898, zur Zeit der A b f a s s u n g der zweiten Version der „Agrarverhältnisse", für weitere Arbelten zum Altertum vors c h w e b t e n , sind einigermaßen deutlich. Wie vor allem die Literaturübersicht zu dieser Fassung zeigt, wollte sich Weber nicht nur „anderwärts künftig" mit d e m Werk von Biagio Brugi über die römischen A g r l m e n s o ren auseinandersetzen, 2 7 was eine in Teilen juristische bzw. rechtshistoris c h e A b h a n d l u n g bedeutet hätte, sondern bei sich bietender G e l e g e n heit a u c h eine „Stellungnahme" zur Bücher-Meyer-Kontroverse u n d damit zu einer w i r t s c h a f t s g e s c h i c h t l i c h e n Grundsatzfrage vorbehalten; a u c h der Verweis auf die „israelitische Wirtschaftsgeschichte", die hier unbehandelt g e b l i e b e n sei, bedeutet wohl, daß Weber auch In dieser Beziehung Zukunftspläne hatte. Außerdem sind die s c h o n erwähnten, von Ihm in Angriff g e n o m m e n e n Studien zu den G e r m a n e n zu nennen. A n f a n g 1898 machte sich d a n n erstmals die Erkrankung stärker b e m e r k bar, die Max Weber im Sommer 1899 zur A u f g a b e der Vorlesungstätigkeit z w a n g u n d ihm praktisch seit d i e s e m Jahr j e d e Publikationstätigkeit unm ö g l i c h machte. Bis 1904 ist a u c h keine Arbeit z u m Altertum zu verzeichnen. Seit d i e s e m Jahr hat er aber z u m i n d e s t z u m Teil die Pläne der Zeit vor der Krankheit weiterverfolgt; dies gilt jedenfalls für die Bücher-Meyer-

26 Die entsprechenden Überschriften innerhalb dieses Paragraphen lauten: „I. Die typischen Entw[icklungs]-St[ufen] der Agrarverfassung", „1. Allgemeine] Bedeutung der Siedlung", „2. Die Entwicklung] des Privat-E[igentums] am Boden", „II. Die nationale Siedlung der Germanen" (ebd., Bl. 86, 86R, 91). 27 Vgl. unten, S.227.

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Kontroverse und die israelitische Wirtschaftsgeschichte e b e n s o wie für die erwähnten Studien über die Germanen vor allem bei Caesar u n d Tacitus. Aus d e n Jahren 1 8 9 8 - 1 9 0 3 existieren nur vereinzelte Nachrichten über eine B e s c h ä f t i g u n g Max Webers mit d e m Altertum. Aus zwei Briefen von seinem Kuraufenthalt in Konstanz v o m August 1898 geht immerhin hervor, daß er dort die zuerst 1894 erschienene und in der Literaturübersicht der zweiten Fassung der „Agrarverhältnisse" bereits erwähnte „Israelitische und j ü d i s c h e G e s c h i c h t e " von Julius Wellhausen bei sich hatte, 2 8 a u c h wenn er nach seinen eigenen A n g a b e n d a m a l s nur w e n i g zu ihrer Lektüre kam. 2 9 Wichtig ist sodann, daß er in einem Brief v o m 13. April 1899 an die Mutter von der A b s i c h t berichtete, sich der „Fertigstellung" des „Colleg-Grundrisses", also der A u s a r b e i t u n g des g e d r u c k t e n G r u n d risses der nationalökonomischen Hauptvorlesung, z u z u w e n d e n und das Manuskript bereits im f o l g e n d e n Jahr abzuschließen, so daß dieses d a n n 1901 „vielleicht als Buch" erscheinen könne, ein Lehrbuchprojekt, in d e m zweifellos auch das Altertum eine w i c h t i g e Rolle gespielt hätte - w e n n auch wohl kaum im U m f a n g der „Agrarverhältnisse" von 1908 - , das jed o c h unausgeführt bleiben sollte. 3 0 Besonders aufschlußreich ist, was die Antike betrifft, ein aus Rom offenbar aus d e m Jahr 1901 stammender, Marianne Weber diktierter Brief an den s c h o n erwähnten Carl Neumann, dessen Anlaß die Ü b e r s e n d u n g von N e u m a n n s in der Historischen Zeitschrift veröffentlichtem Aufsatz über J a c o b Burckhardts G r i e c h i s c h e Kulturgeschichte war. 3 1 „Ein ökonomischer Banause meines Schlages", so Weber, hätte „die Darstellung anders gegliedert und d a d u r c h teilweise a u c h andere sachliche Ergebnisse g e w o n n e n " . Als Beispiel nennt Weber Burckhardts Erklärung der ständigen kriegerischen Konflikte z w i s c h e n den g r i e c h i s c h e n Staaten, die nicht - wie sie von Burckhardt erklärt w ü r d e n - der ,nach außen ge-

28 Die zweite Fassung der „Agrarverhältnisse" war etwas mehr als vier Wochen zuvor erschienen; vgl. unten, S. 132. 29 Vgl. die Briefe Max Webers an Marianne Weber vom 15. Aug. 1898 (S. 2: „Ich lese [...] jetzt Wellhausen's prachtvolle .Israelitische Geschichte'") und vom 16. Aug. (S.2) sowie 19. Aug. 1898 (S. 3), jeweils Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/3). 30 Brief Max Webers an Helene Weber vom 13. Apr. 1899, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 3, Bl. 181 (MWG II/3); dazu Weber, Marianne, Lebensbild, S.241. - Zum „Vorlesungs-Grundriß" vgl. oben, S.29. Nicht klar ist, wie sich dieses - ebenfalls nicht realisierte - Projekt zu der 1897 von Weber ins Auge gefaßten „Deutschen Agrargeschichte" verhielt (oben, S.29) und ob es etwa an deren Stelle treten sollte. 31 Brief Max Webers an Carl Neumann vom 11. Nov. 1901, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 30, Band 4, Bl. 22-23, von Marianne Weber Irrtümlich auf den 11. Nov. 1900 datiert (MWG II/3). Vgl. Neumann, Griechische Kulturgeschichte.

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w e n d e t e A g o n ' , sondern d u r c h a u s das „ f e s t g e g e b e n e Prius" u n d seinerseits ein Impuls für den von Burckhardt ,so wundervoll' g e s c h i l d e r t e n .spezifisch hellenischen Pessimismus' g e w e s e n seien. Vor allem e r g ä b e sich aus den .festgegebenen' s t ä n d i g e n Kriegen innerhalb der griechis c h e n Welt die „Organisation der Stadt als geschlossener Zunft der z u m Kriegshandwerk u n d zur S e l b s t e q u i p i e r u n g physisch und ö k o n o m i s c h Fähigen und Vorgebildeten". Dies w i e d e r u m sei „die G r u n d l a g e der gewaltigen Differenzen der g a n z e n Struktur der antiken Polis g e g e n ü b e r m o d e r n e n Städten". 3 2 G e g e n Neumann, der an einer Stelle seines Aufsatzes die Vermutung geäußert hatte, Burckhardt wäre die .hitzige Debatte', die - vor allem anläßlich der seit 1891 e r s c h e i n e n d e n „ D e u t s c h e n G e s c h i c h t e " Karl L a m p r e c h t s - über „individualistische u n d kollektivistis c h e G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g " geführt w o r d e n sei, eher als eine „Stilfrage" erschienen, 3 3 stellt Weber fest, daß hinter den „heutigen M e t h o d e n g e gensätzen" d o c h mehr stehe, w o b e i allerdings die Fragestellung „eine gänzlich schiefe" sei, was er w i e d e r u m auf „ L a m p r e c h t s krasse philosop h i s c h e U n b i l d u n g " zurückführt. Man sieht, wie Weber in d e m für ihn damals ,auch in Form des Diktierens merkwürdig Strapazanten' Brief nicht nur auf den G r i e c h e n l a n d - A b s c h n i t t seiner „Agrarverhältnisse im Altertum" zurückgreift, s o n d e r n mit d e m a n g e d e u t e t e n Vergleich zwis c h e n .antiker Polis' u n d .modernen Städten' wie auch mit d e m Hinweis auf M e t h o d e n f r a g e n bereits auf eine ihn w e n i g später intensiv beschäftig e n d e Thematik vorausweist. Vom N o v e m b e r 1903 ist eine Abschrift von Max Webers Beileidsbrief anläßlich des Todes von Theodor M o m m s e n am 1. N o v e m b e r 1903 an d e s s e n Frau, Marie M o m m s e n , v o m f o l g e n d e n Tag erhalten. 3 4 So wichtig, ja in vieler Hinsicht g r u n d l e g e n d M o m m s e n für Webers „ R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e " g e w e s e n war, hatten seine Arbeiten n a c h Webers verstärkter H i n w e n d u n g zur ö k o n o m i s c h e n Entwicklung des Altertums u n d die A u s d e h n u n g seiner Interessen auf G r i e c h e n l a n d u n d den Alten Orient d i e s e m keine neuen Impulse mehr geliefert: „Wenn es für ein so g ä n z l i c h anders geartetes und gesinntes Geschlecht, wie wir es sind, überhaupt m ö g l i c h ist, von ihm und seiner Persönlichkeit etwas ins eigene Sein zu übertragen, so hoffentlich am ehesten die Fähigkeit, geistig jung zu bleiben, wie er es bis zuletzt war, fähig, das Kleine zu hassen und d a s Größte zu sehen und dafür zu kämpfen, den schweren Druck der Resignation

32 Dazu unten, S. 692-705. - Anzumerken ist auch die (Burckhardt entsprechende) neue Schreibweise „Polis" (statt iróXis); vgl. unten, S.44, Anm.82. 33 Vgl. Neumann, Griechische Kulturgeschichte, S.396. 34 Brief Max Webers an Marie Mommsen vom 2. Nov. 1903, GStA PK, VI. HA, Ni. Max Weber, Nr. 30, Band 4, Bl. 9 0 - 9 1 (MWG II/4).

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immer wieder aus der Tiefe eines mächtig schlagenden tapferen Herzens heraus abzuwehren. Ich wenigstens danke ihm neben unendlich vielem Einzelnen als Größtes und Letztes diesen Entschluß". Als Weber Anfang November 1903 diese Zeilen schrieb, hatte er zwar kurz zuvor selbst seinen Heidelberger Lehrstuhl endgültig aufgegeben, doch war der Tiefpunkt seiner Krankheit offenbar überschritten und begann sich seine literarische Produktivität erneut einzustellen. Damals war gerade der erste Teil des „Roscher und Knies"-Aufsatzes zu methodischen Problemen der Nationalökonomie entstanden, auf den 1904 der Objektivitätsaufsatz und gegen Ende des gleichen Jahres der erste Teil der „Protestantischen Ethik" folgte. In gewisser Weise wandte Weber sich damit Bereichen zu, die er in den beiden Briefen an Carl Neumann über Jacob Burckhardt in den Jahren 1898 und 1901 zumindest angedeutet hatte. Im ersten Brief hatte er davon gesprochen, er sei durch sein Fach dazu verurteilt, daß er nur über den ,zäh-materiellen Weg' der .Zustände' zum .Menschen' des Altertums käme; jetzt wandte er sich mit der „Protestantischen Ethik" immerhin der praktischen Lebensführung des - freilich neuzeitlichen - Menschen zu. Im zweiten Brief waren es Neumanns Bemerkungen zu dem Streit über „individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung", die Webers neuerwachtes Interesse an Methodenfragen erkennen ließen. Zugleich zeigt freilich der im Frühjahr 1904 entstandene Aufsatz Webers zur Fideikommißfrage in Preußen, 35 daß die Agrarfragen, die in den 90er Jahren so sehr im Zentrum seines Arbeitens gestanden hatten, ihn weiterhin beschäftigten. Dem entspricht, daß er für seinen Auftritt bei dem im September 1904 in St. Louis, USA, stattfindenden .wissenschaftlichen Weltkongreß' zunächst einen Vortrag zu Agrarproblemen des germanischen Altertums plante, nämlich zu der vor allem durch Werner Wittich seit 1896 aufgeworfenen Kontroverse über die sozialen Strukturen der Germanen. Während Weber stets unbeirrbar der Auffassung vom Gleichheitsprinzip als besonderem Charakteristikum der germanischen festen Ansiedlung gefolgt war, wollte Wittich jetzt bereits in den ältesten literarischen Quellen, Caesar und Tacitus, in prononciertem Gegensatz zu Meitzen die Grundherrschaft als dominierende wirtschaftliche und soziale Einheit bei den Germanen erkennen, eine These, die zu zahlreichen Stellungnahmen zumal in der deutschen wissenschaftlichen Literatur Anlaß gegeben hatte und der Weber in eingehenden Analysen der beiden antiken Autoren entschieden entgegentrat. Zwar stand hier am Ende ,nur' ein in den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik" veröffentlich3 5 Vgl. Weber, Max, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen, in: MWG I/8, S. 8 1 - 1 8 8 (hinfort: Weber, Fideikommißfrage); zur Entstehungszeit ebd., S.88.

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ter Aufsatz, während das in St. Louis tatsächlich Vorgetragene am Ende doch zeitlich näherliegenderen Fragen der agrarischen Entwicklung in Deutschland galt. Der Aufsatz läßt aber erkennen, mit welcher Intensität Weber sich neben den großen Arbeiten jener Zeit auch weiterhin mit einer ganz anders gearteten, biographisch gesehen gleichsam .älteren' agrarhistorischen Thematik auseinandersetzte. Kennzeichnend für den Aufsatz ist aber auch Webers hier am Begriff der „Kulturstufe" demonstrierte, verstärkte methodologische Sensibilität gerade in diesen Jahren. Dieses Interesse führte Weber zu den im wesentlichen im folgenden Jahr 1905 verfaßten, 36 1906 erschienenen „Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik". Im ersten, „Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer" betitelten Abschnitt befaßte er sich ausführlich mit dessen Schrift von 1902, „Zur Methodik und Theorie der Geschichte", was jedoch ausschließlich in den Zusammenhang der methodologischen und nicht der auf das Altertum bezogenen Arbeiten Max Webers gehört. 3 7

IV. Die dritte Fassung der „Agrarverhältnisse": Polis, Kapitalismus und Jeiturgischer' Staat des Altertums (1907-1908) Als Max Weber in seinem Aufsatz über die altgermanische Sozialverfassung auf der Basis antiker literarischer Quellen agrarhistorischen Problemen nachging, die sich großenteils innerhalb des Meitzenschen Fragenhorizontes bewegten, hatte er sich, wie erwähnt, bereits neuen, wesentlich weiterreichenden Problemstellungen zugewandt, die auch seine nächste Arbeit zum Altertum deutlich beeinflussen sollten. An erster Stelle ist dabei als ein Hauptwerk Webers die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus der Neuzeit und seinen Voraussetzungen in der „Protestantischen Ethik" zu nennen, deren erster Teil gegen Ende des Jahres 1904 erschien, dem im Juni 1905 der zweite Teil folgte. Die Perspektive, aus der hier der Kapitalismus bzw. sein „Geist" von Weber analysiert werden - Konfession, Lebensführung, .Berufs'idee, ,innerweltliche Askese' u.a. differiert weit von derjenigen der „Römischen Agrargeschichte", der ersten beiden Fassungen der „Agrarverhältnisse" und überhaupt seiner Schriften zum Altertum. Auch finden sich in der „Protestantischen Ethik" nur höchst spärliche Bezugnahmen auf den vorneuzeitlichen Kapitalismus, der aber gerade von jetzt an von Weber scharf gegen den Kapita36 Vgl. den Brief Max Webers an Emil Lask vom 3. Sept. 1905, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 30, Band 4, Bl. 124 (MWG II/4). 37 Weber, Max, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 22, 1906, S. 1 4 3 - 2 0 7 (MWG I/7), hier S. 143-185.

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lismus der Neuzeit abgegrenzt wird. 38 Es ist offenkundig, daß der Kapitalismus als Grundproblem der eigenen Gegenwart bei Weber nun einen neuen Rang einnahm, womit aber auch die Frage nach der besonderen Art seiner vormodernen Erscheinungsformen wichtig wurde. Neben dem Kapitalismus waren es vor allem zwei weitere Schlüsselbegriffe, die für Max Weber gerade in den Jahren 1904-1906 besondere Bedeutung gewannen und dann auch für die jüngste Fassung der „Agrarverhältnisse" von 1908 wichtig wurden, nämlich der „Idealtyp" 3 9 und die „Bürokratie". Das in seinen Vorformen bis in die „Römische Agrargeschichte" zurückverfolgbare Konzept des Idealtyps 40 war als systematisch begründetes methodisches Instrument in erster Linie eine Frucht des Objektivitätsaufsatzes vom Jahre 1904, 41 während die „Bürokratie" als grundlegender Gegenspieler der „Freiheit" bei Weber vor allem seit dem zweiten, im August 1906 veröffentlichten Teil seiner Rußland-Studien in den Vordergrund t r a t 4 2 Etwa Anfang November 1907 muß Weber dann an die Neubearbeitung des Artikels „Agrarverhältnisse im Altertum" der 2. Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften für dessen 3. Auflage gegangen sein. 43 Seinem erheblichen .Widerwillen' zum Trotz wurde dieser Artikel in einer etwas mehr als ein Vierteljahr sich hinziehenden „Fron" durch äußerst umfangreiche Erweiterungen des bisherigen Textes und eine erhebliche Vertiefung der Problematik im Sinne der inzwischen gewonnenen Fragestellungen zu seiner umfassendsten und eingehendsten dem Altertum gewidmeten Arbeit überhaupt. Als Erklärung dieses selbst für Weber außergewöhnlichen Einsatzes am Rande der physischen und, wie zahlreiche Zeugnisse zeigen, 44 vor allem psychischen Erschöpfung reichen die von ihm selbst angeführten Gründe wie .Pflicht' und .Anstand' schwerlich aus. 45 Vielmehr ging es Weber in erster Linie um eine genauere Erfas38 Weber, Protestantische Ethik 2, S. 98, findet sich (unter Verweis auf Weber, Handelsgesellschaften) die Feststellung, daß viele Einzelbestandteile des modernen kapitalistischen Geistes in das Mittelalter zurückgingen. Doch wäre der .kapitalistische Geist' eines Benjamin Franklin im Altertum und Mittelalter als Ausdruck schmutzigsten Geizes und würdeloser Gesinnung genommen worden (dass. 1, S. 19); auch die „Habgier [...] des altrömischen Aristokraten" habe nichts mit dem .kapitalistischen Geist' der Neuzeit zu tun. Vgl. noch ebd. 1, S.36, Fn. 1 zu den Bezeichnungen für „Beruf" in den antiken Sprachen. 39 Vgl. dazu die ausdrückliche Feststellung Webers, unten, S.729. 40 Vgl. MWG I/2, S.340; insbesondere auch unten, S.328. 41 Vgl. Weber, Objektivität, bes. S. 4 2 - 5 7 . 42 Vgl. Weber, Max, Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, In: MWG 1/10, S. 293-684. 43 Unten, S.300f., 303. 44 Vgl. bes. unten, S.301 f., 304. 45 Vgl. unten, S.301 f.

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sung des „Kapitalismus" im Altertum und damit um die .Eigenart' der Verhältnisse des Altertums gegenüber der mittelalterlich-neuzeitlichen Entwicklung, also eine größere empirische Tiefenschärfe des Bildes vom neuzeitlichen Kapitalismus. So klar für Weber seit den „Sozialen Gründen" die grundlegende Verschiedenheit des antiken Sklaven und des modernen „Proletariers" 46 und überhaupt die divergierende soziale und ökonomische Entwicklung im Altertum und im Mittelalter gerade im Hinblick auf Sklaverei und Oikoswirtschaft war, hatte doch eine grundsätzliche Unterscheidung speziell von Kapitalismus im Altertum und modernem Kapitalismus in seinen bisherigen Untersuchungen zum Altertum so gut wie keine Rolle gespielt. Sie war ihm aber wohl schon seit der eingehenden Darstellung des „Modernen Kapitalismus" im Werk Werner Sombarts (1902) wie vor allem auch seiner eigenen „Protestantischen Ethik" zum Problem geworden. Während Weber, wie im Brief an Carl Neumann formuliert, sich d e m Kapitalismus der Neuzeit über das .Menschentum' bzw. .Geist' und .Ethik' genähert hatte, hatte er sich beim Altertum seit der „Römischen Agrargeschichte", nicht zuletzt in den ersten beiden Fassungen der „Agrarverhältnisse", in die .Zustände', d.h. die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, .vergraben', eine, wie er eher selbstironisch formuliert hatte, ,zäh-materielle' Perspektive, die auch die Neufassung des Handwörterbuchartikels prägte. 4 7 Eine ganze Reihe von Hauptfragen der neuen Version war bereits in den beiden ersten Auflagen des Artikels angelegt, deren Grundstruktur in Teilen der dritten Fassung auch klar erkennbar blieb. Doch die enorme Vermehrung der einschlägigen Funde und Veröffentlichungen erforderte ein überaus intensives Eindringen in eine Vielzahl von teilweise weit auseinander liegenden und in rascher Entwicklung befindlichen Fachgebieten der Altertumswissenschaft. Allgemein gilt für Webers Neubearbeitung des Artikels, daß bei der Analyse der wirtschaftlichen Struktur der einzelnen historisch-geographischen Bereiche naturgemäß die Landwirtschaft den meisten Raum einnimmt, wobei Anbauprodukte und -technik jeweils nur ganz knapp berührt werden. Ein ausgesprochenes Zentrum von Webers Interesse bilden dagegen stets das Bodenrecht und seine zahlreichen Erscheinungsformen zwischen strenger .Bindung' des Bodens durch Rechte der Gemeinschaft 4 8 oder der Familie und völliger .Bodenfreiheit' bzw. .Verkehrsfrei-

46 Vgl. unten, S. 102. 47 Vgl. oben, S.24. 48 Ungeachtet seiner frühzeitigen Distanzierung von der speziellen ,flurgemeinschaftlichen' Rekonstruktion der ältesten römischen Agrargeschlchte (oben, S.23) hat Weber an dem ursprünglichen Fehlen des privaten Bodeneigentums und dem Vorhandensein von gemeinwlrtschaftilchen Elementen stets festgehalten; vgl. unten, S.200f.

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heit' des B o d e n s und damit die Entwicklung des Privateigentums, die A u s b i l d u n g des Pfandrechts und der Kreditformen bis hin zur Hypothek, die Verpachtung, die öffentlichen und privaten A b g a b e n der verschiedensten Art usw. D a n e b e n stehen die Betriebsweisen und die mit ihnen v e r b u n d e n e n sozialen Strukturen in ihrer erheblichen Spannweite von der Parzellenwirtschaft bis zu Großbetrieben und „Plantagenwirtschaft", von selbstwirtschaftenden Kleinbesitzern, den Sklaven in der Landwirtschaft, d e n a b h ä n g i g e n Kleinpächtern (Kolonen) usw. bis zu Großgrundbesitzern und Großpächtern. Im Handwerk, das im Gegensatz d a z u im Altertum nach Weber kaum Großbetriebe kannte, stellt sich für ihn n e b e n der Verbreitung von Lohn- und Preiswerk vor allem die Frage nach d e m „Ergasterion", der Werkstätte als wichtigster wirtschaftlicher Einheit, und d e m Fehlen .privater Großbetriebe', außerdem nach der B e d e u t u n g der Sklaverei, der Absatz- bzw. Marktproduktion sowie nicht zuletzt nach d e m sozialen Gewicht des Handwerks im Altertum. 4 9 Beim Handel schließlich stehen d e s s e n Organisationsformen v o m Kleinkrämer bis z u m Handel des Herrschers und zu „ k o m m e n d a " ä h n l i c h e n Unternehmensweisen sowie die Fragen seines U m f a n g s und seiner wirtschaftlichen Bedeutsamkeit im Vordergrund. Die auf dieser primären Ebene g e w o n n e n e n Ergebnisse w e r d e n von Weber nun aber g e r a d e in der dritten Fassung der „Agrarverhältnisse" eng mit wesentlich weiterreichenden Problemstellungen verknüpft, die g e g e n ü b e r d e n ersten b e i d e n Fassungen zu einer verstärkten Systematisierung und ,idealtypischen' Verallgemeinerung des Begriffsapparats wie a u c h einer beträchtlichen Vertiefung der inhaltlichen Erkenntnisse führen. Wie s c h o n die ausführliche Einleitung, „Zur ö k o n o m i s c h e n Theorie der antiken Staatenwelt", zeigt, steht hinter d e m g e o g r a p h i s c h - c h r o n o l o g i s c h e n A u f b a u der „Agrarverhältnisse" über die bereits in den bisherigen Fassungen verfolgte Entwicklung von „ B e d a r f s d e c k u n g s " - und „Verkehrswirtschaft", „Natural"- und „Geldwirtschaft" 5 0 hinaus als ein alle Einzelkapitel miteinander v e r b i n d e n d e s H a u p t p r o b l e m der „Kapitalismus" im Altertum, dessen b e s o n d e r e Merkmale g e g e n ü b e r d e m m o d e r n e n Kapitalismus in einer eindringlichen, in der sonstigen wirtschaftshistorischen Literatur beispiellosen Analyse herausgearbeitet werden. Zu diesen g r u n d l e g e n d e n Besonderheiten des Kapitalismus der Antike gehört für Weber seine starke A b h ä n g i g k e i t von der politischen Entwicklung u n d

49 Bereits in der „Römischen Agrargeschichte" hatte Weber von der Wichtigkeit einer .gewerbegeschichtlichen Analyse der antiken Arbeitsteilung' gesprochen, vgl. MWG 1/2, S. 292. 50 Zur Markt- bzw. Absatzproduktion vgl. z.B. unten, S.456 und 576, zum Gegensatz von Deckung des Eigenbedarfs und Gewinnerzielung unten, S. 571; zur großen Bedeutung des Rentenbezugs durch die herrschenden Schichten im Altertum unten, S. 334.

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den politischen Strukturen, aber auch von den geographischen Rahmenbedingungen. Hier ergänzt Weber die schon in den früheren Fassungen von ihm hervorgehobenen beiden Haupttypen der für den Fern- bzw. Seehandel günstigen „Küstenkultur" und des im Altertum im Vergleich damit verkehrsfeindlichen „Binnenlandes" durch die „Stromuferkulturen" an den großen Flüssen des Vorderen Orients (Mesopotamien und Ägypten) als dritten, durch starke Zentralisierungstendenzen geprägten Typus. Angesichts der überragenden Wichtigkeit der polltischen Strukturen für die Entwicklungschancen des Kapitalismus Im Altertum entwirft Weber In der Neufassung des Artikels außerdem eine explizite Typologie der antiken Staaten. Auf beides, den antiken Kapitalismus und die Staaten-Typologie, ist wenigstens kurz einzugehen. Der kategorische Widerspruch Eduard Meyers gegen die Oikentheorle und die sich daran anschließende, teilweise lang anhaltende „Meyer-Bücher-Kontroverse" berührten die spezifische Frage nach dem Kapitalismus im Altertum kaum, der in der wissenschaftlichen Forschung eher am Rande behandelt wurde. Immerhin hatte etwa Webers Doktorvater, der führende Handelsrechtler Levln Goldschmidt, Im Hinblick auf Rom 1893 von dem „schamlosesten Kapitalismus" gesprochen, 5 1 und auch für Eduard Meyer war Kapitalismus im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. selbstverständlich. 52 Ebenso verzeichnete ein Nationalökonom wie Lujo Brentano In seinen Vorlesungen zur antiken Wirtschaftsgeschichte vom Alten Orient bis Byzanz zahlreiche Formen des Kapitalismus. 53 Eingehender mit dem Problem setzten sich dann jedoch insbesondere Michael Rostovtzeff und Giuseppe Salvloll auseinander. Rostovtzeff veröffentlichte Im Jahre 1900 in einer für ein allgemeines Publikum bestimmten russischen Zeitschrift einen „populären" Aufsatz: „Kapitalismus und Volkswirtschaft In der Alten Welt", in dem er sich, ähnlich wie Eduard Meyer, In erster Linie gegen Büchers Theorie einer allgemeinen antiken Olkenwirtschaft wandte und - Im Gegensatz zur Sicht Webers In den etwas späteren „Agrarverhältnissen" von 1908 54 - gerade im

51 So Goldschmidt, Universalgeschichte des Handelsrechts, S.60 (vgl. 70f.). 52 Meyer, Geschichte des Altertums 3, S. 548-554, bes. 550; ebd. 5, S.281, 289, 366. Vgl. auch die Kritik Delbrücks an Sombart, Moderner Kapitalismus (wie unten, S.736, Anm. 66; dort S. 338), daß er das Altertum nicht berücksichtigt habe. 53 Sie wurden allerdings erst viel später, 1929, veröffentlicht: Brentano, Lujo, Das Wirtschaftsleben der antiken Welt. Vorlesungen gehalten als Einleitung zur Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters. - Jena: Gustav Fischer 1929. Zur Entstehungsgeschichte des Werkes ebd., S. IV; zum „Kapitalismus" vgl. das Register, S. 241. - Weitere Hinweise bei Salvioli (wie unten, S.39, Anm. 56), S . 9 - 1 2 . 54 Vgl. unten, S.47.

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ptolemäischen Ägypten eine Blütezeit des antiken Kapitalismus sehen wollte und außerdem seinerseits die Unterschiede zwischen dem antiken „agrarischen" und dem neuzeitlichen Kapitalismus betonte. 5 5 Sichere Spuren einer Kenntnis dieses Artikels sind bei Max Weber allerdings ebensowenig zu finden wie von dem weltverbreiteten Werk des Italienischen Rechtshistorikers Giuseppe Salvloll über den antiken Kapitalismus am Beispiel Roms. Diese Untersuchung erschien zunächst im Jahre 1906 In französischer Sprache 5 6 und lag erst 1912 auch In einer deutschen, von dem gleichnamigen Sohn des bekannten Sozialisten Karl Kautsky besorgten Übersetzung vor, 57 einschließlich einer „Vorrede" von Kautsky senior. 58 Der sich auf Marx berufende Autor wies die Existenz eines Kapitalismus vor der Neuzeit dezldiert zurück. Die antike Wirtschaft habe das Stadium des „Handels"- und „Wucherkapitalismus" nicht überschritten und stelle Im übrigen ein „selbständiges System" dar, 59 das allenfalls äußerliche und oberflächliche Ähnlichkeiten mit dem modernen Kapitalismus aufweise. 6 0 In der deutschen Fassung von 1912 hielt Salvloll Weber vor, er verwende In seinen „Agrarverhältnissen" von 1908 die von ihm vorgebrachten Argumente gegen den antiken Kapitalismus, vergäße jedoch, sein Buch zu zitieren. 61 Es gibt freilich kein Indiz dafür, daß Weber

55 Rostovtzeff, Michael, Kapltalizm i narodnoe chozjajstvo v drevnem mire, in: Russkaja Mysl', 1900, Nr. 3, S. 1 9 5 - 2 1 7 . Z u m hellenistischen Ä g y p t e n vgl. ebd., S . 2 0 3 f . - Im Z u s a m m e n h a n g mit der römischen Agrarentwicklung nannte Rostovtzeff hier neben M o m m s e n ausdrücklich auch Max Weber, ebd., S. 205. 56 Salvioli, G[iuseppe], Le capitalisme dans le m o n d e antique. Études sur l'histoire de l'économie romaine. Traduit sur le manuscrit italien par Alfred Bonnet (Bibliothèque Internationale d ' é c o n o m i e politique). - Paris: V. Glard & E. Brière 1906. 57 Salvloll, Joseph, Der Kapitalismus Im Altertum. Studien über die römische Wirtschaftsgeschichte. Nach d e m Französischen übersetzt von Karl Kautsky jun[lor], Stuttgart: J.H.W. Dietz Nachf. 1912 (hinfort: Salvioli, Kapitalismus). 58 Ebd., S. VII-XX. - Eine Italienische Fassung folgte erst postum: Salvioli, Giuseppe, II capitalismo antico. Storla dell'economia romana, a c u r a e con pref[azione] dl Gius e p p e Brindisi (Blblioteca dl Cultura moderna, 175.) - Barl: Laterza & flgli 1929. 59 Salvioli, Kapitalismus (wie oben, A n m . 5 7 ) , S. 315f. 60 Ebd., S. 314f., 319f. 61 Ebd., S.278, Anm. 14. - Der bereits (oben, S . 9 ) erwähnte russische Historiker Grews, der 1899 ein stark von der Bücherschen Oikostheorle beeinflußtes, umfangreiches Werk „Skizzen zur Geschichte des römischen Grundeigentums" publiziert hatte, schrieb viel später, 1923, in seinen unveröffentlichten A u f z e i c h n u n g e n „K istorii moej naucnoj zlzni" (Zur Geschichte meines wissenschaftlichen Lebens), er betrachte als sein wissenschaftliches Hauptverdienst die A n w e n d u n g des Bücherschen Systems für die Bestimmung der Eigenart der antiken, Insbesondere römischen Wirtschaft, zumal Weber - in der dritten Fassung seiner „Agrarverhältnisse" - sowie Salvioli (vgl. oben, S . 5 6 ) seine Theorie anerkannt hätten, und zwar nach d e m Bekanntwerden mit seinem Buch, und sie ohne entsprechende Verweise ,lm Westen verbreitet' hätten (vgl. Bongard-Levin/Ljapustlna, Iwanow (wie oben, S.9, Anm. 25), S.205f.). Weber hat Grews'

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Salviolis Arbeit (in der Version von 1906) kannte bzw. sein Werk gar ohne einen Nachweis benutzt hätte. Ohne Zweifel war es erst Max Weber, der sich in den „Agrarverhältnissen" von 1908 mit der Frage des Kapitalismus im Altertum am intensivsten und zugleich im weitesten Rahmen auseinandergesetzt hat. Er hatte bereits in seiner „Römischen Agrargeschichte" die Existenz eines .unerhörten agrarischen Kapitalismus' in Rom konstatiert 62 und (unter Zustimmung von Eduard Meyer) darauf verwiesen, daß die von Rodbertus für das ganze Altertum als charakteristisch erklärte „Oikoswirtschaft" erst ein spätes Ergebnis der sozialen und ökonomischen Entwicklung der Antike gewesen sei. 63 Schon am Ende der zweiten Fassung der „Agrarverhältnisse" von 1898 hatte Weber eine eigene nähere Stellungnahme zu der mittlerweile zwischen Eduard Meyer und Karl Bücher als Erneuerer der Rodbertusschen Oikostheorie entstandenen Kontroverse angekündigt. 6 4 In vieler Hinsicht läßt sich die dritte Fassung der „Agrarverhältnisse" als eine Analyse von Gesellschaft und Wirtschaft des Altertums unter der Fragestellung des Kapitalismus verstehen, die in den beiden älteren Fassungen im wesentlichen noch als die Frage des Verhältnisses von „Oikos"- und „Verkehrswirtschaft" im Altertum erschienen war, während Weber jetzt gerade die .klassischen' Höhepunkte der antiken Kultur als spezifisch .kapitalistisch' geprägt erklärt. Er plädiert für ein „idealtypisches" Verständnis der Bücherschen Konzeption der antiken Hauswirtschaft, 65 von der aber auf jeden Fall eine sehr starke .Einschränkung der Verkehrserscheinungen' im Altertum gegenüber der späteren Entwicklung, zumal seit dem 13. Jahrhundert, festzuhalten sei. Er hebt die Notwendigkeit von besonderen Kategorien für die ökonomischen Verhältnisse der Antike hervor, weist auf die Bedeutung des „Oikos" (bis hin zum .königlichen' Oikos) im ganzen Altertum, vor allem aber in dessen Früh- und Spätzeiten, hin und wendet sich - ähnlich wie schon Bücher selbst vehement gegen die Verwendung eines Begriffs wie „Fabrik" für die Antike, die keine handwerklichen Sklaven-Großbetriebe gekannt habe. 6 6

Werk offenbar erhalten (1906; vgl. MWG 1/10, S. 16), doch fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, daß er es In seinen „Agrarverhältnissen" von 1907/08 oder sonst benutzt hätte. 62 MWG I/2, S. 216f. 63 Vgl. MWG I/2, S.317; zu Eduard Meyer unten, S.84 mit Anm. 12. 64 Vgl. unten, S.227. 65 In diesem Sinn hat sich auch Bücher selbst geäußert, bes. ders., Entstehung der Volkswirtschaft 1 , S.76*; dass. 2 [1898], S. IX f.; 6 5 - 6 7 . Zu Einschränkungen Webers gegenüber Rodbertus vgl. unten, S. 331 f. 66 Zu gelegentlichen „Großbetrieben" mit freien Arbeitern im ptolemäischen Ägypten unten, S. 581. - Vgl. auch unten, S. 745, über .viele modern gedachte Partien' in

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Eine gewisse Modifikation gegenüber seinen früheren Positionen besteht darin, daß er, offenbar nicht zuletzt angesichts der Verhältnisse im hellenistischen Ägypten 6 7 sowie der Darlegungen Eduard Meyers, von einer zu gewissen Zeiten und in bestimmten Regionen geringeren Bedeutung der Sklaverei gegenüber der freien Arbeit ausgeht. Der Begriff des Kapitalismus als solcher war in dem besonders nachhaltig von der Rodbertus-Bücherschen Lehre geprägten Vortrag über die „Sozialen Gründe" gar nicht 6 8 und in den „Agrarverhältnissen" von 1897 und 1898 eher punktuell Im Zusammenhang mit der bereits in der „Agrargeschichte" geschilderten Entwicklung in Rom gefallen; andererseits fehlte der „Kapitalismus" keineswegs in den Rom geltenden Teilen der nationalökonomischen Hauptvorlesung. 6 9 Weber hat später (1910) ausdrücklich festgestellt, er habe zuerst nur „vereinzelte Erscheinungen der antiken Wirtschaft" als kapitalistisch bezeichnet und erst in den Agrarverhältnissen von 1908 vom .antiken Kapitalismus' generell gesprochen, „in einer übrigens sicherlich noch sehr unvollkommenen Art". 7 0 Er geht dem Kapitalismus in der Antike jetzt systematisch nach, indem er ihn anhand einer expliziten, zugleich rein ökonomischen Definition (d.h. ohne Rücksicht auf die Rechtsstellung - frei oder unfrei - der Arbeitenden) unter zwei Hauptaspekten betrachtet: zum einen als Merkmal gerade der Höhepunkte in der allgemeinen Entwicklung des Altertums, zum andern In seinen charakteristischen Eigenarten bzw. Einschränkungen gegenüber dem modernen Kapitalismus. Die in zahlreichen Details von Weber immer wieder herausgearbeiteten tiefen Unterschiede gegenüber dem Kapitalismus der Neuzeit ergeben sich aus einer ganzen Reihe von für die Antike wesentlichen Elementen, von dem charakteristischen, von Weber immer sorgfältig registrierten Überwiegen von bloßer .Rente' und .Rentenbezug' gegenüber (Markt-)Gewinn 7 1 über die grundlegende

Mommsens „Römischer Geschichte". Bereits in Literaturangaben zu seiner nationalökonomischen Hauptvorlesung hatte Weber dem Werk ,,manchesterl[iche]" (also freihändlerische bzw. liberale) „Anschauungen]" und .Modernisieren' attestiert (Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 89). 67 Vgl. aber auch die Bemerkungen zu Griechenland, unten, S.523. 68 Dies gilt ebenfalls für die Zeitungsberichte, wo - im Einklang mit dem veröffentlichten Text - nur an einer Stelle von der Hemmung der .Capitalbildung' in der Spätantike die Rede ist; vgl. unten, S.97. 69 Vgl. oben, S.27f. 70 Vgl. Weber, Max, Antikritisches zum „Geist" des Kapitalismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 30, 1910, S. 176-202 (MWG I/9), hier S. 199 mit Anm.32. 71 Zur Unterscheidung von Rente und (Markt)gewinn vgl. unten, S.347 und 708, zu dem von (Kapital-)Rentner und Unternehmer unten, S.358 und 530f. - Kritisch gegenüber „Rentiersexistenzen" in der Gegenwart hatte sich Weber u.a. in seiner Arbeit über die Fideikommißfrage in Preußen von 1904 geäußert, vgl. MWG I/8, bes. S. 185.

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Abhängigkeit jeder kapitalistischen Entwicklung im Altertum von den politischen Strukturen und dem politischen Auf und Ab der Staaten, d.h. nicht zuletzt ihrer jeweiligen Expansion 72 bis zum Fehlen des .stehenden' Kapitals, der großen Bedeutung der Sklaverei, 73 den anderen Arten der Kapitalverwertung im Altertum 74 sowie dem im Vergleich zum späteren Mittelalter und zur Frühen Neuzeit entscheidend geringeren sozialen Gewicht des Gewerbes, das kaum Großbetriebe kannte, und anderen Faktoren. Die Rechtsformen des Privatverkehrs gingen nach Weber über die .diskontinuierliche Gelegenheitsanlage' von Kapital nicht hinaus. 75 Der daraus resultierende, zwar durchaus bis zur Ausbildung eines „Kapitalismus" führende, aber schon gegenüber dem späteren Mittelalter entschieden geringere Grad der ökonomischen Gesamtentwicklung einschließlich des Kapitalismus ist ein die gesamten „Agrarverhältnisse" von 1908 auch in der Masse ihrer Details beherrschendes Hauptthema (ohne daß hier der moderne Kapitalismus begrifflich bereits als der „rationale" Kapitalismus dem des Altertums entgegengesetzt würde). Da nach Weber zu den entscheidenden Charakteristika des Kapitalismus im Altertum die Abhängigkeit seiner Entfaltung von den politischen Strukturen gehört, entwirft er eine generelle Typologie der antiken .politischen Organisationsstadien'. Bereits in den ersten beiden Fassungen hatte Weber für Griechenland von Eduard Meyer die Adels-, Hoplitenund (demokratische) Bürgerpolis als wesentliche Entwicklungsformen der griechischen Poleis übernommen. Daran (und damit besonders stark an die griechische Polisentwicklung) anknüpfend stellte er nun eine förmliche Typologie aller Staaten des Altertums auf. Die insgesamt sieben Grundtypen sind das „Bauemgemeinwesen", das „Burgenkönigtum", das „Stadtkönigtum", der „autoritäre Leiturgiestaat", ferner die „Adelspolis", die „Hoplitenpolis" sowie die „demokratische Bürgerpolis". Bauerngemeinwesen und Burgenkönigtum repräsentieren die Entwicklungsstadien vor der Entstehung der Stadt. Stadtkönigtum und autoritäre „Leiturgie"monarchie bilden die monarchische Entwicklungslinie, wobei das .bürokratische Stadtkönigtum' die eine Möglichkeit der Weiterentwicklung des Burgenkönigtums ist und die Leiturgiemonarchie wiederum durch „Rationalisierung" aus dem „bürokratischen" Stadtkönigtum hervorgeht,

72 Vgl. z.B. unten, S.548: „jene spezifisch antiken Stimuli des .Kapitalismus 1 , die immer mit politischer Expansion verknüpft waren". 73 Zur besonderen Affinität von republikanischem Staat und Sklaverei einerseits, Monarchie und abhängiger Kleinpacht andererseits vgl. bes. unten, S. 354-357, dazu auch etwa unten, S.393. 74 Nicht weniger als neun .klassische' Kapitalverwertungsarten Im Altertum werden von Weber herausgestellt, vgl. unten, S. 338f., 370. 75 Vgl. unten, S.711

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indem hier die Leistungsfähigkeit des Staates durch ,Leiturgien' (wörtlich etwa: .öffentliche Dienstleistungen') abgesichert ist. Gemeint ist damit, daß die Erfüllung staatlicher Bedürfnisse weithin auf der direkten Bind u n g der Vermögen der Bemittelten an bestimmte öffentliche bzw. staatliche A u f g a b e n beruht. 7 6 W ä h r e n d die Institution der Leiturgie als nominell freiwillige Leistung v e r m ö g e n d e r Bürger für ihre Polis bereits in der Welt der g r i e c h i s c h e n Stadtstaaten des 5. und 4 . J a h r h u n d e r t s v.Chr. existierte, war die .Leiturgiemonarchie' im Sinne Webers im Orient beheimatet u n d insbesondere in Ä g y p t e n a u s g e p r ä g t . Der Z w a n g s c h a r a k t e r der Leiturgien verstärkte sich in der späteren römischen Zeit und w u r d e allgemein für das s p ä t r ö m i s c h e Weltreich kennzeichnend. Die B e d e u t u n g der Leiturgien in einem Teil der antiken Staaten hatte vor allem Rostovtzeff, Staatspacht (1902), h e r v o r g e h o b e n ; 7 7 dies liegt W e b e r s Ausweitung des Leiturgiebegriffs auf einen allgemeinen Typus des antiken m o n a r c h i s c h e n Staates offensichtlich zugrunde. A u c h die Adels-, Hopliten- und d e m o k r a t i s c h e Bürgerpolis sind nach Weber aus einem anfänglichen „ B u r g e n k ö n i g t u m " h e r v o r g e g a n g e n . N a c h der Stufe des (z.B. in Griechenland nach Weber d u r c h die m y k e n i s c h e Kultur verkörperten) B u r g e n k ö n i g t u m s tritt d e m n a c h bei der dann folgenden Stadtentstehung eine Art G a b e l u n g in eine m o n a r c h i s c h e und eine r e p u b l i k a n i s c h - d e m o k r a t i s c h e Strukturentwicklung ein, die zunächst vor allem d e m politischen G e g e n s a t z zwischen orientalischer monarchischer und mittelmeerischer bzw. okzidentaler republikanischer Stadtkultur entspricht und deren U r s a c h e n Weber stark beschäftigt haben. 7 8 Insofern als er sie allgemein wesentlich auf ,Sieg' bzw. .Niederlage' der militäris c h e n Gefolgschaften g e g e n ü b e r d e m .Burgen'königtum und den Ge-

76 Vgl. dazu z.B. unten, S.356 (Leiturgien bzw. munera: die verwaltungsrechtliche Bindung an den Besitz und die soziale Funktion führen zur „Vernichtung alles dessen, was man ... .Freiheit' genannt hatte"); unten, S.367 (die Untertanen im Leiturgiestaat werden als reine Objekte behandelt); unten, S. 555 f. (Sicherung der Staatseinkünfte durch Auferlegung von Vermögensgarantien für den Eingang der Staatsaufgaben auf die Bemittelten und Fesselung der zu Leistungen an den Staat Verpflichteten an ihre Funktion; Ägypten als das klassische Land dafür, aber auch anderwärts); unten, S.562f., 564 (als Folge der .Bürgschaftspflichtigmachung von Vermögen für jede öffentliche Leistung' Zunahme der gemeinwirtschaftlichen Gebundenheit und der „Verkehrsausschaltung"). 77 Vgl. ebd., S.349, 421, 472, 502f„ sowie unten, S.367. 78 Vgl. bes. unten, S . 4 6 8 - 4 7 3 . - Als einen Hauptfaktor nennt Weber den Niedergang der orientalischen Großreiche als Handelspartner, die damit verbundene Abnahme des königlichen Hortes, das .Reisläufertum' und den eigenen Handel der .Helden', so daß aus dem Burgenkönig ein bloßer Heerkönig und aus persönlicher Gefolgschaft Gelegenheitsgefolgschaft wurde, .eigene' Geschlechter entstanden und die Bedeutung des Ratsadels stieg.

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gensatz z w i s c h e n A u s r ü s t u n g des Heeres d u r c h den Herrscher und der (bereits von Eduard Meyer betonten) „Selbstequipierung" der Krieger zurückführt, stellt er, wie bereits bei der Entstehung des .Burgenkönigtums' aus d e m anfänglichen B a u e r n g e m e i n w e s e n sowie bei der Entw i c k l u n g von der .Geschlechter'- zur .Bürgerpolis' die militärischen Faktoren e n t s c h i e d e n in d e n Vordergrund, auf deren Prius er g e g e n J a c o b Burckhardt s c h o n in d e m Brief an Carl N e u m a n n b e s t a n d e n hatte. 7 9 Weber betont zugleich n a c h d r ü c k l i c h den .¡dealtypischen' Charakter der einzelnen Strukturen und weist auf .Sonderformen', wie z . B . die Verbind u n g von B a u e r n g e m e i n w e s e n und Hoplitenstaat in Israel vor der Entstehung des dortigen .theokratisch-bürokratischen' Stadtkönigtums oder a u c h auf die Etrusker, hin, 8 0 bei d e n e n er theokratische Adelspoleis ohne Weiterentwicklung zur Hoplitenpolis sehen will. 8 1 A u c h w e n n vor allem die Frühformen historisch nicht überall greifbar sind, liegen die sieben Staatstypen als charakteristisches neues Element der gesamten, 1907/08 entstandenen Fassung der „Agrarverhältnisse" z u g r u n d e , w o b e i d a s ihnen z u k o m m e n d e Erklärungspotential j e d o c h die historische Individualität der Einzelbereiche nicht beeinträchtigen soll. Der Schaffung dieser neuen politischen Typenbegriffe entspricht die Ausweitung von „Polis" von einer B e z e i c h n u n g speziell für die antiken griechischen Stadtstaaten z u m A u s d r u c k für den Typus des antiken Stadtstaats überhaupt (und z u g l e i c h als G e g e n b e g r i f f zur mittelalterlichen „Stadt"), wobei er anders als in d e n bisherigen Fassungen der „Agrarverhältnisse" jetzt (dies m ö g l i c h e r w e i s e nach d e m Vorgang J a c o b Burckhardts in seiner „Griechischen Kulturgeschichte") a u c h äußerlich nicht mehr in der griechischen Form ttöXis, sondern als „Polis" erscheint. 8 2 Bei aller nicht aufhebbaren A b h ä n g i g k e i t der Entwicklung des antiken Kapitalismus von den durch die politisch-militärische Situation g e g e b e nen C h a n c e n bleibt das Verhältnis beider Bereiche zueinander aber

79 Vgl. oben, S. 31 f. 80 Vgl. auch den Hinweis auf die Aitoler und die Samniten, unten, S.371. 81 Vgl. unten, S.599. 82 Vgl. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, bes. Band 12, S. 57-89: „Die Polis"; S. 90-281: „Die Polis in ihrer historischen Entwicklung"; dazu oben, S.32, Anm. 32. Dagegen findet sich (z.B.) 1902 bei Rostowzew, Staatspacht, noch wie selbstverständlich ttöXis. Andererseits verwendete bereits Rodbertus „Polis" auch für Rom, vgl. z.B. ders., Römische Tributsteuern, S.446: „Rom gehörte ursprünglich zu der Staatenart der Polls". In Anführungszeichen erscheint Polis zweimal in Webers Artikel „Agrargeschichte, Altertum" in Religion in Geschichte und Gegenwart, unten, S. 759 f. - Auch Webers eigene Exemplare der „Griechischen Kulturgeschichte" sind erhalten (Max Weber-Arbeitsstelle der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), wobei sich seine charakteristischen Markierungen hier überwiegend in den Inhaltsverzeichnissen finden. Vgl. oben, S.22, Anm. 83.

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doch insofern durchaus mehrdeutig, als der Staat nach Weber bald als „Schrittmacher", bald aber auch als ausgesprochen .erdrückend' für die Kapitalbildung auftrat. 83 Es war nach Max Weber jedenfalls nicht so, daß z.B. von den monarchischen und republikanischen Staaten (also Stadtkönigtum und Leiturgiestaat bzw. Adels-, Hopliten- und demokratischer Bürgerstaat) sich die ersteren grundsätzlich als hemmend für die .kapitalistische' Entwicklung und umgekehrt erwiesen hätten. So konnte die Entwicklung der Privatwirtschaft (und damit die Möglichkeit des Kapitalismus) in den republikanischen Staaten ebenso wie ihr Verhältnis zum königlichen Oikos in den Monarchien erheblich variieren. Die .Bandbreite' des Verhältnisses von politischen und wirtschaftlichen Strukturen in der Sicht Max Webers wird bereits in den Abschnitten über den Alten Orient erkennbar. Auch wenn zahlreiche Übereinstimmungen in den Hauptlinien seiner Analyse der altorientalischen Monarchien in den beiden Fassungen von 1898 und 1908 nicht zu übersehen sind, ist für die auch hier wesentlich erweiterte Fassung von 1908 - neben der äußeren Voranstellung von Mesopotamien gegenüber Ägypten und der Heranziehung neuer Literatur sowie zahlreicher weiterer Quellen und Urkunden, darunter insbesondere des neuentdeckten Codex Hammurabi für Mesopotamien - die gezielte Frage nach der Existenz einer kapitalistischen Entwicklung sowie die Anwendung des Begriffs des .Leiturgiestaates' bestimmend. Dabei erfaßt Weber Babylon und sein Recht als „Träger der Entwickelung zum .Kapitalismus'", 8 4 während Ägypten das Leiturgieprinzip sowie die bürokratische Verwaltung „zuerst und in nachher nicht wieder erreichter Vollkommenheit verwirklicht" habe. 8 5 So erkennt Weber in Mesopotamien geradezu den historischen Ausgangspunkt des antiken Kapitalismus, während dieser in Ägypten 8 6 durch die Staatswirtschaft erstickt worden sei, so daß der Ursprung des .bürokratischen Leiturgiestaates' hier gelegen habe. In der Behandlung des vorexilischen Israel, die zugleich eine erste nähere Hinwendung Webers zur Untersuchung des antiken Judentums darstellt, wird auch Israel im Lichte der neuen Typologie der antiken Staatenwelt b e t r a c h t e t 8 7 So sieht Weber das von ihm in die Vorkönigs-

83 Vgl. unten, S. 351 (von den öffentlichen Finanzen). 84 Vgl. unten, S.394, während der Hinweis auf den Kapitalismus im entsprechenden Zusammenhang der 2. Fassung, unten, S. 165, noch fehlt. 85 Vgl. unten, S.438, wiederum im Gegensatz zur 2. Fassung, unten, S.157. 86 Vgl. unten, S.589. 87 Eine eingehende Behandlung der Israel-Abschnitte im Hinblick auf Webers späteres „Antikes Judentum" findet sich bei Otto, Eckart, Max Webers Studien zum antiken Judentum bis 1908, in: MWG 1/21, S. 1-27.

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zeit datierte „Gesetz" als einen Versuch, den durch den Aufstieg von „Geschlechtern" drohenden Verlust der ursprünglichen Gemeinfreiheit zu verhindern, während er in der Königszeit zugleich Züge des .orientalischen Fronstaates' sowie einen sich im Deuteronomium manifestierenden Sieg der Priester- über die Militärgeschlechter konstatiert. Dagegen bieten die Propheten nach Weber das .typische Bild der antiken Polisentwicklung unter dem Einfluß der Geldwirtschaft', wobei er neben teilweise bestehenden Bodenbindungen eine begrenzte Entwicklung des Handwerks feststellt. Der „Hellas"-Teil der dritten Fassung folgt in seinem Gesamtaufbau dem entsprechenden Kapitel der älteren beiden Versionen und bringt gegenüber diesen, in denen die jetzt für die allgemeine Staatentypologie verwendeten, besonders durch die militärische Entwicklung bestimmten Haupttypen im Anschluß an Eduard Meyer bereits benutzt worden waren, eine förmliche, freilich sehr allgemeine Unterteilung in die „vorklassische" und „klassische" Zeit und darüber hinaus eine wesentlich vertiefte Darstellung. Sie reicht von der „freien Gemeinde" der Frühzeit über das mykenische „Burgenkönigtum" und die vom Orient stark abweichende .Polis'bildung mit der Entstehung eines .kriegerischen Städtepartikularismus' in Gestalt zunächst der Adelspolis und ihrer Krise bis zur „Bürgerpolis", mit welch letzterer Stufe auch hier (nach den Einschränkungen durch die vorangehende „Hoplitenpolis") die .volle Verkehrsfreiheit des Bodens' erreicht gewesen sei. In Griechenland läßt sich die Entwicklung vom naturalwirtschaftlichen militärischen Stadtfeudalismus bis zur Durchsetzung der vollen Bodenverkehrsfreiheit, ja eventuell bis hin zur .kapitalistischen' Durchdringung des platten Landes verfolgen. 1 Am Ende des Abschnitts über die vorklassische Zeit unternimmt Weber auch einen Versuch der Erklärung des .weltlichen Charakters der Kulturentwicklung in Griechenland' im Gegensatz zum Orient (einschließlich Israels). Er glaubt sie im Fehlen eines Priesterstandes infolge der Unterwerfung der Priester unter die Militärmacht der Adelsgeschlechter in Griechenland zu finden, wohingegen im Orient die .Militärgeschlechter' der Bürokratie und Theokratie unterlegen seien. 2 Besonders wichtig ist in der dritten Fassung

1 Vgl. unten, S. 4 6 1 - 4 6 5 , 4 6 5 - 4 7 6 , 4 7 6 - 4 9 7 , 4 9 7 - 5 0 3 , 508 und 534; dazu zur ursprünglichen A d e l s b i l d u n g S. 4 5 9 f . , w o n a c h die Gemeinsamkeit der Nahrung, nicht das Blut die älteste Quelle gegenseitiger Pflichten wäre. Erst bei d e n lokalen Fürstenund Ratsgeschlechtern entstand dann die „Idee von der B e d e u t u n g des Blutbandes als solchen", w o n a c h das durch Blut v e r b u n d e n e Geschlecht ( y e v o s ) die erweiterte Sippe des adligen Mannes, ökonomisch sein O L K O S sei. Später wurde d a n n an der Küste der Handel (Passiv-, Aktiv- bzw. Eigenhandel) wesentlich. 2 Unten, S. 5 0 3 - 5 0 6 .

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a u c h die eindringliche Erörterung der Sklavenarbeit im .klassischen' Griec h e n l a n d , zumal im Handwerk, k e n n z e i c h n e n d d a n e b e n der wiederholte Vergleich mit der nach Weber in vielen Einzelzügen zwar verwandten, aber zugleich infolge der politischen Expansion in g a n z anderen, viel größeren Dimensionen sich vollziehenden Entwicklung Roms. Neu g e g e n ü b e r der ersten und der zweiten Fassung ist s o d a n n das Kapitel über d e n Hellenismus. Hier wird zunächst die „Stagnation" unter der Herrschaft des Perserreichs behandelt, w o Max Weber den .Kapitalismus' (ähnlich wie in Ä g y p t e n und später in Rom) auf die Dauer von der Staatswirtschaft erdrückt sieht. In d i e s e m Rahmen findet sich a u c h eine e n t s p r e c h e n d k n a p p e Skizze d e s nachexilischen J u d e n t u m s in der persischen Zeit. B e h e r r s c h e n d im Mittelpunkt stehen d a n n aber die Verhältnisse im ptolemäischen Ä g y p t e n , d e m .rationalsten' bzw. ,Musterstaat des Hellenismus', 3 und die Frage nach der Entwicklung von Geldwirtschaft und Kapitalismus unter d e n B e d i n g u n g e n des .Leiturgiestaates' und seiner Bürokratie. Unter Heranziehung der Ergebnisse der Papyrusf o r s c h u n g arbeitet Weber für das Ptolemäerreich in der Analyse der vers c h i e d e n e n Arten von Land (Königs-, Tempel-, Kleruchenland) sowie der sozialen G r u p p e n (Kleinpächter, freie Arbeiter, Sklaven) vor allem heraus, daß dort zwar von einer deutlichen Entwicklung der (mit Kapitalismus noch keineswegs gleichzusetzenden) Geldwirtschaft, aber a n g e s i c h t s der hier wie a u c h sonst ü b e r r a g e n d e n B e d e u t u n g des Leiturgieprinzips in den hellenistischen Monarchien, a u c h z . B . der weiten A u s d e h n u n g der binnenländischen Grundherrschaft, begrenzter Marktproduktion und anderer für das Altertum typischer H e m m n i s s e nur von einer beschränkten Entstehung von „Kapitalismus" in seinen antiken Erscheinungsformen die Rede sein könne; Bürokratie und Leiturgieprinzip, die in Ä g y p t e n seit lang e m heimisch waren, führten auf die Dauer vielmehr zu einer allmählich w a c h s e n d e n gemeinwirtschaftlichen G e b u n d e n h e i t und .Verkehrsausschaltung'. In den hier a m Ende stehenden Passagen über das J u d e n tum in dieser Epoche w e r d e n das Agrarrecht, Pacht, Verpfändung nach d e m Talmud (vor allem auf der Grundlage der e n t s p r e c h e n d e n rechtsgeschichtlichen Artikel der Jewish Encyclopedia) besprochen, wobei die .alten theokratischen B i n d u n g e n des Verkehrs' und speziell des Schuldrechts betont w e r d e n . 4 Abschließend geht Weber noch d e m Fehlen einer .sozialen B e w e g u n g ' im neuzeitlichen Sinn in der .orientalisch-hellenisti-

3 Vgl. unten, S.563. 4 Vgl. unten, S. 592-596. - Die Bedeutung der Enzyklopädie (für „alle Lltteratur zu Spezialfragen") und Ihre allgemeine Zugänglichkeit hatte Weber schon in einer für den Dichter Carl Hauptmann, den älteren Bruder Gerhart Hauptmanns, bestimmten Mitteilung an Werner Sombart vom 1. Februar 1906 erwähnt (Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Nl. Carl Hauptmann, K 146). (Nachtrag zu MWG II/5.)

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sehen Welt' nach, als w e l c h e Insbesondere das Christentum nicht g e s e hen w e r d e n dürfe, u n d erklärt dieses Fehlen als eine Folge des vorherrs c h e n d e n bürokratischen Staatstypus. Der folgende, Rom in der Zeit der Republik g e l t e n d e Teil der „Agrarverhältnisse" ist derjenige, der in der dritten Fassung die stärkste Erweiterung überhaupt g e g e n ü b e r d e n älteren Versionen erfahren hat, w o b e i er von Weber in zwei A b s c h n i t t e über d e n „Stadtstaat" bzw. die „Expansionszeit" gegliedert wurde. Wenn a u c h dieses Kapitel jedenfalls in seinen G r u n d z ü g e n den früheren b e i d e n Fassungen, letztlich vielfach d e n bereits in der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " g e w o n n e n e n Ergebnissen folgt, wird jetzt a u c h hier Webers neu aufgestellte Typologie der antiken Staaten konsequent a n g e w e n d e t . Die Zeit des „Stadtstaates" erscheint z u g l e i c h als die E p o c h e der patrizischen „Geschlechterherrschaft". In die Erörterung der .Geschlechterherrschaft' in Rom hat Weber u. a. eine Ause i n a n d e r s e t z u n g mit d e m u r s p r ü n g l i c h e n Charakter der Plebejer in Rom einbezogen, w o b e i er detailliert der These Karl J o h a n n e s N e u m a n n s von deren anfänglicher Stellung als Erbuntertänige u n d d e m Vergleich ihrer (nach N e u m a n n im Jahre 457 v. Chr. erfolgten) .Befreiung aus der Grundherrschaft' mit der Bauernbefreiung des 19. Jahrhunderts entgegentritt. Besondere B e a c h t u n g verdienen die ebenfalls im Z u s a m m e n h a n g des Geschlechterstaates s t e h e n d e n Ausführungen zu der außerordentlichen B e d e u t u n g der Klientel im republikanischen Rom, kraft deren dieses n a c h Weber ein .halbfeudales Gebilde' war. 5 Es folgt der die ursprüngliche A g r a r v e r f a s s u n g in Richtung auf Mobilisierung u n d Verkehrsfreiheit von Grund u n d B o d e n s p r e n g e n d e , zuerst in der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e schichte" von Weber b e h a n d e l t e Aufstieg der Plebs. Sie entspricht zumindest z u m Teil d e m „Hoplitenheer" der „Hoplitenpolis" Rom, 6 womit d a n n in Rom a u c h die militärische Expansion einsetzt. A u c h die Darstellung der in W e b e r s Sicht mit d e m Aufstieg der Plebs e n g v e r b u n d e n e n römischen gromatischen Bodenteilungsformen mit den bereits in der „Röm i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " vorgelegten Thesen findet hier ihren Platz. Im zweiten Teil, „Expansionszeit", geht Weber d a n n der Entwicklung des Kapitalismus in Rom nach, d e n er - als .politischen Kapitalismus' wesentlich als eine Parallelerscheinung zu der außerordentlichen überseeischen Expansion Roms sieht. Zumal die römischen Steuerpacht-

5 Unten, S. 625. - Wenige Jahre später erschien die als epochemachend für das Verständnis der Klientel für die politische Struktur der römischen Republik geltende Arbeit Geizer, Matthias, Die Nobilität der römischen Republik. - Leipzig, Berlin: B.G. Teubner 1912. Geizer, der sich hier ausdrücklich als „Gesellschaftshistoriker" sah (ebd., Vorbemerkung), erwähnt als eine Art Vorgänger allerdings nur Fustel de Coulanges (ebd., S. 49). 6 Vgl. unten, S.643.

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gesellschaften stellten ihm zufolge die „größten kapitalistischen Unternehmungen des Altertums" überhaupt dar. 7 Der .Höhepunkt in der Entfaltung des antiken Kapitalismus' wurde in seiner Sicht mit der von Gaius Gracchus geschaffenen Machtstellung der „Kapitalistenklasse" der Ritter erreicht. 8 Die Schilderung der „Betriebstechnik der römischen Landwirtschaft" sowie die Untersuchung des Rechsstatus des nicht in vollem Privateigentum befindlichen Bodens erfolgen hier in unmittelbarem Anschluß an das bereits in der „Römischen Agrargeschichte" und den vorangegangenen beiden Fassungen der „Agrarverhältnisse" Formulierte, wobei aber auch neuere Arbeiten wie insbesondere die Untersuchung von Herman Gummerus zu den römischen Agrarschriftstellern berücksichtigt wurden. Das Schlußkapitel, das in deutlichem Gegensatz zu den früheren beiden Fassungen („Die Entwickelung in der Kaiserzeit") die „Grundlagen der Entwickelung in der Kaiserzeit" behandelt, darf neben der Einleitung in vieler Hinsicht als ein Höhepunkt des Handwörterbuchartikels von 1908 gelten. Weber wendet sich in einigen knappen Ausführungen zunächst der antiken „Polis" der Kaiserzeit und ihrer weiteren Verbreitung durch Rom bis etwa dem 3. Jahrhundert n.Chr. zu. Mit dem Ziel, die „Eigenart der antiken Polis" zu erfassen, 9 kommt er dann alsbald zu einem den größten Teil des Kapitels umfassenden, überaus eindringlichen Vergleich zwischen antiker und mittelalterlicher Stadt, der bereits auf seine wenige Jahre später entstandene Arbeit „Die Stadt" vorausweist. 1 0 Daran schließt ein gegenüber dem vergleichbaren kaiserzeitlichen Teil der vorangegangenen Fassungen ungefähr gleich langer, aber durchweg neu formulierter Abschnitt 1 1 mit einer Skizze des Rückgangs der Verkehrswirtschaft in den ausgedehnten Binnenlandsgebieten des römischen Reiches, der durch den Wechsel des geographischen Schwerpunkts von der Küste ins Binnenland, das Zurücktreten der Sklaverei, die Entwicklung der Grundherrschaft, der Kleinpacht, von Naturalwirtschaft und Kolonat sowie die allgemeine Abnahme der Verkehrsintensität bedingt sei, so daß dem Kapitalismus des Altertums durch das sich zum .Leiturgiestaat' entwickelnde römische Reich und seine .bürokratische

7 Vgl. unten, S. 667, dazu unten, S. 578, wonach nur hier der Ansatz zur Entwicklung von etwas einer „Aktiengesellschaft" im Altertum wirklich Ähnlichem zu finden sei. 8 Vgl. unten, S.672. 9 Vgl. unten, S.692. 10 Vgl. unten, S. 6 9 2 - 7 1 6 sowie das Folgende, S. 5 0 - 5 2 . - Zu Max Webers „Stadt" vgl. MWG I/22-5. 11 Unten, S. 716-723 (vgl. dagegen unten, S. 217-225, für die 1. und 2. Fassung).

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O r d n u n g ' der N ä h r b o d e n e n t z o g e n wurde. D o c h wäre es ein Mißverständnis zu meinen, daß für Weber anders als in seinen früheren Erklär u n g s v e r s u c h e n der Zerfall des römischen Reiches nunmehr durch d a s Scheitern des antiken Kapitalismus herbeigeführt w o r d e n sei. Davon findet sich bei Weber nichts. 1 2 Abschließend betont er die Wichtigkeit des g e w e r b l i c h e n Kapitalismus für d e n merkantilistischen Staat der Neuzeit und d e n m o d e r n e n Kapitalismus und b e e n d e t den Artikel mit einer charakteristischen B e s c h w ö r u n g der durch die Bürokratie a u c h der geg e n w ä r t i g e n Welt d r o h e n d e n schweren Gefahren. 1 3 W i e d e r u m wird also im Schlußteil das allgemeine Problem d e s antiken Kapitalismus a u f g e n o m m e n , w o b e i Weber hier j e d o c h die w e i t e r g e h e n d e Frage stellt, w a r u m nicht s c h o n d a s Altertum einen .modernen' Kapitalismus hervorbrachte. Dafür spielen in Webers Sicht die tiefen Unters c h i e d e z w i s c h e n der antiken ,Polis' 14 und der mittelalterlichen Stadtentwicklung, d e n e n er in d e m erwähnten Vergleich nachgeht, eine ents c h e i d e n d e Rolle. Diese außerordentlich eindringlichen Passagen erfordern einige nähere B e m e r k u n g e n . Die Frage nach den Unterschieden z w i s c h e n der Stadt des Altertums und der des Mittelalters ist tief in Webers v o r a n g e g a n g e n e m Werk verwurzelt. So hatte die Stadt bereits in d e m Kapitel „Die Stadtwirtschaft und der Ursprung der m o d e r n e n U n t e r n e h m u n g s f o r m e n " einen w i c h t i g e n Teil von Webers nationalökonomischer Hauptvorlesung dargestellt. 1 5 A u c h hatte er ja bereits im Jahre 1901 in einem Brief an Carl N e u m a n n von den „gewaltigen Differenzen der g a n z e n Struktur der antiken Polis g e g e n ü b e r m o d e r n e n Städten" g e s p r o c h e n . 1 6 Trotz bestimmter Ähnlichkeiten zumal in der Frühzeit der antiken und der mittelalterlichen Stadt 1 7 stellt Weber auch jetzt g a n z .gewaltige Unterschiede' z w i s c h e n b e i d e n fest, insofern die .dem Mittelalter spezifische' Stadt „ökonomisch und so-

12 Vgl. unten, S.723 sowie S. 765, wo ebenfalls das Sinken des Kapitalismus und der Zerfall des Reiches als zwei besondere Entwicklungen erscheinen; dazu auch unten, S. 64, Amn.77 (Parkins). 13 Unten, S. 723-725. - „Zunehmende Gemeinwirtschaft", „Abschwellen der Freiheit" u.ä. hatte Weber für die Zukunft bereits in seiner nationalökonomischen Hauptvorlesung befürchtet, so Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 156R, 154. 14 D.h. Im wesentlichen des griechischen und römischen Städtewesens. - Vgl. auch unten, S.692. 15 Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 107-120, 122-128. 16 Vgl. dazu oben, S.32. 17 Vgl. jedoch bereits in der (späten) griechischen .Adelspolis' (als „Staat des griechischen Mittelalters", nach Eduard Meyer) das Vorhandensein von z.T. kapitalistischen Elementen bzw. Kapitalismus, unten, S.489.

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zial in e n t s c h e i d e n d e n Punkten gänzlich anders konstituiert" g e w e s e n sei als die antike Stadt, u n d zwar so, daß die erstere „unsrer kapitalistischen Entwickelung [...] näher stand als die Polis". 1 8 Dabei verweist Weber auf eine Reihe von Punkten, von denen als die b e i d e n wichtigsten die g r u n d sätzlich v e r s c h i e d e n e Position von Landwirtschaft u n d G e w e r b e in den Städten der Antike und des Mittelalters sowie der in vielem gegensätzlic h e Gesamtcharakter der Stadt in den b e i d e n „Entwicklungskreisen" 1 9 gelten können. Was zunächst das Verhältnis von Agrar- u n d g e w e r b l i c h e m Sektor betrifft, so war die Entwicklung des G e w e r b e s in der antiken Stadt im Vergleich vor allem mit der mittelalterlichen b i n n e n l ä n d i s c h e n „Industriestadt" nach Weber u . a . d u r c h den z u n e h m e n d e n A b s t i e g des freien, s e l b s t ä n d i g e n .Demiurgen' gekennzeichnet, d e m kein .Aufstieg der antiken Gewerbesklaven' bzw. überhaupt des gesellschaftlichen Gewichts der antiken G e w e r b e t r e i b e n d e n e n t s p r a c h , 2 0 w ä h r e n d der m o d e r n e , g e w e r b l i c h e Kapitalismus g e r a d e an die in d e n G e w e r b e s t ä d t e n d e s Mittelalters entwickelten Rechtsformen des G e w e r b e s anknüpfte. Die Stellung des antiken städtischen G e w e r b e s blieb wesentlich s c h w ä c h e r als die des landwirtschaftlich genutzten Grundbesitzes, womit w i e d e r u m zus a m m e n h ä n g t , daß es keine den mittelalterlichen vergleichbaren „Zünfte" g e g e b e n h a b e u n d die H a u p t g e g e n s ä t z e in der antiken Stadt d e s h a l b a u c h .Vermögensgegensätze' bzw. G e g e n s ä t z e z w i s c h e n A d e l u n d Bauern oder Grundherren, d . h . in der Regel: .städtischen Rentnerexistenzen' und Kleinbesitzern und nicht z . B . wie im Mittelalter G e g e n s ä t z e z w i s c h e n Kaufleuten u n d Handwerkern oder Patriziat und Zünften g e w e s e n seien. Die inneren sozialen K ä m p f e in der antiken Stadt drehten sich daher wesentlich um Bodenbesitz oder Schulden, 2 1 die A b s t u f u n g war g r u n d sätzlich die nach „Grundrentenklassen". In der Stadt des Mittelalters h a b e es a u c h keine Herrschaft der Bauern über die Stadt wie in der antiken Hoplitenpolis g e g e b e n . Umgekehrt h a b e der antiken Stadt die A u s b i l d u n g von Zünften und deren Kampf g e g e n das Patriziat gefehlt. Indem in den Städten des Mittelalters, s c h o n w e g e n ihrer d e n Einbettung in größere Lehensstaaten, 2 2 der .friedliche ker a u s g e p r ä g t war und die .kriegerische Beutepolitik' bzw. o b e r u n g für deklassierte, verschuldete oder l a n d s u c h e n d e

überwiegenErwerb' stärdie .LanderBauern', wie

18 Vgl. unten, S.692 und 697. 19 So unten, S.696. 20 Vgl. dazu (zusammenfassend) unten, S. 694-698. 21 Vgl. z.B. unten, S.486f., 501, dazu unten, S.541. 22 .Lehensheer und Lehensstaat' haben „den rein ökonomisch expansiven Bauer und die rein ökonomisch expansive Stadt des Mittelalters schaffen helfen"; vgl. unten, S. 708 f.

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sie für die Stadt des Altertums k e n n z e i c h n e n d war, fehlte, trug die mittelalterliche Stadt insgesamt einen z u n e h m e n d bürgerlichen u n d friedlichen und damit z u g l e i c h „weit spezifischer .ökonomischen' Charakter" als die antike Stadt, ihr Bürger war weit mehr ,homo o e c o n o m i c u s ' als der Bürger der antiken Stadt. 2 3 A u c h w e n n im Mittelalter die größten ökonomis c h e n Gewinne ebenfalls aus d e m Kriegsbedarf stammten, so ruhte d o c h die .kapitalistische Organisation der g e w e r b l i c h e n Güterproduktion' auf der „ B e f r i e d u n g " der Stadt des Mittelalters. Wenn immerhin a u c h für Weber die Städte der hellenistischen Zeit u n d der Spätantike sich hinsichtlich ihrer „ B e f r i e d u n g " der mittelalterlichen Stadt tendenziell d u r c h a u s näherten, so war d o c h zumindest die .klassische' Polis die „vollkommenste Militärorganisation" des Altertums u n d e b e n s o wesentlich zu militärischen Z w e c k e n g e g r ü n d e t 2 4 wie u m g e k e h r t die mittelalterliche Stadt zu ö k o n o m i s c h e n Z w e c k e n und hing die Entfaltung der Verkehrswirtschaft in der antiken „Polis" wesentlich von der politischen u n d militärischen Entwicklung ab. Der e r o b e r n d e n antiken Bürgerpolis stand daher nach Weber die .rein ö k o n o m i s c h expansive' Stadt des Mittelalters gegenüber, an die der m o d e r n e Kapitalismus a n k n ü p f e n konnte. 2 5 A u c h w e n n Staatspacht u n d Finanzbedarf der Herrscher im späteren Mittelalter eine Rolle für die Städte spielten u n d insofern an die antike Stadt d e n k e n lassen, fehlten dort d o c h e n t s c h e i d e n d e Merkmale d e s m o d e r n e n Kapitalismus, nämlich die Entwicklung des Marktes für das G e w e r b e u n d die Organisation freier Arbeit. N e b e n den g e n a n n t e n Unterschieden speziell z w i s c h e n der antiken u n d der mittelalterlichen Stadt sieht Weber noch eine Reihe weiterer Gesichtspunkte, die das Vorhandensein der Voraussetzungen für den modernen Kapitalismus erst im Mittelalter trotz der Existenz von .Kapitalismus' bereits im Altertum erklären. Hierher gehört e b e n s o das Binnenland als neuer g e o g r a p h i s c h e r .Schauplatz' im G e g e n s a t z zur antiken Stromufer- und Küstenkultur wie das u.a. d u r c h diesen Wechsel d e s Schauplatzes b e d i n g t e Fehlen der Sklaverei als b e d e u t s a m e r sozialer Institution im Mittelalter. 2 6 Wichtig erscheint Weber ferner die Herausbild u n g eines d e m Kalkül z u g ä n g l i c h e n Gütermarktes 2 7 mit einem A b n e h -

23 Vgl. unten, S.700 und 703. - Vom .isolierten Wirtschaftsmenschen' ist bei Max Weber bereits in der Protestantischen Ethik 2, S. 104, die Rede. 24 Vgl. unten, S. 702; dazu z.B. unten, S.707: .militärischer Exerzierplatz und Standlager'; unten, S.715: die Gründung der Polis im Altertum „ein politisch-militärisch motivierter Akt"; außerdem unten, S.501; unten, S.541 (Rhodos); vgl. unten, S.566 (Kleruchien der Diadochen). 25 Vgl. unten, S.708f. 26 Zu den Gründen vgl. unten, S. 713 f. 27 Zu den Voraussetzungen vgl. unten, S.709.

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merkreis aus .freien, bäuerlich-kleinbürgerlichen Existenzen'. Bei der ferner von ihm besonders betonten Rechtsentwicklung konnte Weber nicht zuletzt auf seine eigenen „Handelsgesellschaften" zurückgreifen. So seien zumal für die Seestädte des Mittelalters etwa das Verschwinden des Sklavenhandels sowie Neuschöpfungen auf dem Gebiet des gewerblichen Kapitalrechts charakteristisch gewesen, an die die .spezifisch moderne Entwicklung des Kapitalismus' angeknüpft habe. Neben der commenda als Ursprung der Kommanditgesellschaft werden außerdem die .Sublimierung' der Rechtsformen für die Solidarhaft der Teilhaber genannt wie auch die Entstehung von .Betriebseinheiten von zunehmender Größe und innerer Gliederung', die sich zugleich von der Familie - sozusagen dem ,Oikos' - lösten. So bildeten sich Rechtsformen für einen .kontinuierlichen kapitalistischen Handels- und Gewerbebetrieb' heraus, während das Altertum in dieser Hinsicht nur die .diskontinuierliche Gelegenheitsanlage' gekannt hätte. Für die immer wieder als grundlegend betonte Dominanz der militärischen Faktoren im Altertum, vor allem in den unabhängigen „Poleis", weist Weber noch auf die Einführung des Pferdes und den Übergang zur Eisenverarbeitung hin, was eine wichtige Voraussetzung für das Aufkommen der Hoplitenheere gewesen sei. So habe die militärisch expansive Bürgerpolis entstehen können, während die .Ökonomik und Technik der Wirtschaft' seit dem Alten Orient bzw. dem Neuen Reich in Ägypten und dem neuassyrischen Reich wenig Fortschritte gemacht habe. Zu grundlegenden Neuerungen sei es in diesem Bereich vielmehr erst gegen Ende des Mittelalters gekommen. Aber auch in der Landwirtschaft und den Gewerben selbst seien im Altertum nur relativ geringe Weiterentwicklungen zu verzeichnen gewesen. Was die spezifischen Hemmnisse der Entfaltung des für die moderne Entwicklung später entscheidenden gewerblichen Kapitalismus im Altertum betraf, so sei dieser dort allenfalls Rentenkapitalismus gewesen, was auch die Entstehung von gewerblichen „(Sklaven-)Großbetrieben" verhindert habe, deren Fehlen Weber immer wieder als wesentliches Charakteristikum des Altertums sieht. 28 Die vielfache Labilität der Sklavenbetriebe habe auch daran gelegen, daß sie nur Rentenquelle gewesen seien. Nicht zuletzt wegen der Abhängigkeit von der jeweiligen politischen Situation sei die Entwicklung im ganzen über einen gewerblichen .Gelegenheitsabsatz' nicht hinausgelangt. Auch die zu geringe Massenkaufkraft habe die Entstehung eines

28 Weber regt ausdrücklich .eine besondere Untersuchung' dazu an, wieweit es in Einzelfällen auch in der Antike zur Herausbildung rationaler gewerblicher Großbetriebe gekommen sei, vgl. unten, S. 713.

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zünftigen G e w e r b e s , von „Hausindustrien" und vollends „Fabriken", im Altertum nicht zugelassen. Im Altertum, wo s c h o n die G r ü n d u n g einer Polis nicht ein primär wirtschaftlich, sondern ein politisch-militärisch motivierter Akt g e w e s e n sei, habe der Kapitalismus stets v o m Politischen gelebt und sei nur „indirekt ökonomisch" g e w e s e n . 2 9 N a c h der Befriedung der g a n z e n O i k u m e n e durch Rom w u r d e zwar auch die antike Stadt Trägerin rein ö k o n o m i s c h e r Interessen, aber der antike Kapitalismus wurde durch d e n Frieden, den m o n a r c h i s c h e n Staat und den Ü b e r g a n g zur Binnenkultur, wie W e b e r bereits früher im einzelnen nachzuweisen versucht hatte, nicht gefördert, sondern im Gegenteil - wie s c h o n in v e r s c h i e d e n e n anderen Fällen .erdrückt'. 3 0 Insgesamt blieb für die antike G e s a m t e n t w i c k l u n g bestimmend, daß sie sich d e m modernen, g e w e r b l i c h e n Kapitalismus langfristig nicht annäherte, s o n d e r n sich deutlich von ihm entfernte, und daß trotz aller immer wieder erfolgter Mobilisierung des B o d e n s aus frühen gemeinwirtschaftlichen B i n d u n g e n und damit erreichter „Bodenfreiheit", trotz „Verkehrsfreiheit", vielfacher Entwicklung von der Natural- zur Geldwirtschaft und teilweise genuin .kapitalistischer' Prägung der „Flug des Kapitalismus" in der Antike d o c h immer wieder „kollabierte" 3 1 und die vor allem für die antike Monarchie charakteristischen leiturgischen (und bürokratischen) Strukturen die O b e r h a n d behielten, die mit der Fesselung der Mittel und der Existenz des einzelnen an den Staat n a c h einer B e m e r k u n g Max Webers in der Einleitung z u g l e i c h die „Vernichtung alles dessen, was man in den .klassischen' Zeiten des Altertums .Freiheit' genannt hatte", 3 2 bedeuteten. Den Schluß des Artikels „Agrarverhältnisse im Altertum" bildet, entsprec h e n d der A n l a g e des H a n d w ö r t e r b u c h s und wie a u c h schon in d e n ersten b e i d e n Fassungen, ein Abschnitt „Zur Literatur", d e s s e n U m f a n g ebenfalls weit über d a s Maß der früheren Versionen hinausgeht. Er ist naturgemäß d e n n o c h nicht e r s c h ö p f e n d , enthält j e d o c h einen recht detaillierten N a c h w e i s aller wichtigen von Weber v e r w e n d e t e n o d e r d o c h zur Kenntnis g e n o m m e n e n Arbeiten. Außer einer großen Zahl von kritisch kommentierten Buch-, Reihen- und Aufsatztiteln findet sich hier aber a u c h eine Reihe pointierter allgemeiner B e m e r k u n g e n Webers, so über die eigene „Römische A g r a r g e s c h i c h t e " als ein gewiß an „ J u g e n d s ü n d e n " reiches B u c h mit der Feststellung, daß er e t w a mit der Übertra-

29 30 ten 31 32

Vgl. oben, S.715. ,Wie er nun einmal war', statt daß ihm die Monarchie „erst recht zur Blüte" verholhätte, vgl. unten, S. 716. So unten, S.358. Vgl. unten, S.356.

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gung der Meitzenschen deutschen Gewannhufen auf Rom „von Anfang an [...] auf irrigem Wege" gewesen sei. 33 Auch bringt Weber sein Bedauern über das - richtig erkannte - Zurücktreten der wirtschaftlichen Fragen in der Geschichte des Altertums zum Ausdruck und beharrt zugleich auf der Bedeutung der „verachteten ökonomischen .Theoretiker'" auch für die Historiker. Zugleich wendet er sich entschieden gegen .Stammlersche juristische Scholastik', .naturalistischen' bzw. .ökonomischen Begriffsschematismus', obwohl er selbst die .Unmöglichkeit der völligen Vermeidung des Schematisierens' in einer .kurzen Skizze' wie dem vorliegenden Artikel zugesteht. Das Ziel der - durchaus notwendigen - kritischen Vergleichung der Entwicklungsstadien der antiken Polis könne jedoch nicht die Jagd nach .generellen Entwicklungsschemata, Analogien und Parallelen' sein, sondern nur die Suche nach der .Eigenart' der jeweiligen Entwicklung und ihrer Ursachen. Ein A und 0 ist dabei immer wieder die Betonung der Wichtigkeit der Präzision sowohl speziell der ökonomischen Begriffe wie auch der Schärfe der idealtypischen Begriffsbildung überhaupt gerade wegen der .ungegliederten Mannigfaltigkeit der Fakta',34 Max Weber hat sich 1908 in unmittelbarem Anschluß an die „Agrarverhältnisse" noch zweimal speziell mit der dort behandelten Thematik beschäftigt, und zwar in dem dann ebenfalls 1908 erschienenen, kurzen, nur vier Spalten umfassenden Artikel „Agrargeschichte, I. Altertum" für das lexikalische Werk „Religion in Geschichte und Gegenwart" sowie in dem am 23. Februar 1908 im Heidelberger „Eranos" gehaltenen Vortrag „Kapitalismus im Altertum". Der Artikel zur Agrargeschichte des Altertums in „Religion in Geschichte und Gegenwart" bietet eine sehr knappe Skizze von Hauptgesichtspunkten Webers, doch ist offenkundig - und auch nicht verwunderlich daß er gegenüber den „Agrarverhältnissen" nichts substantiell Neues enthält. Auffälligerweise tritt das Problem des antiken Kapitalismus, das im Eranos-Vortrag als eine Art Quintessenz der „Agrarverhältnisse" von 1908 erscheint, hier fast völlig zurück. Für praktisch jede Einzelaussage lassen sich direkte Belege aus den gleichzeitigen „Agrarverhältnissen" bzw. entsprechenden älteren Arbeiten Webers nennen. Dem Alten Orient gelten hier nur wenige Zeilen; dafür wird die römische Kaiserzeit bis zum „Zerfall des Reichs", freilich ebenfalls nur ganz knapp, skizziert. 35

33 Vgl. unten, S. 745. 34 Vgl. unten, S.729. 35 Unten, S. 765, wird hier mit dem Sinken des Kapitalismus zwar das Sinken der Städte, aber nicht ausdrücklich der „Zerfall des Reichs" in Zusammenhang gebracht, sondern lediglich die Grundherrschaft als „wichtigste soziale Institution" genannt, die noch übrig blieb. Vgl. oben, S.50, Anm. 12.

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Davon unterscheidet sich der Eranos-Vortrag, der immerhin zwei Stunden in A n s p r u c h nahm, von d e m man j e d o c h nur ein kurzes Resüme von Max Weber selbst besitzt. Der Eintrag Webers zeigt, daß er hier g a n z ähnlich wie bereits in den „Agrarverhältnissen" von 1908 und vor allem in deren „Einleitung" die grundsätzliche Andersartigkeit des antiken g e g e n über d e m m o d e r n e n Kapitalismus herausarbeitete. Kernpunkte waren die Sklaverei, die im g e w e r b l i c h e n Sektor nur einen Rentenkapitalismus und z. B. nicht die Entstehung von Großbetrieben erlaubt hätte, sowie die PoIis als Rahmenstruktur und die damit v e r b u n d e n e A b h ä n g i g k e i t d e s Kapitalismus von deren jeweiliger politischer Situation, bis schließlich der Ü b e r g a n g z u m .monarchischen Einheitsstaat' in der römischen Kaiserzeit d e m Kapitalismus d e s Altertums ein Ende bereitet hätte. 3 6 W i e d e r u m u n g e s c h r i e b e n blieb d a g e g e n der geplante Artikel „Kolonat". 3 7 Wie die zahlreichen Verweise darauf in den „Agrarverhältnissen" zeigen, 3 8 sollte er bis auf die hellenistische Zeit in Ä g y p t e n und Kleinasien zurückgreifen 3 9 und über die römischen Eroberungen bis zur Ausbild u n g der spätantiken .Grundherrschaft' als einer das Altertum mit der mittelalterlichen Entwicklung v e r b i n d e n d e n Institution führen. 4 0 Dabei wollte Weber zugleich die Darstellung, die er von der Entstehung d e s Kolonats in der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " g e g e b e n hatte, korrigieren bzw. vertiefen, 4 1 wozu zweifellos a u c h die e i n g e h e n d e B e h a n d l u n g d e s Themas unter d e m G e s i c h t s p u n k t des .Leiturgiestaates', seiner Bürokratie und der durch ihn herbeigeführten Erstickung des Kapitalismus a m Ende des Altertums gehört hätte, wie sie sich in den „Agrarverhältnissen" von 1908 nur in allgemeinen Z ü g e n abzeichnet. D o c h o b w o h l a u c h in d e n f o l g e n d e n Jahren das Interesse Webers, wie z . B . ein Brief an G e o r g von Below aus d e m Juni 1914 zeigt, 4 2 für d e n Fortgang der einschlägig e n Fachwissenschaften nicht v e r s c h w a n d , hatten mit d e m Jahr 1908 seine speziell der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums ge-

36 Vgl. unten, S. 752. 37 Vgl. oben, S.23, und unten, S. 129. 38 Vgl. die vollständige Liste unten, S.312, Anm.76. 39 Unten, S.562, 563 und 565. 40 Bes. unten, S.588, 688, 691 f., 717, 721 und 725. 41 Vgl. unten, S.371, 745. 42 Vgl. unten, S.57. Zu erwähnen sind auch die eigenhändigen Markierungen Webers in seinen Exemplaren von Eduard Meyer, Geschichte des Altertums 1,12 und 1,22 (1907, 1909; dazu oben, S.22, und unten, S.726), sowie in der kleinen Schrift Neurath, Otto, Antike Wirtschaftsgeschichte (Aus Natur und Geisteswelt, 258). - Leipzig: B. G. Teubner 1909 (Max Weber-Arbeitsstelle der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). - In der zweiten Auflage dieser Arbeit von 1918 wird (S.4) im Zusammenhang mit der Entwicklung der antiken Wirtschaftsgeschichte auch der Name Max Webers genannt.

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widmeten Schriften ihr Ende gefunden. Welche Rolle das Altertum auf der damit von Weber gewonnenen festen eigenen Basis vielfach nicht nur, aber in erster Linie, in der „Stadt" sowie dem soziologischen Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft", zumal in den kategorialen Überlegungen und der Herrschafts- und Rechtssoziologie spielen sollte, gehört nicht mehr hierher.

V. Die „Agrarverhältnisse"

von

1908 und ihre

Rezeption

Bereits Marianne Weber hat das bekannte Urteil formuliert, daß die letzte Fassung der „Agrarverhältnisse" nichts weniger biete als „eine Art Soziologie des Altertums, d.h. eine historische Analyse und begriffliche Durchdringung aller wichtigen Strukturformen des sozialen Lebens der Antike", wobei ein „riesiges historisches Material [...] in knappste, präziseste Form zusammengepreßt" sei. Mit der Charakterisierung des Artikels als „Soziologie des Altertums" bezieht sich Marianne Weber offenbar auf eine spätere Äußerung von Max Weber selbst. 43 In einem Brief an Georg von Below vom 21. Juni 1914 spricht er u.a. im Blick auf die „Agrarverhältnisse" von 1908 als einer „sehr bescheidene[n] ... Vorarbeit", welche die „Soziologie", wie er sie verstehe, leisten könne, selbst wenn man fast unvermeidlicherweise bei Fachwissenschaftlern Anstoß errege: „Selbst mein - sehr eilig geschriebener [ - ] Aufsatz über antike Agrargeschichte [...] hat, auch und sogar gerade da, wo die Ergebnisse inzwischen überholt wurden, doch Nutzen gestiftet, wie die Leipziger Dissertationen der Schüler Wilckens mir zu zeigen scheinen. Und doch ist er gewiß nichts Mustergültiges gewesen" 4 4 Mit den „Leipziger Dissertationen" scheint in erster Linie die Arbeit von Friedrich Oertel (1884-1975) über die Leiturgie aus dem Jahre 1912, 45 daneben eventuell die von Theodor Reil zum Gewerbe in Ägypten von der hellenistischen bis zur byzantinischen Zeit gemeint zu sein, der sich für seinen Begriff des „Gewerbes" freilich auf Bücher berief. 46 Oertel hob in seiner 43 Weber, Marianne, Lebensbild, S.343f.; außerdem ebd., S.371. 44 Brief Max Webers an Georg von Below vom 21. Juni 1914, MWG II/8, S. 723-725, Zitat: S. 724f. 45 Oertel, Friedrich, Studien zur ptolemäischen Verwaltung Ägyptens. - Leipzig: B.G. Teubner 1912 (hinfort: Oertel, Studien). 46 Reil, Theodor, Beiträge zur Kenntnis des Gewerbes im hellenistischen Ägypten. Borna-Leipzig: R. Noske 1913, S.2. - In einer weiteren bei Wilcken angefertigten Dissertation: Fitzler, Kurt, Steinbrüche und Bergwerke im ptolemäischen und römischen Ägypten. Ein Beitrag zur antiken Wirtschaftsgeschichte (Leipziger historische Abhandlungen, Heft 21). - Leipzig: Quelle und Meyer 1910, geht es vor allem um den Nachweis der Bedeutung der freien gegenüber der unfreien Arbeit in den ägyptischen Steinbrüchen und Bergwerken, ohne daß jedoch ein Bezug zu Max Weber bzw. dessen „Agrarverhältnissen" erkennbar wäre.

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Dissertation neben den Arbeiten der führenden Fachwissenschaftler W i l c k e n , Preisigke und Rostovtzeff a u s d r ü c k l i c h Max W e b e r s „Agrarverhältnisse" hervor, in d e n e n dieser „als Staatswissenschaftler [...] die Frage der Liturgie in großzügiger Weise g e w ü r d i g t " habe. Er s p r a c h von der „scharfumrissenen Skizze Webers, die das g e s a m t e Altertum umspannt" und deren Definition der Leiturgie „zweifellos klärend (wirke), sofern dad u r c h das charakteristisch Ägyptisch-Orientalische d e m Griechisch-Römis c h e n g e g e n ü b e r gestellt wird". Für die Klärung der innerägyptischen Verhältnisse unterschied er j e d o c h g e g e n Weber ( u n d Rostovtzeff) die traditionelle „ G e b u n d e n h e i t " in Ä g y p t e n von der Leiturgie im engeren, g r i e c h i s c h e n bzw. t e c h n i s c h e n Sinn als „zwangsmäßig" ( u n d vorübergehend) auferlegten Dienst. 4 7 Marianne Weber klagte allerdings im „Lebensbild", daß a u c h diese Arbeit „wiederum breiteren Kreisen u n z u g ä n g l i c h " bleibe: „Weber macht es ähnlich wie die mittelalterlichen Maler, die ihre Werke auf hohen W ä n d e n und W ö l b u n g e n dunkler Kirchen verbergen, gleichgültig d a g e g e n , ob M e n s c h e n b l i c k sie erreicht - Gottesdienst". 4 8 Alfred Heuß hat viel später vollends formuliert: „In s u m m a darf man wohl sagen, daß die Fachwissenschaften des Altertums so ihren W e g gingen, als w e n n Max Weber nicht gelebt hätte" 4 9 Dieses Dictum erscheint freilich a u c h in Hinsicht auf die letzte Fassung der „Agrarverhältnisse" einigermaßen überspitzt. Gewiß bleibt für deren Rezeption zu berücksichtigen, daß sie g e n a u s o wie die früheren Fassungen und praktisch alle Arbeiten Webers zur Antike, a b g e s e h e n allein von der Rezension der „Perpetua causa" Perozzis in der Savigny-Zeitschrift, in nicht altertumswissenschaftlichen Publikationen erschienen und s c h o n d e s h a l b eine Art Randstellung einnahmen, a u c h wenn d a m a l s die V e r b i n d u n g e n z w i s c h e n der Nationalökonomie und der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Antike noch nicht völlig vers c h w u n d e n waren. A u c h hatte Weber selbst a m Schluß der „Agrarverhältnisse" a u s d r ü c k l i c h festgestellt, daß das, w a s seine e i g e n e n „Facherfahrungen" liefern könnten, lediglich „heuristische Hilfen", „Fragestellungen [...] zur Erprobung" seien und das „endgültige Urteil [...] den Historikern, Philologen und Archäologen" zustehe. 5 0 Man wird allerdings

47 Oertel, Studien (wie oben, S. 57, Anm.45), S.3f. (ebenso in der erweiterten Habilitationsschrift: Oertel, Friedrich, Die Liturgie. Studien zur ptolemäischen und kaiserlichen Verwaltung Ägyptens. - Leipzig: B.G. Teubner 1917). 48 Vgl. Weber, Marlanne, Lebensbild, S. 371. 49 Heuß, Max Webers Bedeutung (wie oben, S. 19, Anm.73), S.554. Auf das „fehlende Echo in den Altertumswissenschaften" geht auch Capogrossi Colognesl, Max Weber (wie oben, S. 21, Anm.82), S. 395-398, ein. 50 Vgl. unten, S.728.

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kaum s a g e n können, daß Fragen wie die nach d e m „Kapitalismus" im Altertum 5 1 oder auch der übergreifende Strukturvergleich im Sinne Webers in den e i n s c h l ä g i g e n Fachwissenschaften eine besondere Rolle gespielt hätten, deren weitere Entwicklung in erster Linie durch erhebliche Materialvermehrung und fortschreitende Spezialisierung der Fragestellungen bestimmt war. A u c h bleibt die Problematik von Webers Idealtypus zu bedenken, die einerseits zweifellos zur Klärung seiner eigenen und der allg e m e i n e n historischen Begrifflichkeit beitrug, aber w e g e n ihres hohen A b s t r a k t i o n s g r a d e s g e g e n ü b e r der Quellenüberlieferung, ob man an „Oikos", „Polis" oder „Leiturgie" im W e b e r s c h e n Sinne denkt, den Historikern in vieler Hinsicht Schwierigkeiten bereitete. 5 2 Dazu kam nach d e m Ersten Weltkrieg die verstärkte H i n w e n d u n g der Althistoriker g e r a d e in Deutschland zur politischen Geschichte, n a c h d e m noch 1913 Eduard Meyer zus a m m e n mit Michael Rostovtzeff und Georg von Below ein u m f a s s e n d e s Werk zur Wirtschaftsgeschichte geplant hatte, das bei Gustav Fischer, Jena, also im Verlag des „ H a n d w ö r t e r b u c h s der Staatswissenschaften", erscheinen sollte. Die b e i d e n ersten H a l b b ä n d e im U m f a n g von ca. 1120 Seiten Groß-Oktav sollten d e m Altertum v o m Alten Orient bis z u m frühen Byzanz und Islam gelten, d o c h fand das ganze Unternehmen mit d e m A u s b r u c h des Krieges offensichtlich sein a l s b a l d i g e s Ende. 5 3 Seit 1924 lag der Text der „Agrarverhältnisse" außer d e m A b d r u c k im „ H a n d w ö r t e r b u c h der Staatswissenschaften" a u c h in d e m von Marianne Weber h e r a u s g e g e b e n e n B a n d „Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" vor. 54 Freilich blieben die „Agrarverhältnisse" a u c h so weithin außerhalb des engeren Gesichtskreises der Altertumswissenschaften. Im f o l g e n d e n Jahr 1925 erschien, bemerkenswerterwei-

51 Noch in den 1920er Jahren war die Existenz eines wie immer genau verstandenen Kapitalismus in der Antike für viele Wirtschaftshistoriker eine Selbstverständlichkeit; vgl. - beispielsweise - Oertel, Friedrich, Anhang, in: von Pöhlmann, Robert, Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, 2. Band, 3. Aufl. München: C. H. Beck 1925, S. 509-585 (hinfort: Oertel, Anhang), hier S. 514-532. Fast eine Ausnahme in der Gegenwart stellt dagegen der Artikel „capitalism" mit Hinweisen auf Karl Marx und Max Weber von Paul Anthony Cartledge dar, in: Hornblower, Simon/Sprawforth, Antony (Hg.), The Oxford Classical Dictionary, 3. Aufl. - Oxford, New York: Oxford University Press 1996, S. 287f. 52 Vgl. als - eher zufälliges - Beispiel die im Folgenden (unten, S.62f.) zitierten beiden Äußerungen Rostovtzeffs, die Webers Absichten zweifellos nicht gerecht werden. 53 Vgl. Musiolek, Peter, Eduard Meyers Projekt einer Wirtschaftsgeschichte des Altertums, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Jg. 40, 1991, Heft 9, S.17f. 54 Weber, Max, Agrarverhältnisse im Altertum, in: Gesammelte Aufsätze zur Sozialund Wirtschaftsgeschichte, hg. von Marianne Weber. - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Slebeck) 1924, S. 1 - 2 8 8 . - Eine Seitenkonkordanz mit der vorliegenden Edition findet sich unten, S. 960-965.

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se in Rußland, die erste Übersetzung der „Agrarverhältnisse" überhaupt, die, wie bereits die Übersetzung der „Sozialen Gründe", von E.S. Petrusevskaja und ihrem Mann Dmitrij Mojseevic Petrusevskij besorgt worden war. 55 Der Druck des Buches hatte sich offensichtlich längere Zeit verzögert. 5 6 Aber bei aller Bewunderung des Herausgebers für Weber 5 7 und auch wenn das Werk in einer kurzen russischen Besprechung der Übersetzung als „fundamentale Arbeit des bekannten Gelehrten" gerühmt wurde, 5 8 blieb der Übersetzung eine größere sichtbare Wirkung offensichtlich verwehrt. Doch findet man die Feststellung, daß das Werk dank der Übersetzung den sowjetischen Historikern wohlbekannt gewesen sei. 59 Im Detail bleibt die fachwissenschaftliche Rezeptionsgeschichte der „Agrarverhältnisse" noch zu untersuchen. 6 0 Mit prononcierten kritischen Stellungnahmen trat nicht zuletzt Hans Delbrück hervor. Der in den „Agrarverhältnissen" selbst mehrfach Angegriffene 6 1 hat 1909 in der 2. Auflage der „Geschichte der Kriegskunst" einer Reihe von Thesen We-

55 Vgl. o b e n , S. 19, A n m . 7 4 . - Veber, Maks, A g r a r n a j a istorija d r e v n e g o mira. Perevod s n e m e c k o g o E. S. Petrusevskoj, p o d redakciej i s p r e d i s l o v i e m D[mitrija] M[ojsevica] Petrusevskogo. - Moskau: M. i S . S a b a s n i k o v y o.J. [ 1 9 2 5 ] (Weber, Max, Agrarg e s c h i c h t e der Alten Welt. Ü b e r s e t z u n g aus d e m D e u t s c h e n v o n E.S. P e t r u s e v s k a j a unter der Redaktion u n d mit e i n e m Vorwort v o n Djmitrij] M j o j s e v l c ] Petrusevskij. Moskau: M. u n d S. S a b a s c h n i k o w o.J. [1925]) (hinfort: Petrusevskij, Ü b e r s e t z u n g ) . Die Ü b e r s e t z u n g d e s Rom- u n d d e s Literaturteils s t a m m t e v o n Petrusevskij s e l b s t (ebd., S.III). Das Vorwort ( S . V ) ist datiert v o m 14. April 1923; z u m E r s c h e i n u n g s j a h r vgl. unten, A n m . 5 8 . - Auf die „Agrarverhältnisse" folgt n o c h eine russische Ü b e r s e t z u n g v o n Rostovtzeffs „Kolonat"-Artikel (S. 4 0 9 - 4 3 5 , einschließlich einer A u s w a h l b i b l i o g r a p h i e d e s H e r a u s g e b e r s z u m Kolonat); vgl. unten, S . 3 1 3 , A n m . 7 8 ) . 56 Preobrazenskij, P.F., in: Pecat' i revoljucija. Zurnal literatury, iskusstva, kritiki i bibliografii 7. - M o s k a u : G o s u d a r s t v e n n o e Izdatel'stvo, O k t o b e r / N o v e m b e r 1925, S. 2 0 4 (hinfort Preobrazenskij, B e s p r e c h u n g A g r a r g e s c h i c h t e ) . 57 Petrusevskij, Ü b e r s e t z u n g (wie o b e n , A n m . 5 5 ) , S. IV. 58 Preobrazenskij, B e s p r e c h u n g A g r a r g e s c h i c h t e (wie o b e n , A n m . 5 6 ) , S . 2 0 4 f . , hier S . 2 0 4 . Ebd. ist d a s Erscheinen d e s Werkes auf 1925 datiert, d e s s e n Satz (außer d e m U m s c h l a g ) a n s c h e i n e n d s c h o n vor d e r Einführung der neuen russischen Rechtschreib u n g (1918) erfolgt war. - Z u d e m Verfasser, d e s s e n e i g e n e F o r s c h u n g e n d a m a l s vor allem d e m Verhältnis v o n r ö m i s c h e m Kaiserreich und christlicher Kirche g a l t e n u n d der 1941 In e i n e m s o w j e t i s c h e n L a g e r starb, vgl. Raskolnlkoff, Mouza, La r e c h e r c h e soviétique et l'histoire é c o n o m i q u e et sociale d u m o n d e hellénistique et romain (Études et travaux, 1). - Strasbourg: AECR 1975, bes. S . 4 1 - 4 4 . 59 Ebd., S. 133f.; S . 3 2 Hinweise auf weitere d a m a l i g e russische Ü b e r s e t z u n g e n aus der d e u t s c h s p r a c h i g e n Literatur zur Sozial- und W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e d e s Altertums. 60 Einen kurzen Ü b e r b l i c k bietet e t w a Bruhns, É c o n o m i e (wie unten, S . 6 4 , A n m . 7 6 ) , bes. S. 3 6 - 4 3 . 61 Vgl. unten, S . 3 4 0 , zur a n g e b l i c h e n späteren U n e r g i e b l g k e i t der antiken B e r g w e r k e ; unten, S. 736, zur „ G e s c h i c h t e der Kriegskunst".

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bers z u m Ende der antiken Welt in der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " , den „Sozialen G r ü n d e n " sowie in der dritten Fassung der „Agrarverhältnisse" dezidiert w i d e r s p r o c h e n und insbesondere die Übersteigerung des G e g e n s a t z e s z w i s c h e n Küsten- und Binnenkultur, Natural- u n d Geldwirtschaft durch Weber sowie d e s s e n Auffassung von der Erd r ü c k u n g des Kapitalismus durch die Bürokratie z u r ü c k g e w i e s e n . 6 2 Wenn hier freilich nicht u n b e d e u t e n d e Teilaspekte von Webers Grundkonzept bestritten wurden, so ist d o c h nicht zu bezweifeln, daß die „Agrarverhältnisse" von 1908 g e r a d e bei den b e d e u t e n d s t e n , auf großen Einzelgebieten arbeitenden Wirtschaftshistorikern des Altertums durchaus einen positiven Widerhall fanden, wofür hier nur w e n i g e Beispiele g e g e b e n w e r d e n können. Der amerikanische Sozial- und Wirtschaftshistoriker William Linn Westermann ( 1 8 7 3 - 1 9 5 4 ) , der 1902 bei Eduard Meyer promoviert hatte und später eine lange Zeit maßgebliche M o n o g r a p h i e über die antike Sklaverei schrieb, veröffentlichte bereits 1915 einen Artikel über die ökon o m i s c h e n Faktoren des N i e d e r g a n g s der antiken Kultur, d . h . in seiner Sicht den Verlust der Freiheit des privaten wirtschaftlichen Handelns, in d e m er a u s g i e b i g Max Weber zitierte. Die „Agrarverhältnisse" b e z e i c h n e te er dort als „the best survey of the c o m b i n e d political-economic development of antiquity that we have", unentbehrlich „to anyone w h o wishes to gain a thorough understanding of ancient e c o n o m i c Problems". 6 3 Das Bild, das d a n n der niederländische Wirtschafts- und Sozialhistoriker Hendrik Bolkestein ( 1 8 7 7 - 1 9 4 2 ) in seiner klassischen kleinen Darstellung aus d e m Jahre 1923 von der athenischen Wirtschaft d e s 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. entwarf, entspricht in seinen G r u n d z ü g e n d e m von Max Weber gezeichneten, d e s s e n „Agrarverhältnisse" in der

62 Delbrück, Hans, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, 2. Teil: Die Germanen, 2. Aufl. - Berlin: G. Stilke 1909, S. 240-250, 473-475 (ähnlich dass., 3. Aufl., 1921, S. 248-255, 485-487). - Vgl. ferner insbesondere ebd., S. 162 (= 3. Aufl., S. 166) gegen Webers Erklärung der Abnahme der Offensivkraft der römischen Heere durch die defensiven Interessen der großen Grundbesitzer (unten, S. 718); S.242f. (= 3. Aufl., S. 248f.) gegen Webers „Antithese" von Küstenverkehr und Binnenverkehr; S.248f. (= 3. Aufl., S. 254f.) zum Rückgang des Ertrags der antiken Edelmetallbergwerke (unten, S.340f.); S.474-475 (= 3. Aufl., S.485-487) zu den Unterschieden zwischen dem Ritter in Altertum und Mittelalter (unten, S. 707). Delbrück selbst verweist auf die .innere Unmöglichkeit, das Imperium mit der Freiheit auszusöhnen' und die daraus folgende Abhängigkeit von der Persönlichkeit des Kaisers (S. 249f. = 3. Aufl., S. 255f.). - Zur Kritik an Webers Entgegensetzung von Küsten- und Binnenkultur auch oben, S. 18f. 63 Westermann, William Linn, The Economic Basis of the Decline of Ancient Culture, in: American Historlcal Review, vol. 20, 1915, S. 723-743, hier S. 733, Anm.44.

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kurzen Literaturübersicht auch zitiert werden. 6 4 Man weiß von Bolkestein, daß er als Hörer von Eduard Meyer sich für die antike Wirtschaftsgeschichte interessierte, aber dessen einseitig „modernistischen" Grundanschauungen doch nicht zu folgen vermochte. 6 5 Aus dem Jahr 1925 verdient der ausführliche „Anhang" des bereits erwähnten Friedrich Oertel zu dem von ihm herausgegebenen Werk Robert von Pöhlmanns Erwähnung, der eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem damaligen Stand insbesondere zur „Kapitalismus"- und Arbeiterfrage der Antike bietet und vielfach auf die „Agrarverhältnisse" von 1908 Bezug nimmt. 6 6 Ebenfalls für das Verständnis der griechischen Wirtschaftsgeschichte wurden die „Agrarverhältnisse" für Johannes Hasebroek ( 1 8 9 3 - 1 9 5 7 ) wichtig, der in seinem Werk über Staat und Handel im vorhellenistischen Griechenland von 1928 Max Weber (offensichtlich mit seinen „Agrarverhältnissen") neben den Fachspezialisten Francotte, Bolkestein und Oertel als maßgeblichen Wegbereiter für die Erkenntnis der .relativen Primitivität der Wirtschaft des fünften und vierten Jahrhunderts' bezeichnete. 6 7 In grundsätzlichen Ausführungen anläßlich einer Besprechung dieser Schrift hat Michael Rostovtzeff im Blick auf die „Agrarverhältnisse" davon gesprochen, daß der .geniale M[ax] Weber' die Oikostheorie Karl Büchers „für den Historiker annehmbarer gemacht" hätte. Er stellte freilich auch fest, daß Weber „doch hauptsächlich Philosoph und Theoretiker" gewesen sei. „Meiner Meinung nach ist die geschlossene Hauswirtschaft überhaupt eine theoretische Konstruktion, welche nie existiert hat", stellte er fest und blieb der Sicht Hasebroeks ge-

64 Bolkestein, Hendrik, Het economisch leven in Griekenlands bloeitijd (Volksunlversiteitsbibliotheek, 25). - Haarlem: De erven F. Bohn 1923, S.241. 65 Vgl. Jonkers, Engbert Jan (Hg.), Hendrik Bolkestein, Economic Life in Greece's Golden Age, new edition, revised and annotated. - Leiden: E.J. Brill 1958, S.VII. 66 Oertel, Anhang (wie oben, S.59, Anm.51), S. 509-585. 67 Hasebroek, Johannes, Staat und Handel Im alten Griechenland. Untersuchungen zur antiken Wirtschaftsgeschichte. - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Slebeck) 1928, S.VI mit Anm.2. Ebd., S. VI II, beruft sich Hasebroek auf die Webersche Unterscheidung zwischen homo politicus und homo oeconomicus. - In seinem anderen, schon im Titel anscheinend an Weber anklingenden Werk stellt Hasebroek als Beleg für das „Doktrinäre in der klassischen Altertumswissenschaft" - allerdings mit Beziehung auf die „Stadt" (MWG I/22-5) - fest, daß „Max Webers letzte das Altertum betreffende Behandlung, vielleicht das Bedeutendste, was hier überhaupt gesagt worden ist, unbekannt blieb": ders., Griechische Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte bis zur Perserzelt. - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1931, S.VII. - Ungedruckt, auch nach Kriegsende, blieb ein erhaltenes, 1942 fertiggestelltes Werk Hasebroeks, „Römische Gesellschaftsgeschichte bis zum Ende der Ständekämpfe", das ebenfalls stark von Weber beeinflußt war; vgl. Pack, Edgar, Johannes Hasebroek und die Anfänge der Alten Geschichte In Köln, in: Geschichte in Köln, Heft 21, Juni 1987, S . 5 - 4 2 , hier S. 21 f.

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genüber größtenteils skeptisch. 6 8 Auch der von Weber in den „Agrarverhältnissen" eingehend erörterte „Kapitalismus" in der Antike wird von Rostovtzeff hier mit der Begründung zurückgewiesen, daß sich „die Theoretiker" über den Begriff nicht einigen könnten. 6 9 Auch Fritz Heichelheim ( 1 9 0 1 - 1 9 6 8 ) kam in einem Forschungsbericht zur griechischen Staatskunde in den Jahren 1902 bis 1932 auf das .gewaltige Werk' des .genialen Gelehrten' Max Weber zu sprechen, der „auch der antiken Staatskunde [...] vor allem auf soziologischem Gebiet seinen Stempel aufgedrückt" habe, wobei er die „Agrarverhältnisse" sowie den Einfluß Webers auf Oertel, Bolkestein und Hasebroek hervorhob. 7 0 Für die seiner eigenen „Wirtschaftsgeschichte des Altertums" zugrundegelegte .ökonomische Terminologie und Problematik' nannte Heichelheim an erster Stelle Max Weber, bei dem er außerdem die ,oft bewundernswerte Vertrautheit' mit den altorientalischen Quellen rühmte, auf die er sich vielfach gestützt habe. 7 1 Aber auch sonst wurden immer wieder Anregungen Webers aufgegriffen. 7 2 In jüngerer Zeit war es vor allem Moses I. Finley (1912-1968), der Einsichten Max Webers aufgegriffen und für die Alte Geschichte fruchtbar zu machen versucht hat. Finley hatte sich als Schüler des erwähnten William Linn Westermann in New York in den frühen dreißiger Jahren ursprünglich Fragen des Handels im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. zugewandt. Finley nahm schon damals auch Verbindung mit Heichelheim auf. Ihm schrieb er später, in einem Brief vom 17. November 1947, daß die Bemerkung Marianne Webers im Vorwort der „Gesammelten Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte", daß die „Agrarverhältnisse" von 1908 in nur vier Monaten entstanden seien, auf ihn „wie ein Wunder aus der Bibel" gewirkt hätte. 73

6 8 Rostovtzeff, M[ichael], B e s p r e c h u n g von Hasebroek, Griechische Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte (wie oben, S.62, A n m . 6 7 ) , in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 92, 1932, S. 3 3 3 - 3 3 9 , hier S . 3 3 3 , 335 und 338. - Als theoretische, real nicht existierende Konstruktion hatte Weber freilich den „Idealtyp" selbst immer verstanden. 6 9 Ebd., S.334, Anm. 1. 7 0 Heichelheim, Fritz Mforitz], Griechische Staatskunde von 1 9 0 2 - 1 9 3 2 (1934), in: Jahresbericht über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft, Supplem e n t b a n d , Band 250, 1935, S. 160f. 7 1 Heichelheim, Fritz M[oritz], Wirtschaftsgeschichte des Altertums v o m Paläollthikum bis zur Völkerwanderung der Germanen, Slaven und Araber, Band l-ll. - Leiden: A.W. Sljthoff 1938; Band II, S.864, A n m . 2 ; Band I, S. 10 und 188. 7 2 Vgl. z. B. den sich vielfach auf Max Weber beziehenden Aufsatz des Finnen Mickwitz, Gunnar, Z u m Problem der Betriebsführung In der antiken Wirtschaft, in: VWSG, Band 323, 1939, S. 1 - 2 5 . 7 3 Shaw, Brendan D., The Early Development of M.l. Flnley's Thought: The Heichelheim Dossier, in: Athenaeum, Studi di Letteratura e Storia dell'Antichità, voi. 81, 1993, S. 1 7 7 - 1 9 9 , hier S. 182. - Die Zeitangabe Ist wohl noch zu hoch, vgl. unten, S.303.

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Die erste B e g e g n u n g Finleys mit Max Webers Werk war freilich bereits in den dreißiger Jahren erfolgt 7 4 und gewiß durch Westermann beeinflußt worden. Finleys spätere jahrzehntelange, intensive A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit Max Webers Arbeiten zur Antike, insbesondere seine folgenreiche Rezeption von Fragestellungen und Konzeptionen Max Webers seit den fünfziger Jahren, speziell a u c h der „Agrarverhältnisse" (Idealtypus, Oikos, Sklaverei u.a.), ist hier im einzelnen nicht n a c h z u z e i c h n e n . 7 5 D o c h war Finley ein wichtiger Vermittler nicht zuletzt auf d e n „Agrarverhältnissen" basierender W e b e r s c h e r Vorstellungen für die seit d e m Ende des II. Weltkriegs verstärkte H i n w e n d u n g der Forschung zur antiken Sozialund Wirtschaftsgeschichte. Im Z u g e des neuerwachten Interesses an Max Weber a u c h in den Altertumswissenschaften sind dann 1976 eine amerikanische, 1981 eine italienische und 1999 eine französische Ü b e r s e t z u n g der „Agrarverhältnisse" erschienen. 7 6 Wie immer die Fachwissenschaften zu den Möglichkeiten von .Grand Theories' und d e m Bedürfnis d a n a c h , hier im Fall der Welt des Altertums, heutzutage stehen, 7 7 kann es keinen Zweifel daran g e b e n , daß für die 1907/08 entstandene Fassung von Webers „Agrarverhältnissen", so überholt sie notwendigerweise in zahlreichen Details und so diskussionsbedürftig sie in ihren allgemeinen A u s s a g e n und Grundlagen sind, insgesamt das Urteil von Alfred Heuß nicht von ungefähr kommt, der sie bereits 1965 als „die originellste, kühnste und eindringlichste Schilderung, die die Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung d e s Altertums jemals erfahren hat", b e z e i c h n e t e . 7 8 A u c h die jüngste, z u g l e i c h ausführlichste Darstellung des von Max Weber g e z e i c h n e ten Bildes der antiken Wirtschaft von Luigi C a p o g r o s s i Colognesi kommt zu d e m Ergebnis, daß die klare .Herausarbeitung des noch unstabilen

74 Vgl. Christ, Karl, Neue Profile der Alten Geschichte. - Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S.296 (hinfort: Christ, Profile). 75 Vgl. Nippel, Wilfried, in: MWG I/22-5, S.40f.; dazu die Hinweise bei Christ, Profile (wie oben, Anm.74), bes. S.296, 300 und 333f. 76 Weber, Max, The Agrarian Soclologv of Anclent Clvilizations, translated by R.l. Frank. - London: NLB 1976; Weber, Max, Storia economica e sociale dell'antichità. I rapporti agrari, Prefazione di Arnaldo Momigliano. - Rom: Editori Riuniti 1981; Weber, Max, Économie et société dans l'Antiquité, précédé de Les causes sociales du déclin de la civilisation antique. Introduction de Hinnerk Bruhns; traduit de l'allemand par Catherine Colllot-Thélène et Françoise Laroche (Textes à l'appui, série histoire classique, dirigée par Pierre Vidal-Naquet). - Paris: La Découverte 1999 (hinfort: Bruhns, Économie). 77 Vgl. dazu die kritische Rezension des Buches von John R. Love, Antiquity and Capltallsm. Max Weber and the sociologica! foundatlon of Roman clvilization. - London, New York: Routledge 1991, von Parkins, Helen M., In: Classlcal Quarterly, N.S.vol. 43, 1993, S. 107f. 78 Heuß, Max Webers Bedeutung (wie oben, S. 19, Anm. 73), S.538.

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A n f a n g s einer bis in unsere Zeiten führenden Entwicklung' durch Max W e b e r 7 9 auf einem in weiten Teilen noch immer gültigen Interpretationsmodell beruhe. 8 0 In gewisser Weise könnte man die „Agrarverhältnisse" von 1908 als eine Art „Programmschrift" für die Alte G e s c h i c h t e des 20. Jahrhunderts als Sozial-, Wirtschafts- und Strukturgeschichte verstehen, a u c h w e n n sie als solche nur begrenzte direkte Wirkungen aufzuweisen hatte. Die „Agrarverhältnisse im Altertum", in d e n e n der Kapitalismus als eine zentrale L e b e n s m a c h t im 20. Jahrhundert zu einem Them a a u c h der Alten G e s c h i c h t e wurde, bleiben in vielem weiterhin eine Herausforderung für die Althistorie. Sie sind nicht nur w e r k g e s c h i c h t l i c h b e d e u t s a m , s o n d e r n bilden mit ihren e i n d r i n g e n d e n Fragestellungen wie ihren m e t h o d i s c h e n Forderungen nach genauer Begriffsbildung u n d historischem Strukturvergleich g e r a d e a u c h in einem Zeitalter der - kapitalistischen - .Globalisierung' ein b e s o n d e r s a n r e g e n d e s P a r a d i g m a althistorischer Erkenntnisgewinnung.

VI. Zur Anordnung und Edition der Texte in diesem Band Der vorliegende Band enthält die Texte Max Webers zur Sozial- und Wirts c h a f t s g e s c h i c h t e des Altertums aus d e n Jahren 1893 bis 1908, d . h . von der Rezension Silvio Perozzi bis zum Protokoll des Heidelberger Vortrags von 1908, in chronologischer Reihenfolge, einschließlich zweier den „Sozialen G r ü n d e n " von 1896 geltender Zeitungsberichte. Bei den drei Fassungen der „Agrarverhältnisse im Altertum" aus d e m H a n d w ö r t e r b u c h der Staatswissenschaften e r g e b e n sich für die Festleg u n g der „Fassung letzter Hand" als Edierter Text gewisse Schwierigkeiten angesichts der außerordentlichen A b w e i c h u n g e n der dritten von der ersten und zweiten Fassung. Dieses Problem w u r d e in der Weise gelöst, daß die zweite u n d die dritte Fassung je als eigener Text ediert w e r d e n , w ä h r e n d die erste Fassung als Variante der zweiten behandelt wird. Dies bleibt in m a n c h e m u n b e f r i e d i g e n d , nicht nur weil die erste Fassung led i g l i c h über d e n Variantenapparat rekonstruierbar ist u n d die an ihr vorg e n o m m e n e n Erweiterungen und sonstigen Veränderungen für die zweite Fassung zumindest nicht ohne weiteres sichtbar sind, sondern weil a u c h der optische Z u s a m m e n h a n g mit der dritten Fassung fehlt, o b w o h l es offensichtlich ist, daß zumindest den A u s g a n g s p u n k t von Webers Manuskript der dritten Fassung von 1908 der Text der zweiten Fassung von 1898 bildete, den er teils belassen, teils geändert, vor allem freilich in e n o r m e m Maße erweitert hat. Eine S i c h t b a r m a c h u n g (z.B.) d u r c h eine 7 9 Vgl. Capogrossi Colognesi, Max Weber (wie oben, S. 21, Anm.82), S.23. 80 Ebd., S.21.

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synoptische Darstellung hätte aber, abgesehen vom größeren Umfang, die Lesbarkeit des Textes und seine praktische Verwendbarkeit außerordentlich beeinträchtigt, so daß das unausweichliche Abwägen zwischen Sichtbarmachung der Textentwicklung und Lesbarkeit des Textes eindeutig zugunsten der letzteren entschieden werden mußte. Einen gewissen Ersatz können die Synopse aller drei Fassungen sowie die Seitenkonkordanz der zweiten und dritten Fassung bieten. 81 Die Erläuterungen zum Text der zweiten Fassung werden gegebenenfalls in der dritten Fassung wiederholt, wobei jedoch auf explizite gegenseitige Verweise verzichtet wird. Was die Edition der einzelnen Texte betrifft, so wurden sie entsprechend den Editionsregeln der Max Weber-Gesamtausgabe sprachlich und sachlich kritisch überprüft, wobei Abkürzungen aufgelöst und, soweit erforderlich, Textverderbnisse beseitigt wurden. In der Regel geschieht dies durch Textemendation unter Nachweis des ursprünglichen Wortlauts im textkritischen Apparat, bei offensichtlichen, trivialen Druckfehlern jedoch auch stillschweigend; vgl. die Editorischen Berichte zu den einzelnen Texten. Die traditionellen Schreibweisen Webers sowohl bei biblischen Eigennamen wie auch sonst werden auch in der Herausgeberrede beibehalten (also Hammurabi statt Chammurapi, Goliath statt Goliat usw.). Speziell zur Akzentsetzung in griechischen Ausdrücken ist zu vermerken, daß hier wie in der deutschen Orthographie grundsätzlich die Gepflogenheiten der Entstehungszeit der Texte Max Webers maßgebend sind. Dies bedeutet insbesondere, daß dort, wo auf ein endbetontes griechisches Wort ein deutsches bzw. nichtgriechisches folgt, sich häufig (so als ob das griechische Wort in einem griechischen Kontext stünde) ein Gravis O statt des heute in diesem Fall allgemein üblichen Akuts (') findet. An einigen wenigen Stellen (bei auch nach damaligen Gewohnheiten irrtümlichen Akzentsetzungen Webers) ergeben sich dadurch gewisse Emendierungsprobleme; doch ist die Akzentuierung Webers bzw. des der Edition zugrundeliegenden Textes gegebenenfalls aus d e m textkritischen Apparat ersichtlich. 8 2 In den Erläuterungen des Herausgebers, die nicht die Aufgabe eines förmlichen „Kommentars" und vollends nicht die einer Bestandsaufnahme der inzwischen geleisteten Einzelforschung haben, werden die zahlreichen nicht genau bestimmten internen Verweise Webers („s.o." u.a.) aufgelöst. Vor allem aber gelten die Erläuterungen, gemäß den Editionsregeln, der Vervollständigung bzw. dem Nachweis der Zitate Webers sowie

81 Vgl. unten, S. 316-319. 82 Vgl. unten, S. 177f. und 194; S.333, 468, 477, 526, 573, 582 und 639.

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der Sacherklärung. Angesichts der in den meisten Texten dieses Bandes überaus zahlreichen speziellen, insbesondere rechtshistorischen Begriffe wurde zur Entlastung des Erläuterungsapparates ein großer Teil der dafür notwendigen Sacherläuterungen in das Glossar verlagert, während andere erklärungsbedürftige Begriffe und Sachverhalte in der Regel an Ort und Stelle erläutert werden. Eine Hauptaufgabe des Erläuterungsapparates dieses Bandes ist darüber hinaus der detaillierte Nachweis der wissenschaftlichen Grundlagen von Webers Ausführungen anhand seiner hier besonders zahlreichen direkten oder (sehr häufigen) indirekten Bezugnahmen sowohl unmittelbar auf antike Quellen wie auch - vor allem - auf die wissenschaftliche Literatur, die in aller Regel die Quellen und die nähere Begründung der betreffenden Auffassungen enthält. Dies gilt vor allem für die „Sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur" sowie in besonderem Maße für die „Agrarverhältnisse", während der Aufsatz über die „altgermanische Sozialverfassung" einen vollständigen eigenen wissenschaftlichen Apparat Webers aufweist. 8 3 Wo Weber explizit antike Quellen oder moderne Autoren zitiert, wurde dies überprüft und in den Erläuterungen gegebenenfalls vervollständigt oder auch berichtigt. Abgesehen von Webers originären eigenen Überlegungen hat ein gewisser Teil der von ihm verwendeten Daten naturgemäß als allgemein bekannt zu gelten und kann jedenfalls nicht einzelnen Werken der modernen Literatur als Zitat zugeordnet werden. Andererseits ist zumal für die von Weber aus naheliegenden Gründen, d.h. wegen ihres Charakters als Vortrag bzw. Lexikonartikel, nicht mit Anmerkungen versehenen Texte des vorliegenden Bandes eine erhebliche Anzahl .indirekter' Zitate sowohl aus den Quellen wie aus der wissenschaftlichen Literatur charakteristisch, zum Teil auch aus eigenen Texten Max Webers. Diese Bezugnahmen wurden in möglichst großer Zahl erfaßt und nachgewiesen, so daß die quellen- und forschungsmäßige Grundlage auch der „Sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur" und der „Agrarverhältnisse" in ihren drei Fassungen so detailliert, wie dies im Rahmen der Edition bzw. des Erläuterungsapparats geschehen konnte, erkennbar wird. Wo in einzelnen Fällen ein notwendigerweise vorauszusetzendes modernes Werk nicht ermittelt werden konnte, wurde versucht, zumindest die antiken Quellen, die Webers Text (letztlich) zugrundeliegen, zu ermitteln. Infolge des ungewöhnlich großen Umfangs indirekter Zitate Webers, zumal in den „Agrarverhältnissen" mit sich oft eng an die von ihm herangezogene wissenschaftliche Literatur anschließenden Formulierungen in

83 Vgl. unten, S. 240-299.

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den n a c h f o l g e n d edierten Texten (mit A u s n a h m e des „Streits um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung") finden sich in einem nicht g e r i n g e n Teil der Erläuterungen Hinweise wie „Weber fußt auf...", „Weber stützt sich auf...", „Weber nimmt B e z u g auf...", „Zugrunde liegt ..." u.a., wobei dies prinzipiell heißen soll, daß die betreffenden Quellen bzw. m o d e r n e n Arbeiten, auf d e n e n Webers D a r l e g u n g e n g r ü n d e n , sich jeweils eindeutig identifizieren lassen. Die Hauptkriterien für den Nachweis dafür bilden nicht nur mehr oder weniger explizite Erwähnungen von Quellen oder d e n Namen moderner Autoren im Text selbst, sondern vor allem in der dritten Fassung der „Agrarverhältnisse" von 1908 Webers ausführliches Literaturverzeichnis a m Schluß des Artikels, d a z u aber auch die vielfach erkennbaren, offenkundigen A n k l ä n g e an den Wortlaut der von ihm benutzten Literatur. Die Ü b e r p r ü f u n g der Zitate läßt a u c h einiges von Webers Arbeitsweise bei den in d i e s e m B a n d enthaltenen Texten erkennen. Eine wichtige G r u n d l a g e bildeten offenbar Exzerpte aus den h e r a n g e z o g e n e n Werken, 8 4 die teilweise ihrerseits d u r c h dort a n g e b r a c h t e Unterstreichungen vorbereitet waren. 8 5 M a n c h e der - seltenen - Versehen Webers sind wohl als Folge u n g e n a u e r bzw. im Nachhinein nicht mehr g e n a u verstandener Formulierungen aus Exzerpten zu erklären, in d e n e n Weber im ü b r i g e n wörtliche Zitate nicht eigens als solche zu kennzeichnen pflegte. Offensichtlich ist, daß in den g e d r u c k t e n Werken Weber den Wortlaut der benutzten Arbeiten in der Regel leicht variierte, o b w o h l er meist a u c h einige charakteristische R e d e w e n d u n g e n übernahm. „Wörtliche", d . h . von ihm selbst in A n f ü h r u n g s z e i c h e n gesetzte Zitate erweisen sich gelegentlich als unpräzise, und zwar wohl weniger, weil Weber sich zu Unrecht auf sein G e d ä c h t n i s verließ, sondern vor allem, weil er eine in seinen Exzerpten festgehaltene Formulierung für ein wörtliches Zitat aus d e m betreffenden Werk hielt. Von den erhaltenen schriftlichen A u s z ü g e n Webers aus der wissenschaftlichen Literatur stehen einige a u c h mit d e n Schriften des v o r l i e g e n d e n B a n d e s in Z u s a m m e n h a n g , ohne daß dieser freilich g e n a u bestimmt w e r d e n könnte. Auf einzelne dieser von Weber hergestellten A u s z ü g e wird in den e n t s p r e c h e n d e n Editorischen Berichten verwiesen. 8 6 Für Textgestalt und Verständnis der betreffenden Schriften ist den Exzerpten allerdings nichts Wesentliches zu entnehmen. - Als Beispiel einer Seite aus den W e b e r s c h e n Exzerpten vgl. unten, S. 142f.

84 Vgl. unten, S. 141. 85 Vgl. oben, S.22. 86 Vgl. unten, S.136f„ 141 und 238f.

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Einen besonderen Platz unter den G r u n d l a g e n Webers für eine Anzahl der in d i e s e m B a n d enthaltenen Werke nehmen seine eigene „Römische A g r a r g e s c h i c h t e " sowie seine Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" ein. Die „Römische A g r a r g e s c h i c h t e " ist eines der Fund a m e n t e seiner A u s f ü h r u n g e n in den „Sozialen G r ü n d e n des U n t e r g a n g s der antiken Kultur" sowie der Rom geltenden Teile in allen drei Fassungen der „Agrarverhältnisse". In diesen Schriften, die ja keine Einzelbelege enthalten, folgt Weber vielfach, aber stets ohne besondere Kennz e i c h n u n g und naturgemäß vielfach verkürzt, ohne g e n a u e Quellenangabe und nähere B e g r ü n d u n g , seinem B u c h von 1891. Um d e n Erläuter u n g s a p p a r a t zu entlasten, wird in diesen Fällen in der Regel auf die e n t s p r e c h e n d e n , detaillierteren Ausführungen W e b e r s in der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " (MWG I/2) verwiesen. N e b e n der Römischen A g r a r g e schichte ist für die „Sozialen Gründe des U n t e r g a n g s der antiken Kultur" sowie für die b e i d e n ersten Fassungen der „Agrarverhältnisse" offenkund i g Webers große, in Freiburg und H e i d e l b e r g gehaltene nationalö k o n o m i s c h e Vorlesung von Bedeutung, von der Webers Kolleghefte bzw. S t i c h w o r t s a m m l u n g e n erhalten sind. 8 7 Sie w e r d e n im ersten B a n d der Abteilung III der G e s a m t a u s g a b e ediert. Um aber d o c h ein g e w i s s e s Bild d a v o n zu vermitteln, wo Webers Schriften auf seine Vorlesung zurückgreifen und in ihrer Genese auch von dort her zu verstehen sind, w e r d e n diese Bezüge ebenfalls n a c h g e w i e s e n und nach der Archivpaginierung der Manuskriptseiten zitiert. 8 8 D a g e g e n w u r d e für W e b e r s kurzen, unmittelbar im Anschluß an die dritte Version der „Agrarverhältnisse" für „Religion in G e s c h i c h t e und Gegenwart" verfaßten Artikel über die A g r a r g e s c h i c h t e des Altertums ein anderes Erläuterungsverfahren gewählt und jeweils nur auf die e n t s p r e c h e n d e n Passagen der ausführlic h e n Darlegung in den „Agrarverhältnissen" von 1908 verwiesen, wo, sei es direkt d u r c h W e b e r s eigene A n g a b e n , sei es in d e n Erläuterungen, die Quellen- und Literaturbasis n a c h g e w i e s e n wird, auf der Weber fußt. Der Erläuterungsapparat wird im übrigen ergänzt d u r c h das Personenverzeichnis, das Glossar sowie das Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur. 8 9

87 Vgl. oben, S. 11. 88 Unter der Sigle M; vgl. oben, S.XIII. 89 Vgl. unten, S. 769-801, 802-840 sowie S. 841-878.

Schriften und Reden

[Rezension von:] Silvio Perozzi, Perpetua causa nelle servitù prediali romane

Editorischer Bericht

I. Zur Entstehung Max Webers Rezension der Arbeit des italienischen Rechtshistorikers Silvio Perozzi über die .perpetua causa' (etwa: .dauerhafte Grundlage') bei den römischen Grunddienstbarkeiten erschien im Oktober 1893 in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Thematisch gehört sie, wenn auch nur als Gelegenheitsarbeit, in den weiteren Umkreis seiner „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " von 1891, 1 mit der Weber im Februar 1892 in Berlin habilitiert worden war. Perozzis detaillierte, 83 Seiten umfassende Untersuchung war als Zeitschriftenaufsatz 2 sowie in einer separaten Ausg a b e mit eigener Seitenzählung veröffentlicht worden. Letztere lag der B e s p r e c h u n g Max Webers zugrunde. 3 Direkte Zeugnisse über die Entstehungsgeschichte des Textes liegen nicht vor, d o c h scheint Weber die Rezension etwa im Juli 1893 verfaßt zu haben. Daß sie gerade ihm übertragen wurde, hatte außer der „Römischen Agrargeschichte", die ihn als Fachmann für Fragen des römischen Bodenrechts auswies, möglicherweise eine zusätzliche persönliche Ursache: Alfred Pernice, der damals für die romanistische Abteilung der SavignyZeitschrift zuständige Herausgeber, der seit 1881 als ordentlicher Professor für römisches Recht in Berlin wirkte, hatte als Gutachter Webers Habilitationsschrift sehr positiv bewertet und insbesondere dessen „Geist, C o m b i n a t i o n s g a b e und weiten historischen Blick" gerühmt. 4 Wichtig für die Aufnahme der Rezension in die Savigny-Zeitschrift könnte

1 Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2. 2 Rivista italiana per le scienze giuridiche, vol. 14, fascicolo 2 - 3 , 1893, S. 1 7 5 - 2 5 7 . - Bei der Angabe „Vol. XIII" (statt: XIV) im Titel der Rezension in der Savigny-Zeitschrift handelt es sich offensichtlich um ein Versehen; vgl. auch die folgende Anm. 3 Perozzi, Silvio, Perpetua causa nelle servitù prediali romane. - Rom: Ermano Loescher & Co. 1893. Auf der Rückseite des Titels (S. 2) findet sich der Vermerk: Estratto della Rivista italiana per le scienze giuridiche Volume XIV - Fascicolo l l - l l l . 4 Näheres in MWS I/2, S. 195.

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Rezension von: Silvio Perozzi

außerdem gewesen sein, daß Perozzi 1883/84 bei Pernice in Berlin studiert hatte. 5 Weber war seit der Veröffentlichung der großen Landarbeiter-Enquète Ende 1892 während des Jahres 1893 ganz überwiegend mit weiteren Veröffentlichungen zu diesem Themenbereich beschäftigt. Als Privatdozent für Römisches Recht und Handelsrecht an der Berliner Universität befaßte er sich jedoch zugleich weiterhin mit der römischen Rechtsgeschichte, über die er im Wintersemester 1892/93 wie im Wintersemester 1893/94 jeweils vierstündig las. In einem Brief vom 2. Juli 1893 an seine Braut, in dem u.a. von nicht weniger als „ca. 30 zu recensierenden Büchern" die Rede ist, die „seit 6 Monaten" dalägen, eine „Schuldenlast", die er „keinesfalls mit in die Ehe bringen" wolle, 6 heißt es: „[...] ich hoffe nun bald ganz allein zu sein. Seltsam, wie das immer auf mich wirkt. Die Arbeitsunlust, die mich seit Monaten verfolgt, schwindet, ich habe heute 100 Seiten Physiologische Psychologie, 100 Seiten Erkenntnistheorie und eine italienische juristische Schrift g e l e s e n ^ ohne daß in meinem Hirn Heringssalat e n t s t a n d ^ und bin überhaupt seit langer Zeit einmal wieder bei guten Geisteskräften". 7 Es erscheint naheliegend, daß mit der ,,italienische[n] juristische[n] Schrift" Perozzis Abhandlung gemeint ist. Vier Tage später, am 6. Juli, berichtet Weber seiner Braut dann, daß am Tag zuvor zwei Rezensionen „fertig geworden" seien 8 und erklärt ihr am 17. Juli erneut, daß er von „den Rezensionen etc. [...] sehr in Anspruch genommen" sei. 9 Die beiden anderen Rezensionen italienischer juristischer Werke aus dieser Zeit können damit kaum gemeint sein; Weber selbst datiert deren Abschluß ausdrücklich erst mit „November 1893". 10 Laut Mitteilung im Börsenblatt ist das Erscheinen des Bandes der Savigny-Zeitschrift, in dem Webers Rezension zu Perozzi erschien, bereits am 27. Oktober 1893 angezeigt. 1 1

5 Arangio-Rulz, Vincenzo, Silvio Perozzi, in: Perozzi, Silvio, Scritti giuridici a cura di Ugo Brasiello, Band I: Proprietà e possesso. - Milano: A. Giuffrè 1948, hier S. Vili. 6 Max Webers Eheschließung mit Marianne Schnitger fand am 20. September 1893 statt. 7 Brief Max Webers an Marianne Schnitger vom 2. Juli 1893, Bestand Max WeberSchäfer, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/2); vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 200f. 8 Brief Max Webers an Marianne Schnitger vom 6. Juli 1893, Bestand Max WeberSchäfer, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/2). 9 Brief Max Webers an Marianne Schnitger vom 17. Juli 1893, ebd. 10 Es handelt sich um zwei handelsrechtliche Schriften von Angelo Sraffa. Vgl. Weber, Max, [Rezension von:] Angelo Sraffa, Studi di diritto commerciale, und La liquidazione delle società commerciali, in: Zeitschrift für das Gesammte Handelsrecht, N.F. Band 27, 1894, S. 3 1 4 - 3 2 0 (MWG 1/1); die Datumsangabe ebd., S.320. 11 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige, 60. Jg., 1893, Nr. 251 vom 27. Okt. 1893, S.6449.

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Bericht

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Was d e n G e g e n s t a n d von Perozzis A r b e i t betrifft, so b i l d e t e n die Prädialservituten bzw. G r u n d d i e n s t b a r k e i t e n , also das Recht d e s Eigentümers eines G r u n d s t ü c k s I n s b e s o n d e r e auf W e g e n u t z u n g für M e n s c h u n d Vieh o d e r W a s s e r l e i t u n g über ein f r e m d e s G r u n d s t ü c k , seit früher Zeit einen w e s e n t l i c h e n Bestandteil d e s r ö m i s c h e n B o d e n r e c h t s u n d w a r e n a u c h In W e b e r s „ R ö m i s c h e r A g r a r g e s c h l c h t e " w i e d e r h o l t zur S p r a c h e g e k o m m e n . 1 2 Ein v i e l f a c h erörtertes j u r i s t i s c h e s Problem, d a s In der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " j e d o c h keine Rolle g e s p i e l t hatte, b e s t a n d In der Frage, o b g e m ä ß einer d e m Juristen Paulus z u g e s c h r i e b e n e n Stelle in d e n D i g e s t e n 1 3 für die B e s t e l l u n g j e d w e d e r Servitut d a s Vorliegen einer ,perpetua causa' V o r a u s s e t z u n g sei u n d w a s darunter w i e d e r u m g e n a u zu v e r s t e h e n sei. Zwar ist unbestritten, daß eine Servitut n a c h röm i s c h e m Recht nicht auf i r g e n d w i e b e g r e n z t e Zeit bestellt w e r d e n konnte. Hier g i n g es j e d o c h d a r u m , o b mit causa ein . b e s t ä n d i g e r Rechtsg r u n d ' als V o r a u s s e t z u n g für die Servitut o d e r (wohl richtiger) die natürlic h e , .dauerhafte B e s c h a f f e n h e i t ' des G r u n d s t ü c k s g e m e i n t war, w e l c h e die d a u e r n d e A u s ü b u n g der Servitut e r m ö g l i c h t e . B e i d e n A u f f a s s u n g e n g e g e n ü b e r vertrat Perozzl in einer e i n g e h e n d e n , die v e r s c h i e d e n s t e n philologischen, sachlichen und dogmatischen Argumente ausführlich b e r ü c k s i c h t i g e n d e n Erörterung die A u f f a s s u n g , daß d a s Pauluszitat in d e n D i g e s t e n in s e i n e m e n t s c h e i d e n d e n Teil ein auf M i ß v e r s t ä n d n i s s e n b e r u h e n d e r Zusatz eines u n b e k a n n t e n n a c h j u s t i n i a n i s c h e n G l o s s a t o r s sei u n d d a s r ö m i s c h e Recht eine perpetua causa als a l l g e m e i n e Erford e r n i s für die K o n s t i t u i e r u n g von G r u n d d i e n s t b a r k e l t e n nie g e k a n n t h a b e . Wo der Begriff im Z u s a m m e n h a n g mit einer Servitut e r s c h e i n e , h a b e es s i c h nur um die .stetige' W a s s e r v e r s o r g u n g als s o l c h e g e h a n delt. Der r i c h t i g e Kern der Ü b e r l i e f e r u n g b e s t ü n d e l e d i g l i c h darin, daß bei der B e s t e l l u n g von Wasserservituten d a s V o r h a n d e n s e i n von ,aqua viva' (.perennis' u.a.), also g l e i c h s a m stets n a c h f l i e ß e n d e m u n d s i c h ern e u e r n d e m Wasser, eine n o t w e n d i g e V o r a u s s e t z u n g g e w e s e n sei. Prakt i s c h v e r s u c h t e Perozzi d u r c h die Eliminierung der causa perpetua aus d e m r ö m i s c h e n Recht, mit der B e s c h r ä n k u n g der g r u n d b u c h r e c h t l i c h g e s i c h e r t e n Servituten auf l a n g f r i s t i g e R e c h t s v e r h ä l t n i s s e in der G e g e n wart Schluß zu m a c h e n . Perozzis d e z i d i e r t e These stieß auf v i e l f a c h e n W i d e r s p r u c h ; 1 4 a u c h W e b e r b l i e b s k e p t i s c h . Er e r k a n n t e zwar die Unklarhelten d e s Begriffs der perpetua causa an, v e r w i e s a b e r auf b e a c h t l i c h e S c h w ä c h e n der Ar-

12 MWG I/2, S. 192f., 196, 256, 277, 293. 13 Dig. 8, 2, 28 (Paulus). Vgl. unten, S. 76, Fn. 1 und Anm. 7. 14 Vgl. z.B. die ausführliche Stellungnahme gegen Perozzi von C[ontardo] Ferrini, In: Archivio giuridico, vol. 50, 1893, S. 388-402.

74

Rezension von: Silvio Perozzi

gumentation Perozzis und wollte eine Autorschaft des Paulus auch weiterhin nicht grundsätzlich ausschließen. Er spendete Perozzi jedoch trotz mancher Vorbehalte - ein verhaltenes Lob und wies insbesondere auf dessen Überlegungen zur religiösen Bedeutung von .lebendigen perennierenden Quellen' hin. Er selbst gab allerdings die Möglichkeit zu bedenken, daß die Prädialservituten bereits ein Bestandteil der anfänglichen Assignation des Bodens, also der staatlichen Zuweisung von Land als Privateigentum, gewesen seien. Soweit jedoch Perozzis Ablehnung einer römischrechtlich begründeten perpetua causa für eine Grunddienstbarkeit auch das praktische Ziel verfolgte, die verschiedensten kurzfristigen Nutzungen fremden Bodens zukünftig zu Grunddienstbarkeiten zu erheben und sie grundbuchrechtlich abzusichern, stieß er bei Weber auf deutliche Ablehnung. 1 5

II. Zur Überlieferung

und

Edition

Ein Manuskript Webers ist nicht überliefert. Die Edition beruht auf der Wiedergabe des Textes in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung, Band 14 (= 27. Band der Zeitschrift für Rechtsgeschichte), 1893, S. 2 9 0 - 2 9 2 (A). Der Text der separaten Ausgabe des Aufsatzes von Perozzi, auf den sich die Rezension Max Webers bezieht, ist seitengleich ( S . 3 - 8 5 ) identisch mit dem Abdruck in der Rivista italiana per le scienze giuridiche, vol. 14, 1893, S. 1 7 5 - 2 5 7 . 1 6 (Danach sind ggf. auch Umrechnungen leicht möglich.) Wegen der außerordentlichen Seltenheit von Exemplaren der separaten Ausgabe wird in den Sacherläuterungen jedoch grundsätzlich auf die Paginierung in der „Rivista" Bezug genommen. Die Behandlung der Digestenzitate Webers folgt der bereits bei der Edition der „Römischen Agrargeschichte" angewandten Praxis, d.h. es werden nicht nur die stets abgekürzten Digestentitel aufgelöst, sondern auch die heute unübliche Zitierweise nach Fragmenten und Titeln, auch mit Rücksicht auf das Quellenregister, in den Erläuterungen auf die Zählung der Bücher, Titel und Fragmente der Digesten umgestellt. Ein Webersches Zitat wie z.B. „D. 28 de sfervitutibus] pfraediorum] u[rbano-

15 Perozzis Arbeit ist noch 1948, im ersten Band seiner nach dem II. Weltkrieg veröffentlichten Kleinen Schriften, wiederabgedruckt worden: Perozzi (wie oben, Anm.5), Band II: Servitù e obbligazioni, S. 8 5 - 1 6 3 . 16 Vgl. oben, S. 71 mit Anm. 2 und 3.

Editorischer

Bericht

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rum]" w i r d also in d e n Erläuterungen als „Dlg. 8, 2, 28" a u f g e l ö s t . 1 7 Z u e r w ä h n e n ist a u c h , daß W e b e r wie s c h o n In der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h l c h t e " u n d a n d e r s als Perozzl, nicht die K r ü g e r - M o m m s e n s c h e A u s g a b e der D i g e s t e n , 1 8 s o n d e r n die - o f f e n s i c h t l i c h in s e i n e m Besitz bef i n d l i c h e - K r i e g e i s c h e A u s g a b e 1 9 v e r w e n d e t hat. Die (faktisch n e b e n s ä c h l i c h e n ) U n t e r s c h i e d e hat er offenbar nicht b e m e r k t . D o c h wird d i e s e T e x t g r u n d l a g e an w e n i g s t e n s zwei Stellen d e s Textes sicher e r k e n n b a r . 2 0 Die R e z e n s i o n ist In einer A n t i q u a s c h r i f t ohne „ß" g e d r u c k t . Ents p r e c h e n d d e n Editionsregeln der M W G w u r d e hier s t i l l s c h w e i g e n d korrigiert. W e b e r s Fußnoten, die auf j e d e r Seite neu g e z ä h l t sind, w e r d e n hier d u r c h l a u f e n d numeriert.

17 Zu weiteren Abkürzungen in Verweisen auf die Digesten vgl. das Abkürzungsverzeichnis, oben, S. XIV—XVII; zu Webers Digestenzitaten außerdem MWG I/2, S. 8 2 - 8 4 . 18 Corpus Iuris Civilis, vol. I: Institutiones, hg. von Paul Krüger; Digesta, hg. von Theodor Mommsen. - Berlin: Weidmann 1872 (zahlreiche spätere Neudrucke). 19 Corpus Iuris Civilis, hg. von Albert und Moritz Kriegel, pars I: Institutiones, Digesta, 17. Aufl. - Leipzig: Baumgärtner 1887. 20 Unten, S. 76, Webers Fußnote 1, sowie ebd., S. 80 mit Anm. 35.

[Rezension von:] [A 290] Silvio Perozzi. Perpetua causa nelle servitù prediali romane (S[eparat-]A[bdruck] aus der Riv[ista] italiana] per le sc[ienze] giuridiche] Vol. XIII 1 fascicolo] II-III). Roma 1893. 85 2 p. 8°. Die Kritik, welche diese sehr beachtenswerthe Abhandlung an dem von der herrschenden Meinung behaupteten Erforderniß der „perpetua causa" für die römischen Prädialservituten übt, ist eine auch in der Form - sehr energische. Die entscheidende Stelle (D. 28 de s[ervitutibus] pfraediorum] u[rbanorum] l) 3 vv. „omnes autem" - „potest") ist nach dem Verffasser] posttribonianisches Glossem, 4 die Identification von „perpetua" und „naturalis" causa (ebenda) ein crasses Mißverständniß des Paulus,5 die ganze Behandlung in der neueren juristischen Literatur wimmelt (nach ihm) von elementaren Interpretationsfehlern seitens der Autoren, gegen welche seine nicht ungeschickte, aber in italienischer Breite ausgeführte Polemik sich wendet. Und allerdings ist ja bekannt, daß eine Einigung über die Bedeutung des schwierigen Begriffs auch nur in den allgemeinsten Grundlagen bisher nicht erzielt ist.6 A 290

') Foramen in imo pariete conclavis vel triclinii, quod esset proluendi pavimenti causa, id neque flumen esse neque tempore adquiri placuit. Hoc ita verum est, si in eum locum nihil ex coelo aquae veniat; neque enim perpetuam causam habet quod manu fit; at quod ex coelo cadit, etsi non adsidue fit, ex naturali tarnen causa fit et ideo perpetuo fieri existimatur. Omnes autem Servitutes praediorum perpetuas causas habere debent. Et ideo neque ex lacu neque ex stagno concedi aquaeductus potest. Stillicidii quoque immittendi naturalis et perpetua causa esse debet. 7 ]

1 V e r s e h e n für: XIV; vgl. d e n E d i t o r i s c h e n B e r i c h t , o b e n S. 71, A n m . 2. 2 Zur S e l t e n z ä h l u n g e b d . , S. 74. 3 = D l g . 8 , 2, 28 (Paulus). 4 So Perozzi, S. 187. 5 Hier g e m e i n t : M i ß v e r s t ä n d n i s d u r c h m o d e r n e A u t o r e n (Perozzi, S. 1 8 5 - 1 8 7 , mit Bel e g e n S. 186, A n m . 1; d a z u S . 2 0 5 ) . 6 Dies w i r d Im e i n z e l n e n a u s g e f ü h r t b e i Perozzi, S. 1 7 6 - 1 8 1 , 2 0 7 - 2 2 8 . 7 Der l a t e i n i s c h e Text k o m m t n a c h O r t h o g r a p h i e u n d Z e i c h e n s e t z u n g d e r D l g e s t e n a u s g a b e v o n K r i e g e l a m n ä c h s t e n , n i c h t d e r W i e d e r g a b e bei Perozzi ( d o r t S. 1 8 2 f . ) ; vgl. d e n E d l t o r i s c h e n B e r i c h t , o b e n , S . 7 5 . Ü b e r s e t z u n g , In A n l e h n u n g a n B e h r e n d s , O k k o u. a. ( Ü b e r s e t z e r u n d H e r a u s g e b e r ) , C o r p u s Iuris Civilis, Text u n d Ü b e r s e t z u n g ,

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Das Ergebnis des Verfassers] nun ist im Wesentlichen folgendes: Der perpfetua] causa wird von den (unverfälschten) Quellen lediglich bei den Wasserservituten gedacht. 8 Auch hier handelt es sich nicht um eine perpetua causa servitutis, sondern um perpetua causa aquae; perpetuus ist im Sinne von continuus, adsiduus gebraucht, aqua perpetua ist = aqua viva, und es reducirt sich also die Bedeutung darauf, daß ebenso wie nach D. 11 pr. q[uod] vi aut cl[am],9 D. 1 §7 de aq[ua] cotid[iana et aestiva] 10 der Interdictenschutz nur für Leitungen von aqua „perennis" aus dem „caput 3 aquae" gegeben wird, so als Gegenstand einer Wasser-Servitut nur Gerechtigkeiten an aqua perennis et viva (fons - im Gegensatz zu cisterna, lacus - im Gegensatz zu stagnum, flumen - im Gegensatz zu torrens) möglich sind.11 Der Grund ist lediglich, daß zum Begriff der Servitut das fundum fundo servire gehört, und daß nach römischer Auffassung nur die ständig aus dem Boden quellenden Gewässer pars fundi 12 sind (cf. D. 11 pr. quod vi aut clam cit.). 13 | Zu vereinigen mit der Ansicht des Verfassers] ist die eine der A beiden Hauptstellen, welche die perpetua causa als Erforderniß

a A: Caput Band II: Digesta 1 - 1 0 . - Heidelberg: C. F. Müller 1995, S. 680: „Eine Öffnung unten in der Wand eines Schlaf- oder Speiseraumes, die zur Reinigung des Estrichs dient, bildet nach herrschender Meinung keinen [einer Servitut fähigen] Abfluß und kann auch nicht [als Servitut] durch Zeitablauf erworben werden. Dies trifft [jedenfalls] dann zu, wenn durch die Öffnung kein [Regen]wasser vom Himmel in diesen Raum gelangt, denn was durch eine [menschliche] Hand geschieht, hat keine dauerhafte Grundlage [perpetua causa]; was jedoch [als Regenwasser] vom Himmel fällt, hat, auch wenn es nicht ständig (assidue) geschieht, dennoch eine natürliche Grundlage [naturalis causa] und geschieht daher, wie man annimmt, dauerhaft [perpetuo]. Alle Prädialservituten müssen aber dauerhafte Grundlagen [perpetuae causae] haben, und daher kann an einem kleinen Teich [lacus] oder einem stehenden [oder: im Sommer austrocknenden?] Gewässer [stagnum] ein Wasserleitungsrecht nicht bestellt werden. Auch für die Ableitung von Traufwasser muß eine natürliche und dauerhafte Grundlage [naturalis et perpetua causa] vorhanden sein." 8 So Perozzi, S. 195, 199, 235. 9 = Dig. 43, 24, 11, pr. (zitiert bei Perozzi, S. 241 f.). 10 = Dig. 43, 20, 1, 7 (zitiert bei Perozzi, S. 250). 11 Vgl. Perozzi, S. 194-200. 12 Perozzi spricht von „parte del fondo" (S.242) bzw. „portio fundi" (S.255, 257), während die zitierte Digestenstelle allgemeiner von „portio agri" spricht. 13 = Dig. 43, 24, 11, pr.

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von Servituten erwähnen, D. 1 § 4 de fönte 2 ) 14 (für den Quasibesitz), - obwohl die Verbindung „perpetua causa nec viva aqua" stutzig machen kann. Den seiner Auffassung widerstreitenden Wortlaut der andern und wichtigsten, D. 28 de sfervitutibus] p[raediorum] 15 u[rbanorum][,j eliminirt er in der oben angegebenen Weise.16 Seine Annahme, daß der dritte Absatz 17 ein - und zwar ein nicht von den Compilatoren herrührendes [-] Glossem ist, begründet der Verf[asser] durch den Hinweis auf den Zusammenhang (bes[onders] das „stillicidii quoque", welches folgt) und auf den Umstand, daß „lacus" hier anstatt der sonst mit stagnum auf eine Linie gesetzten „cisterna" stehe und deshalb seinen Ursprung ersichtlich dem taiKKcx; (= cisterna) in der Epit[ome] leg[um] Tit. XXXIX, 61 18 wiedergegebenen Rechtsparömie verdanke. 19 Zwingend ist die Annahme ebensowenig, wie man sie als unzulässig bezeichnen kann, - in jedem Fall bleiben aber, auch wenn man wie der Verf[asser] mit erheblichen Mißgriffen des Paulus rechnet, 20 durch den zweiten und namentlich den letzten Absatz, 21 die beide gleichfalls die perpetua causa in Fällen, wo von aqua viva nicht die Rede ist, speciell für stillicidium22 enthalten, die Schwierigkeiten bestehen. A 291

2 ) Hoc interdictum de cisterna non competit; nam cisterna non habet perpetuam causam nec vivam aquam pp.23 |

14 = Dig. 43, 22, 1, 4. 15 = Dig. 8, 2, 28. 16 Siehe o b e n , S. 76. 17 Der Text ist bei Perozzi, S. 182f., in vier A b s ä t z e n w i e d e r g e g e b e n ( B e g i n n mit foramen; hoc ita; o m n e s autem; stillicidii q u o q u e ) . 18 Das Zitat hat Weber so von Perozzi, S. 193, A n m . 1, ü b e r n o m m e n ; t a t s ä c h l i c h ist a b e r E p i t o m e l e g u m 39, 71 g e m e i n t . N a c h Perozzi ( e b d . , S. 193) erscheint die M a x i m e in der Epitome l e g u m wie ein g e l ä u f i g e s „ p r o v e r b i o g i u r i d i c o " , d. h. R e c h t s s p r i c h w o r t . 19 So Perozzi, S. 1 8 7 - 1 9 3 . Bei der „ E p i t o m e l e g u m " handelt es sich um ein aus d e m Jahre 9 2 0 s t a m m e n d e s , privates b y z a n t i n i s c h e s R e c h t s b u c h . Die von Perozzi zitierte Stelle e n t s p r i c h t etwa d e m Satz „omnes ... debent" der Digestenstelle ( o b e n S . 7 6 , W e b e r s Fußnote 1). Der Text findet s i c h bei Z a c h a r i a e v. Lingenthal, Karl Eduard, lus G r a e c o - R o m a n u m 7. - Leipzig: J. B. H i r s c h f e l d 1884, S. 145. 20 Ebd., S. 2 3 7 - 2 3 9 . 21 Vgl. o b e n , Anm. 17. 22 D . h . „Trauf"- bzw. „ R e g e n w a s s e r " ( u n d damit eine n i c h t s t ä n d i g e E r s c h e i n u n g ) . 23 Ü b e r s e t z u n g : „Dieses Interdikt erstreckt sich nicht auf eine Zisterne, d e n n eine Z i s t e r n e hat keine d a u e r n d e B e s c h a f f e n h e i t [perpetua causa] u n d kein fließendes Wasser usf."

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Um noch auf einige weitere Einzelheiten einzugehen, so ist durchaus zutreffend die Ausführung des Verf[assers], daß das angebliche Princip der perpetua causa nicht aus der civilrechtlichen Unzulässigkeit von dies und condicio bei Servitutenbestellung (D. 4 pr. d[e] serv[itutibus]) 24 folge; 25 diese Unzulässigkeit besteht aus formalen Gründen und hat mit der Frage: Servituten welchen Inhalts bestellt werden können, nichts zu thun. Womöglich noch verkehrter aber ist es, wenn er seinerseits umgekehrt aus der Zulassung prätorischer Exceptionen aus pacta, welche Bedingungen oder Befristungen von Servituten enthalten (lex cit.), wenigstens hypothetisch ein Argument gegen das Erforderniß der perpetua causa herleitet. 26 Ob in Fällen solcher pacta - denn darum und nicht um Zufügung von Bedingungen etc. in die Mancipations- bzw. Iniurecessions-Formel (welche diese ja nichtig gemacht hätten) handelt es sich - eine exceptio doli gegen die Vindication der Servitut gegeben wurde, ist von der Frage, was civilrechtlich Legalerforderniß der Entstehung der Servitut war, völlig unabhängig. Die Berufung des Verfassers] auf D. 13 § 1 d[e] s[ervitutibus] p[raediorum] r[usticorum] 27 und D. 7 § 1 commfunia] praedfiorum tam urbanorum quam rusticorum] 28 zum Beweise für die Möglichkeit bedingter Servituten 29 identificirt in unzulässiger Weise Das, was wir als „condicio iuris" zu bezeichnen gewohnt sind, mit den eigentlichen Bedingungen, welche formal als solche erscheinen und in 1.4 cit.30 allein in Frage stehen. Alles in Allem bleibt es zweifelhaft, ob die Frage nach der Herkunft und Bedeutung der „perpetua causa" durch die immerhin sehr überzeugenden Ausführungen des Verfassers] definitiv aus der Welt geschafft ist. Jedenfalls aber ist der Hinweis auf die enge Verknüpfung mit den | Grundsätzen speciell des Wasserrechtes A292 fruchtbar, und ganz besonders gilt das von der Heranziehung der sacralen Bedeutung der lebendigen perennirenden Quellen (fontes

2 4 = Dig. 8, 1, 4, pr. G e m e i n t ist .Befristung' (dies, ,Tag') bzw. . B e d i n g u n g ' ( c o n d i c i o ) . 25 26 27 28 29 30

So Perozzi, S. 2 2 8 - 2 3 1 . Ebd., S. 2 3 1 - 2 3 5 . = Dig. 8, 3, 13, 1. = Dig. 8, 4, 7, 1. Vgl. Perozzi, S. 2 3 3 f . = Dig. 8, 1, 4, pr.

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manales[,j cf. Festus h[oc] v[erbo])31 im Gegensatz zu Cisternen und privaten Kunstleitungen (p. 83f.). 32 Bei Berücksichtigung der Grundsätze über den Rechtsschutz des Wasserbezuges aus den öffentlichen Aquäducten im Vergleich mit denjenigen über private Leitungen (D. 1 § 7 § 41 d[e] aq[ua] cot[idiana et aestiva]33[,j D. 9 de s[ervitutibus] pfraediorum] rfusticorum])34 läßt sich, wie ich glaube, eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gewinnen, daß die Frage, welcher Art Rechte als Servitut constituirt werden konnten, für die ältesten, d. h. rusticalen Servituten ursprünglich ganz allgemein mit der Frage identisch war, welche Rechte der betreffenden] Art zum Gegenstand einer Assignation gemacht werden konnten (cf. D. 1 § 45 de aqua cot[idiana et aestiva]),35 und deshalb von der in dieser Beziehung befolgten Praxis historisch abhängig war. Es würde zu weit führen, den Nachweis im Einzelnen hier zu versuchen, - die vom Verffasser] dargelegte Abgrenzung des (ältesten) sacralen Rechtsschutzes36 würde damit stimmen und ebenso die anscheinend ursprüngliche Behandlung der Servituten als „Eigenthumstheile". 37 Es ist im Ganzen eben doch - daran wird man gegenüber dem Verffasser] festhalten dürfen - wahrscheinlich, daß die Entwickelung des Servitutenbegriffes nach wesentlich äußerlicheren und historisch zufälligeren Merkmalen sich bestimmt hat, als der Verf[asser] (anscheinend) annimmt, und es ist um deswillen auch nicht so undenkbar, wie es ihm scheint,38 daß nach Wegfall der alten äußerlichen Schranken (auch des alten Begriffes von „fundus") 39 bereits zur Zeit des Paulus eine gewisse Rathlosigkeit über die Abgrenzung herrschte und zu dem unklaren Begriff der „per31 Auf den aus der Augurensprache stammenden Begriff „manalis fons" (.ständig fließende Quelle', bei Festus, De verborum significatione, p.157 Mueller, dazu ebd. 128), verweist Perozzi, S. 256. 32 = S.255f. in der „Rivista". Vgl. den Editorischen Bericht, oben, S.74. 33 = Dig.43, 20, 1, 7 sowie 41. 34 = Dig.8, 3, 9. 35 = Dig.43, 20, 1, 45 (Kriegel) = 43, 20, 1, 44 (Krüger-Mommsen). Vgl. den Editorischen Bericht, oben, S.75. 36 Perozzi, S.257. 37 Das Zitat bezieht sich auf Voigt, Servituten und Servitutenklagen, S. 178, Anm. 49 (der bei Perozzi, S. 245, in ähnlichem Zusammenhang genannt wird). 38 Perozzi, S. 2 3 7 - 2 4 0 . 39 In seiner „Römischen Agrargeschichte" hatte Weber „fundus" als eine ursprünglich fest abgegrenzte Gesamtheit von Landanteilen erklärt (MWG I/2, bes. S. 171 — 174).

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petua causa" führte, welcher in 1. 28 sup[ra] citfata], mag man das „Glossem" streichen oder nicht, kenntlich wird. Nicht glücklich sind die praktischen Erörterungen des Verfassers]; der Glaube, daß zweckmäßiger Weise für jede beliebige 5 transitorische Vereinbarung der Parteien die Möglichkeit, sie als Grundgerechtigkeit zu constituiren, durch die Gesetzgebung gesichert werden müsse, ist, wie jeder preußische Grundbuch-Praktiker dem Verf[asser] sagen wird, keineswegs gerechtfertigt, 40 und die nähere Ausführung zeigt, daß doch nicht nur die deutsche Wissen10 schaft des „senso giuridico pratico" so entbehrt, wie es ihr der Verffasser] (p. 55)41 in Bausch und Bogen vorwirft. b |

b In A folgt: Max Weber. 40 Gemeint sind die sich dann ergebende Länge der Eintragungen, Vielzahl von Löschungen und Unübersichtlichkeit des Grundbuchs. - Eine allgemeine deutsche Grundbuchordnung gab es erst seit 1897. 41 Perozzi, S. 227 In der „Rlvlsta". Vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 74.

Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur

Editorischer Bericht

I. Zur

Entstehung

Mit s e i n e m im Mai 1896 e r s c h i e n e n e n A u f s a t z „Die s o z i a l e n G r ü n d e d e s U n t e r g a n g s der a n t i k e n Kultur" w i d m e t e Weber e r s t m a l s seit seiner „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " v o n 1891 eine Publikation w i e d e r w e s e n t lichen Fragen der w i r t s c h a f t l i c h e n u n d sozialen E n t w i c k l u n g d e s Altertums. Z u g r u n d e lag ihr ein im J a n u a r d i e s e s Jahres vor der „ A k a d e m i s c h e n G e s e l l s c h a f t " in Freiburg unter d e m g l e i c h e n Titel g e h a l t e n e r .populärer Vortrag'. 1 Das T h e m a d e s „ U n t e r g a n g s " war für Weber d a m a l s nichts N e u e s . S c h o n in der Einleitung der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " hatte er d i e F r a g e gestellt, w a r u m Rom „ g e g e n d e n A n s t u r m der g e r m a n i s c h e n Völk e r w a n d e r u n g " kein h i n r e i c h e n d e s militärisches A u f g e b o t zur V e r f ü g u n g hatte stellen k ö n n e n , 2 u n d im Schlußkapitel des Werkes, w o er erneut auf d a s Ende d e s r ö m i s c h e n R e i c h e s bzw. seinen „Zerfall in territoriale S o n d e r g e b i e t e " e i n g i n g , d i e s unter d e m o f f e n s i c h t l i c h e n Einfluß v o n R o d b e r t u s ö k o n o m i s c h , n ä m l i c h d u r c h einen u n ü b e r b r ü c k b a r g e w o r d e nen G e g e n s a t z z w i s c h e n der w a c h s e n d e n N a t u r a l w i r t s c h a f t u n d d e n V e r k e h r s n o t w e n d i g k e i t e n d e s W e l t r e i c h e s erklärt, w o b e i er a u c h auf die W a n d l u n g e n im H e e r w e s e n , i n s b e s o n d e r e die r e g i o n a l e Selbste r g ä n z u n g d e s Heeres seit H a d r i a n als P a r a l l e l e r s c h e i n u n g z u m Zerfall d e s Reiches hinwies. 3 Daß der F r a g e n k o m p l e x Weber a u c h weiterhin b e s c h ä f t i g t e , läßt s i c h d a r a n a b l e s e n , daß er, w e n n a u c h kurz, in zwei a g r a r p o l i t i s c h e n Artikeln in d e n J a h r e n 1893 u n d 1894 auf d e n N i e d e r g a n g der r ö m i s c h e n

1 Unten, S.99, Webers Fn. 1. 2 MWG I/2, S. 101. 3 MWG I/2, S.291; ähnlich unten, S. 122. - In anderen Kontexten (MWG I/2, S.272 und 338) spricht Weber vom „Untergang des westlichen Reichs" bzw. von der „Zeit des Niedergangs des römischen Reiches".

Editorischer

Bericht

83

S k l a v e n w i r t s c h a f t infolge d e s E n d e s der E r o b e r u n g s k r i e g e u n d d e s damit v e r b u n d e n e n Fehlens d e s S k l a v e n n a c h s c h u b s zu s p r e c h e n k a m . 4 A u c h in d e n A u f z e i c h n u n g e n zur Berliner Vorlesung „ A g r a r r e c h t u n d A g r a r g e s c h i c h t e " v o m S o m m e r s e m e s t e r 1894 ist an einer Stelle v o m „Zerfall d e s Reiches in Gutsbezirke" die R e d e . 5 In Freiburg hielt W e b e r d a n n im W i n t e r s e m e s t e r 1894/95 u n d erneut 1895/96 die Vorlesung zur a l l g e m e i n e n bzw. t h e o r e t i s c h e n N a t i o n a l ö k o n o m i e , 6 die ihn erstmals zur E i n o r d n u n g der r ö m i s c h e n A g r a r v e r h ä l t n i s s e in d e n größeren Z u s a m m e n h a n g der ö k o n o m i s c h e n E n t w i c k l u n g d e s Altertums i n s g e s a m t veranlaßte, w o b e i er die antike Kultur jetzt generell als .Stadt-, Küstenu n d Sklavenkultur' c h a r a k t e r i s i e r t e . 7 Z u m Ende d e s I m p e r i u m s f i n d e t sich in d e n e r h a l t e n e n V o r l e s u n g s n o t i z e n die B e m e r k u n g : „Das r ö m [ i s c h e ] Reich b e g a n n , statt Municipalnetz Netz v [ o n ] Gütern zu werd e n " , auf die n a c h w e n i g e n weiteren H i n w e i s e n auf d e n N i e d e r g a n g d e s S t ä d t e w e s e n s s o w i e d i e finanziellen u n d militärischen Probleme R o m s die Feststellung folgt: „ D e s h a l b Zerfall d e s Reichs". 8 Bereits 1889 hatte L u d o Moritz H a r t m a n n einen A u f s a t z über das E n d e d e s r ö m i s c h e n Reiches u n d d e s s e n soziale U r s a c h e n veröffentlicht. 9 G l e i c h s a m akut w u r d e d a s „ U n t e r g a n g s " t h e m a j e d o c h im Jahre 1895 d a d u r c h , daß d a m a l s z w e i w i c h t i g e A r b e i t e n e r s c h i e n e n , v o n d e n e n die eine speziell d e m E n d e der antiken Kultur, die a n d e r e d a g e g e n ihrem ö k o n o m i s c h e n G e s a m t c h a r a k t e r galt. Es h a n d e l t e s i c h um d e n e r s t e n B a n d v o n Otto S e e c k s „ G e s c h i c h t e d e s U n t e r g a n g s der a n t i k e n Welt" mit seiner q u a s i b i o l o g i s c h e n These von der „ A u s r o t t u n g der B e s t e n " als Ur-

4 Vgl. MWG I/4, S. 128, wo in diesem Zusammenhang bereits von der Schlacht im Teutoburger Wald die Rede ist („Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter", 15. Januar 1893); ebd., S.382, Anm.3 („Entwlckelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter", 9. Juni 1894). In der „Römischen Agrargeschichte" findet sich eine etwas allgemeinere Formulierung, MWG I/2, S. 318. 5 Weber, Agrarvorlesungen, Bl. 160; vgl. dazu die Bandeinleitung, oben, S. 15. 6 Vgl. die Bandeinleitung, oben, S. 11. 7 Dies wird aus den Vorlesungsnotizen besonders deutlich (vgl. Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 83, 89, 89R, 97). 8 Vgl. ebd., M 95. - Zu beachten ist allerdings, daß eine genaue Zuordnung der einzelnen Manuskriptblätter zu der nationalökonomischen Vorlesung vor oder nach dem Vortrag und dessen Veröffentlichung in der „Wahrheit", d.h. vor oder nach den ersten Monaten des Jahres 1896, bisher nicht möglich ist. 9 Vgl. Hartmann, Ursache des Unterganges. Hartmann sah diese Ursache in der Unfähigkeit Roms, die aus der sich verstärkenden .ständischen Gliederung1 des Reiches resultierende .soziale Frage' zu lösen (ebd., S.496). Weber nennt diesen Aufsatz in den Literaturangaben zu seiner Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie", M 89, sowie Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 13 (9).

84

Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken

Kultur

s a c h e d i e s e s U n t e r g a n g s 1 0 sowie u m d e n p r o g r a m m a t i s c h e n Vortrag von E d u a r d Meyer über die w i r t s c h a f t l i c h e E n t w i c k l u n g d e s A l t e r t u m s . Dieser w u r d e a m 20. April 1895 auf d e m 3. d e u t s c h e n Historikertag in Frankfurt/Main g e h a l t e n , w o b e i Meyer nicht nur S e e c k s T h e s e n z u m N i e d e r g a n g d e s r ö m i s c h e n R e i c h e s als „Phantasien" z u r ü c k w i e s , sond e r n vor allem Karl B ü c h e r s Theorie der antiken O i k o s w i r t s c h a f t einer s c h a r f e n Kritik u n t e r z o g . 1 1 Mit d i e s e m a l s b a l d sowohl als e i g e n e B r o s c h ü r e wie a u c h als A u f s a t z in der „Zeitschrift für N a t i o n a l ö k o n o m i e und Statistik" v e r b r e i t e t e n Vortrag löste Meyer nicht nur die s o g e n a n n t e „ B ü c h e r - M e y e r - K o n t r o v e r s e " über die G r u n d s t r u k t u r e n der antiken Wirts c h a f t aus, d.h. die F r a g e n a c h deren prinzipiell ,haus'- bzw. oikoswirts c h a f t l i c h e m o d e r . m o d e r n e m ' Charakter. A u c h w e n n er in dieser A r b e i t Max W e b e r s „ R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e " dreimal u n d jeweils ausd r ü c k l i c h z u s t i m m e n d zitierte, 1 2 n a h m er mit seiner g e g e n B ü c h e r g e r i c h t e t e n M o d e r n i t ä t s t h e s e d o c h eine in vielem konträre Position g e g e n ü b e r der B e d e u t u n g v o n O i k o s w i r t s c h a f t , Sklaverei u n d H a n d e l in d e r antiken Welt ein, wie sie von Max W e b e r z.B. in seiner n a t i o n a l ö k o n o m i s c h e n H a u p t v o r l e s u n g vertreten w u r d e . Daß sich W e b e r bereits im H e r b s t d e s Jahres 1895 mit d e m T h e m a seines Freiburger Vortrags näher zu b e s c h ä f t i g e n b e g a n n , k ö n n t e daraus h e r v o r g e h e n , daß er in e i n e m Ende O k t o b e r 1895 in Gießen g e h a l t e nen Vortrag über die B e d e u t u n g d e s Luxus n a c h e i n e m Z e i t u n g s b e r i c h t z w e i m a l auf d a s E n d e d e s A l t e r t u m s zu s p r e c h e n kam. D a n a c h hätte der L u x u s im A l t e r t u m w e s e n t l i c h auf der „Billigkeit d e s M e n s c h e n m a t e r i a l s d u r c h E r o b e r u n g s k r i e g e " beruht, mit d e r e n Einstellung d a n n a b e r „ d i e s e r Form d e s Luxus der G a r a u s g e m a c h t [ w o r d e n sei] und d a m i t a u c h der Kultur d e s A l t e r t u m s " . 1 3 W e n i g s p ä t e r heißt es d a n n : „Es b e s t e h t eine d u m p f e u n d unklare Vorstellung von einer s p e z i f i s c h e n S c h ä d l i c h k e i t d e s Luxus auf G r u n d einer f a l s c h e n g e s c h i c h t l i c h e n A u f f a s s u n g , daß er die Nationen v e r w e i c h l i c h t , d e n U n t e r g a n g d e s A l t e r t u m s h e r b e i g e f ü h r t h a b e . Das trifft nicht zu. G a n z a n d e r e G r ü n d e h a b e n d a s b e w i r k t " . 1 4 W e b e r s Vortrag „Die s o z i a l e n G r ü n d e d e s U n t e r g a n g s der a n t i k e n Kultur" f a n d d a n n a m M o n t a g , 13. J a n u a r 1896, u m 18 Uhr in der A u l a der 10 Seeck, Untergang der antiken Welt 1, S. 257-289, sowie unten, S. 101. 11 Meyer, Wirtschaftliche Entwickelung, bes. S. 696-700; die Ablehnung der Seeckschen Auffassung dort, S.733, Anm. 1. Zur „Bücher-Meyer-Kontroverse" vgl. auch oben, S. 38-41; dazu unten, S.88. 12 Meyer, Wirtschaftliche Entwickelung, S.697, Anm. 1 (zur Autarkie des Oikos als späterem Entwicklungsprodukt vgl. MWG I/2, S.317); S.737, Anm. 4 (Stellung der Kolonen); S. 742, Anm. 4 (Entstehung des Kolonats, nach Eduard Meyer von Weber „klar und erschöpfend dargelegt"). 13 MWG I/4, S. 737 (Vortrag vom 29. Oktober 1895). 14 Ebd., S. 738; vgl. auch die ähnliche Formulierung unten, S. 100.

Editorischer Universität

(im

heutigen

Gebäude

85

Bericht der

Alten

Universität)

in

Freiburg

s t a t t . 1 5 Er w u r d e v o n d e r „ A k a d e m i s c h e n G e s e l l s c h a f t " in F r e i b u r g v e r a n s t a l t e t 1 6 u n d ist d u r c h z w e i B e r i c h t e in d e r „ B r e i s g a u e r Z e i t u n g " u n d d e r „ F r e i b u r g e r Z e i t u n g " v o m 15. b z w . 16. J a n u a r 1 8 9 6 ü b e r l i e f e r t . 1 7 D e r a r g u m e n t a t i v e G a n g s e i n e r D a r l e g u n g e n ist h i e r n i c h t i m e i n z e l n e n z u a n a l y s i e r e n . Im g a n z e n w i r d m a n s a g e n k ö n n e n , d a ß in i h n e n d i e Ergebnisse

der

„Römischen Agrargeschichte"

mit n e u e n

Überlegungen

aus der d a m a l s g e r a d e z u m zweiten Mal g e h a l t e n e n Vorlesung zur theoretischen Nationalökonomie v e r b u n d e n wurden. Letztere treten

beson-

d e r s in d e r E i n l e i t u n g d e s H a u p t t e i l s h e r v o r , 1 8 w ä h r e n d d i e D a r s t e l l u n g d e r E n t w i c k l u n g R o m s z w a r e b e n f a l l s in v i e l e m d e u t l i c h d e n V o r l e s u n g s n o t i z e n e n t s p r a c h , in d e r M a s s e d e r D e t a i l s j e d o c h a u f d e r „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " fußte.19 Mit M e y e r w a r s i c h W e b e r d a r i n einig, daß d i e tieferen U r s a c h e n für d a s Ende d e s r ö m i s c h e n R e i c h e s nicht bei d e n äußeren Feinden, also d e n G e r m a n e n , zu s u c h e n waren. N a c h e i n e m k n a p pen Überblick über eine Reihe bisheriger Erklärungsversuche aus inneren F a k t o r e n , d a r u n t e r a u c h d e s S e e c k s c h e n , 2 0 b e t o n t W e b e r z u n ä c h s t

15 Dies geht aus der Ankündigung in der „Freiburger Zeitung" vom 11. Januar 1896, S. 2, hervor. Danach hätte der Titel des Vortrags gelautet: „Über die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur"; vgl. jedoch beide Zeitungsberichte, unten, S.92. 16 Die „Akademische Gesellschaft zur Förderung der Bestrebungen der Universität im Allgemeinen durch Privatmittel, sowie zur Hebung des Interesses für dieselbe bei der Einwohnerschaft der Stadt und des Landes" war nach dem Vorbild anderer Universitätsstädte (in diesem Fall besonders Basel) 1872 von Freiburger Bürgern gegründet worden. Zu ihren Vorstandsmitgliedern zählte damals u.a. auch der Verlagsbuchhändler Paul Siebeck, in dessen Verlag nicht lange zuvor, im Juli 1895, Webers Freiburger Antrittsvorlesung „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik" erschienen war (dazu MWG I/4, S.538f.). Wie Siebeck war auch Weber Mitglied der Evangelisch-sozialen Vereinigung für Baden (vgl. ebd., S. 29). 17 Zu ihnen vgl. den Anhang, unten, S. 9 0 - 9 6 . Auf beachtliche Abweichungen gegenüber dem gedruckten Text wird in den Sacherläuterungen jeweils hingewiesen. 18 Unten, S. 102-106 (Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 83, 89, 89R, 97). 19 Unten, S. 106-124 (Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 13f. (9f.), § 9, 4 - 5 ; bes. Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 90, 92, 9 3 - 9 5 , 96R, 97R). Die Berührungen in der Gedankenführung und Ausdrucksweise sind vielfach so eng, daß man beinahe den Eindruck gewinnen könnte, daß Teile des Stichwortmanuskripts für den Vortrag zwischen die Blätter des Kolleghefts gelangt seien; doch besteht bei näherer Prüfung kein Zweifel daran, daß es sich tatsächlich durchgehend um Manuskripte zur Vorlesung handelt. 20 Vgl. auch oben, S. 83f. - Vom 21. Januar 1896, also acht Tage nach Webers Vortrag, stammt ein kurzes Schreiben von ihm an Ludo Moritz Hartmann, aus dem hervorgeht, daß Hartmann Weber damals um eine Besprechung des ersten Bandes von Seecks „Untergang" - offensichtlich in der von ihm mit herausgegebenen „Zeitschrift

86 die

Die sozialen völlige

Gründe

Verschiedenheit

des Untergangs der

antiken

der antiken

Kultur

Verhältnisse

von

denen

der

G e g e n w a r t 2 1 u n d entwirft d a n n auf der G r u n d l a g e seiner V o r l e s u n g eine Art soziales u n d wirtschaftliches G e s a m t m o d e l l der .antiken' Kultur als Stadt-, Küsten- u n d Sklavenkultur,22 die als s o l c h e n e b e n der Oikoswlrts c h a f t a u c h e i n e .Stadtwirtschaft' h e r v o r g e b r a c h t h a b e . 2 3 Sie h a b e s i c h j e d o c h p r i n z i p i e l l a n d e r s e n t w i c k e l t als d i e m i t t e l a l t e r l i c h e Welt,

Indem

d o r t die freie, hier h i n g e g e n - w e g e n der „Billigkeit der M e n s c h e n " infolg e der K r i e g e - die unfreie A r b e i t g e s i e g t h a b e . 2 4 A m stärksten, bis hin zur

Ausbildung

der

„Sklavenkasernen"

mit

Ihren

ehe-,

famillen-

und

e i g e n t u m s l o s e n l ä n d l i c h e n A r b e i t e r n , h a b e s i c h d i e S k l a v e r e i in R o m e n t faltet. D o c h sei d a n n mit d e m E n d e der E r o b e r u n g s k r i e g e der Sklavenn a c h s c h u b versiegt, w a s langfristig zur U m s t e l l u n g auf die nicht auf d e n Markt bzw. d e n A b s a t z a u s g e r i c h t e t e Kolonenwlrtschaft

h a b e . Z u g l e i c h ( d i e s e i n in d e r „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h l c h t e " s o nicht erscheinender Gesichtspunkt) habe sich nach der u m f a n g r e i c h e r .verkehrsloser' bzw. v e r k e h r s s c h w a c h e r

mehr

geführt noch

Einbeziehung

.Blnnenlands'flä-

für Social- und W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e " - gebeten hatte. Weber erklärte sich „gern bereit" dazu; es dürfe allerdings „keine allzu große Elle" haben, da er „momentan voll beschäftigt" sei (Brief Max Webers an Hartmann vom 21. Jan. 1896, Privatbesitz Kopie in der Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, Bayerische Akademie der Wissenschaften München; MWG II/3). Doch Ist es zu dieser Rezension des Seeckschen Werkes durch Weber nicht gekommen. Ablehnende Äußerungen Webers dazu sind jedoch noch aus dem Jahr 1910 überliefert: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 1 9 . - 2 2 . Oktober in Frankfurt a.M. - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911 (MWG 1/12), S. 152, 162: „Ein bedenkliches Buch!" - Hartmann hatte Weber bereits zwei Jahre zuvor um einen Beitrag In seiner Zeitschrift gebeten (Brief Max Webers an Hartmann vom 2. Juni 1894; Privatbesitz - Kopie in der Arbeltsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, Bayerische Akademie der Wissenschaften München; MWG H/2) und überdies 1892 selbst Webers „Römische Agrargeschichte" rezensiert (vgl. dazu MWG I/2, S.40f.). 21 Unten, S. 101 f. 2 2 Oben, S. 102-104. 23 Unten, S. 102 sowie S. 118. - Der auf Bücher zurückweisende Begriff der „Stadtwirtschaft" bezieht sich auf das Vorhandensein eines über die einzelnen Oiken hinausgehenden, eine ganze Stadt und ihr Umland umfassenden Wirtschaftskreislaufs. Während dies nach Bücher im wesentlichen erst die Stadt des Mittelalters aufzuweisen hat, Ist nach Weber auch eine Kombination von unfreier Arbeit im Oikos und freiem Gewerbe, wie sie die Antike kannte, als Grundlage von „Stadtwirtschaft" möglich; vgl. bereits in seiner Vorlesung „Allgemeine (.theoretische 1 ) Nationalökonomie", M 77, 78, 79, 81. - Offenbar im Hinblick auf die Leserschaft der „Wahrheit" hielt Weber es für angebracht, den von ihm seit der „Römischen Agrargeschichte" verwendeten technischen Begriff des Oikos jeweils in Anführungszeichen zu setzen. 24 Unten, S. 104-106. Der auch für die „Agrarverhältnisse" wichtige allgemeine Vergleich zwischen antiker und mittelalterlicher Entwicklung findet sich allerdings in den Vorlesungsmanuskripten nicht und hätte in der Vorlesung auch schwerlich einen systematischen Platz gehabt.

Editorischer

Bericht

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c h e n in d a s I m p e r i u m g e z e i g t , daß die Ü b e r t r a g u n g der b i s h e r i g e n antiken Strukturen auf d i e s e G e b i e t e auf die Dauer u n m ö g l i c h war. Vielmehr seien d a d u r c h der w i r t s c h a f t l i c h e Verkehr u n d d a m i t a u c h d a s S t ä d t e w e sen g e s c h w ä c h t u n d n a t u r a l w i r t s c h a f t l i c h e T e n d e n z e n ü b e r m ä c h t i g g e w o r d e n , die s i c h im p r i v a t e n wie im s t a a t l i c h e n Sektor g e l t e n d gem a c h t hätten: z u m einen in der E n t s t e h u n g ländlicher G ü t e r k o m p l e x e , die W e b e r mit der späteren, .feudalen' mittelalterlichen G r u n d h e r r s c h a f t in Z u s a m m e n h a n g bringt, z u m a n d e r n aber, w a s e n t s c h e i d e n d w u r d e , a u c h im Heer u n d in der B e a m t e n s c h a f t . Die A u s b i l d u n g d e s Kolonats h a b e zwar d i e R ü c k k e h r zu Familie u n d E i g e n t u m bei d e n l ä n d l i c h e n Arb e i t e r n u n d d a m i t einen „ g e w a l t i g e n G e s u n d u n g s p r o z e ß " b e d e u t e t , 2 5 d o c h seien mit d i e s e n W a n d l u n g e n die G r u n d l a g e n der a n t i k e n Kultur e n d g ü l t i g v e r s c h w u n d e n g e w e s e n u n d h a b e d a s Weltreich a u c h militär i s c h nicht m e h r aufrecht erhalten w e r d e n k ö n n e n . 2 6 A m Schluß griff Weber d a n n o f f e n s i c h t l i c h w i e d e r auf Ü b e r l e g u n g e n z u r ü c k , zu d e n e n ihm im w e s e n t l i c h e n die a l l g e m e i n e n a t i o n a l ö k o n o m i s c h e Vorlesung Anlaß g e g e b e n hatte: 2 7 er s c h l u g - vielleicht mit von B ü c h e r a n g e r e g t 2 8 u n d mit R ü c k g r i f f e n auf B r u n n e r s „ D e u t s c h e R e c h t s g e s c h i c h t e " - die V e r b i n d u n g zur Zeit Karls d.Gr., in der s i c h die g e n a n n t e n E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n mit einer .ländlich' g e w o r d e n e n Kultur u n d W i r t s c h a f t s o w i e e i n e m f e u d a l e n Reiterheer v o l l e n d e t hätten. W e b e r s D a r l e g u n g e n h o b e n sich, j e d e n f a l l s w a s die Frage d e s Z u s a m m e n b r u c h s d e s r ö m i s c h e n R e i c h e s betraf, e b e n s o d u r c h ihre weiterreic h e n d e n h i s t o r i s c h e n D i m e n s i o n e n wie d u r c h ihre u n g l e i c h größere g e d a n k l i c h e u n d b e g r i f f l i c h e S c h ä r f e von d e n E r k l ä r u n g s v e r s u c h e n Eduard M e y e r s ab, der v e r g l e i c h s w e i s e v a g e die . k o r r u m p i e r e n d e W i r k u n g ' d e s s t ä d t i s c h e n L e b e n s für d e n N i e d e r g a n g v e r a n t w o r t l i c h g e m a c h t hatte. 2 9 D a b e i darf nicht ü b e r s e h e n w e r d e n , daß W e b e r an keiner Stelle explizit auf Meyer eingeht, d e s s e n N a m e e b e n s o w e n i g wie der i r g e n d e i n e s a n d e r e n z e i t g e n ö s s i s c h e n F o r s c h e r s g e n a n n t wird. D e n n o c h s p r i c h t vieles dafür, daß es in der Tat der Vortrag E d u a r d M e y e r s war, der W e b e r in erster Linie d a z u veranlaßte, d u r c h d e n Vortrag in der „ A k a d e m i s c h e n G e s e l l s c h a f t " seine e i g e n e A n s c h a u u n g v o n der sozialen u n d wirt-

25 Unten, S.126; ähnlich bereits in der „Römischen Agrargeschichte" (MWG I/2, S. 349). 26 Unten, S. 122-124. Der „Zerfall des Reichs" (oben, S.83) findet in den Zeitungsberichten keine Erwähnung. 27 Oben, S. 11, sowie Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 15 (11), § 10, 2: „Die Entwicklung der Grundherrschaft und des Feudalismus", und Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 102, 105, 105R. 28 Oben, S. 17, sowie unten, S. 113 mit Anm.68. 29 Meyer, Wirtschaftliche Entwickelung, S. 740 f., hier S. 741.

88

Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken

Kultur

s c h a f t l i c h e n E n t w i c k l u n g der Antike und seine sich d a r a u s e r g e b e n d e A u f f a s s u n g v o m Ende d e s r ö m i s c h e n Reiches d a r z u l e g e n . 3 0 Dies wird s c h o n äußerlich d u r c h mehrere auffällige Ü b e r e i n s t i m m u n g e n in der Form u l i e r u n g mit P a s s a g e n aus M e y e r s Vortrag d e u t l i c h . 3 1 A u c h erklärt sich die relative A u s f ü h r l i c h k e i t der S c h i l d e r u n g der G r u n d z ü g e d e r antiken W i r t s c h a f t wohl mit d u r c h d a s B e d ü r f n i s n a c h einer e i g e n e n S t e l l u n g n a h m e zur Polemik d e s Historikers M e y e r g e g e n d e n N a t i o n a l ö k o n o m e n Bücher, 3 2 w o b e i W e b e r s A u s f ü h r u n g e n zweifellos eine der ersten Stellungn a h m e n eines Dritten in der „ B ü c h e r - M e y e r - K o n t r o v e r s e " w a r e n . 3 3 Ebenso richtet sich W e b e r s n a c h d r ü c k l i c h e r Hinweis auf die g r u n d s ä t z l i c h e A n d e r s a r t i g k e i t der s o z i a l e n u n d w i r t s c h a f t l i c h e n Strukturen d e s Altert u m s 3 4 bzw. d a r a u f , daß für die sozialen Probleme der G e g e n w a r t aus der G e s c h i c h t e der A n t i k e „ w e n i g o d e r nichts zu lernen" sei, 3 5 o f f e n s i c h t l i c h unmittelbar g e g e n E d u a r d Meyer und die von ihm in s e i n e m Vortrag wiederholt b e h a u p t e t e .Modernität' d e s A l t e r t u m s und die direkte B e d e u t u n g seiner Probleme a u c h für die G e g e n w a r t . 3 6 G e d r u c k t e r s c h i e n der Vortrag im ersten Maiheft 1896 der Z e i t s c h r i f t „Die Wahrheit. H a l b m o n a t s c h r i f t zur Vertiefung in die F r a g e n u n d A u f g a b e n d e s M e n s c h e n l e b e n s " . Diese existierte nur w e n i g e Jahre, 1 8 9 3 1897, u n d w u r d e v o n d e m in B a d C a n n s t a t t a n s ä s s i g e n Lic. C h r i s t o p h S c h r e m p f im Verlag F. F r o m m a n n (E. Hauff) in Stuttgart h e r a u s g e g e b e n . S c h r e m p f war d u r c h die W i e d e r b e l e b u n g d e s „ A p o s t o l i c u m s s t r e i t s " u n d seine d a m i t z u s a m m e n h ä n g e n d e A m t s e n t h e b u n g als e v a n g e l i s c h e r Pfarrer im n o r d w ü r t t e m b e r g i s c h e n L e u z e n d o r f im Jahre 1892 b e k a n n t geword e n u n d wirkte seither als eine Art f r e i d e n k e n d e r Philosoph. 3 7 M a x W e b e r hatte im Jahre 1894, n o c h in Berlin, zu d e n mehr als 8 0 0 U n t e r z e i c h n e r n

30 Webers Äußerung in der zweiten Fassung seiner „Agrarverhältnisse" (1898), er habe in dem Freiburger Vortrag seine Auffassung über die Gründe des Untergangs der antiken Kultur „nochmals" kurz darzulegen versucht (unten, S.227), bezieht sich offensichtlich auf das Schlußkapitel der „Römischen Agrargeschichte" als erste Stellungnahme; zur Formulierung der Kernthese dort vgl. oben, S. 82 mit Anm. 3. 31 Dazu unten, S. 102, Anm. 24; S. 126, Anm. 12 und 13. 32 Unten, S. 102-106. 33 Kritisch zu Eduard Meyers Polemik gegen Bücher äußerte sich z.B. alsbald auch Ludo Moritz Hartmann In seiner Besprechung von Eduard Meyers Schrift In der Zeitschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, Band 4, 1896, S. 153-157. - Vgl. auch unten, S.227. 34 Unten, S. 102-106. 35 Unten, S. 102. 36 Meyer, Wirtschaftliche Entwickelung, bes. S.696, 716, 721, 730. 37 Zu ihm von Kloeden, Wolfdietrich, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, begründet von Friedrich Wilhelm Bautz, fortgeführt von Traugott Bautz, Band 9. Herzberg: T. Bautz 1995, Sp. 9 7 4 - 9 7 6 .

Editorischer

89

Bericht

aus Berlin und den preußischen Provinzen gehört, die sich einer wohl von Adolf Harnack formulierten Eingabe an den Evangelischen Oberkirchenrat Preußens zum Entwurf einer neuen Agende angeschlossen hatten, die eine Aufwertung des apostolischen Glaubensbekenntnisses zu verhindern suchte. 38 Der Name Schrempfs ist in diesem Zusammenhang nicht überliefert, und auch sonst ist nichts Näheres über die Beziehungen zwischen Weber und Schrempf bekannt. Die Initiative für die Veröffentlichung des Vortrags in der „Wahrheit" ging wohl von Schrempf aus. In einem Brief Webers vom 24. März 1896 findet sich unter dem „Pensum" von insgesamt fünf am gleichen Tag noch zu erledigenden Angelegenheiten jedenfalls die Angabe: „Fertigstellung eines Artikels für (Schrempf)", 39 was sich offensichtlich auf den Artikel über „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur" in der „Wahrheit" bezieht.

II. Zur Überlieferung

und

Edition

Ein Manuskript Webers ist nicht überliefert. Die Wiedergabe folgt dem Abdruck in der Zeitschrift „Die Wahrheit. Halbmonatschrift zur Vertiefung in die Fragen und Aufgaben des Menschenlebens", 1. Maiheft 1896 (= Band 6/3, 63. Heft), S. 5 7 - 7 7 (A). Zu einer Seitenkonkordanz mit Webers „Gesammelten Aufsätzen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" siehe unten, S. 960-965. Ein großer Teil des Textes greift in sehr konzentrierter Weise auf Überlegungen und Quellenmaterialien zurück, die in Webers „Römischer Agrargeschichte" detailliert analysiert und mit Quellenbelegen versehen sind. Nur soweit Weber selbst explizit auf antike Quellen verweist (also z.B. „die landwirtschaftlichen Schriftsteller", „afrikanische Inschriften"), 40 werden diese Belegstellen genannt bzw., wo dies nicht zweckmäßig erscheint, Verweise auf die ausführlichere Behandlung in der „Römischen Agrargeschichte" gegeben. Auch die offenkundigen textlichen Parallelen zu dem Vortrag Eduard Meyers, „Wirtschaftliche Entwickelung" (1895), werden in den Erläuterungen nachgewiesen. Außer Betracht bleiben müssen dagegen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die vielfach wörtlichen Berührungen mit den Stichwortnotizen Webers zu seiner großen Vorlesung „Allgemeine (,theoretische') Nationalökonomie", deren Veröffentlichung als Band 111/1 der Max Weber-Gesamtausgabe erfolgen wird. 41 38 39 ne 40 41

Vgl. die Einzelheiten in MWG I/4, S. 863-871. Brief Max Webers an Marianne Weber vom 24. März 1896 (Datierung nach MarianWeber), Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/3). Vgl. unten, S. 110 und 115. Vgl. dazu die Bandeinleitung, oben, S.69.

Anhang zum Editorischen

Bericht

Im f o l g e n d e n werden die beiden Im Januar 1896 erschienenen Zeltungsberichte über Max Webers Vortrag „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur" a b g e d r u c k t . 1 Die Berichte zeigen eine w e l t g e h e n d e Entsprechung von Vortrag und späterem g e d r u c k t e m Aufsatz. Wie auch sonst (so in Webers Kollegheften) lag d e m Vortrag offenbar ein ausführliches Stichwort-Manuskript zugrunde, das er dann zu d e m gedruckten Artikel ausarbeitete. Beim genaueren Vergleich werden teils Weglassungen, teils Änderungen erkennbar. Das Fehlen einzelner A u s s a g e n In den Berichten b e d e u tet nicht, daß sie auch im Vortrag selbst gefehlt hätten. An Weglassungen Im Aufsatz fallen In erster Linie die Vorbemerkungen im Vortrag auf, die der Beschränkung der Untersuchung auf die .sozialen' Gründe w e g e n der eigenen Fachkompetenz sowie d e m für Weber charakteristischen Hinwels auf bewußte .Übertreibungen' galten, zu denen er sich um der Klarheit willen w e g e n der Kürze der Zelt, ,ohne d e m Ganzen das Gepräge der Wirklichkeit' zu nehmen, genötigt sehe. 2 Daneben sind etwa der Wegfall der namentlichen Nennung der „Vossischen Zeitung" und der „Kreuzzeitung" als Repräsentanten besonderer politischer Richtungen und der Fortfall des fehlenden technischen Fortschritts w e g e n des Vorhandenseins von Sklaven, die als Maschinen dienten, wie auch des Verweises auf die rasche finanzielle Erholung Frankreichs nach 1871 als Beleg für die stärkere Unabhängigkeit des modernen im Vergleich zum antiken Staat von politischen Niederlagen zu nennen. 3 Wie die Weglassungen sind auch die feststellbaren Änderungen gegenüber d e m Vortrag in der Druckfassung wenig erheblich. Noch am auffälligsten ist der Ü b e r g a n g vom allgemeinen zum Rom-Teil: Im Vortrag erfolgte die Überleitung von d e m (in der Tat nicht besonders glücklichen) speziellen Beispiel der Folgen des Sklavenverlustes für die .hellenische' Stadt aus, Im g e d r u c k t e n Aufsatz d a g e g e n leitete Weber von der generell für das Altertum typischen Entwicklung zu Rom als deren .gewaltigstem'

1 Zum Vortrag vgl. die Erläuterungen, oben, S. 84f. mit Anm. 1 5 - 1 7 . 2 Vgl. unten, S.92 (sowie die z.B. ganz entsprechende Einleitung zu dem Vortrag „Agrargeschichte" vom 15. Februar 1896, MWG l/4, S.748). 3 Vgl. unten, S. 92 und 94; vgl. S. 96. An Streichungen wären aus dem Vortrag außerdem noch zu nennen die Erläuterung des Ausdrucks „gerissen" als „Berliner Deutsch", der Hinwels auf die Im Altertum wegen der Sklaverei der .Erfindungskraft nicht wachsenden Flügel', sowie die nähere Charakterisierung der karolingischen „Stadt" (vgl. unten, S. 96, 94 und 97). Zu beachten sind auch die (von der „Breisgauer Zeitung" überlieferten) Bemerkungen über die Wandlungen im Gewerbe des Altertums (unten, S.96).

Editorischer

Bericht

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Fall über. 4 Andere Änderungen sind ausgesprochen geringfügig. 5 So Ist etwa eine Modifizierung bei dem Vergleich des Rückgangs der Sklavenzahlen in der Antike mit dem hypothetischen Versiegen der Kohlequellen In der Neuzeit zu nennen: das daraus sich ergebende Teurerwerden der Maschinen hat Weber im Aufsatz durch die Wirkung der Hochöfen ersetzt. 6 Auffällig mag erscheinen, daß zwei Grundbegriffe des Aufsatzes, „Oikos" und „Binnenland", in den Berichten über den Vortrag fehlen, was jedoch mit Sicherheit nicht heißt, daß dies nicht schon zur Zeit des Vortrags feste Webersche Kategorien gewesen seien. 7 Ebenfalls nicht nachweisbar in den Zeitungsberichten sind die wörtlichen Anklänge an Eduard Meyers Vortrag über die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums aus dem Jahr zuvor. 8 Doch muß auch dies nicht unbedingt bedeuten, daß sie Im Vortrag nicht vorkamen, und vor allem nicht, daß Weber die Ausführungen Eduard Meyers nicht schon bei seinem Vortrag kannte. Die beiden Zeltungsberichte werden synoptisch abgedruckt. Am Rand wird durch die mitgeführte Seltenzählung der Edition auf die entsprechenden Stellen der schriftlichen Überarbeitung des Vortrags verwiesen, die unten, S. 9 9 - 1 2 7 , wiedergegeben Ist.

4 Vgl. unten, S. 95 sowie 106. 5 So wird der Riese Antaios nicht mit Namen genannt und ist dort am Schluß nicht mehr von der (welter zurückliegenden) „Renaissance", sondern von der „modernen bürgerlichen Kultur" die Rede; vgl. unten, S.98 und 127. (Der Begriff der „Renaissance" ist in beiden Berichten bezeugt; aber auch bei dem nur einmal erwähnten „Antaeos" wird man schwerlich an eine Verdeutlichung lediglich durch den Zeitungsberichterstatter denken können.) 6 D.h. wohl: deren Verschwinden (wie in der Spätantike die Sklaverei gegenüber dem Kolonat schwand). Vgl. unten, S. 112. 7 Die Oikos-Theorie wird an einer Stelle des Berichts der „Freiburger Zeitung" zumindest umschrieben, vgl. unten, S. 93; die Unterscheidung zwischen antiker „Küstenkultur" und späterer .verkehrsloser' Binnenkultur wird schon durch den im Vortragsbericht erscheinenden Begriff der „Küstenkultur" und die dort geschilderte Schwerpunktverlagerung vorausgesetzt (vgl. auch die - freilich zwischen 1894/95 und 1898 nicht genau datierten - Notizen zur Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie", M 83, 89, 89R, 91, 93, 93R, 96R, 97). 8 Vgl. unten, S. 102, Anm. 24; S. 126, Anm. 12 und 13.

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Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur

[Bericht der B r e i s g a u e r Zeitung, Nr. 12 vom 15. J a n u a r 1896, S. (2f.)]

[Bericht der Freiburger Zeitung, Nr. 12 vom 16. J a n u a r 1896, S. (2)]

*Freiburg, 14. Januar.* - Gestern Abend wurden die Vorträge in der Akademischen Gesellschaft nach der Weihnachtspause wieder aufgenommen. Herr Professor Dr. Weber sprach über „die socialen Gründe des Untergangs der antiken Cultur".

mb. „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur" lautete das Thema, über das Prof. Dr. Max Weber in seiner anregenden frischen Art (in der akademischen Gesellschaft) am Montag Abend sprach. Er wolle, seinem Fache entsprechend, nur soziale Gründe berühren und müsse, um in der kurzen Zeit völlig verständlich zu werden, bei Einzelnem stark auftragen, ähnlich, wie man beim Zeichnen einzelne Züge übertreibe und doch dem Ganzen das Gepräge der Wirklichkeit gebe ... Als gegen Ende des 5. Jahrhunderts die auswärtigen Barbaren das römische Reich über den Haufen warfen, hatte, den Eindruck gewinnt man, der Barbarismus im Innern längst gesiegt.

[100]

Wenn man die Ursachen dieses Untergangs, die sich im römischen Weltreich vollzogen], betrachte, so höre man gewöhnlich, der Despotismus habe die Cultur unterdrückt, der Luxus,

[101] die großen Grundbesitzer seien Schuld daran,

die emancipirte römische Frau nicht minder; auch die Darwinsche Hypothese werde angezogen, indem das römische Heer eine Auslese darstellte, die, weil die Soldaten ledig bleiben mußten, auf den Aussterbeetat gekommen sei. Der Redner gab nun ein Bild von der eigentlichen Sachlage.

Man sagt, der Despotismus habe die römische Kultur erdrückt. Aber warum soll der römische die Eigenschaft gehabt haben, während der Despotismus Friedrichs des Großen mit dem Beginn eines Aufschwungs zusammenfällt! Auch Unsittlichkeit solle schuld sein, nach Anderen die Latifundien-Wirthschaft, was verschieden gedeutet werde, je nachdem man im Sinne der „Vossischen Zeitung" oder der „Kreuz-Zeitung" urtheile.

Anhang zum Editorischen

Bericht

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Von einem Vergleich mit den heutigen

Wenn man fragt, was wir heute zu 1er- [102]

Zuständen könne keine R e d e sein; wir

nen haben aus dem Untergange der

haben nichts in dieser Beziehung vom

antiken Kultur, so bin ich genöthigt, zu

Altertum zu lernen.

sagen: wenig oder gar nichts.

So habe ein antiker Sklave und ein moderner Proletarier nichts mit einander gemein. D i e antike Cultur sei wesentlich als

Die antike Kultur ist einmal und zu-

eine städtische zu bezeichnen, wie auch

nächst städtische Kultur

im spätem Mittelalter; die frühere Zeit der hellenischen Städte nähere sich letzterem. D i e städtischen Bedürfnisse

[103]

wurden vom Lande her durch Märkte gedeckt. Auf diesem Unterbau erhob sich ein internationaler Handel über die bekannte Erde. Wir vergessen dabei aber meist die quantitativ geringe Erheblichkeit des Handels. Die Städte waren Küstenstädte, der

Binnenver-

und, näher bezeichnet, Küsten-Kultur.

kehr konnte sich nicht entfernt mit

Ein Binnenverkehr existirt noch nicht

dem des Mittelalters messen.

entfernt in dem Maße wie in der frühen Periode des Mittelalters.

Auf den berühmten römischen Straßen

Die römischen Straßen sind so wenig

war wenig Verkehr; sie waren so wenig

in erster Linie Verkehrsmittel wie die

Verkehrsmittel wie die römische Post.

römische Post.

Der

Handel

umfaßte

eine

dünne

Gar nicht vergleichbar ist der damalige

Schichte 9 kostbarer Dinge.

Handel mit dem modernen.

Zwar Städte wie R o m und A t h e n wa-

Z w a r ist richtig, daß wir Städte wie

ren von der Getreidezufuhr abhängig,

A t h e n und R o m auch von der auslän-

aber der Staat mußte diesen Handel

dischen Getreidezufuhr abhängig se-

besorgen.

hen; aber der Staat war es, der Handel und Verkehr regelte.

Luxusartikel waren allein Gegenstän-

Gegenstand des Handels sind in erster

de größeren Verkehrs; dünn war daher

Linie

auch die Volksschichte, 10 die an die-

Schicht der Handelsartikel, dünn ist

sem Handel betheiligt war.

die Bevölkerungsschicht, die damit zu

Luxus-Artikel.

thun hat.

9 Nebenform zu „Schicht" (vgl. auch unten, Anm. 14). 10 Vgl. die vorangehende Anmerkung.

Dünn

ist

die

[104]

94

Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur

Die antike Cultur beruhte auf der Sklaven-Cultur^j der große Menschenbesitz war die Hauptsache. D e m freien Handwerker in der Stadt entsprach der unfreie auf dem Lande.

[105] Die Billigkeit des Sklavenmaterials spielte eine Hauptrolle.

Nach politischen Niederlagen stürzte jede Stadt ökonomisch zusammen, während dies heut zu Tage anders ist, wie wir an Frankreich sehen, das nach seinen Niederlagen auf dem Schlachtfeld seine finanziellen Lasten mit Leichtigkeit trug. 11 Mit dem Verlust des Krieges bezog die antike Stadt keine Sklaven mehr, sondern gab solche

Die antike Kultur ist eine Kultur,

Sklaven-

d.h. sie ist es geworden; ursprünglich sah es im Alterthum aus wie im Mittelalter. Warum siegt im Mittelalter die freie Arbeit über die unfreie? Warum ist das im Alterthum anders? Die Billigkeit der Sklaven, die Billigkeit der Menschen ist's, welche die unfreie Arbeitstheilung begünstigte. Der technische Fortschritt ist möglich auf zwei Wegen: durch Ausdehnung des Marktes und des Tauschverkehrs (so im Mittelalter), oder der technische Fortschritt erfolgt so, daß der Grundherr durch Vermehrung des Sklaven-Materials zur Spezialisirung übergeht, um dadurch sein Lebensniveau emporzuschrauben. Das fand im Alterthum statt. Im Alterthum war der Sklavenbesitz das die Maschine ersetzende Moment; es war also kein Anreiz vorhanden, das der Erfindungskraft die Flügel hätte wachsen lassen.

Das geschlagene Frankreich hat sich aufgerichtet, fastj,j als wäre ihm nichts geschehen, und wir fragen uns: wie kommt es, daß die alte Stadt nach dem Verlust eines Krieges niedersank und sich nicht mehr erhob?

11 W e b e r b e z i e h t s i c h auf d i e K r i e g s e n t s c h ä d i g u n g v o n 5 M i l l i a r d e n G o l d f r a n c s , d i e F r a n k r e i c h im Frankfurter F r i e d e n (10. M a i 1871) auferlegt w o r d e n war u n d in R a t e n b i s z u m 2. M ä r z 1874 entrichtet w e r d e n sollte, v o n F r a n k r e i c h j e d o c h v o r z e i t i g bereits a m 16. S e p t e m b e r 1873 a b b e z a h l t w o r d e n war.

Anhang zum Editorischen

ab. Was die hellenischen Städte im Kleinen war Rom im Großen.

Wie der Sklavenbetrieb, wie der landwirtschaftliche Betrieb sich gestaltete, zeigte der Redner in lichtvoller Darlegung. Der Großgrundbesitzer war Rentner, nicht Landwirth; er ist dies erst geworden, als der Aufenthalt in der Kaiserstadt für den Landadel nicht mehr geheuer war. Der römische Markt war ihm durch die Getreideeinfuhr, die der Staat betrieb, versperrt. Deßhalb verpachtete er seinen Grundbesitz an Parzellenpächter.

Einen anderen Theil des Landes aber behielt er für sich; hier wurde Öl, Wein gebaut, Vieh- und Geflügelzucht betrieben, kurz alles, was für die Luxustafel geeignet war. Diesen Theil bewirtschaftete er durch Sklaven. Sie waren auf dem Gute „sprechendes Inventar". Sie lebten gemeinsam in Männer- und Weiber-Kasernen unter strenger Disciplin;

Bericht

95

Weil sie, statt noch Sklaven zu beziehen, solche dahingehen mußte. Was die hellenischen Städte im Kleinen, war Rom im Großen.

[108]

Da der Getreidebau für die Land- [109] wirthschaft unrentabel ward, so gefiel es dem römischen Grundbesitzer, ihn Andern zu überlassen. Er gab den mit Getreide zu bebauenden Theil an Parzellen-Pächter, aus denen eine ziemlich große Rente herauszupressen war. Den zweiten Theil des Landes behielt der Besitzer in eigener Regie; er baute mit Hilfe der Sklaven Ölfrüchte, Wein, Gemüse und beschäftigte sich mit Geflügel- und Viehzucht. Wie war die Lebenshaltung der Sklaven? Sie bildeten, im Gegensatz zum stum- [110] men, das „sprechende Inventar" und lebten in einem Kasernen-Dasein dahin, in straffer Disziplin gehalten. Alles ist militärisch organisirt.

ihre Kleidung erhielten sie vom Gutsherrn. Eine dauernde eheliche Verbindung gab es da nicht, deßhalb auch keinen Nachwuchs, obschon eine Prämie auf Kinder gesetzt war. Man mußte vor allem suchen, die Sklaven billig zu kaufen;

Das hat eine wesentliche Konsequenz: [111] Der Sklave ist familienlos, und der Mensch pflanzt sich nur auf dem Boden der Familie fort. So mußte der Besitzer endlich besonders billige Sklaven kaufen, um nur zu existiren. Verbrecher sollte man kaufen, wurde gerathen, weil das die billigsten seien^

96

Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur

[112] hörte das Material auf billig zu werden, dann war es das Gleiche, als wenn heute die Maschinen theuer werden. Dieser Moment kam.

und, im heutigen Berliner Deutsch zu sprechen, die „gerissensten". Wenn das Menschenmaterial aufhörte billig zu sein oder die Möglichkeit des Zukaufs schwand, so war das dasselbe, als wenn unter modernen Verhältnissen die Maschinen theurer werden und die Kohlenquellen versiegen.

Die Schlacht im Teutoburger Wald war ein erster Anfang dazu.

Die Schlacht im Teutoburger Walde war eine Schlappe, die ausgewetzt werden konnte. Das Entscheidende war die Einstellung der Eroberungskriege. Die Versorgung des Sklavenmarktes hörte auf: Die Stunde der Sklavenkultur hatte geschlagen.

Mit der beginnenden Einstellung der Eroberungskriege unter Tiberius, die unter Trajan 12 eine definitive wurde, fanden die alten Zufuhren an Sklaven nicht mehr statt. Die römische Cultur sank langsam. [113] Der Arbeitermangel wurde chronisch.

[114] Die Wiederherstellung der Familie auf der untersten Stufe der Gesellschaft trat im Anfang des Mittelalters durch das Christenthum ein.

An Stelle der kasernirten Sklaven traten frohndpflichtige Bauern.

Weitere Einzelheiten in dieser Beziehung übergehend, heben wir bezüglich des Gewerbes im Alterthum hervor, daß auch die unfreie Arbeit durch Sklaven ausgeführt wurde, bis darnach mit der Sklavenvertheuerung eine Änderung eintrat. Wie der Einzelne, so hatte auch der Staat seinen Sklavenbesitz. 12 Vgl. dazu unten, S. 112, Anm. 64.

Der Sklaven-Mangel ward - natürlich auch für den Staat - chronisch; die Arbeiter-Kasernen verschwanden. Die Wiederherstellung des Familienlebens bedeutet einen Moment großer Gesundung, und ich brauche nicht besonders betonen, inwieweit die Ausbreitung des Christenthums mit dieser Gesundung verflochten sein muß. Als an die Stelle der Kasernen-Sklaven frohnpflichtige Bauern treten und der große römische Sklavenbesitzer einen möglichst bedeutenden Theil des Bedarfs selber deckt, wird der Markt überflüssig,

Anhang zum Editorischen Bericht Die Kaiser schafften den Pacht 13 der Steuern ab, Getreidehandel und Bergwerke wurden verstaatlicht, Zwangszünfte errichtet. Die Capitalbildung war gehemmt und damit die Möglichkeit des Aufschwungs der Städte. Auch die Beamten wurden durch Naturalien bezahlt. Dieser Rückgang zur Naturalwirtschaft äußerte auch seinen Einfluß auf das Heer. Die Grundbesitzer wollten keine Colonen an das Heer abgeben, sondern erwirkten sich massenhafte Privilegien. Um dieser theilhaftig zu werden, entstand eine allgemeine Flucht aufs Land. Der Feudalherr hätte ein Reiter- und Ritterheer bilden können, allein mit diesem konnte man nur die nächsten Grenzen, nicht ein Weltreich schützen.

Man stellte Barbaren ins Heer ein, Reichsfremde. Es kam die Zeit, wo die Germanen als Befreier begrüßt wurden. Die Karolingerzeit kannte die Stadt nicht im ökonomischen Sinne; sie ist ein ummauerter Ort, in dem ein Bischof sitzt. Der Staatshaushalt war bei Karl dem Großen nur der eines großen Grundbesitzers. Die Domänen lieferten das Nöthige. Das Heer wurde ein feudales und die Fußkämpfer begannen zu verschwinden. Von der antiken Cultur war nichts mehr übrig geblieben.

1 3 Veraltete Form, statt „die P a c h t "

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die Kapitalbildung wird gehemmt und hört auf.

Die Natural-Wirthschaft blüht wieder und macht sich auch fühlbar für das römische Heer. Die Grundbesitzer mochten keine Ko- [ 122] Ionen an das Heer abgeben; sie suchten zu Privilegien zu kommen und gingen, um in der Stadt nicht mehr chikanirt zu werden, a u f s Land, zum Ärger der Obrigkeit. Ein Reiter- und Ritterheer hätten die [123] Feudalen zum Schutze wohl bilden können, aber nicht eines, andere Völker zu besiegen. So wenig wie die Sklaven-Kasernen ließen sich die Soldaten-Kasernen aufrecht erhalten. Reichsfremde traten in das Heer ein. [122] Die Zeit kam, da man die Germanen [123] als Befreier von einer Mißwirthschaft begrüßte. Die Kultur der Karolingerzeit, in der [125] das Heer im Begriffe ist, ein Feudalheer zu werden, kannte die Stadt im ökonomischen Sinne nicht. Zur Zeit Karls des Großen hat der do- [126] mänenwirthschaftliche Staatshaushalt gesiegt.

Die antike Kultur schwindet.

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Gründe des Untergangs der antiken

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Aber die Reorganisation in Familie und Eigenthum mußte sich vollziehen

und dann konnte später die Zeit folgen, wo die alten Klassiker wieder auflebten und die Renaissance zum Siege kam.

Kultur

Sie schläft, wie der Riese Antaeos, am Busen der Mutter Erde: ländlich ist die Kultur geworden, und so gesundet sie. In den innersten Zellen muß die Reorganisation vor sich gehen, die Rückkehr zur Natur, zur Familie, zum Eigenthum. Und so konnte die Zeit der Renaissance heraufziehen.

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Erste Seite des Erstdrucks von Max Webers Artikel „Die sozialen Gründe" (Die Wahrheit, 1. Maiheft 1896, S. 57)

Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur.1) A 57

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Das römische Reich wurde nicht von außen her zerstört, etwa infolge zahlenmäßiger Überlegenheit seiner Gegner oder der Unfähigkeit seiner politischen Leiter. Im letzten Jahrhundert seines Bestehens hatte Rom seine eisernen Kanzler:1 Heldengestalten wie Stilicho,2 germanische Kraft mit raffinierter diplomatischer Kunst vereinigend, standen an seiner Spitze. Warum gelang ihnen nicht, was die struppigen Analphabeten aus dem Merowinger-, Karolinger- und Sachsenstamme 3 erreichten und gegen Sarrazenen 4 und Hunnen 5 behaupteten? - Das Reich war längst nicht mehr es selbst; als es zerfiel, brach es nicht plötzlich unter einem gewaltigen Stoße zusammen. Die Völkerwanderung zog vielmehr nur das Fazit einer längst im Fluß befindlichen Entwicklung. Vor allem aber: die Kultur des römischen Altertums ist nicht erst durch den Zerfall des Reiches zum Versinken gebracht worden. Ihre Blüte hat das römische Reich als politischer Verband um Jahrhunderte überdauert. Sie war längst dahin. Schon anfangs des dritten Jahrhunderts versiegte die römische Litteratur. Die Kunst der Juristen verfiel wie ihre Schulen. Die griechische und lateinische Dichtung schliefen den Todesschlaf. Die Geschichtsschreibung verkümmerte bis zu fast völligem Verschwinden, und selbst die Inschriften begannen zu schweigen. Die lateinische Sprache war bald

'' Nach einem populären Vortrag in der Akademischen Gesellschaft in Freiburg i. B. 6 | A 57

1 Anspielung auf Bismarck. 2 Flavius Stilicho, ein Vandale, war von 395 bis 408 wegen der Jugend des Kaisers Honorius (geb. 384) der tatsächliche Leiter der Politik im Westteil des römischen Reiches. 3 Neben das Frankenreich wird hier das sächsisch-ottonische Reich (919-1002) gestellt. 4 Gemeint sind mit den (in heutiger Schreibung:) Sarazenen die Araber, die das Frankenreich angriffen und 732 bis zur Loire, danach auch in die Provence vordrangen. 5 Das Hunnenreich war bald nach der Mitte des 5. Jahrhunderts n.Chr., noch vor der Entstehung des Merowingerreichs, zusammengebrochen. Weber denkt an die in den Quellen auch häufig als „Hunnen" bezeichneten Awaren und Ungarn, denen gegenüber sich die fränkischen bzw. sächsisch-ottonischen Herrscher behaupteten. 6 Der Vortrag fand am 13. Januar 1896 statt, vgl. den Edltorischen Bericht, oben, S. 84f.; die dem Vortrag vorangestellten Eingangsbemerkungen ebd., S. 92.

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in voller Degeneration begriffen. - Als anderthalb Jahrhunderte A 58 später mit dem | Erlöschen der weströmischen Kaiserwürde 7 der äußere Abschluß erfolgt, hat man den Eindruck, daß die Barbarei längst von innen heraus gesiegt hatte. Auch entstehen im Gefolge der Völkerwanderung keineswegs etwa völlig neue Verhältnisse 5 auf dem Boden des zerfallenen Reichs; das Merowingerreich, wenigstens in Gallien, trägt zunächst in allem noch ganz die Züge der römischen Provinz. - Und die Frage, die sich für uns erhebt, ist also: Woher jene Kulturdämmerung in der antiken Welt? Mannigfache Erklärungen 8 pflegen gegeben zu werden, teils 10 ganz verfehlt, teils einen richtigen Gesichtspunkt in falsche Beleuchtung rückend: Der Despotismus habe die antiken Menschen, ihr Staatsleben und ihre Kultur gewissermaßen psychisch erdrücken müssen. Aber der Despotismus Friedrichs des Großen war ein Vorbote des 15 Aufschwungs. Der angebliche Luxus und die thatsächliche Sittenlosigkeit der höchsten Gesellschaftskreise habe das Rachegericht der Geschichte heraufbeschworen. - Aber beide sind ihrerseits Symptome. Weit gewaltigere Vorgänge als das Verschulden einzelner waren es, wie 20 wir sehen werden, 9 welche die antike Kultur versinken ließen. Das emanzipierte römische Weib und die Sprengung der Festigkeit der Ehe in den herrschenden Klassen hätten die Grundlagen der Gesellschaft aufgelöst. Was ein tendenziöser Reaktionär, wie Tacitus, über die germanische Frau, jenes armselige Arbeitstier ei- 25 nes kriegerischen Bauern, fabelt, sprechen ähnlich Gestimmte ihm heute nach. 10 In Wahrheit hat die unvermeidliche „deutsche Frau" 11 so wenig den Sieg der Germanen entschieden, wie der unvermeidliche „preußische Schulmeister" die Schlacht bei König7 W e b e r bezieht sich auf die A b s e t z u n g d e s letzten w e s t r ö m i s c h e n Kaisers R o m u l u s A u g u s t u l u s d u r c h O d o a k e r , einen g e r m a n i s c h e n Heerführer, im J a h r e 476. 8 Mit A u s n a h m e S e e c k s (unten, A n m . 19) ist es k a u m m ö g l i c h , die im f o l g e n d e n g e nannten, jeweils weit v e r b r e i t e t e n m o d e r n e n M e i n u n g e n b e s t i m m t e n Einzelautoren zuzuordnen. 9 Siehe unten, S. 1 1 2 - 1 2 4 . 1 0 W e b e r nimmt B e z u g auf Tacitus, G e r m a n i a , b e s . Kap. 7f., 1 7 - 1 9 . Vgl. d a z u unten, S. 2 7 7 f . 11 In der w i l h e l m i n i s c h e n Zeit v e r b r e i t e t e s S c h l a g w o r t , w o b e i für d a s A l t e r t u m b e s o n d e r s die l o b e n d e D a r s t e l l u n g der g e r m a n i s c h e n Frauen in Tacitus' G e r m a n i a ( K a p . 7, 3 - 4 ; 1 8 , 1 - 1 9 , 5 ) eine H a u p t r o l l e spielte.

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grätz. 1 2 - Wir werden vielmehr sehen, 1 3 daß die Wiederherstellung der Familie auf den unteren Schichten der Gesellschaft mit dem Niedergang der antiken Kultur zusammenhängt. A u s dem Altertum selbst dringt Plinius' Stimme zu uns: „Latifundia perdidere Italiam". 1 4 A l s o - heißt es von der einen Seite 1 5 die Junker waren es, die R o m verdarben. Ja - heißt es von der andern 1 6 -[,] aber nur weil sie dem fremden Getreideimport erlagen: mit dem A n t r a g Kanitz 1 7 also säßen die Cäsaren noch heute auf ihrem Throne. Wir werden sehen, 1 8 daß die erste Stufe zur WiederHerstellung des Bauernstandes mit dem Untergang der antiken Kultur erstiegen wird. Damit auch eine vermeintlich „Darwinistische" Hypothese nicht fehle, so meint ein Neuester u.a.: der Ausleseprozeß, der sich durch die | Aushebung zum Heere vollzog und die Kräftigsten zur Ehelo- A 59 sigkeit verdammte, habe die antike Rasse degeneriert. 1 9 - Wir werden sehen, 2 0 daß vielmehr die zunehmende Ergänzung des Heeres aus sich selbst mit dem Untergang des Römerreichs Hand in Hand geht. G e n u g davon. - Nur noch eine Bemerkung, ehe wir zur Sache kommen: Es kommt dem Eindruck, den der Erzähler macht, zu gut, wenn sein Publikum die Empfindung hat: de te a narratur fabula 3 , 2 1 und a Zur Wortstellung vgl. Anm. 21. 12 Bei Königgrätz (in Ostböhmen, jetzt Hradec Krälove in Tschechien) fand am 3. Juli 1866 die Entscheidungsschlacht im preußisch-österreichischen Krieg von 1866 statt. Zeitgenossen schrieben den preußischen Sieg dem Schulwesen zu. 13 Siehe unten, S. 114, vgl. 126. 14 Das Zitat stammt aus Plinius, Historia naturalis 18, 7 (6), 35. 15 Im mündlichen Vortrag hatte Weber diese Position durch die liberale Vossische Zeitung charakterisiert; vgl. oben, S. 90 und 92. 16 Für diese Richtung hatte Weber im Vortrag die konservative preußische Kreuzzeitung angeführt, vgl. oben, S. 90 und 92. 17 Gemeint ist der zuerst am 7. April 1894 von dem Abgeordneten Graf Kanitz im Reichstag eingebrachte Antrag, der auf die Schaffung eines Reichs-Getreidehandelsmonopols hinauslief und gegen den sich Weber in Schriften und Reden der Jahre 1894-1897 mehrfach scharf ablehnend äußerte. Vgl. MWG I/4, bes. S.326, 823. 18 Siehe unten, S. 114f., vgl. S. 125. 19 Weber bezieht sich auf Seeck, Untergang der antiken Welt 1, bes. S. 2 5 7 - 2 5 9 ; vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 83f. mit Anm. 10. 20 Siehe unten, S. 122f. 21 Etwa: ,Die Fabel ist deine eigene Geschichte' (Horaz, Satiren 1 , 1 , 69f.: mutato nomine [.unter geändertem Namen'] de te / fabula narratur; dort von einem Geizigen, der nicht merkt, daß mit der Nennung des mythischen Tantalus er selbst gemeint ist.)

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wenn er mit einem discite moniti! 22 schließen kann. In dieser günstigen Lage befindet sich die folgende Erörterung nicht. Für unsere heutigen sozialen Probleme haben wir aus der Geschichte des Altertums wenig oder nichts zu lernen. Ein heutiger Proletarier und ein antiker Sklave verständen sich so wenig, wie ein Europäer und ein Chinese. Unsre Probleme sind völlig andrer Art. 23 Nur ein historisches Interesse besitzt das Schauspiel, das wir betrachten, allerdings eines der eigenartigsten, das die Geschichte kennt: die innere Selbstauflösung einer alten Kultur.24 Jene eben hervorgehobenen Eigentümlichkeiten der sozialen Struktur der antiken Gesellschaft sind es, die wir uns zunächst klar machen müssen. Wir werden sehen, 25 daß durch sie der Kreislauf 26 der antiken Kulturentwicklung bestimmt wurde. Die Kultur des Altertums 27 ist ihrem Wesen nach zunächst: städtische Kultur. Die Stadt ist Trägerin des politischen Lebens wie der Kunst und Litteratur. Auch ökonomisch eignet, wenigstens in der historischen Frühzeit, dem Altertum diejenige Wirtschaftsform, die wir heute „Stadtwirtschaft"28 zu nennen pflegen. Die Stadt des Altertums ist in hellenischer Zeit nicht wesentlich verschieden von der Stadt des Mittelalters. Soweit sie verschieden ist, handelt es sich um Unterschiede von Klima und Rasse 29 des Mittelmeers gegen O b W e b e r g e w o l l t auf d a s s e l b e , d o r t Im g e g e n t e i l i g e n Sinne v e r w e n d e t e , auf die G l e i c h h e i t d e s K a p i t a l i s m u s in E n g l a n d u n d D e u t s c h l a n d z i e l e n d e Zitat in Marx 1 Vorw o r t zur 1. A u f l a g e d e s 1. B a n d e s d e s „ K a p i t a l s " [ 1 8 6 7 ] a n s p i e l t (so Scaff, L a w r e n c e A., W e b e r b e f o r e W e b e r i a n S o c i o l o g y , in: British J o u r n a l of S o c i o l o g y 35, 1984, S. 1 9 0 - 2 1 5 , hier S . 2 0 5 ) , ist unsicher. Vgl. M a r x , K a r l / E n g e l s , F r i e d r i c h , A u s g e w ä h l t e S c h r i f t e n in zwei B ä n d e n , B a n d I. - Berlin: Dietz 1968, S . 4 2 0 . 22 .Lernet g e m a h n t ' . Das Zitat b e r u h t auf Vergil, A e n e i s 6, 6 2 0 : D i s c i t e i u s t i t i a m moniti et non t e m n e r e d i v o s . 2 3 Vgl. d a z u d e n E d i t o r i s c h e n B e r i c h t , o b e n , S . 8 5 f . u n d 88. 2 4 Vgl. d i e a u f f a l l e n d ä h n l i c h e n F o r m u l i e r u n g e n b e i E d u a r d Meyer, W i r t s c h a f t l i c h e E n t w i c k e l u n g : „ D e r e i n z i g a r t i g e V o r g a n g [ . . . ] ist [...] die A u f l ö s u n g einer a u f s h ö c h s t e g e s t e i g e r t e n Kultur v o n i n n e n h e r a u s " (S. 733); „ [ . . . ] w i e e i n e aufs h ö c h s t e g e s t e i g e r t e Kultur s i c h v o n i n n e n h e r a u s a u f l ö s t " ( S . 7 4 3 ) ; vgl. a u ß e r d e m e b d . , S . 7 0 0 , s o w i e d e n Editorischen Bericht, oben, S.87f. 25 Siehe u n t e n , S. 1 0 5 f . 26 Vgl. unten, S. 126. 2 7 D a s F o l g e n d e bis S. 106 e n t s p r i c h t v i e l f a c h d e m E i n l e i t u n g s a b s c h n i t t d e s K a p i t e l s ü b e r d a s A l t e r t u m in W e b e r s V o r l e s u n g „ A l l g e m e i n e ( . t h e o r e t i s c h e ' ) N a t i o n a l ö k o n o mie"; vgl. d e n E d i t o r i s c h e n B e r i c h t , o b e n , S . 8 3 . 2 8 Vgl. d e n E d i t o r i s c h e n B e r i c h t , o b e n , S. 8 6 mit A n m . 23. 2 9 Vgl. u n t e n , S . 7 1 4 u n d 720.

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diejenigen Zentraleuropas, ähnlich wie noch jetzt englische und italienische Arbeiter und deutsche und italienische Handwerker sich unterscheiden. - Ökonomisch ruht auch die antike Stadt ursprünglich auf dem Austausch der Produkte des städtischen Gewerbes mit den Erzeugnissen eines engen ländlichen Umkreises auf dem städtischen Markt. Dieser Austausch unmittelbar vom Produzenten zum Konsumenten deckt im wesentlichen den Bedarf, ohne Zufuhr von außen. - Aristoteles' Ideal: die amdpiceia (Selbstgenügsamkeit) der Stadt - war in der Mehrzahl der hellenischen Städte verwirklicht gewesen. Allerdings: auf diesem lokalen Unterbau erhebt sich seit grauer | Vorzeit ein internationaler Handel, der ein bedeutendes Gebiet A60 und zahlreiche Gegenstände umfaßt. Wir hören in der Geschichte gerade von den Städten, deren Schiffe seine Träger sind, aber: weil wir gerade von ihnen hören, vergessen wir leicht eins: seine quantitative Unerheblichkeit. Zunächst: Die Kultur des europäischen Altertums ist Küstenkultur, wie seine Geschichte zunächst Geschichte von Küstenstädten. Neben dem technisch fein durchgebildeten städtischen Verkehr steht schroff die Naturalwirtschaft der barbarischen Bauern des Binnenlandes, in Gaugenossenschaften oder unter der Herrschaft feudaler Patriarchen gebunden. Nur über See oder auf großen Strömen vollzieht sich wirklich dauernd und stetig ein internationaler Verkehr. Ein Binnenverkehr, der sich auch nur mit dem des Mittelalters vergleichen ließe, existiert im europäischen Altertum nicht. Die vielgepriesenen römischen Straßen sind so wenig Träger eines auch nur entfernt an neuere Verhältnisse erinnernden Verkehrs wie die römische Post. 30 Ungeheuer sind die Unterschiede in der Rentabilität von Binnengütern gegen solche an Wasserstraßen. Die Nachbarschaft der Landstraßen der römischen Zeit galt im Altertum im allgemeinen nicht als Vorteil, sondern als Plage, der Einquartierung und - des Ungeziefers wegen: 31 sie sind Militär- und nicht Verkehrsstraßen. 3 0 Bücher, D i o k l e t i a n i s c h e T a x o r d n u n g , S . 2 0 0 , A n m . 3 , hatte darauf v e r w i e s e n , daß die „ r ö m i s c h e R e i c h s p o s t " ( d . h . d a s s t a a t l i c h e r ö m i s c h e T r a n s p o r t w e s e n ) „nie d e m Privatverkehr z u g ä n g l i c h g e m a c h t " w o r d e n sei. 3 1 Z u g r u n d e liegt die N a c h r i c h t C o l u m e l l a 1, 5, 6f., w o d a s U n g e z i e f e r j e d o c h nicht mit einer Straße, s o n d e r n mit s u m p f i g e m G e l ä n d e in der Nähe eines G u t e s in Z u s a m m e n h a n g g e b r a c h t wird. D a s s e l b e , auf e i n e m Ü b e r s e t z u n g s f e h l e r b e r u h e n d e Versehen f i n d e t sich bereits in Weber, R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e , M W G I/2, S. 301.

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Auf diesem noch unzersetzten naturalwirtschaftlichen Grunde wurzelt der Tauschverkehr nicht tief: eine dünne Schicht hochwertiger Artikel ist es - Edelmetalle, Bernstein, wertvolle Gewebe, einige Eisen- und Töpferwaren u. dergl. - , welche wirklich Gegenstand stetigen Handels sind; zumeist Luxusgegenstände, welche infolge ihres hohen Preises die gewaltigen Transportkosten tragen können. Ein solcher Handel ist mit dem modernen Verkehr überhaupt nicht vergleichbar. Es wäre, als ob heute etwa nur Champagner, Seide u. dergl. gehandelt würde, während jede Handelsstatistik uns zeigt, wie die Massenbedürfnisse allein heute die großen Ziffern der Handelsbilanzen ausmachen. - Freilich ereignet es sich, daß Städte wie Athen und Rom auch in ihrem Getreidebedarf auf Zufuhr angewiesen werden. A b e r dann handelt es sich stets um Erscheinungen von welthistorischer Abnormität und um einen Bedarf, dessen Deckung die Gesamtheit in die Hand nimmt, weil sie sie dem freien Verkehr weder überlassen will noch kann. Nicht die Massen sind mit ihren Alltagsbedürfnissen am internationalen Verkehr interessiert, sondern eine dünne Schicht besitzender Klassen. Daraus ergiebt sich eines: die zunehmende VermögensA 61 differenzierung ist im Altertum Voraussetzung der | aufsteigenden Handelsblüte. Diese Vermögensdifferenzierung aber - und damit kommen wir zu einem dritten, entscheidenden Punkt - vollzieht sich in einer ganz bestimmten Form und Richtung: Die antike Kultur ist Sklavenkultur. - Von Anfang an steht neben der freien Arbeit der Stadt die unfreie des platten Landes, neben der freien Arbeitsteilung durch Tauschverkehr auf dem städtischen Markt die unfreie Arbeitsteilung durch Organisation der eigenwirtschaftlichen Gütererzeugung im ländlichen Gutshof 3 2 - wiederum wie im Mittelalter. Und wie im Mittelalter, so bestand auch im Altertum der naturgemäße Antagonismus beider Formen des Zusammenwirkens menschlicher Arbeit. Der Fortschritt beruht auf fortschreitender Arbeitsteilung. Bei freier Arbeit ist diese - zunächst - identisch mit fortschreitender Ausdehnung des Marktes, extensiv durch geographische, intensiv durch personale Erweiterung des Tauschkreises: - daher sucht die Bürgerschaft der Stadt die Frohnhöfe zu sprengen, ihre Hintersassen in den freien Tauschverkehr einzube-

32 Vgl. oben, S. 103.

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ziehen. Bei unfreier Arbeit vollzieht sie sich durch fortschreitende Menschenanhäufung-, je mehr Sklaven oder Hintersassen, desto weitergehende Spezialisierung der unfreien Berufe ist möglich. Aber während aus dem Mittelalter die freie Arbeit und der Güterverkehr in zunehmendem Maß als Sieger hervorgehen, verläuft die Entwicklung des Altertums umgekehrt. Was ist der Grund? Es ist derselbe, der auch den technischen Fortschritten des Altertums ihre Schranken setzte: die „Billigkeit" der Menschen, wie sie durch den Charakter der unausgesetzten Kriege des Altertums hervorgebracht wurde. Der Krieg des Altertums ist zugleich Sklavenjagd; 33 er bringt fortgesetzt Material auf den Sklavenmarkt und begünstigt so in unerhörter Weise die unfreie Arbeit und die Menschenanhäufung. Damit wurde das freie Gewerbe zum Stillstand auf der Stufe der besitzlosen Kunden-Lohnarbeit verurteilt. Es wurde verhindert, daß mit Entwicklung der Konkurrenz freier Unternehmer mit freier Lohnarbeit um den Absatz auf dem Markt diejenige ökonomische Prämie auf arbeitsparende Erfindungen entstand, welche diese letzteren in der Neuzeit hervorrief. Hingegen schwillt im Altertum unausgesetzt das ökonomische Schwergewicht der unfreien Arbeit im „Oikos". Nur die Sklavenbesitzer vermögen ihren Bedarf arbeitsteilig durch Sklavenarbeit zu versorgen und in ihrer Lebenshaltung aufzusteigen. Nur der Sklavenbetrieb vermag neben der Deckung des eigenen Bedarfs zunehmend für den Markt zu produzieren. Damit wird die ökonomische Entwicklung des Altertums in die ihr | eigentümliche, vom Mittelalter abweichende Bahn gelenkt. Im A Mittelalter entwickelt sich zunächst die freie Arbeitsteilung innerhalb des lokalen Wirtschaftsgebiets der Stadt auf Grundlage der Kundenproduktion und des Lokalmarkts intensiv weiter. Sodann läßt der zunehmende Verkehr nach außen mit interlokaler Produktionsteilung, zunächst im Verlagssystem, dann in der Manufaktur, Betriebsformen für den Absatz auf fremdem Markte auf Grundlage freier Arbeit entstehen. Und die Entwicklung der modernen 3 3 Insbesondere Bücher, Aufstände, S. 44, hatte die „Billigkeit der Sklavenarbeit" hervorgehoben und ebd., S.36, die Kriege gegen „ungefährliche ligurische, illyrische und spanische Stämme" Im 2. Jahrhundert v.Chr. als bloße „Sklavenhetzen" charakterisiert. Im gleichen Zusammenhang bezog sich Weber In seinen Aufzeichnungen zur Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" (M 92) auf Bücher, Aufstände.

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Volkswirtschaft geht mit der Erscheinung parallel, daß die Bedarfsdeckung der breiten Massen zunehmend im Wege des interlokalen und schließlich internationalen Gütertausches erfolgt. - Im Altertum dagegen geht, - so sehen wir, - mit der Entwicklung des internationalen Verkehrs parallel die Zusammenballung unfreier Arbeit im großen Sklavenhaushalt. 34 Es schiebt sich so unter den verkehrswirtschaftlichen Überbau ein stets sich verbreiternder Unterbau mit verkehrs/o^er Bedarfsdeckung: - die fortwährend Menschen aufsaugenden Sklavenkomplexe, deren Bedarf in der Hauptsache nicht auf dem Markt, sondern e/genwirtschaftlich gedeckt wird. Je weiter die Entwicklung des Bedürfnisstandes der obersten, menschenbesitzenden Schicht und damit die extensive Entwicklung des Verkehrs fortschreitet, desto mehr verliert der Verkehr an Intensität, desto mehr entwickelt er sich zu einem dünnen Netz, welches über eine naturalwirtschaftliche Unterlage ausgebreitet ist, dessen Maschen sich zwar verfeinern, dessen Fäden aber zugleich immer dünner werden. - Im Mittelalter bereitet sich der Übergang von der lokalen Kundenproduktion zur interlokalen Marktproduktion durch langsames Hereindringen der Unternehmung und des Konkurrenzprinzips von außen nach innen in die Tiefen der lokalen Wirtschaftsgemeinschaft vor, im Altertum läßt der internationale Verkehr die „Oiken" wachsen, welche der lokalen Verkehrswirtschaft den Nährboden entziehen. 35 Am gewaltigsten hat sich diese Entwicklung vollzogen auf dem Boden Roms. 36 Rom ist zunächst - nach dem Sieg der Plebs - ein erobernder Bauern- oder besser: Ackerbürgerstaat. 37 Jeder Krieg 3 4 Im mündlichen Vortrag wies Weber in diesem Zusammenhang auf die Sklaven als Maschinenersatz im Altertum hin, vgl. oben, S. 94 und 90. - Der Vergleich von Sklaven und Maschinen ist auch in Webers Notizen zu seiner Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" enthalten (M 83, 93). 3 5 Im mündlichen Vortrag fand sich hier der Verweis auf die schwerwiegenden Folgen von Sklavenverlusten durch Kriege für die antiken Städte und auf die Andersartigkeit der modernen Verhältnisse am Beispiel der raschen Erholung Frankreichs nach dem Krieg von 1870-1871; vgl. oben, S.94. 3 6 Der Text schließt zwar bis S. 124 weiterhin in vielem an Webers Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" an, beruht jedoch von hier an wesentlich auf den Ergebnissen der „Römischen Agargeschichte"; vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 85. 3 7 Nach der „Römischen Agrargeschichte" beginnt dies „in den Dezennien nach der Zwölftafelgesetzgebung" (450 v.Chr.; MWG I/2, S.204).

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ist Landnahme zur Kolonisation. Der Sohn des grundbesitzenden Bürgers, für den kein Platz im Vatererbe ist, ficht im Heer für den Besitz der eigenen Scholle und damit des Vollbürgerrechtes. Darin liegt das Geheimnis seiner Expansivkraft. Das hörte mit der überseeischen Eroberung 38 auf: nicht mehr das kolonisatorische Interesse der Bauern, sondern das der Ausbeutung der Provinz durch die Aristokratie ist | das maßgebende. Die Kriege bezwecken Men- A 63 schenjagd 39 und Konfiskation von Land zur Ausbeutung durch große Domänen- und Gefällpächter. Der zweite punische Krieg 40 dezimierte überdies den Bauernstand in der Heimat, - die Folgen seines Niedergangs sind zum Teil auch Hannibals späte Rache. Der Rückschlag gegen die gracchische Bewegung 41 entscheidet endgültig den Sieg der Sklavenarbeit in der Landwirtschaft. Seitdem sind die Sklavenbesitzer allein Träger der aufsteigenden Lebenshaltung, der Steigerung der Kaufkraft, der Entwicklung der Absatzproduktion. Nicht daß die freie Arbeit überhaupt verschwunden wäre aber die Sklavenbetriebe sind allein das fortschreitende Element. Die landwirtschaftlichen Schriftsteller 42 Roms setzen Sklavenarbeit als selbstverständliche Grundlage der Arbeitsverfassung voraus. In entscheidender Weise verstärkt wurde endlich die Kulturbedeutung der unfreien Arbeit durch die Einbeziehung großer Binnenlandsflächen - Spanien, Gallien, Illyrien, die Donauländer - in den Kreis der römischen Welt. Der Schwerpunkt der Bevölkerung des römischen Reichs rückte in das Binnenland.43 Damit machte die antike Kultur den Versuch, ihren Schauplatz zu wechseln, aus einer Küstenkultur Binnenkultur zu werden. Sie verbreitete sich über ein ungeheures Wirtschaftsgebiet, welches selbst in Jahrhunderten unmöglich für den Güterverkehr und die geldwirtschaftliche Bedarfsdeckung auch nur entfernt in dem Maße gewonnen werden konnte, wie dies an der Mittelmeerküste der Fall war.

38 D i e s e s e t z t e mit d e m I. P u n i s c h e n K r i e g ( 2 6 4 - 2 4 1 v.Chr.) ein. 3 9 Vgl. o b e n , S. 105, A n m . 3 3 . 4 0 Der II. P u n i s c h e K r i e g ( 2 1 8 - 2 0 1 v.Chr.) z o g d u r c h d e n Einfall H a n n i b a l s e r h e b l i c h e V e r w ü s t u n g e n in Italien n a c h sich. 41 W e b e r b e z i e h t s i c h auf d i e Zeit n a c h d e m Tode d e s C. G r a c c h u s (121 v.Chr.). 4 2 G e m e i n t s i n d C a t o , Varro u n d C o l u m e l l a . 4 3 Vgl. d e n E d i t o r i s c h e n B e r i c h t , o b e n , S . 8 6 f . ; A n h a n g S . 9 1 .

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Wenn, wie schon gesagt, 44 der interlokale Güterverkehr des Altertums selbst in jenen Küstengebieten nur eine dünne und sich verdünnende Decke darstellte, so mußten die Maschen des Verkehrsnetzes im Binnenlande noch wesentlich lockerere sein. Hier im Binnenland war der Kulturfortschritt auf dem Wege der freien Ar- 5 beitsteilung durch Entwicklung eines intensiven Güterverkehrs zunächst überhaupt nicht möglich. Nur das Emporsteigen einer Grundaristokratie, die auf Sklavenbesitz und unfreier Arbeitsteilung - auf dem Oikos - ruhte, konnte hier die Form der allmählichen Einbeziehung in den mittelländischen Kulturkreis sein. In 10 noch stärkerem Maße als an der Küste mußte im Binnenland der unendlich kostspieligere Verkehr sich zunächst ausschließlich auf die Deckung von Luxusbedürfnissen der obersten, Menschen besitzenden Schicht beschränken, und ebenso andrerseits die Möglichkeit einer Absatzproduktion einer dünnen Schicht großer Skia- 15 venbetriebe vorbehalten sein. Der Sklavenhalter ist so der ökonomische Träger der antiken | A 64 Kultur geworden, die Organisation der Sklavenarbeit bildet den unentbehrlichen Unterbau der römischen Gesellschaft, und wir müssen uns mit ihrer sozialen Eigenart etwas näher befassen. 20 Das bei weitem klarste Bild vermögen wir uns nach Lage der Quellen von den landwirtschaftlichen Betrieben der spätrepublikanischen und frühkaiserlichen Zeit zu machen. Und zugleich ist der Großgrundbesitz die Grundform des Reichtums, auf dessen Unterlage auch die spekulativ verwendeten Vermögen ruhen: auch der 25 römische Großspekulant ist normalerweise Großgrundbesitzer, schon weil für die lukrativste Spekulation: die öffentliche Pacht und Submission, 45 die Grundstückskaution vorgeschrieben ist. Der Typus des römischen Großgrundbesitzers ist nicht ein selbst den Betrieb leitender Landwirt, sondern ein Mann, der in der Stadt 30 lebt, politisch thätig ist und vor allen Dingen Geldrente beziehen will. Die Verwaltung seines Gutes selbst liegt in der Hand unfreier Inspektoren (villici). Für die Art der Bewirtschaftung sind nun im allgemeinen folgende Verhältnisse maßgebend: 4 4 Siehe oben, S. 104. 4 5 Gemeint ist die Steuer- wie die Grundstückspacht (ausführlich: Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, bes. S.157, 187).

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Die Getreideproduktion ist für den Absatz zumeist unrentabel. Rom z.B. ist als Markt durch die staatliche Getreideversorgung verschlossen, und einen Transport aus dem Binnenland heraus trägt der Preis des Getreides überhaupt nicht. Überdies eignet sich Sklavenarbeit nicht für den Getreidebau, zumal in der römischen Art der Reihenkultur, 46 die viele und sorgfältige Arbeit, also Eigeninteresse des Arbeiters, erfordert. Daher ist der Getreidebau meist mindestens zum Teil verpachtet an „coloni" - Parzellenbauern, die Nachfahren der freien, aus dem Besitz gedrängten Bauernschaft. Ein solcher colonus ist nun von Anfang an nicht etwa ein freiwirtschaftender, selbständiger Pächter und landwirtschaftlicher Unternehmer. Der Herr stellt das Inventar, der villicus kontrolliert den Betrieb. Von Anfang an ist es ferner offenbar häufig gewesen, daß ihm Aröe/isleistungen, insbesondere wohl Erntehülfe, auferlegt wurden. Die Vergebung des Ackers an coloni gilt als eine Form der Bewirtschaftung seitens des Herrn „vermittelst" der Parzellisten („per" colonos). 47 Die Absaizproduktion des Gutes in „eigener Regie" umfaßt dagegen in erster Linie hochwertige Produkte: - Öl und Wein, daneben Gartengewächse, sowie Viehmast, Geflügelzucht und Spezialkulturen für Tafelbedürfnisse der allein kaufkräftigen obersten Schicht der römischen Gesellschaft. Diese Kulturen haben das Getreide zurück |gedrängt auf das minder ergiebige Land, welches die A coloni innehaben. Der Gutsbetrieb ist plantagenartig, und die Gutsarbeiter sind Sklaven. Sklaven-familia und coloni nebeneinander sind auch in der Kaiserzeit die regelmäßigen Insassen der großen Güter. Uns interessieren hier zunächst die Sklaven. Wie finden wir sie?

46 Als „Reihenkultur" wird eine Pflug- u n d A u s s a a t m e t h o d e b e z e i c h n e t , d u r c h die die G e t r e i d e s a a t in e i n z e l n e n Reihen u n d nicht in Beeten zu s t e h e n kam. Weber dürfte auf R o d b e r t u s fußen (ders., E n t w i c k e l u n g Roms, S. 2 1 0 - 2 1 2 , mit einer detaillierten Beschreibung). 47 Das Zitat ist in dieser Form nicht n a c h g e w i e s e n . D o c h ergibt ein Vergleich mit der s a c h l i c h e n t s p r e c h e n d e n Stelle in der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " ( M W G I/2, S. 3 1 0 mit W e b e r s Fußnote 2 9 a ) und d e m d o r t i g e n Verweis auf C o l u m e l l a 1, 7, daß eine Verw e c h s l u n g mit d e m A u s d r u c k „per d o m é s t i c o s colere" bei C o l u m e l l a (1, 7, 4) vorlieg e n dürfte, w o b e i in d e m Kapitel 1, 7 zwar die B e w i r t s c h a f t u n g d u r c h coloni erörtert wird, g e r a d e mit d e n „ d o m e s t i c i " j e d o c h Sklaven g e m e i n t sind.

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Sehen wir uns das Idealschema an, welches die landwirtschaftlichen Schriftsteller uns überliefern. 48 Die Behausung für das „sprechende Inventar" (instrumentum vocale), den Sklavenstall also, finden wir bei dem des Viehs (instrumentum „semivocale"). 49 Er enthält die Schlaf-Säle, wir finden ein Lazaret (valetudinarium), 50 ein Arrestlokal (carcer), 51 eine Werkstatt der „Ökonomiehandwerker" (ergastulum), und alsbald steigt vor dem inneren Auge eines jeden, der den bunten Rock getragen hat, 52 ein wohlvertrautes Bild auf: die Kaserne,53 Und in der That: die Existenz des Sklaven ist normalerweise eine Kasernenexistenz. Geschlafen und gegessen wird gemeinsam unter Aufsicht des villicus; die bessere Garnitur der Kleidung ist „auf Kammer" abgegeben an die als „KammerUnteroffizier" funktionierende Inspektorsfrau (villica); monatlich findet Appell statt zur Revision der Bekleidung. Die Arbeit ist streng militärisch diszipliniert: in Korporalschaften (decuriae) wird des Morgens angetreten und unter Aufsicht der „Treiber" (monitores) abmarschiert. Das war auch unentbehrlich. Mit unfreier Arbeit für den Markt zu produzieren ist ohne die Peitsche noch niemals dauernd möglich gewesen. - Für uns wichtig aber ist nun vor allem ein Moment, welches sich aus dieser Form der Kasernenexistenz ergiebt: der kasernierte Sklave ist nicht nur eigentumslos, sondern auch familienlos. Nur der villicus lebt in seiner Sonderzelle dauernd mit einem Weibe zusammen in Sklavenehe (contubernium), entsprechend etwa dem verheirateten Feldwebel und Unteroffizier in der modernen Kaserne, - ja es soll nach den Agrarschriftstellern 54 dies im Interesse des Herrn für den villicus 4 8 G e m e i n t s i n d hier - w i e a u s d e r d e t a i l l i e r t e n D a r s t e l l u n g bei Weber, R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e , M W G I/2, S. 3 1 4 - 3 1 6 u n d 3 4 6 - 3 4 8 , h e r v o r g e h t - i n s b e s o n d e r e Varro u n d C o l u m e l l a . 4 9 Varro, Res r u s t l c a e 1, 17, 1. 5 0 E r w ä h n t bei C o l u m e l l a 12, 3, 7. 51 Der A u s d r u c k ,carcer' b e g e g n e t b e i d e n A g r a r s c h r i f t s t e l l e r n n i c h t ; W e b e r b e z i e h t s i c h auf e i n e ( a u c h v o n ihm s e l b s t in d e r „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " , M W G I/2, S . 3 3 5 mit Fn. 83, zitierte) k a i s e r l i c h e V e r o r d n u n g a u s d e m J a h r 4 8 6 , C o d e x lustinianus 9, 5, 1. 52 G e m e i n t : e i n e S o l d a t e n u n i f o r m g e t r a g e n , d . h . g e d i e n t hat. 5 3 D e n A u s d r u c k , S k l a v e n k a s e r n e ' hatte W e b e r bereits in d e r „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " m e h r f a c h v e r w e n d e t ( M W G I/2, S . 3 1 5 , 346, 348, 350). Er e r s c h e i n t e b e n s o in d e r V o r l e s u n g „ A l i g e m e i n e ( . t h e o r e t i s c h e ' ) N a t i o n a l ö k o n o m i e " (M 92, 93, 9 3 R , 9 6 R ) w i e in e i n e m A r t i k e l v o m 15. J a n u a r 1893 ( M W G I/4, S. 128). 5 4 W e b e r b e z i e h t s i c h auf C o l u m e l l a 1, 8, 5.

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sogar „Vorschrift" sein. Und wie stets Eigentum und Einzelfamilie einander korrespondieren, so auch hier: der Sklavenehe entspricht das Sklaveneigentum. Der villicus - nach den Agrarschriftstellern offenbar er allein 55 - hat ein peculium, - ursprünglich, wie der Name zeigt, 56 einen eigenen Viehbesitz, den er auf die herrschaftliche Weide treibt, wie heute noch im deutschen Osten der Gutstagelöhner. 57 Der breiten Masse der Sklaven fehlt, wie das peculium, so auch das monogamische Geschlechtsverhältnis. Der Geschlechtsverkehr ist eine Art beaufsichtigter Prostitution mit Prämien an die Sklavinnen für die Aufzucht von Kindern - bei | drei A 66 auferzogenen Kindern gaben manche Herren die Freiheit. - Schon dies letztere Verfahren zeigt, welche Folgen das Fehlen der monogamischen Familie zeitigte. Nur im Schöße der Familie gedeiht der Mensch. Die Sklavenkaserne vermochte sich nicht aus sich selbst zu reproduzieren, 58 sie war auf den fortwährenden Zukauf von Sklaven zur Ergänzung angewiesen, und thatsächlich wird von den Agrarschriftstellern dieser Zukauf auch als regelmäßig stattfindend vorausgesetzt. Der antike Sklavenbetrieb ist gefräßig an Menschen, wie der moderne Hochofen an Kohlen. Der Sklavenmarkt und dessen regelmäßige und auskömmliche Versorgung mit Menschenmaterial ist unentbehrliche Voraussetzung der für den Markt produzierenden Sklavenkaserne. Man kaufte billig: Verbrecher und ähnliches billige Material solle man nehmen, empfiehlt Varro mit der charakteristischen Motivierung: - solches Gesindel sei meist „gerissener" 59 („velocior est animus hominum improborum"). 60 - Damit ist dieser Betrieb abhängig von regelmäßiger Menschenzufuhr auf den Sklavenmarkt. Wie, wenn diese einmal 55 Ein direkter B e l e g d a f ü r ist nicht b e k a n n t u n d w i r d a u c h in W e b e r s a u s f ü h r l i c h e r e r D a r s t e l l u n g in d e r „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " n i c h t g e n a n n t ( M W G 1/2, S . 3 4 6 f . mit A n m . 85). Vgl. (leicht a b w e i c h e n d ) u n t e n , S. 215 u n d 676. 56 P e c u l i u m leitet s i c h s p r a c h l i c h v o n p e c u s , ,Vieh', her. 57 Eine g e n a u e r e D a r s t e l l u n g f i n d e t s i c h z. B. in e i n e m Artikel W e b e r s a u s d e m J a h r e 1892 ( M W G I/4, S, 75). 5 8 „Vor A l l e m führt [ . . . ] ein u n t e r s c h i e d s l o s e r G e s c h l e c h t s v e r k e h r b e k a n n t l i c h zur Sterilität", so Lujo B r e n t a n o in s e i n e m W e b e r im F e b r u a r 1893 ü b e r s a n d t e n A u f s a t z . V o l k s w i r t s c h a f t 1 , S. 125 (vgl. die B a n d e i n l e i t u n g , o b e n , S . 8 ) . B r e n t a n o berief s i c h d a b e i auf M a i n e , H e n r y Sumner, D i s s e r t a t i o n s o n Early Law a n d C u s t o m . - L o n d o n : J. M u r r a y 1883, S . 2 0 4 f . 59 Im m ü n d l i c h e n V o r t r a g hatte W e b e r d i e s als A u s d r u c k d e s . h e u t i g e n B e r l i n e r D e u t s c h ' zitiert, vgl. o b e n , S . 9 5 ; 90, A n m . 3. 60 D a s Zitat s t a m m t a u s C o l u m e l l a (1, 9, 4); dort lautet die W o r t f o l g e : „ a n i m u s est improborum hominum".

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versagte? Das mußte auf die Sklavenkasernen wirken, wie die Erschöpfung der Kohlenlager auf die Hochofen 0 wirken würde. 61 Und dieser Moment trat ein. Wir kommen damit zu dem Wendepunkt in der Entwicklung der antiken Kultur. Fragt man, welcher Zeitpunkt es ist, von dem anfangend man den 5 zunächst latenten, bald offensichtlichen Niedergang der römischen Macht und Kultur datieren soll, so wird aus keinem deutschen Kopf die unwillkürliche Vorstellung zu verbannen sein: die Teutoburger Schlacht. 62 Und in der That, ein Kern von Berechtigung steckt in dieser populären Vorstellung, trotzdem ihr der Augen- 10 schein zuwiderläuft, welcher uns das Römerreich unter Trajan auf der Höhe seiner Macht zeigt. Freilich nicht die Schlacht selbst eine Schlappe, wie sie jede Nation im Vordringen gegen Barbaren erleidet - war das Entscheidende, sondern was sich ihr anschloß: die Einstellung der Eroberungskriege am Rhein durch Tiberius, 63 15 welche durch die Aufgabe Daciens unter Hadrian 64 an der Donau ihre Parallele fand. Damit wurde der expansiven Tendenz des Römerreichs ein Ende bereitet; und mit der inneren und - in der Hauptsache auch - äußern Befriedung des antiken Kulturkreises schrumpft die regelmäßige Versorgung der Sklavenmärkte mit 20 Menschenmaterial. Ein gewaltiger akuter Arbeitermangel scheint schon unter Tiberius die Folge gewesen zu sein. Wir hören, daß er die ergastula der Güter revidieren lassen mußte, weil die GroßA 67 grundbesitzer Menschenraub trieben - wie | die Raubritter lagen sie, so scheint es, an der Straße, nur nicht auf der Ausschau nach 25

b Gebräuchlich: Hochöfen 61 Vgl. oben, S.96 (vgl. S.91). 62 Die Schlacht, in der der Cherusker Arminlus mit einem germanischen Heer den römischen Feldherrn P. Qulnctillus Varus vernichtend schlug, fand 9 n.Chr. statt. 63 Dies erfolgte 17 n.Chr. 64 Für den mündlichen Vortrag Ist überliefert, daß die Eroberungskriege „unter Trajan" definitiv eingestellt worden seien (vgl. oben, S. 96), was jedoch sachlich unzutreffend Ist; vgl. auch das Vorangegangene. Webers allfällige Korrektur beruht ihrerseits auf einem Versehen; Hadrian (117-138) hat die Aufgabe Dakiens wohl erwogen (Eutrop 8, 6, 2; vgl. etwa Mommsen, Römische Geschichte 51, S. 208); tatsächlich kam es dazu erst unter Aurelian (270-275). Doch setzte mit Hadrian allgemein das Ende größerer Expansionsunternehmungen Roms ein.

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Geld und Gut, sondern nach Arbeitskräften für ihre verödenden Felder. 65 Wichtiger war die langsam, aber mächtig sich vollziehende chronische Wirkung: die Unmöglichkeit des Fortschreitens der Produktion auf Grundlage der Sklavenkasernen. Diese setzten die fortgesetzte Sklavenzufuhr voraus, sie vermochten sich nicht selbst zu tragen. Sie mußten verfallen, wenn die Zufuhr dauernd stockte. - Die Abnahme der „Billigkeit" des Menschenmaterials scheint nach dem Eindruck, den man aus den späteren Agrarschriftstellern entnimmt, 66 zunächst zur Verbesserung der Technik durch Züchtung von Qualitätsarbeitern geführt zu haben. Aber nachdem die letzten Angriffskriege des zweiten Jahrhunderts, die thatsächlich schon den Charakter von Sklavenjagden angenommen hatten, 67 zu Ende gegangen waren, mußten die großen Plantagen mit ihren ehe- und eigentumslosen Sklaven zusammenschrumpfen. Daß und wie dies thatsächlich geschah, lehrt uns die Vergleichung der Zustände der Sklaven in den landwirtschaftlichen Großbetrieben, wie sie uns die römischen Schriftsteller erkennen lassen, mit ihrer Lage auf den Gütern der Karolingerzeit, die wir aus Karls des Großen Domäneninstruktion (capitulare de villis imperialibus) und den Klosterinventarien jener Zeit kennen lernen. 68 Hier wie dort finden wir den Sklaven als landwirtschaftlichen Arbeiter^] und zwar hier wie dort gleich rechtlos und insbesondere der gleich schrankenlosen Disposition des Herrn über seine Arbeitskraft unterworfen. Darin also ist kein Unterschied eingetreten. Ebenso sind zahlreiche Einzelheiten der römischen Grundherrschaft übernommen - finden wir doch auch in der Terminologie z. B. das Weiberhaus ( y u v a i K e i o v ) des Altertums im „genitium" wieder. 69 Aber 6 5 Weber bezieht sich auf Sueton, Tiberius 8. 66 Gemeint sind Columella und Palladius, wobei Weber auf den in der Römischen Agrargeschichte, MWG 1/2, S.347f., vorgelegten Einzelbelegen fußt. 6 7 Gemeint sein müßten die Kriege Trajans (oben, S. 112, Anm. 64), doch ist die Quelle für eine solche Behauptung nicht klar. - Bücher hatte von bestimmten Kriegen Roms im 2. Jahrhundert v. Chr. als „Sklavenhetzen" gesprochen (oben, S. 105, Anm. 33). 6 8 Den Zusammenhang zwischen den Verhältnissen der römischen Kaiserzeit und der Karolingerzeit hatte bereits Bücher betont; vgl. bes. ders., Gewerbe 1 , S.926, sowie ders., Entstehung der Volkswirtschaft 1 , S. 94f. 6 9 Weber bezieht sich auf Capitulare de villis 31 (genitiae), 43, 49 (genitia); .Frauenarbeitshäuser'. Vom Ursprung des „Gynaeceum" der Villenverfassung Karls d.Gr. in der „spätrömischen Agrarverfassung" sprach Bücher, Diokletianische Taxordnung, S. 209, Anm. 4. Als y w a i K e i a werden die genitiae bzw. genitia des Kapitulars auch in der Ausgabe von Alfred Boretius, Capitularía, S. 86, Anm. 40, erklärt.

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Eines ist von Grund aus geändert: die römischen Sklaven finden wir in der „kommunistischen" Sklavenkaserne, - den servus der Karolingerzeit aber in der Käthe (mansus servilis) auf dem vom Herrn ihm geliehenen Lande als frohnpflichtigen Kleinbauern. Er ist der Familie zurückgegeben, und mit der Familie hat sich auch der Eigenbesitz eingestellt. - Diese Abschichtung des Sklaven aus dem „Oikos" hat sich in der spätrömischen Zeit vollzogen, und in der That: sie mußte ja die Folge der mangelnden Selbstergänzung der Sklavenkasernen sein. Der Herr sicherte, indem er den Sklaven als Erbunterthanen wieder in den Kreis der Einzelfamilie stellte, sich den Nachwuchs und dadurch die dauernde Versorgung mit Arbeitskräften, welche durch Zukauf auf dem zusammenschrumpA 68 fenden Sklavenmarkt, dessen letzte Reste in der Karo|lingerzeit verschwanden, 70 nicht mehr beschafft werden konnten. Er wälzte das Risiko der Unterhaltung des Sklaven, welches in den Plantagen er - der Herr - trug, auf den Sklaven selbst ab. Die Bedeutung dieser langsam, aber sicher fortschreitenden Entwicklung war tiefgreifend. Es handelt sich um einen gewaltigen Wandlungsprozeß in den untersten Schichten der Gesellschaft: Familie und Eigenbesitz wurden ihnen zurückgegeben. Und ich möchte hier nur andeuten, wie dies der siegreichen Entwicklung des Christentums parallel geht: in den Sklavenkasernen hätte es schwerlich Boden gefunden, die unfreien afrikanischen Bauern der Zeit Augustins aber waren bereits Träger einer Sektenbewegung. 71 Während so der Sklave sozial zum unfreien Frohnbauern emporsteigt, steigt gleichzeitig der Kolonus zum hörigen Bauern hinab. Das geschah, indem sein Verhältnis zum Gutsherrn immer mehr den Charakter eines v4röe/ttverhältnisses annahm. Ursprünglich ist die Rente, die er zahlt, dasjenige, worauf es dem Herrrn hauptsächlich ankommt, wennschon, wie gesagt, 72 von Anfang an daneben Arbeitsleistungen für das Gut vorgekommen sein werden. Schon in frühkaiserlicher Zeit aber wird von den Agrarschriftstellern auf die

7 0 G e m e i n t s e i n kann a l l e n f a l l s der .Markt' für l ä n d l i c h e S k l a v e n (bzw. der H a n d e l mit ihnen). 7 1 W e b e r spielt auf d i e g e g e n d i e k a t h o l i s c h e K i r c h e im N o r d a f r i k a d e s 4. u n d 5. J a h r h u n d e r t s g e r i c h t e t e S e k t e der D o n a t l s t e n u n d d e r e n von d e n unteren G e s e l l s c h a f t s s c h i c h t e n g e t r a g e n e n a u f r ü h r e r i s c h e n Teil, d i e C i r c u m c e l l l o n e n , an. 7 2 S i e h e o b e n , S. 109.

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Arbeit des Kolonus der Hauptnachdruck gelegt, 73 und je mehr die Sklavenarbeit knapp wurde, desto mehr mußte dies der Fall sein. Afrikanische Inschriften aus Kommodus' Zeit zeigen uns, daß der Kolonus dort bereits ein mit Land belehnter und dagegen zu bestimmten Diensten verpflichteter Frohnbauer geworden war. 74 Und dieser ökonomischen Verschiebung in der Stellung des 0 Kolonen trat bald eine rechtliche an die Seite, welche auch formell seine Behandlung als Arbeitskraft des Gutes zum Ausdruck brachte: die Schollenfestigkeit. Um ihre Herausbildung zu verstehen, müssen wir in Kürze einige verwaltungsrechtliche Betrachtungen einflechten. Die römische Verwaltungsorganisation ruhte zu Ende der Republik und zu Beginn der Kaiserzeit auf der Stadtgemeinde, dem municipium, als administrativer Unterlage, ganz ebenso wie die antike Kultur auf der Stadt als ökonomischem Untergrund. Systematisch hatte man die in den Reichsverband einbezogenen Gebiete als Stadtgemeinden - in den verschiedensten Abstufungen staatsrechtlicher Abhängigkeit - organisiert, die verwaltungsrechtliche Form des municipium über das Gebiet des Reichs verbreitet. Die Stadt ist der normale, unterste Verwaltungsbezirk. Die Stadtmagistrate haften dem Staat für Steuern und Rekrutenkontingente. - Im Verlaufe der Kaiserzeit finden wir aber ein Umschwenken der Entwicklung. Die | großen Güter suchen sich mit Erfolg der Einbezie- A hung in die Gemeinden zu entziehen; je mehr der Schwerpunkt des Reichs mit zunehmender Bevölkerung des Binnenlandes ins Innere rückt, desto mehr stellt die agrarische Binnenbevölkerung die Rekruten; 75 desto bestimmender werden aber auch die Interessen der „Agrarier" des Altertums, der großen Grundherrn, für die Politik des Staates. Wenn wir heute Widerstand finden bei dem Versuch, die großen Güter des deutschen Ostens in die Landgemein-

C A: der 73 Weber bezieht sich auf Columella 1,7, 1. 74 Gemeint ist die von Mommsen, Decret des Commodus, behandelte Inschrift aus den Jahren ca. 180-182, mit der sich Weber in seiner „Römischen Agrargeschichte" (MWG I/2, bes. S.322f.) befaßt hatte. 75 Vgl. dazu unten, S. 122 mit Anm. 94.

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den zu „ inkommunalisieren ",76 so widerstand der römische Kaiserstaat der Exkommunalisierungstendenz der Güter nur wenig. 77 Massenhaft erscheinen die „saltus" und „territoria" neben den Städten, Verwaltungsbezirke, in denen der Gutsherr die Ortsobrigkeit ist, ähnlich wie die deutschen Rittergutsbesitzer des Ostens in den „Gutsbezirken". Der Gutsbesitzer war es hier, an den sich der Staat wegen der Steuern des territorium hielt - er verauslagte sie eventuell für die „Hintersassen" und zog sie wieder von ihnen ein und der das Rekrutenkontingent der Grundherrschaft gestellte: die Rekrutengestellung galt infolgedessen bald ebenso wie irgendeine andere öffentliche Leistung für eine Last des Gutes, dessen Arbeitskräfte - die Colonen - sie ja dezimierte. 78 Damit waren die Wege geebnet für die rechtliche Bindung des gutsherrlichen Kolonus an die Scholle. Im römischen Reich war - von bestimmten staatsrechtlichen Verhältnissen abgesehen - eine allgemeine Freizügigkeit unter rechtlichen Garantien niemals vorhanden. Erinnern wir uns z.B. nur, wie dem Verfasser des Lukas-Evangeliums die Vorstellung geläufig ist, daß zu Zwecken der Schätzung jedermann in seine Heimatgemeinde (origo), - wir würden sagen: an seinen Unterstützungswohnsitz 79 - abgeschoben werden konnte, - so die Eltern Christi nach Bethlehem. 80 Die origo des Colonus ist aber der Gutsbezirk seines Herrn. Wir finden nun ferner schon früh das Institut der Zwangsrückführung zur Erfüllung öffentlichrechtlicher Pflichten. Den Senator zwar, der dauernd die Sitzung schwänzte, pfändete man nur. Mit 76 Der W i d e r s t a n d d e r z a h l r e i c h e n s e l b s t ä n d i g e n G u t s b e z i r k e in Preußen g e g e n ihre E i n g l i e d e r u n g in L a n d g e m e i n d e n hielt s i c h n o c h bis 1927, als d e r größte Teil d u r c h Gesetz aufgelöst wurde. 7 7 Eine e i n g e h e n d e B e h a n d l u n g mit d e n z u g e h ö r i g e n B e l e g e n f i n d e t s i c h in d e r „Röm i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " ( M W G I/2, S . 4 2 3 , d i e E i n t r ä g e zu „ E x i m i e r u n g " ) ; v o n „Exc o m m u n a l i s i e r u n g der großen G ü t e r " w i r d in der V o r l e s u n g „ A l l g e m e i n e (.theoretis c h e ' ) N a t i o n a l ö k o n o m i e " (M 95) g e s p r o c h e n . 7 8 W e b e r fußt auf d e r a u s f ü h r l i c h e n B e h a n d l u n g mit d e n e i n s c h l ä g i g e n B e l e g e n zur R e k r u t e n g e s t e l l u n g s p f l i c h t im C o d e x T h e o d o s i a n u s in seiner „ R ö m i s c h e n Agrarg e s c h i c h t e " ( M W G I/2, bes. S . 2 3 2 , 333, 340). 7 9 U n t e r s t ü t z u n g s w o h n s i t z w a r zur Zeit W e b e r s d e r Ort, w o n a c h v o l l e n d e t e m 24. Leb e n s j a h r u n d w e n i g s t e n s z w e i j ä h r i g e m A u f e n t h a l t ein g e s e t z l i c h e r A n s p r u c h auf soziale U n t e r s t ü t z u n g d u r c h die G e m e i n d e b e s t a n d . 8 0 W e b e r b e z i e h t s i c h auf d i e W e i h n a c h t s g e s c h i c h t e , L u k a s 2 , 3 - 4 (wie s c h o n in d e r „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " , M W G I/2, S . 3 3 1 ) .

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dem Provinzialstadtrat, dem Decurio, der sich seiner Pflicht entzog, machte man weniger Umstände: er wurde auf Requisition der Gemeinde zurückgeholt. Oft genug wurde das nötig, denn das Stadtratsamt des römischen Altertums mit seiner Haftung für das Steuersoll der Gemeinde bot geringe Reize. Und als später mit Verfall und Verwischung aller juristischen Formen diese Rückführungsansprüche bald in dem einen Begriff des Anspruchs auf Herausgabe, der alten | dinglichen Klage (vindicatio), aufgingen, da jagten die Gemeinden mit dieser Klage hinter ihren entlaufenen Stadträten her ebenso wie etwa hinter einem entlaufenen Gemeindebullen. 81 Was dem Decurio recht war, war dem Kolonus billig. Seine Frohnpflicht gegenüber dem Gutsherrn wurde, da dieser Frohnberechtigter und Obrigkeit in einer Person war, von öffentlichen Lasten nicht unterschieden und er zur Pflicht zurückgeführt, wenn er sich ihr entzog. So wurde er thatsächlich auf dem Wege der Verwaltungspraxis ein dauernd in den Gutsbezirk und damit unter die Gutsherrschaft den Besitzers gebannter, schollenfester Frohnbauer. Er wurde dem Staate gegenüber gewissermaßen „mediatisiert". Und darüber erhob sich nun der „reichsunmittelbare" Stand der Grundherrn, der „possessores", den wir in der späteren Kaiserzeit ebenso wie im ostgotischen und Merowinger-Reich als feststehenden Typus finden. Die ständische Gliederung hatte an Stelle des alten einfachen Gegensatzes von Freien und Unfreien begonnen. Eine in ihren einzelnen Stadien fast unmerkliche Entwicklung führte dahin, weil die ökonomischen Verhältnisse dahin drängten. Die Entwicklung der feudalen Gesellschaft82 lag in der Luft schon des spätrömischen Reiches. Denn es ist offenbar, daß wir in dieser spätkaiserlichen Grundherrschaft mit dem Nebeneinanderstehen der beiden Kategorien frohnpflichtiger Bauern: unfreier (servi) mit „ungemessener" Dienstpflicht und persönlich freier (coloni, tributarii) mit fest bestimmten Leistungen in Geld, Naturalabgaben, später mehr und mehr auch Naturalquoten, und daneben - nicht immer, aber regel-

81 A u s f ü h r l i c h e r und mit B e l e g e n dargestellt in der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h l c h t e " ( M W G I/2, S. 331 f.). - Ein Beispiel für .vindlcare' von D e c u r l o n e n : C o d e x T h e o d o s l a nus 12, 1, 181 (416 n.Chr.). 82 Vgl. unten, S. 122f.

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mäßig - festen Frohnpflichten, bereits den Typus des mittelalterlichen Frohnhofs vor uns haben. 83 Mit Frohnarbeit aber unter den Verkehrsverhältnissen des Altertums für den Absatz zu produzieren, war eine Unmöglichkeit. Für die Absatzproduktion war die disziplinierte Sklavenkaserne Vor- 5 bedingung. Zumal im Binnenland mußte mit ihrer Zergliederung in Bauernkathen die Absatzproduktion wegfallen, die dünnen Fäden des Verkehrs, die über die naturalwirtschaftliche Unterlage gesponnen waren, sich allmählich weiter lockern und zerreißen. Deutlich sehen wir das schon bei dem letzten erheblicheren römi- 10 sehen landwirtschaftlichen Schriftsteller, Palladius, der empfiehlt, möglichst sich so einzurichten, daß die Arbeit des Gutes alle Bedürfnisse decke, sich selbst trage, und so den Kauf entbehrlich mache.84 War die Spinnerei und Weberei ebenso wie das Mahlen und A 71 Backen von jeher | von den Frauen des Gutshofs eigenwirtschaft- 15 lieh besorgt worden, so stellte man nun auch Schmiede-, Tischler-, Maurer-, Zimmermannsarbeit und schließlich den Gesamtbedarf an gewerblichen Leistungen auf dem Gute mit dessen unfreien Frohnhandwerkern her. Damit aber trat die dünne Schicht von freien, meist gegen Lohn und Kost arbeitenden, gewerblichen Ar- 20 beitern der Städte in ihrer relativen Bedeutung noch weiter zurück: die ökonomisch obenanstehenden Wirtschaften der Grundherren deckten ihren Bedarf na/ara/wirtschaftlich. Arbeitsteilige Deckung des Eigenbedarfs des Gutsherrn wird in stets zunehmendem Maße der den „Oikos" beherrschende ökono- 25 mische Zweck. Die großen Güter lösen sich vom Markte der Stadt. Die Masse der mittleren und kleineren Städte büßen damit ihren wirtschaftlichen Nährboden: den stadtwirtschaftlichen Arbeitsund Güteraustausch mit dem umliegenden Lande, immer mehr ein. Sichtbar für uns, selbst durch das trübe, zerbrochene Glas der spät- 30 kaiserlichen Rechtsquellen, verfallen daher die Städte. Stets von neuem eifern die Kaiser gegen die Flucht aus der Stadt, dagegen insbesondere, daß die Possessoren ihre Behausungen in der Stadt

8 3 Eine Beschreibung der mittelalterlichen Fronhofswirtschaft findet sich bei Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft 1 , S. 2 8 - 3 3 . 8 4 Weber bezieht sich auf Palladius 1, 6, 2.

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aufgeben und abreißen, Getäfel und Einrichtung auf ihre Landsitze übertragen. 85 Auf dies Zusammensinken der Städte wirkt verstärkend hin die staatliche Finanzpolitik. Auch sie wird zunehmend naturalwirtschaftlich, der Fiskus ein „Oikos", der seinen Bedarf so wenig wie möglich am Markte und so viel wie möglich aus eignen Mitteln deckt, - damit aber die Bildung von Geldvermögen hemmt. Eine Wohlthat war es ja, daß ein Hauptspekulationsgeschäft: die Steuerpacht, beseitigt wurde, und die eigene Abgabenerhebung an die Stelle trat. Rationeller war vielleicht die Besorgung der Getreidezufuhr durch Schiffe, deren Herstellung der Staat durch Landanweisung belohnte, statt durch Vergebung an Unternehmer. Finanziell vorteilhaft war auch die offenbar zunehmende Monopolisierung zahlreicher einträglicher Zweige des Handels und der staatliche Bergbaubetrieb. Aber alles dies hemmte naturgemäß die Bildung privater Kapitalien und jeden Ansatz zur Entwicklung einer Schicht, die unseren modernen bürgerlichen Klassen entsprochen hätte. Und die Entwicklung dieses naturalwirtschaftlichen Finanzwesens vollzog sich zunehmend, je mehr das Reich aus einem das Land ausbeutenden Städteconglomerat, welches seinen wirtschaftlichen Schwerpunkt an der Küste und in ihrem Verkehr fand, zu einem Staatswesen wurde, welches naturalwirtschaftliche Binnen-1 länder politisch sich einzuverleiben und zu organisieren suchte. Die A 72 damit ungeheuer anschwellenden Staatsbedürfnisse ge/dwirtschaftlich zu decken, gestattete die dazu viel zu dünne Schale des Verkehrs nicht. Mit Notwendigkeit schwoll vielmehr der naturalwirtschaftliche Faktor im staatlichen Finanzwesen an. Die Abgaben der Provinzen an den Staat waren von jeher zum guten Teil Natural-, zumal Getreideabgaben, aus denen die staatlichen Magazine gespeist wurden. In der Kaiserzeit wurde auch alles dasjenige, was die Verwaltung an gewerblichen Produkten bedurfte, immer weniger durch Kauf auf dem Markt oder Submission und immer mehr dadurch aufgebracht, daß man die Lieferung dem städtischen Gewerbe in natura auferlegte, welches zu diesem Behuf oft in Zwangszünften vereinigt wurde. Das drängte den küm8 5 W e b e r fußt auf s e i n e r B e h a n d l u n g (mit d e n E i n z e l b e l e g e n ) in der A g r a r g e s c h i c h t e " ( M W G 1/2, S . 3 3 7 ) .

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merlichen, freien Handwerker in die Situation eines faktisch erblichen Zunfthörigen. - Jene Naturaleinnahmen verbrauchte der Fiskus durch entsprechende Naturalausgaben. So suchte er namentlich die beiden Hauptposten seines Ausgabebudgets naturalwirtschaftlich zu decken: das Beamtentum und die Armee. Allein hier 5 hatte die Naturalwirtschaft ihre Schranke. Einen großen Binnenstaat regiert man dauernd nur durch ein besoldetes Berufsbeamtentum, welches die Stadtstaaten des Altertums zu entbehren vermochten. Die Gehälter der Staatsbeamten der diokletianischen Monarchie sind in sehr starkem Maße Natu- 10 ra/-Gehalte; sie sehen aus etwa wie ein stark vergrößertes Deputat eines heutigen mecklenburgischen Gutstagelöhners: einige Tausend Scheffel Getreide, eine bestimmte Kopfzahl Vieh, entsprechende Quantitäten Salz, Öl u.s.w., kurz alle die Gegenstände, die der Beamte zu seiner Nahrung, Bekleidung und sonstigen Unter- 15 haltung bedarf, werden auf die kaiserlichen Magazine angewiesen, daneben ein relativ recht mäßiges Taschengeld in bar. 86 Aber trotz dieser offensichtlichen Tendenz zur Naturaldeckung zwang die Unterhaltung einer bedeutenden Beamtenhierarchie zu erheblichen Bargeldausgaben. Und in noch höherem Grade war dies der Fall 20 mit der Deckung der militärischen Bedürfnisse des Reichs. Ein Binnenstaat mit bedrohter Grenze bedarf eines stehenden Heeres. Das alte, auf Wehrpflicht und Selbstequipierung der Grundbesitzer ruhende Bürgerheer war schon zu Ende der Republik in ein vom Staat ausgerüstetes Heer mit proletarischer Rekru- 25 tierung verwandelt, - die Stütze der Cäsaren. Die Kaiserzeit schuf dann das nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich, stehende BeA 73 rw/sheer. Um ein | solches zu halten, braucht man zweierlei: Rekruten und Geld. Das Rekruten-Bedürfnis war der Grund, weshalb die merkantilistischen Herrscher im Zeitalter des „aufgeklärten" Des- 30 potismus, so Friedrich II. und Maria Theresia, den Großbetrieb in der Landwirtschaft niederhielten, indem sie das Bauernlegen ver-

8 6 Daß die an sich d e n d a m a l i g e n L e g i o n s t r i b u n e n u n d s p ä t e r e n Kaiser C l a u d i u s II. ( 2 6 8 - 2 7 0 ) b e t r e f f e n d e n A n g a b e n ü b e r die sein „ J a h r e s g e h a l t " ( S c r l p t o r e s Hlstoriae A u g u s t a e , C l a u d i u s 14) a u c h d e n Verhältnissen der d i o k l e t i a n i s c h e n Zelt ( 2 8 4 - 3 0 5 ) e n t s p r ä c h e n , hatte Bücher, D i o k l e t i a n i s c h e T a x o r d n u n g , S . 2 0 5 , festgestellt. Der Verg l e i c h mit M e c k l e n b u r g b e r u h t auf der D a r s t e l l u n g bei Weber, L a n d a r b e i t e r , M W G I/3, S. 8 3 1 - 8 6 6 .

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boten. 87 Nicht aus Humanitätsgründen und Liebe für die Bauern geschah dies. Nicht der einzelne Bauer wurde geschützt, - ihn durfte der Gutsherr getrost fortjagen, sofern er nur einen an die Stelle setzte. 88 Vielmehr war der Grund: wenn, nach Friedrich Wilhelm I., „überflüssige Bauernkerls" 89 eine Quelle der Rekrutierung sein sollten, mußten solche da sein. Deshalb wurde die Verminderung des vorhandenen Bauemquantums durch Einziehung von Bauernstellen verboten, weil sie die Rekrutierung gefährdete und das Land entvölkerte. - Aus ähnlichem Grunde griffen auch die Cäsaren in die Verhältnisse der Kolonen ein und verboten z. B. die Steigerung ihrer Lasten. - Andrerseits beförderten die merkantilistischen Herrscher kräftig die großen Manufakturen, weil sie das Staatsgebiet „peuplierten" 90 und - zweitens - Geld ins Land brachten. Friedrich der Große verfolgte mit Steckbriefen nicht nur seine desertierenden Soldaten, sondern auch seine desertierenden Arbeiter und - Fabrikanten. 91 Dies war den Cäsaren verschlossen, da eine für den Absatz produzierende Großindustrie mit freier Arbeit nicht existierte und nicht entstehen konnte. Vielmehr ging mit dem Sinken der Städte und des Verkehrs und mit dem Rückfall in die Naturalwirtschaft umgekehrt die Möglichkeit, steigende Geldsteuern zu erschwingen, für das Land immer mehr verloren. Und bei dem Arbeitermangel, den das Versiegen des Sklavenmarktes

8 7 Gegen das Bauernlegen, d.h. die Aufsaugung selbständiger bäuerlicher Kleinwirtschaften durch Gutsbetriebe, ging Friedrich d. Gr., nach ersten Maßnahmen zumal Friedrich Wilhelms I., insbesondere mit den Bauernschutzedikten von 1749 und 1764 vor, während Maria Theresia dieses vor allem seit 1769 durch entsprechende Erlasse bekämpfte. Vgl. auch Weber, Agrarpolitik, MWG I/4, S. 753 mit Anm. 1. 8 8 Dies hebt Knapp, Bauernbefreiung 1, S.51, hervor. 8 9 Gemeint sind die vom Hof abkömmlichen jüngeren Bauernsöhne, die, zumal seit der Einführung des Kantonsystems, einen wesentlichen Teil der im Lande selbst rekrutierten Soldaten bildeten (Knapp, ebd., S.56). 9 0 Die Peuplierung, d.h. Besiedelung des Landes mit wirtschaftlich leistungsfähigen Bewohnern, hier mit Manufakturarbeitern, war ein Hauptziel der vor allem auf Absatz nach außen gerichteten merkantilistischen Wirtschaftspolitik. Mit ihr befaßte sich Weber auch in seiner Vorlesung über „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie", M 142, 143, 143R. 91 Zu einer Kabinettsorder ,wider das Desertiren französischer Seidenfabricanten' vgl. Schmoller, Gustav/Hintze, Otto (Bearb.), Die Preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich den Großen, Band 1 (Acta Borussica). - Berlin: Paul Parey 1892, S.269 (9. Juli 1752). Vgl. außerdem ebd., S. 163f., 239f. u.ö.

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brachte, war die Rekrutierung aus den Kolonen eine für die Güter ruinöse Last, der sie sich mit allen Mitteln zu entziehen suchten. Aus der verfallenden Stadt flieht der Kantonpflichtige 92 auf das Land in die Kolonenhörigkeit, weil der unter dem Druck des Arbeitermangels stehende Possessor das Interesse hat, ihn der Rekru- 5 tierung zu entziehen. Die späteren Cäsaren kämpfen ebenso gegen die Flucht der Bürger aufs Land, wie die späteren Hohenstaufen gegen die Flucht der Hörigen in die Städte. 93 Deutlich finden wir die Rückwirkung dieser Rekrutennot im Heere der Kaiserzeit. Italien ist seit Vespasian aushebungsfrei; seit 10 Hadrian schwindet die Mischung der Kontingente und sucht man zur Kostenersparung vielmehr die Heere möglichst aus dem Bezirk ihres Standortes zu rekrutieren, 94 - der früheste Vorbote des Zerfalles des Reichs. Aber noch weiter: wenn man die Heimatsangaben der entlassenen Soldaten durch die Jahrhunderte verfolgt, so 15 A 74 zeigt sich, daß die Zahl | derjenigen, welche als „Lagerkinder" (castrenses) bezeichnet sind, in der Kaiserzeit von wenigen Prozenten der Gesamtheit bis auf einen der Hälfte nahekommenden Bruchteil sich steigert, 95 - mit andern Worten: das römische Heer erzeugt sich zu einem fortwährend zunehmenden Bruchteil aus 20 sich selbst. Wie an Stelle des ehelosen Kasernensklaven der Bauer im Schöße eigner Familie tritt, so - wenigstens zum Teil - anstelle des ehelosen Kasernen- oder richtiger Lagersoldaten der in Soldatenehe stehende, faktisch erbliche Berufssöldner. Und auch die zunehmende Rekrutierung des Heeres aus Barbaren hat in erster Li- 25 nie den Zweck der Schonung der Arbeitskräfte des eigenen Landes, insbesondere der Arbeitskräfte der großen Güter. Völlig naturalwirtschaftlich versucht man endlich durch Beleihung von Barbaren mit Land gegen Kriegsdienstpflicht die Grenzwache zu bestreiten, und diese Form, der entfernte Vorbote des Lehens, findet zu- 30 nehmende Verwendung. Das Heer, welches das Reich beherrscht, wird so ein von jeder Beziehung zur einheimischen Bevölkerung 9 2 Gemeint ist der zum Militärdienst Verpflichtete, entsprechend dem von Friedrich Wilhelm I. eingeführten System von Kantonen als Rekrutierungsbezirken. 9 3 Für diesen Kampf bietet Nitzsch, Geschichte des Deutschen Volkes 3, S . 6 7 f . (in dem Abschnitt „Die späteren Staufer") ein Beispiel aus dem Jahre 1219. 9 4 Zugrunde liegt (wie schon in MWG I/2, S.291) die Untersuchung von Mommsen, Conscriptionsordnung, S. 1 9 - 2 1 . 95 Vgl. ebd., S. 10f.

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sich immer mehr loslösender Barbarenhaufe. Der siegreiche Einbruch der Barbaren von außerhalb bedeutete deshalb für die Provinzialen im Innern des Reiches im ersten Augenblick wesentlich nur einen Wechsel der Einquartierung: selbst die Form des römischen Einquartierungswesens wurde ja übernommen. 96 Es scheint, daß in Gallien die Barbaren keineswegs überall als Eroberer gefürchtet, sondern hie und da als Befreier von dem Druck der römischen Verwaltung begrüßt wurden. 97 - Und das ist begreiflich. Denn nicht nur die Stellung der Rekruten war es, welche aus den Mitteln der eigenen Bevölkerung zu bestreiten dem alternden Reich schwer fiel, sondern schwerer noch drückten die in Naturalwirtschaft zurücksinkenden Völker die Geldsteuern, ohne welche ein Soldheer schlechterdings nicht zu unterhalten ist. Um die Geldaufbringung dreht sich immer mehr die ganze Staatskunst, und immer deutlicher zeigt sich die ökonomische Unfähigkeit der wesentlich nur noch für den Eigenbedarf produzierenden Possessoren, GeWabgaben zu leisten. Ja, - wenn der Kaiser ihnen gesagt hätte: „wohlan, laßt eure Kolonen euch Waffen schmieden, setzt euch zu Pferde und schützt mit mir die Scholle, von der ihr lebt" 1 - dies hätten sie ökonomisch leisten können. Aber damit wäre man eben schon im Mittelalter und beim Feudalheer gewesen. 2 In der That: wie die feudale Gliederung der Gesellschaft, so war die feudale Wehrverfassung das Ziel, welchem die spätrömische Entwicklung zustrebte und welches - nach dem kurzen und nur lokalen Rückschlag in der Völkerwanderungszeit zu | Gunsten kolonisierender A 75 Bauernheere - schon in der Karolingerzeit in der Hauptsache er96 Gemeint ist die Überlassung von jeweils dem Drittel eines Hauses an einen einquartierten Soldaten bzw. später, besonders in Gallien, dem Drittel eines Besitzes an niedergelassene .Barbaren' (dargestellt bei Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 1, S. 6 4 - 7 0 ) . 97 Die Feststellung beruht auf Nachrichten wie Salvian, De gubernatione Dei 5, 37; 7, 71. Ausführlich dazu Hartmann, Ursache des Unterganges, bes. S. 494. 1 Das - offenbar hypothetische - Zitat ist nicht nachweisbar. 2 Gedacht ist an das fränkische Reiterheer. Bei Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 2, S.202, wird von der ,,folgenschwere[n] Umwandlung des Heerwesens, die man mit dem Schlagworte .Feudalisierung' bezeichnen darf", gesprochen; vgl. auch ebd., S. 4, 255. Das Stichwort „Reiterheer (Karl Martell)" findet sich auch im Kollegheft zur Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" (M 105—105R). - Bereits zuvor erscheint der Begriff „feudal" bei Weber, und zwar mit Bezug auf die Abhängigkeit der Plebs in der Frühzeit Roms, in den Notizen zur Vorlesung „Agrarrecht und Agrargeschichte" vom Sommer 1894 (Weber, Agrarvorlesungen, Bl. 328).

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reicht wurde. 3 Allein mit feudalen Ritterheeren kann man zwar fremde Kronen erobern, die Landesmark eines beschränkten Territoriums verteidigen, aber nicht die Einheit eines Weltreichs 'Vahren und d hundertmeilige Grenzen gegen landhungrige Eroberer halten: deshalb war für die spätrömische Zeit der Übergang zu der Form der Heeresverfassung, welche dem naturalwirtschaftlichen Untergrund entsprach, nicht möglich. Daher mußte Diokletian die Reorganisation der Staatsfinanzen auf dem Boden einheitlicher GeWsteuern versuchen, und bis zuletzt blieb die Stadt die offizielle unterste Zelle des Staatsorganismus. Aber die ökonomische Unterlage der breiten Masse der römischen Städte schwand immer mehr: sie saßen wie Schröpfköpfe 4 im Interesse des geldbedürftigen staatlichen Verwaltungsapparats auf einem Untergrund, der sich mit einem Netz von Grundherrschaften überzogen hatte. Der Zerfall des Reichs war die notwendige politische Folge des allmählichen Schwindens des Verkehrs und der Zunahme der Naturalwirtschaft. Er bedeutete im wesentlichen nur den Wegfall jenes Verwaltungsapparats und damit des geldwirtschaftlichen politischen Überbaus, der dem naturalwirtschaftlichen ökonomischen Unterbau nicht mehr angepaßt war. 5 Als dann nach einem halben Jahrtausend der späte Testamentsvollstrecker Diokletians, Karl der Große, die politische Einheit des Occidents wieder erweckte, da geschah dies auf streng naturalwirtschaftlicher Grundlage. Wer die Instruktion für die Domänenverwalter (villici) liest - das berühmte capitulare de villis,6 durch seine d A: wahren, und 3 Eine ausführliche Darstellung dieses Vorgangs findet sich bei Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 2, S. 2 0 7 - 2 0 9 . 4 Der Vergleich mit dem medizinischen Instrument geht auf die „Römische Agrargeschichte" zurück (MWG 1/2, S. 341) und erscheint ebenfalls in den Aufzeichnungen zur Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" (M 93R, 95). 5 Mit dem als unüberbrückbar betrachteten Gegensatz von Natural- und Geldwirtschaft als Ursache des Zerfalls des römischen Reiches folgt Weber - wie schon in der „Römischen Agrargeschichte" (bes. MWG I/2, S.291) - Grundgedanken von Rodbertus, Römische Tributsteuern, bes. S.450f. (wobei dort statt von „Unter"- und „Überbau" von „Rumpf" und ,Kopf' gesprochen wird, ebd., S. 451). 6 Bei dem heute etwa in das Jahrzehnt 7 9 0 - 8 0 0 datierten Capitulare de villis Karls d. Gr. handelte es sich in der Tat um eine „Instruktion für die Domänenverwalter", die dort allerdings nicht als villici, sondern als iudices bezeichnet werden. Für villicus als Be-

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Sachkunde und Barschheit an Verfügungen Friedrich Wilhelms I. erinnernd, 7 - findet die deutlichste Illustration dazu. Neben dem König figuriert auch die Königin als Oberinstanz: die Hausfrau des Königs ist sein Finanzminister. 8 Und das mit Recht: es handelt sich bei dieser „Finanzverwaltung" vornehmlich um die Bedürfnisse des königlichen Küchenzettels und Haushalts, der mit dem „Staatshaushalt" identisch ist. Es wird verfügt, was von den Inspektoren an den Hof des Königs zu liefern ist: - z. B. Getreide, Fleisch, Gewebe, merkwürdig große Quantitäten Seife 9 u.s.w., kurz was der König verbraucht für sich, für seine Haus- und Tischgenossen, und für den politischen Dienst, z.B. Pferde und Fuhrwerke für den Krieg. 10 Verschwunden ist das stehende Heer und das besoldete Beamtentum und damit, - selbst dem Begriff nach, - die Steuer. Seine Beamten speist der König am eigenen Tisch oder stattet sie mit | Land aus; A 76 das sich e selbst ausrüstende® Heer aber ist eben im Begriff, endgültig ein Reiterheer und damit ein Wehrstand ritterlicher Grundherren zu werden. Verschwunden ist aber auch der interlokale Güteraustausch: die Fäden des Verkehrs zwischen den eigenwirtschaftlichen Zellen des Wirtschaftslebens sind gerissen, der Handel auf die Stufe des Wandergewerbes in den Händen Stammfremder - Griechen und Juden - zurückentwickelt. 11 Verschwunden ist die Stadt, - die Karolingerzeit kennt sie als spezifischen verwaltungsrechtlichen Begriff überhaupt nicht. Die Grundherrschaften sind die Träger der Kultur, - auch die Unterlage der Klöster - ; Grundherren die politischen Funktionäre; ein Grundherr, der größte, der König selbst, - ein überaus ländlicher Analphabet. Auf dem Lande liegen seine Pfalzen, deshalb hat er keine Residenz: er ist ein Herrscher, der, um seines Lebensunterhalts willen, mehr reist, als selbst moderne Monarchen - denn er e A: selbstausrüstende Zeichnung für karollnglsche Gütsverwalter vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 2, S. 124. 7 Von den „barschen Randverfügungen" des preußischen Königs spricht Knapp, Leibeigenschaft, S.247. 8 Vgl. Capitulare de vlllis 16, 27, 47, 58. 9 Ebd. 59; dazu 43, 45, 62. 10 Ebd. 13-15, 50, 64. 11 Hinwelse dazu finden sich bei Goldschmidt, Universalgeschichte des Handelsrechts, S. 106-112.

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lebt, indem er von Pfalz zu Pfalz zieht und verzehrt, was für ihn aufgespeichert ist. - Die Kultur ist ländlich geworden. Der Kreislauf der ökonomischen Entwicklung des Altertums hat sich vollendet. 12 Scheinbar völlig vernichtet ist seine Geistesarbeit. Versunken ist mit dem Verkehr die Marmorpracht der antiken Städte und damit alles das, was von geistigen Gütern auf ihnen ruhte: Kunst und Litteratur, die Wissenschaft und die feinen Formen des antiken Verkehrsrechts. Und an den Gutshöfen der Possessoren und Senioren ertönt noch nicht der Minnesang. Unwillkürlich wehmütig berührt uns das Schauspiel, wie eine scheinbar dem Höchsten zustrebende Entwicklung ihre materielle Unterlage verliert und in sich selbst zusammenbricht. 13 Allein was ist es denn, was wir in diesem gewaltigen Vorgang vor uns sehen? In den Tiefen der Gesellschaft vollzogen sich und mußten sich vollziehen organische Strukturänderungen, die im ganzen doch einen gewaltigen Gesundungsprozeß bedeuteten. Die Einzelfamilie und der Privatbesitz wurden den Massen der Unfreien zurückgegeben; diese selbst aus der Situation des „sprechenden Inventars" 14 langsam wieder in den Kreis der Menschen hinaufgehoben, deren Familienexistenz das emporwachsende Christentum dann mit zähen moralischen Garantieen umgab: schon die spätkaiserlichen Bauernschutzgesetze erkennen den Zusammenhalt der unfreien Familie in einem vorher nicht gekannten Maße an. 15 Freilich sank zugleich ein Teil der freien Bevölkerung zu faktischer Hörigkeit' und die raffiniert gebildete Aristokratie des Altertums zur Barbarei herab. Der naturalwirtschaftliche Untergrund, den das Anschwellen der A 77 unfreien | Arbeit der antiken Kulturentwicklung untergeschoben hatte, war zunächst immer weiter gewuchert, je mehr der Sklavenbesitz die Vermögen differenzierte, und hatte nach dem Übergang f A: Hörigkeit, 12 Vgl. Meyer, W i r t s c h a f t l i c h e E n t w i c k e l u n g , S . 7 4 3 : „ D a m i t ist d e r Kreislauf d e r antiken Entwickelung vollendet"; dazu Editorischer Bericht, oben, S . 8 7 f . 13 Vgl. Meyer, W i r t s c h a f t l i c h e E n t w i c k e l u n g , S . 7 3 3 , im Z u s a m m e n h a n g d a m i t , daß ein ,auf d e r H ö h e a n g e l a n g t e r K u l t u r s t a a t ' s c h l i e ß l i c h ,ln s i c h s e l b s t z u s a m m e n g e b r o c h e n ' sei: „Es hat m i c h I m m e r mit W e h m u t erfüllt". D a z u E d i t o r i s c h e r B e r i c h t , o b e n , S. 8 7 f . 14 W e b e r zitiert Varro, Res r u s t l c a e l , 17, 1 ( I n s t r u m e n t l g e n u s v o c a l e ) . 15 Die E l n z e l b e l e g e W e b e r s f i n d e n s i c h In d e r R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e , M W G I/2, S. 3 4 3 f .

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des politischen Schwergewichts von der Küste auf das Binnenland und nach dem Versiegen der Menschenzufuhr seine zum Feudalismus drängende Struktur auch dem ursprünglich verkehrswirtschaftlichen Oberbau aufgezwungen. So schwand die dünn gewordene Hülle der antiken Kultur, und das Geistesleben der occidentalen Menschheit sank in lange Nacht. Sein Niedersinken gemahnt aber an jenen Riesen der hellenischen Mythe, der neue Kraft gewann, wenn er am Busen der Mutter Erde ruhte. 1 6 Fremdartig wäre freilich den alten Klassikern ihre Umgebung erschienen, wäre etwa einer von ihnen in der Karolingerzeit in seinen Pergamenten erwacht und hätte er die Welt aus seiner Klosterzelle gemustert: die Düngerluft des Frohnhofes hätte ihn angeweht. Allein sie schliefen nur den Winterschlaf, wie die Kultur überhaupt, im Schöße des wieder ländlich gewordenen Wirtschaftslebens. Und es weckte sie auch nicht Minnesang und Turnier der feudalen Gesellschaft. Erst als auf der Grundlage der freien Arbeitsteilung und des Verkehrs die Stadt im Mittelalter wieder erstanden war, als dann der Übergang zur Volkswirtschaft die bürgerliche Freiheit vorbereitete und die Gebundenheit unter den äußern und innern Autoritäten des Feudalzeitalters sprengte, da erhob sich der alte Riese in neuer Kraft und hob auch das geistige Vermächtnis des Altertums empor an das Licht der modernen bürgerlichen Kultur. 9

g In A folgt: Max

Weber.

16 Die Anspielung gilt dem Riesen Antalos, einem Sohn des Meeresgottes Poseidon und der Gaia (Erde) In Nordafrika (Libyen). Er tötete alle Fremden, nachdem er sie Im Ringkampf besiegt hatte, wobei er selbst jeweils bei der Berührung mit der Erde, seiner Mutter, neue Kraft gewann. - Im mündlichen Vortrag hatte Weber den Namen offenbar genannt, vgl. oben, S. 98.

Agrarverhältnisse im Altertum (1. und 2. Fassung)

Editorischer Bericht

I. Zur

Entstehung

Max W e b e r s Artikel „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e im A l t e r t u m " e r s c h i e n im D e z e m ber 1897 im z w e i t e n S u p p l e m e n t b a n d der 1. A u f l a g e d e s „ H a n d w ö r t e r b u c h s der S t a a t s w i s s e n s c h a f t e n " , 1 d a n n in einer e r w e i t e r t e n N e u f a s s u n g im Juli d e s f o l g e n d e n Jahres in der ersten L i e f e r u n g der 2. A u f l a g e d e s s e l b e n Werkes. 2 Von d e n U m s t ä n d e n der E n t s t e h u n g d e s Artikels in seinen b e i d e n Versionen ist im e i n z e l n e n k a u m e t w a s b e k a n n t . Insgesamt v e r f ü g t m a n nur ü b e r ein e i n z i g e s indirektes Z e u g n i s über d i e Arbeit W e b e r s an der z w e i t e n F a s s u n g , eine Postkarte an Carl B e z o l d . 3 Daher läßt s i c h i n s b e s o n d e r e die Zeit der N i e d e r s c h r i f t der ersten F a s s u n g nur u n g e f ä h r b e s t i m m e n . Das H a n d w ö r t e r b u c h war in erster A u f l a g e in s e c h s B ä n d e n in d e n J a h r e n 1 8 9 0 - 1 8 9 4 e r s c h i e n e n . Es enthielt im ersten B a n d z u m T h e m a A g r a r v e r h ä l t n i s s e die b e i d e n Artikel „ A c k e r b a u " u n d „ A c k e r b a u s y s t e m e " d e s A g r a r ö k o n o m e n T h e o d o r von der Goltz, w o b e i der Artikel „ A c k e r b a u " a u c h ein k u r z e s Kapitel ,,A[ckerbau] der alten G r i e c h e n u n d R ö m e r " von k n a p p vier S p a l t e n L ä n g e umfaßte. 4 In d e n J a h r e n 1895 u n d 1897 traten n o c h zwei S u p p l e m e n t b ä n d e hinzu. Max Weber hatte im ersten S u p p l e m e n t b a n d e i n e n Artikel „ B ö r s e n w e s e n " 5 ü b e r n o m m e n , d e m im z w e i t e n S u p p l e m e n t b a n d die Artikel „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e im A l t e r t u m " , „ B ö r s e n g e -

1 Unter dem Datum des 10. November 1897 kündigte der Verlag das Erscheinen des Supplementbandes für Anfang Dezember an (Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige, 64. Jg., 1897, Nr. 264 vom 12. Nov. 1897, S. 8410), das dann am 29. Januar 1898 (ebd., 65. Jg., 1898, Nr. 23 vom 29. Jan. 1898, S. 773) angezeigt wurde. 2 Die erste Lieferung des 1. Bandes (S. 1-288) wurde ebd., 65. Jg., 1898, Nr. 159 vom 13. Juli 1898, S.5173, angezeigt. 3 Karte Max Webers an Carl Bezold vom 15. Mai 1898, UB Heidelberg, Heid. Hs. 1501 (Nl. Carl Bezold) (MWG II/3). Vgl. dazu unten, S. 131. 4 HdStW1, Band 1, 1890, S. 23-25. 5 Weber, Börsenwesen.

Editorischer Bericht

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setz" und „ W e r t p a p i e r e " 6 folgten, von d e n e n ersterer k n a p p 35 S p a l t e n lang war. O b der eher u n g e w ö h n l i c h e Titel „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e " statt z.B. d e m bei W e b e r w e i t a u s g e l ä u f i g e r e n A u s d r u c k „ A g r a r g e s c h i c h t e " auf ihn z u r ü c k g e h t , muß f r a g l i c h b l e i b e n . Zwei Verweise 7 z e i g e n , daß W e b e r urs p r ü n g l i c h a u c h einen Artikel „Kolonat" für d i e s e n S u p p l e m e n t b a n d hatte v e r f a s s e n wollen, der a b e r aus nicht näher b e k a n n t e n G r ü n d e n nicht ers c h i e n , o h n e daß freilich die Verweise getilgt w u r d e n . S c h o n weil für d e n z w e i t e n S u p p l e m e n t b a n d generell die A u f n a h m e einer A n z a h l von Artikeln zur A n t i k e c h a r a k t e r i s t i s c h ist, 8 könnte die erste A n r e g u n g a u c h im Falle W e b e r s von d e n H e r a u s g e b e r n d e s H a n d w ö r t e r b u c h s a u s g e g a n g e n sein, die d a m a l s offenbar an einer E r w e i t e r u n g der h i s t o r i s c h e n D i m e n s i o n im H a n d w ö r t e r b u c h interessiert w a r e n . 9 A b 1898 b e g a n n d a s H a n d w ö r t e r b u c h in der 2. A u f l a g e neu zu e r s c h e i n e n , die bis 1901 in i n s g e s a m t s i e b e n B ä n d e n veröffentlicht w u r d e . Hier figurierte W e b e r s Artikel als Teil eines a l l g e m e i n e r e n Stichworts „ A g r a r g e s c h i c h t e " , d a s neb e n d e n „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e n im Altertum" a u c h die „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e im Mittelalter" (Karl L a m p r e c h t ) sowie die „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e der N e u z e i t " ( T h e o d o r von der Goltz) umfaßte. 1 0 Der Artikel „Kolonat" war nunmehr, wie aus d e m Fehlen j e g l i c h e r Verweise h e r v o r g e h t , a n s c h e i n e n d v o n v o r n h e r e i n nicht mehr v o r g e s e h e n , o h n e daß a n d e r e r s e i t s der A b s c h n i t t über die E n t w i c k l u n g in der Kaiserzeit g e g e n ü b e r der ersten F a s s u n g eine e n t s p r e c h e n d e Erweiterung erfahren hätte. Was die F r a g e der E n t s t e h u n g s z e i t d e s Artikels betrifft, so k ö n n t e zun ä c h s t v e r w u n d e r n , daß W e b e r in d e n Literaturhinweisen zur ersten Fass u n g von 1897 seinen bereits im Mai 1896 in der „Wahrheit" e r s c h i e n e nen A u f s a t z ü b e r „Die sozialen G r ü n d e d e s U n t e r g a n g s der antiken Kul-

6 Weber, Börsengesetz, und Weber, Wertpapiere (Aufbewahrung). Das Bankdepotgesetz vom 5. Juli 1896, in: HdStW1, 2. Supplementband, 1897, S. 984-986 (MWG I/5, S.876-881). 7 Vgl. unten, S. 216, textkritische Anm. e, und S. 224, textkritische Anm. w. 8 Vgl. die Artikel „Finanzen des alten Roms" (Hermann Dessau; in: HdStW1, 2. Supplementband, 1897, S. 339-344); „Gracchische Bewegung" (Eduard Meyer; ebd., S. 440-448); „Griechische Finanzen" (Eduard Meyer; ebd., S. 448-461); „Kolonisation, Griechische" (Heinrich Swoboda; ebd., S.531-544); „Kolonisation, Römische" (Adolf Schulten; ebd., S. 544-560); „Plebs" (Eduard Meyer; ebd., S. 659-666); „Zinsfuß, Geschichte des, im klassischen Altertum" (Julius Beloch; ebd., S. 1002-1007). 9 Vermutlich ging schon die Initiative zur Kontaktaufnahme mit Max Weber wegen des Artikels „Börsenwesen" von den Herausgebern des Handwörterbuchs aus; vgl. MWG I/5, S. 554. 10 Vgl. HdStW2, Band 1,1898, S. 57-85, 85-88, 88-106. Schon in dieser Fassung beanspruchte Webers Artikel zum Altertum rund ein Drittel mehr Raum als die beiden Artikel über Mittelalter und Neuzeit zusammen.

130

Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

tur" nicht aufführt, a n d e r s als in der rund ein h a l b e s Jahr später e r s c h i e n e n e n z w e i t e n F a s s u n g . 1 1 Dies b e d e u t e t j e d o c h k e i n e s w e g s , daß der H a n d w ö r t e r b u c h a r t i k e l von 1897 e t w a s c h o n vor d e m E r s c h e i n e n d i e s e s A u f s a t z e s a b g e s c h l o s s e n g e w e s e n wäre. Vielmehr g e h t aus der Nenn u n g d e s erst im N o v e m b e r 1896 e r s c h i e n e n e n B u c h e s von Rudolf His in der L i t e r a t u r ü b e r s i c h t der ersten F a s s u n g 1 2 e i n d e u t i g hervor, daß d i e s e erst g e r a u m e Zeit n a c h d e m E r s c h e i n e n der „Sozialen G r ü n d e " b e e n d e t w u r d e , w a s a n g e s i c h t s der E r s c h e i n u n g s d a t e n Mai 1896 bzw. Ende Nov e m b e r 1897 o h n e d i e s a n z u n e h m e n ist. Da m a n die E n t s t e h u n g d e s für d e n s e l b e n B a n d verfaßten Artikels „ B ö r s e n w e s e n " relativ g e n a u verfolg e n kann ( N i e d e r s c h r i f t e t w a von J a n u a r bis Mitte März, Ü b e r a r b e i t u n g u n d Korrektur Juli 1897), 1 3 liegt die V e r m u t u n g nahe, daß die erste Fass u n g der A g r a r v e r h ä l t n i s s e im F r ü h j a h r / F r ü h s o m m e r 1897 e n t s t a n d e n ist. Dazu stimmt, daß in e i n e m Brief W e b e r s v o m 22. März d e s s e l b e n Jahres an d e n a m e r i k a n i s c h e n N a t i o n a l ö k o n o m e n Edwin R. A. S e l i g m a n in N e w York, der W e b e r um einen Beitrag für d a s v o n ihm h e r a u s g e g e b e n e „Political S c i e n c e Quarterly" g e b e t e n hatte, W e b e r ihm n e b e n z w e i a n d e r e n , aktuellen T h e m e n 1 4 einen Artikel über die „ ö k o n o m i s c h e E n t w i c k l u n g der antiken Kultur" a n b o t u n d d a b e i a u s d r ü c k l i c h e r w ä h n t e , daß a u c h d i e s e s zu d e n ihm zur Zeit n a h e l i e g e n d e n T h e m e n g e h ö r e . 1 5 Der Artikel k a m d a n n zwar nicht z u s t a n d e , d o c h z e i g t d i e s e Briefstelle d e u t l i c h W e b e r s d a m a l i g e s Interesse an der F o r m u l i e r u n g eines G e s a m t ü b e r b l i c k s ü b e r die antike W i r t s c h a f t s e n t w i c k l u n g . Die B e m e r k u n g , er h a b e d a z u g e g e n über s e i n e n f r ü h e r e n Publikationen „ m a n c h e n e u e G e s i c h t s p u n k t e g e f u n d e n " , b e z i e h t s i c h w o h l auf die Einsichten, die er n a c h der „Römis c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " g e w o n n e n hatte. 1 6

11 Vgl. unten, S.226f. 12 Vgl. unten, S.226. 13 Vgl. MWG I/5, S. 78f. mit Anm. 8. 14 Weber nennt einen Aufsatz „über die agrarpolitische Lage Deutschlands oder über die sozialen Gründe des Vordringens der Slaven im Osten Deutschlands". 15 Brief Max Webers an Edwin R. A. Seligman vom 22. März 1897, Columbia Univ. Libraries Spec Ms Coli Seligman (MWG II/3). In einem Postscriptum erkundigt sich Weber, ob Seligman den Aufsatz in englischer Sprache haben müsse. - Auch das hier von Weber signalisierte Interesse könnte ein Indiz dafür sein, daß er die „Agrarverhältnisse" erst danach, also nicht schon Im Laufe des Jahres 1896 und damit vor dem „Börsenwesen", verfaßt hat, durch das er mit der Redaktion des „Handwörterbuchs für Staatswissenschaften" wohl zuerst in Kontakt getreten war. Die Tatsache, daß die Publikation des Supplementbandes vom Verlag ursprünglich bereits im November 1895 (für den Winter 1896/97) angekündigt worden war (vgl. MWG I/5, S.779), dürfte in diesem Zusammenhang nicht allzuviel besagen. 16 Vgl. dazu auch die Bandeinleitung, oben, S. 19f.

Editorischer

131

Bericht

Für d e n e r s t e n B a n d d e r z w e i t e n A u f l a g e d e s H a n d w ö r t e r b u c h s l i e f e r t e W e b e r d a n n e t w a ein J a h r s p ä t e r eine neue, v o n e t w a s w e n i g e r als 35 auf r u n d 54 S p a l t e n u n d d a m i t u m mehr als die Hälfte ( u n d nicht zuletzt um d e n Alten Orient) erweiterte F a s s u n g d e s Artikels.17 Die

Umarbeitung

m u ß e t w a in d i e Z e i t z w i s c h e n D e z e m b e r 1 8 9 7 u n d M a i 1 8 9 8 f a l l e n , w o bei es a m E n d e d e s W i n t e r s e m e s t e r s 1897/98 z u d e m v o n M a r i a n n e Weber b e r i c h t e t e n ersten A u s b r u c h v o n W e b e r s K r a n k h e i t k a m . 1 8 Eine Postkarte Max W e b e r s an d e n H e i d e l b e r g e r A s s y r i o l o g e n Carl B e z o l d v o m 15. M a i 1 8 9 8 z e i g t W e b e r j e d o c h o f f e n s i c h t l i c h a n d e r A r b e i t , v i e l l e i c h t a u c h s c h o n b e i d e n K o r r e k t u r e n für d i e z w e i t e F a s s u n g . 1 9 W e b e r h a t t e sich bei Bezold nach der Zuverlässigkeit der A n g a b e n über das von Brun o M e i s s n e r in d e r K o m m e n t i e r u n g e i n e s U r k u n d e n t e x t e s e r w ä h n t e . G e l d in R i n g f o r m ' e r k u n d i g t , w o r a u f ihn B e z o l d u m d i e g e n a u e A n g a b e Quelle und die dort nachgewiesene akkadische Bezeichnung

der

gebeten

h a t t e . W e b e r s K a r t e ist d i e A n t w o r t d a r a u f . 2 0 B e z o l d s c h r i e b i h m p o s t w e n d e n d und bestätigte die von Meissner getroffenen Feststellungen.21 Das Erscheinen der ersten Lieferung der zweiten Auflage des Handwör-

17 HdStW 2 , Band 1,1898, S. 5 7 - 8 5 . - Neben zahlreichen anderen Hinweisen belegen vor allem mehrere in beiden Fassungen auftretende Versehen wie z.B. herbeiführt (statt: herbeigeführt, S. 175), ersten (statt: zweiten) Jahrtausends (S. 177), appopriierte (S. 180) und einer Remplaganten (statt: einen R., S. 212), die alle erst in der dritten Fassung beseitigt wurden (dort S.465, 470, 481 und 684), daß Weber die Änderungen grundsätzlich an einem Abdruck der ersten Fassung ausführte. - Auf (statt: in) Sparta und Kreta ist ein Beispiel für ein Versehen, das durch alle drei Fassungen geht (S. 183 und unten, S.483). 18 Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S.247. 19 Vgl. die Karte Max Webers an Carl Bezold vom 15. Mai 1898 (wie oben, S. 128, Anm.3). 20 Weber verwies in seiner Karte auf „Meißners .Urkunden und Texte' s.v. .Auftrag' Urk[unde] No 85 (Quittung über mehrere ,V3 S[ekel] Silber in Ringform')" (ebd.), merkte allerdings an, daß er das Buch selbst nicht mehr zur Hand habe. Tatsächlich handelte es sich um Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 68, Nr. 85 (im Abschnitt „Verträge: Auftrag", S. 6 7 - 6 9 ) sowie S. 147 (zu Nr. 85); vgl. unten, S. 165, Anm.80. Der irrtümliche Titel „Urkunden und Texte" findet sich noch später im Literaturverzeichnis zur dritten Fassung des Handwörterbuchartikels, unten, S. 729. 21 Dies geht aus der offenbar von Bezold selbst auf Webers Postkarte in Gabelsbergerscher Kurzschrift notierten Antwort hervor: „Heidelberg 16.5.98[.j Lieber Kollege, Meissner hat Recht!" (vgl. Karte Max Webers an Carl Bezold vom 15. Mai 1898 (wie oben, S. 128, Anm.3). - Zur .Umsetzung' in den „Agrarverhältnissen" vgl. unten, S. 165 und 395, wo Weber - ohne Erwähnung der Drittel-Sekel-Stücke - jeweils vom Geld im altbabylonischen Reich als „Silber in Gebrauchsgutform (Ringe)" spricht.

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Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

terbuchs mit Webers Artikel ist dann knappe zwei Monate später, am 13. Juli 1898, im Börsenblatt verzeichnet. 2 2 Was die „innere" Entstehungsgeschichte des Handwörterbuchartikels in seinen beiden Fassungen von 1897 und 1898 betrifft, so liegen darüber keinerlei direkte Zeugnisse vor. Doch Ist ähnlich wie schon bei Webers Vortrag über die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur aus d e m Jahre 1896 der grundsätzliche Z u s a m m e n h a n g mit seiner Vorlesung über „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" offensichtlich. Weber hatte sie In den Wintersemestern 1894/95 und 1895/96 sowie im Sommersemester 1896 in Freiburg gehalten und trug sie erneut In den Sommersemestern 1897 und 1898 in Heidelberg vor, so daß beide Fassungen des Handwörterbuchartikels auch zeitlich In unmittelbarer Nähe zu den beiden Heidelberger Vorlesungen entstanden sein müssen. Für die Vorlesung des Sommersemesters 1898 ist eine gedruckte Gliederung Webers überliefert, der „Vorlesungs-Grundriß". 2 3 Doch wird man wohl vermuten dürfen, daß sich die Vorlesung des v o r a n g e g a n g e n e n Sommersemesters 1897 In ihrem Aufbau davon nicht allzusehr unterschied. Der Handwörterbuchartikel ist in seiner ersten Fassung von 1897 In insgesamt vier Teile gegliedert: „1. Vorbemerkungen", „2. Das hellenische Altertum", „3. Das römische Altertum bis zum Ende der Republik" sowie „4. Die Entwickelung in der Kaiserzelt". In der zweiten Fassung von 1898 nahm Weber eine wichtige Änderung Insofern vor, als er jetzt auch den Alten Orient In seine Darstellung einbezog und daher zwischen die „Vorbemerkungen" und den Abschnitt über Griechenland den neuen A b schnitt „2. Der Orient, a) Ägypten, b) der asiatische Orient" einfügte. 2 4 Damit entspricht die Gliederung der zweiten Fassung weitgehend d e m g e d r u c k t e n Grundriß der Vorlesung vom Sommersemester 1898, wo das Altertum in d e m Kapitel „§ 9. Die ökonomische Entwicklung der antiken Küstenkultur" behandelt wird, und zwar In ebenfalls fünf Einzeltellen: „1. Allgemeiner Charakter und ökonomische Existenz-Bedingungen der antiken Kultur", „2. Der Orient", „3. Die Entwicklung und Zersetzung der hellenischen Stadtstaaten", „4. Die ökonomische Entwicklung Roms bis zum Ende der Republik" sowie „5. Die Kaiserzelt". 2 5 Eine gewisse Sonderstellung nimmt hier allenfalls der erste Abschnitt des Handwörter-

22 Vgl. oben, S. 128, Anm.2. 23 Weber, Vorlesungs-Grundriß, hier bes. S. 1 2 - 1 4 ( 8 - 1 0 ) . 24 Immerhin hatten bereits die „Vorbemerkungen" der ersten Fassung einen Hinweis auch auf das .semitische' und das .ägyptische Altertum' enthalten, unten, S. 150. Vgl. dazu auch die Synopse der Gliederung aller drei Fassungen, unten, S. 316t. 25 Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 13f. (9t.).

Editorischer

Bericht

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buchartikels ein, die „Vorbemerkungen", die offenkundig auf einem anderen Vorlesungskapitel beruhen. 2 6 Generell dürfte davon auszugehen sein, daß Weber das Altertum in seiner Vorlesung wesentlich kürzer als in den gedruckten Handwörterbuchartikeln behandelt hat, was - auch nach den erhaltenen Aufzeichnungen - in besonderem Maße für den Orient gilt, aber auch für Griechenland, während Rom aus naheliegenden Gründen auch in der Vorlesung bzw. den erhaltenen handschriftlichen Notizen einen deutlich größeren Raum einnimmt. Damit hängt zusammen, daß die beiden Rom geltenden Teile in der Gliederung der Vorlesung von 1898 in jeweils vier Einzelabschnitte gegliedert sind. 2 7 In dem Handwörterbuchartikel erscheinen sie hingegen ohne Untergliederung. Auffälligerweise sind im Text der ersten Fassung des Handwörterbuchartikels, allerdings nicht in der Inhaltsangabe, die beiden Abschnitte über die römische Republik und die Kaiserzeit mit „2." und „3." statt als „3." und „4." beziffert, d.h. so, als ob es ursprünglich vor Rom entweder nur die „Vorbemerkungen" oder nur das Griechenland-Kapitel gegeben hätte. 28 Daß freilich (was gegebenenfalls gewiß näher liegen würde) die „Vorbemerkungen" erst nachträglich hinzukamen, erscheint problematisch. Zu den einzelnen Teilen der „Agrarverhältnisse im Altertum" sei in Kürze Folgendes bemerkt: 1. „Vorbemerkungen". An den Beginn stellt Weber den Versuch, die Entwicklung von der festen Ansiedlung und endgültigen Bodenappropriation bis zur Entstehung des antiken und des davon wesentlich verschiedenen mittelalterlichen „Feudalismus" in ihren allgemeinsten Zügen zu skizzieren. Zu den Hauptgesichtspunkten gehören dabei die Bedeutung des durch den Herdenbesitz bestimmten Individualismus im Okzident als ursprünglicher Faktor starker sozialer Differenzierung sowie die feste Ansiedlung ebenfalls im Okzident als Übergang von vorwiegen-

26 Vgl. unten, S. 134f. Insofern ließe sich die Synopse, unten, S. 316f., .entstehungsgeschichtlich' auch noch um die Gliederung der Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" erweitern. 27 Für die Republik lautet die Untergliederung in Webers Vorlesungs-Grundriß, S. 14: ,,a) Soziale und ökonomische Anfänge Roms. - b) Die agrarische Entwicklung. - c) Die Sklavenarbeit, Gewerbe und Handel. - d) Die öffentlichen Lasten." Die Kaiserzeit dagegen ist in folgende Abschnitte gegliedert: ,,a) Allgemeine Bedeutung; Übergang zur Binnenkultur. - b) agrarische und gewerbliche Entwicklung. - c) Heer und öffentliche Lasten. - d) Die ständische Gliederung; der naturalwirtschaftliche Rückschlag und der Zerfall des Reichs." Hier wird besonders deutlich, daß die Vorlesung a potior! der wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt, nicht nur der Agrargeschichte galt. Vgl. auch die Bandeinleitung, oben, S. 11 - 1 4 . 28 Vgl. unten, S. 146.

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Agrarverhältnisse im Altertum (1. und 2. Fassung)

der Vieh- zu überwiegender Landwirtschaft, v e r b u n d e n mit der Auss c h e i d u n g von Weiderevieren („Allmenden") aus der „Mark". Der feste A c k e r b a u führt zu einer Differenzierung zwischen einem herrschenden Kriegerstand und einer a b h ä n g i g e n , waffenlosen und den Boden bearbeitenden Schicht. Damit ist nach Weber das Grundmuster des Feudalismus g e g e b e n , der an vielen Stellen in unterschiedlichen Formen auftritt, wobei von besonderer Bedeutung der antike „Stadtfeudalismus" sowie der andersartige, vor allem für das Mittelalter charakteristische „grundherrliche" Feudalismus sind. Der „Stadtfeudalismus" entsteht nach Weber in Küstengebieten, wenn diese in den überlokalen Verkehr e i n g e b u n d e n sind, die Grundherrschaft d a g e g e n als Produkt des verkehrsschwachen Binnenlandes. Die antike Welt ist j e d o c h in b e s o n d e rem Maße durch die Sklaverei bestimmt, w e s w e g e n trotz einer Reihe von scheinbaren Gemeinsamkeiten die Entwicklung im Mittelalter f u n d a m e n tal anders verlief als in der Antike, wo die Entwicklung zur Verkehrswirtschaft denn auch am Ende geradezu .steckenblieb'. 2 9 Auch diese einführenden Ü b e r l e g u n g e n haben enge Parallelen in Webers Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie". Anders als in der Einleitung zu den „Sozialen Gründen" 3 0 griff Weber hier j e d o c h hauptsächlich auf zwei Abschnitte des Kapitels „Die typischen Vorstufen der Volkswirtschaft" zurück, wie sowohl der gedruckte „VorlesungsGrundriß" aus d e m Sommer 1898 als auch die erhaltenen, freilich nicht exakt datierbaren Notizen Webers zu dieser mehrfach gehaltenen Vorlesung erkennen lassen. 3 1 Im „Grundriß" von 1898 finden sich die entsprec h e n d e n Ausführungen in den Abschnitten 3 und 4, „Die Siedelung und die Entwicklung des Eigentums" bzw. „Die Entwicklung des Feudalismus und dessen Formen" innerhalb des § 8, „Die typischen Vorstufen der Volkswirtschaft". 3 2 Abschnitt 3 ist im „Grundriß" seinerseits in vier Unterabschnitte gegliedert, die ebenfalls die enge Beziehung zu der Skizze im Handwörterbuchartikel erkennen lassen: ,,a) Bedeutung des Siedlungsvorgangs. Gegensatz des Orients und Okzidents. - b) Die Organisation der agrarischen Gemeinschaften. - c) Das Privateigentum. - d) Soziale Differenzierung in den agrarischen Gemeinschaften". In den erhaltenen

29 Vgl. unten, S. 149. 30 Vgl. oben, S. 1 0 2 - 1 0 6 . 31 Vgl. Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 11 f. (7f.), dazu Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie", M 65, 67, 68, 68 R, 69, 70. - Verwandtes findet sich in den beiden Vorlesungen „Agrarrecht und Agrargeschichte" (1894) sowie „Agrarpolitik" (1897/98), vgl. oben, S.9 und 30. 32 Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 11 f. (7f.).

Editorischer

Bericht

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V o r l e s u n g s n o t i z e n 3 3 e r s c h e i n e n - in einer offenbar v o r a u s g e g a n g e n e n F a s s u n g - „Die S i e d l u n g " u n d „Die E n t w i c k l u n g d e s F e u d a l i s m u s " e b e n falls als A b s c h n i t t 3 u n d 4 innerhalb d e s hier als „§ [7]" bezifferten Kapitels „Die t y p i s c h e n Vorstufen der V o l k s w i r t s c h a f t " . 3 4 Der g e n a n n t e A b schnitt 3 der V o r l e s u n g s n o t i z e n ist d a b e i der e i n z i g e Teil in allen eins c h l ä g i g e n K o l l e g h e f t e n W e b e r s , der ausführlicher ist als die g e d r u c k t e F a s s u n g in d e n „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e n " , w o b e i der A u f b a u teilweise allerd i n g s von d e n e n t s p r e c h e n d e n g e d r u c k t e n P a s s a g e n der „Vorb e m e r k u n g e n " a b w e i c h t . Für A b s c h n i t t 4 verdient f e s t g e h a l t e n zu werd e n , daß die V o r l e s u n g s n o t i z e n zwar a u c h „ S t a d t f e u d a l i s m u s " als Kennz e i c h e n von „ K ü s t e n s t a a t e n mit G ü t e r v e r k e h r " im A l t e r t u m u n d g r u n d herrlichen, v e r k e h r s l o s e n F e u d a l i s m u s im B i n n e n l a n d k e n n e n ; a b e r die s c h a r f e , f a k t i s c h g e g e n E d u a r d Meyer g e r i c h t e t e u n d bereits in d e n „Sozialen G r ü n d e n " f o r m u l i e r t e B e t o n u n g der g e g e n s ä t z l i c h e n E n t w i c k l u n g von a n t i k e m u n d m i t t e l a l t e r l i c h e m F e u d a l i s m u s fehlt hier. 35 - In der zweiten F a s s u n g der „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e " hat W e b e r an d e n „ V o r b e m e r k u n g e n " mit A u s n a h m e d e s kurzen S c h l u ß a b s c h n i t t s , der d e n Ü b e r g a n g z u m Hauptteil bildet, nur g e r i n g f ü g i g e Ä n d e r u n g e n v o r g e n o m m e n . 2. „Der Orient". Diesen aus zwei A b s c h n i t t e n über Ä g y p t e n u n d d e n „ a s i a t i s c h e n Orient" von jeweils k n a p p 5 bzw. k n a p p 9 S p a l t e n b e s t e h e n d e n Teil hat W e b e r erst in der z w e i t e n F a s s u n g e i n g e f ü g t , nicht o h n e zug l e i c h a u s d r ü c k l i c h zu b e t o n e n , daß er hier „ N i c h t f a c h m a n n " bzw. auf ü b e r s e t z t e Texte u n d „ d a s S c h ö p f e n aus zweiter H a n d " a n g e w i e s e n sei. 3 6 Für Ä g y p t e n hat er s i c h d a b e i in b e s o n d e r e r W e i s e auf die 18851887 e r s c h i e n e n e k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e G e s a m t d a r s t e l l u n g v o n A d o l f Erm a n g e s t ü t z t , 3 7 w ä h r e n d er für M e s o p o t a m i e n vor allem auf die Verö f f e n t l i c h u n g e n von ( ü b e r s e t z t e n ) R e c h t s u r k u n d e n zurückgriff. Im Mittelp u n k t steht im g a n z e n A b s c h n i t t - e n t s p r e c h e n d der Herkunft aus einer V o r l e s u n g zur a l l g e m e i n e n N a t i o n a l ö k o n o m i e - in m a n c h e r Hinsicht mehr d a s Problem der „ V e r k e h r s e r s c h e i n u n g e n " als speziell d a s der „Agrarv e r h ä l t n i s s e " , w o b e i im Falle Ä g y p t e n s vor allem die E t a p p e n der Ent-

33 Vgl. Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 65, 67, 68, 68R, 69, 70. 34 Einiges (Unterschied zwischen Orient und Okzident) findet sich außerdem in Abschnitt 1, „Die ältesten Existenzbedingungen der menschlichen Wirtschaft", ebd., M 54. - Zu beiden Abschnitten, 3 und 4, finden sich im „Vorlesungs-Grundriß" insgesamt acht Literaturangaben, die, soweit zweckmäßig, in den Erläuterungen berücksichtigt werden. 35 Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 70. 36 Vgl. unten, S. 150 sowie 157. 37 Vgl. auch den Hinweis in den Literaturangaben, wonach für Ägypten „das Ermansche Werk obenan" stünde, unten, S. 225.

136

Agrarverhältnisse

im Altertum

(1. und 2. Fassung)

Wicklung d e s k ö n i g l i c h e n Oikos h e r a u s g e a r b e i t e t w e r d e n , 3 8 w ä h r e n d bei M e s o p o t a m i e n die H e r a u s b i l d u n g der vielfältigen G r u n d f o r m e n d e s priv a t e n W i r t s c h a f t s v e r k e h r s n e b e n d e m k ö n i g l i c h e n O i k o s im V o r d e r g r u n d steht. 3 9 Ä g y p t e n u n d M e s o p o t a m i e n waren e b e n f a l l s B e s t a n d t e i l der Vorl e s u n g über A l l g e m e i n e N a t i o n a l ö k o n o m i e , o h n e daß m a n freilich g e n a u wüßte, seit w a n n u n d in w e l c h e m U m f a n g . Ein e i n z i g e s (nicht g e n a u d a t i e r b a r e s ) Blatt d a z u s c h e i n t a b e r zu z e i g e n , daß der Orient dort nur sehr kurz b e h a n d e l t w u r d e . 4 0 Immerhin weist die g e d r u c k t e V o r l e s u n g s g l i e d e r u n g von 1898 im Kapitel über die „antike K ü s t e n k u l t u r " mehrere s p e z i e l l e L i t e r a t u r a n g a b e n zu M e s o p o t a m i e n auf. 4 1 3. „Das hellenische Altertum". Der A b s c h n i t t umfaßte in der ersten F a s s u n g rund 12V2 S p a l t e n . 4 2 Hier, w o W e b e r zuerst n a c h der „Römis c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " .Neuland' in d e n antiken A g r a r v e r h ä l t n i s s e n betrat, fußte er, w i e die E r l ä u t e r u n g e n an z a h l r e i c h e n Stellen e r k e n n e n lassen, stofflich in b e s o n d e r s s t a r k e m Maße auf d e m 1893 e r s c h i e n e n e n zweiten Band von Eduard Meyers „Geschichte des Altertums", während die in d e n L i t e r a t u r h i n w e i s e n e b e n f a l l s g e n a n n t e n Werke von P ö h l m a n n u n d B e l o c h weit z u r ü c k t r e t e n . 4 3 Unter d e n e r h a l t e n e n E x z e r p t e n W e b e r s f i n d e n s i c h a u c h e t w a s ü b e r 5 Seiten A u s z ü g e aus M e y e r s z w e i t e m B a n d . 4 4 A u ß e r d e m s i n d aus s e i n e n Notizen zur n a t i o n a l ö k o n o m i s c h e n H a u p t v o r l e s u n g drei z u s a m m e n h ä n g e n d e u n d z u g l e i c h einen v o l l s t ä n d i g e n (Stichwort-)Text d e s A b s c h n i t t s „2. E n t w i c k l u n g u n d Z e r s e t z u n g der h e l l e n i s c h e n ] S t a d t s t a a t e n " b i e t e n d e Blätter erhalten, von d e n e n zur b e s s e r e n V e r a n s c h a u l i c h u n g die erste, der ältesten G e s c h i c h t e Griec h e n l a n d s g e l t e n d e Seite unten, S . 1 4 5 , als Faksimile u n d in Transkription w i e d e r g e g e b e n ist. 4 5 Diese B e z i f f e r u n g im K o l l e g h e f t z e i g t , daß es s i c h d a b e i trotz der a n s o n s t e n fast völlig g l e i c h l a u t e n d e n F o r m u l i e r u n g wie im K o n z e p t zur Vorlesung v o m S o m m e r s e m e s t e r 1898 („Die Entwicklung u n d Z e r s e t z u n g der h e l l e n i s c h e n S t a d t s t a a t e n " ) nicht um d i e s e Vorl e s u n g handelt, d a dort G r i e c h e n l a n d erst als Teil 3 d e s K a p i t e l s über die

38 Vgl. unten, bes. S. 148 und 154-156. 39 Vgl. unten, bes. S. 159, 161f. und 165-169. 40 Der Abschnitt ist dort nicht beziffert. 41 Vgl. Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 13 (9). Keine Angaben (auch nicht z.B. Erman) erscheinen dagegen zu Ägypten. 42 Er erreichte damit immerhin etwa zwei Drittel der Rom gewidmeten Abschnitte. 43 Während Pöhlmann eine gewisse Bedeutung für die Frühzeit hat, zog Weber Beloch offenbar vor allem für die von Eduard Meyer damals noch nicht behandelte Zeit des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. heran. 44 Vgl. unten, S. 141. 45 GStA PK VI. HA, Nl. Max Weber, Band 1, BI.84. Vgl. dazu unten, S. 170f. und 175177 (für die 3. Fassung bes. S.456f. und 465-468).

Editorischer Bericht

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.antike Küstenkultur' e r s c h e i n t . 4 6 Vielmehr m ü s s e n d i e s e Notizen aus einer Zeit s t a m m e n , in der W e b e r d e n Orient o f f e n b a r a u c h in der Vorlesung, ä h n l i c h der ersten F a s s u n g d e s H a n d w ö r t e r b u c h a r t i k e l s , n o c h nicht b e h a n d e l t e . O f f e n s i c h t l i c h ist d a g e g e n die Ü b e r e i n s t i m m u n g Im allg e m e i n e n A u f b a u d e s G r i e c h e n l a n d a b s c h n i t t s in d e n erhaltenen Vorles u n g s n o t i z e n u n d d e m j e n i g e n d e s H a n d w ö r t e r b u c h a r t i k e l s . Auf eine sehr k n a p p e D a r s t e l l u n g der L a n d w i r t s c h a f t u n d ihrer H a u p t p r o d u k t e folgt ein Ü b e r b l i c k über die E n t w i c k l u n g von d e n a n f ä n g l i c h e n Dorfsledl u n g e n über d a s B u r g e n w e s e n der m y k e n l s c h e n Zeit u n d die E n t s t e h u n g der Stadt (bzw. „ttöXls"), w o b e i d a n n u n t e r s c h i e d e n wird z w i s c h e n d e n d u r c h eine ü b e r w i e g e n d n a t u r a l w i r t s c h a f t l i c h e G r u n d l a g e g e p r ä g t e n Staaten vor allem d e s B i n n e n l a n d e s ( I n s b e s o n d e r e Sparta) u n d d e n d u r c h Markt u n d sich e n t w i c k e l n d e Verkehrswirtschaft b e s t i m m t e n Küs t e n s t ä d t e n wie z . B . Athen. Ein kurzer A u s b l i c k auf die „ s p ä t g r i e c h i s c h e n " Zeiten, die „keine d e u t l i c h e E n t w l c k e l u n g " böten, allerdings c h a r a k t e r i s t i s c h e r w e i s e - d a s N a c h l a s s e n der S k l a v e n z u f u h r u n d eine z u n e h m e n d e S c h w e r p u n k t v e r l a g e r u n g Ins B i n n e n l a n d e r k e n n e n ließen, beschließt d e n G r i e c h e n l a n d t e i l . 4 7 Bei der Ü b e r a r b e i t u n g d e s Artikels hat W e b e r d i e s e n A b s c h n i t t an einer Reihe von Stellen v e r ä n d e r t u n d g l e i c h z e i t i g um e t w a die Hälfte auf r u n d 18 S p a l t e n erweitert. 4 8 Dies g e s c h a h in erster Linie d u r c h eine Reihe von E i n f ü g u n g e n , die die v e r s c h i e d e n s t e n Details, vor a l l e m a b e r Frag e n d e s Familien- u n d Erbrechts, B e s t i m m u n g e n d e s in der ersten Fass u n g von W e b e r n o c h nicht b e r ü c k s i c h t i g t e n Rechts v o n Gortyn s o w i e d a s erst jetzt von ihm a u s g e w e r t e t e B u c h von Paul G u l r a u d aus d e m Jahre 1893 über d a s G r u n d e i g e n t u m im v o r h e l l e n i s t i s c h e n G r i e c h e n l a n d bet r a f e n ; 4 9 d a b e i z e i c h n e n s i c h die aus letzterem Werk ü b e r n o m m e n e n Details b e s o n d e r s d e u t l i c h a b . 5 0 Eine größere Ä n d e r u n g , die mit u m f a n g r e i c h e r e n E r g ä n z u n g e n , t e i l w e i s e n S t r e i c h u n g e n s o w i e e i n z e l n e n Ums t e l l u n g e n d e s Textes v e r b u n d e n war, hat W e b e r nur an einer l ä n g e r e n P a s s a g e In d e n A u s f ü h r u n g e n über d e n „ F e u d a l i s m u s " der „ttöXi?" vorgenommen.51 4. „Das römische Altertum bis zum Ende der Republik" s o w i e 5. „Die Entwickelung in der Kaiserzeit". G a n z Im G e g e n s a t z z u m G r i e c h e n l a n d teil hat W e b e r die b e i d e n A b s c h n i t t e über Rom aus der ersten F a s s u n g

46 47 48 49 50 51

Vgl. Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 13 (9). Vgl. unten, S. 197f. Damit erhielt er nahezu die Länge der beiden Abschnitte über Rom. Bücheler/Zltelmann, Recht von Gortyn; Guiraud, Propriété foncière. Vgl. die häufigen Belege in den Anmerkungen S. 1 7 1 - 1 9 6 . Vgl. unten, S. 182.

138

Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

v o n 1897 o h n e i r g e n d e i n e Ä n d e r u n g in die zweite F a s s u n g d e s Artikels ü b e r n o m m e n . 5 2 Dies d ü r f t e wohl z e i g e n , wie sicher er s i c h seiner d i e s b e z ü g l i c h e n D a r l e g u n g e n war, die in n a h e z u allen w e s e n t l i c h e n a l l g e m e i neren wie D e t a i l f r a g e n u n m i t t e l b a r d e n E r g e b n i s s e n seiner „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " f o l g t e n . D o c h ist a u c h eine g e w i s s e A n z a h l v o n Unters c h i e d e n z w i s c h e n ihr u n d d e m H a n d w ö r t e r b u c h a r t i k e l nicht zu ü b e r s e hen. So schließt dieser r ö m i s c h e Teil sich mit s e i n e m d e u t l i c h e r am c h r o n o l o g i s c h e n Verlauf orientierten A u f b a u im Prinzip an die B e h a n d lung Roms In der V o r l e s u n g an, v o n deren e r h a l t e n e n K o n z e p t e n s i c h der größere Teil, i n s g e s a m t 13 Seiten, ausschließlich auf Rom b e z i e h t . 5 3 Inhaltlich wird in d e m der republikanischen E p o c h e g e l t e n d e n Teil die ältere Zelt der p a t r i z i s c h e n H e r r s c h a f t d e u t l i c h e r a b g e h o b e n g e g e n die folg e n d e E x p a n s i o n s z e i t mit d e m A u f s t i e g der Plebs u n d der d a m i t H a n d in H a n d g e h e n d e n R e v o l u t i o n i e r u n g d e s B o d e n r e c h t s d u r c h die Beseitig u n g der g e m e i n w i r t s c h a f t l i c h e n Elemente u n d die M o b i l i s i e r u n g d e s B o d e n b e s i t z e s bis hin zur A u s b i l d u n g eines a u s g e s p r o c h e n e n agraris c h e n K a p i t a l i s m u s u n d z u m Sieg der S k l a v e n a r b e i t . Erst d a n a c h folgt die B e s p r e c h u n g der f e l d m e s s e r i s c h e n Formen u n d ihrer Z u s a m m e n h ä n g e mit d e m B o d e n r e c h t im Sinne d e s E i n g a n g s k a p i t e l s d e r „Römis c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " . Die in der A g r a r g e s c h i c h t e erst im S c h l u ß k a p i tel b e h a n d e l t e .Betriebsweise' der r ö m i s c h e n L a n d w i r t s c h a f t führt hier s c h o n im A b s c h n i t t über die r e p u b l i k a n i s c h e Zeit Roms zu d e n .Sklavenkasernen', w ä h r e n d In d e m Teil über die Kaiserzeit der mit der Verlagerung der E n t w i c k l u n g s s c h w e r p u n k t e ins B i n n e n l a n d v e r b u n d e n e Rückg a n g d e s S t ä d t e w e s e n s wie a u c h der Sklaverei, die H e r a u s b i l d u n g v o n Kolonat, der A u t a r k i e d e s ,Oikos' u n d der . G r u n d h e r r s c h a f t e n ' s o w i e die A u s b r e i t u n g der N a t u r a l w i r t s c h a f t g e s c h i l d e r t wird, w o b e i s i c h Insb e s o n d e r e In d e n bis zu Karl d.Gr. a u s g r e i f e n d e n S c h l u ß p a s s a g e n eine A n z a h l von g e g e n ü b e r der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " n e u e n Ü b e r l e g u n g e n findet. Im e i n z e l n e n b e g e g n e n z.B. keine Vergleiche m e h r mit d e m d e u t s c h e n G e w a n n h u f e n s y s t e m , 5 4 u n d w ä h r e n d a u c h die für die „ R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e " c h a r a k t e r i s t i s c h e n V e r g l e i c h e mit der neuz e l t l i c h e n A g r a r e n t w i c k l u n g w e i t g e h e n d w e g f a l l e n , fehlt es nicht an

52 Zu den von der Redaktion des Handwörterbuchs vorgenommenen orthographischen Änderungen vgl. unten, S. 139, Anm. 59. 53 Weber, Allgemeine („theoretische") Nationalökonomie, M 85, 86, 9 0 - 9 2 , 92R, 93, 93R, 9 4 - 9 6 , 96R, 97R. 54 Dies bedeutet nicht, daß alle Vergleiche mit germanischen Verhältnissen wegfielen oder gar grundsätzlich anfängliche gemeinwirtschaftliche Zustände und Fehlen des vollen Privateigentums von Weber bezweifelt würden; vgl. z.B. unten, S. 610 und 622 sowie die Bandeinleitung, oben, S. 22 und 36, Anm. 48.

Editorischer

139

Bericht

V e r g l e i c h e n mit der E n t w i c k l u n g in G r i e c h e n l a n d . 5 5 D a r ü b e r hinaus e r s c h e i n e n a u c h hier (wie bereits in d e n „Sozialen G r ü n d e n " sowie in d e n V o r l e s u n g s n o t i z e n ) e i n i g e für Weber w i c h t i g e b e g r i f f l i c h e K a t e g o r i e n wie „ B i n n e n l a n d " u n d „ F e u d a l i s m u s " , die die „ R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e " n o c h nicht kannte. 5 6 6. „Zur Litteratur". An d e n Schluß des H a n d w ö r t e r b u c h a r t i k e l s hat Weber e n t s p r e c h e n d d e n G e p f l o g e n h e i t e n d e s H a n d w ö r t e r b u c h s einen kurzen z u s a m m e n f a s s e n d e n A b s c h n i t t über die m o d e r n e Literatur gestellt, 5 7 d e n er für die zweite F a s s u n g von 1898 neu formuliert hat, 5 8 w a s s c h o n d u r c h die B e r ü c k s i c h t i g u n g d e s Alten Orients u n d d a s bereits 1893 e r s c h i e n e n e , a b e r erst in der z w e i t e n F a s s u n g h e r a n g e z o g e n e B u c h v o n G u i r a u d sowie d a s erst 1897 publizierte Werk von Brugi naheg e l e g t w u r d e , w o b e i letzteres freilich keinen e r k e n n b a r e n Einfluß auf Webers Text hatte.

II. Zur Überlieferung

und Edition

W e d e r von der ersten n o c h von der z w e i t e n F a s s u n g d e s Handwört e r b u c h a r t i k e l s ist ein M a n u s k r i p t W e b e r s erhalten. Die Edition folgt der D r u c k w i e d e r g a b e d e s Artikels „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e im A l t e r t u m " , in: H a n d w ö r t e r b u c h der S t a a t s w i s s e n s c h a f t e n , hg. v o n J o h a n n e s E. C o n r a d , L u d w i g Elster, W i l h e l m Lexis u n d E d g a r Loening, 2. S u p p l e m e n t b a n d : Agrarv e r h ä l t n i s s e im A l t e r t u m - Z i n s f u ß im Mittelalter. - Jena: G u s t a v Fischer 1897, S. 1 - 1 8 (A) sowie d e s ersten A b s c h n i t t s „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e im A l t e r t u m " d e s d r e i t e i l i g e n Artikels „ A g r a r g e s c h i c h t e " , in: H a n d w ö r t e r b u c h der S t a a t s w i s s e n s c h a f t e n , B a n d 1: A b b a u - A r m e n w e s e n , 2., g ä n z lich u m g e a r b e i t e t e A u f l a g e . - J e n a : G u s t a v Fischer 1898, S . 5 7 - 8 5 (B). Als edierter Text wird die s p ä t e r e F a s s u n g (B) z u g r u n d e g e l e g t ; die w e i c h u n g e n g e g e n ü b e r der ersten F a s s u n g w e r d e n im t e x t k r i t i s c h e n parat d o k u m e n t i e r t . 5 9 Die dritte F a s s u n g der „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e " 1908/09 w i r d w e g e n ihres außerordentlich stark e r w e i t e r t e n U m f a n g s der t i e f g r e i f e n d e n inhaltlichen V e r ä n d e r u n g e n g e s o n d e r t e d i e r t . 6 0 55 Vgl. unten, z.B. S. 199f. und 215. 56 Vgl. unten, z.B. S. 177f. und 198; 147-149. 57 Vgl. unten, S.225f. 58 Ebd. 59 Mehrere systematische orthographische Änderungen in B gegenüber besondere Streichung des h in allen Wortbildungen mit „Fron-", z und k statt c chen Fremdwörtern, „andrerseits" statt „andererseits") sind offensichtlich von daktion des Handwörterbuchs vorgenommen worden. 60 Vgl. unten, S. 3 2 0 - 7 4 7 , sowie zu den Veränderungen insbesondere den schen Bericht, unten, S. 306-312.

AbApvon und Die

A (insin mander ReEditori-

140

Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

F a s s u n g A ist (mit A u s n a h m e der in A n t i q u a e r s c h e i n e n d e n l a t e i n i s c h e n Begriffe) in einer Frakturschrift ohne Ä, Ö und Ü, die F a s s u n g B in einer A n t i q u a s c h r i f t o h n e Ä, Ö, Ü und ß g e d r u c k t . E n t s p r e c h e n d d e n Editionsregeln der M W G w u r d e n Ae, Oe u n d Ue u n d ss s t i l l s c h w e i g e n d ersetzt. Die Seiten d e s H a n d w ö r t e r b u c h s sind z w e i s p a l t i g g e s e t z t u n d seitenweise d u r c h g e z ä h l t . Der Seiten- und S p a l t e n w e c h s e l wird d o k u m e n t i e r t , im Text d u r c h einen s e n k r e c h t e n Strich u n d a m S e i t e n r a n d d u r c h d e n Hinweis A 0 0 l[inke] o d e r A 00 r [ e c h t e ] Spalte. Was speziell die z u m a l in d e n älteren E p o c h e n u n s i c h e r e C h r o n o l o g i e Ä g y p t e n s betrifft, so f o l g t e W e b e r d a b e i , soweit erkennbar, d e n A n g a b e n in d e m 1885 e r s c h i e n e n e n Werk v o n Erman, Ä g y p t e n , B a n d 1. In d e n E r l ä u t e r u n g e n w i r d nur darauf B e z u g g e n o m m e n , d o c h ist für die Chronologie Ä g y p t e n s bei W e b e r sowie z u m h e u t i g e n K e n n t n i s s t a n d d a r ü b e r hinaus a u c h auf d e n E d i t o r i s c h e n Bericht zur dritten F a s s u n g zu verweisen. 6 1 Bei d e n b e i d e n A b s c h n i t t e n über Rom e r g i b t sich d a s Problem, daß d i e s e g a n z ü b e r w i e g e n d auf W e b e r s e i g e n e n D e t a i l f o r s c h u n g e n in der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " b e r u h e n u n d W e b e r sich insoweit s t ä n d i g implizit auf die d o r t d a r g e l e g t e n B e g r ü n d u n g e n u n d B e l e g e bezieht. Von l a u f e n d e n Verweisen auf die a u s f ü h r l i c h e D a r s t e l l u n g in d e n entsprec h e n d e n P a s s a g e n der „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " mußte allerdings s c h o n mit R ü c k s i c h t auf die in d e n Editionsregeln f e s t g e l e g t e n A u f g a b e n d e s E r l ä u t e r u n g s a p p a r a t e s a b g e s e h e n w e r d e n . Im Zweifelsfall wird m a n sich j e d o c h relativ leicht in M W G I/2, g e g e b e n e n f a l l s mithilfe d e s dortig e n S a c h r e g i s t e r s , orientieren können. Die Erklärung aller v o n W e b e r g e r a d e in d i e s e n Teilen v i e l f a c h v e r w e n d e t e n a g r a r g e s c h i c h t l i c h e n , r ö m i s c h r e c h t l i c h e n u n d g r o m a t i s c h e n S p e z i a l b e g r i f f e erfolgt im Glossar. In d e n Literaturhinweisen w u r d e n l e d i g l i c h irrtümliche F o r m u l i e r u n g e n bei T i t e l a n g a b e n im t e x t k r i t i s c h e n A p p a r a t b e r i c h t i g t ; d i e v o l l s t ä n d i g e n Titel k ö n n e n , a u c h w o W e b e r sich mit einer V e r f a s s e r a n g a b e b e g n ü g t , d e m Verzeichnis der v o n ihm zitierten Literatur e n t n o m m e n w e r d e n . 6 2 B e s o n d e r e Parallelen zu W e b e r s S t i c h w o r t n o t i z e n aus seiner nationalö k o n o m i s c h e n H a u p t v o r l e s u n g w e r d e n n a c h g e w i e s e n . 6 3 Bei Zitaten aus R e c h t s q u e l l e n wie d e m Z w ö l f t a f e l g e s e t z , d e m SC d e T h i s b e n s i b u s , der lex a g r a r i a u.ä. erfolgt der N a c h w e i s g g f . d u r c h die v o n W e b e r bereits für die „ R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e " h e r a n g e z o g e n e S a m m l u n g von Bruns, Fontes, 5. A u f l a g e . 6 4

61 62 63 64

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

unten, S.315f. unten, S. 8 4 1 - 8 7 8 . oben, S. 1 3 2 - 1 3 7 . außerdem unten, S.738.

Anhang zum Editorischen

Bericht

Abschließend ist noch zu erwähnen, daß sich unter den zahlreichen erhaltenen Exzerpten von Max Weber auch Auszüge zur griechischen Wirtschaftsgeschichte aus d e m 1893 erschienen zweiten Band von Eduard Meyers „Geschichte des Altertums" finden. Sie umfassen etwas über 5 Seiten auf 3 Blättern, sind lediglich mit „Griechen" überschrieben und weisen zahlreiche, teils wörtliche Übereinstimmungen mit d e m Text der ersten (und zweiten) Fassung der „Agrarverhältnisse" auf. 65 In w e l c h e m genauen Verhältnis diese Aufzeichnungen zu d e m Entstehungsprozeß des Artikels stehen, ist allerdings nicht feststellbar, zumal an vier Stellen der Exzerpte (272, 272 R, 274 [zwei Mal]) längere Durchstreichungen erscheinen. Mit Sicherheit läßt sich nur sagen, daß sie der ersten Fassung der „Agrarverhältnisse" vorausgegangen sein müssen. Zu Textgestaltung und Verständnis tragen die Exzerpte kaum Konkretes bei, weshalb auf einen detaillierten Vergleich verzichtet werden kann. Zur Veranschaulichung des Charakters der Exzerpte und ihrer Parallelen zum gedruckten Text der „Agrarverhältnisse" ist jedoch unten, S. 142f., die erste Seite (zur ältesten Geschichte Griechenlands) in Faksimile mit Transkription wiedergegeben. Die zugrundeliegenden Passagen finden sich in diesem Fall bei Meyer, Geschichte des Altertums 2, S. 79f., 8 6 - 9 0 , 1 6 8 - 1 7 0 , 173, 217, 219, 224 und 2 9 1 - 2 9 7 ; für die Verwendung in den ersten beiden Fassungen der „Agrarverhältnisse" vgl. unten, S. 1 7 0 - 1 7 2 , 1 7 5 177, 181 (mit Anm. r) und 184 (für die Fortwirkung in der 3. Fassung: ebd., S.456f., 459f., 462f., 4 6 6 - 4 6 8 , 473, 481 und 483f.). Als weiteres handschriftliches Beispiel aus den Vorstufen des Handwörterbuchartikels ist das unten, S. 144f., w i e d e r g e g e b e n e Blatt aus Webers Aufzeichnungen zu seiner nationalökonomischen Hauptvorlesung bereits genannt worden (oben, S.136f.).

65 G S t A PK, VI. HA, Nl. M a x Weber, Nr. 31, B a n d 2, Bl. 2 7 2 - 2 7 4 R . U r s p r ü n g l i c h e R e i h e n f o l g e d e r Blätter mit A n g a b e der j e w e i l s e r s t e n u n d letzten e x z e r p i e r t e n Seite v o n Meyer, G e s c h i c h t e d e s A l t e r t u m s 2, in K l a m m e r n : 2 7 2 ( 7 9 - 2 9 7 ; u n t e n , S. 1 4 2 f . ) ; 272R ( 2 9 9 - 3 3 1 ) ; 2 7 4 ( 3 3 2 - 5 4 8 ) ; 2 7 4 R ( 5 4 9 - 6 3 1 ) ; 273 ( 6 5 1 - 6 9 9 , d a z w i s c h e n 7 7 3 774); 273R (804; d a z u u n t e n , S. 190, A n m . 87).

142

Agrarverhältnisse

^ v i

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im Altertum

\

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(1. und 2. Fassung)

'

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4

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v

V

^

~

w.'//

-

^

v-v.

Exzerpte Max Webers aus Meyer, Eduard, Geschichte des Alterthums, Band 2,1. Auflage, 1893, S. 79-297 (GStA PK, VI. H A , Nl. Max Weber, Nr. 31, Band 2, Bl. 272)

Anhang zum Editorischen Bericht

143

Griechen (Nomadentum - Hirtengötter - Milch - Käse - Fleisch als Nahrung. - Herdenbesitz - Unfreie. Ökonomfische] und, rechts[etzend], religiöse Einheit die Phratrie, diese direkt über der Familie Gens nur bfeim] Adel. Hier die großen Hausgemeinschaften, im Interesse der Zusammenhaltung des Besitzes Darüber dann nur noch die Phyle, Unterteil des Stammes, - militärischen] Charakters) Die Phyle entscheidet in Sparta über Aufnahme des Kindes Ev[entuell] Adoption unter ihrer Zustimmung Evjentuell] müssen Nachkommen d[urch] Verwandte, die Erbtochter heirathen, erzeugt werden. Hausfreund, formelles amtliches Instit[ut] Spartanisches] R[echt] kennt keinen Ehebruch Mykene. Königsburgen mit (Pala[st]) umgelagerten (befestigten) Dörfern V.nicht ganz im Mauerring:l, so mit seinem Kuppelgrab. Offenbar scharfer Feudalismus, Frohnpflicht Militärische] Technik: Wagenlenker - Militärstraßen Beruhen auf Goldschätzen, Berührung mit dem Orient, Handel. Colonien beginnen in mykenischer Culturepoche. Cypern^ Aeg[ypten]. Hellenfische] Cfolonien] ylc/cerbaucolfonien]. - G[e]g[en]satz g[e]g[en] Phönikier Nach Meyer im „griechischen M[ittel]-A[lter]" Nachwirkung der ö//griech[ischen] Vollfreien-Gemeinde. Das mykenische Frohnkönigtum zerfällt. (Grund? - Zerfall des Handels?) Loslösung v[om] Orient. Seßhaftigkeit. Griechische] Siedlung: ursprünglich] Dörfer. Städte später d[urch] Zusammenfassung einzelner Dörfer. Über den Samtgemeinden / Sparta, Mykene, Vorland / Mauerringe auf Berggipfeln (Gegensatz g[e]g[en] Mykene pp.), keine Herrensitze. Landumteilung oder Zuteilung nach M[eyer] Sparta: nach Ertrag ca. 30 Morgen die Hufe, + 4 Morgen f[ür] Weib.

Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

•Z.

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/

. / S » . s a a n u H r n m i a T O »

V

Manuskriptblatt Max Webers zur Vorlesung „Allgemeine (,theoretische') Nationalökonomie" (Deponat Max Weber, BSB München, Ana 446, OM 3, Bl. 84)

Anhang zum Editorischen Bericht 2. Entwicklung und Zersetzung der hellen[ischen]

145

Stadtstaaten.

Urzeit der Hellenen uns unbekannt. - (H) Homer schildert späte Zustände Jedenfalls: aus Nomaden entwickelt. Milch-, Käse-, Fleisch-Consum Vermutl[ich] patriarchalisch] regierte Bauernschaften, a) Erste (vorgeschichtl[iche]) Periode: mykenisches Zeitalter. Einflüsse Ägyptens u[nd] Vorderasiens, von der See her. Charakteristikum: Feudalismus: Technik des Wagerckampfes (aus Asien, Hellas nicht geeignet) Burgen, Räume (beengt) klein, - tio/Uc; die Burg Könige mit Gefolge von ßeru/ikriegern. ßawtechnik gewaltig. Frohnleistungen des platten Landes Ebenso sicher Sustentation d[urch] Dienste u[nd] Abgaben. Die Macht der herrschenden Schicht beruht auf Beteiligung am TauschbsmdzX mit dem Orient: die Könige Eigenhändler (Kyrene) Zuerst faMi'vhandel dann: Ate'vhfandel] - Seereise - Colonisation. Export von Frohnprodukten (Schmied, Töpfer) Unbekannt noch die Münze. Sank mit der Lockerung der Orientbeziehungen Schwinden des Wagenkampfes Einwanderung von Bergstämmen

A 1 I [B 57 r]

Agrarverhältnisse 3 im Altertum. 1. Vorbemerkungen. b2. Der Orient^ a) Ägypten, b) der asiatische Orient. 0 3.° Das hellenische Altertum. 4.d Das römische Altertum bis zum Ende der Republik. 5.e Die Entwickelung in der Kaiserzeit.

1. Vorbemerkungen.1

5

B 581 Den Siedelungen des Occidents ist im Gegensatz zu denjenigen der ostasiatischenf Kulturvölker gemeinsam, daß bei jenen der Übergang zur Seßhaftigkeit ein Übergang von der nomadisierenden Viehzucht, bei diesen von nomadisierendem Ackerbau zum seßhaften Ackerbau ist. Der Gegensatz ist ein relativer insofern, als es 10 weder eine nur viehzüchtende Kultur ohne allen Ackerbau, noch Ackerbau ohne alle Viehhaltung in historischer Zeit in einem kulturgeschichtlich ins Gewicht fallenden Umfange je gegeben hat. Aber so wie er geschichtlich bestanden hat, ist seine Tragweite groß genug. Er hat die Konsequenz, daß der Ausgangspunkt der Boden- 15 appropriation bei den occidentalen Völkern in der Ausscheidung und ausschließlichen Zuweisung von Weiderevieren auf dem von einer Gemeinschaft okkupierten Gebiet an kleinere Gemeinschaften liegt, bei den Asiaten dagegen dieser9 Ausgangspunkt und damit alle daraufh beruhenden Erscheinungen primitiver Flurgemein- 20 schaft, z. B. der occidentale Begriff von Mark und Allmende, 2 fehlen. Die Flurgemeinschaftselemente in den orientalischen Dorfverfassungen zeigen daher, soweit sie nicht überhaupt modernen Ursprungs, z.B. aus der Steuerverfassung hervorgegangen sind',3 ein

a In A geht voran: I. keine Hervorhebung,

b Fehlt In A. c A: 2. d A: 3. e A: 4. f A: a s i a t i s c h e n h In A keine Hervorhebung, i In A folgt: ( w i e auf Java)

g In A

1 Vgl. d a z u d e n E d i t o r i s c h e n Bericht, o b e n , S. 1 3 3 - 1 3 5 . 2 G e m e i n t s i n d die g e n o s s e n s c h a f t l i c h verfaßte D o r f m a r k s o w i e d a s v o n d e n M a r k g e nossen gemeinsam genutzte Weideland. 3 W e b e r hat hier d e n in d e r ersten F a s s u n g e n t h a l t e n e n H i n w e l s auf J a v a g e s t r i c h e n (vgl. die t e x t k r i t i s c h e A n m . i). Der in s e i n e m „ V o r l e s u n g s - G r u n d r i ß " , S. 12 (8), a n g e führte Laveleye, U r e i g e n t h u m , b e t r a c h t e t e in seiner a u s f ü h r l i c h e n D a r s t e l l u n g der jav a n i s c h e n Verhältnisse ( e b d . , S. 4 5 - 5 9 ) u n g e a c h t e t e i n i g e r s p ä t e r e r Eingriffe d e n dort i g e n G e m e i n s c h a f t s b e s i t z k e i n e s w e g s als .modern' ( e b d . , S. 58).

1.

5

10

15

20

25

30

Vorbemerkungen

147

von den europäischen ganz abweichendes Gepräge. Und der gleiche Gegensatz trägt noch weiter. Auch der Individualismus des Herdenbesitzes mit seiner scharfen ökonomischen und sozialen Differenzierung, - k im Occident der primitive Ausgangspunkt 'des Feudalismus - fehlt' den asiatischen | Kulturvölkern. Bei den Occiden- A 1 r talen dagegen - m nicht nur m in Europa - können wir auf diese Ausgangspunkte der Entwickelung überall zurückgreifen. Überall ist hier - so viel wir urteilen können - der seßhafte Ackerbau unter dem Druck der Verengung des Nahrungsspielraums entstanden durch zunehmende Verschiebung des Schwerpunkts der Ernährung von dem Ertrage der Viehhaltung auf den Ertrag der Felder. Der Hergang der Ansiedelung ist dabei naturgemäß stark differenziert. Er vollzieht sich in anderen Formen, wenn der Übergang von der ambulanten Weidewirtschaft zur Seßhaftigkeit innerhalb sozial wenig differenzierter kleiner Gruppen allmählich und unmerklich unter Erhaltung der patriarchalischen Clan-Organisationen vor sich geht - wie in Irland -[,] als wenn er bei starker Vermögensdifferenzierung ein Produkt eines Interessenkampfes der Besitzlosen gegen die Herdenpatriarchen - der erste A k t der Emanzipation der Arbeit vom Besitz - ist, die Siedelung also von freien Genossen vollzogen wird - wie anscheinend in Deutschland. 4 - Für die Weiterentwickelung ist dann die Art der Herausbildung des Feudalismus entscheidend, d. h. derjenigen Entwickelungsstufe, auf welcher bei vollzogener fester Siedelung die Masse der Bevölkerung durch die Notwendigkeit intensiverer Arbeit an den Boden gefesselt und | für militä- B 58 r rische Zwecke ökonomisch nicht mehr disponibel ist, so daß aus den oberen Besitzerschichten n im Wege der Arbeitsteilung eine Berufskriegerschaft0 sich herausdifferenziert, welche nun die wehrlose Masse für ihre Sustentation ausbeutet. Die Entwickelung der militärischen Technik zu einer nur berufsmäßig zu betreibenden, weil ständige Ausbildung und Übung voraussetzenden Kunst p geht damit teils als Begleiterscheinung, teils als mitwirkende Ursache par-

j Gedankenstrich fehlt in A. k Gedankenstrich fehlt In A. I A: alles Feudalismus, fehlt m A: mindestens n A, B: Besitzesschichten o In A keine Hervorhebung, p A: Kunst, 4 A n s p i e l u n g auf eine Hauptthese von Webers Lehrer August Meitzen.

148

Agrarverhältnisse

im Altertum

(1. und 2.

Fassung)

l allel. Die Ostasiaten 5 und die altameri|kanische Kultur 6 scheinen den Feudalismus in diesem Sinne - nicht ausschließlich, aber in der Hauptsache - als Gruppen- und Kastenfeudalismus gekannt zu haben: eine fest geschlossene, organisierte Kriegerschaft, meist lokal vereinigt, oft in befestigten q Orten wohnend und q naturalwirtschaftlich sustentiert von der als Staatssklaven oder -hörige behandelten Bevölkerung des beherrschten Gebietes. rAuch der ägyptische und asiatische Orient ist in seiner ganzen Entwickelung durch das Überwuchern eines ungeheuren „Oikos", der naturalwirtschaftlichen Staatswirtschaft des Pharao und Großkönigs, beherrscht/ Im mittelländischen® Occident ist die Dislokation dieser herrschenden Klasse als Grundherren über das Land hin diejenige weitaus individualistischere Form des Feudalismus, welche uns im Mittelalter und schon im Ausgang des Altertums ökonomisch scharf analysierbar entgegentritt. Dagegen 1 das mittelländische Altertum hat in der Frühzeit seiner Kulturentwickelung den Stadtfeudalismus zusammengesiedelter Berufskrieger, wennschon in wesentlich kleinerem Maßstabe ü und auf andersartiger Grundlage" als der Orient, gekannt. Der Gegensatz vzwischen dem Feudalismus im hellenischen und demjenigen im christlich-occidentalen „Mittelalter" 1 ' ist offenbar™ bedingt durch den Weg, auf welchem der Feudalismus, der in Mykene und Tiryns ebenso von außen importiert warx, wie in Deutschland, die Küstengebiete Südeuropas einerseits, das mitteleuropäische Binnenland andrerseits y erreicht hat. Der Import einer fremden und überlegenen militärischen Technik vollzog sich in Südeuropa auf dem Seewege und unter gleichzeitiger Verflechtung der zuerst ergriffenen Küstenorte in einen immerhin wenigstens seiner geographischen Ausdehnung nach sehr umfassenden Verkehr. Die feudale herrschende Klasse ist zuerst zugleich diejenige, welche jenen Verkehr zu monopolisieren 2 weiß. r - r Fehlt in A. s Fehlt in A. q A: O r t e n , w o h n e n d u n d B: O r t e n , w o h n e n d , u n d t A: A b e r u Fehlt in A. v - v Fehlt In A. w A: wohl x A: ist y A: a n d e r e r s e i t s z B: m o n o p o l i s i r e n 5 In Webers „Vorlesungs-Grundriß", S. 12 (8), wird In diesem Zusammenhang Rathgen, Japans Volkswirtschaft, genannt (S. XI, 2 0 - 2 2 (Vergleich mit dem Frankenreich), 24f.). 6 Dafür verweist Weber, ebd., auf Cunow, Inkareich (wo der Begriff des Feudalismus nicht verwendet wird).

1. Vorbemerkungen

5

10

15

20

25

30

149

Es beginnt deshalb die feudale Entwickelung mit der Bildung feudaler Stadtstaaten. Zentrale.uropa3, zumal Deutschland, wurde auf dem Landwege von der antiken Kulturent|Wickelung ergriffen. Als B 59 l es zum Feudalismus reif wurde, fehlte ihm der Verkehr. Deshalb baute sich hier der Feudalismus auf agrarisch-naturalwirtschaftlicher Unterlage auf und erzeugte die Grundherrschaft. -b Der Übergang aus jenem antiken Stadtfeudalismus zur lokalen und interlokalen Ver&e/irswirtschaft0 ist, zufolge des Anschwellens des Sklavenunterbaues der antiken d Gesellschaft, in d der Ent wik kelung stecken geblieben. Er e ist 'ferner, ebenf wegen dieser steigenden Bedeutung der unfreien 9 Arbeit, dem Wesen nach 9 eineh andersartige Erscheinung, als das unter äußerlich ähnlichen Begleiterscheinungen sich vollziehende Emporwachsen des freien Gewerbes in den mittelalterlichen Städten, der Niedergang der Geschlechterherrschaft, der Kampf zwischen Stadtwirtschaft und Grundherrschaft und die Zersetzung der Grundherrschaft durch die Geldwirtschaft im Mittelalter und der Neuzeit. Wir sind deshalb | in der Analyse der sozialen Entwickelung des Altertums in A 2 r einer sehr üblen Lage. Die Analogien mit mittelalterlichen und modernen Erscheinungen, scheinbar7 auf Schritt und Tritt vorhanden, sind eben wegen jener ganz andersartigen Unterlagen gänzlich unverläßlich und oft deshalb direkt schädlich für die unbefangene Erkenntnis. Und während für die ökonomische Deutung der antiken gewerblichen Entwickelung die Sprache der Quellen immerhin einigermaßen ausreicht, ist die agrarische Seite derselben in um so größere Finsternis gehüllt. Wir haben durchaus keine wirkliche Anschauung von der Art und dem Maße der Bedeutung des Verkehrs für das platte Land. Für die der Münzen entbehrende Frühzeit vollends, für die wir bei ihren achtunggebietenden technisehen Leistungen 8 immerhin eine ziemlich umfassende arbeitsteili-

a A: Centrah uropa d A: Gesellschaft in ganz

b Gedankenstrich fehlt in A. c In A keine Hervorhebung, e A: Es f A: aber auch schon g A: Arbeit an sich h In A folgt:

7 Dies ist vor allem gegen Meyer, Wirtschaftliche Entwickelung, bes. S. 7 1 1 - 7 1 3 , 716, gerichtet (ähnlich ders., Sklaverei im Altertum, S. 2 2 - 2 4 ) . 8 Gedacht Ist etwa an die Pyramiden des Alten Reiches In Ägypten oder die mykenlschen Burgbauten.

150

Agrarverhältnisse im Altertum (1. und 2. Fassung)

ge Organisation der Bedarfsdeckung voraussetzen müssen, ist uns die agrarische Unterlage in letzter Linie ebenso undurchsichtig im mittelländischen wie im semitischen und ägyptischen Altertum. Auf den Voraussetzungen dieser Frühzeit aber beruht zum mindesten auf hellenischem Boden offenbar die spätere Entwickelung 5 der Küstenkultur, während die römische Binnenkulturentwickelung wenigstens in Zustände ausläuft, die wir zu interpretieren in der Lage sind. 'Die nachfolgende Skizze ist in der üblen Lage, aus Rücksicht des Raumes alle Quellenbelege unterdrücken zu müssen, ganz abgese- 10 hen davon, daß sie sich mit den allgemeinsten Andeutungen begnügen und deshalb die Gefahr in den Kauf nehmen muß, daß der allzu knappe Ausdruck hie und da unverständlich oder, was schlimmer wäre, mißverständlich bleibt.' | B 59 r

a

2. D e r O r i e n t .

15

a) Ägypten,9 Die ägyptischen Quellen, soweit sie dem Nichtfachmann zugänglich sind, lassen einzelne Entwickelungszüge mit großer Deutlichkeit, daneben aber nur ein für die ökonomische Betrachtung vorerst noch nicht zu entwirrendes technisches und kulturhistorisches Detail hervortreten. - Be- und Entwässerungsanla- 20 gen, Kanäle, Wasserhebevorrichtungen sind die grundlegenden Institutionen eines Wirtschaftsbetriebes, der vollständig an die Bewegungen und Regulierungen des Nilwasserstandes festgeklammert ist und deshalb von Anfang an in starkem Maße gemeinwirtschaftlich beeinflußt gewesen sein muß. Die uralte Gaueinteilung des 25 Landes hat sicherlich mit ökonomischen Institutionen im Interesse der Produktion ebenso zusammengehangen, wie die in der spätei - i A: Beruht die Möglichkeit, in der ökonomischen Deutung der antiken Geschichte fortzuschreiten, auf der Innehaltung der richtigen Mitte zwischen der „Kunst des Nichtwissens" und dem „Mute zu irren", so wird die erste mehr auf griechischem, der letzte mehr auf römischem Boden zur Anwendung zu kommen haben. - Die nachfolgende Skizze muß sich mit den allgemeinsten Andeutungen begnügen, a - a (S. 1 6 9 ) Fehlt in A. 9 Eine H a u p t g r u n d l a g e W e b e r s für d e n Ä g y p t e n - A b s c h n i t t e i n s c h l i e ß l i c h d e r C h r o n o l o g i e b i l d e t E r m a n , Ä g y p t e n 1 - 2 , w o s i c h a u c h d i e n ä h e r e n B e l e g e f i n d e n . In d e n E r l ä u t e r u n g e n k a n n nur auf e i n e n Teil d a v o n v e r w i e s e n w e r d e n . ( B a n d 2, S. 7 2 5 - 7 3 4 , e n t h ä l t ein d e t a i l l i e r t e s S a c h r e g i s t e r . ) Zur F r a g e d e r C h r o n o l o g i e vgl. d e n E d i t o r i s c h e n B e r i c h t , o b e n , S. 140.

2. Der Orient

151

ren Zeit erwähnten öffentlichen Kornhäuser in den Gauhauptstädten 10 wohl ebenso wie die assyrischen Institute gleicher Art neben dem fiskalischen einen teuerungspolitischen Zweck verfolgten. Sehr primitive Ackerinstrumente - Hakenpflug von Ochsen gezogen, Hacken und Hämmer statt der Eggen, Schafe und Schweine zum Eintreten der Saat, die Sichel zum Schneiden, Esel oder Rindvieh zum Austreten 11 - dienten zum Anbau von Gerste, Weizen, Hirse, daneben wurden b Wein, Gemüse und Dattelpalmen, seltener auch Ölbäume, gezogen und aus den Nilsümpfen Lotos-(Nelumbium-)Kerne zum Essen und Papyrus für die verschiedensten technischen Zwecke, vom Schiffsbau 12 bis zum Schreibmaterial, gewonnen. Das Pferd ist vor dem neuen Reich nicht nachweislich und offenbar von Syrien aus importiert, das Kamel erst in der Römerzeit sicher nachweisbar, 13 der Esel wurde als Transporttier gehalten. Rinder, Schafe, Ziegen und verschiedene Antilopen, von Geflügel besonders Gänse gezüchtet und erstere 14 mit Brotteig gemästet. Die Deltamarschen dienten den Herden des Binnenlandes in periodischem Auftrieb im Großen als Fettweide, Marsch- und Sumpfländer kleinen Umfangs müssen auch nilaufwärts zu den einzelnen Gauen gehört haben, 15 da die Viehhaltung nicht unbeträchtlich war. 16 Das Schwein war offenbar von jeher bekannt, bildlich erscheint es in Herden erst im neuen Reich. 17 Nutzholz ist äußerst spärlich, 18 spielt aber auch weder beim Nilschlammziegelbau noch ursprünglich beim Schiffsbau eine entscheidende Rolle. -

b B: wurde 10 Von eigenen Kornmagazinen in jedem kleinen Distrikt des Alten Reiches spricht Erman, Ägypten 1, S. 128. 11 Ausführliche Schilderung dieser Ackerinstrumente bei Erman, Ägypten 2, S . 5 6 9 574. Die Saat pflegte in den „zähen Schlamm" eingedrückt zu werden (ebd., S.571); das Austreten bezieht sich auf das Dreschen (ebd., S. 574). 12 Die Nachen aus Papyrusstengeln beschreibt Erman, ebd., S. 635f. 13 Nach Erman, ebd., S. 652, ist das Kamel nicht „vor der griechischen Zeit" (also der hellenistischen Epoche) nachweisbar. Ebd. wird der Esel als „Transporttier der Wüste" bei den Ägyptern genannt. 14 Gemeint sind die Antilopen, die (ähnlich wie auch die Gänse) gemästet wurden (ebd., S. 586f.). 15 Ebd., S. 583. 16 Ebd., S. 589. 17 Ebd., S. 589. 18 Ebd., Band 1, S.25f.; Band 2, S.589 (u.ö.).

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(1. und 2.

Fassung)

Die sozialen Institutionen empfingen ihr Gepräge durch drei Momente: 1) das Fehlen ernstlicher kriegerischer Bedrohung und Expansionsmöglichkeit, 2) die durch die erwähnte Eigenart der Existenzbedingungen gegebene Notwendigkeit eines früh ziemlich ausgebildeten bureaukratischen Verwaltungsapparats und sehr B 60 l umfassender Heranziehung | der Bevölkerung zu Frondiensten im Interesse der Wasserbauten: der Einzelne ist in erster Linie Staatsfröner, 3) das offenbar hiermit zusammenhängende Fehlen des Ahnenkultes, der Familiennamen oder anderer die Geschlechter als solche zusammenhaltender c [Familien-individualistischer]c Institutionen, wie es durch die gemeinwirtschaftliche Einschnürung gegeben ist. Die Dezentralisation des Verwaltungsapparates im alten Reich 19 entspricht der geringfügigen Entwickelung eigentlich militärischer Institutionen: es bestehen neben den Polizeitruppen der Tempel nur Gaumilizen, die der Gauvorstand zum eventuellen Aufgebot gegen die damals ohnmächtigen Beduinenschwärme verwendet. Die Domänen und Sklaven des Königs, seine Schatz-, Korn-, Viehhäuser und Rüstkammern in sämtlichen Gauen machen das ökonomische Skelett des Staates aus. Die königlichen Gauverwalter (Nomarchen), mit Domänen und Naturaldeputaten aus den königlichen Magazinen, welche von den Allodialeinkünften und -Grundbesitzungen des Beamten rechtlich klar geschieden waren, 20 beliehen, haben sich im „mittleren Reich" (12., 13. Dynastie um die Wende des 3. und 2. Jahrtausends 0 ) 21 in ganz normaler Weise zu einem faktisch erblichen Feudaladel entwickelt. Große, bureaukratisch nach staatlichem Muster mit Schreibern etc. verwaltete Grundherrschaften, aus zahlreichen Dörfern mit tributpflichtigen leibeigenen Bauern und militärisch disziplinierten und in un-

c [ ] in B. S. 416)

d B : Jahrtausend (die Emendation folgt der 3. F a s s u n g d e s Textes, vgl. unten,

1 9 Erman, Ä g y p t e n 1, S. 128: „Die V e r f a s s u n g d e s alten R e i c h e s war e i n e d e c e n t r a l i sierte". Ebd., S. 63, wird d a s Alte R e i c h mit der Zeit der 4 . - 6 . D y n a s t i e g l e i c h g e s e t z t , w o b e i die vierte D y n a s t i e s p ä t e s t e n s 2 8 3 0 v.Chr., die s e c h s t e s p ä t e s t e n s 2 5 3 0 v.Chr. b e g o n n e n hätte. 2 0 D i e s e Trennung wird von Erman, e b d . , S. 138f., h e r v o r g e h o b e n . 2 1 W e b e r stützt s i c h auf die C h r o n o l o g i e von Erman, ebd., S. 63: 12. D y n a s t i e seit c a . 2 1 3 0 v.Chr., 13. D y n a s t i e seit c a . 1930 v.Chr.

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2. Der Orient

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freie Berufe - es finden sich Guts-Zimmerleute, -Tischler, -Töpfer, -Schmiede 22 - geschiedenen Arbeitern, daneben gewaltige, nach Tausenden von Köpfen zählende Heerden 2 3 bilden neben den Tantiemen und Deputaten aus den Tempel- und königlichen Gütern, 5 die sie zu verwalten haben, die Besitzungen des sozial allmächtigen Nomarchenadels. Aus den Gutsspeichern wird das Saatgut ausgegeben, an die Speicher die Ernte bezw. die Ernteanteile abgeliefert, - eigene Wirtschaft mit Sklaven auf dem besten Lande und Ausgabe des schlechteren Landes an leibeigene Bauern gegen Arbeit 10 oder feste Abgaben werden wie in Rom 24 wohl neben einander gestanden haben und sind anscheinend nicht immer klar zu scheiden; die Bauern sind offenbar einfach aus Staatsfrönern grundherrliche Fröner geworden; ob eine Scheidung in leibeigene und persönlich freie Pachtbauern möglich und von praktischer Bedeutung ist, 15 scheint nicht zu entscheiden, jedenfalls sind alle nicht minder unselbständig als die Arbeiter, werden kontrolliert und geprügelt wie diese und unterliegen der sozialen Mißachtung. 25 Wie die privaten werden die Tempel- und die königlichen Güter verwaltet. Den Gefolgsleuten des Königs, die jetzt - vielleicht der Keim des späteren 20 Heeres des neuen | Reiches 26 - als ßera/'ssoldaten auftreten, wer- B 60 r den Gefolgsleute der Vasallen entsprochen haben. Das mit dem Kampf der 18. Dynastie 27 gegen die Fremdherrschaft der „Hirtenkönige" 28 um die Mitte des 2. Jahrtausends® v. Chr. einsetzende neue Reich stand zu dem „mittleren" in einem 25 ähnlichen Verhältnis' wie das Rußland der moskowitischen Großfürsten nach der Befreiung von der Tatarenherrschaft zu dem vore B: Jahrtausend (die Emendation folgt der 3. Fassung des Textes, vgl. unten, S.419) f B: Verhältnis, 2 2 Weber folgt der Aufzählung bei Erman, ebd., S. 140. 2 3 Erman, ebd., erwähnt 3000 Rinder in 25 Jahren als Abgabe eines Nomarchen an den königlichen Hof. 2 4 Vgl. dazu oben, S. 109, sowie unten, S.215f. 2 5 Eine Schilderung dieser Lage der Arbeiter bietet Erman, Ägypten 2, S. 590f. 2 6 Bei Erman, Ägypten 1, S.63, wird das Neue Reich in die Zeit etwa 1530-1030 v. Chr. datiert. 2 7 Die 18. Dynastie wird von Erman, ebd., in die Zeit ca. 1530-1320 v.Chr. datiert. 2 8 Die Hyksos bzw. „Hirtenkönige", wie eine irrtümliche griechische Übersetzung ihres Namens (richtig: „Herrscher der Fremdländer") lautete, waren vorderasiatischer Herkunft und beherrschten Ägypten in der Zeit zwischen Mittlerem und Neuem Reich (so Erman, ebd., S. 69f.) vom Delta aus.

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Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

mongolischen ständisch gegliederten Staatswesen mit dem Mittelpunkt Kiew: 29 die feudalen Gebilde, der Lehnsadel und seine Grundherrschaften sind verschwunden, das gesamte Land scheint rechtlich zur einen Hälfte als Land des Königs zu gelten, zur anderen hat es sich infolge ungeheurer Schenkungen in den Händen der dadurch ökonomisch übermächtigen Tempelpriesterschaften angesammelt, ein Teil des ersteren wird als fiskalische Domäne betrachtet und für den k[öni]gl[ichen] Haushalt bewirtschaftet, aber auch das gesamte übrige Land gilt als vom König an die Bauern gegen 1 /5 des Ertrages verpachtet. 30 Die gesamte Bevölkerung ist jetzt in einer bei der weit größeren Zentralisation höchst fühlbaren Staatssklaverei, der Unterschied der freien Bauern von den Leibeigenen des Königs und der Priesterschaften ist wohl ebenso ein nur quantitativer und funktioneller, wie die Differenz zwischen fiskalischem und nicht fiskalischem Lande. An Stelle der einzelnen Gutsfronhöfe des Nomarchenadels ist der eine ungeheure königliche Oikos getreten, neben welchem nur die Priesterschaften, jetzt der Vogtei der Nomarchen entwachsen, eine ökonomisch konkurrierende, politisch oft überlegene, imposante Organisation darstellen. Die Verwaltung ist jetzt reine Bureauverwaltung mit einem Heer von versetzbaren, zum großen Teil als Leibeigene des Königs geltenden Beamten. Der königliche Oikos deckt seinen (d. h. den Hofhaltsund Staats-)Bedarf naturalwirtschaftlich. Jede der Domänen-,Tempel*, Magazin- und Bauverwaltungen hat ihren Stab von militärisch organisierten Fronarbeitern, denen die Rationen aus den königlichen Vorräten zugewiesen - oder auch, wie die zahlreichen Arbeitseinstellungen wegen Hunger und nicht gelieferter Ration zeigen, unterschlagen werden. 31 (Ob diese Arbeiter als Sklaven galten oder ob sie oder ein Teil von ihnen ursprünglich geworben oder kraft allgemeiner staatlicher Fronpflicht herangezogen wurden und als „frei" galten, 32 ist, bei der Verwischung aller Statusdifferenzen durch den Despotismus, schwerlich feststellbar und praktisch auch 2 9 Die B e f r e i u n g R u ß l a n d s v o n d e n Tartaren erfolgte in der z w e i t e n Hälfte d e s 15. J a h r h u n d e r t s . D a s K i e w e r R e i c h gehört in d i e Zeit v o m s p ä t e n 9. b i s z u m 13. Jahrhundert. 3 0 D i e s e V e r p a c h t u n g erwähnt Erman, Ä g y p t e n 1, S. 152f., unter V e r w e i s auf 1. M o s e 47. 3 1 E i n e a u s f ü h r l i c h e S c h i l d e r u n g findet s i c h bei Erman, e b d . , S. 1 8 2 - 1 8 4 . 3 2 Erman, e b d . , S. 186, s p r i c h t v o n „freien o d e r halbfreien A r b e i t e r n " .

2. Der Orient

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nicht erheblich; Weiber und Kinder haben die Arbeiter, eine sehr breite Bevölkerungsschicht, wie andere, sind auch der Schrift zum Teil kundig.) 33 Die absolute Knechtung des Landes | beruht auf der B 61 i Beseitigung seiner eigenen, ohnehin von jeher unentwickelten Wehrhaftigkeit und auf der überwiegend stammfremden Berufskriegerschaft, auf welche der Pharao seine Herrschaft stützte und welche aus den Erträgen des ungeheuren Oikos und den Fronden und Abgaben des Landes sustentiert wurde. Der Import der asiatischen Kriegstechnik - des Pferdes und Kriegswagens - in der Hyksoszeit 34 hat zur Entstehung dieses zum größten Teile, später wohl ausschließlich, auf Werbung beruhenden Berufsheeres und dazu geführt, daß je länger je mehr nur dem Namen nach der Pharao, welcher die Wagen, Pferde und Ausrüstung aus seinen Magazinen beschafft, der Sache nach diese stammfremden Söldner und die oft ebenfalls stammfremden Leibeigenen des Königs sich mit der Priesterschaft in die Beherrschung des seitdem nie wieder zur Freiheit gelangten Landes teilten. Das wahrscheinlich von Anfang an bestandene Überragen der Gemeinwirtschaft, sodann das Emporwuchern zuerst des Nomarchenfeudalismus, dann der Oikenwirtschaft des Pharao, schränkten den Raum der auf ver&e/zrswirtschaftlicher Arbeitsteilung beruhenden ökonomischen Erscheinungen naturgemäß stark ein. Der Handel nach außen, sowohl nach dem „Gottesland" und „Punt" Arabien und der Somaliküste 35 - wie nach Syrien lag rechtlich und mindestens dem Schwerpunkt nach auch faktisch in der Hand des Pharao selbst und hat zum guten Teil die Form des Geschenktausches zwischen den Staatshäuptern bewahrt, wie die Korrespondenz mit dem König von Babylon in den Funden von Tell-el-Amarna 36 anschaulich macht. Kaufleute kennen die ägyptischen Quellen nicht. Immerhin muß, während Kupfer und Gold im Lande selbst 33 Ebd., S. 184f. 3 4 Zur Datierung vgl. oben, Anm. 28. 3 5 Nach Erman, Ägypten 2, S.667f., entsprach das Gottesland dem Osten, darunter auch dem nördlichen und mittleren Arabien, Punt dagegen u.a. der Somaliküste. 3 6 In Teil el-Amarna, d.h. der Residenz des Pharao Echnaton in Mittelägypten, war 1887 das umfangreiche Archiv der .internationalen' Korrespondenz Amenophis' III. und seines Sohnes Echnaton aus dem 14. Jahrhundert v.Chr. gefunden worden. Bei Winckler, Thontafeln von Tell-el-Amarna, S. VI!—X, werden im Überblick über den Briefwechsel zwischen Ägypten und Babylonien zahlreiche gegenseitige Geschenke erwähnt.

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(1. und 2.

Fassung)

gewonnen wurden, nicht nur das anfangs sehr seltene Silber, sondern auch Zinn und Eisen - letzteres tritt allerdings hinter Bronze als Rohstoff zurück - von Anfang an importiert worden sein, und die Zeit des neuen Reichs weist Import von Schiffen, Wagen, Waffen, Gefäßen, Weihrauch, Brot, Vieh, Fischen aus Syrien und Baby- 5 Ion auf, 37 welchen als Exportartikel namentlich Gold, aber bald auch Linnen, gegenübergestanden haben werden. Neben den Frönern der Oiken sind schon im alten Reich Kundenhandwerker litterarisch erwähnt, neben „Lohnwerkern" im Sinne der BücherschenTerminologie anscheinend auch „Preiswerker" (z.B. die Waf- 10 fenschmiede). Die Weberei, namentlich die Leineweberei, eines der hervorragendsten Gewerbe, gilt dagegen anscheinend als typisch unfreier Beruf 38 und ist wohl aus dem Hausfleiß der Weiber B 61 r direkt in die Hände der Sklaven im Oikos zuerst des | Nomarchenadels, dann des Pharao und der Tempel, gelangt: - es handelte sich 15 eben, da die Masse der Bevölkerung den Lederschurz 39 als Kleidung trug, hier um ein teils dem Luxusbedarf des Hofes und der Beamtenschaft, teils dem zweifellos monopolisierten Export dienendes Produkt. Der private Binnen-Tauschverkehr ist dem Schwerpunkt nach 20 Nahrungsmittel- und Krammarktverkehr: Fische, Gemüse, Sandalen, einfache Schmucksachen sind bildlich beglaubigte Marktartikel. 40 Der Verkehr ist durchweg AfaiwraZ-Tauschverkehr, im neuen Reich fungieren gebogene Kupferdrähte bestimmten Gewichts (Uten) 41 als Wertmesser, in welchem die gegeneinander ausge- 25 tauschten Waren abgeschätzt und gelegentlich der etwa überschießende Wertbetrag der einen Ware über die dagegen eingetauschte - regelmäßig nur dieser, „Kauf" ist keine normale Verkehrsform abgeleistet wird. Das „uten" ist in erster Linie Wertmaß, und als

3 7 Die aus Erman, Ägypten 2, S. 682, übernommene Liste von Importgütern des Neuen Reiches bezieht sich nur auf Syrien, nicht auf Babylonien. 3 8 Ebd., S.594f. 3 9 Als Kleidung der Masse der (männlichen) Bevölkerung diente in Wirklichkeit der Leinenschurz (Erman, Ägypten 1, S. 293). 4 0 Weber fußt auf Erman, Ägypten 2, S. 6 5 4 - 6 5 6 (dort auch Illustrationen). 41 Weber folgt Erman, ebd., S. 657, obwohl bereits Spiegelberg, Lesung des Gewichtes, die Lesung ,uten' in ,deben' berichtigt und dieses als reines Gewicht (91 g) erklärt hatte, womit die Deutung als Kupferdrähte entfiel. Vgl. auch unten, S.432.

2. Der Orient

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solches fungiert es als ideelles, (nicht effektives) Tauschmittel (ähnlich dem Silber-Shekel in Babylon). Dem Naturaltausch von Waren korrespondiert (als primitiver 9 Vorfahr der Fondsbörse) der Naturalrentenverkehr: sowohl zu Stiftungszwecken werden Grund5 stücke an Tempel, z.B. gegen jährliche Lieferung von Dochten für Toten-Gedenkfeiern etc. gegeben, 42 als sich die Umwechslung der Naturaldeputate von Beamten und anderen Berechtigten in andere Naturairenten findet: eine bestimmte Anzahl Tagesrationen, die aus einem Magazin zu empfangen sind, wird z.B. gegen jährliche 10 Lieferung von bestimmten Brot- und Bierquanten und dergl. vertauscht. 43 - Wir durchschauen die ökonomische Tragfähigkeit dieses eigentümlichen, der Münze und des vollentwickelten MetallGeldes überhaupt entbehrenden Tauschmechanismus bisher keineswegs hinlänglich, um ein wirkliches Gesamtbild der ökonomi15 sehen Struktur Ägyptens zu haben, und naturgemäß ist uns das Wirtschaftsleben des platten Landes, der Bauern, in seinen Einzelheiten am meisten unbekannt. b) Was den asiatischen Orient anlangt, so liegt das Material, welches die erstaunlichen Leistungen der Keilschriftforschung zu Tage 20 fördern, bis jetzt noch nicht in einer solchen Verfassung vor, daß derjenige, welcher auf das Studium der übersetzt vorhandenen Texte und im übrigen auf das Schöpfen aus zweiter Hand angewiesen ist, von definitiven Resultaten für die Analyse des Wirtschaftslebens wird sprechen dürfen. Gerade die für die juristische und sozi25 algeschichtliche Betrachtung wichtigsten Texte sind in der Deutung fast durchweg unsicher. - Und bei Verwendung der alttestamentlichen Schriften | ist die Frage, wo die nachexilische „Staatsroman"- B 62 l Produktion 44 aufhört, die thatsächlichen Zustände zu färben, gerade für die charakteristischsten angeblichen Institutionen - man g B: korrespondiert als (primitiver 42 Weber stützt sich für die Dochtlieterungen auf Erman, Zehn Verträge, S. 176f. 43 Die Ausführungen beruhen auf Erman, ebd., S. 171. 44 Staatsroman: Staatsutopie in .romanhafter' Form (vgl. z.B Pöhlmann, Antiker Kommunismus und Sozialismus 2, S. 3 2 - 9 4 ; dort Piatons Atlantiserzählung u.a.). Von Weber hier offenbar allgemein für die nach dem Exil erfolgten Anpassungen der älteren israelitischen Überlieferung an spätere Vorstellungen von einem theokratischen jüdischen Gemeinwesen verwendet (speziell zur „Priesterschrift" vgl. unten, S.555, Anm. 24; außerdem unten, S. 374 mit Anm. 3).

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Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

denke an das Jobeljahr 45 - höchst dunkel. Auch die nachfolgenden notgedrungen kurzen Bemerkungen können nur mit allem Vorbehalt gemacht werden, und von einem Versuche, die historische Wirklichkeit der israelitischen Agrarverhältnisse herauszuschälen, ist hier ganz abgesehen worden. In den mesopotamischen Kulturstaaten ist neben der Aufzucht der sämtlichen Haustiere die Landwirtschaft - besonders in Babylonien - in starkem Maß zur intensiven Gartenkultur entwickelt. Neben dem Getreide erscheinen namentlich die Dattelpalmengärten als regelmäßige Bestandteile aller erheblichen Vermögen und Sesam als ein Hauptbedarfsgegenstand; daneben finden sich in den Urkunden alle denkbaren Gemüse (Hülsenfrüchte, Rüben, Rettig, Gurken, Koloquinten, Zwiebeln, Knoblauch, - dieser ist in ungeheuren Quanten, hundertausende von Maßeinheiten, Gegenstand von Lieferungsgeschäften, - Dill, Lattich, Mangold, Koriander, Safran, Ysop, Thymus, Brombeeren etc.), die namentlich in den königlichen Gärten gezogen wurden. 46 Dagegen fehlt der Wald. Grundlage der Bodenbebauung ist die Bewässerung: mit jeder Neusiedlung ist die Anlage eines Kanals verbunden, der Boden in spezifischem Sinn Arbeitsprodukt die Stelle der relativ individualistischen Rodung im Urwald vertritt hier der notwendig in irgend einer Form gemeinwirtschaftliche Kanalbau. Im letzten Grunde wohl hierin ist das ökonomische Motiv der, ähnlich wie in Ägypten, auch hier übermächtigen Stellung des Königtums zu sehen. Im Kriege erobern die Könige von Babel und Assur, - namentlich diejenigen des letzteren, eines expansiven Kolonialstaates, - vor allem regelmäßig Eins: Unterthanen, welche alsdann einen neuen Kanal für eine neue Stadt zu graben haben und in dieser mit zeitweiligen Fronden- und Abgabeprivilegien angesiedelt werden, um demnächst die Einnahme- und Machtquellen des Königs zu vermehren. Die Könige heben hervor, daß die Unterworfenen „Tribut und Steuern zahlen gleich den Assyrern" , 47 welche also lediglich als Be-

45 ,Erlaßjahr1: nach jeweils 7 x 7 = 49 Jahren im 50. Jahr vorgesehene Rückkehr zur ursprünglichen Verteilung des Bodens, die aber nie stattfand. Hauptquelle ist 3. Mose 2 5 , 8 - 2 2 (im sog. „Heiligkeitsgesetz"). Zu Webers Auffassung vgl. auch unten, S. 444f. 46 Alle hier genannten Gemüse werden behandelt bei Meissner, Bruno, Babylonische Pflanzennamen, in: Zeitschrift für Assyriologle, Band 6, 1891, S. 2 8 9 - 2 9 8 . 47 Das Zitat beruht auf Menant, Annales des rois d'Assyrie, S. 197, Z. 10 (Sargon II.).

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sitzobjekt des Königs gelten, obwohl es in Babylon vorkommt, daß die Leute von Babel und Sippar zur Beratung über einen Tempelbau zusammenberufen werden, 48 und obwohl der Assyrerkönig die „Edlen h und Bürger" der Assyrer nach Erbauung seines neuen Pa5 lastes darin bewirtet. 49 - Die Wirtschaft des Königs ist ein die Privatwirtschaften überragender Oikos, gespeist 1) aus den Domänen des Königs und seinem um | fangreichen Leibeignenbesitz, 2) ferner B 62 r aus den Fronden und Naturalabgaben der Unterthanen, daneben 3) speziell in Assyrien, dem spezifischsten Raubstaat, 50 den die Ge10 schichte kennt, aus der Beute der, auf der Höhe der Macht alljährlich, unternommenen Raubkriege. Zu den Abgaben gehören, soweit wir sehen können, mehrere für uns nicht zu unterscheidende Getreideabgaben, in Assyrien nach Bodenklassen abgestuft, ebenso jedenfalls Naturalabgaben von allen übrigen Produkten, von 15 anscheinend sehr bedeutender Höhe, - die Pachtverträge pflegen über ihre Zahlung Bestimmungen enthalten. 51 Ferner eine anscheinend auch von Freien, jedenfalls von Frauen '[vielleicht ursprünglich von allen nicht Wehrfähigen]' erhobene Kopfsteuer. 52 Daneben finden sich später einzelne Verkehrsabgaben, so von 20 Sklaven- und Grundstückverkäufen. 53 Zu den Leistungen, die auf dem Boden ruhten, gehörte in Babylon wenigstens in der Perserzeit auch die Gestellung von Kriegern (damals durch Stellvertretung erfüllt). Wie aber im übrigen, namentlich in dem spezifischen Militärstaat Assyrien, ökonomisch die, auch wenn alle möglichen 25 übrigens keineswegs an sich zu vermutenden - Übertreibungen der Inschriften abgezogen werden, sehr bedeutende, disziplinierte, zu Pionierarbeiten und gewaltigen Marschleistungen befähigte Heeresmacht beschafft und sustentiert wurde, ist nicht deutlich. Die h B: „ E d e l e n (vgl. A n m . 49)

i [ ] in B.

48 Z u g r u n d e liegt Latrllie, N a b o n i d c y l l n d e r , S. 30, Z. 32. 4 9 Das Zitat f o l g t d e r Ü b e r s e t z u n g v o n A b e l , L u d w i g , in: K e i l i n s c h r i f t l i c h e B i b l i o t h e k 2, S. 141, Z. 3 4 ( A s s a r h a d d o n ; d o r t : „ E d e l n " ) . G e m e i n t ist d a s s o g . A r s e n a l in Ninive. 5 0 D i e s e weit v e r b r e i t e t e K e n n z e i c h n u n g d e s a s s y r i s c h e n R e i c h e s d e s 9. u n d 8. J a h r h u n d e r t s v. Chr. b e r u h t auf d e m - d e m o n s t r a t i v - a u ß e r o r d e n t l i c h g e w a l t s a m e n C h a r a k t e r seiner E x p a n s i o n s p o l i t i k . 51 D e r a r t i g e P a c h t v e r t r ä g e f i n d e n s i c h z . B . bei Pelser, Texte, S. 153, Nr. XIX (Zeit Ass u r b a n l p a l s ) ; S . 3 1 1 , Nr. IX (Zelt D a r e i o s ' I.). 52 Eine s o l c h e w i r d e r w ä h n t bei Peiser, Texte, S. 133, Nr. I (Zeit A s s u r b a n i p a l s ) . 5 3 B e i s p i e l e bei Peiser, Texte, S. 191, Nr. XVI; S . 2 4 5 , Nr. XLIII ( S k l a v e n ) ; S. 173, Nr. II; S. 225, Nr. XIX ( G r u n d s t ü c k e ) .

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(1. und 2. Fassung)

Wagenkampf-Technik, auf welcher die militärische Expansion der Euphratstaaten beruht, erforderte sicherlich den Berufskrieger, allein auch die Reiterei und das bei größeren Kriegen immerhin wohl nach mehreren Zehntausenden zählende Fußvolk - Salmanassar II. will in Syrien einem Heer von rund 70000 Mann (bei rund 4000 Wagen), dessen Bestandteile er aufzählt, gegenübergestanden haben 54 - können bei den Generationen hindurch jährlich geführten Kämpfen schwerlich durch Aushebung selbstwirtschaftender Bauern nach Art des (recht bald fiktiv gewordenen) germanischen Heerbanns 55 beschafft worden sein. Die Wagen, Speere und Rüstungen stellt der König aus seinen Zeughäusern, die Pferde wird er demgemäß vielleicht ebenfalls aus seinen Herden oder durch Requisition beschafft haben. Was die Menschen anlangt, so finden sich „Reiter und Eunuchen" des Königs als Besatzungstruppen in eroberten Städten' - also wohl Gefolgsleute neben den Leibeignen des Königs - , und Gefangene verleibt der König zu Tausenden einfach seinem Heer ein. Andrerseits werden bei Neubesiedelung von Städten eine bestimmte Anzahl von Truppen „ausgehoben", - was offenbar die Auferlegung der Gestellung durch die Ansiedler bedeutet, - so daß wir uns entweder eine aus dem | B 63 l ursprünglichen Landesaufgebot entwickelte Konskription zu einem stehenden Heer unter Auferlegung der Sustentation auf den Konskriptionsbezirk, oder (nach der erwähnten 56 spätbabylonischen Analogie) die Entwickelung einer Klasse von Berufs-Landsknechten, aus welcher die Gestellungspflichtigen^] soweit sie nicht Sklaven stellen konnten, ihr Kontingent eventuell anwerben, zu denken hätten. j B: Städten, 5 4 G e m e i n t ist d i e S c h l a c h t S a l m a n a s s a r s - n a c h h e u t e ü b l i c h e r Z ä h l u n g - III. e t w a 8 5 3 v.Chr. bei Q a r q a r in Syrien g e g e n e i n e a n t i a s s y r i s c h e Koalition, an d e r a u c h A h a b , d e r K ö n i g d e s N o r d r e i c h s Israel, b e t e i l i g t w a r (vgl. u n t e n , S . 4 4 7 f . ) . Z u g r u n d e liegt w o h l Peiser, In: K e i l i n s c h r i f t l i c h e B i b l i o t h e k 1, S. 173 ( 6 4 8 0 0 M a n n u n d 3 9 4 0 Wagen). 55 Daß i n s b e s o n d e r e im F r a n k e n r e i c h d i e t r a d i t i o n e l l e g e r m a n i s c h e W e h r p f l i c h t z w a r „ t h e o r e t i s c h " bis z u m E n d e b e s t a n d , t a t s ä c h l i c h a b e r i n f o l g e d e s (bereits in d e n „Soz i a l e n G r ü n d e n " , o b e n , S. 123, g e s c h i l d e r t e n ) Z u r ü c k t r e t e n s d e s a u s freien G r u n d e i g e n t ü m e r n g e b i l d e t e n V o l k s h e e r s g e g e n ü b e r d e m R e i t e r h e e r f a k t i s c h nicht m e h r existierte, l e g t e im e i n z e l n e n Brunner, D e u t s c h e R e c h t s g e s c h i c h t e 2, S. 2 0 2 - 2 0 9 , dar. Heerbann bezeichnete ursprünglich die Herrschergewalt, durch die die Erfüllung des K r i e g s d i e n s t e s g e r e g e l t w u r d e ( e b d . , S. 3 8 f . ) . 56 S i e h e o b e n , S. 1 5 9 f .

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2. Der Orient

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Die Bewegungsfreiheit des privaten Verkehrs wird durch den königlichen naturalwirtschaftlichen Oikos in der Frühzeit wohl ähnlich eng eingeschnürt gewesen sein, wie in Ägypten. 57 In der Periode, aus welcher keilinschriftliche Privaturkunden vorliegen, ist die Verkehrsentwickelung jedoch eine relativ ganz außerordentlich und offenbar zunehmend freie. Sie ist dem vorläufigen Eindruck nach und begreiflicherweise in Babylon, welches in weit stärkerem Maße aus dem Zwischenhandel emporgewachsen war, reicher gestaltet als in dem Militärstaat Assur. 58 Der Versuch einer Scheidung beider und ebenso einer Scheidung von einzelnen Perioden einer Entwickelung, welche von der ersten Dynastie Babylons bis zum Aufgehen in den Islam 59 uns ein in den meisten wesentlichen Zügen wohl sich selbst höchst ähnlich bleibendes, im Grunde nur in dem Maße des Durchdringens (und gelegentlichen Wieder-Abebbens) der Verkehrswirtschaft (denn der Ausdruck „Geldwirtschaft" paßt nur bedingt) schwankendes Bild bietet, kann hier des Raumes sowohl als des vorerst dazu noch ungenügenden Quellenmaterials wegen nicht unternommen werden. Das Recht am Lande gilt ursprünglich offenbar als Entgelt der damit verknüpften öffentlichen Pflichten: die Leistung der Gespannfronden von einem Grundstück wird im altbabylonischen Recht als Eigentumsbeweis erwähnt. 60 Der Bodenbesitz ist zu Gunsten der Hausgemeinschaft und der Gentilen derart gebunden, daß die Veräußerung ursprünglich offenbar rechtlich nicht möglich war, später aber jenen Berechtigten und dem Veräußerer selbst ein Retraktsrecht gegen Erstattung des von dem Erwerber des Grundstücks geleisteten Preises nebst Zinsen zustand. 61 Dies letztere ist augenscheinlich der gewohnheitsrechtliche Niederschlag einer typischen auf Beseitigung der Retraktsgefahr abzielenden Vertragsabrede, neben welche Verfluchungen des Retrahenten und Konventionalmulten in den Urkunden zu treten pflegen. 62 Faktisch ist so der Boden frei veräußerlich und ebenso frei teilbar geworden.

57 58 59 60 61 62

Vgl. oben, S. 155. So Peiser, Skizze der babylonischen Gesellschaft, S.26. D. h. etwa vom 19. Jahrhundert v. Chr. bis zum 7. Jahrhundert n. Chr. Weber bezieht sich auf Peiser, Texte, S. 23, Nr. II mit Anm. * (Zeit Hammurabis). So Kohler, In: Peiser, Babylonische Verträge, S.XLIf. Ebd., S.XLI.

162

Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

Die Naturalteilung im Erbgang ist in den erhaltenen Urkunden die Regel. 63 Flurgemeinschafts-Erscheinungen sind begreiflicherweise B 63 r bisher absolut nicht zu konstatieren, die Veräußerung des Landes erfolgt mit genauer Angabe der Grenzen nach Lage, Wegen, Nachbargrundstücken, die Größe des Landes wird teils und regelmäßig nach Flächenmaß, gelegentlich^] wie es scheint],] nach Aussaat angegeben. Die für Tempelbauzwecke in Assyrien inschriftlich bezeugte Expropriation ist vielleicht, aber nicht notwendig, rechtlicher Ausfluß eines königlichen Bodenregals, wenigstens rühmt sich der König, daß er die aus dem Besitz Gesetzten entschädigt habe. 64 Daß das durch Kanalanlagen neu gewonnene Land vom König - in Assyrien mit Angabe der Art[,] wie es zu bebauen ist (z.B. zum Gärtenanpflanzen) - vergeben wurde, legte ja die Annahme eines königlichen Obereigentums an allem Land an sich nahe, welches vielleicht in Babylon die Form eines göttlichen Bodeneigentums angenommen hat. 65 Vergebungen von Land und Leibeignen an verdiente Beamte, königliche Landschenkungen, steuerfreie Wiederverleihung des väterlichen Besitzes an einen Beamten kommen in Assyrien vor -[,] regelmäßig ist aber der Beamte des Königs sicher - wenigstens später - ebenso wie der Tempelbeamte auf Naturaldeputate aus den Magazinen und Abgaben angewiesen. Bestanden also Anfänge einer grundherrlich-feudalen Entwickelung, so sind sie nicht zur Reife gekommen. Die Hausgemeinschaft ist Wirtschaftsgemeinschaft der patriarchalen Familie, und zwar trotz des Vorkommens von Erbengemeinschaften offenbar normalerweise von Anfang an der iC/e/nfamilie. Die Frau wird von dem Haupt ihrer Familie vergeben, in älterer Zeit gelegentlich noch gegen Entgelt, 66 andererseits werden ihr regelmäßig Hausgerät, Schmuck, Kleidung, Sklaven, oft Grundstücke und Renten mitgegeben; über die an sich arbiträre Gewalt (Strafgewalt und Verstoßungsrecht) des Mannes treffen die Kontrakte 6 3 Dies wird dargestellt bei Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 16. 6 4 Die Ausführungen beruhen auf einer Inschrift Sargons II.; vgl. Menant, Annales des rois d'Assyrie, S. 202, Z. 39. Gemeint sind Enteignungen und Entschädigungen anläßlich des Baus der neuen Hauptstadt Dür-SarrukTn (Khorsabad nördlich von Ninive, 706 v. Chr.). Vgl. auch Peiser, Keilschriftliche Acten-Stücke, S. 82. 6 5 Eine entsprechende Vermutung findet sich bei Peiser, ebd., S. IX. 66 Weber bezieht sich auf Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 13.

2. Der Orient

163

meist Bestimmungen (Reugelder im Fall der Verstoßung etc.); Nebenfrauen, insbesondere das Dazuheiraten der Schwester, 67 finden sich. Ob der älteste Sohn, wie es nach einigen Spuren scheint, ursprünglich nach dem Tode des Vaters eine Vorzugsstellung - etwa die Patriarchenstellung -[,] später einen Vorzugsteil bei der Teilung erhielt, muß dahingestellt bleiben. - Wie in Italien im Mittelalter beginnt mit Entwickelung der Verkehrswirtschaft und Erweiterung des Spielraums des privaten Gütererwerbs das ursprünglich kommunistische Hausvermögen als Assoziationskapital der Familienglieder betrachtet zu werden. 68 Unbeschadet der patria potestas gilt doch auch der filius familias als Anteilshaber. Es wird z. B. bei der Adoption, die ein Kauf des Adoptierten von seinen Eltern ist, das Anrecht desselben an das | Adoptivvermögen kontraktlich, ins- B besondere für den Verstoßungsfall, festgestellt. 69 Aus den Altenteilsverträgen - Gutsübergabe retento usufructu - entwickeln sich allmählich testamentarische Dispositionen inter liberos. 70 Die Adoption selbst, d.h. der Kauf zu Sohnesrecht im Gegensatz zum Sklavenkauf, funktioniert als die primitive Form, in welcher die Hausgemeinschaft sich durch fremde Arbeitskräfte ergänzt. Adoption von Sklaven, Heirat mit Sklavinnen etc. ergeben eine Flüssigkeit zwischen Freiheit und Unfreiheit in der Hausgemeinschaft, womit die Gleichbehandlung der filii familias mit den factores und discipuli in den mittelalterlichen Handlungshäusern zu vergleichen ist.71 Die Sklaven sind in altbabylonischer Zeit nicht sehr zahlreich Mitgiften von 1 - 3 Sklaven überwiegen. 72 Offenbar aber schwoll mit Zunahme des Verkehrs ihre Zahl stetig bis in die Perserzeit, wo der Sklave vom Herrn teilweise in geldwirtschaftlicher Form als 67 Vgl. ebd., S. 13 (vgl. auch S . 7 0 f . , 148). 68 Diese Wandlung hatte Weber für das mittelalterliche Italien ausführlich In seinen „Handelsgesellschaften" (S. 4 4 - 9 6 ) analysiert. 69 Darauf weist hin Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 16. 70 (Testamentum) inter liberos: Im römischen Privatrecht Testament eines Hausvaters allein für seine Kinder. 71 Factores (fattori) und discipuli (discepoli) waren In Handelssozietäten des 14. Jahrhunderts (z. B. in Florenz) kaufmännische Gehilfen und Lehrlinge. Weber greift hier (und bei der .Gleichbehandlung') auf seine „Handelsgesellschaften" zurück, dort S. 132f. - Behandlung dieser Verhältnisse auch in der Vorlesung „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" (M 118, 126). Vgl. dazu die Bandeinleitung, oben, S.53. 72 Z u g r u n d e liegt Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S.7.

164

Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

Rentenquelle, nach Art der Obrok-Leute in Rußland und der „Leibeignen" in West- und Süddeutschland im vorigen Jahrhundert, 73 ausgenützt wird, und wo wir demgemäß das Sklavenpekulium und die Teilnahme des Sklaven an allen Geschäften, 74 auch das Sich-Freikaufen desselben, 75 sogar Beweisverträge zwischen Skia- s ven desselben Herrn finden. 76 Die königlichen Domänen, auch die an Beamte verliehenen, ebenso die großen babylonischen Tempelgüter und wohl auch der zumal in Babylon - sicher mehr als in Assyrien - in den Händen des Handelspatriziats allmählich angesammelte Großgrundbesitz 10 wurden, soweit sie nicht parzellenweise verpachtet waren, mit Sklaven und daneben mit den Fronden von verehelichten Unfreien, „Gärtner" oder „Bauern" genannt, bewirtschaftet; - ob Veranlassung besteht, die Rechtsstellung dieser letzteren als die von „Hörigen" von der der Sklaven zu unterscheiden, erscheint recht frag- 15 lieh. Die Schuldsklaverei findet sich, - mit welchen näheren Regelungen ist nicht zu sagen; garantierte ein vermögender Verwandter, so entließ man den Schuldsklaven mit beschränkter Freizügigkeit, um ihm Verdienstgelegenheit zum Abtragen der Schuld zu geben, aus der Haft. Ob etwa die Schuldsklaven eine quantitativ ins Ge- 20 wicht fallende Kategorie schollenfester Abhängiger darstellten, wissen wir nicht. - Die primitive Form der zeitweiligen Beschaffung von Arbeitskräften ist die Miete von Sklaven oder Haussöhnen gegen Unterhalt, Kleidung und Zins in Naturalien und später in Geld. So werden besonders die Erntearbeiter beschafft. Daraus hat 25 sich der Vorläufer des freien Arbeitsvertrages (als vereinzelte ErB 64 r scheinung) in dem Mieten eines Mannes | „von ihm selbst" entwikkelt. 77 Nicht nur in dieser Formel tritt die Behandlung des zeitweiligen Arbeitsverhältnisses als befristeter Versklavung (= dem römischen in maneipio esse) hervor, sondern auch darin, daß der sich 30 selbst Vermietende ursprünglich eines Patrons - der offenbar als der eventuelle assertor in libertatem gedacht ist - bedurfte. 7 3 Dies wird dargestellt bei Ludwig, Badischer Bauer, bes. S. 14 („Rentenquelle") und S. 3 8 - 4 3 . 7 4 So Kohler/Pelser, Aus dem babylonischen Rechtsleben 1, S. 1. 7 5 Vgl. Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 7 mit Anm. 3. 7 6 Behandelt bei Kohler/Peiser, Aus dem babylonischen Rechtsleben 2, S.6. 7 7 Weber zitiert aus Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 7, 53, 55 (vgl. S. 134f.).

2. Der Orient

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Das Entleihen von Mitteln k [namentlich Silber]k zur Zahlung der Miete für den Bedarf an jenen Erntearbeitskräften bildet, mit dem Entleihen von Getreide, Datteln etc. als Saatgut - bei beiden mit Versprechen der Rückerstattung nach der Ernte - die primitiven Fälle des Produktivkredits, der so schon in altbabylonischer Zeit neben das meist ebenfalls bei der Ernte fällige Getreideanlehen zum Zwecke der Eigenkonsumtion - kaum merklich von ihnen geschieden - tritt. 78 Die Entwickelung der Verkehrs-Erscheinungen ist im ganzen asiatischen Orient wesentlich fortgeschrittener als wenigstens in der eigenen Kulturentwickelung Ägyptens, insbesondere weil die Formen städtischer Verkehrswirtschaft an einem Zwischenhandelsplatz wie Babylon zu weit freierer Entfaltung gelangen mußten. 79 Wir finden zunächst eine der Münzen und des regelmäßigen Geldgebrauchs im Binnenverkehr noch entbehrende, trotzdem hoch entwickelte Naturaltausch-Technik, in welcher das Geld, im altbabylonischen Reich noch Silber in Gebrauchsgutsform (Ringe) 80 und nach Gewicht, - zuerst zwar auch als Preisgut, aber hauptsächlich als Wertmesser der in natura gegeneinander getauschten Güter zu funktionieren beginnt, als effektives Tauschmittel im inneren Verkehr wie in Ägypten 81 meist nur für die in natura nicht auszugleichenden Wertunterschiede. Erst allmählich nimmt es die Münzform an, - zuerst, wie es scheint, mittelst fV/vaibeglaubigung des Gewichtes durch renommierte Firmen; es kommen „Fünftelsekelstücke mit dem Stempel des X" urkundlich vor 82 - und beginnt erst damit allmählich die Preisguts-Funktion zu monopolisieren. Im altbabylonischen Reich werden noch oft Datteln gegen Korn, Häuser gegen Felder getauscht, hie und da mit Ausgleichung des Überschusses durch Silber. 83 Daneben treten höchst komplexe Tauschk [ ] in B. 78 Vgl. e b d . , S . 8 . 79 Diese E i n s c h ä t z u n g fußt auf Peiser, Keilschriftliche A c t e n - S t ü c k e , S. VII. 80 Das Silber als Tauschmittel b e h a n d e l t Meissner, Beiträge z u m a l t b a b y l o n i s c h e n Privatrecht, S. 147 (zu Nr. 85). Vgl. a u c h d e n E d i t o r i s c h e n Bericht, o b e n , S. 131. 81 Vgl. o b e n , S.156. 82 W e b e r s u r k u n d l i c h e Quelle findet sich bei Peiser, Texte, S . 5 3 , Nr. V. Es h a n d e l t sich um eine der sog. k a p p a d o k i s c h e n U r k u n d e n , die bei Peiser, e b d . , S.VIII, um 1300, heute in das 2 0 . - 1 8 . J a h r h u n d e r t v.Chr. datiert w e r d e n . Vgl. a u c h unten, S. 3 9 5 f . 83 W e b e r fußt auf Meissner, B e i t r ä g e z u m a l t b a b y l o n i s c h e n Privatrecht, S. 10.

166

Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

akte auf, bei denen nur die Abschätzung der beiderseitigen Waren in Silber den Tausch ermöglicht: so ein Tausch von Land gegen 816Sekel Silber, von denen 100 durch einen Wagen, 300 durch 6 Pferdezeuge, 130 durch einen Esel, 50 durch ein Eselgerät, 30 durch ein Rind, der Rest in kleinen Posten durch Öl, Kleider etc. 5 belegt werden. 84 - Für diesen Verkehr waren, gerade wegen seines B 65 l Charak|ters als Natur alienverkehr, bankartige Unternehmungen früh als Vermittlungs- und Ausgleichsstellen unentbehrlich. Wir finden demgemäß die Verwaltung der Naturalieneinkünfte durch Berufshändler, welche Korn-, Datteln- etc. -Conti neben den Silber- 10 conti führen. Ferner einen höchst eigenartigen Verkehr mit Anweisungen auf diese Naturalienguthaben, selbst mit einer Art von Lagerscheinen au porteur, welcher der näheren Analyse bedarf und wert ist: wahrscheinlich entlehnte er seine Formen ursprünglich der Verwaltung der königlichen Magazin- und der Tempeleinkünfte. - 15 Die Tempel sind in Babylon Korn- und Geldverleiher größten Maßstabes. Aber auch die neben ihnen stehenden privaten „Bank"-Geschäfte sind von ebenfalls beträchtlichem Umfang. Die Hauptgeschäftsformen der Geldwirtschaft sind archaistisch vorgebildet. Jene oben erwähnten 85 Naturaldarlehen - in Korn, 20 Datteln, Ziegelsteinen etc. - stehen neben Darlehen in Shekeln (wobei vermutlich oft diese Shekel nur den Vertragswert der gegebenen Naturalien darstellten) mit Zinsen, die beim Korndarlehen in Höhe von V3 des Schuldbetrags vorkommen, beim Gelddarlehen am häufigsten V5 betragen. 86 Es findet sich das Pfand, bei Sklaven 25 und im Grundstücksverkehr als Antichrese (z. B. zinsloses Gelddarlehen gegen mietlose Hausbenutzung) und bei letzterem auch als Hypothek, 87 wohl noch ohne klare rechtliche Enwickelung von Nachhypotheken. Es taucht ferner die kapitalistische Unternehmung und zwar insbesondere in ihrer auch das frühe Mittelalter 30 beherrschenden charakteristischen primitiven Form - als Kom-

8 4 Weber bezieht sich auf die Urkunde Peiser, Texte, S.75 und 77, Nr. III, wobei S. 75 - die 50 Sekel zwei Eselszeugen entsprechen (Zeit des Marduk-nädin-ahhe, ca. 1 0 9 8 - 1 0 8 2 v.Chr.) 8 5 Siehe oben, S. 165. 8 6 Die Darstellung fußt auf Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 8. 8 7 Eine Behandlung dieser Verhältnisse findet sich bei Kohler/Peiser, Aus dem babylonischen Rechtsleben 1, S. 15f. (Antichrese), 24 (Hypothek).

2. Der Orient

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menda88 - auf. 89 Die Wurzeln gehen auseinander, ein Teil entstammt der Landwirtschaft. Es finden sich neben den Parzellenverpachtungen an Rückenbesitzer gegen Anteil (V3), festen Naturaloder Geldzins: 1) die Großverpachtung von fundi instructi von den Tempeln, 2) die Grundstückskommenda, speziell als Neubruchskommenda. Der Kommendanehmer baut - so scheint das Verhältnis geregelt - seine Hütte, lebt von den Früchten, giebt in den ersten Jahren „Vorgewinn" von dem, was über seinen Bedarf hinaus geerntet wird[,j und teilt später den Ertrag mit dem Kommendanten. Schon im altbabylonischen Recht1 findet sich als Parallelerscheinung die Waren- und Geldkommenda als Form der Kapitalanlage im auswärtigen Handel, mit noch vielfach in der Deutung unsicheren, im Prinzip aber den mittelalterlichen islamischen und genuesischen gleichartigen Bestimmungen (meist V2-Anteil des Kommendatars am Gewinn 90 statt der typischen genueser quarta proficui 91 ). Später findet sich die Kramladenkommenda als Form der kapitalistischen Binnenunternehmung. - | Im Gewerbe steht neben dem „Lohnwerker" der Bücherschen B 65 r Terminologie - Weber, Schneider, Schmiede, auch Goldschmiede, z.B. erhalten vom Kunden den Rohstoff zugewogen 1 - der „Preiswerker" - Buntweber, z. B. scheinen dahin zu gehören, bei Tischlern u. a. ist dies an sich höchst wahrscheinlich, - und später die Ausnutzung der Sklaven in Form der gewerblichen Absatzproduktion, aber regelmäßig nicht im Sklavengroßbetriebe, sondern als unfreie Kommenda des Herrn an den Sklaven. 2 Lehrverträge des Herrn über unfreie Lehrlinge mit unfreien Handwerkern kommen vor. 3 I B: R e i c h (vgl. unten, S. 398) 8 8 W e b e r greift auf die a u s f ü h r l i c h e B e s c h ä f t i g u n g mit der K o m m e n d a in s e i n e n „ H a n d e l s g e s e l l s c h a f t e n " z u r ü c k , vgl. bes. Kap. II, S. 1 5 - 4 3 . 8 9 Die K o m m e n d a im b a b y l o n i s c h e n Recht wird b e h a n d e l t von Kohler/Peiser, A u s d e m b a b y l o n i s c h e n R e c h t s l e b e n 3, S. 4 6 - 4 8 (Zeit Dareios' I.). 9 0 Kohler/Peiser, e b d . , S . 4 6 . 9 1 G e m e i n t ist die von Max W e b e r bereits in s e i n e n „ H a n d e l s g e s e l l s c h a f t e n " ( S . 1 9 mit Fn. 10, 23) b e h a n d e l t e , im G e n u a d e s 12. J a h r h u n d e r t s ü b l i c h e , 25 % i g e G e w i n n beteiligung des Kommendanehmers. 1 Beispiele f i n d e n sich bei Peiser, Texte, S. 2 2 0 f . , Nr. XV (Wolle für W e b e r ) ; S. 2 2 6 f . , Nr. XXI (Stoffe von e i n e m B u n t w e b e r für einen S c h n e i d e r ) . 2 So Kohler/Peiser, A u s d e m b a b y l o n i s c h e n R e c h t s l e b e n 1, S. 1. 3 Ein B e l e g dafür wird b e s p r o c h e n bei Kohler/Peiser, A u s d e m b a b y l o n i s c h e n R e c h t s leben 2, S. 5 3 f .

168

Agrarverhältnisse

im Altertum

(1. und 2. Fassung)

Neben den primitiven Erscheinungsformen der Pachtrente, des Unternehmer- und Leihkapitalzinses, findet sich - als eine Art Remplaçant moderner Kapitalanlagen in zinsbaren öffentlichen Anleihen - die als Gegenstand des Tauschverkehrs, der Pfand- und Mitgiftbestellung schon im altbabylonischen Reich auftretende Beamten- (speziell] Tempelbeamten-)P/räncie. Wir fanden die Ansätze dazu auch in Ägypten. 4 In Babylon entwickelt sich in diesen Pfründen ein regelmäßiger Verkehr,5 Die Pfründen haben die Gestalt von Naturaliendeputaten, welche die Stelle teils ursprünglicher Rechte der Beamten auf Freitisch, Teilnahme an den gemeinsamen Mahlzeiten der Priesterschaft und auf „freie Station" 6 aus den Einnahmen der Tempel, teils wohl auch von ursprünglichen Belehnungen der Beamten mit Land eingenommen hatten und sich weiter zu erblichen und schließlich auch veräußerlichen Naturalrentenrechten entwickelten. 7 Wir finden in den Urkunden sehr häufig Ländereien erwähnt, welche zu Gunsten der Tempel mit Naturalleistungen verschiedener Art an bestimmten Monatstagen - z.B. dem 30. jeden Monats - belastet sind,8 sei es infolge von Stiftungen, sei es weil sie ursprünglich Tempelland m und vom Tempel unter derartigen Auflagen verliehen waren. Aus den hieraus und aus den sonstigen Naturalieneinnahmen des Tempels" fließenden Bezügen werden die in Fleisch-, Brot-, Bier-, Kleidungs-, etc. -Lieferungen bestehenden Naturaliendeputate der Pfründner bestritten, welche von diesen tageweise - z.B. das Bezugsrecht jedes 15. und 30. Monatstages 9 - veräußert und Gegenstand des Verkehrs werden. Von der Tragweite der skizzierten, immerhin schon ziemlich komplexen Verkehrserscheinungen für die Struktur der Wirtschaft, speziell der Agrarverhältnisse haben wir eine klare Anschauung vorerst nicht. Trotzdem dieser Verkehr technisch hochentwickelt m B: Tempelland,

n B: Tempel

4 Siehe o b e n , S. 157. 5 Vgl. Peiser, B a b y l o n i s c h e Verträge, S. XXVI f. 6 Hier g e m e i n t : freie W o h n u n g . 7 W e b e r stützt sich auf Peiser, B a b y l o n i s c h e Verträge, S . X X V I f . ; d a z u Kohler, e b d . , S. XXXII f. 8 Vgl. Peiser, Keilschriftliche A c t e n - S t ü c k e , S . 4 7 , Nr. XI, Z. 12, u n d Nr. XII, Z. 2f. 9 Ebd., S. 18f., Nr. II; S . 2 6 f . , Nr. IV u . ö ; d a z u Kohler, in: Peiser, B a b y l o n i s c h e Verträge, S. XXXII f.

2. Der Orient

5

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ist, steht offenbar die Preisbildung unter dem überragenden Einfluß der königlichen und Tempelmagazine. In Assyrien wird, | abge- B 66 l sehen von der unter Assurbanipal erwähnten Veräußerung des Beuteviehes zu festen Preisen an die Assyrer, 10 schon unter Sargon der Korn- und Sesamvorrat der königlichen Magazine teuerungspolitisch zur Regulierung der Preishöhe beider Produkte benutzt; teuerungspolitische 0 Consumbeschränkung scheint auch die „Begrenzung der Mahlzeiten" durch den gleichen König zu sein.11 Ähnlich werden die Tempelvorräte funktioniert haben, und zweifellos diente der typische Tempelzinsfuß faktisch - ob planvoll, bleibt dahingestellt - der Regulierung und Fixierung des privaten Zinsfußes. Wenn wir also im altbabylonischen Recht, wo das Kommissionsgeschäft im Karawanenhandel als Vieh- und Sklaven-Einkaufskommission schon vollständig entwickelt ist, Kaufaufträge „zum Preise, der sein wird", 12 finden, so ist dies schwerlich ein Konkurrenz-Marktpreis, wahrscheinlich vielmehr der Verkaufspreis der königlichen oder Tempelmagazine. Die Kontinuität der babylonischen Rechts- und Wirtschaftsentwickelung ist durch die persische und selbst durch die macedonisehe Eroberung nicht unterbrochen worden; 13 man hat als wirkliches Ende dieser vieltausendjährigen Wirtschaftsformen am Euphrat wohl erst die wahnwitzigen Verwüstungen der Seldschukken anzusehen, 14 und breite Teile der islamitischen Kultur als ihre direkte Fortsetzung. 3

o B: teurungspolitische

a (S. 150) - a Fehlt in A.

10 Weber zitiert Jensen, Inschriften Asurbanipals, S. 225, Z. 4 2 - 4 9 . 11 Es handelt sich um eine Bezugnahme auf Lyon, Keilschrifttexte Sargons, S.35, Z. 41 f. (Sargon II.). 12 Zitat nach Peiser, Texte, S.43, Nr. I (Zeit des Königs Samsuditana von Babylon, ca. 1625-1595 v.Chr.). 13 Die persische Eroberung Babylons fand 539 v.Chr. statt (Kyros II.), die makedonische erfolgte 331 v.Chr. durch Alexander d. Gr. 14 Die Seldschuken, ein Turkvolk, eroberten Bagdad im Jahre 1055 und herrschten in Mesopotamien bis etwa zur Mitte des 13. Jahrhunderts, als sie durch die Mongolen abgelöst wurden.

170

Agrarverhältnisse

im Altertum (1. und 2. Fassung)

3. a Das hellenische Altertum. Der Ackerbau der Hellenen, 1 soweit er sich nicht zu Spezialkulturen entwickelt hatte, war Anbau von Spelz, Gerste, Weizen in Feldgraswirtschaft von verschiedener Intensität. Die Düngung ist schon Homer b bekannt, im b übrigen aber ist die Technik des Ackerbaues in ziemlich primitivem Stadium stabilisiert worden und dann nicht fortentwickelt. Ein lange Zeit ganz hölzerner Hakenpflug, Ochsen als Spannvieh, die Sichel als Ernteinstrument bedingten 0 eine starke Arbeitsintensität 2 und machten es dem Getreidebau, selbst bei den hohen Getreidepreisen der späteren Zeit, unmöglich, das Schwergewicht von der naturalwirtschaftlichen auf die Marktproduktion zu verschieben. Die Viehzucht 0 beginnt, wie es scheint, erst in der Zeit der Tyrannis durch die Feldbestellung in stärker fühlbarem Maße eingeschränkt zu werden. 3 Die Reste des nomadisierenA 3 l den Hirtendaseins sind bis in die historische Zeit ziemlich deutlich erkennbar. Wir finden im Zeitalter der Epen 4 eine Ernährung, bei der Käse, Milch und Fleisch noch stark im Vordergrund stehen, Wolle und Felle als volkstümliches Bekleidungsmaterial, als Hauptbestandteil königlicher und adliger Reichtümer den Herdenbesitz an Ziegen, Schafen, Schweinen, Rindern, e [während das B 66 r Pferd | nur in großen Ebenen - Euböa und Thessalien - massenhaft gehalten wird] e , Hirten als die vornehmsten Diener des Königs, und scharf entwickelte Unfreiheit. 5 Wir finden ferner offenbar

a A: 2.

b A: bekannt. Im

c A: bedangen

d In A folgt: ist stark entwickelt. Sie

e [ ] In A und B. 1 Die einleitenden allgemeinen Ausführungen über Anbau und Viehwirtschaft In Griechenland beruhen auf Meyer, Geschichte des Altertums 2, S. 361 f., sowie auf Büchsenschütz, Besitz und Erwerb, bes. S. 3 0 1 - 3 0 8 . 2 Auf die Einfachheit der Ackerbaugeräte, die Konstruktion des Pfluges sowie die mit der Sichel (gegenüber der Sense) bei der Getreideernte verbundene hohe Arbeltsintensität ging Büchsenschütz, ebd., S . 3 0 2 - 3 0 4 , ein. 3 Meyer, Geschichte des Altertums 2, S. 363, weist darauf hin, daß in der Zeit vor der Tyrannis noch keine „wesentliche Beschränkung" der Viehzucht gegenüber dem Akkerbau stattgefunden habe. Zeitlich gehört die Tyrannis vor allem In das spätere 7. sowie das 6. Jahrhundert v.Chr. 4 Meyer, ebd., S.393, 405f., 592, rechnete mit einer Entstehungszeit der (heute Im allgemeinen etwa in die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts v.Chr. datierten) Epen vom 10. bis zum 7., z.T. frühen 6. Jahrhundert v.Chr. 5 Diese Nachrichten finden sich hauptsächlich bei Meyer, ebd., S. 78, 361 f.

3. Das hellenische Altertum

171

schon aus dem Nomadenzeitalter her 'als Normalform die patriarchale monogamische Kleinfamilie mit einer der semitischen wesentlich gleichartigen Behandlung der Frau (Geschlechtsvormundschaft, Verstoßungsrecht), die jedoch in der Entstehungszeit des Rechts von Gortyn 6 schon wesentlich modernisiert erscheint. 7 Daneben aber stehen^ beim Adel und den Königen große Hausgemeinschaften auf der Grundlage des agnatischen 9 Geschlechtes (yévoç)h im Interesse erblicher Zusammenhaltung des Besitzes. 'Die homerischen Epen kennen demgemäß Erbteilung neben Erbengemeinschaft (den ó i i o o í t t u o i des Charondas). 8 Die rechtliche Struktur der großen patricischen Hausgemeinschaften bildet sich später in geschichtlicher Entwickelung ähnlich um, wie z.B. diejenige der großen Hausgemeinschaften in den italienischen Städten des Mittelalters: 9 der ursprünglich volle Familienkommunismus macht mit Eindringen der Geldwirtschaft einer Auffassung des Verhältnisses als Erwerbsassoziation Platz; gesonderte Berechnung der Mitgiften und Adventizgüter aus dem Sondererwerb des Einzelnen, Eigentum der Frauen an den Illaten setzt sich allmählich durch (so schon im Recht von Gortyn), 10 es wird hier und da fraglich, ob nicht der Sohn schon bei Lebzeiten des Vaters seinen Anteil - wie teilweise im südeuropäischen städtischen Recht des Mittelalters' 11 - fordern könne (das Recht von Gortyn schließt die Möglichkeit des Zwanges gegen den Vater zur Abschichtung ausdrücklich aus). 12 Das Vermögen erscheint eben zunehmend als Produkt der Erwerbsthätigkeit der Familienglieder, und damit zersetzt sich die Grundlage des alten Hauspatriarchalismus.' g A: patrif—f A: die monogamische Kleinfamilie als Normalform, daneben aber archalen h Fehlt in A. i - i Fehlt In A; In A folgt kein Absatz, j B: Mittelaltars 6 Gemeint ist die 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. als Zeit der Rechtsaufzeichnung in dem kretischen Gortyn (Meyer, ebd., S.568). 7 Weber bezieht sich auf Bücheler/Zltelmann, Recht von Gortyn, S.61, 134 (Geschlechtsvormundschaft), S. 118-120 (Scheidungsrecht). 8 Weber folgt den Darlegungen von Guiraud, Propriété foncière, S.54f., zu den Erbregelungen bei Homer. Die Homosipyol (wörtlich: die „aus dem gleichen Gefäß (griech. slpye) Essenden") des Gesetzgebers Charondas werden bei Aristoteles, Politik 1, 1, 6 (1252 b 15) genannt. 9 Diese Entwicklung hatte Weber Im einzelnen dargestellt In seinen „Handelsgesellschaften", bes. S. 4 4 - 9 6 . 10 Dargelegt bei Bücheler/Zltelmann, Recht von Gortyn, S. 115. 11 Damit hatte sich Weber, Handelsgesellschaften, S. 7 7 - 8 1 , Im Detail befaßt. 12 Vgl. Bücheler/Zitelmann, Recht von Gortyn, S.27 (VI 2 - 5 ) , 129.

172

Agrarverhältnisse

im Altertum

(1. und 2.

Fassung)

Bei den k „Geschlechtern" ist die Sippe mit ihrer Blutrachepflicht Garantin der persönlichen Rechtsstellung. (Der Mangel der Sippe bedingt deshalb später die Notwendigkeit für den Gemeinfreien, sich in den Schutz eines Vollbürgers zu begeben. Doch ist dies wohl erst Produkt der1 Differenzierung des Grundbesitzes.) Ob für die übrige freie Bevölkerung die „Phratrien", als künstliche Verbrüderungen zu Kultzwecken, ursprünglich neben der religiösen auch und namentlich diese rechtsgarantierende Funktion der Sippe für diejenigen, welche des „Geschlechtes" entbehrten, zu ersetzen bestimmt waren, muß dahingestellt bleiben. Ob siem als ursprüngliche" Weidereviergemeinschaften interpretiert werden dürfen, ist ebenfalls dunkel. °Wie aus ihrer Mitwirkung bei der Konstatierung B 67 l der Qualität einer | Person als Mitglied der Hausgemeinschaft (und deshalb ev[entuell] suus heres) in Attika hervorgeht, sind sie jedenfalls von Anfang an Nachbarverbände, demgemäß später lokale, bei den 0 Kolonien künstlich p alsq Unterabteilungen der „Phylen" geschaffene Bezirke, der politischen Leitung und Vertretung durch die Geschlechter unterworfen, aber mit eigenem Land- und Viehbesitz/ - Die Phylen ihrerseits sind zunächst rein militärische Verbände ohne ökonomische Bedeutung, Unterabteilungen des Stammes in seiner Eigenschaft als Heer, die wohl stets künstlich von oben als Phratrienkomplexe geschaffen sind, in späterer Zeit allgemeiner Seßhaftigkeit deshalb lokale Bezirke, die mit dem Überwuchern des Adels wie die Phratrien unter seine politische Leitung gerieten. s Von dem politischen und Wirtschaftsleben der freien Bauerngemeinde in der Frühzeit - soweit sie bestanden hat - wissen wir Näheres nicht. Die Siedelung ist ursprünglich eine dorfweise, die Orte sind unbefestigt, Mauerringe auf den Höhen bieten eventuell Schutz für Menschen und Vieh. 13 'Die Auffassung des Bodenbesitzes als Unterlage und Zubehör des auf der Gemeindemitglied-

k A: diesen I In A folgt: späteren m In A folgt: vielleicht ferner n A: alte p In A hervorgehoben. q In A folgt: o - o A: Später sind sie lokale Verbände, bei administrative r—r A: geschaffen, aber noch immer mit eigenem Land- und Viehbesitz, der politischen Leitung und Vertretung durch die Geschlechter unterworfen. S In A folgt kein Absatz, t - f (S. 173) Fehlt in A. 13 Dies wird so von Meyer, Geschichte des Altertums 2, S. 295f., geschildert.

3. Das hellenische

5

10

15

20

25

Altertum

173

schaft beruhenden Genossenrechts äußert sich in der späteren Zeit außer in der Mitwirkung der Phratrie bei der Anerkennung als suus heres besonders in der Gestaltung der Eigentumsklage der klassischen Zeit. 1 4 So wenig wie der frührömische Eigentumsprozeß 1 5 kennt das griechische Recht die einseitige petitorische Klage auf Grundeigentum und Erbschaften. Über diese ebenso wie über die publizistischen Rechte und Pflichten der Einzelnen soweit diese möglicher Gegenstand eines Prozesses waren (Leiturgien, Namenrechte, Zugehörigkeit zur Phratrie) - wurde vielmehr im Wege des auf Kontravindikation beruhenden Diadikasien-Prozesses präjudiziell nach relativ besserem Recht entschieden, und aus ganz dem gleichen Grunde wie bei diesen. Die einseitige Ex16 missionsklage (Siien dem römischen Interdikt juristisch ungleichartig, aber in der Funktion nahe verwandt) steht nur bestimmten zur Eigenmacht befugten Berechtigten zu, deren Recht durch Urteil, staatliche Assignation, anerkannte Suität (s.o.) 17 und Pfandgläubigerqualität (cf. das römfische] precarium) evident und liquide gestellt war, und ist ebenfalls keine absolute, sondern eine Klage aus relativ besserem Rechte. (M.E. sehr zutreffend findet G[erhard] Leist den Grund des Fehlens der absoluten Eigentumsklage im griechischen Recht in dem Fehlen der römischen Usucapion. 18 S.u. 19 ) So wenig wie die alte römische darf man sich die ursprüngliche griechische Flurverfassung der germanischen Hufenverfassung ähnlich denken.' O b bei | der Feldbestellung flurgemeinschaftliche B 67 r Elemente mitspielten, ist uns durchaus unbekannt. u Die dafür angeführten angeblichen Zeugnisse sind in keiner Weise beweiskräf-

t (S. 172)—f Fehlt in A.

u - u (S. 174) Fehlt in A.

14 Im f o l g e n d e n schließt s i c h W e b e r e n g an Leist, A t t i s c h e r E i g e n t u m s s t r e l t , an, i n s b e s o n d e r e e b d . , S. 1 2 - 1 5 , 2 0 - 2 6 , 4 8 f . 1 5 W e b e r greift hier auf s e i n e „ R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e " z u r ü c k , M W G I/2, S. 174. 1 6 Die ,Dlke e x u l e s ' ( . V e r t r e i b u n g s k l a g e ' , . B e s i t z s t ö r u n g s k l a g e ' ; so Leist, A t t i s c h e r Eig e n t u m s s t r e i t , S . 4 8 ) b e z e i c h n e t e i n e K l a g e auf V e r t r e i b u n g d e s B e k l a g t e n a u s d e m r e c h t m ä ß i g e n Besitz d e s K l ä g e r s bzw. w e g e n V e r t r e i b u n g d e s K l ä g e r s a u s s e i n e m r e c h t m ä ß i g e n Besitz. 1 7 Siehe o b e n , S. 172. 1 8 Vgl. Leist, A t t i s c h e r E i g e n t u m s s t r e i t , S . 6 0 f . 1 9 Zur r ö m i s c h e n U s u c a p l o n ( E r s i t z u n g ) vgl. u n t e n , S . 2 0 9 f .

174

Agrarverhältnisse

im Altertum

(1. und 2. Fassung)

tig,20 die Wahrscheinlichkeit ist nach orientalischen Analogien, nach der Art des Pflügens bei den Südeuropäern überhaupt (Querpflügen) 21 und bei dem fast völligen Fehlen der Servituten im attischen Recht der historischen Zeit entschieden dagegen." Die Dorfallmende 3 ist wohl in dem späteren Grundbesitz der attischen 8fi|jm konserviert. 22 b Das ungeheure Überwiegen der ewigen Weide tritt bei Homer deutlich hervor. Die Odyssee setzt aber neben der Gemeinweide (namentlich den Ödländern in den Bergen) private Einhegungen der Könige und großen Herdenbesitzer voraus. 023 Die Bodenbebauung istc bis in das 3.Jahrh. d meist Zweifelderwirtschaft 24 - daher die gradzahligen Pachtperioden. Da eigner Flachsanbau erst für Thukydides' Zeit, Hanf erst zu Plinius' Zeit in Kleinasien sicher bezeugt ist,25 war die Schafhaltung für den Bekleidungsbedarf unentbehrlich, - daher die Berichte von Verboten des Schlachtens von Schafen vor der ersten Schur und vor dem ersten Wurf 26 - , und es müssen schon deshalb große Weideflächen auch für die historische Zeit vorausgesetzt werden, wie denn die inschriftlich bezeugten Gemeindeweiden von sehr beträchtlichem Umfang sind. 27 Ebenso ist die Bewaldung trotz der Entwickelung des Berg- und Schiffsbaues noch zu Theophrasts Zeit (Ende des 4. Jahrh.) sehr erheblich gewesen. - d 2 8 |

u (S. 1 7 3 ) - u Fehlt in A. a A: D o r f - A l l m e n d e b - b Fehlt In A. c A: b e r u h t d - d A: wesentlich auf jährlicher Abwechslung von G e t r e i d e a n b a u und Brache. 2 0 Weber folgt Pöhlmann, Antiker Kommunismus und Sozialismus 1, S . 2 2 - 4 6 , der sich vor allem mit den von Ridgeway, Homeric Land System, angeführten Zeugnissen auseinandersetzt. 21 D. h. Pflügen in Längs- und Querfurchen statt nur in Längsfurchen wie z. B. bei den Germanen (dargestellt bei Meltzen, Siedelung und Agrarwesen 1, S. 276-282). Vgl. auch unten, S. 255f. 2 2 So Beloch, Griechische Geschichte 1, S.89. 2 3 Gemeinweide und (besonders deutlich in der Odyssee) „Einhegungen" werden mit einer Reihe von Belegstellen bel Guiraud, Propriété foncière, S. 6 6 - 6 8 , besprochen. 2 4 Weber folgt offenbar Beloch, Griechische Geschichte 1, S. 219. 2 5 Zugrunde liegen Thukydides 4, 26, 8 sowie Plinius, Historla naturalis 19, 9 (56), 173f., beides offenbar nach Guiraud, Propriété foncière, S. 502. 2 6 Gemeint sind die Berichte bei Athenalos 9, 375 B sowie 1, 9 C - D , offenbar nach Büchsenschütz, Besitz und Erwerb, S.223. 2 7 Der Nachwels dieser Inschriften findet sich bei Guiraud, Propriété foncière, S. 3 5 6 - 3 5 8 . 2 8 Dies wird ausführlich behandelt von Guiraud, ebd., S. 5 0 3 - 5 0 6 , der auch eine Reihe von Belegen aus Theophrast bietet.

3. Das hellenische

175

Altertum

Die erste große Verschiebung der Wirtschaftsverhältnisse in A 3 r Hellas wurde allem Anschein nach durch das Eindringen orientalischer Kulturelemente von der See her und die Verflechtung der Küstenlandschaften in einen überseeischen Verkehr herbeigeführt. 6 Dadurch mußte eine scharfe Differenzierung innerhalb der Bevölkerung entstehen, veranlaßt offenbar 1) durch das Eindringen der asiatischen Wagenkampfes-Technik, welche den Berufskrieger fordert, - 2) durch die Monopolisierung des Tauschverkehrs seitens der nunmehr zur Herrschaft gelangenden feudalen Berufskriegerschicht. 29 Die Burgbauten von Mykene und Tiryns u. a. sind die Sitze feudaler wagenkämpfender „Könige" mit ihren an Zahl vermutlich höchst geringen, nach den Raumverhältnissen zuweilen' wohl nur nach Dutzenden zählenden Berufskriegern, umgeben von den Ansiedelungen des Burggesindes. Die immerhin erstaunliche Mächtigkeit dieser Bauten kann nur durch gewaltige Anspannung der Fronarbeit 9 einer von den Burgen aus militärisch völlig beherrschten ländlichen Bevölkerung erklärt werden. 30 Ökonomisch ruhte diese Übermacht offenbar auf der Teilnahme der Herrscher als solcher am | überseeischen Verkehr, der B 68 l für sie wohl zunächst ein monopolisierter Passivhandel mit den die Küste besuchenden Orientalen war, allmählich aber zum Eigenhandel 31 und im Verfolg desselben zu überseeischen Kriegsfahrten und zu kolonialer Expansion führte. Der Export mykenischer Schmiede- und Töpferarbeiten z. B. lag wohl zweifellos h, wie anfänglich auch im Orient,^ in der Hand des Königs, dessen Fröner1 die Waren für ihn herstellten, selbst, - wie denn später eine oft citierte kyrenäische Vase32 den dortigen König beim Abwägen

e A, B: herbeiführt,

f A: oft

g A: Frohnarbeit

h - / i Fehlt in A.

i A: Fröhner

29 Beide Punkte werden von Meyer, Geschichte des Altertums 2, S. 3 0 3 - 3 0 5 , hervorgehoben. 30 Dies betont Meyer, ebd., S. 167. 31 In der Literaturübersicht der dritten Fassung (unten, S.737) verweist Weber auf die Analyse des mykenlschen Handels bei Busolt, Griechische Geschichte 1 (S. 1 0 9 112).

32 Die nach dem abgebildeten König Arkesilaos II. von Kyrene (2. Viertel des 6. Jahrhunderts v.Chr.) benannte Pariser Arkesilaosschale wird bei Meyer, Geschichte des Altertums 2, mehrfach zitiert: S.469f., 547f., 608. Meyer, ebd., S.547, spricht vom „Zuschauen" des Königs.

176

Agrarverhältnisse

im Altertum

(1. und 2.

Fassung)

von Silphion k33 wohl nicht in der Funktion als Kontrolleur des Handels, sondern als Eigenhändler zeigt. Dieser, des Geldes noch entbehrende, Tauschverkehr füllt die Schatzkammern und Gräber der dünnen feudalen Schicht mit Gold, bringt ihnen das linnene orientalische Gewand, den Chiton, 34 und differenziert sie in ihren Bedürfnissen und ihrer Lebenshaltung gegenüber der waffenlosen Masse des platten Landes. Die Kolonisation dieser Frühzeit hat gleichfalls einen durch die Verbindung des Feudalismus mit dem Handel gegebenen Charakter: sie ist Ackerbaukolonisation nur insofern, als eben die abhängige Bauernschaft als Unterlage der zu gründenden 7tö)aq offenbar notwendig 'ist, - die „Geschlechter"' aber, welche diese in der Hand haben, wollen ebenso wie die heimischen Fürsten am Tauschverkehr gewinnen. Wie die ökonomischen Existenzbedingungen der Landbevölkerung, welche dem homerischen Epos nur eine elende Schicht von 0fjT£ Dahin gehören wesentlich die Arbeiten von Th[eodor] Knapp über Württemberg. 8 | x

d Fehlt in A. 6 So z. B. Wittich, G r u n d h e r r s c h a f t , S. 301 f.; ders., F r e i b a u e r n , S. 3 3 7 f . 7 Dieses Werk w a r in zwei Teilen 1893 u n d 1894 e r s c h i e n e n u n d von W e b e r s e l b s t 1895 in d e r H i s t o r i s c h e n Zeitschrift b e s p r o c h e n w o r d e n ( M W G i/4, S. 5 8 1 - 5 8 5 ) . 8 Zu n e n n e n s i n d vor a l l e m K n a p p , Theodor, Der Bauer im h e u t i g e n W ü r t t e m b e r g , sowie ders., G r u n d h e r r s c h a f t .

Der Streit um den Charakter

der altgermanischen

Sozialverfassung

243

Zeit befindet, zu fördern10). Es fehlt in den agrarhistorischen Erörterungen in der deutschen Literatur regelmäßig vor allem die Erörterung einer sehr wichtigen Frage: welche Verwendung der Grundherr den Naturalien, die ihm die Dienste und Abgaben seiner Bauern einbrachten, und welche Verwendung die Bauern ihren eigenen Produkten geben konnten und gegeben haben. Denn die Frage war, ob der Grundherr, dessen Bedürfnis nach erhöhter Lebenshaltung erwachte, auf seine Rechnung zu kommen vermochte, in dem er wesentlich den Bauern selbst wirtschaften ließ und sich begnügte, durch Besitzwechselabgaben, höhere Natural- oder auch Geldpachten an dem Ertrag der Bauernwirtschaft zu partizipieren, oder ob er seinen Zweck nur erreichen konnte, indem er den Bauern als Arbeitskraft in einem eigenen Großbetrieb verwendete. Diese Frage hing aber neben vielen anderen Momenten auch ganz wesentlich von dem Maße der „wirtschaftlichen Erziehung" der Bauern und - was damit aufs engste zusammenhing - von dem Grade der Entwickelung des lokalen Verkehrs, des selbständigen Gewerbes und städtischen Erwerbslebens überhaupt und der dadurch gegebenen lokalen Absatzchancen bäuerlicher Produkte ab. Die Chancen der bäuerlichen Kleinbetriebe sind je nach der Gestaltung dieser Verhältnisse auch heute ungemein verschieden. Wir wissen zur Zeit von der Lage dieser Verhältnisse noch viel zu wenig, und die agrargeschichtliche deutsche Literatur hat das Problem zu sehr nur unter rechts- und sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet, um schon ein Urteil abgeben zu können. Es muß genügen, hier darauf hinzuweisen, daß die eigentlich wirtschaftsgeschichtliche Arbeit an dieser Aufgabe noch nicht voll geleistet ist. Die Arbeiten der Knappschen Schule9 haben nun aber bei der Feststellung und Analyse der neueren Grundherrschaft nicht Halt Eine vorzügliche Darstellung des heutigen Standes unseres Wissens, verbunden mit A 4 3 5 urteilsvoller Abwägung aller einzelnen in Betracht kommenden Momente, findet sich bei: v. Below, Territorium und Stadt, 1900, S. 1 ff. Vergl. ferner: C[arl] J[ohannes] Fuchs, D i e Epochen der deutschen Agrarpolitik, 1898. 10 |

9 Die noch öfter genannte „Knappsche Schule" (vgl. unten, S.246 und 249) besteht, was die hier von Weber erörterten Fragen betrifft, im wesentlichen nur aus Wittich (vgl. das Folgende) sowie Georg Friedrich Knapp selbst, vgl. unten, S.246f. 10 Der vollständige Titel lautet: Die Epochen der deutschen Agrargeschichte und Agrarpolitik. Vgl. dazu unten, S.849.

244

Der Streit um den Charakter

der altgermanischen

Sozialverfassung

gemacht. Schon in dem Buche von Wittich begann der Regressus in die weitere Vergangenheit, die karolingische und schließlich die taciteische Zeit. 11 Das Ergebnis war die Behauptung der Alleinherrschaft der Grundherrschaft in allen Perioden der deutschen Agrargeschichte, soweit zurück man von einer solchen überhaupt s A 436 sprechen kann. Überall erschien in den mittelalterlichen | Quellen, im Sachsenspiegel ebensowohl wie in den Traditionen der fränkischen Zeit[,] die Grundherrschaft als allein greifbar vorhandenes Element der ländlichen Verfassung. Nirgends ließ sich ein Zustand vorherrschenden freien Bauerntums in diesen Quellen feststellen, 10 und da Tacitus in der Germania die Verwendung der Sklaven als abgabepflichtiger Bauern nach Art der römischen Kolonen erwähnt 11 ', so wurde daraus geschlossen, daß es einen breiten Stand freier deutscher Bauern in Wahrheit niemals gegeben habe, daß vielmehr der Bauer des Mittelalters der geschichtliche Nachfahre 15 jenes taciteischen Sklaven sei. Der bis dahin herrschenden Ansicht: daß die Grundherrschaft auf dem Kontinent das Ergebnis der fränkischen Zeit sei, entstanden aus der Umgestaltung des fränkischen Heeres aus einem Volksheer in ein Heer berittener Vasallen, welche die lehnsrechtliche Umgestaltung des ganzen Staatswesens und 20 damit die allmähliche auch e privatrechtliche Unterwerfung der freien Bauern herbeigeführt habe - dieser Auffassung schwand damit der Boden unter den Füßen. Der Bauer war von jeher unfrei, der freie Germane der Urzeit ein kleiner Grundherr, der von Sklavenabgaben lebte 12 '. Bei dieser Hypothese über die Verhältnisse 25 der germanischen Urzeit stieß nun die Knappsche Schule mit dem

A 436

n > Germania] 25: „Ceteris servis (nämlich mit Ausnahme der im Spiel gewonnenen) non in nostrum morem discriptis per familiam ministeriis utuntur: suam quisque sedem, suos penates regit. Frumenti modum dominus aut pecoris aut vestis ut colono injungit, et servus hactenus paret."' 12 > Wittich, Grundherrschaft, Anhang S. 108 ff. 12

e In A folgt: die

f A u s f ü h r u n g s z e i c h e n fehlt In A.

11 W e b e r bezieht sich auf Wittich, G r u n d h e r r s c h a f t , A n l a g e n , S. 1 0 4 * - 1 2 6 * . 1 2 W e b e r s e l b s t zitiert Wittich, G r u n d h e r r s c h a f t , A n l a g e n , S. 1 0 8 * - 1 1 2 * (zur F o r m u lierung im Text e b d . , S. 111*; vgl. a u c h Wittich, Freibauern, a u c h S. 252).

Der Streit um den Charakter

der altgermanischen

Sozialverfassung

245

inzwischen erschienenen großen Werke von Meitzen 13 ' zusammen, welches die agrarischen Zustände der Urzeit auf Grund der Flurkarten der deutschen Dörfer umfassend untersuchte und die seit Justus Moser für Westfalen, seit Olufsen für Dänemark, seit Hans5 sen für Schleswig-Holstein bekannte Theorie 13 von der Entstehung der deutschen Hufenverfassung aus dem vorherrschenden Gedanken der bäuerlichen Gleichheit freier Flurgenossen erneut und entschieden vertrat. Jenes charakteristische^] in allen Gebieten deutscher Siedelung auftretende System der Ackerverteilung, welches 10 in England „open field system" genannt wird: die Verteilung der Flur in eine größere Anzahl von „Gewannen", an deren jedem jeder einzelne Dorfgenosse einen gleichen Anteil zugewiesen erhält, galt auch Meitzen als ein Ausdruck jenes Gleichheitsstrebens, welches nur in dieser Form habe befriedigt werden können, und über15 all, wo die Siedlung von Anfang an eine freie und rein deutsche gewesen sei, auch nur so befriedigt worden sei.14 Alle Abweichungen davon seien entweder dem Hineinspielen fremder Siedlungen zuzuschreiben 14 ' oder daraus erklärlich, daß die betreffende Siedelung keine freie, sondern von einem den Boden nach Ermessen 20 austeilenden Grundherrn ins Leben | gerufen sei15'. Diese Meitzen- A 437 13 ' A [ u g u s t ] M e i t z e n , Siedelung u n d A g r a r w e s e n von W e s t g e r m a n e n u n d O s t g e r m a nen, von Kelten, R ö m e r n u n d Slaven, Berlin 1895. 1 5 14) So die E i n z e l h o f - S i e d e l u n g im Westen d e n Kelten, 1 6 die u n r e g e l m ä ß i g e „blockförmige" A u f t e i l u n g d e s L a n d e s im O s t e n d e n 9 Slaven. 1 7 | 15) So die im Westen a u c h auf rein d e u t s c h e m B o d e n nicht seltene gänzlich u n r e g e l m ä - A 437 ßige Verteilung von Gewannen 1 1 bei äußerlicher Ä h n l i c h k e i t mit d e r d e u t s c h e n Aufteilungsweise. 1 8

g A: der

h A: G e r m a n e n

13 Weber folgt Meitzen, Siedelung und Agrarwesen 1, S. 1 9 - 2 5 , der dort die Herausbildung der .genossenschaftlichen 1 Hufenverfassungstheorie von Justus Mosers „Osnabrückischer Geschichte" und seinen „Patriotischen Phantasien" In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts über Oluf Christian Olufsens einige Jahrzehnte jüngere dänische Arbeiten bis zu Hanssen darstellt. Hanssen, Georg, Agrarhistorlsche Abhandlungen, 2 Bände. - Leipzig: S. Hlrzel 1880-1884, hatte Weber in seiner „Römischen Agrargeschichte" benutzt (MWG I/2, bes. S. 165). Vgl. ferner Hanssen, Aufhebung, S . 5 - 9 . 14 So z. B. Meitzen, Siedelung und Agrarwesen 1, S. 77, 433. 15 Zum vollständigen und korrekten Titel vgl. den Eintrag im Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur, unten, S.859. 16 So z.B. Meitzen, Siedelung und Agrarwesen 2, S.77, 97. 17 Ebd., S.391, 413. 18 Weber bezieht sich offenbar auf die bei Henning, Besprechung Meitzen, S.240, genannten Beispiele aus Meitzens Werk. Vgl. ferner unten, S. 2 9 4 - 2 9 6 .

246

Der Streit um den Charakter

der altgermanischen

Sozialverfassung

sehe Hypothese von der ausschließlichen „Volkstümlichkeit" 19 der Siedelung in Dörfern mit einer derartigen Gewannverfassung wurde nun unter den germanischen Kulturhistorikern namentlich von Henning16"1 angefochten, da der grundherrliche Ursprung der unregelmäßigen Fluren nicht nachweisbar sei, gerade auf den ältesten Fluren die größte Unregelmäßigkeit der Aufteilung herrsche und Meitzens Hypothese speziell für Skandinavien nicht passe. Ebenso aber trat ihr naturgemäß Gfeorg] F[riedrich] Knapp in einer geistvollen Besprechung des Meitzenschen Werkes 17 ' entgegen. Und Meitzen selbst hatte, indem er die Hundertschaftseinteilung der Germanen und die Berichte Cäsars über die Sueven auf einen zu Cäsars Zeit noch bestehenden Nomadenzustand der Germanen deutete, 20 direkten Anlaß zu einer Festigung und Fortentwickelung der Hypothese von der Ursprünglichkeit der bäuerlichen Unfreiheit bei den Deutschen gegeben. Er selbst war der Ansicht, der Übergang der Germanen von der nach seiner Ansicht zu Cäsars Zeit noch herrschenden nomadisierenden Viehzucht zum Ackerbau sei ein Akt der Emanzipation der Arbeit vom Besitz gewesen: Die Siedelung sei hervorgegangen aus dem Streben der viehlosen, und das heißt von den Viehbesitzern abhängigen, Massen nach ökonomischer Selbständigkeit. 21 Dem wurde nun aber von seiten der Knappschen Schule die umgekehrte Hypothese gegenübergestellt: Der freie Germane sei zu Cäsars Zeit ein nomadisierender großer Viehbesitzer gewesen, welcher den damals eben neu aufkommenden Ackerbau, den er, wie alle Nomaden, verachtet habe, durch Unfreie für seine Rechnung habe besorgen lassen. Diese Abhängigkeit der ackerbauenden Unterschicht der Bevölkerung von den großen Herdenbesitzern nun sei gerade die geschichtliche Quelle der grundherrlichen Abhängigkeit, in welcher sich diese Unterschicht später - zu Tacitus' Zeit und weiterhin im Mittelalter - von der ehemals herdenbesitzenden, nunmehr grundherrlichen, !6

> Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Bd. 25,1899, S. 225 ff. 22 < Beilage zur „Allgemeinen Zeitung" vom 27. Oktober 1896. 23

17

1 9 Der Begriff findet s i c h z . B . bei M e i t z e n , S i e d e l u n g u n d A g r a r w e s e n 1, S . 3 3 . 2 0 E b d . , S. 1 3 2 - 1 3 4 , 144. 21 E b d . , S. 139f. 2 2 W e b e r zitiert H e n n i n g , B e s p r e c h u n g M e i t z e n . 2 3 W e b e r zitiert K n a p p , B e s p r e c h u n g M e i t z e n .

Der Streit um den Charakter der altgermanischen

Sozialverfassung

247

Oberschicht befunden habe. Wittich, welcher diese Meinung eingehender begründete18^, stützte sich für sie auf eine kulturhistorische Theorie, welche Richard Hildebrand 19 ) kurz vorher über die Perioden der gesamten Rechts- und Kulturentwickelung aufgestellt 5 hatte20). Diese Theorie war einer der neuerdings so zahlreichen Versuche, die Kulturentwickelung nach Art biologischer Prozesse als ein gesetzliches Nacheinander verschiedener, überall sich wiederholender „Kulturstufen" zu be| greifen. Als eine solche gesetzlieh bei allen Völkern auftretende Stufe galt ihr auch das Nomaes ging überall - wenigstens im Occident - dem Ackerbau 10 dentum: 24 voran, und es erfolgte der Übergang zum Ackerbau mit enger werdendem Nahrungsspielraum bei allen Völkern in gleicher Weise, so daß z. B. aus der Analogie der Zustände bei den Kirgisen und den Arabern erschlossen werden kann, 25 was uns die Quellen der 15 germanischen Vorzeit unvollständig oder gar nicht berichtet haben. Nach Analogie der Stellung nun, welche der Ackerbau und die Ackerbauer bei den noch heute nomadisierenden Völkern einnehmen, wurde die Stellung des Ackerbaues bei den Germanen zu Cäsars Zeit rekonstruiert. Aus der Verachtung des Ackerbaues bei 20 den Nomadenvölkern wurde demgemäß auf die Verachtung der Ackerbauern bei den - angeblich damals noch halbnomadischen Germanen und auf ihre Unfreiheit und Abhängigkeit von den großen Herdenbesitzern geschlossen.26 - Es kam Wittichs Konstruktion der bäuerlichen Unfreiheit des ackerbauenden Germanen aber 25 außerdem zu gute, daß gleichzeitig auf dem Boden der Rechtsgeschichte ein umfassender Angriff gegen die bisher geltenden An18

> Historische Zeitschrift, Bd. 79,1897, S. 45 ff. 27 R[ichard] Hildebrand, Recht und Sitte auf den verschiedenen wirtschaftlichen Kulturstufen, 1. Teil, 1896. 2 "> Wittich hat seine Aufstellungen in manchen einzelnen Punkten kritisiert, ihre entscheidenden Thesen aber sich dennoch zu eigen gemacht. 28 | 19)

2 4 V g l . a u c h o b e n , S. 146. 2 5 Z u g r u n d e liegt H i l d e b r a n d , R e c h t u n d Sitte, j e d o c h o f f e n b a r in der W i e d e r g a b e b e i Wittich, W i r t s c h a f t l i c h e Kultur, S . 5 0 f . 2 6 W e b e r spielt an auf H i l d e b r a n d , R e c h t u n d Sitte, a b e r wohl n a c h Wittich, Wirts c h a f t l i c h e Kultur, S. 5 3 f . 2 7 W e b e r zitiert Wittich, W i r t s c h a f t l i c h e Kultur. Der Artikel b e g i n n t bereits auf S. 44. 2 8 Der A u f s a t z v o n Wittich, W i r t s c h a f t l i c h e Kultur, e r s c h i e n als B e s p r e c h u n g d e s Buc h e s v o n H i l d e b r a n d (vgl. o b e n , S. 235, A n m . 38).

A438

248

Der Streit

um den Charakter

der altgermanischen

Sozialverfassung

schauungen über die ständische Gliederung der germanischen Stämme erfolgte. Man war bis dahin auf Grund der Überlieferung der Chronisten und der Bestimmungen der germanischen Volksrechte gewohnt, einen Unterschied anzunehmen zwischen den sozialen Verhältnissen der Franken (seit der Zeit ihres erobernden 5 Vordringens auf römischem Boden) einerseits und denjenigen der innerdeutschen Stämme, speziell der Sachsen andererseits. Der altgermanische Volksadel, die „nobiles" des Tacitus, seien, so sagte man, 29 bei den Franken in der Eroberungsepoche verschwunden, und ein neuer Adel sei bei ihnen erst im Gefolge der feudalen Ent- 10 Wickelung entstanden. Dagegen sei der alte „Volksadel" jedenfalls bei den Sachsen in Gestalt der „nobiles" der lex Saxonum erhalten geblieben, und seine Rechtsstellung sei in der Karolingerzeit bis zur sozialen Deklassierung der alten Gemeinfreien, der liberi, gesteigert worden. Man nahm also an, daß die germanische Urzeit neben 15 dem bäuerlichen Gemeinfreien (liber) einen durch soziale Schätzung ausgezeichneten „Uradel" gekannt habe. Die Völkerwanderung habe ihn bei den wandernden, von Königen und Herzögen beherrschten Stämmen überall in seiner Stellung erschüttert, bei den Franken ganz beseitigt. Demgegenüber entwickelte nun 20 Ph[ilipp] Heck2V> in mehreren Arbeiten die Auffassung, daß ein solcher Unterschied nicht bestanden habe, vielmehr der nobilis (Edeling) in den innerdeutschen Volksrechten der Karolingerzeit in seiner Rechtsstellung und seinem ständischen, namentlich im Wergeid ausgedrückten Range identisch sei mit dem homo francus oder in- 25 genuus der lex salica, daß also ebenso in Sachsen wie in Franken A 439 und wie überall sonst | ein „Volksadel" von jeher gefehlt, die gesamte Bevölkerung unterhalb der mit den „Gemeinfreien" identischen „nobiles" zu den sozial und politisch Abhängigen gehört habe und insbesondere die „Frilinge" Sachsens freigelassene oder 30 nicht vollbürtige Leute gewesen seien. 30 Diese rechtshistorischen A 438

21 > P h [ i l i p p ] H e c k , D i e a l t f r i e s i s c h e G e r i c h t s v e r f a s s u n g . W e i m a r 1894. - D i e G e m e i n f r e i e n d e s k a r o l i n g i s c h e n V o l k s r e c h t s . H a l l e 1900. 31 |

2 9 D i e s e ältere A u f f a s s u n g f a n d s i c h z. B. bei Brunner, D e u t s c h e R e c h t s g e s c h i c h t e 1, S. 108 u n d 251 ( = 1 2 , S. 149f. u n d 3 4 7 - 3 5 0 ) . 3 0 S o H e c k , A l t f r i e s i s c h e G e r i c h t s v e r f a s s u n g , b e s . S. 2 2 3 - 3 0 8 , s o w i e ders., G e m e i n freie, p a s s i m . 3 1 Der z w e i t e Titel lautet: Die G e m e i n f r e i e n der k a r o l i n g i s c h e n V o l k s r e c h t e .

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Thesen waren nun offenbar eine willkommene Stütze der von der Knappschen Schule entwickelten wirtschaftsgeschichtlichen Hypothese von der Ursprünglichkeit der Grundherrlichkeit des gemeinfreien Deutschen. Zwar trat Heck seinerseits entschieden der Ver5 wertung seiner Ansicht zu Gunsten der grundherrlichen Hypothese Wittichs entgegen: Er selbst hielt seine Edelinge nicht für „Grundherren"1, sondern lediglich für gemeinfreie Bauern mit einem Besitz von nur wenigen, mindestens zu einem Teil selbst bewirtschafteten Hufen. 32 Allein naturgemäß ließ Wittich22) sich da10 durch nicht hindern, in dem Heckschen nobilis seinen gemeinfreien Grundherren zu finden, von dem er zugab, daß er neben der Ausnutzung abhängiger Bauern wohl oft oder vielleicht selbst regelmäßig auch eine kleine eigene Wirtschaft auf dem „mansus indominicatus" geführt haben möge.33 Die führenden deutschen 15 Germanisten Brunner23), R[ichard] Schröder24), ferner aber auch so ausgezeichnete Agrarhistoriker wie Vinogradoff25) und andere26) sind der Heckschen ebenso wie der Hildebrand-Wittichschen Hypothese scharf entgegengetreten, nicht minder natürlich Meitzen.34 Andrerseits erfuhren dessen Anschauungen von dem ursprüng22 < Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, A 439 Bd. 22,1901, S. 245.35 23 > Zeitschrift für Rechtsgeschichte, German. Abt., Bd. 23,1902, S. 193.36 24 > Zeitschrift für Rechtsgeschichte, German. Abt., Bd. 24,1903, S. 347.37 25 > Zeitschrift für Rechtsgeschichte, German. Abt., Bd. 23,1902, S. 123.38 26) y e r g i gegen Hildebrand insbesondere die vortrefflichen Ausführungen von Kötzschke, Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, N.F. 1897/8 II, S. 269-316, 39 gegen Wittich: A[dolf] Köcher in der Zeitschrift des Historischen] Ver[eins] für Niedersachsen, S. 1 ff.40

i A: „Grundherren 3 2 H e c k , G e m e i n f r e i e , S. 2 9 2 - 3 2 2 . 3 3 Wittich, F r e i b a u e r n , S. 276. 3 4 G e m e i n t ist M e i t z e n , B e s p r e c h u n g Wittich, b e s . S p . 1 9 0 3 - 1 9 0 8 ; g e g e n H e c k e b d . , S p . 1904. 3 5 W e b e r zitiert Wittich, F r e i b a u e r n . 3 6 W e b e r zitiert Brunner, S t ä n d e r e c h t l i c h e P r o b l e m e . 3 7 W e b e r zitiert S c h r ö d e r , A l t s ä c h s i s c h e r V o l k s a d e l . 3 8 W e b e r zitiert V i n o g r a d o f f , W e r g e i d und S t a n d . 3 9 G e m e i n t ist K ö t z s c h k e , G l i e d e r u n g der G e s e l l s c h a f t , vgl. d a z u a u c h d e n Editoris c h e n Bericht, o b e n , S . 2 3 0 f . 4 0 W e b e r zitiert K ö c h e r , U r s p r u n g der G r u n d h e r r s c h a f t , b e s . S. 2 - 7 .

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liehen Nomadentum der Deutschen - der Punkt, in welchem er mit Wittich übereinstimmte - namentlich durch Rachfahl 27 ' eine lebhafte Kritik. Wie man sich zu jener „grundherrlichen Hypothese" 41 zu stellen hat, ist zur Zeit die wichtigste Frage der ältesten deutschen Agrargeschichte. Zu ihr soll, da es sich hier lediglich um eine Interpretation von Quellen handelt, die schwerlich je eine Vermehrung erfahren werden, im folgenden Stellung genommen werden. Dabei können naturgemäß nur diejenigen Gebiete Berücksichtigung finden, welche seit den Zeiten Cäsars ununterbrochen deutsch besiedelt gewesen sind, also die Länder zwischen Rhein, Main und Elbe, die Sitze der Sachsen, Thüringer und (teilweise) Franken. Von ihnen sprechen Cäsar und Tacitus bei ihren Angaben über germanisches Leben, sie sind das größte zusammenhängende Gebiet, in dem die von Meitzen als spezifisch deutsch bezeichnete Siedelungsform herrschte, auf sie vornehmlich bezieht auch Wittich seine Hypothese. Es ist ja a priori durchaus nicht abzusehen, warA 440 um in Bezug auf | die soziale Gliederung nicht zwischen den deutschen Stämmen die größten Verschiedenheiten geherrscht haben sollten. Daß die Einzelhofgebiete ganz die gleiche Agrarverfassung gehabt haben sollen, wie die Gegenden mit dorfweiser Siedelung, die östlichen Kriegervölker, wie Goten und Vandalen mit ihrem großen Sklaven- und HerdenbesitZ[,j dieselbe, wie die schon zu Cäsars Zeit seßhaften und kultivierteren Völker am Rhein, ist an und für sich und - wie wir gleich sehen werden 42 - auch nach den Quellen ganz unwahrscheinlich. Schon das bedingt jene Beschränkung. Die Anschauung von dem urgermanischen Nomadentum beruft sich in weitgehendem 'Maße auf¡Analogien anderer Nomadenvölker. Wittich insbesondere stützt sich für die Heranziehung von solchen zur Erklärung des deutschen Altertums auf den Satz: „Sobald 27

> Jahrbücher für Nationalökonomie, Bd. 74,1900, S. 1 ff., 161 ff. 43 |

j A: auf M a ß e 41 Zum Begriff der .grundherrlichen Theorie des germanischen Ständewesens' vgl. Brunner, Nobiles und Gemeinfreie, S.77. 4 2 Siehe unten, bes. S. 2 5 3 - 2 6 9 . 4 3 Weber bezieht sich auf Rachfahl, Zur Geschichte des Grundeigentums, bes. S. 3 0 - 3 2 , 162f., 169, Anm. 1, und S. 177.

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die gleiche wirtschaftliche Kulturstufe erreicht ist, sind eben die durch wirtschaftliche Umstände wesentlich bedingten Institutionen einander gleich und es kommt dann wenig darauf an, ob diese wirtschaftliche Kulturstufe unter gleichen oder verschiedenartigen natürlichen Voraussetzungen erreicht worden ist." 44 Er deduziert demgemäß aus dem generellen Charakter der Kulturstufe des „Halbnomadentums" heraus, welcherlei soziale Bedingungen der Siedelung der Germanen zu Grunde gelegen haben müssen. Meines Erachtens ist dieses Verfahren des auch von mir sehr hoch geachteten Gelehrten ein gutes Beispiel dafür, wie man den Begriff einer „Kulturstufe" wissenschaftlich nicht verwerten darf. Begriffe von der Art k wie „Nomadentum", „Halbnomadentum" etc. werden wir für die Darstellung nie entbehren können. Und für die Forschung ist der fortwährende Vergleich der Entwickelungsstadien der einzelnen Völker untereinander und die Aufsuchung von Analogien ein heuristisches Mittel, welches bei vorsichtiger Verwendung in hohem Maße geeignet ist, die historische Eigenart jeder einzelnen Entwickelung in ihrer ursächlichen Bedingtheit zum Bewußtsein zu bringen. Aber ein schweres Mißverständnis des Forschungsz/e/ey der Kulturgeschichte ist es, wenn man die Konstruktion von „Kulturstufen" für mehr hält, als ein Darstellungsmittel, und die Einordnung des Historischen in solche begrifflichen Abstraktionen als Zweck der kulturgeschichtlichen Arbeit behandelt - wie Hildebrand es tut -; 4 5 und ein Verstoß gegen die Forschungsmethode ist es, wenn wir eine „Kulturstufe" als etwas anderes als einen Begriff ansehen, sie wie ein reales Wesen nach der Art der Organismen, mit denen die Biologie zu tun hat, oder wie eine Hegelsche „Idee" behandeln, welche ihre einzelnen Bestandteile aus sich „emanieren" läßt, 46 und sie also zur Konstruktion von Anak A: A r t , 44 Weber zitiert (mit eigenen Hervorhebungen) Wittich, Wirtschaftliche Kultur, S.58 (dort jeweils „wirtschaftlich"). 45 Weber bezieht sich auf Hildebrand, Recht und Sitte, der S. III die Ordnung des von Ihm bei den verschiedenen Völkern gewonnenen rechts- und sittengeschichtlichen Materials „nach wirtschaftlichen Kulturstufen" als sein Ziel erklärt. 46 Der ursprünglich antik-neuplatonische Begriff („ausfließen") war kein technischer Ausdruck in Hegels Philosophie bzw. Logik (wo vielmehr die dialektische Entfaltung der ,ldee' im Vordergrund stand), sondern wird von Weber in etwas allgemeinerem Sinn gebraucht.

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logieschlüssen verwenden: weil auf die historische Erscheinung x die andere historische Erscheinung y zu folgen pflegt oder weil beide koexistent zu sein pflegen, deshalb muß auf xl - yi folgen oder mit ihm koexistent sein, denn x und xx sind begriffliche Bestandteile „analoger" Kulturstufen. 5 Wenn wir eine „Kulturstufe" konstruieren, so bedeutet dieses | A 441 Gedankengebilde, in Urteile aufgelöst, lediglich, daß die einzelnen Erscheinungen, die wir dabei begrifflich zusammenfassen, einander „adäquat" sind, ein gewisses Maß innerer „Verwandtschaft" - so können wir es ausdrücken - miteinander besitzen, niemals aber, 10 daß sie mit irgend einer Gesetzmäßigkeit auseinander folgen. Mit anderen Worten: sie sind begriffliche Darstellungsmittel, aber nicht Grundlagen für ein Schlußverfahren nach dem berüchtigten Schema: „Alle Menschen sind sterblich, Cajus ist ein Mensch, also ist er sterblich." 15 Verfolgen wir nun Wittichs Analyse der Nachrichten bei Cäsar und Tacitus über die sozialen Verhältnisse der Germanen im einzelnen. Wittich hat zweierlei miteinander nicht zu vereinigende Hypothesen aufgestellt. Nach der einen - in seinem Aufsatz in der Histo- 20 rischen Zeitschrift - sind die „magistratus ac principes" Cäsars das wäre also die „nobilitas" des Tacitus - die Träger der Grundherrschaft; 47 nach der anderen - in seinem Buch über die Grundherrschaft in Nordwestdeutschland und in seinem Aufsatz in der Zeitschrift für Rechtsgeschichte - ist es die Schicht der Gemeinfrei- 25 en (liberi) des Tacitus,48 das wäre also die „plebs" Cäsars. Wir prüfen zunächst die erste dieser Möglichkeiten. „Die von Cäsar als magistratus ac principes bezeichneten Personen waren", meint Wittich, 49 „gewöhnlich keine mit einem Imperium ausgestatteten Beamten, 50 sondern die angesehensten und 30 reichsten Mitglieder der einzelnen Sippe 511 ...' Von ihnen waren auch die verarmten Geschlechtsgenossen sozial und wirtschaftlich I A u s l a s s u n g s z e i c h e n in A. 47 48 49 50 51

So Wittich, W i r t s c h a f t l i c h e Kultur, S. 62f., 66. S o Wittich, G r u n d h e r r s c h a f t , A n l a g e n , S. 109*f., s o w i e ders., Freibauern, S. 252. W e b e r zitiert Wittich, W i r t s c h a f t l i c h e Kultur, S. 66. Bei Wittich, e b d . , heißt es: „ausgestattete Beamte". Bei Wittich, e b d . , heißt es: „ S i p p e n " .

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abhängig, da gerade diese neben Unfreien den Ackerbau in ihrem Auftrag und mit ihrer Unterstützung betrieben." Er denkt sich mithin die Grundherrschaft entstanden aus der sozialen Übermacht der großen Herdenbesitzer über die Besitzlosen, indem nämlich mit allmählicher Ausbreitung des Anbaues die großen Unternehmer, welche die „Bannerträger" jedes „wirtschaftlichen Fortschrittes" gewesen seien - beiläufig bemerkt, eine sehr moderne Vorstellung -[,] zu Grundherren sich entwickelt hätten. Er nimmt dabei für die wirtschaftlichen Zustände der Germanen zu Cäsars Zeit an, daß eben damals der Übergang von nomadisierender Viehzucht zum Ackerbau sich vollzogen habe. 52 Für das Verständnis von Cäsars Nachrichten 28 ' über die Germanen muß man sich nun vor allem gegenwärtig halten, daß ein Teil seiner Angaben sich speziell auf die Verhältnisse eines gerade damals im kriegerischen Vordringen gegen den Rhein befindlichen Volksstammes: der Sueven, bezieht, andere dagegen Völker betreffen, welche ansässig und durch die Berührung mit der Kultur | des A 442 Westens, namentlich mit dem Handel, dessen Bedeutung Cäsar (Commfentarii] 4, 3) 53 stark betont, erheblich beeinflußt waren. Die Nachrichten bezüglich beider Kategorien gehen mehrfach durcheinander, und es muß in jedem Falle geprüft werden, ob Cäsar die wandernden Germanenstämme, mit denen er militärisch zu tun hatte, oder die Westgermanen im Auge hat. Der Gegensatz tritt aufs deutlichste hervor bei Gegenüberstellung der ohne Sattel reitenden Sueven, welche wesentlich von Milch und Fleisch ihre Viehes, von Jagd und Krieg leben, den Weinimport bei sich verboten 28 ' Hier, wie in den meisten anderen Punkten, die nachstehend erörtert werden, freue A 441 ich mich, wie eine gelegentliche Aussprache mit meinem Kollegen Hoops ergab, mit dessen zur Zeit (Juli 1904) im Druck befindlichen Werk: „Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum" durchweg, und zwar ohne jede gegenseitige Beeinflussung, zu demselben Resultat gekommen zu sein. 54 |

5 2 W e b e r b e z i e h t s i c h auf Wittich, W i r t s c h a f t l i c h e Kultur, S. 65f., w o b e i j e d o c h (ebd., S. 65) nicht v o n „ B a n n e r t r ä g e r n " , s o n d e r n von „ B a h n b r e c h e r n " d i e R e d e ist. 5 3 Die C a e s a r z i t a t e s i n d hier u n d im f o l g e n d e n (bis S . 2 7 1 ) d e n „ C o m m e n t a r i i belli G a l l i c i " (bzw. „De b e l l o G a l l i c o " ) e n t n o m m e n . 5 4 B e i H o o p s , W a l d b ä u m e u n d K u l t u r p f l a n z e n , S . 4 0 4 f . , A n m . 1, heißt e s unter Bez u g n a h m e auf d i e s e Fußnote W e b e r s : „es freut m i c h , [...] bestätigt z u finden, w a s eine U n t e r r e d u n g im letzten S o m m e r [...] erwarten ließ, d a ß u n s e r e U n t e r s u c h u n g e n [...] s i c h g e g e n s e i t i g s t ü t z e n u n d e r g ä n z e n " . Vgl. d a z u a u c h d e n E d i t o r i s c h e n Bericht, o b e n , S. 231.

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haben, Kaufleute überhaupt nur zum Vertreiben der Kriegsbeute zulassen, einerseits - und andererseits der Ubier, Usipeten, Tenkterer und Sigambrer, überhaupt der Rheinufergermanen, welche umgekehrt durch den starken Verkehr fremder Kaufleute bei sich „ceteris humaniores" 55 geworden sind und nach einer wichtigen, 5 bisher in diesen Erörterungen ganz unbeachtet gebliebenen Nachricht Cäsars Arbeitsvieh importierten, während die Sueven[,| wie Cäsar berichtet, mit ihrem eigenen unscheinbaren, aber höchst leistungsfähigen Vieh auskamen (4,2) 29 \ Aus diesen Notizen, welche, weil offenbar auf die Angaben von Kaufleuten zurückgehend, zu 10 den sichersten und unzweideutigsten gehören, die wir besitzen, ergibt sich zunächst, daß die Rheinufergermanen, um - wie Cäsar sagt - zu hohem Preise („impenso pretio") kaufen zu können, 56 in der Lage sein mußten, ihrerseits Wirtschaftsüberschüsse irgend welcher Art zu verkaufen. Dies stimmt durchaus mit den Berichten 15 von Dio, 57 Vellejus Paterculus 58 und Florus 59 über die Verhältnisse, wie sie 4V2 Jahrzehnte 60 später, vor der Varusschlacht, in Westfalen A 442

29) Die Stelle ist freilich in der Lesung und Interpunktion nicht ganz sicher: „ m .. , m etiam jumentis quibus maxime Gallia delectatur (alias:61 Galli delectantur) quaeque impenso parant pretio Germani importatis hi (alias: his) non utuntur[,] sed quae sunt apud eos nata parva atque deformia haec quotidiana exercitatione summi ut sint laboris efficiunt". Da ausdrücklich nur von den Sueven die Rede ist - vergl. die Stelle von den Kaufleuten unmittelbar vorher mit dem, was cap. 3 gesagt wird, - so ist meines Erachtens ganz zweifellos das Komma nach „Germani" zu setzen, und „hi" sind die Sueven im Gegensatz zu den anderen Germanen. Es handelt sich in c. 1 und 2 gerade um Eigentümlichkeiten der Sueben im Gegensatz zu den übrigen Germanen. 6 2 |

m Auslassungszeichen in A. 55 Weber zitiert Caesar, De bello Gallico 4, 3, 3. Für die zuvor g e n a n n t e n Details vgl. e b d . 4, 1 - 3 . 56 Caesar, e b d . , 4, 2, 2. 57 G e m e i n t ist Cassius Dio 56, 18, 2. 58 Vellerns Paterculus 2, 117, 3 - 1 1 8 , 1. 59 Florus 2, 30 (4, 12), 3 6 f . 60 Die im IV. B u c h von C a e s a r s C o m m e n t a r i i g e s c h i l d e r t e n Ereignisse (55 v.Chr.) u n d die V a r u s s c h l a c h t (9 n . - nicht v. - Chr.) liegen fast 6V2 J a h r z e h n t e auseinander. 61 D. h.: sonst, in sonstiger Lesart. 62 Die hier bestrittene Lesart von De bello Gallico 4, 2, 2 w ü r d e d a g e g e n b e s a g e n , daß die G e r m a n e n , nicht nur die S u e b e n , i n s g e s a m t keine Pferde importierten. ,Hi' (statt d e s teilweise überlieferten ,his') ist offenbar (wie a u c h die v o r g e s c h l a g e n e K o m m a s e t z u n g ) eine e i g e n e , a l l e r d i n g s s y n t a k t i s c h f r a g l i c h e Textkonjektur W e b e r s , die die B e s c h r ä n k u n g der A u s s a g e auf die S u e b e n d e u t l i c h m a c h e n soll. - Bei d e n ,iumenta' ist, wie der Kontext zeigt, nicht nur an „ A r b e i t s v i e h " , s o n d e r n e b e n s o an Reitpferde zu d e n k e n .

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bestanden. Wenn die dortigen Germanen damals die Märkte, welche die Römer angelegt hatten, besuchten, 63 vor dem römischen Gericht ihre Prozesse führten 64 und nach dem Siege speziell an den römischen Sachwaltern Rache genommen haben sollen, 65 so läßt sich daraus natürlich auf die „Kulturstufe" direkt nichts schließen, es paßt aber jedenfalls nicht zu gänzlich primitiven, „halbnomadischen" Zuständen. Insbesondere aber ergibt der bei Cäsar berichtete Import von Arbeitsvieh 66 - denn nur das heißt „jumenta" 67 mit Sicherheit eine relativ erhebliche Entwickelung der Ackerbaukunst, speziell des Pflügens. Die Ackerbautechnik speziell der Ubier wird denn auch schon lV 2 Jahrhunderte später von römischen Schriftstellern als vorgeschritten behandelt: speziell das Mergeln wird als ihnen eigentümlich erwähnt, 68 wie denn überhaupt für „Dünger" gemeingermanische Bezeichnungen | existieren. 69 Ich A 443 bin sogar - obwohl dies reine Hypothese bleibt - geradezu geneigt, anzunehmen, daß die Verwendung des spezifisch westgermanischen Pfluges mit jenem von Cäsar 70 erwähnten starken Bedarf an Spannvieh zusammenhängt. Darüber einige Worte. Es gehört zu den glänzendsten Verdiensten des Meitzenschen Werkes, den Zusammenhang der Fluraufteilung der Germanen mit der Eigenart des Ackerinstrumentes, welches sie gebrauchten, aufgezeigt zu haben. 71 Im Gegensatz zu den Mittelmeervölkern, ebenso wie zu den Slaven30), gebrauchten wenigstens die Westgermanen

30) Auch bezüglich der Kelten ist vorläufig die Wahrscheinlichkeit noch eine sehr hohe, A 4 4 3 d a ß sie (etwa zu Cäsars Zeit) nicht mit „Pflügen", sondern mit „ H a k e n " den A c k e r bestellten. 7 2

63 Cassius Dio, wie oben, S. 254, Anm. 57. 64 Vellerns Paterculus 118, 1. 65 Florus, wie oben, S. 254, Anm. 59. 66 Caesar, De bello Gallico 4, 2, 1. 67 Vgl. oben, Anm. 62. 68 Plinius, Historia naturalis 17, 6 (8), 47. 69 Auf eine solche gemeingermanische Bezeichnung scheint etwa das heutige „Mist" zurückzugehen. 70 Caesar, De bello Gallico 4, 2, 2 (oben, S. 254, mit Webers Fußnote 29). 71 Weber nimmt hier und im folgenden Bezug auf Meitzen, Siedelung und Agrarwesen 1, S. 272-284. Vgl. auch oben, S. 174 mit Anm. 21. 72 Weber fußt auf Meitzen, Siedelung und Agrarwesen 1, S. 280.

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- denn mindestens bei den Goten hat es offenbar anders gelegen die gleiche Form des Pfluges, welche noch seiner heutigen Gestalt zu Grunde liegt und sich durch die Möglichkeit auszeichnete, den Boden durch Ziehen paralleler Furchen vollständig für die Aufnahme der Saat vorzubereiten, während die Römer und Slaven mit ihrem Hakenpfluge, der den Boden nicht wendete, sondern nur aufwühlte, zum Kreuz- und Querpflügen genötigt waren. Daher die für die germanische Agrarverfassung grundlegende Verteilung des germanischen Ackers in schmalen Streifen, des römischen in Quadraten oder breiten Rechtecken, des slavischen - nach Meitzens Terminologie - in „Blöcken". 73 Dieses deutsche Ackerinstrument nun ist es, welches im Gegensatz zu allen nur hakenförmigen Werkzeugen den ursprünglich nicht gemeingermanischen, sondern nur westgermanischen Namen „Pflug", sprachlich zusammengehörig wahrscheinlich mit „pflegen", führte 31 ). 74 Plinius (Hist[oria] naturalis] n XVIII, 48")75 berichtet: „latior haec (seil, cuspis) quarto generi et acutior in mucronem fastigata eodemque gladio scindens solum et acie laterum radices herbarum secans. Non pridem inventum in Raetia Galliae ut duas adderent tali rotulas quod genus vocant plaumorati". Statt „plaumorati" ist nach Baists32) überzeugender Konjektur „ploum Raeti" zu lesen, und das „ploum" entspricht offenbar dem „plovum" oder „plovium" der longobardischen 0 Quellen und dem westgermanischen „Pflug", - so daß also zu Pliniust'l Zeit jenes mit einem später spezifisch westgermanischen 31) A u c h d a s W o r t „ p f l e g e n " ist u r s p r ü n g l i c h n u r w e s t g e r m a n i s c h . B e i d e , „ P f l u g " w i e „ p f l e g e n " , s i n d , w i e a l l e W o r t e m i t p, in B e z u g a u f i h r e n g e r m a n i s c h e n Ursprung verdächtig32 > W ö l f f l i n s A r c h i v , B d . 3, S . 2 8 5 . 7 6

n A: X V I I I , 18

o Veraltet für: l a n g o b a r d i s c h e n

7 3 S o z . B . M e i t z e n , S i e d e l u n g u n d A g r a r w e s e n 2, S . 2 6 1 , 3 9 2 u n d 4 1 2 . 7 4 Ein Teil der f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n dürfte auf d e n o b e n , S . 2 5 3 , F n . 2 8 , e r w ä h n ten G e d a n k e n a u s t a u s c h mit H o o p s im S o m m e r 1904 z u r ü c k g e h e n , vgl. ders., Waldb ä u m e u n d K u l t u r p f l a n z e n , S. 5 0 6 - 5 0 8 , wo a u c h Baist zitiert wird. A l l e r d i n g s s c h e i nen W e b e r d a b e i z w e i U n g e n a u i g k e i t e n unterlaufen z u sein, insofern ,Pflug' u n d .pfleg e n ' nicht a u s s c h l i e ß l i c h w e s t g e r m a n i s c h s i n d u n d a u s d e m L a n g o b a r d i s c h e n allein ,plovum' überliefert ist. 7 5 Plinius, H i s t o r i a naturalis 18, 18 (48), 172. 7 6 D a s Zitat betrifft Baist, P l o u m - plaumorati.

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Ausdruck 33 ' bezeichnete13 Instrument an der deutschen Grenze bereits mit dem sicher auf Bespannung durch Zugvieh deutenden Radgestell versehen war. Und zwar ist natürlich die Bespannung des Pfluges der Zufügung der Räder vermutlich lange vorangegangen. Das Herrschen bespannter schwerer Pflüge bei den Rheinufergermanen schon im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ist also nicht fraglich | und geht vielleicht schon auf Cäsars Zeit zu- A 444 rück 34 '. 77 Eine besonders niedrige Technik der Feldbestellung bei den ansässigen westdeutschen Völkern zu Cäsars Zeit anzunehmen, liegt schon aus diesem Grunde keinerlei Anlaß vor. Aber auch Cäsars Nachrichten begründen eine solche Annahme nicht. Den Vormarsch gegen die Sueven nach dem zweiten Rheinübergange (6,29) stellt Cäsar allerdings wegen befürchteten Getreidemangels ein, weil minime omnes - zu übersetzen: „keineswegs alle" - Germani agriculturae Student: nämlich eben die Sueven nicht. Da an dieser Stelle ausdrücklich auf die Bemerkung Kapitel 22 zurückverwiesen wird, wo es von den Germanen im allgemeinen heißt: agriculturae non Student, so ist sicherlich auch diese Bemerkung - die wohl nur besagt: daß sie nicht mehr als den unentbehrlichen Eigenbedarf, keine Überschüsse, bauen - als wesentlich nur für die Zustände der Sueven geltend zu verstehen. Das gleiche gilt von der daran anschließenden Angabe über die vorwiegende Milch-, Fleisch- und Käsenahrung, welche gleichfalls mit dem, was Commfentarii] 4,1 als eine Eigentümlichkeit speziell der Sueven dargestellt wird, fast wörtlich übereinstimmt. Die Usipeten und Tenkterer dagegen gehen über den Rhein, weil sie durch die fortwährenden Angriffe der Sueven in der „agricultura", was hier nur „Ackerbau" heißen kann, gestört werden (4,1). Die germanischen Stämme, mit denen Cäsar als Feldherr zu schaffen hat, im Kampfe mit Ariovist sowohl wie später, sind eben nicht die relativ gesitteten 33 ' Siehe die vorigen Noten. Man wird danach nicht sagen dürfen, daß die Germanen den Pflug erfunden haben, sondern nur: daß er, soweit ersichtlich, in der Gegend des Oberrheins zuerst auch bei ihnen auftaucht. | 34 ) Sicheres können natürlich nur weitere eingehendere Arbeiten der vergleichenden A 444 Sprachwissenschaft und der Altertümerkunde ergeben. |

p A: bezeichneten 77 Ä h n l i c h H o o p s , W a l d b ä u m e u n d Kulturpflanzen, S. 508; d a z u o b e n , S. 253, Fn. 28.

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(„humaniores") 78 Rheinuferstämme, sondern jene wandernden Kriegervölker, die damals aus dem Osten vordrangen. Aber auch die Behauptung, daß diese Völker den Ackerbau noch nicht kannten oder eben erst kennen gelernt hätten, ist natürlich aus Cäsars Angaben nicht zu erweisen. Unbekanntschaft mit dem Ackerbau - s und zwar mit dem Anbau irgend einer der noch heute gebauten Feldfrüchte - tritt uns weder in historischer noch in prähistorischer Zeit bei irgend einem indogermanischen Volke sicher nachweisbar entgegen. Mit Recht weist Henning darauf hin, daß es schon zu Tacitus''! Zeit in Deutschland „prähistorische" Ackerbauzeitalter 10 gab. 79 Aber natürlich waren die sozialen und wirtschaftlichen Zustände der Sueven dem chronischen Kriegsleben des ganzen Stammes angepaßt q und brauchten deshalb mit den Zuständen der Westgermanen zu Cäsars Zeit keineswegs identisch zu sein, ja sie konnten nach Cäsars ausdrücklichen Angaben in verschiedenen 15 wichtigen Beziehungen damit gar nicht übereinstimmen. Das berühmte Kapitel 22 des 6. Buches der Kommentarien macht über den Ackerbau der „Germanen" (d. h. der Sueven, gegen die er ins Feld zu ziehen im Begriffe steht) Angaben, die mit den Verhältnissen von Stämmen, welche zu hohem Preise Arbeitstiere importie- 20 ren und Handel treiben, zum mindesten sehr schwer vereinbar sind. Dagegen stimmen die künstliche Verhinderung der An-| A 445 sässigkeit, die Vermeidung festen Hausbaues, die Beschränkung des Handels auf Beutehandel, der Ausschluß alles Importhandels, speziell des Weinhandels und das Mißtrauen gegen das 25 Geld und den Erwerbssinn, wie sie dort und Cfapitel] 1 und 2 des 4. Buches 80 berichtet werden, auf das beste mit der für die Sueven berichteten Organisation jährlicher Raubzüge einer bestimmten Quote des Volkes und mit Ariovists stolzem Hinweis darauf, daß seine Leute seit 14 Jahren kein Dach über sich gesehen haben 30 (1, 36).81 So sicher gerade diese Äußerung ergibt, daß dies eben nur Folge des chronischen Kriegszustandes war, wie er auch in dem von Cäsar ( r VI, 21 r ) 82 geschilderten „training" des Volkes für kriegeriq A: angepaßt, 78 79 80 81 82

r A: VI, 1

Vgl. oben, S.254. Gemeint ist Henning, Besprechung Meitzen, S.243. Weber bezieht sich auf Caesar, De bello Gallico 4, 1, 7; 2, 1 - 2 ; 6. Caesar, ebd. 1, 36, 7. Ebd. 6, 21, 3.

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sehe Strapazen zum Ausdruck kommt, so sicher darf grade aus der Motivierung der übrigen suevischen Institutionen (VI, 22) 83 geschlossen werden, daß auch die Sueven seßhaften Ackerbau, Importhandel, Weinkonsum und Geld sehr wohl gekannt haben, daß also die Zustände, die Cäsar für die Sueven schildert, keineswegs Ausfluß irgend einer „Kulturstufe", sei es der Sueven, sei es gar der Germanen überhaupt, sind. Daß Cäsars Schilderung des Suevenstaates als eines typischen Raubstaates in der Hauptsache nichts Falsches55 berichtet, zeigt die Nachricht des Tacitus (Annalfes] 2,62) über den Zug des Germanicus 84 gegen die Markomannen, bei welchem etwa 80 Jahre später noch aufgehäufte Beutemassen der Sueven und auch die Nachfahren der alten Beutehändler, die im Suevenland geblieben waren, angetroffen wurden. Man wird sich also sehr davor zu hüten haben, die dürftigen Nachrichten Cäsars über die suevischen Zustände als Norm für die Lebensweise der Germanen überhaupt anzusehen. Und will man einmal nach Analogien so fernliegender Art suchen, wie sie die Kirgisen und Beduinen 85 bilden könnten, so erinnern jene Züge eines „geschlossenen Handelsstaates" 86 bei den Sueven weit eher an den Räuberkommunismus, der im Altertum auf den liparischen Inseln 87 bestand, oder an den „Kasinokommunismus" (s.v.v.!)88 der alten Spartiaten, oder etwa an den grandiosen Beutekommunismus des Kalifen Omar. 89 Sie sind mit einem Wort Ausflüsse des „ KriegerkommunisS A: falsches

83 Ebd. 6, 22, 3 - 4 . 8 4 Es handelt sich nicht um einen „Zug des Germanicus" (dessen Name lediglich zu Beginn des Kapitels genannt wird), sondern um diplomatische Aktivitäten des jüngeren Drusus im Jahre 19 n. Chr., die zum Angriff eines germanischen Häuptlings gegen die Markomannen führten, wobei dann das im folgenden Geschilderte zutagetrat. 8 5 Beide spielten Hauptrollen in der Darstellung von Hildebrand, Recht und Sitte (oben, S. 247). 86 Weber spielt auf den Titel von Johann Gottlieb Fichtes Schrift von 1800 an: „Der geschlossene Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik." 8 7 Zugrunde liegt offenbar Pöhlmann, Antiker Kommunismus und Sozialismus 1, S. 4 6 - 5 2 , wo sich auch (S. 51, Anm. 1) der Vergleich mit den Sueben bei Casar findet. 8 8 .Casino-Communismus' für die Verhältnisse in Sparta erscheint bereits in Webers nationalökonomischer Hauptvorlesung, M 87; dazu oben, S. 181 f. und 482. 8 9 Der angebliche Beutekommunismus des hier allenfalls in Frage kommenden zweiten Kalifen Omar(l.) (634-644) erscheint nicht recht verständlich. Möglicherweise liegt eine Verwechslung mit dem ersten Kalifen, Abu Bakr (632-634) zugrunde, von dem es bei Sachau, Über den zweiten Chalifen Omar, S. 310, ausdrücklich heißt, er

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mus". Sie sind, darin stimme ich Erhardts 35 ' kurzen Andeutungen durchaus bei 36 ', vortrefflich zu erklären aus den rein militärischen Interessen eines Volkes, welches unter der Führung eines großen Heerkönigs sich zu einer Gemeinschaft von Berufskriegern entwikkelt hat und diesen seinen Charakter ganz bewußt und absichtsvoll 5 aufrecht erhalten will. Dagegen wären sie sehr schlecht vereinbar mit den Lebensbedingungen eines auf der Stufe des Nomadentums stehen gebliebenen, von großen Herdenbesitzern patriarchalisch beherrschten Hirtenstammes. Es ist meines Erachtens sicher, daß dieser chronische Kriegszustand der Sueven (und vielleicht auch 10 anderer Stämme) nicht bei sämtlichen germanischen VölkerschafA 446 ten das Normale war: Schon die | Bemerkungen über die Kriegsvorbereitungen der germanischen Stämme in Kapitel 23 des 6. Buches stimmen mit der für die Sueven berichteten festen Organisation abwechselnd in den Krieg ziehender Teile des Gesamtvolkes 15 ganz und gar nicht zusammen. Ich bin nach alledem geneigt, den Gewährsmännern Cäsars durchaus zu glauben, daß diejenigen Germanen, an welche er in Kapitel 22 dachte, den Ackerbau nicht deshalb vernachlässigten, weil sie ihn noch nicht betreiben konnten, sondern weil sie ihn nicht oder wenigstens nicht über das vom 20 Standpunkt steter Kriegsbereitschaft aus unbedenkliche Maß hinaus betreiben wollten. Der Glaube an eine allgemeine, bei allen Völkern vorhanden gewesene „Kulturstufe" des Nomadentums, aus der heraus dann die feste Ansiedelung sich entwickelt habe, ist nach unserer Kennt- 25 nis der Entwickelung asiatischer Völker 90 und nach den Untersuchungen von Hahn 37 ) überhaupt nicht mehr aufrecht zu erhalten. > Hist. Zeitschrift, Bd. 79,1897, S. 292 f. 91 > Auch Kötzschke a.a.O. S.287 92 deutet ähnliches an. | 37) A 446 Die Haustiere. Leipzig 1896. So wenig das Buch strengeren wissenschaftlichen Anforderungen genügt, so entschieden muß ihm das große Verdienst vindiziert werden, den überlieferten Vorstellungen über die „Wirtschaftsstufen" zuerst einen eingehender begründeten Widerspruch entgegengesetzt zu haben. A 445

35

36

habe, „ e i n e m c o m m u n i s t i s c h e n P r i n c i p h u l d i g e n d " , v e r f ü g t , daß alle M u s l i m e „ g l e i c h e n Antheil an d e n Einkünften der G e m e i n d e o d e r d e s Staates h a b e n sollten", eine B e s t i m m u n g , die sein N a c h f o l g e r O m a r d a n n j e d o c h a u f g e h o b e n h a b e ( e b d . ) . 9 0 Vgl. o b e n , S. 146. 9 1 W e b e r zitiert Erhardt, Staat u n d W i r t s c h a f t der G e r m a n e n . 9 2 W e b e r b e z i e h t sich auf K ö t z s c h k e , G l i e d e r u n g der G e s e l l s c h a f t .

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Die Kenntnis eines durchaus nicht mehr „primitiven" Ackerbaues reicht jedenfalls bei den indogermanischen Völkern bis in die graueste Vergangenheit zurück. Mit diesen Ausführungen soll nun natürlich nicht die ganz hervorragende Bedeutung des Viehbesitzes bei den Germanen in der Zeit des Cäsar und noch des Tacitus geleugnet werden. Wittichs Annahme allerdings, daß die Germanen, als „Nomaden", wesentlich von Milch und Käse, dagegen wenig von Fleisch gelebt hätten, widerspricht den ausdrücklichen Angaben Cäsars 1 und ebenso des Pomponius Mela (3, 3).2 Und das Vorwiegen der Fleisch-, Milchund Käsenahrung gilt für die Rheinufergermanen jedenfalls nur sehr bedingt: die Niederlage der Usipeten und Tenkterer z. B. wird ganz wesentlich dadurch verschuldet, daß sie fast ihre gesamte Reiterei „frumentandi causa" 3 fortgeschickt haben. Ebenso zeigt die in den Germanenkriegen so häufig erwähnte Verwüstung oder auch die ausdrückliche Erwähnung (Histor[iae] V, 23)4 einer Schonung - der „agri" germanischer Völker durch die Römer, daß der Anbau des Landes doch, selbst in dem zur Viehzucht prädestinierten Bataverland, immerhin ins Gewicht gefallen sein muß: Weidereviere „verwüstet" man nicht. - Allein immerhin wird man keinen Zweifel darüber hegen dürfen, daß mindestens für die weiter östlich sitzenden Stämme die Viehhaltung in taciteischer Zeit und später durchaus im Vordergrund des Interesses stand. Das wird bestätigt durch die kurze, aber gewichtige Andeutung, welche in dem „numero gaudent" der Germania, Kapitel 5, liegt. Sie zeigt wohl unzweifelhaft, daß die Zahl des besessenen Viehes noch damals auf die soziale Schätzung stark ein-

1 A b g e s e h e n d a v o n , d a ß Wittich d i e G e r m a n e n w e g e n der s o z i a l e n D i f f e r e n z i e r u n g und d e s n e b e n der V i e h z u c h t her b e t r i e b e n e n A c k e r b a u s wie R i c h a r d H i l d e b r a n d a u s d r ü c k l i c h als „ H a l b n o m a d e n " b e t r a c h t e t e (Wittich, W i r t s c h a f t l i c h e Kultur, S. 4 7 - 6 1 u.ö.), b e z o g er s i c h für d i e B e d e u t u n g der F l e i s c h n a h r u n g bei ihnen s e l b s t auf C a e s a r (ebd., S. 60: C a e s a r , D e bello G a l l i c o 6, 22, 1). 2 P o m p o n i u s M e l a 3, 3, 28. 3 C a e s a r , D e bello G a l l i c o 4, 16, 2 ( . p r a e d a n d i f r u m e n t a n d i q u e c a u s a ' ) . 4 Tacitus, H l s t o r i a e 5, 23, 3, s p r i c h t von der S c h o n u n g der ,agrl' u n d ,vlllae' d e s B a t a v e r f ü h r e r s lulius Civilis. Vgl. n o c h unten, S. 273 mit Fn. 48.

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A 447 wirkte38^ - wie dies im extremen Maße | heute noch z. B. bei den Herero 5 der Fall ist. Nicht jeder Viehbesitzer aber ist ein Nomade, und wenn von ostgermanischen Häuptlingen gelegentlich berichtet wird,6 daß sie ihren Nachbarn zu sehen nicht ertragen könnten, so gilt für den heutigen Buren, der doch kein Nomade ist, be- 5 kanntlich das Gleiche. 7 Schon der Umstand, daß man in Rom (wie in Germanien) das Vermögen mit einem von „Vieh" abgeleiteten Wort bezeichnete und die Bußen 1 in Vieh bestimmte noch zu einer Zeit, wo dort bereits voll entwickelte städtische Institutionen bestanden, 8 sollte davor warnen, in jener zweifellos vorwie- 10 genden Bedeutung und Schätzung des Viehbesitzes den Ausdruck einer allgemeinen „Kulturstufe" des „Halbnomadentums" zu finden. Auch steht seit den frühesten Zeiten neben dem Rindvieh das Schwein, das spezifische Haustier ansässiger Bauern, im Mittelpunkte der deutschen Wirtschaft: zu Martials Zeit (epigrfam- 15 mata] 13, 54) liefert Westfalen 9 schon seinen Schinken nach Rom - und die Bienenzucht muß zu Plinius' Zeit (Hist[oria] naturalis] XI, 14)10 weit intensiver betrieben worden sein, als irgend ein erst

38)

Wenn in einer Notiz des Plinius der G e n u ß der Butter bei den nördlichen Stämm e n E u r o p a s als Vorrecht der V o r n e h m e n hingestellt ist (Hist[oria] n a t u r a l i s ] X X V I I I , A 447 35),11 | so heißt das freilich nicht, d a ß nur die V o r n e h m e n Viehherden halten. D i e Butter ist auch im Mittelalter Herrenspeise, die plebejische N a h r u n g der Käse, den nach Plinius (1. c. XI, 41) 1 2 die B a r b a r e n - wohl: die Vornehmen unter ihnen - verschmähen.

t A: Bussen 5 Bei dem Rinderhirtenvolk der Herero in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), die durch den sog. Herero-Aufstand (1904-1907) in das Bewußtsein der Öffentlichkeit traten, erfuhr das Rind eine ganz außergewöhnliche allgemeine Wertschätzung. 6 Eine genaue Belegstelle dafür ist nicht nachgewiesen. 7 In den Jahren 1893-1902 hatte der Krieg Englands gegen die Buren die Aufmerksamkeit auf diese gelenkt. 8 Anspielung auf den Zusammenhang von lat. pecus ,Vieh' und pecunia .Geld' mit (z.B.) gotisch faihu .Geld1. Zur Verhängung von Bußen in Stücken Vieh in Rom bis ins 5./4. Jahrhundert v.Chr. vgl. etwa Kariowa, Römisches Privatrecht 1, S. 167; auch Mommsen, Römisches Staatsrecht 1, S. 158. 9 Martial, ebd., erwähnt Schinken ,von den Menapiern', die damals jedoch links des Rheins, in der römischen Provinz Belgica, siedelten. 10 Weber zitiert Plinius, Historia naturalis 11, 14 (14), 33. 11 Weber zitiert Plinius, Historia naturalis 28, 9 (35), 133. 12 Plinius, Historia naturalis 11, 41 (96), 239.

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vor einigen Generationen zur Ansässigkeit gelangter Hirtenstamm das vermocht hätte. Wie dem nun auch sei, zu bestreiten ist, worauf es uns hier vor allem ankommt, unter allen Umständen zweierlei: Erstens, daß der Wechsel der Äcker, von dem bei Cäsar 5 berichtet wird, als durch die Notwendigkeit des Wechsels der Weideftächen bedingt zu denken sei, wie Wittich 13 annimmt. Eine so überaus einfache Erklärung wäre Cäsar, welcher den Eratosthenes zitiert 14 und mit den ethnographischen Verhältnissen von Nomadenvölkern sicherlich ebensogut vertraut war, wie das Alter10 tum überhaupt, gewiß nicht entgangen und seinen Gewährsmännern erst recht nicht. Vor allem aber pflegt, wie schon Kötzschke 15 und Rachfahl 16 hervorgehoben haben, normalerweise und insbesondere unter Verhältnissen, wie sie die Berg- und Hügelgebiete Westdeutschlands geboten haben würden, der Weidewechsel 15 innerhalb des Jahres je nach den Jahres Zeiten zu verlaufen, nicht aber von einem Jahre zum anderen zum Wohnungswechsel zu führen. Einen Wechsel des Wohnortes pflegt vielmehr gerade der ambulante Ackerbau, den die viehlosen Völker Indiens, Afrikas, Südamerikas und Oceaniens, z. B. bei Reisbau auf unbewässertem 20 Lande, kennen, zu bedingen; - daß aber Weide reviere infolge Erschöpfung jährlich gewechselt werden müssen, wäre für unser Klima jedenfalls eine abnorme Erscheinung. Daran endlich, daß „agricultura" in Kapitel 22 nicht „Ackerbau", sondern „Landwirtschaft" im allgemeinen und „ager" nicht „Acker", sondern 25 „Land", im vorliegenden Falle speziell „Weiderevier" bedeutet hätte, wie Wittich 17 will39', ist meines Erachtens gar nicht zu | den- A 448 ken. Denn „agricultura" erscheint in Kapitel 22 zweimal dicht 39) Über die sprachlichen Mißverständnisse, die dabei mitspielen, vergl. Kötzschke a.a.O., S.278. 18 |

1 3 Wittich, W i r t s c h a f t l i c h e Kultur, S . 6 2 . 1 4 C a e s a r , D e bello G a l l i c o 6, 24, 2, s p r i c h t v o m . H e r c y n i s c h e n W a l d ' (d.h. e t w a d e m B e r e i c h der d e u t s c h e n M i t t e l g e b i r g e ) u n d erwähnt, d a ß d i e s e r b e i E r a t o s t h e n e s , d e m b e d e u t e n d e n a l e x a n d r i n i s c h e n G e o g r a p h e n d e s 3. J a h r h u n d e r t s v.Chr., wie a u c h b e i a n d e r e n g r i e c h i s c h e n A u t o r e n als „ O r k y n i s c h e r " W a l d b e z e i c h n e t w u r d e . 1 5 K ö t z s c h k e , G l i e d e r u n g der G e s e l l s c h a f t , S . 2 7 8 . 1 6 R a c h f a h l , Zur G e s c h i c h t e d e s G r u n d e i g e n t u m s , S. 1 7 5 - 1 7 7 . 1 7 Wittich, W i r t s c h a f t l i c h e Kultur, S . 6 0 f . 1 8 K ö t z s c h k e , G l i e d e r u n g der G e s e l l s c h a f t , S . 2 7 8 .

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nacheinander, und das zweite Mal, wo von ihrer Pflege eine Verminderung der Kriegsbereitschaft gefürchtet wird, 19 muß es auf alle Fälle im Sinne von „Bodenanbau" gemeint sein. Zweitens aber, und noch entschiedener, muß die Annahme abgelehnt werden, daß in der Stellung der magistratus ac principes Cäsars die Abhängigkeit der viehlosen von der viehbesitzenden Klasse zum Ausdrucke gelangte, und daß ferner, wie Wittich annimmt, der (angeblich) „neu aufkommende Ackerbau" 20 nur von verarmten Geschlechtsgenossen, Unfreien und Sklaven für Rechnung der reichen Vieh- und Menschenbesitzer betrieben worden sei, welche sich dadurch allmählich in Grundherren verwandelt hätten. Die Wohlhabenden hätten - so meint Wittich21 - keinen Anlaß, und die Ärmeren ohne fremde Beihilfe keine Möglichkeit gehabt, den Akkerbau selbst zu betreiben. Die deutsche Sozialgeschichte beginne also mit der ökonomischen Abhängigkeit der „plebs" von dem als „magistratus ac principes" oder auch als „nobiles" bezeichneten Herdenadel. Nun ist das Eine sicher, daß für eine solche Deutung der Angaben in Buch 6, Kapitel 22 der Kommentare Cäsars der ganze Zusammenhang, in dem die Stelle sich befindet, schlechterdings keinen Raum gewährt. Da dies in den bisherigen Erörterungen nicht überall beachtet worden ist40), mag darauf etwas näher eingegangen werden. Im 11. Kapitel desselben Buches erklärt Cäsar, die Schilderung seines zweiten Rheinüberganges scheine ihm eine passende Gelegenheit, einiges zu sagen „quo differant eae nationes (Gallier und Germanen nämlich) inter sese". 22 In der Tat werden nun zunächst für Gallien die alles beherrschende Stellung der Druiden (Kap. 13,14), dann (Kap. 15) diejenige der Ritter geschildert mit dem Bemerken (Kap. 13), daß sie die einzigen beiden Gesellschaftsklassen seien, „qui aliquo sunt numero atque honore". 23 Die ärmeren Volksgenossen („plebs") seien dort teils infolge A 448

40)

N u r Kötzschke a.a.O., 2 4 S. 276, A n m . 1 weist darauf hin. |

19 Gemeint ist Casar, De bello Gallico 6, 22, 1 und 3. 20 Weber zitiert Wittich, Wirtschaftliche Kultur, S. 65 („Der Ackerbau war eine neu autkommende Kultur"). 21 Ebd. 22 Weber zitiert Caesar, De bello Gallico 6 , 1 1 , 1 . 23 Ebd. 6, 13, 1. 24 Weber zitiert Kötzschke, Gliederung der Gesellschaft.

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von Schulden, teils infolge der Höhe der Abgaben, teils durch Vergewaltigung seitens der „potentiores" dazu gebracht worden, daß sie sich den beiden herrschenden Klassen in Knechtschaft ergeben („in servitutem dicant") 25 - also derselbe Prozeß, der in Neustrien 5 gegenüber Klöstern und Senioren in der fränkischen Zeit so bald wieder in Gang kam. 26 Die Ritter umgeben sich je nach Vermögen mit einer Schar von „ambacti" und „clientes". 27 Sie leben jahraus jahrein in Fehde untereinander, und es wird Kapitel 11 anschaulich jener für die politische und soziale Herrschaft einer Ritterkaste 10 charakteristische Zustand des interlokalen Fraktionswesens geschildert, der noch in den mittelalterlichen „Parteien" Italiens wieder auflebte. Der völlige Ausschluß der Plebs von der Politik äußert sich (Kapitel 20) u.a. in der strikten Geheimhaltung aller politischen Nachrichten seitens der herrschenden Aristokratie. Auf die15 se Notizen folgt nun die Bemerkung: Germani multum ab hac con|suetudine differunt,28 und es wird alsdann zunächst Kapitel 21 A 449 ausgeführt, daß sie keine Priesterherrschaft kennen, worauf alsbald im Kapitel 22 jene Bemerkungen über die Agrarverfassung folgen, zu deren Motivierung Cäsars Gewährsmänner neben den schon 20 oben erwähnten 29 Gründen insbesondere auch anführten: „ne latos fines parare studeant potentioresque humiliores possessionibus expellant, u ... u ut animi aequitate plebem contineant, cum suasv quisque opes cum potentissimis aequari videat." w30 Im Gegensatz zu der verbreiteten Manier, die Begründungen, die Cäsar seinen Noti25 zen in Kapitel 22 beifügt, als gewissermaßen aus den Fingern gesogen zu behandeln, bin ich der Meinung, daß gerade sie weit authentischer und zuverlässiger sind, als irgend eine der sehr vagen und generalisierenden Notizen, die Cäsar über die faktischen Zustände des Ackerbaues macht. Wie man nun auch sich dazu stellen mag, 30 darüber besteht jedenfalls nicht der mindeste Zweifel, daß für u Auslassungszeichen in A.

v A: suos

w Ausführungszeichen fehlt in A.

25 Ebd. 6, 13, 2. 2 6 Gemeint ist die sog. „Autotradition" (Selbstergebung) gegenüber Klöstern und einzelnen Mächtigen in Neustrien, d. h. im wesentlichen dem westlichen, ehemals gallischen Teil des Frankenreiches. 2 7 Weber zitiert Caesar, De bello Gallico 6, 15, 2. 2 8 Weber zitiert Caesar, De bello Gallico 6, 21, 1. 2 9 Vgl. oben, S. 264; unten, S. 267f. 3 0 Caesar, De bello Gallico 6, 22, 3 - 4 .

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Cäsar die sozialen Zustände der Germanen in diesen Punkten im Gegensatz standen zu der feudal-grundherrschaftlichen Organisation der Gallier. Der Zustand Galliens zu Cäsars Zeit ist aber bei den Germanen auch in der Zeit des Tacitus noch nicht erreicht, obwohl damals die inneren Fehden der principes, wie sie zahlreiche bekannte Stellen der Annalen schildern, 31 schon an die gallischen Verhältnisse erinnern. Allein auch damals heißt es zwar Annalfes] a l , 55a: 32 „nihil ausuram plebem principibus remotis", - aber daß das keineswegs die gallische Verknechtung der Masse der ärmeren Volksgenossen bedeutet, tritt bei zahlreichen Gelegenheiten deutlich hervor. Segestes wird „consensu gentis" zur Teilnahme am Kriege gegen Rom gezwungen 33 - wobei „gens" nach taciteischem Sprachgebrauch mit „Stamm", nicht mit „Geschlecht" zu übersetzen ist. Als der Stamm der Cherusker seine gesamte nobilitas durch innere Fehden verloren hat, wendet sich die „plebs" nach Rom um Rückgabe des einzig Überlebenden aus der Sippe Armins. 34 Arminius selbst hatte die „libertas popularium" gegen sich gehabt, als er nach der Königswürde strebte. 35 Und vor allem erfolgten nach Tacitus alle politischen Verhandlungen öffentlich unter Mitwirkung aller Freien und unter Beteiligung, aber keineswegs - wie in Gallien - ausschließlicher Beschlußfassung der principes. 36 Erst die Zustände der Karolingerzeit in Sachsen zeigen eine an Cäsars Schilderung Galliens wenigstens erinnernde wirkliche Deklassierung der Gemeinfreien. Speziell aber das von Cäsar ausdrücklich angeführte Motiv der suevischen Lebensführung: Aufrechterhaltung eines gewissen Maßes sozialer Gleichheit innerhalb des Volkes,37 ist weder mit dem a A: 2,55 31 Die Schilderungen der Annalen (wobei die bekanntesten die Auseinandersetzungen bei den Cheruskern betreffen) beziehen sich nicht auf die Zeit des Tacitus (Ende 1./frühes 2. Jahrhundert n.Chr.), sondern vor allem auf die des Kaisers Tiberius ( 1 4 37 n.Chr.). 32 Weber zitiert Tacitus, Annales 1, 55, 2. 33 Ebd. 1, 55, 3. 34 Ebd. 11, 16, 1. 35 Ebd. 2, 88, 2. 36 Weber zitiert Tacitus, Germania 11,1. 37 Weber bezieht sich auf Caesar, De bello Gallico 6, 22, 4.

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Nomadenpatriarchalismus auf der Basis des Herdenbesitzes, noch mit feudaler Organisation auf der Basis der Grundherrschaft irgendwie vereinbar. Dies um so weniger, als in der Darstellung Cäsars auch das bereits ständisch entwickelte Gefolgschaftswesen Galliens sich sehr deutlich und absichtsvoll abhebt sowohl von der organisierten Teilnahme des ganzen Volkes an den Kriegszügen bei den | Sueven (4, l) 3 8 als von der im einzelnen Fall sich bildenden A 450 Gefolgschaft bei den übrigen Germanen (6, 23: b ... b ubi quis ex principibus in concilio dixit se ducem fore, qui sequi velint, profite antur c ... c "). 3 9 Als soziale Institution ist die germanische Gefolgschaft erst in den Schilderungen des Tacitus, Germania c. 13,14 enthalten. Aber auch aus dieser größeren Annäherung der germanischen Gefolgschaftsverhältnisse im Zeitalter des Tacitus an die gallischen der cäsarianischen Zeit folgt nun natürlich nicht etwa, daß d deshalb zu Tacitust'l Zeit auch die übrigen Eigentümlichkeiten des von Cäsar geschilderten Galliens, insbesondere die Unfreiheit der „plebs", ebenfalls nach Germanien importiert sein müßten. Das Gefolgschaftswesen ist mit verschiedenen Sozialverfassungen vereinbar und war bekanntlich schon ein Jahrhundert nach Tacitus selbst in die römische Kriegsverfassung eingedrungen. 40 Wenn man schließlich speziell den ziemlich vagen Bemerkungen sich zuwendet, mit denen Cäsar in Kapitel 22 des 6. Buches die Agrarverfassung berührt, so sind sie namentlich infolge der Motivierung „ne assidua consuetudine capti Studium belli gerundi agricultura commutent" 41 unzweifelhaft am besten mit dem unsteten Gelegenheitsanbau eines auf dem chronischen Kriegspfad befindlichen Volkes zu vereinbaren. Man hat sich dabei eben immer wieder gegenwärtig zu halten, daß auch diese Schilderung anläßlich eines gegen die Sueven gerichteten Kriegszuges gemacht wird, von denen schon Komm[entarien] 4, l 4 2 das Verbot, länger als ein Jahr incolendi causa an einem Orte zu verweilen, als ihnen eigentümlich b Auslassungszeichen in A.

c Auslassungszeichen in A.

dA:das

3 8 Caesar, De bello Gallico 4, 1,4. 3 9 Ebd. 6, 23, 7. 4 0 Zugrunde liegt Seeck, Deutsches Gefolgswesen, wonach ein von dem Kaiser Caracalla zu seinem persönlichen Schutz aufgestelltes Reitercorps, die protectores, als Übernahme aus dem germanischen Gefolgschaftswesen zu erklären sei. 41 Caesar, De bello Gallico 6, 22, 3. 4 2 Ebd. 4, 1, 7.

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berichtet war. Dem würde es auch entsprechen, wenn die Worte: „neque quisquam agri modum certum aut fines habet proprios, sed magistratus ac principes in annos singulos gentibus cognationibusque hominum, qui una coierunt, e quantum et quo locof visum est agri attribuunt 9 atque anno post alio transire cogunt" 43 auf „strenge Feldgemeinschaft" mit kommunistischem Anbau zu deuten sein sollten. 44 Immerhin mag doch bemerkt werden, daß die Deutung auf Agrarkommunismus keine absolut gebotene ist. Trotz des nach Cäsars Bericht jährlich wechselnden Standortes des Ackerbaues könnte derselbe nach dem Wortlaut der Stelle auch als Sonderanbau und Sondernutzung gedacht werden 41 '. Die Ausdrücke „modus" und „finis" haben in der technischen Sprache der römischen Feldmesser ganz spezifische, mit der alten Art der Aufteilung des römischen ager privatus zusammenhängende Bedeutungen, über welche Rudorff im 2. Bande der Lachmannschen Ausgabe der römischen Feldmesser 45 und ich in meiner römischen Agrargeschichte 46 gehandelt haben. Für Cäsar hätte eine Art der Fluraufteilung und Flurbenutzung, wie sie die spätere mit Flurzwang verbundene Gemengelage der spezifisch deutschen Hufendörfer darA 451 stellt, vermutlich zu ganz der gleichen | Schilderung und ebenso zu der Äußerung (4, 1) Anlaß gegeben: privati ac separati agri apud eos (bei den Sueven) nihil est. Nur die Unstetheit der Wohnsitze, nicht Cäsars Angaben über das Fehlen von ager privatus im römischen Sinn, zwingen uns auch zu der Annahme, daß bei den damaligen Sueven kein Teil des Bodens dem Rechte nach den Einzelfamilien appropriiert h war, und machen es wenigstens wahrscheinlich - wenn auch durchaus nicht sicher - , daß nicht nur Bestellung und Ernte, sondern auch die Verteilung des Produktes Sache derjenigen A 450

41 ' D e n n soweit wir den A c k e r b a u der „Naturvölker" k e n n e n , bedingt Unstetheit der Wohnsitze keineswegs notwendig eine rückständige Technik oder Ö k o n o m i k des A n b a u es. Siehe z.B. d a r ü b e r jetzt R[ichard] Lasch in der Zeitschr. f. Socialwissenschaft 1 ,1904, H e f t 4.47 |

e A: coierint 43 44 45 46 47

f A: loro

g A: attribunt

h A: appropriert

i A: Sozialwissenschaft

Ebd. 6, 22, 2. So Schröder, Altsächsischer Volksadel, S.376. Weber nimmt Bezug auf Rudorff, Gromatlsche Institutionen 2, S. 433-446. Weber verweist auf seine Römische Agrargeschlchte, MWG 1/2, S. 161 - 1 7 1 . Weber zitiert Lasch, Landwirtschaft der Naturvölker.

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Gemeinschaften war, die Cäsar als gentes und cognationes hominum bezeichnet, 48 und die wir mit „Sippe" zu übersetzen pflegen42). Daß bei den Westgermanen, z.B. den Ubiern, von einem Wechsel der Wohnsitze nicht die Rede sein kann, ergibt sich aus 5 dem, was Cäsar über ihren Kulturzustand sagt, 49 deutlich genug. Es folgt aber auch mit hoher Wahrscheinlichkeit schon daraus, daß ihnen von den Sueven die Leistung eines jährlichen „Stipendium" auferlegt war, 50 das heißt nach technischem römischen Sprachgebrauch eine feste, gleichmäßige Kontribution, ganz in der Art, wie 10 Völker, die vom Kriege leben, fest ansässige Ackerbauer' auszubeuten pflegen. Alles in allem werden wir wohl oder übel uns damit abfinden müssen, daß Cäsar, der ja nicht Wirtschaftsgeschichte schrieb, sondern nur seine zu militärischen Zwecken gemachten Notizen ver15 wendete, über die Agrarverhältnisse der Rheinufergermanen überhaupt nichts Bestimmtes und auch über die Einzelheiten der suevischen sozialen Verhältnisse, z. B. darüber, welches die Beziehungen der „gentes cognationesque" zu den Einzelfamilien waren, nichts näheres festzustellen sich veranlaßt gesehen hat. Was aus seinen 42 ' Es muß hier darauf verzichtet werden, zu erörtern, inwieweit sie mit dem, was man A 451 später „genealogia" nannte, 51 identisch sind, und ferner, wie sich beide zu den Siedelungseinheiten (Dörfern) und den militärischen Einheiten (Hundertschaften) verhalten. Nur das sei bemerkt, daß eine Identifikation von Dorf und Hundertschaft, wie sie Hans Delbrück 5 2 gelegentlich noch für weit später liegende Zeiten vertreten hat, grundstürzende Änderungen in den germanischen Siedelungsweisen in historischer Zeit voraussetzen würde und mit den Nachrichten des Tacitus, wenigstens für die Westgermanenj,] nicht vereinbar wäre. 53 Die oppida, welche Cäsar (kIV, I9k) für die Sueven erwähnt, würden dagegen mit jener Hypothese eher zusammenstimmen. Wir scheiden hier absichtlich den ganzen Komplex von Fragen, der sich um die Hundertschaft gruppiert, aus.

j Gebräuchliche Form: Ackerbauern

k A: IV, 14

48 Caesar, De bello Gallico 6, 22, 2. Vgl. a u c h D e l b r ü c k , U r g e r m a n i s c h e r Gau, S. 488. 49 Ebd. 4, 3, 3; 6, 10, 2. 50 Ebd. 4, 3, 4, w o von d e n U b i e r n als .vectlgales', d . h . ( g e g e n ü b e r d e n S u e b e n ) . A b g a b e p f l i c h t i g e n ' die Rede ist. 51 Hier g e m e i n t : eine Im Besitz einer g e n o s s e n s c h a f t l i c h o r g a n i s i e r t e n Flur befindlic h e S i p p e (im 8. J a h r h u n d e r t überliefert, vgl. „ R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e " , M W G I/2, S. 143. 52 G e m e i n t ist D e l b r ü c k , U r g e r m a n i s c h e r Gau, S. 4 9 3 - 5 0 1 . 53 W e b e r hatte s i c h bereits in einem Brief an D e l b r ü c k v o m 26. Juli 1895, DSB Berlin, Nl. D e l b r ü c k , Fasz. Max W e b e r ( M W G II/3), In d e m er sich für die Z u s e n d u n g d e s Aufsatzes b e d a n k t e , s k e p t i s c h über d e s s e n A u f f a s s u n g von der g e r m a n i s c h e n Hundertschaft geäußert. Vgl. d e n E d i t o r i s c h e n Bericht, o b e n , S . 2 3 7 , A n m . 51.

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Schilderungen zu entnehmen ist, ist wesentlich nur der Gegensatz der deutschen sozialen Zustände gegen die gallischen, das heißt aber das Fehlen nicht nur des Nomadenpatriarchalismus, sondern auch der Grundherrschaft und überhaupt ökonomischer Abhängigkeitsverhältnisse freier Leute 43 '. Auf das deutlichste zeigt namentlich 5 die Bemerkung Kapitel 23': „in pace nullus communis est 54 magistratus, sed principes regionum atque pagorum inter suos 44 ' jus diA 452 cunt controversiasque minuunt" - | in Verbindung mit der Schilderung des Vorganges bei der Aufforderung zu Heerfahrten, 55 daß die nur auf freiwilliger"1 Anerkennung beruhende und begrenzte 10 Autorität dieser kleinen Gaufürsten, der Vorfahren jener „satrapae", welche bei den Sachsen im 8. Jahrhundert erwähnt sind, 56 mit ökonomischer Beherrschung der Massen durch sie gar nichts zu schaffen hat. Ihre Stellung ist vielmehr aus der hier wie so oft in bestimmten Familien erblich gewordenen Schätzung der Tugenden 15 ihrer Ahnen herausgewachsen, die als Heerführer und Rechtsfinder sich auszuzeichnen und als Lieblinge der Götter zu erweisen Gelegenheit gehabt hatten. Der dux selbst kann ein Parvenü sein 45 '. Arminius gehörte zwar der nobilitas und einer bemittelten Familie an, wie schon die Verleihung der römischen Ritterwürde an 20 ihn zeigt. Aber sein Bruder diente um Lohn im römischen Heer

43

> D. h. natürlich nur: Der Masse der Freien" als solcher. Daß in diesem Ausdruck kein persönliches oder ökonomisches Abhängigkeitsvsxhältnis ausgedrückt liegt, darüber siehe Kötzschke a. a. O. S. 280. Der lateinische Sprachgebrauch gibt zu dieser Annahme in der Tat in keiner Weise Anlaß. | 45 A 452 ' So genügt es für die Königswahl bekanntlich noch dem Sachsenspiegel, daß der Kandidat „vri° unde p echt geborn" sei (III, 54, § 3). 57

I A: 22

m A: freiwillige

n A: freien

o A: „vri

p A: und

5 4 Die Wortfolge bei Caesar, De bello Gallico 6, 23, 5, lautet: „est communis". 5 5 Weber bezieht sich auf Caesar, De bello Gallico 6, 23, 7f. 5 6 Zugrunde liegt (offenbar nach Schröder, Altsächsischer Volksadel, S. 3 5 2 - 3 5 4 ) Beda, Historia ecclesiastica 5, 10, der ,satrapae' am Ende des 7. Jahrhunderts in Westfalen erwähnt; nach Schröder, ebd., S.353, hätten sie aber (wenn auch in den Quellen unter anderen Bezeichnungen) im 8. Jahrhundert fortgelebt. 5 7 Vgl. Weicke, Julius, Der Sachsenspiegel (Landrecht) nach der ältesten Leipziger Handschrift. Neubearbeitet von Professor Dr. R[udolf] Hildebrand, 7. Aufl. - Leipzig: O.R. Reisland 1895, dort S. 112.

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(Annal[es] 2,9). Erst die Nachfahren empfingen, der allgemeinen Regel der Adelsbildung 46 ) entsprechend, die Weihe des Blutes. Das Geschlecht des Arminius wird so schon nach einer Generation „stirps regia" genannt (Annalfes] XI, 16), während er selbst noch, weil er nach der Königswürde trachtete, ermordet worden war. 58 Daß den Heerführern bei der Verteilung der Beute, der Aufteilung des eroberten Landes u. s. w. ein mehrfaches Los zugewiesen wurde, wie dies aus der bekannten vieldeutigen Notiz des Tacitus, daß der Acker „secundum dignationem" verteilt werde, 59 geschlossen worden ist, daß ihre Familien jedenfalls durch Schatz-, Waffen- und Viehbesitz hervorgeragt haben werden - und daß andererseits ein gewisses Maß von Besitz unentbehrlich war, um einer Familie die erbliche Erhaltung einer solchen Stellung zu ermöglichen, liegt in den Verhältnissen. Aber nach der ausdrücklichen Bemerkung bei Cäsar, Buch 6, Kapitel 22, am Schlüsse: „cum suas quisque opes cum potentissimis aequari videat" dürfen wir uns diese ökonomische Differenzierung wenigstens damals schwerlich als sehr erheblich vorstellen. Dagegen wird sie allerdings sicherlich die Tendenz gehabt haben, sich teils infolge der Fehden, teils wohl auch unter dem Einfluß des Handels zu steigern. In der Darstellung des Tacitus erscheint denn auch die Autorität der duces und principes zwar noch immer recht gering; selbst von den Heerführern heißt es Kapitel 7: „exemplo potius quam imperio praesunt." 60 Aber durch die inzwischen erfolgte Entwickelung des Gefolgschaftswesens ist offenbar die Position des princeps, der seine „Degen" in eigenem Hause um sich versammelt hält und beköstigt, sie mit Pferden und Waffen versieht, sozial bedeutend gestiegen 47 '. Ihre Behauptung 461 Der spanische Hidalgo (in den älteren Quellen hijo oder fijo d'algo = „filius alicujus") bringt dies am deutlichsten sprachlich zum Ausdruck. 61 47 ' Über die Frage, ob der Begriff „princeps" bei Tacitus in einem doppelten Sinne 1) Gaufürst, 2) Gefolgschaftsführer - gebraucht wurde, s[iehe] a[uch] q A[lfred] Wießner, Deutsche] Zeitschrift] f[ür] Geschichtswissenschaft], Bd. 12,1894/5, S. 333 f.62 Ich halte

q A: u. 58 W e b e r bezieht s i c h auf Tacitus, A n n a l e s 2, 88, 2. 59 Tacitus, G e r m a n i a 26, 2. 60 W e b e r zitiert (mit A u s l a s s u n g e n ) Tacitus, e b d . 7, 1. 61 Weber hatte d i e s e n Vergleich bereits in seiner „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " hera n g e z o g e n ( M W G I/2, S. 159 mit A n m . 74). 62 Weber bezieht sich auf Wießner, Principat u n d G e f o l g s c h a f t , S. 3 3 3 - 3 3 8 . - Zu d e n L e i s t u n g e n des p r i n c e p s e b d . , S. 336 (Tacitus, G e r m a n i a 14,2).

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A 453 ist, wie schon diese Schilderung ergibt, faktisch an die Verfügung über einen jetzt schon recht erheblichen Besitz geknüpft, wenn schon die, vermutlich pari passu mit dem Gefolgschaftswesen üblich gewordenen Vieh-, Gewebe- und Fruchtabgaben (Kapitel 15) 63 und die Anteile an den Bußen dem jeweils regierenden princeps64 und damit indirekt auch seiner Sippe, aus der sich die comites naturgemäß vorzugsweise rekrutierten, ökonomisch einigermaßen unter die Arme griffen. Davon aber, daß etwa damals die Autorität der Familien, aus welchen ursprünglich üblicher- und schließlich wohl rechtsnotwendigerweise die Gaufürsten gewählt wurden, gegenüber den übrigen Volksgenossen auf einer grundherrlichen Überordnung und der Abhängigkeit der plebs als Grundholden beruht hätte, ist auch bei Tacitus gar keine Rede: schon der oben erwähnte 65 Bericht über die Abgaben der Gemeinfreien an den Häuptling schließt das aus. Aber auch die Darstellung Kapitel 7 wäre damit nicht vereinbar. Die Wehrhaftmachung durch Speerreichung, ein nach seiner Natur und auch nach Tacitusl'l Bericht 66 öffentlichrechtlicher Akt, wird durch die civitas entweder auf Antrag des princeps oder der Anverwandten vorgenommen. Die Bußen fallen ebenfalls dem König - bei kleineren Objekten vermutlich dem princeps - oder der civitas zu. „Insignis nobilitas" (der Abstammung) oder „patris merita", 67 nicht aber, wie es bei grundherrlicher Entwickelung doch unbedingt der Fall sein müßte, großer Besitz werden als Qualifikation für die Stellung des princeps erwähnt. Nicht weil jemand Grundherr ist, ist er princeps oder nobiA 453 seine Argumente für die doppelte | Bedeutung nicht für überzeugend, und es scheint mir wenig wahrscheinlich, daß Gefolgschaften außerhalb des Kreises rechtlich bevorzugter Personen - nicht notwendig nur der fungierenden Gaufürsten - vorgekommen sein sollten. Beweisen läßt sich darüber aus Kap. 13 der Germania freilich gar nichts, und auch das Gegenteil würde die hier gemachten Ausführungen nicht berühren, da jedenfalls als Regel die Koinzidenz von Adel - d. h. Zugehörigkeit zu einer fürstlichen Sippe - und Gefolgsführerschaft außer Zweifel stehen dürfte.

6 3 B e i . G e w e b e a b g a b e n ' liegt e i n e V e r w e c h s l u n g vor mit d e n erst in Tacitus, G e r m a nia 25, 1 e r w ä h n t e n A b g a b e n der S k l a v e n u.a. v o n ,vestis', a l s o o f f e n b a r v o n ihnen g e w o b e n e r K l e i d u n g , an ihre j e w e i l i g e n Herren. 6 4 Tacitus, G e r m a n i a 12, 2. 6 5 Siehe oben, S.272. 6 6 Tacitus, G e r m a n i a 13, 1. 6 7 E b d . 13, 2, wo e s .patrum merita' heißt.

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5

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Iis, sondern weil den ursprünglich gewählten, später faktisch erblichen principes oder nobiles größere Beute und (vielleicht!) auch Ackeranteile zugewiesen wurden, können sich in ihrer Hand mit Herausbildung erblichen Bodenbesitzes allmählich größere Bestände von Hufen, die durch abhängige Leute bewirtschaftet werden, ansammeln, wie dies z.B. bei dem Bataverfürsten Civilis48), dessen „agri" und „villae" die Römer klüglich schonten, der Fall war. Daß dies dann bei Völkern, welche, wie die Sachsen, an den großen demokratisierenden Umwandlungen des erobernden Volkskrieges besonders wenig teilgenommen hatten, tatsächlich zu einem erheblichen Maße grundherrlicher Entwickelung geführt hat, zeigen die Nachrichten aus der Frankenzeit. Wir finden da - in Bedas angelsächsischer Kirchengeschichte 5,10 (vergl. 4,24) - den „villicus" eines „satrapa" in einem im übrigen von - offenbar freien - „vicani" bewohnten Dorfe, welches vom Sitz jenes satrapa abliegt. 68 Der villicus, über dessen Stellung sonst nichts ersichtlich ist, mag außer der Bewirtschaftung der einen oder mehreren Hufen, die seinem Herrn dort | gehörten, wohl auch die öffentlichrechtlichen und etwaige privatrechtlichen Abgaben für Rechnung seines Herrn einzusammeln gehabt haben. Das wäre dann ein Stück ,,Villikationsverfassung"[,] und zwar - darauf kommt es hier allein an - in der Hand eines „satrapa", eines Nachfahren des alten taciteischen princeps.69 Mit der allmählichen Beschränkung der Heiraten auf den eigenen Stand - deren Endergebnis bei den Sachsen schließlich der strenge Ausschluß des connubium zwischen Edelingen und Freien in der Karolingerzeit war 70 - mußten sich die Chancen des Zusammenerbens und - bei Aussterben einer Familie - Zusammenheiratens verstreut liegender Hufen in der Hand dieser bevorrechtigten Schicht steigern, und dies bietet denn auch die ungezwungenste Erklärung jener Streugrundherrschaften, welche uns alsbald, nachdem die Traditionenregister zu sprechen beginnen, gerade auch in Sachsen als Normalform der alten Grundherrschaft entgegentreten. 71 Daß diese wirtschaftlich so höchst irratio4S|

68 69 70 71

Tacitus Histor[iae] V, 23. D e r Wortlaut läßt auf Streubesitz schießen. |

Zugrunde liegt Schröder, Altsächsischer Volksadel, S. 354; vgl. auch oben, S. 270. So Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 1, S. 128 (= 1 2 , S. 174). So Heck, Gemeinfreie, S. 331 - 3 3 5 . Dies erörtert Wittich, Grundherrschaft, Anlagen, S. 125*f.

A454

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nelle Form der Bodenanhäufung, dies Durcheinandergreifen weithin verstreuter Besitzungen der einzelnen Grundherrschaften innerhalb der einzelnen Dorffluren, das Ergebnis einer von den Grundherren resp. ihren Vorfahren absichtsvoll geleiteten unfreien Siedelung gewesen seien, widerspricht aller und jeder inneren Wahrscheinlichkeit. Sie kann in Sachsen nur als das Ergebnis eines jahrhundertelang fortgesetzten Prozesses verstanden werden, der sich aus lauter zufälligen, durch Heirat mit Erbtöchtern, Gelegenheitskäufen, gelegentlicher Ergebung eines Freien 49 ' u.s.w. entstandenen Erwerbungen zusammensetzt. Daß dieser Bodenanhäufungsprozeß anscheinend ziemlich langsam verlief und noch in der Karolingerzeit auf deutschem Boden kaum so weit vorgeschritten war wie in Gallien zu Cäsars Zeit, dafür hatte wohl besonders das Beispruchsrecht der Erben gesorgt, so lange es die Kirche noch nicht, eben zu dem Zweck, um die Bodenanhäufung möglich zu machen, abgeschwächt hatte. Die Ansicht, die Grundherrschaft sei gewissermaßen der auf den Boden projizierte Viehbesitz der nobiles eines germanischen Nomadenzeitalters, 72 findet also in den Quellen der vorfränkischen Zeit keine Stütze. Nicht deshalb war jemand nobilis, weil er Grundherr oder (früher) Viehbesitzer war, sondern umgekehrt: wenn es einmal eine Familie dazu gebracht hatte, daß üblicherweise aus ihren Reihen die principes gewählt wurden, daß schließlich diese ihre Stellung als erblich galt, so führte dies auf die Bahn eines sozialen Emporsteigens dieser Sippe und gab ihr gewisse ökonomische Chancen des Reichtumserwerbs und der Bodenanhäufung, welche im Laufe längerer Zeiträume zur Bildung von Grundherrschaften in ihrer Hand führen konnten und sicher vielfach geführt haben. Die Annahme also, daß die principes und nobiles der taciteischen Schilderungen sich gegenüber der Masse der als „plebs" beA 455 zeichneten | Volksgenossen in der Stellung von Grundherren befunden hätten, ist abzulehnen. - Prüfen wir die zweite Möglichkeit:

A 454

49) Denn niemand wird glauben, daß eine solche zu Tacitusl'l Zeit nur im Fall des Verspielens der Freiheit vorgekommen sei. 73 |

7 2 G e m e i n t ist d i e in erster Linie v o n Wittich vertretene A u f f a s s u n g ; vgl. e t w a o b e n , S. 2 4 7 u n d 264. 7 3 Tacitus, G e r m a n i a 24, 2.

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daß eben jene plebs selbst, die Masse der Gemeinfreien, „Grundherren" gewesen seien. Dem steht nun - nach dem Sprachgebrauch der römischen Kaiserzeit - schon die Bezeichnung der Gemeinfreien als „plebs" entgegen, ein Ausdruck, den schon Cäsar sowohl auf die nach seiner Darstellung versklavte Unterschicht der Gallier wie auf die Germanen mit Ausschluß der magistratus ac principes anwendet, und der bei Tacitus ständig gebraucht wird. Ein Besitz von Sklaven, zumal von Sklavenfamilien von mehr als dem 4fachen Umfang der Freien 74 - weit stärker als in Athen in der Zeit seiner Blüte oder irgendwo im Altertum - müßte ferner doch auch politisch bedeutsam gewesen sein. Wir hören davon nie etwas. Aber auch die Nachrichten über die Lebensführung der gemeinfreien Germanen stimmen dazu nicht. Wenn freilich die Vertreter der herrschenden Meinung auf der einen Seite und Wittich auf der anderen Seite sich darum streiten, ob der freie Germane des Tacitus ein „Grundherr" oder ein „Bauer" gewesen sei, so wäre diese Unterscheidung jenem Germanen selbst jedenfalls unverständlich geblieben. Er hätte sich weder in einem Seigneur des Mittelalters noch in einem heutigen freien Bauern wiedererkannt. Er war zwar - im Gegensatz zu den Gefolgsleuten der Fürsten - kein geschulter ßera/skrieger, aber doch ein Mann, für den nach Tacitus' Schilderung eine Abwechslung von Krieg, Jagd, Trink- und Spielgelagen, Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten seines Gaues und träger Muße den eigentlichen „Lebensinhalt" ausmachten. 75 Daß der freie Mann die Feldarbeit als „schmutziges Geschäft" geradezu habe verachten müssen, ist allerdings eine Vorstellung, die den Verhältnissen nomadisierender r Reitervölker oder des vollentwickelten Rittertums oder der antibanausischen Hochblüte der antiken r A: nomadisierenden 74 Die Zahl bezieht sich offenbar auf die A n n a h m e Wittichs, Freibauern, S. 2 7 6 f . (zuerst: ders., G r u n d h e r r s c h a f t , A n l a g e n , S. 120*f.), über 4 - 5 H u f e n als d e m d u r c h schnittlichen G r u n d b e s i t z eines s ä c h s i s c h e n ,nobilis', deren B e w i r t s c h a f t u n g - außer einer Hufe in E i g e n w i r t s c h a f t - an je einen Kolonen ,freien o d e r unfreien Standes' ausgetan g e w e s e n sei (ders., Freibauern, S. 277); zur M ö g l i c k e i t der Ü b e r t r a g u n g auf die Zeit bereits d e s Tacitus ders., G r u n d h e r r s c h a f t , A n l a g e n , S. 111*. Wittich, Freibauern, d a g e g e n spricht für die a l t g e r m a n i s c h e Zeit w e n i g e r b e s t i m m t von .großem Sklavenbesitz', .mehreren Unfreien' auf j e d e n Freien sowie von einer .großen Zahl von Unfreien' (ebd., S. 256f.). 75 Tacitus, G e r m a n i a 1 1 - 1 5 ; 2 1 - 2 2 .

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Kultur entnommen ist. Sie trifft z. B. auf die homerische Zeit oder auf die Zeit des römischen Städtestaates (Cincinnatus-Legende!) 7 6 so wenig zu, wie auf das germanische Altertum 50 '. Sie widerspricht geradezu der Bemerkung des Tacitus Kapitel 14 am Ende: „nec arare terram s . . . s tarn facile persuaseris quam vocare hostem". 77 Aber daß die Arbeit tunlichst gemieden wurde, und zwar A 456 in einem den Römern auffallenden Maße, ist | nach den Bemerkungen des Tacitus 78 über die erstaunliche Trägheit des Deutschen denn doch auch nicht zu bezweifeln. Daraus nun aber auf die Notwendigkeit einer breiten Unterlage unfreier Arbeit, auf „grundherrliche" Existenz und dergleichen, zu schließen, liegt bei dem Bedürfnisstande der taciteischen Germanen und bei der geringen Intensität des damaligen Ackerbaues keinerlei Anlaß vor. Denn mit einziger Ausnahme etwa des Pflügens - und auch dieses nur, solange keine halb erwachsenen Söhne vorhanden waren konnten alle Feldbestellungsarbeiten der taciteischen Zeit durch die Frauen und die noch nicht oder nicht mehr Kriegstüchtigen 51 ), 50> Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der freie Mann jede Arbeit persönlich zu tun bereit gewesen wäre. Die Arbeitsteilung der Geschlechter ist uralt, spezifische Weiberarbeit zu tun verschmäht der Mann regelmäßig. Die Besorgung der Pferde und der Rinder, der Bau- und Einzäunungsarbeiten aber gilt wohl überall, weil sie die physische Kraft des Mannes fordert, als spezifisch männlich und manneswürdig. Innerhalb des Viehes scheidet sich wieder das Pferd - als das Tier des Kriegers - nach oben, das Schwein nach unten, vom Rinde. Diese Differenzierung ist uns mehrfach, und auch für den europäischen Norden gelegentlich, bezeugt und liegt in der Natur der Dinge. Aber ständisches Merkmal ist sie, soviel wir sehen können, nicht. Vergl. über die Arbeit der Freien jetzt die soeben erschienene Leipziger Dissertation von 0[skar] Siebeck: Das Arbeitssystem der Grundherrschaften im Mittelalter. Tübingen 1904.79 | 51 A 456 > Daß, wer nicht mehr in den Krieg zieht, nicht mehr Hausherr ist, gilt bei den meisten spezifischen Kriegervölkern. Odysseus ist König, Laertes baut den Acker. In Japan beruhte das Institut des „Inkyo" 80 darauf. Anders war die Familie in Rom organisiert, wo der Sohn lebenslänglich81 Haussohn blieb. Aber bei den Germanen bedeutet Wehrhaft-

A 455

s Auslassungszeichen in A. 7 6 Weber spielt auf L. Quinctius Cincinnatus an, der angeblich im Jahre 458 v.Chr. vom Pfluge weg in sein Amt als Dictator geholt werden mußte (vgl. bes. Livius 3, 26, 7-10). 7 7 Weber zitiert Tacitus, Germania 14, 4. 7 8 Tacitus, Germania 15, 1; 22, 1. 7 9 Gemeint ist Siebeck, Frondienst. Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S.231. 8 0 Vgl. unten, S.510. 81 Gemeint ist: bis zum Tode des pater familias.

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wie Tacitus 82 es berichtet, besorgt werden. Daß die Hausarbeit der Frau sich auf bloße Besorgung einer grundherrlichen Konsumtionswirtschaft beschränkt habe, ist eine Übertragung heutiger Verhältnisse auf das deutsche Altertum und schon dadurch ausgeschlossen, daß ausdrücklich auch die Mitarbeit der liberi und senes berichtet wird. 83 Und vollends wird durch das, was Tacitus 84 und schon Cäsar 85 von der abergläubischen Schätzung weiblicher Propheten und Zauberkünstler berichten1, auch die rücksichtsloseste Ausnutzung der Frau 52 ' als Arbeitskraft nicht etwa ausgeschlossen. Daß man Weiber, denen man solche übernatürlichen Fähigkeiten zutraute, mit scheuem Respekt behandelte, beweist so wenig eine privilegierte Stellung des weiblichen Geschlechtes bei den alten Germanen, wohl gar nach Art der heutigen angelsächsischen Frau 86 - wie man etwa aus der Verehrung des Apis 87 in Ägypten auf eine Exemtion des Rindviehes von der Arbeit schließen wird. Für die wirkliche Stellung der germanischen Ehefrau in späterer Zeit gibt die Behandlung des Ehemachung ursprünglich auch privatrechtliche Emanzipation. Aus dem Bericht des Tacitus, wonach bei den Tenkterern das Pferd dem kriegstüchtigsten Sohn, dagegen die sonstige „familia et penates" dem ältesten „übergeben" (traduntur) zu werden pflegten (Germ[ania] 32), könnte man, da nach dem Wortlaut von Beerbung nach dem Tode hier nicht die Rede ist - diese wird Kap. 20 für die Germanen allgemein erörtert - darauf schließen, daß das Ende der Wehrfähigkeit bei diesem Stamm den Verzicht auf die Hausherrschaft nach sich zu ziehen pflegte. 521 Die deshalb noch nicht ein „nach Indianerart geschundenes Weib" zu sein brauchte, wie Wittich es ausdrückt.88 j

t A: berichtet 82 Ebd. 15, 1. Vgl. a u c h die f o l g e n d e A n m . 83 G e m e i n t ist Tacitus, G e r m a n i a 15, 1, w o j e d o c h nicht a u s d r ü c k l i c h von ,liberi' bzw. K i n d e r n g e s p r o c h e n wird. Die Formulierung ist o f f e n k u n d i g beeinflußt von Wittich, G r u n d h e r r s c h a f t , A n l a g e n , S. 109*. 84 Tacitus, G e r m a n i a 8, 2. 85 Caesar, De bello Gallico 1, 50, 4 f . 86 In d e n USA u n d später a u c h in E n g l a n d k a m es vor allem in der 2. Hälfte d e s 19. J a h r h u n d e r t s d u r c h eine Reihe von Reformen zu einer w e i t g e h e n d e n r e c h t l i c h e n G l e i c h s t e l l u n g der Frau g e g e n ü b e r ihrem E h e m a n n . 87 Der Apisstier w u r d e im ä g y p t i s c h e n M e m p h i s ( g e r a d e a u c h Infolge der B e d e u t u n g des Rindes z. B. als Zugtier) s c h o n seit der f r ü h e s t e n Pharaonenzelt als heilig verehrt. 88 So von Wittich, Freibauern, S. 255, als ( u n g l a u b w ü r d i g e ) K o n s e q u e n z der g e g n e r i s c h e n A u f f a s s u n g formuliert.

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bruchs nach den Regeln der Sachbeschädigung im angelsächsischen Recht 89 wesentlich deutlichere Anhaltspunkte, als die pointierte, auf ganz bestimmte Probleme der kaiserlichen Sittenpolitik hinausgespielte Darstellung des Tacitus90 über die germanische Ehe. Die germanische Frau wird sicherlich nicht weniger hart ha- 5 ben arbeiten müssen, als eine heutige deutsche Kleinbäuerin. Dagegen kam die Zeit der anhaltenden Arbeit für den Mann erst, als der Viehstand abnahm, der Boden knapp, die Siedelung dichter, der Hausbau fester wurden. Und als dann auch die Gelegenheit zum Erwerb durch Reislaufen, deren Bedeutung für die Entwik- 10 A 457 kelung | der materiellen Kultur sehr hoch anzuschlagen ist, versiegte,91 da erst wurde der einfache Gemeinfreie des inneren Deutschland wirklich ein „Bauer", in politisch ohnmächtiger, ökonomisch zunehmend gedrückter Lage. Denn es lag in der Natur der Dinge, daß nunmehr der Differenzierungsprozeß zwischen 15 denjenigen Geschlechtern, die einmal ein gewisses Maß von Bodenbesitz in Verbindung mit dem politischen Einfluß der nobilitas erreicht hatten, und den übrigen Gemeinfreien sich mit zunehmender Intensität des Bodenanbaues im allgemeinen verschärfen mußte. Für den Edeling, der einmal in den Besitz einer zureichen- 20 den Zahl von Hufen gelangt war, bedeutete die steigende Produktivität der Arbeit die Möglichkeit, steigender Renten. Für die Masse der Gemeinfreien aber bedeutete die steigende Intensität der Arbeit steigende Bindung an wirtschaftliche Tätigkeit. Mit steigender Kultur der Vornehmen stieg naturgemäß auch der Be- 25 dürfnisstand der Massen. Mag man sich die Lebenshaltung etwa der Sachsen im 8. Jahrhundert als eine für unsere Begriffe noch so niedrige vorstellen, gegenüber den Zuständen von Wohnung, Hausgerät und - namentlich - Kleidung, welche Tacitus 92 teils schildert, teils andeutet, war sie doch sicherlich ungemein gestie- 30 8 9 Näheres bei Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 1, S.74; 2, S.664; dazu etwa Roeder, Fritz, Die Familie bei den Angelsachsen. Eine kultur- und literarhistorische Studie aufgrund gleichzeitiger Quellen. 1. Hauptteil: Mann und Frau (Studien zur englischen Philologie, hg. von Lorenz Morsbach, Heft 4). - Halle a. S.: M. Niemeyer 1899, S. 1 3 3 - 1 3 7 (Beschaffung einer .Ersatzfrau') 9 0 Tacitus, Germania 18. 91 Mit .Reislaufen' meint Weber hier offenbar den Dienst in den Fußtruppen, die dann seit dem 8. Jahrhundert durch die Reiterei verdrängt wurden (vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 2, S. 208); vgl. auch oben, S. 123 mit Anm. 2. 9 2 Tacitus, Germania 16f.

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gen. Dagegen waren mit der dichteren Siedelung die durchschnittlich mögliche Viehhaltung sowohl als der Ertrag der Jagd sicher sehr stark zusammengeschrumpft. Je unentbehrlicher die ständige persönliche Mitarbeit des Mannes in der Wirtschaft geworden war, desto weniger war er für Kriegs- und Beutezüge abkömmlich, desto seltener für ihn also die Gelegenheit für derartigen Erwerb, desto mehr saugte er sich gewissermaßen am Boden fest, wurde im wirtschaftlichen Sinne „schollenfest" und - natürlich nur relativ gesprochen - unkriegerisch. Die ständische Differenzierung in Krieger und Ackerbauer ist nicht der Anfang, sondern ein Produkt einer Entwickelung, die mit der bloß faktischen Differenzierung beginnt. Die Vogtei (tutela) eines nobilis, in der sich nach lex Saxonum, cap. 64, wenn nicht alle, so doch offenbar eine breite Schicht sächsischer Frilinge - das heißt, wie die Erwähnung der proximi zeigt, freier Grundbesitzer - zur Karolingerzeit befanden, 93 wird - wenn sie nicht doch Produkt der fränkischen Gesetzgebung ist - mit dem Wunsche nach persönlichem Schutz gegenüber dem erst im Jahre 797 beseitigten Fehderecht 94 zusammenhängen^] also Ergebnis jener Entwickelung sein. Wenden wir uns zu Tacitus zurück, so sprechen auch außer den erwähnten 95 noch mancherlei Gründe gegen die Wahrscheinlichkeit eines allgemein verbreiteten^] erheblichen Sklavenbesitzes der Gemeinfreien in damaliger Zeit. Es wird bei den verschiedensten Volkskriegen der Germanen mit den Galliern und untereinander nirgends von erheblichen Versklavungen berichtet 53 ). Die Besiegten werden entweder, wie beim Angriff der Hermunduren auf die Chatten, 1 | vor der Schlacht den Göttern geweiht und dann alles A 458 Lebende vertilgt, oder sie werden aus ihrem Gebiet vertrieben. Bei den Sueven, von deren Sonderstellung schon früher gesprochen 53 > D i e in d e r Varusschlacht g e f a n g e n e n A b k ö m m l i n g e von S e n a t o r e n f a m i l i e n t a t e n A 457 (nach S e n e c a ) 2 als Portiers o d e r H i r t e n , also d o c h bei d e u t s c h e n nobiles, Dienst. |

93 .Proximus' in der lex Saxonum ebd.: .Verwandter' eines homo über (bzw. Frilings). Vgl. Schröder, Altsächsischer Volksadel, S. 351 (dort der ganze Text der Stelle), sowie Brunner, Nobiles und Gemeinfreie, S. 101 f. 94 Behandelt wird dies bei Schröder, Altsächsischer Volksadel, S. 354 mit Anm. 1. 95 Siehe oben, S.275. 1 Weber bezieht sich auf Tacitus, Annales 13, 57, 2 (58 n. Chr.). 2 Seneca, Epistulae morales 47, 10. (Die Varusschlacht fand 9 n. Chr. statt.)

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wurde, 3 kommt Auferlegung einer festen Kontribution vor. 4 Erst die Nachrichten über die Behandlung der Thüringer durch die Sachsen zeigen die massenhafte Begründung individueller grundherrlicher Abhängigkeit der Besiegten auch auf rein deutschem Boden 54 '. Natürlich wird die Versklavung von Kriegsgefangenen auch früher und auch in der „Urzeit" häufig gewesen sein, die Fürstenfamilien werden sie als „Laten" 5 auf ihrem Land angesiedelt haben, aber ein ganzes Volk von Grundherren bei Überfluß von Land hätte offenbar überhaupt nichts eifriger als eben die Vermehrung seines Sklavenbesitzes erstreben müssen, da ja dann für die ganze Masse des Volkes mehr Sklaven mehr Rente bedeutet haben würden. Und davon erfahren wir eben gar nichts. Bei dem Bedürfnisstande der Gemeinfreien war ein ökonomisches Motiv zum Streben nach ausgedehnterem Sklavenbesitz eben wohl nur bei den principes, welche comités, und zwar möglichst viele comités, zu unterhalten hatten, generell vorhanden. Die Ausnutzung von Sklavenarbeit war ferner zweifellos eine sehr extensive55), ihre Produktivität aus klimatischen Gründen gering. Die Zufuhr von Sklaven war unstet und unsicher. Solange er mit der Kleidung und Nahrung und der Hauseinrichtung zufrieden war, die Tacitus schildert, 6 bestand für den Gemeinfreien ein Anlaß zum Sklavenerwerb kaum. A 458

54 * Rudolf von Fulda^j M[o]n[umenta] Germfaniae] hist[orica] Script[ores] II, S. 675 „cum tota (terra) 7 ab v eis occupari non potuit, partem w . . . w c o l o n i s tradebant singuli pro sorte sua, sub tributo exercendam. Cetera 8 loca ipsi possiderunt" 9 . Also die Begründung grundherrlicher Abhängigkeit wird als der speziellen Motivierung bedürftig erachtet. 55) Dies bestätigt die zitierte Arbeit von Siebeck z. B. für die Sklavenbenutzung durch die isländischen Bonden: 1 0 die Arbeit der Sklaven glich wesentlich der nachbarlichen Bittarbeit bei der Ernte.

u Auslassungszeichen in A.

v A: et

w Auslassungszeichen in A.

3 Siehe oben, S.253f. 4 Weber bezieht sich auf Caesar, De bello Gallico 4, 3, 4 (vgl. oben, S. 269 mit Anm. 50). 5 In fränkischer Zeit Ausdruck für Halbfreie. 6 Tacitus, Germania 16f.; 29. 7 „terra" von Weber zur Verdeutlichung aufgrund des vorhergehenden Satzes hinzugesetzt. 8 In dem von Weber zitierten Text folgt „vero". 9 Rudolf von Fulda, Translatlo 1 (ebd., S.675, Z. 3 - 6 , verfaßt ca. 863 n.Chr.). 1 0 „Bonden" war in Island eine Bezeichnung für freie Bauernhofbesitzer. Weber fußt auf Siebeck, Frondienst, S . 4 1 - 4 3 .

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Die gemachten Kriegsgefangenen werden daher im ganzen wohl öfter durch Beutehändler für den römischen Sklavenmarkt exportiert worden sein56). Gewiß schränkt Tacitus in der von Wittich 11 seiner Behauptung zu Grunde gelegten Stelle in Kapitel 25 der Germania 57 ' den Sklavenbesitz nicht auf die nobiles ein, er ist vielleicht auch bei den Gemeinfreien nicht selten gewesen 58 ', denn auch bei ihnen mögen durch Erbschaft und Heirat gelegentlich mehrere Ackeranteile in einer Hand vereinigt und dann durch Sklaven bewirtschaftet worden sein. Aber auf das entschiedenste muß bezweifelt werden, daß der Besitz von abgabepflichtigen Sklaven oder von Sklaven überhaupt in | irgend einem Sinne als etwas die Lebenshaltung des Ge- A 459 meinfreien Charakterisierendes* oder wohl gar nach Recht oder Sitte Bedingendes zu denken wäre. Und hierauf allein kommt es an, wenn man die Frage nach dem „grundherrlichen" Charakter der germanischen Gemeinfreien stellt. Was Tacitus Kapitel 25 der Germania schildern will, ist, wie die Stelle bei unbefangener Betrachtung aufs deutlichste ergibt, nicht etwa, daß die Germanen generell von den Abgaben ihrer unfreien Colonen leben, sondern vielmehr die Art, wie diejenigen von ihnen, welche über größeren Land- oder Sklavenbesitz verfügten - also nach aller Wahrscheinlichkeit im wesentlichen die principes - beides ausnutzen. Diese Art fiel ihm (oder seinen Gewährsmännern) um deswillen auf, weil die Wirtschaftsverfassung der römischen größeren Landbesitzungen davon % < Die Nachricht von der Sitte, den im Spiel erbeuteten Volksgenossen ins Ausland zu verkaufen, 12 wird mit Rücksicht z.B. auf den analogen römischen Verkauf des Schuldners trans Tiberim 13 als durchaus glaubhaft zu gelten haben, - entgegen gelegentlicher Anzweiflung 1 4 - beweist aber für unsere Frage allerdings nicht viel. 57 ' S[iehe] dieselbe oben S. 244, Anmerk. 1 5 58 ' Aber die Verhältnisse der wandernden Kriegervölker mit ihrem Bedarf an Sklaven für Viehwartung, Besorgung des (unsteten) Anbaus und zahlreiche andere persönliche und militärische Leistungen gelten für die seßhaften Stämme keineswegs. |

x A: charakterisierendes 11 Wittich, Grundherrschaft, Anlagen, S. 109*f. 12 Tacitus, Germania 24, 2. 13 Dieser Verkauf des Schuldners .jenseits des Tibers', d. h. nach außerhalb von Rom, war bereits im Zwölftafelgesetz (3, 5) festgelegt. 14 Die Zweifel beziehen sich auf den anderen Charakter der Spielschulden und die mutmaßliche A b l e h n u n g einer derartigen Versklavung durch die betreffende Sippe. 15 Siehe oben, S . 2 4 4 , Webers Fußnote 11.

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sehr augenfällig abstach. Die letztere beruhte bekanntlich auf dem Nebeneinander 16 unfreier, eheloser, kasernierter Sklaven, die zur Plantagenarbeit im Großbetrieb militärisch diszipliniert und organisiert („discriptis per familiam ministeriis") 17 verwendet wurden, mit freien, Rente zahlenden und eben damals in wachsendem Maße allmählich auch zur Erntearbeit herangezogenen Parzellenpächtern (coloni). Bei den germanischen Grundherren nun fehlte einerseits der Großbetrieb, und waren andererseits die abgabepflichtigen Kleinwirte nicht freie Pächter, sondern Sklaven, welche aber - und auch das mußte ihm als von den damaligen römischen Verhältnisse abweichend auffallen - eine zwar nicht rechtlich, aber nach faktischer Übung feste Abgabe („customary rent" im Gegensatz zu „rack rent") in Naturalien leisteten. 18 Wie weit nun solche größere Grundbesitzungen damals im inneren Germanien in den Händen fürstlicher Geschlechter überhaupt vorhanden gewesen sein mögen, bleibt bei Tacitus durchaus problematisch. Was von ihnen in der ersten Kaiserzeit erwähnt wird, findet sich, wie früher ausgeführt, 19 in der Hand von principes unmittelbar an der römischen Grenze. Und die unterirdischen ergastula mit darin arbeitenden Sklavinnen, welche später gelegentlich erwähnt werden, 20 sind solche, die nach mittelländischem Vorbild in der Provinz Germanien geschaffen waren. Für den mit Fellen bekleideten Germanen der taciteischen Zeit hätten sie wenig Sinn gehabt. Daß der germanische Gemeinfreie auch, vielleicht oft, unfreies Gesinde beschäftigte, ist wohl selbstverständlich. Daß er, im Gegensatz zu dem Bauern des Hesiod 21 und dem Bürger der frührömischen Zeit, 22 die Hand grundsätzlich nicht selbst an den Pflug gelegt habe, ist äußerst unwahrscheinlich. Zahlreiche Bestimmun16 Dieses N e b e n e i n a n d e r hatte Weber in seiner „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " ausführlich g e s c h i l d e r t (MWG I/2, S. 2 9 7 - 3 5 2 ) . 17 .Unter [fester] Aufteilung der Dienste innerhalb der Sklavenschaft'. Weber zitiert Tacitus, G e r m a n i a 25, 1 (In der Textfassung von Furneaux, Cornelii Taciti O p e r a minora; vgl. unten, S. 287, W e b e r s Fn. 63). Die ü b l i c h e Lesart n a c h d e n H a n d s c h r i f t e n ist im w e s e n t l i c h e n g l e i c h b e d e u t e n d - : d e s c r i p t i s . 18 W e b e r bezieht s i c h auf Tacitus, G e r m a n i a 25. 19 Siehe o b e n , S . 2 7 3 . 20 G e m e i n t sind wohl B e l e g e aus der lex Salica: Meitzen, S i e d e l u n g u n d A g r a r w e s e n 1, S . 5 8 2 . Vgl. a u ß e r d e m o b e n , S. 113 (genitium); d a z u bereits Plinius, Naturalis historia 19,1 (2), 9 ( e r g a s t u l a hier o f f e n s i c h t l i c h A u s d r u c k W e b e r s ) . 21 W e b e r bezieht sich auf Hesiod, Erga 4 5 7 - 4 6 0 ; 4 6 6 - 4 7 0 . 22 W e b e r spielt vor allem auf C i n c i n n a t u s an; vgl. o b e n , S. 269.

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gen der lex Salica 23 setzen das Gegenteil voraus, wie denn dieses Gesetzbuch - was hier nicht weiter ausgeführt werden soll - teilweise geradezu unverständlich würde, wenn man mit der „grundherrlichen Theorie" Ernst machen wollte. 5 Das Vorhandensein breiter Schichten kleiner Grundherren kann endlich natürlich auch nicht aus der Bedeutung der germanischen Reiterei, wie sie in allen Feldzügen hervortritt, gefolgert werden. | Um von den Kosaken zu schweigen, so hat z. B. auch der galizische A 460 Bauer bis in die Gegenwart hinein seine Berittenheit bewahrt: 10 Manche bäuerlichen Feste sind dort noch immer Reiterfeste. Zwar war der einfache Gemeinfreie nach Tacitus24 vorwiegend Fußkämpfer, aber Reiter- und Fußkampf schieden sich nach allen Nachrichten über die Kriegführung der Germanen in keiner Weise scharf, und daß die Berittenheit und der Reiterdienst als etwas so15 zial Auszeichnendes galten, daß schließlich die Reiterei zum Kampf gegen die Araber künstlich durch massenhafte Vergebung von Lehen vermehrt wurde und die Lehensreiterei das Volksaufgebot völlig verdrängte, das alles ist Ausdruck späterer Zustände und einer anderen militärischen Technik. 25 Dies mußte hier um deswillen 20 ausdrücklich hervorgehoben werden, weil Sohm in einem geistvollen Aufsatz über die liberti der altgermanischen Zeit 59 ' den Reiterdienst als ein schon zu Tacitus' Zeit klassenbildendes Element angesprochen hat. 26 Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Dagegen wird Sohm darin durchaus zuzustimmen sein, daß die 25 liberti des Tacitus wohl durchweg als Freigelassene eines Fürsten zu denken sind.27 Ein allgemein wirkendes Motiv zur Freilassung eines Sklaven ist nur bei ihnen erkennbar: Schaffung einer persönlichen wfl/jfenberechtigten Anhängerschaft. Auch die deutlichen Anspie> Zeitschr. f. Rechtsgesch., German. Abt., Bd. 21, S. 20 ff. 28

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2 3 Gemeint sein dürfte vor allem die bedeutende Rolle der Vieh-, Haus- und Nutztierdiebstähle und Ähnliches in der - in die Zeit Chlodwigs zurückreichenden - lex Salica (bes. 2 - 9 ; 27; 38). 2 4 Tacitus, Germania 14, 1 - 2 . 2 5 Diese Veränderungen, die sich im fränkischen Reich seit Karl Martell vollzogen, waren bei Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 2, S. 207-209, 246t., ausführlich dargestellt worden. Vgl. auch oben, S. 123f. 2 6 Sohm, Liberti, S. 2 3 - 2 6 . 2 7 Ebd., S. 22. 2 8 Gemeint ist Sohm, Liberti.

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lungen des Tacitus in Kapitel 25 beziehen sich ersichtlich auf die Rolle, welche die Freigelassenen des Kaisers in der römischen staatlichen (in civitate) 29 und höfischen (in domo) 3 0 Verwaltung seit Claudius zu spielen begonnen hatten, nicht auf Klienten Privater. Daß die späteren Abhängigkeitsverhältnisse und Grundherr- 5 Schäften auf die grundherrliche Stellung der taciteischen gemeinfreien Germanen zurückgehen sollten, ist nach dem allen ganz außerordentlich unwahrscheinlich60'. Wenn also diejenige spätere | A 461 Agrarverfassung, welche wir als die spezifisch deutsche - sei es mit Recht oder Unrecht - zu betrachten uns gewöhnt haben: die dorf- 10 weise Ansiedelung mit strenger Gleichheit der Hufenanteile an den einzelnen Flurabschnitten - schon in der taciteischen Zeit ihre Wurzeln haben sollte, dann ist es äußerst unwahrscheinlich, daß die Hufen den Volksgenossen, wie Wittich meint, 31 nach der Zahl ihrer 601 Für die Völkerwanderungszeit könnte die „grundherrliche" Theorie ihre stärksten Argumente der Art entnehmen, wie die germanischen Völker auf römischem Boden insbesondere die Burgunder - bei der Landteilung verfuhren. Daß diese z. B. im Burgunderreich wesentlich eine Landabtretung von Seiten der possessores, d. h. der römischen Grundherren, und mindestens zum Teil an germanische Sklavenbesitzer war, ist nicht wohl zu bezweifeln. (Siehe außer den älteren Arbeiten von Gaupp, Binding, Kaufmann 32 die Erörterungen Delbrücks, Geschichte der Kriegskunst, Bd. 2, S. 347 ff.) 33 Aber um so mehr fällt es auf, daß im Gegensatz zu diesen erobernden Heerhaufen, welche das römische Einquartierungssystem zu Grunde legten und das römische Eigentum bestehen ließen, bei den Franken von solcher Landteilung nicht die Rede ist, obwohl die Landschaften an der Rheingrenze zu den in hoher landwirtschaftlicher Kultur stehenden Teilen des Römerreichs gehört hatten. Hier handelt es sich aber eben - wenigstens an der Grenze um eine Okkupation durch selbstwirtschaftende gemeinfreie „Bauern", die, soweit sie reichte, durch keinerlei Respekt vor dem bestehenden Landbesitz gehemmt war. 34 - Ob wirklich, wie neustens behauptet wird, der Name „Salier" von sala = Herrenhof kommt, die Salfranken also die Herrenfranken sind (Dippe in der Zeitschr. f. Geschichtsw. N.E II, S. 153 ff.),35 mag dahingestellt bleiben: Die Grenzlande wurden auf jeden Fall Beute der Massen Okkupation. - Es liegt in der Natur der Sache, daß der Sklavenbesitz der aus dem ferneren Osten vordrängenden^,] Generationen langy auf der Wanderschaft befindlichen Kriegervölker immer ein wesentlich größerer war, als derjenige der Rheinuferstämme. |

y A: lang, 2 9 So Tacitus, Germania 25, 2. 3 0 Tacitus, ebd. 31 Wittich, Freibauern, S.260. 3 2 Weber zitiert Gaupp, Germanische Ansiedlungen, Binding, Burgundisch-romanisches Königreich, sowie Kaufmann, Burgunden in Gallien, offenbar jedoch nur nach Delbrück, Geschichte des Kriegskunst 2, S.347. 3 3 Delbrück, ebd., S. 3 4 7 - 3 5 2 . 3 4 Delbrück, ebd., S.411 f. 3 5 Weber zitiert Dlppe, Prolog der lex Salica.

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Sklaven zugeteilt, mit diesen besetzt und von ihnen bewirtschaftet worden seien, daß also jene Gleichheit der Fluranteile auf der Gleichheit der üblichen Arbeitsleistung der Sklaven und nicht auf der Gleichheit der Bodenöesiizansprüche der Freien beruht haben sollte. Ob nun freilich jene auf der Hufe als einer ideellen Quote der Flur ruhende Art der Ackerverteilung in die taciteische Zeit zurückreicht, ist eine andere, nach den Quellen mit Sicherheit schlechterdings nicht zu beantwortende Frage. Denn die berühmte Stelle der Germania, Kapitel 26, gibt darauf ganz zweifellos keine hinreichend deutliche Antwort. Versuchen wir immerhin, sie auf ihren Sinn zu prüfen, freilich ohne jede Hoffnung, hier irgend etwas sagen zu können, was nicht schon Dutzende von Malen von anderen gesagt wäre. Es empfiehlt sich dabei, von dem letzten, wenigstens in seiner Lesung nicht bestrittenen Teile auszugehen: „arva per annos mutant et superest ager. nec enim cum ubertate et amplitudine soli labore contendunt, ut pomaria conserant et prata separent et hortos rigent z : sola terrae seges imperatur". 36 Das „enim" zeigt unzweifelhaft, daß hier der Wechsel der arva als durch extensive und einförmige Benutzung: nur zum Getreidebau, bedingt hingestellt werden sollte. Weiter aber zeigt die Verwendung des Ausdruckes „arva" im Gegensatz zu den vorher verwendeten Worten „agri" und „campi" ganz zweifellos, daß Tacitus den Wechsel des unter den Pflug genommenen Landes als nicht mit einem Wechsel der Wohnsitze verbunden bezeichnen wollte. „ Arvum" hat in der technischen römischen Sprache durchaus die Bedeutung der konkreten Bodenparzelle. Es wird in diesem Sinn speziell für die einzelnen zur Umlegung von Steuerleistungen bonitierten Parzellen gebraucht. 37 Namentlich in Verbindung mit der durchaus glaubhaften Motivierung, die Tacitus gibt, ist also in diesem Satz eine Nachricht enthalten, die gegenüber Cäsars Angaben selbstständig dasteht, und es ist schon aus diesem Grunde ganz und gar unzulässig, mit Rachfahl 38 die Darstellung des Tacitus lediglich als einen mehr oder minder konfusen Auszug aus Cäsar 39 hinzustelz A: irrigent 3 6 Tacitus, Germania 26, 2. 3 7 Weber greift hier auf seine „Römische Agrargeschichte" zurück, vgl. bes. MWG 1/2, S. 246f. 3 8 Gemeint ist Rachfahl, Zur Geschichte des Grundeigentums, S. 184f., 188. 3 9 Weber bezieht sich auf Caesar, De bello Gallico 6, 22, 2 (vgl. oben S. 267f.).

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len und ihr deshalb den selbständigen Quellenwert zu bestreiten. Cäsar spricht ebenso unzweideutig von dem Wechsel des Siedelungsplatzes wie Tacitus von dem Wechsel der unter Kultur genommenen Flurteile. Auch was Tacitus von den Wohnungen der Germanen im Gegensatz zu Cäsar berichtet, stimmt damit. Zwar nicht die Existenz 5 unterirdischer Winter- und Vorratskammern 6 1 denn hier handelt es sich wohl nicht um Keller, sondern nach dem Wortlaut („specus A 462 aperire") um die Bloßlegung und Benutzung | natürlicher Erdhöhlen, wie sie ja auch in der römischen Campagna bis heute benutzt werden; wohl aber läßt das, was Tacitus40 über den Verputz der 10 Häuser unmittelbar vorher berichtet, und manches andere einen Wohnbau vermuten, der jedenfalls nicht, wie die Wagenburgen der östlichen Kriegervölker, auf jährlichen Wechsel eingerichtet war, sei es, daß man bei einem solchen Wechsel an ein jährliches Abbrechen und Neuaufbauen denken wollte, sei es, daß man, wie Rachfahl, die 15 für die Germanen meines Erachtens durchaus unmögliche Vorstellung hegt, es könnte dasselbe Haus jährlich von anderen bewohnt worden sein.41 Sicherlich war das germanische lehmverschmierte Blockhaus ein primitives Bauwerk und wenig widerstandsfähig. Noch zu Zeiten der lex Salica konnte ein starker Mann so daran 20 rütteln, daß es einstürzte. 42 Und ganz zweifellos fühlte sich die Dorfschaft nicht so sehr mit ihrer Flur verwachsen, daß sie nicht, sobald die Möglichkeit gegeben war, sie mit einer benachbarten, offensichtlich besseren zu vertauschen, sich ohne Zögern dazu entschlossen hätte. Der fruchtbare, sonnige, in älterer Kultur befindli- 25 che und deshalb weniger sumpfige Boden Galliens ist es, der nach Tacitus (Hist[oriae] 4, 73) schon zur Zeit des Bataverkrieges die Germanen zu ihren wiederholten Angriffen auf die Rheingrenze bestimmt. Aber eben dies muß uns doch auch davor warnen, zu glauben, daß eine germanische Dorfschaft oder auch eine Einzelfamilie 30 gutes Ackerland, welches sie einmal besaß und bewirtschaftet hatte, A 461

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> Germ[ania] c. 16. |

40 Tacitus, Germania 16, 2. 41 Rachfahl, Zur Geschichte des Grundeigentums, S. 174, vgl. S. 177 (der für diese Vorstellung auf ältere Autoren verweist, sie jedoch selbst ablehnt). 42 Weber bezieht sich offenbar auf lex Salica 27, § XI (sl quis casam alienam ... traxerit, ,wenn jemand ein fremdes Haus weggenommen hat'; gemeint: eingerissen und anderswo errichtet hat.

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leichten Mutes zum Zweck eines Wohnungswechsels aufgegeben hätte, wenn nicht der Zwang einer halb kommunistischen Kriegsverfassung auf ihr lag. Die Stelle des Tacitus ist so unzweideutig wie möglich auf eine nicht im einzelnen bestimmbare Feldgraswirtschaft 5 zu deuten und auch fast immer so gedeutet worden. Was nun weiter die in Kapitel 26 der Germania vorangehenden vielumstrittenen Sätze anlangt: „agri pro numero cultorum ab universis in vices occupantur, quos mox inter se secundum dignationem partiuntur; facilitatem partiendi camporum spatia prae10 bent" - , so ist aus ihnen, so wie sie sind, gar nichts weiter von irgend welchem Wert zu entnehmen, als daß die Äcker zunächst ab universis in Besitz genommen und dann geteilt werden, richtiger wohl: daß diese Entstehung des Bodenbesitzes der einzelnen ganz ebenso als die eigentlich ordnungsgemäße angesehen und eventuell 15 fingiert wurde, wie etwa die staatliche „divisio et assignatio" des römischen ager privatus. Mit den Worten „in vices" ist, wie jetzt wohl62) zunehmend zugestanden wird, schlechterdings nichts anzufangen. Wenn man nicht, was sprachlich seine Bedenken hat, mit manchen Ausgaben 63 ) ab universis vicis lesen will, so handelt es 20 sich vermutlich um ein Glossem eines Lesers, der entweder das nachher folgende „arva mutant" oder aber Cäsars Schilderung vor Augen hatte. Das ganze Kapitel26 aber wegen dieses einen unsicher gewesenen Wortes als ein Plagiat aus Cäsar anzusprechen, wäre meines Erachtens auch dann unzulässig, wenn nicht die schon 25 früher 4 3 gemachten Bemerkungen die Selbständigkeit des Tacitus erweisen würden. Das „pro numero cultorum" besagt jedenfalls nicht mehr, als daß die Größe der einzelnen Feldfluren sich nach der Zahl der cultores richtete64). Was endlich das „secundum dignationem" anlangt, so liegt meines Erachtens die Deutung dahin, daß 62

> Außer von Rachfahl a. a. O. 44 Z. B. der Furneauxschen. 45 | M) Denn von diesen, nicht aber von dem Besitz der Einzelnen nach dem „numerus cultorum" richteten. |

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A 462

63)

ist gesagt, daß sie sich A 4 6 3

4 3 Siehe oben, S.285f. 4 4 Gemeint ist Rachfahl, Zur Geschichte des Grundeigentums, S. 179-181. (Dort Vermutung - nach dem Beispiel der Sueben, Caesar, De bello Gallico 4,1, 4 - 5 - einer jährlichen .Abwechslung' zwischen einer jeweils als Krieger und dann als Bauern tätiger Hälfte des Volkes.) 4 5 Gemeint ist: Furneaux, Cornelii Taciti Opera mlnora, vgl. oben, S. 282.

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bei Neusiedelung auf erobertem Lande die duces und principes bevorzugt wurden, immerhin am nächsten, zumal Tacitus von den römischen Aufteilungen eroberten Landes aus Livius46 gewußt haben wird, daß dabei von alters her der Anteil der Chargierten größer war, als derjenige der gemeinen Soldaten. Sollte man es aber nicht so deuten wollen, dann müßte wohl die ganz farblose Übersetzung: „nach Ermessen" bevorzugt werden, schon deshalb, weil die folgende Motivierung mit der „facilitas partiendi" weitaus am besten zu ihr paßt. Selbst wenn aber Tacitus die dignatio agri - die Bonität des Landes - gemeint haben sollte, so könnte daraus natürlich dennoch kein irgend sicherer Anhalt für das Vorhandensein der späteren Gewannverteilung, auf die man es gelegentlich bezogen hat, 47 gewonnen werden. Denn nicht nur ist es bei vorhandenem Landüberfluß an sich ziemlich unwahrscheinlich und auch später gerade bei den älteren Fluren keineswegs als Regel nachweisbar, daß eine Zerlegung des Bodens in Gewanne nach Bonitätsklassen zu den unbedingten Erfordernissen der germanischen Ackeraufteilung gehörte, sondern man müßte im Fall einer unbedingten Durchführung des gleichen Gewannverteilungsprinzips schon in dieser Zeit auch erwarten, daß ein gemeingermanisches Wort sowohl für das Gewann 3 wie für den Anteil daran oder doch für eines von beiden feststellbar wäre, und das ist nicht der Fall. Wenn es deshalb auch nicht möglich ist, aus Tacitus irgend etwas zu entnehmen, was dem Bestehen der späteren, von Meitzen als „volkstümlich" herausgehobenen 48 Fluraufteilung direkt widerspräche, so ist doch ebensowenig etwas zu ihren Gunsten aus ihm abzuleiten. Wie alt die Durchführung des strikten Gewannprinzipes, d. h. die Fluraufteilung mit gleicher Anteilnahme an jedem Gewann ist, wissen wir also nicht und werden es schwerlich jemals mit Sicherheit wissen. Aber das entbindet uns nicht von einer Stellungnahme zu der Frage, wie wir uns den Ursprung dieses Fluraufteilungsprinzipes prinzipiell zu denken haben, d.h. ob wir dasselbe uns als Proa A: Gewann, 46 57, 47 48

Kornemann, Coloniae, Sp.575, nennt vier Liviusstellen (35, 9, 7; 35, 40, 5 - 6 ; 37, 8; 40, 34, 2). Weber bezieht sich offenbar auf Meitzen, Siedelung und Agrarwesen 1, S. 159f. So z. B. Meitzen, ebd., S. 33.

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dukt autonomer Regelung der Fluranteilsverhältnisse oder als Produkt grundherrlicher Organisation derselben vorstellen sollen. Gegenüber der Annahme Meitzens, daß die regelmäßige Gewannaufteilung altgermanischen Ursprungs und Ausdruck des 5 planmäßigen Strebens einer Gemeinschaft freier Bauern nach „streitfreier" Gleichstellung untereinander sei, hat Knapp in seiner Rezension die Vermutung aufgestellt, daß jene Gewannaufteilung A 464 unreflektierte und ganz natürliche Folge der allmählichen Erweiterung des Anbaues durch Einbeziehung immer weiterer Teile des 10 bisherigen Weide- und Waldgebietes in die Ackerflur sei.49 Die Annahme besticht auf den ersten Blick; - in Wahrheit aber erhöht sie die Schwierigkeit des Problems. Das, was zu erklären ist, ist ja die gleiche Teilung der einzelnen Gewanne unter die einzelnen Bauernwirtschaften. Diese ist nun aber nicht etwa das, wirtschaftlich 15 betrachtet, natürliche und zweckmäßige, sondern im Gegenteil etwas höchst auffälliges und wirtschaftlich irrationales, und zwar ganz besonders gerade dann, wenn man an eine allmählich fortschreitende Siedelung mit immer wieder erneuter gleicher Verteilung unter die schon vorhandenen Hufen denkt. Denn die Zahl der 20 Hände und Mägen mußte ja notwendig, je länger je mehr, in den einzelnen Familien sich überaus verschieden entwickelt haben. Wenn trotzdem die Verteilung der neuen Stücke nach dem alten, vielleicht viele Generationen zurückliegenden Maßstabe erfolgt wäre, dann wäre gerade damit so schlagend wie möglich dargetan, 25 daß nicht die wirtschaftliche ratio, sondern ein rechtlicher Gesichtspunkt: die Vorstellung gleicher Anteilsrec/zie der Genossen an der Flur, das maßgebende war. Gerade da, wo die Aufteilung der Dorffluren nach dem Maßstabe der Arbeitskräfte, des Bedarfs und der Leistungsfähigkeit, also nach rein ökonomischen Gesichtspunkten 30 erfolgt - wie beim russischen Mir 50 -[,] findet ungleiche Teilung der einzelnen Flurabschnitte statt. Die gleiche Verteilung dagegen ist ein rein formales Prinzip. Die Form aber „ist die Feindin der Will-

49 Weber bezieht sich auf Knapp, Besprechung Meitzen, S. 2. 50 Bezeichnung der älteren russischen Dorfgemeinde, die zugleich Eigentümerin des Bodens war, der nach Leistungsfähigkeit bzw. Bedürfnissen der Mitglieder von Zelt zu Zeit umverteilt wurde. (Zu Modalitäten und Fristen vgl. Slmkhowltsch, Wladimir, Art. Mir, In: HdStW 2 , Band 5, 1900, hier S. 7 9 5 - 7 9 7 und 7 9 9 - 8 0 1 . )

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kür, die Zwillingsschwester der Freiheit",51 Der Umstand, daß bei der Teilung deutscher Fluren ein solcher sachlich irrationeller und formaler Gesichtspunkt zu Grunde gelegt wurde, ist meines Erachtens geradezu eines der sichersten Anzeichen dafür, daß dieser Fluraufteilung die Auffassung des Dorfes als einer geschlossenen Korporation zu Grunde liegt b und daß sie Produkt der Autonomie, nicht grundherrlicher Oktroyierung ist65). Es wird bei Meitzens Ansicht sein Bewenden haben müssen, daß diese Fluraufteilung zum mindesten mit einem sehr hohen Maße von Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß es sich bei ihr ursprünglich66) um autonome Landverteilung zwischen unter sich gleichen bäuerlichen Flurgenossen handelt. Mit alledem ist nun aber nicht gesagt, daß jenes Streben nach Erhaltung der sozialen Gleichheit, dessen Bedeutung schon Cäsar | A 465 von seinen Gewährsmännern berichtet worden war, 52 nur in den Formen jener streng regelmäßigen Gewann Verteilung oder überhaupt irgend einer Gewannverteilung sich habe äußern können, und daß es von Anfang an sich so geäußert habe. Im Gegenteil ist gerade für die ältere Zeit nach der Natur der Sache und nach allen Analogien etwas anderes als jene strenge Regelmäßigkeit anzunehmen. A 464

65)

Wäre die Verwendung von „Analogien" heute nicht in so hohem Grade diskreditiert, so ließen sich für den Zusammenhang zwischen formaler Ordnung der Anteilsrechte, Geschlossenheit der Dorfkorporationen und bäuerlicher 0 Freiheit namentlich aus Java 53 solche beibringen. Doch verzichte ich hier auf ein Eingehen darauf. 66) Denn daß die einmal bestehende Flurgewohnheit dann bestehen bleibt, wenn später das Dorf in grundherrliche Abhängigkeit gerät, ist sehr natürlich. Ja, die Grundherrschaft kann hier wie sonst oft das Mittel gewesen sein, diese Form der Fluraufteilung, infolge der größeren Unbeweglichkeit des abhängigen Landes, zu konservieren, umsomehr als die Beibehaltung der gleichen Aufteilung des Landes da, wo das ganze Dorf einem Grundherrn gehorchte, für die Lastenumlegung sehr bequem war. Aber das gerade Gegenteil - Streubesitz der Grundherren durch die einzelnen Dörfer hindurch - ist im Westen, speziell in Sachsen, die Regel. |

b A: liegt,

c A: bäuerlichen

5 1 D a s Zitat stammt a u s v. J h e r i n g , G e i s t d e s r ö m i s c h e n R e c h t s 2, 2 5 , S . 4 7 1 , u n d lautet dort ( d u r c h g e h e n d g e s p e r r t ) : „Die F o r m ist d i e g e s c h w o r e n e F e i n d i n der Willkür, d i e Z w i l l i n g s s c h w e s t e r der Freiheit". 5 2 C a e s a r , De b e l l o G a l l i c o 6, 22, 3 - 4 . 5 3 Die V e r h ä l t n i s s e auf J a v a w a r e n i n s b e s o n d e r e v o n L a v e l e y e , U r e i g e n t h u m , S . 4 5 59, d a r g e s t e l l t w o r d e n .

5

10

15

20

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Zunächst kreuzt sich mit dem Gedanken der gleichen Rechte aller an der Flur das bei allen Völkern, deren „Urgeschichte" uns zugänglich ist, wiederkehrende Recht des einzelnen auf Besitz desjenigen Bodens, den er selbst durch Rodung produziert. Wo aber anbaufähiger Boden noch im Überschuß zur Verfügung stand, da darf man überhaupt annehmen, daß die Gleichheit aller zunächst in dem Recht jeder Familie, nach ihrem Bedarf Land unter den Pflug zu nehmen, ganz ebenso ihren Ausdruck finden konnte, wie später, als der Boden knapp geworden war, in ihrem Anspruch darauf, gerade so viel zu erhalten 0 wie jeder andere. Ja, die streng gleiche Verteilung des Landes, welche die Geschlossenheit des Dorfes zu ihrer Voraussetzung hat, muß der unbefangenen Betrachtung a priori ganz ebenso als Ausdruck des Umstandes erscheinen, daß das Land knapp geworden war, wie die Kontingentierung der Märkerrechte in der geschlossenen Mark, die Stuhlung 54 der Alpenweiden, die genossenschaftliche Regelung der Fischerei und wie endlich auch die Schließung der Zünfte Ergebnisse ganz analoger Umstände: des Knappwerdens des Erwerbsspielraums gewesen sind. Mit vollem Recht bezweifelt daher Knapp, 55 daß man in den Zeiten, wo Tacitus von „superest ager" 56 sprechen konnte, überall und unbedingt eine so ängstliche Wahrung der gleichen Bodenverteilung durchgeführt habe, wie später in den Gewannfluren. Nur freilich darf man sich andererseits nicht etwa in der Vorstellung gefallen und durch die Äußerungen des Tacitus darin bestärken lassen, daß jemals der als Weide oder Pflugland nutzbare Boden in dem Sinne „frei" gewesen wäre, wie die Luft oder auch nur wie der Urwald. Als aus den unermeßlichen Ebenen des Ostens 57 Godegisel mit einem Teil des Vandalenvolkes auf Eroberungen auszog, ließen sich die Teilnehmer am Zuge den Fortbestand ihrer Bodenanteilrechte ausdrücklich gewährleisten, und nach Ablauf eines immerhin recht langen Zeitraums noch galt dieses Recht so sehr als d A: erhalten, 54 Als „Stuhlung" wird die In der Regel d u r c h eine K ö r p e r s c h a f t g e t r o f f e n e Feststellung der Zahl der für eine b e s t i m m t e W e i d e f l ä c h e z u g e l a s s e n e n Tiere b e z e i c h n e t (Meitzen, S i e d e l u n g u n d A g r a r w e s e n 1, S . 4 8 4 ) . 55 So K n a p p , B e s p r e c h u n g Meitzen, S. 3 (= ders., G r u n d h e r r s c h a f t , S. 109). 56 Tacitus, G e r m a n i a 26, 3. 57 G e m e i n t ist Pannonien bzw. die u n g a r i s c h e Tiefebene; vgl. a u c h unten, S. 719.

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weiter bestehend, daß die zurückgebliebenen Vandalen eine Gesandtschaft bis nach Afrika schickten, um eine Ablösung desselben zu erwirken67'. Ähnliches muß natürlich erst recht für die Verhältnisse innerhalb der einzelnen Fluren gegolten haben. Daß also jener „ältere" Zustand, den auch wir hier voraussetzen, nicht etwa in 5 einem wilden Durcheinander von Okkupation des Ackers ganz nach Belieben der einzelnen seinen Ausdruck gefunden haben kann, versteht sich in der Tat von selbst. Man hat darüber gespottet,58 daß Meitzen so viel Gewicht auf die „Streitfreiheit" bei der A 466 Regelung derartiger primitiver Agrar| Verhältnisse gelegt habe. 10 Aber gerade darin hat er meines Erachtens sicher recht: in einer gemütlichen „Entwicklung" ganz von selbst vollziehen sich solche Appropriationen nicht. Stets muß eine Vereinbarung der Dorfinsassen dem Aufbruch neuen Landes vorausgegangen sein, wenn dieses Land bis dahin als Weiderevier benutzt ware und die Ge- 15 meinde also an seiner Erhaltung in diesem Zustand interessiert war. Nur hat man sich eben die Schwierigkeit der Verständigung als sehr gering zu denken, so lange der Satz „superest ager" galt. Niemals ferner kann es sich um ein ganz individuelles Vorgehen gehandelt haben. Schon die Notwendigkeit der Umzäunung des neu- 20 en Landes machte Gemeinsamkeit des Vorgehens bei Neuumbruch notwendig. Wenn nun ein Teil der Gemeindemitglieder infolge der größeren Stärke ihrer Familie Neuland unter den Pflug nehmen wollte, so wird der Rest der Gemeinde, solange Land in genügendem Maße zur Verfügung stand, dem schwerlich grundsätzlichen 25 Widerstand entgegengesetzt haben, und so konnten Flurbilder mit Gewannen entstehen, an denen nur ein Teil der Familien und diese in verschieden starkem Maße je nach dem Grade ihres Bedürfnisses beteiligt waren. Dieser Situation mögen die unregelmäßigen Fluren, die Henning in seiner schon früher zitierten59 gehaltvollen 30 Besprechung Meitzens' als gerade für die Rheingegend charakteristisch bezeichnet,60 entstammen. Wurde später der Boden knapp, A 465

671

P r o k o p , D e bello Vandal[ico] I, 22. |

e A: war,

f A: M e i t z e n

58 Weber spielt offenbar an auf Knapp, Besprechung Meitzen, S. 1, 3, 5 (= ders., Grundherrschaft, S. 105, 109, 117). 5 9 Siehe oben, S.245f. 6 0 Weber bezieht sich auf Henning, Besprechung Meitzen, S. 240.

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so wird es dann Frage des Einzelfalles gewesen sein, ob der alte Gleichheitsgedanke noch die Macht besaß, die vielleicht durch lange Zeit hindurch mit zunehmender Intensität bewirtschafteten Parzellen den Einzelfamilien wieder zum Zweck einer Neuaufteilung der Flur nach dem Prinzip der genau gleichen Gewannteilung zu entreißen. Er wird sie da am wenigsten gehabt haben, wo, wie am Rhein, am frühesten die in der Berührung mit der römischen Kultur sich entwickelnde intensivere Ausnutzung der einmal bebauten Scholle das Interesse an dem Besitz der konkreten Parzelle stärker entwickelt hatte. Der spätere Übergang zum strengen Gleichheitsprinzip bei der Fluraufteilung steht technisch natürlich auch im Zusammenhang mit dem Vordringen des am Oberrhein heimischen westgermanischen Pfluges, der die Streifenlage bedingte und den „Gewann"-Gedanken nahelegte; daneben wirkte vielleicht die Art der Regelung der öffentlichen Pflichten mit. Das letztere Moment scheint auch in Skandinavien bei dem Übergang zur SolskiptVerfassung 61 mitgespielt zu haben. Die Übergangsstufe zu der „volkstümlichen" rein mechanischen Aufteilung der Flur in Gewanne, und der Gewanne wieder in unter sich gleiche, in Streifen ausgewiesene Anteile, bildete in Deutschland offenbar jenes System der Aufteilung nach „Lagemorgen", welches Meitzen eingehend, aber in etwas undeutlicher Ausdrucksweise beschrieben hat 68 '. Etwas Sicheres über | die Prinzipien der älteren Flurauftei- A 467 lung könnte nur die weitere Durchforschung der älteren nordi-

68 > Bd. 1, S. 101 f. 62 Vergl. dazu die Rezension von U[Irich] Stutz in der Zeitschr. f. A 466 Rechtsgesch., German. Abt., 1896,63 die Meitzens Ansicht darüber zutreffend, aber leichter verständlich wiedergibt. - Das entscheidende Merkmal besteht darin, daß hier nicht das Gewann, sondern der Anteil des einzelnen das prius ist, das Gewann sich aus lauter gerade eine Vormittags-Spannarbeit in Anspruch nehmenden Stücken zusammensetzt, A 467 also wohl in der Art entstanden zu denken ist, wie Knapp (a. a. O.) 64 es voraussetzt, aber unter Wahrung der Gleichheit.

61 Vgl. e b d . , S. 236. Der Ü b e r g a n g z u m .Solskipt'-System ( d . h . der .(gleichen) Verteilung n a c h der S o n n e n l a g e ' ) erfolgte im 13./14. J a h r h u n d e r t . 6 2 G e m e i n t ist Meitzen, S i e d e l u n g u n d A g r a r w e s e n 1. 63 W e b e r zitiert Stutz, B e s p r e c h u n g Meitzen, bes. S . 5 2 3 f . , die j e d o c h nicht in der Zeitschrift für R e c h t s g e s c h i c h t e 1896, s o n d e r n in d e n G ö t t i n g i s c h e n G e l e h r t e n Anzeig e n 1897 e r s c h i e n e n Ist. 64 W e b e r nimmt B e z u g auf K n a p p , B e s p r e c h u n g Meitzen, S . 2 (= ders., Grundherrschaft, S. 107).

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sehen Flurverfassung, der „Fornskipt" oder „Hamarskipt", 65 auf welche auch Henning verweist, 66 ergehen, wenn nämlich, was doch recht zweifelhaft ist, es gelingen sollte, darüber noch zuverlässiges Kartenmaterial beizubringen. Wie das Material heute liegt, scheint mir zwar Henning gegen Meitzen insoweit recht zu haben, als die deutschen Fluren, je älter die Zeit der Aufteilung anzusetzen ist, desto weniger die später vorherrschende strenge Regelmäßigkeit zeigen. 67 Aber damit ist Meitzens These, daß der Gedanke der Gleichheit des Fluranteiles der einzelnen der Agrarverfassung zu Grunde gelegen habe, nicht etwa widerlegt. Denn es wäre meines Erachtens Meitzen durch seine These von der Bedeutung der Gleichheit freier Flurgenossen für die technische Gestaltung der deutschen Fluraufteilung nicht genötigt gewesen, schlechterdings alle nicht regelmäßig aufgeteilten Fluren des innerdeutschen Siedelungsgebietes als grundherrlichen Ursprungs und alle regelmäßig aufgeteilten als „volkstümlichen" 68 Ursprungs anzusprechen 69 eine Annahme, die in dieser Allgemeinheit sicherlich nicht beweisbar und auch sachlich keineswegs wahrscheinlich ist. Wie weit insbesondere die praktische Durchführung der Geschlossenheit der Dorfkorporation zurückreicht, welche die Voraussetzung jener Agrarverfassung der streng gleichen Fluraufteilung ist, können wir nicht wissen. Wie das Kapitel der lex Salica „de migrantibus" zeigt, 70 zog man zu ihrer Zeit bei den Salfranken bereits die Konsequenzen, waren diese aber andererseits noch nichts Selbstverständliches. Daß der spätere Begriff der „Hufe" in die Zeit vor der Völkerwanderung zurückreicht, ist ebenfalls nicht fraglich. Das Nachbarnerbrecht, welches die lex Salica ohne alle weiteren Angaben über den Verteilungsmodus als bestehend voraussetzt, 71 zeigt, daß der letztere sich für den einzelnen Fall je nach den Hufenanteilen von selbst verstand. Und daß Angelsachsen und Franken die Dorf-

6 5 Die fornskipt, die ,alte (Flur)aufteilung', bzw. die hamarskipt, .Fluraufteilung (durch Besitzergreifung?) mit dem Hammer', sind Bezeichnungen für die alte, der gleichmäßigen .solskipt' vorausgegangene Fluraufteilung. 66 Gemeint ist Henning, Besprechung Meitzen, S. 234-239. 6 7 Weber nimmt Bezug auf Henning, Besprechung Meitzen, S. 240. 68 Vgl. oben, S.246. 6 9 So Meitzen, Besprechung Wittich, Sp. 1906. 7 0 Weber zitiert lex Salica 45. 71 Weber bezieht sich offenbar auf Capitulare 8, 3 zur lex Salica.

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siedelung und Gewannaufteilung aus dem inneren Deutschland mitgebracht haben 69 ', wird ebenfalls nicht zu bezweifeln sein und wohl | auch tatsächlich nicht bezweifelt. Das Zurückreichen der A468 wesentlichen Züge in das 4. Jahrhundert ist also wohl nicht fraglich. 5 Wenn es also auch zweifellos wahr ist, wie Knapp 72 hervorhebt, daß uns die Art der Fluraufteilung nichts Unzweideutiges über die Rechtsstellung der Flurgenossen sagt, so spricht doch auch sie, soweit wir sie zu deuten vermögen, gegen die „grundherrliche" Theorie. 10 Sicherlich läßt sich die Behauptung in keiner Weise widerlegen, daß schon lange vor den Einwirkungen der fränkischen Herrschaft die Agrarverfassung in den Gebieten zwischen Rhein, Elbe und 6,1 Womit natürlich sehr wohl eine ganz abweichende soziale Gliederung der Angelsachsen vereinbar ist. Eine Auseinandersetzung mit Seebohms Ansicht - insbesondere seinem neuesten Werk: Tribal custom in Anglo-Saxon law, 1902 - ist hier nicht möglich und überstiege überdies auch meine Kompetenz. Sicher ist das eine: daß wir wenigstens zunächst versuchen müssen, die Frage auf dem Boden rein germanischer Siedelung so weit zu lösen, wie möglich. Die Ergebnisse der nordischen Forschung werden daher für uns vorerst wichtiger sein müssen 9 als die der keltisch-britischen, da hier die durch die überseeische Eroberung bedingte soziale Sonderentwickelung zusammentrifft mit einer Mischung und gegenseitigen Beeinflussung germanischer und keltischer Institutionen, welch letztere in manchen Hauptpunkten ganz und gar keine Verwandtschaft mit germanischen Institutionen zeigen. - Übrigens läßt Seebohm (a. a. O. S. 518 f.h) die Art der Entstehung der Gemengelage selbst offen und lehnt ihre Zurückführung auf grundherrliche Ursprünge ab. Nur die Gleichheit der Aufteilung hält er für Folge der manor-Organisation. 73 Das ist seine alte, schon in der „Village Community" aufgestellte These, 74 die nach Lage unseres Quellenmaterials ebensowenig strikt widerlegbar ist, als die gerade entgegengesetzte Meitzensche beweisbar, aber doch sehr viel | unwahrscheinlicher, da sich die f\ 453 strenge Gleichheit der Anteile auch ohne Abhängigkeit des ganzen Dorfes von einem Herrn findet. - Über die durch Einzelvergebung an Bauern entstandenen Streugrundherrschaften der Zeit vor der normannischen Eroberung im Gegensatz zu dem über geschlossene Dörfer sich erstreckenden normannischen manor s[iehe] [Frederic] W[illiam] Maitlands „Domesday survey and beyond", 75 ebenso dessen freilich nur kurze Bemerkungen in den ersten Kapiteln der von ihm und F[rederick] Pollock verfaßten History of English Law, Bd. I. 76

g A: müssen,

h A:513f.

7 2 Gemeint ist Knapp, Besprechung Meitzen, S. 3 (= ders., Grundherrschaft, S. 112f.) 7 3 Seebohm, Tribal Custom, S.521. 7 4 Seebohm, Village Community, bes. S. 250f., 346, 369f., 410f., 423f. 7 5 Weber bezieht sich auf das Werk von Frederic William Maitland, Domesday Book and Beyond. 7 6 Gemeint ist Pollock/Maitland, History of English Law 1.

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Der Streit

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Charakter

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Main mit Grundherrschaften durchsetzt war. Aber die Träger dieser grundherrlichen Entwickelung, soweit eine solche etwa stattgefunden hat, sind nach aller inneren Wahrscheinlichkeit und auch nach den spärlichen Quellenzeugnissen wenn nicht nur, so doch wesentlich nobiles gewesen, deren Familien vermöge ihrer politischen Machtstellung auch ökonomisch in die Höhe gekommen waren. Wie und warum die fränkischen Eroberungen dann diesen Prozeß weiter gefördert haben, ist bekannt und soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Wenn wir in den urkundlichen Quellen und zwar, wie Wittich ganz zutreffend hervorhebt, sowohl innerhalb wie außerhalb Sachsens, so selten von „Autotraditionen" freier Leute lesen, 77 die Mehrzahl der Landschenkungen vielmehr von Besitzern herrührt, welche nach dem erkennbaren Ausmaß ihres Grundbesitzes als „Grundherren" bezeichnet werden können oder auch müssen, so liegt der Grund dafür zunächst ganz allgemein darin, daß für jene Rechtsgeschäfte die Beurkundung bekanntlich rechtlich ganz unwesentlich war. Sie kam wesentlich da vor, wo die schreibkundige und schreibselige Klostergeistlichkeit die Erwerberin war. Die Klöster aber hatten ein Bedürfnis nach der Verbriefung ihres Besitzes naturgemäß gerade den mächtigen weltlichen Großbesitzern gegenüber. Diesen selbst fiel es im allgemeinen wohl kaum ein, eine schriftliche Beurkundung von bäuerlichen Autotraditionen für nötig zu halten. Für Sachsen speziell aber dürfte bei der Seltenheit der Autotraditionen an Klöster eben jenes oben erwähnte 78 Institut der „tutela" der Edelinge gegenüber den Gemeinfreien mit im Spiel gewesen sein, welches ja dem tutor das Vorkaufsrecht gab oder, richtiger wohl, bestätigte. Es könnte sogar der oder doch einer der Zwecke der Bestimmung lex Saxonum Kap. 64 darin zu suchen sein, daß die weltlichen nobiles gegenüber dem Umsichgreifen der geistlichen Bodenakkumulation ihre Vorhand auch für den Fall besonderer Schwierigkeiten ihrer Geltendmachung 70 ' wahren und außer Zweifel gestellt sehen wollten. | 70 ' D i e S t e l l e s p r i c h t b e k a n n t l i c h v o n F ä l l e n , in d e n e n e i n e r d e r B e t e i l i g t e n in d i e V e r b a n n u n g g e s c h i c k t ist. |

7 7 Wittich, F r e i b a u e r n , S. 3 0 6 f . ( g e g e n H e c k , G e m e i n f r e i e , S. 307); 3 3 4 - 3 4 3 ; vgl. bereits Wittich, G r u n d h e r r s c h a f t , A n l a g e n , S. 126*. 7 8 S i e h e o b e n , S . 2 7 9 . Wie dort stützt s i c h W e b e r a u c h im f o l g e n d e n auf S c h r ö d e r , A l t s ä c h s i s c h e r V o l k s a d e l , S. 351.

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Das Verschwinden des alten Volksadels bei den Franken und A 469 sein relatives Zurücktreten auch bei anderen (nicht in gleichem Grade bei allen) erobernd auf römisches Gebiet übergetretenen Stämmen ist ein durchaus verständliches Produkt des Volkskrieges und der erobernden Landnahme durch breite Massen, wie sie an der Grenze erfolgte. Es bedurfte dabei gar nicht einmal einer planvollen, auf Ausrottung des alten Adels gerichteten Politik der Merowinger, wie man sie vorauszusetzen pflegt. 79 Eine massenhafte kriegerische Umsiedlung seßhaft gewesener Völker, wie sie an der Römergrenze stattfand, bedeutet eine derartige soziale Revolution im demokratischen Sinne, und die vernichtende Wildheit des Volkskrieges, in welchem der einzelne waffentüchtige Mann so viel gilt und gelten will, wie jeder andere, ist nach aller geschichtlichen Erfahrung so sehr geeignet, den Respekt vor dem Geburtsadel als solchem zu schwächen71), daß das Verschwinden der alten nobiles bei den Franken nicht im mindesten überraschen kann. Die Grundherrschaft an die Spitze der sozialen Entwickelungsgeschichte als deren Ausgangspunkt zu stellen, ist für die Germanen ebenso bedenklich, wie für die Völker des Altertums. 80 Denn auch auf diese hat die grundherrliche Theorie übergegriffen. Für Rom beispielsweise hat unter Berufung auf Knapps Methode C[arl] J[ohannes] Neumann in einer geistreichen Abhandlung 72 ^ den grundherrlichen Charakter der durch die Zwölftafelgesetz7I < Es ist eben - wie ja wohl von niemand bezweifelt wird - etwa qualitativ anderes, ob A 469 ein Volk wie die Franken in ein Gebiet einrückt, nach dessen fetteren Boden seine Bauern von jenseits der Grenze seit Jahrhunderten begierig hinübergeblickt haben, oder ob ein Stamm, wie die Goten und Vandalen, sich aufs Ungewisse auf kriegerische Wanderschaft begibt. Zwischen beiden Extremen gibt es natürlich die mannigfachsten Übergänge. Immer aber bedingt das eine eine ganz andere soziale Struktur und ein anderes Ergebnis bei der Landnahme, als das andere. Siehe über diese Unterschiede die Ausführungen von Kötzschke a. a. O. S. 308 f.81 1T > Die Grundherrschaft der römischen Republik, die Bauernbefreiung und die Entstehung der servianischen Verfassung. (Rektoratsrede, Straßburg 1900.) Der sonstige Inhalt der Abhandlung stimmt bis in Einzelheiten mit dem zusammen, was ich schon in meiner römischen Agrargeschichte über den gleichen Gegenstand gesagt hatte. 82

7 9 Vgl. o b e n , S . 2 4 8 . 80 Vgl. d e n E d i t o r i s c h e n B e r i c h t , o b e n , S . 2 3 7 . 81 G e m e i n t Ist K ö t z s c h k e , G l i e d e r u n g d e r G e s e l l s c h a f t , S. 3 0 8 - 3 1 5 . 82 W e b e r b e z i e h t s i c h auf s e i n e „ R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e " ( M W G I/2, i n s b e s o n d e r e S. 2 0 1 - 2 0 6 ) .

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gebung - welche er als „Bauernbefreiung" auffaßt - beseitigten älteren Agrarverfassung behauptet. 83 Die plebs habe vorher aus Grundholden der Patrizier bestanden. Eine Auseinandersetzung mit dieser meines Erachtens so nicht haltbaren Ansicht kann hier nicht versucht werden 73 ). 84 Nur das eine sei dazu bemerkt, weil es 5 auch für die Germanen gilt: Die älteste soziale Differenzierung der germanischen wie der mittelländischen Vorzeit ist, soviel wir sehen können, vorzugsweise politisch und teilweise religiös, nicht aber vorzugsweise ökonomisch bedingt. Die ökonomische Differenzierung muß jedenfalls eher als Folge und Begleiterscheinung, oder 10 wenn man sich hochmodern ausdrücken will, als „Funktion" der A 470 ersteren verstanden werden, als umgekehrt. | Daß die Führung im Kriege und weiterhin die ständige Übung der Kriegskunst überhaupt, verbunden mit der Rechtsfindung, in der Hand der seit alters darin bewährten Heldengeschlechter liegt, daß die vaterrecht- 15 liehe Sippe bei ihnen zwar nicht etwa allein besteht, wohl aber bei ihnen (zuweilen unter Mitwirkung religiöser Motive) so sehr viel fester zusammenhält, als bei der Masse der freien Leute, dies ist es, was ihre allmählich sich verstärkende soziale Sonderstellung begründet, ihre auf Sklaven- und Herdenbesitz ruhende ökonomi- 20 sehe Übermacht bedingt und sie in ihrer Stellung, nachdem sie einmal errungen ist, erhält. Die - wenn man den Ausdruck für die „Urzeit" anwenden darf - „ritterliche" Lebensführung zeichnet sie aus. Damit ist ohne Zweifel sehr oft, ja bei voller Entwickelung des erblichen privaten Bodenbesitzes regelmäßig eine grundherrliche 25 Position verbunden, oder sie kann daraus erwachsen. Aber keineswegs regelmäßig entsteht daraus oder ist damit verbunden eine 7:11 Meines Erachtens ist es nach der Lage der Quellen nicht fraglich, daß die Plebejer - um eine natürlich nur sehr beschränkt zutreffende Analogie heranzuziehen - nicht den Heloten, sondern den Periöken in ihrer Gesaratlage näherstanden. Ausschluß der Bauern von der aktiven Teilnahme an Priestertum, Gericht, Ratsfähigkeit und Gemeindeversammlung, verbunden mit „patrimonialen" Vorrechten der gentes bedingen, wie Hesiod zeigt, 85 keineswegs irgend eine Grundholdenschaft der ersteren. |

8 3 Weber bezieht sich auf Neumann, Karl Johannes, Grundherrschaft, bes. S. 14, 16, 19. 8 4 Diese Auseinandersetzung hat Weber in der 3. Fassung der „Agrarverhältnisse im Altertum" vorgenommen, vgl. unten, S. 6 0 1 - 6 0 7 . 8 5 Zu Hesiod vgl. oben, S. 184, sowie unten, S.484.

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grundherrliche Überordnung gegenüber den übrigen freien Standesgenossen - im Zeitalter Homers und Hesiods so wenig1 wie im Zeitalter der deutschen Heldensage. Und die spätere Grundherrlichkeit nicht als Folge- und Begleiterscheinung, sondern vielmehr als den ursprünglichen Grund der bevorzugten Stellung der „Geschlechter" anzusehen, heißt, zum mindesten das normale Kausalverhältnis umkehren. Eine solche historische Stellung der Grundherrschaft ist ja schon deshalb so ganz unwahrscheinlich, weil in einer Zeit des Bodenüberflusses jedenfalls der bloße Bodenbesitz als solcher nicht wohl Grundlage ökonomischer Macht gewesen sein könnte. Es muß nun hier unterlassen werden, auf die rec/itegeschichtliche Kontroverse über die ständische Stellung der „nobiles" in der Karolingerzeit, welche durch Hecks 86 ungemein scharfsinnig entwikkelte und unter allen Umständen für die Forschung hervorragend fruchtbar gewordene k Theorie entstanden ist, näher einzugehen. Für Sachsen und Thüringen, scheint mir, geht aus dem Gesagten in Verbindung mit den Argumenten der Germanisten 87 mit hoher Wahrscheinlichkeit hervor, daß die „nobiles" der Karolingerzeit als Nachfahren der principes und nobiles der taciteischen Zeit, also als ein Stand über den Gemeinfreien, zu betrachten sind. Um die Frage aber für die Gesamtheit der germanischen Völker erörtern zu können, dazu gehört eine umfassendere Beherrschung speziell der nordischen und angelsächsischen Quellen, als ich für mich in Anspruch nehmen kann. Das Ergebnis der jetzt schwebenden Auseinandersetzungen wird also vermutlich im wesentlichen auf eine Bestätigung der als herrschend überkommenen Meinung gegenüber den modernen Anfechtungen derselben hinauslaufen. Das mag trivial erscheinen. Aber triviale Ergebnisse sind nun einmal leider recht oft eben dieses ihres Charakters wegen die zutreffenden. |

i A: wenig,

k A: gewordenen

86 Vgl. oben, S.248. 8 7 D. h. der germanistischen Rechtshistoriker. Vgl. oben, S. 249.

Agrarverhältnisse im Altertum (3. Fassung)

Editorischer Bericht

I. Zur

Entstehung

Auch für die dritte Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften sollte Max Weber wieder die Bearbeitung des Artikels „Agrarverhältnisse im Altertum" übernehmen, 1 für den ein Umfang von V l 2 ~ 2 Bogen, also 24-32 Seiten, vorgesehen war 2 und der damit im wesentlichen dem Umfang des gleichen Artikels in der zweiten Auflage des Handwörterbuchs mit etwas über 27 Seiten entsprechen bzw. ihn allenfalls geringfügig überschreiten können sollte. Allerdings war, wie schon bei der ersten Fassung des Artikels, aber anders als in der zweiten Auflage des Handwörterbuchs, 3 außer dem Artikel „Agrarverhältnisse" für die kaiserzeitliche Entwicklung noch ein besonderer, etwa ein Jahr später fälliger Artikel „Kolonat" geplant, zu dem Weber sich offenkundig ebenfalls bereit erklärt hatte. 4 Die Entstehungszeit der dritten Fassung der „Agrarverhältnisse im Altertum" läßt sich anhand der Briefe verhältnismäßig genau bestimmen: Es waren die etwa drei Monate von Anfang November 1907 bis in die ersten Februartage 1908, eine Zeit, aus der wohl nicht zufällig verhältnismäßig wenig Briefe Webers bekannt sind. 5 Zugleich spiegelt sich in der damaligen Korrespondenz ebenso der immer wieder beklagte Widerwille gegen die übernommene Arbeit wie die auch für Weber außergewöhnliche Energieleistung, die er ihr gleichwohl widmete, indem er den ihm gesetzten räumli-

1 Daß die .Anregung' bzw. der Anstoß vom Verlag ausging, erwähnt ausdrücklich Weber, Marianne, Lebensbild, S.371. 2 So in dem Brief an Robert Michels vom 4. Febr. 1908 (MWG II/5, S.433), während Weber am gleichen Tag gegenüber der mit ihm und Marianne Weber befreundeten Sozialpolitikerin Marie Baum sogar von nur „20 gesollten" Selten spricht (ebd., S. 430). 3 Oben, S. 129. 4 Dazu unten, S.312f. 5 Die Angaben bei Marianne Weber, Lebensbild, sind teilweise um ein Jahr verschoben (S. 343 sowie 371: Arbeltsbeginn im „Herbst 1908"; S.717: „1908 geschrieben, 1909 publiziert"). - Zu den wenigen Briefen vgl. MWG 11/5, bes. S. 4 2 5 - 4 2 9 .

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chen Rahmen vollkommen sprengte. Am Ende war der Artikel auf nicht weniger als „ 7 - 8 Bogen" bzw. „120 effektive Seiten" angeschwollen, wie Weber nach dem Abschluß selbst meinte. 6 In Wirklichkeit waren es knapp 8 1 / 2 Druckbogen bzw. 135 zweispaltig, teilweise engzeilig gesetzte Seiten im Lexikonformat und damit mehr als das Vierfache des von den Herausgebern ursprünglich zugestandenen Umfangs geworden. Am Schluß des Artikels bedankte sich Weber auch ausdrücklich für die „Generosität der Herren Herausgeber und des Verlages" wie auch für die ihm gewährte Zeit, die bei dem „kolossalen Materiale" gleichwohl äußerst knapp gewesen sei.7 Die mit - offenbar weitgehend gleichzeitiger 8 - umfangreicher Lektüre verbundene Niederschrift des Artikels wurde daher bald auch zu einem förmlichen Wettlauf mit dem Setzer. 9 Wegen der Kürze der Zeit konnte Weber nach eigenem Bekunden „eine Anzahl sehr wichtiger Quellenpublikationen" teils erst bei der zweiten Korrektur, teils auch gar nicht berücksichtigen. 1 0 Zeugnisse für die Entstehungsgeschichte der dritten Fassung der „Agrarverhältnisse im Altertum" finden sich außer in der Korrespondenz Max Webers auch in drei Briefen von Marianne Weber an ihre Schwiegermutter Helene Weber. So teilt Marianne Weber am 29. November 1907 mit: „Unser Großer arbeitet^ nimmt andauernd viel Apotheken-Zeug, da die functionelle Reizbarkeit immer noch dieselbe Stärke hat, aber wenn er dabei nicht schwermutsvoll ist, dann geht es ja". 11 Am 22. Dezember heißt es bei ihr: „Max schuftet noch an seinem großen Artikel für das Handwörterbuch der Staatswissenschaften u[nd] hat sich mit einer wahren Wagenburg von Büchern umstellt 12 - wie mir scheint, geht es ihm, trotz vieler Mittel, oder vielmehr mit [i]hrer Hilfe leidlich, aber gegen das Frühjahr muß er doch einmal sehen, daß er ganz still irgendwo im Süden seinen Körper wieder von diesen Chemikalien reinigt". 13 Am 26. Dezember spricht dann Max Weber selbst in einem Brief an Oskar Siebeck, der ihn seinerseits um einen Lexikonartikel über die Agrargeschichte des Altertums gebeten hatte, davon, daß er „zur Zeit in einer entsetzlichen PflichtarbeW" stecke: „Neuauflage, und das heißt völlige A/euarbeit des Artikels .Agrargeschichte, Altertum', für

6 Wie oben, S.300, Anm.2. 7 Vgl. unten, S.728. 8 Unten, S.304f., vgl. auch S.728. 9 Vgl. unten, S. 302, Anm. 17 (an Eulenburg). 10 Unten, S. 728. - Zur zweiten Korrektur vgl. unten, S. 303. 11 Brief Marlanne Webers an Helene Weber vom 29. Nov. 1907, Bestand Max WeberSchäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 12 In einem Brief Marianne Webers an ihre Schwiegermutter vom 5. März 1908 (ebd.) ist die Rede von .kleinen Techtel-Mechteln' In jüngster Zeit, „weil er sich gegen jede Reinigung u[nd] Ordnung seines Zimmers sträubte u[nd] eine .Werkstatt' verlangte^] in der er seine Ruhe vor unsren Schönhelts- und Reinlichkeitstrieben hätte". 13 Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 22. Dez. 1907, ebd.

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3. Fassung)

das Handw[örter]-Buch der Staatswissfenschaften], die ich leider nicht anständigerweise ablehnen konnte". „Noch mehrere Wochen" werde er damit zu tun haben. 1 4 Am 7. Januar 1908 bemerkt Marianne Weber gegenüber ihrer Schwiegermutter: „Max beendet hoffentlich in diesen Tagen seinen großen Aufsatz. Dieses Für-den-Termin-Arbeiten ist doch das quälendste für ihn, man muß sich dann so vor jeder schlechten Nacht u[nd] vor jedem Extra fürchten". 1 5 Zwei Tage später heißt es auf einer Postkarte Max Webers an Robert Michels, „seit Monaten" säße ihm der Verlag ,,G[ustav] Fischer, Jena" wegen des Handwörterbuchartikels „auf dem Leder": „Er muß jetzt fertig werden". 1 6 Doch „die äußerst hastig stückweise und mit dem Setzer auf den Fersen niedergeschriebene Fronleistung" 17 hielt ihn noch bis Anfang Februar in Atem. Die außerordentliche Anspannung, die die Arbeit für Weber bedeutete, wird aus einer Reihe von Äußerungen während der Niederschrift wie auch noch nach Ihrem Abschluß deutlich: Von „furchtbarefr] Anstrengung", 1 8 der „Frohn", 19 der „Fronleistung", 2 0 der „Frohnarbeit" 2 1 und der „Schufterei diesen Winter" ist die Rede, für die er die 1000 Francs, die er am 9. März In Monte Carlo gewann und alsbald wieder verlor, eigentlich „verdient hätte".22 „Mit einem Kopf wie ein enthirnter Frosch" hätte er den Artikel verfaßt. 23 Um seinen nach wie vor labilen Gesundheitszustand zu charakterisieren, nennt er auf einer Postkarte vom 24. März 1908 aus Le Lavandou an Robert Michels mehrere Schlafmittel, die er „nui" für den „elenden" Handwörterbuchartikel gebraucht habe und von denen er sich jetzt nur langsam zu entwöhnen vermöge. 2 4 14 Brief M a x W e b e r s an O s k a r S i e b e c k v o m 26. Dez. 1907, M W G II/5, S . 4 2 6 ; d a z u unten, S. 754. 15 Brief M a r i a n n e W e b e r s a n H e l e n e W e b e r v o m 7. Jan. 1908, B e s t a n d M a x W e b e r Schäfer, D e p o n a t BSB M ü n c h e n , A n a 446. 16 Brief M a x W e b e r s a n R o b e r t M i c h e l s v o m 9. Jan. 1908, M W G II/5, S . 4 2 9 . W e b e r s c h e i n t a l s o v e r h ä l t n i s m ä ß i g s p ä t mit d e r A r b e i t a n d e m Artikel b e g o n n e n z u h a b e n , d o c h ist n i c h t b e k a n n t , w a n n g e n a u er die A b f a s s u n g d e s Artikels ü b e r n a h m . 17 Brief Max W e b e r s a n Franz E u l e n b u r g v o m 20. Mai 1908, M W G II/5, S . 5 6 8 . Z u W e b e r s Elle vgl. a u c h s e i n e s p ä t e r e Ä u ß e r u n g g e g e n ü b e r G e o r g v o n Below, u n t e n , S.305, A n m . 4 6 ; auch oben, S.57, A n m . 4 4 . - Z u m „Druckabschluß" vgl. auch unten, S. 726, A n m . 4 . 18 Brief an M a r i e B a u m v o m 4. Febr. 1908, M W G II/5, S . 4 3 0 . 19 Brief an R o b e r t M i c h e l s v o m 4. Febr. 1908, e b d . , S . 4 3 3 . 2 0 Wie o b e n , A n m . 17. 21 Brief an M a r i e B a u m v o m 4. Febr. 1908, M W G II/5, S . 4 3 0 . 22 K a r t e a n M a r i a n n e W e b e r v o m 9. M ä r z 1908, M W G II/5, S . 4 4 6 ; d a z u a u c h Weber, Marianne, Lebensbild, S.387f. 2 3 Brief an M a r i e B a u m v o m 4. Febr. 1908, M W G II/5, S . 4 3 0 . 2 4 Postkarte a n R o b e r t M i c h e l s v o m 24. März 1908, M W G II/5, S . 4 7 8 : „ i m W i n t e r " ; e b d . , S . 4 3 5 (Brief v o m 10. Febr. 1908 a n O s k a r S i e b e c k ) : „seit 2 M o n a t e n " ; a n M a r i e B a u m ( v o m 4. Febr. 1908, e b d . , S . 4 3 0 ) : „Seit n u n drei M o n a t e n k e i n e N a c h t " o h n e

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A n f a n g Februar war der Artikel dann aber a b g e s c h l o s s e n , wie Weber am 4. Februar 1908 gleichzeitig Marie Baum und Robert Michels 2 5 mitteilte, wobei z u g l e i c h a u s d r ü c k l i c h die Rede davon ist, daß er „die g a n z e n drei letzten Monate", 2 6 „seit nun drei Monaten" 2 7 bzw. „seit N o v e m b e r " daran gesessen habe. 2 8 „Jetzt ist die Sache fertig - und ich a u c h " heißt es in d e m Brief an Marie Baum; 2 9 „ich bin endlich aus der Frohn für das Handw[ört e r ] b [ u c h ] d[er] Staatswiss[enschaften] heraus", liest man in d e m Schreiben an Michels. 3 0 Weber erwähnt denn a u c h bereits am 10. Februar in einem Brief an Oskar Siebeck, er „ersticke" derzeit an d e n Korrekturen des Handwörterbuchartikels. 3 1 Bei diesen Korrekturarbeiten im Februar 1908 muß es sich um die von Weber am Schluß des Artikels in der Literaturübersicht erwähnte „zweite Korrektur" handeln, 3 2 woraus sich ergibt, daß die erste Korrektur bereits zuvor, offenbar Hand in Hand mit d e m parallel zur A b f a s s u n g des Artikels e r f o l g e n d e n Satz, stattgefunden hatte. 3 3 Weber hat d a m a l s gleichzeitig mit der zweiten Korrektur der „Agrarverhältnisse", etwa z w i s c h e n d e m 11. und 26. Februar 1908, a u c h den kurzen Artikel „ A g r a r g e s c h i c h t e , I. Altertum" für Siebeck bzw. d e s s e n theologisches H a n d w ö r t e r b u c h „Die Religion in Geschichte u n d Gegenwart" verfaßt. 3 4 A m 23. Februar hielt Weber im Heidelberger Eranos-Kreis den unmittelbar aus d e m Handwörterbuchartikel h e r v o r g e g a n g e n e n Vortrag „Kapitalismus im Altertum", 3 5 bevor er am 2. März, noch vor d e m e n d g ü l t i g e n

„Nachhülfe"; an Robert Michels (vom 4. Febr. 1908, ebd., S.433): „seit November keine Nacht natürlichen Schlaf". Dazu Marianne Weber In dem oben zitierten Brief (Anm. 15): „Er wird nun versuchen^] sich langsam die vielen Mittel, die er seit Monaten tagtäglich gebraucht hat, zu entziehen u[nd] sich dann zunächst sehr ruhig halten müssen, um die Reizbarkeit der Nerven in Schach zu halten". 25 Wie oben, S.300, Anm. 2. 26 Brief an Marie Baum vom 4. Febr. 1908, MWG II/5, S.430. 27 Ebd. 28 Brief an Robert Michels vom 4. Febr. 1908, ebd., S. 433. - Dazu auch Weber, Marianne, Lebensbild, S. 371: „In drei Monaten wird ein Werk großen Formats geschaffen". An anderer Stelle hat sie von „angespannter Arbeit von etwa 4 Monaten" für den Handwörterbuchartikel gesprochen (Vorwort, in: Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1924, 5. III). Falls es sich nicht - was jedoch wahrscheinlich ist - um ein Versehen handelt, müßte hier auch die von Max Weber im Februar und z.T. März 1908 noch für die Korrekturen benötigte Zeit dazugezählt sein. 29 Oben, S.300 mit Anm. 2. 30 Ebd. 31 Brief an Oskar Siebeck vom 10. Febr. 1908, MWG II/5, S.435. 32 Unten, S.728. 33 Oben, S.302 mit Anm. 17. - Vgl. dazu außerdem unten, S.728. 34 Unten, S. 754-776. 35 Unten, S.752f.

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3. Fassung)

Abschluß der Korrekturen der „Agrarverhältnisse", an die Französische Riviera abreiste. Wenn Marianne Weber formulierte: „ N a c h der hastigen Bewältigung der antiken A g r a r g e s c h i c h t e muß Weber sich wieder lange W o c h e n der Entspannung im S ü d e n gönnen", 3 6 so spiegelt sich darin nur W e b e r s eigene Einschätzung, daß er „reichlich 5 - 6 W o c h e n b r a u c h e n werde, um menschlich zu w e r d e n " bzw. daß er erst dort sehen werde, „wie weit ich mich hinuntergewirtschaftet habe". 3 7 Eine Postkarte v o m 4. März 1908 aus G e n u a 3 8 u n d ein Brief an Marianne Weber v o m nächsten Tag 3 9 aus d e m „Empress Hotel" in Beaulieu-sur-Mer östlich von Nizza, wo er sich v o m 4. bis 18. März aufhielt, g e h e n u.a. a u c h auf die N a c h s e n d u n g noch fälliger Druckfahnen für die zweite Korrektur ein. Einem Brief und einer Karte an Marianne Weber v o m 8. bzw. 11. März 4 0 muß e n t n o m m e n werden, daß er am 7. März 1908, einem Samstag, die - offenbar erste - S e n d u n g von Korrekturen in Beaulieu erhalten und diese noch am g l e i c h e n „Samstag früh" erledigt u n d in der Erwartung wieder a b g e s c h i c k t hat, daß sie „ M o n t a g A b e n d in Jena" beim Verlag sein würden. 4 1 In einem weiteren Brief an Marianne Weber v o m 14. März meldet er dann, daß „seit gestern endlich die letztenCorrekturen erledigt" seien: „Gott hab' sie selig! Das m a c h e ich nicht nochmal". 4 2 W e b e r s K o r r e s p o n d e n z in dieser Zeit ist voll von drastischen Äußerungen über d e n Widerwillen, der ihn bei der A b f a s s u n g des Artikels immer w i e d e r befallen habe. Während der Niederschrift ist von d e m „verfl..." u n d d e m „ e l e n d e n " Artikel die R e d e 4 3 S c h o n in d e m Brief an Oskar Siebeck v o m D e z e m b e r 1907 ist zu lesen, er sei „ d e s Themas so entsetzlich satt" u n d könne „so schwer ohne .psychischen Trieb' etwas arbeiten". 4 4 Als er d a n n g e r a d e fertig war, ließ er Marie B a u m u n d Robert Michels in fast g l e i c h e n Formulierungen wissen, daß ihm der Artikel „keinerlei Spaß" 4 5 bzw. „gar keinen Spaß machte", denn „das Altertum liegt mir z.Z. fern, ich mußte maßlose

36 Weber, Marianne, Lebensbild, S.388. Ihre Charakterisierung als .hastig' beruht wohl auf dem Brief Webers an Franz Eulenburg (oben, S.302 mit Anm. 17), von dem Marianne Weber selbst eine Abschrift angefertigt hatte (MWG II/5, S.568). Ähnlich Weber noch 1914 gegenüber Georg von Below, vgl. unten, S. 305, Anm. 46. 37 Brief an Robert Michels vom 4. Febr. 1908, MWG II/5, S.433 bzw. 434. 38 Karte an Marianne Weber vom 4. März 1908, MWG II/5, S.440. 39 Brief an Marianne Weber vom 5. März 1908, MWG II/5, S.442. 40 Brief an Marianne Weber vom 8. März 1908, MWG M/5, S.443 und Karte vom 11. März 1908, ebd., S.449. 41 Ebd., S.449. 42 Brief an Marianne Weber vom 14. März 1908, MWG M/5, S. 454. 43 Karte an Robert Michels vom 9. Jan. 1908, MWG M/5, S.429; dazu an dens., 24. März 1908 (wie oben, S. 302 mit Anm. 24). 44 Brief an Oskar Siebeck vom 26. Dez. 1907, MWG M/5, S.426. 45 An Marie Baum vom 4. Febr. 1908, MWG M/5, S.430.

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Massen von neuen Publikationen durcharbeiten, da ich seit 12 Jahren nichts gelesen hatte". 46 Die Herstellung zumal der Sonderdrucke ging dann offenbar rasch vonstatten. Sie lagen Weber bereits im Mai 1908 vor. Jedenfalls dankte er, nachdem er Anfang des Monats nach Heidelberg zurückgekehrt war, in einem Brief an den damals in Leipzig tätigen Nationalökonomen Franz Eulenburg vom 20. Mai 1908 schon für dessen „Gegengabe" zu einem ihm von Weber übersandten Sonderdruck der „Agrarverhältnisse im Altertum". 47 Ebenso geht aus einem Brief an Ulrich Stutz vom 22. Mai hervor, daß Weber ihm kurz zuvor ebenfalls einen Sonderdruck der „Agrarverhältnisse" übersandt hatte. 48 Schließlich schrieb ihm Lujo Brentano in einem Brief vom 2. Juni 190849: „Ich stecke soeben im Studium Ihrer Agrargeschichte, die Sie so freundlich waren, mir zu schicken - voll Freude u[nd] Bewunderung für Ihre Leistungsfähigkeit, Ihre Gelehrsamkeit, Ihr feines sachliches Verständnis. Ich freue mich schon auf den in Aussicht gestellten Artikel über den Kolonat u[nd] wünschte, ich hätte ihn schon in Händen. 50 Ich suchte unter meinen Notizen eine über den Kolonat in Babylon, die ich vor Jahren aus einer Besprechung in der englischen Historical Review abgeschrieben habe, um sie Ihnen zu schicken, leider kann ich sie nicht wieder finden; sollte es dennoch der Fall sein, so schicke ich sie Ihnen."51 Die Veröffentlichung des vollständigen ersten Bandes, der das Erscheinungsjahr 1909

46 An Robert Michels vom 4. Febr. 1908, MWG II/5, S.433. Weber bezöge sich damit auf etwa Anfang 1896, was jedoch schon angesichts der anzunehmenden Fertigstellung der zweiten Fassung des Artikels in der ersten Hälfte des Jahres 1898 (oben, S. 131) schwerlich exakt Ist. - Noch am 21. Juni 1914 spricht Weber in einem Brief an Georg v. Below von seinem ,sehr eilig geschriebenen Aufsatz über antike Agrargeschichte' (MWG II/8, S. 724). Vgl. oben, S. 57. 47 Wie oben, S.302, Anm. 17. 48 MWG II/5, S. 576. 49 Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 50 Vgl. unten, S. 312f. 51 Es dürfte sich handeln um Johns, Claude Hermann Walter, An Assyrlan Doomsday Book or Uber Censualis (Assyriologische Bibliothek, Band 17). - Leipzig: J.C. Hlnrlchs 1901, besprochen von „A.C.", in: The Engllsh Historical Review, vol. 18, 1903, S.395. Das Werk galt den Verhältnissen im assyrischen Harran im 7. Jahrhundert v.Chr., wobei die Besprechung die Bebauung des Bodens durch „serfs" hervorhob, die mit Ihren Familien fester Bestandteil des jeweiligen Gutes waren. Brentano hat diesen Beleg für altorientalische .Kolonenwirtschaft' noch viel später eigens zitiert: Brentano, Lujo, Das Wirtschaftsleben der antiken Welt. Vorlesungen gehalten als Einleitung zur Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters. - Jena: Gustav Fischer 1929, S. 13 mit Anm. 1, wo er zugleich Irrtümlich von .Babylonien im 3. vorchristlichen Jahrtausend' spricht. Auch das unbekannte, nachgelieferte „Citat" zu den „Agrarverhältnissen", für das sich Weber in einem nach dem 21. Juli 1909 verfaßten Brief bei Brentano bedankte (MWG II/6, S. 168), scheint sich auf Johns' Veröffentlichung und das Versprechen Brentanos Im obigen Brief zu beziehen.

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Agrarverhältnisse

im Altertum (3. Fassung)

trägt, ist im Börsenblatt am 3. D e z e m b e r 1908 registriert. 5 2 Nicht lange danach, am 21. D e z e m b e r 1908, mußte Weber d e m Orientalisten Carl Bezold mitteilen, daß er über keinen .Separatabdruck' mehr verfügte, allerdings hoffte, noch ein Exemplar d a v o n bei einem Besitzer des inzwischen erschienenen g a n z e n Bandes, eventuell seinem Bruder Alfred, „ergattern" zu können. 5 3 A u c h w e n n der Text der „Agrarverhältnisse" von 1908 aufs G a n z e gesehen denkbar v e r s c h i e d e n ist von den b e i d e n elf bzw. zehn Jahre älteren Fassungen, zeigt die nähere Analyse sofort, daß es sich bei ihm - wie s c h o n in der Fassung von 1898 im Vergleich zu der von 1897 - grundsätzlich ebenfalls um eine, freilich dieses Mal ganz außerordentlich eingreifende Umarbeitung, insbesondere Erweiterung der v o r a n g e h e n d e n zweiten Fassung handelt. 5 4 Deren Text bildet ersichtlich den A u s g a n g s p u n k t der Neufassung. Die e n g e n Entsprechungen z w i s c h e n b e i d e n Versionen lassen sich überblicksweise an der Synopse der Gliederung aller drei Fassungen 5 5 sowie - für eine große Zahl von unverändert ü b e r n o m m e n e n Passagen - an der Konkordanz der zweiten u n d dritten Fassung ablesen. 5 6 Gänzlich neu in der dritten Fassung sind vor allem vier größere K o m p l e x e dazugetreten: die Einleitung, die Kapitel über Israel und den Hellenismus sowie der Schluß. 5 7 I. „Einleitung. Zur ökonomischen Theorie der antiken Staatenwelt". Hier hat Weber die weniger als drei Spalten u m f a s s e n d e n „Vorbemerkungen" der zweiten Fassung durch die H i n z u f ü g u n g umfangreicher Partien am Ende des bisherigen Textes zu einem über 40 Druckspalten langen, fast völlig neu formulierten Kapitel ausgeweitet. N a c h d e m er den kurzen bisherigen Text über die allgemeine Entwicklung vom Beginn der A g r a r g e s c h i c h t e bis zur H e r a u s b i l d u n g des antiken und mittelalterlichen Feudalismus, von w e n i g e n Kürzungen und Präzisierungen a b g e s e h e n , beibehalten hatte, fügte er an die Feststellung über die trotz scheinbarer A n a l o g i e n f u n d a m e n talen Unterschiede in der ö k o n o m i s c h e n und sozialen Entwicklung in Altertum und Mittelalter zunächst eine längere Erörterung über das geringere Volumen des Handels im Altertum g e g e n ü b e r d e m späteren Mittelalter an, das nach Weber letztlich a u c h mit der g r u n d l e g e n d e n B e d e u t u n g der Sklaverei im Altertum z u s a m m e n h ä n g t . Dies führt zur Frage nach der A d äquatheit der für Mittelalter und Neuzeit v e r w e n d e t e n ö k o n o m i s c h e n Kate-

52 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 75. Jg., 1908, Nr. 281 vom 3. Dez., S. 14054. 53 Brief an Carl Bezold vom 21. Dez. 1908, MWG II/5, S.704. 54 Vgl. auch Webers Bemerkung oben, S. 301 f. mit Anm. 14. 55 Unten, S.316f. 56 Unten, S.318f. 57 Vgl. unten, S.320 (bzw. 3 2 4 ) - 3 7 4 , 4 3 8 - 4 5 5 , 5 4 5 - 5 9 7 und 6 9 0 - 7 2 5 .

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gorien für das Altertum und damit zu Ü b e r l e g u n g e n zu drei Hauptthemenkreisen. Dabei handelt es sich (a) um die Kontroverse z w i s c h e n Eduard Meyer u n d Karl Bücher über die von Rodbertus b e g r ü n d e t e .Oikentheorie' der antiken Wirtschaft, in der Weber in der H a u p t s a c h e auf die Seite Büchers tritt, a u c h wenn er hinsichtlich der Sklaverei eigens feststellt, daß er deren Rolle früher teilweise überschätzt habe. 5 8 Eine weitere intensive Erörterung gilt (b) d e m Problem des Kapitalismus im Altertum. 5 9 Hier kommt Weber in grundsätzlichen Ü b e r l e g u n g e n zu d e m Schluß, daß der Kapitalismus a u c h im Altertum zumindest zeitweise eine sehr b e d e u t s a m e Ers c h e i n u n g g e w e s e n sei, sich allerdings v o m Kapitalismus der Neuzeit u n d G e g e n w a r t t i e f g e h e n d unterscheide. Deshalb werden in einem zweiten Teil die wichtigsten Eigenarten des Kapitalismus im Altertum e i n g e h e n d diskutiert, nämlich die B e d e u t u n g der Edelmetallvorräte, die A u s w i r k u n g e n der Sklaverei auf die A u s b i l d u n g des Kapitalismus sowie die politischen Besonderheiten der Antike und ihre B e d e u t u n g für die C h a n c e n u n d das schließlic h e Ende der kapitalistischen Entwicklung im Altertum. N a c h einer z u s a m m e n f a s s e n d e n Erörterung der Grenzen des antiken Kapitalismus stellt Weber dann eine eigene, aus insgesamt sieben .Organisationsstadien' b e s t e h e n d e Typologie der politischen Entwicklung der antiken Staatenwelt auf, die er den g a n z e n f o l g e n d e n Kapiteln z u g r u n d e l e g t . II. „Die Agrargeschichte der Hauptgebiete der alten Kultur". In der zweiten Fassung fehlte, wie s c h o n in der ersten, ein derartiger z u s a m m e n f a s sender Titel für die einzelnen von Weber b e h a n d e l t e n Gebiete. Dort folgte auf die „Vorbemerkungen" als zweiter A b s c h n i t t „Der Orient", und zwar vielleicht nach d e m von Eduard Meyer in seiner „ G e s c h i c h t e des Altertums" g e g e b e n e n Beispiel der A n o r d n u n g - a) „ Ä g y p t e n " und b) der .asiatische Orient', d. h. Mesopotamien. Hier hat Weber in der dritten Fassung eine Umstellung v o r g e n o m m e n und Mesopotamien vor Ä g y p t e n gestellt. 6 0 1. „Mesopotamien". Der Umfang dieses Abschnitts erscheint g e g e n ü b e r der zweiten Fassung des Handwörterbuchartikels mehr als verdoppelt, w ä h r e n d die Gliederung unverändert bleibt. N a c h kaum u m g e a r b e i t e t e n einleitenden D a r l e g u n g e n zur Quellenlage u n d zum landwirtschaftlichen A n b a u (unter besonderer B e r ü c k s i c h t i g u n g der Bewässerung und ihrer Bed e u t u n g ) folgen auch hier zwei große Teile, von denen der erste der Königswirtschaft bzw. d e m königlichen „Oikos" (Einnahmen, Heerwesen) gilt, w ä h 58 Vgl. unten, 59 Vgl. unten, teresse an der wicklung" seit senschaft und S. 290. 60 Vgl. unten, „Kapitalismus"

S.333. S. 3 3 5 - 3 5 9 , sowie die Bandeinleitung, oben, S. 3 7 - 4 2 . Zu Webers In„Erkenntnis der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen EntÜbernahme der Mitherausgeberschaft beim „Archiv für SozialwisSozialpolitik" (ca. März/April 1904) vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S.374. Zu den Gründen - etwa wegen der früheren Entwicklung des in Mesopotamien? - äußert sich Weber nicht.

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Agrarverhältnisse im Altertum (3. Fassung)

rend der zweite die Privatwirtschaften behandelt (Recht am Land, Familie und Sklaven, Entwicklung des wirtschaftlichen Verkehrs und seiner Formen). Die zahlreichen und z.T. sehr langen Einschöbe in der Fassung von 1908 sind zu einem erheblichen Teil auf den 1901/02, also zwischen der zweiten und dritten Auflage des Handwörterbuchs, erfolgten Fund des berühmten „Codex Hammurabi" zurückzuführen, 61 der seit 1904 auch in der mit juristischen Erläuterungen versehenen deutschen Ausgabe von Josef Kohler und Felix Ernst Peiser vorlag und der neben weiteren Dokumenten aus der Hammurabi-Zeit Weber Anlaß zu einer beträchtlichen Zahl zusätzlicher Ausführungen gab. Außerdem berücksichtigte Weber jetzt auch die sumerische Zeit und zog überhaupt eine große Zahl von weiteren Einzelnachrichten heran. Besonders kennzeichnende Zusätze Webers in der dritten Fassung sind ferner etwa die Darlegungen über die Bedeutung der Tempel und der Priesterschaften für das Königtum, über Sklaven und Pachtverhältnisse sowie über den „Kapitalismus" im alten Mesopotamien. 62 2. „Ägypten". Durch die Verwendung einer - vergleichsweisen - Fülle von ägyptologischer Fachliteratur ist das Kapitel über Ägypten, bei dem Weber sich in der vorangegangenen Fassung weithin ausschließlich auf das Ägyptenbuch Ermans gestützt hatte, in der dritten Fassung noch viel stärker angewachsen als das über Mesopotamien, nämlich auf etwa knapp das Fünffache des Textes der zweiten Fassung. Im Gegensatz zu dieser hat Weber hier auch eine förmliche chronologische Unterteilung in die Abschnitte „Altes Reich", „Mittleres Reich" sowie „Neues Reich" vorgenommen, wobei in letzterem Teil auch die „Spätzeit" bis zur persischen Eroberung des Landes einbezogen wird. Doch handelt es sich auch hier, vom Entstehungsprozeß her gesehen, um eine Erweiterung der bereits für die Fassung von 1898 entworfenen Grunddisposition. a) „Altes Reich". Die knapp 11/2 Druckspalten der zweiten Fassung sind in der dritten Fassung auf etwa 7V2 Spalten angewachsen. Hier findet sich neben einer kurzen Skizze der ägyptischen Land- und Viehwirtschaft vor allem eine Behandlung der nach Weber mit der Wasserregulierung sehr früh einsetzenden Anfänge des pharaonischen Leiturgiestaates, der dafür charakteristischen Arbeits- und Abgabenverpflichtungen der bäuerlichen Bevölkerung sowie der Stellung des Amtsadels. b) „Mittleres Reich". Dieser Abschnitt ist verhältnismäßig kurz (ca. IV2 Spalten, die ungefähr einer Dreiviertelspalte der zweiten Fassung entsprechen). Im Mittelpunkt steht hier die Fortentwicklung des leiturgischen Systems auch in den großen grundherrlichen Besitzungen der Gaufürsten.

61 Vgl. z.B. unten, S.374. 62 Vgl. unten, S . 3 7 8 f „ 3 9 0 f „ 393f., 394 und 397f. (dazu 402).

Editorischer

Bericht

309

c) „Neues Reich". Aus den etwas mehr als 2V2 Spalten der zweiten Fass u n g sind In der Fassung von 1908 etwa 11 Spalten geworden. Im wesentlic h e n Ist der A b s c h n i t t In zwei große zeitliche Komplexe gegliedert, das eigentliche Neue Reich und die .Nachramessldenzeit'. Der erste Teil gilt vornehmlich d e m jetzt voll a u s g e b i l d e t e n .einheitlichen Fronstaat' u n d d e m Verhältnis z w i s c h e n d e m b e h e r r s c h e n d e n Komplex des königlichen Olkos und d e m Tempelland. Der zweite Teil ist g e g e n ü b e r der älteren Fassung neu und dient nicht zuletzt der Herstellung der Verbindung mit d e n erst In dieser dritten Fassung behandelten Verhältnissen Ä g y p t e n s In der hellenistischen Zelt, u n d zwar durch die B e h a n d l u n g der A n f ä n g e der Verkehrswirtschaft Im Ä g y p t e n der Spätzelt. In einem kurzen Schlußabschnitt hebt Weber die .vollkommene' A u s b i l d u n g des .Leiturgle'prinzlps 6 3 und der bürokratischen Verwaltung als ein Hauptmerkmal der Entwicklung In Ä g y p t e n hervor. 3. „Israel". G e g e n ü b e r der zweiten Fassung, in der Weber vor allem unter Hinweis auf die Unsicherheit der alttestamentlichen Nachrichten auf eine B e h a n d l u n g der „Israelitischen Agrarverhältnisse" verzichtet hatte, 6 4 fügte er jetzt dieses etwa 8V2 Spalten In Petitdruck u m f a s s e n d e Kapitel über die Entwicklung des vorexillschen Israel neu ein. Es ist im wesentlichen chronologisch in zwei Teile über das anfängliche .Bergvolk' der .vorköniglichen Zeit' u n d die E p o c h e des .theokratisch-bürokratischen Königtums' gegliedert. Eine H a u p t g r u n d l a g e bildet die Webers e i g e n e m Forschungsinteresse sehr e n t g e g e n k o m m e n d e , kurz zuvor erschienene, auf d e m B u n d e s b u c h als „ältestem Gesetz" sowie d e m Deuteronomium als Rechtsquellen a u f b a u e n d e Schrift von Adalbert Merx, w o b e i Weber auch die Israelitische Entwicklung mithilfe seiner eigenen, In der Einleitung entwickelten Typen der politischen Organisation im Altertum zu erklären sucht. N e b e n der Ausb i l d u n g von Privateigentum u n d Geldwirtschaft spielt hier a u c h das Verhältnis von weltlichen und priesterlichen Gewalten eine besondere Rolle. 4. „Hellas". Weber hat a u c h den bereits in der zweiten Fassung besonders stark veränderten Abschnitt über G r i e c h e n l a n d in der dritten Fassung erneut erheblich umgearbeitet, erweitert u n d mit über 57 Spalten auf mehr als d e n dreifachen U m f a n g der zweiten Fassung gebracht. Dabei hat er a u c h eine, freilich relativ grobe, förmliche zeitliche Gliederung dieses Teils in zwei Unterabschnitte, „Vorklassische Zelt" u n d „.Klassische' E p o c h e (speziell: Athen)", von jeweils ca. 33 bzw. 24 Spalten Länge v o r g e n o m m e n . W ä h r e n d er etwa im ersten Drittel noch der Grunddisposition und teilweise a u c h d e m Wortlaut der zweiten Fassung folgt, weicht er d a n a c h Immer weiter d a v o n ab. So ist der einleitende Abschnitt über d e n landwirtschaftlichen

63 Vgl. unten, S.438. 64 Vgl. Weber, Agrarverhältnisse 2 , oben, S. 158.

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Agrarverhältnisse

im Altertum (3. Fassung)

A n b a u noch d u r c h eher g e r i n g f ü g i g e Veränderungen gekennzeichnet. Erhebliche Erweiterungen g e g e n ü b e r der Fassung von 1898 p r ä g e n d a n n j e d o c h s c h o n die Darstellung der anfänglichen .Dorfsiedlung' bzw. der .freien' G e m e i n d e , d e s m y k e n i s c h e n .Burgenkönigtums' sowie der Entstehung der Stadt (Polis). 6 5 An die Stelle der in den b e i d e n früheren Fassungen e n t s p r e c h e n d d e m A u f b a u des Griechenlandteils in Webers nationalökonomischer H a u p t v o r l e s u n g - f o l g e n d e n G e g e n ü b e r s t e l l u n g des .naturalwirtschaftlichen Stadtfeudalismus' vor allem in Sparta und auf Kreta und der (Küsten-)Poleis mit sich entwickelnder Verkehrswirtschaft 6 6 trat jetzt die weitere A b f o l g e der bereits in der Einleitung von Weber herausgearbeiteten politischen „Entwicklungsstadien", d . h . der .Adels-Polis' bzw. des „Geschlechterstaates", des .Hoplitenstaates' u n d der „radikalen Demokratie". 6 7 Neu sind die d e n ersten A b s c h n i t t a b s c h l i e ß e n d e n Ausführungen über d e n .weltlichen Charakter der Kulturentwicklung' in G r i e c h e n l a n d u n d über die ö k o n o m i s c h e Rolle der Tempel, 6 8 die vielleicht mit d u r c h die B e h a n d l u n g der andersartigen Entwicklung in Israel veranlaßt wurden. Neu ist ferner z u m größten Teil a u c h der g e s a m t e zweite Abschnitt, der mehr als ein Drittel des Artikels umfaßt und in d e m Weber auf den Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n der Entwicklung zur „Bürgerpolis" (d.h. mindestens bis z u m .Hoplitenstaat') und der .vollen Verkehrsfreiheit des Bodens' eingeht, 6 9 w o b e i er zu d e m Ergebnis gelangt, daß deren Folgen in Griec h e n l a n d hinter d e n j e n i g e n in Rom, nämlich der Entstehung von großem Landbesitz u n d großen Sklavenbetrieben, weit z u r ü c k b l i e b e n . 5. „Der Hellenismus". Diesen etwa 27 Druckspalten langen u n d damit im Vergleich zu d e m Griechenlandteil ungefähr halb so umfangreichen A b schnitt hat Weber in der dritten Fassung neu hinzugefügt. Ein k n a p p e r Überblick gilt zunächst der persischen Herrschaft (einschließlich des nachexilischen J u d e n t u m s mit der Etablierung der „Theokratie" auf gentiler Basis) sowie der m a k e d o n i s c h e n Eroberung des Perserreiches. Auf d e m allg e m e i n e n Hintergrund der Frage nach der Entwicklung der Geldwirtschaft behandelt Weber d a n n die dank der Papyri relativ gut b e k a n n t e n Verhältnisse im p t o l e m ä i s c h e n Ä g y p t e n in zahlreichen Details. W ä h r e n d das Seleukidenreich insgesamt lediglich gestreift wird, geht Weber am Schluß vor allem w i e d e r u m auf das J u d e n t u m näher ein. Der Hauptteil über das ptolemäische Ä g y p t e n gilt in erster Linie der A u s b i l d u n g des Leiturgieprinzips und der Bürokratie in Ä g y p t e n , sowie - im Blick auf den „gewalti-

65 Vgl. unten, S. 4 6 1 - 4 6 5 , 4 6 5 - 4 7 3 und 4 7 3 - 4 8 1 . 66 Vgl. oben, S. 1 8 0 - 1 9 2 ; Weber, Allgemeine („theoretische") M 87. 67 Vgl. unten, S. 4 7 3 - 4 8 7 , 4 8 7 - 4 9 9 und 4 9 9 - 5 0 3 . 68 Unten, S. 5 0 3 - 5 0 8 . 6 9 Unten, S. 5 0 8 - 5 2 1 .

Nationalökonomie,

Editorischer

Bericht

311

gen" königlichen Oikos und die priesterlichen Oikoi - die verschiedenen juristischen Qualitäten des Landes und den Status der Arbeitskräfte. Insgesamt ergibt sich für Weber, daß auch das durch eine z.T. erhebliche geldwirtschaftliche Entwicklung gekennzeichnete hellenistische Ägypten nicht in modernen wirtschaftlichen Kategorien zu erfassen sei und von Kapitalismus nur ,in sehr begrenztem Maße' die Rede sein könne. Die Betrachtung des jüdischen Rechts im Talmud bzw. in der Mischna führt - außer der Feststellung der dort wirksamen „alten theokratischen Bindungen des Verkehrs" 70 - nicht zuletzt zu dem für die hellenistische Welt insgesamt Gültigkeit beanspruchenden Ergebnis, daß es auch in dieser Epoche des Altertums keine „soziale Bewegung" im modernen Sinn geben konnte. 71 6. „Rom". Dieser Teil entspricht dem Abschnitt „Das römische Altertum bis zum Ende der Republik" der beiden früheren Fassungen. Er hat allerdings etwa den fünffachen Umfang dieser Fassungen und weist insofern die stärkste Erweiterung von allen Einzelkapiteln auf. Weber hat ihn, ähnlich wie den Abschnitt über Hellas, eher grob förmlich in zwei große chronologische Unterabschnitte gegliedert: „Der Stadtstaat" sowie „Die Expansionszeit Roms". Grundsätzlich ist aber kennzeichnend, daß von einer einzigen größeren Umstellung abgesehen Weber die Grunddisposition der ersten beiden Fassungen beibehalten und im Prinzip lediglich den „alten" Text durch Einschübe erweitert hat, die allerdings einen teilweise sehr erheblichen Umfang haben; als Beispiele seien nur die Auseinandersetzung mit Karl Johannes Neumanns These von der ursprünglich in Rom herrschenden Grundherrschaft oder die allein rund sechs Druckspalten beanspruchenden, neu hinzugefügten Ausführungen über die Klientel und ihre Bedeutung für Rom genannt. 72 Die sichtbarste Umstellung in der Textanordnung gegenüber der ersten und zweiten Fassung betrifft die praktisch unverändert übernommene und unmittelbar auf der „Römischen Agrargeschichte" fußende Darstellung der gromatischen Bodenaufteilung, die in den Fassungen von 1897 und 1898 hinter der Schilderung der bodenrechtlichen Verhältnisse und vor der Darstellung der .landwirtschaftlichen Betriebsweise' am Schluß des Kapitels über die Entwicklung in der republikanischen Zeit gestanden hatte. 73 In der dritten Fassung rückte Weber sie dagegen (ähnlich wie in der „Römischen Agrargeschichte") wieder vor die Behandlung der Rechtsverhältnisse des ager privatus und des ager publicus und zugleich an das Ende des ersten Unterabschnitts des Kapitels über die republikanische Zeit, „Der Stadtstaat".

7 0 Unten, S.596. 71 Ebd. 72 Vgl. unten, S. 6 1 6 - 6 2 7 . 73 Vgl. Weber, Agrarverhältnisse 2 , oben, S. 2 0 8 - 2 1 2 .

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Agrarverhältnisse im Altertum (3. Fassung)

7. „Grundlagen der Entwickelung in der Kaiserzeit". Daß Weber im letzten Kapitel der dritten Fassung nicht mehr wie zuvor „Die Entwickelung in der Kaiserzeit" insgesamt behandelte, sondern nur n o c h deren .Grundlagen', hat wahrscheinlich sowohl mit d e m Bestreben, d e n Artikel nicht n o c h umfangreicher w e r d e n zu lassen und zu Ende zu bringen, wie auch mit der damals n o c h b e s t e h e n d e n A b s i c h t Webers zu tun, die a g r a r i s c h e Entw i c k l u n g zumindest der Spätantike in einem besonderen Artikel „Kolonat" darzustellen. 7 4 Der insgesamt rund 24 Druckspalten lange A b s c h n i t t ist geg e n ü b e r d e m „alten" Kapitel über die Kaiserzeit (das a u c h nur etwa ein Viertel von d e s s e n Textumfang hatte) gänzlich neu und enthält in der Hauptsache zwei Teile, in d e n e n Weber zunächst ausführlich auf die Besonderheiten der antiken Stadt im Vergleich zu der des Mittelalters eingeht u n d d a n n abschließend vor allem die .relative A b n a h m e der Verkehrsintensität' a m Ende des Altertums u n d die .Erstickung' des antiken Kapitalismus durch den bürokratischen .Leiturgiestaat' analysiert. „Zur Literatur". Ganz d e m allgemeinen Anschwellen des Artikels g e g e n über den früheren b e i d e n Fassungen entspricht auch die rund 12V2 Druckspalten umfassende, e i n g e h e n d e Literaturübersicht Webers, die in d e n ersten b e i d e n Fassung des Artikels jeweils ungefähr eine halbe Spalte e i n g e n o m m e n hatte. Lediglich für die Literaturangaben zur Kaiserzeit hat Weber auf d e n Artikel „Kolonat" verwiesen, 7 5 der dann freilich nicht von ihm beigesteuert w e r d e n sollte. N a c h d e m ursprünglich bereits zu der ersten Fassung der „Agrarverhältnisse im Altertum" ein Artikel W e b e r s über den „Kolonat" g e p l a n t war, man davon in der 2. Auflage des H a n d w ö r t e r b u c h s j e d o c h wieder a b g e k o m m e n war, sollte Weber für die 3. Auflage w i e d e r u m einen Artikel „Kolonat" schreiben, auf den sich denn a u c h in der dritten Fassung der „Agrarverhältnisse" nicht weniger als 22, von der Einleitung bis z u m Literaturverzeichnis reichende Verweise finden. 7 6 Bei allen Klagen W e b e r s über seine Arbeit an d e n „Agrarverhältnissen" besteht kein Zweifel daran, daß er auch noch nach der Veröffentlichung der „Agrarverhältnisse" fest davon ausging, daß er d e n Artikel „Kolonat" für das H a n d w ö r t e r b u c h selbst verfassen würde. Dies dürfte eindeutig aus einem Brief an Ulrich Stutz v o m 22. Mai 1908 hervorgehen: „Der Artikel: .Kolonat' soll im nächsten Jahr erscheinen", w o b e i Weber hinzufügt: „Da er die Grundherrschaft überhaupt

74 Vgl. dazu unten, S.691f. 75 Unten, S.312f. 76 Unten, S. 371 (Einleitung); 434 (Ägypten), 5 6 2 f „ 565, 567, 570, 582, 585, 588, 590 (Hellenismus); 651 (Rom, Stadtstaat); 683, 688 (Rom, Expansion); 691 f., 717, 721, 725 (Rom, Kaiserzeit); 727, 7 4 5 - 7 4 7 (Literatur).

Editorischer

Bericht

313

zum Vergleich heranziehen will, so muß ich [d]ann in die deutsche Rechtsgeschichte hinein". 77 Weber hat den Plan zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt aber doch aufgegeben und den Artikel an den russischen Althistoriker Michael Rostovtzeff abgetreten, der damals selbst gerade eine umfangreiche Monographie „Studien zur Geschichte des römischen Kolonats" vorbereitete, die im Jahre 1910 erschien. 7 8 Im gleichen Jahr kam der fünfte Band des Handwörterbuchs mit dem 16 Spalten umfassenden Artikel „Kolonat" von Rostovtzeff heraus (in d e m bezeichnenderweise die „Grundherrschaft" ganz außer Betracht blieb). Daß Max Weber selbst es war, der Rostovtzeff für diesen Artikel vorgeschlagen hatte, ergibt sich aus einem späteren Schreiben Max Webers an Ludwig Elster vom März 1920. 79 Anhangsweise bleibt zu erwähnen, daß im Februar des Jahres 1920, wenige Monate vor Max Webers unerwartetem Tod, als die vierte Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften vorbereitet wurde, Ludwig Elster sich wegen des Artikels „Agrarverhältnisse im Altertum" erneut an Max Weber wandte. 8 0 Elster wies zwar daraufhin, daß Webers Artikel von 1908 „der 3. Auflage des .Handwörterbuchs' allzeit zur besonderen Zierde gereichen" würde und daß über seinen „hohen wissenschaftlichen Wert auch nicht der geringste Zweifel bestehen" könne, daß in der neuen Auflage aber lediglich ein halber Bogen, also 8 Druckseiten - d.h. etwa ein Drittel oder ein Viertel des ursprünglich für die dritte Auflage vorgesehenen Raumes (bzw. nur knapp 6% des Raums der tatsächlichen dritten Fassung) - zur Verfügung stünden. Elster erwog dabei auch die Möglichkeit, daß ein Schüler Webers unter dessen Anleitung und nach seinen Anweisungen den Artikel verfassen könne und erbat das Manuskript bis zum 1. Oktober 1920. In seinem Antwortschreiben vom 3. März teilte Weber mit, daß er keinen geeigneten Schüler habe, daß jedoch eine Übernahme des Artikels durch Rostovtzeff in Frage käme, aber daß auch er selbst eine Bearbeitung „in gänzlich veränderter Form innerhalb des gegebenen Rahmens des Raums" in Betracht ziehen könne. Wegen seiner starken Belastung wollte er aber doch die Betrauung Rostovtzeffs oder auch eines anderen Bearbeiters mit der Abfassung des Artikels „anheimgeben". Er schloß mit der für ihn charakteristischen Wendung: „Jedenfalls bitte ich zu glauben, daß ich keine

7 7 Brief a n Ulrich Stutz v o m 22. Mai 1908, M W G LI/5, S . 5 7 6 . 78 R o s t o w z e w , M [ i c h a i l ] , S t u d i e n zur G e s c h i c h t e d e s r ö m i s c h e n K o l o n a t e s (Archiv für P a p y r u s f o r s c h u n g u n d v e r w a n d t e G e b i e t e , 1. Beiheft). - L e i p z i g u n d Berlin: B.G. T e u b n e r 1910. 7 9 Brief M a x W e b e r s an L u d w i g Elster v o m 3. März 1920, U B J e n a , Nl. L u d w i g Elster ( M W G 11/10), w o es v o n R o s t o w z e w heißt: ,,Verf[asser] d e s A r t i k e l s ] .Kolonat', d e n ich s[einer] Z[eit] dafür empfahl". 8 0 Brief v o n L u d w i g Elster a n M a x W e b e r v o m 28. Febr. 1920, e b d .

314

Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

Art der Lösung als .persönliche Kränkung' empfinde. Die sachlichen Interessen haben zu entscheiden". 81 In seinem Antwortschrelben vom 17. April teilte Elster mit, daß sich die Herausgeber entschlossen hätten, den ganzen Artikel „Agrargeschichte" einem einzigen Autor anzuvertrauen, zumal Rostovtzeff der 1918 Rußland verlassen hatte und sich zu dieser Zeit in Oxford aufhielt, für die Herausgeber nicht erreichbar sei. 82 Im Jahre 1923 erschien dann der erste Band der vierten Auflage des Handwörterbuchs, in dem Georg von Below den gesamten Artikel „Agrargeschichte" von Insgesamt 12 Seiten Länge übernommen hatte, von denen wiederum die „Agrarverhältnisse im Altertum" nur mehr etwa 3V2 Selten umfaßten.83

II. Zur Überlieferung

und

Edition

Ein Manuskript Webers Ist auch für die dritte Fassung der „Agrarverhältnisse im Altertum" nicht erhalten. Der Abdruck folgt dem Text des Artikels „Agrargeschichte, I. Agrarverhältnisse im Altertum", In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. von Johannes E. Conrad, Ludwig Elster, Wilhelm Lexis und Edgar Loening, Band I: Abbau-Aristoteles, 3. gänzlich umgearbeitete Auflage. - Jena: Gustav Fischer 1909, S. 52-188 (A). Der Band war bereits im Dezember 1908 fertiggestellt und ausgeliefert worden. Sonderdrucke des Artikels von Max Weber lagen bereits Im Mai 1908 vor.84 Webers Artikel erschien, wie schon in den Jahren 1897 und 1898, als erster im Rahmen des Gesamtartikels „Agrargeschichte", ihm folgten die Beiträge „II. Agrarverhältnisse im Mittelalter" und „III. Agrarverhältnisse In der Neuzeit", verfaßt von Hermann Wopfner und Karl Steinbrück. 85 Wegen der großen textlichen Abweichungen sind die beiden frühen Fassungen der „Agrarverhältnisse" gesondert ediert. 86 Einen zusammenfassenden Überblick über Gliederung und Inhalt bietet die Synopse, 87 während die Konkordanz der zweiten und dritten Fassung einen Textvergleich zwischen der zweiten und dritten Fassung erleichtern soll.88

81 Brief Max Webers an Ludwig Elster vom 3. März 1920, ebd. 82 Brief von Ludwig Elster an Max Weber vom 17. April 1920, ebd. 83 Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4., gänzlich umgearbeitete Auflage, hg. von Ludwig Elster u.a., Band I: Abbau-Assignaten. - Jena: Gustav Fischer 1923, hier S. 48-62 (davon „Agrarverhältnisse im Altertum": S. 48-52). 84 Vgl. dazu oben, S.305f. 85 HdStW 3 , Band 1, 1909, S. 1 8 8 - 1 9 6 bzw. 196-206. 8 6 Vgl. oben, S. 146-227, sowie den Editorischen Bericht, oben, S.306. 87 Vgl. unten, S.316. 88 Vgl. unten, S.318f.

Editorischer

Bericht

315

Die Seiten des H a n d w ö r t e r b u c h s sind zweispaltig gesetzt und seitenweise durchgezählt. Der Seiten- und Spaltenwechsel wird dokumentiert, im Text durch einen senkrechten Strich und a m Seitenrand durch den Hinweis A 00 l[inke] oder A 00 r[echte Spalte], Webers Fußnoten, die im Original seitenweise gezählt sind, wurden durchnumeriert. Die im Original enthaltenen Umlaute Ae, Oe, Ue sowie ss werden e n t s p r e c h e n d den Editionsregeln stillschweigend in Ä, 0 , Ü und ß u m g e w a n d e l t . Die Kapitelüberschriften der Inhaltsübersicht zu Webers Beitrag stimmen teilweise nicht mit den in den Text inserierten Überschriften überein. Auf die Differenz wird im textkritis c h e n A p p a r a t hingewiesen, 8 9 eine Vereinheitlichung unterbleibt. Die Fassung von 1908 stellt den längsten Text Webers z u m Altertum dar, der keine Fußnoten bzw. Einzelbelege, dafür allerdings ein u n g e w ö h n l i c h umfangreiches Literaturverzeichnis aufweist. Wenn es sich auch grundsätzlich nicht darum handeln konnte, die von Weber nicht d a r g e b o t e n e n bzw. mit der äußeren A n l a g e des „ H a n d w ö r t e r b u c h s " nicht zu vereinbarenden Belege komplett zu rekonstruieren, w e r d e n in den Erläuterungen nicht nur ausdrücklich, insbesondere durch einen A u t o r n a m e n als solche gekennzeichnete Zitate n a c h g e w i e s e n bzw. vervollständigt, sondern auch, u.a. mithilfe des W e b e r s c h e n Literaturverzeichnisses, .indirekte' Zitate, d . h . wichtige und eindeutig als solche erkennbare B e z u g n a h m e n Webers auf antike Quellen oder m o d e r n e Literatur, n a c h g e w i e s e n . Um den Erläuter u n g s a p p a r a t nicht zu überlasten, werden die Quellenstellen, die Webers Darstellung zugrundeliegen, dort, wo sie d u r c h d e n Rückgriff auf die von Weber verwendete und a n g e g e b e n e Literatur auffindbar sind, nicht eigens angeführt. Ein b e s o n d e r e s Problem stellen die überaus zahlreichen von Weber v e r w e n d e t e n t e c h n i s c h e n Begriffe aus d e n verschiedensten Einzeldisziplinen dar. Für ihre Erläuterung muß im Zweifelsfall auf das Glossar verwiesen werden. Was im Abschnitt über Ä g y p t e n die Chronologie betrifft, so liegt bei Weber a u c h in der dritten Fassung im allgemeinen das 1885 veröffentlichte Werk von Erman, Ä g y p t e n , B a n d 1, zugrunde. Erman seinerseits folgte der 1884 von Meyer, G e s c h i c h t e des Altertums, B a n d 1, aufgestellten Chronologie, w o b e i er sich über die Unsicherheit zumal der frühen Daten im klaren war, allerdings im G e g e n s a t z zur späteren F o r s c h u n g eher zu einer noch höheren als zu einer niedrigeren Datierung neigte. 9 0 In den Erläuterungen wird grundsätzlich auf die Ermansche Chronologie verwiesen und nur ausnahmsweise a u c h auf spätere Erkenntnisse B e z u g g e n o m m e n . Als reprä-

89 Vgl. dazu unten, S.320 mit textkritischer A n m . b und c, sowie S.438 mit textkritischer Anm. a und S. 456 mit textkritischer Anm. a. 90 Zu Erman vgl. bes. unten, S.402, Anm. 1; 416, Anm. 1 und 418, Anm. 15.

316

Agrarverhältnisse

im Altertum

(3. Fassung)

sentativ für d e n g e g e n w ä r t i g e n Stand der ä g y p t i s c h e n Chronologie sei das Werk von J ü r g e n v. Beckerath genannt. 9 1 Weiterhin k e n n z e i c h n e n d für den Abschnitt über Ä g y p t e n in der dritten Fassung der „Agrarverhältnisse" ist eine Anzahl ägyptischer Termini, die Weber in ihrer d a m a l i g e n Lesart z. T. französischer ä g y p t o l o g i s c h e r Literatur e n t n o m m e n u n d d a b e i teilweise den d e u t s c h e n Schreibgewohnheiten (z. B. u statt ou in der französischen Transkription) angepaßt hat. 9 2 Hier wird in den Erläuterungen jeweils die heute gültige wissenschaftliche Transkription einschließlich der üblichen A u s s p r a c h e n a c h g e w i e s e n (auch w e n n letztere w e g e n d e s vielfach u n b e k a n n t e n Vokalismus des Ä g y p t i s c h e n in sehr vielem .behelfsmäßig' b l e i b e n muß). Für alle unmittelbar auf der „Römischen A g r a r g e s c h i c h t e " b a s i e r e n d e n Teile der b e i d e n Kapitel über Rom gilt das bereits zu den d i e s b e z ü g l i c h e n Erläuterungen der ersten und zweiten Fassung G e s a g t e 9 3 Bei Zitaten aus römischen Rechtsquellen wie d e m Zwölftafelgesetz, der lex agraria u.a. erfolgt der N a c h w e i s durch die von Weber bereits für die „Römische Agrarg e s c h i c h t e " v e r w e n d e t e 5. Auflage der S a m m l u n g von Bruns, Fontes. 9 4 Zu einer Seitenkonkordanz mit W e b e r s „ G e s a m m e l t e n Aufsätzen zur Sozialu n d W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e " vgl. unten, S . 9 6 0 - 9 6 5 .

Synopse der drei Fassungen der „Agrarverhältnisse

im

Altertum"

Die S e i t e n a n g a b e n beziehen sich auf die Originalpaginierung in H d S t W 1 , 2 , 3 u n d die hier vorliegende Edition, w o b e i für die S e i t e n a n g a b e n der 1. Fassung in dieser Edition d a s oben, S.65, sowie S. 139, G e s a g t e zu b e a c h t e n ist. 1. Fassung (1897)

2. Fassung (1898)

3. Fassung (1908)

1. Vorbemerkungen A l l - 2 r , S . 146-150

1. Vorbemerkungen B 57r-591, S. 146-150

I. Einleitung. Zur ökonomischen Theorie der antiken Staatenwelt A 52r-731, S. 320-373 II. Die Agrargeschichte der Hauptgebiete der alten Kultur A 731-182r, S. 374-725

91 v. Beckerath, Jürgen, Chronologie des pharaonischen Ägypten. Die Zeitbestimmung der ägyptischen Geschichte von der Vorzeit bis 332 v. Chr. (Münchener Ägyptologische Studien, Band 46). - Mainz: Philipp v. Zabern 1997. 92 Vgl. unten, S.417f. mit Anm. 12 und 13. 93 Vgl. oben, S. 140. 94 Vgl. auch unten, S.738.

Editorischer Bericht 1. Fassung (1897)

317

2. Fassung (1898)

3. Fassung (1908)

2. Der Orient B 5 9 r - 6 6 1 , S. 150-169 a) Ägypten B 59r-61r, S. 150-157 b) Der asiatische Orient B 61 r-66], S. 157-169

1. Mesopotamien A 731-80r, S. 374-402 2. Ägypten A 80r—911, S. 402-438 a) Altes Reich A 80r-84r, S. 402-416 b) Mittleres Reich A 8 4 r - 8 5 r , S. 416-418 c) Neues Reich A 85r—911, S. 418-438 3. Israel A 911-95r, S. 438-455

2. Das hellenische Altertum A 2r-91, S. 170-198

3. Das hellenische Altertum B 661-751, S. 170-198

4. Hellas A 95r-1241, S. 456-545 a) Vorklassische Zeit A 95r—1121, S. 456-508 b) „Klassische" Epoche (speziell: Athen) A 1121-1241, S. 508-545 5. Der Hellenismus A 1241-1411, S. 545-597

3. Das römische Altertum bis zum Ende der Republik A 91-15 r, S. 198-217

4. Das römische Altertum bis zum Ende der Republik B 751-81 r, S. 198-217

6. Rom A 1411-1711, S. 598-725 a) Der Stadtstaat A 1411- 158r, S. 598-654 b) Die Expansionszeit Roms A 158r—1711, S. 654-690

4. Die Entwickelung in der Kaiserzeit A 15r-181,S. 217-225

5. Die Entwickelung in der Kaiserzeit B 81 r - 8 4 r , S. 217-225

7. Grundlagen der Entwickelung in der Kaiserzeit A 1711-182 r, S. 690-725

Zur Litteratur A 181—18r, S.225f.

Zur Litteratur B 84r—851, S.225f.

Zur Literatur A 182r-188 r, S. 725-747

Agrarverhältnisse

318

im Altertum

(3.

Konkordanz zu der 2. und 3. Fassung der

Fassung)

„Agrarverhältnisse"

D i e K o n k o r d a n z soll ein r a s c h e s A u f f i n d e n v o n e i n a n d e r

entsprechenden

P a s s a g e n in d e r 2. u n d 3. F a s s u n g d e r „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e "

ermöglichen,

w o b e i a l l e r d i n g s v o n g e n a u e n Z e i l e n a n g a b e n a b g e s e h e n w u r d e . Z u d e r in d e r E d i t i o n d e r 2. F a s s u n g e n t h a l t e n e n 1. F a s s u n g v g l . d i e H i n w e i s e o b e n , S. 6 5 u n d 139.

I. Vergleich „Agrarverhältnisse" 2. und 3. Fassung Agr.2

Agr.3

Agr.2

Agr. 3

Agr.2

Agr. 3

Vorbemerkungen (146-150)/ Einleitung (320-373)

162 163 164 165 166 167 168 169

386--388 388--390 390--392 394--396 396--397 397--399 400--401 401

189 190 191 192

489-490 491-492 493 494

146 147 148 149

320-321 321-322 322-323 323-324

Ägypten 402-438) 150 151 152 153 154 155 156 157

(150-157;

404 404-406 403-404, 415-416 416-419 419,421,423 423,429-431 431-433 433

Asiatischer Orient (157-169)/ Mesopotamien (374-402) 157 158 159 160 161

374 374-376 376,380 380-381,383 384-386

Hellenisches Altertum (170-198)/ Hellas (456-545) 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185

456--457 457 462, 463 463--464 464--465 465 -467 466--467 477, 476 478--479 479--480 480--481 481--482 482 482--483 483--485 485

Römisches Altertum (198-225)/ Rom (598-725) 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217

600 600, 607-608, 610-611 611, 613, 616 616 658-659 659-661 662 662-663 670 670-671, 673 647-648 648-649 649-650 650-652 652-654, 683 684-686 686-687 675-676 676-678 682-683

Editorischer

Bericht

319

II. Vergleich „Agrarverhältnisse" 3. und 2. Fassung Agr.3

Agr. 2

Einleitung (320-373) / Vorbemerkungen (146-150) 320 321 322 323 324

146 146-147 147-148 148-149 149

Mesopotamien (374- -402)/ Asiatischer Orient (157- -169) 374 375 376 380 381 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392 394 395 396 397 398 399 400 401

157-158 158 158-159 159-160 160 160 161 161 161-162 162 162 163 163-164 164 164 165 165 165-166 166-167 167 167 168 168-169

Agr.3

Agr.2

Ägypten (402-438; 150-157) 403 404 405 406 415 416 417 418 419 420 423 429 430 431 432 433

152 152,150-151 151 151 152 152-153 153 153 153-154 154 154-155 155 155 155-156 156 156-157

Hellas (456-545)/ Hellenisches Altertum (170- 198) 456 457 462 463 464 465 466 467 476 All 478 479 480 481 482 483 484 485 489 490

170 170-171 172 172-173 173-174 174-175 175-176 175-176 177 177 178 178-179 179-180 180-181 181-182 183-184 184 184-185 189 189

Agr.3

Agr. 2

491 492 493

190 190 191

Rom (598-725)/ Römisches Altertum (198-225) 600 607 608 610 611 613 616 647 648 649 650 651 652 653 654 658 659 660 661 662 663 670 671 673 675 676 677 678 682 683 684 685 686 687

198-199 199 199 199 199-200 200 200-201 208 208 209 210 211 211-212 212 212 202 202 203 203 204 205 207 207 207 215 215-216 216 216 217 212, 217 213 213 213-214 214

[A 52 r]

Agrarverhältnisse 3 im Altertum.

I. Einleitung. Zur ökonomischen Theorie der antiken Staatenwelt. II. Die Agrargeschichte der Hauptgebiete der alten Kultur. 1) Mesopotamien. 2) Ägypten. 3) Altisrael.b 4) Griechenland.0 5) Der Hellenismus. 6) Rom. 7) Grundlagen der Entwickelung in der Kaiserzeit. 5

I. Einleitung.0 Den Siedelungen des europäischen Occidents 1 ist im Gegensatz zu denjenigen der ostasiatischen Kulturvölker gemeinsam, daß wenn man eine kurze und daher nicht ganz genaue Formel anwenden will, - bei jenen der Übergang zur endgültigen Seßhaftigkeit ein Übergang von einem starken Vorwalten der Vieh-, spezieller noch: der Milchviehzucht, gegenüber dem Bodenanbau zum Überwiegen der Bedeutung des Bodenanbaues über die mit ihm kombinierte Viehhaltung, - bei diesen dagegen von extensiver und deshalb nomadisierender AckernuXzxmg zum gartenmäßigen Ackerbau ohne Milchviehhaltung ist. Der Gegensatz ist ein relativer und gilt vielleicht für prähistorische Zeiten nicht. Aber sO[,j wie er geschichtlich bestanden hat, ist seine Tragweite groß genug. Er hat die Konsequenz, daß die Bodenappropriation bei den europäischen Völkern stets mit der Ausscheidung und ausschließlichen Zuweisung von Weiderevieren auf dem von einer Gemeinschaft okkupierten Gebiet an kleinere Gemeinschaften verknüpft ist, bei den Asiaten dagegen dieser Ausgangspunkt und damit die darauf beruhenden Erscheinungen primitiver „Flurgemeinschaft", z.B. der occidentale Begriff von Mark und Allmende, 2 fehlen oder doch einen anderen ökonomischen Sinn haben. Die Flurgemeinschaftselemen-

a In A geht voran: I. b Im Text (unten, S. 438) lautet die Überschrift: Israel, c Im Text (unten, S. 456) lautet die Überschrift: Hellas, d In der Inhaltsangabe (vgl. oben) lautet

die Überschrift: Einleitung. Zur ökonomischen Theorie der antiken Staatenwelt.

1 Vgl. dazu oben, S. 133f sowie S. 306. 2 Gemeint sind die genossenschaftlich verfaßte Dorfmark sowie das von den Markgenossen gemeinsam genutzte Weideland.

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I. Einleitung

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321

te in den ost| asiatischen Dorfverfassungen zeigen daher, soweit sie A 53 i nicht überhaupt modernen Ursprungs, z.B. aus der Steuerverfassung hervorgegangen, 3 sind, ein von den europäischen stark abweichendes Gepräge. Und auch der „Individualismus" des Herdenbesitzes mit seinen Folgen fehlt den ostasiatischen Völkern. Bei den Occidentalen dagegen (hauptsächlich, aber nicht nur, in Europa) können wir auf gewisse Ausgangspunkte der Entwickelung fast überall zurückgreifen. Normalerweise ist hier - so viel wir urteilen können - der endgültig seßhafte Ackerbau mit der Verengung des Nahrungsspielraums entstanden durch zunehmende Verschiebung des Schwerpunkts der Ernährung vom Ertrage der Milchviehhaltung auf den Ertrag der Felder. Dies gilt nicht nur für das nordwesteuropäischej,] sondern im wesentlichen auch für das südeuropäische und vorderasiatische Gebiet. A b e r allerdings wird in Vorderasien (Mesopotamien) und ebenso bei dem einzigen großen afrikanischen Kulturvolk, den Ägyptern, jener Entwickelungsgang schon in vorhistorischer Zeit sehr stark alteriert durch die einschneidende Bedeutung der Stromufer- und Bewässerungskultur, welche wenigstens denkbarerweise sich direkt aus ursprünglichem, vor der Zähmung der Haustiere liegendem, reinem Bodenanbau zu ihrem späteren gartenmäßigen Charakter entwickelt haben könnte, jedenfalls aber auch in historischer Zeit der ganzen Wirtschaft ein sehr spezifisches Gepräge gab. Dagegen zeigen die hellenischen und - trotz der in den alten Quellen 4 gerade dort stark hervortretenden Bedeutung des Viehes als Arbeits-(nicht Milch-)Viehes - auch das römische Gemeinwesen in ihrer agrarischen Unterlage wesentlich mehr Verwandtschaft mit unsern mittelalterlichen Zuständen. Die entscheidenden Unterschiede gegenüber den letzteren haben sich im Altertum herausgebildet auf derjenigen Entwickelungsstufe, auf welcher, bei vollzogener fester Siedelung, die Masse der Bevölkerung durch die Notwendigkeit intensiverer Arbeit an den Boden gefesselt und für militärische Zwecke ökonomisch nicht mehr disponibel war, so daß im Wege der Arbeitsteilung eine Berufskriegerschaft sich herausdifferenzierte und nun die wehrlose Masse für ihre Sustentation aus3 Vgl. dazu oben, S. 146 mit Anm. 3. 4 Gemeint sind in erster Linie die römischen Agrarschriftsteller Cato, Varro und Columella.

322

Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

zubeuten suchte. Die Entwickelung der militärischen Technik zu einer nur berufsmäßig zu betreibenden, weil ständige Ausbildung und Übung voraussetzenden Kunst ging damit teils als Begleiterscheinung, teils als die wirkende Ursache parallel. Im europäischen frühen Mittelalter führte ein solcher Prozeß bekanntlich zur Entstehung des „Feudalismus". In der Form, wie dies dort und damals geschah, hat das Altertum ihn nur in Ansätzen gekannt: die KombiA 53 r nation | von Vasallität und Benefizium und die Ausgestaltung des romanisch-germanischen Lehnrechts 5 hat in historischer Zeit im Altertum keine volle Analogie. Allein es erscheint nicht nötig und nicht richtig, den Begriff des „Feudalismus" auf diese spezielle Ausprägung zu beschränken. Sowohl die ostasiatischen 6 wie die altamerikanischen 7 Kulturvölker kannten Einrichtungen, die wir ihrer Funktion nach als ganz zweifellos „feudalen" Charakters betrachten, und es ist nicht einzusehen, warum nicht alle jene sozialen Institutionen, welchen die Herausdifferenzierung einer für den Krieg oder den Königsdienst lebenden Herrenschicht und ihre Sustentation durch privilegierten Landbesitz, Renten oder Fronden der abhängigen waffenlosen Bevölkerung zugrunde liegt, in den Begriff einbezogen werden sollten, die Amtslehen in Ägypten 8 und Babylon 9 ebensogut wie die spartanische Verfassung. 10 Der Unterschied liegt in der verschiedenen Art, wie die Kriegerklasse gegliedert und ökonomisch gesichert ist. Unter den verschiedenen Möglichkeiten ist die Dislokation des Herrenstandes als Grundherren über das Land hin diejenige „individualistische" Form des Feudalismus, welche uns im occidentalen Mittelalter (und in Ansätzen schon im Ausgang des Altertums) 11 scharf analysierbar entgegen5 Weber nimmt hier Bezug auf den Begriff des Feudalismus bei Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 2, S. 3—7; dazu ebd., S. 2 4 2 - 2 7 4 (für Vasallität und Benefizium in Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 12 (8), zitiert). 6 Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 12 (8), verweist in diesem Zusammenhang auf Rathgen, Japans Volkswirtschaft (dort S. XI, 2 0 - 2 2 , 24f.). 7 Dafür nennt Weber, ebd., Cunow, Inkareich (wo der Begriff des Feudalismus nicht verwendet wird). 8 Vgl. unten, S.413f. 9 Vgl. unten, S.385. 10 Vgl. unten, S.483f. 11 Die spätantike „Grundherrschaft" hatte Weber ausführlich im Schlußkapitel der „Römischen Agrargeschichte" behandelt (MWG I/2, S. 297-352). Sie wäre auch Gegenstand des geplanten, aber nicht zustandegekommenen Artikels „Kolonat" gewesen (vgl. oben, S. 56 sowie S. 312).

I.

Einleitung

323

tritt. Das mittelländische, und zwar speziell das hellenische, Altertum hat dagegen in der Frühzeit seiner Kulturentwicklung den „Stadtfeudalismus" in befestigten Orten zusammengesiedelter Berufskrieger gekannt. Nicht daß der „Stadtfeudalismus" die aus5 schließliche Form des Feudalismus im Altertum gewesen wäre, aber er hat die späteren Zentren der „klassischen" politischen Kultur in den Anfängen ihrer spezifischen politischen Entwickelung direkt beherrscht. Er bedeutete daher für sie doch noch etwas mehr als etwa die zwangsweise Einsiedlung des Landadels in man10 che Städte des italienischen Mittelalters. 12 Der Import einer fremden und überlegenen militärischen Technik vollzog sich im Altertum in Südeuropa auf dem Seewege und unter gleichzeitiger Verflechtung der zuerst ergriffenen Küstenorte in einen immerhin, wenigstens seiner geographischen Ausdehnung 15 nach, umfassenden Verkehr. Die feudale herrschende Klasse war zuerst regelmäßig zugleich diejenige, welche von jenem Verkehr Gewinn zog. Es führte deshalb die spezifisch antike feudale Entwickelung zur Bildung feudaler Stadtstaaten. Zentrale uropa wurde dagegen im frühen Mittelalter auf dem Landwege von einer der 20 Sache nach gleichartigen militär-technischen Entwickelung ergriffen. Als es zum Feudalismus reif wurde, fehlte ihm ein so stark, wie im Altertum, entwickelter Verkehr, es baute sich hier der Feudal lismus weit stärker auf ländlicher Unterlage auf und erzeugte A 54 i die Grundherrschaft. Das Band, welches die herrschende militäri25 sehe Schicht zusammenhielt, war deshalb hier das wesentlich persönliche der Lehnstreue, im Altertum das sehr viel festere des Stadtbürgerrechts. Das Verhältnis jenes antiken Stadtfeudalismus zur Verkehrswirtschaft erinnert nun an das Emporwachsen des freien Gewerbes in 30 unseren mittelalterlichen Städten, den Niedergang der Geschlechterherrschaft, den latenten Kampf zwischen „Stadtwirtschaft" und „Grundherrschaft" und die Zersetzung des feudalen Staates durch die Geldwirtschaft im späten Mittelalter und der Neuzeit. A b e r diese Analogien mit mittelalterlichen und modernen Erscheinun35 gen, scheinbar auf Schritt und Tritt vorhanden, sind zum nicht geringen Teile höchst unverläßlich und oft direkt schädlich für die

12 Vgl. unten, S.692.

324

Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

unbefangene Erkenntnis. 13 Denn jene Ähnlichkeiten können leicht trügerische sein und sind es tatsächlich nicht selten. Die antike Kultur hat spezifische Eigentümlichkeiten, welche sie von der mittelalterlichen wie von der neuzeitlichen scharf unterscheiden. Sie ist ihrem ökonomischen Schwerpunkt nach, bis an den Beginn der 5 Kaiserzeit, im Occident Küstenkultur, im Orient und Ägypten Stromuferkultur, mit einem geographisch extensiven und hohen Gewinn abwerfenden, interlokalen und internationalen Handel, der aber in der relativen Bedeutung der umgesetzten Güterquanta, von einigen bedeutsamen Intermezzi abgesehen, hinter dem späten 10 Mittelalter zurückbleibt. Zweifellos: die Objekte des Handels sind sehr mannigfaltig und umfassen auch die unedlen Metalle und zahlreichere Rohstoffe, als man a priori voraussetzen würde. Aber einerseits ist der Landhandel mit dem spätmittelalterlichen nur an einzelnen Punkten und auch dort nur in einzelnen Perioden ver- 15 gleichbar, und die Mehrzahl der Massenbedarfsartikel spielen auch im Seehandel nur in gewissen Höhepunkten politischer oder ökonomischer Machtentfaltung, vor allem in Fällen der Stapelmonopolisierung, eine wirklich beherrschende Rolle: in Athen, später in Rhodos, Ägypten und Rom. Die Summe des Jahresverkehrs, wel- 20 che Beloch 14 aus der Pacht der Peiraieuszölle in den Jahren 401/015 berechnet (Zoll V50[,] Pacht 30 bezw. 36 Talente, also Umsatz von ca. 2000 Talenten = gegen 13e Millionen] Frfancs]) 16 würde allerdings für den Peiraieus allein, und dazu so bald nach dem peloponnesischen Kriege 17 - auch bei Nichtberücksichtigung des 25 Unterschiedes der Kaufkraft des Geldes - immerhin etwa V10 des Außenhandels des heutigen Königreichs Griechenland (ca. 130A 54 r 140 Millionen]) ergeben, was gewiß respektabel ist und | geglaubt werden müßte, falls es endgültig dabei zu bleiben hätte, daß diese e

A: 13.

13 Dies richtet sich vor allem gegen Eduard Meyer (Wirtschaftliche Entwickelung, bes. S. 711 - 7 1 3 , 716; ders., Sklaverei im Altertum, S. 2 2 - 2 4 ) . 14 Weber zitiert Beloch, Handelsbewegung, S.626f. 15 Genauer, nach Beloch (Handelsbewegung, S.626), in den Jahren 401/400 und 400/399 v. Chr. Zugrunde liegt die Nachricht Andokides, De mysteriis 133. 16 Beloch, Handelsbewegung, S.627, rechnete die 2000 Talente nach dem Goldwert in etwa 11 Millionen Mark um. Wegen der Vergleichbarkeit mit dem folgenden Betrag hat Weber das Äquivalent in Francs angegeben. 17 Der Peloponnesische Krieg umfaßt die Zeit von 431 bis 404 v. Chr.

I. Einleitung

325

Zölle damals nur 2% betrugen und daß nur sie, nicht etwaige andere Gebühren mitverpachtet wurden. Hier ist aber schlechthin alles streitig. 18 Noch respektabler würde die Summe von IMillfion] (rhodischer) Drachmen ( - ca. 140 attischen Talenten) sich ausnehmen, auf welche, nach der Behauptung der Rhodier (NB!)[,j sich die Zolleinnahme ihrer (allerdings in fast allen hellenistischen Reichen exzessiv privilegierten) Insel vor der Begründung des Freihafens von Delos belaufen haben sollte (nachher: nur 150000 Drachmen!) 19 - wenn sie nicht ungeachtet ihres „offiziellen" Charakters ziemlich zweifelwürdig wäre. Daß vollends die 5% ige Seeverkehrsabgabe, von den bundesgenössischen Städten allein, - ohne Athen und die größten Inseln - , welche die Athener im 5. Jahrh. als Ersatz gewisser Bundesgenossenabgaben beschlossen, auch nur nach ihrem subjektiven Kalkül 1000 Talente hätte bringen können, wie Beloch 20 rechnet, erscheint mir ausgeschlossen. Die Thukydidesstelle 21 ist doch in ihrer Überknappheit keine zureichende Grundlage für das richtige Verständnis der Maßregel, und jene Zahl ist mit den 30-36 Talenten Peiraieusabgabenpacht unvereinbar. Und ein durch 5% ige Preiserhöhung der Seeimportwaren ablösbarer Tribut wäre ja ein Kinderspiel gewesen. Die 55 Millionen] Sesterzen (16 Millionen] Fr[an]cs) der ägyptischen Jahreseinfuhr zur See aus Indien unter Vespasian sind, da scheinbar die Lesung sicher ist,22 ein immerhin sehr bedeutender Posten, wahrscheinlich aber auch der bedeutendste, der im freien Privathandel, ohne Staatskontrolle und Staatssubvention, in der antiken Welt umgesetzt wurde. Man muß bei allen antiken Zahlen überdies immer bedenken, daß nicht nur Sachgüter, sondern auch Menschen (Sklaven) ein, seiner Transportfähigkeit wegen, in Zeiten der Handelsblüte sehr stark ins Gewicht fallendes und, in Friedenszeiten, bei guter Qualität oft hoch im Preise stehendes Handelsobjekt darstellten. Abhängigkeit von fremder Getreide zufuhr ist, wo sie im Altertum als dauernde 1 8 W e b e r spielt o f f e n b a r auf d i e Kritik an B e l o c h bei Bücher, Zur g r i e c h i s c h e n Wirts c h a f t s g e s c h i c h t e , S. 2 1 9 - 2 2 5 , an. 1 9 W e b e r folgt B e l o c h , H a n d e l s b e w e g u n g , S. 620. Z u g r u n d e liegt die N a c h r i c h t P o l y b i o s 3 1 , 7 , 12 (vgl. a u c h unten, S. 666). B e l o c h b e r e c h n e t 133 1 /3 a t t i s c h e Talente. 2 0 W e b e r zitiert B e l o c h , H a n d e l s b e w e g u n g , S . 6 2 9 . 2 1 G e m e i n t ist T h u k y d i d e s 7, 28, 4, zitiert bei B e l o c h , H a n d e l s b e w e g u n g , S . 6 2 9 , A n m . 3. 2 2 W e b e r b e z i e h t s i c h auf d i e N a c h r i c h t Plinius, H i s t o r i a naturalis 6, 101, zitiert bei B e l o c h , H a n d e l s b e w e g u n g , S. 631, A n m . 1.

326

Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

Erscheinung besteht, stets ein Tatbestand, der die öffentliche Gewalt in Bewegung setzt und institutionelle und politische Konsequenzen der weittragendsten Art nach sich zieht, weil der Privathandel nicht als zulänglich gilt, die Versorgung zu sichern (Leiturgieen wie in Athen, Staatsankauf aus hypothekarisch gesicherten 5 Geldern und Verteilung an die Bürger wie in Samos, 23 - usw. bis zu den großartigen Maßregeln Roms). Nun kennt bekanntlich nicht nur das Mittelalter, sondern auch der Merkantilismus und heute noch Rußland eine Getreidehandelspolitik mit verwandten Zielen. A 55 l Aber mit | der politischen Bedeutung etwa des babylonischen und 10 ägyptischen Magazinsystems oder gar des römischen Annonarsystems kann sich die Magazinpolitik der absoluten Staaten, selbst diejenige Rußlands (wo sie am entwickeltsten ist), nur sehr von fern vergleichen. Zudem sind (selbst in Rußland) Ziele und Mittel andere. Die Eigenart der antiken Getreidepolitik gegenüber der 15 modernen ist wesentlich begründet durch den, gegenüber dem heutigen Proletariat, gänzlich andern Charakter des antiken sogenannten „Proletariats". Denn dieses war ein Konsumenten-Proletariat, ein Haufen deklassierter Kleinbürger, nicht aber, wie heute, eine Arbeiterklasse, welche die Produktion auf ihren Schultern 20 trägt. Das moderne Proletariat, als Klasse, fehlte. - Denn die antike Kultur ruhte, teils infolge der geringen Unterhaltskosten des Menschen auf den Schauplätzen ihrer Blüte, teils aber aus historischpolitischen Gründen, entweder geradezu dem Schwerpunkt nach auf Sklaverei - so in Rom in spät-republikanischer Zeit - , oder sie 25 war wenigstens, wo privatrechtlich „freie" Arbeit vorwog: im Hellenismus und in der Kaiserzeit, doch in einem solchen Grade von Sklavenarbeit durchsetzt, wie es im europäischen Mittelalter nicht vorkam. Gewiß zeigen die Ostraka und Papyri der Ptolemäerzeit und des Kaiserreichs, 24 ebenso wie z. B. der Talmud, 25 auch außer- 30 halb des gelernten Handwerks die Bedeutung freier Arbeit im hellenistischen Orient, und auch in den Inschriften 26 tritt sie sehr klar 2 3 Weber bezieht sich auf das von Thalheim, Gesetz von Samos, behandelte sog. Getreidegesetz von Samos (um 200 v. Chr.). 2 4 Die Ostraka und Papyri waren in dieser Hinsicht insbesondere von Wilcken, Griechische Ostraka 1, S. 6 8 7 - 7 0 3 , ausgewertet worden. 2 5 Vgl. unten, S.593f. 2 6 Dazu vgl. etwa die umfangreiche inschriftliche Dokumentation von Handwerkervereinen im hellenistischen Osten bei Ziebarth, Griechisches Vereinswesen, bes. S. 100-110.

I.

5

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Einleitung

327

hervor. Der spezifisch kapitalistische Begriff des „Arbeitgebers" 27 (epYo5ÖTT|.aß(üv (wörtlich: „der ein Werk Nehmende") bezeichnet denjenigen, der die Ausführung einer Arbeit durch einen (Dienst-)Vertrag mit dem eigentlichen .Arbeitsherrn' bzw. .Kunden' übernimmt. - Weber stützt sich offenbar auf Thalheim, Ergolabos; vgl. auch unten, S. 5 3 1 - 5 3 3 . 5 9 Siehe unten, S.582.

I. Einleitung

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Leibeigenschaftsperiode der Fall war. 60 Die Bedeutung dieser Erwerbsquellen und damit die spezifisch politische Bedingtheit der ökonomischen „Blüte" der Städte, die sich in den schroffen Peripetieen derselben äußert, ist auch weiterhin durch das ganze Altertum hin eine sehr große geblieben. Die antiken Städte waren stets in weit höherem Maße als die mittelalterlichen Konsum-, in weit geringerem dagegen Produktionszeiten. Der Verlauf der antiken Städteentwicklung hat trotz zahlreicher ausgeprägt „stadtwirtschaftlicher" Erscheinungen (s.u.)61 nirgends zu einer „Stadtwirtschaft" von so stark dem begrifflichen „Idealtypus" angenähertem Gepräge geführt, wie in zahlreichen Städten des Mittelalters: eine Folge des ÄJlsimkulturcharaktcrs der Antike. Wenn nun im Altertum 1. die Entstehung von städtischen Exportgewerben in gewissen Artikeln von hoher Intensität und Qualität der Arbeit, 2. dauernde Abhängigkeit von fernher kommenden Getreidezufuhren, 3. Kaufsklaverei, 4. starkes Vorwalten spezifischer Handelsinteressen in der Politik sich zeigt, so fragt es sich: sind diese stoßweise auf- und abschwellenden „chrematistischen" Epochen 62 solche mit „ kapitalistischer" Struktur? Es kommt auf die Abgrenzung des Begriffs „kapitalistisch" an, die naturgemäß sehr verschieden erfolgen kann. Nur das eine wird man jedenfalls festhalten dürfen, daß unter „Kapital" stets privatwirtschaftliches „&werZ«kapital" verstanden werden muß, wenn überhaupt die Terminologie irgend welchen klassifikatorischen Wert behalten soll: Güter also, welche der Erzielung von „Gewinn" im Güterverkehr dienen. Jedenfalls ist also „verkehrswirtschaftliche" Basis des Betriebs zu fordern. Einerseits also: daß die Produkte (mindestens zum Teil) Verkehrsobjekte werden. Andererseits aber auch: daß die Produktionsmittel Verkehrsobjekte waren. Nicht unter den Begriff fällt mithin auf agrarischem Gebiet jede grundherrliche Verwertung der personemcchlWch Beherrschten als eines bloßen Renten-, Abgaben- und Gebührenfonds wie im früheren Mittelalter, wo die Bauern durch Besitz-, Erbschafts-, Verkehrs60 Dies wird näher dargestellt bei v. Schulze-Gävernitz, Gerhart, Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland. - Leipzig: Duncker & Humblot 1899, S. 58f. (Die Leibeigenschaft war 1861 durch Zar Alexander II. beseitigt worden.) 61 Siehe unten, S. 368, 478 und 491; dazu auch oben, S. 12 und 86 mit Anm. 23. 62 Chrematistlsch (zu grlech. XPW«. .Geld'): ,vom Streben nach Gelderwerb beherrscht'.

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(3. Fassung)

und Personalabgaben in natura und in Geld genützt wurden: - da A 58 r hier weder der besessene | Boden noch die beherrschten Menschen „Kapital" sind, weil die Herrschaft über beide (im Prinzip) nicht auf Erwerb im freien Verkehr, sondern auf traditioneller Bindung, meist beider Teile, aneinander beruht. Auch das Altertum kennt diese Form der Grundherrschaft. Es kennt andererseits die ver/ce/znwirtschaftliche V&rzeMeriverpachtung des Grundbesitzes: dann ist der Grundbesitz Äenienfonds, und „kapitalistischer" Betrieb fehlt. Die Ausnutzung der Beherrschten als Arbeitskraft im eigenen Betrieb des Herrn kommt im Altertum sowohl als Fronhofsbetrieb mit Kolonen (Pharaonenreich, Domänen der Kaiserzeit) wie als Großbetrieb mit Kaufsklavenarbeit, wie in Kombinationen beider vor. Der erstere Fall (Fronhof) macht klassifikatorische Schwierigkeiten, weil hier die verschiedensten Abstufungen von formell „freiem" Bodenverkehr und „freier" Pacht der Kolonen (also verkehrswirtschaftlicher Basis) bis zu gänzlicher traditioneller sozialer Gebundenheit der arbeitpflichtigen Kolonen an den Herrn und des Herrn an sie möglich sind. Immerhin ist das letztere durchaus die Regel, wo immer Kolonenbetrieb besteht. Die Kolonen sind dann zwar für ihre Person nicht „Kapital", sie sind dem selbständigen freien Verkehr entzogen, aber ihre Dienste können, zusammen mit dem Boden, Verkehrsobjekt sein und sind es (Orient und Spätkaiserzeit) auch. Der Betrieb ist in diesen Fällen ein Mittelding; er ist „kapitalistisch", sofern für den Markt produziert wird und der Boden Verkehrsgegenstand ist, - nicht kapitalistisch, sofern die Arbeitskräfte als Produktionsmittel sowohl dem Kauf wie der Miete im freien Verkehr entzogen sind. In der Regel ist das Bestehen des Fronhofsbetriebs aber eine Übergangserscheinung, sei es vom „Oikos" zum Kapitalismus, sei es umgekehrt: zur Naturalwirtschaft. Denn immer ist es ja ein Symptom von (relativer) Kapitalsc/zwäc/ie, speziell Betriebskapitalschwäche, welche ihren Ausdruck in der Abwälzung des Betriebsmittelbedarfs auf die abhängigen Wirtschaften und der Ersparnis l.von Inventarkapital, 2. entweder von Sklavenkaufkapital oder von Lohnfonds durch die Ausnutzung der Zwangsarbeit, findet, die ihren Grund (regelmäßig) in (relativ) unentwickelter Intensität des Güterverkehrs hat. Der .Kaw/sklavenbetrieb (d.h. der Betrieb unter Verhältnissen, in denen die Sklaven normale Verkehresobjekte sind, gleichviel ob sie in concreto durch Kauf erworben wurden) auf eigenem oder ge-

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Einleitung

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pachtetem Boden ist, ökonomisch angesehen, natürlich „kapitalistischer" Betrieb: Boden und Sklaven sind Gegenstand freien Verkehrs und zweifellos „Kapital", die Arbeitskraft | wird, anders als A 59 i im Betrieb mit „freier Arbeit", gekauft und nicht gemietet, oder, wenn (ausnahmsweise) gemietet, dann nicht von ihrem Träger (dem Arbeiter), sondern von dessen Herrn. 63 Der Kapital bedarf für das gleiche Quantum Arbeitskraft ist cet[eris] parfibus] also ein wesentlich größerer als bei Verwendung „freier" Arbeit, - ebenso wie der Bodenkäufer cetferis] parfibus] mehr Kapital aufzuwenden hat als der Bodenpächter. Der kapitalistische Großbetrieb mit „freier" Arbeit endlich, welcher bei gleichem Grade der Kapitalakkumulation die weitaus größere Kapitalintensität des Betriebs an sachlichen Produktionsmitteln ermöglicht, ist dem Altertum normalerweise, auf dem Gebiet der Privatwirtschaft nicht als Dauererscheinung bekannt, weder außerhalb noch innerhalb der Landwirtschaft. Gewiß findet sich der „Squire"-Betrieb 64 im Orient und in Hellas, aber gerade in Zeiten und Gebieten, wo traditionelle Regeln herrschen (hellenische Binnengebiete, Talmud, gewisse hellenistische Gebiete), nicht in den Gebieten fortschreitender ökonomischer Entwicklung. Große Dauerbetriebe mit durchweg nur kontraktlich verpflichteter, also formell ,,freier"[,] Arbeit p finden sich außerhalb der später noch zu erörternden 65 Staatsunternehmungen, soviel bekannt, jedenfalls nicht in einem praktisch, ökonomisch oder sozial ins Gewicht fallenden Maße an den „klassischen" Stätten antiker Kultur: anders (teilweise) im Spätorient. Man ist nun heute gewohnt, den Begriff des „kapitalistischen Betriebs" gerade an dieser Betriebsform zu orientieren, weil sie es ist, welche die eigenartigen sozialen Probleme des modernen „Kapitalismus" gebiert. Und man hat daher von diesem Standpunkt aus für das Altertum die Existenz und beherrschende Bedeutung „kapitalistischer Wirtschaft" in Abrede stellen wollen. 66 p A: Arbeit, 6 3 Vgl. z.B. unten, S. 525, 527t., 536; dazu S. 579, Anm. 24. 6 4 Gemeint ist der von einem iandsässigen Gutsherrn geleitete Betrieb; vgl. auch unten, S. 486, 540 und 542. 6 5 Eine entsprechende Erörterung der spätantiken kaiserlichen Rüstungs- und Textilbetriebe fehlt. 66 Weber dürfte sich insbesondere auf Sombart, Besprechung Weber, Römische Agrargeschichte, S.353, sowie ders., Moderner Kapitalismus 1, S.67 (dazu S.64), beziehen.

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(3.

Fassung)

Wenn man indessen den Begriff der „kapitalistischen Wirtschaft" nicht unmotivierterweise auf eine bestimmte Kapitalverwertungsart: die Ausnutzung fremder Arbeit durch Vertrag mit dem „freien" Arbeiter, beschränkt - also soziale Merkmale hineinträgt - , sondern ihn, als rein ökonomischen Inhalts, überall da gel- 5 ten läßt, wo Besitzobjekte, die Gegenstand des Verkehrs sind, von Privaten zum Zweck verkehrswirtschaftlichen Erwerbes benutzt werden, - dann steht nichts fester als ein recht weitgehend „kapitalistisches" Gepräge ganzer - und gerade der „größten" - Epochen der antiken Geschichte. 67 Nur muß man sich auch hier vor Über- 10 treibungen hüten: - darüber q später 68 - , und q ferner zeigen die Bestandteile des Kapitalbesitzes sowohl wie die Art seiner VerwerA 59 r tung charakteristische, für | den Gang der antiken Wirtschaftsgeschichte bestimmend wichtige, Eigenheiten. Unter den Bestandteilen des Kapitalbesitzes fehlen natürlich alle jene Produktionsmittel, 15 welche durch die technische Entwickelung der letzten beiden Jahrhunderte geschaffen sind und das heutige „stehende Kapital" ausmachen; auf der anderen Seite tritt ein wichtiger Bestandteil hinzu: Schuld- und Kaufsklaven. Unter den Arten der Kapital Verwertung tritt die Anlage im Gewerbe überhaupt, speziell aber in gewerbli- 20 chen „Großbetrieben"^ zurück; dagegen besitzt im Altertum eine heute nach Art und Maß der Bedeutung ganz in den Hintergrund getretene Kapitalverwertungsart eine geradezu dominierende Tragweite: die Staatspacht. Die klassischen antiken Richtungen der Kapitalanlage sind: 1. Übernahme von oder Beteiligung an Steuer- 25 pachten und öffentlichen Arbeiten, 2. Bergwerke, 3. Seehandel (mit eigenem Schiffsbesitz oder Beteiligung daran, speziell durch Seedarlehen), 4. Plantagenbetrieb, 5. Bank- und bankartige Geschäfte, 6. Bodenpfand, 7. Überlandhandel (nur sporadisch als kontinuierlicher Großbetrieb, - im Occident wohl nur in den ersten beiden 30 Jahrhunderten der Kaiserzeit nach dem Norden und Nordosten zu - meist als Commendaanlage im Karawanenverkehr), 8. Vermietung von (ev[entuell] ausgebildeten) Sklaven oder ihre Ausstattung

q A: s p ä t e r , - u n d 6 7 G e m e i n t ist in erster Linie d a s . k l a s s i s c h e ' A t h e n ( 5 . - 4 . J a h r h u n d e r t v. Chr.) s o w i e R o m in der Zeit der ü b e r s e e i s c h e n E x p a n s i o n ( s p ä t e r e s 3 . - 1 . J a h r h u n d e r t v. Chr.). 6 8 S i e h e unten, S. 3 5 7 - 3 5 9 .

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als selbständige Handwerker oder Händler gegen „Obrok", 69 wie die Russen sagen würden, endlich 9. kapitalistische Ausnutzung von gelernten gewerblichen Sklaven, die zu Eigentum oder pfandweise besessen wurden, mit oder ohne „Werkstätten" (Beispiele 5 unten 70 bei Athen). Die Häufigkeit der Verwendung von Sklavenarbeit im eigenen privaten gewerblichen Betrieb ist nicht zu bezweifeln. Selbstmitarbeitende Handwerker mit einigen Sklaven werden vorgekommen sein. Kapitalistische Nutzung kommt in der oben erwähnten, 71 weiterhin noch zu erörternden 72 Form des ep10 yacraipiov vor. Für die „klassische" Zeit ist die Ausnutzung der eigenen Sklaven in Form der „unfreien Hausindustrie" (Hingabe der Rohstoffe und Arbeitsgerätschaften seitens des Herrn, Ablieferung der im Familienhaushalt des Sklaven daraus gefertigten Produkte), welche im Orient zweifellos, in Altägypten vorherrschend ist, nicht 15 sicher nachzuweisen, obwohl gewiß vorhanden. Wenn dagegen die exportierten attischen Vasen in größerer Zahl (Maximum bisher ca. 80) den gleichen Namen aufweisen, 73 so ist dies natürlich ein „Künstler" (nicht aber: ein „Fabrikant" oder „Verleger"), dessen Namen dann ev[entuell] eine Familie von Töpfern, in der das tech20 nische Können, als Geheimnis, erblich sich fortpflanzt, als Eponymos beibehält. 74 | Die Existenz von Handwerkerdör/era (Sfjfxov) in A 60 l Attika ist für diesen familienhaften Handwerksbetrieb hier, wie sonst, charakteristisch (s.u.). 75 Für die quantitative wie qualitative Bedeutung kapitalistischer 25 Erwerbswirtschaft im Altertum waren nun jeweils eine Reihe von Einzelmomenten maßgebend, die in sehr verschiedener Kombination miteinander aufgetreten sind. 6 9 O b r o k (russ. o b r ö k ) war die A b g a b e von L e i b e i g e n e n in R u ß l a n d , d i e mit E r l a u b n i s ihres a d l i g e n Herrn d e s s e n Gut v e r l a s s e n hatten u n d a n d e r e n o r t s a r b e i t e t e n o d e r ein G e w e r b e b e t r i e b e n , an d i e s e n . 7 0 Vgl. unten, S. 5 2 8 - 5 3 0 . 71 Siehe oben, S.330. 7 2 S i e h e unten, S . 3 4 4 f . u n d 350. 7 3 B e l o c h , G r o ß i n d u s t r i e im Altertum, S. 19f., gibt e i n e A n z a h l v o n B e i s p i e l e n , w o b e i der N a m e d e s N i k o s t r a t o s (aus der Zeit d e s P e i s i s t r a t o s ) mit 76 N e n n u n g e n an der S p i t z e steht. Er s p r i c h t (ebd., S . 2 0 ) v o n „ e i n i g e n g r o ß e n F a b r i k e n " für Tonwaren in Athen. 7 4 V g l . d a z u W e b e r s K o r r e k t u r n a c h t r a g , unten, S . 7 2 8 , Fn. 1. 7 5 Eine weitere Erörterung findet s i c h in d e n „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e n " nicht. V g l . a l l e n f a l l s e t w a d i e a l l g e m e i n e n B e m e r k u n g e n unten, S . 5 2 6 ( F a m i l l e n h a f t i g k e i t d e s a n t i k e n H a n d w e r k s ) , s o w i e o b e n , S . 3 3 4 ( f e h l e n d e K o n z e n t r a t i o n d e s H a n d w e r k s in d e n antiken Städten).

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1. Die Bedeutung der Edelmetallvorräte muß für das Tempo kapitalistischer Entwickelung zweifellos hoch angeschlagen werden. Allein heute besteht vielfach die Neigung, 76 ihre Bedeutung für die Struktur der Wirtschaft selbst zu überschätzen. Die Wirtschaft Babylons, bei fehlenden Minen und offenbar - die Beschänkung des Edelmetalls auf die Wertmesserfunktion 77 zeigt es ebenso wie die Korrespondenzen der Könige mit den Pharaonen 78 - sehr geringem Metallvorrat, ist schon in ältester Zeit tauschwirtschaftlich so entwickelt wie die irgend eines anderen orientalischen Landes, entwickelter als die des goldbesitzenden Ägypten; die - wenn die neueren Berechnungen auch nur annähernd stimmen - kolossalen Edelmetallvorräte des ptolemäischen Ägypten 79 andererseits haben, trotz voll durchgeführter Ge/ciWirtschaft, den „Kapitalismus" als Strukturprinzip der Wirtschaft nicht zu irgendwelcher besonders bemerkenswerten Höhe, insbesondere nicht zu einer Entwikkelung wie im gleichzeitigen Rom, gedeihen lassen; die wunderliche Ansicht 80 endlich, daß das Hereinbrechen der Naturalwirtschaft in spätrömischer Zeit Folge der beginnenden Unergiebigkeit der Bergwerke gewesen sei, stellt den Sachverhalt vermutlich genau auf den Kopf: wo damals eine Unergiebigkeit der Minen sich überhaupt eingestellt hat, dürfte sie ihrerseits Folge der, aus ganz anderen Gründen, im Bergbau an Stelle des in klassischer Zeit gerade hier heimischen kapitalistischen Sklavenbetriebes getretenen iöe/npächterwirtschaft gewesen sein.81 Die mächtige Rolle, welche die Verfügung über große Edelmetallvorräte und ganz besonders die plötzliche Erschließung solcher kulturhistorisch gespielt haben, soll damit nicht im geringsten geleugnet werden: das alte Fronkönigtum (s.u.) 82 ruht auf dem „Hort" des Königs; ohne die Bergwer-

7 6 Vgl. das Folgende mit Anm. 80. 7 7 Vgl. dazu unten, S.395. 7 8 Weber fußt auf den Inhaltsangaben bei Wlnckler, Tontafeln von Tell-el-Amarna, S. VII—XI (Briefe 3, 8, 10). 7 9 Vgl. dazu unten, S.553. 8 0 Die Anspielung bezieht sich auf Delbrück, Geschichte der Kriegskunst 2, S.224f. Vgl. dazu auch die Bandeinleitung, oben, S. 60f. mit Anm. 62. 81 Eine ausführliche Darstellung dieses Wandels bietet Rostowzew, Staatspacht, S. 4 4 5 - 4 5 8 . 8 2 Siehe unten, S.364f.

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ke von Laurion gab es keine attische Flotte (?); 83 die Verwandlung von hellenischen Tempelschätzen in Umlaufsmittel könnte manche Preisänderungen im 5./4. Jahrh., m/ibewirkt (?) und diejenige der Schätze des Perserkönigs die hellenistische Städteentwickelung erleichtert haben; und die Wirkung des kolossalen kriegerischen Edelmetallimports in Rom im 2. Jahrh. v. Chr. ist bekannt. Aber die Bedingungen dafür, | daß jene Edelmetallvorräte damals in der Art A 60 r ihrer Nutzbarmachung so, wie geschehen, und nicht anders (z.B. thesaurierend, wie im Orient), verwendet wurden, mußten vorher vorhanden sein;r - „schöpferisch" in dem Sinne der Erzeugung qualitativ neuer Wirtschaftsformen haben auch im Altertum Edelmetallquanta als solche nicht gewirkt. 2. Die ökonomische Eigenart des kapitalistisch verwendeten Sklavenbesitzes liegt, verglichen mit dem System der „freien" Arbeit, zunächst in der gewaltigen Steigerung des zur Beschaffung der lebendigen Arbeitskraft aufzuwendenden und durch Ankauf in ihr festzulegenden Kapitals; - bei Nichtbeschäftigung des Sklaven im Fall flauen Geschäftes bringt dieses Kapital nicht nur - wie die Maschine - keine Zinsen, sondern es „frißt" überdies (im wörtlichen Sinne) kontinuierliche Zuschüsse. Daraus allein schon folgt: Verlangsamung 1. des Kapitalumschlags, 2. des Kapitalbildungsprozesses überhaupt. Sodann: in dem damit zusammenhängenden, großen Risiko, welches gerade diese Form von Kapital trägt. Dies Risiko liegt nicht nur in dem Umstand begründet, daß die bei kapitalistischer Ausnutzung sehr hohe und dabei überdies ganz unberechenbare Mortalität der Sklaven ökonomisch ein Kapitalsverlust ihres Besitzers ist, auch nicht nur darin, daß jede politische Schlappe die Sklavenkapitalien gänzlich vernichten konnte, sondern außerdem und namentlich in den kolossalen Schwankungen der Sklavenpreise (Lucullus verkaufte Beutesklaven zu 4 Drachmen 84 in einer Zeit, wo man bei mäßig versorgtem Markt im Frieden r A: sein: 8 3 Gemeint sind die Silberbergwerke von Laureion im Süden Attikas, wo kurz vor 483 v.Chr. besonders ergiebige neue Gruben erschlossen wurden, deren Erträge zur Finanzierung einer umfangreichen Kriegsflotte dienten. 8 4 Zugrunde liegen die Nachrichten über den Feldzug gegen Mithridates VI. in Zentralkleinasien bei Plutarch, Lucullus 14, 1 sowie Appian, Mithridateios 78, 344 (73 v.Chr.).

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Hunderte von Drachmen erlegen mußte, um einen brauchbaren Arbeiter zu kaufen), welche die stete Gefahr der Entwertung des angelegten Kapitals mit sich brachten s . Die Basis eines sicheren Kostenkalküls, die unumgängliche Voraussetzung differenzierter „Großbetriebe", fehlte. Dazu tritt ein ferneres Moment: die patriarchale Sklaverei, wie sie im Orient überwog, gab dem Sklaven entweder die Stellung eines Hausgenossen des Herrn oder sie konzedierte ihm den Besitz einer eigenen Familie. Im letzteren Fall war auf eine Herauswirtschaftung des möglichen Maximums von Profit von vornherein verzichtet. Der Sklave leistete dann entweder Abgaben: dann war er Rentenfonds, nicht Arbeitskraft, oder, wo er eventuell mit seiner Familie - als Arbeitskraft diente, war er Fronarbeiter oder unfreier Heimarbeiter mit allen Schranken der Einträglichkeit eines solchen. Eine wirklich „kapitalistische" Behandlung des Sklaven nach Art eines sachlichen Produktionsmittels fand dagegen ihre Schranke in der Abhängigkeit von stetiger Versorgung des Sklavenmarktes, und das heißt: von erfolgreichen A61 l Kriegen. | Denn eine volle kapitalistische Ausnutzung seiner Arbeitskraft war nur bei nicht nur rechtlicher, sondern auch faktischer Fami licn/o.vig/ce/i der Sklaven möglich: bei einem Kasernensystem, welches aber dann die Ergänzung der Sklavenklasse aus der eigenen Mitte unmöglich machte. Anderenfalls wären Kosten und Unterhalt der Weiber und der Aufzucht der Kinder dem Anlagekapital als toter Ballast mit zur Last gefallen. Dies ließ sich zwar bezüglich der Weiber unter Umständen - aber bei der Eigenart der antiken Bedarfsdeckung und der Bedeutung der Hausspinnerei und -weberei keineswegs regelmäßig - durch textilgewerbliche Ausnutzung vermeiden. Bezüglich der Kinder kann eine Stelle Appians (b[ella] cfivilia] 1, 7) dahin 85 verstanden werden, daß wenigstens in gewissen Perioden des römischen Altertums spekulative Sklavenaufzucht massenhaft vorgekommen sei, also, wie in den nordamerikanischen Südstaaten, eine Arbeitsteilung zwischen Produktion und Verwertung wenigstens für einen Teil des Sklavenka-

s A: brachte 85 W e b e r b e z i e h t s i c h auf A p p i a n , B e l l a civilia 1, 7, 29, d e r v o n großen G e w i n n e n d e r V e r m ö g e n d e n d u r c h d e n ( a n g e b l i c h e n ) . K i n d e r r e i c h t u m d e r Sklaven' In d e r Zeit vor den gracchischen Reformen spricht.

5

10

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20

25

30

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343

pitals stattgefunden habe. Diese Deutung bleibt jedoch etwas fraglich. Die schroff schwankende Preisbildung des Sklavenmarkts mußte den Aufzuchtsgewinn unsicher machen. Für die Hauptverschleißgebiete der Sklavenarbeit: Plantagenbau, Seefahrt, Bergbau, 5 Steuereintreibungsgeschäft, war ferner weibliche Arbeitskraft ungeeignet. Und in der ¿>werö.vwirtschaft war es denn auch die Regel, daß man sich in der Hauptsache auf den Verbrauch männlicher Sklaven (zu Catos Zeit der einzigen als Gutsarbeiter, ebenso der einzigen im attischen e p y c i G T n p i o v nachweisbaren) beschränkte, 10 wenn man dies tun konnte, d.h.: wenn der chronische Kriegszustand die stetige Versorgung des Marktes übernahm. Die weiblichen Sklaven dienten der Prostitution oder der Hausarbeit. Fand eine kontinuierliche Versorgung längere Zeit nicht statt, so konnte der Nachwuchs nur durch Zerfall der Sklavenkasernen und Her15 Stellung des Familienlebens des Sklaven, d.h. Abwälzung des Interesses an der Reproduktion des Sklavenkapitals auf den Sklaven selbst, damit aber wiederum: Verzicht auf die schrankenlose Ausnutzung seiner Arbeitskraft, garantiert werden. Ein solcher Verzicht mußte aber, gegenüber dem System der gefesselt unter der 20 Peitsche arbeitenden Plantagensklaven, überall da eine reine Einbuße an Profit bedeuten, wo nicht gleichzeitig eine Form gefunden wurde, ökonomisches £7gminteresse des Sklaven für den Herrn nutzbar zu machen. Denn neben der Labilität des Sklavenkapitals und dem unkalkulierbaren Risiko, mit dem es belastet war, wirkte 25 im Fall der direkten Verwertung des Sklaven als Arbeitskraft im Großbetrieb natürlich vor allem das fehlende | Eigeninteresse des A 61 r Sklaven jedem technischen Fortschritt und jeder Intensivierung und Qualitätssteigerung entgegen. Die für die Arbeitsleistung entscheidenden „ethischen" Qualitäten der Sklaven sind bei ihrer Be30 nutzung im Großbetrieb die denkbar schlechtesten. Dem Verschleiß des Sklavenkapitals selbst trat dabei der Verschleiß sowohl des Arbeitsvieh- als des Werkzeugkapitals und der Stillstand der Werkzeugtechnik (z.B. der Pflüge) 86 zur Seite. Über ersten Punkt wird ausdrücklich geklagt: die Verwendung der Sklavenarbeit zur 35 Getreide Produktion im großen wurde dadurch - wegen der Ar-

8 6 Z u r P f l u g t e c h n i k v g l . o b e n , S . 2 5 6 . D i r e k t ü b e r l i e f e r t ist l e d i g l i c h d i e K l a g e unsorgfältiges Pflügen der Sklaven bei Columella

1,7,6.

über

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beitsintensität der antiken Getreideanbautechnik - unmöglich, 87 aber überhaupt waren die Sklaven nur auf gutem Boden und bei niedrigem Preisstand des Sklavenmarktes im Großbetrieb mit wirklich beträchtlichem Gewinn verwertbar und wirkte ihre Verwendung regelmäßig in der Richtung der Extensität. Und - was noch wichtiger war - diese Eigenart der Sklavenarbeit hinderte auf gewerblichem Gebiet nicht nur die Verfeinerung der Werkzeugtechnik, sondern überhaupt jene Kombination von präzis ineinandergreifenden differenzierten Arbeitskräften, welche gerade das Wesen der spezifisch modernen Betriebsformen ausmacht, für welche ja doch nicht die bloße Arbeiterza/i/ charakteristisch ist. Gelernte gewerbliche Arbeit in Gestalt eines arbeitsteiligen Kaufsklavenbetriebes im großen zu verwerten, konnte aus dem gleichen Grunde zweifellos als eine normale Erscheinung - denn in Einzelfällen, aber dann stets in geringem Umfang, kommt sie (s[iehe] später) 88 vor - im Altertum so wenig in Frage kommen, wie es sonst irgendwo geschehen ist. Selbst das wesentlich eine Anhäufung von £7«ze/arbeitern darstellende ¿pyao-rnpiov fand wesentlich an den ökonomisch stark begünstigten Plätzen, wie Athen, Rhodos, Alexandreia usw., seine Stätte, und auch da stets als Annex kaufmännischer Betriebe oder eines Rentenvermögens. Denn wenn Überschüsse gewerblicher Fronleistungen oder unfreier Heimarbeit oder der Erzeugnisse von großen Hauswirtschaften fürstlicher oder halbfürstlicher „Oiken" auch nicht selten auf dem Markt erscheinen, so muß man sich natürlich sehr hüten, dies mit der Existenz von Sklaven„fabriken" auf der Basis der /Cau/sklaverei zu verwechseln. Selbst halbkapitalistische Gebilde, wie sie die Verwendung von Zwangsarbeit zur Schaffung von gewerblichen „Nebenbetrieben" seitens ganz großer Sklavenbesitzer oder des Monarchen darstellen, und welche ihren Typus in der Neuzeit in vielen russischen „Fabriken" des 18. und des ersten Drittels des 19. Jahrh. finden, 89 können nur auf (faktisch) monopolistischer' Basis bestet A: monopolitischer 8 7 Weber bezieht sich auf Columella 1, 7, 6 (unerlaubte Vermietung von Ochsen, ungenügende Fütterung des Viehs). Nachrichten über den „Verschleiß" von Werkzeugkapital durch Sklaven sind in der Antike nicht belegt; zu den Schäden durch Sklaven beim Getreidebau Columella ebd. 8 8 Siehe unten, S.348f., 355 und 358. 8 9 Die hier gemeinten „Leibeigenenfabriken" sind bereits oben, S. 329f., genannt.

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hen und haben bestimmte | Voraussetzungen. Diese Voraussetzun- A 62 i gen: billige Nahrung, Monopolpreise der Produkte, außer ihnen aber noch: billiger Sklavenpreis, und folglich sehr hohe, das Todesrisiko deckende Exploitationsrate 90 (selbst bei Demosthenes und 5 Aischines 91 30 bis 100%) 92 mußten auch vorhanden sein, wenn die Verwendung von gewerblichen Kaufsklaven im e p y a o x T i p i . o v des Herrn dauernd möglich sein sollte: Auch dann blieben aber diese „Betriebe" meist auf höchstens einige Dutzende von Arbeitern beschränkt. Es fehlte das „stehende Kapital", welches zur „Fabrik" 10 gehört. Beliehen wurden die Sklaven, nicht die „Werkstatt". Die Sklaven sind die Werkstatt, ihre Verpflegung durch den Herrn, nicht ihre Verwendung im konzentrierten „Betriebe" ist das Entscheidende. Die „Werkstatt" ihrerseits war Teil des „Oikos", und alle jene so folgenschweren Rechtsentwicklungen, welche - viele Jahr15 hunderte vor Entstehung unserer „Fabriken" - die Trennung von Familienhaushalt und „Werkstatt", von Privat- und Geschäftsvermögen schon im 13./14. Jahrh. begleiteten, 1 blieben daher dem Altertum gänzlich unbekannt. (Es fehlen deshalb auch - mit wenigen charakteristischen Ausnahmen, speziell in der Siaatepacht,2 - alle 20 jene, das Perennieren des Betriebes, durch die wechselnden Schicksale der Vermögenszusammensetzung hindurch, sichernden „Unternehmungsformen": Aktiengesellschaft u.dgl.) Die großbetriebliche Massenverwendung von Sklaven in Bergwerken, Steinbrüchen und bei öffentlichen Arbeiten ist fast gänzlich Verwertung unge-

9 0 G e m e i n t ist d a s in Prozenten v o m Kaufpreis a u s g e d r ü c k t e j ä h r l i c h e E i n k o m m e n , d a s der E i g e n t ü m e r d u r c h die A r b e i t d e s Sklaven erzielte. 9 1 Die Q u e l l e n für F r a n c o t t e (vgl. die n a c h f o l g e n d e A n m . ) s i n d für D e m o s t h e n e s d e s sen drei R e d e n ( O r a t i o n e s 2 7 - 2 9 ) g e g e n seinen V o r m u n d A p h o b o s (364 v. Chr.), für A i s c h i n e s d e s s e n A n k l a g e d e s T i m a r c h o s (Oratio 1; 348 v. Chr.). 9 2 Hier l i e g e n zwei o f f e n k u n d i g e Versehen bei der A u s w e r t u n g von Francotte, Industrie 2, S . 2 1 , vor. Die dort g e n a n n t e n „ m e h r als 3 0 % " s o w i e ( e b d . , A n m . 2) „ 1 0 0 % " b e z i e h e n s i c h nicht auf die Exploitationsrate bei Sklaven, s o n d e r n auf die G e w i n n m ö g l i c h l i c h k e i t e n aus S e e d a r l e h e n , w ä h r e n d der Profit aus S k l a v e n a r b e i t v o n F r a n c o t te bei D e m o s t h e n e s , d e m Vater d e s Redners, auf 15% ( B e t t e n w e r k s t a t t , e b d . , S. 2 0 f . ) bzw. 1 5 - 2 0 % ( M e s s e r w e r k s t a t t , e b d . , S. 19, 21), bei A i s c h i n e s (Timarchos) d a g e g e n auf 2 4 % ( S c h u h m a c h e r w e r k s t a t t , e b d . , S. 19, 21) taxiert wird. 1 W e b e r hatte d i e s e R e c h t s e n t w i c k l u n g e n , i n s b e s o n d e r e die S o l i d a r h a f t u n g , in seinen „ H a n d e l s g e s e l l s c h a f t e n " (bes. Kap. 3, S. 4 4 - 9 6 ) h e r a u s g e a r b e i t e t . 2 W e b e r spielt auf die S t e u e r p a c h t g e s e l l s c h a f t e n der s p ä t e n r ö m i s c h e n R e p u b l i k (soc i e t a t e s p u b l i c a n o r u m ) an.

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lernter Arbeit. Die „unfreie Heimarbeit" 3 trägt, als Spezies des Robottsystems, die ökonomischen Schwächen desselben an sich, und es scheint fraglich, wie weit sie Zwecken der Marktproduktion diente. Pharaonen und Tempel verwendeten sie wohl wesentlich für Zwecke des Tempel-, Hof- und Staatsbedarfs, besonders natür- 5 lieh, wenn das Rohmaterial vom Pharao (bezw. Tempel) importiert oder bergbaulich gewonnen war; daneben mag Marktverwertung des Produktes vorgekommen sein. Jedenfalls bedeutet auch sie, wo sie vorkam, eben Arbeit im eigenen kleinen (Familien-)Betrieb des Sklaven. Qualifizierte Sklavenarbeit im Großbetriebe ist etwas 10 dauernd (auch außerhalb der wenigen großen Handelszentren) Normales nur in leitenden Stellungen, als Vorarbeiter oder Inspektor im Bergwerk oder in der Plantage, im Kontor, speziell bei der Kassen- und Rechnungsführung (der Möglichkeit der Tortur wegen) usw. Dieser Sklavenaristokratie pflegte aber dann, im eigen- 15 sten Interesse des Herrn, die eigene (Quasi-)Familie (contubernium) und eigenes (Quasi-)Vermögen (peculium) konzediert zu | A 62 r werden; unter Umständen wurde ihnen selbst (so bei Plinius) 4 die Respektierung ihrer Testamente gewährt und überdies fast immer die Chance des Loskaufs gegeben. Damit bildet diese Art der Skia- 20 vennutzung schon den Übergang zu der Verwertung des gelernten, d.h. entweder schon vor seiner Versklavung (durch Krieg oder Bankerott) gelernt gewesenen, oder aber auf Kosten des Herrn in die Lehre gegebenen, Sklaven lediglich als Rentenfonds. Diese konnte entweder durch Vermietung als „Lohnwerker" geschehen, 25 was massenhaft, oft unter Abwälzung des Risikos des Todes auf den Mieter, vorkam. 5 Noch vorteilhafter, weil sie das /ügeninteresse des Sklaven in Bewegung setzte, war aber die Ausstattung mit einem peculium zwecks Etablierung als Handwerker oder Krämer auf seine eigene Rechnung. Der Herr bezog seine ärcoepopa und 30 konnte sie innerhalb des Spielraums, den die Gefahr der Erschlaf-

3 Weber spielt auf die Büchersche Terminologie an, wonach der „Hausfleiß" bzw. das „Hauswerk" vor dem Lohnwerk die früheste Stufe der gewerblichen Organisation darstellte, wobei im Altertum den Unfreien eine besondere Rolle zukam (Bücher, Gewerbe 1 , S. 9 2 5 - 9 2 7 ; dass. 2 , S. 364-367). 4 Weber zitiert Plinius, Epistulae 8, 16. 5 Behandelt wird dieses Verhältnis bei Francotte, Industrie 2, S. 4 - 6 , der auch vermutet, daß das Risiko des Verlustes des Sklaven durch Flucht oder Tod gegenüber dem Eigentümer vom .Arbeitgeber' zu tragen war.

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fung des Eigeninteresses des Sklaven gewährte, steigern, und er konnte überdies den Kapitalwert des Sklaven durch diesen selbst amortisieren lassen, indem er ihm die Chance, seinen aufgespeicherten Erwerb zum Loskauf zu verwenden, gab, beim Loskauf sich überdies bestimmte Abgaben und Dienstleistungen vorbehielt und - wozu besonders das römische Recht die verschiedensten Rechtsformen zur Verfügung stellte - an der Hinterlassenschaft des Freigelassenen sich den gesetzlich oder kontraktlich oder testamentarisch festgesetzten Anteil (in manchen Fällen die ganze Erbschaft) aneignete. Das Risiko des Kapitalverlustes durch Tod verminderte sich ja bei selbständiger Etablierung des Sklaven stark, wenn dieser eine Familie gründete und seine Kinder selbst gewerblich anlernte. Eine Haftung für die Geschäfte des Sklaven legte das Sklavenrecht dem Herrn regelmäßig nur in Höhe des peculium auf, während er dem Sklaven gegenüber natürlich formell auch zu dessen gänzlicher Einziehung befugt blieb. (Von dieser Befugnis allzuoft Gebrauch zu machen^] dürfte wenigstens der große Sklavenbesitzer im Altertum - ebenso wie in Rußland vor der Bauernbefreiung 6 - durch die Notwendigkeit, das Eigeninteresse des Sklaven wach zu halten, und auch durch die - in Rußland seinerzeit zu so hoher Blüte gelangte 7 - Kunst des Verhehlens des Besitzes seitens der Sklaven sich behindert gefunden haben.) Die zu allen Zeiten des Altertums sehr reichlichen, oft das Einschreiten des Gesetzgebers 8 hervorrufenden Freilassungen, die doch natürlich keinesfalls auch nur überwiegend auf Kosten der Eitelkeit und des politischen Klientelbedürfnisses zu setzen sind, zeigen, wie gut jenes Eigeninteresse des Sklaven funktionierte. Diese so überaus viel sicherere | Art, vom Sklavenbesitz Vorteil zu ziehen, schob aber dessen Aus- A 63 i nutzung offenbar vom Geleise der kapitalistischen Verwertung als Produktionsmittel zur Erzielung von „ Gewinn" auf das Geleise des Bezugs von „Rente" und Loskaufsgeld. Der „Kampf zwischen freier und unfreier Arbeit" spielte sich alsdann dem Schwerpunkt nach

6 Die förmliche Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland erfolgte 1861 durch Zar Alexander II. 7 Das ängstliche Verbergen seiner Ersparnisse durch den (früheren) Leibeigenen erwähnt v. Schulze-Gävernitz (wie oben, S. 335, Anm. 60), S. 347, 8 Am bekanntesten sind die in der Zeit des Augustus erfolgten Einschränkungen (lex Fufia Caninla 2 n. Chr., lex Aella Sentia 4 n. Chr.).

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Agrarverhältnisse

im Altertum (3. Fassung)

in der Sphäre des Kleinbetriebes in Gewerbe und Handel, nicht aber als ein Kampf zwischen Sklavengro/ibetrieb und freiem Kleinhandwerk ab. Die mächtigen ökonomischen und politischen Risiken, welche alle direkt als Produktionsmittel verwerteten Sklavenvermögen belastet hätten, fielen dann fort. Dieser Zustand ist im Altertum weit verbreitet. Neben den ganz besitzlosen freien Bauern, Kleinpächtern, Krämern und Lohnwerkern stand 1. eine Schicht von freien Kleinbesitzern als Händler, gewerbliche Kleinproduzenten (Preiswerker)u, die neben sich, auf dem Acker oder in der Werkstatt, einen oder einige, vielleicht im Kriege erbeutete oder aus Ersparnissen gekaufte Sklaven als „Gesellen" haben mochten, und stand ferner 2. die Schicht der ««freien gelernten Handwerker und Krämer, der leibeigenen Bauern oder unfreien Kleinpächter. Nur als Tributherr stand dann, wie ev[entuell] über dem Bauern und freien Krämer oder Handwerker sein Gläubiger und über dem freien Kolonen sein Verpächter, so über dem selbst wirtschaftenden Unfreien sein Leibherr. Diese Art der Ausnutzung des Sklaven als „Rentenfonds" setzte nun selbstredend, um dem Herrn Gewinn zu bringen, eine weitgehende lokale geldwirtschaftliche Arbeitsteilung voraus; war diese jedoch gegeben, dann mußte sie aus den angegebenen Gründen die Tendenz haben, sich gegenüber der Nutzung des Sklaven als Produktionsmittel nicht nur zu behaupten, sondern normalerweise auch auszudehnen, namentlich überall da, wo der Herr (wie bei den Vollbürgern, gegenüber den Metoiken; dem Amtsadel, gegenüber dem „Ritterstand") 9 stark politisch in Anspruch genommen war und also nicht selbst wirtschaften konnte, und zumal, wenn überdies der Sklavenpreis anhaltend hoch stand. - Was die Konkurrenz freier und unfreier Arbeit gegeneinander anlangt, so war bei dichter Besiedelung, hohen Bodenpreisen und der daraus sich ergebenden Nötigung zu intensiver Kultur, bei freiem Verkehr, und in Ermangelung von Hörigkeitsverhältnissen, die Verwertung ländlichen Grundbesitzes in Form der Parzellenpacht im Altertum wie in der Gegenwart ökonomisch zweifellos am meisten begünstigt. Der Kleinbetrieb ist in der Land-

u A: (Preiswerkern) 9 Die Ritter w a r e n - vor a l l e m seit d e m s p ä t e r e n 2. J a h r h u n d e r t v. Chr. - d e r j e n i g e Teil der O b e r s c h i c h t in Rom, d e r n i c h t d i e p o l i t i s c h e Ä m t e r l a u f b a h n e i n s c h l u g .

/. Einleitung

349

Wirtschaft des Altertums ja überhaupt die Regel, und nur die Plantagenkulturen - wozu im Altertum Öl- und Weinbau gehörten trugen | normalerweise den Sklavengroßbetrieb. Der Getreidebau A 63 r erforderte, zumal bei der Technik des Altertums, zu starkes Eigen5 interesse des Arbeiters, um (normalerweise) dem Sklavenbetrieb zugänglich zu sein. 10 Nur wo Billigkeit der Sklaven und hoher Preis der Plantagenprodukte zusammenwirkten^ war in der Landwirtschaft der Sklavenbetrieb im Großen begünstigt. Im Gewerbe und Kleinhandel konnte die Prämie, welche die Loskaufschance auf das 10 Eigeninteresse des Sklaven setzte, immerhin wirksam sein und seine Konkurrenz überall da stärken, wo die Möglichkeit, Rücklagen zu machen, überhaupt gegeben war. Es war kein Zufall, daß die Freigelassenen, welche als Sklaven zu arbeiten und zu sparen gelernt hatten, ökonomisch prosperierten: - zum Teil freilich auch 15 einfach die Konsequenz ihres Ausschlusses von politischer Betätigung. Wenn die Inschriften der Kaiserzeit es wahrscheinlich machen, daß die Sklavenarbeit 1. auch im Gewerbe im Orient schwächer als im Occident vertreten war, 2. die Sklaven häufiger in den gröberen Arbeiten auftreten, 11 - so folgt ersteres zum Teil aus der 20 weiterhin zu erörternden 12 historisch überkommenen Kultur des Orients, zum anderen Teil zeigt es, wie die aus politischen Gründen folgende stärkere Versorgung des römischen Sklavenmarktes ihre Wirkung übte; das letztere aber ist die Folge davon, daß natürlich die Herren das Risiko und die Kosten, die Sklaven eine lange Lehr25 zeit durchmachen zu lassen, nicht allzuoft übernahmen. Man darf deshalb die Wirkung der Konkurrenz der Sklavenarbeit nicht ausschließlich, nicht einmal immer vornehmlich, in einer direkten Verdrängung freier Arbeit sehen. Allerdings ging, neben der Beförderung der ohnehin (s.u.) 13 dem Altertum naheliegenden sozialen 30 Diskreditierung der Arbeit durch die Konkurrenz landfremder

v A: zusammenwirken 10 Weber folgt Columella 1, 7, 6 (gestützt auf seine Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 299). 11 Zu den (relativ wenigen) Sklaven im Handwerk speziell in Ägypten vgl. die Belege bei Wilcken, Griechische Ostraka 1, S.687f., 6 9 5 - 6 9 7 ) ; zum Orient allgemein Meyer, Sklaven im Altertum, S. 2 5 - 2 8 . Vgl. außerdem unten, S.526. 12 Siehe unten, bes. S. 407, 438 (Ägypten); 455 (Israel). 13 Siehe etwa unten, S.358f.

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

Kaufsklaven, auch eine solche Verdrängungstendenz überall da her, wo nicht (wie im späteren Orient) 14 die Kriegslast auf die Schultern von Berufskriegern, Söldnern oder fremden Herrenvölkern abgewälzt war: Anhaltende schwere Kriege von wechselndem Erfolge, welche die freie Bevölkerung jahraus, jahrein im Felde 5 hielten und ökonomisch ruinierten, mußten - wie dies Appian berichtet 15 - der Sklavenarbeit in ihrer Gesamtheit gegenüber der freien Arbeit, und zwar allen Formen der Sklavennutzung, zugute kommen. Kriegerische Expansion und große Siege werden dagegen regelmäßig die Expansion des Sklavenbesitzes, die Billigkeit 10 der Sklaven und damit den Anreiz zu kapitalistischer Verwertung derselben im Eigenbetrieb (Plantage, Seefahrt, Bergwerk, epyaaxriptov usw.) gefördert haben. Für die kapitalistische SklavenA 64 l nutzung | in der Landwirtschaft speziell mußte aber ferner vor allem auch das Vorhandensein billigen und dabei ergiebigen Bodens 15 ausschlaggebend sein, wie esw zeitweilig im Gefolge kriegerischer oder revolutionärer Konfiskationen und, chronisch, da und so lange gegeben war, als dünne Besiedelung großer Strecken fruchtbaren Bodens mit schneller Entwickelung städtischer kaufkräftiger Verbrauchszentren Hand in Hand ging, - wie dies in einem weder 20 vorher noch nachher wiederholten Maße in Rom nach der Einigung Italiens und nach den ersten siegreichen überseeischen Kriegen der Fall war. 16 - Schon die letzten und manche früheren Bemerkungen 17 deuteten an, wie stark 3. die politischen Schicksale und Eigenarten der einzelnen Län- 25 der auf das Maß der relativen Entwicklung freier und unfreier Arbeit, auf das Maß „kapitalistischer" Verwertung der letzteren und auf deren Richtung Einfluß haben mußten. Die von L[udo] M[oritz] Hartmann 1 8 scharf in ihrer Bedeutung betonte militärische Belastung der freien Bevölkerung war als Prämie auf Sklaven- 30 arbeit da am stärksten, wo ein die sich selbst equipierenden Bauern w A: sie 14 Vgl. oben, bes. S.383f. und 428f. 15 Weber zitiert Appian, Bella clvilia 1, 7, 2 9 - 3 1 (Rom im 2. Jahrhundert v. Chr.). 16 D. h. seit dem späteren 3. und dem früheren 2. Jahrhundert v. Chr. 17 Siehe oben, S. 304f., 342, 348 und 349. 18 Weber bezieht sich offenbar auf Hartmann, Besprechung Weber, Römische Agrargeschichte, S.216f.

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Einleitung

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und Kleinbürger mitumfassendes Aufgebot einer freien Bürgerschaft chronische Kriege großen Stils zu führen hatte, wie in der Blütezeit der hellenischen Demokratie und im republikanischen Rom. Umgekehrt lagen die Verhältnisse, wenn das Heer, minde5 stens zum Teil, sei es feudales, sei es autokratisches Berufs- oder Fronheer, oder aber Soldheer war, wie in Ägypten, vielen hellenistischen Staaten, der spätgriechischen Polis, dem spätkaiserlichen Weltreiche. Allein die Verschiedenheit der Arbeitsverfassungen der letzteren Staatengruppen untereinander zeigt, daß jedenfalls 10 die Militärverfassung allein, als solche, weder für das Maß der Entwickelung der Sklaverei entscheidend war, noch, folglich, den antiken „Kapitalismus" in Maß und Richtung seiner Entfaltung endgültig bestimmte. Dagegen wirkten hier in hohem Grade die allgemeinen politischen Grundlagen des antiken Lebens und besonders 15 die, letztlich von der politischen Verfassung her bestimmte, Art der Staats Verwaltung, speziell der Finanzverwaltung. - Die öffentlichen „Finanzen" in ihrer allmählichen Herausentwickelung aus dem „Oikos" des Stadtfürsten mit seinem thesaurierten Edelmetall„Hort" sind der älteste und bleiben der größte aller „Wirtschafts20 betriebe". Sie ersetzen teils die private Kapitalakkumulation, teils sind sie ihre Schrittmacher, teils endlich erdrücken sie sie. 1. Sie „ersetzen" sie: So am vollständigsten der bureaukratisch geleitete Robottapparat der Pharaonen, welcher (ursprünglich) | den „Unter- A 64 r nehmer" nicht kennt. A b e r auch die Finanzierung der großen öf25 fentlichen, an Pnvaiunternehmer vergebenen Bauten der Hellenenstädte, wie sie aus den Bauinschriften sich ergibt, 19 zeigt, vor allem in der regelmäßigen Vorauszahlung des Betriebskapitals an ihn aus der Siaaiskasse, 20 daß eine private Kapitalakkumulation, welche ausgereicht hätte, um derartig große Beträge aus der Tasche 30 des Kapitalisten selbst vorzuschießen, fehlte, daß die kraft politischer oder sakraler Autorität erhobenen Abgaben hier in die Bresche treten mußten. Hier hatte die Intervention eines privaten Unternehmers im wesentlichen nur den Sinn: Der Stadtstaat, welcher, im Gegensatz gegen die Pharaonenverwaltung, der erforderlichen

19 Eine detaillierte Darstellung der Finanzierung anhand der Bauinschriften aus zahlreichen griechischen Städten bietet Francotte, Industrie 2, bes. S. 5 4 - 1 0 1 , 1 5 0 - 1 7 6 . 20 Dies wird von Francotte, ebd., S. 1 6 4 - 1 6 7 , im einzelnen (mit Belegen) geschildert.

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

Baubureaukräfte und (seit der Beseitigung der Bürgerfronden) auch der Zwangsarbeitskräfte entbehrte (mit Ausnahme der für solche Arbeiten nicht ausreichenden und meist anderweit - in den Kanzleien und Registraturen, in den Kassen, in der Münze, gelegentlich beim Wegebau - beschäftigten Staatssklaven), vergab die Organisation jener Bureau- und Arbeitskräfte gegen eine Unternehmerprämie an Private. Was ferner die SteMerverpachtung anlangt, so muß man sich gegenwärtig halten, daß auch sie in sehr vielen Fällen gerade diejenige Funktion des Privatkapitals nicht involviert, welche wir als ihm charakteristisch anzusehen gewohnt sind: die Bevorschussung. Die Steuerpächter zahlen oft ihre Haftsumme erst ein, nachdem sie alle, noch öfter, nachdem sie die entsprechenden Raten der Steuern erhoben haben; ja, wo der Staat Exekutivbeamte besitzt, - z.B. in den ptolemäischen Revenue Laws21 - erhebt der Pächter sie nicht einmal selbst, sondern der Staat erhebt sie, und die Pächter haften lediglich, nachdem die Naturalabgaben zu Geld gemacht sind, als Garanten für das etwaige Defizit, wie sie am Surplus 22 profitieren. Hier ist der Zweck der „Verpachtung" offenbar nur: die Gewinnung einer festen Bar-Grundlage für das Staatsbudget durch Festlegung des Minimaleinkommens in Geld. Ist dies nun auch erst Produkt der hellenistischen Entwickelung des Steuerpachtwesens und haben die Steuerpächter oft die Pflicht wenigstens teilweiser Vorleistung übernommen, so zeigt doch jener Zustand, daß die oft hohen Pachtsummen nicht einfach auf eine entsprechend hohe private Kapitalakkumulation schließen lassen dürfen. Dagegen ist das Staatspachtsystem, vor allem auf dem Gebiete der Steuerpacht, natürlich ein wichtiges - sicher auch in Hellas eines der allerwichtigsten - Mittel der privaten Kapitalbildung. - 2. Zum bloßen „Schrittmacher" der privaten Kapitalbildung kann A 65 i die Finanzwirtschaft aber erst da werden, | wo ein Stadtstaat, der,

x A: charakterisch 21 Es handelt sich um eine besonders wichtige Einzelquelle für die Wirtschaftsgeschichte des hellenistischen Ägypten, die auf einem Oxforder Papyrus überlieferten, von Ptolemaios II. Philadelphos 259 v. Chr. erlassenen Regelungen für die Verpachtung von Staatseinnahmen. Zugrunde liegt bei Weber in erster Linie Grenfell, Revenue Laws. 22 Hier der Überschuß der Einnahmen der Steuerpächter gegenüber der staatlich festgesetzten Steuersumme.

1. Einleitung

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als solcher, des eigenen bureaukratischen Mechanismus entbehrte, also den Staatspächter brauchte, als Herrscher über Domänen und über den Boden und die Tribute riesiger eroberter und unterworfener Gebiete verfügte. Dies war im Altertum in Rom in der republikanischen Zeit der Fall. Hier entwickelte sich daher, zweifellos von Anfang an im wesentlichen aus der Staatspächterschaft, eine mächtige Klasse privater Kapitalisten, welche in der Zeit des 2. punischen Krieges 23 - der Zeitpunkt ist charakteristisch genug - den Staat nach Art moderner Banken als Geldgeber stützen, dafür aber auch schon während des Krieges ihm seine Politik vorschreiben konnte, 24 deren Profitgier dann ein Reformer wie Gracchus, 25 um sie zu gewinnen, Provinzen und Gerichte ausliefern mußte und deren Kampf mit dem Amtsadel, den er als Geldgeber ökonomisch „in der Tasche" hatte, das letzte Jahrhundert der Republik ausfüllt. Die Akme des antiken Kapitalismus war die Folge dieser Konstellation und der eigenartigen innerpolitischen Struktur des römischen Staates. - 3.„Erdrückend" endlich konnte das Finanzwesen antiker Staaten auf verschiedenen Wegen die Entwickelung privater Kapitalien beeinflussen: Zunächst trug die allgemeine politische Basis der antiken Staaten ganz allgemein zur Verstärkung der schon an sich, infolge der Art seiner Zusammensetzung, wie wir sahen, 26 großen Labilität des Kapitalbestandes und der Kapitalneubildung bei. Die Steuerverfassung (Leiturgieen der Besitzenden), die ganz rücksichtslos souveräne Verfügung der griechischen Polis, speziell der Demokratie, über das Privatvermögen ihrer Bürger (noch in der hellenistischen Spätzeit z. B. zu Kreditzwecken in einer Art, wie sie das Mittelalter nie gekannt hat: Verpfändung

2 3 Der II. P u n i s c h e (bzw. H a n n i b a l - ) K r i e g d a u e r t e v o n 218 bis 201 v. Chr. 24 Im J a h r e 2 1 0 v.Chr. hatten Privatleute d e m Staat G e l d g e l i e h e n , w o v o n d a s 2 0 0 v . C h r . f ä l l i g e letzte Drittel w e g e n d e s A u s b r u c h s d e s II. M a k e d o n i s c h e n K r i e g e s ( 2 0 0 - 1 9 7 v . C h r . ) nicht a u s b e z a h l t w u r d e . D u r c h Proteste e r r e i c h t e n d i e G l ä u b i g e r , daß sie S t a a t s l a n d In d e r n ä h e r e n U m g e b u n g v o n R o m e r h i e l t e n (die . t r l e n t a b u l a ' ) , w o b e i d a s r ü c k s t ä n d i g e Drittel als K a u f p r e i s galt. W e n n d e r Staat w i e d e r l i q u i d e war, sollten sie auf W u n s c h a n s t e l l e d e s L a n d e s G e l d b e k o m m e n (Livius 31, 13, 2 - 9 ) . W e ber hat d i e s e T r a n s a k t i o n e n in d e r „ R ö m i s c h e n A g r a r g e s c h i c h t e " b e h a n d e l t ( M W G I/2, S. 131 f.). - Ein B e i s p i e l für d i e B e d i n g u n g e n , d i e d i e S t a a t s p ä c h t e r w ä h r e n d d e s II. P u n i s c h e n K r i e g e s stellen k o n n t e n (Freiheit v o m M i l i t ä r d i e n s t , Ü b e r n a h m e d e r T r a n s p o r t r i s i k e n d u r c h d e n Staat) f i n d e t s i c h bei Livius 23, 49, 1 - 3 ( 2 1 5 v. Chr.). 25 G e m e i n t Ist G a i u s G r a c c h u s . 26 Siehe o b e n , b e s . S. 338, 3 4 0 - 3 5 0 u n d 3 5 7 - 3 5 9 .

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

auch alles privaten Grundbesitzes durch die Stadt kommt vor), 27 ferner die Konfiskationsgefahr bei jeder politischen Erschütterung und Parteiumwälzung in allen antiken Gemeinwesen, vollends die nicht seltenen gänzlich willkürlichen Vermögenseinziehungen in den Monarchieen (der Boden von „halb Afrika" unter Nero) 2 8 5 wirkten alle in der gleichen Richtung. Allein weit entscheidender als diese immerhin mehr akuten Katastrophen, welche einzelne Kapitalien oder den jeweiligen Kapitalbestand eines Gemeinwesens betrafen, war das Maß des Spielraums, den die Verwaltungspraxis dauernd den Profitmöglichkeiten des privaten Kapitals überhaupt 10 und damit der Kapitalbildung gewährte. Dieser Spielraum hat sehr erheblich gewechselt. Er mußte in den antiken Monarchieen grundsätzlich enger bemessen sein als in Republiken. Der antike A 65 r Monarch und sein Staat sind stets Grund\herren allergrößten Stils, teils in den Formen des Privatrechts, teils in der Form arbiträrer 15 Herrschaft über unterworfene zinspflichtige Fremdvölkerschaften ohne garantiertes Bodenbesitzrecht. Das gleiche kann nun auch für die antike Polis zutreffen und traf, namentlich, in kolossalem Umfang auf die römische Republik zu. Während aber für die Polis ein solcher Besitz naturgemäß in erster Linie rein ökonomisches Aus- 20 beutungsobjekt der wechselnden Gefolgschaften politischer Stellenjäger, und, natürlich, vor allem der Geldgeber der letzteren, war, und während daher in den Stadtstaaten, speziell Rom, gerade dieser öffentliche Bodenbesitz meist zu den Brutstätten privater kapitalistischer Ausnutzung (Abgabenpachtwucher, Bodenpachtwu- 25 eher, Sklavenbetrieb,-je nach den Umständen) wurde, - mußte ein Monarch darin anders verfahren. Einerseits betrachtete er die Hintersassen seines Domaniums wesentlich mehr unter politischen Gesichtspunkten: als Stützen seiner dynastischen Machtstellung. Andererseits mußte er, im eigensten Interesse, sichere Renten weit 30 höher einschätzen, als es die von kurzfristig gewählten Beamten geleitete Verwaltung republikanischer Gemeinwesen tat, denen und deren Gefolgsleuten der rasche Augenblicksgewinn im Vordergrund stand. Und es mußte, vor allem, seine Finanzpolitik eine mehr .v/aa/.vwirtschaftliche, politisch orientierte, auf dauernde Aus- 35 2 7 Näheres vgl. unten, S.578. 2 8 Nach Plinius, Historia naturalis 18, 6 (7), 35, ließ Nero sechs Großgrundbesitzer hinrichten, denen die Hälfte der Provinz Africa gehört hätte.

I. Einleitung

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nutzung, also vorsichtige Schonung, der Leistungsfähigkeit seiner Untertanen gerichtete y sein, gegenüber der an kapitalistischen Privatinteressen orientierten Ausbeutungspolitik der Stadtstaaten. Daher ist nicht nur die Kleinmacht auf den monarchischen Staatsdomänen regelmäßig ganz vorwiegend, Großpacht und Sklavengroßbetrieb dagegen die Ausnahme: - wenn die römischen Kaiser für ihr Familiengut aus pekuniären Gründen die Großpacht vorzogen, so folgten sie doch bezüglich des staatlichen Domaniums der Regel. 29 Sondern die Hauptsache ist, daß die „Krone" der Kapitalverwertungsformen: die Steuerpacht, in republikanischen Staaten stets auf dem Sprunge steht, nach Art des mittelalterlichen Genua, den Staat zu einer Entreprise der Staatsgläubigerschaft und Staatspächterschaft zu machen. 30 In den monarchischen Staaten dagegen ist sie stets unter Kontrolle gehalten, oft gänzlich oder nahezu gänzlich verstaatlicht, immer aber eingeengt in ihren Gewinnchancen, und also: ihrer Zeugungskraft für die Bildung von Privatkapitalien beraubt, meist aber direkt in die Bahn einer Kombination von bureaukratischer mit (relativ) kleinbetrieblich finanzierter Monopolverwaltung gedrängt. Dieser Prozeß der Kontrolle, Monopolisierung und Bureaukratisierung, oft direkt der Ausschaltung des | privaten Kapitals, schritt in allen großen antiken Monarchieen A unaufhaltsam fort. Er erfaßte allmählich neben den Steuern und Domänen die Bergwerke, die politisch wichtigen Teile des Handels und der Schifffahrt (namentlich die Getreide Versorgung), weiterhin die für den Bedarf des Hofs, der Armee, der Bauten und öffentlichen Arbeiten wichtigen Lieferungen, die Banken (in Form sowohl staatlicher wie kommunaler Monopolbanken, letztere z. B. in den hellenistischen Monarchieen und Kommunen für allen Geldwechsel). Während also die Polis nur den, seiner inneren Konstitution nach, labilen Charakter der Privatkapitalien (weniger durch y A: gerichtete, 29 Das letztere ist in dieser Form nicht belegt. Doch scheint Weber sich hier auf Mitteis, Erbpacht, S. 4 0 - 5 7 , bes. 57, zu beziehen, wonach die Kaiser aus „pecuniären Interessen" (ebd.), d . h . im Blick auf eine mögliche Steigerung des Bodenwertes, auf ihrem Patrimonium (Familiengut) keine ,ewigen Pächter' (Emphyteuten) zugelassen hätten, während dies bei der res privata (staatliches Domanium) anders gewesen sei. (Vgl. auch Mitteis, Amherst Papyri, S. 158.) 30 Eine eingehende Darstellung der besonderen Machtstellung der Staatsgläubiger und -pächter in Genua bot Sieveking (wie oben, S. 331 f., Anm. 47) 1 - 2 .

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Agrarverhältnisse

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(3.

Fassung)

die fast immer vergeblich gebliebene Bekämpfung der Vermögensdifferenzierung im Interesse der Bürgergleichheit, als durch die im Wesen des antiken Parteikampfes und der antiken Kriegführung liegenden stets sich wiederholenden politisch-ökonomischen Katastrophen aller Art) aufs höchste steigerte, dabei aber doch das stete 5 Neuaufflammen der Kapitalbildung und des kapitalistischen Verv/crtungsstrebens bestehen ließ, - hungerte diese bureaukratische „ Ordnung" der monarchischen Staatswirtschaft gerade die größten Privatkapitalien langsam aus, indem sie die wichtigsten Quellen des Profites verstopfte. Und wo dann, im Gebiete geschlossener Mon- 10 archieen, einerseits die dem Altertum wie dem Mittelalter urwüchsige Ausbeutung des Landes durch die Stadt, und andererseits die expansiven Boden- und Menschenraubkriege ins Stocken gerieten, da mangelte auch die für die Expansion der kapitalistisch nutzbaren Sklavenarbeit unentbehrliche Überschwemmung der Sklaven- 15 märkte mit billiger Menschenware und das kapitalistisch exploitierbare Neuland. Mit dem durch alles dies herbeigeführten Stagnieren und Abschwellen des Kapitalbildungsprozesses ging dann regelmäßig die (neuerdings namentlich von Rostowzew 31 sehr zutreffend gekennzeichnete) Tendenz der Sicherung der Staat- 20 liehen Bedürfnisse durch stete Differenzierung und Erweiterung des Kreises der für die öffentlichen Leistungen mit ihrem Besitz oder ihrer persönlichen Qualifikation Bürgenden und dadurch an ihre soziale Funktion und ihren Besitz verwaltungsrechtlich Gebundenen Hand in Hand, um schließlich jene Universalherrschaft 25 der Leiturgieen und munera, die Vernichtung alles dessen, was man in den „klassischen" Zeiten des Altertums „Freiheit" genannt hatte, herbeizuführen, die für die sogenannten] „Verfallszeiten" antiker Staaten charakteristisch ist. Die, für die Masse der Untertanen, so wohltätige Ordnung der Monarchie war eben der Tod der kapi- 30 talistischen Entwickelung und alles dessen, was auf ihr ruhte. Die A 66 r Sklaverei als Trägerin kapitalistischen Er\werbes tritt dann weit zurück, die Neubildung privater mobiler Kapitalvermögen erlischt, da der Stimulus der Verwertungschancen unter das, bei der Konstitution des antiken Kapitals, unerläßliche Minimum sinkt, regle- 35

3 1 W e b e r bezieht s i c h auf Rostowzew, S t a a t s p a c h t , bes. S . 2 1 , 7 9 f . , 8 9 - 9 4 , 144 und 1 6 9 - 1 7 5 .

130f.,

I. Einleitung

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mentierte und verwaltungsrechtlich gebundene, aber der privatrechtlichen Form nach „freie", Arbeit tritt in den Vordergrund der ökonomischen Struktur. Wo überdies die Monarchie theokratischen Charakter annimmt, da kann sich auch der in solchen Fällen nie ausbleibende religiöse und staatsgesetzliche „Schutz der Schwachen" - wie es im Orient der Fall war 32 - zu einer ziemlich festen Schranke kapitalistischer Menschenverwertung entwickeln. - Die Wirkungen auf dem Gebiet der /Igrargeschichte sind bei diesem Entwickelungsprozeß stets: das Abschwellen der relativen Bedeutung der Kaufsklavenplantage, die Kleinpacht, speziell Teilpacht, als herrschende Form der Bodenbesitzverwertung, die fürstliche und die halbprivate, auf Konzession des Fürsten ruhende iieniengrundherrschaft als sozial und ökonomisch vorwaltende Besitzkategorie. Alles in allem findet also die Entfaltung des Kapitalismus im Altertum ihre vornehmsten Hemmnisse: 1. an der politischen Eigenart der antiken Gemeinwesen, wie soeben ausgeführt, 33 2. an der früher erörterten 34 ökonomischen Eigenart der Antike, nämlich, um es zu rekapitulieren: an den Schranken der MßrAtproduktion infolge der verkehrstechnisch gegebenen Grenzen der (ökonomischen) Transportfähigkeit der Güter von und in das Binnenland, - an der, in der Sache liegenden, ökonomisch bedingten Labilität des Kapitalbestandes und der Kapitalbildung, - an der technischen Schranke der Ausnutzbarkeit von Sklavenarbeit im Großbetrieb, - endlich auch an den Schranken der „Rechenhaftigkeit", welche in erster Linie gegeben sind durch die Unmöglichkeit strengen Kalküls bei Verwendung von Sklavenarbeit. (Die an sich technisch keineswegs unentwickelte private Buchführung des Altertums ist teils Bankbuchführung, teils landwirtschaftliche Bestandesaufnahme 3 und erweiterte Haushaltsrechnung: nur die erstere ist kaufmännischen Charakters; alles andere private Buchwesen ist, - soweit wir darüber etwas wissen - , verglichen mit dem a Zu erwarten: Bestandsaufnahme 3 2 Anspielung auf eine typische Formulierung der Pflicht des Herrschers wie die, ,daß der Starke den Schwachen nicht bedrücken 1 dürfe, z.B. in der Einleitung und am Schluß des Codex Hammurabi (Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S . 4 und 99). 3 3 Siehe oben, S. 3 5 0 - 3 5 7 . 3 4 Siehe oben, S. 3 4 0 - 3 5 0 .

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Agrarverhältnisse

im Altertum

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Fassung)

späteren Mittelalter noch recht undifferenziert, wenn man den Maßstab kapitalistischer Rentabilitätskontrolle anlegt.) Die Sklaven-„Großbetriebe" des Altertums sind nicht durch sachliche Nötigung: die arbeitszerlegende und arbeitsvereinigende Produktionsweise, zusammengehalten, sondern rein persönlich: durch die 5 zufällige Anhäufung von Menschenbesitz im Vermögen eines Einzelnen: dies ist der richtige Sinn der „Oiken"-Theorie. Daher \ A 67 1 bleibt aller „Großbesitz" etwas so spezifisch Labiles. Der „Zöllner", 35 Kleinhandwerker, Kleinkrämer sind im Orient und im Hellenismus das letzte Wort der Geldwirtschaft, und gerade mit der 10 zunehmenden Stabilität von Politik und Ökonomik des Occidents und dem gleichzeitigen Rückgang der Kapitalbildung behaupten sie auch hier schließlich das Feld. Immer wieder kollabiert, gerade in den Perioden „gesättigter" Ordnung - die eben mit ökonomischer Stabilität identisch ist - der Flug des Kapitalismus. Der anti- 15 ke kapitalistische Unternehmer - wohl zu unterscheiden vom Kapitalrentner - ist in seiner sozialen Position, mit nur teilweiser Ausnahme gewisser Perioden der babylonischen, hellenistischen, der spätrepublikanischen und der frühkaiserlichen römischen Entwik kelung, fast immer ziemlich prekär gestellt: Metöken und Freige- 20 lassene stellen in den klassischen Zeiten das Hauptkontingent. Der Gewerbetreibende ist auch (und gerade) im demokratischen Gemeinwesen oft amtsunfähig. Der politische Vollbürger ist dagegen, dem Ideal nach, „McMnteressent", d.h. aber: Rentner oder doch dem Typus des Rentners nahestehend und in den „freien" 25 Gemeinwesen immer vor allem (so zu sagen) „Übungspflichtiger Heeresreservist". 36 Der „Antichrematismus" 37 der Staatstheorie des Altertums ist, dem Schwerpunkt nach wenigstens, nicht, jedenfalls entfernt nicht in dem Sinn und Maß wie der der mittelalterli3 5 Die Zöllner des Neuen Testaments (z.B. Matthäus 9 , 9 - 1 2 ) werden hier, offenbar nach Rostowzew, Staatspacht, S . 4 7 9 - 4 8 2 , als Steuer-Kleinpächter gesehen. Weber hatte sie noch 1894 mit römischen Publikanen gleichgesetzt und als Vertreter des „Kapitalismus der damaligen Zelten" charakterisiert; Weber [Rezension von:] Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze von Friedrich] Naumann, in: MWG I/4, S. 3 4 6 - 3 6 1 , hier S.357. 3 6 Weber dürfte dabei auch an seine eigenen wiederholten Offiziers-Reserveübungen gedacht haben (1887, 1888 und 1891; vgl. dazu MWG I/2, S. 10, Anm. 43, S. 11 f. und 61). 3 7 Gemeint ist die Ablehnung des Gelderwerbs um seiner selbst willen besonders bei Piaton und Aristoteles.

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chen Kirche, ethisch - durch die Antipathie gegen den unpersönlichen und deshalb der ethischen Normierung nicht zugänglichen Charakter rein „geschäftlicher" Beziehungen - bedingt, sondern in erster Linie politisch: 1. durch (s.Z. zu erörternde) 38 Erwägungen der „Staatsraison", daneben 2. durch die Ideale der Bürgergleichheit und der „Autarkie" der Polis und 3. sozial: als Bestandteil des Antibanausentums der herrschenden Rentnerklassen. Andererseits fehlte jede ethische Verklärung der Erwerbsarbeit, zu der sich nur im Kynismus39 und in dem hellenistisch-orientalischen Kleinbürgertum leise Ansätze finden. Die Stütze, welche die Rationalisierung und Ökonomisierung des Lebens an der wesentlich religiös motivierten „Berufsethik" der beginnenden Neuzeit fand, mangelte dem antiken „Wirtschaftsmenschen". 40 Er bleibt im Empfinden seines Milieus und in seinem eigenen ein „Krämer" und „Banause". Daß der Schiffs besitz, die Befrachtung von eigenen Schiffen mit eigenen Tauschobjekten und deren Absatz durch einen Bediensteten (wie sie die Könige, Tempel, Adligen der Seeufergebiete in der Frühzeit üben) und dann auch die sich daraus abzweigende Entropia, d.h. die ursprünglich wohl sicher in commenda, | dann A 67 r auch ganz für eigene Rechnung erfolgende Befrachtung fremder Schiffe mit zusammengekauften oder kommissionsweise übernommenen Waren in den Seehandelsgebieten - übrigens stets mit Vorbehalten - für respektabel galt, da sie wesentlich (¿«kontinuierliche Disposition über Kapitalöes/iz war, nicht aber den Charakter des kontinuierlichen „Betriebes" an sich trug, ist natürlich keine Gegeninstanz. Die Staatswesen des Altertums, und gerade die „freien" Stadtstaaten, sind durchzogen von einer Fülle ständischer Differenzierungen der Bevölkerung und politisch bedingter Differenzierungen des Vermögens- (speziell des Boden- und des Erb-)Rechts, welche Quellen von Einnahmen aller Art, vor allem von .Rentenbezügen, werden konnten und wurden. Zumal in den Demokratieen - man

38 Eine d e r a r t i g e Erörterung findet sich in d e n „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e n " nicht. 39 Im K y n i s m u s ( b e k a n n t e s t e r Vertreter: D i o g e n e s von Sinope, bis ca. 324/21 v. Chr.) w u r d e , a n d e r s als in der s o n s t i g e n antiken Philosophie, m ü h e v o l l e Arbeit als Mittel zur T u g e n d betrachtet. 40 Mit b e i d e n Begriffen zitiert Weber sich selbst: Protestantische Ethik 2, S. 104f. Vgl. a u c h unten, S. 703.

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Agrarverhältnisse

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denke an Athens Bürgerrechtspolitik 41 - dominierte der kleinbürgerliche Renten- und „ Nahrungs "Standpunkt über alle anderen Interessen. Er wirkte, aus politischen Gründen, auch in den Monarchieen, soweit nicht die dort allmächtigen fiskalischen Interessen ihn kreuzten. Die antike Agrargeschichte nun ist in ihrem Verlauf in die Peripetieen der antiken Stadtgeschichte so eng verflochten, daß sie von ihnen isoliert kaum behandelt werden könnte. Namentlich sind uns nur ganz ausnahmsweise deutliche Nachrichten über die Verhältnisse derjenigen quantitativ ungeheuer überwiegenden Gebiete enthalten, welche nicht städtisch organisiert waren, und natürlich erst recht wenige über die in den städtischen Territorien der Stadt vorangehenden Zustände, vor allem fast keine solchen aus dem Munde der betreffenden Völker selbst. Die älteste jüdische Tradition, welche vor der städtischen Organisation der Nation redigiert sein muß, ist doch in einem Milieu entstanden, welches bereits eine Jahrhunderte alte Stadtkultur und Fremdherrschaft von Kulturvölkern erlebt hatte, und es bleibt ferner unfeststellbar, wie weit die nachweislich „ältesten" Partieen 42 später retouchiert sind. Für den Occident, wo wir die Völker in weit primitiveren Stadien antreffen als die Ägypter und Babylonier, steht es dennoch kaum anders. Was z.B. eigentlich der „Gau" urwüchsig gewesen ist, welches die Sozz'ß/verfassung des „Dorfs" war, ehe die (später zu erwähnende) 43 militärische Differenzierung begann, - dies ist aus den wenigen Notizen über die Verhältnisse dieser Institutionen in historischer Zeit, auch da, wo (wie etwa in Arkadien, 44 Samnium, 45 Persis)46 damals die Stadtverfassung fehlte, natürlich schon deshalb nicht zu erschließen, weil man nicht weiß, wie stark diese Zustände

41 Dort wurde das Bürgerrecht im Jahre 451/50 v. Chr. durch ein Gesetz des Penkies auf diejenigen beschränkt, deren beide Elternteile athenische Bürger waren. 42 Zu den ältesten Teilen des Alten Testaments zählt z. B. das Debora-Lied (vgl. unten, S. 445 f.). 43 Siehe unten, bes. S.363 und 465f. 44 Eine Schilderung der Dorfverfassung Arkadiens (im Zentrum der Peloponnes) findet sich bei Kuhn, Entstehung der Städte, S. 2 4 - 3 1 . 45 Auf das fast gänzlich von .befestigten Städten' in älterer Zeit freie Samnium (im Innern des Apennin) geht Meyer, Geschichte des Altertums 2, S. 518 und 520, ein. 46 Die Stammesverhältnisse in der Persis, dem Kernland der Perser im Iran, schildert Meyer, ebd. 3, S. 19.

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schon Produkt des Ein|flusses der unmittelbar benachbarten städ- A tischen Gebiete sind. Vollends ist die Frage, in welche Zeit Institutionen wie z. B. die Phratrien, Phylen, Kurien, Tribus, endlich auch die „Geschlechter", zurückreichen, offenbar nicht endgültig und zwingend zu erledigen: Denn dazu wäre eine eindeutige Antwort darauf nötig: ob speziell die (allgemein als besonders alt angesprochene) „Phratrie" 47 anderweit ethnographisch bekannten Typen sich einfügt oder nicht. Im letzteren Fall ist trotz aller gegenteiligen Erörterungen doch das Wahrscheinlichere, daß sie Produkt einer sekundären, militärisch bedingten, Entwickelung ist.48 - Von den Anschauungen, welche über den historischen Ausgangspunkt der antiken Sozialgeschichte ziemlich allseitig geglaubt worden sind, erscheint jedenfalls eine heute durchweg - vielleicht mit Ausnahme mancher an die Wüste grenzenden orientalischen Gemeinwesen nicht mehr haltbar: der Glaube an das ursprüngliche „Nomaden"leben der occidentalen Völker, d. h. an eine rein viehzüchtende ackerbau/o.ve Vorzeit bei ihnen. 49 Die Rolle, welche das Vieh überall als Hauptbestandteil des beweglichen Besitzes, deshalb wichtigstes Tribut- und Tauschobjekt, und der Viehbesitz als Hauptgrundlage sozialer Differenzierung und (neben Metallschmuck und kostspieligen Waffen) Hauptbestandteil des Häuptlingsvermögens, Viehwartung als spezifisch männliche (daher auch eines Adligen nicht unwürdige) Arbeit, erweislich gespielt hat, 50 darf zu jener Annahme nicht verleiten. Auch die plausible Hypothese, daß wenigstens die //errengeschlechter aus Einfällen von reinen Hirtenstämmen und Unterwerfung der seßhaften Ackerbauer 0 durch jene entstanden seien, ist - wo sie nicht im Einzelfall wahrscheinlich zu machen ist - nicht generell annehmbar, da der antike Adelsstaat gerade an den Küstenplätzen besonders früh und stark b G e b r ä u c h l i c h e Form: Ackerbauern 47 Vgl. d a z u unten, S . 4 5 9 f . 48 E b d . 49 Vgl. d a z u o b e n , S . 3 2 0 . 50 G e m e i n t sein dürfte O p p e n h e i m e r , Franz, Der Staat (Die Gesellschaft. S a m m l u n g s o z i a l p s y c h o l o g i s c h e r M o n o g r a p h i e n , hg. von Martin Buber, B a n d 1 4 - 1 5 ) . - Frankfurt/Main: Rütten & L o e n i n g 1907, bes. S. 30 und 3 3 - 4 8 , w o d i e s e These e n t w i c k e l t wird. In W e b e r s e r h a l t e n e m e i g e n e n Exemplar (Max W e b e r - A r b e i t s s t e l l e der Bayeris c h e n A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n ) f i n d e n sich einige A n s t r e i c h u n g e n auf d e n v o r a u s g e h e n d e n Seiten.

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Agrarverhältnisse

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entwickelt ist, und andere Quellen der Vormachtstellung der Könige und Adligen bekannt sind.51 Wie aber der Ackerbau, der in alle prähistorisch erschließbaren Zeiten der uns beschäftigenden Völker zurückreicht, in deren bäuerlicher „Urzeit" sozial organisiert war, davon ist nichts Zuverlässiges zu erfahren. Was wesentlich 5 deutlicher erkennbar bleibt, sind gewisse Organisations.v/ad/m, die sich, bis zu einem gewissen Maße, bei allen denjenigen „antiken" Völkern, von der Seine bis zum Euphrat, welche überhaupt städtische Entwickelung gekannt haben, wiederholt zu haben scheinen. 1. Zunächst ein Zustand, in welchem, als ferne Vorläufer der 10 späteren Stadt, nur Schutzwälle gegen feindlichen Überfall existieA 68 r ren, Hausgemeinschaft und Dorf die | ökonomische, Blutrache-, Kult- und Wehrverbände die polizeiliche, sakrale und politische Garantie der Existenz des Einzelnen tragen, - ohne daß jedoch über Struktur, die Koinzidenz oder umgekehrt die Funktionstei- 15 lung dieser Verbände untereinander für die Vorzeit der Antike etwas ganz Sicheres auszumachen wäre. Die als „frei" geltenden Volksgenossen sind alle am Grundbesitz beteiligt 0 und nehmen, bei mäßigem Sklavenbesitz, an den Feldarbeiten teil. Die Stellung des politischen Häuptlings und seine - meist transitorischen - Funktio- 20 nen können nicht wohl andere gewesen sein als z.B. bei den Germanen auch. 52 Er ist nur vorhanden, wo kriegerische Bedrohung möglich ist. Er hat als „Richter", wie bei den meisten „Naturvölkern", nur gütliche Mittel zur Verfügung und er kann ferner nie ungefährdet die Tradition verletzen, über welche die ältesten Män- 25 ner seine berufenen Berater sind. Es hängt von der politischen Lage ab, ob überhaupt gemeinsame politische Angelegenheiten bestehen. Die Bedeutung des Zusammenhangs des „Geschlechts" durch „Blut" (statt durch die ursprünglich allein entscheidende Nahrungsgemeinschaft) entwickelt sich bei den Häuptlingssippen 30 zuerst stärker, indem die Erinnerung an kriegerische Leistungen oder wertvolle Schiedssprüche sie als von den Göttern bevorzugt legitimiert. Ökonomisch erhalten sie freiwillige Geschenke, Vorzug im Beuteanteil und, eventuell, ein speziell ausgewiesenes Landlos.

c A: beteiligt, 5 1 Vgl. d a z u unten, S. 4 6 5 - 4 6 8 . 5 2 W e b e r bezieht s i c h offenkundig auf Tacitus, G e r m a n i a 7, 1 - 2 .

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2. Sodann ein anderer Zustand, in welchem eine nähere Vorstufe der Stadt: die Burg, auftritt, und als deren Inhaber ein „König", der, durch Boden-, Sklaven-, Vieh- und Edelmetallbesitz ausgezeichnet, eine persönliche Gefolgschaft zunächst direkt an seiner Tafel speist, weiterhin, mit Land, Sklaven, Vieh und Schätzen beschenkt oder belehnt, an ihrer Spitze Kriegs- und Beutezüge unternimmt, dem übrigen „Volk" gegenüber aber eine sehr verschiedenartige, zwischen bloßem Anspruch auf gelegentliche Geschenke und ganz willkürlicher Belastung mit Robot, Tribut und Zwangsaufgeboten (als Troß oder Fußtruppe) zum Kriege schwankende, Stellung einnimmt, je nachdem er friedlich lebt oder sich erobernd ein „Reich" von „Untertanen" schafft. Die Lage des platten Landes in diesem Stadium ist uns äußerst dunkel. Die Entstehung des Burgenkönigtums pflegt an 1. fruchtbaren 0 Boden (Grundrentenfähigkeit), 2. Handelsgewinn gebunden zu sein. Regel ist, daß die Gefolgschaft des Königs als etwas Neues, deshalb Fremdes in die bäuerliche Volksgemeinschaft hineintritt. Königs- und Lehenrecht scheidet sich überall vom „Volksrecht". Die Gefolgsleute galten oft überhaupt nicht als Volksgenossen, selbst da wo sie dies waren. A 69 l Wie bei vielen „Naturvölkern", so gilt z.B. für die Gefolgschaft Davids („Krethi und Plethi") 53 und des legendären Gründers von Rom 5 4 die Tradition, daß ihre Gefolgschaft aus „banditi" 55 bestanden habe, und es ist möglich, daß noch in der mesopotamischen Stellung der königlichen Lehenträger (s.u.) 56 sich Spuren davon erhalten haben. Sobald der König erobernd auftritt, entspricht diese Indifferenz gegenüber der Nationalität seiner persönlichen

d A: fruchtbarem 5 3 B e z e i c h n u n g für die d e m K ö n i g völlig e r g e b e n e , j e d o c h aus fremden S ö l d n e r n b e s t e h e n d e L e i b g a r d e D a v i d s ( 2 . S a m u e l 8, 18 u.ö.). Vgl. Merx, Die B ü c h e r M o s e s und J o s u a , S. 36f. und 145, A n m . 4 (Ablehnung der traditionellen A b l e i t u n g von „Kreter und Philister"). 5 4 W e b e r spielt auf die vor allem durch Livius (1, 8, 4 - 6 ) bekannte Nachricht von der G e w ä h r u n g d e s A s y l r e c h t s an alle F r e m d e n durch Romulus bei der G r ü n d u n g R o m s an. 5 5 W e b e r spielt auf die D o p p e l b e d e u t u n g d e s italienischen .banditi' an: .Banditen', a b e r a u c h .Verbannte', .Geächtete'. Von „ B a n d e n " und „enfants perdus v e r s c h i e d e n e r Stämme" spricht im Z u s a m m e n h a n g mit D a v i d Merx, Die B ü c h e r M o s e s und J o s u a , S. 36. 5 6 Siehe unten, S . 3 8 1 f .

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Agrarverhältnisse im Altertum (3. Fassung)

Kriegsgenossen naturgemäß oft auch den Tatsachen: die Leibgarde wird, der Sache nach, Soldtruppe. Das Entstehen größerer Herrschaften ist dabei durch Differenzierung des Reichtums der Burgherren möglich: die „Könige" mit dem größten „ H o r t " machen andere Burgherren zu ihren Vasallen: der Anfang fast aller antiken „Staaten". 3. Eine fernere Annäherung an den „klassischen" Zustand der Mittelmeerländer in der Antike stellt die „Polis" in den Fällen dar, wo sie zugleich dem Typus des „Adelsstaates" entspricht. Eine für den Waffenberuf trainierte, durch den Umfang ihres Grund- und Schuldknechte- (oder Hörigen-)Besitzes ökonomisch zur Selbstausrüstung (in der kostspieligen Form der „Panhoplie") befähigte und für das ritterliche Leben des Adels disponible Schicht von „Geschlechtern" beherrscht eine „Akropolis" und von ihr aus das Land. Auch sie kann sich nur entwickeln, wo 1. die BodenquaWtät die Grundrentebildung gestattet: in den Flußebenen, - 2. Geldgewinn möglich ist: nahe der Küste. Der Lehenadel des alten Burgkönigs emanzipiert sich von seiner Herrschaft, und - das ist das Charakteristische gegenüber der analogen feudal-grundherrlichen Entwickelung im kontinentalen frühen Mittelalter (während dagegen die Entwickelung im frühmittelalterlichen Italien gewisse Ähnlichkeiten bietet) - konstituiert sich als eine sich selbst verwaltende, militärisch gegliederte städtische Gemeinde, vom König als primus inter pares oder (fast immer im weiteren Verlauf) von Wahlbeamten, abere - das ist das Entscheidende - ohne Bureaukratie, geleitet. Wer nicht ritterlich zu leben, an den militärischen Institutionen der Stadt nicht teilzunehmen vermag, gehört nicht in den Verband der „Geschlechter" hinein. Der Glaube an den Wert des „Blutes", der Abstammung, ist jetzt generalisiert.57 Die typische (nicht: die einzige) Arbeitskraft dieser Sozialverfassung ist der Schuldsklave. Der „ A d e l " ist zunächst eine Gläubigerschicht und wird zu einer Grundrentnerschicht. Der Bauer ist zunächst Schuldner und wird dadurch „erbuntertänig". Das platte Land ist daher, A 69 r neben den nicht zu den „Ge|schlechtem" gehörigen Bauern, regelmäßig von einer breiten Schicht von Schuldversklavten besetzt. e A: aber,

57 Vgl. dazu oben, S. 362 (dazu unten, S. 457 und 461f.).

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Zuweilen sind diese auch rechtlich als „Stand" von den Freien gesondert. Indes meist genügt das Schuld- und Prozeßrecht der Frühzeit, in Verbindung mit der Beherrschung der Gerichte durch die Herrenklasse, und das daraus erwachsende Institut der Klientel, um den gleichen Effekt zu erzielen. 4. Allein von dem Zustand des primitiven Heerkönigtums (oben Nr. 2 am Schluß) 58 ist eine Entwickelung nach anderer Richtung hin möglich: der König kann, ökonomisch an Macht steigend, Herr seiner Gefolgschaft und der militärischen Machtmittel werden, dergestalt, daß das Heer geradezu eine Art von Leibeigenenheer wird, und kann nun - die Hauptsache - einen ganz in seiner Hand befindlichen, hierarchisch gegliederten Searatenstand schaffen, durch den er die „Untertanen" regiert. Die „Stadt" wird dann seine und seiner Hofbeamten Residenz, entweder ganz ohne Autonomie (so namentlich im „städtelosen" Ägypten) oder mit wesentlich sakraler Autonomie (Assur) oder mit nur unpolitischer, vom König kontrollierter Lokalverwaltung und bestimmten Privilegien (so die urkundlich bezeugten Immunitätsprivilegien Babylons). 59 Die Lage des platten Landes in den älteren Stadien dieses autoritativen Stadtkönigtums ist meist ziemlich dunkel. Abgabe- und Robotpflichten der Untertanen können bis zum fast völligen Staatssozialismus60 (Ägypten) führen, oder es kann ein ziemlich großes Maß freier Bewegung im Privatverkehr bestehen bleiben, je nach der Struktur der Bedarfsdeckung des königlichen Haushalts: durch Fronden einerseits, durch „Steuern" andererseits, je nachdem also das Königtum mehr frankönigtum oder mehr Tributkömgium ist. Ersteres geht meist aus letzterem hervor und bildet sich seinerseits zu der gleich zu besprechenden Form 61 (Steuer- und Leiturgiestaat) weiter: ein „Rationalisierungs"-Prozeß. Schon in den beiden zuletzt genannten (selbstredend in den mannigfachsten Abstufungen von „Reinheit" vertretenen) Typen kann der Einfluß der Ver&e/irswirtschaft sich geltend machen. Ganz regelmäßig beruht die Entwickelung des zweiten Typus über-

58 59 60 61

Siehe o b e n , S . 3 6 3 f . Vgl. d a z u unten, S . 3 7 6 . Vgl. unten, S. 405 mit A n m . 4. Siehe unten, S . 3 6 7 f .

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Agrarverhältnisse

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haupt darauf, daß der Häuptling - etwa so wie die „Könige" von Kamerun vor der deutschen Okkupation (teilweise auch nachher) 62 - den Außenhandel monopolisiert oder doch sich irgendwie tributpflichtig macht und so den „Hort" aufspeichert, diese unentbehrliche Grundlage aller primitiven' - der Nibelungen- ebenso wie 5 der mykenischen, jüdischen (s[iehe] das Unterbinden der Hortbildung durch die Theokratie im Deuteronomium), 63 persischen, indischen - „Könige". Daran schließt sich die ökonomische UnterwerA 701 fung | der Bauern: Die Josephlegende, Genesis 47,15-26, stellt den Vorgang: - Getreidedarlehen zum Konsum und zur Saat in Notjah- 10 ren gegen Hingabe von Vieh, Boden und Person in die Schuldknechtschaft und Rückempfang zu Kolonenrecht gegen Ernteanteil - in typischer Form dar. Ob dann weiter eine Entwickelung zu dem Zustande ad 3 („Adelspolis") 64 oder ad 4 (Bureaukratisches Stadtkönigtum) 65 sich einstellt, ist offenbar (s.u.) 66 von verwickel- 15 ten teils geographischen, teils rein historischen Bedingungen abhängig. Naturgemäß steht aber innerhalb beider Typen im allgemeinen das Maß direkter Inanspruchnahme der Arbeitskräfte der Untertanenschaft, sei es in „grundherrlicher", sei es in „staatlicher" Form, für die Bedarfsdeckung sei es der herrschenden Geschlech- 20 ter, sei es des königlichen Oikos, in umgekehrter Korrelation zu der Entwickelung des privaten Binnentausch-Verkehrs. Soweit aber Abgaben die Grundlage der Herrschaft bilden, stehen beide dem Bodenverkehr an sich neutral gegenüber. Erbanwartschaftsrechte und - im Adelsstaat: grundherrliche, - im Königsstaat: militärisch 25 bedingte - Bindungen des Bodenverkehrs sind natürlich überall vorhanden. Aber der bureaukratische König (Nr. 4) 67 kann nach Ausbildung seines ihm persönlich „gehörigen" Heeres und des Beamten- und Abgabensystems die Freiheit des Bodenverkehrs

f A: p r i m i t i v e n , 6 2 „ K i n g s " war die e n g l i s c h e B e z e i c h n u n g der Dorfhäuptlinge in Kamerun, d a s 1884 vom D e u t s c h e n R e i c h in Besitz g e n o m m e n wurde. 6 3 W e b e r zitiert 5. M o s e 17,17: Der König „soll a u c h nicht viel Silber und G o l d sammeln". 6 4 Oben, S.364f. 6 5 Oben, S.365. 6 6 Siehe unten, S. 4 6 8 - 4 7 3 . 6 7 Oben, S.365.

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leicht ertragen. Die adeligen Geschlechter wünschen sie für den Bauernbesitz, da ihre Position auf dem Bodenwucher mit beruht. Aber der adelige Besitz ist (faktisch oder rechtlich) durch Bildung der Adelssippe (gens) gebunden. Der Despot hat dagegen - wie noch Napoleon zeigte - ein politisches Interesse daran, daß ohne eine von ihm ausgehende spezielle Verbriefung sich keine auf Bodenbesitz gegründeten patrimonialen 9 Herrschaftsrechte bilden können. Der „Tyrann" schränkt daher oft die Bodenakkumulation, wo sie droht, ein (Hellas), 68 läßt dagegen die Parzellierung, wo sie sich vollzieht (Orient), 69 gewähren. Aus dem 4. Typus: dem bureaukratischen Stadt- oder StromuferKönigtum, welchem das Heer und die Beamten als Leibeigene „gehören"11 und die „Untertanen" Robot und Tribut schulden, entwickelt sich mit zunehmender Rationalisierung der staatlichen Bedarfsdeckung: 5. der autoritäre Leiturgiestaat,70 der planmäßig die Deckung der Staatsbedürfnisse durch ein kunstvolles System von öffentlichen Lasten erstrebt und die „Untertanen" als reine Objekte behandelt. Ihrem formalen Wesen nach sind jene Lasten 1. direkte Robot für den Hof- und Staatsbedarf, - 2. auf dieser Robot und auf Zwangsrechten verschiedener Art aufgebaute Monopole, - | 3. Ab- A 70 r gaben, und zwar oft ganz überwiegend GeWabgaben oder geldwerte Vermögensleistungen, die aber durch ein System von Zwangsbürgschaften für den richtigen Eingang jenen charakteristischen funktionsgebundenen Zug bedingen, der den orientalischen Despotieen so oft eignet. Die „Verkehrsfreiheit" lehnt dieser Staat, soweit sie seine fiskalischen Zwecke nicht stört, nicht ab, - im Gegenteil, er begünstigt sie direkt, wo immer er durch Besteuerung an g A: patrimonalen

h A: gehören",

68 Vgl. unten, S. 492, 514 und 516 (jeweils Solon). 6 9 Vgl. die Hinweise unten, S. 391, 393, 397 und 435. 7 0 Mit dem hier zuerst eingeführten Begriff des „Leiturgie"staates knüpft Weber vor allem an Rostowzew, Staatspacht, an, der die Bedeutung der Leiturgien nicht nur im kaiserzeitlichen Ägypten herausarbeitete, sondern ihre Wichtigkeit für das gesamte Imperium der Kaiserzeit betonte: „Allmählig schleicht sich diese neue Form in die ganze Finanzorganisation der römischen Welt herein und beherrscht vollständig die letzten Jahrhunderte des römischen Reiches" (ebd., S. 421 f.; dazu S. 472 u. ö.). - Die (nur hier erscheinende) Charakterisierung als „autoritär" soll den monarchischen Staat von den nicht-autoritären älteren griechischen Poleis abheben, aus denen die Institution der „Leiturgien" ursprünglich stammte. Vgl. auch die Bandeinleitung, oben, S.42f.

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3. Fassung)

ihr fiskalisch profitieren kann. - Es pflegt dieser „aufgeklärte" Despotismus der orientalischen Antike sich ohne Bruch, nur durch seine rationalere Organisation unterschieden, aus den primitiveren Formen des bureaukratischen Stadtkönigtums zu entwickeln. Dagegen verbinden die untereinander allerverschiedensten Über- 5 gangsstufen den 3. Zustand („Adelspolis") mit: 6. dem Typus der „Hoplitenpolis" in den antiken Mittelmeerländern. Die Herrschaft der „Geschlechter" über die Stadt, der Stadt über das platte Land ist (formal) gebrochen. Die Wehrpflicht ist (relativ) demokratisiert durch die Herrschaft des Hoplitenheeres, 10 sie und damit das politische Vollbürgerrecht ruht auf dem Grundbesitz schlechthin, das Heer ist ein sich selbst equipierendes Bürgerheer. - Ihre Fortentwickelung ist: 7. die demokratische Bürgerpolis: Die Wehrpflicht und damit das Vollbürgerrecht ist vom Grundbesitz emanzipiert, und es besteht 15 die Tendenz (welche freilich selbst in den Zeiten der radikalsten attischen Demokratie z. B. in der Amtsqualifikation niemals wirklich voll durchgeführt ist) zur Zulassung aller (in den Seestädten) zum Flottendienst (der so gut wie keine Kosten der Selbstequipierung voraussetzt) Qualifizierten^ und das heißt: aller Bürger 20 schlechthin, zu den Staatsämtern, unter zunehmender Ignorierung der Unterschiede des Besitzausmaßes. In der Hoplitenpolis (No. 6) bildet die freie spannfähige Bauernoder richtiger vielleicht: Ackerbürgerschaft den Kern des Heeres. Der Verkehr, speziell der Bodenverkehr, ist in ihr nicht ungebun- 25 den. Die sogenannten] „Gesetzgebungen", welche für die Konstituierung der Hoplitenpolis typisch sind, suchen prinzipiell ein allgemein zugängliches, festes Recht zu schaffen und, um den Klassenkampf zwischen Gläubigern (Adel) und Schuldnern (Bauern) zu schlichten, die Klassenbildung zu stabilisieren. Der Boden ist daher 30 nicht nur durch Sippenrechte, sondern durch das militärische Interesse: ein Maximum wehrfähiger Hopliten zu tragen, gebunden (eine Art „Bauernschutz" seitens der Polis), die Ausdehnung des A 71 l Großbesitzes direkt oder in | direkt (Boden- oder Sklavenbesitzschranken, Beseitigung des alten Schuldrechts) gehemmt. - Dabei 35 zeitigt das Streben, die Differenzierung der Bürgerschaft zu hemmen, mannigfache „stadtwirtschaftliche" 71 Bestimmungen. Aber: 7 1 Z u m Begriff der „ S t a d t w i r t s c h a f t " vgl. o b e n , S. 86, A n m . 23, u n d S. 335.

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das Interesse der GeWbesitzer und der anschwellenden städtischen Klassen treibt vorwärts, und spätestens mit dem Übergang zur demokratischen Bürgerpolis wird der Boden der ganz oder doch fast ganz freien Disposition unter Lebenden und von Todes wegen unterstellt. Dieser Zustand als Unterlage der agrarischen Verhältnisse liegt für uns im vollen Licht der geschichtlichen Quellen. Was ihm vorhergeht, ragt in den verschiedensten Resten, von so extremen Fällen wie Sparta bis zu den spärlichen Resten leiturgisch (z. B. mit Wegebaulasten usw.) belasteter Äcker in der spätrömischen Republik, 72 in die für uns im vollen Sinn des Wortes „historischen" Agrarzustände hinein. In der „klassischen" Polis hat die Gesetzgebung bewußt die Institute des „Mittelalters" ekrasiert: Es kann kein Zufall sein, daß das private Agrarrecht der historischen Zeit im Orient (s. oben) 73 und Occident nicht nur keinerlei fideikommissarische Bindung des Bodens, sondern auch keine pr/vairechtliche Form der Belastung von Boden mit Fron- oder Rentenlasten kannte, überhaupt keine anderen Grundbelastungen außer 1. der Pfandhaft[,j 2. den absolut unentbehrlichen Wasser- und Wegeservituten, 74 - während doch die Möglichkeit der Belastung des Bodens mit Fron- und Erbpachtslasten überall der öffentlichen Gewalt möglich blieb, - daß ferner neben allen gemeinwirtschaftlichen Besitzformen (Allmende) 1 auch alle Arten herrschaftlicher Bodenleihek - außer der nackten beiderseits kündbaren Geld- oder Teilpacht - und alle rechtlichen Schranken der Bodenparzellierung im Erbgang sowohl wie außerhalb desselben auf dem Gebiet des privaten Agrarrechts beseitigt sind. - Nun greift die kapitalistische Entwickelung ein: An Stelle der verschwindenden Schuld- tritt die Kaußklaverei. Die Entwickelung der Bodenbesitz- und Betriebsverhältnisse unter ihrem Einfluß und zugleich unter dem Einfluß der politischen Peripetieen des Stadtstaates bildet das Thema der Agrargeschichte der „klassischen" Zeiten. Sie hat im wesentlichen überall von dem Sinken der in der „Hoplitenpolis" hochgekommenen freien grundbesitzenden, spannfähigen Bauernschaft und dem i A: (Allmende),

k A: Bodenleihe,

7 2 G e m e i n t sind die viasii vicani, unten, S . 6 6 0 u n d 686 (ausführlich „ R ö m i s c h e A r g r a r g e s c h i c h t e " , M W G 1/2, S. 228f.). 73 Siehe o b e n , S . 3 6 7 . 74 Zur hier f o r m u l i e r t e n U n t e r s c h e i d u n g von Wasser- und W e g e s e r v i t u t e n vgl. o b e n , S. 9 mit A n m . 26.

370

Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

Vordringen von Sklaven- oder von Parzellenpächterbetrieben, parallel mit dem Vordringen entweder des Soldheeres oder (in Rom) des cäsaristischen Proletarierheeres, zu berichten. Steht der freie kündbare Pächter und der Sklave am Ende der A 71 r „klassischen" | Epochen - ersterer von vorwiegender Bedeutung 5 im Osten, letzterer als Landarbeiter im Occident vorwiegend, beide übrigens, ohne je die /I//Einherrschaft gegenüber dem fast überall, oft in recht kompakten Massen und in der Überzahl, sich erhaltenden selbstwirtschaftenden Eigentümer zu gewinnen, - so tritt nun in den Zeiträumen nach der endgültigen Ablösung des 10 Stadtstaates durch die universelle Militärmonarchie eine Erscheinung langsam immer mehr in den Vordergrund, welche anscheinend etwas gänzlich Neues ist: die ländliche Grundherrschaft. An die Scholle - zugunsten, aber (wohlgemerkt) in gewissem Sinn damit auch zulasten - des Herrn gebundene Kolonen mit (mehr oder 15 minder) traditionell gebundenen Pflichten und Ansprüchen; die Grundherren als Ortsobrigkeit; die Staatslasten, speziell Steuern und Rekrutengestellung als Lasten dieser Grundherrschaften; Immunitäten verschiedenen Umfangs zu ihren Gunsten, - das sind Erscheinungen, welche die „Bürgerpolis" (Nr. 6, 7) 75 natürlich 20 nicht kennt, vielmehr normalerweise bewußt ausschließt. Das Entstehen des Gebildes erscheint daher als absolute Neuschöpfung. In Wahrheit hat es zu bestehen sicherlich nie aufgehört. Nur sein Herrschaftsgebiet war zusammengeschmolzen und seine universelle Bedeutung hatte sich seit den Zeiten des Burgenkönigtums für 25 lange außerordentlich vermindert. In den breiten städtelosen kontinentalen Binnengebieten hatte es zweifellos immer Grundherrschaften in mehr oder minder ausgeprägter Entwickelung gegeben, und sobald die orientalischen Stadtkönigtümer und Leiturgiemonarchieen sich zu „Weltreichen" erweiterten - zuerst im Assy- 30 rerreich -, 7 6 bildeten sie naturgemäß ein Konglomerat von städtisch und von grundherrlich - als Domänen oder Lehen - organisierten Gebieten. So namentlich auch das Perserreich. Ebenso, mindestens (schwerlich immer: nur) für das Domänenland, wo der Herrscher die privatrechtlichen Befugnisse des Besitzers mit sei- 35 7 5 Oben, S. 368. 7 6 Gemeint ist das sogenannte neuassyrische Reich des 9 . - 7 . Jahrhunderts v.Chr., das sich auf dem Höhepunkt seiner Machtexpansion vom Iran bis Ägypten erstreckte.

I. Einleitung

371

nen Verwaltungszwangsrechten ungeschieden vereinte, die hellenistischen Monarchieen, welche allerdings im ganzen ihrer Struktur nach (außer in Ägypten) die Polis als Organisationsgrundlage entschieden begünstigten und propagierten. Das römische Weltreich 5 als Abschluß der Antike bedeutete schließlich auch im Occident eine Verschiebung der Kultur und des (militärisch zunehmend relevanten) Bevölkerungsschwerpunktes von den Küsten in das Binnenland, und damit eine weitgehende Verschiebung in den ganzen gesellschaftlichen Grundlagen und in den Organisationsproblemen 10 des Staatswesens. Mit diesen Verschiebungen und mit ihren ökonomischen Konsequenzen für die kaiserliche | Politik hing dann die A 72 l Entwickelung derjenigen sozialen Institutionen zusammen, welche den Übergang zu unserer mittelalterlichen Gesellschaft bedeuten. Die zentralen agrargeschichtlichen Phänomene dieser Epoche und 15 der spätantiken Grundherrschaft überhaupt werden daher in einem gesonderten Artikel („Kolonat") behandelt werden. - 1 Daß die vorstehenden „Typen" des „Bauerngemeinwesens", 78 der „Adelspolis", des „bureaukratischen Stadtkönigtums", der „Hopliten-" und „Bürgerpolis", der „Leiturgiemonarchie" 1 selten 20 reinlich geschieden neben- oder nacheinander existierten, braucht kaum bemerkt zu werden. Diese „idealtypischen" Begriffe dienen hier nur dazu, den einzelnen Staat danach orientierend zu klassifizieren: ob er sich, im ganzen oder in bestimmten einzelnen Beziehungen, zu einem gegebenen Zeitpunkt dem einen oder dem ande25 ren jener begrifflichen Typen mehr oder minder annähert. Denn die realen Staatswesen spotten naturgemäß in den historisch wichtigsten Bestandteilen ihrer Eigenart meist jeder so einfachen Klassifikation. Vor allem ein historisch wichtiger Typus ist dabei gar nicht zu seinem Recht gekommen: die militärisch, als Hoplitenver30 band, konstituierte Samtgemeinde von .Bauernschaften, wie sie im Altertum mehrfach, allerdings m. E. immer sekundär: unter teilweiser Übernahme städtischer Institutionen, auftritt (Altisrael, Aitoler, Samniten 79 ). I A: „Leiturgiemonarchie", 7 7 Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 312f. 7 8 Nach dem Bauerngemeinwesen erwartet man die Nennung auch des „Burgenkönigtums", vgl. oben, S.363f. 7 9 Näheres zu Altisrael unten, S. 441; zu den Aitolern unten, S. 543; zu den Samniten (.Sabellern') unten, S.599f. und 654.

372

Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

Immerhin kann die vorstehende Klassifikation außer dem terminologischen wohl auch den Nutzen haben, uns gegenwärtig zu halten, wie grundverschieden die Entwickelungsstad/en sind, in denen uns der Zufall des Beginns historischer Quellen die einzelnen antiken Nationen antreffen läßt. Die mesopotamischen und das ägypti- 5 sehe Staatswesen haben sicher zahlreiche Jahrtausende städtischer oder (Ägypten) stadtartiger Entwickelung schon hinter sich, als die ältesten für uns erreichbaren Quellen zu fließen beginnen. Sie sind bereits „Leiturgiekönigtümer". Die Römer haben in der Zeit sicher beglaubigter Überlieferung das Stadium der „Bürgerpolis" der Sa- 10 che nach schon überschritten. 80 Für die Hellenen lassen sich manche ziemlich sichere Schlüsse noch für das Stadium der „Adelspolis", ja selbst des „Burgenkönigtums" machen. Die unsicheren Nachrichten über die Kelten 81 (die hier nicht mit abgehandelt werden) zeigen diese in allen drei ersten „Stadien". Dabei sind aber, 15 ferner, die Entwickelungsgänge von Sparta, der attischen Demokratie in der Hegemoniezeit" 1 und Roms durchaus „einzigartige" in den historisch relevantesten Punkten, und es schließen sich überA 72 r haupt oft Einzelzüge aus verschiedenen jener begrifflich geschiedenen „Stadien" zu einem spezifisch gearteten konkreten Ganzen 20 zusammen. Schließlich und vor allem kreuzt der offene oder latente Kampf weltlich-politischer mit theokratischen Gewalten, die ganze Struktur des sozialen Lebens beeinflussend, jene nach rein militärischen Konstituenzien geschiedenen „Typen". Wohl überall besteht ur- 25 sprünglich eine Kombination von fürstlicher und priesterlicher Funktion. Allein eine Funktionsspezialisierung war mit ausgebildeterer Priestermacht und theologischer Entwickelung unvermeidlich. Die Machtstellung der Priesterschaft beruhte, neben dem materiellen Schwergewicht ihres Besitzes an Stiftungsgut und Einnah- 30 m A: Hegemoniezeit, 8 0 Gemeint ist offenbar, daß die Lösung der Wehrpflicht und des Vollbürgerrechts vom Grundbesitz als Kennzeichen der „Bürgerpolis" (oben, S. 368) in Rom spätestens seit dem Ende der Ständekämpfe im frühen 3. Jahrhundert v. Chr. verwirklicht war. Damals etwa setzt auch die „sicher beglaubigte Überlieferung" ein, während die Anfänge des folgenden Stadiums sich erst mit der sog. Heeresreform des Marius (107 v.Chr.) abzuzeichnen begannen. 81 Die Darstellung von Meitzen, Siedelung und Agrarwesen 1, läßt in dem KeltenKapitel (S. 174-232) Beispiele für „Dorfsiedlung" (Irland, bes. S. 184-188), Burgenkönigtum (S. 131 mit Anm. 1) sowie „Adelspolis" (Gallien, S. 2 2 2 - 2 2 8 ) erkennen.

I.

Einleitung

373

men und der Beherrschung der Massen durch die Angst vor den Folgen von Sakrilegien, auch darauf, daß alle ursprüngliche „Wissenschaft" in ihrer Hand lag. Daraus folgte zweierlei: 1. allgemein: ihre Kenntnis des Rechts, welche, solange dasselbe nicht kodifiziert 5 war, den im Besitz der Priestertümer befindlichen Geschlechtern überall eine unerschütterliche Machtstellung gab, - 2. speziell in den bureaukratisch regierten Königsstaaten: daß alle Bildung, welche Vorbedingung der Verwendung in den königlichen Ämtern war, fast nur durch die Unterweisung der Priester zugänglich wur10 de. Überall hat die orientalische Priesterschaft sich den Unterricht anzueignen gesucht: so ist sie als die Bildungsstätte in Ägypten im „neuen Reich" an die Stelle der profanen „Lehre" beim weltlichen Beamten getreten. 82 - Kämpfe der Tempelpriesterschaften mit dem Militäradel und der Königsgewalt in den bureaukratischen 15 Königsstaaten11 und Kämpfe der nichtadligen Bürger gegen das Rechtsmonopol der adligen Priester in den Geschlechterstaaten durchziehen daher - in den verschiedensten Frontstellungen - die Frühzeit der Antike und beeinflussen auch die materielle Kulturentwickelung: Säkularisationen und Restaurationen (durch Usur20 patoren, welche die Legitimität erstreben) wechseln ab. Auf die wichtigen Unterschiede orientalischer und occidentaler Kultur in dieser Hinsicht wird weiter unten 83 einzugehen sein. Es kann hier weder der Versuch einer Klassifikation noch einer Geschichte aller bekannten Agrarverfassungen gemacht, sondern 25 nur eine Skizze des über die Agrargeschichte der historisch wichtigsten Staaten Bekannten versucht werden. Dabei muß freilich nachdrücklich betont werden, daß heute - handelte es sich nicht um die Verpflichtung einer „Neuauflage" 84 - dieser Versuch unbedingt den Fachspezialisten überlassen worden wäre. Denn das im 30 letzten Jahrzehnt publizierte Material spottet nach Umfang und Anforderungen an die Beherr|schung des kulturhistorischen Ge- A 73 l samtmaterials der Kräfte eines jeden nicht spezialistisch (und das heißt: philologisch-archäologisch) geschulten Bearbeiters. n A: Königsstaaten, 8 2 Gedacht ist offenbar in erster Linie an die Ausbildung der Schreiber und deren zunehmende Verlagerung an Tempelschulen. 8 3 Siehe unten, S. 504-506. 8 4 Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 301 f.

374

Agrarverhältnisse

im Altertum

(3. Fassung)

II. Die Agrargeschichte der Hauptgebiete der alten Kultur. 1. Mesopotamien. a

Was den asiatischen Orient anlangt, so liegt das Material, welches die erstaunlichen Leistungen der Keilschriftforschung zutage fördern, bis jetzt, auch nach der Auffindung des „Codex Hammurabi", 1 nicht in einer solchen Verfassung vor, daß derjenige, welcher auf das Studium der übersetzt vorhandenen Texte und im übrigen auf das Schöpfen aus zweiter Hand angewiesen ist, von definitiven Resultaten für die Analyse des Wirtschaftslebens wird sprechen dürfen. Gerade die für die juristische und sozialgeschichtliche Betrachtung wichtigsten Texte sind in der Deutung oft unsicher. Und bei Verwendung der alttestamentlichen Schriften bleibt die Frage, wo die nachexilische „Staatsroman"-Produktion 2 aufhört, die tatsächlichen Zustände zu färben, gerade für manche charakteristischen Institutionen trotz der Arbeiten von Wellhausen, E[duard] Meyer, Guthe, Jeremias, Winckler, jüngstens: Afdalbert] Merx noch höchst dunkel. 3 Auch die nachfolgenden notgedrungen kurzen Bemerkungen können daher nur mit allem Vorbehalt gemacht werden. In den mesopotamischen Kulturstaaten ist neben der Aufzucht der sämtlichen Haustiere die Landwirtschaft sehr früh - besonders

a-a

(S. 402) Petitdruck in A.

1 Die Stele mit der 2 6 2 . P a r a g r a p h e n ' u m f a s s e n d e n R e c h t s a u f z e i c h n u n g d e s b a b y l o n i s c h e n K ö n i g s H a m m u r a b i ( n a c h der „mittleren" C h r o n o l o g i e : 1 7 9 2 - 1 7 5 0 v.Chr.) war 1901 u n d 1902 in m e h r e r e n Teilen bei f r a n z ö s i s c h e n G r a b u n g e n in S u s a g e f u n d e n w o r d e n , w o h i n sie im 1 2 . J a h r h u n d e r t v.Chr. v e r s c h l e p p t w o r d e n war. W e b e r s e l b s t legte h a u p t s ä c h l i c h die Ü b e r s e t z u n g in Kohler/Peiser, H a m m u r a b i s Gesetz, z u g r u n d e . Vgl. n o c h unten, S. 384 mit A n m . 58. 2 Staatsroman: vgl. o b e n , S. 157, A n m . 44. - In der zweiten F a s s u n g d e s Artikels hatte W e b e r a u s d r ü c k l i c h d a s J o b e l j a h r als Beispiel g e n a n n t ( o b e n , S . 1 5 8 ; d a z u unten, S. 4 4 4 f . ) . 3 G e m e i n t s i n d in erster Linie W e l l h a u s e n , Israelitische u n d j ü d i s c h e G e s c h i c h t e : ders., P r o l e g o m e n a ; Meyer, E n t s t e h u n g d e s J u d e n t u m s ; Guthe, G e s c h i c h t e d e s Volkes Israel; J e r e m i a s , Altes Testament; Winckler, G e s c h i c h t e Israels; Merx, Die B ü c h e r M o s e s und Josua.

II. 1. Mesopotamien

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in Babylonien - in starkem Maß zur intensiven Gartenkultur entwickelt. Neben dem Getreide erscheinen namentlich die Dattelpalmengärten als regelmäßige Bestandteile aller erheblichen Vermögen und Sesam als ein Hauptbedarfsgegenstand; daneben finden sich in den Urkunden alle denkbaren Gemüse und Hülsenfrüchte, Rüben, Rettich, Gurken, Koloquinten, Zwiebeln, Knoblauch, - dieser ist in ungeheuren Quanten (Hunderttausende von Maßeinheiten) Gegenstand von Lieferungsgeschäften, - Dill, Lattich, Mangold, Koriander, Safran, Ysop, Thymus, Brombeeren usw., die namentlich in den königlichen Gärten gezogen wurden. 4 Dagegen fehlt der Wald: Bauholz erobert der König von Assyrien im Libanon, von seinen Jagden in den Wäldern der nördlichen Berghänge berichten die Inschriften promiscue mit Kriegstaten. Die Viehzucht (Schafe und Rindvieh) spielt in Hammurabis Kodex eine erhebliche Rolle, 5 offenbar ist aber der weitaus größte Viehbesitzer der König selbst. - Grundlage der Bodenbebauung ist die Bewässerung: mit jeder Neusiedelung ist die Anlage eines Kanals verbunden, der Boden in spezifischem Sinne Arbeitsprodukt, die Stelle der relativ individualistischen Rodung im Urwald vertritt hier der notwendig in irgend einer Form gemeinwirtschaftliche Kanalbau. Im letzten Grunde hierin ist das ökonomische Motiv der, ähnlich wie in Ägypten (s.u.),6 auch hier übermächtigen Stellung des Königtums zu sehen. Schon Inschriften aus dem ältesten („sumerisch-akkadischen") Kulturzentrum wimmeln von Kanal- und Bewässerungsfragen, und im assyrischen Nordland ist es später nicht anders.7 Alle möglichen Deich- und Kanalfronden auf der einen Seite, zahlreiche | königliche Aufseher auf der anderen lenkten das A 73 r alte Stadtkönigtum alsbald in die Bahn bureaukratischer Verwaltung. Im Kriege erobern die Könige von Babel und Assur, - namentlich diejenigen des letzteren, eines expansiven Raubstaates, vor allem regelmäßig Eins: Untertanen, welche alsdann einen neu-

4 Vgl. d a z u o b e n , S. 158 mit A n m . 46. 5 Vgl. Kohler/Pelser, H a m m u r a b i s G e s e t z , S. 114. 6 Siehe u n t e n , S . 4 0 3 f . ; vgl. a u c h S . 4 6 9 . 7 W e b e r b e z i e h t s i c h auf die I n s c h r i f t e n bei T h u r e a u - D a n g i n , S u m e r i s c h e u n d a k k a d i s c h e K ö n i g s i n s c h r i f t e n , S . 3 , 5, 7, 23, 45, 47 ( K ö n i g e v o n L a g a s c h , c a . 25./24. Jahrh u n d e r t v . C h r . ) ; zu A s s y r i e n vgl. d e n B e r i c h t S a n h e r i b s ü b e r s e i n e K a n a l a n l a g e n in Ninive, in: M e i s s n e r / R o s t , B a u i n s c h r i f t e n S a n h e r i b s , S. 7 5 - 7 7 .

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

en Kanal für eine neue Stadt zu graben haben und in dieser, mit zeitweiligen Fronden- und Abgabenprivilegien, angesiedelt werden, um demnächst die Einnahme- und Machtquellen des Königs zu vermehren. Die Assyrerkönige der Eroberungszeit 8 heben hervor, daß die Unterworfenen „ Tribut und Steuern zahlen gleich den Assyrern",9 - welche also auch ihrerseits als Besitzobjekt des Königs gelten. Das ist nicht das Ursprüngliche und auch später nicht voll durchgeführt. Die Stadt Babel beruft sich in einem Schreiben an den Assyrerkönig auf Privilegien, die ihr von dessen Vorfahren erteilt worden seien (Immunitäten bestimmter Art, vor allem ein sehr günstiges Fremdenrecht im Interesse des Handels). 10 Auch andere Städte haben garantierte Privilegien. Es kommt vor, daß die „Ältesten", etwa von Babel und Sippar, zur Beratung über einen Tempelbau zusammenberufen werden, 11 wie auch der Assyrerkönig die „Edlen b und Bürger" der Assyrer nach Erbauung seines neuen Palastes darin bewirtet. 12 Aber den Grundcharakter alteriert das nicht mehr. Die Wirtschaft des Königs ist ein die Privatwirtschaften überragender Oikos. Er wird gespeist l.aus den Domänen des Königs und seinem umfangreichen Leibeigenen- und Hörigenbesitz - der Sumererkönig hat, ebenso wie offenbar alle späteren Könige, eigene Hirten, - 2. aus den a) Fronden und b) Naturalabgaben der Untertanen. Wie sich in den einzelnen Zeiträumen die Bedarfsdekkung auf Domänen (bezw. Eigenbesitz an Vieh) und Tribute verteilt hat, ist unsicher. Für die Feldfrüchte überwiegen wohl - im Gegensatz vielleicht (wenigstens in der Frühzeit) zum Vieh - die letzteren. Ebenso ist das Verhältnis von Sklavenbesitz des Königs und Untertanenrobot unsicher, - aber wohl auch ziemlich flüssig.

b A: „Edelen (vgl. oben, S. 159, Z. 4.) 8 D.h. die Zeit des neuassyriaschen Reiches, etwa vom 9. bis 7. Jahrhundert v.Chr. 9 Das Zitat beruht auf Menant, Annales des rois d'Assyrie, S. 197, Z. 10 (Sargon II.). 10 Gemeint ist ein von Winckler, Zur babylonischen Verfassung, behandeltes Schreiben „der Babylonier" an (die Brüder) Assurbanipal und Samas-sum-uktn (ebd., S. 471 f.; 6 6 8 - 6 6 7 v. Chr. datiert). 11 Vgl. Latrille, Nabonidcylinder, S.30, Z. 32. 12 Das Zitat entstammt der Übersetzung von Abel, Ludwig, in: Keilinschriftliche Bibliothek 2, S. 141, Z. 34 (Assarhaddon; dort: Edeln). Gemeint ist das sog. Arsenal in Ninive.

II. 1.

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Mesopotamien

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Das liegt in der Sache begründet: Ganz wie die Pharaonen haben schon die sumerisch-akkadischen Stadtkönige mit Regulierung der Robot, Fürsorge für Speise und Trank der requirierten Arbeiter und für die ihnen zu gewährenden Naturalgratifikationen unausgesetzt zu schaffen. Der König hat die allerverschiedensten Speicher (Wagenhaus, Getreidehaus, Rinderhaus, Gewürzhaus, Schatzhaus usw.)13 und Werkstätten. Der sumerische König läßt Gold importieren und verarbeitet es zu einem Prunkköcher in eigener Werkstatt, 14 Steine werden gebrochen und in eigener Werkstatt Statuen daraus hergestellt, vor allem alles für die Bauzwecke des Königs in eigener Regie bereitet, dazu Holz von weither importiert. 15 Es sind offenbar um die Königsburg herum mit Grundstücken angesiedelte und zur Robot verpflichtete Handwerker, die ihm dabei als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Die Assyrerkönige benutzen später für ihren kolossalen Baubedarf nebeneinander die Kriegsgefangenen und ihre einheimischen robotpflichtigen Handwerker, letztere für die feineren Arbeiten. Sanherib rühmt sich technischer Neuerungen in der | Bronzeplastik und macht sich über seine Vor- A 74 l fahren lustig, die „in ihrem Unverstand c ... c alle Handwerker stöhnen ließen". 16 Eine sichere Grenze zwischen Königssklaven und robotpflichtigen politischen Untertanen bestand also offenbar nicht. - 3. Der Sumererkönig hebt „Bootsleute und ihren Kapitän" aus und dediziert sie dem Tempel: 17 Eigenhandel selbst zu treiben^] scheint der König also damals nicht geneigt gewesen zu sein. Daß er es aber ursprünglich tat, erscheint zweifellos, und daß in Form eines stetigen „Geschenk"-Austausches mit fremden Fürsten dieser Eigenhandel noch 1000 Jahre später bestand, ist bekannt. 18 Sicherlich ist gerade die Monopolisierung des Zwischenhandels an

c Auslassungszeichen in A. 1 3 Weber bezieht sich auf Thureau-Dangin, Sumerische und akkadische Königsinschriften, S. 121, Z. 3 - 1 5 (Gudea, vgl. unten, Anm. 19). 1 4 Ebd., S. 71, Z. 3 8 - 4 1 (Gudea). 1 5 Ebd., S. 103, 107, 115 (Gudea) u.ö. 16 Weber zitiert Meissner/Rost, Bauinschriften Sanheribs, S. 12f. 17 Dem Zitat liegt zugrunde Thureau-Dangin, Sumerische und akkadische Königsinschriften, S.77 (Gudea). 18 Gemeint: durch die entsprechende Überlieferung in den Amarna-Tafeln; dazu unten, S. 430.

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

den Strommündungen die älteste Grundlage der Machtstellung der Stadtkönige des Südlandes, welches deshalb der älteste Träger königlicher „Oiken" war, wie die Deltagegend in Ägypten. - 4. Namentlich in Assyrien flössen dem Tresor des Königs Mittel zu aus der Beute der, auf der Höhe der Macht alljährlich, unternommenen Raubkriege. Als eines der wichtigsten staatlichen Machtmittel, speziell als Reservefonds zu Anleihezwecken, haben hier, wie im ganzen orientalischen und auch im hellenischen Altertum, die Tempelschätze gedient. Die Speisung dieser Schätze, die Fixierung der Kasualien und (speziell: Ehe-)Gebühren und die Verfolgung von Winkelpriestern („Zauberern") und Ketzern zugunsten des Monopols des anerkannten Gottes ist eine Angelegenheit schon der sumerisch-akkadischen Stadtkönige. 19 Der König schuf freilich so, durch die Entstehung von großen Edelmetall- und Naturalienvorräten, auch Grundbesitz, in den Händen der Tempelpriesterschaft eine ökonomische Macht, welche ihm eventuell gefährlich werden konnte und welche tatsächlich weiterhin mit den weltlichen Lehensträgern und Beamten fast überall in einen wechselvollen Interessenkampf um die Beherrschung des Thrones und die Ausbeutung dieser Herrschaft getreten ist. Die Priestergeschlechter verhalten sich sozial, wo sie die Macht haben, nicht anders als die Stadtgeschlechter in Althellas. Das alte lokale Stadtkönigtum der Zeit vor Hammurabi hat fortwährend einerseits gegen Gebührenüberforderung, Verschuldung und Besitzberaubung der „Armen" durch die Priester zu kämpfen. 20 Andererseits muß es die Beamten 1. an Ausbeutung der Fronpflicht der Untertanen im eigenen Interesse, 2. an Verkürzung der bei Ableistung der Robot zu gewährenden Kost, 3. an Preisdruck beim Abkauf ihrer Produkte oder direkten Zwang zum billigen Verkauf (speziell von Vieh) an die „Großen" hindern - letzteres durch Feststellung von Preistarifen. Wenn ein Sumererkönig von sich sagt, er habe die „Freiheit eingesetzt" 21 und „die ehemals 19 Vgl. Thureau-Dangin, Sumerische und akkadische Königsinschriften (S.81, 85: Vermehrung der Tempelschätze; S.69, 103: Maßnahmen gegen Zauberer, jeweils durch Gudea, 20 Jahre lang (neusumerischer) Stadtfürst von Lagasch im südlichen Mesopotamien zwischen 2130 und 2030 v.Chr.). 20 Ebd., bes. S.49, 53, 55 (Urukagina, neuere Lesung: Uru'inimgina, Herrscher und Reformer in Lagasch um 2350 v.Chr.). 21 Ebd., S. 53 (Urukagina).

II. 1.

Mesopotamien

379

bestehende Leibeigenschaft" beseitigt, 22 so ist damit wohl nur gemeint: 1. die Herabsetzung oder der Erlaß gewisser öffentlicher Fronden („in dem Gebiet von X war fortan kein Aufseher mehr"), 23 2. wohl auch die Beseitigung privater Aneignung des 5 Rechts auf solche, vor allem aber immer wieder 3. der Schutz der „Armen" durch Sicherung konstanter Rechtsprechung111 und des bäuerlichen und kleinbürgerlichen Erwerbes und Besitzes gegen willkürliche Eingriffe, - in welchem speziellen Sinn letzteres, bleibt zweifelhaft (s.u.). 24 Namentlich | das Drückende des Verlangens A74r 10 der „Großen" (d.h. der Beamten und der großen Besitzer, weltlicher oder, unter Umständen, Priester-Geschlechter), daß der dem Staat oder dem weltlichen oder geistlichen Adel verschuldete (dies heißt: „leibeigene") Kleinbesitzer bares Geld zahlen solle, wird erwähnt. 25 Die ökonomische Situation ist also wohl ziemlich ähnlich 15 wie in Hellas in der Zeit vor den „Gesetzgebungen": - die übermächtige Stellung der Priesterschaft und die bureaukratische Staatsorganisation bilden den entscheidenden Unterschied. Der König sucht - wie der griechische „Tyrann" (wenigstens in Althellas) - sich die Sympathie der Bauern und Kleinbürger zu sichern. 20 Aber: bei allem Kampf mit den Beamten bedarf der König des bureaukratischen Apparates, und trotz des Kampfes mit den Priestern ist ihm die Legitimität unentbehrlich, welche nur entweder durch Apotheose (Ägypten) oder göttliche Bestätigung zu erlangen ist. Reine Militärkönige auf Eroberungsgebiet (Assyrien) 25 suchten sich der Priesterkontrolle wohl erfolgreich zu entziehen. Alte „Kulturstaaten" duldeten das schwerer. In Babylon, wo die Theokratie weit ausgeprägter war als in dem assyrischen Militärstaat, gilt der König als göttlicher Lehnsmann (alljährliche Neuinvestitur!). 26

d A: Rechtsprechung, 2 2 Ebd., S. 51 ( U r u k a g i n a ) . 2 3 Ebd., S. 51 ( U r u k a g i n a ) . 2 4 S i e h e unten, S . 3 8 5 f . 2 5 T h u r e a u - D a n g i n , S u m e r i s c h e u n d a k k a d i s c h e K ö n i g s i n s c h r i f t e n , S . 5 1 , 53, 55 ( U r u k a g i n a ; „Große" e b d . , S . 5 3 ; „ L e i b e i g e n s c h a f t " e b d . , S . 5 1 ) . 2 6 D a s erst a u s der h e l l e n i s t i s c h e n Zeit überlieferte alljährliche N e u e i n s e t z u n g s r i t u a l wird v o n Meyer, G e s c h i c h t e d e s A l t e r t u m s 2, S. 1 2 9 - 1 3 1 , b e h a n d e l t .

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

Zu den Abgaben der Untertanen gehören von jeher, soweit wir sehen können, mehrere wohl kaum sicher zu unterscheidende Getreideabgaben, später nach rechtlichen und Qualitäts-Bodenklassen abgestuft, 27 ebenso jedenfalls Naturalabgaben von allen übrigen Produkten, von anscheinend sehr bedeutender Höhe: - die Pachtverträge pflegen über ihre Zahlung Bestimmungen zu enthalten. 28 (Bruchstücke von Katasterkarten sind erhalten.) 29 Ferner eine anscheinend auch von Freien, jedenfalls von Frauen ^vielleicht ursprünglich: von allen nicht Wehrfähigen] 0 erhobene Kopfsteuer. 30 Daneben finden sich später einzelne Verkehrsabgaben, so von Sklaven- und Grundstücksverkäufen. 31 Wo eine Kontraktbruchsbuße an den Staat vereinbart wird, scheint dies in der älteren Zeit noch die Leistung von Fronden an den König gewesen zu sein: Strafarbeit als Rest des Fronkönigtums. Zu den Leiturgieen, die auf dem Boden ruhten, gehörte auch die Gestellung von Kriegern (in der Perserzeit durch Stellvertretung erfüllt). Wie aber im übrigen, namentlich in dem spezifischen Militärstaat Assyrien, ökonomisch die (auch wenn alle möglichen - übrigens keineswegs an sich zu vermutenden - Übertreibungen der Inschriften abgezogen werden) sehr bedeutende, disziplinierte, zu Pionierarbeiten und gewaltigen Marschleistungen befähigte Heeresmacht beschafft und sustentiert wurde, ist noch nicht ganz deutlich. Die grundsätzliche Wehrpflicht aller Untertanen - mit Ausnahme des Tempelpersonals, des königlichen Hofhalts, der Hirten und, wie es scheint, der königlichen Kolonen, - ergibt sich aus Hammurabis Briefen. 32 Allein dieses Aufgebot war sicherlich nur als Landsturm in den äußersten Fällen zur Verteidigung praktikabel. Die Wagenkampf-Technik, auf welcher die militärische Expansion der Euphratstaaten beruht, erforderte sicherlich den Berufskxieger, und auch die Reie [ ] in A. 2 7 Vgl. Peiser, Texte, S. 271 mit Anm. * (Zeit Kyros' II.). 2 8 Beispiele finden sich bei Peiser, ebd., S. 153, Nr. XIX (Zeit Assurbanlpals), und S.311, Nr. IX (Zeit Dareios' I.). 2 9 Vgl. dazu Maspero, Histoire ancienne 1, S.761. 3 0 Eine derartige Kopfsteuer wird erwähnt bei Peiser, ebd., S. 193, Nr. I (Assurbanipal). 31 Ebd., S. 191, Nr. XVI (Nebukadnezar II.); S.245, Nr. XLIII (Nabonid, Sklaven); S. 173, Nr. II (Assurbanipal); S.225, Nr. XIX (Nabonid, Grundstücke). 3 2 Vgl. Delitzsch, Zusatzbemerkungen, S.498.

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terei und das bei größeren Kriegen | immerhin wohl nach mehre- A 75 l ren Zehntausenden zählende Fußvolk - Salmanassar II. will in Syrien einem Heer von rund 70 000 Mann (bei rund 4 000 Wagen), dessen Bestandteile er aufzählt, gegenübergestanden haben 33 sind bei den Generationen hindurch jährlich geführten Kämpfen natürlich nicht mehr durch Aushebung selbstwirtschaftender Bauern nach Art des (recht bald fiktiv gewordenen) germanischen Heerbanns 34 beschafft worden. Ein militärisch geübtes und dabei nationales Heer wäre der Königsmacht gefährlich gewesen, 35 und die gartenartige Kultur machte seine Schaffung ökonomisch unmöglich: eine sich selbst equipierende Hoplitenschaft fehlt diesem von Anfang an theokratisch-bureaukratischen Städtestaat. Die später üblich werdende Werbung gehört der Frühzeit schwerlich an. Sondern: die Wagen, Speere und Rüstungen stellt der König aus seinen Zeughäusern. Die Pferde wird er demgemäß vielleicht ebenfalls aus seinen Herden oder durch Requisition beschafft haben. Was die Menschen anlangt, so finden wir für die Zeit Hammurabis die „Soldaten" des Königs als Inhaber von Dienstlehen, auf denen der Berufskriegsdienst als Leiturgie ruht. 36 Die Lehensinhaber bilden dabei offenbar keine den übrigen Untertanen gegenüber ständisch bevorzugte Schicht. Daß ihnen ein Mal eingebrannt worden sei (Daiches), 37 kann allerdings vielleicht auf terminologischer Identifikation mit privaten Schuldknechten beruhen. Doch ist die Identität der Bezeichnung 38 in jedem Falle auffallend. Sollte die betreffende Urkunde 3 9 tatsächlich auf einen königlichen Heerespflichtigen (der einem Großen zur Verfügung gestellt war) zu beziehen sein, so wäre sie zugleich ein Beleg dafür, daß die - frän-

3 3 Es h a n d e l t s i c h u m d i e S c h l a c h t S a l m a n a s s a r s III. (so d i e h e u t i g e Z ä h l u n g ) e t w a 8 5 3 v . C h r . bei Q a r q a r in Syrien g e g e n e i n e a n t i a s s y r i s c h e Koalition (der a u c h A h a b , d e r K ö n i g d e s N o r d r e i c h s Israel a n g e h ö r t e , vgl. u n t e n , S. 4 4 7 f . ) . W e b e r stützt s i c h hier w o h l auf d e n v o n Felix Peiser ü b e r s e t z t e n Text, in: K e i l i n s c h r i f t l i c h e B i b l i o t h e k 1, S. 173, w o b e i s i c h d o r t d i e A n g a b e n ü b e r die G e g n e r auf 6 4 8 0 0 M a n n u n d 3 9 4 0 Wagen belaufen. 34 Vgl. d a z u o b e n , S. 160, A n m . 55. 35 Vgl. Winckler, Zur b a b y l o n i s c h - a s s y r i s c h e n G e s c h i c h t e 1, S . 4 0 7 . 36 So Kohler/Peiser, H a m m u r a b i s G e s e t z , S. 1 0 8 f . 3 7 W e b e r zitiert D a i c h e s , Zur E r k l ä r u n g d e s H a m m u r a b i - C o d e x , S. 208, 220. 3 8 G e m e i n t ist a k k a d . r e d ü ( „ S o l d a t " ; r e d u bei Kohler/Peiser, ridu bei D a i c h e s ) . 3 9 Die U r k u n d e f i n d e t s i c h bei D a i c h e s , Zur E r k l ä r u n g d e s H a m m u r a b i - C o d e x , S. 2 0 8 f .

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Agrarverhältnisse

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(3. Fassung)

kisch gesprochen - „in truste" oder „in hoste" des Königs Befindlichen 40 aus ihren Familienrechten (Erbrecht) damit ebenso ausscheiden, wie ein Stammfremder oder Versklavter. (Die Familie gibt dem Eingezogenen nur Beisitz,41 kein Erbrecht, als er, entlassen, zurückkommt). 42 Die Kriegerlehen werden von Hammurabi in einem Satz mit den, ebenfalls mit Land belehnten, Fischern des Königs genannt. 43 Das „Lehen" ist eben, wie überall im Orient bis zu den Kleruchen der Lagiden - plebejisch klein, da die Equipierung sicher sehr einfach, überdies wahrscheinlich gänzlich Sache des Königs ist. - Sie müssen bei Todesstrafe den Dienst persönlich leisten, 44 und ihre Bedrückung und widerrechtliche Besitzentsetzung wird an den Statthaltern schwer geahndet. 45 Sie werden auch zu Schanzarbeiten - zum Bau einer Stadt z.B. - aufgeboten. (Die bei Einverleibung fremden Gebiets dorthin im Austausch „verpflanzte" Bevölkerung setzte sich wahrscheinlich auch aus solchen Lehensmannen zusammen.) Mit dem Hof überträgt ihnen der König Vieh zur Nutzung. 46 Alles natürlich unter Ausschluß der Veräußerung, aber der Regel nach erblich (falls der Sohn tauglich ist) und mit Witwen- und Waisenversorgung. 47 Bei dreijähriger Nichtleistung der Dienstpflicht fällt es an den, der es unter Erfüllung der Obliegenheiten übernimmt. Obwohl der Lehnsmann hiernach dem König persönlich auf Grund speziellen Entgeltes dient, gilt er doch auch als Funktionär der Gesamtheit: wer einen gefangenen Soldaten ausgelöst hat, darf sich, wenn das Vermögen desselA 75 r ben nicht reicht, an | den Tempelschatz seiner Stadt wegen Erstattung des Lösegeldes halten; subsidiär haftet auch der königliche Schatz. 48 - Neben diesen mit Land beliehenen Soldaten stehen die

4 0 Hier d ü r f t e es s i c h u m eine z u m i n d e s t t e i l w e i s e m i ß v e r s t ä n d l i c h e F o r m u l i e r u n g h a n d e l n . G e m e i n t s i n d o f f e n b a r ( n a c h der lex S a l i c a 26, 1) H a l b f r e i e , die „ a p u d d o m i n u m in h o s t e " , d . h . b e i H e e r e s z ü g e n , ihrem Herrn Dienst leisten; e v e n t u e l l a u f g r u n d v o n Brunner, D e u t s c h e R e c h t s g e s c h i c h t e 1, S. 239 mit A n m . 5. 41 G e m e i n t : B e a r b e i t u n g u n d N u t z n i e ß u n g d e s L a n d e s . 4 2 Vgl. D a i c h e s , Zur E r k l ä r u n g d e s H a m m u r a b i - C o d e x , S . 2 2 1 . 4 3 Kohler/Peiser, H a m m u r a b i s G e s e t z , S. 1 6 - 2 0 (vgl. S. 7 8 - 8 0 ) . 44 E b d . , S. 16, 78 (§ 26). 45 E b d . , S. 18f., 79 (§§ 3 3 - 3 4 ) . 46 E b d . , S. 108. 47 E b d . , S. 108. 48 E b d . , S. 79 (§ 32); d a z u S. 18, 108.

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nicht „vollfreien", daher im Wehrgeld den Freien nicht gleichgestellten, aber in ihrem S/c/ave« besitz - offenbar im Interesse ihrer „Abkömmlichkeit" - besonders geschützten „Ministerialen" (wie Peiser übersetzt) 49 des Königs, welche offenbar am Hofe zu seiner ständigen Verfügung leben. In Assyrien finden sich „Reiter und Eunuchen" des Königs als Besatzungstruppen in eroberten Städten, - also wohl königliche Gefolgsleute neben Leibeigenen, - und Gefangene verleibt der König zu Tausenden einfach seinem Heere ein. 50 Andererseits werden bei Afewbesiedelung von Städten in diesen eine bestimmte Anzahl von Truppen „ausgehoben", 51 - was nur die Auferlegung der Gestellung durch die Ansiedler oder aber die Ausweisung einer entsprechenden Anzahl von Soldatenlehen bedeuten kann. - Das Heerwesen wandelt sich bald in der Richtung zum Soldheere. Das Dienstlehenheer war ersichtlich nur Reservetruppe; denn die assyrischen Soldaten waren schon in Sargons Zeit 52 verheiratete Leute, deren Versorgung in Zeiten des Friedens dem König, der in Kriegszeiten sein Heer verstärkt hatte, Sorge machte, weil sie (s. o.) 53 durch die Aushebung aus ihren Familienbeziehungen ausschieden und nun versorgt sein mußten. Noch in den Zeiten des Artaxerxes 54 wird bei den Steuern z.B. „Bogenland" von „Zehntland" unterschieden. 55 Es war die Entwickelung also wohl die: die Gestellung von Wehrpflichtigen - ursprünglich (s. o.) 56 eine strikt persönlich geschuldete Lehnspflicht - war später als Leiturgie an den Besitz bestimmter Grundstücke geknüpft, schließlich aber von diesen durch Abgaben, aus denen der König nunmehr fremde Söldner zahlte, abgelöst worden. Wie früh und wie vollständig dies geschehen war, können wir zunächst wohl nicht wissen. - Jedenfalls ist das Heer der letzten Assyrerkönige ein gänzlich unnationales und ist auch das babylonische Bogenschützenkorps der Perserzeit aus den königlichen Magazinen gekleidet

49 Ebd., S. 5 9 - 6 3 (8 Stellen). 50 Ebd., S. 107. 51 W e b e r zitiert offenbar aus der Inschrift S a r g o n s II. In: Keilschriftliche Bibliothek 2, S. 67, Z. 1 1 5 - 1 1 7 . 5 2 S a r g o n II. war assyrischer Herrscher ca. 7 2 2 - 7 0 5 v. Chr. 53 Siehe o b e n , S. 381 f. 54 G e m e i n t Ist der p e r s i s c h e Großkönig A r t a x e r x e s I. ( 4 6 5 - 4 2 4 / 2 3 v. Chr.). 55 Vgl. Kotalla, B a b y l o n i s c h e U r k u n d e n , S . 5 5 3 . 56 Siehe o b e n , S . 3 8 2 .

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

und gespeist worden, also keine „nationale" Truppe im ökonomischen Sinn. Die Bewegungsfreiheit des privaten Verkehrs wird durch den königlichen, wesentlich naturalwirtschaftlichen, Oikos in der Frühzeit wohl ähnlich eingeschnürt gewesen sein wie in Ägypten 5 (s.u.). 57 Aber dies lag in der Periode, aus welcher keilinschriftliche Privaturkunden vorliegen, ziemlich weit zurück. Schon vor und gleich nach der Zeit Hammurabis 58 ist die Verkehrsentwickelung eine relativ außerordentlich (und ersichtlich zunehmend) freie. Die theokratische Monarchie reguliert zwar den inneren Verkehr, spe- 10 ziell auch die Arbeitslöhne, durch Tarife, wie wir sie in Hammurabis Gesetz finden. 59 Aber praktisch ist der Güterverkehr im Prinzip frei. Er ist begreiflicherweise in Babylon, welches in weit stärkerem Maße aus dem Zwischenhandel emporgewachsen war, reicher gestaltet als in dem Militärstaat Assur. 60 Der Versuch einer Schei- 15 dung beider und ebenso einer Scheidung von einzelnen Perioden einer Entwickelung, welche von der „ersten" Dynastie Babylons 61 bis zum Aufgehen in den Islam uns ein in den meisten wesentlichen A 761 Zügen wohl sich selbst | höchst ähnlich bleibendes, im Grunde nur in dem Grade des Durchdringens (und gelegentlichen Wieder-Ab- 20 ebbens) der Verkehrswirtschaft (denn der Ausdruck „Geldwirtschaft" paßt nur bedingt) schwankendes Bild bietet, kann hier des Raumes sowohl als des vorerst dazu noch ungenügenden Quellenmaterials wegen nicht unternommen werden. Ziemlich dunkel und hier nicht zu erörtern ist die Frage der 25 Gliederung der Bevölkerung in älterer Zeit: wieweit gentilizisch nach hellenisch-römischer Art und wieweit beruflich nach ägyptischer Art? Beides findet sich auch im Occident häufig in Kombination (s.u.), 62 und demgemäß kommen auch hier beide Arten von „Tribus" vor. Von „Kasten" im eigentlichen Sinne kann dabei in 30

5 7 Siehe unten, S.430. 5 8 Nach Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 1, herrschte Hammurabi ca. 2 2 5 0 2195 v. Chr., während er heute etwa in das 18./17. Jahrhundert v. Chr. datiert wird. 5 9 Kohler/Peiser, ebd., S.96f. 6 0 So Peiser, Skizze der babylonischen Gesellschaft, S.26. 61 Gemeint ist die Dynastie, deren bedeutendster Herrscher Hammurabi war; vgl. Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 1. 6 2 Weber scheint vor allem an die griechischen Phylen und Phratrien sowie an die römischen Tribus zu denken; dazu vgl. insbesondere unten, S. 4 5 9 - 4 6 1 und 614f.

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Babylon natürlich noch weniger als in Ägypten die Rede sein. Vielmehr sind sehr wahrscheinlich hier ebenso wie im älteren Ägypten die ursprünglichen Leiturgieen der Gewerbe Grundlage einer Gliederung gewesen, welche den (vielleicht solidarisch haftenden) Berufsgenossen möglicherweise auch gewisse Rechte an demf Besitz der Mitbelasteten gab. Wenigstens kommen anscheinend Retraktrechte einer Webergenossenschaft bei Landverkäufen vor. 63 Doch scheint dies alles noch unsicher. Das Recht am Lande galt in der Zeit voller Entwickelung des alten Fronkönigtums offenbar allgemein, nicht nur beim Soldatenlande, als Entgelt der damit verknüpften öffentlichen Pflichten: die Leistung der Gespannfronden von einem Grundstück wird im altbabylonischen Recht als Eigentumsbeweis erwähnt. 64 Die „Amtslehen" sind offenbar nur deshalb in ihrer Gebundenheit länger verblieben, weil bei ihnen die persönliche Qualifikation des Besitzers für den König besonders wichtig war. 65 Von einer öffentlichen oder priesterlichen Konzession und Bestätigung des sonstigen Bodenbesitzes in Übertragungsfällen (wie zeitweise in Ägypten) 66 ist aber urkundlich nichts mehr zu finden, außer etwa, daß die Erbteilung sehr oft durch Priester vollzogen wird. Nachbarrechte von „Markgenossen" sind nicht sicher erkennbar. Die Haftung der Gemeinden besteht zwar in der Form der Friedensbürgschaft bei Verbrechen. 67 Ob aber Samthaft für Steuern und Fronden (wie im „Alten Reich") 68 bestand, ist nicht sicher. Ob die Andeutungen von einer Änderung der Rechtslage der Untertanen, welche in den Inschriften mancher sumerischer Könige (s.o.) 69 vorkommen, als eine Emanzipation auch des Bodenbesitzes und -Erwerbes (genannt werden nur Fischteiche und Vieh) 70 der Bauern von grundf A:den 6 3 Vgl. O p p e r t , A c t e d e vente, b e s . S. 51, 53, 61. 6 4 Z u g r u n d e liegt Peiser, Texte, S. 23 mit A n m . * (Zelt H a m m u r a b i s ) . 65 W e b e r f o l g t (unter Z i t i e r u n g d e s A u s d r u c k s . A m t s l e h e n ' ) Kohler/Pelser, H a m m u r a bis G e s e t z , S. 108. 66 Vgl. unten, S. 4 2 8 s o w i e 434. 6 7 Kohler/Peiser, H a m m u r a b i s G e s e t z , S. 109. 68 Vgl. u n t e n , S . 4 1 1 . 69 Siehe o b e n , S . 3 7 8 f . 70 Vgl. T h u r e a u - D a n g i n , S u m e r i s c h e u n d a k k a d i s c h e K ö n i g s i n s c h r i f t e n , S . 5 5 ( U r u k a gina; vgl. o b e n , S. 378, A n m . 20).

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

herrlichen Fesseln angesehen werden dürfen, ist recht fraglich. Daß die Gesetzgebung der theokratischen Monarchieen als Ganzes den Effekt der Sicherung des privaten Verkehrs gehabt hat, ist selbstverständlich. Aber wenn Fesseln des Bodens bestanden, waren sie wohl wesentlich leiturgisch gewesen. Dagegen schränkten in histo- 5 rischer Zeit - außer für die Amtslehen - öffentliche Interessen den Bodenverkehr nicht generell ein. Die freie Veräußerlichkeit des erworbenen Bodenbesitzes setzt der Codex Hammurabi ausdrücklich voraus.71 Dagegen blieb, wie die Urkunden erkennen lassen, der ererbte Bodenbesitz zugunsten der Hausgemeinschaft und der 10 A 76 r Gentilen derart gebunden, daß die | (offenbar ursprünglich nicht mögliche) Veräußerung jenen Berechtigten und dem Veräußerer selbst ein Retraktsrecht gegen Erstattung des von dem Erwerber des Grundstücks geleisteten Preises nebst Zinsen gab. 72 Dies letztere ist augenscheinlich der gewohnheitsrechtliche Niederschlag 15 einer typischen, auf Beseitigung dieser Retraktsgefahr abzielenden Vertragsabrede, neben welche Verfluchungen des Retrahenten und Konventionalmulten in den Urkunden zu treten pflegen. 73 Faktisch ist so schließlich aller private Boden frei veräußerlich und frei teilbar geworden. Die Naturalteilung im Erbgang ist - neben zeit- 20 weiser Erbengemeinschaft - in den erhaltenen Urkunden die Regel.74 Flurgemeinschaftserscheinungen sind begreiflicherweise nicht zu konstatieren mit Ausnahme des allgemeinen Stoppel- und Brachweiderechts, über dessen Modalitäten der Codex Hammurabi Bestimmung trifft. 75 Im übrigen sind die Grundstücke individu- 25 eil abgegrenzt, regelmäßig (offenbar) eingehegt, und die Veräußerung des Landes erfolgt mit genauer Angabe der Grenzen nach Lage, Wegen, Nachbargrundstücken. Die Größe wird dabei teils und regelmäßig nach Flächenmaß, gelegentlich, wie es scheint, nach Aussaat angegeben. (Es kommt auch Kauf nach „modus 30

71 Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 110. 7 2 Zugrunde liegt die Untersuchung von Kohler, in: Peiser, Babylonische Verträge, S.XLIf. 73 Ebd., XLI. 7 4 Dies wird dargestellt bei Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 16 (mit den urkundlichen Belegen). 7 5 Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 114, weisen darauf hin, daß die §§ 57 und 58 Bestimmungen für Zeiten der offenen (Schaf-)Weide im sonst bebauten Feld enthalten (insbesondere Haftung des Hirten für die Abweidung fremder Ernten).

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agri" 76 in dem Sinne vor, daß Abweichungen der wirklichen Größe von dem vorausgesetzten Gehalt nachträglich zu vergüten sind.) 77 Die für Tempelbauzwecke in Assyrien inschriftlich bezeugte Expropriation ist vielleicht (aber nicht notwendig) rechtlicher Ausfluß eines prätendierten königlichen Bodenregals, wenigstens rühmt sich der König, daß er die aus dem Besitz Gesetzten entschädigt habe. 78 Daß das durch Kanalanlagen neu gewonnene Land vom König - in Assyrien mit Angabe der Art, wie es zu bebauen ist (z.B. zum Gärtenanpflanzen) - vergeben wurde, legte ja die Annahme eines königlichen Obereigentums an allem Land an sich nahe (welches vielleicht in Babylon die Form eines göttlichen Bodeneigentums angenommen hatte). Das Land, welches an die von auswärts her verpflanzten Fremdvölker vergeben wurde, war offenbar teils neu zu kanalisierendes Land, teils waren es wohl auch Dienstlehen, deren bisherige Inhaber im Austausch nach auswärts übersiedelt wurden. Verlehnungen von Land und Leibeigenen an verdiente Beamte, königliche Landschenkungen, steuerfreie Wiederverleihung des väterlichen Besitzes an einen Beamten kommen, ebenso wie von jeher in Babylon, auch in Assyrien vor, - regelmäßig aber ist der Beamte des Königs sicher ebenso wie der Tempelbeamte auf NaturaIdeputate aus den Magazinen und Abgaben angewiesen. Bestanden die Anfänge einer allgemeinen grundherrlich-feudalen Entwickelung des Staatswesens, so sind sie nicht zur Reife gekommen: der Staat wurde dem Schwerpunkt nach Beamtenstaat mit, vor allem, theokratischem Einschlag. Aber es finden sich allerdings die Elemente grundherrschaftlicher Entwickelung. Freilich: rein private Grund/iön'gkeit ist direkt nicht unzweideutig erweislich. Aber in Hammurabis Briefen wird eine Bevölkerungskategorie als militärdienstfrei erwähnt, welche, wohl richtig, als (königliche) Schollenpflichtige Kolonen gedeutet wird. 79 Ob die

76 G e m e i n t ist mit d i e s e m Begriff a u s W e b e r s „ R ö m i s c h e r A g r a r g e s c h i c h t e " ( M W G 1/2, S. 164) d e r bloße F l ä c h e n u m f a n g e i n e s G r u n d s t ü c k s . 77 Eine d e r a r t i g e U r k u n d e w i r d v o n Kohler, in: Peiser, B a b y l o n i s c h e V e r t r ä g e , S. XLIII, behandelt. 78 W e b e r n i m m t B e z u g auf e i n e Inschrift S a r g o n s II.; vgl. M e n a n t , A n n a l e s d e s rois d ' A s s y r i e , S . 2 0 2 , Z . 3 9 . Es h a n d e l t s i c h u m E n t e i g n u n g e n u n d E n t s c h ä d i g u n g e n anläßlich d e s B a u s v o n Dür-SarrukTn als n e u e r H a u p t s t a d t ( K h o r s a b a d n ö r d l i c h v o n Ninive), 706 v.Chr. Vgl. a u c h Peiser, K e i l s c h r i f t l i c h e A c t e n - S t ü c k e , S . 8 2 . 7 9 W e b e r spielt an auf Kohler/Peiser, H a m m u r a b i s G e s e t z , S. 109; d a z u S. 107.

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Agrarverhältnisse

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(3.

Fassung)

„Gärtner" oder „Bauern", welche die Urkunden auf privaten GüA 77 i tern | sitzend erwähnen, etwas anderes als verehelichte Sklaven sind, 80 ob sie etwa als „rechtlich" schollenfeste, insbesondere auch gegen den Willen ihres Herrn (im Staatsinteresse also) schollenfeste Halbfreie anzusehen sind, ist unsicher. Die Tempelbauem wer- 5 den bei Verpachtungen von Tempelland ganz wie die Viehbestände einfach mitverpachtet. 81 Ferner zeigt eine Inschrift aus der Regierung Assarhaddons die königliche Bestätigung einer privaten Grundherrschaft, welche nach Angabe der Grenzbestimmungen zweifellos ganze Dörfer umfaßt haben muß. 82 Und in den Erobe- 10 rungsstaaten ist schon in der Zeit des Stadtkönigtums die lehensweise Vergebung von ganzen Städten neben Terrains, später - wie schon erwähnt 83 - Vergebungen von Land und Leuten an verdiente Beamte, und ebenso zweifellos die Konstituierung auch grundherrlicher „Immunitäten" kraft erblichen, gelegentlich erneuerten 15 Privilegs seitens des Reichskönigs vorgekommen. 84 Der Staat hat so wohl stets einen stark feudalen Einschlag neben seinem theokratisch-bureaukratischen Grundcharakter behalten, gleichviel^] ob sich dies bereits in entwickeltem „Kolonat" äußerte. Die Grundlagen des Familienlebens sind die der Antike ur- 20 sprünglich gemeinsamen: die Hausgemeinschaft ist Wirtschaftsgemeinschaft der patriarchalen Familie, und zwar, trotz des naturgemäß häufigen Vorkommens von Erbengemeinschaften, offenbar normalerweise bereits der Kleinfamilie. Die Frau wird von dem Haupt ihrer Familie vergeben, in älterer Zeit einfach verkauft. 85 25 Über die ursprünglich arbiträre Gewalt (Strafgewalt und Verstoßungsrecht) des Mannes treffen die Kontrakte meist Bestimmungen (Reugelder im Fall der Verstoßung usw.); die Nebenfrau, insbesondere das Dazuheiraten der Schwester, 86 findet sich neben

80 Als solche hatte Weber sie in der 2. Fassung betrachtet, vgl. oben, S. 164. 81 Vgl. Peiser, Babylonische Verträge, S.XXIX. 82 Weber bezieht sich auf die bei Wlnckler, Zum babylonlsch-chaldälschen Feudalwesen, S. 4 9 7 - 5 0 3 , behandelte Inschrift. 83 Siehe oben, S. 387. 84 Wie Anm. 82. 85 Vgl. Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 13. 86 Ebd., S. 14 (vgl. auch S. 7 0 f „ 148).

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der aus dem Afiten] T[estament] bekannten Stellung der „Magd". 87 Die Herkunft der „legitimen" Ehe aus: kontraktlicher Sicherung der mit einer Ausstattung in die Ehe gegebenen Frau und des Erbrechts ihrer Kinder gegen die ursprünglich schrankenlose Willkür des Mannes, ist auch aus dem Codex Hammurabi noch klar ersichtlich:88 die so in den besitzenden Schichten zuerst geschaffene Stellung der „legitimen" Frau generalisierte die Gesetzgebung allmählich als die allein sittliche. Die sumerischen Könige (Gudea) verbieten den gemeinsamen Erwerb einer Frau durch mehrere Männer und verfolgen mit furchtbarer Härte den Ehebruch (scilficet]: der Frau).89 Weit entgegenkommender gegen die Frau ist schon Hammurabis Gesetz (Scheidungsrecht der Frau, Bußen bei Verstoßung). 90 Die Ausstattung der Frau besteht in älterer Zeit regelmäßig in Hausgerät, Schmuck, Kleidern und einigen Sklaven 91 (wie noch der Talmud zeigt, nicht nur zu ihrer persönlichen Bedienung, sondern auch: um ihr die Pflicht zur Bedienung des Mannes abzunehmen), 92 ebenso finden sich später (mit der Abnahme der militärischen Bedeutung des Bodenbesitzes) Grundstücke; und im neubabylonischen Recht ist die Mitgiftehe ohne Kaufpreis, aber mit Witwenversorgung, die Regel. 93 Ob der älteste Sohn, wie es nach einigen Spuren scheint, ursprünglich nach dem Tode des Vaters eine Vorzugsstellung und eine Vorzugsquote bei der Teilung erhielt, 94 muß dahingestellt bleiben. - Wie in Italien im Mittelalter beginnt mit Entwickelung der Verkehrs | Wirtschaft und A 77 r Erweiterung des Spielraums des privaten Gütererwerbs das ursprünglich streng patriarchale Hausvermögen als Assoziationskapital der Familienglieder betrachtet zu werden. 95 Unbeschadet der 8 7 In 1. Mose 21,10 heißt es (Sara zu Abraham): „Treibe diese Magd aus mit ihrem Sohn; denn dieser Magd Sohn soll nicht erben mit deinem Sohn Isaak." - Der Vergleich findet sich bei Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 106. 88 Ebd., S. 118f. 8 9 Zugrunde liegt Thureau-Dangin, Sumerische und akkadische Königsinschriften, S. 55 (Urukagina, nicht Gudea; oben, S. 378, Anm. 20). 9 0 Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 120f. 91 Vgl. Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 14 sowie 20f., Nr. 7. 9 2 So im Mischnatraktat K e tubböt (3, 2, 5,5), wo die Bedienungspflichten nach der Zahl der von der Frau eingebrachten Sklavinnen abgestuft erscheinen (bei vier Sklavinnen wäre sie von allen persönlichen Dienstleistungen befreit). 9 3 Belege bei Kohler/Peiser, Aus dem babylonischen Rechtsleben 1, S . 7 - 9 . 9 4 Dazu vgl. Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 16. 9 5 Weber nimmt Bezug auf das 3. Kapitel seiner „Handelsgesellschaften", S . 4 4 - 5 6 .

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3. Fassung)

patria potestas gilt doch auch der filius familias in gewissem Sinne als Anteilshaber. Es wird z.B. bei der Adoption, die ein Kauf des Adoptierten von seinen Eltern ist, das Anrecht desselben an das Adoptivvatervermögen kontraktlich, insbesondere für den Verstoßungsfall, festgestellt. Die Adoption selbst, d. h. der Kauf zu Sohnesrecht im Gegensatz zum Sklavenkauf, funktionierte ursprünglich als die primitive Form, in welcher die Hausgemeinschaft sich durch fremde Arbeitskräfte ergänzte. 96 Adoption von Sklaven, Heirat mit Sklavinnen usw. ergeben eine gewisse Flüssigkeit zwischen Freiheit und Unfreiheit in der Hausgemeinschaft, - womit die Gleichbehandlung der filii familias mit den factores und discipuli in den mittelalterlichen Handlungshäusern zu vergleichen ist. 97 Aus den Altenteilsverträgen - Gutsübergabe retento usufructu - entwickeln sich allmählich testamentarische Dispositionen inter liberos. 98 Die Sklaven sind in altbabylonischer Zeit nicht sehr zahlreich: Mitgiften von 1 - 3 Sklaven überwiegen. 1 Offenbar aber schwoll mit Zunahme des Verkehrs ihre Zahl stetig bis in die Perserzeit, wo der Sklave vom Herrn sehr regelmäßig in geldwirtschaftlicher Form als Rentenquelle (so wie die Obrok-Leute in Rußland 2 und, in ganz anderer Art, die „Leibeigenen" in West- und Süddeutschland bis ins 18. Jahrhundert)3 ausgenützt wird, und wo wir demgemäß das Sklavenpekulium und die Teilnahme des Sklaven an allen Geschäften, 4 auch das Sich-Freikaufen desselben, 5 sogar Beweisverträge zwischen Sklaven desselben Herrn finden. 6 Die Haus-

9 6 Meissner, B e i t r ä g e z u m a l t b a b y l o n i s c h e n Privatrecht, S. 16. 9 7 F a c t o r e s (fattori) u n d d i s c i p u l i ( d i s c e p o l i ) w a r e n in H a n d e l s s o z i e t ä t e n d e s 14. J a h r h u n d e r t s in Florenz k a u f m ä n n i s c h e G e h i l f e n u n d L e h r l i n g e . W e b e r greift d a m i t ( u n d mit d e r . G l e i c h b e h a n d l u n g 1 ) auf s e i n e „ H a n d e l s g e s e l l s c h a f t e n " (dort S. 1 3 2 f . ) zurück. 9 8 W e b e r spielt auf F o r m e n d e s r ö m i s c h e n R e c h t s w i e d a s , t e s t a m e n t u m p a r e n t i s inter liberos 1 an, d . h . ein T e s t a m e n t , in d e m d e r p a t e r f a m i l i a s V e r f ü g u n g e n ausschließlich für s e i n e K i n d e r (bzw. A b k ö m m l i n g e in g e r a d e Linie) traf. - Z u d e n b a b y l o n i s c h e n R e c h t s v e r h ä l t n i s s e n vgl. Peiser, B a b y l o n i s c h e V e r t r ä g e , S. XXXIII. 1 So Meissner, B e i t r ä g e z u m a l t b a b y l o n i s c h e n Privatrecht, S. 7. 2 Vgl. d a z u o b e n , S. 3 3 9 mit A n m . 69. 3 D i e s w i r d b e h a n d e l t v o n L u d w i g , B a d i s c h e r Bauer, b e s . S. 14 ( „ R e n t e n q u e l l e " ) u n d S. 38, 43; d a z u K n a p p , T h e o d o r , L e i b e i g e n s c h a f t , b e s . S. 1 8 - 2 5 u n d 53. 4 Kohler/Peiser, A u s d e m b a b y l o n i s c h e n R e c h t s l e b e n 1, S. 1. 5 Vgl. Meissner, B e i t r ä g e z u m a l t b a b y l o n i s c h e n Privatrecht, S. 7 mit A n m . 3. 6 Kohler/Peiser, A u s d e m b a b y l o n i s c h e n R e c h t s l e b e n 2, S . 6 .

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Sklaven sind auch später - außer beim König und den Tempeln nicht zahlreich: 4 Sklaven zur Bedienung geben, scheint es, schon einen anständigen bürgerlichen Haushalt. 7 Aber auch die Feldund Gewerbesklaven dürfen offenbar nicht als eine Unterschicht von allzu großer Breite angesehen werden. Die königlichen Domänen, auch die an Beamte verliehenen, ebenso die großen babylonischen Tempelgüter und wohl auch der, zumal in Babylon, - sicher mehr als in Assyrien, - in den Händen des Handelspatriziats allmählich angesammelte Grundbesitz 8 wurden, soweit sie nicht parzellenweise verpachtet waren, mit Kaufsklaven und daneben ursprünglich mit den Fronden von verehelichten Unfreien, „Gärtner" oder „Bauern" genannt, bewirtschaftet; - ob Veranlassung besteht, die Rechtsstellung dieser letzteren als die von „Kolonen" von der der Sklaven zu unterscheiden, bleibt, wie erwähnt, 9 fraglich. Sklavenfamilien sind oft Kaufgegenstand. Die Schuldsklaverei ist in Babylon konsequent entwickelt, und die Promptheit ihrer Realisierung (private Haftnahme!) 10 ist die Grundlage der mächtigen Entwickelung des Kredits: Frau und Kinder folgen in die Schuldknechtschaft, werden jedoch nach Hammurabis Kodex nach 3 Jahren frei. 11 Garantierte ein vermögender Verwandter, so entließ man den Schuldsklaven mit beschränkter Freizügigkeit, um ihm Verdienstgelegenheit zum Abtragen der Schuld zu geben, aus der Haft. 12 Wie weit die Schuldsklaven in der uns urkundlich zugänglichen Zeit noch eine quantitativ ins | Gewicht fal- A 78 lende Kategorie schollenfester Abhängiger darstellten, wissen wir nicht. - Die primitive Form der zeitweiligen Beschaffung von Arbeitskräften ist die Miete von Sklaven oder Haussöhnen gegen Unterhalt, Kleidung und Zins (in Naturalien, später in Geld). So werden besonders die Erntearbeiter beschafft. 13 Daraus hat sich, als Vorläufer des freien Arbeitsvertrages, das Mieten eines freien

7 Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S.7. 8 Zur Bedeutung Babylons als Zwischenhandelsplatz vgl. oben, S. 384, unten, S. 394; dazu oben, S.377f. 9 Siehe oben, S.387f. 10 Weber zitiert Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 114. 11 Ebd., S. 34, 84 und 114. 12 Vgl. dazu Babylonian Expedition 14, 1906, S. 135; ebd., S. 2. 13 Vgl. Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 10f., 51 - 5 6 .

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

Mannes „von ihm selbst"u entwickelt. Nicht nur in dieser Formel tritt die ursprüngliche Behandlung des zeitweiligen Arbeitsverhältnisses als befristeter Versklavung (= dem römischen in mancipio esse) hervor, sondern auch darin, daß der sich selbst Vermietende ursprünglich eines Patrons - der offenbar als der eventuelle assertor in libertatem gedacht ist - bedurfte. Natürlich kann diese befristete Selbstversklavung sehr wohl auch Schuldversklavung sein und ist es in historischer Zeit wahrscheinlich. Denn schon in Hammurabis Zeit ist die freie Arbeit in der Landwirtschaft sehr verbreitet. 15 - Der Eindruck, den man aus Hammurabis Gesetz und den älteren Urkunden gewinnt, ist der, daß neben Kleinbetrieben, die auf Obstund Gemüsebau abgestellt sind und vom Eigentümer bewirtschaftet werden, auch größere Betriebe stehen, deren Inhaber stadtsässig sind und teils mit unfreien, vielfach aber auch mit freien Wirtschaftsinspektoren (deren Treue das Gesetz strafrechtlich sichert) und mit freien, oft auf ein Jahr gemieteten Arbeitern, deren Lohn das Gesetz, offenbar sowohl im Interesse des Herrn wie, - dem theokratischen Prinzip des „Schutzes der Schwachen" (Frauen, Schuldknechte, Sklaven) entsprechend, - der Arbeiter, reglementiert, ihren Besitz verwerten. 16 Der Viehbesitz ist erheblich. Die Viehleihe ist tarifiert und geregelt, 17 ebenso die Pflichten des (wohl als der Gemeinde gemeinsam gedachten) Hirten gegenüber den Grundbesitzern. 18 Die Pfändung von Arbeitsvieh ist im Codex Hammurabi untersagt. 19 - Alles in allem lassen die Quellen auf eine Besitzverteilung und Betriebsweise schließen, welche sich von den Verhältnissen der römischen Landwirtschaft etwa in der Zeit Catos 20 wesentlich 1. durch das, auch bei Hammurabi merkbare, Hervortreten der Bewässerungsinteressen, 2. durch die vielseitigere Entwickelung des Gemüsebaues 9 und vor allem 3. durch die geg A: Gemüsebaues, 14 bei Fn. 15 16 17 18 19 20

Ebd., S. 7, 5 3 - 5 5 , 134f. Erwähnt wird diese babylonische Rechtsform 1902 auch Weber, [Rezension von:] Lotmar, Philipp, Der Arbeitsvertrag, MWG I/8, S.42f., 5. So Kohier/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 113. Ebd., S. 113f. Zum „Schutz der Schwachen" vgl. oben, S.357. Ebd., S.67, 72. Ebd., S. 71 f. Ebd., S. 67, vgl. S. 114. Vgl. unten, S. 6 7 5 - 6 7 9 .

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ringe Entwickelung der organisierten Sklavenarbeit unterscheiden. Das letztere hängt sicherlich damit zusammen, daß eine solche Überschwemmung des Sklavenmarktes einerseits11 und eine solche Masse von Land andererseits, wie sie die römischen Kriege der privaten Ausbeutung zur Verfügung stellten, im Orient fehlten. Die Sklavenpreise sind nicht hoch, aber die Zahl der Sklaven ersichtlich nicht groß. 21 Das Land und die Menschen, welche im Kriege erbeutet wurden, konfiszierte der König. Er verteilt zwar, wie der Pharao, einen Teil des erbeuteten Viehes und der Gefangenen, und auch wohl erobertes Land, an die Heeresmannschaft: das letztere aber regelmäßig entweder in Form der Garnisonierung in Feindesland, während die neu eroberten Untertanen dafür nach Mesopotamien verpflanzt wurden, oder aber so, daß die Landempfänger die Verpflichtung des Kanal- und Gartenbaues auferlegt erhielten, also doch vor allem als Steuerquelle des Königs galten. | Ebenso wurden A 78 r die Gefangenen und ihre Habe in erster Linie als eine solche behandelt, - sehr im Gegensatz gegen die römische Republik, deren Kriegsbeute an Land und Menschen fast gänzlich zu Ausbeutungsobjekten von privaten Gefällpächtern, Domänenpächtern und Käufern von Sklaven' (speziell für den Plantagenbetrieb)' wurde.k Der begrenzte, von Bewässerung abhängige Bodenvorrat Mesopotamiens selbst war keine geeignete Basis für die Eigenart (s.o.) 22 der Sklavengroßbetriebe. Die Nutzung des Bodenbesitzes seitens des nicht selbst wirtschaftenden babylonischen Patriziats entwikkelte sich daher zunehmend nach der Seite der Kleinpacht: der Pacht mit festem Zins (unter Ausschluß von Remissionsansprüchen) und der Teilpacht. Dabei geht in beiden Fällen die ausdrückliche gesetzliche Auffassung dahin, daß der Pächter die Pflicht der sorgsamen Bestellung des Landes übernehme. Die Pachtdauer war nach Ausweis der Urkunden 2 3 eine meist ziemlich kurze: 1 - 3 Jahre: - der Kleinpächter, speziell der Teilpächter, ist der Sache nach zweifellos häufig auch damals nur eine am Ertrage interessierte, künd-

h A: e i n e r s e i t s ,

i A: S k l a v e n ,

j A: P l a n t a g e n b e t r i e b ) ,

k A: w u r d e n .

2 1 M e i s s n e r , B e i t r ä g e z u m a l t b a b y l o n i s c h e n Privatrecht, S . 6 f . 2 2 Siehe oben, S.348f. 2 3 Vgl. M e i s s n e r , B e i t r ä g e z u m a l t b a b y l o n i s c h e n Privatrecht, S . 6 1 - 6 4 ( d a z u e b d . , S. 12f.).

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

bare, aber meist durch Verschuldung faktisch an den Betrieb geheftete Aröe/temaschine des Bodenbesitzers, wie die spätrömischen coloni und die Parzellenpächter der Mittelmeerländer bis in die Gegenwart hinein. Wie seine Gesamtsituation sich im Laufe der Zeit verschoben hat, bedürfte gesonderter Untersuchung. Ziemlich klar tritt nur das allmähliche Vordringen der Geldpacht - aber nicht bis zum Überwiegen - in den Quellen hervor. 24 Ebenso zeigen manche Bestimmungen der Kontrakte deutlich, daß der Verpächter in Mesopotamien regelmäßig als städtischer Kapitalist zu denken ist, der zusammengekauften Boden entweder neu anpflanzen lassen oder schon in Kultur befindlichen als Rentenfonds verwerten will.25 Das Entleihen von Mitteln (namentlich Silber) zur Zahlung der Miete für den Bedarf an Erntearbeitskräften ergibt, zusammen mit dem Entleihen von Getreide, Datteln usw. als Saatgut - bei beiden mit Versprechen der Rückerstattung nach der Ernte - die ältesten Fälle des Produktivkredits, der schon in altbabylonischer Zeit neben das meist ebenfalls bei der Ernte fällige Getreideanlehen zum Zwecke der Tiigenkonsumtion tritt. 26 Die Sßßiguientlehnung speziell dürfte die älteste Form von Produktivkredit, und doch wohl noch älter als die Viehleihe (Hainisch) 27 sein. Die Entwickelung der Ver&e/irserscheinungen überhaupt ist im ganzen asiatischen Orient wesentlich fortgeschrittener als wenigstens in der eigenen Kulturentwickelung Ägyptens (s.u.), 28 - eine Folge des städtischen Charakters der babylonischen Kultur und der Lage Babylons als Zwischenhandelsplatzes,29 in dem die Formen der Verkehrswirtschaft zu besonders freier Entfaltung gelangen mußten. Babylon und sein Recht sind geradezu Träger der Entwickelung zum „Kapitalismus" im ganzen Orient geworden und dies, obwohl die Edelmetallvorräte des Landes sicher fast durchweg importiert waren. Das Königtum und namentlich die 2 4 Einige Hinweise finden sich ebd. 2 5 Vgl. Peiser, Keilschriftliche Acten-Stücke, S. XII; dazu Babylonian Expedition 6, 1, 1906, S. 90 u.ö. 2 6 Vgl. Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S.8. 2 7 Weber bezieht sich auf Hainisch, Entstehung des Kapitalzinses, S.313, 321, 331 u. ö. 2 8 Siehe unten, S. 430-433. 2 9 Vgl. Peiser, Keilschriftliche Acten-Stücke, S. VII.

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Tempel haben sich bei diesem Zustand, sobald die Abgaben die Robot überwogen, offenbar ökonomisch sehr wohl befunden und daher die verkehrswirtschaftliche Entwickelung nicht | gehemmt. A 791 Daß die babylonische Theokratie als solche sich prinzipiell der Anerkennung der Sonderstellung des Geldes im Verkehrsrecht ungünstig gezeigt habe - wie (vielleicht!) die Priesterschaft in Ägypten (s. u.) 30 - , trifft schwerlich zu. Was sich von derartigem findet, geht nicht über Analogieen occidentaler Staaten hinaus. Allerdings suchen schon die Sumererkönige (s.o.)31 die spezifische Härte der Geldforderung zugunsten der Untertanen zu mildern. Aber eine Seisachthie ist nicht erwiesen und nicht wahrscheinlich. Die Milderung der Strenge des Schuldrechts im Codex Hammurabi durch Zulassung von Zahlungen in quo potuerit 32 vollends entspricht ähnlichen Vereinbarungen in Privatkontrakten und überhaupt der Funktion, welche das „Geld" als solches im Verkehr der altorientalischen Welt einnahm. Der phönizische Handel kannte ja während der ganzen Zeit seiner eigentlichen Blüte (auch in Karthago bis ins 4. Jahrh.) die Münze im modernen Rechtssinn nicht. In Babylon finden wir eine anfangs nicht nur der Münzen, sondern auch des regelmäßigen effektiven Geldgebrauchs im Binnenverkehr entbehrende, trotzdem aber hoch entwickelte Naturaltausch-Technik. Das Geld, im altbabylonischen Reich noch Silber in Gebrauchsgutsform (Ringe) und nach Gewicht, 33 funktioniert zwar auch als Preisgut, aber hauptsächlich als Wertmesser der in natura gegeneinander getauschten Güter, als effektives Tauschmittel dagegen im inneren Verkehr (wie in Ägypten) 34 meist nur für die in natura nicht auszugleichenden Wertunterschiede. Erst spät nimmt es eine Art von Münzform an, - zuerst, wie es scheint, mittels Privflibeglaubigung des Gewichts durch renommierte Firmen: es kommen „Fünftelsekelstücke mit dem Stempel des X" urkund-

3 0 S i e h e unten, S . 4 2 8 . 3 1 S i e h e o b e n , S. 3 7 9 mit A n m . 25. 3 2 „Worin er kann", g e m e i n t : in der d e m S c h u l d n e r m ö g l i c h e n Z a h l u n g s a r t ( G e l d o d e r a n d e r e s ) . W e b e r b e z i e h t s i c h auf Kohler/Peiser, H a m m u r a b i s G e s e t z , b e s . S. 114. 3 3 V g l . M e i s s n e r , B e i t r ä g e z u m a l t b a b y l o n i s c h e n Privatrecht, S. 147 (zu Nr. 85). V g l . a u c h o b e n , S. 131 (Brief W e b e r s an C a r l B e z o l d v o m 15. M a i 1898). 3 4 V g l . d a z u unten, S . 4 3 2 f .

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3.

Fassung)

lieh35 vor, - und beginnt erst damit allmählich die effektive Preisgutsfunktion zu monopolisieren. Im altbabylonischen Reich werden noch oft Datteln gegen Korn, Häuser gegen Felder getauscht, hier und da mit Ausgleichung des Preisüberschusses durch Silber. 36 Daneben treten dann höchst komplexe Tauschakte auf, bei 5 denen nur die Abschätzung der beiderseitigen Waren in Silber den Tausch ermöglicht: so ein Tausch von Land gegen 816 Sekel Silber, von denen 100 durch einen Wagen, 300 durch 6 Pferdezeuge, 130 durch einen Esel, 50 durch ein Eselgerät, 30 durch ein Rind, der Rest in kleinen Posten durch Öl, Kleider usw. belegt werden. 37 Für 10 diesen Verkehr nun waren[,] gerade wegen seines Charakters als Naturalienverkehr, bankartige Unternehmungen früh als Vermittelungs- und Ausgleichsstellen unentbehrlich. Der „Geldmann" 38 ist eine dem Codex Hammurabi geläufige Kategorie. Wir finden die Verwertung der Naturalieneinkünfte durch Berufshändler, welche 15 Korn-, Datteln- usw. Konti neben den Silberkonti führen. Ferner einen höchst eigenartigen Verkehr mit Anweisungen auf diese Naturalienguthaben, selbst mit einer Art von Lagerscheinen au porteur, welcher der näheren Analyse bedarf und wert ist: wahrscheinlich entlehnte er seine Formen ursprünglich der Verwaltung 20 der königlichen Magazin- und der Tempeleinkünfte. - Die Tempel sind in Babylon Korn- und Geldverleiher größten Maßstabes, - ursprünglich wohl neben den königlichen Magazinen, den AngehöriA 79 r gen des königlichen Hauses (die | urkundlich als solche vorkommen) 39 und manchen „Großen" des Staates die Einzigen, die dar- 25 aus eine kontinuierliche Einnahmequelle machen: Da mit jeder Kolonieanlage das „Aufschütten" der Korntribute der betreffenden Gegend in einem (meist einem Tempel angegliederten) Maga3 5 Peiser, Texte, S.53, Nr. V. Es handelt sich um eine der aus dem assyrischen Handelsplatz Karum Kanes (Kültepe bei Kayseri in der Türkei) stammenden, sog. kappadokischen Urkunden, die bei Peiser, ebd., S. VIII, um 1300, heute in das 2 0 . - 1 8 . Jahrhundert v. Chr. datiert werden. 3 6 So Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S. 10, vgl. S. 4 5 - 5 0 . 3 7 Weber bezieht sich auf die Urkunde bei Peiser, Texte, S. 75 und 77, Nr. III (wobei S. 75 - die 50 Sekel zwei Eselszeugen entsprechen). (Zeit des Marduk-nädin-ahhe, ca. 1098-1082 v.Chr.) 3 8 Dies ist die Wiedergabe von akkad. tamkärum .Kaufmann' bei Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 18 u. ö. 3 9 Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S.8, nennt in diesem Zusammenhang als Priesterinnen an Tempeln fungierende .königliche Prinzessinnen' (bzw. .Töchter des Königs'); vgl. die Urkunden ebd., S. 27, Nr. 28; S. 28, Nr. 29.

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Mesopotamien

397

zin verbunden ist,40 überwog überall ihre Stellung die der Privaten. Aber auch die später neben ihnen stehenden privaten „Bank"-Geschäfte gelangten zu offenbar beträchtlichem Umfang. - Fast alle Hauptgeschäftsformen der Geldwirtschaft sind - wennschon zumeist noch archaistisch - vorgebildet. Jene oben erwähnten 41 Naturaldarlehen - in Korn, Datteln, Ziegelsteinen usw. - stehen neben Darlehen in Sekeln (wobei vermutlich oft diese Sekel nur den Vertragswert der gegebenen Naturalien darstellten) mit Zinsen, die beim Korndarlehen in Höhe von V3 des Schuldbetrags vorkommen, beim Gelddarlehen häufig den recht niedrigen Satz von V5 betragen. 42 Es findet sich das Pfand, bei Sklaven und im Grundstücksverkehr als Antichrese (z.B. zinsloses Gelddarlehen gegen mietlose Hausbenutzung) und auch als Bodenhypothek, 43 zunächst noch ohne klare rechtliche Entwickelung von Nachhypotheken; später zeigt der gelegentliche ausdrückliche Vorbehalt des Rechts des Gläubigers, vor anderen Befriedigung zu suchen, oder die Feststellung, daß ein verpfändetes Grundstück schon anderweit belastet sei, daß dies Hypothekenrecht ungefähr dem hellenischen entspricht (so jedenfalls in der Perserzeit). Es taucht ferner die diskontinuierliche kapitalistische Unternehmung und zwar insbesondere in ihrer auch unser frühes Mittelalter beherrschenden charakteristischen primitiven Form - der Kommenda44 - auf. Ihre Wurzeln gehen auseinander. Ein Teil entstammt vielleicht der Landwirtschaft (obwohl es wahrscheinlicher ist, daß die Sozietätsverhältnisse, z.B. in der Meliorationspacht, umgekehrt dem Handel nachgebildet sind). Es finden sich neben den schon erwähnten 45 Parze//e«verpachtungen an Rückenbesitzer gegen Anteil (meist 1/3)' oder festen m Natural- oder Geldzins: l.die Großverpachtung von fundi instructi seitens der Tempel, 2. neben der lang-

I A: V 3 ),

m A: festem

40 Zugrundezuliegen scheint Peiser, Texte, S.91, Z. 117f. (Assurnasirpal). 41 Siehe oben, S.394. 42 Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht, S.8. 43 Vgl. Kohler/Peiser, Aus dem babylonischen Rechtsleben 1, S. 15f. (Antichrese), S. 24 (Hypothek). 44 Weber hatte sich mit der Kommenda eingehend in seinen „Handelsgesellschaften" befaßt, bes. Kap. II, S. 15-43. 45 Siehe oben, S.393.

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Agrarverhältnisse

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fristigen Anpflanzungspacht (der Vorläuferin der hellenistischen Emphyteuse) die Neubruchskommenda: Der Kommendanehmer baut - so scheint das Verhältnis - auf dem Land seine Hütte, lebt von den Früchten, gibt in den ersten Jahren „Vorgewinn" von dem, was über seinen Bedarf hinaus geerntet wird[,j und teilt später den 5 Ertrag mit dem Kommendanten in natura, z.B. nach dem Codex Hammurabi das zur Aufschonung übernommene Land nach 5 Jahren. 46 Schon im altbabylonischen Recht findet sich als Parallelerscheinung die Waren- und Geldkommenda als Form der Kapitalanlage im auswärtigen Handel, mit noch vielfach in der Deutung 10 unsicheren, im Prinzip aber den mittelalterlichen islamitischen und genuesischen gleichartigen Bestimmungen (nur meist V2-Anteil des Kommendatars am Gewinn 47 statt der typischen genueser quarta proficui). 48 Später begegnet auch die Kramladenkommenda als Form der kapitalistischen 5/nnenunternehmung. 49 - Wie 15 weit sich in Alt-Mesopotamien in der Zeit vor dem Eindringen des Hellenismus Steuerpacht entwickelt hat, bedürfte der genauen Untersuchung. 50 Mir ist ihr Vorkommen bisher nicht sicher bekannt | A 801 geworden. Noch unter Artaxerxes 51 findet sich in größtem Maßstabe die vorschußweise Leistung von Naturalabgaben der Grund- 20 besitzer durch eine Firma, welche dagegen durch Hypothek von den Steuerschuldnern gesichert wird. 52 Insbesondere scheint diese Intervention des Kapitals da zu erfolgen, wo Getreide- (bezw. Mehl-)Lieferungen dem König geschuldet werden, der Schuldner aber das Pflichtige Land z.B. als Dattelplantage angelegt hat. Der 25 Gläubiger kauft das Mehl und liefert es dem König, erhält dafür vom Schuldner Datteln und verkauft diese. 53 - Es findet sich fer-

4 6 Vgl. Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 112f. (Dattelbepflanzung). 4 7 Kohler/Peiser, Aus dem babylonischen Rechtsleben 3, S.46. 4 8 Die im Genua des 12. Jahrhunderts übliche 25%ige Gewinnbeteiligung des Kommendanehmers hatte Weber in seinen „Handelsgesellschaften" behandelt (S. 19 mit Fn. 10, S. 23). 4 9 Weber scheint sich auf Kohler/Peiser, Aus dem babylonischen Rechtsleben 1, S. 56f., zu beziehen. 5 0 Weber folgt offenbar einer Bemerkung von Kotalla, Babylonische Urkunden, S. 553. 51 Artaxerxes I. war persischer Großkönig von 465 bis 424 v. Chr. 5 2 Die Texte sind publiziert, übersetzt und erläutert bei Kotalla, Babylonische Urkunden. 5 3 Vgl. die Urkunden bei Kotalla, ebd., S . 5 7 0 - 5 7 3 , Nr. 1 6 - 1 7 .

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Mesopotamien

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ner (nachweislich in persischer Zeit) M/etewucher im großen, wobei der Vermieter oft vielleicht nur antichretischer Pfandgläubiger war. 54 Im Gewerbe steht neben dem im Codex Hammurabi der Lohntarifierung 55 unterworfenen „Lohnwerker" der Bücherschen Terminologie: -Weber, Schneider, Schmiede, auch Goldschmiede z.B. erhalten vom Kunden den Rohstoff zugewogen 56 - der „Preiswerker": - Buntweber z.B. scheinen dahin zu gehören, bei Tischlern u. a. ist dies an sich höchst wahrscheinlich, - und später die Ausnutzung von Sklaven in Form der gewerblichen Absatzproduktion, aber regelmäßig nicht im Sklavengroßbetriebe, sondern als unfreie Kommenda eines Pekuliums seitens des Herrn an den Sklaven. 57 Insbesondere findet sich auch, als einzige Form der „unternehmungsweisen" Organisation industrieller Arbeit, die „unfreie Heimarbeit", speziell bei den Tempelsklaven, welche den Rohstoff und oft auch die Geräte zugeteilt erhalten und das Produkt abliefern. 58 Der königlichen Robothandwerker der ältesten Zeit wurde bereits oben gedacht. 59 Auch in Urkunden aus späterer (auch persischer) Zeit finden sich der König und die Prinzen im Besitz gelernter Handwerker als Sklaven (bei denen z. B. Privatleute andere Sklaven in die Lehre geben). Wie im einzelnen das „freie" Gewerbe und die Arbeit für Private und den „Markt" sich im Verhältnis zu den Leiturgieen entwickelt hat, ist aus den Quellen nicht zu entnehmen; die Übergänge waren naturgemäß flüssig und von dem Leiturgieenbedarf des Königs, der Zahl der Handwerker, dem Vorhandensein von kriegsgefangenen gelernten Handwerkern abhängig. Jedenfalls sind unfreie Handwerker als Lehrherren fremder Sklaven in den Urkunden häufig. 60 Die Ausnutzung der Hand-

5 4 Kohler/Peiser, A u s d e m b a b y l o n i s c h e n R e c h t s l e b e n 1, S . 2 0 . 55 D a z u Kohler/Peiser, H a m m u r a b i s G e s e t z , S. 73, 97. 5 6 B e i s p i e l e f i n d e n s i c h bei Peiser, Texte, S. 2 2 0 f . , Nr. XV (Wolle für W e b e r ) ; S. 2 2 6 f . , Nr. XXI (Stoffe v o n e i n e m B u n t w e b e r für e i n e n S c h n e i d e r ) . 5 7 So Kohler/Peiser, A u s d e m b a b y l o n i s c h e n R e c h t s l e b e n 1, S. 1. 58 Vgl. Peiser, B a b y l o n i s c h e V e r t r ä g e , S.XXV. 59 Siehe o b e n , S . 3 7 7 . 60 Z u e i n e m V e r t r a g ü b e r die A u s b i l d u n g eines S k l a v e n (als S t e i n m e t z ) d u r c h e i n e n S k l a v e n d e s p e r s i s c h e n K r o n p r i n z e n K a m b y s e s vgl. Kohler/Peiser, A u s d e m b a b y l o n i s c h e n R e c h t s l e b e n 2, S . 5 3 f .

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(3.

Fassung)

werkssklaven als Rentenfonds (mandattu" = „Obrok") war namentlich in der späteren Zeit die Regel. 61 Die Sklavenpreise sind auch in der Spätzeit, wenn der Sklave nicht gelernt ist (was, je nach dem Handwerk, oft Jahre, beim Weber 5 Jahre, dauerte) 62 mäßig, die Sklavinnen stehen dann höher im Preis. s Neben den primitiven Erscheinungsformen der Pachtrente, des Unternehmer- und Leihkapitalzinses 0 findet sich, - als eine Art Remplaçant moderner Kapitalanlagen in zinsbaren öffentlichen Anleihen, - die, als Gegenstand des Tauschverkehrs, der Pfandund Mitgiftbestellung schon im altbabylonischen Reich auftreten- 10 de, Beamten- (speziell] Tempelbeamten-jP/rMncie. In Babylon entwickelt sich in diesen Pfründen ein regelmäßiger Verkehr,63 Die Pfründen haben die Gestalt von Naturaliendeputaten, welche die Stelle teils ursprünglicher Rechte der Beamten auf Freitisch, d.h. A 80 r auf Teilnahme an den gemeinsamen Mahlzeiten der Priesterschaft 15 und auf „freie Station" 64 aus den Einnahmen der Tempel, teils wohl auch von ursprünglichen Belehnungen der Beamten mit Land eingenommen hatten, und welche sich nun weiter zu erblichen und schließlich auch veräußerlichen Naturalrentenrechten entwickelten. 65 Wir finden in den Urkunden sehr häufig Länderei- 20 en erwähnt, welche zugunsten der Tempel mit Naturalleistungen verschiedener Art an bestimmten Monatstagen - z.B. dem 30. jeden Monats 66 - belastet sind, sei es infolge von Stiftungen, sei es weil sie ursprünglich Tempelland und vom Tempel unter derartigen Auflagen verliehen waren. Aus den hieraus und aus den sonstigen 25 Naturalieneinnahmen des Tempels fließenden Bezügen werden die in Fleisch-, Brot-, Bier-, Kleidungs- usw. Lieferungen bestehenden Naturaliendeputate der Pfründner bestritten, welche von diesen ta-

ri A: ( m a n d a k u

O A: Leihkapitalzinses,

61 Die „mandattu" (.Abgabe 1 ) behandelt Demuth, Fünfzig Rechts- und Verwaltungsurkunden, S. 419, zu Nr. 25 (Zeit Kyros' II.). 6 2 So Demuth, ebd., S.418, Nr. 25 (Weber); S.421, Nr. 27 sowie S.422, Nr. 28 (andere Handwerker). 6 3 Vgl. Peiser, Babylonische Verträge, S. XXVIf. 6 4 Hier: freie Wohnung. 6 5 Peiser, Babylonische Verträge, S. XXVIf., dazu Kohler, ebd., S. XXXIIf. 66 Peiser, Keilschriftliche Acten-Stücke, S.47, Nr. XII, Z. 2f.

II. 1.

Mesopotamien

401

geweise - z.B. das Bezugsrecht jedes 15. und 30. Monatstages - veräußert und Gegenstand des Verkehrs werden. 67 Von der Tragweite der skizzierten, immerhin schon ziemlich komplexen, Verkehrserscheinungen für die Struktur der Wirtschaft haben wir eine gesicherte und klare Anschauung vorerst nicht. Trotzdem dieser Verkehr technisch hochentwickelt ist, steht offenbar die Preisbildung, auch soweit sie nicht, wie in Babylon zu Hammurabis Zeit, obrigkeitlich direkt reglementiert war, unter dem überragenden Einfluß der königlichen und Tempelmagazine. 68 In Assyrien wird, abgesehen von der unter Assurbanipal erwähnten Veräußerung des Beuteviehes zu festen Preisen an die Assyrer, 69 unter Sargon der Korn- und Sesamvorrat der königlichen Magazine teuerungspolitisch zur Regulierung der Preishöhe beider Produkte benutzt; 70 teuerungspolitische Konsumbeschränkung scheint auch die „Begrenzung der Mahlzeiten" 71 durch den gleichen König zu sein, soweit sie nicht dem Bestreben, neben dem Könige keine anderen sozial hervortretenden Klassen zu dulden, entsprang. Ähnlich wie die königlichen Magazine werden die Tempelvorräte oft funktioniert haben, und zweifellos diente auch der typische Tempelzinsfuß faktisch, - ob planvoll, bleibe dahingestellt, - der Regulierung und Fixierung des privaten Zinsfußes. Wenn wir also im altbabylonischen Recht, wo das Kommissionsgeschäft im Karawanenhandel als Vieh- und Sklaven-Einkaufskommission schon vollständig entwickelt ist, Kaufaufträge „zum Preise, der sein wird", 72 finden, so ist dies schwerlich ein Konkurrenz-Marktpreis, wahrscheinlich vielmehr der Verkaufspreis der königlichen oder Tempelmagazine. Von den bald gegen 200 000 Keilschrifttexten 73 ist der übersetzte Bruchteil so gering, die Übersetzungen so sehr verstreut und manche gerade bei wichtigen Urkunden so bestritten, daß wenigstens 6 7 Ebd., S. 18f., Nr. II, S.26f., Nr. I V u . ö . ; dazu Kohler, In: Pelser, Babylonische Verträge, S.XXXIIf. 68 Kohler/Peiser, Hammurabis Gesetz, S. 9 4 - 9 7 . 6 9 Weber bezieht sich auf Jensen, Inschriften Asurbanlpals, S. 225, Z. 4 2 - 4 9 . 7 0 Vgl. Lyon, Kellschrifttexte Sargons, S.35, Z. 41. 71 Das Zitat stammt aus Lyon, Kellschrifttexte Sargons, S. 35, Z. 42. 7 2 Vgl. Pelser, Texte, S.43, Nr. I (Zeit des Königs Samsudltana von Babylon, ca. 1625-1595 v.Chr.). 7 3 Vgl. Bezold, Keilinschrlften, S.6 (mindestens 15000 numeriert allein im Britischen Museum, mindestens dieselbe Zahl an nicht numerierten Stücken, dazu „mindestens zehnmal soviel" (150000) im .unerschöpflichen Zweistromland').

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Agrarverhältnisse

im

Altertum

ich nicht wagen kann, den Versuch einer eigentlichen Entwicklungsgeschichte auf das mir zugänglich gewesene Material aufzubauen. - a 2. Ägypten, a) Altes Reich.1 a

Wenn Babylonien von Anfang an, mehrere Jahrtausende vor dem Auftauchen „chartalen" Geldes, 2 als Trägerin „kapitalistischer" Wirtschaftsformen, strengen Schuldrechts mit den härtesten Formen der Personalexekution und - später - ausgebildeter GeldwirtA 81 i schaft erscheint, 3 so gilt dagegen Ägypjten mindestens für die ältere Zeit als ein spezifisch naturalwirtschaftliches Wirtschaftsgebiet. Es ist nicht leicht zu sagen, in welchem Sinne dies für die inneren Wirtschaftsverhältnisse, - denn Aoßerchandel hat der Pharao wahrscheinlich getrieben, soweit und weit früher als geschichtliche Kunde überhaupt zurückreicht: seine Stellung beruht ökonomisch unter anderem auch darauf, - zutrifft. „Geld" fehlt offenbar der ältesten Zeit. Dagegen besteht schon im 4. Jahrtausend Verkehr, auch Bodenverkehr, und es scheint fast sicher, daß vererbliches und, unter Umständen, 4 auch veräußerliches Bodeneigentum schon (oder vielmehr: gerade) vor der Einigung des Reichs existierte und daß die alles überwuchernde Bedeutung des „Oikos" des Pharao und der Tempel erst Entwicklungsprodukt ist. Die urkundlichen Zeugnisse sprechen naturgemäß in den Zeiten des alten und mittleren, und erst recht des neuen Reichs vorwiegend von den Verhältnissen der königlichen und der Tempelwirtschaft. Daß man sich von dem Umfang des Terrvpelbesitzes danach vielfach übertriebene Vorstel-

a (S. 3 7 4 ) - a Petitdruck in A.

a - a (S. 438) Petitdruck in A.

1 Erman, Ägypten 1, S.63, setzte das Alte Reich mit der Zeit der 4 . - 6 . Dynastie gleich, wobei die 4. Dynastie spätestens 2830 v. Chr., die 6. Dynastie spätestens 2530 v. Chr. begonnen hätte. - Zu den Fragen der ägyptischen Chronologie bei Weber vgl. auch den Editorischen Bericht, oben, S. 315f. 2 Gemeint sind „rechtlich anerkannte Zahlungsmittel von fester äußerer Form, d. h. in der Antike Münzen, die frühestens seit dem 7. Jahrhundert v.Chr." erschienen. Der Begriff war geprägt worden von Knapp, Staatliche Theorie des Geldes, S. 27. 3 Vgl. oben, bes. S. 391, 394 und 397. 4 Vgl. dazu unten, S. 412f. (mit der bei Weber zugrundeliegenden Datierung).

II. 2.

Ägypten

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lungen gemacht hat, scheint jetzt zweifellos.5 Ob aber die Abwesenheit alles privaten, d. h. nicht entweder Lehn oder Kolonenland bildenden, Grundeigentums in den Zeiten der ältesten historischen Dynastieen, an die man sich zu glauben gewöhnt hatte, je eine Realität war, ist jetzt mehr als zweifelhaft geworden. 6 Leider sind viele Quellen in der Deutung recht umstritten. Die Lesung 0 der Urkunden, speziell der demotischen, ist vielfach noch höchst unsicher. Speziell dem verdienten Efugene] Revillout, auf dessen wichtige, aber unerträglich schwatzhafte Darstellungen man immerhin oft angewiesen ist,0 sind schwerste Irrtümer (Verwechselung von Eheschließungs- mit Verstoßungsurkunde u. dgl.)7 nachgewiesen. Die Monumente beginnen jetzt Aufschluß zu geben über eine Epoche (die sog[enannte] „thinitische"), welche der Verlegung der Residenz nach Memphis voranging und den Staat (um etwa 4 000)8 noch in der Entwicklung von Burgen- und Fronkönigtum zu jenem ungeheuren königlichen „Oikos" zeigt, der in der älteren Zeit des „Neuen Reichs" seine Höhe erreichte. Die sozialen Institutionen empfingen im sogenannten] „alten Reich" ihr spezifisches Gepräge durch drei Momente: 1. das Fehlen ernstlicher kriegerischer Bedrohung und Expansionsmöglichkeit; 2. die durch die Eigenart der Existenzbedingungen gegebene Notwendigkeit eines früh ziemlich ausgebildeten bureaukratischen Verwaltungsapparats und sehr umfassender Heranziehung der Bevölkerung zu Frondiensten im Interesse der Wasserbauten. Der Einzelne ist in erster Linie Staatsfröner, und wenn die Pharaonen sich rühmen, daß sie Ordnung geschaffen und „jede Stadt ihr Ge-

b A: Lesungen

c A: ist)

5 G e m e i n t ist der bei Otto, Priester und Tempel 1, S . 2 5 9 , Anm. 4, formulierte Zweifel g e g e n ü b e r Erman, Zur Erklärung d e s Papyrus Harris (bes. S. 4 6 7 - 4 7 4 ) . 6 Eine w i c h t i g e Rolle spielten hier die Metjen-Inschriften. Vgl. unten, S . 4 1 2 f . , sowie Moret/Boulard, D o n a t i o n s et f o n d a t i o n s , bes. S . 6 4 , 67 u n d 74; a u ß e r d e m Moret, Procès d e famille, bes. S. 28. 7 Zur Kritik an Revillout vgl. i n s b e s o n d e r e O x y r h y n c h u s Papyri 2, S. 240; S p i e g e l b e r g , D e m o t i s c h e Papyrus, S . 5 - 7 u n d 28; Mitteis, Neue R e c h t s u r k u n d e n , S . 3 4 8 . 8 Diese (wohl w e s e n t l i c h zu hohe) Zahl findet sich bei B r u g s c h , Ä g y p t o l o g i e , S . 4 7 3 . Die thinitische Zeit ( 1 . - 2 . Dynastie), deren K ö n i g e aus d e m o b e r ä g y p t i s c h e n Thinis g e s t a m m t h a b e n sollen, wird heute im a l l g e m e i n e n in die Zeit v o m Ende des 4. Jahrt a u s e n d s v. Chr. bis in d a s erste Drittel des 3. J a h r t a u s e n d s v. Chr. datiert.

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Agrarverhältnisse

im

Altertum

biet kennen gelehrt" haben, 9 so bezieht sich dies, wie aus dem Zusammenhang hervorgeht, auf die Bewässerungsverhältnisse und die daraus folgenden Ansprüche und Fronden; 3. das offenbar hiermit zusammenhängende Fehlen der Familiennamen 10 oder anderer die „Geschlechter" als solche zusammenhaltender (Familien-individualistischer) Institutionen, wie es durch die gemeinwirtschaftliche Einschnürung und die Übermacht der höfischen RangverhältA 81 r nisse gegeben | ist. Die Familien der „Großen" sind zwar grundherrliche Familien, zugleich aber und vor allem sind sie Dienstadel, und dieser Dienstadel rekrutierte sich mit zunehmender Machtstellung der Pharaonen auch zunehmend durch Avancement von unten her. - Die (relative) Dezentralisation des Verwaltungsapparates im alten Reich 11 entspricht der geringfügigen Entwickelung eigentlich militärischer Institutionen: es bestehen neben der Garde des Pharao und Polizeitruppen der Tempel normalerweise nur Gaumilizen, die der Gauvorstand zum eventuellen Aufgebot gegen die damals ohnmächtigen Beduinensch wärme verwendet. 12 Be- und Entwässerungsanlagen, Kanäle, Wasserhebevorrichtungen sind die grundlegenden Institutionen eines Wirtschaftsbetriebes, der vollständig an die Bewegungen und Regulierungen des Nilwasserstandes festgeklammert ist und deshalb von Anfang an d. h. seit dem Beginn der Wasserregulierung - in starkem Maße gemeinwirtschaftlich beeinflußt gewesen sein muß. Die uralte Gaueinteilung des Landes hat sicherlich mit ökonomischen Institutionen im Interesse der Bewässerung und Produktion ebenso zusammengehangen, wie die in der späteren Zeit erwähnten öffentlichen Kornhäuser in den Gauhauptstädten 13 sicher, ebenso wie die assyrischen Institute gleicher Art, 14 sowohl fiskalische wie teuerungspolitische Zwecke verfolgten. Der Nomarch hatte daher, neben der Fürsorge für die Bewässerungsanlagen, vor allem die Umlegung

9 S i n n g e m ä ß e s Zitat n a c h E r m a n , Ä g y p t e n 1, S. 135: „Er [ . . . ] ließ j e d e Stadt d i e G r e n ze k e n n e n , d i e sie v o n d e r a n d e r e n t r e n n t e " ( P h a r a o A m e n e m h e t I.). 10 D a r a u f weist Erman, e b d . , S. 228, hin. 11 Z u g r u n d e liegt Erman, Ä g y p t e n 1, S. 128: „ D i e V e r f a s s u n g d e s alten R e i c h e s war [...] e i n e d e c e n t r a l i s i e r t e " . 12 E b d . , B a n d 2, S . 6 8 8 (vgl. B a n d 1, S . 2 1 4 ) . 13 E i g e n e K o r n m a g a z i n e in j e d e m k l e i n e n Distrikt d e s A l t e n R e i c h e s e r w ä h n t E r m a n , e b d . , B a n d 1, S. 128. 14 Vgl. o b e n , S . 4 0 1 .

II. 2. Ägypten

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der Fronden, dann die Sorge für den Ertrag des königlichen Grundbesitzes in der Hand. Daß dieser Königsbesitz von jeher sehr ausgedehnt war, ist nicht fraglich. Später mag ein Bodenregal des Königs theoretisch bestanden haben, aus unten zu erwähnenden Gründen. 15 Von da bis zu dem Gedanken einer staatssozialistischen Gestaltung 16 der gesamten Produktion als Grundform altägyptischer Wirtschaft ist aber noch ein weiter Weg. - Wir wissen natürlich von den ältesten Sozialverhältnissen fast nichts. Sehr primitive Ackerinstrumente - Hakenpflug von Ochsen gezogen, Hakken und Hämmer statt der Eggen, Schafe und Schweine zum Eintreten der Saat, die Sichel zum Schneiden, Esel oder Rindvieh zum Austreten 17 - dienten zum Anbau von Gerste, Weizen, Hirse. Daneben wurden Wein, Gemüse und Dattelpalmen, 18 erst in ganz später Zeit und selten auch Ölbäume gezogen und aus den Nilsümpfen Lotos-(Nelumbium-)Kerne zum Essen und Papyrus für die verschiedensten technischen Zwecke, vom Schiffsbau 19 bis zum Schreibmaterial, gewonnen. Die Einfachheit der Pharaonenkost (wesentlich: Gemüse) erwähnt Diodor; 20 die Masse der Bevölkerung lebte von Brot und Sesamöl. (Wenn behauptet wird, die Ägypter hätten mit Rizinusöl gebacken, 21 so mutet das ihren Eingeweiden doch zu viel zu!) Das Pferd ist vor dem neuen Reich nicht nachweislich und offenbar von Syrien aus importiert, 22 das Kamel erst in hellenistischer Zeit sicher nachweisbar (vorher in einer Kamee), der Esel wurde als Transporttier gehalten, 23 Rinder, Schafe, Ziegen und verschiedene Antilopen, von Geflügel beson-

1 5 S i e h e unten, S . 4 1 1 und 4 2 5 - 4 2 8 , d a z u S . 4 3 0 . 1 6 Von . s o c i a l i s m e d'Etat' im Z u s a m m e n h a n g mit Ä g y p t e n s p r i c h t g e l e g e n t l i c h Revillout, P r é c i s 1, S. 6, 31. 1 7 Z u g r u n d e liegt Erman, Ä g y p t e n 2, S . 5 6 9 - 5 7 4 . Die Saat pflegte in d e n „ z ä h e n S c h l a m m " e i n g e d r ü c k t z u w e r d e n (ebd., S . 5 7 1 ) ; d a s A u s t r e t e n e n t s p r i c h t d e m Dres c h e n (ebd., S. 574). 1 8 E b d . , B a n d 1, S . 2 5 f „ 277; B a n d 2, S . 5 7 8 , 5 9 9 . 1 9 E b d . , B a n d 2, S. 6 3 5 - 6 3 7 ( N a c h e n a u s P a p y r u s s t e n g e l n ) . 2 0 W e b e r nimmt B e z u g auf D i o d o r 1, 70, 11. 2 1 Für Revillout b e s t a n d an der V e r w e n d u n g d e s R i z i n u s ö l s (äg. ,kiki') ,in der K ü c h e der unteren S c h i c h t e n ' kein Zweifel: ders., L a v a l e u r d e l'huile, in: R e v u e é g y p t l o l o g i q u e , vol. 2, 1880, S. 164 mit A n m . 5. 2 2 Z u g r u n d e liegt o f f e n b a r Erman, Ä g y p t e n 2, S. 649, 681 f. 2 3 W e b e r fußt (mit A u s n a h m e d e s in d i e s e r F a s s u n g h i n z u g e f ü g t e n , nicht aufgeklärten H i n w e l s e s auf eine K a m e e ) auf Erman, Ä g y p t e n 2, S. 652; vgl. o b e n , S. 151.

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ders Gänse gezüchtet und mit Brotteig gemästet. 24 Die später dichter besiedelten Deltamarschen dienten in der Frühzeit den Herden des Binnenlandes in periodischem Auftrieb im großen als FettweiA 821 de. Marsch- und Sumpfländer | kleinen Umfangs müssen von jeher auch nilaufwärts zu den einzelnen Gauen gehört haben, da die Viehhaltung nicht unbeträchtlich war. 25 (In der Lagidenzeit ließ der König überall Landparzellen für die Beweidung von der Bestellung ausschließen.) Das Schwein war offenbar von jeher bekannt, bildlich erscheint es in Herden erst im neuen Reich. 26 Nutzholz ist äußerst spärlich, 27 spielt aber auch weder beim NilSchlammziegelbau,28 noch, ursprünglich, beim Schiffsbau eine entscheidende Rolle. - Die Ackerbestellung erforderte von jeher relativ kurze Zeit. Düngung war entbehrlich, Brache unnötig, Fruchtwechsel beliebig. Demgemäß war die Arbeitsintensität des Landbaues in der Pharaonenzeit nur mäßig stark: auf je 6 Aruren (l 2 / 3 ha) Ackerland rechnete man, scheint es, in einer Urkunde aus der Zeit der 18. Dynastie eine Sklavenfamilie 29 (in einer Urkunde aus der Scheschonkidenzeit allerdings auf 0,7 Aruren: bei Gartenland kamen für Fronden nach Revillouts Rechnung 5 Männer auf 4 Aruren). 30 Dagegen rechnen die Kahun-Papyri (12. Dyn[astie]) 10 Aruren (2,75 ha) auf den Mann. 31 Die große arbeitsfreie Zeit, welche - gleichviel was man von diesen und den späteren, naturgemäß ziemlich stark differierenden, Angaben hält,-jedenfalls in der ägyptischen Landwirtschaft bestand, gab die Möglichkeit, einerseits für die Leistung der kolossalen Baufronden dem Pharao zur Verfügung zu stehen, andererseits auch zu einer sehr umfassenden gewerblichen Nebenbeschäftigung, sei es für den Markt, sei es als Leiturgie für die Magazine. Man darf vielleicht auch dieser, durch die Naturbedingungen der Landwirtschaft gegebenen, Situation es

2 4 V g l . e b d . , S. 5 8 6 f . (wobei s i c h d i e M ä s t u n g auf A n t i l o p e n u n d G ä n s e b e z i e h t ; vgl. a u c h o b e n , S. 151). 2 5 D i e s wird b e h a n d e l t b e i Erman, e b d . , S . 5 8 3 . 26 E b d . , S. 589. 2 7 E b d . , B a n d 1, S . 2 5 f . ; B a n d 2 , S . 5 9 9 u.ö. 28 29 30 pro 31

Ebd., B a n d 2 , S . 5 5 6 f . B e h a n d e l t bei Revillout, P r é c i s 1, S. 38 ( d a z u e b d . , S . 4 1 u n d S. 177, A n m . 5). Bei Revillout, P r é c i s 1, S. 42, w e r d e n 20 M a n n für 4 A r u r e n G a r t e n l a n d , a l s o 5 M a n n Arure, v e r a n s c h l a g t . W e b e r b e z i e h t s i c h auf Griffith, Petrie Papyri, S . 5 3 (Z. 3 d e s P a p y r u s K a h u n 13.1).

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mit zuschreiben, daß eine Trennung von Gewerbe und Landwirtschaft in der Form der Sfädfcbildung in Ägypten sich so sehr viel weniger als anderwärts vollzog. Im übrigen hat dies seinen Grund (damals wie heute) eben in der geographischen Konfiguration des Landes: der Fluß als eine einzige ungeheure Verkehrsstraße mit einem schmalen kontinuierlichen Streifen besiedelten Landes auf jeder Seite. Und weiterhin spielte auch die soziale Struktur des Landes (einheitliches Robot- und Leiturgie-System, s. u.) 32 und die politisch-militärische Verfassung (Friedlichkeit der „älteren" Reiche bis zum Hyksos-Einfall, 33 auf Söldnern und Leiturgieen eines bäuerlichen Kriegerstandes ruhende Militärverfassung des „neuen") dabei eine entscheidende Rolle. Daß das Land „keine Städte" gehabt habe, ist dabei natürlich nur in dem Sinne richtig, daß seinen Festungen und größeren Ansiedelungen jene Attribute, welche den antiken Städten, selbst denen Mesopotamiens, gemeinsam sind, soweit gefehlt haben, daß die Gesamtheit des Landes in altägyptischer wie in ptolemäischer Zeit einheitlich nach Landdistrikten verwaltet wurde und daß Privilegien einer Stadtbürgerschaft und selbst beschränkt autonome städtische Verwaltungskörperschaften (außer in den 3 Hellenenstädten) 34 fehlten. - Ob die Sprache je ein nationales Wort für Sklaven besaß, scheint nicht sicher. In den Inschriften werden selbst die Worte, welche am häufigsten auf Kriegsgefangene, flüchtige Sklaven, Kaufsklaven angewendet wurden (boku, honu), auch für die höchsten weltlichen oder priesterlichen Funktionäre gebraucht 35 (was die Priester anlangt, so | ist zur Erklärung wohl daran zu erinnern, daß schon im mittleren A 82 r Reich die Organisation der „Stundenpriester" bestand, welche, den 4 Priester-Phylen zugeteilt, schichtweise abwechselnd den Kultus versahen, 36 - ganz entsprechend den später zu erwähnenden 37 „Schichten" der pharaonischen Fronarbeiter). Eine ungeheure Fül-

3 2 Siehe unten, S . 4 1 7 . 3 3 Z u d e n H y k s o s vgl. unten, S. 419. 3 4 Gemeint sind Alexandreia, Naukratis und Ptolemais. 3 5 W e b e r folgt Baillet, N o m s de l ' e s c l a v e 2, S. 193, 209f. Zu den ä g y p t i s c h e n Bez e i c h n u n g e n vgl. unten, S. 417f. 3 6 Bei den Stundenpriestern handelt es s i c h um Laienpriester, die nur zeitweise kultis c h e Dienste verrichteten. W e b e r stützt s i c h b e s o n d e r s auf Otto, Priester und Tempel 1, S. 2 3 - 2 5 . 3 7 Siehe unten, S . 4 1 7 .

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le von Ausdrücken stehen für ganz denselben, zweifellos unfreien, Status zu Gebote, ohne daß es bisher den sorgsamen Untersuchungen z.B. J[ules] Baillet's 38 geglückt wäre, sie, sei es etymologisch oder nach dem Metier oder nach dem Stande, dem sie entstammen, einigermaßen sicher zu klassifizieren, mit Ausnahme ganz weniger, weiterhin zu erwähnender, 39 aber stets nur inexakt durchgeführter Unterscheidungen. Es ist das Wesen des Leiturgiestaates, als welcher Ägypten, vollständig im „neuen", dem Keim nach schon im „alten" Reich, uns entgegentritt, welches sich darin äußert: jeder Einzelne ist gebunden an die Funktion, die er innerhalb des sozialen Organismus versieht, 0 daher ist im Prinzip jeder unfrei. Schon in den ältesten historischen Zeiten ist diese Entwickelung so weit verbreitet, daß es zwar jeweils privilegierte Schichten, aber keine rechtlich freien Volksgenossen im Sinn der hellenischen kcÖ|it| oder 7iôÀ,iç gibt, und im Prinzip jeder Sklave, wenigstens wenn es ihm gelang, in die Karriere des „Schreibers" zu gelangen, den „Marschallstab im Tornister" 40 hatte. Natürlich kommen Kaufsklaven zahlreich vor. Aber die Sklavenpreise sind, verglichen mit den Bodenpreisen, wie es scheint, seit dem neuen Reich gestiegen; ein Sklave kostete in einer Urkunde unter den Scheschonkiden (libysche Dynastie) 41 fast soviel wie das Quantum Land, welches er bebaute. Unter Darius 42 kostete er in einer Urkunde das 12fache, 43 während der Preis des Landes niedriger ist als in den älteren Urkunden. Ägypten hat zwar vorübergehend große Raubkriege geführt, und Sklaventribute kommen in der Zeit der Thutmosis- und Amenophis-Dynastie 44 vor. Aber sie sind für den Hausbedarf des Königs persönlich bestimmt. Die überlieferten Zahlen von Gefan-

d A: vorsieht, 3 8 W e b e r b e z i e h t s i c h auf B a i l l e t , N o m s d e l ' e s c l a v e 1 - 4 . 39 Siehe unten, S . 4 1 7 f . 4 0 D i e R e d e w e n d u n g w i r d N a p o l e o n I. z u g e s c h r i e b e n : „Tout s o l d a t f r a n ç a i s p o r t e d a n s s a g i b e r n e [ P a t r o n e n t a s c h e , T o r n i s t e r ] le b â t o n d e m a r é c h a l d e F r a n c e . " 41 G e m e i n t ist d i e v o n S c h e s c h o n k I. b e g r ü n d e t e 22. D y n a s t i e in Ä g y p t e n , ( c a . ) 9 4 6 / 9 4 5 - 7 3 5 v.Chr. 4 2 Es h a n d e l t s i c h u m D a r e i o s I. 4 3 W e b e r n i m m t o f f e n b a r B e z u g auf e i n e n T u r i n e r P a p y r u s , n a c h R e v i l l o u t , P r é c i s 1, S. 5 2 3 ; v g l . d e r s . , Q u e l q u e s t e x t e s d é m o t i q u e s , S. 2 4 f . 4 4 G e m e i n t ist d i e 18. D y n a s t i e ( v o n E r m a n , Ä g y p t e n 1, S . 6 3 , in d i e Z e i t z w i s c h e n e t w a 1 5 3 0 u n d 1 3 2 0 v. Chr. d a t i e r t ) .

II. 2.

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genen, - soweit sie glaubhaft sind, - sind nicht hoch. 45 Schon diese Sklavenmarkt- und jene erwähnten Sklaven-Preis-Verhältnisse wenn sie typisch gewesen sein sollten - mußten private Ausnutzung von landwirtschaftlicher Sklavenarbeit im Großbetrieb zunehmend erschweren. Später machte das gewaltige Steigen der Bodenpreise eine solche vollends unrentabel. Alle Unfreien haben normalerweise eigene Familie, nur bei den Kriegsgefangenen wird diese gefehlt haben. - Die Funktion der Sklaverei versehen im „Alten Reich" die Klientel und der Kolonat. Man nimmt im allgemeinen an, daß das Pharaonentum in Oberwie in Unterägypten durch Unterwerfung der einzelnen „Gaukönige" und ihre Verwandlung in belehnte „Nomarchen" (nach Art der „patesi" 46 des Zweistromlandes) entstanden sei. „Burgherr" als Beamtentitel findet sich noch in späterer Zeit. 47 Die einstige Selbständigkeit der Gaufürsten spricht sich auch in der im alten Reich - wie sich zeigt - bestehenden Monopolisierung mancher Priestertümer durch gewisse „adelige" Familien aus.48 Die Gefolgschaft der Tafelgenossen wird auch hier der Keim des Lehensadels gewesen sein: Das später | ganz promiscue für „Sklave" verwendete A 83 l Wort: „chemsu" e bedeutete ursprünglich wohl den freien Ministerialen (daher es auch im Minne-„Dienst" verwendet wird). 49 Das Gefolgschaftsverhältnis hat aber in Ägypten, dank der absoluten Abhängigkeit aller von der bureaukratischen Vorsorge für die Nilregulierung, auf alle Sphären des sozialen Daseins übergegriffen. Schon die Art der Rechtspflege mußte allmählich den Satz zur Geltung bringen: „Nul homme sans maitre". Der „Mann ohne (Schutz-)Herrn" gilt als hilflos.50 Die gesamte Einwohnerschaft des

e A: „ c h a m s u " 45 Vgl. d a g e g e n für d a s N e u e R e i c h u n t e n , S . 4 1 9 . 4 6 Ältere L e s u n g ( z . B . bei T h u r e a u - D a n g i n , S u m e r i s c h e u n d a k k a d i s c h e K ö n i g s i n s c h r i f t e n , S. XI11—XVII s o w i e S. 3 f f . p a s s i m ) v o n s u m . ensi, „ S t a d t k ö n i g " , „ S t a d t g o u verneur". 4 7 Von „ B u r g g r a f e n " s p r i c h t mit einer Reihe v o n B e i s p i e l e n B r u g s c h , Ä g y p t o l o g i e , S. 201 ( u . ö . ) . 4 8 W e b e r d ü r f t e auf E r m a n , Ä g y p t e n 2, S. 3 9 2 f . , fußen. 4 9 W e b e r f o l g t Baillet, N o m s d e l ' e s c l a v e 1, S. 34, zu d e m ä g y p t i s c h e n Wort „ s m s . w " vgl. u n t e n , S. 4 1 7 f . mit A n m . 13 (dort bei W e b e r : s c h e m s u ) . 50 So Moret, C o n d i t i o n d e s f é a u x , S. 122 ( „ c e s m i s é r a b l e s h o m m e s s a n s maître").

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Agrarverhältnisse

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Landes ist in eine Klientel-(„amach"-)Hierarchie eingegliedert. 51 Die Herrschaft des Pharao ist schon in der ältesten Zeit ein „Fronstaat": - er führt auch die Geißel als Attribut. Und zwar scheint es (und das wäre auch dem allgemeinen Entwickelungsschema entsprechend), 52 daß die Bindung der Bauern an die Robott und damit an die Scholle und das Maß ihrer Fronbelastung in dem Flußmündungsgebiete, in Unterägypten, anfangs schärfer war als in Oberägypten, dort also, wo die ältesten Stätten des Handels lagen, ihren Ursprung nahm. Wenn (angeblich) ein „Kolon" des Pharao in der Zeit vor König Snefru oder doch vor den Pyramidenbauten mit eigenem Siegel auftritt, so könnte man daraus schließen, daß das Maß der Knechtung der königlichen Bauern damals noch geringer war und erst mit der großen Bautenperiode begann (doch ist die Flüssigkeit der Ausdrücke - s.o. 53 - zu bedenken). Ursprünglich ist die Robottpflicht offenbar auch beruflich wenig differenziert. Die Könige des alten Reichs bieten Soldaten, Schiffsleute und andere Untertanen, die 12. Dynastie auch Krieger und Priester, zu Transportleistungen auf (Mentuhotep 3000 für den Transport eines Sargdeckels). 54 Späterhin findet sich auch ein Aufgebot nur der Bauarbeiter des gesamten Landes. Die Bauern des unteren Nilgebietes scheinen alle als Arbeiter des Pharao zu gelten, welche unter Kontrolle seiner Beamten das ihnen überwiesene Landstück bebauen, über dessen Produkt dann nach Instruktion des Pharao verfügt wird. „Taxator der Kolonen" ist schon im 4. Jahrtausend ein Beamtentitel. 55 Die „retu" („Leu-

51 Z u g r u n d e liegt T h u r n w a l d , Staat u n d W i r t s c h a f t im alten Ä g y p t e n , S . 7 0 5 , s o w i e d e s s e n Q u e l l e Moret, C o n d i t i o n d e s f é a u x , bes. S. 1 4 7 f . Letzterer h e b t d i e B e d e u t u n g d e s V e r h ä l t n i s s e s in d e r ä l t e s t e n Zeit u n d ihr S c h w i n d e n im Lauf d e r w e i t e r e n E n t w i c k lung hervor. , A m a c h ' ist d i e v o n T h u r n w a l d n a c h . a m a k h o u ' bei Moret v e r w e n d e t e F o r m v o n ä g . jm;h.w ( i m a c h u ) , „ g e e h r t " , „ v e r s o r g t " ( v o r w i e g e n d als Titel v o n Verstorbenen überliefert). 52 Vgl. d a z u o b e n , S . 3 3 2 u n d 363. 5 3 Siehe o b e n , S . 4 0 7 f . 54 Diese A n g a b e n f i n d e n s i c h bei B r u g s c h , Ä g y p t o l o g i e , S. 2 5 3 f . Der d a b e i e r w ä h n t e P h a r a o M e n t u h o t e p (IV.) w i r d h e u t e d e r in die W e n d e v o m 3. z u m 2. J a h r t a u s e n d v. Chr. d a t i e r t e n 11. D y n a s t i e z u g e o r d n e t . 55 W e b e r f o l g t M o r e t / B o u l a r d , D o n a t i o n s et f o n d a t i o n s , S. 60. Zur D a t i e r u n g vgl. unten, S. 4 1 2 mit A n m . 60.

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te", ptolemäisch: Aaoi) werden mit den Gütern verschenkt. 56 Dagegen wird angenommen, daß in Oberägypten damals feudale Verhältnisse fortbestanden und „freie" Bauern, das heißt wohl lediglich: solche, welche vorwiegend Abgaben zu leisten hatten, vorgeherrscht haben. Auch für die Handwerker gilt ein ähnliches Nebeneinander: es finden sich (angeblich) auch später „freie" Dorf- und Stadthandwerker neben solchen, die der Pharao als ihm fronpflichtig in den Stadtvierteln, die um seine Paläste liegen, angesiedelt hat. Aber rechtlich garantiert war diese Scheidung wohl kaum. Die große faktische Beweglichkeit der ägyptischen Lohnarbeiter (die z. B. in russischen Erscheinungen der Leibeigenschaftszeit ihre Parallele findet) darf nicht als Ausfluß ihrer Rechtslage gelten. „Arbeiter" ist eine der üblichen Bezeichungen für alles nicht zum Amts- oder Tempeladel gehörige „Volk": die Robotpflicht war sicherlich subsidiär eine ganz universelle. Der Einzelne ist von jeher Objekt der Herrschaft des Pharao, er und sein Besitz sind vor allem „Katasternummer". Die Gemeinden haften durch | Vermittelung A 83 r ihres Vorstehers solidarisch für die Leistungen, die der König ihnen zuweist. Dies ist offenbar der ursprüngliche Zustand. Daher kannte schon das „alte Reich" (dies zeigt u.a. ein Berliner hieratischer Papyrus für die 11. Dynastie) den später so wichtig gewordenen Begriff der „i8ia": 57 Jedermann muß ein „Domizil" nachweisen können, d.h. aber: eine Gemeinde, der er „zugeschrieben" ist und wo er gegebenenfalls zu den Staatsfronden requiriert wird, sonst verfällt seine Habe, insbesondere auch seine Familie, dem Pharao, der natürlich auch über ihn selbst nach Belieben disponiert. Später war die Robot z.B. so (nach Revillouts Behauptung 58 generell) reglementiert, daß z.B. je eine Person 2000-2500Quadratellen Gemüseland zu bestellen hat: solches Gartenland war offenbar besonders oft in eigener Regie des Königs. Die Untertanenabgaben bestanden in Getreide, Vieh, Stoffen und anderen Hausfleißprodukten.

5 6 B e i d e n ,retu' (äg. rmt.w, r e m e t s c h u , „ M e n s c h e n " , „Leute"), d i e W e b e r mit d e n L a o i der P t o l e m ä e r z e i t v e r g l e i c h t (zu ihnen vgl. unten, S, 561 ), fußt er auf Moret/Boulard, D o n a t i o n s et f o n d a t i o n s , S. 5 9 (,retou'). 5 7 G e m e i n t ist der v o n C h a b a s , Œ u v r e s d i v e r s e s 2, S. 2 9 4 - 3 0 3 , b e s p r o c h e n e P a p y rus; hier b e s o n d e r s S . 3 0 0 f . (Datierung; B e d e u t u n g d e s „domicile"). 5 8 W e b e r nimmt B e z u g auf Revlllout, P r é c i s 1, S. 42.

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Agrarverhältnisse

im

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Erblicher „privater" Grundbesitz - d. h. solcher Grundbesitz, der nicht nur, wie Kolonenstellen, faktisch, sondern irgendwie garantiert erblich war - scheint vorwiegend auf königliches Lehen zurückzugehen. Auf den Gütern der königlichen Lehenskonzessionäre sind Umfang, Ursprung und Garantie der Erblichkeit des Besitzenden auf Stelen eingegraben. Die urkundlich überlieferten königlichen Neukonzessionen sind zumeist Häuser und Gärten (in einem Fall bis zu 200 Aruren inf 12 Parzellen umfassend), mit Sklaven und eventuell Kolonen. 59 Oft sind sie wohl „Amtspertinenzen" von Priestern und Nomarchen. Stets werden sie sorgsam inventarisiert und taxiert. Gerade die älteste („thinitische") Periode ergibt aber in den Inschriften der Grabkammern (so in der Inschrift des Mten, ca. 4000 v. Chr.) 60 das Bestehen erblicher und ie//barer Grundbesitzungen. Neben königlichen Konzessionen, und zwar insbesondere von Graögrundstücken (die in Ägypten von jeher eine gewaltige Rolle spielten und, sozusagen, einem commercium für sich unterlagen), als Lehen („ger" = beneficiarius) 61 finden sich private Gutsübertragungsverträge vom Vater auf den Sohn, 62 königliche Schenkungen von Land und Leuten 63 und endlich Übereignungen von z. B. 200 Aruren und einer Pfründe in Gestalt einer täglichen Rente von 100 Broten titulo oneroso: als Entgelt eines Beamten für bestimmte geleistete Dienste. 64 Ob deren Veräußerung im Privatverkehr damals möglich war, ist wohl noch nicht si-

f Der Text ist offenbar verderbt und und statt in zu lesen; vgl. Anm. 59. 5 9 Weber bezieht sich auf die auch Im folgenden zugrundeliegende Mten-Inschrift. Vgl. Moret/Boulard, Donations et fondations, S. 6 5 - 6 8 und 73f., wonach es sich um die „Erwerbung" von 200 Aruren sowie die „Konzession" von 12 „domaines" handelte. Zu den Sklaven bzw. Kolonen Moret/Boulard, ebd., S.67. 6 0 Weber folgt Moret/Boulard, Donations et fondations, S. 5 7 - 7 5 (die Datierung ebd., S. 57). Die Inschrift des ,Mten' (äg. Mtn, Metschen; meist .Metjen'), eines tatsächlich in die Zeit des Pharao Snofru (3. Dynastie) gehörenden hohen Amtsträgers, wird heute im allgemeinen in die Zeit kurz vor der Mitte des 3. Jahrtausends v.Chr. datiert. Zur Thinitenzelt vgl. oben, S. 403, Anm. 8. 61 Weber fußt auf Moret/Boulard, ebd., S. 60f. (dazu S. 65), wobei allerdings die Lesung von ,ger' als „concessionaire" bzw. „bénéficier" (statt: grg, gereg, .gründen') sich als Irrtum erwiesen hat. 6 2 Moret/Boulard, ebd., S.58f. 63 Ebd., S.62, 73. 6 4 Ebd., S. 68 und 74 (vgl. S. 70), wird die Übereignung als „à titre onéreux" (kostenpflichtig) bezeichnet, d. h. Metjen mußte dafür eine Gegenleistung erbringen.

IL 2. Ägypten

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eher zu sagen, erscheint aber eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich (von „Kauf" konnte natürlich, da es kein „Geld" gab, nicht eigentlich die Rede sein). 65 Das Inventar (amit-per, ampa) beim Gutsüberlassungsvertrage bildet das Surrogat testamentarischer Dispositionen; 66 es kommt später als technischer Ausdruck bei Übertragungen 1. vom Vater auf den Sohn, - 2. vom Mann auf die Frau, - 3. vom Bruder auf den Bruder - vor. Die prinzipielle Veräußerlichkeit des Grundbesitzes scheint e contrario namentlich auch durch die für das 4. Jahrtausend bereits inschriftlich bezeugten religiösen Stiftungen zu folgen, bei denen ausdrücklich die Mc/z¿veräußerlichkeit des (für „Seelenmessen" - sit v[enia] v[erbo]! - zugunsten des Verstorbenen) gestifteten Landes festgesetzt wird: die betreffenden Priester | sollen, als „honu-ka", den Besitz A 84 l nur ihren Kindern hinterlassen dürfen, also dauernd und erblich an ihre Funktion gebunden sein. 67 Der Name „ewige Kinder" 6 8 („Kinder" = Gewaltunterworfene freien Standes, wie die liberi in potestate des römischen Vaters) kommt für solche an die Leiturgie Gebundenen vor. In den Stiftungen wird dies rechtstechnisch - da der moderne juristische Begriff der Stiftung natürlich fehlte - in Form einer donatio sub modo (der Heredität nämlich) erzielt, wie Moret und Boulard hübsch nachgewiesen haben. 6 9 Für den Gesamteharakter der Sozial Verfassung ergeben jene Inschriften zunächst das Bestehen von Priestergütern schon für jene älteste Zeit, ferner die Existenz der später (s.u.) 70 so bedeutsamen Amtspfründe neben dem Amtslehen; die Exemtion der Priestergüter von der Jurisdiktion der Notabein (großen Lehnsträger) wird in den religiösen Stiftungen ausbedungen (die daher natürlich nur von einem Angehörigen der Notabelnklasse ausgehen konnten). Damit wird

6 5 Webers Bemerkung gilt Moret/Boulard, ebd., S. 67f., wo ausdrücklich vom .Kaufen' (acheter) der 200 Aruren und 100-Brote-Rente in einer geldlosen Wirtschaft gesprochen wird. 6 6 Vgl. Moret/Boulard, ebd., S. 72. Äg. jmjt-pr (imit-per), „was im Hause ist", bezeichnet die Inventar- bzw. Haushaltsliste, die bei der Besitzübertragung Verwendung fand. „Ampa" ist die von Revillout bevorzugte Form. 6 7 Weber basiert auf Moret/Boulard, Donatlons et fondations, S. 7 5 - 8 1 . Äg. hm.w-k; (hemu-ka) bezeichnet Totenpriester. Eine weitere Stiftung mit Unveräußerlichkeit des gestifteten Landes wird bei Moret/Boulard, ebd., S . 9 1 - 9 4 , behandelt. 68 Ebd., S. 76. 69 Ebd., bes. S.94. 7 0 Siehe unten, S.418.

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indirekt die Existenz dieser Herrenstellung der „Großen" für das 4. Jahrtausend 71 erwiesen, zugleich die Art des Beginns der Priestermacht verdeutlicht. Unter der 11. Dynastie appellieren allerdings selbst flüchtige Landarbeiter von ihren Herren an den Pharao selbst, 72 und ebenso findet sich im „Neuen Reich" später die Kriminal-Jurisdiktion selbst über flüchtige Sklaven königlicher Prinzen wieder in den Händen von staatlichen Richtern. Allein schon im alten Reich hat das Königtum seine Stellung mit den Nomarchen zu teilen gehabt, die in Oberägypten innerhalb der von ihnen verwalteten Bezirke eine der Sache nach dynastische Stellung behielten oder an sich rissen. Bereits unter der 9. Dynastie 73 scheint die Erblichkeit auch anderer Ämter die Regel gebildet zu haben. Manche Funktionen sind noch viel früher Gegenstand von „ampa"-Dispositionen. 74 - Bei dem äußerst weiten Umfang des „Amtsbegriffs" mußte dies ganz generell der Stellung des ältesten Sohnes, der die Ämter allein erbte, im Familienrechte zugute kommen. Im übrigen bietet das älteste Familienrecht nichts Abnormes. Für eine Geltung des „Mutterrechts", also des Fehlens des Erbrechts im Mannesstamm, in Ägypten ist nicht der geringste Beweis zu erbringen. Schon die ältesten Grabinschriften ergeben doppelseitiges Erbrecht. Die nicht seltene Erwähnung nur der Mutter in den Inschriften hängt sicher einerseits mit Erbtochterqualität derselben (in der Ämtervererbung) zusammen, ferner aber mit der Reaktion der Frauenfamilie gegen die Wirkungen der Polygamie, welche die Nötigung zu kontraktlicher Sicherung der Stellung der Braut als „Hauptfrau", „große Frau", und ihrer Kinder als der allein oder doch in garantiertem Umfang erbberechtigten mit sich brachte, endlich auch wohl mit Ebenbürtigkeitsfragen. „Sohn des X, gemacht (sie!) von der Y" ist das korrekte Patronymikon. 75 Die spätere günstige i?ec/itestellung der Frau (die faktische Position hat historisch sehr geschwankt und ist offenbar nach Klassen sehr ver7 1 Zur D a t i e r u n g vgl. o b e n , S. 4 1 2 mit A n m . 60. 7 2 Z u g r u n d e liegt (wie o b e n , S. 411, A n m . 57) C h a b a s , Œ u v r e s d i v e r s e s 2, S. 3 0 0 f . 7 3 Die 9. D y n a s t i e (im s p ä t e n 3. J a h r t a u s e n d v.Chr.) gehört der „1. Z w i s c h e n z e i t " n a c h d e m E n d e d e s A l t e n R e i c h e s an. 7 4 Vgl. d a z u oben, S . 4 1 3 . 7 5 W e b e r fußt o f f e n b a r auf einer f r a n z ö s i s c h e n Ü b e r s e t z u n g : ,fait par ...', w a s allerd i n g s im D e u t s c h e n e t w a als ,zur Welt g e b r a c h t v o n ...' w i e d e r g e g e b e n w e r d e n müßte. B e i Erman, Ä g y p t e n 1, S . 2 2 4 , e r s c h e i n t d i e g l e i c h e ä g y p t i s c h e F o r m u l i e r u n g als .erzeugt v o n der ...'.

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Ägypten

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schieden gewesen: „ich bin ein Weib" ist eine politische Unterwerfungsformel)76 - ist wohl Folge der konsequenten Weiterentwickelung jener Praktiken in Verbindung mit der Entmilitarisierung der ägyptischen Nation. Wo | privates Erbrecht überhaupt besteht, A 84 r 5 steht die Frau dem Mann gleich und ist, soweit die Quellen reichen, geschäftsfähig bis zur Ptolemäerzeit geblieben. Schon im 4. Jahrtausend setzt ihr der Mann Vermögen aus zur Verteilung an ihre Kinder nach ihrem Belieben und erhält (in der Inschrift des Mten) der Sohn Land durch „amitper" von der Mutter. 77 Die häufige Ge10 schwisterehe dient offenbar - „oben" wie „unten" - der Vermeidung der Vermögenszersplitterung (im Pharaonenhaus wohl auch der Erhaltung der Blutsreinheit). Die Namen der Grundbesitzkomplexe in den Gräbern der Familien des alten Reichs (Unterägypten), durch die Generationen hindurch verfolgt, ergeben 15 anschaulich, welches Maß von Bodenbesitzanhäufung durch geschickte Heiratspolitik mit genügender Inzucht erzielt werden konnte (Procjeedings of the Society of] Bibl [ical] Arch[aeology] XVII S. 244).78 Es findet sich da massenhafter (und offenbar verstreuter) Güterbesitz zusammengeballt, der hauptsäch20 lieh durch Vererbung (auch in weiblicher Linie) und durch Gutsübergabe an den Sohn die Hand wechselt, aber auch aus anderen nicht ersichtlichen Quellen - damals wohl wesentlich: Lehen oder Schenkung des Königs - sich vermehrt. 79 Bewirtschaftet wird er schon in ältester Zeit durch Kolonen, von denen Deputationen der 25 einzelnen Güter in den Gräbern des Gutsherrn abgebildet sind. 80 Die Wirtschaft scheint Fron/zo/'v-Wirtschaft (neben unfreier Kolonenpacht) zu sein. Im einzelnen scheint noch fast alles recht unsicher. Offensichtlich ist nur, daß die Domänen und Kolonen des Königs, seine 7 6 Ein B e l e g dafür konnte nicht n a c h g e w i e s e n werden. Herodot 2, 102, 5 berichtet zwar von einem Pharao Sesostris - so der N a m e dreier P h a r a o n e n der 12. Dynastie, ca. 20./19. Jahrhundert v. Chr. - , daß dieser auf S i e g e s i n s c h r i f t e n über kampflos s i c h unterwerfende F e i n d e d u r c h e n t s p r e c h e n d e S y m b o l e der Weiblichkeit deren Feigheit g e k e n n z e i c h n e t habe, d o c h entspricht dies nicht der Sicht der Frau in der ägyptis c h e n Überlieferung (vgl. z. B. W i e d e m a n n , Herodots zweites Buch, S. 407). 7 7 W e b e r stützt s i c h (auch chronologisch; vgl. oben, S . 4 1 2 mit A n m . 6 0 ) auf Moret/ Boulard, Donations et fondations, S. 71 - 7 3 . Zu amit-per vgl. oben, S. 413. 7 8 Zitiert wird Murray, D e s c e n t of Property, S. 244. 7 9 Murray, ebd., S. 241 f. 80 Ebd., S. 240.

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Schatz-, Korn-, Viehhäuser und Rüstkammern in sämtlichen Gauen das ökonomische Skelett des Staates ausmachen. Aber daneben steigert sich sichtbar der feudale Einschlag. b) Mittleres Reich. 1 Die königlichen Gauverwalter (Nomarchen) sind, mit Domänen und Naturaldeputaten aus den königlichen Magazinen, welche von 5 den Allodialeinkünften und -Grundbesitzungen des Beamten auch rechtlich klar geschieden waren, beliehen. Sie sind - nach der Periode partikularistischer Anarchie, welche der Wiedervereinigung des Landes von Theben aus (dem alten Hauptsitz der privaten Grundherrschaften) vorangeht - im „mittleren Reich" (12., 13. Dy- 10 nastie um die Wende des 3. und 2. Jahrtausends) 2 in ganz normaler Weise zu einem faktisch erblichen Feudaladel entwickelt. Ebenso haben die Tempel sich Land- und Menschenkomplexe zugeeignet. Große, bureaukratisch nach staatlichem Muster mit Schreibern usw. verwaltete Grundherrschaften, aus zahlreichen Dörfern mit 15 tributpflichtigen Bauern und militärisch disziplinierten und in unfreie Berufe - es finden sich Guts-Zimmerleute, -Tischler, -Töpfer, -Schmiede 3 - geschiedenen Arbeitern, daneben gewaltige, nach Tausenden von Köpfen zählende Herden bilden, 4 nebst Tantiemen und Deputaten aus den Tempel- und königlichen Gütern, die sie zu 20 verwalten haben, die Besitzungen des sozial allmächtigen Nomarchenadels. Aus den Gutsspeichern - grundherrlichen oder königlichen Magazinen - wird das Saatgut an die Bauern ausgegeben, an die Speicher die Ernte bezw. die Ernteanteile abgeliefert. Jedenfalls existiert schon damals das System der „uput", 5 der Aufnahme 25 A 85 l des perso\nalen Haushaltsbestandes zum Zwecke der Feststellung der Anzahl fronpflichtiger Köpfe („capitatio plebeja" in der Sprache der Kaiserzeit). 6 Es scheint, daß es sich im Prinzip über das 1 Das Mittlere Reich w u r d e von Erman, Ä g y p t e n 1, S . 6 3 , in die Zeit der e t w a 2 1 3 0 v.Chr. b e g i n n e n d e n 12. u n d der e t w a 1930 v.Chr. b e g i n n e n d e n 13. D y n a s t i e datiert. Vgl. a u c h d e n E d i t o r i s c h e n Bericht, o b e n , S . 3 1 5 f . 2 Vgl. die v o r h e r g e h e n d e A n m . 3 Z u g r u n d e liegt Erman, Ä g y p t e n 1, S. 140. 4 Erman, e b d . , e r w ä h n t 3 0 0 0 Rinder in 25 Jahren als A b g a b e eines N o m a r c h e n an d e n k ö n i g l i c h e n Hof. 5 G e m e i n t Ist äg. w p . w t (uput), „Inventar", „ Z ä h l u n g " . 6 W e b e r fußt o f f e n b a r auf Griffith, Petrle Papyri, S. 24; vgl. S. 2 0 - 2 2 . - Zur „ c a p i t a t i o p l e b e i a ' als K o p f s t e u e r vgl. „ R ö m i s c h e A g r a r g e s c h i c h t e " , M W G I/2, S. 279.

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ganze Land erstreckt hat. Ob eine ganz einheitliche Regelung der Fronden bestand, ist nicht sicher zu sagen. Das „ahuit",7 das Fronlos, ist in den einzelnen Dörfern nach Anweisung königlicher Meier von dem Pflichtigen zu bearbeiten. Die Schreiber sind dabei fronfrei. Am Hoflager und bei den großen Magazinen finden sich ummauerte Arbeitsstätten, die gelegentlich wohl auch Arbeiterkasernements sind. Die Fronpflichtigen sind in Abteilungen von 5 und 10 Leuten geteilt,8 und die Fronpflicht scheint schichtweise abgewechselt, eine normale Schicht 2 Monate, abzüglich der Feiertage, gedauert zu haben. Wenn andererseits öffentliches Land in Marsch- und Geestland geteilt und dem Arbeiter 10 Aruren (8V2 auf Geest- 9 und lV 2 Marschboden) zugeteilt wurden,9 so ist doch wohl anzunehmen, daß es sich um Kolonenlehen von Fronpflichtigen handelt. Die großen Grundherren haben im wesentlichen wohl ähnlich gewirtschaftet wie der Pharao. Eigene Wirtschaft auf dem besten Lande und Ausgabe des schlechteren Landes an leibeigene Bauern gegen Arbeit oder feste Abgaben werden wohl nebeneinander gestanden haben und sind anscheinend nicht immer klar zu scheiden; die Bauern sind offenbar einfach aus Staatsfrönern (teilweise) grundherrliche Fröner geworden; ob eine Scheidung in leibeigene und persönlich freie, aber schollenfeste, Bauern immer möglich und von praktischer Bedeutung ist, scheint nicht zu entscheiden. Immerhin scheint die vielleicht einzige, annähernd (aber durchaus nicht genau) durchführbare Scheidung zwischen den mindestens 24 Namen,10 welche (s.o.)11 ein persönliches Unterwerfungsverhältnis generell, ohne Berufsspezialisierung, ausdrücken, nur darnach vorgenommen werden zu können, ob die Klienten von einem Herrn persönlich abhängen, in seinem (reellen oder ideellen) Haushalt verwendet werden12 (schemsu, boku, sodmu, kerig A: Gest7 Äg. 'h.t (ahet), „Ackerland", „Fronlos". 8 Diese Zahlen nennt z. B. Revlllout, Précis 1, S. 5, 22 u. ö. 9 Zugrunde liegt Griffith, Petrie Papyri, S.52f. (zu Z. 2 von Papyrus Kahun 13.1). 10 Baillet, Noms de l'esclave 4, S. 12, unterscheidet 21 Bezeichnungen. 11 Siehe oben, S.407f. 12 Webers vielfache orthographische .Eindeutschungen' der französischen Transkriptionen Baillets (vgl. ders., Noms de l'esclave, S.24) sind zumindest im Fall von keridot (für kheridot), ketu (für khetou), nesitiu und satiu (für nezitiou und zatiou) problematisch. Vgl. das Folgende mit Anm. 13.

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im Altertum

dot, amu, ketu) oder aber glebae adscripti sind (nach Baillet: honu, meratiu, nesitiu, satiu, sidiu, samdotu, uhuitiu). 13 Einem Bauern wird gelegentlich gedroht, ihn, bei fortgesetzter Renitenz, in die unterste Schicht: die awaitiu (einfache ländliche Fronarbeiter) zu „versetzen". 14 Auch im Verhältnis zum Staat läßt sich das Verhältnis wohl so fassen: Jedermann, der Boden besitzt oder ein Gewerbe betreibt, schuldet davon seine Abgaben: der Bauer die Grundabgaben, der Handwerker Lizenz- und Betriebsabgaben in Form von Produkten seines Gewerbes. Wer seine Abgabe nicht leisten kann, der wird mit seiner Familie Schuldsklave des Pharao und frondet nunmehr nach den Anweisungen der Behörden. A b e r trotz dieser Scheidung bleibt es dabei: Es sind alle Abgabe Pflichtigen nicht minder unselbständig als die Arbeiter, werden kontrolliert und geprügelt wie dieseh und unterliegen der sozialen Mißachtung. Den Gefolgsleuten des Königs, die jetzt als 5era/ssoldaten auftreten, mögen vielleicht Gefolgsleute der Vasallen entsprochen haben. Für die Tempel steht anscheinend fest, daß ihr Land, und vor allem: die Gebühren und Kasualien eintragenden Einzelfunktionen, als A 85 r Pfründe, erblich an die einzelnen | Priester, das Land wohl auch freiwillig oder unfreiwillig - an andere Grundherren vergeben war, die dann ihrerseits die Herren der Tempelkolonen wurden. c) Neues Reich. 1 5 Keine Einführung von eigentlich prinzipiell neuen Institutionen, wohl aber eine einseitig gerichtete Fortentwickelung der alten finh A: diese, 13 Weber folgt Baillet, Noms de l'esclave 4, S. 24, unter teilweiser Eindeutschung von dessen Transkriptionen der ägyptischen Termini (vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S.316), Im einzelnen handelt es sich um folgende Ausdrücke: sms.w (schemsu), „Gefolgsleute", „Diener"; b;k.w (baku), „Diener", „Untergebene"; sdm.w (sedschmu), „Diener"; hrj-' (cherl-a), „Untergebene", „Gehilfen"; %'m.w (aamu), „Asiaten", „syrische Sklaven"; h.t (chet), „Körperschaft", „Gruppe"; hm.w (hemu), „Sklaven", „Diener"; mr.w (meru), „Hörige", „Untertanen"; nd.t (nedschet), „Untertanen"; d.t (dschet), „Hörige"; st.w (setschu), „Säleute", „Säer"; smd.t (semdet), „Untergebene"; "hw.tjw (ahutiu), „Feldarbeiter". 14 Weber fußt auf Baillet, Noms de l'esclave 2, S. 204, sowie 4, S. 25. Äg. jw'j.t (juait) bezeichnet nach dem heutigen Wissensstand eine Garnisonstruppe. 15 Erman, Ägypten 1, S.63, datierte das Neue Reich als Zelt der 18.-20. Dynastie in die Jahre etwa 1530-1050 v.Chr. Die 19. und 20. Dynastie (ca. 1320-1050 v.Chr.) gelten als „Ramessldenzeit". Vgl. auch den Editorischen Bericht, oben, S.315f.

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den wir, als nach der langen Dunkelheit der Beduinenherrschaft Ägypten wieder in den Vordergrund der Geschichte tritt. Es ist jetzt ein konsequent organisierter einheitlicher Fronstaat geworden, in dem neben dem Pharao fast nur die Tempel als Grundherren fortbestehen, und der sich, wahrscheinlich ganz allmählich, in den bureaukratischen Leiturgiestaat der Ptolemäerzeit umbildet. Das mit dem Kampf der 18. Dynastie 16 gegen die Fremdherrschaft der „Hirtenkönige" 17 um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. einsetzende „neue Reich" stand, solange es ein nationaler Staat war, d. h. bis zur Zeit nach den Ramessiden, zu dem „mittleren" in einem ähnlichen Verhältnis' wie das Rußland der moskowitischen Großfürsten nach der Befreiung von der Tatarenherrschaft zu dem vormongolischen ständisch gegliederten Staatswesen mit dem Mittelpunkt Kiew:18 die feudalen Gebilde, der Lehnsadel und alle oder doch die meisten seiner Grundherrschaften sind verschwunden. Der größere Teil des Bodens ist in der Hand des Königs. Ein anderer, stets aber doch nur eine Minderheit des Gesamtgebietes umfassender, Bruchteil hat sich durch Schenkungen in den Händen der Tempelpriesterschaften angesammelt. 19 Andrerseits tritt mit der großen militärischen Expansion massenhafter Kriegsgefangenenimport ein, von denen „des Königs' Magazine voll sind". 20 Auch jetzt belehnt der König verdiente Beamte mit Land von meist mäßigem Umfang - und mit einigen Sklaven. Ein Teil des königlichen Landes wird als fiskalische Domäne betrachtet und für den königlichen Haushalt bewirtschaftet. Auch das gesamte übrige (nicht den Tempeln appropriierte) Land soll, so wurde

i A: Verhältnis,

j A: Krieges (vgl. unten, Anm. 20).

16 Die 18. Dynastie wurde von Erman, ebd., in die Zeit ca. 1530-1320 v. Chr. datiert. 17 Die „Hirtenkönige" (nach einer irrtümlichen griechischen Übersetzung des Namens der Hyksos, eigentlich „Herrscher der Fremdländer") waren vorderasiatischer Herkunft und beherrschten Ägypten in der Zeit zwischen dem Mittleren und dem Neuen Reich (so Erman, ebd., S. 69f.) vom Delta aus. 18 Die Befreiung Rußlands von den Tataren vollzog sich in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts; das Kiewer Reich hatte in der Zeit vom späten 9. bis zum 13. Jahrhundert existiert. 19 Dies behandelte Erman, Zur Erklärung des Papyrus Harris, S. 4 6 7 - 4 7 4 . 20 Das Zitat beruht auf Spiegelberg, Bauinschrift Amenophis' III., S.44, Z. 6f.: „Sein Magazin ist voll von Sklaven und Sklavinnen von den Kindern der Fürsten aller Länder, welche seine Majestät erbeutet hat".

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früher im Anschluß an den Genesisbericht und an die griechische Tradition geglaubt, 21 als vom König an die Bauern gegen Ertragsanteil überlassen gelten. Heute ist bekannt, daß die ägyptische Grundsteuer nicht nach dem Quotensystem, sondern als Fixum erhoben wurde: 22 nur Kolonen zahlen Teilpachten. 23 - Spätestens unter den Ramessiden trat dann die berühmte Zuteilung von Land an das, vermutlich nach dem Vorbild der asiatischen königlichen Dienstlehen, in Form einer am Boden haftenden Leiturgie organisierte Heer ein. 24 Die Grundbesitzungen der Tempel und der Krieger sind solche zu dauerndem eigenen, nur an die Funktion gebundenen, dafür von den allgemeinen gebundenen Lasten der sonstigen Bevölkerung befreiten, Recht. Die Herrscher des alten Reichs nahmen sich heraus, in 7empe/bezirken Lehen an verdiente Beamte anzuweisen, ein Vorgang, der nunmehr wohl sicherlich zunehmend unmöglich wurde (mir ist das Material darüber allerdings nicht genauer bekannt), jedenfalls haben später (s.u.) 25 Säkularisationsversuche offenbar zu schweren Konflikten geführt k . Die verliehenen Landparzellen der (idxiiioi sind von mäßigem Umfang - etwa 3V 3 ha zu A 86 l Herodots Zeit -, 2 6 die leichte Bewaffnung stellte an die | Equipierung keine Anforderungen, die Mitglieder dieser „Kriegerkaste" beteiligten sich ebenso wie die hellenistische Lehensarmee der Kleruchen am bürgerlichen Erwerb, durften ihr Land verpachten und waren in sehr verschiedener Lage. - Nebeneinander stehen jetzt: 1. königliche Garden und geworbene Söldner, 2. sodann die angesiedelten „ma" (iia^iucn),27 3. eventuell ad hoc einberufene und bewaffnete Kolonen des Pharao, die angesiedelten Krieger

k A: geführt) 21 A u c h v o n W e b e r s e l b s t in der 2. F a s s u n g der „ A g r a r v e r h ä l t n i s s e " (oben, S. 154). 22 So W l l c k e n , G r i e c h i s c h e Ostraka, S. 198 (der n e b e n d e m „ G e n e s i s b e r i c h t " ( e b d . ) Orosius 1, 8, 5 nennt; d a z u e b d . , S. 2 0 5 - 2 0 7 ) . 2 3 W i l c k e n , e b d . , S. 1 8 5 - 1 8 8 . 2 4 Vgl. d a s F o l g e n d e , S . 4 2 0 f . 2 5 Siehe unten, S . 4 2 9 f . 2 6 Z u g r u n d e liegt H e r o d o t 2, 168, d a z u 141 (12 Aruren). 2 7 Bei d e n ,ma' (äg. m, ma) handelt es s i c h um a n g e s i e d e l t e , vor allem l i b y s c h e S ö l d n e r t r u p p e n , d i e In der g r i e c h i s c h e n Ü b e r l i e f e r u n g als M a c h i m o i ( „ W e h r h a f t e " , „Krieger") erscheinen.

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nach Jahrgängen in seniores und juniores geschieden, 28 sodann 4. Tempelmilizen, gebildet aus den Tempelkolonen, endlich 5. die Gaumiliz (der Landsturm). Das Heer ist also wesentlich ein Hörigenheer. Den königlichen Matrosen war, da sie Fremde waren, ein Mal eingebrannt, wie (vielleicht, s.o.) 29 den assyrischen angesiedelten Soldaten. - Die ganze Verwaltung, die königliche sowohl wie die der Tempel, wird bureaukratisch durch, meist leibeigene, Schreiber geführt, nicht mehr durch den früheren erblichen Nomarchenadel. Die Priesterschaft steigt an Zahl, Bedeutung und Geschlossenheit. Im alten Reich war sie als ein selbständiger Beruf nur in Ansätzen vorhanden; im mittleren Reich ist sie schon vorwiegend erblich rekrutiert; im neuen Reich ist sie in Phylen gegliedert, der Stand als Kleriker (nicht: das konkrete Amt) geht auf die Söhne, wenn sie tauglich sind, über. 30 Wenn auch die Phylen anscheinend niemals geschlossen waren, sondern sich auch durch Aufnahme von außen rekrutierten (auch Connubium mit anderen Schichten bestand: also fehlt jedes Merkmal der „Kaste"1), so hat sich das Priestertum doch nunmehr zu einem eigenen, die Erziehung des Nachwuchses der Beamtenschaft leitenden, mit ihr oft verwandtschaftlich und durch Funktionskumulation eng verbundenen Stand von immensem Einfluß entwickelt, der jeden Versuch der Pharaonen, sich von seiner Macht zu emanzipieren, zu vereiteln weiß, weil das Gegengewicht selbständiger weltlicher Feudalgeschlechter jetzt so gut wie ganz fehlt. Großartige, Massen von Menschen"1 und entsprechendes Land und Vieh (die Zahlen gehen in die Hunderttausende) umfassende Tempelbesitzungen finden sich unter Ramses^ III. Regierung, daneben Abgaben (von Webereiprodukten etc.).31 Das „weiße Haus" 32 des Tempels ist dessen Zentralverwaltungsstelle, er hat seine Kontrolleure für die Beaufsichtigung der Feldarbeit seiner Kolonen. Der „erste Prophet" eiI A u s f ü h r u n g s z e i c h e n fehlt in A.

m A: M e n s c h e n ,

2 8 W e b e r dürfte s i c h auf B r u g s c h , Ä g y p t o l o g i e , S . 2 3 3 b e z i e h e n ( „ J u n g e Truppe" und „Veteranen-Corps"). 2 9 S i e h e oben, S . 3 8 1 . 3 0 S o Erman, Ä g y p t e n 2, S . 3 8 2 ; 394f.; ders., Z e h n Verträge, S. 162f. 3 1 D i e s wird b e h a n d e l t von Erman, Zur Erklärung d e s P a p y r u s Harris, b e s . S . 4 6 7 474. 3 2 Ä g y p t i s c h e B e z e i c h n u n g für S c h a t z h a u s bzw. V e r w a l t u n g s z e n t r u m . W e b e r fußt auf Brugsch, Ägyptologie, S . 2 6 8 u.ö.

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nes großen Tempels rühmt sich seiner „Fürsorge für die Nachkommenschaft der Leibeigenen". 33 Schon im Altertum galt der Reichtum namentlich des Ammonstempels in Theben als unerhört in der ganzen Welt, sicher mit Recht, wennschon, wie Erman nachgewiesen hat, der Umfang speziell des Landbesitzes von den Hellenen s überschätzt worden ist.34 Oft ging 3/4—4/5 der Kriegsbeute an die Götter. Das Tempelland ist (zweifellos nur ebenso wie das königliche und wie alles übrige Land) vermessen: nach Marsch- oder Geestland, Pflug-, Garten- und Hackland gesondert. Sie 35 haben nach dem König die meisten Handwerker - als schollenfeste Hin- 10 tersassen - in ihrem Besitz und treiben Außenhandel auf eigenen Schiffen. (Die inschriftlich erwähnten nur zeitweise im Dienst des Tempels befindlichen Leute sind wohl Volontärs, keine gemieteten A 86 r Arbeitskräfte. Allerdings scheinen in Naturalien | entgoltene" freie Lohnarbeiter, auch im Dienste des Pharaos, vorzukommen, - 15 wennschon von den beiden Gurob Papyri, die Griffith kommentiert, 36 der Sinn zweifelhaft, bei dem einen die Übersetzung sicher falsch ist; ein Ochse neben anderen Objekten als Entgelt für zusammen 21° Tage Hausmädchendienst ist doch unmöglich). 37 - Ob schon im alten Ägypten die im Ptolemäerreich üblichen großen 20 jährlichen Synoden der zum eigentlichen Klerus gehörigen Oberpriesterschaft bestanden, ist urkundlich anscheinend nicht nachweislich.38 Vielleicht ist ihre Entwickelung (wie die des jüdischen Sanhedrin) 39 einerseits Produkt der Fremdherrschaft, die sich auf Theokratie zu stützen suchte, andererseits gegebenenfalls auch 25 Organ der Reaktion gegen jene. In pharaonischer Zeit ist formal n A: entgolten

o A: 24

3 3 Weber zitiert nach Brugsch, ebd., S. 276 („Ein guter Vater für meine Leibeigenen/ Pflegte ich ihre Nachkommenschaft"; Zeit Ramses' II.). 3 4 Weber bezieht sich auf Erman, Zur Erklärung des Papyrus Harris, S.472, wonach der Amuntempel in der Zeit Ramses' III. rund ein Zehntel des ägyptischen Ackerlandes besessen habe (jedoch ohne Verweis auf die Griechen, bei denen etwa llias 9, 381 - 3 8 4 sowie Pausanias 1 , 9 , 3 allgemein über den Reichtum des ägyptischen Theben zu nennen wären). Vgl. noch Otto, Priester und Tempel 1, S. 259. 3 5 D.h. die Tempel. 3 6 Weber bezieht sich auf die beiden Papyri Gurob 2 . 1 - 2 bei Griffith, Petrie Papyri, S. 93f. 3 7 Griffith, ebd., S.93 zu Papyrus Gurob 2.1, spricht nicht von 24, sondern von 17 (oder 7) und 4 Tagen Dienst zweier Hausmädchen. 3 8 Weber dürfte sich auf Otto, Priester und Tempel 1, S. 72f. und 75, stützen. 3 9 Dazu vgl. unten, S. 591 mit Anm. 10.

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der Pharao Lehensherr der Priester, und auch später hat er (so in ptolemäischer Zeit) das Exequatur 40 zu geben. Der königliche Oikos mit seinen zahlreichen Beamten deckt seinen (d. h. den Hofhalts- und Staats-)Bedarf im Prinzip naturalwirtschaftlich. Jede der Domänen-, Tempel-, Magazin- und Bauverwaltungen hat ihren Stab von militärisch organisierten Fronarbeitern, denen die Rationen aus den königlichen Vorräten zugewiesen, oder auch, wie die Arbeitseinstellungen wegen Hunger und nicht gelieferter Ration zeigen, unterschlagen werden. Die von Spiegelberg edierten Rechnungen der Magazine des Hofes in Memphis registrieren die Ausgabe des Mehls an die Bäcker, - offenbar in unfreie Heimarbeit, denn sie stellen dann die entsprechenden Ablieferungen der Bäcker (erheblich über 100 000 Kommißbrote in 3 Monaten, von einer Sorte pro Tag 480 Stück) unter Berücksichtigung des Backverlustes fest.41 Ebenso wird gebucht die Ausgabe von Schiffsbauholz,42 von Leder (an die Söldnerführer),43 von Kleidern an Negersklaven,44 von Negersklaven an die „Großen" zur Bedienung.45 Der Pharao läßt in eignen Scheunen dreschen, was er aus den Naturalzehnten gewinnt oder von den in Robott bestellten Feldern erntet; die Arbeiter werden mit Brot aus den Magazinen genährt: hier also Eigenbetrieb. Im Fall von Mißernten erhalten aber ebenso wie die Arbeiter auch die Bauern - wie heute in Rußland und wie in Mesopotamien - aus den Magazinen Korn geliefert, ebenso Saatgut. Und ob die bei Bauten verwendeten Arbeiter des Pharao als Sklaven galten, oder ob sie oder ein Teil von ihnen kraft allgemeiner staatlicher Fronpflicht herangezogen wurden, wäre kaum immer feststellbar. Weiber und Kinder haben die „Arbeiter", eine ziemlich breite Bevölkerungsschicht, wie andere, sind auch der Schrift nicht selten kundig. Sie dürften sich wohl von den Bauern nur durch das Fehlen dauernd zugewiesenen abgabepflichtigen Landes oder durch geringeren Umfang desselben unter-

40 41 47. 42 43 44 45

Gemeint: „Zustimmung". Zur Sache Otto, ebd., S.233. Weber bezieht sich auf Spiegelberg, Rechnungen aus der Zeit Setis I., S. 1 0 - 1 3 , Die Lieferung der weit mehr als 100000 Brote dauerte 4 Monate. Spiegelberg, ebd., S. 2 0 - 2 2 u.ö. Ebd., S. 25. Ebd., S. 12, 66. Ebd., S. 23, 67.

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schieden haben. Sicherlich sind die königlichen „Werkstätten" in erster Linie Lagerhäuser, an welche im Hausfleiß oder in „unfreier Heimarbeit" hergestellte Produkte der den Bauern auferlegten gewerblichen (durch die früher erwähnte 46 Eigenart der ägyptischen Landwirtschaft erleichterten) Nebenarbeit abgeliefert wurden. Wie 5 es dagegen in der Zeit der nationalen Dynastieen mit der RechtslaA 87 1 ge der Handwerker und | Bauern aussah, ist begreiflicherweise durchaus nicht sicher festzustellen. Die späteren Zustände unter den letzten Dynastieen vor der Perserzeit können hier nichts entscheiden, da inzwischen die assyrische Herrschaft über das Land 10 hingegangen war und schon vorher die Kämpfe zwischen dem Ketzer AmenophisIV. und der Ammonspriesterschaft schwere Erschütterungen der Tradition gebracht haben mögen. - Der Bedarf der königlichen Haushaltung (im weiteren Sinne des Wortes) wird durch Robot und durch Abgaben der Gesamtbevölkerung be- 15 schafft. Wenn wir gelegentlich von angeblichen Neuordnungen des Landbesitzes hören, so handelt es sich zweifellos um Neuordnung des Lastenwesens. Wiederholt ordnet der König an, daß ein Beamter für eine Fronleistung die Arbeitsteilung „je nach dem Handwerk eines jeden" vornehmen solle 47 oder daß er die „Ordnung" 20 der ganzen Bevölkerung eines Distriktes und ihre „Einteilung in die Volksklassen" zu übernehmen habe, 48 d. h. aber: die Fortschreibung des Lastenkatasters. Für große Bauten und Steinbruchsarbeiten werden wie in alter Zeit mächtige Robotexpeditionen gebildet: 9268 Köpfe einmal unter Ramses IV., davon 5000 Krieger, 2000 25 Kolonen des Pharao. 49 Dabei wird „altes" und „junges Volk" geschieden: - wie beim militärischen, so auch beim Robotaufgebot. 50 Und ebenso wie das Heer mit Fremden durchsetzt wird, so auch die Kolonenschaft: der König läßt - schon Amenhotep - ganz ebenso wie die Assyrerkönige, Gefangene „unter seine Untertanen 30

4 6 Siehe oben, S.406. 4 7 Weber bezieht sich auf Brugsch, Ägyptologie, S.224 („einen Jeden je nach dem Handwerk zu verwenden"). 4 8 Weber zitiert nach Brugsch, ebd., S.298 („Ich brachte Ordnung in die Volksklassen"). 4 9 Vgl. ebd., S.227, 230. 5 0 In der Inschrift Ramses' IV. findet sich eine derartige Gliederung nicht, Weber könnte die allgemeine Angabe von Brugsch, Ägyptologie, S. 233 (vgl. oben, S. 420 mit Anm. 2), Irrtümlich damit In Verbindung gebracht haben.

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einreihen". 51 Die Einreihung unter die Teilnehmer an den Goldgräberexpeditionen nach dem oberen Nil, mit ihrem kolossalen Menschenverschleiß, galt als Strafe. 52 Die Durchführung der Katastrierung hatte es ermöglicht, an Stelle der Inanspruchnahme der Dor/gemeinden die direkte der Einzeli&milien für die mit dem Bodenbesitz verknüpften Abgaben und Leiturgieen durchzuführen: die Stellung des „hir's", wenn er wirklich, wie Revillout will,53 ein Familien „ältester" (ältester Sohn, Bruder usw. und nicht etwa ein Grundherr) sein sollte, im Erbrecht der damaligen Zeit - er hat bei Teilungen maßgebend mitzuwirken - würde sich dann neben der Einwirkung der Ämtererblichkeit (s[iehe] oben) 54 auch aus den mitspielenden fiskalischen Interessen erklären lassen (doch ist dies noch sehr dunkel). Wie es mit der Veräußerlichkeit des Bodens (außerhalb der Familie) im Beginn des neuen Reichs, nach Verschwinden der alten Grundherrn, stand, scheint zweifelhaft. Zwar kommen in einer (vor dem neuen Reich entstandenen) oft zitierten „Bauernerzählung" Bauern vor, die ihre Häuser verkaufen wollen. 55 Aber bäuerlicher Ackerbesitz und der Betrieb eines gelernten Handwerks gelten jedenfalls grundsätzlich auch hier als Korrelat der Leiturgie bezw. der Abgaben. Die „Erblichkeit" des Landes war dementsprechend, dem Pharao gegenüber, eine bedingte. Das entspricht der Stellung, in welcher sich die gesamte, nicht entweder als Priester, Krieger, Lehensträger, Beamte, Schreiber privilegierte oder, als landlose Leibeigene, direkt im Dienst des Pharao oder der privilegierten Klassen verwendete Bevölkerung befand. Man hat lange an „Kasten" in Ägypten ge-

51 Weber zitiert nach Brugsch, ebd., S.240 („ich füllte die Unterthanen mit den Besten der Kriegsgefangenen aus"; Verfasser ist der hohe Beamte Amenhotep (Amenophis) unter dem gleichnamigen Pharao Amenophis III.). Vgl. auch oben, S.383. 52 Ein Beleg dafür bei Moret, Procès de famille, S. 20. 53 Äg. hrj (heri), .Oberster'. Revillout hat seine Auffassung u. a. in: Revillout, Précis 1, S. 267; ders., Question du divorce, S. 90f.; ders., Note annexe, dargelegt. 54 Siehe oben, S.414. 55 Gemeint ist die bis auf das späte 3. Jahrtausend v. Chr. zurückgehende Erzählung vom .beredten Bauern', der durch kunstvolle Reden bei einem königlichen Beamten einen Urteilsspruch gegen einen von dessen Untergebenen erwirkt, der ihn beraubt hatte. - Weber zitiert etwas ungenau die Übersetzung der Stelle bei Spiegelberg, Rechnungen aus der Zeit Setis I., S.61: „um sein Haus zu verkaufen", die tatsächlich jedoch anders (etwa „wegen der Leere seines Hauses") wiederzugeben wäre.

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A 87 r glaubt (dank | namentlich Herodot). 56 Die „Erblichkeit" der Berufe ist aber nur die erwähnte faktische Vererbung der Leiturgieen und Abgabepflichten der, im russischen Sinne des Wortes, 57 „bäuerlichen" Bevölkerung, soweit jene Pflichten an den Boden oder das Gewerbe geknüpft sind. Sie bedeutet, soweit nicht religiöse „Unreinheit" mit einem Beruf verknüpft ist, keine Kastenbildung, weder im Sinn des Ausschlusses des Connubium, noch im Sinn der zünftigen Abgeschlossenheit der Berufe. Auch die Krieger „käste" besteht dergestalt aus Bauern, welchen die Leiturgie aufliegt, für das Aufgebot bereit zu stehen, und die zweifellos, wie die Kasaken, 58 regelmäßig üben müssen. Und durchweg scheint der Berufszutritt im Prinzip frei geblieben zu sein. Was dagegen von Erwerbsrechten in Ägypten erblich geworden ist, ist durchweg nicht etwa ein zünftiges „Recht auf Arbeit", sondern sind bestimmte Arten von Rentenbezügen: Landrenten, Pfründenrenten, Casualien- und Gebührenrenten. Die Erblichkeit der politischen Ämter ist im neuen Reich dem rein bureaukratischen „Avancement" gegenüber gänzlich zurückgetreten, ebenso gehen unter den Ramessiden (s. 0.) 59 die Priesterschaften zur Schreiberverwaltung über. Trotzdem betrachtete innerhalb dieser bureaukratischen Mechanismen der Einzelne seinen „Posten", z.B. den eines „Großen" einer der oben erwähnten 60 Arbeitergruppen (Archetyp des riyeixcov TOTJ èpyaGxripio"u)61[,] natürlich als „Versorgung", wie heute jeder Beamte: die Statthalter rühmen sich zuweilen u. a. auch: „Niemandem seine Arbeitergruppe genommen zu haben". 62 Aber rechtlich galt natür56 Weber nimmt B e z u g auf Herodot 2, 164. Einen Ü b e r b l i c k über die z e i t g e n ö s s i s c h e Diskussion vermitteln in der von Weber h e r a n g e z o g e n e n Literatur I n s b e s o n d e r e Otto, Priester u n d Tempel 1, S. 2 0 0 f . , sowie Revlllout, Précis 2, S. 8 9 0 - 9 3 1 . 57 G e m e i n t sind die Bauern als eine sozial und w i r t s c h a f t l i c h unter s t a r k e m Druck s t e h e n d e B e v ö l k e r u n g s s c h i c h t . Vgl. d a z u unten, S . 5 1 9 . 58 R u s s i s c h e S c h r e i b w e i s e für Kosaken, d . h . (bis ins frühe 20. J a h r h u n d e r t ) freie k r i e g e r i s c h e (Grenz-)Siedler mit b e s o n d e r e r innerer V e r f a s s u n g , die g e g e n b e s t i m m t e Privilegien ( u . a . Freiheit von K o p f s t e u e r ) z u m Militärdienst v e r p f l i c h t e t waren. Eine e i n g e h e n d e S c h i l d e r u n g der L a g e der Kosaken bietet Weber, Rußlands Ü b e r g a n g z u m S c h e i n k o n s t i t u t l o n a l l s m u s , M W G 1/10, S. 3 0 9 - 3 1 1 . 59 Siehe o b e n , S . 4 2 1 . 60 Siehe o b e n , S . 4 1 7 . 61 Vgl. d a z u o b e n , S. 330 mit Anm. 42. 62 So in der Inschrift des A m e n e m h e t (Kurzform: A m e n i ) in der Zelt Sesostris' I. (ca. 1 9 9 1 - 1 9 6 2 v.Chr.; 12. Dynastie), w i e d e r g e g e b e n z. B. bei Breasted, A n c i e n t R e c o r d s 1, S. 252, Nr. 523.

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lieh im Prinzip freie Absetzbarkeit. Dagegen blieben andere, z. B. manche mit dem preligiös wichtigen p Begräbnisdienst verknüpfte Funktionen (so der ,,Leichenbegießer"beruf), 63 weil an die Verfügung über die Begräbnisplätze gebunden, wirklich voll appropriiert 5 und wurden von jeher auch rechtlich als Erbobjekte und Gegenstand von Dispositionen inter heredes behandelt, deren jede jedoch des Konsenses des an den Leistungen der betreffenden Stelle interessierten Grundherrn (Staat oder, meist, Tempel) bedarf. Bei dem gewaltigen Umfang des königlichen und des Tempelbesitzes io betreffen die Urkunden nun regelmäßig Besitz von Leuten, die auf dem Land des Pharao oder auf Tempelland (neter q hotep) 64 als Belehnte oder Kolonen sitzen. Daher erfolgen in ihnen die Dispositionen, speziell Erbdispositionen, aber auch Vergebungen von Land an Einzelne, z. B. an Priester, mit Konsens eines dieser beiden 15 großen Grundherrn, ganz im Gegensatz zu den Landübereignungskontrakten der ältesten (thinitischen) Epoche (dagegen in Übereinstimmung mit der Lehensmuthung 65 der politischen Beamten, speziell der Nomarchen, im alten Reich). Ob dagegen auch andere Bodenübereignungsakte besonderer Konzession bedurften, ist po20 sitiv nicht sicher erweislich, aber allerdings - namentlich für die Zeit der Theokratie (Ende der Ramessidenzeit) und für Veräußerung außerhalb der Familie - möglich. Auch über den Vieh- (und wohl auch den etwaigen Sklaven-)Besitz der Kolonen scheint nur mit Konsens des Grundherrn haben verfügt werden dürfen. Die 25 Kolonen selbst sind natürlich scholienpflichtig, werden aber, wie es | scheint, von den Staatsgerichten abgeurteilt. Daß das Recht am A 88 i Lande in Wahrheit überwiegend Pflicht (zu den mit Landbesitz verknüpften Leistungen) war, erklärt am ungezwungensten auch die viel später noch wahrnehmbaren Reste der Familienverfassung: p A: religiöswichtigen

q A: (nefer

6 3 Es handelt sich offenbar um Webers eigene Wiedergabe der griechischen Bezeichnung der bei Reviliout vielfach erscheinenden Priesterschaft der Choachyten, wohl im Anschluß an die Darstellung bei Otto, Priester und Tempel 1, S. 9 8 - 1 0 5 (dort S.99 „Totenspendendarbringer (Gießer)" genannt). 6 4 Ältere (insbesondere bei Reviliout, Précis 1 - 2 , vielfach wiederkehrende) Lesung von äg. htp-ntr (hetep-netscher), „Gottesgeschenk", „Tempelgut", „Tempelland". 6 5 Ältere Schreibung des lehensrechtlichen Ausdrucks .Mutung', d. h. des Ersuchens um Lehenserneuerung (hier nach dem Tod eines Beamten). Zugrunde liegt offenbar Erman, Ägypten 1, S. 122. - Zur Thinitenzeit vgl. oben, S. 403, Anm. 8.

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die schon erwähnte 66 (angebliche) Stellung des (oder der) Ältesten als Repräsentant der Familie dem Staat (oder Tempel oder Grundherrn) gegenüber. Ebenso die damit zusammenhängende Auffassung des Besitzes als Familienbesitz, 67 die gelegentliche, aber (nach den Haushaltslisten) nicht vorherrschende Kommunionwirtschaft und die damit zusammenhängenden Erbeinspruchs- und Retraktrechte, welche man dann teils - bei den privilegierten Ständen, die das Recht haben^j den Gott zu repräsentieren und deshalb zu fluchen: - durch Fluchformeln, teils: durch Einholung der göttlichen Bestätigung bei Erbteilungen in ihrer Wirkung aufzuheben trachtete, teils endlich durch Zuziehung der Kinder bei den Kontrakten berücksichtigte. 68 Ebenso wohl auch die, offenbar auf der Anlehnung an jene Familiengemeinschaften beruhende, Erscheinung, daß als Bodenpächter (auch bei Kleinpachtungen) so oft Genossenschaften (ein Repräsentant und seine Gesellschafter) auftreten. Endlich vielleicht auch die Vermeidung der Erwähnung der Preishöhe bei Grundstücksübertragung noch in spätester Zeit: Revillout kann recht wohl insoweit recht haben, 69 daß auch darin die prinzipielle Ansicht sich auswirkt, daß das Recht am Boden, weil an der Pflicht klebend, kein Tauschgut sei, sondern nur im Wege des intrafamilialen Ausgleichs den jeweiligen Nutznießer wechseln könne. Es scheint aber, daß auch sakrale Gründe der Anerkennung der Sonderstellung des Geldes als Tauschmittel entgegengestanden haben: die Zeit des alten Reiches hatte das Geld nicht gekannt, und die Stereotypisierung der religiös zulässigen Kontraktschemata mag, indem sie nur Tausch von Land gegen Land oder einfache Übertragung („Schenkung") zuließ, daran angeknüpft haben. Festen Boden erhalten wir erst unter die Füße in der Zeit des Amasis, also als der nationale Charakter des mittleren Reichs schon durch Fremdherrschaft alteriert war. Nach der Ramessidenzeit bewegte sich die Entwickelung, wie es scheint, in Gegensätzen, die durch die jeweilige Herrschaft von abwechselnd asiatischen und äthiopischen Einflüssen bedingt waren. Der fremdländische Einfluß beruht auf der mit der Schaffung des 66 67 68 69

Siehe oben, S.425. Weber dürfte auf Revillout, Précis 1, S. 137f., fußen. Beispiele dafür finden sich bei Revillout, ebd., bes. S. 147f., 308, 313. Ebd., S. 231 f., 2 3 5 - 2 3 7 (25 /26. Dynastie).

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ständigen Soldheeres endgültig besiegelten Beseitigung der nationalen, ohnehin von jeher unentwickelten Wehrhaftigkeit, und auf der steigenden Bedeutung der überwiegend stammfremden Berufskriegerschaft, welche die Herrschaft des Pharao stützte. Der Import der asiatischen Kriegstechnik - des Pferdes und Kriegswagens - in der Hyksoszeit und dann die Eroberungskriege hatten zur Entstehung des Berufskriegertums geführt. Die abwechselnde Fremdherrschaft führte dann dazu, daß je länger je mehr, wenigstens der Sache nach, stamm/remde Söldner und die oft ebenfalls stammfremden Leibeigenen des Königs sich mit der Priesterschaft in die Beherrschung des seit der assyrischen Eroberung 70 nie wieder dauernd zur Freiheit gelangten | Landes teilten. Usurpation der A 88 r Herrschaft durch den Ammonspriester, dann assyrische und äthiopische Dynastien, dazwischen die Usurpation des Bokchoris, dann griechische Einflüsse unter Amasis, weiterhin, nach der persischen Eroberung, Kämpfe äthiopischer, persischer und von den Griechen gestützter einheimischer Dynastieen, die oft zu langdauernder Trennung von Ober- und Unterägypten führten, haben stabile politische Zustände erst in der Zeit der Lagiden wieder aufkommen lassen. Derjenige Typus, den das Land unter ihrem Regime darstellt, ist in bezug auf das Maß der Verkehrsfreiheit sicher erst allmählich erreicht worden. Die griechische Tradition schreibt namentlich dem Bokchoris grundlegende Neuerungen nach Art der hellenischen „Aisymneten" zu: die Zulassung des Reinigungseides, die Beseitigung der Schuldsklaverei,71 und vor allem: die freie Veräußerlichkeit des Bodens. 72 Mag die Art, wie Revillout 73 dies zu verifizieren sucht, teilweise reichlich phantastisch sein, so scheint doch sicher, daß das Umsichgreifen der Verkehrswirtschaft zunächst das Werk asiatischer Einflüsse und weiterhin der antitheokratischen unterägyptischen Tyrannis war, denen die Theokratie des Ammonspriestertums, gestützt auf die den Thron usurpieren-

7 0 Unterägypten wurde erstmals um 671 v.Chr. d u r c h d e n a s s y r i s c h e n Herrscher A s s a r h a d d o n erobert. 7 1 W e b e r bezieht s i c h auf Diodor 1, 79 (der bereits die g r i e c h i s c h e n G e s e t z g e b e r z u m Vergleich heranzieht), offenbar n a c h Moret, De B o c c h o r i rege, S. 7 4 - 7 8 (letztes Viertel d e s 8. J a h r h u n d e r t s v. Chr.). 7 2 W e b e r nimmt B e z u g auf Diodor 1, 94, 5 (vgl. 1, 79, 1), n a c h Moret, ebd., S. 75f. 7 3 Vgl. Revillout, P r e c i s 1, S. 2 0 5 - 2 1 8 ; ders., B o c c h o r i s et son c o d e , S. 1 3 0 - 1 3 2 .

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den Äthiopier und die teilweise nach Äthiopien emigrierte Kriegerkaste[,j widerstrebte. Mit der Zeit des Bokchoris ungefähr beginnen die demotischen Kontrakte überhaupt und die Bodenüberweisungskontrakte im speziellen. 74 Es scheint also in der Tat eine Veränderung des Verkehrs-, speziell des Bodenrechtes, wohl auch eine Säkularisierung, stattgefunden zu haben, - wozu ja r die Verbrennung des Bokchoris als Sakrilegen durch die siegreichen Parteigänger des Ammonspriesters 75 (der das göttliche Boden-Obereigentum repräsentiert) stimmt. Wie dem sei, die privaten Verkehrserscheinungen steigern sich nun durchweg. Das bis zu den Ramessiden sich stetig steigernde Überragen der Oikenwirtschaft des Pharao schränkte im altnationalen Ägypten den Raum der auf ver/ce/zrswirtschaftlicher Arbeitsteilung beruhenden ökonomischen Erscheinungen naturgemäß stark ein. Nicht daß sie je gefehlt hätten, - sie haben relativ im ältesten Reich sogar vielleicht für die Bedarfsdeckung mehr bedeutet als in den Zeiten der vollen Theokratie und Bureaukratie. Aber der Handel nach außen, sowohl nach dem „Gottesland" und „Punt" - Arabien und der Somaliküste 76 - wie nach Syrien^] lag rechtlich und mindestens dem Schwerpunkt nach auch faktisch in der Hand des Pharao selbst, später aber namentlich der Tempel, welche im Besitze eigener Flotten waren. Er hat lange die Form des Geschenkaustausches zwischen den Staatshäuptern bewahrt, wie die Korrespondenz mit dem König von Babylon in den Funden von Tell-el-Amarna anschaulich macht. 77 Einheimische Kaufleute kennen die ägyptischen

r A: ja, 7 4 Die Kritik an Revillout (mit Einzelbelegen) wegen dessen Fixierung auf Bokchoris findet sich bei Moret, De Bocchori rege, S. 7 5 - 7 8 . 75 Vgl. ebd., S. 17f. 7 6 Weber folgt (etwas summarisch) Erman, Ägypten 2, S. 667f., wonach zum Gottesland u.a. das nördliche und mittlere Arabien, zu Punt dagegen u.a. die Somaliküste gehörten. 7 7 In Teil el-Amarna, d.h. der Residenz des Pharao Echnaton in Mittelägypten, war 1887 das umfangreiche Archiv der .internationalen' Korrespondenz Amenophis' III. und seines Sohns Echnaton (ca. 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts v. Chr.) entdeckt worden. Weber stützt sich auf Winckler, Tontafeln von Tell-el-Amarna, S. VII—X, wo in dem einleitenden Überblick über den Briefwechsel zwischen Ägypten und Babylonien zahlreiche Geschenke erwähnt werden.

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Quellen der ältesten Zeiten anscheinend nicht. Alsdann tauchen sie als Tempelhörige auf (ihre Bezeichnung ist von „entleeren" seil.: des Schiffes - abgeleitet). 78 Im neuen Reich sind sie meist Ausländer (Semiten). Immerhin muß, während Kupfer und Gold im Lande selbst gewonnen wurden, nicht nur das anfangs sehr seltene und daher bis zur Einbeziehung Ägyptens in den internationalen | Verkehr (neues Reich) höher als Gold bewertete Silber, A 89 i sondern auch Zinn und Eisen - letzteres tritt vor dem ,,N[euen] Rfeich]" hinter Bronze ganz zurück - von Anfang an importiert worden sein. 79 Die Zeit des neuen Reiches weist Import von Schiffen, Wagen, Waffen, Gefäßen, Weihrauch, Vieh, Fischen usw. aus Syrien und Babylon auf, 80 welchen als Exportartikel namentlich Gold, aber bald auch Linnen, gegenübergestanden haben werden. Unter den Ramessiden scheinen private Reedereibetriebe vorzukommen. 81 - Ebenso hat sich, neben den anfänglich der Zahl und der Bedeutung der Leistung nach stark vorwiegenden Arbeitern des Pharaoj,] wohl auch die Zahl der (schwerlich je ganz verschwundenen) „freien" Handwerker wieder zunehmend ausgebreitet. Im alten Reich werden Kundenhandwerker literarisch erwähnt, und zwar neben „Lohnwerkern" im Sinne der Bücherschen Terminologie anscheinend auch „Preiswerker". 82 Inwieweit die Träger des so hochentwickelten altägyptischen ÄTunsfhandwerkes leibeigene Arbeiter des Königs und der Tempel und inwieweit sie in „unfreier Hausindustrie" arbeitende Kolonen oder „freie" Handwerker mit Leiturgiepflichten waren, wird sich nicht leicht ausmachen lassen. Die einzelnen Handwerker eines Bezirks hatten, wie die Dörfer ihren dem Fiskus verantwortlichen Schulzen, so ihrerseits ihren (wie es scheint, gewählten) Obermeister. Er war offenbar ursprünglich für die Gestellung zu den Robotten des Pharao bzw. Nomarchen verantwortlich. Später ist die Lage der Handwerker offenbar eine unter sich keineswegs gleiche. Die „Lohnwerker" zog man nach Bedarf zur Robot heran und lieferte ihnen das

7 8 Weber folgt Spiegelberg, Rechnungen aus der Zeit Setis I., S. 61. 7 9 Dies wird behandelt bei Erman, Ägypten 2, S. 610f. 8 0 Das Güterverzeichnis folgt Erman, ebd., S. 681 f., bezieht sich jedoch ausschließlich auf Syrien; zu den fehlenden Beziehungen zu Babylonien ebd., S. 680. 81 Vgl, Spiegelberg, Rechnungen aus der Zeit Setis I., S. 24. 8 2 Vgl. dazu oben, S. 13.

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Rohmaterial (s.o.). 83 Aber daneben scheinen Handwerker vorzukommen, welche ihre Rohstoffe sich selbst beschafften® und dafür Abgaben in Form von Produkten ihres Handwerks leisteten, die in den mannigfachsten Varietäten sich aufgezählt finden. Soweit das Rohmaterial Importgut oder das Produkt Exportgut war, ist immerhin direkte Leitung der Produktion durch Pharao, Adel, Tempel das an sich Wahrscheinliche. Jedenfalls ist und bleibt die Behandlung der Handwerker in den Monumenten eine verächtliche. 84 Die Weberei, namentlich die Leinweberei, eines der hervorragendsten Gewerbe, gilt anscheinend als typisch unfreier Beruf 8 5 und ist wohl direkt in die Hände der Sklaven im Oikos zuerst des Pharao und des Nomarchenadels, dann namentlich der Tempel, gelangt: - es handelte sich eben, da die Masse der Bevölkerung, ursprünglich auch der König, nur den Lederschurz 86 als Kleidung trug, um ein teils dem Luxusbedarf des Hofes und der Beamtenschaft, teils dem wahrscheinlich monopolisierten Export dienendes Produkt. Die Entwickelung und Differenzierung der Bedürfnisse, insbesondere der Kleidungsbedürfnisse, ist ganz offenbar Folge der im „neuen Reich" immer enger werdenden Beziehungen zu Vorderasien, speziell Babylon. Der private Binnen-Tauschverkehr ist dem Schwerpunkte nach Nahrungsmittel- und Krammarktverkehr: Fische, Gemüse, Sandalen, einfache Schmucksachen sind bildlich beglaubigte regelmäßige Marktartikel. 87 Der Verkehr ist Ataura/-Tausch verkehr. Erst im A 89 r neuen Reiche fungieren gebogene Kupferdrähte bestimmten | Gewichts (uten, deben) als Wertmesser,88 in dem die gegeneinander s A: beschafften, 83 Ein Beispiel offenbar oben, S. 423. 84 Dargestellt bei Erman, Ägypten 2, S. 592f. 85 Ebd., S.594f. 86 Es handelt sich anscheinend um eine Verwechslung Webers mit dem von Erman, Ägypten 1, S.293, In diesem Zusammenhang genannten Leinenschurz. Vgl. bereits oben, S. 156 mit Anm. 39. 87 Weber stützt sich auf Erman, Ägypten 2, S.654 (mit den Abbildungen aus einem Grab in Sakkarah, ebd., S.655f.). 88 Weber hat auch hier, in der letzten Fassung der „Agrarverhältnisse", keine Änderung an diesem auf Erman, Ägypten 2, S. 657, beruhenden Passus vorgenommen, obwohl bereits 1893 Spiegelberg, Lesung des Gewichtes, ,uten' in ,deben' berichtigt hatte, womit auch die Annahme gebogener Kupferdrähte als Form des Wertmessers entfiel. Das Gewicht eines ,deben' betrug 91 g. Vgl. oben, S. 156 mit Anm. 41.

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ausgetauschten Waren abgeschätzt und gelegentlich der etwa überschießende Wertbetrag der einen Ware über die dagegen eingetauschte abgeleistet wird. 89 Die Marken in den Händen von Arbeitern des alten Reiches sind natürlich „tesserae", Anweisungen auf herrschaftliche Speicher. Im Außenhandel fungierten Edelmetallringe, 90 wie dies in Babylon auch vorkommt. 91 Das „deben" ist also in erster Linie Wertmaß 1 und fungiert regelmäßig als ideelles (nicht effektives) Tauschmittel (ähnlich wie ursprünglich der Silber-Shekel in Babylon). 92 Im übrigen scheint die Stellung des Gewichtsuten zu der Werteinheit „uten" noch keineswegs geklärt (cf. z.B. Bibliothèque] égyptfologique] X S. 164).93 Dem Naturaltausch von Waren korrespondierte seit alter Zeit (als primitiver Vorfahr der Fondsbörse) der Naturalrentenverkehr: sowohl zu Stiftungszwecken werden Grundstücke an Tempel, z.B. gegen jährliche Lieferung von Dochten für Toten-Gedenkfeiern usw. gegeben, 94 als sich die Umwechslung der Naturaldeputate von Beamten und anderen Berechtigten in andere Naturairenten findet: eine bestimmte Anzahl Tagesrationen, die aus einem Magazin zu empfangen sind - V360 des Jahresdeputats - wird z.B. gegen jährliche Lieferung von bestimmten Brot- und Bierquanten u.dgl. vertauscht. 95 Wir lernten ganz Ähnliches in Babylon kennen. 96 Die Zeit nach dem Untergang der nationalen Dynastieen brachte nun offensichtlich, während zu gleicher Zeit die gesamte geistige und künstlerische Kultur theokratisch und traditionalistisch gebunden und stereotypisiert wurde, das stets weitere Vordringen der „Geldwirtschaft". Obwohl noch für die Hebräer der nachexilischen Zeit Ägypten das große „Diensthaus" ist,1 müssen doch allmählich t A: Wertmaß, 8 9 V g l . d a z u Erman, Ä g y p t e n 2, S . 6 5 6 f . 9 0 G e m e i n t s i n d in erster Linie G o l d r i n g e . 9 1 Vgl. o b e n , S . 3 9 5 . 92 E b d . 9 3 W e b e r zitiert C h a b a s , Œ u v r e s d i v e r s e s 2, S. 164. 9 4 W e b e r b e z i e h t s i c h auf Erman, Z e h n Verträge, S. 182. 95 E b d . , S. 171 f. 9 6 Siehe oben, S . 4 0 0 f . 1 „ D i e n s t h a u s " (so d i e L u t h e r b i b e l n a c h d e m g r i e c h i s c h e n Text d e s A l t e n Testaments; im H e b r ä i s c h e n : „ S k l a v e n h a u s " ) b e g e g n e t für Ä g y p t e n als L a n d der Z w a n g s a r b e i t (2. M o s e 1 , 1 1 - 1 4 ) h ä u f i g in d e n v o r e x i l i s c h e n Texten (2. M o s e 13,3 u.ö.), w ä h r e n d s p ä ter z w a r die B e f r e i u n g d e s V o l k e s a u s Ä g y p t e n erwähnt wird (so 1. C h r o n i k 17,21; 2. C h r o n i k 5,10; 6,5), o h n e daß j e d o c h der A u s d r u c k „ D i e n s t h a u s " V e r w e n d u n g f ä n d e .

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die Robotten zugunsten der Steuern mindestens faktisch immer mehr zurückgetreten sein, - womit wahrscheinlich alles weitere zusammenhängt. Die Zahl der reinen Sklaven in den Händen der Tempel und der Beamten und ihre Verwendung zur Feldarbeit scheint zuzunehmen. Ebenso scheinen die privaten Gutswirtschaften mit Benutzung der Arbeit mit Land beliehener Kolonen zur Bestellung je eines bestimmten Teils des Gutsackers, häufiger zu werden: also die in der Kaiserzeit vorkommende Kombination mit dem System der „partes agrariae" 2 (s[iehe] darüber den Art[ikel] „Kolonat"). 3 Aus der revolutionär bewegten Zeit des Bokchoris (s[iehe] oben) 4 scheint zuerst wieder ein rein privater, - d.h. der Bestätigung durch göttliches Orakel oder durch den König entbehrender - Landübereignungskontrakt vorzuliegen: es handelt sich jedoch um ein /mrafamiliares Rechtsgeschäft. Unter Psammetich scheint dann durch die Priesterschaft die Übereignung von (ehemaligem?) Tempelland auch außerhalb der Familie gegen eine Handänderungsgebühr von V10 generell zugelassen gewesen zu sein. Diese Inhaber von Tempelland haben sich also wohl in eine Art von Erbpächtern verwandelt. Die zeitweise wieder auftauchende spezielle Zustimmung des Gottes zur Übereignung schwindet seit Amasis, der ebenfalls als „Gesetzgeber" galt, definitiv. Die alte Besitzerhierarchie des Tempellandes: Gott - Tempelvasall oder Lehnpriester - Kolon hatte sich also in die andere: Gott - ErbpächA 90 i ter - Kolon | verwandelt. Unter Amasis findet sich der erste schriftliche Pachtkontrakt: 5 er ist ein A/terpachtkontrakt; es treten dann auch - wenn die Urkunden richtig gelesen sind - private Dritteilspachten 6 und angeblich auch antichretische Pachten auf.7 Der Kolon tritt als einseitig verpflichtet (Prekarist) auf. Übereignung von Immobilien gegen Geld findet sich nun ebenfalls. 8 Jedoch wird 2 D e n A u s d r u c k .partes a g r a r i a e ' in einer n o r d a f r i k a n i s c h e n Inschrift hatte W e b e r als A r b e i t s l e i s t u n g e n v o n K o l o n e n für e i n e n k a i s e r l i c h e n G u t s b e t r i e b g e d e u t e t ( M W G I/2, S . 3 2 2 f . ) , d o c h p f l e g t m a n d a r i n eher d i e A b g a b e q u o t e für d a s v o n d e n K o l o n e n g e p a c h t e t e L a n d zu s e h e n . 3 Vgl. d a z u d e n E d i t o r i s c h e n B e r i c h t , o b e n , S . 3 1 2 f . 4 Siehe o b e n , S . 4 2 9 f . 5 G e m e i n t ist ein V e r t r a g a u s d e m J a h r e 5 3 4 v . C h r . ; vgl. W a s z y n s k i , B o d e n p a c h t , S. 6, 5 9 u n d 94. 6 D a z u z . B . Revillout, P r é c i s 1, S . 3 8 2 . 7 Vgl. Revillout, e b d . , S . 3 7 8 - 3 8 2 . 8 Vgl. Revillout, z . B . e b d . , S . 3 8 6 f .

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nicht in die Urkunde über die Abtretung des Grundstückes die Preishöhe aufgenommen, über diese vielmehr eine besondere Urkunde aufgesetzt. .Barkauf herrscht. Was speziell die Pacht anlangt, so fällt - immer die Richtigkeit der Lesungen (Revillout!) vorausgesetzt - die Häufigkeit der Kollektivpacht (2-15 Personen) 9 in die Augen. In manchen Fällen scheint diese nicht ein Pacht-„Artjel" zu einer „Bedarfspacht" im russischen Sinne, sondern Pacht spekulativen Charakters, also Großpacht, gewesen zu sein. Aber dann wurde das Land natürlich in Parzellen weiter verpachtet, und die Masse der Pächter sind immer Kleinpächter geblieben. Da keine Fruchtwechselperiode berücksichtigt werden mußte, war der Kontrakt, wenn nicht immer, so jedenfalls häufig Jahreskontrakt. Der Pächter zahlte alle Abgaben und ließ das Saatgut zurück. Der Ernteanteil, den die Tempelpächter zu zahlen hatten, scheint oft ein Dritteil betragen zu haben. 10 Diese Verhältnisse sind jedoch offenbar mit Sicherheit vorläufig - bei der unzulänglichen Zahl zuverlässig gelesener Urkunden für diesen Zeitraum nicht feststellbar, ebenso nicht die Bedeutung und Verteilung des privaten Grundbesitzes neben den de facto längst appropriierten Lehen und Schenkungen in den Händen der Großen. Die Dritteilung des ganzen Landes unter König, Priester, Krieger, wie sie die griechischen Schriftsteller behaupten, 11 ist günstigenfalls eine Übertreibung der Zustände (Ed[uard] Meyer scheint sie für real zu halten). 12 Daß fast die Hälfte des Landes den Kriegern (|id%i|aoi) gehört habe, wie nach Herodots Angaben 13 rechnerisch angenommen werden müßte, ist ganz unglaubwürdig; der Besitz der Tempel hatte selbst unter Ramses III. nicht mehr als V§, höchstens V5, des Landes betragen 14 und war starkem Wechsel, gelegentlich auch Säkularisationen (Amasis), unterworfen und in späterer Zeit erweislich nicht mehr so bedeutend wie unter den

9 Beispiele bei Revillout, Notice des papyrus démotiques, S. 358f., Nr. 54 (2 Personen); S. 342f., Nr. 49 (15 Personen); ebenso ders., Précis 1, S. 4 0 3 - 4 0 6 ; dass. 2, 1264 f. 10 Vgl. etwa Revillout, Précis 1, S.382. 11 Gemeint ist Diodor 1, 73, 2 - 7 . 12 Weber bezieht sich auf Meyer, Geschichte des Altertums 1, S.565Í. 13 Gemeint ist Herodot 2, 1 6 4 - 1 6 8 . 14 So Erman, Zur Erklärung des Papyrus Harris, S.472 (mit dem von Weber selbst aus dem dortigen Zahlenangaben errechneten V 6 ).

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Ramessiden. Die bedeutende Ausdehnung des an die „Großen" verlehnten Landes ist auch für die Spätzeit nicht zu bezweifeln. Der König bleibt aber der größte Grundherr. Die faktische Lage der Bauern, welche die Masse der Bevölkerung bildeten, war - soweit sie nicht „Krieger" 15 oder sonst privilegiert waren - schwer- s lieh besser als die Lage der Fellachen in späteren Zeiten. Den antiken Schriftstellern ist der ägyptische Bauer stets ein Proletarier, der dem bureaukratischen Staat als einer ihm fremden Macht, ganz ebenso wie der russische Bauer seiner Bureaukratie, gegenübersteht, gegen geringe Pacht Land zur notdürftigen Lebensfri- 10 stung übernimmt und auf die erhaltenen Peitschenhiebe wegen Steuerdefraudation stolz ist.16 Das raffinierte, allumfassende Robott- und Steuersystem, welches den Griechen als „Kastenordnung" erschien, 17 kann ihm in der Tat nicht wohl eine andere BeA 90 r ziehung zum | Staatsmechanismus ermöglicht haben, gleichviel ob 15 er als „Pächter" oder als „Eigentümer" galt. Denn wie eine ägyptische „Steuererhebung" sich gestaltete, wissen wir:18 die Beamten landen unverhofft, es beginnt, unter Jammern der Weiber, eine allgemeine Flucht und Jagd; die erhaschten Steuerpflichtigen werden durch Bastonnade und andere Torturmittel zu einer „professio" 20 genötigt, welche den Beamten (die ja für ihr katastermäßiges Abgabenquantum einstehen müssen) genügt. So tritt der „Staat" dem Orientalen (ähnlich dem russischen Bauern) 19 gegenüber. Der tiefe Antipolitismus der orientalischen Völker, dem gegenüber das paulinische Christentum schon eine starke Akkommodation be- 25 deutet, 20 hat hier seine Wurzel. 15 Vgl. oben, S.435. 16 Dies wird illustriert durch die Darstellung bei Erman, Ägypten 2, S.590f. Zum Vergleich mit den russischen Bauern vgl. oben, S. 426. 17 Die Belege für diese griechische Auffassung verzeichnet Wiedemann, Herodots zweites Buch, S.573f. 18 Eine ähnliche Beschreibung findet sich bei Erman, Ägypten 1, S. 179. 19 Vgl. unten, S.519, Anm.69. 20 Von der „Anpassung" des Christentums an die Institutionen des römischen Staates unter Berufung auf Äußerungen des Paulus zur Sklaverei sprach Hartmann, Ludo Moritz, Zur Geschichte der antiken Sklaverei, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 11. Band, Jg. 1894, (Teii-)Band 1, S. 11 f. Daß die „paulinische Weltkirche" den römischen Staat als Rechts- und Ordnungsmacht geschätzt habe, hat Ernst Troeltsch in seinen unten, S.597, zitierten, im Laufe des Jahres 1908 in dem von Weber mitherausgegebenen „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" erschienenen „Soziallehren" (hier S. 303) betont.

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Ob der ptolemäische Doppelsprachgebrauch: „eigenes" (i8icound „selbsterworbenes" ( I S i Ö K t r i x o i ; ) Land 21 auf eine Beschränkung der - während der ganzen Zeit bis zu den Ptolemäern fortbestehenden - Retraktrechte auf Erbgut zurückgeht, 0 ist wohl nicht auszumachen. Jedenfalls setzen schon die Erlasse der ersten Ptolemäer, privates Kaufland voraus, 22 und es ist nicht der geringste Grund, zu glauben, daß dies etwas Neues gewesen sei. Für das Vorkommen des - bei der alten Teilbarkeit der königlichen Schenkungen schon an sich nicht auszuschließenden - Ä7e/neigentums in spätpharaonischer Zeit sprechen die Erbinventarien, welche so oft „Gärten" als Erbbestandteile aufzählen. - Die Familiengebundenheit des Bodens und der Fortbestand der Polygamie machte es natürlich höchst wichtig für die Ehefrau, ihre eigene Stellung und die ihrer Kinder kontraktlich zu fixieren, zumal da auf sexuellem Gebiet, nach Ausweis der Urkunden, in dieser Spätzeit volle Vertragsfreiheit und Scheidungsfreiheit bestand. 23 Gütergemeinschaftskontrakte, Wittumskontrakte, Festsetzung bestimmter Renten, insbesondere, wie später im Islam, festen Wirtschaftsgeldes für die Frau finden sich neben der besonders wirksamen kontraktlichen Übertragung des ganzen Vermögens des Mannes auf die Kinder, speziell auf den ältesten Sohn, 24 der Frau, die etwa wie das englische entailSystem 25 wirken mußte. Das Bestehen des „Probejahres" in der Ehe in Ägypten ist Fabel. 26 Der „agraphos gamos" der Ptolemäerzeit 27 ist offenbar ursprünglich ein Geschlechtsverhältnis ohne „Ehekontrakt"d.h. ohne Erwerb der Manus über die Frau durch den Mann durch Zahlung des Preises, bei der aber der Mann - wie tikti)

u A:zurückgehen, 21 Vgl. auch unten, S.568. 2 2 Waszyhski, Bodenpacht, S.55, verweist - mit genauem Beleg - auf die Revenue Laws Ptolemaios' II. 2 3 Hier und im folgenden fußt Weber auf Revillout; vgl. z.B. ders., Precis 2, bes. S. 1034f., 1061 f., 1069f. (mit jeweils zahlreichen Einzelbeispielen). 2 4 Zu ihm vgl. oben, S.414, 425 und 428. 2 5 Gemeint Ist die durch einen Fideikommiß festgelegte Erbfolge. 2 6 Die Hypothese eines förmlichen Probejahres als Bestandteil des ägyptischen Eherechts war ursprünglich von Revillout aufgestellt und u.a. auch von Erman, Ägypten 1, S.221, für möglich gehalten worden, wurde jedoch durch später bekannt gewordene Dokumente nicht bestätigt. 2 7 Wörtlich „schriftlose Ehe", aus der ägyptischen Rechtstradition stammende Eheform von rechtlich geringerer Qualität, die aber In den überlieferten Fällen durchaus auch von schriftlichen Abreden begleitet zu sein pflegte.

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bei der römischen „freien Ehe" 2 8 - die Gewalt über die Kinder erhält. - Im übrigen finden sich fast alle wichtigen Kontrakte des babylonischen Rechts, z. B. auch der Selbstverkauf in die Adoption. - Sklaven finden sich neben Vieh, Häusern, Gärten in den Erbschaften, sie sind, außer beim König, Priestern und Beamten auch im späten Ägypten nie zahlreich gewesen. Ein deutliches Gesamtbild der spätpharaonischen Agrarverfassung haben wir vorerst trotz aller Einzelheiten nicht. Ägypten hat zwei Institutionen zuerst und in nachher nicht wieder erreichter Vollkommenheit verwirklicht^] 1. das Leiturgieprinzip: Bindung des Besitzes an die staatliche Funktion, des Besitzers an Funktion und Besitz, - und 2. die bureaukratische Verwaltung. Beide Prinzipien haben, in der Spätzeit der Antike, von hier aus die A 91 l Welt erobert, und mit ihnen, | als ihr unverlierbarer Schatten, der „Apolitismus" der beherrschten Völker, der durchaus nicht nur in der Vernichtung der Nationalitäten seine Wurzel hat. Ferner aber scheint es möglich, daß wichtige betriebstechnische Institutionen der antiken Arbeitsorganisation, nämlich: 1. die Wirtschaft mit disziplinierten und kasernierten, unfreien Arbeitern (epyaaxfipiov), 2. die unfreie Heimarbeit, 3. der Kolonen-Fronhof und ihre verschiedenen Kombinationen miteinander von Ägypten aus ihren Ausgang genommen haben, während andererseits die privaten Unternehmungs- und Kapitalverwertungsformen wesentlich in Babylon ihre Heimat zu haben scheinen. 3

3. Israel. 31 b

Einigermaßen sichere Auskunft über die vorexilischen Verhältnisse Israels 2 geben nur die Wortlaute derjenigen „Gesetzgebungen", welche unzweifelhaft in ältere Zeit hinaufreichen und der angeba ( S . 4 0 2 ) - a Petitdruck in A. a In der I n h a l t s a n g a b e ( o b e n , S. 320) lautet d i e Überschrift: Altisrael, b - b (S. 455) Petitdruck in A. 28 G e m e i n t ist die zumal in der Kaiserzeit ü b l i c h e „ m a n u s f r e i e " Ehe, bei der die Ehefrau nicht in die R e c h t s g e w a l t ihres E h e m a n n s ( m a n u s mariti) ü b e r g i n g , s o n d e r n unter der v ä t e r l i c h e n Gewalt verblieb, w ä h r e n d die Kinder unter die patria p o t e s t a s des Ehemannes kamen. 1 Für eine e i n g e h e n d e Analyse des Israelabschnitts vgl. Otto, Eckart, in: MWG 1/21, S. 4 - 2 2 . 2 G e m e i n t ist die Zeit vor d e m Ende des Königreichs J u d a 587 v. Chr.

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liehen Göttlichkeit ihrer Herkunft wegen ein relativ hohes Maß von Garantie für Treue der Überlieferung bieten. 3 Ein kurzer Blick auf die von ihnen illustrierten Zustände rechtfertigt sich dadurch, daß nur hier aus dem eigenen Munde eines Volkes Kunde 5 aus einer Zeit vor der Sfadisässigkeit der politischen und priesterlichen Gewalten geboten zu werden scheint. Freilich: die Annahme, man habe es im ältesten „Gesetz" (Exodus 19ff.)4 mit irgendwie „ursprünglichen" Zuständen zu tun, mit dem Recht eines primitiven Bauernvolkes, noch frei von allem städtischen und geld10 wirtschaftlichen Einschlag, ist ganz unhaltbar, wie unter den neueren Darstellungen namentlich Afdalbert] Merx, bei aller Betonung der großen Kulturunterschiede zwischen der Periode dieses „Gesetzes" und der des Deuteronomiums, anerkennt. 5 Trotz der - wie überall - großen Bedeutung des Viehes, als der wichtigsten Quelle 15 der Differenzierung des Reichtums, scheint eines sicher: ein eigentliches Nomadenvolk oder ein „Beduinenstamm" sind die historischen Israeliten, auch ihre herrschenden Schichten, niemals gewesen2^: das Kamel nicht nur, sondern auch das Pferd fehlen, der Ochse ist, wie im ältesten Rom, vor allem Arbeitstier.6 Leder ist 20 (wie in Ägypten) das älteste Kleidungsmaterial. 7 Getreide als Hauptnahrung, daneben Gemüse und Wein finden sich von An21 Vom spezifischen Beduinenrecht findet sich m. W. nichts in den Quellen. Die religio- A 91 I se Weihe des Sinai beweist an sich nur, daß der alte H ö h e n k u l t Jahwe's zeitweise dazu veranlaßt hatte, seinen Sitz auf diesen höchsten Berg zu verlegen, j

3 Weber stützt sich hier und im folgenden weithin auf Merx, Die Bücher Moses und Josua. Die Schrift seines Heidelberger Kollegen war am 15. Oktober 1907, kurz vor Beginn der Arbeit an der Neufassung der „Agrarverhältnisse", erschienen (Merx, ebd., S. 2). 4 Die hier gemeinte Gesetzgebung vom Sinai (2. Mose 19-24) war von Merx in ihrer „Substanz", nach heutigem Kenntnisstand zu früh, in die Zeit „vor 1000 v. Chr." datiert worden (Merx, ebd., S.38, vgl. auch S.36). 5 Weber bezieht sich auf Merx, ebd., S. 35, 4 4 - 4 8 (Kulturunterschiede). Ebd., S. 74, wird das Deuteronomium (wiederum nach jetziger Kenntnis zu früh) in die 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. datiert. - Das Vorhandensein von Geldwirtschaft im älteren Gesetz wird von Merx allerdings ausdrücklich bestritten, ebd., S. 28, 35f., 48. 6 Zugrunde liegt hier und im folgenden meist Nowack, Hebräische Archäologie 1 (hier S. 224f., 235). In Rom lag der Bezeichnung des agrarischen Hauptflächenmaßes iugerum (.Morgen') die Tagesleistung eines Ochsengespannes (iugum) zugrunde. 7 Zu Schurz und Mantel aus Tierfellen, denen im Laufe der Zeit das Weben der Kleider aus Wolle oder Flachs folgte, vgl. Nowack, Hebräische Archäologie 1, S. 120f. Zum Gerben der Felle ebd., S.242; zu Ägypten oben, S.432.

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fang an, ebenso wohl auch Öl; tägliche Fleischmahlzeiten kennt natürlich nur der König, andere Leute schlachten nur an den Festtagen (und dann in Form des Opfers); 8 aber z.B. von einer besonderen Bedeutung des Käses (wie in Althellas) finden wir nichts. Unter dem Yiehbesitz, der hier, wie überall, Kennzeichen des rei- 5 chen Mannes und namentlich in den Händen der Könige groß ist, spielen die Schafe aus Gründen der Landeseigenart mit dem Vordringen der Wollkleidung eine große Rolle. Die Bodenbebauung (Hakenpflug, Düngung wie es scheint wenig entwickelt) 9 und Brotbereitung (Handmühle, Backtopf) blieben ziemlich primitiv.10 10 - Jedenfalls dürfen, nach dem Gesagten, die Hebräer trotz der gröA 91 r ßeren Rücksicht, welche das | alte Gesetz gegenüber dem Deute ronomium auf die Verhältnisse des Viehbesitzes nimmt, schwerlich als ein in jener Zeit auch nur vornehmlich viehzüchtendes Volk angesehen werden. (Genesis 47,3 pointiert den Gegensatz gegen die 15 Ägypter).11 Aber allerdings sind die Hebräer der vorköniglichen Zeit ein aus dem „jenseitigen", 12 d.h. ostjordanischen Lande über den Fluß und dann weiter über das Bergland vorgedrungenes, und nun weiter nach der Küste zu abwechselnd vordrängendes und seinerseits bedrängtes „Bergvolk", welches „Milch und Honig", 13 die 20 Produkte der Bergabhänge, schätzt. Es ist ihnen, als ein „Aisymnet" (im hellenischen Sinn):14 „Moses", ihnen das „Gesetz" gibt, erst teilweise gelungen, die größeren kanaanäischen Städte in den Flußtälern zu erobern. Ihre Macht liegt dem Schwerpunkt nach in den vom Stamme Joseph okkupierten Bergtälern, von wo aus sie - 25 wie Aitoler und Samniten 15 - in die Ebenen vorbrechen und sie allmählich in ihre Gewalt bringen, dabei abwechselnd in die Bot8 Nowack, Hebräische Archäologie 1, S. 115 (tägliche Fleischmahlzeiten Salomos bzw. seines Hofes: 1. Könige 5 , 2 - 3 ) . 9 Nowack, ebd., S.229f. 10 Ebd., S. 110f. 11 Dort (1. Mose 4 7 , 2 - 4 ) bezeichnen fünf Brüder Josephs auf dessen Geheiß sich selbst und ihre Vorväter dem Pharao gegenüber als Hirten von Kleinvieh. 12 Anspielung auf die (auch von Meyer, Geschichte des Altertums 1, S. 349, vertretene) Erklärung des Namens der Hebräer als die „Jenseitigen". 13 Sie gelten (seit 2. Mose 3,8) als besondere Merkmale des Landes Kanaan. 14 Gemeint ist hier der Aisymnet als bevollmächtigter Schlichter und Gesetzgeber in inneren Krisen der archaischen griechischen Poleis. Der Begriff war bereits von Wellhausen für Moses verwendet worden (z. B. Wellhausen, Prolegomena 6, S. 341 f.). Vgl. auch unten, S. 474. 15 Dazu oben, S.371.

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mäßigkeit der philistäischen oder anderer Stadtkönige gelangend und sie abschüttelnd, überdies von den von Osten her sie bedrängenden Wüstenstämmen bedrückt und ihnen oft tributpflichtig. Ganz abgesehen aber von der Frage der Realität ihres Aufenthaltes in Äypten, als Fronbauern eines der pharaonischen „Diensthäuser" (Exod[us] C20,2C: eine recht gute Kenntnis der ägyptischen Verhältnisse - selbst der Titel Josephs ist historisch 16 - seitens der Verfasser dieser Partieen steht völlig fest, beweist aber bei der Nähe des Landes natürlich an sich nichts), - ist der Einfluß der lange vor ihrem Auftreten bestehenden syrischen Siadikultur unverkennbar. Das „Gesetz" setzt nicht nur ein ansässiges, ackerbautreibendes Volk voraus, sondern es fehlt auch jede Spur von Kollektivbesitz. Auch der Grund und Boden ist voll appropriiert, wenn schon, wenigstens normalerweise, nur intrafamiliares Verkehrsobjekt. Das Bestehen der Blutrache, die in Athen nach einer nicht sicheren, aber wenigstens auch nicht unmöglichen, Annahme erst Drakon beseitigt haben soll, ist gewiß kein Beweis für „primitive" Zustände. 17 Ebenso nicht die Festsetzung der Bußen in Vieh, die in Griechenland und Rom tief in die historische Zeit hineinragt 18 und weniger der absoluten Seltenheit, als dem Schwanken des jeweiligen Vorrats von Edelmetallen entspricht: die Pflicht, unbedingt auf Verlangen in Geld zahlen zu müssen, ist, wie bei den Sumerern und in Babylon unter Hammurabi, so in Athen unter Solon und zu jeder Zeit überhaupt, das, was dem Bauern gefährlich und verhaßt ist. Das „Gesetz" zeigt in charakteristischer Weise jenes Streben nach einer Verbindung von Festigung der guten alten patriarchalen Sitte mit den Interessen von bäuerlichen Schuldnern, welches auch allen „Gesetzgebern" des Occidents, 19 heißen c A: 20,1 16 2. Mose 20,2 spricht von Ägypten allgemein als dem „Haus der Knechtschaft" (vgl. oben, S.433, Anm. 1). Mit dem Titel Josephs ist bei Weber die Bezeichnung „Herrscher über das Land Ägypten, Wesir" (1. Mose 45,8) gemeint. 17 Merx, Die Bücher Moses und Josua, S.25, sah im Gesetz (Bundesbuch) nur noch „Nachwirkungen" der Blutrache. - Eine ausführliche Behandlung Drakons unter dem genannten Gesichtspunkt findet sich bei Meyer, Geschichte des Altertums 2, S . 5 7 4 579. 18 Für Griechenland vgl. die Belege bei Meyer, Geschichte des Altertums 2, S.549; für Rom oben, S. 262 mit Anm. 8. 19 Zu diesen „Gesetzgebern" (Meyer, Geschichte des Altertums 2, S.570f.) vgl. unten, bes. S . 4 8 9 - 4 9 4 . Zum Geldzahlungszwang vgl. oben, S. 378f. und 395; unten, S. 490.

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sie Zaleukos, Charondas, Pittakos oder Solon, gemeinsam ist. Der Dekalog 20 verordnet (an nicht rein religiösen Pflichten) die Elternpietät, Achtung vor fremder Ehe, Verwerflichkeit des Totschlags und Diebstahls, Sicherung des Rechtsgangs und der bona fides im Alltagsverkehr (das Nicht-„Machinieren", - wie Merx es 5 ausdrückt, - gegen den Besitz anderer), 21 endlich - das Originellste und Folgenschwerste: - Innehaltung der Sabbathruhe und ihre A 921 Gewährung | an Arbeiter, Sklaven, Vieh. An rein „sozialpolitische" Quellen dieser letzteren, weitaus am lautesten von der schon damals gewaltigen Macht religiöser Rücksichten zeugenden, Vor- 10 schrift zu denken, wäre natürlich unangängig, obwohl das Gebot unzweifelhaft auch - aber eben nicht: nur - den Schuldsklaven zugute kam. Aber die Einzelausführungen dieser, epigrammatisch im Dekalog vorausgeschickten, Gedanken im „Gesetz" zeigen, daß der Schutz der Gemeinfreien gegen die Folgen der Besitz- und 15 Machtdifferenzierung jedenfalls ein sehr stark hervortretendes Leitmotiv der Gesetzgebung ist. Dahin gehören vor allem 22 1. die zeitliche Begrenzung der Schuldsklaverei des Israeliten^,]23 2. sein Schutz gegen gewalttätige Versklavung, 24 3. eine gewisse Sicherung der Ehe von Freien mit Sklaven (d. h. wesentlich: Schuldskla- 20 ven, wie der Text ergibt) [,]25 4. ebenso: der zur Frau gekauften Israelitin gegen Gleichbehandlung mit gewöhnlichen Kaufsklavinnen, 26 5. Schutz der (Schuld-)Sklaven gegen schwere, vor allem tödliche, Körperverletzung durch den Herrn, 27 6. der Schutz gegen Schaden durch Vieh: 28 - da der Viehbesitz Hauptbestandteil des 25 aristokratischen Besitzes ist, liegt hier das antike Pendant unserer

2 0 Die .Zehn Gebote' finden sich 2. Mose 20,1-17. 21 Merx, Die Bücher Moses und Josua, S.23, spricht vom „Verbot intrigierender Machinationen" gegen Sippe und Eigentum der Volksangehörigen. 2 2 Die folgenden zahlreichen Bezugnahmen Webers auf einzelne Stellen des „Gesetzes" bzw. Bundesbuchs (2. Mose 2 1 - 2 3 ) werden in den Erläuterungen nur kurz verzeichnet. 2 3 2. Mose 21,2. 2 4 2. Mose 21,16. 2 5 2. Mose 2 1 , 2 - 6 . 2 6 2. Mose 2 1 , 7 - 8 . 2 7 2. Mose 21,20. 2 8 2. Mose 21,28-36.

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„Wildschaden"-Kontroversen 29 vor (daß gegen das Vieh die Rache geübt wird wie gegen den Menschen, ist vielen alten Rechten gemeinsam und steckt als Rest in der altrömischen Schadenersatzpflicht, wenn das Vieh „contra naturam sui generis" Schaden zufügt: 30 der moderne Mensch würde das gerade Umgekehrte erwarten, und das jüdische Gesetz ist im Grunde „moderner"). 7. „Bauernschutz" ist auch die Pfändungsschranke (Freiheit der Kleidung des Schuldners) 31 und 8. die späterhin zum „Zinsverbot" sich auswachsende Mahnung, die Strenge des geschäftlichen Schuldrechts nicht gegen Volksgenossen walten zu lassen. 32 9. Die Regelung des Mord- und Blutrechts und der Grundsätze des Kriminal-, das heißt: des Vergeltungsrechts überhaupt 33 - wobei aber anscheinend noch keine dauernd geregelte Existenz einer zur Judikatur bestimmten Instanz vorausgesetzt ist - gehört natürlich hier ebenfalls, wie in allen antiken 0 „Gesetzgebungen", unter die Kategorie: Schutz der Gemeinfreien gegen die infolge der differenzierenden Verkehrswirtschaft steigende Übermacht der reichen Ratsadelssippen. - Die Bestimmungen, welche die Beugung des Rechts sowohl zugunsten der Reichen als auch (ausdrücklich) zugunsten der Armen verbieten, 34 entsprachen einem Zustand, bei dem ein Gesetzgeber den Gegensatz der Klassen durch vermittelndes Eingreifen beseitigen will, wie bei den meisten „Gesetzgebern" des Altertums. Deutlich aber zeigt die nachdrückliche Mahnung: die Metöken nicht zu bedrücken, 35 die Wirkungen des nahe bei und d A: antiken, 2 9 W i l d s c h ä d e n sind durch d a s Wild im Z u s a m m e n h a n g mit der J a g d entstandene S c h ä d e n , für die - im Prinzip - die J a g d b e r e c h t i g t e n ersatzpflichtig waren. A m 11. Juli 1891 war es zu einer neuen g e s e t z l i c h e n R e g e l u n g in Preußen g e k o m m e n , der 1900 eine allgemeine R e g e l u n g im B ü r g e r l i c h e n G e s e t z b u c h (§ 835) folgte. 3 0 Die im Zwölftafelgesetz (451/50 v.Chr.) festgesetzte Wahl z w i s c h e n der Auslieferung d e s Tieres und der Entrichtung einer G e l d s u m m e beruhte auf der V o r a u s s e t z u n g einer Schuldhaftigkeit d e s Tieres (Dig.9, 1, 1, pr.), allerdings nur bei einem d u r c h nicht .normales' Verhalten, s o n d e r n Verhalten „contra naturam" e n t s t a n d e n e n S c h a d e n (Dig. 9 , 1 , 1 , 7 ) . Die von W e b e r angeführte, oft zitierte Formel entstammt erst der mittelalterlichen R e z e p t i o n d e s r ö m i s c h e n Rechts. 31 2. M o s e 22,25. 3 2 2. M o s e 22,24. 3 3 2. M o s e 2 1 , 1 2 - 2 7 . 3 4 2. M o s e 23,3. 3 5 2. M o s e 22,20. Den g r i e c h i s c h e n Begriff der .Metöken' verwendet in d i e s e m Zus a m m e n h a n g a u c h Merx, Die B ü c h e r M o s e s und Josua, S . 3 1 .

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zum Teil quer durch das Siedelungsgebiet der Israeliten gehenden Handelsverkehrs. Selbstverständlich ist auch das Edelmetallgeld dem Gesetze sehr wohl bekannt, wie aus ihm selbst hervorgeht. 36 Daß es in den Bestimmungen eine geringe Rolle spielt, liegt in erster Linie in der Verkehrstechnik und der daraus folgenden recht- 5 liehen Behandlung des Geldes im alten Orient überhaupt begründet; daneben könnte ja recht wohl gerade in der Erhaltung der naturalwirtschaftlichen Tradition der Bauernschaft die „sozialpolitiA 92 r sehe" Seite der Gesetzgebung liegen. Ob das Gebot: den Acker im siebenten Jahre unbestellt zu lassen, in irgendeiner Form je einem 10 ernstlich gemeinten Gesetz angehört hat, erscheint sachlich naturgemäß problematisch. Dieses „Sabbatjahr" präsentiert sich in der ältesten Fassung (Exodfus] 23, 10. II) 3 7 auch als eine Vorschrift zugunsten der „Armen" e - d.h. hier: der Landlosen - , welche in diesem Jahr die Früchte des Ackers sollten genießen dürfen. Allein 15 jeder Versuch, die Vorschrift in der uns heute vorliegenden Formulierung ihres utopistischen Charakters zu entkleiden und, sei es landwirtschaftstechnisch, 38 sei es sozialpolitisch (etwa als ursprünglich an den Pfandbesitzer gerichtet zugunsten des - wie so oft in Babylon 39 und offenbar auch in Athen 4 0 - auf dem Pfand- 20 stück als Kolon sitzenden Schuldners, oder allgemein als Pachtremission u.dgl.) rationell zu erklären, scheint aussichtslos, da das sakral motivierte Verbot des „Besäens" 41 allen Deutungen der letzteren Art im Wege steht. Handelt es sich nicht um Einschiebsel später theologischer Konsequenzmacherei, so ist mit dieser Be- 25 Stimmung kulturhistorisch für uns schlechthin nichts anzufangen, während umgekehrt das, doch wohl einer weit später redigierten Partie des Pentateuch 42 angehörige, sog. „Jobeljahr" als in erster e A: „Armen", 3 6 2. Mose 21,32. 3 7 3. Mose 2 5 , 2 - 8 . - Zur Problematik des Brachejahrs bei Weber vgl. auch Otto, Eckart, in: MWG 1/21, S. 1 2 - 1 4 . 3 8 Merx, Die Bücher Moses und Josua, S.33, lehnt eine Erklärung als „ökonomische Brache" ab. 3 9 Vgl. oben, S.397. 4 0 Gemeint sind die Hektemoroi, vgl. unten, S. 512f. und 516. 41 Zitat aus 2. Mose 23,10. Auch Merx, Die Bücher Moses und Josua, S.33, ordnet die Bestimmung dem „Sakralrecht" zu. 4 2 3. Mose 25,8-22.

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Linie Befristung des antichretischen Pfandbesitzes (der überall eine der alten Formen faktischer - notgedrungener - Veräußerung des Bodens darstellt) durch Bestimmung einer Maximalzeit, nach welcher die Schuld als aus den Einkünften des Bodens getilgt gilt, ökonomisch sehr viel eher erklärlich wäre, aber notorisch „graue Theorie" blieb. - Sieht man von diesem wissenschaftlich „unverdaulichen" Bestandteil ab, so tragen alle übrigen Bestimmungen, wie man sieht, in ihrem Grundprinzip einen ganz ähnlichen Charakter, wie viele der zur Ausgleichung der Ständekämpfe im Occident gegebenen Gesetzgebungen. Man könnte, wenn man sie rein an sich betrachtete, glauben, sie seien ebenso wie diese zum Ausgleich der Folgen der Schuldverknechtung der Bauern durch städtische „Geschlechter" erlassen, - und mit der nötigen Dosis Phantasie ließe sich dann der kanaanäische städtische Adel (der z. B. in Sichern so lange erhalten blieb) 43 als Patriziat, die Israeliten als die aufständige, von Kaplänen organisierte Plebs deuten, die im „Gesetz" ihre magna Charta44 erzwingt. Indes davon kann nicht ernstlich die Rede sein. Eher ließe sich annehmen, daß das „Gesetz" - neben seinem rein religiösen Zweck - eine Entwickelung zur Knechtung der Bauern durch Geschlechter, wie sie in den vor Augen liegenden Städten der Küste eingetreten war, verhindern, die alte Gemeinfreiheit erhalten wollte. Diese Annahme wäre jedenfalls weniger phantastisch, als manche andere neuerdings vorgetragene Hypothese, 45 aber freilich auch nicht sicher. Daß bei den Kämpfen in der sog. Richterzeit die Israeliten Fußkämpfer waren, ihre Gegner Reiter und wagenkämpfende Stadtkönige, geht aus dem ältesten literarischen Dokumente: dem Deboraliede

43 Vgl. unten, S.446. 44 Als „ M a g n a Charta" der Israeliten b e z e i c h n e t Merx, Die B ü c h e r Moses u n d Josua, S.66, die unten, S . 4 5 0 f . , erwähnten P f ä n d u n g s b e s c h r ä n k u n g e n des Deuteronomlu m s (5. M o s e 2 4 , 1 0 ) . 45 Die Erhaltung der sozialen u n d ö k o n o m i s c h e n Gleichheit als w e s e n t l i c h e s Bestreb e n d e r G e s e t z e b e t o n t B u h l , S o c i a l e V e r h ä l t n i s s e d e r I s r a e l i t e n , b e s . S. 1 0 2 - 1 0 7 . W e l c h e „ H y p o t h e s e n " W e b e r g e n a u Im A u g e h a t t e , Ist n i c h t s i c h e r z u b e s t i m m e n ; v g l . a b e r e t w a B e n z i n g e r , I m m a n u e l , H e b r ä i s c h e A r c h ä o l o g i e . 2., v o l l s t ä n d i g n e u b e a r b e i t e t e A u f l . - T ü b i n g e n : J . C . B . M o h r (P. S l e b e c k ) 1 9 0 7 , S. 2 6 7 - 2 7 0 . D a n a c h w ä r e d e r . w e l t l i c h e ' Teil d e s G e s e t z e s in e r s t e r L i n i e e i n R e f l e x d e s C o d e x H a m m u r a b l , z u m a l . G e r i c h t s s p r a c h e u n d S c h r i f t ' In Israel l a n g e d a s B a b y l o n i s c h e u n d d i e K e i l s c h r i f t g e w e s e n seien (vgl. ebd., S.270).

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(Jud[ices] 5), evident hervor. 4 6 Ebenso daß sie ihren Sieg als einen Triumph der Gemeinfreien über die „Großen" betrachteten (welche von ihrer Unterwerfung für sich Korntribute und „bunte gestickte Kleider" 4 7 erhofft hatten), etwa wie die Schweizer ihre | A 93 l Kämpfe gegen die Ritterschaft. 4 8 Wie lange nun diese Gemeinfreiheit eine „bäuerliche" genannt werden durfte, ist quellenmäßig recht fraglich. Das Deboralied kennt auch auf israelitischer Seite eine (in den Kampf gegen Sisera 49 nicht ausgezogene und deshalb im Liede verfluchte) Stadt und ihre „Bürger". 5 0 Wie freilich diese und andere israelitische „Städte" der damaligen Zeit beschaffen waren, ist nicht ersichtlich. In der Tradition über die Richterzeit finden sich Geschlechter, welche zahlreiche (30) „Dörfer" „besitzen", 51 ferner stadtsässiger kanaanitischer, aber mit Israeliten verschwägerter Adel (in Sichern), 52 und die ganze Richterzeit überhaupt ist eine Kette von abwechselnden Usurpationen einiger an Zahl und Besitz, auch Sklavenbesitz, starker adeliger Sippen, welche ihre Kolonen ausrüsten und an ihrer Spitze die Führung in den fortgesetzten Fehden gegen die Philisterstädte und die Wüstenstämme übernahmen, - ein Zustand, der freilich, nach anderen Analogieen, vor einem „Synoikismos" zu liegen pflegt, aber doch schon starke Differenzierung aufweist. Der Freiheitskampf gegen die Philister schuf dann das Königtum. Sauls Aufgebot ist zunächst ein nationales. Aber das Volkskö-

46 Die P r o p h e t i n u n d R i c h t e r i n D e b o r a (ca. 12./11. J a h r h u n d e r t v . C h r . ) rief B a r a k v o m S t a m m N a p h t h a l i z u m K a m p f g e g e n d i e K a n a a n ä e r auf u n d gilt als V e r f a s s e r i n d e s im B u c h Richter, K a p . 5, ü b e r l i e f e r t e n S i e g e s l i e d e s . W e b e r b e z i e h t s i c h s p e z i e l l auf 5 , 2 2 u n d 5,28. - Z u m Alter d e s D e b o r a - L i e d s vgl. z . B . Meyer, G e s c h i c h t e d e s A l t e r t u m s 1, S . 2 0 1 u n d 3 4 9 ; d e r s . , Israeliten, S . 4 9 6 (12. J a h r h u n d e r t v.Chr.). 4 7 Richter 5,30. 4 8 G e m e i n t s i n d d i e K ä m p f e d e s 14. J a h r h u n d e r t s in d e r S c h w e i z mit d e m S i e g d e r e i d g e n ö s s i s c h e n B a u e r n ü b e r d a s Ritterheer d e s ö s t e r r e i c h i s c h e n H e r z o g s L e o p o l d III. a m 9. Juli 1 3 8 6 bei S e m p a c h ( n o r d w e s t l i c h v o n L u z e r n ) . 4 9 S i s e r a war d e r Führer d e r K o a l i t i o n k a n a a n ä i s c h e r K ö n i g e , d i e v o n D e b o r a u n d Barak besiegt wurde. 5 0 Es h a n d e l t s i c h u m d a s nur hier (Richter 5 , 2 3 ) ü b e r l i e f e r t e , n i c h t g e n a u lokalisierb a r e M e r o s im n ö r d l i c h e n Palästina. 51 N a c h Richter 1 0 , 3 - 4 ( d a z u 5. M o s e 3 , 1 4 ) b e s a ß e n d i e 3 0 S ö h n e d e s R i c h t e r s Ja'ir v o n G i l e a d (im O s t j o r d a n l a n d ) 3 0 Dörfer. 52 Das H a u p t z e u g n i s d a f ü r b i l d e n d i e Richter 9 g e s c h i l d e r t e n E r e i g n i s s e i m Z u s a m m e n h a n g d e r k u r z l e b i g e n H e r r s c h a f t d e s A b i m e l e c h über Sichern (ca. 45 k m n ö r d l i c h v o n J e r u s a l e m , in S a m a r i a ) .

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nigtum wandelte sich rasch. Den Philistern gegenüber, deren Helden „Kriegsleute von Jugend auf" (Goliath, 1. Samfuelis] f 17,33 f ) 53 sind, wird in der Legende noch bei Davids Zweikampf der Heldenmut ungeübter Bauern, mit denen Jahwe ist, gerühmt, - schwerlich ohne Tendenz. 54 Denn die weiteren Angaben zeigen, daß die Entwickelung fester Cadres mit königlichen Offizieren und einem Stamm waffengeübter, dauernd unterhaltener „Knechte" 55 des Königs, unvermeidlich war. Die schematische Zwölfstämmegliederung diente dem Zweck der Umlegung der Naturallasten für Königtum und Heer nach Monatsschichten; mochte sie möglichst an alte Gauverbände anknüpfen, so war sie selbst doch künstliche Phylen-Einteilung gleichen Sinnes, wie die der hellenischen Kriegerstaaten es ist.56 Schon unter David und erst recht unter Salomo begann das Königtum die Züge des orientalischen Fronstaates anzunehmen: Eine befestigte Hauptstadt, Aufspeicherung eines „Hortes", einer stammfremden Leibgarde neben dem Heerbann, Bauten, zu denen die Werkmeister importiert, das Material aber durch Aufgebot zu Fronden herbeigeschafft wird. Die Stadtherrschaft und der Kampf mit Kriegswagen dringen nun auch in Israel ein, wie die biblischen sowohl wie die assyrischen Angaben (über Ahab) zeigen. Immerhin bleibt doch das nationale Heer in seiner Bedeutung bestehen: die Nachrichten aus der Königszeit zeigen, daß es auf Selbstausrüstung und auf dazu ausreichendem Grundbesitz ruht. 57 Die Angaben über den Tribut Menahems und seine Umlegung auf die „Reichen" 58 (= adsidui im römischen Sinne) 59 zeigen 9 eine bedeutende Zahl (60000?) 60 wehrfähiger und "Pflichtiger Haushalte. Ahab stellte nach assyrischen Quellen 2 000 Wa-

f A: 17,37

g A: zeigt

5 3 G o l i a t h „ist e i n K r i e g s m a n n v o n J u g e n d a u f " . 5 4 D i e S c h i l d e r u n g f i n d e t s i c h 1. S a m u e l 1 7 , 3 4 - 5 1 . 5 5 W e b e r z i t i e r t 1. S a m u e l 8 , 1 4 - 1 5 , w o h l n a c h B u h l , S o c i a l e V e r h ä l t n i s s e d e r Israelit e n , S. 1 8 f . 56 Vgl. unten, S . 4 6 0 f . 5 7 D a r a u f w e i s t M e y e r , G e s c h i c h t e d e s A l t e r t u m s 1, S. 4 4 9 ( m i t B e l e g s t e l l e n ) , hin. 5 8 W e b e r zitiert 2. K ö n i g e 1 5 , 2 0 , w o n a c h für d e n T r i b u t v o n 1 0 0 0 T a l e r n j e d e r 5 0 S e kel z u e n t r i c h t e n h a t t e . 59 Vgl. d a z u unten, S . 6 3 6 . 6 0 M e y e r , G e s c h i c h t e d e s A l t e r t u m s 1, S. 4 4 9 (1 i s r a e l i t i s c h e s Talent = 3 0 0 0 S e k e l ) .

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gen und 10000Mann ins Feld. 61 Ob die (1. Samfuelis] 8) 62 von Samuel den Israeliten angedrohte Belehnung der königlichen Kriegsmannen mit Land auf Kosten der Israeliten wenigstens für die Wagenkämpfer des Königs stattgefunden hat oder nur ein von den ägyptischen und den Verhältnissen der Stadtstaaten entnommenes 5 A 93 r Schreckbild gegen die Königsmacht ist, - letzteres scheint wahrscheinlicher, - ist nicht zu entscheiden. Jedenfalls ergibt die Geschichte der Folgezeit, daß die Konsequenz der militärischen Organisation auch hier die Herrschaft der ökonomisch zur Selbstausrüstung und Waffenübung fähigen „Geschlechter" war, 63 wie sie die 10 nun auftauchende Sorge um Blutsreinheit und Abstammung, das entstehende Interesse für die Heroengeschichte, die Erzväterlegenden und vor allem (s.u.) 64 das Deuteronomium in zahlreichen Bestimmungen erkennen lassen. Wer nicht zu den waffenfähigen Geschlechtern zählt, deren Bestand katastriert ist, also mindestens 15 alle Grundbesitzlosen, h gelten rechtlich als Metöken.' 1 Auch die im „Reiche Israel" immer wiederkehrende Verfügung des Heeres über die Königskrone entspricht dieser Lage. Sie war auch Grund des „Zerfalls" des alten Gesamtstaates: die beginnende Konzentrierung der Königsmacht und des Kultus in der „Polis" Jerusalem 20 schuf den im ganzen Orient wohlbekannten^] mit fast jeder Staatsbildung sich entwickelnden Gegensatz zwischen den alten Militärund den Priestergeschlechtern 65 der neuen Zentralstadt: Erstere sind natürliche Interessenten der alten Lokalkulte auf ihren heimatlichen Höhen und zugleich der Unterwerfung des Königtums 25 unter das Heer. Letztere bieten dem Königtum die „Legitimität" und damit unter anderem den Anspruch auf autoritäre Verfügung über die Arbeitskraft der „Untertanen", um es ihrerseits zu beherrschen, und streben nach Ausrottung der Lokalkulte. Die Gegensätze führten schon unmittelbar nach Salomo, der - de facto ägypti- 30 h Zu erwarten wäre: gilt [...] als Metöke. 61 Die Zahlenangaben bei Meyer, ebd., S.393. Es handelt sich um die Schlacht Qarqar in Nordsyrien ca. 853 v.Chr. gegen Salmanassar III.; vgl. oben, S.381 Anm.33. 6 2 Gemeint ist 1. Samuel 8,14-15. 6 3 Die „Geschlechter" und das Prinzip der Selbstausrüstung werden von Meyer, schichte des Altertums 1, S.367f., behandelt. 6 4 Siehe unten, bes. S.449 und 4 5 1 - 4 5 3 . 6 5 Vgl. oben, S.372f. - Vom „Zerfall" des Reiches Davids spricht z.B. Meyer, schichte des Altertums 1, S. 383.

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scher Vasall wie sein Sohn 66 - offenbar zuerst die Untertanenrobot rücksichtslos nach ägyptischer Art ausgenutzt hatte, zum Bruch. Nach dem „Abfall" 67 der alten israelitischen Kernstämme (welche die Entwickelung zum Fronstaat ablehnten) konzentrierte sich der 5 nunmehr „jüdische" Staat als eigentliches Stadtkönigtum endgültig in Jerusalem, zeitweise von Ägypten abhängig, später Assyrien tributär, offenbar dabei zunehmend den Charakter des bureaukratischen Stadtstaates annehmend. Die sinkende internationale Macht des Königtums und die unter der Angst vor den barbarischen 10 Raubkriegen der mesopotamischen Staaten wachsende' Macht der religiösen Stimmungen ermöglichten es dann der städtischen Priesterschaft in Jerusalem, unter König Josia im Jahre 622 die Herrschaft im Staat zu gewinnen und das „Gesetz Mose", 68 d.h. das Deuteronomium, zu oktroyieren. Der König wird in „Juda" ein „le15 gitimer" Herrscher, d.h. er muß als Davidide gelten. Dafür aber wird ihm der Besitz eines „Hortes" 69 und berittenen Gefolges 70 verboten, auch seine Legitimität an die Befragung des Loosorakels durch die jerusalemitische Priesterschaft geknüpft. 71 Das Monopol des dortigen Tempels als Kultstätte wird festgelegt, die Landprie20 sterschaft „zur Ruhe gesetzt" 72 und allmählich zur Dienerschaft der Stadtpriestergeschlechter deklassiert. Zugleich mit dieser gewaltigen politischen Machtverschiebung wurden nun die staatlichen und sozialen Verhältnisse neu geordnet. Diese Neuordnung zeigt, daß gegenüber der Zeit des alten Gesetzes eine weitgehende 25 Änderung der Zustände eingetreten war. Sie setzt, da die Zehnten - wegen der weiten Entfernung zur Tempelstadt - in Geld ablösbar sein mußten, weitgehende Geldwirtschaft | voraus, und die Deklas- A 94 l

i A: wachsenden 6 6 Gemeint ist Rehabeam, der Nachfolger Salomos im Südreich Juda. 6 7 Die Trennung der beiden Teilreiche Juda und Israel nach dem Ende der Herrschaft Salomos wurde in Juda als „Abfall" empfunden. 68 So 2. Chronik 34,14. 6 9 Das Verbot eines (übermäßigen) Königsschatzes findet sich 5. Mose 17,17 (wie oben, S. 366). 7 0 So 5. Mose 17,16. 71 Auf die Bedeutung des Losorakels wird bei Merx, Die Bücher Moses und Josua, S. 45, verwiesen (mit Belegen). 7 2 Vgl. Meyer, Geschichte des Altertums 1, S.573: Josia „setzte die Priester an denselben [gemeint: die anderen .Cultusstätten'] in den Ruhestand".

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sierung der Lokalpriester zugunsten des Zentraltempels führte zur Schaffung weltlicher Richter in den Landorten: das Interesse der Tempelpriesterschaft kam also dem Interesse der Bauern entgegen und lief auch hierin dem der lokalen ländlichen Geschlechter entgegen: eine im Orient sicher oft typische Situation. Das gab wie wahrscheinlich überall im Orient - den Anstoß zur Entstehung von Anfängen einer rechtsprechenden Bureaukratie: Bureaukratisierung und Theokratisierung gehen Hand in Hand, hier, wie (augenscheinlich) schon in den seinerzeit erwähnten 73 Verwaltungsordnungen der Sumererkönige. Die „armenpolitische" Anlegung von lokalen Getreidemagazinen, in welche jede dritte Jahresrate des Zehnten deponiert werden soll,74 entspricht gleichfalls dem Typus des orientalischen theokratisch-bureaukratischen Stadtkönigtums. Andererseits aber bricht überall die Abneigung gegen das „ägyptische Diensthaus", d.h. gegen ein Königtum, welches, wie Salomo, seine Macht nach Art der Pharaonen durch eigenen Handelsbetrieb, Burgen- und Magazinbau („Kornhäuser, Städte der Wagen und Städte der Reiter" 1. Kön[ige] 9,19) mittels Robot und Steuern der Untertanen stützt, hervor. (Wer die Realität der alten Tradition vom ägyptischen Aufenthalt Israels bezweifelt, der mag annehmen, daß - schon im alten Gesetz - „Ägypten" nur den Typus abgibt für den populären Protest gegen den Druck des orientalischen Leiturgiekönigtums überhaupt, wie er ganz in diesem Gedankenzusammenhang z.B. Samuel - l.Samuelfis] c[aput] 8 und 12 - in den Mund gelegt wird, - ein Druck, aus welchem die Priester, ehemals durch den Aisymneten 75 Mose, und jetzt wieder, das Volk errettet zu haben beanspruchen: - hier soll natürlich diese Aufstellung nicht vertreten werden.) - Das Deuteronomium sucht, wie schon das alte Gesetz und wie die theokratischen Gesetzgebungen überhaupt, die Garantieen gegen den Gewaltmißbrauch der Besitzenden zu steigern: die Pfändungsbeschränkungen des alten Gesetzes werden (Deut[eronomium] 24, 10) zu einem absoluten Verbot, das Haus des Schuldners zur Pfandnahme zu betre-

7 3 S i e h e o b e n , S . 3 7 8 f . ; vgl. S . 3 9 5 . 7 4 W e b e r b e z i e h t s i c h auf d i e bei Merx, Die B ü c h e r M o s e s und J o s u a , S . 5 2 , b e h a n d e l t e n S t e l l e n 5. M o s e 14,28f. u n d 26,12. 7 5 Vgl. o b e n , S . 4 4 0 .

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ten, 76 es wird die Pfändung der Hausmühlen verboten und die alte Haftung der Söhne für den Vater und umgekehrt in Kriminalsachen beseitigt, 77 der Menschenraub (jetzt auch der von Frauen und Kindern) mit dem Tode bedroht, 78 die Auszahlung des Lohnes am selben Tage geboten, 79 die Schuldeintreibung im Sabbatjahr suspendiert (so deutet Merx die Stelle Deut[eronomium] 15, 3 wohl mit Recht), 80 die Befreiung aller durch Selbstverkauf in Knechtschaft Geratenen im siebenten Jahr eingeschärft, 81 endlich und vor allem das Zinsnehmen auf den Verkehr mit Stammfremden beschränkt: 82 die praktische Bedeutung könnte allenfalls eine zeitweise Beschränkung des aktiven Zinsdarlehengeschäftes auf die Metöken (und vielleicht, nach babylonischem Muster, 83 den Tempel) gewesen sein (gerade weil Deut[eronomium] 15, 6 als erwünschte Folge hervorhebt, daß der Jude Fremden borgen, von ihnen aber nicht borgen werde, ist dies wahrscheinlich). - Die familienrechtlichen Bestimmungen des Deuteronomiums zeigen die Wandlung, in welcher die Gliederung der Familie und auch die Gesichtspunkte, unter denen man sie betrachtete, begriffen waren. Die Kindespietätspflicht wird - nur unter Ausschluß | eigenmächti- A 94 r ger Tötung - schroff betont. 84 Aber der alte Patriarchalismus wird stark durchbrochen: In der Zeit des Gesetzes gehörte die mit dem Brautpreis (mohar) erworbene Frau - im Gegensatz zu der nicht bezahlten, daher (wie in allen alten Rechten) bei ihrer Sippe verbliebenen - einfach zum erkauften Mobiliarbesitztum des Mannes, die Tochter zu den Handelsobjekten des Vaters. Nur die Ehefrau war, als Israelitin, gegen die Behandlung als Verkehrsobjekt wie eine Kaufsklavin, und der Sohn gegen dauernde Versklavung durch Verkauf geschützt. 85 Dagegen nahmen Bastarde und selbst 76 Dies wird von Merx, Die Bücher Moses und Josua, S.66, als die „Magna Charta" der Israeliten bezeichnet; vgl. oben, S.445. 77 So 5. Mose 24, 6 und 16, beides genannt bei Merx, Die Bücher Moses und Josua, S.66. 78 Webers Bezugnahme gilt 5. Mose 24,7 (behandelt von Merx, ebd., S. 52). 79 Zugrunde liegt 5. Mose 24,14f. (behandelt von Merx, ebd., S. 66). 80 Weber bezieht sich auf Merx, ebd., S. 52. 81 Weber bezieht sich auf 5. Mose 15,12 (genannt bei Merx, ebd., S. 52). 82 Zugrunde liegt 5. Mose 23,20f. (behandelt von Merx, ebd., S. 65). 83 Vgl. oben, S.401. 84 Weber bezieht sich auf 5. Mose 21,18-21 (Hinrichtung nur nach dem Urteil der Stadtältesten, behandelt von Merx, Die Bücher Moses und Josua, S. 62). 85 Eine nähere Erörterung findet sich bei Merx, ebd., S. 37 (vgl. S. 24f.).

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„Hurenkinder", wenn der Vater sie anerkannte, am Erbe teil und konnte der Vater sein Gut willkürlich unter die Kinder verteilen. 86 Dies hat sich jetzt vielfach geändert. Zwar die Bestellung einer Mitgift als Regel ist (wie der babylonische Name für dos zeigt) 87 erst nachexilisch, ebenso die Ausbildung fester Grundsätze für die Wittumsehe (Ketuba = Verschreibung seitens des Mannes). 88 Und die Ausschließung der Töchter vom Erbe und ihre Beschränkung auf Ausstattungsansprüche hat ebenfalls noch lange - hier ebenso wie anderwärts solange wie die Wehrhaftigkeit des Volks - gedauert. Aber immerhin: die patriarchale Willkür des Vaters ist geschwunden: Er muß dem Erstgeborenen sein (doppeltes) Erbteil lassen. 89 Er kann keinen „Mamser" (Bastard oder Sohn aus unerlaubter Mischehe) zum Erben machen. 90 Die im ganzen Orient ursprüngliche Vererbung des väterlichen Harems auf den Sohn wird verboten, 91 die Form der - materiell nach wie vor für den Mann willkürlichen - Scheidung geregelt. 92 Die Fortschritte der Stellung der Frau, welche in diesen (und manchen anderen) Bestimmungen sich anbahnen, 93 sind zweifellos hier wie überall durch die Macht der Frauensippe, welche die Tochter nicht mehr als bloßes Handelsobjekt behandelt, sondern sie als Witwe und ihre Kinder als Erben gegen die Willkür des Mannes gesichert sehen will, herbeigeführt. Sie hängen mit den Anschauungen der stadisässigen (vgl. die Beschränkung der Strafbarkeit des Verlöbnisbruches auf 86 Ein Beispiel dafür bilden Abrahams Geschenke für die Kinder seiner Konkubinen (1. Mose 25,9f.); vgl. außerdem seine Absicht, Ismael, seinen Sohn von der Ägypterin Hagar, zum Miterben zu machen (1. Mose 21,9-11). Als „Hurenkind" erscheint der spätere Richter Jephthah, der als möglicher Miterbe von seinen Stiefbrüdern vertrieben wird (Richter 11,1-2). Zur älteren rechtlichen Gleichstellung von Ehefrau und Sklavinnen vgl, Merx, Die Bücher Moses und Josua, S. 24, 37 und 53. 8 7 Gemeint ist die Ableitung des talmudischen (aramäischen) Begriffs n e dunjä von akkad. nadunnü, .Mitgift1. 88 Ketuba (hebr. k e tubbä, eigentlich das .Geschriebene') bezeichnet die Urkunde, In der die Verpflichtungen des Ehemannes im Todes- oder Scheidungsfall gegenüber der Ehefrau festgesetzt sind (Mischna 3,2). 8 9 Weber bezieht sich auf 5. Mose 21,15-17 (erörtert bei Merx, Die Bücher Moses und Josua, S.62). 9 0 Merx, Die Bücher Moses und Josua, S.65, gibt den In seiner genauen Bedeutung umstrittenen hebräischen Ausdruck mamzer (5. Mose 23,3; vgl. Sacharja 9,6) mit „Bastard" wieder. 91 Vgl. Merx, Die Bücher Moses und Josua, S. 64, der auf eine nicht existierende Stelle 5. Mose „20,30" verweist. Gemeint Ist offenbar 5. Mose 23,1. 9 2 Dies behandelt Merx, Die Bücher Moses und Josua, S.65. 9 3 Diesen Fortschritt hebt auch Merx, ebd., S.38, hervor.

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städtisches Gebiet Deutferonomium] 22, 23) 94 „Geschlechter": ihrem steigenden Drängen auf Blutsreinheit, die Sicherung der Stellung der Kinder[,] daneben auch mit militärischen Interessen zusammen. Die Polygamie blieb natürlich - wenn auch quantitativ begrenzt - bestehen, und der das physische Blutsband als solches nicht achtende Standpunkt aller ältesten Rechte dauert in der Zurechnung der Kinder der Mitgiftsklavin zu deren Herrin in den Patriarchenerzählungen fort. k Aber - wie die Ismael-Legende zeigt 95 - verlangt^ die Stimmung der maßgebenden Kreise Ausschluß des „Sohnes der Magd" 96 aus dem Erbe in Israel. Dem Interesse an dem Fortbestande des im Heereskataster stehenden ökonomisch wehrfähigen Geschlechtes dient hier wie anderwärts das Erbtochterrecht und daneben die Leviratsehe: das Recht und die Pflicht des nächsten Geschlechtsgenossen, dem kinderlos Verstorbenen „Samen" aus dessen Witwe zu „erwecken". 97 Der Grundbesitz ist naturgemäß durch Retraktrechte (später: Vorkaufsrechte) der Agnaten gebunden, im übrigen ist er in historischer Zeit veräußerlich und verpfändbar; es entspricht dem allgemeinen Entwickelungsschema und dem mili|tärischen Charakter A 95 l des Volkes, daß die Veräußerung des ererbten Gutes als schimpflich oder sündlich galt (vgl. die Geschichte von Ahab und Naboth 1. Kön[ige] 21).1 Die Auslösungsp/Zic/zi des Agnaten für Stammgüter ist wohl nachexilisch entstanden. - Die stärkere Städteentwikkelung in der Königszeit hat jedenfalls eine gewisse Entwickelung des Handwerks gefördert: Exod[us] 31, lf. wird als mit der Besorgung der feineren Tempelschmuckarbeiten eine ad hoc berufene Künstlerfamilie, offenbar erblich, betraut gedacht, 2 und zum salomonischen Tempelbau beruft der König phönikische Bauhandwerk - / r Zu erwartende Interpunktion: Aber wie die Ismael-Legende zeigt, verlangt 9 4 Weber bezieht sich auf 5. Mose 2 2 , 2 3 - 2 7 ( e r w ä h n t a u c h bei Merx, e b d . , S. 64). 9 5 Ismael war ein Sohn A b r a h a m s u n d seiner ä g y p t i s c h e n Sklavin Hagar, der auf Betreiben seiner Frau Sara verstoßen, aber z u m A h n h e r r n des S t a m m e s b u n d e s der Ismaeliten w u r d e . 9 6 W e b e r zitiert 1. Mose 21,13; gemeint ist Ismael. 9 7 Die Levirats- bzw. . S c h w a g e r ' e h e erscheint bereits 1. Mose 38, später Im Deuteron o m i u m als Vorschrift (5. Mose 25,5). Der von W e b e r zitierte A u s d r u c k findet sich in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g zuerst 1. M o s e 38,8. 1 N a b o t h w e i g e r t e sich, A h a b , König d e s N o r d r e i c h s (ca. 8 7 1 - 8 5 2 v.Chr.), sein ererbtes W e i n g u t a b z u t r e t e n und fiel d a r a u f h i n einem J u s t i z m o r d z u m Opfer. 2 2. M o s e 3 1 , 1 - 1 1 (im Z u s a m m e n h a n g des ,,Stiftshütten"baus).

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Agrarverhältnisse

im Altertum

ker; 3 - bei der Zerstörung Jerusalems gelten dagegen die militärisch wichtigen Schmiede und Zimmerleute als „Kriegsmänner", d. h. als leiturgiepflichtig (wie die „fabri" in Rom) 4 und werden mit fortgeführt. 5 Die sonst sich findenden Handwerker (Bäcker in den Städten, Walker, Töpfer) sind an Zahl offenbar recht gering; erst nach dem Exil entwickelt sich das Gewerbe kräftiger. Ziemlich stark ist vermutlich die Entwickelung großen Grundbesitzes infolge der auch hier unvermeidlich immer wiederkehrenden Verschuldung der Bauern gegenüber den stadtsässigen Geschlechtern in der Königszeit gewesen, gegen welche die Propheten (Jesfaja] 5,8; Micha 2, lf.) 6 in der bekannten Weise eifern. Der Grundsatz des talmudischen Rechts, daß Land und kanaanäische Sklaven primäres Objekt der Haftung für Chartalschulden sind 7 (umgekehrt lasten später jüdische Handelsschulden bekanntlich nur auf dem Mobiliarvermögen)[,] ist wohl ein Nachklang aus Verhältnissen, wo (wie in Althellas) 8 das Einlösungspfand als Verschuldungsform herrschte: Da nun die Schuldversklavung durch die Sabbatjahrbefristung für den Gläubiger entwertet war, wurde die Exequierbarkeit, vermutlich zunächst ex contractu', primär gegen den Boden gerichtet, und daraus mag sich die talmudische Legalhypothek entwickelt haben (s.u.). 9 Wie der Großbesitz bewirtschaftet wurde, ist nicht exakt feststellbar. Vielleicht war der „kanaanäische Sklave" des Talmud 10 ein Helot oder Klient, der an die Scholle gebunden war. Die alte Tradition kennt ebenso wie die Gesetzgebungen gedungene Lohnarbeiter neben Sklaven. Bei letzterem wird die typische historische Stufenfolge der unfreien Arbeitskräfte: 1. Verkaufte oder vermietete Kinder, 2. Schuldknechte, 3. Kriegsgefangene und Kaufsklaven, 4. Kleinpächter (die Stufe der Kleinpacht ist aber wohl erst in hellenistischer Zeit erreicht worden) auch hier die Tendenz gehabt I A: contracte 3 Weber nimmt Bezug auf 1. Könige 5,32 (vgl. 7 , 1 3 - 4 7 ; 2. Chronik 2 , 6 - 1 5 ) . 4 Vgl. unten, S.600. 5 Weber bezieht sich auf 2. Könige 24,14 und 16. 6 An beiden Stellen wird die rücksichtslose Aneignung von Feldern und Häusern durch die wirtschaftlich Starken angeprangert. 7 Vgl. unten, S.595. 8 Unten, S.486, vgl. 5 1 1 - 5 1 3 . 9 Siehe unten, S. 595f. - Ex contractu: d. h. aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages. 10 In der Mischna werden Sklaven nichthebräischer Herkunft .Kanaanäer' genannt.

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haben, sich zu realisieren. Doch kann der eigene Bedarf und deshalb auch die Zahl der Sklaven nie sehr groß gewesen sein: wir hören, daß die Phönikier den Heeren folgen, um die Gefangenen, für den Export natürlich, zu kaufen. 11 Auch blieb die Sklaverei nicht nur gesetzlich, sondern wohl auch faktisch, stets die milde orientalische Erbsklaverei. Die größere Treue der Sklavenkinder gegenüber den Kaufsklaven gilt als Erfahrungssatz; die Sklaven haben oft, wohl der Regel nach, Familie; die Gesetzgebungen sehen den Fall vor, daß Sklaven die ihnen angebotene Freilassung im Sabbatjahr ausdrücklich ablehnen, 12 was, nebenbei, die Wahrscheinlichkeit einer geringen Nachfrage nach | freien Tagelöhnern A 95 r und auch eine wenig günstige Lage dieser ergibt. Für eine „Agrargeschichte" der vorexilischen Zeit ist kein Material vorhanden, da Besitz- und Betriebsverhältnisse uns unbekannt sind. Die Propheten, in erster Linie religiös, in zweiter an der auswärtigen Politik, als der Tatenbühne ihres Universalgottes, und nur von diesen Gesichtspunkten aus gelegentlich auch „sozialpolitisch" interessiert, geben das typische Bild der antiken Polisentwickelung unter dem Einfluß der Geldwirtschaft, gegen deren differenzierenden Einfluß die Ohnmacht der Gesetzesbestimmungen (über Sabbatjahr, Zinsverbot usw.) genugsam bezeugt ist. Die „Reformpläne" Hesekiels sind ein reines Idealbild aus der Exilszeit. 13 Die Wegführung der Träger der Wehrkraft, d. h. der stadtsässigen Geschlechter, ließ nur Bauern und Weingärtner zurück, und die sog[enannte] „Wiederherstellung" unter Esra und Nehemia war eine Neukonstituierung eines theokratischen Stadtstaates auf der Basis eines Synoikismos (s.u. beim „Hellenismus"). 140

b (S. 4 3 8 ) - ö Petitdruck in A. 11 Weber fußt auf Nowack, Hebräische Archäologie 1, S. 174, der jedoch auf Joel 4,6 und der seit langem aufgegebenen Datierung dieses Textes ins 9. Jahrhundert v. Chr. statt in nachexilische Zeit beruht. 1 2 Weber bezieht sich auf 2. Mose 2 1 , 4 - 6 sowie 5. Mose 1 5 , 1 6 - 1 7 . 1 3 Gemeint ist der Schlußteil (Kap. 4 0 - 4 8 ) des von Hesekiel (Ezechiel), einem Propheten im babylonischen Exil (ca. 5 9 3 - 5 7 1 v. Chr.), verfaßten Buches des Alten Testaments, wo in der Form von Visionen die zukünftige religiöse und politische Erneuerung Israels geschildert wird. 1 4 Siehe unten, S. 5 4 9 - 5 5 2 . - Buhl, Sociale Verhältnisse der Israeliten, S. 1 1 4 - 1 1 6 , enthält eine Darstellung dieses .Idealbildes' (so ebd., S. 116).

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3. Fassung)

4. Hellas. 3 a) Vorklassische Zeit. Der Ackerbau der Hellenen, 1 soweit er sich nicht zu Spezialkulturen entwickelt hatte, war Anbau von Spelz, Gerste, Weizen in Feldgraswirtschaft (daher die geradzahligen Pachtperioden) von verschiedener Intensität. Dreifelderwirtschaft scheint gelegentlich vorzukommen. Fruchtwechsel fehlt. Nur die Einsaat von Hülsenfrüchten in die Brache kommt vor. Die Düngung ist Homer bekannt (Gründüngung gehört erst der Spätzeit an), 2 im übrigen aber ist die Technik des Ackerbaues in ziemlich primitivem Stadium stabilisiert worden und dann nicht fortentwickelt. Ein (lange Zeit ganz hölzerner) Hakenpflug, Ochsen als Spannvieh, Einstreuen der Saat in die Furche, Behacken und Jäten des Getreidefeldes, die Sichel und allenfalls die Dreschtafel als Ernteinstrumente, bedingten eine starke Arbeitsintensität 3 und machten es, da jungfräulicher Boden nicht mehr zur Verfügung stand, dem Getreidebau, selbst bei den hohen Getreidepreisen der späteren Zeit, schwer, das Schwergewicht von der naturalwirtschaftlichen auf die Marktproduktion zu verschieben. Die Viehhaltung beginnt, wie es scheint, erst in der Zeit der bauernfreundlichen (s.u.) 4 Tyrannis durch die Feldbestellung in stärkerem Maße eingeschränkt zu werden. 5 Wir finden im Zeitalter der Epen 6 eine Ernährung, bei der Käse, Milch und - wohlgemerkt: beim Adel - Fleisch stark im Vordergrund stehen; Wolle und Felle als volkstümliches Bekleidungsmaterial; als Hauptbestandteil königlicher und adeliger Reichtümer - neben a In der Inhaltsangabe (oben, S. 320) lautet die Überschrift: G r i e c h e n l a n d . 1 Die e i n l e i t e n d e n A u s f ü h r u n g e n zu A n b a u und V i e h w i r t s c h a f t in G r i e c h e n l a n d beruhen auf Meyer, G e s c h i c h t e d e s A l t e r t u m s 2, S. 361 f., sowie auf B ü c h s e n s c h ü t z , Besitz u n d Erwerb, bes. S. 301 - 3 0 8 . 2 Dies w i r d (mit B e l e g e n ) von B ü c h s e n s c h ü t z , e b d . , S. 306, g e s c h i l d e r t . 3 Die A r b e i t s i n t e n s i t ä t u n d ihre U r s a c h e n w e r d e n e b d . , S. 3 0 2 - 3 0 4 , d a r g e l e g t . 4 Siehe unten, bes. S. 4 9 2 - 4 9 4 . 5 Meyer, G e s c h i c h t e d e s A l t e r t u m s 2, S. 363, verweist darauf, daß in der Zeit vor der Tyrannis n o c h keine „ w e s e n t l i c h e B e s c h r ä n k u n g " der Viehzucht g e g e n ü b e r d e m A c k e r b a u s t a t t g e f u n d e n habe. Zeitlich g e h ö r t die Tyrannis vor allem in d a s s p ä t e r e 7. s o w i e d a s 6. J a h r h u n d e r t v. Chr. 6 Meyer, e b d . , S . 3 9 3 , 592, r e c h n e t e mit einer E n t s t e h u n g s z e i t der (heute meist e t w a in die 2. Hälfte d e s 8. J a h r h u n d e r t s v.Chr. d a t i e r t e n ) h o m e r i s c h e n E p e n v o m 10. bis z u m 7., z. T. f r ü h e n 6. J a h r h u n d e r t v. Chr.

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dem Edelmetall und den daraus und aus Bronze gefertigten Gerätschaften, - den Herdenbesitz: Ziegen, Schafe, Schweine, Rinder 7 b [zu Arbeitszwecken, da Milch und Käse wesentlich von Schafen und Ziegen geliefert wird] 0 , während das Pferd nur zu militärisehen, daneben zu Personentransport- und Sport|zwecken in gro- A 96 l ßen Ebenen - Euböa und Thessalien - massenhaft gehalten wird; Hirten als die vornehmsten Diener des Königs.8 Erheblich ist vielfach, schon in früher Zeit, die Bedeutung der Bewässerung auch hier. Aber: sie erfordert keine Bureaukratie, und überhaupt sind natürlich die ewigen Stänkereien, die z.B. zwischen Tegea und Mantinea wegen gegenseitiger Verstopfung der Katavothren hinund hergehen, 9 mit den Katastrophen, welche Störungen am Nil und Euphrat hervorbrachten, in keiner Weise vergleichbar. Als die Normalform der Hausgemeinschaft besteht in historischer Zeit überall die patriarchale Kleinfamilie mit einer der semitischen wesentlich gleichartigen Behandlung der Frau und Kinder (Frauenkauf, Ausstattung, Verstoßungsrecht des Mannes, ursprünglich freie, später durch die Rechte der Legitimität und den in den „Geschlechtern" - s.u. 10 - lebendig gewordenen Gedanken des Blutbandes eingeschränkte Verfügung des Vaters über die Kinder durch Aussetzung, Tötung und Verwendung zu Erwerbszwecken durch Verkauf und Vermietung; in der Entstehungszeit des Rechts von Gortyn 11 erscheint alles schon wesentlich modernisiert). 12 Adel und Könige - beides ist ursprünglich fast identisch (s.u.) 13 leben dagegen, wie überall, in großen Hausgemeinschaften auf der Grundlage des agnatischen Geschlechtes (yevoi;) im Interesse erblicher Zusammenhaltung des Besitzes.14 Die homerischen Epen b [ ] in A. 7 Die A u f z ä h l u n g folgt Meyer, e b d . , S. 361. 8 Diese N a c h r i c h t e n finden sich h a u p t s ä c h l i c h bei Meyer, e b d . , S . 7 8 , 361 f. 9 Diese Streitigkeiten z w i s c h e n d e n b e i d e n p e l o p o n n e s i s c h e n Städten um die Katavothren (d. h. natürliche, unterirdische A b f l ü s s e ) w e r d e n z u m Jahr 418 v. Chr. bei Thuk y d i d e s (5, 65, 4) erwähnt. 10 Siehe unten, S. 461 f. 11 G e m e i n t ist die 1. Hälfte des 5. J a h r h u n d e r t s v.Chr. als Zelt der R e c h t s a u f z e l c h n u n g im kretischen Gortyn (Meyer, G e s c h i c h t e des Altertums 2, S. 568). 12 Vgl. dafür bes. B ü c h e l e r / Z i t e l m a n n , Recht von Gortyn, S. 1 0 8 - 1 1 5 . 13 Siehe unten, bes. S . 4 7 2 f . 14 Auf d i e s e H a u s g e m e i n s c h a f t e n geht I n s b e s o n d e r e Pöhlmann, Antiker K o m m u n i s m u s u n d Sozialismus 1, S. 1 7 - 1 9 , ein.

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Agrarverhältnisse

im Altertum (3. Fassung)

kennen demgemäß Erbteilung neben Erbengemeinschaft (den ö|xogitiuoi des Charondas, 15 den ¿iioyd^aKTec; der attischen Rechtssprache: 16 - die Schilderung des Hauses des Priamos ist ja bekannt). 17 Die rechtliche Struktur der großen patrizischen Hausgemeinschaften bildet in den Städten später in geschichtlicher Ent- 5 Wickelung sich ähnlich um, wie z.B. diejenige der großen Hausgemeinschaften in den italienischen Städten des Mittelalters: 18 der ursprünglich volle Familienkommunismus macht mit Eindringen der Geldwirtschaft einer Auffassung des Verhältnisses als Erwerbsassoziation Platz; gesonderte Berechnung der Mitgiften und Ad- 10 ventizgüter aus dem Sondererwerb des Einzelnen, Eigentum der Frauen an den Illaten - wie im Orient (und im Gegensatz zu Rom) - setzt sich allmählich durch (so z.B. im Recht von Gortyn). 19 Wie im italienisch-sizilianischen Recht des Mittelalters wird hie und da fraglich, ob nicht der Sohn schon bei Lebzeiten des Vaters seinen 15 Anteil fordern könne 20 (das Recht von Gortyn schließt nur den Zwang gegen den Vater zur Abschichtung ausdrücklich aus). 21 Das Vermögen erscheint eben zunehmend als Produkt der ErwerbstäA 96 r tigkeit der Familienglieder, und damit zersetzt sich | die Grundlage des alten Hauspatriarchalismus. 20 c Garanten der Sicherheit des Einzelnen durch Blutrachepflicht und deshalb auch Subsidiär-Erben bei Aussterben der Hausgemeinschaft sind im späteren Recht die „äYxun;ei Ich nehme die Schäfersche Berechnung; 27 es sind die absoluten Zahlen strittig, aber A 119 I auf das einzelne kommt hier nichts an, sondern auf die ungefähren Relationen. |

2 5 Francotte, Industrie 1, S. 13-21. 2 6 „dem, der will", d.h. „jedem Beliebigen". Weber zitiert Demosthenes, Oratio 27, 32. 2 7 Weber folgt Schaefer, Demosthenes 1, S.272 (nach Demosthenes, Oratio 27, 4; 9 - 1 1 ) , wo die entsprechenden Posten nach den Angaben bei Demosthenes in Talenten, Minen und Drachmen aufgeführt sind. Webers Rechnung beruht auf der Gleichsetzung einer Mine mit 75 Mark.

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Agrarverhältnisse

im Altertum

(3. Fassung)

springt in die Augen. Ein epyaaTiipiov ist Gelegenheitserwerb: die Sklaven sind als Pfand (rcpäcn,