Max Weber-Gesamtausgabe, Band I/4,1: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik: Schriften und Reden 1892-1899, 1. Halbband 3161457331, 9783161457333

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Max Weber-Gesamtausgabe, Band I/4,1: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik: Schriften und Reden 1892-1899, 1. Halbband
 3161457331, 9783161457333

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Siglen, Zeichen, Abkürzungen
Einleitung
I. Schriften
„Privatenquêten“ über die Lage der Landarbeiter
Zur Rechtfertigung Göhres
Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter
Wie werden einwandfreie Erhebungen über die Lage der Landarbeiter angestellt?
Die ländliche Arbeitsverfassung
Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands
Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten
Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst dieses Jahres
[Rezension von:] Th[eodor] Freiherr von der Goltz, Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat
Landwirtschaft und Agrarpolitik
Monographien von Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter
Argentinische Kolonistenwirthschaften
[Rezension von:] B[odo] Lehmann, Die Rechtsverhältnisse der Fremden in Argentinien
Die deutschen Landarbeiter
[Rezension von:] Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze von Fr[iedrich] Naumann
Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter
Zum Preßstreit über den Evangelisch-sozialen Kongreß
Die Verhandlungen der Preußischen Agrarkonferenz
Das Anerbenrecht auf der preußischen Agrarkonferenz
Die Kampfesweise des Freiherrn v. Stumm
Eingesandt
„Römisches“ und „deutsches“ Recht

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Max Weber Gesamtausgabe Im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Herausgegeben von

Horst Baier, M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter, Johannes Winckelmann f

Abteilung I: Schriften und Reden Band 4 1. Halbband

J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen

Max Weber Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik Schriften und Reden 1892-1899

Herausgegeben von

Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit

Rita Aldenhoff

1. Halbband

J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen

R e d a k t i o n : Rita A l d e n h o f f - Karl-Ludwig A y - Edith H a n k e Die Herausgeberarbeiten wurden von der Werner-Reimers-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Weber, Max: Gesamtausgabe / Max Weber. Im A u f t r . der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen A k a d e m i e der Wissenschaften hrsg. von Horst Baier . . . - Tübingen: Mohr. A b t . 1, Schriften und R e d e n . N E : Baier, Horst [Hrsg.]; Weber, Max: [Sammlung] Bd. 4. Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik: Schriften und R e d e n 1892-1899 / hrsg. von Wolfgang J. M o m m s e n in Z u s a m m e n a r b e i t mit Rita Aldenhoff. Halbbd. 1. - (1993) ISBN 3-16-145733-1 G e w e b e ISBN 3-16-145735-8 Hldr. N E : M o m m s e n , Wolfgang J. [Hrsg.]

978-3-16-158127-4 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019

© 1993 J . C . B . M o h r (Paul Siebeck)Tübingen. D a s Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. D a s Buch wurde gesetzt und gedruckt von der Druckerei Guide in Tübingen auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier der Papierfabrik G e b r . Buhl in Ettlingen. D e n Einband besorgte die Großbuchbinderei H e i n r . Koch in Tübingen nach einem Entwurf von A l f r e d Krugmann in Stuttgart.

Inhaltsverzeichnis (1. Halbband) Vorwort

xv

Siglen, Zeichen, Abkürzungen Einleitung

xvm l

I. Schriften „Privatenqueten" über die Lage der Landarbeiter Editorischer Bericht Text

71 74

Zur Rechtfertigung Göhres Editorischer Bericht Text

106 108

Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter Editorischer Bericht Text

120 123

Wie werden einwandfreie Erhebungen über die Lage der Landarbeiter angestellt? Editorischer Bericht Text

154 156

Die ländliche Arbeitsverfassung. Referat und Diskussionsbeiträge auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 20. und 21. März 1893 Editorischer Bericht Texte

157 165

Referat Erster Diskussionsbeitrag Zweiter Diskussionsbeitrag

165 199 206

VI

Inhaltsverzeichnis

Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands Editorischer Bericht Text

208 209

Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten Editorischer Bericht Text

220 223

Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst dieses Jahres Editorischer Bericht Text

229 233

Rezension von: Theodor Freiherr von der Goltz, Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat Editorischer Bericht Text

238 240

Landwirtschaft und Agrarpolitik. Grundriß zu 8 Vorlesungen im Evangelisch-sozialen Kursus zu Berlin. Oktober 1893 Editorischer Bericht Text

254 259

Monographien von Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter Editorischer Bericht Text

272 275

Argentinische Kolonistenwirthschaften Editorischer Bericht Text

282 286

Rezension von: Bodo Lehmann, Die Rechtsverhältnisse der Fremden in Argentinien Editorischer Bericht Text

304 306

Die deutschen Landarbeiter. Korreferat und Diskussionsbeitrag auf dem fünften Evangelisch-sozialen Kongreß am 16. Mai 1894 Editorischer Bericht Texte

308 313

Inhaltsverzeichnis Korreferat Diskussionsbeitrag

VII 313 342

Rezension von: Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze von Friedrich Naumann Editorischer Bericht Text

346 350

Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter Editorischer Bericht Texte

362 368

Erste Fassung Zweite Fassung

368 425

Zum Preßstreit über den Evangelisch-sozialen Kongreß Editorischer Bericht Text

463 467

Die Verhandlungen der Preußischen Agrarkonferenz Editorischer Bericht Text

480 483

Das Anerbenrecht auf der preußischen Agrarkonferenz Editorischer Bericht Text

500 502

Die Kampfesweise des Freiherrn v. Stumm Editorischer Bericht Text

512 517

Eingesandt Editorischer Bericht Text

520 522

„Römisches" und „deutsches" Recht Editorischer Bericht Text

524 526

VIII

Inhalts verzeichn is

(2. Halbband) Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede Editorischer Bericht Text

535 543

Die Couleurschicksale des Fürsten Bismarck Editorischer Bericht Text

575 577

Rezension von: Karl Grünberg, Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien Editorischer Bericht Text

579 581

Der preußische Gesetzentwurf über das Anerbenrecht bei Rentengütern Editorischer Bericht Text

586 589

Agrarpolitik. Grundriß einer Vortragsreihe Editorischer Bericht Text

597 599

Rezension von: Wilhelm Vallentin, Westpreußen seit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts Editorischer Bericht Text

602 604

Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Hans Delbrück: „Die Arbeitslosigkeit und das Recht auf Arbeit" Editorischer Bericht Text

606 609

Diskussionsbeitrag in der Debatte über das allgemeine Programm des Nationalsozialen Vereins Editorischer Bericht Text

612 619

Inhaltsverzeichnis

IX

Diskussionsbeiträge zum Vortrag von Karl Oldenberg: „Über Deutschland als Industriestaat" Editorischer Bericht Texte

623 626

Erster Diskussionsbeitrag Zweiter Diskussionsbeitrag

626 639

Empfiehlt sich die Einführung eines Heimstättenrechtes, insbesondere zum Schutz des kleinen Grundbesitzes gegen Zwangsvollstreckung ? Editorischer Bericht Text

641 645

Stellungnahme zu der von der Allgemeinen Zeitung im Dezember 1897 veranstalteten Flottenumfrage Editorischer Bericht Text

667 671

Über die Schriftenreihe „Volkswirtschaftliche Abhandlungen" Editorischer Bericht Text

674 677

Herr v. Miquel und die Landarbeiter-Enquete des Vereins für Sozialpolitik Editorischer Bericht Text

678 683

Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands Editorischer Bericht Texte

687 693

1. Werbetext 2. Vorbemerkung des Herausgebers 3. Anmerkung des Herausgebers

693 694 711

II. Berichte über Reden und Diskussionsbeiträge Zur Polenfrage Diskussionsbeitrag auf dem ersten Alldeutschen Verbandstag am 9. September 1894 in Berlin Editorischer Bericht Bericht in der Flugschrift des Alldeutschen Verbandes

715 717

X

Inhaltsverzeichnis

Die nationalen Grundlagen der Volkswirtschaft Vortrag am 12. März 1895 in Frankfurt am Main Editorischer Bericht

720

Bericht der Frankfurter Zeitung Bericht des Frankfurter Journals Bericht des Frankfurter Volksboten

722 724 726

Über Burschenschaften und Corps Rede am 20. Juli 1895 in Freiburg Editorischer Bericht

729

Bericht der Breisgauer Zeitung

731

Die Bedeutung des Luxus Vortrag am 29. Oktober 1895 in Gießen Editorischer Bericht

732

Erster Bericht des Frankfurter Volksboten Zweiter Bericht des Frankfurter Volksboten

734 735

Agrarpolitik Vortragsreihe am 15., 22. und 29. Februar, 7. und 14. März 1896 in Frankfurt am Main Editorischer Bericht

743

Erster Vortragsabend : Agrargeschichte Bericht des Frankfurter Journals Bericht des Frankfurter Volksboten Bericht der Frankfurter Zeitung Zweiter Vortragsabend: Agrarverfassung Bericht des Frankfurter Journals Bericht des Frankfurter Volksboten

756 759

Dritter Vortragsabend: Agrarkredit Bericht des Frankfurter Journals Bericht des Frankfurter Volksboten

763 766

Vierter Vortragsabend: Die Landarbeiter Bericht des Frankfurter Journals Bericht des Frankfurter Volksboten

770 773

Fünfter Vortragsabend: Agrarschutz und positive Agrarpolitik Bericht des Frankfurter Journals Bericht des Frankfurter Volksboten Bericht der Frankfurter Zeitung

777 779 785

Bericht Friedrich Naumanns über die ersten drei Vortragsabende

788

748 751 755

Die Zukunft der deutschen Bodenverteilung Vortrag am 7. März 1896 in Frankfurt am Main Editorischer Bericht

791

Bericht der Frankfurter Zeitung Bericht des Frankfurter Volksboten

794 796

Inhaltsverzeichnis

XI

Die Gegensätze der deutschen Agrarverfassung in ihren Ursachen und Wirkungen Vortrag am 26. September 1896 in Berlin Editorischer Bericht Bericht der Vossischen Zeitung Bericht des Berliner Tageblatts

799 803 808

Die bürgerliche Entwickelung Deutschlands und ihre Bedeutung für die Bevölkerungs-Bewegung Vortrag am 9. Januar 1897 in Saarbrücken Editorischer Bericht Bericht der St. Johanner Zeitung

810 814

Das Polenthum in den deutschen Ostmarken Vortrag am 13. März 1897 in Freiburg Editorischer Bericht Bericht der Freiburger Zeitung Bericht der Breisgauer Zeitung

819 821 824

Agrarpolitik Vortragsreihe vom 4. bis 8. Oktober 1897 in Karlsruhe Editorischer Bericht Berichte der Badischen Landeszeitung Bericht des Heidelberger Zeitung

826 830 841

Der Gang der wirthschaftlichen Entwicklung Vortragsreihe am 19. und 26. November, 3. und 10. Dezember 1897 in Mannheim Editorischer Bericht Berichte des General-Anzeigers der Stadt Mannheim und Umgebung

842 846

Bodenverteilung und Bevölkerungsbewegung Vortrag am 7. Dezember 1897 in Straßburg Editorischer Bericht Bericht der Straßburger Post

853 855

Anhang I : Mitunterzeichnete Eingaben und Aufrufe Zur Organisation von Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hülfsarbeit Editorischer Bericht Text

859 861

XII

Inhaltsverzeichnis

Eingabe an den Evangelischen Oberkirchenrat zum Entwurf einer neuen Agende Editorischer Bericht Text

863 866

Erklärung gegen die Umsturzvorlage Editorischer Bericht Text

872 879

Vertrauliches Anschreiben und Programmentwurf für eine neue Tageszeitung Editorischer Bericht Text

885 890

Kundgebung gegen die Sprachenverordnungen in Österreich Editorischer Bericht Text

896 899

Aufruf zum Besuch eines sozialwissenschaftlichen Kursus in Karlsruhe vom 4. bis 8. Oktober 1897 Editorischer Bericht Text

900 902

Anhang II: Nachgewiesene, aber nicht überlieferte Vorträge und Diskussionsbeiträge Die Gewerbe-Gesellschaft ohne Firma in jetzigem Recht Probevorlesung am 19. Januar 1892

907

Die Agrarverfassung in Deutschland Vortrag in der „Staatswissenschaftlichen Vereinigung" zu Berlin im Frühjahr 1892

908

Grundzüge der modernen sozialen Entwickelung Vortragsreihe am 20. und 27. Januar sowie am 3., 10., 17. und 24. Februar 1894 in Berlin

910

Die landwirthschaftliche Arbeiterfrage Vortrag in der „Sozialwissenschaftlichen Studentenvereinigung" in Berlin, 1894 .

912

Vortrag in der sog. „kleinen staatswissenschaftlichen Gesellschaft" am 23. März 1896 in Berlin

914

Inhaltsverzeichnis

XIII

Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Georg Jellinek am 16. Februar 1898 im Verein „Frauenbildung" in Heidelberg . . .

916

Personenverzeichnis

921

Glossar

937

Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur

943

Verzeichnis der als Varianten zum Edierten Text berücksichtigten Textfassungen

951

Personenregister

952

Sachregister

959

Seitenkonkordanzen

1001

Aufbau und Editionsregeln der Max Weber-Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden

1005

Vorwort

Der nachstehende Band enthält die Schriften, Reden und sonstigen Textzeugen Max Webers zur Agrarpolitik und zur Volkswirtschaftspolitik aus den Jahren 1892 bis 1899. Er schließt an den Band I/3 der MWG „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland" an, der von Martin Riesebrodt bereits vor einigen Jahren herausgegeben wurde. 1 Unter anderem enthält er die zahlreichen kleineren Schriften, die aus Max Webers Auswertung der die ostelbischen Gebiete Preußens betreffenden Teile der Enquete des Vereins für Socialpolitik vom Jahre 1892 über die Landarbeiterfrage im Deutschen Reich hervorgegangen sind. Doch geht er inhaltlich weit darüber hinaus. Er dokumentiert das politische und agrarwissenschaftliche Frühwerk Max Webers, das von der bisherigen Forschung lange Zeit kaum wahrgenommen worden ist, 2 erstmals mit möglichster Vollständigkeit, unter Einbeziehung auch der indirekten Textzeugen und von öffentlichen Aufrufen und Erklärungen, an denen Max Weber beteiligt war, in Übereinstimmung mit den Editionsprinzipien der MWG. Die zahlreichen Schriften zu Problemen des Börsenwesens, die zumeist aus aktuellem politischen Anlaß entstanden sind und unmittelbar auf die zeitgenössischen agrarpolitischen Auseinandersetzungen, von denen in diesem Bande immer wieder die Rede ist, Einfluß zu nehmen suchten, werden in Band I/5 der MWG veröffentlicht werden. 3 Insgesamt zeichnet dieser Band ein sehr farbiges und differenziertes Bild der agrarwissenschaftlichen und agrarpolitischen Aktivitäten des jungen Max Weber, der in eben jenen Jahren den Sprung von der Rechtswissenschaft und der Rechtsgeschichte hinüber zur Nationalökonomie vollzog, ohne seinen bisherigen Interessen deswegen abzuschwören. 4 In engem sachlichen Zusammenhang damit steht das in jenen Jahren bemerkenswert intensive Engagement Max Webers für die Evangelisch-soziale Bewegung und ihre Ziele. In dieser Periode seines Werks waren Wissenschaft und

1 2 Halbbände.-Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1984. 2 Erst in den letzten Jahren haben Florian Tennstedt, Wilhelm Hennis, Harry Liebersohn und Lawrence A. Scaff dieser Periode des Werks größere Aufmerksamkeit zugewandt. 3 Börsenwesen. Schriften und Reden 1 8 9 4 - 1 8 9 7 , hg. v. Knut Borchardt. - Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), in Vorbereitung. 4 In der Einleitung, unten, S.39ff., wird über Max Webers Tätigkeit als Hochschullehrer einiges gesagt; eine vollständige Dokumentation wird freilich erst im Zuge der Veröffentlichung der Vorlesungen Max Webers, die im Rahmen der Abteilung III der MWG vorgesehen ist, erfolgen können.

XVI

Vorwort

Politik noch ungewöhnlich eng miteinander verzahnt, obschon sich zugleich bedeutsame Ansätze zu einer strikten Scheidung von Werturteilen und wissenschaftlichen Aussagen finden. Am deutlichsten tritt dies in der berühmten Freiburger Antrittsrede „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik" hervor, die gleichermaßen ein wissenschaftstheoretisches Traktat und ein politisches Pronunciamento darstellt. Aber auch in den zahlreichen kleineren Abhandlungen und öffentlichen Stellungnahmen tritt uns Max Weber nicht allein als Fachwissenschaftler, sondern auch als politisch engagierter Bürger entgegen, der ungeachtet der herrschenden Tendenz der amtlichen Politik unter den Reichskanzlern Hohenlohe-Schillingsfürst und Bülow, welche die bedrohte ökonomische und soziale Stellung des Großgrundbesitzes zu stabilisieren suchte, mit großer Entschiedenheit für eine liberale Agrar- und Gesellschaftspolitik eintrat. In den tagespolitischen Kämpfen optierte er für eine Politik der Förderung des Industriestaates und für eine Weltpolitik, durch die der wirtschaftliche Erwerbsspielraum des Deutschen Reiches erweitert werden sollte; er wurde zu einem führenden Repräsentanten des „liberalen Imperialismus", der eine kraftvolle überseeische Expansionspolitik mit einer fortschrittlichen Innenpolitik verbinden wollte. Doch finden sich hier zugleich Ansätze zu jenen Fragestellungen, die später sein Werk beherrschend bestimmen sollten; erstmals wird hier die Frage nach der Kulturbedeutung des modernen, marktorientierten industriellen Kapitalismus aufgeworfen. Auch dieser Band erforderte, um die Schriften und sonstigen Textzeugen aus jenen Jahren möglichst vollständig zu erfassen und diese sachgerecht zu kommentieren, umfangreiche Recherchen in zahlreichen Archiven, Forschungsstätten und Wissenschaftlichen Bibliotheken, sowie die Auswertung zahlreicher, in privater Hand befindlicher Nachlässe. Es wäre unmöglich, die Institutionen, denen der Herausgeber für ihre Hilfe und die Bereitstellung von wichtigen Quellenbeständen zu Dank verpflichtet ist, auch nur annähernd vollständig zu nennen. Besondere Erwähnung verdienen das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Merseburg (vormals: Zentrales Staatsarchiv der DDR Merseburg), 5 das wichtige Teile des Nachlasses von Max Weber sowie die Akten des Vereins für Socialpolitik und des Deutschen Ostmarkenvereins verwahrt, das Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (vormals: Zentrales Staatsarchiv der DDR Potsdam), in dem sich unter anderem die Akten des Alldeutschen Verbandes sowie zahlreiche Nachlässe, namentlich jener Friedrich Naumanns, befinden, das Evangelische Zentralarchiv in Berlin und das Archiv des Evangelisch-sozialen Kon5 In diesem Band sind durchgängig noch die älteren Archivbezeichnungen mit der Abkürzung ZStA Merseburg bzw. ZStA Potsdam verwendet worden, da das Manuskript vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bereits weitgehend abgeschlossen war.

Vorwort

XVII

gresses in Leipzig-Gohlis, dessen Bestände dem Herausgeber vor der Wende von 1989 freilich nur teilweise zugänglich waren, sowie schließlich die Universitätsbibliothek der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und die Bayerische Staatsbibliothek München. Weiterhin sei an dieser Stelle Frau Ursula Heuss dafür gedankt, daß sie dem Herausgeber Einsicht in den Nachlaß von Georg Friedrich Knapp gewährte. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß die Erschließung des wissenschaftlichen und politischen Briefwerks Max Webers, die seit langen Jahren in den bewährten Händen von Herrn Manfred Schön von der Arbeitsstelle der MWG in Düsseldorf liegt, für die Erstellung auch dieses Bandes von erheblichem Wert gewesen ist. Frau Dr. Birgitt Morgenbrod gilt besonderer Dank für die kritische Durchsicht des gesamten Manuskripts und für zahlreiche wertvolle Hinweise. Nachdrücklich gedankt sei auch dem Vorsitzenden der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Knut Borchardt, sowie den Mitarbeitern der dortigen Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, insbesondere Herrn Dr. Karl-Ludwig Ay und Frau Dr. Edith Hanke, in deren Händen nach dem Ausscheiden von Frau Dr. Rita Aldenhoff aus der Redaktion die restlichen redaktionellen Arbeiten für diesen Band lagen, ferner Frau Christiane Wirth und insbesondere Frau Ingrid Pichler, die die Druckvorlagen erstellt und auch bei schwierigen technischen Abläufen große Umsicht an den Tag gelegt haben; sie haben dadurch zu dem Gelingen des Bandes in erheblichem Maße beigetragen. Frau Pichler besorgte auch die Erstellung des Personenregisters. Dank gebührt auch Herrn Dr. Hans Jaeger, dem Leiter der „Neuen Deutschen Biographie", die von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wird, für zahlreiche Hinweise bei der Zusammenstellung des Personenverzeichnisses. Ferner danken wir Herrn Dr. Christoph Cornelißen und Herrn Peter Burger für Forschungsdienstleistungen und mancherlei wichtige Anregungen. Gedankt sei schließlich auch dem Historischen Kolleg München, das es dem Herausgeber ermöglichte, freigestellt von seinen vielfältigen akademischen Verpflichtungen, die in den vergangenen Jahren den Abschluß der Arbeiten immer wieder verzögert hatten, die Endredaktion des Bandes und die Niederschrift der Einleitung unter optimalen Arbeitsbedingungen vorzunehmen. München, im April 1993

Wolfgang J. Mommsen

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

| [ ] § % —» 2\3) 1, 2, 3

A, B, C A(1), A(2), A(3) A1, A2, A3 a, b , c a a, aa , a b , a c

Seitenwechsel Hinzufügung des Editors Paragraph Prozent siehe Indices bei Anmerkungen Max Webers Indices bei Anmerkungen des Editors Siglen für Webers Textfassungen in chronologischer Folge Siglen für parallel überlieferte Berichte von Reden oder Diskussionsbeiträgen Seitenzählung der Druckvorlagen Indices für Varianten oder textkritische Anmerkungen Beginn und Ende von Varianten oder Texteingriffen Indices für Varianten oder Texteingriffe zu Textstellen im textkritischen Apparat

a.a.O. Ab.BI. Abschn. Abt., Abtig. a.D. AfSS Anm. a.o. Prof. Art. Aufl. Aug.

am angegebenen Ort Abendblatt, Abendausgabe Abschnitt Abteilung außer Dienst Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Anmerkung außerordentlicher Professor Artikel Auflage August

BA Koblenz Bd. bes. bez., bezw., bzw. BGB Bl. BSB

Bundesarchiv Koblenz Band besonders beziehungsweise Bürgerliches Gesetzbuch Blatt Bayerische Staatsbibliothek

ca. cf., conf. cm c.t. Ctr.

circa confer Zentimeter cum tempore Zentner

D. d.

Doktor der evangelischen Theologie der

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

XIX

dass. DDP dergl. ders. Dez. d.h. d.i. d.J. d. Dr. ' DV

dasselbe Deutsche Demokratische Partei dergleichen derselbe Dezember das heißt das ist dieses Jahres dieses Monats Doktor Druckfehlerverzeichnis

ebd. EO, EOK etc.

ebenda Evangelischer Oberkirchenrat et cetera

f., ff. Febr. Frhr. FZ

folgende Februar Freiherr Frankfurter Zeitung

Geh. Rat, Geh.-Rat ggf. GLA GS

Geheimer Rat, Geheim-Rat gegebenenfalls Generallandesarchiv Gesetz-Sammlung; Sammlung der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27. Oktober 1810. Als Anhang zu der seit dem Jahre 1810 edirten Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten. - Berlin 1822; Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Jg. 1 8 1 0 - 1 9 0 6 . - Berlin 1 8 1 0 - 1 9 0 6 . Fortgesetzt unter dem Titel: Preußische Gesetzsammlung, Jg. 1 9 0 7 - 1 9 4 4 . - B e r l i n 1 9 0 7 - 1 9 4 4 .

Ha., ha, ha. HdStW 1 , 2, 3

Hg., hg. hl, hl. HSA HStA

Hektar Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. von Johannes Conrad u.a. [1. Aufl.], 6Bände, 2Supplementbände. - Jena: Gustav Fischer 1 8 9 0 - 1 8 9 7 ; 2.Aufl., 7Bände, 1 8 9 8 - 1 9 0 1 ; 3. Aufl., 8 Bände, 1 9 0 9 - 1 9 1 1 . Herausgeber, herausgegeben Hektoliter Handschriftenabteilung Hauptstaatsarchiv

i.B.,i.Br. inkl.

im Breisgau inklusive

Jan. Jg.

Januar Jahrgang

Kap. kg Kgl.

Kapitel Kilogramm Königlich

XX I.e. Leg. Per.

Siglen, Zeichen,

Abkürzungen

loco citato Legislaturperiode

Ms. m.W. MWG

Meter Mark maschinenschriftlich mit anderen Worten Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses Mitglied des preußischen Herrenhauses Mitglied des Reichstags meines Erachtens Million, Millionen Morgenblatt, Morgenausgabe Mommsen, Wolfgang J., Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920. - Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1974 2 . Manuskript meines Wissens Max Weber-Gesamtausgabe

n.Chr. NF Nl. No., Nr. Nov. NZ

nach Christus Neue Folge Nachlaß Nummer November National-Zeitung

o.J. Okt. o.[ö.] Prof.

ohne Jahr Oktober ordentlicher [öffentlicher] Professor

p.Ct., pCt., Proz. Pfd. Pf., Pfg. Phil. Fak. P. P. Prof. PSt

Prozent Pfund Pfennig Philosophische Fakultät Praemissis praemittendis Professor Poststempel

Rep. resp. RGBl Riesebrodt

Repertorium respektive Reichsgesetzblatt Riesebrodt, Martin, Einleitung; Editorischer Bericht, in: Weber, Max, Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, 1892, hg. von Martin Riesebrodt.-Tübingen: J.C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1984 (MWG I/3), S. 1 - 1 7 , 1 8 - 4 7 .

s. S „ SS. SBPK Schulthess

siehe Seite, Seiten Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Europäischer Geschichtskalender, hg. von Heinrich Schulthess, Jg. 1 (1860) - Jg. 25 (1884); fortgesetzt unter dem Titel: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, hg. von Hans

m M „ Mk. masch. m.a. W. Mdpr. AH Mdpr. HH MdR m.E. Mill. Mo. Bl. Max Weber Mommsen,

Siglen, Zeichen,

Abkürzungen

XXI

Suppl.-Band s.Z.

Delbrück u.a., Jg. 26 (1885) - Jg. 59 (1918). - Nördlingen, bzw. ab 30. Jg. (1890), München: C. H. Beck 1861-1922. September Session Sammlung sogenannt Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Seiner Staatsarchiv Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Bd. 1 - 1 5 , 1867-1870; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Zollparlaments, Bd. 1 6 - 1 8 , 1868-1870; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 1 9 - 3 2 5 , 1871-1918. - Berlin: Julius Sittenfeld 1867-1918. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten 1871-1918. - Berlin: W. M o e s e r l 8 7 1 - 1 9 1 9 . Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses 1871 - 1 9 1 8 . - Berlin: Verlag der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei 1871 - 1 9 1 9 . Supplement-Band seinerzeit

To.

Tonne

U.A., u.a. UA UB undat. u.s.w.

und Andere; unter anderem Universitätsarchiv Universitätsbibliothek undatiert und so weiter

v. VA Vf. vgl., vergi. v.H.

von Verlagsarchiv Verfasser vergleiche von Hundert

Weber, Marianne, Lebensbild 1

Weber, Marianne, Max Weber. Ein Lebensbild. - Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 19261 (Nachdruck = 3. Aufl. - Tübingen 1984; 4. A u f l . - M ü n c h e n : Piper 1989).

z.B. zit. n. ZStA

zum Beispiel zitiert nach Zentrales Staatsarchiv der DDR (jetzt: Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam, bzw. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Merseburg) zum Teil zurZeit

Sept. Sess. Slg. sog., sogen. Sp. SPD Sr. StA Sten. Ber.

Sten. Ber. pr. AH

Sten. Ber. pr. HH

z.T. z.Z., z.Zt.

Max Weber um 1893

Einleitung

1. Zum zeitgeschichtlichen Kontext der Schriften und Reden Max Webers zur Landarbeiterfrage und zur Volkswirtschaftspolitik Der hier vorgelegte Band enthält die Schriften, Reden, Vorträge und sonstigen Texte Max Webers zur Agrarpolitik und zu zahlreichen, damit in Zusammenhang stehenden politischen Themen aus den Jahren 1892 bis 1899. Er knüpft unmittelbar an Band I/3 der MWG an, 1 der Max Webers Auswertung des ostelbischen Teils der großen Enquete des Vereins für Socialpolitik enthält, die 1892 unter dem Titel „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland" in den Schriften des Vereins für Socialpolitik erschien und den jungen Privatdozenten mit einem Schlage zu einem bekannten Mann machte. Max Weber stellte die Ergebnisse der Enquete und die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen und politischen Schlußfolgerungen nicht nur im Kreis der engeren Fachkollegen vor, sondern zugleich auch der breiteren Öffentlichkeit in einem reichen Strom von Abhandlungen, Aufsätzen sowie Vorträgen und Vortragsreihen. Der Ertrag der ersten Werkphase Max Webers nach dem Abschluß der Habilitation am 1. Februar 1892 bis zu seiner Erkrankung im Sommer 1899 war quantitativ höchst umfangreich. Es nötigt Bewunderung ab, mit welcher Energie und unermüdlichen Schaffenskraft sich Max Weber in diesen Jahren gleichzeitig auf ganz unterschiedlichen Gebieten aktiv engagierte und in den zeitgenössischen agrarpolitischen Auseinandersetzungen immer wieder mit bemerkenswerten Stellungnahmen zur Sache aufzuwarten verstand, obschon er gleichzeitig ein gewaltiges Arbeitspensum an Vorlesungen und Vorlesungsvorbereitungen zu bewältigen hatte. 2 Die Eckpfeiler dieses Œuvres bilden das Referat über „Die ländliche Arbeitsverfassung" auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik in Posen am 20./21. März 1893, auf der die Lage der ländlichen Arbeiterschaft allgemein zur Debatte stand, die Abhandlung „Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter", in der er die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen seiner Analyse der ostelbischen Landarbeiterfrage einem breiteren Publikum vorstellte, sowie die Freiburger Akademische Antrittsrede „Der Nationalstaat und die Volkswirt1 Hg. von Martin Riesebrodt. - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1984. 2 Die Vorlesungen Max Webers werden in der Abt. III der MWG veröffentlicht werden. Näheres siehe unten, S. 39ff.

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schaftspolitik". Daneben steht eine große Zahl von kleineren Abhandlungen, Aufsätzen, Gutachten, Rezensionen, Vorträgen und sonstigen öffentlichen Stellungnahmen, die uns allerdings zu einem Teil nur in indirekten Textzeugen, jedoch überwiegend von hervorragender Qualität überliefert sind; sie decken ein bemerkenswert großes Feld ab und haben eine beachtliche Breitenwirkung entfaltet. Max Webers agrarwissenschaftliche und agrarpolitische Arbeiten der Jahre 1892 bis 1899 entstanden in einer Zeit großer politischer Instabilität und eines krisengeschüttelten politischen Systems. Der Sturz Bismarcks im Frühjahr 1890 warf lange Schatten auf die politischen Verhältnisse; große Teile der Öffentlichkeit orientierten sich weiterhin an den, freilich idealisierten, Verhältnissen der Ära Bismarcks. Die teils direkten, teils anonymen Attacken des Fürsten Bismarck und seines Sohnes Herbert auf die Regierung Caprivi, für die sie sich vornehmlich der Hamburger Nachrichten als eines Sprachrohrs bedienten, trugen nicht eben zur Hebung der Autorität der Reichsleitung bei. 3 Zwischen dem politischen Kurs des Reichskanzlers Caprivi, der um eine Politik des Ausgleichs und der Verständigung mit den bürgerlichen Parteien im Reichstag bemüht war, und jenem des hochkonservativen preußischen Staatsministeriums, in dem sich der Reichskanzler immer weniger durchzusetzen vermochte, hatte sich ein tiefer Spalt geöffnet, der die Entscheidungskraft der Regierungen zunehmend lähmte. 1892 legte Caprivi, um für eine Politik des Entgegenkommens gegenüber den Parteien im Reichstag den Rücken frei zu haben, die Ministerpräsidentschaft in Preußen nieder. Der Gedanke dabei war, Preußen hinfort ebenso wie die anderen Bundesstaaten zu behandeln und sich dem Druck der hochkonservativen Kräfte in Preußen zu entziehen. Aber auf diese Weise konnte die schleichende Verfassungskrise, die durch das Auseinanderdriften Preußens und des Reiches verursacht wurde, keinesfalls überwunden werden. 4 Im Gegenteil, die Trennung der beiden höchsten Regierungsämter machte die Dinge nur noch schlimmer. Es kam hinzu, daß Caprivi wegen der Politik der Handelsverträge mit zahlreichen europäischen Staaten, die durch eine Senkung der Schutzzölle für Agrarprodukte bessere Ausgangsbedingungen für die deutschen industriellen Exporte zu schaffen bemüht war, von der Konservativen Partei und von dem 1893 gegründeten „Bund der Landwirte", einer unter konservativer Führung stehenden, aber populistisch operierenden Massenorganisation der agrarischen Interessen, immer schärfer angegriffen wurde. Die 3 Stribrny, Wolfgang, Bismarck und die deutsche Politik nach seiner Entlassung (1890-1898).-Paderborn: Ferdinand Schönlngh 1977, S . 2 1 - 5 5 . 4 Mommsen, Wolfgang J., Die latente Krise des Wilhelminischen Reiches. Staat und Gesellschaft in Deutschland 1890-1914. - Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1990, S. 2 9 5 - 2 9 8 .

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Voraussetzungen für eine gemäßigte Politik der Mitte waren dergestalt immer weniger gegeben. In der Umgebung Wilhelms II. gewannen die Anhängereines hochkonservativen politischen Kurses, die gegebenenfalls auch einen Konflikt mit den Parteien des Reichstags nicht scheuten, zunehmend an Einfluß, und Caprivi konnte diesen Bestrebungen angesichts der unsicheren parlamentarischen Konstellation im Reichstag, die ihm keinen festen Rückhalt in einer geschlossenen Parteienmehrheit gewährte, nichts entgegensetzen. Die Zuspitzung der inneren Lage kam auch in einer dramatischen Verschärfung des Verhältnisses zur Arbeiterschaft und zur Sozialdemokratie zum Ausdruck. Zu Beginn seiner Regierung hatte Wilhelm II. mit den „Sozialpolitischen Erlassen" vom Februar 1890, die noch unter der Ägide Bismarcks, wenn auch gegen dessen Widerstand und ohne dessen verfassungsmäßig vorgeschriebene Gegenzeichnung ergangen waren, eine neue Ära fortschrittlicher Sozialpolitik in Aussicht gestellt. Die kaiserliche Initiative war damals von der Öffentlichkeit außerordentlich positiv aufgenommen worden, und selbst im Lager der Sozialdemokratie fanden sich einzelne wohlwollende Stellungnahmen. Dies hatte dazu beigetragen, daß sich auch die Evangelische Kirche für den Gedanken einer Politik umfangreicher Sozialreformen öffnete; so kam es zur Gründung des Evangelischsozialen Kongresses, der es sich zur Aufgabe stellte, den Gedanken einer fortschrittlichen Sozialpolitik, die die bestehende Kluft zwischen Staat und Arbeiterschaft schließen sollte, auch im kirchlichen Raum zur Geltung zu bringen. Jedoch versiegte der Strom der Reformbereitschaft bei Hofe binnen weniger Jahre wieder und machte seit 1893 einer ausgeprägt reaktionären Einstellung Platz. Die Evangelisch-soziale Bewegung wurde von Wilhelm II. zurückgepfiffen: „Politische Pastoren sind ein Unding. Wer Christ ist, der ist auch sozial; christlich-sozial ist Unsinn [...]. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiel lassen, dieweil sie das gar nichts angeht." 5 Auf sozialpolitischem Gebiet wurde nunmehr wieder auf einen Repressivkurs umgeschwenkt. Ungeachtet der ablehnenden Haltung des Reichskanzlers schmiedete die preußische Regierung an einem neuen Ausnahmegesetz, das das 1890 im Reichstag abgelehnte „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie", das gemeinhin als Sozialistengesetz bekannt war, ersetzen sollte. Als sich dies wegen des Widerstands des Reichskanzlers und der ablehnenden Haltung der Parteien des Reichstags nicht realisieren ließ, wurde unter Caprivis Nachfolger Fürst 5 Zit. bei Oertzen, Dietrich von, Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte. - Berlin: Vaterländische Verlags- und Kunstanstalt 1910, Band 2, S. 162.

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Hohenlohe noch Ende 1894 eine „Umsturzvorlage" im Reichstag eingebracht. Diese sollte den Staatsbehörden ein umfassendes Instrumentarium von rechtlichen Handhaben verschaffen, um aufgrund des geltenden Rechts gegen alle oppositionellen und potentiell staatsgefährdenden Elemente vorgehen zu können. Die „Umsturzvorlage" löste nach ihrem Bekanntwerden sogleich einen Proteststurm in der Öffentlichkeit aus. Sie hätte es angesichts ihrer reichlich allgemein gehaltenen Straftatbestände den Staatsbehörden ermöglicht, nicht nur die sozialdemokratische Agitation, sondern alle politisch mißliebigen und mit der Regierungsmeinung nicht konformen Richtungen unter Verfolgung zu stellen. Die Konzession an das Zentrum, wonach auch die Verächtlichmachung der Religion und der Kirchen gegebenenfalls zum Straftatbestand erhoben werden könne, machte die Sache nur noch schlimmer. Insbesondere das liberale Bürgertum reagierte mit großer Schärfe gegen die „Umsturzvorlage", unter anderem in einer Flut von öffentlichen Protesterklärungen. Auch die Wissenschaft blieb nicht untätig. Max Weber beteiligte sich aktiv an einer von führenden Nationalökonomen verfaßten Protestresolution, die mit großer Eindringlichkeit gegen die reaktionären Tendenzen der „Umsturzvorlage" Einspruch erhob. 6 Zwar wurde die „Umsturzvorlage" am 11. Mai 1895 vom Reichstag mit überwältigender Mehrheit abgelehnt, aber bei Hofe und bei den preußischen Staatsbehörden wurden weiterhin repressive Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie ins Auge gefaßt. Unter anderem wurde eine Neufassung des preußischen Vereinsgesetzes vorbereitet, die der Polizei wenigstens in Preußen die Möglichkeit geben sollte, gegen mißliebige politische Parteien und Organisationen strafrechtlich vorzugehen. Allerdings blieben diese Pläne weitgehend auf dem Papier, da sich auch Hohenlohe weigerte, einen derart riskanten Konfliktkurs einzuschlagen. Am Ende kam es dann nur zur Vorlage eines Gesetzes, welches im Falle von Streiks den Einsatz von Streikposten unterbinden sollte. Infolge einer scharfmacherischen Rede des Kaisers erhielt diese Vorlage, noch bevor sie überhaupt im Reichstag eingebracht wurde, bereits im vorhinein in der Öffentlichkeit die Bezeichnung „Zuchthausvorlage"; sie war politisch eigentlich schon erledigt, noch bevor sie in den parlamentarischen Verhandlungen ein Begräbnis erster Klasse erfuhr. Die „Zuchthausrede" des Kaisers am 6. September 1898 in Bad Oeynhausen 7 war nur einer der zahlreichen Auswüchse des „persönlichen Regiments" Wilhelms II., das sich nach dem Rücktritt Caprivis im Oktober 1894 unter der eher nominellen Kanzlerschaft des greisen Fürsten Hohenlohe6 Vgl. unten, S. 872ff. 7 Siehe Johann, Ernst (Hg.), Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II. - München: Deutscher Taschenbuchverlag 1966, S. 7 9 - 8 0 .

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Schillingsfürst zunächst ungehemmt entfaltete. Fürst (damals noch Graf) Bülow, der 1897 zum Staatssekretär des Äußeren berufen wurde und dann im Jahre 1900 zum Reichskanzler avancierte, suchte das persönliche Engagement des Kaisers in der Politik zu einem Instrument einer populistischen Herrschaftsstrategie umzufunktionieren, mit der Folge, daß sich dieser in seinen eigenmächtigen Eingriffen in die Tagespolitik eher noch bestärkt fühlte. 8 Max Weber gehörte zu jenen, die schon sehr früh die politischen Eigenwilligkeiten des jungen Kaisers mit großer Sorge betrachtet hatten. 9 In seinen frühen agrarpolitischen Aufsätzen klingt Max Webers Mißbilligung des kaiserlichen Regierungsstils zwar nur am Rande an; immerhin wurde die Veröffentlichung einer uns nicht überlieferten Fassung eines gegen den saarländischen Großindustriellen von Stumm-Halberg gerichteten Artikels von der Kreuzzeitung „wegen .Majestätsbeleidigung'" abgelehnt. 10 Späterhin sollte Max Weber zu einem der schärfsten Kritiker des „persönlichen Regiments" werden. 11 Die zeitgenössische Debatte wurde freilich beherrscht von der Auseinandersetzung über die Handelsverträge Caprivis. Die seit 1885 betriebene Hochschutzzollpolitik hatte sich in den Verhandlungen mit zahlreichen europäischen Ländern über eine Erneuerung der bestehenden Handelsverträge, die in den Jahren 1892 bis 1894 anstand, als ein großes Hindernis erwiesen. Ohne zollpolitische Konzessionen im Bereich der Agrarprodukte waren Vereinbarungen, die dem Export deutscher Industriegüter in die europäischen Nachbarstaaten günstige Bedingungen eröffneten, nicht zu erreichen. Insbesondere Österreich-Ungarn und das zarische Rußland waren gar nicht in der Lage, ohne eine Steigerung ihrer Agrarexporte in das Deutsche Reich größere Mengen von Industrieprodukten und Investitionsgütern abzunehmen. Sie erwarteten daher als Gegenleistung eine fühlbare Absenkung der Schutzzölle für landwirtschaftliche Produkte. Damit war die Frage aufgeworfen, ob das Deutsche Reich hinfort in erster Linie ein exportorientierter Industriestaat sein oder ob es weiterhin an dem bisherigen vergleichsweise hohen Zollschutz für die Landwirtschaft festhalten solle, und dies, obwohl diese schon längst nicht mehr in der Lage war, den Eigenbedarf an Agrarprodukten allein oder auch nur überwiegend zu 8 Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Wilhelm II. and German Politics, in: Journal of Contemporary History, Band 25, 1990, S. 289-316, sowie Röhl, JohnC.G., Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik. - München: C. H. Beck 1987, S. 116ff. 9 Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920. Tübingen: J.C. B. Mohr (Paul Siebeck) 19742, S. 151 ff. 10 Brief an Alfred Weber vom 24. Febr. 1895, Abschrift Marianne Weber (masch.), ZStA Merseburg, Rep.92, Nl. Max Weber, Nr. 30/4, BI.41. 11 Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 151-159.

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decken. Hinter dieser auf den ersten Blick rein wirtschaftspolitischen Frage stand ein weit grundsätzlicheres Problem, nämlich die zukünftige gesellschaftliche Ordnung. Sollte die bisher von den kaiserlichen Regierungen verfolgte Politik fortgesetzt werden, die die Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Landwirtschaft einerseits und Gewerbe und Industrie andererseits als ihr vornehmstes Ziel betrachtet hatte? Sollte die Landwirtschaft im Hinblick auf die übermächtige überseeische Konkurrenz weiterhin auf Kosten des Steuerzahlers, der Lebenshaltung der breiten Massen und nicht zuletzt auch der Industrie vermittels hoher Schutzzölle auf Getreide sowie eines ganzen Bündels von flankierenden Maßnahmen, unter anderem rigider veterinärpolizeilicher Bestimmungen, die den Import von Vieh und Fleischwaren behinderten, vom Staat subventioniert werden? Oder sollte die deutsche Politik der Tatsache Rechnung tragen, daß nur eine leistungsfähige Industriewirtschaft, die ihre Produkte nicht allein im Inland, sondern auf den Weltmärkten abzusetzen vermag, in der Lage sein werde, der deutschen Bevölkerung auf Dauer angemessene Lebensbedingungen zu sichern und der Auswanderung einer großen Zahl von Deutschen nach Übersee ein Ende zu setzen? 12 Der Reichskanzler Caprivi selbst war sich in diesem Punkte seiner Sache sicher. Er setzte konsequent auf eine Politik des exportorientierten Industriestaats, statt die Landwirtschaft und insbesondere die vor allem Getreide produzierenden Großbetriebe im deutschen Osten weiterhin zu begünstigen: „[...] wir müssen exportieren; entweder wir exportieren Waren oder wir exportieren Menschen. Mit dieser steigenden Bevölkerung ohne eine gleichmäßig zunehmende Industrie sind wir nicht in der Lage weiter zu leben." 1 3 Damit zog der Reichskanzler allerdings die erbitterte Gegnerschaft der Agrarier auf sich, und dies nicht allein unter wirtschaftlichen, sondern auch unter gesellschaftspolitischen Aspekten. Denn in der Erhaltung eines starken agrarischen Sektors sahen die konservativen Eliten in Preußen und im Reich ein Unterpfand nicht nur für die Erhaltung der bisherigen politischen Ordnung, sondern auch der physischen Volkskraft der Deutschen. Ein weiteres Vorantreiben der Industrialisierung werde, so wurde argumentiert, noch stärkere Verstädterung, moralische Dekadenz, physische Schäden und womöglich ein noch stärkeres Anwachsen der Sozialdemokratie bringen. Zudem sei keineswegs sicher, ob sich der Außenhandel unbegrenzt werde steigern lassen. Der Nationalökonom Adolph Wagner beispielsweise meinte damals, daß die deutsche Volkswirtschaft nicht einseitig auf den 12 Vgl. dazu Barkin, Kenneth D., The Controversy over German Industrialization 1890-1902. - Chicago: The University of Chicago Press 1970, S. 131 ff. 13 Rede vom 10. Dez. 1891, in: Arndt, Rudolf (Hg.), Die Reden des Grafen von Caprivi im Deutschen Reichstage, Preußischen Landtage und bei besonderen Anlässen 1883-1893.-Berlin: Ernst Hofmann & Co. 1894, S. 177.

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Export setzen dürfe; tendenziell sei vielmehr mit einem Rückgang der Erträge aus dem Außenhandel zu rechnen, und dies werde unter anderem eine Verschlechterung der Lage auch der arbeitenden Klassen zur Folge haben. Daher müsse die Landwirtschaft, entgegen den Ansichten der „radikalen Freihändler, [...] die nichts gelernt und nichts vergessen haben", auf Dauer leistungsfähig erhalten werden. 1 4 Angesichts der steigenden Konkurrenz aus Übersee befand sich vor allem die getreideproduzierende Großgüterwirtschaft, wie sie namentlich in den ostelbischen Provinzen Preußens vorherrschte, schon seit geraumer Zeit in einer bedrängten wirtschaftlichen Situation. Bislang hatte sich der Preisverfall für Agrarprodukte durch umfassende Modernisierungsmaßnahmen weitgehend auffangen lassen. Jedoch verschlechterte sich die Ertragslage der Landwirtschaft auf dem Höhepunkt der internationalen Agrarkrise 1892 bis 1895 schlagartig, und die Gefahr eines Zusammenbruchs der ostelbischen Großgüterwirtschaft war nicht mehr ohne weiteres von der Hand zu weisen. Unter diesen Umständen nahmen die Auseinandersetzungen über die wirtschaftliche Zukunft der Landwirtschaft, insbesondere aber des Großgrundbesitzes, der traditionell die soziale Basis der hegemonialen Stellung der preußisch-deutschen Aristokratie in der deutschen Gesellschaft abgegeben hatte, beträchtlich an Schärfe zu. An und für sich befand sich die Landwirtschaft um 1890 in einer wirtschaftlich durchaus starken Position. Sie hatte im Verlauf der letzten Jahrzehnte ihre Produktivität außerordentlich steigern können, einerseits durch den Übergang zu einer kapitalintensiven Wirtschaftsführung, andererseits durch den Einsatz von neuen Technologien und vor allem von verbesserten Fruchtarten bzw. neuen tierischen Züchtungen. Auch wenn der relative Anteil der Beschäftigten im Sektor Landwirtschaft, Forsten und Fischerei, verglichen mit den Beschäftigten in Bergbau, Industrie und Handwerk, seit 1870 beständig zurückgegangen war, war die Zahl der Beschäftigten in absoluten Zahlen nahezu konstant geblieben. Zwar war der landwirtschaftliche Sektor um 1890 mit seinem Anteil an der Wertschöpfung von dem Sektor Industrie und Handwerk auf den zweiten Platz verwiesen worden. Aber die Landwirtschaft beschäftigte weiterhin einen sehr hohen Anteil aller Arbeitnehmer: 1871 waren 8,5 Millionen Menschen in Landwirtschaft, Forsten und Fischerei tätig gewesen. Die in der Landwirtschaft Beschäftigten nahmen bis zur Jahrhundertwende weiterhin zu; 1896 waren dies 9,7 Millionen. Auch wenn der Anteil der Landwirtschaft an der Wertschöpfung bis 1896 auf 31,7 Prozent zurückging, lag er immer noch nur um weniges hinter jenem von Industrie und Handwerk zurück. Ungeachtet der gewaltigen Fortschritte der

14 Vgl. Wagner, Adolph, Industriestaat und Agrarstaat, in: Die Zukunft, Band8, S.September 1894, S. 4 3 7 - 4 5 1 , bes. S. 439f.

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Industrialisierung war in den 1890er Jahren noch i m m e r mehr als ein Drittel aller abhängig Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig. 1 5 Die bedrängte Lage der ostelbischen Großgüterwirtschaft war keinesw e g s in erster Linie auf die internationale Agrarkrise und den damit v e r b u n d e n e n Preisverfall für agrarische Produkte z u r ü c k z u f ü h r e n . Die Preise für Agrarprodukte waren zu e i n e m i m m e r h i n erheblichen Teil durch die 1887 letztmals heraufgesetzten Zollsätze von 50 Mark je T o n n e für W e i z e n und Roggen s o w i e 2 2 , 5 0 Mark je T o n n e für Gerste und 4 0 Mark je T o n n e für Hafer auf e i n e m erträglichen Niveau gehalten w o r d e n . Weit stärker wirkten sich die starken S c h w a n k u n g e n der Getreidepreise aus; sie e r s c h w e r t e n der Landwirtschaft eine rationale Kalkulation und begünstigten deren weitere V e r s c h u l d u n g . Vor allem aber klagte die Großgüterwirtschaft über einen z u n e h m e n d e n M a n g e l a n Arbeitskräften oder, wie dies in der Sprache der Zeit lautete, über „ L e u t e n o t " . Die A b w a n d e r u n g eines großen Teils der d e u t s c h s t ä m m i g e n Landarbeiter aus den östlichen G e b i e t e n Preußens und M e c k l e n b u r g s führte dort zu a k u t e m Arbeitermangel, der nur zu Teilen durch Rückgriff auf saisonale Arbeitskräfte aufgefangen w e r d e n konnte. Dies beeinträchtigte die Möglichkeiten, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten durch eine Intensivierung der B o d e n b e a r b e i t u n g sowie durch den Übergang zu anderen Agrarprodukten, w i e z. B. Rüben- oder G e m ü s e a n b a u , zu überwinden. Die Beschäftigung von Wanderarbeitern, v o r n e h m l i c h aus Russisch-Polen und Galizien, bot unter den o b w a l t e n d e n B e d i n g u n g e n zusätzlich den Vorteil geringerer Lohn- und L o h n n e b e n k o s t e n . Denn im Unterschied zu den b o d e n s t ä n d i g e n d e u t s c h e n Landarbeitern mußten diese Arbeitskräfte nur w ä h r e n d der Hochsaison entlohnt und untergebracht w e r d e n und waren z u d e m häufig mit niedrigerer Bezahlung und vor allem einer höchst bes c h e i d e n e n Unterbringung zufrieden. Aber gerade g e g e n die Beschäftig u n g polnischer Wanderarbeiter e r h o b e n sich politische B e d e n k e n , die 1887 zu einer Schließung der östlichen G r e n z e n geführt hatten. Hinzu kam freilich ein w e i t e r e s M o m e n t , nämlich die hohe V e r s c h u l d u n g des Großgrundbesitzes. In den v o r a n g e g a n g e n e n Jahrzehnten einer im ganzen d u r c h a u s ertragreichen Agrarwirtschaft waren die Güterpreise e n o r m gestiegen und dies auch deshalb, weil d e m Besitz eines Rittergutes ein hoher gesellschaftlicher Wert z u g e m e s s e n w u r d e . Im Z u s a m m e n h a n g damit erreichte die V e r s c h u l d u n g vieler Güter ein Niveau, das in k e i n e m realen Verhältnis zu ihrem Ertragswert stand. Alle diese Probleme kumulierten auf d e m H ö h e p u n k t der internationalen Agrarkrise. Nur mit Hilfe großzü-

15 Hoffmann, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. - Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1965, S.204f. und 454f.

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giger Hilfe des Staates war, so s c h i e n es, eine Ü b e r w i n d u n g der b e s t e h e n den, die Existenz des G r o ß g r u n d b e s i t z e s b e d r o h e n d e n , Krise erreichbar. Vor allem aber e r s c h i e n es als vordringlich, Mittel und W e g e zu finden, um eine weitere A b w a n d e r u n g der Landarbeiter zu verhindern und auf diese W e i s e die „ L e u t e n o t " der Großlandwirtschaft zu lindern. In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g steht die später zu b e s p r e c h e n d e Enquete des Vereins für Socialpolitik über die Lage der Landarbeiter im D e u t s c h e n Reich. 1 6 Bereits seit 1 8 8 0 war das Deutsche Reich v o n einer großen W a n d e r u n g s b e w e g u n g erfaßt w o r d e n , in der sich die A u s w a n d e r u n g nach Übersee, die A b w a n d e r u n g aus den ländlichen G e b i e t e n in die industriellen Ballungszentren und die N a h w a n d e r u n g v o m Lande in die Städte überlagerten. Vor allem Sachsen, Berlin und sein wirtschaftliches Umfeld, der Hamburger Raum und mehr und mehr auch das Rheinland und Westfalen, mit d e m Ruhrgebiet als einer sprunghaft w a c h s e n d e n industriellen Kernregion, zogen i m m e r größere Zahlen von bisher in der Landwirtschaft Beschäftigten an. Im Unterschied zu früheren Jahrzehnten, in d e n e n v o r n e h m l i c h der S ü d w e s t e n Deutschlands v o n der A u s w a n d e r u n g betroffen war, kam nunmehr die Masse der A b w a n d e r e r aus den nordöstlichen Regionen des D e u t s c h e n Reiches. 1 7 Die östlichen Provinzen Preußens s o w i e Mecklenburg hatten seit 1880 W a n d e r u n g s v e r l u s t e erheblichen A u s m a ß e s erlitten: Bis zur J a h r h u n d e r t w e n d e verloren sie trotz des sich erneut b e s c h l e u n i g e n den B e v ö l k e r u n g s w a c h s t u m s 1,9 Millionen M e n s c h e n . 1 8 Die A b w a n d e r u n g eines erheblichen Teils der ländlichen Unterschichten führte in den preußis c h e n O s t p r o v i n z e n zu einer V e r s c h i e b u n g der ethnischen und konfessionellen Relationen z w i s c h e n der d e u t s c h e n B e v ö l k e r u n g einerseits, der polnischen und masurischen B e v ö l k e r u n g andererseits. W ä h r e n d der Anteil der d e u t s c h e n B e v ö l k e r u n g z w i s c h e n 1880 und 1900 nahezu stagnierte und zeitweilig sogar absolut zurückging, nahm der Anteil der Polen, die nicht im gleichen Maße von der A b w a n d e r u n g s w e l l e nach W e s t e n erfaßt w u r d e n , kräftig z u . 1 9 Dies ließ im D e u t s c h e n Reich die Sorge vor einer „Polonisierung des d e u t s c h e n O s t e n s " w a c h w e r d e n . In vorderster Linie stand dabei die Nationalliberale Partei, die sich z u m v e r n e h m l i c h s t e n Sprecher dieser Befürcht u n g e n machte und M a ß n a h m e n g e g e n ein weiteres Vordringen des Polent u m s in den d e u t s c h e n O s t p r o v i n z e n forderte. Den A n f a n g bildete im Januar 16 Vgl. unten, S. 16-24, und MWG I/3, S. 20f. 17 Bade, Klaus J., Massenwanderung und Arbeitsmarkt im deutschen Nordosten von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte, Band 20,1980, S. 273. 18 Bade, KlausJ., Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880-1980.-Berlin: Colloquium-Verlag 1983, S.23ff. 19 Vgl. Broszat, Martin, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. - Frankfurt am Main: Suhrkamp1972, S. 142-145.

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1884 ein Aufsatz des Philosophen Eduard von Hartmann in der Wochenschrift „Die Gegenwart". Wenn man es schon nicht verhindern könne, so hieß es hier, daß „die deutsche Art" außerhalb der Grenzen des Reiches „ausgerottet" werde, dann müsse wenigstens im eigenen Hause die unbedingte Herrschaft des Deutschtums sichergestellt werden, „wenn nicht der Einfluß des Deutschtums in der Geschichte der Naturvölker beträchtlich sinken soll" , 2 0 Das wurde sogleich von der Presse aufgegriffen. Es bestehe, so schrieb das Leipziger Tageblatt, die Gefahr, daß der polnische Einwanderungsstrom in die östlichen Provinzen Preußens immer größere Dimensionen annehmen könnte. Es sei ein Gebot der nationalen Selbsterhaltung, dieser bedrohlichen Entwicklung einen Riegel vorzuschieben. 21 Das Postulat des ethnisch homogenen Nationalstaats verband sich hier mit einem ausgeprägten Kulturnationalismus. Dies stieß in den bürgerlichen Schichten, namentlich aber der Bildungsschicht, weithin auf Zustimmung. Auch von Seiten der preußischen Staatsbehörden wurde die Einwanderung aus Russisch-Polen seit längerem mit Besorgnis beobachtet. Anfänglich waren dabei allerdings eher antisemitische Tendenzen vorherrschend gewesen. Bereits 1881 war es, unter dem Einfluß der damals aufflammenden antisemitischen Agitation, die sich insbesondere gegen die aus Polen eingewanderten Juden richtete, zu einzelnen Ausweisungen von Polen aus Berlin und den östlichen Provinzen Preußens gekommen. 1885 verfügte dann der preußische Innenminister von Puttkamer auf Anweisung Bismarcks die Ausweisung einer großen Zahl von sog. polnischen „Überläufern", d. h. von Bürgern polnischer Nationalität, die keine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen konnten. Dabei wurden vielfach auch polnische Arbeiter und Gewerbetreibende, ja in einzelnen Fällen auch Ärzte und Angehörige anderer gehobener Berufe binnen weniger Tage über die Grenzen abgeschoben, obschon sie vielfach bereits seit langen Jahren in Preußen gelebt und gearbeitet hatten. Bis 1887 wurden von insgesamt 42000 nichteingebürgerten Polen zirka 33000 ausgewiesen. Zur Ergänzung dieser Maßnahme wurde, sehr zum Mißvergnügen der Großgrundbesitzer, eine Grenzsperrung für polnische Wanderarbeiter, die sog. „Sachsengänger", verfügt, die bisher den Sommer über als Saisonarbeiter auf den großen Gütern beschäftigt worden waren. Diese Massenausweisungen riefen einen Proteststurm in der internationalen Öffentlichkeit hervor und wurden auch im Reichstag scharf mißbilligt. Außerdem erwies es sich als schwierig, die

20 Zit. bei Neubach, Helmut, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preußen 1885/ 86. Ein Beitrag zu Bismarcks Polenpolitik und zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses.-Wiesbaden: Harrassowitz 1967, S . 2 3 - 2 5 . 21 Vgl. Neubach, Ausweisungen, S. 25ff.; Mai, Joachim, Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885-1887.-Berlin: Rütten &Loening 1962, S. 76ff.

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Bereitschaft der zarischen und der österreichisch-ungarischen Regierung zur Aufnahme der Ausgewiesenen zu erwirken. 22 Unter diesen Umständen entstand der Plan einer deutschen Ostkolonisation. Insbesondere seitens der Nationalliberalen wurde die Forderung erhoben, daß die repressiven Maßnahmen der Staatsbehörden gegenüber den Polen in den deutschen Ostprovinzen, die elementare Grundsätze der Rechtsgleichheit verletzten und über deren Wirksamkeit überdies begründete Zweifel bestanden, durch ein großangelegtes Programm der „inneren Kolonisation" in der Tradition Friedrichs des Großen ergänzt und ins Positive gewendet werden müßten. Johannes von Miquel, damals Oberbürgermeister von Frankfurt und als solcher Mitglied des preußischen Herrenhauses, einer der Führer der Nationalliberalen Partei, machte sich zum Vorkämpfer eines Programms der Ansiedlung deutscher Bauern in den östlichen Gebieten Preußens mit staatlicher Hilfe, um auf diese Weise den deutschen Volksteil in Posen und in Westpreußen wieder zu stärken und zugleich der Abwanderung der deutschen Landarbeiterschaft entgegenzuwirken. Durch die Förderung des mittleren und kleineren bäuerlichen Besitzes sollte zugleich das gefährdete Gleichgewicht von Industrie und Landwirtschaft, worin eine wesentliche Voraussetzung für die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung des Kaiserreichs gesehen wurde, erhalten werden. Eine staatliche Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen sollte, mit aus öffentlichen Kassen bereitgestellten Mitteln, Grund und Boden aus polnischem und gegebenenfalls auch deutschem Besitz aufkaufen, parzellieren und die einzelnen Parzellen dann an deutsche Bauern und Landarbeiter vergeben, gegen eine feste, jährlich an den preußischen Staat zu zahlende Rente, allerdings mit der Maßgabe, daß daraus nach Ablauf einiger Jahre freies, wenn auch rechtlich gebundenes Eigentum entstehen sollte. Dahinter stand die große Vision der Schaffung geschlossener deutscher Bauerndörfer in den Grenzregionen mit polnischer Mehrheit. 23 Das schließliche Ergebnis dieser Bestrebungen war das Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886, aufgrund dessen eine preußische Ansiedlungskommission ins Leben gerufen wurde, die mit Hilfe erheblicher staatlicher Gelder - zunächst wurden 100 Millionen Mark zur Verfügung gestellt - den Aufkauf von polnischen Gütern und die Ansiedlung von deutschen Bauern im Osten in systematischerweise betreiben sollte. 2 4 Zum Vorsitzenden der 22 Ebd. 23 Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850 bis 1890. Berlin: Propyläen Verlag 1993, S. 594ff. 24 Vgl. dazu Waldhecker, Paul, Ansiedelungskommission und Generalkommission. Ein Beitrag zur inneren Kolonisation des Ostens, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 21. Jg., 1897, S. 201 - 2 2 7 .

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Ansiedlungskommission wurde der Oberpräsident der Provinz Posen, Robert Graf Zedlitz-Trützschler, berufen. Miquel räumte anläßlich der Annahme des Ansiedlungsgesetzes ein, daß es sich dabei um die Fortsetzung der gewaltsamen Germanisierung des Ostens, wenn auch mit anderen, „friedlichen Mitteln" handele, zumal der Kampf zwischen der polnischen Bevölkerung und dem Deutschtum „ - ich will nicht sagen der Rasse, aber der Nationalität" auch heute noch andauere. 25 Die Auseinandersetzung zwischen den Deutschen und den Polen im deutschen Osten erreichte damit eine neue Stufe; der preußische Staat griff nunmehr zu offen diskriminierenden Maßnahmen gegen die polnische Bevölkerung und konnte sich dafür der Zustimmung der bürgerlichen Öffentlichkeit sicher sein. Max Weber hatte bereits während seines Militärdienstes im Sommer 1888 Gelegenheit gehabt, sich einen persönlichen Eindruck von der Tätigkeit der preußischen Ansiedlungskommission in Posen zu verschaffen; er wurde während seines Wehrdienstes in Posen von dem dortigen Landrat Nollau eingeladen, eine Reihe von Rittergütern zu besichtigen, die von der Ansiedlungskommission mit dem Ziel der Ansiedelung von deutschen Bauern angekauft worden waren. 26 Soweit wir sehen, identifizierte ersieh schon damals uneingeschränkt mit dem politisch vor allem von der Nationalliberalen Partei getragenen Programm der „inneren Kolonisation" und der dahinterstehenden Idee des homogenen Nationalstaats. Es erwies sich freilich bald, daß die Politik der „inneren Kolonisation" im Osten keineswegs die erhofften Ergebnisse brachte. Zwar gelang anfangs der Ankauf einer größeren Zahl von maroden Gütern aus polnischem Besitz. Aber der Erwerb polnischen Grundbesitzes erwies sich in der Folge als zunehmend schwieriger, da sich die Polen ihrerseits zur Abwehr dieser Maßnahmen zusammenschlössen und eine eigene Landbank gründeten, die den Übergang polnischer Ländereien in deutsche Hände zu verhindern bestrebt war. Infolgedessen sah sich die Ansiedlungskommission in steigendem Umfang genötigt, statt dessen Grundbesitz von deutschen Eigentümern anzukaufen, obschon dadurch das ursprüngliche Ziel, die polnischen Grundbesitzer zurückzudrängen, nicht erreicht wurde. Außerdem hatte dies den unerwünschten Nebeneffekt, daß dadurch die ohnehin über-

25 Miquel, Johannes von, Reden, hg. von Walther Schultze und Friedrich Thimme.- Halle a.S.: Buchhandlung des Waisenhauses 1913, Band 3, S. 165. 26 Vgl. Brief an Helene Weber vom 23. Aug. 1888, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 3, Bl. 1 3 7 - 1 3 8 . Vgl. auch die Einleitung zu: Weber, Max, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. 1891, hg. von Jürgen Deininger (MWG I/2). - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1986, S. 12. Eine erneute Besichtigung der Ansiedlungsgüter in Posen fand dann vermutlich am 21. April 1894 statt. Vgl. Brief an Helene Weber vom 15. April 1894, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 3, B l . 1 6 9 - 1 7 0 .

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höhten Güterpreise im Osten noch stärker in die Höhe getrieben wurden. Dies entsprach nicht der ursprünglichen Zielsetzung der Ansiedlungsgesetzgebung. Ebenso erwies es sich als durchaus nicht einfach, geeignete ansiedlungswillige Bauern zu finden. Das Anwachsen antipolnischer Stimmungen in der deutschen Öffentlichkeit konnte durch die Ansiedlungspolitik nicht wirksam abgefangen werden; noch weniger konnten dadurch die Ursachen der Abwanderung der deutschen Landarbeiterschaft nach Westen beseitigt werden. Der Großgrundbesitz aber drängte die preußischen Staatsbehörden, angesichts der wachsenden „Leutenot", welche die Großgüterwirtschaft vor große wirtschaftliche Probleme stelle, die Beschäftigung von polnischen Wanderarbeitern wieder zuzulassen. 27 Die nationalpolitischen und die wirtschaftlichen Interessen gerieten hier in scharfen Konflikt miteinander; die Staatsbehörden sahen sich vor schwierige Entscheidungen gestellt, zumal sie unter massivem Druck der großagrarischen Kreise standen, deren Interessen man nicht ohne weiteres vernachlässigen zu können glaubte. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Bismarck entschloß sich Caprivi, nach anfänglichem Zögern das Einwanderungsverbot für sog. „Sachsengänger" wieder zu lockern, zumal umfängliche behördliche Erhebungen ergeben hatten, daß das Verbot vielfach umgangen wurde. Im Dezember 1890 wurde die Grenze für ledige polnische Wanderarbeiter ungeachtet fortbestehender „nationaler" Bedenken zunächst für drei Jahre wieder geöffnet, wenn auch mit allerlei administrativen Restriktionen, die eine Seßhaftmachung der Landarbeiter verhindern sollten. Außerdem suchte Caprivi durch die Rentengutsgesetzgebung von 1890/91, die sich nicht in gleicher Weise wie die Maßnahmen der Ansiedlungskommission gegen den polnischen Volksteil richtete, zusätzliche Anreize zu schaffen, um einen Teil der bäuerlichen Bevölkerung an das flache Land zu binden und damit indirekt auch dem Arbeitskräftemangel auf den großen Gütern zu begegnen. Da auch polnische Bürger in den Genuß der Vorteile des Rentengutsgesetzes kommen konnten und diese auch in Anspruch nahmen, erschien diese Politik unter nationalpolitischen Gesichtspunkten jedoch als bedenklich. Demgemäß hielt die Polemik in der Öffentlichkeit gegen die Zuwanderung von Polen und Ruthenen aus Kongreßpolen und Galizien weiterhin an. Die Furcht vor einer fortschreitenden „Polonisierung des deutschen Ostens" wurde von den radikalen Agitationsverbänden, wie dem Allgemeinen Deutschen (wenig später Alldeutschen) Verband und dem 1894 eigens zu diesem Zwecke gegründeten „Verein zur Förde27 Vgl. Nichtweiss, Johannes, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-deutschen Politik von 1890 bis 1914. - Berlin: Rütten & Loening 1959, S. 36f.; ferner Baier, Roland, Der deutsche Osten als soziale Frage. - Köln: Böhlau 1980, S. 17f.

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rung des D e u t s c h t h u m s in den d e u t s c h e n O s t m a r k e n " , d e m sog. „Hakatis t e n v e r e i n " , nach Kräften geschürt. A u c h die Proteste g e g e n die W i e d e r z u lassung polnischer Landarbeiter, wie sie v o n den G r o ß g r u n d b e s i t z e r n im Z u g e des Ü b e r g a n g s zu einer intensiveren Bodenbewirtschaftung und einer V e r m e h r u n g des arbeitsintensiven, aber ertragreichen Z u c k e r r ü b e n anbaus für unabweisbar gehalten w u r d e , v e r s t u m m t e n nicht. Unter solchen U m s t ä n d e n g e w a n n die Landarbeiterfrage erhebliche politische S p r e n g kraft. Mitte der 1890er Jahre w u r d e der anfänglich auch v o n d e m Nachfolger Caprivis im A m t des Reichskanzlers, d e m Fürsten H o h e n l o h e - S c h i l l i n g s fürst, angestrebte Kurs einer konservativ-liberalen Diagonale immer stärker in ein reaktionäres Fahrwasser abgelenkt. Die Reichsleitung und die preußische Staatsregierung s u c h t e n nach Mitteln und W e g e n , um den Agrariern für die in der Ära Caprivi angeblich erlittenen Unbilden einen Ausgleich zu verschaffen. Dazu gehörte i n s b e s o n d e r e die Verabschiedung eines Börsengesetzes, w e l c h e s den b ö r s e n m ä ß i g e n Getreideterminhandel verbot. Auf diese W e i s e sollte die Preisbildung auf d e m d e u t s c h e n Binnenmarkt von der Entwicklung auf den Weltmärkten, w o der Terminhandel mit Agrarprodukten längst zu einer geläufigen Sache g e w o r d e n war, abgekoppelt und damit die A u s w i r k u n g e n der ü b e r s e e i s c h e n K o n k u r r e n z auf d e n landwirtschaftlichen Sektor a b g e s c h w ä c h t w e r d e n ; man erhoffte sich davon eine Stützung der Getreidepreise im Binnenmarkt. Dabei stand der Gesichtspunkt im Hintergrund, daß die Börsenspekulation in agrarischen Kreisen für die starken S c h w a n k u n g e n der Getreidepreise verantwortlich gemacht w u r d e . Max Weber gehörte zu jenen, die damals leidenschaftlich g e g e n das B ö r s e n g e s e t z protestierten. Dieses sei mit den nationalen Intere s s e n des D e u t s c h e n Reiches keinesfalls vereinbar, da es zu einer Verlagerung der Börsengeschäfte ins Ausland führen und im übrigen die beabsichtigten Effekte nicht haben w e r d e . Das „wirkliche Z i e l " sei die „ V e r s c h i e bung der ö k o n o m i s c h e n und damit der politischen Machtlage im Innern zu g u n s t e n des ländlichen Grundbesitzes, i n s b e s o n d e r e des Großgrundbesitzes, durch Herabdrückung der B e d e u t u n g der d e u t s c h e n Börsen." Dies aber sei „ n u r auf Kosten der ö k o n o m i s c h e n Machtstellung Deutschlands" zu erreichen. 2 8 Im Rückblick urteilte Max W e b e r ü b e r d a s B ö r s e n g e s e t z : Mit d e m „ g e s e t z l i c h e n Totschlag" des Terminhandels w e r d e „die d e u t s c h e Preisbildung nicht d e m Einfluß der Spekulation entzogen, s o n d e r n wesentlich nur an die Stelle des deutschen, durch die d e u t s c h e G e s e t z g e b u n g zu beeinflussenden [Börsen-]Platzes Berlin" der Börsenplatz N e w York ge-

28 Weber, Max, Börsenwesen. (Die Vorschläge der Börsenenquetekommission), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 1. Supplementband. - Jena: Gustav Fischer 18951, S. 252 (MWG I/5).

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setzt „und dessen Übermacht den deutschen Effektenplätzen gegenüber [...] gesteigert." 2 9 Auch sonst suchten die Reichsleitung und die preußische Staatsregierung nach Mitteln und Wegen, um der notleidenden großagrarischen Wirtschaft zu helfen. Dazu gehörten Überlegungen, wie der Überschuldung der Landwirtschaft abzuhelfen sei bzw. ob und auf welche Weise es möglich sei, eine Verschuldungsgrenze für landwirtschaftlichen Besitz einzuführen, um eine Stabilisierung des Großgrundbesitzes zu bewirken. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Johannes von Miquel, der 1890 zum preußischen Finanzminister aufgestiegen war und sich im Zeichen der „Sammlung der staatstragenden Kräfte" gegen die Sozialdemokratie und die Parteien der Linken die Wiederherstellung des Bündnisses von Großindustrie und Landwirtschaft zum Ziele gesetzt hatte. Ebenso wurde sogleich mit Vorbereitungen für eine Revision der Handelsverträge nach deren zu erwartendem Ablauf begonnen, mit dem Ziel, eine erneute Anhebung der Agrarzölle zu erreichen. Zu diesem Zwecke wurde am 15. August 1897 ein „Wirtschaftlicher Ausschuß" berufen, dem unter dem Vorsitz des Grafen Posadowsky die Aufgabe obliegen sollte, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Industrie und der Landwirtschaft zu finden. Der „Wirtschaftliche Ausschuß" war von vornherein einseitig zugunsten der Agrarier zusammengesetzt; von seinen 30 Mitgliedern waren allein 10 Großgrundbesitzer, gegenüber 5 Industriellen, vornehmlich aus dem Lager der Schwerindustrie, und 11 Vertretern der Handelskammern. Er war gedacht als eine Plattform von Industrie und Agrariern, die als Instrument einer neuen, in ihrer politischen Zielsetzung verengten „Politik der Sammlung" dienen sollte. 1901/02 wurden die Handelsverträge dann im Sinne der Interessen der Großlandwirtschaft modifiziert und die Zollsätze für Getreide wieder erheblich heraufgesetzt, wenn auch nicht mehr ganz auf das Niveau, das sie in der späten Bismarckzeit gehabt hatten. Schließlich fällt in den Zeitraum von 1890 bis 1899 auch die Anlaufphase der deutschen „Weltpolitik". Zuvor war Kolonialpolitik eigentlich nur die Sache einer vergleichsweise schmalen Gruppe von unmittelbar Interessierten gewesen, obschon der „Deutsche Kolonialverein" sich der Mitwirkung zahlreicher einflußreicher Persönlichkeiten der deutschen Gesellschaft hatte versichern können. Der Allgemeine Deutsche Verband machte sich die Propagierung eines kraftvollen deutschen Imperialismus zu seiner wichtigsten Aufgabe. Aber wirklich populär wurde der Gedanke eines deutschen Imperialismus erst Mitte der 1890er Jahre. Im Dezember 1897 beanspruchte Fürst Bülow in einer großen Rede im Reichstag aus Anlaß 29 Brief an den badischen Finanzminister Adolf Buchenberger vom 26. Juli 1899, GLA Karlsruhe, Nl. Buchenberger, Nr. 44.

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der A n n e x i o n Kiautschous für das D e u t s c h e Reich einigermaßen theatralisch „ a u c h einen Platz an der S o n n e " . Bereits zuvor hatte Tirpitz die ersten Schritte für den Bau einer großen d e u t s c h e n Schlachtflotte eingeleitet, die Großbritannien dazu z w i n g e n sollte, d e m D e u t s c h e n Reich in der europäischen Politik, v o r n e h m l i c h aber in den Fragen der ü b e r s e e i s c h e n Expansion, m e h r E n t g e g e n k o m m e n als bisher zu zeigen. Beide, Bülows lautstark betriebene „Weltpolitik" und Tirpitz' langfristig angelegte Flottenbaupolitik, sollten in der Folge die R a h m e n b e d i n g u n g e n der d e u t s c h e n Außenpolitik g r u n d l e g e n d verändern; damals freilich war dies noch nicht abzusehen.

2. Max Weber und die Enqueten des Vereins für Socialpolitik und des Evangelisch-sozialen Kongresses zur Lage der Landarbeiter Die A b w a n d e r u n g eines erheblichen Teils der unterbäuerlichen S c h i c h t e n v o r n e h m l i c h des d e u t s c h e n N o r d o s t e n s in die rasch w a c h s e n d e n industriellen Z e n t r e n hatte, wie bereits dargelegt w u r d e , nicht nur zu z u n e h m e n d e m Arbeitskräftemangel in der ostelbischen Großgüterwirtschaft geführt, s o n d e r n auch zu einer V e r s c h i e b u n g der ethnischen Z u s a m m e n s e t z u n g der B e v ö l k e r u n g z u g u n s t e n des polnischen Volksteils. Darüber hinaus w u r de dadurch das gesellschaftliche G l e i c h g e w i c h t z w i s c h e n den ländlichagrarischen und den städtisch-industriellen Regionen im D e u t s c h e n Reiche gestört, mit u n ü b e r s e h b a r e n A u s w i r k u n g e n auf die politischen und gesellschaftlichen Strukturen. Schließlich zeichnete sich ab, daß, sofern diese Entwicklung weiter anhalten sollte, die Sozialdemokratie i m m e r m e h r A n hänger g e w i n n e n w ü r d e . Überdies war nicht auszuschließen, daß die Sozialdemokratie früher oder später auch bei der Landarbeiterschaft stärkeren Anklang finden und damit den Klassenkampf auch in die bislang friedlichen S o z i a l b e z i e h u n g e n auf d e m flachen Lande hineintragen w ü r d e . Die Sozialdemokratie selbst hatte auf ihrem Parteitag zu Halle v o m 12. bis 18. Oktober 1890 demonstrativ eine Resolution gefaßt, die eine Verstärkung der sozialdemokratischen Agitation auf d e m Lande v o r s a h . 3 0 Es gab also für den Verein für Socialpolitik einigen Anlaß, sich mit der Landarbeiterfrage zu befassen. Es war H u g o Thiel, der als Generalsekretär d e s Preußischen L a n d e s - Ö k o n o m i e k o l l e g i u m s und als G e h e i m e r O b e r r e gierungsrat im preußischen Landwirtschaftsministerium mit diesen Fragen 30 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Halle a. S. vom 12. bis 18. Oktober 1890. - Berlin: Verlag der Expedition des „Berliner Volksblatt" 1890, S.39f.

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aus erster Hand vertraut war, welcher den Anstoß zur Durchführung einer umfassenden empirischen Erhebung gab, die die Verhältnisse der Landarbeiterschaft in allen Teilen des Reiches untersuchen und gegebenenfalls Lösungsvorschläge für die bestehenden drängenden Probleme erarbeiten sollte. 31 Der Ausschuß des Vereins für Socialpolitik griff diesen Vorschlag auf und beschloß in seiner Sitzung vom 26. September 1890, die Lage der Landarbeiter zum Gegenstand einer großangelegten sozialpolitischen Erhebung zu machen, die die ländlichen Arbeitgeber über die Lage der Landarbeiterschaft innerhalb ihres Tätigkeitsbereichs befragen sollte. 32 Ursprünglich stand dahinter eher ein sozialkonservatives Motiv. Die Frage war, wie unter den gegebenen Verhältnissen ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem landwirtschaftlichen und dem industriellen Sektor der deutschen Volkswirtschaft aufrechterhalten und die „Landflucht" der unterbäuerlichen Schichten abgebremst werden könne. Denn die Führungsgruppe des Vereins für Socialpolitik, namentlich Gustav Schmoller, war gegenüber dem Großgrundbesitz eher positiv eingestellt. Die Erhaltung des Großgrundbesitzes im Osten wurde als unabdingbar angesehen, denn dieser bildete die ökonomische Grundlage der Vorrangstellung der preußisch-deutschen Aristokratie in der deutschen Gesellschaft. Auch aus anderen Gründen empfahl sich eine Erhaltung der bestehenden Agrarverhältnisse. Denn ein überdimensionales Wachstum der städtischen Metropolen wurde keinesfalls als wünschenswert angesehen; Gustav Schmoller beispielsweise erblickte in der sprunghaften Verstädterung der deutschen Bevölkerung sogar eine „Kulturgefahr" 33 Max Weber wurde mit der Auswertung der Ergebnisse der Enquete für die ostelbischen Gebiete Deutschlands betraut, jener Teilregion, die unter politischen Gesichtspunkten bei weitem am bedeutsamsten war. Seine agrarhistorischen Studien bei August Meitzen, die sich unter anderem mit dem antiken Latifundienwesen beschäftigt hatten, konnten als eine, wenn auch nur indirekte Qualifikation für diese Aufgabe angesehen werden. Im übrigen war er, wie bereits berichtet wurde, mit der Tätigkeit der preußischen Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen bestens vertraut. Max Weber gab der Auswertung der Enqueteergebnisse von vornherein einen politischen Akzent, der mit Sicherheit von den Initiatoren der Enquete nicht beabsichtigt war. Er arbeitete in aller Deutlichkeit heraus, daß die Abwanderung der deutschen Landarbeiter in erster Linie eine Folge des Zusammen31 Vgl. Riesebrodt, Martin, Einleitung zu MWG I/3, S. 20f. 32 Vgl. Boese, Franz, Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872-1932 (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Band 163). - Berlin: Duncker & Humblot 1939, S.66. 33 Schmoller, Gustav, Über Wesen und Verfassung großer Untersuchungen, in: ders., Zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart. Reden und Aufsätze. - Leipzig: Duncker & Humblot 1890, S.397.

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bruchs der älteren patriarchalischen Sozialordnung war, wie er sich im Zuge des Vordringens kapitalistischer Formen der Wirtschaftsführung unvermeidlich ergab. Vor allem aber wies er darauf hin, daß überwältigende ökonomische Zwänge darauf hinwirkten, daß die ehemals seßhaften und das ganze Jahr über beschäftigten deutschen Landarbeiter zunehmend durch polnische und ruthenische Saisonarbeiter ersetzt würden. Es seien gerade die bescheideneren Lebensansprüche und das niedrigere Kulturniveau der polnischen Landarbeiter, welches ihre Überlegenheit gegenüber der deutschen Landarbeiterschaft begründe. In seiner ausführlichen Präsentation der Ergebnisse der Enquete „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland", die noch im Jahre 1892 in den Schriften des Vereins für Socialpolitik erschienen war, hatte Max Weber davon Abstand genommen, die eminent politischen Schlußfolgerungen, die sich aus seiner Analyse ergaben, in voller Schärfe herauszustellen. Im Gegenteil, er hatte sich in dieser Hinsicht große Zurückhaltung auferlegt: „Auf die Frage: was nun weiter geschehen wird und gar: was geschehen soll", sei „an dieser Stelle eine Antwort nicht [zu] erwarten." 3 4 Nur höchst vorsichtig hatte er angedeutet, daß mit dem Zusammenbruch des patriarchalischen Systems in den ostelbischen Gebieten Deutschlands auch die historische Machtstellung des ostelbischen Großgrundbesitzes sich ihrem Ende zuneige. Er hatte diese Bemerkung sogar mit einer Ehrenerklärung für die „vielgeschmähten Junker" und deren historische Verdienste verbunden. 35 Max Webers Auswertung des ostelbischen Teils der Enquete löste gleichwohl heftige Kontroversen sowohl seitens der Wissenschaft wie in der Öffentlichkeit aus. Im Zuge dieser Debatten trat Max Weber immer mehr aus der Reserve heraus, wobei die Irritation über einen Artikel der Kreuzzeitung, die seine diesbezüglichen Äußerungen für die Sache der Konservativen in Anspruch genommen hatte, eine gewisse Rolle gespielt haben mag. 36 Er setzte hinfort alles daran, seinen Kritikern sowohl in der Wissenschaft wie in der Öffentlichkeit Paroli zu bieten. Bereits im Januar 1893 veröffentlichte Max Weber die erste Folge einer sechsteiligen Artikelserie über die Ergebnisse der Enquete in der Zeitschrift „Das Land". 3 7 Weber behandelte hier eingehend die ländliche Arbeitsverfassung und ihre unterschiedlichen regionalen Ausprägungen im Deutschen Reich. Besonderes Gewicht legte er dabei auf die ostelbischen Gebiete. Er betonte hier schärfer, als er dies in der Auswertung der Enquete

34 MWG I/3, S. 918f.; vgl. auch Mommsen, Max Weber2, S.26f. 35 MWG I/3, S. 922f. 36 Vgl. unten, S.465. 37 „Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter", unten, S. 120-153.

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selbst getan hatte, daß die dort vorherrschende patriarchalische Arbeitsverfassung, die auf der Interessengemeinschaft von Gutsherr und Instleuten beruhte, unwiderruflich im Zerfall begriffen sei. Dies aber bedeute, daß die Tage des Großgrundbesitzes, so wie es ihn in der Vergangenheit gegeben habe, unwiederbringlich vorüber seien. Angesichts der nahezu einhelligen Anerkennung, die „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland" bei den Fachleuten im Verein für Socialpolitik, nicht zuletzt bei Hugo Thiel, gefunden hatte, der - wie bereits erwähnt - die Enquete ursprünglich ins Werk gesetzt hatte, wurde Max Weber die große Ehre zuteil, auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik in Berlin am 20. und 21. März 1893 das Hauptreferat über die Ergebnisse der Enquete zu halten. Nach anfänglichem Zögern nahm Max Weber, obschon er fürchtete, daß sich Karl Kaerger zurückgesetzt fühlen könnte, das ihm von Gustav Schmoller angetragene Angebot an. 38 Die Generalversammlung gab ihm Gelegenheit, seine Thesen einem breiten Publikum von Fachleuten vorzustellen. 39 Wiederum konzentrierte er sich auf die verschiedenen Typen der ländlichen Arbeitsverfassung in Deutschland, den Zerfall der patriarchalischen Strukturen im Osten, und, als Folge davon, die Abwanderung der deutschen Landarbeiter und deren fortschreitende Ersetzung durch polnische Wanderarbeiter. Er zögerte nunmehr nicht länger, die politischen Schlußfolgerungen klar herauszuarbeiten. Erwählte als Leitmotiv seiner Darlegungen das Staatsinteresse an der Erhaltung der deutschen Nationalität im Osten und ließ nunmehr keinen Zweifel mehr daran, daß aus seiner Sicht der unveränderte Fortbestand des Großgrundbesitzes im Osten Deutschlands nicht länger mit den Interessen der Nation vereinbar sei. Im übrigen erörterte er eingehend die praktischen Möglichkeiten, die es gebe, um ein weiteres Abwandern der deutschen Landarbeiter zu verhindern. Neben einer großzügigen staatlichen Siedlungspolitik in Fortführung der „inneren Kolonisation", durch welche die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts verschwundenen Bauerndörfer wieder geschaffen werden müßten, sah er die besten Chancen darin, eine neue Schicht von Landarbeitern zu schaffen, die durch ein Pachtverhältnis in Verbindung mit einem Arbeitsvertrag an das Land gebunden würden. Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten stünden die Chancen für die ostelbische Großgüterwirtschaft nicht gut; er hielt es daher für unabweisbar, statt dessen

38 Vgl. Brief an Gustav Schmoller, undat. [vor dem 31. Mai 1892], ZStA Merseburg, Verein für Socialpolitik, Rep. 196, Nr.67, Bl. 170-171. Möglicherweise war für diese Entscheidung auch bedeutsam, daß Gustav Schmoller im Frühjahr 1892 einen Vortrag Max Webers in der „Staatswissenschaftlichen Vereinigung" über die Agrarverfassung in Deutschland gehört hatte. Der Text dieses Vortrags ist uns allerdings nicht überliefert. Siehe unten, S.908f. 39 Siehe unten, S. 157-207.

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schrittweise zum vergleichsweise selbstgenügsamen Kleinbetrieb überzugehen, gerade deshalb, weil dieser nicht darauf angewiesen sei, für den Markt zu produzieren. In den folgenden Jahren hat Max Weber diese provozierenden Thesen dann weiter entfaltet und zugleich die Gelegenheit wahrgenommen, sie einem breiteren Publikum zur Kenntnis zu bringen. Er veröffentlichte 1894 im Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, einer Zeitschrift, die von dem Sozialdemokraten Heinrich Braun herausgegeben wurde, eine umfängliche Abhandlung über „Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter" und setzte sich hier eingehend mit der fachwissenschaftlichen Detailkritik an seinen Untersuchungen auseinander. Gleichzeitig publizierte er diese Abhandlung in einer gestrafften, für das allgemeine Publikum bestimmten Fassung in den Preußischen Jahrbüchern, die von Hans Delbrück herausgegeben wurden und unter anderem auch unter der hohen Beamtenschaft eine breite Leserschaft hatten. Diese letztere Fassung ging näher auf die politischen Fragestellungen ein und akzentuierte die aktuellen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Zukunft des ostelbischen Großgrundbesitzes. 40 Bereits zuvor war es Max Weber gelungen, dank seiner guten persönlichen Beziehungen zu dem Generalsekretär des Evangelisch-sozialen Kongresses, Paul Göhre, den Kongreß dafür zu gewinnen, seinerseits ebenfalls eine Enquete über die Lage der Landarbeiter durchzuführen, die sich nicht an die Arbeitgeber, sondern an die ländlichen Gemeindepfarrer richten sollte. Weber erwartete davon unparteiischere Ergebnisse als von einer ausschließlichen Befragung der Arbeitgeber; er wollte damit zugleich der von sozialdemokratischer Seite vorgetragenen Kritik an der Einseitigkeit der Enquete des Vereins für Socialpolitik entgegentreten. 41 Über die wirtschaftlichen Faktoren, die zum Zerfall der patriarchalischen Arbeitsverfassung im Osten beigetragen hatten, bestand aus seiner Sicht weitgehend Klarheit: Dazu gehörten insbesondere die Einführung einer intensiveren Bodenkultur anstelle des Getreidebaus, das Vordringen der Hackfruchtkultur, beides verbunden mit einem gesteigerten Bedarf an saisonalen Arbeitskräften, und die Einführung der Dreschmaschine. 42 Gänzlich unerforscht dagegen erschienen Weber die psychologischen Auswirkungen dieses Transforma40 Siehe unten, S. 3 6 2 - 4 6 2 . 41 In dieser Hinsicht erwies sich Max Webers Erwartung als zutreffend. Die sozialdemokratische Presse reagierte durchaus positiv auf die Enquete. Besonders die Aufforderung an die Geistlichen, Auskünfte, die nicht von den Arbeitern selbst stammten, besonders kenntlich zu machen, wurde „als methodologische Klarheit" anerkennend vermerkt. Vgl. Sozialpolitisches Centraiblatt, Nr. 23 vom 6. März 1893, S.273f. 42 Vgl. bes. den Schlußartikel der Landarbeiterenquete: Weber, Landarbeiter (MWG I/3), S. 8 9 5 - 9 0 3 .

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t i o n s p r o z e s s e s . In einer Artikelserie „.Privatenqueten' über die Lage der Landarbeiter", die seit April 1892 in den Mitteilungen des Evangelischsozialen K o n g r e s s e s erschien, heißt es: „ [ . . . ] d a g e g e n wird es die A u f g a b e lokaler Privatenqueten sein m ü s s e n , die psychologischen Momente, welche teils als mitwirkende Ursachen, teils als Begleiterscheinungen und Folgen dieser Umgestaltung hervortreten, zu e r m i t t e l n . " 4 3 Der Evangelisch-soziale Kongreß griff d i e s e n Vorschlag auf und machte sich ihn zu eigen. A m 22. Juni 1892 beschloß das A k t i o n s k o m i t e e die D u r c h f ü h r u n g der Enquete. 4 4 Daraufhin arbeiteten Max W e b e r und Paul G ö h r e einen umfangreichen Fragebogen aus. U m die J a h r e s w e n d e 1 8 9 2 / 93 w u r d e der Fragebogen zirka 1 5 0 0 0 protestantischen Geistlichen im D e u t s c h e n Reich zugesandt, da es t e c h n i s c h unmöglich war, die G r u p p e der Landpfarrer g e s o n d e r t a n z u s c h r e i b e n . 4 5 N o c h vor d e m Abschluß der Fragebogenaktion veröffentlichte Max W e b e r eine erste Bilanz der Enquete; Martin Rade öffnete ihm dafür, vermutlich durch Vermittlung Paul Göhres, die Spalten der Zeitschrift „ D i e christliche W e l t " , des f ü h r e n d e n Organs des d e u t s c h e n Kulturprotestantismus. 4 6 Er b e g r ü n d e t e darin die Anlage des^ Fragenkatalogs und die damit v e r b u n d e nen Zielsetzungen. Im übrigen äußerte er sich sehr befriedigt über die „ g a n z über alle Voraussicht g u t e " Qualität der Berichte, die bislang e i n g e g a n g e n waren. Insgesamt hatten etwa z e h n Prozent der a n g e s c h r i e b e n e n G e m e i n d e p f a r r e r geantwortet. 4 7 Darunter befand sich eine Reihe außerordentlich informativer Berichte; einer davon - der des ostpreußischen Pfarrers Carl Ludwig Fischer - w u r d e noch im Jahre 1893 als selbständige Broschüre veröffentlicht. 4 8 Max W e b e r stellte diese Schrift im N o v e m b e r 1893 g e m e i n s a m mit z w e i w e i t e r e n Studien v o n Landgeistlichen über sozialpolitische Fragen im Sozialpolitischen Centraiblatt v o r 4 9 Auf d e m fünften Evangelisch-sozialen Kongreß in Frankfurt am Main im Mai 1894 referierten Paul G ö h r e und Max W e b e r über die Ergebnisse der

43 Unten, S.89f. 44 „Aus der letzten Sitzung des Aktionskomitees", in: Mitteilungen des Evangelischsozialen Kongresses, Nr. 6 vom 1. Juli 1892, S. 6. 45 Siehe unten, S. 705f. -Vgl. auch den dazugehörigen Editorischen Bericht. 46 „ Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands", unten, S. 208-219. 47 Ebd., S.217. Siehe ferner den Jahresbericht Paul Göhres, in: Bericht über die Verhandlungen des Vierten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Berlin am 1. und 2. Juni 1893. - Berlin: Rehtwisch & Langewort 1893, S.7. 48 Fischer, Carl Ludwig, Beitrag zur Orientierung über die Lage der ländlichen Arbeiter in Ostpreußen als Beantwortung des vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses ausgegangenen Fragebogens über die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reiche.-Königsberg: Gräfe & Unzer, o.J. [1893], 49 Siehe unten, S. 272-281.

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Enquete. Göhre gab seinem Vortrag eine kämpferische Note; gestützt auf Max Webers Analysen der ostelbischen Landarbeiterfrage forderte er eine großangelegte staatliche Siedlungspolitik im deutschen Osten; der Staat müsse „selbst die Initiative bei der Rentengutsbildung" ergreifen und diese „planmäßig, distriktweise, unter allmählicher Verdrängung des großen Grundbesitzes" durchführen, „mit dem letzten Ziele: in möglichst kürzester Frist den ganzen Osten mit Hunderttausenden von deutschen Bauern zu besiedeln [...]. Es bedeutet das freilich nichts anderes als die Vernichtung der Vorherrschaft des östlichen Großgrundbesitzes und die Erhebung einer ganzen großen Volksschicht auf ein unendlich viel höheres wirtschaftliches, geistiges, und sittliches Niveau." 5 0 Max Weber äußerte sich in der Sache sehr viel zurückhaltender; er vermochte den Enthusiasmus seines Freundes Göhre nicht zu teilen und distanzierte sich von dessen allzu optimistischer Einschätzung der Chancen einer großzügigen Bauernansiedlung im Osten. Seine Ausführungen waren von einer resignativen Grundstimmung getragen. Aber dennoch bekannte er in der Sache deutlicher Farbe als zuvor: „Die Junker als Junker zu halten, als einen Stand von demjenigen sozialen und politischen Charakter, der sie in der Vergangenheit waren, wäre [...] selbst mit ökonomischen Mitteln, wie sie uns nicht zu Gebote stehen, nicht möglich. Kann sich der Staat politisch dauernd auf einen Stand stützen, der selbst der staatlichen Stütze bedarf?" 51 Nahezu ebensoviel Aufregung löste freilich Max Webers freimütige Erklärung aus, daß die Kirche den Tatsachen ins Gesicht sehen und den „Klassenkampf" als „integrierende^] Bestandteil der heutigen Gesellschaftsordnung" anerkennen müsse. 52 Es kann nicht überraschen, daß angesichts dieser Äußerungen die Enquete des Evangelisch-sozialen Kongresses in der Folge zum Gegenstand einer leidenschaftlich geführten politischen Debatte gemacht wurde, in der die eigentlichen Sachverhalte zunehmend in den Hintergrund traten. Die sich an den Evangelisch-sozialen Kongreß in Frankfurt anschließende Auseinandersetzung in der Presse 53 hat vermutlich dazu beigetragen, daß eine eingehende Auswertung der Ergebnisse der Enquete des Evangelisch-sozialen Kongresses am Ende unterblieb. Allerdings hatte Max Weber bereits in Frankfurt festgestellt: „Grundsätzliche, große Abweichungen von den Kenntnissen", die bereits aus der Enquete des Vereins für Socialpolitik

50 Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Frankfurt am Main am 16. und 17. Mai 1894. - Berlin: Rehtwisch & Langewort 1894, S. 58f. 51 Ebd., S.92 = unten, S. 342. 52 Ebd., S.73 = unten, S. 329. 53 Vgl. unten, S. 4 6 3 - 4 7 9 .

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g e w o n n e n w o r d e n seien, habe die Enquete nicht gebracht. 5 4 Max W e b e r und Paul Göhre hatten vereinbart, die A u s w e r t u n g der Berichte der Landgeistlichen untereinander aufzuteilen. G ö h r e sollte den W e s t e n und S ü d e n bearbeiten, W e b e r die ostelbischen Gebiete s o w i e die Provinz Sachsen und Anhalt. Doch dazu sollte es nicht mehr k o m m e n . Max W e b e r setzte statt d e s s e n eine Reihe seiner Schüler an das Material, die d i e s e s zur Grundlage von Promotionsarbeiten machten. Drei Dissertationen kamen in der Folge zustande, die Arbeiten v o n Salli G o l d s c h m i d t „ D i e Landarbeiter in der Provinz Sachsen, sowie den H e r z o g t ü m e r n Braunschweig und A n h a l t " , A n d r e a s G r u n e n b e r g „ D i e Landarbeiter in den Provinzen S c h l e s w i g - H o l stein und Hannover östlich der Weser, s o w i e in d e m G e b i e t e des Fürstent u m s Lübeck und d e r f r e i e n Städte Lübeck, H a m b u r g und B r e m e n " und v o n Alfred Klee „ D i e Landarbeiter in Nieder- und Mittelschlesien und der S ü d hälfte der Mark B r a n d e n b u r g " ; sie w u r d e n z w i s c h e n 1899 und 1902 in der von Max Weber h e r a u s g e g e b e n e n Reihe „ Die Landarbeiter in den e v a n g e lischen G e b i e t e n N o r d d e u t s c h l a n d s " veröffentlicht. 5 5 Für das erste Heft verfaßte W e b e r neben e i n e m kurzen Werbetext eine V o r b e m e r k u n g , in deren Rahmen auch der Fragebogen der Enquete w i e d e r g e g e b e n w u r d e . 5 6 Eingangs beschrieb Max W e b e r hier die sozialpolitische A u f b r u c h s t i m m u n g zu Beginn der 1890er Jahre. Im übrigen legte er erneut die Z i e l s e t z u n g e n dar, die mit der Erhebung des Evangelisch-sozialen K o n g r e s s e s v e r b u n d e n waren. Unter a n d e r e m sollten die Pfarrer mit den „ p s y c h o l o g i s c h e n K o n s e q u e n z e n der m o d e r n e n Wirtschaftsentwicklung und Klassenbildung" vertraut g e m a c h t w e r d e n . 5 7 Max W e b e r plante darüber hinaus noch ein viertes Heft s o w i e ein Schlußheft mit ausgewählten Berichten, für das er ein Resüm e e verfassen wollte. Beides ist j e d o c h nicht zustande g e k o m m e n . Weitere Materialien der Enquete w u r d e n im Rahmen der v o n Max W e b e r betreuten Dissertationen v o n Felix Gerhardt und Karl Borries Breinlinger sowie der

54 Unten, S. 316. 55 Siehe unten, S. 688f. Max Weber hatte sich dabei offenbar nicht mit dem Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses abgestimmt. Jedenfalls heißt es im Protokoll der Sitzung des Aktionskomitees vom 14. Juni 1899: „Enquete über die Landarbeiter. Die bisher erschienenen Hefte sind nach Mitteilungen des Vorsitzenden [Moritz August Nobbe] zwar nicht ganz konzis, doch sehr wertvoll und unparteiisch. Prof. Delbrück bemerkt, es sei nicht richtig gehandelt, daß Prof. Weber, ohne sich mit der Kongreßleitung in Verbindung zu setzen, über das Material zur Publikation verfügt habe." Akten des Evangelisch-sozialen Kongresses, Versöhnungskirche Leipzig-Gohlis, AI2: Protokolle der Sitzungen des Aktionskomitees 1898 bis 1922. Den Hinweis hierauf verdanken wir Herrn Dr. Walter Mogk, München. 56 Der Werbetext, die Vorbemerkung sowie eine Fußnote Webers zum zweiten Landarbeiterheft sind abgedruckt unten, S. 693-711. 57 Unten, S. 709.

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Dissertation von Eugen Katz, einem Schüler Lujo Brentanos, verwendet. 58 Eine darüber hinausgehende Auswertung der Ergebnisse der Enquete durch Max Weber selbst, wie er sie ursprünglich beabsichtigt hatte, unterblieb nicht zuletzt infolge der Übernahme des Lehrstuhls in Freiburg, die ihn zwang, sich in kürzester Zeit in ein ganz neues Fachgebiet einzuarbeiten. 59 Allerdings verfolgte Max Weber einen anderen, höchst ehrgeizigen, im Grunde nicht zu bewältigenden Plan, nämlich die Ergebnisse der Enqueten des Vereins für Socialpolitik und des Evangelisch-sozialen Kongresses mit einer Auswertung der amtlichen statistischen Materialien für Preußen zu kombinieren, um „daraus für die sämtlichen in Frage kommenden Gemeinden und Gutsbezirke das soziale und wirtschaftliche Ensemble, innerhalb dessen sich die Arbeiterschaft befindet [...] zu ermitteln" , 60 Offenbar beabsichtigte er, eine weitere, umfassende agrarstatistische Untersuchung zur Landarbeiterfrage zu veröffentlichen, die sich auf diese Daten stützen sollte. 61 Vermutlich handelte es sich dabei um die „größere agrarstatistische Arbeit über den landwirtschaftlichen Kapitalismus", von der im Fideikommißaufsatz aus dem Jahre 1904 die Rede ist. Hier heißt es: „Ich meinerseits mußte mich [...] nachstehend meist mit der Verwertung einigen Zahlenmaterials begnügen, welches ich vor Jahren zum Zweck einer größeren agrarstatistischen Arbeit über den landwirtschaftlichen Kapitalismus zusammengestellt bzw. vorwiegend selbst errechnet hatte." 62 Aus den Hinweisen in den zahlreichen kleineren agrarpolitischen Schriften und dem dort verwendeten Zahlenmaterial seit Mitte der 1890er Jahre ergibt sich, daß er mit dieser agrarstatistischen Untersuchung seine These noch weiter hat unter58 Siehe unten, S. 689. Die Berichte der Landgeistlichen wurden nach der Auswertung, so jedenfalls im Falle von Salli Goldschmidt, an das Heidelberger Seminar zurückgesandt. Wo sie verblieben sind, konnte nicht mehr ermittelt werden. 59 Max Weber führte rückblickend in der Vorbemerkung zum ersten Heft der Reihe „Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands" von 1899 neben Schwierigkeiten, einen geeigneten Verlag zu finden, dafür persönliche Gründe an: die Übernahme des Lehramts, die mit einem Fachwechsel verbundenen Berufungen nach Freiburg und Heidelberg und schließlich seine Erkrankung. Siehe unten, S. 706. 60 Vgl. Max Webers diesbezügliche Hinweise auf dem fünften Evangelisch-sozialen Kongreß im Mai 1894, unten, S.317. Siehe ferner Marianne Weber, Lebensbild1, S.208: „So überspannt er den Bogen weiter. Das Material der Pastorenenquete wartet noch der Verarbeitung, sie soll aber zuvor durch umfängliche Berechnungen der ostelbischen Bevölkerungsbewegung in den einzelnen Landkreisen unterbaut werden." 61 Ein entsprechender Hinweis findet sich bereits in der Vorbemerkung zur Antrittsrede, in der er sich auf im Zusammenhang mit der Enquete berechnetes Zahlenmaterial stützte. Weitere Hinweise finden sich in seiner Rezension der Schrift Karl Grünbergs (unten, S. 584), seinem Artikel „Der preußische Gesetzentwurf über das Anerbenrecht bei Rentengütern" (unten, S. 593) und in seinem Diskussionsbeitrag „Deutschland als Industriestaat" (unten, S.636f.). 62 Weber, Max, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen, in: AfSS, Band 19,1904, S. 504 (MWG I/8).

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mauern wollen, daß die mit kapitalistischen Methoden betriebene Großgüterwirtschaft des Ostens die deutschen Bauern und Landarbeiter zur Abwanderung veranlasse und die Einwanderung polnischer Arbeiter und Bauern begünstige. So bezieht sich Max Weber in seinem Gutachten von 1897 über die Einführung eines Heimstättenrechtes auf Berechnungen des ,,Procentsatz[es], welchen die am Orte oder im Kreise ihres Aufenthaltsortes nach der Volkszählung Geborenen von der gezählten Gesammtbevölkerung" auf dem Lande ausmachten. 63 Er zog daraus die Schlußfolgerung, daß die Bevölkerung des Westens weit seßhafter sei als jene des Ostens: Die „Stabilität der Bevölkerung" nehme „mit zunehmender Kleinheit der Durchschnittsgröße der landwirtschaftlichen Betriebe" zu, während sie umgekehrt um so mehr absinke, „je mehr der landwirtschaftliche Großbetrieb, der, in die Conjuncturschwankungen des Weltmarktes verflochten, seiner Natur nach ein Saisonbetrieb ist, die wirtschaftlichen Verhältnisse beeinflußt." 64 Diese Beobachtungen brachte Weber pointiert auf die Formel, daß sich im Westen der Boden unter einer stabilen Bevölkerung bewege, im Osten aber die Bevölkerung über dem in starren Besitzverhältnissen festgefügten Boden. 65 Auch In der Freiburger Antrittsrede wird auf diese Materialien Bezug genommen. 66 Offenbar handelte es sich dabei vor allem um Datenreihen, die auf den Angaben der preußischen Gemeindelexika beruhten. Wegen seiner Erkrankung Ist die erwähnte agrarstatlstische Untersuchung jedoch nicht mehr zum Abschluß gekommen. 67 Im Fldeikommißaufsatz aus dem Jahre 1904, der In gewissem Sinne den Abschluß seiner ersten, agrarpolitischen Werkphase darstellt, hat Max Weber dann noch einmal auf diese umfangreichen, aber offenbar noch weitgehend unaufbereiteten statistischen Materialien zurückgegriffen 6 8 63 Unten, S. 661. 64 Unten, S. 666. 65 Unten, S. 664. 66 Unten, S. 545ff. 67 Max Weber ist ursprünglich fest entschlossen gewesen, diese umfangreiche Untersuchung doch noch zustande zu bringen. Vgl. Brief an Marianne Weber vom 13. August 1898 - W e b e r war zu diesem Zeitpunkt in einem Konstanzer Sanatorium in Behandlung - : „Bei dem Zusammenarbeiten dachte ich egoistischerWeise auch an meine Sachen, und zwar nicht etwa wieder nur als Schreib-Sekretär oder als Rechenmaschine. Ich muß an meine agrarstatistische Arbeit gehen, sobald ich gesund bin." Dabei rechnete er mit der Hilfe seiner Frau. Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. - Übrigens hat Max Weber auch während seines Aufenthalts im Sanatorium intensiv gearbeitet und die in der (heutigen) Wessenberg-Bibliothek vorhandenen reichhaltigen Bestände zur Sozial-, Wirtschafts- und Finanzgeschichte Badens im 19. Jahrhundert benutzt (Hinweis von Prof. Horst Baier, Schreiben vom 11. Jan. 1993). Vgl. auch Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 214: „Das kostbare Zahlenmaterial wurde teils Schülern zur Verfügung gestellt, teils bei späteren agrarpolitischen Aufsätzen verwertet." 68 Vgl. Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage,

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3. Max Webers Engagement in der Bewegung und im Nationalsozialen

Evangelisch-sozialen Verein

Max Weber war in seinen frühen Jahren der Evangelisch-sozialen Bewegung eng verbunden. 6 9 Seine Mutter Helene Weber und Otto Baumgarten, sein Vetter und Freund aus den Straßburger Tagen, hatten ihn bereits Ende der 1880er Jahre in Verbindung mit dem Kreis von sozialpolitisch engagierten Theologen gebracht. Diese beteiligten sich dann 1890 am Evangelischsozialen Kongreß und benutzten diesen als Forum, um für eine Öffnung der evangelischen Kirche gegenüber den brennenden sozialen Fragen der Gegenwart zu wirken und die Arbeiterschaft wieder für die christliche Botschaft zu gewinnen. 7 0 Zeitweilig hat Max Weber sogar an den von Otto Baumgarten herausgegebenen Evangelisch-sozialen Zeitfragen, einem halboffiziösen Organ des Evangelisch-sozialen Kongresses, mitgearbeitet. 71 Außerdem sagte er Otto Baumgarten im Frühjahr 1892 eine Abhandlung über „die Landarbeiter und den Großgrundbesitz im Osten" für die Evangelisch-sozialen Zeitfragen zu, die aber nicht zustande gekommen

S . 5 6 3 f . , A n m . 1 ( M W G I/8). Hier zitiert W e b e r z u m Teil d i e s e l b e n Prozentzahlen in b e z u g auf die ländlichen K r e i s g e b ü r t i g e n w i e s c h o n 1 8 9 7 im H e i m s t ä t t e n g u t a c h t e n , unten, S. 661 f. 69 Vgl. z u m F o l g e n d e n auch: A l d e n h o f f , Rita, Max W e b e r und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Max W e b e r und s e i n e Z e i t g e n o s s e n , hg. v o n W o l f g a n g J . M o m m s e n und W o l f g a n g S c h w e n t k e r . - G ö t t i n g e n : V a n d e n h o e c k & Ruprecht 1988, S. 2 8 5 - 2 9 5 . 70 Vgl. dazu Brakelmann, Günter, Krieg und G e w i s s e n . Otto B a u m g a r t e n als Politiker und T h e o l o g e im Ersten Weltkrieg. - G ö t t i n g e n : V a n d e n h o e c k & Ruprecht 1991, S. 10f. 71 In Otto B a u m g a r t e n s E r i n n e r u n g e n heißt es: „ I m m e r h i n befriedigte m e i n e n politis c h e n Ehrgeiz die Ü b e r t r a g u n g der H e r a u s g a b e der .Evangelisch-sozialen Zeitfragen', eines halboffiziösen U n t e r n e h m e n s d e s Evangelisch-sozialen K o n g r e s s e s , d e s s e n Prog r a m m ich mit Max W e b e r z u s a m m e n e n t w o r f e n hatte." B a u m g a r t e n , Otto, M e i n e Leb e n s g e s c h i c h t e . - T ü b i n g e n : J . C . B . Mohr (Paul Siebeck) 1929, S . 2 1 5 . Bei W e b e r ist allerdings nur die R e d e davon, daß er B a u m g a r t e n „ e i n e n Teil der z u f ü h r e n d e n C o r r e s p o n d e n z e n etc. a b g e n o m m e n " und bei F r e u n d e n in Berlin für die Zeitschrift g e w o r b e n habe. Vgl. Brief an H e r m a n n B a u m g a r t e n v o m 3. Jan. 1891, Z S t A M e r s e b u r g , Rep. 92, Nl. Max W e b e r , Nr. 7; Weber, Max, J u g e n d b r i e f e . - T ü b i n g e n : J . C . B . M o h r (Paul S i e b e c k ) [1936], S . 3 2 4 f . Einige Passagen aus d e m P r o g r a m m der Evangelisch-sozialen Zeitfragen bzw. d e m A n s c h r e i b e n zur W e r b u n g v o n Mitarbeitern, die bei Baumgarten, Otto, Der S e e l s o r g e r unsrer T a g e (Evangelisch-soziale Zeitfragen, 1. Reihe, 3. Heft). - Leipzig: Fr. W. G r u n o w 1891, S. 19f., w i e d e r g e g e b e n w e r d e n , lassen auf e i n e sehr e n g e Kooperation beider schließen. W e b e r warb a u c h bei A d o l p h W a g n e r für das U n t e r n e h m e n . Vgl. A d o l p h W a g n e r , Briefe, D o k u m e n t e , A u g e n z e u g e n b e r i c h t e 1 8 5 1 - 1 9 1 7 , hg. v o n Heinrich Rubn e r . - B e r l i n : D u n c k e r & H u m b l o t 1978, S . 2 6 0 . 72 Vgl. Brief an H e r m a n n B a u m g a r t e n v o m 28. April 1892, Z S t A M e r s e b u r g , Rep. 92, Nl. Max W e b e r , Nr. 7 (Jugendbriefe, S . 3 4 4 ) . Dort heißt es: „ D e r S o m m e r wird sich also, d e n k e ich, z i e m l i c h arbeitsreich gestalten, z u m a l ich auch Otto ein .blaues Heft' über die Landarbeiter und d e n G r o ß g r u n d b e s i t z im O s t e n z u g e s a g t habe."

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Der Evangelisch-soziale Kongreß konnte auf die Unterstützung breiter Kreise der protestantischen Bildungsschicht zählen, die eine fortschrittliche Sozialpolitik für das Gebot der Stunde ansahen. Auch der Evangelische Oberkirchenrat hatte sich dem vom Kaiser persönlich autorisierten neuen sozialpolitischen Kurs angeschlossen und den Geistlichen nahegelegt, die begründeten sozialen Forderungen der Arbeiterschaft ernstzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ungeachtet der Notwendigkeit, den Einfluß der Sozialdemokratie auf die Arbeiterschaft weiterhin mit allen Kräften einzudämmen. 73 Der Evangelisch-soziale Kongreß verfolgte, wie es in seinen Satzungen hieß, das Ziel, das soziale Leben „an dem Maßstabe der sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums zu messen und diese selbst für das heutige Wirthschaftsleben fruchtbarer und wirksamer zu machen", und zwar auf der Basis einer „vorurtheilslosen" Untersuchung der sozialen Zustände. 74 Dem Kongreß gehörten neben Theologen, höheren Beamten und Hochschullehrern verschiedener Fachrichtungen auch zahlreiche Nationalökonomen an, die großenteils zugleich Mitglieder des Vereins für Socialpolitik waren. Der Berliner Nationalökonom Adolph Wagner war Mitglied des Aktionskomitees, des maßgeblichen Leitungsgremiums des Evangelisch-sozialen Kongresses. Max Weber beteiligte sich aktiv an der Arbeit des Evangelisch-sozialen Kongresses und war nahezu auf allen Kongressen von 1890 bis 1897 zugegen. 75 Sein Interesse galt in erster Linie den sozialpolitischen Fragen, doch engagierte er sich auch sonst in der Christlich-sozialen Bewegung. 1892 gewann Max Weber, wie bereits dargelegt wurde, den Evangelischsozialen Kongreß dafür, seinerseits eine ergänzende Enquete über die Lage der Landarbeiter durchzuführen, die sich nicht an die Arbeitgeber, sondern an die Pfarrer richtete, von denen eine unparteiischere Beurteilung der Verhältnisse erwartet werden konnte. 76 In diesem Zusammenhang wurde er 1892 in den Ausschuß des Evangelisch-sozialen Kongresses kooptiert, doch hat er sich an dessen Tätigkeit, soweit wir wissen, nicht 73 Vgl. Pollmann, Klaus Erich, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1890. - Berlin, New York: Walter de Gruyter 1973, S. 8 6 - 8 8 . 74 Siehe Abschnitt 1 der Satzungen, in: Bericht über die Verhandlungen des Zweiten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Berlin am 28. und 29. Mai 1891. Berlin: Vaterländische Verlags-Anstalt 1891, S. 126. 75 Nach Ausweis der jeweils am Ende der Verhandlungsberichte gedruckten Teilnehmerverzeichnisse fehlte Weber nur auf dem zweiten Kongreß am 28. und 29. Mai 1891. Er steckte zu dieser Zeit in Arbeiten für die Drucklegung seiner Habilitationsschrift und mußte zudem im Juni und Juli seine dritte Offiziersübung in Posen absolvieren. Vgl. die Ausführungen Jürgen Deiningers in MWG I/2, S. 60f. 76 Siehe unten, S.209f.

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intensiver beteiligt. 77 Er nutzte den Kongreß als ein Instrument, um seinen Auffassungen über die Landarbeiterfrage eine noch größere Resonanz zu verschaffen. Unter anderem hielt er im Rahmen der Bildungsarbeit der Evangelisch-sozialen Bewegung eine bemerkenswerte Zahl von Vorträgen und Vortragszyklen, vorwiegend über agrarpolitische Themen, die einen nicht unerheblichen Zulauf hatten und über die in der Presse ausführlich berichtet wurde. In politischer Hinsicht schlug sich Max Weber von Anbeginn auf die Seite der jüngeren Christlich-sozialen Richtung, die im Gegensatz zu den älteren Christlich-Sozialen, deren vornehmster Sprecher der ehemalige Hofprediger Wilhelms II. Adolf Stoecker war, mit der herkömmlichen patriarchalischen Sozialpolitik obrigkeitlicher Prägung brechen wollte und statt dessen für das Recht der Arbeiterschaft zur selbständigen Vertretung ihrer sozialen Interessen eintrat. Als Paul Göhre im November 1892 wegen seiner Schrift „Drei Monate Fabrikarbeiter" 78 von dem orthodoxen Greifswalder Theologen Hermann Cremer scharf angegriffen und ihm vorgehalten wurde, daß er damit die Grenzen der für einen angehenden Pfarrer gebotenen Zurückhaltung weit überschritten habe, kam ihm Max Weber publizistisch zur Hilfe. Webers Artikel „Zur Rechtfertigung Göhres" 7 9 legte den Grundstein nicht nur für die Kooperation mit Göhre bei der Landarbeiterenquete, sondern auch für die enge Zusammenarbeit bei der Durchführung einer ganzen Reihe von nationalökonomischen Kursen für Theologen, die der Evangelisch-soziale Kongreß bereits bei seiner Gründung geplant hatte. Diese Kurse verfolgten den Zweck, Theologen in die wirtschaftlichen und sozialen Tagesprobleme einzuführen; sie sollten nicht nur einer „vorurtheilslosen" Beurteilung der sozialen Zustände durch die Repräsentanten der evangelischen Kirche dienen, sondern auch dem von konservativer Seite wiederholt erhobenen Vorwurf begegnen, daß die evangelisch-sozialen Theologen sozialpolitischen Dilettantismus betrieben. Im Oktober 1893 führte der Evangelisch-soziale Kongreß in Berlin den ersten Kursus dieser Art durch. Max Weber war an führender Stelle beteiligt. In einem Artikel in der „Christlichen Welt" stellte er im August 1893 das ganze Projekt vor; 8 0 er betonte, daß diese im Gegensatz zu den praktischsozialen Kursen des Volksvereins für das katholische Deutschland und den 77 Max Weber hat allerdings vermutlich während seiner Berliner Zeit an den Ausschußsitzungen teilgenommen. Die entsprechende Akte mit den Protokollen der Sitzungen (A11, 1890-1898) ließ sich unter den Akten des Kongresses in Leipzig-Gohlis nicht mehr auffinden. 78 Göhre, Paul, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. - Leipzig: Fr. W. Grunow 1891. 79 Siehe unten, S. 106-119. 80 Siehe unten, S. 229-237.

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Kursen der evangelischen Arbeitervereine rein wissenschaftlich ausgerichtet seien; damit würden weder speziell evangelische noch politische Ziele verfolgt. Ebenso beteiligte er sich als Referent. Er übernahm eine achtstündige Vorlesungsreihe „Landwirtschaft und Agrarpolitik", für die er auch einen „Grundriß" zur Verteilung an die Hörer verfaßte, 81 in dem das statistische Material und weiterführende Literaturangaben zusammengestellt waren. Darüber hinaus führte er abschließend eine dreistündige Diskussion zu seinem Thema durch. Dieser großangelegte, sich über zwei Wochen erstreckende Kursus mit insgesamt sieben namhaften Referenten hatte mit zirka fünfhundert Besuchern, die das Auditorium maximum der Berliner Universität füllten, einen beachtlichen Publikumszuspruch. Auch an dem Kurs des Jahres 1896, der zweiten und zugleich letzten vom Kongreß in Berlin durchgeführten Veranstaltung dieser Art, der allerdings mit 60-100Teilnehmern eher schwach besucht war, 82 beteiligte sich Max Weber mit einem Referat über Börsenfragen. 83 Auch an den 1897 in Karlsruhe veranstalteten nationalökonomischen Kursen, die 280 Hörer angezogen hatten, wirkte Max Weber in erheblichem Maße mit. Diese Tagungen wurden jeweils von den Landesvereinigungen des Kongresses abgehalten, in diesem Falle von der Evangelisch-sozialen Vereinigung für Baden und der Evangelisch-sozialen Konferenz für Württemberg. Weber zählte zusammen mit seinem Freiburger Fachkollegen Gerhart von Schulze-Gaevernitz und dem Verlagsbuchhändler Paul Siebeck zu den Mitgliedern der Evangelischsozialen Vereinigung für Baden. 84 Er setzte sich persönlich für die Durchführung der Kurse ein und gewann andere Nationalökonomen dafür, an diesen als Referenten mitzuwirken. Weber selbst übernahm eine sechsstündige Vortragsreihe über „Agrarpolitik" zuzüglich einer zweistündigen Diskussion. 85 Die Mitarbeit Max Webers im Rahmen des protestantischen Vereinswesens beschränkte sich nicht darauf, sein Fachwissen als Nationalökonom zur Verfügung zu stellen. Hin und wieder nahm er an theologischen Gesprächskreisen teil. Er gehörte zum Kreis der „Freunde der Christlichen Welt", der sich regelmäßig traf und über theologische Reformen diskutier-

81 Siehe unten, S. 254-271. 82 Im Bericht der Täglichen Rundschau, Nr. 276 vom 24. Nov. 1896, S. 1101, ist von 60Teilnehmern die Rede, von 100 Hörern spricht dagegen Immanuel Voelter. Vgl. Evangelisches Ringen um soziale Gemeinschaft. Fünfzig Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß 1890-1940, hg. von Johannes Herz. - Leipzig: J.C. Hinrichs, Leopold Klotz 1940, S.24. 83 Die diesbezüglichen Berichte werden in MWG I/5 veröffentlicht. 84 Vgl. den Artikel „In der Organisation der evangelisch-sozialen Bewegung in Baden", in: Freiburger Zeitung, Nr. 48 vom 27. Febr. 1896, 2. Bl„ S.2. 85 Vgl. die ausführlichen Zeitungsberichte unten, S. 826-841, sowie den von Weber mitunterzeichneten Aufruf zum Besuch des Kurses, unten, S. 900-903.

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te 8 6 So nahm er nachweislich an dem Treffen der „Freunde der Christlichen Welt" im Oktober 1893 In Berlin teil. 87 1893/94 beteiligte er sich an einer von mehr als 800 Protestanten unterzeichneten Eingabe an den Evangelischen Oberkirchenrat, die gegen die Pläne der preußischen evangelischen Landeskirche gerichtet war, eine neue Gottesdienstordnung einzuführen. Die Unterzeichner dieser Petition sahen in der neuen Agende einen Angriff auf die Individuellen Glaubensansichten und -äußerungen der Geistlichen und Ihrer Gemeindemitglieder. 88 Nach dem Ende des fünften Evangelisch-sozialen Kongresses 1894, auf dem Paul Göhre und Max Weber über die Ergebnisse der Landarbelterenquete berichtet hatten, 89 kam es zu heftigen Kontroversen in der Presse, insbesondere wegen der scharfen Kritik an der großgrundbesitzenden Aristokratie, die Göhre vorgetragen und dem Max Weber, wenn auch zögernd, sekundiert hatte. Max Weber griff mit einem Artikel „Zum Preßstrelt über den Evangelisch-sozialen Kongreß" In die Debatte ein. 90 Die Angriffe auf den „Pastorensozialismus" des Evangelisch-sozialen Kongresses erreichten nur wenig später einen Höhepunkt mit einer spektakulären Rede des saarländischen Schwerindustriellen Carl Ferdinand Freiherr von StummHalberg Im Reichstag vom Januar 1895 anläßlich der ersten Lesung der sog. „Umsturzvorlage". 91 Von Stumm verlangte nicht nur eine drastische Verschärfung der bestehenden gesetzlichen Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie, sondern griff auch die Evangelisch-soziale Bewegung und den Verein für Soclalpolltlk wegen ihrer angeblichen Komplizenschaft mit der Sozialdemokratie scharf an. Ebenso kritisierte er die von Adolph Wagner unterstützten Bestrebungen In Berliner Studentenkreisen, sich in einer Sozialwissenschaftlichen Vereinigung zusammenzuschließen und Vorträge zur Einführung In die sozialen Fragen und In die Nationalökonomie für Hörer aller Fachrichtungen zu veranstalten. Zwischen Adolph Wagner, einem der führenden Repräsentanten sowohl des Vereins für Soclalpolitik als auch des Evangelisch-sozialen Kongresses, und von Stumm entspann sich daraufhin 86 Siehe dazu: Rathje, Johannes, Die Welt des freien Protestantismus. Leben und Werk von Martin Rade. - Stuttgart: Ehrenfried Klotz 1952, S. 8 4 - 9 5 , bes. S. 90. 87 In einem Brief an Martin Rade vom 23. Dez. 1893, UB Marburg, Nl. Martin Rade, Ms. 839, nimmt Max Weber Bezug auf die „Conferenz der .Freunde der Christlichen] W[elt]' hier Im October", auf der Meinungsverschiedenheiten über einen Protest gegen den neuen Agendenentwurf „zu Tage" getreten seien. Auch Friedrich Naumann nahm an diesem Treffen teil. Er berichtete: „Die Freunde der Christlichen Welt waren auch an einem Abende versammelt, aber was sie verhandelten, war mehr privater Natur." Die christliche Welt, Nr. 52 vom 21. Dez. 1893, Sp. 1251. 88 Die von Weber mitunterzeichnete Eingabe ist abgedruckt unten, S. 866-871. 89 Vgl. oben, S. 21 f. 90 Siehe unten, S. 463-479. 91 Vgl. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment, S. 160-165.

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eine Kontroverse, die in einer Duellforderung an Wagner gipfelte, deren Annahme dieser jedoch zurückwies. Als von Stumm daraufhin Wagner indirekt der Feigheit bezichtigte, kam Max Weber Adolph Wagner mit zwei, in der Kreuzzeitung veröffentlichten, Zuschriften zu Hilfe, in denen die Anwürfe Stumms in schärfster Form zurückgewiesen wurden. 92 Diese Kontroversen trugen dazu bei, daß die Richtungskämpfe im Evangelisch-sozialen Kongreß zwischen dem sozialkonservativen und dem progressiven Flügel nunmehr offen zum Austrag kamen. Dabei spielte allerdings eine Rolle, daß der Evangelische Oberkirchenrat die konservative Wende in Preußen mitvollzog und in einem Erlaß vom 16. Dezember 1895 den sozialreformerischen Bestrebungen der Pastoren wieder enge Grenzen zog. 93 Zunächst trat der äußerste rechte Flügel, unter der Führung von Martin von Nathusius, aus dem Kongreß aus. 1896 schied schließlich auch Adolf Stoecker aus. Er begründete ein Jahr später die Freie kirchlich-soziale Konferenz. Max Weber geriet dadurch in eine prekäre Lage. Moritz August Nobbe, der neue Vorsitzende des Evangelisch-sozialen Kongresses, war bestrebt, dem Eindruck in der Öffentlichkeit entgegenzuwirken, als ob der Kongreß immer stärker nach „links" drifte. Vermutlich aufgrund solcher Erwägungen wurde daher darauf verzichtet, Max Weber als Referenten für den nationalökonomischen Ferienkursus im Herbst 1895 vorzuschlagen, der vom Verein für Socialpolitik im Einvernehmen mit dem Evangelisch-sozialen Kongreß in Berlin durchgeführt werden sollte. Jedenfalls nahm Max Weber an, daß Nobbe ihn absichtlich nicht vorgeschlagen habe, damit „kein .Anrüchiger' wie ich sprechen würde". 9 4 Obwohl die Unstimmigkeiten mit Nobbe fortdauerten, kündigte Max Weber seine Teilnahme am Kongreß und Mitarbeit in der Evangelisch-sozialen Bewegung nicht auf. 95 Vielmehr entfaltete

92 Siehe unten, S. 5 1 2 - 5 2 3 . 93 Vgl. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment, S. 2 3 2 - 2 3 5 . 94 Brief an Karl Oldenberg vom 18. Jan. 1895, Abschrift Marianne Weber (masch.), ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/4. Vgl. auch den Brief an Karl Oldenberg vom 28. Jan. 1895, ebd.: „Was den Punkt betr. den Kursus anlangt, so habe ich gegen niemand als Nobbe .Argwohn', gegen diesen aber mit Recht, - d. h. ich fand es eine Dreistigkeit, daß er, der garnichts für den Kursus s.Zt. geleistet hat, über die Köpfe aller Beteiligten hinweg zu verhandeln sich für zuständig erachtete. Meines E.s sind ein Kursus des Vereins für Sozialpolitik und ein solcher des evangelisch-sozialen Kongresses absolut verschiedene Dinge. Bei dem ersteren wäre es eine höchst lächerliche Prätention, wenn ich, wie Sie fast zu glauben scheinen, meinte, ich hätte bei dessen Veranstaltung oder Nichtveranstaltung mitzureden, dagegen erhebe ich die Prätention, und zwar für uns alle, bei dem letzteren." 95 Im Oktober 1897 erklärte Weber allerdings, er wolle, falls Nobbe Göhre hinausdrängen sollte, ebenfalls aus dem Kongreß austreten: „Natürlich werde ich mir die Sache noch überlegen, aber ich sehe dann keinen Grund drinzubleiben, denn einem Censurgericht

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er innerhalb der E v a n g e l i s c h - s o z i a l e n B e w e g u n g weiterhin eine b e m e r k e n s w e r t e Aktivität. Z w i s c h e n 1 8 9 5 und 1 8 9 7 referierte er in z a h l r e i c h e n lokalen V e r e i n i g u n g e n : im E v a n g e l i s c h - s o z i a l e n Vortragsverein in Frankfurt am Main, der d e m v o n Friedrich N a u m a n n b e g r ü n d e t e n E v a n g e l i s c h e n Arbeiterverein n a h e s t a n d ; 9 6 er s p r a c h auf d e m J a h r e s f e s t d e s O b e r h e s s i s c h e n V e r e i n s für innere M i s s i o n in G i e ß e n , 9 7 und w i e d e r u m in Frankfurt am Main in d e m dortigen, e h e r sozialkonservativ ausgerichteten Christlichs o z i a l e n V e r e i n . 9 8 E b e n s o beteiligte er sich, wie bereits erwähnt, an e i n e m s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e n K u r s der E v a n g e l i s c h - s o z i a l e n V e r e i n i g u n g für B a d e n und der E v a n g e l i s c h - s o z i a l e n K o n f e r e n z für Württemberg v o m 4. bis 8. O k t o b e r 1 8 9 7 mit einer Vortragsreihe über Agrarpolitik. 9 9 S c h l i e ß l i c h hielt er am 7. D e z e m b e r 1897 im E v a n g e l i s c h e n V e r e i n s h a u s in Straßburg einen Vortrag über „ B o d e n v e r t e i l u n g und B e v ö l k e r u n g s b e w e g u n g " . 1 0 0 A l l e s in allem war das E n g a g e m e n t Max W e b e r s in der E v a n g e l i s c h - s o z i a l e n B e w e g u n g d i e s e r J a h r e also s e h r erheblich. In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g trat Friedrich N a u m a n n , der z u B e g i n n der 1 8 9 0 e r J a h r e V e r e i n s g e i s t l i c h e r der Inneren M i s s i o n in Frankfurt am Main war und in der e v a n g e l i s c h e n A r b e i t e r v e r e i n s b e w e g u n g jener J a h r e eine führende Rolle spielte, i m m e r stärker in das G e s i c h t s f e l d Max W e b e r s . 1 0 1 Die z a h l r e i c h e n Schriften d e s jungen, sozialpolitisch h o c h engagierten T h e o l o g e n über das Verhältnis der e v a n g e l i s c h e n K i r c h e z u Arbeiterschaft und S o z i a l i s m u s waren d a m a l s in aller M u n d e ; sie dürften der A u f m e r k s a m keit Max W e b e r s kaum e n t g a n g e n s e i n . 1 0 2 Es ist a n z u n e h m e n , daß Max W e b e r s p ä t e s t e n s auf d e m dritten E v a n g e l i s c h - s o z i a l e n K o n g r e ß in Berlin 1 8 9 2 die p e r s ö n l i c h e Bekanntschaft Friedrich N a u m a n n s g e m a c h t hat; dieser hielt dort ein viel b e a c h t e t e s Referat über „ C h r i s t e n t u m und Familie", das auch M a x W e b e r s Interesse g e f u n d e n haben dürfte. 1 0 3 Max W e b e r war

dieses dummen Schwätzers und Hänschen Delbrücks zu unterstehen ist mir denn doch nicht schmackhaft." Brief an Helene Weber vom 17. Okt. 1897, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 3, Bl. 175f. 96 Siehe die Zeitungsberichte, unten, S. 7 2 0 - 7 2 8 . 97 Unten, S. 7 3 2 - 7 4 2 . 98 Unten, S. 7 9 1 - 7 9 8 . 99 Siehe unten, S. 8 2 6 - 8 4 1 . 100 Siehe unten, S. 8 5 3 - 8 5 5 . 101 Vgl. dazu Spael, Wilhelm, Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber. - St. Augustin: Liberal-Verlag 1985, S. 15ff., sowie Theiner, Peter, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860-1919). Baden-Baden: Nomos 1983, S. 3 4 - 3 9 . 102 Vgl. Spael, Friedrich Naumann, S. 15f. 103 Naumann, Friedrich, Christentum und Familie, in: Bericht über die Verhandlungen des Dritten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Berlin am 20. und 21. April 1892.-Berlin: Rehtwisch & Seeler 1892, S . 8 - 2 8 .

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von der Unbedingtheit des Einsatzes des jungen Theologen für die Hebung der sozialen Lage der Arbeiterschaft tief beeindruckt und stand ihm auch menschlich nahe. Ende 1893 erkundigte sich Max Weber, der irrtümlich annahm, Naumann sei wegen seiner sozialpolitischen Aktivitäten aus seiner Stellung entlassen worden, bei Naumanns Schwager Martin Rade nach Möglichkeiten einer Unterstützung desselben: „Glauben Sie, daß irgend Jemand mir oder meinen Freunden hier Zugängliches ihm irgend nützlich sein kann? Ich meine damit natürlich nicht, daß ihm die Unehre einer .Verwendung für ihn', angethan werden soll, sondern nur, daß ich nicht weiß[,] was er vorhat und ob ihm irgend welche persönlichen Anknüpfungen für seine, wie immer gearteten, Zwecke von Nutzen sein könnten, oder was sonst." 1 0 4 Max Weber war freilich nicht davon überzeugt, daß es möglich sein werde, eine Verbesserung der bestehenden sozialen Verhältnisse oder gar eine Überwindung der Klassenlage der Arbeiterschaft auf dem Wege moralischer Einwirkung auf die Betroffenen, einschließlich der Unternehmerschaft, zu erreichen, wie dies Friedrich Naumann vorschwebte. In einer Rezension von Naumanns Gesammelten Aufsätzen „Was heißt ChristlichSozial?" formulierte Max Weber seine abweichende Position in dieser Frage mit großer Präzision; der „Wegfall der persönlichen Herrschaftsverhältnisse" im modernen kapitalistischen System und deren Ersetzung durch die „unpersönliche Herrschaft der Klasse der Besitzenden" stehe einer religiös begründeten Einwirkung auf die Sozialbeziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern grundsätzlich im Wege. Ebenso mißbilligte er, daß Naumann die Stoßrichtung seiner Kritik in erster Linie gegen das große Kapital richte. 105 Diese grundsätzliche Kritik hinderte Max Weber jedoch nicht daran, in der Folge eng mit Friedrich Naumann zusammenzuarbeiten und ihn in seinen sozialpolitischen Bemühungen wo immer möglich zu unterstützen. So verfaßte er für Naumanns „Göttinger Arbeiterbibliothek" zwei allgemeinverständliche Darstellungen über das Börsenwesen, deren erste 1894 erschien. 106 Als Friedrich Naumann daranging, eine neue Wochenschrift „Die Hilfe. Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe" zu begründen, um der Christlich-sozialen Bewegung ein wirksames Sprachrohr in der Öffentlichkeit zu verschaffen, unterstützte Max Weber ihn mit einer Bürgschaft 107 und erklärte sich darüber hinaus dazu bereit, daß er als 104 Brief an Martin Rade vom 23. Dez. 1893, UB Marburg, Nl. Martin Rade, Ms. 839. 105 Siehe unten, S.356f. 106 Weber, Max, Die Börse. I. Zweck und äußere Organisation (Göttinger Arbeiterbibliothek, 1. Band, 2. und 3. Heft).-Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1894, S. 1 7 - 4 8 ; Die Börse. II. Der Börsenverkehr (ebd., 2. Band, 4. und 5. Heft). - Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1896, S . 4 9 - 8 0 (beides: MWG I/5). 107 Brief an Martin Rade vom 17. Aug. 1894, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann,

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künftiger Mitarbeiter genannt w e r d e . 1 0 8 Im übrigen war N a u m a n n bestrebt, Max W e b e r noch enger an sich zu binden. So w u r d e dieser zu Pfingsten 1895 in das „ C o m i t é der Freunde der Hilfe" gewählt. A m 4. D e z e m b e r 1895 nahm er an e i n e m Treffen der „ F r e u n d e der Hilfe" aus H e s s e n und H e s s e n Nassau in Frankfurt am Main teil. 1 0 9 H i n g e g e n gestaltete sich die Z u s a m m e n a r b e i t z w i s c h e n Max W e b e r und Friedrich N a u m a n n nicht mehr ganz so reibungslos, als letzterer im A u g u s t 1895 dazu überging, der j ü n g e r e n Christlich-sozialen B e w e g u n g ein eigenständiges politisches Forum zu schaffen, da sich abzeichnete, daß der Evangelisch-soziale Kongreß für w i r k s a m e politische Arbeit im S i n n e ihrer Ideale nicht länger tauglich w a r . 1 1 0 O b s c h o n dies eigentlich ganz im Sinne Max W e b e r s war, der ja eine Ä n d e r u n g der b e s t e h e n d e n Verhältnisse mit rein t h e o l o g i s c h - m o r a l i s c h e n Mitteln für unmöglich hielt und N a u m a n n selbst auf den W e g zu politischer Aktion v e r w i e s e n hatte, hielt er dies z u m i n d e s t für verfrüht. N a u m a n n s Gedanke, Max W e b e r m ö g e n e b e n von S c h u l z e - G a e v e r n i t z als sog. „ A g e n t " an der praktischen Organisation einer eigenständigen christlich-sozialen bzw. national-sozialen Vereinigung mitwirken, w u r d e v o n letzterem mit großer Zurückhaltung a u f g e n o m m e n . 1 1 1 Ebenso beteiligte er sich nur mit halbem Herzen an den V o r b e r e i t u n g e n für die Herausgabe einer neuen Tageszeitung, die den B o d e n für die G r ü n d u n g einer national-sozialen Vereinigung auf christlicher Grundlage vorbereiten sollte, und warnte von Anfang an vor einer verfrühten Parteibildung. Inwieweit W e b e r im Januar und Februar 1896 an der A u s a r b e i t u n g der Richtlinien für diese Tageszeitung, die den Titel „ D i e Zeit. Organ für nationalen Sozialismus auf christlicher G r u n d l a g e " erhalten sollte, unmittelbar beteiligt war, ist nicht m e h r feststellbar. 1 1 2 Er gehörte jedenfalls d e m Komitee an, das die G r ü n d u n g der Zeitung vorbereiten sollte. Die im Februar 1896 ausgearbeiteten Leitlinien für den redaktionellen Kurs der Zeitung w u r d e n auch von

Nr. 106, Bl. 116f., sowie: Brief an Friedrich Naumann vom 4. Nov. 1894, ebd., Nr. 60, Bl.9f. 108 In der ersten Probenummer war Max Weber denn auch namentlich genannt. Siehe Die Hilfe, 1. Probenummer, 2. Dez. 1894, S. 4. Eigene Artikel hat Max Weber in der „Hilfe" jedoch nicht veröffentlicht. 109 Siehe unten, S.885f. 110 Vgl. Heuss, Theodor, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit. - Stuttgart, Berlin: Deutsche Verlagsanstalt 1937, S. 143f. 111 Siehe Rundbrief Friedrich Naumanns vom 14. Aug. 1895, ZStA Potsdam, NI. Friedrich Naumann, Nr. 232, sowie die Antwort Max Webers vom 22. Sept. 1895, ebd. Weber zeigte sich hinsichtlich der „Agententätigkeit" abgeneigt, erklärte sich aber bereit, an Zusammenkünften des „ e n g e r e n Kreises (Comités)", am liebsten in Frankfurt am Main, teilzunehmen. 112 „ Die Zeit" ist vom 1. Okt. 1896 bis 30. Sept. 1897 in Berlin erschienen.

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ihm unterzeichnet; 1 1 3 sie deckten sich weitgehend mit dem späteren Programmentwurf des Nationalsozialen Vereins. Max Weber betrachtete eine definitive Trennung Naumanns und seiner engeren Gefolgschaft vom Evangelisch-sozialen Kongreß zu diesem Zeitpunkt als taktischen Fehler. Als ihm im April 1896 zugetragen wurde, daß Friedrich Naumann nicht an dem im Mai bevorstehenden Evangelischsozialen Kongreß in Stuttgart teilnehmen wolle, beschwor er diesen, gleichwohl nach Stuttgart zu kommen und auch in der „Hilfe" zur Teilnahme aufzufordern. 1 1 4 Nur wenige Tage später lud Max Weber im Namen der Evangelisch-sozialen Vereinigung für Baden Friedrich Naumann zu einem öffentlichen Vortrag nach Freiburg ein. Ein Teil der Vereinigung wünsche, wie Weber ihm mitteilte, einen Vortrag über die „Pflichten der Gebildeten gegenüber den unteren Klassen". Die Mehrheit, einschließlich seiner selbst, vertrete hingegen die Auffassung, daß Naumann sich „keinesfalls an rein ethische Erörterungen binden, sondern auch gewisse Grundzüge programmatischen Charakters erkennen lassen" solle; so möge er seinem „Empfinden nach etwa dem Gegensatz gegen den ökonomischen Patriarchalismus deutlichen Ausdruck verleihen". 1 1 5 Darin lag ein vorsichtiger Versuch, Friedrich Naumann in seinem Sinne zu beeinflussen und zu konkreteren sozialpolitischen Stellungnahmen zu bewegen. Obschon sich Naumann wesentlich unter dem Einfluß Max Webers von seinen ursprünglichen Ideen eines christlichen Sozialismus abgewandt und sich der Forderung nach einer kraftvollen nationalen Weltpolitik, verbunden mit grundlegenden sozialen Reformen und einer Liberalisierung im Innern angeschlossen hatte, 116 war Max Weber jedoch nach wie vor nicht begeistert von dessen Plan, schon jetzt eine eigenständige politische Partei oder auch nur politische Vereinigung zu gründen. Zwar unterstützte er noch im September 1896 die in Vorbereitung befindliche Tageszeitung „Die Zeit" mit einer Spende von 500 Mark; 1 1 7 an dem Treffen der Gruppe um Naumann am 6. August 1896 in Heidelberg, bei dem über konkrete Schritte im Sinne der Gründung einer politischen Vereinigung beraten werden sollte, nahm er jedoch absichtlich nicht teil. Er schrieb an Friedrich Naumann, er sei zu dem Heidelberger Treffen nicht gekommen, um ihn und Paul Göhre nicht zu

113 Siehe unten, S. 8 8 5 - 8 9 5 . 114 Brief an Friedrich Naumann vom 22. April 1896, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106, BI.6. 115 Brief an Friedrich Naumann vom 29. April 1896, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106, Bl. 119f. 116 Vgl. dazu Mommsen, Max Weber 2 , S. 7 4 - 7 6 . 117 Siehe unten, S. 612.

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verletzen, halte aber nichts von dem „Versuch^ die Ernte zu schneiden^ ehe sie reif ist". 1 1 8 Im Herbst 1896 kam es wiederholt zu Begegnungen beider Männer, sowohl in Heidelberg wie in Berlin, bei denen die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten über die einzuschlagende Strategie jedoch nicht ausgeräumt werden konnten, sondern sich eher noch verhärteten; alles, was erreicht wurde, war „to agree to disagree". Helene Weber, die selbst der Christlich-sozialen Bewegung nahestand, äußerte sich in einem Brief an ihre Schwester Ida Baumgarten sehr besorgt darüber, in welcher Weise ihr Sohn wohl auf der für November geplanten Gründungsversammlung des Nationalsozialen Vereins in Erfurt auftreten werde: „Er wird auch im November nach Erfurt gehen und dort sprechen, im vollen Einverständnis mit Naumann seine abweichenden Ansichten entwickeln, um zur Klärung der Ziele beizutragen. Worum mir bange ist, ist, daß er dort mit Göhre und seiner etwas sehr unklaren unreifen Formulierung der Partei der kleinen Leute zusammenstoßen und sich etwa schroff auseinandersetzen wird". 1 1 9 In der Tat kam es Ende November 1896 in Erfurt zum Eklat. Max Weber war während dieser Tage an den Verhandlungen im provisorischen Börsenausschuß im Reichsamt des Innern beteiligt und konnte daher nur zeitweise in Erfurt anwesend sein. Er unterbrach seinen Aufenthalt in Berlin am 23. November für einen Tag, um nach Erfurt zu fahren und an der Gründungsversammlung teilzunehmen; noch am gleichen Abend mußte er wieder nach Berlin zurückreisen. Diese äußere Situation mag bis zu einem gewissen Grade erklären, weshalb Max Weber seine abweichende Position in Erfurt in ätzender Schärfe vortrug und damit nicht wenige seiner früheren engsten Gefolgsleute vor den Kopf stieß. Aber im Grunde war dies die Stunde der Wahrheit. Max Weber konnte mit Naumanns Programm eines „nationalen Sozialismus", obschon dieses de facto nicht über soziale Reformen „auf der Basis der historisch gewordenen Wirtschaftsordnung" hinausgehen wollte, nichts anfangen. Aus seiner Sicht war nur eine Politik der konsequenten Entfaltung des industriellen Systems unter Beseitigung der ihm bisher noch anhängenden patriarchalischen Residuen und die Freisetzung der Arbeiterschaft zu einer effektiven Vertretung ihrer ökonomischen und politischen Interessen realistisch. Es waren eher zweitrangige Probleme, die Weber zum Anlaß nahm, um sich grundsätzlich von der Parteigründung zu distanzieren. Zum einen hatte 118 Brief an Friedrich Naumann vom 13. Aug. [1896], ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106, Bl.4f. 119 Brief Helene Webers an Ida Baumgarten vom 7. Okt. 1896, zitiert nach: Baumgarten, Eduard, Max Weber. Werk und Person. - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1964, S.331. Ausführlicher zitiert in diesem Band, unten, S.613, dort, S. 6 1 4 - 6 1 7 , auch alle weiteren Nachweise für das Folgende.

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Friedrich Naumann der Versammlung überraschend einen neuen Programmentwurf vorgelegt, welcher von dem ursprünglichen Entwurf, der sich weitgehend mit den von Weber zu Beginn des Jahres 1896 mitverantworteten Leitlinien der „Zeit" deckte, in einigen Punkten abwich. Von einer Beschneidung der Macht des ostelbischen Großgrundbesitzes und einer Intensivierung der „inneren Kolonisation" war nicht mehr die Rede, und auch die Forderung nach beruflicher und ökonomischer Gleichstellung der Frau war gefallen. Neu hinzugekommen war hingegen die Aufforderung an „die Vertreter deutscher Bildung", „den politischen Kampf der deutschen Arbeit gegen die Übermacht vorhandener Besitzrechte" 120 zu unterstützen. Max Weber nahm diese Änderungen zum Anlaß zu erklären, daß er nur aufgrund des ursprünglichen Entwurfs erschienen sei und griff Naumann in ungewöhnlich schroffer und verletzender Weise an. Der in Aussicht genommenen Partei eines „nationalen Sozialismus" fehle jede interessenpolitische Grundlage; sie sei „die Partei der Mühseligen und Beladenen, derjenigen, die irgendwo der Schuh drückt, aller derer, die keinen Besitz haben und welchen haben möchten", mit anderen Worten, eine Partei, der keine selbstbewußte, aufsteigende Schicht des Volkes jemals ihre Gefolgschaft geben werde. 121 Nur eine Partei, die eine „bürgerlich-kapitalistische Entwicklung" wähle, habe bei Lage der Dinge eine Zukunft. Ferner übte er scharfe Kritik an der „Zeit", die es bezüglich der Polenfrage an einer eindeutigen Linie habe fehlen lassen. 122 Schon bei den Zeitgenossen hat die schroffe Tonart, die Max Weber bei dieser Gelegenheit, insbesondere in der Polenfrage, anschlug, großes Befremden ausgelöst; Hellmut von Gerlach, einer der Redakteure der „Zeit", dem Webers Kritik in besonderem Maße galt, warf ihm noch in der Versammlung vor, einer „Nietzscheschen Herrenmoral" das Wort zu reden. 123 Max Weber rechtfertigte sich gegenüber Martin Rade mit dem Hinweis, daß er den politischen Dilettantismus der Pastoren nicht habe ertragen können. 124 Dahinter standen jedoch grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. Im Grunde mißbilligte Max Weber eine Parteigründung, die nur zu einer weiteren Zersplitterung des bürgerlichen Lagers führen mußte. Im übrigen war es der vergleichsweise liberale Kurs der „Zeit" in der Polenfrage, die

120 Siehe unten, S. 614f. 121 Siehe unten, S. 619f. 122 Siehe unten, S. 621 f. 123 Protokoll über die Vertreter-Versammlung aller National-Sozialen in Erfurt vom 23. bis 25. November 1896. - Berlin: Verlag der „Zeit" [1896], S. 54. 124 Brief an Martin Rade vom [7.] Dez. 1896, UB Marburg, Nl. Martin Rade, Ms. 839. Ähnlich drückte er sich auch gegenüber Marianne Weber aus. Siehe Brief an Marianne Weber vom [25.] Nov. 1896, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. Vgl. auch unten, S. 616f.

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den Bruch zumindest vorerst unabwendbar machte. Max Weber lehnte denn auch das Angebot Naumanns ab, seine abweichende politische Haltung in der „Zeit" darzulegen: „Ich muß sagen, daß ich an sich n/'cWgeneigt wäre, in d e r z e i t irgend etwas zu schreiben." 1 2 5 Dies richtete sich allerdings weniger gegen Naumann selbst als gegen Hellmut von Gerlach. 1 2 6 Im Gegensatz zu Weber, der eine Zurückdrängung des polnischen Bevölkerungsanteils anstrebte, trat von Gerlach für die volle staatsbürgerliche Anerkennung und die Integration der Polen in den deutschen Staatsverband ein. 1 2 7 Obwohl Marianne Weber dies berichtet, 1 2 8 ist Max Weber nach allem damals wahrscheinlich nicht dem Nationalsozialen Verein beigetreten. Andererseits blieb er der Christlich-sozialen Bewegung weiterhin verbunden. Im Oktober 1896 wurde ihm von Adolf Hausrath angeraten, sich „reinlich von allem .Christlich-Sozialen' zu scheiden", um seine Berufung nach Heidelberg, über die gegenwärtig verhandelt werde, nicht zu gefährden. Max Weber lehnte es jedoch, ungeachtet der fortbestehenden grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten mit den National-Sozialen, ab, Naumann „grade jetzt [...] öffentlich zu .verleugnen'". 1 2 9 Schon aus Gründen der Fairneß und der persönlichen Achtung vor Naumann unterstützte er dessen Reichstagskandidatur für die 1898 anstehenden Wahlen, unter anderem auch mit einer substantiellen finanziellen Zuwendung. Im Herbst 1897 schrieb er an Naumann: „Ich persönlich halte einen Miserfolg [siel] bei den Wahlen für annähernd sicher, und glaube, auch wenn er wider Erwarten nicht eintritt, nicht an die Zukunft der Bewegung so wie sie ist. Aber sie muß in die Lage gesetzt werden, mit gleicher Verteilung von Sonne und Wind

125 Brief an Friedrich Naumann vom 9. Dez. 1896, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106, Bl.111f. 126 Weber wandte sich anscheinend auch aus dem Grund gegen von Gerlach, weil dieser, ebenso wie der zweite Redakteur der „Zeit", Heinrich Oberwlnder, zuvor für die von Adolf Stoecker herausgegebene Tageszeitung „Das Volk" tätig gewesen war. So schrieb er an Naumann: „Mit Ihnen will ich gern diskutieren, aber mit politischen Renegaten, die jetzt die erste Violine spielen wollen, nicht." Ebd. 127 Vgl. beispielsweise Hellmut von Gerlachs Artikel: Die Lehren von Opalenitza, in: Die Zeit, Nr. 29 vom 3. Nov. 1896, S. 1. 128 Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 235. 129 Brief an Adolf Hausrath vom 15. Okt. 1896, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/3, Bl. 1 - 2 . Es heißt hier: „Ich bin nichts weniger als ,Christt[ich]-sozial', sondern ein ziemlich reiner Bourgeois, und meine Beziehungen zu Naumann beschränkten sich darauf, daß ich ihn, dessen Charakter ich hochschätze, sachte von seinen sozialistischen Velleitäten loszulösen strebte. Aber grade jetzt ihn öffentlich zu ,verleugnen^,j ging am wenigsten an."

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sich politisch zu versuchen, und deshalb durfte sie nicht an dem Fehlen von einigen Tausend Mark scheitern." 1 3 0

4. Max Webers Wechsel von der Rechtswissenschaft ökonomie

zur National-

Die Zeitspanne zwischen 1892 und 1899 brachte grundlegende Veränderungen in der wissenschaftlichen Laufbahn Max Webers. Er war nach Abschluß seiner Habilitation am 1. Februar 1892 in Berlin zum Privatdozenten für Handelsrecht und Römisches Staats- und Privatrecht an der Universität Berlin ernannt worden. 1 3 1 Seit dem Sommersemester 1892 lehrte er in Berlin Römisches Sachenrecht, Römische Rechtsgeschichte, Handelsund Seerecht, Wechselrecht, Versicherungsrecht; ab Wintersemester 1892/93 vertrat er seinen erkrankten Handelsrechtslehrer Levin Goldschmidt, bei dem er 1889 promoviert hatte. 132 Im November 1893 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. 1 3 3 Im Sommersemester 1894 kündigte er erstmalig auch Preußische Rechtsgeschichte sowie Agrarrecht und Agrargeschichte an. 1 3 4 Die große Beachtung und allseitige Anerkennung, die Max Webers Auswertung der Landarbeiterenquete des Vereins für Socialpolitik in nationalökonomischen Kreisen fand, gab den Anstoß für die Berufung auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg zum Wintersemester 1894/95. Allerdings hatte Max Weber zunächst erhebliche Vorbehalte, diesen Ruf, derzugleich einen Wechsel in ein ganz neues Fachgebiet mit sich brachte, anzunehmen, zumal anfänglich die begründete Hoffnung bestand, daß ihm nun eine Professur für Handelsrecht an der Universität Berlin angeboten würde. Friedrich Althoff, die „graue Eminenz" der preußischen Hochschulpolitik, hat sich in der Tat darum

130 Brief an Friedrich Naumann vom [19. Okt.] 1897, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106, Bl. 11. 131 Vgl. den Editorischen Bericht von Jürgen Deininger, in: MWG I/2, S. 64-67. Marianne Weber, Lebensbild1, S. 122, berichtet irrtümlich, Max Weber habe sich auch für deutsches Recht habilitiert. 132 Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 174. 133 Ebd., vgl. auch Hochschul-Nachrichten. Monats-Übersicht, hg. von Paul von Salvisberg, München, Nr. 39 vom 26. Dez. 1893, S. 16. Laut Webers eigenen Angaben erfolgte die Ernennung zum a. o. Prof. der Rechte am 25. November 1893. Standesliste, Universitätsarchiv Freiburg, Personalakten, Phil. Fak., Personalakte Max Weber. 134 Nach Ausweis der Vorlesungsverzeichnisse der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin.

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bemüht, Max Weber in Berlin zu halten. 1 3 5 Die ohnehin unsichere Erwartung, 1 3 6 daß man ihm in Berlin nunmehr eine ordentliche Professur anbieten werde, was Max Weber entschieden vorgezogen haben würde, erwies sich jedoch als unbegründet. 1 3 7 Zu Beginn des Jahres 1894 wurden die Verhandlungen zwischen der Philosophischen Fakultät in Freiburg und Max Weber wieder aufgenommen und führten schon bald zu einem positiven Ergebnis. 1 3 8 A m 25. April 1894 erfolgte die Ernennung zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft. 1 3 9 Im September 1894 siedelte Max Weber nach Freiburg über. 1 4 0 Der Weggang nach Freiburg war für Max Weber eine schwere Entscheidung. Es fiel ihm durchaus nicht leicht, die Universität Berlin, das Zentrum des wissenschaftlichen Lebens im Deutschen Reich, zu verlassen und in die „Provinz" zu gehen. Auch angesichts seines Engagements in der öffentlichen Diskussion über die preußische Agrarpolitik wäre er lieber in Berlin geblieben, statt nach Süddeutschland überzuwechseln und in die Rolle eines Beobachters aus der Distanz zu schlüpfen. In einem Brief an seine Frau Marianne Weber heißt es: „Alle die verschiedenen Bedenken, die gegen die Übernahme der Freiburger Stelle zu machen sind, kamen mir wieder, und ich kam mir zeitweise so vor, als ob ich mit dem Weggange von Berlin mich .pensionieren' ließe." 1 4 1 Andererseits eröffnete ihm der Ruf nach Freiburg, ganz abgesehen von der materiellen Seite der Dinge (denn für seine Tätigkeit als Extraordinarius an der Universität Berlin hatte er keine finanzielle Remuneration erhalten), die Möglichkeit, sich von der „öden Juristerei" , 1 4 2 an die er sich geschmiedet fühlte, zu befreien. Der stung, nomie neben

Fachwechsel brachte für Weber freilich eine erhöhte Arbeitsbelamußte er sich doch ganz neu in das gesamte Gebiet der Nationalökoeinarbeiten. Er war verpflichtet, wie es damals allgemein üblich war, dem ihm durch seine agrarpolitischen und agrarhistorischen Studien

135 Vgl. dazu Weber, Marianne, Lebensbild 1 , S. 211 f. 136 Brief an Helene Weber vom 26. Juli 1893, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 3. 137 Vgl. Brief an Clara Weber vom 15. Juli 1893, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 23. 138 Zur Geschichte der Berufung siehe: Biesenbach, Friedhelm, Die Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Freiburg i.Br. 1 7 6 8 - 1 8 9 6 . - Freiburg i. Br.: E. Albert 1969, S. 2 0 0 - 2 0 2 . 139 Mitteilung des Ministeriums der Justiz, des Kultus und Unterrichts an den Senat der Universität Freiburg vom 30. April 1894, Universitätsarchiv Freiburg, Personalakten, Phil. Fak., Personalakte Max Weber. 140 Vgl. unten, S. 536, Anm. 7. 141 Brief an Marianne Weber vom 9. April 1894, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 142 Vgl. oben, Anm. 136.

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einigermaßen geläufigen Gebiet der Praktischen Nationalökonomie oder Volkswirtschaftspolitik auch Theoretische Nationalökonomie zu lehren. Max W e b e r hielt in den k o m m e n d e n Jahren in Freiburg die f o l g e n d e n Vorlesungen: In den W i n t e r s e m e s t e r n 1 8 9 4 / 9 5 und 1 8 9 5 / 9 6 sowie im S o m m e r s e mester 1 8 9 6 las er „ A l l g e m e i n e und theoretische N a t i o n a l ö k o n o m i e " , im S o m m e r s e m e s t e r 1895 „Praktische Nationalökonomie (Volkswirtschaftspolitik)" und in den W i n t e r s e m e s t e r n 1 8 9 4 / 9 5 und 1 8 9 6 / 9 7 „ F i n a n z w i s s e n s c h a f t " . Ferner hielt er eine Reihe v o n Spezialkollegs ab, im W i n t e r s e m e ster 1 8 9 5 / 9 6 über „ G e l d - , Bank- und B ö r s e n w e s e n " , im W i n t e r s e m e s t e r 1 8 9 6 / 9 7 über „ B ö r s e n w e s e n und B ö r s e n r e c h t " , im S o m m e r s e m e s t e r 1895 über „ D i e d e u t s c h e Arbeiterfrage in Stadt und Land" und im S o m m e r s e m e s t e r 1896 über „ G e s c h i c h t e der N a t i o n a l ö k o n o m i e " . G e m e i n s a m mit s e i n e m Freiburger Fachkollegen Gerhart von S c h u l z e - G a e v e r n i t z führte er darüber hinaus in j e d e m S e m e s t e r ein „kameralistisches S e m i n a r " d u r c h . 1 4 3 Nur eine Lehrveranstaltung in der Freiburger Zeit war ausschließlich d e m T h e m a „Agrarpolitik" g e w i d m e t . 1 4 4 Im Herbst 1896 eröffnete sich die Chance, an die Universität Heidelberg ü b e r z u w e c h s e l n . Max Weber war darüber zunächst gar nicht einmal so begeistert, denn einstweilen hatte er die Absicht, sich intensiver politisch zu betätigen, noch nicht aufgegeben. S e i n e Berufung in den Börsenausschuß, den der Bundesrat zur U n t e r s u c h u n g der A u s w i r k u n g e n des B ö r s e n g e s e t zes v o n 1896 eingesetzt hatte, 1 4 5 s o w i e seine Mitwirkung in einer Unterkommission, die die Organisation des Getreideterminhandels an den deuts c h e n Börsen näher u n t e r s u c h e n sollte, 1 4 6 boten ein gutes Sprungbrett für eine weitere agrarpolitische Betätigung. Max W e b e r meinte, daß er „jetzt im A u g e n b l i c k ] , w o die Politik, einschließlich der aussichtslosen N a u m a n n ' s c h e n Projekte für mich gar kein Thätigkeitsfeld bietet, unbedingt die breitere a k a d e m i s c h e Thätigkeit wählen w ü r d e . " D e n n o c h hätte er „die Wahl, vor die" er mit einer Berufung nach Heidelberg gestellt wurde, nämlich „ h i e r

143 Diese Angaben beruhen auf den Ankündigungen in den Vorlesungsverzeichnissen. Vgl. auch Biesenbach, Die Entwicklung der Nationalökonomie, S. 202. - Mit Ausnahme des ersten Semesters kündigte Weber in seiner Freiburger Zeit auch Handelsrechtspraktika und Vorlesungen über Deutsche Rechtsgeschichte an, zunächst an der Juristischen Fakultät, dann im Wintersemester 1896/97 an der auf seinen Antrag hin neu gebildeten Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Die von Marianne Weber, Lebensbild1, S. 213, angegebene Stundenzahl (12 Stunden Kolleg und zwei Seminare) hat Max Weber, folgt man den Ankündigungen im Vorlesungsverzeichnis, allerdings nicht erreicht. 144 Diese Vorlesung oder dieses Seminar vom Sommersemester 1895 wird in den Vorlesungsverzeichnissen nicht angekündigt. Max Weber erhielt jedoch, wie aus den Zahlungslisten der Universität hervorgeht, 120 Mark Hörergeld. 145 Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 81, sowie den Brief an Marianne Weber vom 20. Nov. 1896, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 146 Brief an Marianne Weber vom [22.] Nov. 1896, ebd.

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[d. h. in Freiburg] zu bleiben und mich weiter politisch zu bethätigen, so weit dazu Gelegenheit und Anlaß ist - oder eine große Stellung anzunehmen und damit natürlich die Verpflichtung zu übernehmen, auf alle andre Wirksamkeit zu verzichten - gern noch auf eine Anzahl Jahre hinausgeschob e n " . 1 4 7 Als er dann Anfang Dezember 1896 den Ruf an die Universität Heidelberg als Nachfolger von Karl Knies erhielt, sah er freilich keine andere Möglichkeit, als diesen sogleich anzunehmen. Max Weber wurde nach nur kurzen Verhandlungen bereits am 7. Januar 1897 zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft ernannt. 1 4 8 Damit war er mit den gleichen Lehraufgaben wie in Freiburg betraut. Auch in Heidelberg las er alternierend „Theoretische Nationalökonomie" und „Praktische Nationalökonomie". 1 4 9 Daneben hielt er ein „Volkswirtschaftliches Seminar" 1 5 0 sowie Spezialvorlesungen über Agrarpolitik und die „Arbeiterfrage und Arbeiterbewegung" ab. 1 5 1 Nach dem Ausbruch seiner Krankheit im Sommer 1898 reduzierte er im Wintersemester 1898/99 seine Lehrtätigkeit. 1 5 2 Im Sommersemester 1899 wurde er von allen Lehrverpflichtungen befreit; im Wintersemester 1899/1900 las er dann noch einmal ein zweistündiges Kolleg über „Agrarpolitik". Dies war die letzte, schon nicht mehr zu Ende geführte Vorlesung, die Max Weber in Heidelberg gehalten hat. 1 5 3 147 Brief an Adolf Hausrath v o m 15. Okt. 1896, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/3, Bl. 1 - 2 . 148 Vgl. die Briefe Max Webers an das Großherzoglich Badische Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 12., 15. Dezember und [Ende] 1896, GLA Karlsruhe 2 3 5 - 3 1 4 0 , sowie Hentschel, Volker, Die Wirtschaftswissenschaften als akademische Disziplin an der Universität Heidelberg 1 8 2 2 - 1 9 2 4 , in: Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten, hg. von Norbert Waszek. - St. Katharinen: Scripta Mercaturae Verlag 1988, S. 204f. 149 Im Sommersemester 1897 und 1898 las er „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie" bzw. „Allgemeine (.theoretische') Nationalökonomie, mit Ausschluß der Litteraturgeschichte"; im Wintersemester 1897/98 und 1898/99 „Praktische Nationalökonomie: Handels-, Gewerbe- und Verkehrspolitik" bzw. „Praktische Nationalökonomie (außer Geld- und Bankwesen) Allgemeiner Teil: Bevölkerungs-, Handels-, Gewerbe-, Verkehrs- und Agrarpolitik". 150 Nach Ausweis der Zahlungslisten im Universitätsarchiv Heidelberg im Sommersemester 1897 und im Wintersemester 1898/99. 151 „Agrarpolitik" las Weber im Wintersemester 1897/98, „Arbeiterfrage und Arbeiterbewegung" im Sommersemester 1898. 152 Er ließ sich von einer Vorlesung über „Geld- und Bankwesen", die er für das Wintersemester 1898/99 bereits angekündigt hatte, dispensieren. Vgl. Hentschel, Wirtschaftswissenschaften, S. 205. 153 Ebd., S. 205f. Vgl. auch Weber, Marianne, Lebensbild 1 , S.254. Von den Vorlesungen „Agrarpolitik" (WS 1897/98) und „Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land" (SS 1895) sind uns Mitschriften überliefert, die zur Kommentierung des vorliegenden Bandes herangezogen wurden. Die Mitschriften befinden sich im Deponat Max Weber und im Bestand Max Weber-Schäfer, beides BSB München, Ana 446.

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D a n e b e n stand Max W e b e r s Tätigkeit in zahlreichen wissenschaftlichen V e r e i n i g u n g e n und Institutionen. Dazu gehörte in erster Linie seine Aktivität im Rahmen des Vereins für Socialpolitik, auf die bereits e i n g e h e n d hingew i e s e n w u r d e . Die Mitwirkung im „Zentralverein für das Wohl der arbeitenden K l a s s e n " , in d e s s e n A u s s c h u ß Max W e b e r am 6 . D e z e m b e r 1893 gewählt w u r d e , ging ursprünglich auf seinen Vater zurück, der bereits seit 1869 Mitglied d e s „ Z e n t r a l v e r e i n s " g e w e s e n w a r . 1 5 4 Nach d e m U m z u g nach Freiburg trat Max Weber dann d e m A u s w ä r t i g e n A u s s c h u ß des „ Z e n tralvereins" bei, 1 5 5 legte dann aber im Jahre 1900 seine Mitgliedschaft endgültig nieder. 1 5 6 B e d e u t s a m e r war, daß Max Weber im Herbst 1896 die Leitung des w e n i g zuvor von Wilhelm Merton g e g r ü n d e t e n „Instituts für G e m e i n w o h l " in Frankfurt am Main a n g e b o t e n w u r d e . 1 5 7 D e m Institut g e h ö r t e n m e h r e r e „ T o c h t e r g e s e l l s c h a f t e n " an, wie die „Gesellschaft für Wohlfahrtseinricht u n g e n " und die „ A u s k u n f t s s t e l l e für A r b e i t e r a n g e l e g e n h e i t e n " , ferner Speiseanstalten für Bedürftige u.a. Das Institut gab unter a n d e r e m die Zeitschrift „Soziale Praxis" heraus, in der auch Max Weber einen Artikel veröffentlicht hat. 1 5 8 Er lehnte d i e s e s A n g e b o t , das unter a n d e r e m auch umfangreiche Verwaltungsaufgaben mit sich gebracht haben w ü r d e , j e d o c h ab. Da Merton j e d o c h zugleich die G r ü n d u n g einer „ A k a d e m i e für Sozialund H a n d e l s w i s s e n s c h a f t e n " in Frankfurt am Main betrieb, für die das „Institut für G e m e i n w o h l " einen institutionellen Kern a b g e b e n sollte, erklärte er sich im Hinblick auf diese interessante Z u k u n f t s p e r s p e k t i v e zur Mitarbeit im Wissenschaftlichen Beirat des „Instituts für G e m e i n w o h l " bereit,

154 Vgl. Der Arbeiterfreund. Zeitschrift des Centrai-Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, 31. Jg., 1893, S.566. Auf wessen Vorschlag Weber gewählt wurde, ist nicht bekannt. Möglicherweise wurde er von dem ihm befreundeten Agrarwissenschaftler Max Sering vorgeschlagen. Bezüglich der Mitgliedschaft des Vaters vgl. ebd., 27. Jg., 1889, S. 600. Alles deutet darauf hin, daß Weber nur aus Gründen der Tradition und der gesellschaftlichen Beziehungen Mitglied des „Zentralvereins" geworden war. Aktiv hat er nicht mitgearbeitet. Jedenfalls wird er in keinem der jeweils in der Zeitschrift „ Der Arbeiterfreund" abgedruckten Sitzungsprotokolle des Ausschusses und des vereinigten Ausschusses und Vorstands als Teilnehmer genannt. Ebd., 32. Jg., 1894, S. 271 f. 155 Vgl. ebd., 32. Jg., 1894, S.562: „Herr Dr. Max Weber, Mitglied des einheimischen Ausschusses, teilt mit, daß er nach Freiburg i. B. übergesiedelt sei und sich daher als aus dem Ausschuß ausgeschieden betrachte. Da indes auch im auswärtigen Ausschuß einige Sitze erledigt sind, wählt die Versammlung Herrn Dr. Max Weber durch Acclamation zum auswärtigen Ausschußmitglied." 156 Ebd., 38. Jg., 1900, S. 311. Als Nachfolger wurde der katholische Sozialpolitiker und Professor Franz Hitze gewählt. Ebd., S. 472. 157 Vgl. dazu Sachße, Christoph, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung, 1871 -1929.-Frankfurtam Main: Suhrkamp 1986, S.86-89. 158 Es handelt sich um den Artikel „Der preußische Gesetzentwurf über das Anerbenrecht bei Rentengütern." Siehe unten, S. 586-596.

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z u s a m m e n mit Lujo Brentano, Karl Bücher, Georg Friedrich Knapp, Gustav Schmoller und Max Sering. Ferner war Max W e b e r in einer ganzen Reihe von a k a d e m i s c h e n Vereinig u n g e n aktiv. So gehörte er in Berlin e i n e m Kreis fortgeschrittener S t u d e n ten und Nationalökonomen an, der sich im Unterschied zu der r e n o m m i e r ten, 1883 v o n Gustav Schmoller b e g r ü n d e t e n „Staatswissenschaftlichen G e s e l l s c h a f t " , 1 5 9 als „ k l e i n e staatswissenschaftliche Gesellschaft" bezeichnete. Dieser Kreis traf sich regelmäßig alle v i e r z e h n Tage montags zu Vorträgen wissenschaftlichen Charakters. 1 6 0 Weiterhin gehörte Max Weber der „Staatswissenschaftlichen V e r e i n i g u n g " an, die, soweit wir wissen, mit d e m Berliner Staatswissenschaftlichen Seminar v e r b u n d e n war. Er hielt hier, wie bereits erwähnt, im Frühjahr 1892 einen Vortrag über die Agrarverfassung in Deutschland. 1 6 1 Ebenfalls noch in W e b e r s Berliner Zeit fällt ein Vortrag über „ D i e landwirtschaftliche A r b e i t e r f r a g e " , d e n er im S o m m e r 1894 vor der Berliner „Sozialwissenschaftlichen S t u d e n t e n v e r e i n i g u n g " hielt. 1 6 2 Diese Vereinigung b e m ü h t e sich darum, S t u d e n t e n aller Fachricht u n g e n in das Studium der sozialen Frage und der Nationalökonomie einzuführen. Weiterhin war Max W e b e r Mitglied der im Februar 1894 g e g r ü n d e t e n „Internationalen Vereinigung für v e r g l e i c h e n d e Rechtswissenschaft und V o l k s w i r t s c h a f t s l e h r e " , der zahlreiche Berliner Juristen und Nationalökonom e n angehörten. Im Juli 1894 sprach er hier über die Organisation der d e u t s c h e n B ö r s e n . 1 6 3 A m 26. S e p t e m b e r 1896 referierte er erneut in dies e m Kreise über „ D i e G e g e n s ä t z e der d e u t s c h e n Agrarverfassung in ihren Ursachen und W i r k u n g e n " , 1 6 4 Max W e b e r blieb, soweit wir wissen, z u m i n dest bis 1899 Mitglied dieser V e r e i n i g u n g . 1 6 5 Über Max W e b e r s Aktivitäten in wissenschaftlichen V e r e i n i g u n g e n während der Freiburger Jahre ist w e n i g bekannt. 1 8 9 5 / 9 6 referierte er vor der Freiburger „ A k a d e m i s c h e n Gesellschaft" über „ D i e sozialen G r ü n d e des Untergangs der antiken K u l t u r . " 1 6 6 Kurz zuvor war er anläßlich der Feier

159 Selbiger gehörte Max Weber, ungeachtet gegenteiliger Annahmen in einem Teil der Forschung, nicht an. Er wird auch in den Vortragslisten nicht als Redner erwähnt. Ein Exemplar dieser Liste befindet sich im BA Koblenz, Nl. Hans Delbrück, Nr. 24, Bl. 134-138. Da die Mitglieder statutengemäß an eine Vortragspflicht gebunden waren, dürfte die Vortragsliste mit der Mitgliederliste weitgehend identisch sein. 160 Vgl. unten, S. 914f., über einen uns nicht näher bekannten Vortrag Max Webers in dieser Vereinigung. 161 Vgl. unten, S.908f. 162 Näheres dazu unten, Anhang II, S.912f. 163 Die uns über diesen Vortrag überlieferten Presseberichte werden in MWG I/5 veröffentlicht. 164 Vgl. die darüber überlieferten Presseberichte unten, S. 7 9 9 - 8 0 9 . 165 Vgl. unten, S. 799, Anm. 3. 166 DerVortrag wurde veröffentlicht in: Die Wahrheit. Halbmonatsschrift zur Vertiefung in

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zum 80jährigen Bestehen der deutschen Burschenschaften im Juli 1895 in die Schlagzeilen geraten. Weber gehörte seit seinem Studium der Allemannia (Heidelberg) an. Auf der Jubiläumsfeier der Alemannia (Freiburg) behauptete er, einer Burschenschaft wäre es im Unterschied zu dem Corps Hannovera niemals passiert, Bismarck erst auszuschließen und später, als berühmten Politiker, wieder aufzunehmen. 1 6 7 Ein Mitglied der Hannovera bezweifelte die Richtigkeit dieser Äußerungen in einem Leserbrief, auf den Max Weber wiederum mit einer Zuschrift an die Breisgauer Zeitung reagierte, in der er seine Behauptung relativierte. 168 Ferner erklärte sich Max Weber dazu bereit, an der in Freiburg neu begründeten Zweimonatsschrift Akademische Rundschau mitzuarbeiten, in der Fragen des akademischen Lebens, wie Studiengänge, Institutionen, studentische Vereinigungen und ähnliches mehr sowie übergeordnete aktuelle Zeitfragen der Nationalpolitik und Sozialreform erörtert wurden. 1 6 9 Nach seiner Berufung nach Heidelberg beteiligte sich Max Weber an der Gründung der dortigen „Socialökonomischen Vereinigung", die die Zusammenarbeit von Studenten aller Fakultäten mit Dozenten der Staatswissenschaften zur Vertiefung des nationalökonomischen Wissens fördern wollte. 1 7 0 Die Anregung dazu ist vermutlich von ihm selbst ausgegangen. 1 7 1 d i e F r a g e n u n d A u f g a b e n d e s M e n s c h e n l e b e n s , 6. B a n d , A p r i l - S e p t . 1 8 9 6 , S. 5 7 - 7 7 ( M W G I/6). 167 Vgl. d e n P r e s s e b e r i c h t , u n t e n , S. 7 3 1 . 168 S i e h e u n t e n , S. 5 7 5 - 5 7 8 . 169 Vgl. d e n A r t i k e l „ U n s e r P r o g r a m m " , in: A k a d e m i s c h e R u n d s c h a u . Blätter für R e f o r m d e s a k a d e m i s c h e n L e b e n s , 1 . J g . , Nr. 1 v o m 15. A p r i l 1 8 9 6 , S. 1 - 4 , s o w i e d a s V e r z e i c h n i s d e r M i t a r b e i t e r , e b d . , Nr. 7 v o m 11. Juli 1 8 9 6 . 170 Vgl. d e n B e r i c h t : S o c i a l ö k o n o m i s c h e V e r e i n i g u n g z u H e i d e l b e r g , in: H e i d e l b e r g e r A k a d e m i s c h e M i t t e i l u n g e n , Nr. 1 3 , 1 8 9 7 ( R u b r i k : H o c h s c h u l n a c h r i c h t e n ) . 171 In e i n e m A r t i k e l in „ D e r S o z i a l i s t i s c h e S t u d e n t " , 2. Jg., 1 8 9 8 , N r . 9 v o m 21. J a n . 1 8 9 8 , S. 1 3 9 , heißt e s : „ E r s t seit v e r g a n g e n e m J a h r k o n s t i t u i e r t e s i c h hier auf A n r e g u n g des kürzlich hierher berufenen Professors Weber eine sozialökonomische Vereinigung o h n e c o r p o r a t i v e n C h a r a k t e r . " In d e m Artikel, d e r als o f f e n e r Brief a b g e f a ß t ist, heißt e s w e i t e r : „ T h a t s ä c h l i c h w a r d i e w e r b e n d e Kraft d i e s e r n e u e n G r ü n d u n g n u r s e h r g e r i n g , w a s e i n e n a u c h n i c h t W u n d e r n e h m e n k a n n , d a s i c h hier u n t e r d e m P r o t e k t o r a t d e s g e s i n n u n g s t ü c h t i g e n P r o f e s s o r s e i n e b l e i e r n e L a n g e w e i l e d e r ö d e s t e n F a c h s i m p e l e i breit m a c h t . D e r e r w ä h n t e P r o f e s s o r W e b e r , d e r I h n e n w o h l v o n d e r n a t i o n a l s o z i a l e n Partei h e r bekannt sein dürfte, w u r d e im v e r g a n g e n e n Semester aus Freiburg hierher berufen, um d e n Platz v o n K n i e s , e i n e r d e r K o r y p h ä e n d e r h i s t o r i s c h e n S c h u l e , e i n z u n e h m e n . V o n g e w i s s e r S e i t e w u r d e n g r o ß e E r w a r t u n g e n auf ihn, als auf e i n e j ü n g e r e Kraft g e s e t z t , d i e er i n d e s s e n g r a u s a m g e t ä u s c h t hat. S c h o n d i e e r s t e n V o r l e s u n g e n z e i g t e n , w e s G e i s t e s K i n d er sei. N a c h e i n i g e m radikalen W o r t g e k l i n g e l e n t p u p p t e er s i c h g a r b a l d als V o r f e c h t e r der österreichischen Schule, der es unternommen, die Systeme seiner Lehrmeister B ö h m - B a w e r k und Menger nach Deutschland zu importiren. Leider begnügt sich unser P r o f e s s o r n i c h t mit d i e s e r s e i n e r b e s c h e i d e n e n V o r f e c h t e r r o l l e . Er will a u c h M a r x k r i t i k e r sein. Er d ü r s t e t n a c h d e m u n b l u t i g e n L o r b e e r e i n e s M a r x t ö d t e r s . D a er a b e r M a r x d u r c h

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Jedenfalls nahm Max Weber an der ersten ordentlichen Sitzung am 19. Juli 1897 teil, in der sein Schüler Salli Goldschmidt über „Die Sachsengängerei" referierte. Er selbst kündigte einen Vortrag über „Die sociale Funktion der ländlichen Verschuldung" für den 27. Juli 1897 an, doch ist nicht sicher, ob dieser dann auch stattgefunden hat. 172 Ferner trat Max Weberam 13. Juni 1898 dem „Historisch-Philosophischen Verein zu Heidelberg" bei. 173 Eine Durchsicht der Vereinszeitschrift, der Neuen Heidelberger Jahrbücher, ergab, daß er im Rahmen dieses Vereins keinen Vortrag gehalten hat. Außerdem wurde Max Weber im November 1896 in die Badische Historische Kommission aufgenommen. 174 Er hat im Oktober 1897 und 1899 an deren Sitzungen teilgenommen. 175 Schließlich beteiligte sich auch Max Weber an der von mehr als achthundert ordentlichen Professoren im Deutschen Reich unterzeichneten Kundgebung zur Unterstützung der deutschen Universität in Prag, die sich gegen die Badenischen Sprachenverordnungen vom April 1897 richtete, in denen das Tschechische dem Deutschen im Justizwesen und in bestimmten Bereichen der Verwaltung gleichgestellt wurde. 176 Dahinter stand das Bestreben, die deutsche Kulturnation auch außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches zu unterstützen und deren Einheit zu erhalten.

eine ehrliche Kritik nicht beizukommen vermag, greift er nach einem alten, aber erprobten Mittel. Er macht sich einen Popanz von Marx zurecht, dem er allerhand grobe Ungereimtheiten in die Schuhe schiebt und dann mit dem gewaltigsten Aufwand von Gelehrsamkeit, Witz und sittlicher Entrüstung zum Gaudium seiner Zuhörer zerpflückt. Je trauriger dann der arme Marx dasteht, in um so hellerem Lichte erstrahlt der Scharfsinn unseres Professors. Ohne diese, milde ausgedrückt, nicht ganz wissenschaftliche Methode einer Kritik unterziehen zu wollen, möchten wir nur bemerken, daß sie auch ein gewisses Licht auf die Zuhörer wirft, die sie ernst nehmen." 172 Alle Angaben nach den Heidelberger Akademischen Mitteilungen (wie Anm. 170). Zur Gründung und ersten Sitzung vgl. auch die Notizen in der Heidelberger Zeitung, Nr. 170 vom 24. Juli 1897, S. 2, und Heidelberger Tageblatt, Nr. 173 vom 28. Juli 1897, S.3. Da es sich um eine universitätsinterne Veranstaltung handelte, ließen sich in der Lokalpresse keinerlei Hinweise auf den Vortrag finden. 173 Protokollbuch des Historisch-Philosophischen Vereins zu Heidelberg, Band 9, UB Heidelberg, Handschriftenabteilung, Heid. Hs. 1208. 174 Vgl. den Bericht der Frankfurter Zeitung, Nr. 324 vom 21. Nov. 1896, Abendblatt (MWG 1/13). 175 Vgl. die Ergebnisprotokolle der Plenarsitzungen vom 25. und 26. Oktober 1897 und vom 20. und 21. Oktober 1899, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N.F. Band XIII, 1898, S. 1, sowie dass., N.F. Band XV, 1900, S. 1. Siehe fernerden Bericht des Sekretariats über die 15. Plenarsitzung der Badischen Historischen Kommission, in: dass., N.F. BandXII, 1897, S.164f. 176 Siehe unten, S. 8 9 6 - 8 9 9 .

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5. Volkswirtschaftspolitik aus nationalpolitischer und schaftstheoretischer Sicht: Die Freiburger Akademische rede von 1895

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Die A k a d e m i s c h e Antrittsrede über „ Die Nationalität in der Volkswirtschaft" - so der ursprüngliche Titel - , die Max W e b e r nach seiner B e r u f u n g an die Universität Freiburg am 13. Mai 1895 gehalten hat, stellt das vielleicht bed e u t e n d s t e Z e u g n i s für die e n g e V e r b i n d u n g von Wissenschaft und Politik dar, die uns im Frühwerk Max W e b e r s fast ausnahmslos, w e n n auch in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, entgegentritt. N i r g e n d w o w e r den die politischen Ideale des j u n g e n Max W e b e r mit größerer Prägnanz vorgetragen; in einer Sprache v o n großer Wirkkraft entwickelte er hier vor d e m Hintergrund einer Analyse der agrarpolitischen Probleme des ostelbis c h e n Deutschland einen Katalog v o n politischen Forderungen, durchsetzt mit scharfer Kritik an den politischen Verhältnissen im D e u t s c h e n Reich. Und d e n n o c h war die Zielsetzung der Antrittsrede nicht in erster Linie politischer Natur; im Gegenteil, Max W e b e r wollte am Beispiel der agrarpolitischen Probleme, vor die sich die d e u t s c h e Politik in den ostelbischen G e b i e t e n Preußens gestellt sah, die t h e o r e t i s c h e n V o r a u s s e t z u n g e n erörtern, auf d e n e n die wissenschaftliche Beurteilung volkswirtschaftlicher Vorgänge n o t w e n d i g e r w e i s e beruht, gleichviel v o n w e l c h e n W e r t s t a n d p u n k t e n aus dies geschieht. Insoweit ging die Antrittsrede durchaus über die Zielsetzung hinaus, die Max W e b e r wohl erst nachträglich (möglicherweise in A b w e h r mancher durch die mündliche Präsentation ausgelöster kritischer Stellungnahmen) in der Vorrede zur Veröffentlichung benannte, nämlich einer „ o f f e n e n Darleg u n g und Rechtfertigung des persönlichen und insoweit .subjektiven' S t a n d p u n k t e s bei der Beurteilung volkswirtschaftlicher E r s c h e i n u n g e n " , 1 7 7 Sie war ein politisches Pronunciamento mit w e i t r e i c h e n d e n A u s w i r k u n g e n , zugleich aber war sie eine A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der m e t h o d o l o g i s c h e n Position der historischen Nationalökonomie; sie richtete sich g e g e n die Auffassung, daß ethische Gesichtspunkte, beispielsweise jener der sozialen Gerechtigkeit, für die wissenschaftliche Beurteilung sozialer und ö k o n o mischer P h ä n o m e n e maßgeblich s e i e n , 1 7 8 und daß sich die B e w e r t u n g s k r i terien durch Induktion aus d e m historischen Material selbst ableiten ließen. Max W e b e r stellte dieser A u f f a s s u n g seine Ansicht entgegen, daß die 177 Siehe unten, S. 543. 178 Eine Max Weber mit Gewißheit geläufige Argumentation dieser Art findet sich repräsentativ in Gustav Schmollers Abhandlung aus dem Jahre 1881 „Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft", wieder abgedruckt in Schmoller, Gustav, Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre. - Leipzig: Duncker & Humblot 19042, S. 213-261.

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Wertmaßstäbe der Beurteilung einer der Wissenschaft heterogenen Sphäre angehören und daher niemals dem Gegenstandsbereich selbst entnommen werden können. In dieser Hinsicht steht die Antrittsrede am Anfang der Werturteilsdiskussion in den Sozialwissenschaften. Diese, allerdings mit politischen Erwägungen argumentativ eng verzahnte, theoretische Zielsetzung der Freiburger Antrittsrede ist jedoch bereits in der Wahrnehmung der Zeitgenossen zurückgetreten hinter den vergleichsweise radikalen politischen Aussagen und den eindringlichen Reflexionen über die Konstellation, in der sich das Deutsche Reich am Ende der Ära Bismarcks befand. Dies war bedingt nicht zuletzt durch den Umstand, daß Max Weber im mündlichen Vortrag den wissenschaftstheoretischen Teil seiner Darlegungen großenteils ausgelassen hatte. 1 7 9 In die zur Veröffentlichung bestimmte Fassung, der Max Weber nun den umfassenderen Titel „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik" gab, wurden diese Passagen dann wieder aufgenommen. 1 8 0 Die Freiburger Antrittsrede hat, wie Max Weber selbst bezeugt, schon bei den Zeitgenossen große Beachtung gefunden, zugleich aber wegen der „Brutalität" seiner „Ansichten", wie er seinem Bruder Alfred mit einer gewissen Befriedigung schrieb, vielfach erhebliche Irritation ausgelöst. 1 8 1 Sie hat in der Max Weber-Forschung immer schon höchst unterschiedliche Beurteilungen gefunden; 1 8 2 bis heute sind ihre Interpretation und ihr Status innerhalb des Gesamtwerks umstritten. 1 8 3 Außer Zweifel steht jedoch, daß sie ein bedeutsames Zeugnis von Max Webers politischer Grundhaltung darstellt, obschon er seine Einstellung in vielen Einzelfragen späterhin gründlich modifiziert hat. 1 8 4

179 Vgl. den Editorischen Bericht, unten, S. 538. 180 Vgl. unten, S. 539. 181 Brief an Alfred Weber vom 17. Mai 1895, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 4, Bl. 4 0 - 4 1 . 182 Siehe beispielsweise Bergstraesser, Arnold, Max Webers Antrittsvorlesung in zeitgeschichtlicher Perspektive, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 5.Jg., 1957, S. 2 0 9 - 2 1 9 , sowie Hennis, Wilhelm, Zum Problem der deutschen Staatsanschauung, ebd., 7. Jg., 1959, S . 1 - 2 3 , bes. S. 19ff.; hingegen ders., Max Weber in Freiburg. Zur Freiburger Antrittsvorlesung in wissenschaftsgeschichtlicher Sicht, in: Freiburger Universitätsblätter, Heft86, 1984, S. 3 3 - 4 5 . 183 Vgl. dazu Aldenhoff, Rita, Nationalökonomie, Nationalstaat und Werturteile. Wissenschaftskritik in Max Webers Freiburger Antrittsrede im Kontext der Wissenschaftsdebatten in den 1890er Jahren, in: Sprenger, Gerhard (Hg.), Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900 (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft43). - Stuttgart: Franz Steiner 1991, S. 7 9 - 9 0 . Siehe fernerhin Schluchter, Wolfgang, Religion und Lebensführung, B a n d l , Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie. - Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 1 7 3 - 1 8 1 , sowie Hennis, Wilhelm, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks. - Tübingen: J.C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1987, S.88. 184 Vgl. Mommsen, Max Weber 2 , S.37ff.

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Die Antrittsrede besteht, wie von Rita Aldenhoff dargelegt worden ist, aus drei, durchaus unterschiedlichen Teilen, einem ersten Teil, der in geraffter Form die Quintessenz seiner agrarpolitischen Forschungen zur ostelbischen Landarbeiterfrage darlegt, einem zweiten Teil, der wissenschaftstheoretischen Fragen, insbesondere der Werturteilsproblematik, zugewandt ist, und einem letzten Teil, der eindeutig politischen Charakter besitzt. 185 Im ersten Teil seiner Ausführungen legte Max Weber erneut seine Ansichten über den Strukturwandel der ostelbischen Agrarwirtschaft dar. Unter den herrschenden ökonomischen Bedingungen werde die bodenständige deutsche Landarbeiterschaft zunehmend von polnischen Bauern und Landarbeitern ersetzt, eben weil letztere einen niedrigeren Lebensstandard und demgemäß eine größere Anpassungsfähigkeit besäßen. Hier wirke sich die „Auslese im freien Spiel der Kräfte" zuungunsten der ökonomisch höher entwickelten und auf einem höheren Kulturniveau stehenden Nationalität aus. 186 Max Weber zog daraus die Folgerung, daß der Staat in dieses „freie Spiel der Kräfte" eingreifen und Bedingungen schaffen müsse, die den deutschen Landarbeitern nicht länger Anlaß zur Abwanderung geben und einem weiteren Vordringen der polnischen Bevölkerungsgruppe entgegenwirken würden. Obschon dies den ökonomischen Interessen insbesondere der Großgüterwirtschaft zuwiderlief, verlangte er eine Sperrung der Grenzen für polnische Wanderarbeiter. Weiterhin plädierte er entgegen rein ökonomischen Gesichtspunkten für die Aufsiedelung eines erheblichen Teils des Großgrundbesitzes und die Einrichtung von kleinen Bauernstellen, eben weil diese nicht in erster Linie für den Markt produzierten, im Sinne der bisherigen Politik der preußischen Ansiedlungskommission. Außerdem forderte er eine drastische Ausweitung des staatlichen Domänenbesitzes, als einer Übergangsstufe zur Ansiedlung von Bauern und Pächtern in neu zu errichtenden Bauerndörfern, um ein Reservoir deutschstämmiger ländlicher Arbeitskräfte auf dem Lande zu schaffen. Auf diese Aussagen, die, wie ersichtlich ist, große politische Brisanz besaßen, stützte Max Weber sich in der Folge, um den Nachweis zu führen, daß das in der Nationalökonomie gemeinhin als objektives Bewertungskriterium betrachtete Prinzip der Maximierung des wirtschaftlichen Ertrags in diesem Falle mit dem nationalpolitischen Interesse an der Erhaltung des Deutschtums im Osten in einem unabweisbaren Konflikt stehe. Für Max Weber galt es unbezweifelbar, daß „der Nationalstaat" als „der letzte Wertmaßstab auch der volkswirtschaftlichen Betrachtung" zu gelten habe, auch wenn das nationalpolitische Interesse, wie in diesem Fall, im Widerstreit mit 185 Aldenhoff, Nationalökonomie, S. 81 f. 186 Siehe unten, S. 554.

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i m m a n e n t e n ö k o n o m i s c h e n W e r t g e s i c h t s p u n k t e n s t e h e . 1 8 7 Er leitete aus diesem, nach seiner Ansicht unbestreitbaren, Sachverhalt grundsätzliche B e o b a c h t u n g e n über die n o t w e n d i g e T r e n n u n g von analytischer Betracht u n g und w e r t e n d e m Urteil in der Wissenschaft ab, die sich g e g e n die h e r r s c h e n d e Lehre der z e i t g e n ö s s i s c h e n historischen Nationalökonomie richteten und in g e w i s s e r Hinsicht seine späteren Arbeiten zur Werturteilsfrage teilweise bereits v o r w e g n a h m e n . 1 8 8 Man könnte auch sagen, daß er die Zugkraft nationalpolitischer A r g u m e n t e einspannte, um seinen A r g u m e n t e n über den t h e o r e t i s c h e n Status v o n Werturteilen in der Wissenschaft Stoßkraft zu verleihen. Die V e r m i s c h u n g v o n analytischer Betrachtung und w e r t e n d e r Darstellung, wie sie namentlich die „historische S c h u l e " der Nationalökonomie weithin praktiziere, sei ein Unding; im Gegenteil, die klare S c h e i d u n g der v o n Werturteilen geleiteten D e u t u n g von allen Aussag e n analytischen Charakters stelle die erste V o r a u s s e t z u n g für w i s s e n schaftliche Objektivität dar. Im v o r l i e g e n d e n Fall bezog Max W e b e r sich dafür auf politische G e s i c h t s p u n k t e , v o n d e n e n er a n n e h m e n konnte, daß sie seinen Z u h ö r e r n unterschiedslos geläufig waren, konkret g e s p r o c h e n darauf, daß w i s s e n s c h a f t s i m m a n e n t e ö k o n o m i s c h e G e s i c h t s p u n k t e gleichviel w e l c h e r Art, wie etwa das Prinzip der möglichsten Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft, hinter d e m nationalpolitischen Interesse an der Erhaltung des D e u t s c h t u m s in d e n östlichen Provinzen Preußens zurückstehen müßten. Ja mehr noch, die strikte U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n wissenschaftlicher Analyse und volkswirtschaftspolitischer B e w e r t u n g ö k o n o m i s c h e r P h ä n o m e n e erlaubte es ihm, das „ I n t e r e s s e des d e u t s c h e n Nationalstaats" als h ö c h s t e n Wertmaßstab für die Beurteilung volkswirtschaftlicher V o r g ä n g e zu proklamieren. Wir sehen, Max W e b e r war d u r c h aus b e m ü h t , wissenschaftliche Erkenntnis und politisches Urteil sorgfältig v o n e i n a n d e r zu t r e n n e n ; aber gleichzeitig traten diese hier in einer b e m e r k e n s w e r t e n g e n Verzahnung auf, die er in dieser W e i s e späterhin nicht mehr aufrechterhalten hat. Insofern war es keinesfalls inkonsistent, daß Max W e b e r im letzten Teil seiner A u s f ü h r u n g e n die Frage aufwarf, w e l c h e C h a n c e n unter den besteh e n d e n politischen Verhältnissen im D e u t s c h e n Reich dafür bestünden, die v o n ihm dargelegten nationalpolitischen Ziele in konkretes politisches Handeln u m z u s e t z e n . Er sprach die politischen K o n s e q u e n z e n in aller Deutlichkeit an, w e l c h e die v o n ihm v o r g e s c h l a g e n e g r u n d l e g e n d e Umgestaltung der agrarischen Verhältnisse und mit d i e s e n der gesellschaftlichen Struktu-

187 Siehe unten, S. 561. 188 Vgl. dazu neuerdings auch Hennis, Wilhelm, The pitiless .sobriety of judgement': Max Weber between Carl Menger and Gustav von Schmoller in the academic politics of value freedom, in: History of the Human Sciences, Band 4,1991, S. 37f.

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ren im ostelbischen Deutschland nach sich z i e h e n w ü r d e . Dies bedingte, wie er meinte, nichts mehr und nichts w e n i g e r als die A b l ö s u n g d e s preußis c h e n J u n k e r t u m s als staatstragender Klasse. Die aristokratische Herrenschicht, die bisher die G e s c h i c k e d e s D e u t s c h e n Reiches in ü b e r w i e g e n d e m Maße b e s t i m m t habe, habe ihre ö k o n o m i s c h e Unabhängigkeit eingebüßt und sei z u m Kostgänger d e s Staates g e w o r d e n ; d e m g e m ä ß besitze sie nicht länger den „ B e r u f " zur politischen Führung der Nation. Vielmehr erfordere die historische Situation, in der sich das Deutsche Reich befinde, eine e n t s c h l o s s e n e „ b ü r g e r l i c h e Politik", die sich die Verteidigung des D e u t s c h t u m s im O s t e n e b e n s o zur A u f g a b e wähle wie die Erweiterung des „ N a h r u n g s s p i e l r a u m s " der d e u t s c h e n Nation vermittels einer weitsichtigen Machtpolitik imperialistischen Zuschnitts. Dafür aber sah Max W e b e r unter den b e s t e h e n d e n Verhältnissen die V o r a u s s e t z u n g e n nicht g e g e b e n . Vielmehr sei das B ü r g e r t u m nicht reif dafür, die politische Macht, die unvermeidlich den Händen der Aristokratie entgleite, e n t s c h l o s s e n aufzugreifen und die großen politischen Aufgaben, die den D e u t s c h e n durch die geschichtliche Entwicklung zugetragen w ü r den, mit Entschiedenheit a n z u g e h e n . Vielmehr neige es dazu, sich unter den Schirm der obrigkeitlichen Gewalten zu flüchten und von diesen Schutz g e g e n ü b e r der aufsteigenden Arbeiterschaft zu verlangen; einen aktuellen Beleg dafür sah er in der, wie er feststellen zu m ü s s e n glaubte, Geneigtheit eines Teils der Nationalliberalen, die „ U m s t u r z v o r l a g e " (die in e b e n d i e s e n Tagen im Reichstag zur Verhandlung anstand) mitzutragen, ein Tatbestand, der ihn mit äußerstem Ingrimm erfüllte. N o c h ärger stand es nach seiner A u f f a s s u n g in dieser Hinsicht mit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, der jeglicher Sinn für die großen politischen Machtaufgaben der Nation abgehe. Max W e b e r s A u s f ü h r u n g e n kulminierten in der B e s c h w ö r u n g der glanzvollen Zeit der G r ü n d u n g und des A u s b a u s des D e u t s c h e n Reiches unter liberaler Vorherrschaft, w ä h r e n d die gegenwärtige Generation am Fluch des E p i g o n e n t u m s kranke und zu g r o ß e m politischen Handeln w e d e r die Kraft noch den Willen aufbringe. Allein der Übergang zu einer kraftvollen Weltmachtpolitik, v e r b u n d e n mit einer Liberalisierung im Innern, die alle Schichten des Volkes einschließlich der Arbeiterschaft zu g e m e i n s a m e n Kraftans t r e n g u n g e n befähige, könne der Nation zu e i n e m Aufstieg in eine bessere Z u k u n f t verhelfen. I n s b e s o n d e r e Max W e b e r s leidenschaftlicher Appell z u g u n s t e n einer kraftvollen Weltpolitik, durch die der L e b e n s r a u m der d e u t s c h e n Nation in der künftigen W e l t e p o c h e eine a n g e m e s s e n e Erweiterung erfahren m ü s s e , hat bei den Z e i t g e n o s s e n großen Widerhall g e f u n d e n . S o w o h l Friedrich N a u m a n n in der „ H i l f e " wie Hans Delbrück in den Preußischen J a h r b ü c h e r n griffen Max W e b e r s d i e s b e z ü g l i c h e A u s f ü h r u n g e n auf und identifizierten

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sich uneingeschränkt damit. 189 In gewissem Sinne hat man darin die Initialzündung für die Entstehung eines „liberalen Imperialismus" im Kaiserreich zu sehen, der die Forderung nach einer konsequent imperialistischen Politik mit einem Programm fortschrittlicher Reformen im Innern kombinierte. Die Hoffnung, die sich damit verband und die bereits Max Weber angesprochen hatte, daß auf diese Weise den Konservativen die politische Initiative entrissen und der Weg in eine neue Ära eines im echten Sinne nationalen Liberalismus, der sich den großen historischen Machtaufgaben des Tages wirklich gewachsen zeigen werde, gebahnt werden könne, hat sich am Ende freilich als trügerisch erwiesen; unter den gegebenen Umständen war diese Strategie freilich durchaus aussichtsreich. 190 Es steht außer Frage, daß Max Weber mit der Freiburger Antrittsrede, ungeachtet ihres primär akademischen Charakters, politische Wirkungen erzielen wollte. Dafür spricht schon, daß er für den Fall, daß sich Paul Siebeck nicht zu einer Drucklegung in Form einer eigenständigen Broschüre bereitfinden sollte, eine Veröffentlichung in den Preußischen Jahrbüchern, also einer primär politischen Monatsschrift, ins Auge gefaßt hatte. 191 Ebenso legte Max Weber Wert darauf, daß Rezensionsexemplare der Antrittsrede nach ihrem Erscheinen an die größeren Zeitungen und Wochenschriften, unter anderem die Frankfurter Zeitung, die Kreuzzeitung, die Münchener Allgemeine Zeitung und die Nation sowie die Neue Zeit, versandt würden. 192 Ebenso hat Max Weber ein persönliches Interesse daran gezeigt, daß ein auszugsweiser Nachdruck in den „Alldeutschen Blättern", wie ihn der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes Ernst Hasse angeregt hatte, nicht durch unangemessene Forderungen des Verlegers verhindert würde. 193 Andererseits hat Max Weber die Antrittsrede zahlreichen Fachkollegen zugesandt, 194 unter anderem auch Georg Simmel, der damals noch Privatdozent war, ersichtlich in der Erwartung, daß seine Kritik an den methodologischen Auffassungen der historischen Schule gebührende Beachtung finden werde. Dies ist, soweit wir sehen, auch der Fall gewesen. Werner Sombart beispielsweise identifizierte sich mit Max Webers Auffassung in 189 Vgl. Mommsen, Max Weber 2 , S. 74f., und den Editorischen Bericht, unten, S. 539f. 190 Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Wandlungen der liberalen Idee im Zeitalter des Imperialismus, in: Holl, Karl und List, Günther (Hg.), Liberalismus und imperialistischer Staat. Der Imperialismus als Problem liberaler Parteien in Deutschland 1890-1914. - Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, S. 1 1 7 - 1 4 1 . 191 Vgl. Brief an den Verlag J.C.B. Mohr vom 19. Mai 1895, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446. 192 Brief an den Verlag J.C.B. Mohr vom [27. Juni 1895], ebd. 193 Briefe an den Verlag J.C.B. Mohr vom 7. Aug. und vom 23. Sept. 1895, ebd. 194 Insgesamt wohl ca. 120 Exemplare, wie man der Korrespondenz mit dem Verleger entnehmen kann.

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der Antrittsrede, insoweit sie sich gegen die herrschende Lehre der historischen Nationalökonomie richtete, obschon er nicht das nationale Interesse als ein über den Klassen stehendes, sondern die Interessen der jeweils den gesellschaftlichen Fortschritt repräsentierenden sozialen Klasse für maßgeblich erklärte. 195 Gustav Schmoller hingegen hat offenbar keinen Anlaß dazu gesehen, an seiner Position nennenswerte Modifikationen vorzunehmen. 196 Ungeachtet der großen Beachtung, die die Antrittsrede gefunden hat, ist damals eine förmliche Debatte über die leitenden Werturteile in der Nationalökonomie nicht zustande gekommen. 197 Anderthalb Jahrzehnte später hat Max Weber über seine Freiburger Antrittsrede in vieler Hinsicht kritischer geurteilt. An die Stelle der Polenfeindschaft seiner frühen Jahre war längst das Bemühen um eine aufrichtige Verständigung mit den Polen getreten. 198 In seinen „Äußerungen zur Werturteildiskussion" aus dem Jahre 1913 hat Max Weber sich in wichtigen Punkten von den Thesen der Antrittsrede distanziert. Andererseits aber hat er darauf verwiesen, daß der Gedanke, daß gesellschaftliche und institutionelle Verhältnisse darauf hin befragt werden müssen, welche Art von Lebenschancen sie begünstigen und welche nicht und welche Menschentypen dabei vornehmlich zum Zuge kommen, „in sicherlich vielfach unreifer Form" bereits in der Freiburger Antrittsrede angesprochen worden sei. 199 1 895 freilich überschatteten die nationalistische Rhetorik und die radikalen politischen Postulate, die sich in der Freiburger Antrittsrede finden, einschließlich der rückhaltlosen Absage an jegliche Versuche einer „Ethisierung der Politik", bei weitem ihre wissenschaftlichen Aussagen.

6. Auf der Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Politik In den agrarpolitischen und agrarhistorischen Schriften und Reden jener Jahre tritt uns Max Weber zugleich als Wissenschaftler und als engagierter

195 Sombart, Werner, Ideale der Sozialpolitik, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Band 10,1897, S. 25 und 344 f. 196 Vgl. dessen aus dem Jahre 1897 stammende Abhandlung: Wechselnde Theorien und feststehende Wahrheiten im Gebiete der Staats- und Sozialwissenschaften und die heutige deutsche Volkswirtschaftslehre, in: Schmoller, Gustav, Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre. - Leipzig: Duncker & Humblot 19042, insbes. S. 388-393. 197 Vgl. aber Aldenhoff, Nationalökonomie, S. 8 6 - 9 0 . 198 Siehe Mommsen, Max Weber2, S. 229ff. 199 In: Äußerungen zur Werturteildiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik. Als Manuskript gedruckt.-o.0.1913, S. 108 (MWG 1/12).

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politischer Bürger entgegen. Max Weber bemühte sich schon damals um eine klare Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Aussagen und politischen Werturteilen, jedoch nicht etwa in der Absicht, letztere zurückzudrängen, sondern vielmehr um diese in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit in die Erörterung einzubringen und zum Leitfaden auch für die wissenschaftliche Analyse zu erheben. Er operierte dabei vielfach zweigleisig; er nahm zu diesen Fragen sowohl in rein wissenschaftlichen Publikationsorganen als auch in Zeitschriften Stellung, die sich an ein breiteres Publikum richteten. So veröffentlichte er 1893 eine Rezension der Schriften des Jenaer Agrarwissenschaftlers Theodor von der Goltz „Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat" und des Berliner Nationalökonomen Max Sering über „Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland" gleichzeitig in der Zeitschrift Das Land und, allerdings nur bezüglich des Werkes von von der Goltz, in der Fachzeitschrift Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. 1895 bzw. 1896 rezensierte er die Habilitationsschrift Carl Grünbergs über die Agrarreformen in Böhmen, Mähren und Schlesien und die Untersuchung Wilhelm Vallentins über die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz Westpreußen seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in der Historischen Zeitschrift. 200 Im Vordergrund standen freilich zunehmend Stellungnahmen zu aktuellen agrarpolitischen Fragen. 201

200 Siehe unten, S. 220ff„ 238ff., 579ff„ 602ff. 201 Es überrascht demgemäß auch nicht zu finden, daß Max Weber 1893 als Preisrichter an einem Preisausschreiben der Zeitschrift „Das Land" beteiligt war, das das Ziel verfolgte, die agrarpolitischen Tagesfragen in das breitere Publikum hineinzutragen. Ausgesetzt wurden Preise „für die drei besten Aufsätze und novellistischen Arbeiten, welche soziale und volkstümliche Angelegenheiten des Landes behandeln". Die Arbeiten sollten zwischen drei bis acht Seiten umfassen. Dabei war u.a. an folgende Themen gedacht: die Bedeutung des Bauernstandes für den Staat, die Wohlfahrtspflege auf dem Lande, die Lage der Landarbeiter (vgl. Das Land, Nr. 1 vom 1. Okt. 1893, S. 1 f.). Bis Ende 1893 gingen sechzig Arbeiten ein, aus denen die preiswürdigen Artikel auszuwählen waren. Dem Preisgericht gehörten neben Max Weber der Vorsitzende des Evangelisch-sozialen Kongresses Moritz August Nobbe, der Freiburger Volkskundler Fridrich Pfaff sowie der Redakteur des „Land" Alfred Marquard an (vgl. hierzu Das Land, Nr. 13 vom 1 .April 1894, S. 193). Das Komitee wählte die ersten beiden Preisträger aus, auf einen dritten konnte man sich nicht einigen. Den ersten Preis erhielt der Anthropologe Otto Ammon mit einem Artikel über „Die Bedeutung des Bauernstandes für den Staat und die Gesellschaft. Eine sozialanthropologische Studie". Der zweite Preis wurde Hans Wittenberg (Swantow/ Rügen) zuerkannt. Wittenberg war Geistlicher und gehörte der Evangelisch-sozialen Bewegung an. Er veröffentlichte mehrere Schriften zur Landarbeiterfrage (siehe unten, S. 274, Anm. 11). Er hatte eine Arbeit zum Thema „Woran leidet der Landarbeiterstand in den östlichen Provinzen und wie ist ihm zu helfen?" eingesandt. Ammons Studie war sozialdarwinistisch gefärbt und verklärte den „Bauernstand" zur unverfälschten und unverbildeten Reserve der Gesellschaft. Die Arbeit wurde zunächst abgedruckt in: Das Land, Nr. 13 vom 1. April 1894, S. 194-197; Nr. 14 vom 15. April 1894, S. 209-212; Nr. 15 vom I.Mai 1894, S.225-228. Noch im gleichen Jahr erschien sie als selbständige und

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Dank seiner juristischen Kenntnisse und seiner mit der Landarbeiterenquete unter Beweis gestellten großen Kompetenz in agrarpolitischen Fragen ergab sich für Max Weber in den folgenden Jahren mehrfach die Möglichkeit, zu den seitens der Staatsbehörden betriebenen Gesetzesvorhaben und sonstigen Maßnahmen, die auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des ostelbischen Großgrundbesitzes abzielten, Stellung zu nehmen. Dazu gehörten unter anderem Bestrebungen, eine Verschuldungshöchstgrenze für ländlichen Grundbesitz gesetzlich festzulegen, und zu diesem Behufe womöglich das geltende Hypothekenrecht abzuändern. Ferner wurde die Schaffung eines besonderen Heimstättenrechts erwogen, von dem man sich eine Reduzierung der enorm hohen Fluktuation des ländlichen Grundbesitzes versprach. Diese Pläne wurden auf einer vom preußischen Staatsministerium 1894 einberufenen Agrarkonferenz, zu der neben Vertretern der Landwirtschaft zahlreiche Experten geladen worden waren, zur Debatte gestellt. Außerdem brachte das Staatsministerium im preußischen Abgeordnetenhaus eine Gesetzesvorlage ein, welche vorsah, das Anerbenrecht, welches eine möglichst ungeschmälerte Weitergabe eines agrarischen Anwesens an einen Haupterben rechtlich ermöglichte und in zahlreichen Regionen Deutschlands gebräuchlich war, auch in den östlichen Provinzen Preußens einzuführen. Max Weber nahm die ihm sich bietenden publizistischen Möglichkeiten wahr, um zu diesen Fragen mit großer Sachkompetenz und der ihm eigenen Entschiedenheit des Urteils Stellung zu nehmen. Dabei trat zunehmend die Frage der wirtschaftlichen Zukunft des ostelbischen Großgrundbesitzes, die Weber anfänglich eher mit Zurückhaltung behandelt hatte, in den Vordergrund. Eine besondere Rolle spielte dabei die Frage nach den Grenzen der Anwendbarkeit des Prinzips des Freihandels. Obschon grundsätzlich ein Anhänger des Industriestaats, distanzierte sich Max Weber von der klassischen, aus seiner Sicht dogmatischen Freihandelslehre; Staatseingriffe zur Korrektur von nationalpolitisch nachteiligen sozioökonomischen Entwicklungen waren aus seiner Sicht nicht nur erlaubt, sondern im Zweifelsfall erweiterte Schrift und 1906 in zweiter Auflage. Wittenbergs Landarbeiter-Studie dagegen war sozialempirisch orientiert. Wittenberg plädierte für soziale Reformen, an denen sich auch die Gutsbesitzer beteiligen sollten. Auch Wittenbergs Studie wurde zunächst im „Land", dann selbständig unter demselben Titel 1894 veröffentlicht. Das Land, Nr. 16 vom 15. Mai 1894, S. 2 4 1 - 2 4 3 ; Nr. 17 vom I . J u n i 1894, S. 2 6 3 - 2 6 5 ; Nr. 18 vom 15. Juni 1894, S . 2 7 5 - 2 7 7 ; Nr. 19 vom I.Juli 1894, S . 2 9 0 - 2 9 2 ; Nr.20 vom 15.Juli 1894, S. 3 0 6 - 3 0 8 . Leider ist nicht bekannt, wie Max Weber optiert hat. Beide Preisträger zitierte er in seinen Schriften. So rezensierte er Wittenbergs 1893 erschienene Schrift „Die Lage der ländlichen Arbeiter in Neuvorpommern und auf Rügen" sehr positiv (siehe unten, S.272ff.). Otto Ammon und seine einschlägigen Schriften erwähnte er in der Freiburger Antrittsrede, allerdings mit einigen Vorbehalten (unten, S.554, Anm.4). Möglicherweise hat Weber daher eher für Hans Wittenberg als für Otto Ammon votiert.

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unbedingt geboten. Auch war er durchaus kein Gegner des Schutzzolls, wenngleich er die Hochschutzzollpolitik der späten Bismarckzeit ebensowenig gebilligt haben dürfte wie die zeitgenössischen extremen Schutzzollforderungen der Agrarier. Analysen wie jene der „Argentinischen Kolonistenwirtschaften" überzeugten ihn davon, daß für die Landwirtschaft auf das Instrument des Zollschutzes keineswegs verzichtet werden könne. 202 Im übrigen trat er mit großer Entschiedenheit dafür ein, die Probleme der ostdeutschen Landwirtschaft, und insbesondere die drängende Landarbeiterfrage, mit Hilfe staatlicher Intervention zu lösen. Die konkreten Schritte der Staatsbehörden und der Parlamente auf diesem Gebiet verfolgte Max Weber demgemäß mit großem Engagement. Dazu gehörten unter anderem die Beratungen der preußischen Agrarkonferenz, die die Festsetzung einer Verschuldungshöchstgrenze für Grundbesitz, die Bildung von Genossenschaften der Grundbesitzer zur kollektiven Absicherung des Bodenkredits sowie die Einführung des Anerbenrechts in den östlichen Provinzen Preußens erörterte. Diese Fragen wurden von Max Weber in zwei Artikeln, die in dem von Heinrich Braun herausgegebenen Sozialpolitischen Centralblatt erschienen, eingehend behandelt. 203 Im Prinzip hielt Max Weber wenig von den auf der Agrarkonferenz vorgeschlagenen Modellen für eine gesetzliche Beschränkung der Verschuldung des Großgrundbesitzes unter Einschränkung der Verkehrsfreiheitfür landwirtschaftlich genutzte Böden. Er hielt es für sehr bedenklich, an dem bewährten preußischen Hypothekensystem, das, verglichen mit den Verhältnissen in anderen europäischen Ländern, sehr fortschrittlich sei, zu rütteln. Als das preußische Landwirtschaftsministerium wenig später einen Gesetzentwurf über die Einführung des Anerbenrechts bei Rentengütern vorlegte, obschon deren Eigentümer ohnehin nur ein beschränktes Verfügungsrecht über ihren Besitz besaßen, unterzog Max Weber diesen Entwurf einer eingehenden kritischen Betrachtung; diese erschien in der neuen Zeitschrift „Soziale Praxis. Centralblatt für Socialpolitik", welche aus einer Fusion des Sozialpolitischen Centralblatts mit den Blättern für soziale Praxis hervorgegangen war und von dem Institut für Gemeinwohl in Frankfurt herausgegeben wurde. 204 Er mißbilligte es, daß an eine eventuelle generelle Einführung des Rechtsinstituts des Anerbenrechts von politischer Seite, insbesondere von Miquel, ganz unangemessene Erwartungen geknüpft worden seien. Seine Bedeutung sei „ - positiv und negativ - ganz ungebührlich aufgebauscht worden durch die Art, wie Exc[ellenz] v. Miquel, 202 Unten, S. 282-303. In diesem Kontext steht auch die Besprechung der Schrift des deutschen Konsuls in Buenos Aires, Bodo Lehmann, über „Die Rechtsverhältnisse der Fremden in Argentinien", unten, S. 304-307. 203 Siehe unten, S. 480-511. 204 Vgl. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 88.

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Sering u[nd] Afndere] in der Einführung der Einzelerbfolge einen vernichtenden Schlag gegen den .Capitalismus' etc. etc. annoncierten." Für das Anerbenrecht sei er in Grenzen zu haben; nicht aber für „diese unmotivierte ffeWamefürein harmloses, in vielen Fällen [...] ganz angebrachtes Institut", auch wenn im Zweifelsfalle die volle geschlossene Vererbung dem „wenig wirksamen besten Anerbenrecht" vorzuziehen sei. 205 Der Vorschlag zur Einführung des Anerbenrechts sowie zur Schaffung eines besonderen Heimstättenrechts, durch welches die große Fluktuation des bäuerlichen, vor allem aber des Großgrundbesitzes eingedämmt und eine neue Schicht bodenständiger Bauern geschaffen werden sollte, wurde in der zeitgenössischen Diskussion vielfach auch unter dem Gesichtspunkt erörtert, ob das „deutsche Recht", das die Einschränkung der Verkehrsfreiheit des Grundbesitzes in vielfachen Formen kenne, für die Lösung dieser Probleme nicht grundsätzlich geeigneter sei als das „römische", ja mehr noch, ob es nicht überhaupt „sozialer" sei. Auch im Zusammenhang der Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches, an der eine Sachverständigenkommission des Bundesrates seit einiger Zeit arbeitete, waren Fragen dieser Art aufgeworfen worden. Martin Rade, der Herausgeber der „Christlichen Welt", gewann Max Weber dafür, dazu Stellung zu nehmen. Seine Antwort war eindeutig: Er warnte vor vereinfachenden Zurechnungen, sei es zur deutschrechtlichen, sei es zur römischrechtlichen Rechtstradition und bestritt, daß das deutsche Recht als besonders „sozial" zu gelten habe. 206 Hier wie sonst trat Max Weber oberflächlichen Romantisierungen ebenso entgegen wie rechtlichen oder gesetzlichen Lösungen, die sich aus interessenpolitischen Gründen über die Grundgesetze der marktwirtschaftlichen Ordnung hinwegsetzten. Vor allem aber beschäftigte Max Weber weiterhin die Frage, wie man die deutsche Landarbeiterschaft, die in immer größeren Zahlen nach Westen abwanderte und das Feld den nachrückenden polnischen und ruthenischen Wanderarbeitern überließ, wieder an den Boden binden könne. Erbittert darüber, daß die staatlichen Instanzen es in dieser Frage an jeglichen konkreten Schritten fehlen ließen und statt dessen die seit 1885/86 gehandhabte restriktive Gesetzgebung hinsichtlich der Beschäftigung von polnischen und ruthenischen Landarbeitern schrittweise zurücknahmen, verschärfte Max Weber zunehmend seine Haltung in der sog. „Polenfrage". Er beschwor die Gefahr einer „slavischen Überfluthung" des deutschen Ostens, „die einen Kulturrückschritt von mehreren Menschenaltern bedeu-

205 Brief an den badischen Finanzminister Adolf Buchenberger vom 26. Juli 1899, GLA Karlsruhe, Nl. Adolf Buchenberger, Nr. 44. 206 Siehe unten, S. 5 2 4 - 5 3 4 .

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ten würde" , 2 0 7 und verlangte im Osten eine „deutsche Politik", ohne Rücksicht auf die ökonomischen Interessen der unmittelbar Betroffenen, insbesondere des ostelbischen Großgrundbesitzes. Ein „großer Theil des Großbesitzes im Osten" sei, wie er meinte, „in privaten Händen" ohnehin nicht länger „haltbar" 2 0 8 Auch hinsichtlich seiner Forderung nach einer kraftvollen deutschen Weltpolitik, wie er sie in seiner Akademischen Antrittsrede erstmals erhoben hatte, 209 verschärfte Max Weber seit 1897 zunehmend seine Sprache, so in einem Diskussionsbeitrag zu einem Vortrag von Hans Delbrück über „Die Arbeitslosigkeit und das Recht auf Arbeit" 2 1 0 und, noch ungleich schärfer, anläßlich einer Auseinandersetzung mit Karl Oldenberg über die damals äußerst umstrittene Frage, ob Deutschland zu einem Industriestaat werden solle oder ob es im nationalen Interesse liege, das bestehende Gleichgewicht zwischen dem agrarischen und dem industriellen Sektorder Volkswirtschaft weiterhin zu erhalten. 211 Max Weber verlieh in diesem Zusammenhang seiner Meinung rückhaltlos Ausdruck, daß nur durch eine entschlossene Machtpolitik, die der deutschen Wirtschaft auch im Hinblick auf die in Zukunft zu erwartende allmähliche Verlangsamung des technischen Fortschritts eine angemessene Interessensphäre sichere, das inzwischen erreichte Niveau der Lebensführung der breiten Massen auf Dauer aufrechterhalten werden könne. Das Bekenntnis zu einer weit ausgreifenden imperialistischen Politik war allerdings zugleich mit der Forderung nach einem Ausbau der Reichsverfassung im Innern im liberalen Sinne verbunden. Nur dann, wenn die breiten Massen der Bevölkerung, insbesondere die Arbeiterschaft, gleichberechtigt in das politische System integriert würden, werde die deutsche Politik in der Lage sein, auch nach außen hin kraftvoll aufzutreten. Ganz in diesem Sinne sprach sich Max Weber denn auch in anderen Zusammenhängen aus. Eine fünfteilige Vortragsreihe im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main im Februar und März 1896 widmete sich erneut dem Thema „Agrarpolitik", freilich nunmehr im Rahmen einer Veranstaltungsserie über Volkswirtschaftspolitik. Er begann mit einem historischen Überblick, behandelte dann aber durchaus die aktuellen Tagesprobleme. Eine von Max Weber selbst verfaßte, bislang unbekannte stichwortartige Übersicht vermittelt einen guten Eindruck von dem, was er dort 207 Siehe unten, S. 458. 208 Siehe unten, S. 462. 209 Siehe oben, S. 51 f. 210 Siehe unten, S. 606-611. 211 Vgl. dazu u.a. Wagner, Adolph, Agrar- und Industriestaat. Die Kehrseite des Industriestaats und die Rechtfertigung agrarischen Zollschutzes mit besonderer Rücksicht auf die Bevölkerungsfrage. - Jena: Gustav Fischer 19022, sowie oben, S. 7, Anm. 14.

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gesagt hat. 212 Zur Ergänzung verfügen wir über eine Reihe von Presseberichten 2 1 3 Im Herbst 1896 wurde Max Weber zu einem Vortrag im Handwerkerverein in Saarbrücken eingeladen, einem Volksbildungsverein mit beachtlicher historischer Tradition und hohem Ansehen, der u.a. Politiker wie Friedrich Naumann und Nationalökonomen wie Adolph Wagner zu sozialpolitischen Vorträgen hatte gewinnen können. Dem Saarbrücker Handwerkerverein kam überdies insofern politische Bedeutung zu, als er im Wahlkreis des konservativen saarländischen Schwerindustriellen von Stumm tätig und dessen Einfluß zu bekämpfen bestrebt war. Nicht zufällig bemühte er sich um Redner, die als Kritiker von Stumms bekannt waren. In seinem Vortrag, der am 9. Januar 1897 stattfand, plädierte Max Weber mit großer Entschiedenheit für eine Wirtschaftspolitik, die ihr Schwergewicht auf die industrielle Entwicklung Deutschlands legen müsse, zugleich aber dafür, diese durch eine entsprechende Machtpolitik auf Dauer zu sichern. Darin, dies nicht zu erkennen, liege die wirkliche Gefahr der Sozialdemokratie. Im übrigen bedürfe es der Beseitigung der patriarchalischen Herrschaftsverhältnisse in der Industrie und der Gewährung von Rechtsgleichheit für die Arbeiterschaft, einschließlich uneingeschränkter Koalitionsfreiheit. 214 Die gleiche Thematik behandelte Max Weber auch in einer Mannheimer Vortragsreihe vom November und Dezember 1897, die im Rahmen eines volkswirtschaftlichen Vorlesungszyklus stattfand, der im Winter 1897/98 von dem dortigen Kaufmännischen Verein, der Handelskammer und dem Börsenvorstand durchgeführt wurde. In diesem letzten Vortrag dieser Art vor seiner Erkrankung betonte Max Weber einmal mehr, daß in dem künftig bevorstehenden Zeitalter eines monopolistischen Kapitalismus nur das Maß der Machtstellung des nationalen Staates in der Welt über den künftigen Ernährungsspielraum der Deutschen entscheiden werde. Aber zugleich klang erstmals ein neues Thema an, nämlich die Frage nach den historischen Leistungen des „Zeitalters des Kapitalismus". Dieser habe „den modernen Menschen des Occidents", der selbstverantwortlich zu handeln gewohnt sei, geschaffen 2 1 5 In einem Vortrag in Straßburg am 7. Dezember 1897 über „Bodenverteilung und Bevölkerungsbewegung" stellte Max Weber erneut sein agrarpolitisches Programm in ganzer Breite vor. 216 Im Frühjahr 1897 ergab sich überraschend eine Möglichkeit, in die aktive Politik überzuwechseln. Beeindruckt von seinem Vortrag vom Januar suchte eine Gruppe von Nationalliberalen, die im Gegensatz zur offiziellen

212 213 214 215 216

Siehe unten, S. 597-601. Siehe unten, S. 743-790. Sieheden Pressebericht, unten, S.810-818. Siehe unten, S. 842-852; das Zitat S. 851. Siehe unten, S. 853-855.

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Parteilinie eine erneute Reichstagskandidatur von Stumms verhindern wollten, Max Weber dafür zu gewinnen, bei den für 1898 bevorstehenden Reichstagswahlen im Wahlkreis Saarbrücken zu kandidieren. Max Weber lehnte dieses Angebot jedoch ab, mit dem Hinweis auf seine Hochschullehrertätigkeit in Heidelberg. Allerdings wäre die Kandidatur ohnehin nicht sonderlich aussichtsreich gewesen, und auch die politische Großwetterlage war nicht eben dazu angetan, ihn zum Sprung in die aktive Politik zu ermutigen, obschon er dies immer wieder, und wohl auch jetzt, erwogen hat. Im Februar 1898 schrieb er an seine Cousine Emmy Baumgarten: „Alles Entscheidende und Große schlummert vorerst im Hintergrund und ist verhüllt durch einen Wust von Kleinigkeiten. Ich dächte jetzt auch nicht daran, mich politisch zu beteiligen." 217 In der Tat stellten sich die politischen Verhältnisse aus Max Webers Sicht nichts weniger als erfreulich dar. Ungeachtet des großen Widerhalls, den seine zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträge zu aktuellen Fragen der preußischen Agrarpolitik fanden, blieben die erhofften politischen Wirkungen weitgehend aus. Die preußische und die Reichsregierung machten keinerlei Anstalten, die von ihm skizzierten agrarpolitischen Wege zu beschreiten, und auch in den parlamentarischen Körperschaften kam es zu keinerlei Ansätzen für grundlegende Reformen auf dem Gebiet der Agrarpolitik. 218 Eine massive Intensivierung der „inneren Kolonisation" kam ebensowenig zustande wie die von Max Weber empfohlene großzügige Vermehrung des staatlichen Domänenbesitzes. Und was die Frage der Zuwanderung von polnischen Landarbeitern anging, die Max Weber durch eine strikte Sperrung der Grenzen ein für allemal unterbunden sehen wollte, so griffen die staatlichen Instanzen zu allerhand Finessen, um der Großlandwirtschaft auch weiterhin die billigen polnischen Arbeitskräfte zu erhalten. 219 Besonders erbittert war Max Weber über den proagrarischen Kurs des preußischen Finanzministers von Miquel, der einmal zu den großen Männern des fortschrittsorientierten Nationalliberalismus der Bismarckzeit gehört hatte. Als es im Frühjahr 1899 im preußischen Abgeordnetenhaus zu einer neuerlichen Auseinandersetzung über die preußische Agrarpolitik 217 Brief an Emmy Baumgarten vom 18. Febr. 1898, Bestand Eduard Baumgarten, Privatbesitz. 218 Vgl. jetzt auch Balzer, Brigitte, Die preußische Polenpolitikl 894-1908 und die Haltung der deutschen konservativen und liberalen Parteien (unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Posen). - Bern: Lang 1989. 219 Vgl. Bade, Klaus J., Politik und Ökonomie der Ausländerbeschäftigung im preußischen Osten 1885-1914. Die Internationalisierung des Arbeitsmarktes im „Rahmen der preußischen Abwehrpolitik", in: Puhle, Hans-Jürgen und Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Preußen im Rückblick. - Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, S. 284ff.

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kam, wurden unter anderem auch die Landarbeiterenquete des Vereins für Sociaipolitik und speziell Max Webers Untersuchung über „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland" angegriffen. Max Hirsch und Theodor Barth von der Freisinnigen Volkspartei bzw. Freisinnigen Vereinigung hatten sich in der Debatte ausdrücklich auf Max Webers Auswertung der Erhebung bezogen. Dem Mangel an Arbeitskräften - so Hirsch und Barth - könne nicht durch staatliche Zwangsmaßnahmen begegnet werden, sondern nur durch eine Verbesserung der materiellen und sozialen Lage der Landarbeiter und durch einen Verzicht auf die Beschäftigung billiger ausländischer Arbeitskräfte seitens der Grundbesitzer. Daraufhin erklärte Miquel namens der preußischen Staatsregierung, daß die Enquete von zweifelhaftem Wert sei, besonders im Hinblick auf die von Hirsch und Barth herangezogene Untersuchung Max Webers. Als dann die Deutsche Industrie-Zeitung, das Organ des Zentralverbandes Deutscher Industrieller, die Rede Miquels nicht nur punktuell verfälschend abdruckte, sondern zu einem generellen Angriff auf die wissenschaftlichen und sozialpolitischen Bestrebungen des Vereins für Sociaipolitik ansetzte, griff Max Weber zur Feder mit einer speziell gegen von Miquel gerichteten Stellungnahme, die in der „Sozialen Praxis" erschien. 220 Einen zweiten Artikel, mit dem er auf die sich nun entspinnende Pressedebatte seinerseits reagieren wollte, zog er dann allerdings zurück. Max Weber wurde über die geringe Wirkung seiner agrarpolitischen Bemühungen in der Öffentlichkeit und den politischen Parteien sowie über die eher abwiegelnde Strategie der staatlichen Instanzen von einer stetig wachsenden Frustration erfaßt. Daraus erklären sich die zunehmend schrilleren Töne, die er in den agrarpolitischen Auseinandersetzungen und insbesondere in der Polenfrage anschlug. Im April 1899 trat er sogar aus dem Alldeutschen Verband aus, weil dieser es unter dem Einfluß seiner konservativen Mitglieder nicht gewagt habe, in der Polenfrage einen kompromißlos nationalen Kurs zu steuern. In einem Schreiben an Ernst Hasse, den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, vom 22.April 1899 heißt es: „In Unkenntnis, an wen sonst eine solche Erklärung zu richten ist, beehre ich mich, Ihnen meinen Austrittaus dem .Alldeutschen Verband' anzuzeigen. Der Grund liegt in der Haltung des Verbandes in der Frage der polnischen Landarbeiter. Während der Verband sonst Wichtiges und Unwichtiges (oft geradezu Quisquilien wie .Menu's', u.s.w.) mit gleicher Leidenschaft bespricht und erörtert, hatte er sich in einer Lebensfrage des Deutschtums nicht über hie und da höchst selten und platonisch ausgesprochene Wünsche erhoben, niemals den vollständigen - natürlich nur stufenweise möglichen - Ausschluß der Polen mit annähernd ähnlicher Energie vertreten, wie 220 Siehe unten, S. 678-686.

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die nationalpolitisch höchst gleichgültige A u s w e i s u n g von Dänen und T s c h e c h e n , durch w e l c h e die Regierung der öffentlichen M e i n u n g Sand in die A u g e n streut. Er hat es h i n g e n o m m e n , daß die Königsberger Landw[irts c h a f t s ] - K a m m e r so schamlos war, die A n s i e d e l u n g der Polen zu fordern, daß die Agrarier im Landtage die Erleichterung der Polen-Zufuhr forderten und die Regierung sie zusagte, falls sie bei Rußland (!) zu erlangen sei. Die Rücksichtnahme auf die G e l d i n t e r e s s e n des agrarischen Kapitalismus, der in den zahlreichen conservativen Mitgliedern des V e r b a n d e s seine Vertretung hat, geht d e m Verbände über die L e b e n s i n t e r e s s e n des Deutschtums. Um die Freiheit zu g e w i n n e n , dies bei Gelegenheit auch öffentlich zu statuiren, trete ich aus; ich habe diese Sache innerhalb des Verbandes in Vorträgen in Berlin, Freiburg u . s . w . derart bis z u m .Steckenpferdreiten' vertreten - o h n e Erfolg für die Haltung d e s Verbandes daß ich diese z w e c k l o s e n A n s t r e n g u n g e n satt habe, zumal Sie wissen, daß meine S t i m m e in diesen Dingen überhaupt nichts gilt. - Ich gelte als ,Feind der J u n k e r ' . - Dies hindert mich natürlich nicht, lebhafte Sympathien auch für die B e s t r e b u n g e n des Verbandes zu haben, und schwächt meine aufrichtige persönliche H o c h a c h t u n g für die Person der leitenden Herren nicht ab." Hasse bedauerte in s e i n e m A n t w o r t s c h r e i b e n v o m 27. April 1899 den A u s tritt Max Webers, , , u m s o m e h r a l s d e r A [ l l ] D [ e u t s c h e ] V [ e r b a n d ] [ , . . ] g r o ß e s G e w i c h t a u f " d e s s e n „Urteil [ . . . ] g e l e g t " habe und noch lege. 2 2 1 Übrigens hatte sich Max W e b e r auch im D e u t s c h e n O s t m a r k e n v e r e i n engagiert, der sich die „ F ö r d e r u n g des D e u t s c h t h u m s " in den östlichen G e b i e t e n z u m Ziel gesetzt hatte; er war seit 1894 Mitglied des G e s a m t - A u s s c h u s s e s des D e u t s c h e n O s t m a r k e n v e r e i n s . 2 2 2 Z u m Zeitpunkt des Austritts aus d e m A l l d e u t s c h e n Verband war Max Weber bereits an e i n e m s c h w e r e n N e r v e n leiden erkrankt, das ihn w e n i g später zwang, nicht nur alle öffentlichen Auftritte, s o n d e r n auch seine wissenschaftliche Tätigkeit einstweilen gänzlich a u f z u g e b e n , in e i n e m verzweifelten Kampf um die Wiederherstellung seiner G e s u n d h e i t . Es steht dahin, ob dabei auch seine w a c h s e n d e Enttäus c h u n g über die geringe Wirkung s e i n e s agrarpolitischen E n g a g e m e n t s eine Rolle gespielt hat. Der Bekanntheitsgrad des j u n g e n Wissenschaftlers in der breiteren Öffentlichkeit als Agrarexperte war damals b e m e r k e n s w e r t hoch, jedenfalls 221 Vgl. Brief Max Webers an den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Ernst Hasse vom 22. April 1899, Abschrift Marianne Weber (masch.), ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/4, und dessen Antwort vom 27. April 1899, Bestand Max WeberSchäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 222 Laut einer Aufstellung in: Die Ostmark. Monatsblatt des Vereins zur Förderung des Deutschthums in den Ostmarken, Nr. 7 vom Juli 1897. Vermutlich war Weber am 3. November 1894 in den Gesamt-Ausschuß, dem allerdings sehr viele Mitglieder angehörten und der eigentlich keine Leitungsfunktionen ausübte, gewählt worden.

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weit höher, als im ersten Jahrzehnt nach seiner Erkrankung. Wenn Max Weber nicht wieder gesundet wäre, wäre er vermutlich noch heute als ein bedeutender Fachmann für agrarpolitische Fragen und als liberaler Agrarpolitiker bekannt. Seine Erkrankung zwang ihn, eine ganze Reihe von agrarwissenschaftlichen Projekten, mit denen er seine agrarpolitischen Forderungen noch stärker hatte erhärten wollen, abzubrechen. Auch aus dem Projekt einer „Deutschen Agrargeschichte", für welches ihn Friedrich Meinecke gewonnen hatte, wurde nichts. Nur in dem Vortrag aus Anlaß des Congress of Arts and Science vom Jahre 1904 „The Relations of the Rural Community to other Branches of Social Science" - dies war mit Sicherheit eine arge Verballhornung des deutschen Originaltitels - 2 2 3 und in der Abhandlung über die Fideikommißvorlage von 1904 224 hat er wieder an seine agrarpolitischen Arbeiten der 1890er Jahre angeknüpft. Noch ein weiterer Bereich des politischen Engagements des jungen Wissenschaftlers verdient hier Erwähnung, sein Eintreten für die bürgerliche Frauenbewegung. Diese kämpfte damals darum, den Frauen ungehinderten Zugang zum öffentlichen Bildungswesen zu verschaffen und ihnen die Wege für eine anerkannte Berufsausbildung zu ebnen, statt ihnen allenfalls die Möglichkeit zu geben, eine ehrenamtliche Tätigkeit im karitativen Bereich auszuüben. Auch hier wirkte Max Weber mit. Im Januar und Februar 1894 hielt er in Berlin im Rahmen einer sozialpolitischen Fortbildungsreihe, die von den „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hülfsarbeit" organisiert worden war, einen Vortragszyklus über die „Grundzüge der modernen sozialen Entwickelung". 225 Die Arbeit dieser Gruppen wurde auch von Gustav Schmoller und Max Sering unterstützt. Max Webers Interesse an der Frauenbewegung wurde späterhin zunehmend von seiner Frau Marianne Weber beeinflußt, die seit 1897 die Heidelberger Vereinigung „Frauenbildung" leitete. An einer Veranstaltung der Vereinigung „Frauenbildung" im Februar 1898 nahm auch Max Weberteil. In einem längeren Diskussionsbeitrag äußerte er sich kritisch zu einem Referat des Heidelberger Staatswissenschaftlers Georg Jellinek und verteidigte die Frauenbewegung. 226

223 In: Congress of Arts and Science, Universal Exposition, St. Louis 1904, hg. von Howard J.Rogers, Band7. - Boston, New York: Houghton, Mifflin & Co. 1906, S. 7 2 5 - 7 4 6 (MWG i/8). 224 Weber, Max, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen, in: AfSS, Band 19,1904, S. 5 0 3 - 5 7 4 (MWG I/8). 225 Siehe unten, Anhang II, S.910f. 226 Siehe dazu unten, Anhang II, S.916f.

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7. Zur Forschungslage und

Textüberlieferung

In den bisherigen Ausgaben der Schriften Max Webers findet dessen agrarpolitisches Frühwerk nur bruchstückhaft Berücksichtigung. Marianne Weber nahm in die erste Auflage der Gesammelten Politischen Schriften nur die Akademische Antrittsrede von 1895 auf. Auf Anregung von Wolfgang J. Mommsen erweiterte Johannes Winckelmann den Textbestand in der zweiten Auflage der Gesammelten Politischen Schriften aus dem Jahre 1958 um den Diskussionsbeitrag auf der Gründungsversammlung des Nationalsozialen Vereins im November 1896; in der dritten Auflage vom Jahre 1971 kam die Stellungnahme zur Flottenumfrage von 1898 hinzu. In den von Marianne Weber 1924 herausgegebenen Gesammelten Aufsätzen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wurden nur der Vortrag „Die ländliche Arbeitsverfassung" auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik von 1893 sowie die kürzere Fassung des Aufsatzes „Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter" berücksichtigt. 227 Sowohl Marianne Weber als auch Johannes Winckelmann modernisierten die Orthographie, führten die Interpunktion nach und griffen darüber hinaus an einzelnen Stellen direkt in die Texte ein. 228 Demgegenüber präsentiert die vorliegende Ausgabe sechsunddreißig Texte in direkter und vollständiger Überlieferung. Der größte Teil der Texte lag zuvor zwar schon gedruckt vor, doch waren diese weit verstreut und z.T. schwer zugänglich. Vier Texte waren bisher gänzlich unbekannt. 229 Die außerordentliche Breite der Vortragstätigkeit Max Webers war nur ansatzweise bekannt. Max Weber entfaltete in diesen Jahren eine bemerkenswerte Aktivität auf politischem Felde und ebenso im Rahmen außeruniversitärer Bildungseinrichtungen. Unbekannt war auch seine Beteiligung an den meisten der hier veröffentlichten Aufrufe. Um möglichste Vollständigkeit in der Berücksichtigung aller relevanten Textzeugen zu erreichen sowie deren angemessene historische Verödung 227 Es handelt sich dabei nicht, wie von Marianne Weber im Inhaltsverzeichnis irrtümlich angegeben, um die Fassung aus dem Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, sondern um die in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlichte. 228 Der eklatanteste Fall ist die Änderung von Johannes Winckelmann in der zweiten Auflage der Gesammelten Politischen Schriften. Im Diskussionsbeitrag auf der Gründungsversammlung des Nationalsozialen Vereins heißt es im Original bei Weber: „wir haben die Polen aus Tieren zu Menschen gemacht" (unten, S.622). Bei Johannes Winckelmann heißt es: „wir haben die Polen [erst] zu Menschen gemacht." Jeweils S. 28 der zweiten bis fünften Auflage der Gesammelten Politischen Schriften. 229 Es handelt sich um „Die Couleurschicksale des Fürsten Bismarck", unten, S. 575-578, „Agrarpolitik. Grundriß einer Vortragsreihe", unten, S. 597-601, zwei Werbetexte zu „Volkswirtschaftliche Abhandlungen", unten, S. 674-677, und zu „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands", unten, S. 693.

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zu leisten, waren Recherchen in zahlreichen Archiven, Bibliotheken, Sammlungen und Privatnachlässen erforderlich. Vor allem wurden die Korrespondenzen im Nachlaß Max Weber im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (vormals: Zentrales Staatsarchiv) in Merseburg ausgewertet, desgleichen die Familienkorrespondenzen im Nachlaß Alfred Weber im Bundesarchiv Koblenz sowie die Korrespondenzen in den privaten Beständen Max Weber-Schäfer und Eduard Baumgarten. Darüber hinaus wurde der Briefwechsel Max Webers mit dem Verlag J . C . B . Mohr (Paul Siebeck) durchgesehen. Zur Kommentierung wurden ferner die Vorlesungsmitschriften der Vorlesungen Max Webers „Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land" im Sommersemester 1895 und „Agrarpolitik" im Wintersemester 1897/98 herangezogen. Schließlich wurden die Akten der zahlreichen Vereinigungen und Verbände, denen Max Weber angehörte, nach Texten oder Hinweisen auf Texte sowie zwecks Einholung von Hintergrundinformationen durchgesehen. Dazu gehören insbesondere die Akten des Evangelisch-sozialen Kongresses in Leipzig-Gohlis, die allerdings vor 1989 nur begrenzt zugänglich waren, die Akten des Alldeutschen Verbandes im Bundesarchiv Potsdam (vormals: Zentrales Staatsarchiv Potsdam), die Unterlagen des Deutschen Ostmarkenvereins sowie die Akten des Vereins für Socialpolitik im Geheimen Staatsarchiv Merseburg. Ferner sind die einschlägigen Bestände der Kirchenarchive nach Hinweisen durchgesehen worden, vor allem das Evangelische Zentralarchiv in Berlin. Die Bemühungen, durch Anfragen an zahlreiche sonstige landeskirchliche Archive doch noch ein Original des von Max Weber zusammen mit Paul Göhre 1892 erstellten Fragebogens für die Landarbeiterenquete des Evangelisch-sozialen Kongresses aufzufinden, waren allerdings nicht erfolgreich. Des weiteren wurden zahlreiche Nachlässe ausgewertet, insbesondere die Nachlässe von Richard Boeckh und Friedrich Naumann im Bundesarchiv Potsdam, von Karl Bücher und Wilhelm Stieda in der Universitätsbibliothek Leipzig, der Restnachlaß von Paul Göhre im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn, die Nachlässe von Hans Delbrück und Gottfried Traub im Bundesarchiv Koblenz, der Nachlaß von Georg Friedrich Knapp im Privatbesitz von Frau Ursula Heuss, Basel, der Nachlaß von Martin Rade in der Universitätsbibliothek Marburg sowie der Nachlaß von Gerhart von Schulze-Gaevernitz im Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg. Bei der Suche nach Berichten über Vorträge Max Webers in der jeweiligen Lokalpresse wurden zahlreiche Stadtarchive und Universitäts- und Landesbibliotheken um ihre Unterstützung gebeten. Um Max Webers umfangreiche Vortragstätigkeit zu dokumentieren, wurden die einschlägigen Zeitungen und Zeitschriften sowie sonstigen Publikationsorgane einer systematischen Durchsicht unterzogen.

66 8. Zur Anordnung

Einleitung

und Edition der

Texte

Gemäß den Editionsrichtlinien der MWG werden hier nicht nur die von Weber verfaßten oder mitverfaßten Texte berücksichtigt, sondern auch die indirekt überlieferten Texte. Dabei handelt es sich in der Regel um Presseberichte über Reden, Vorträge und Diskussionsbeiträge sowie in wenigen Fällen um unautorisierte Mitschriften. Ferner sind alle Aufrufe, Kundgebungen usw. aufgenommen worden, die Max Weber durch seine Unterschrift mitverantwortet hat, obschon er nur in wenigen Fällen auf deren Wortlaut direkt oder indirekt eingewirkt hat. Schließlich wird eine Übersicht über Vorträge und Diskussionsbeiträge gegeben, die Max Weber nachweislich gehalten hat, von denen uns aber keine Textzeugen überliefert sind. Die Edition ist, in Berücksichtigung des unterschiedlichen Quellenwerts dieser verschiedenen Textzeugen, in die Teile I. „Schriften", II. „Berichte über Reden und Diskussionsbeiträge", sowie den AnhangI: „Mitunterzeichnete Eingaben und Aufrufe" und den Anhang II: „Nachgewiesene, aber nicht überlieferte Vorträge und Diskussionsbeiträge" untergliedert. Teill: „Schriften" enthält die Manuskripte sowie die veröffentlichten Abhandlungen, Artikel, Vorträge und Diskussionsbeiträge, die von Weber autorisiert wurden. Bei gedruckten Texten ist in der Regel das Veröffentlichungsdatum, nicht das Entstehungsdatum, für die chronologische Einordnung maßgeblich. Bei Artikelfolgen in Zeitschriften ist das Veröffentlichungsdatum des jeweils ersten Artikels für die chronologische Einordnung der gesamten Serie ausschlaggebend. Die Vorträge und Diskussionsbeiträge Webers auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik und dem Evangelisch-sozialen Kongreß sind, in Abweichung von den Editionsprinzipien, unter dem Veranstaltungsdatum angeordnet. Andernfalls wäre beispielsweise der Artikel „Zum Preßstreit über den Evangelisch-sozialen Kongreß" (von 1894) vor das Referat und den Diskussionsbeitrag selbst zu stehen gekommen. In vergleichbaren Fällen wird in analoger Weise verfahren; das Datum der Veröffentlichung wird jeweils im Editorischen Bericht mitgeteilt. Es darf als gesichert gelten, daß Max Weber die stenographischen Mitschriften des Vereins für Socialpolitik und des Evangelisch-sozialen Kongresses vor der Drucklegung durchgesehen und autorisiert hat. Texte, bei denen der Zeitpunkt der Entstehung bzw. das Datum der Veröffentlichung nicht genau bestimmbar sind, werden jeweils am Ende des fraglichen Zeitraums eingeordnet. In Teil II: „Berichte über Reden und Diskussionsbeiträge" sind alle indirekten Zeugen von öffentlichen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen aufgenommen. Dabei handelt es sich mit Ausnahme der Flugschrift des Alldeutschen Verbandes durchweg um Presseberichte. Die Einordnung erfolgt

Einleitung

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jeweils gemäß dem Veranstaltungsdatum; Vortragsreihen werden gemäß dem Termin des ersten Vortrags angeordnet. In AnhangI: „Mitunterzeichnete Eingaben und Aufrufe" werden Texte mitgeteilt, die Weber durch seine Unterschrift mitverantwortet hat. Es ist allerdings davon Abstand genommen worden, die Einladungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, die alljährlich in der Presse erschienen, zu berücksichtigen. Max Webers Name wurde hier routinemäßig unter denen der Mitglieder des Ausschusses genannt. In Anhang II: „Nachgewiesene, aber nicht überlieferte Vorträge und Diskussionsbeiträge" werden alle Informationen über die Texte gesammelt, von denen weder ein Manuskript noch eine gedruckte Fassung noch Berichte überliefert sind. Gemäß den Editionsprinzipien der MWG sind die Texteingriffe auf ein Mindestmaß beschränkt. Die für Max Weber typische Zeichensetzung wurde nicht verändert, auch wurde bei grammatikalischen Eigenheiten nicht eingegriffen. Zu letzteren gehört es, daß Weber oftmals trotz mehrerer grammatikalischer Subjekte das Prädikat im Singular beläßt. Auch sprachliche Besonderheiten wie „Controle" statt „Kontrolle" wurden nicht emendiert. Bei den Berichten über Reden und Diskussionsbeiträge wurden eigentümliche Schreibweisen, wie z.B. „Fideikommis" statt „Fideikommiß" beibehalten; ebenso wurde von der Verbesserung oder dem Hinweis auf offensichtliche Widersprüche oder Fehler in indirekten Textzeugen Abstand genommen. 2 3 0 Im übrigen war es nicht immer möglich, die in den Presseberichten genannten statistischen Angaben nachzuweisen, da sich hier infolge der indirekten Überlieferung zuweilen fehlerhafte Daten eingeschlichen haben. Liegen mehrere Fassungen eines Textes vor, wird dem Abdruck grundsätzlich die Fassung „letzter Hand" zugrundegelegt. Von diesem Prinzip wird in diesem Band verschiedentlich abgewichen, in zwei Fällen, weil die von Max Weber überlieferten Manuskripte von zuverlässigerer Qualität sind

230 Z.B. finden sich in den Presseberichten über den Schlußvortrag der Vortragsreihe „Agrarpolitik" im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main direkt divergierende Aussagen, auf deren Richtigstellung oder Kommentierung jedoch verzichtet wird. Im Bericht des Frankfurter Journals heißt es beispielsweise: „ Der Bau der Zuckerrübe hat zur Zeit noch Zukunft; sie gedeiht aber nicht auf Sandboden." Unten, S. 777. Im Bericht des Frankfurter Volksboten lautet die entsprechende Passage hingegen: „ Die Zuckerrübe hat [...] noch eine Zukunft [...]; allerdings braucht sie hauptsächlich Sandboden." Unten, S. 779.

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Einleitung

als die Druckfassungen; 231 in einem Fall, weil es sich um zwei eigenständige Texte mit eigener Wirkungsgeschichte handelt. 232 In einer Reihe von Fällen wurden Texten, die keinen Originaltitel besitzen, der besseren Übersichtlichkeit halber sinngemäße Überschriften gegeben; sie sind durch eckige Klammern als Zutat des Herausgebers kenntlich gemacht. Abschließend sei noch angemerkt, daß jeder in diesem Band veröffentlichte Text als selbständige Einheit behandelt wird. Dies hat zur Konsequenz, daß sich die Angaben zur Entstehung der Texte in den Editorischen Berichten und ebenso in den Erläuterungen zu den Texten gelegentlich wiederholen. Angesichts des Umfangs des Bandes erschien es uns aber erforderlich, dem Leser den Zugang und die Arbeit mit den Texten nicht durch zahlreiche Querverweise zu erschweren und ihm statt dessen alle Informationen zum Verständnis des jeweiligen Textes an Ort und Stelle zu geben.

231 Es handelt sich um „Die Couleurschicksale des Fürsten Bismarck", unten, S.575-578, und den Werbetext zu „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands", unten, S.693. 232 Es handelt sich um den Text „Die Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter", unten, S.362-462.

I. Schriften

Privatenqueten" über die Lage der Landarbeiter

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Die Entstehung des Textes geht indirekt auf eine A n r e g u n g Paul Göhres, des Generalsekretärs des Evangelisch-sozialen Kongresses, zurück. In der ersten N u m m e r der im N o v e m b e r 1891 g e g r ü n d e t e n Mitteilungen d e s Evangelisch-sozialen K o n g r e s s e s schlug G ö h r e vor, andere Geistliche sollten d e m Beispiel des sächsischen Pfarrers Borchardt 1 folgen und „ S t u d i e n über die soziale Lage ihrer G e m e i n d e g l i e d e r " anfertigen. 2 G ö h r e versprach sich davon einerseits eine Intensivierung d e s Kontakts z w i s c h e n den Geistlichen und ihren G e m e i n d e m i t g l i e d e r n , andererseits aber auch die Entwicklung praxisnaher Strategien der evangelischen Kirche zur B e s s e r u n g sozialer Notstände. 3 Der Vorschlag G ö h r e s w u r d e v o n konservativer Seite heftig angegriffen. Die Conservative C o r r e s p o n d e n z , das offizielle Organ der D e u t s c h k o n s e r vativen Partei, veröffentlichte unter der Überschrift „ P r i v a t e n q u e t e n " einen Artikel, 4 der auf die vermeintliche Gefahr einer propagandistischen „ A u s s c h l a c h t u n g " d e r - i n ihren A u g e n stets lückenhaften - Privatenqueten durch die Sozialdemokratie hinwies. Dieser, v o n der offiziösen N o r d d e u t s c h e n A l l g e m e i n e n Zeitung nachgedruckte Artikel, 5 den G ö h r e dann seinerseits in den Mitteilungen des Evangelisch-sozialen K o n g r e s s e s erneut veröffentlichte, 6 bot den unmittelbaren Anlaß für Max Weber, mit einer Reihe von Artikeln in den Mitteilungen d e s Evangelisch-sozialen K o n g r e s s e s zu d e m Vorschlag G ö h r e s Stellung zu n e h m e n . Es ist a n z u n e h m e n , daß es G ö h r e war, der W e b e r zu den Artikeln aufforderte und ihm Z u g a n g zu d e m Publikationsorgan des Evangelisch-sozialen K o n g r e s s e s verschaffte. W e b e r hatte Göhre vermutlich auf d e m ersten 1 Vgl. Borchardts Artikel „Zur sozialen Frage auf dem Lande", in: Der Arbeiterfreund. Zeitschrift des Centrai-Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, 28. Jg., 1890, S. 213-224. 2 Göhre, Paul, Die .Evangelisch-sozialen Zeitfragen', in: Mitteilungen des Evangelischsozialen Kongresses, Nr. 1 vom 24. Nov. 1891, S. 4. 3 Ebd. 4 Nr. 20 vom 17. Febr. 1892. 5 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 83 vom 19. Febr. 1892, Mo.BI. 6 Göhre, Paul, Dr. Borchardt und die Konservative Korrespondenz, in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 3 vom 1. März 1892, S. 2.

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Privatenqueten "

Kongreß 1890, vielleicht durch Vermittlung seines Vetters, des jungen Theologen Otto Baumgarten, kennengelernt. 7 Weber hatte gerade begonnen, sich in das Material über die Lage der ostelbischen Landarbeiter einzuarbeiten, dessen Auswertung ihm der Verein für Socialpolitik übertragen hatte. 8 Bereits der erste Eindruck, den er sich in wenigen Tagen hatte verschaffen können, ließ ihn die mit der Erhebung des Vereins für Socialpolitik verbundenen Mängel klar sehen. Er griff daher bereitwillig den Vorschlag Göhres auf, Geistliche zu Studien über soziale Fragen innerhalb ihrer Gemeinde anzuregen. Hatte Göhre noch an die Befragung und Beobachtung der Gemeindemitglieder im allgemeinen gedacht, lenkte Weber nun mit seiner Artikelreihe das Interesse auf die spezielle Lage der Landarbeiter. Weber erhoffte sich von einer solchen Enquete nicht nur objektivere Ergebnisse, vielmehr glaubte er auch, daß durch lokale Beobachtungen die subjektiven Bestrebungen der betreffenden Landarbeiter, denen er größere Bedeutung als den tatsächlichen materiellen Lebensbedingungen beimaß, deutlicher zu Tage treten würden als bei der Erhebung des Vereins für Socialpolitik. 9 Die Abhandlung erschien in drei Folgen im April, Juni und Juli 1892. Weber verfaßte sie parallel zu seiner Auswertung der Erhebung des Vereins für Socialpolitik. 10 Neben einer Kritik an den Mängeln dieser Erhebung gingen auch erste Ergebnisse, zu denen Weber bei der Auswertung gelangt war, in die Artikelfolge ein. Noch bevor die dritte Folge erschienen war, beschloß das Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses auf Vermittlung Paul Göhres am 22. Juni 1892, die von Weber vorgeschlagene Enquete über die Lage der Landarbeiter durchzuführen. 11

7 Vgl. das Teilnehmerverzeichnis, in: Bericht über die Verhandlungen des Ersten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Berlin vom 27. bis zum 29. Mai 1890. Berlin: Vaterländische Verlagsanstalt 1890, S. 162 und 167. Zum Verhältnis von Max Weber und Otto Baumgarten und ihrer engen Zusammenarbeit in der Evangelisch-sozialen Bewegung siehe oben, S. 26. 8 Max Weber hatte Mitte Februar/Anfang März 1892 mit der Auswertung begonnen. Vgl. Riesebrodt, S.24. 9 Vgl. unten, S. 78. 10 Vgl. Anm.8. Die ersten Manuskripte Webers gingen im Juli im Verlag Duncker & Humblot ein. Riesebrodt, S. 24. 11 „Aus der letzten Sitzung des Aktionskomitees", in: Mitteilungen des Evangelischsozialen Kongresses, Nr. 6 vom 1. Juli 1892, S. 6.

Editorischer

Bericht

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Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der in drei Folgen jeweils unter der Überschrift „.Privatenqueten' über die Lage der Landarbeiter" in den Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, hg. vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses, Berlin, Nr. 4 vom 1. April 1892, S. 3 - 5 , Nr. 5 vom 1. Juni 1892, S. 3 - 6 , und Nr. 6 vom 1. Juli 1892, S. 1 - 5 , erschienen ist (A). Jede der Folgen ist jeweils am Ende mit „Dr. M. W." gezeichnet; diese Zeichnung wird im nachfolgenden Abdruck vernachlässigt. Webers eigene Anmerkungen binden in A mit Sternchen an. Diese wurden durch die Indizierung mit in offene Klammern gesetzte Ziffern ersetzt. Am Ende des zweiten Artikels verweist Weber auf einen Druckfehler im ersten Artikel. Dieser Druckfehler wird hier (S. 74) mit Verweis auf die entsprechende Anmerkung Webers verbessert.

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„Privatenqueten" über die Lage der Landarbeiter.

1.

Die Anregung, die in diesen Blättern zur allmäligen Inangriffnahme von Privat-Enqueten durch die Geistlichen innerhalb des Bereichs ihrer Erfahrungsmöglichkeit gegeben wurde, hat seitens eines Teils der politischen Presse einen Widerspruch erfahren, welcher ersichtlich weniger der Ausdruck sachlicher Bedenken, als der Besorgnis für die Gefährdung politischer und wirtschaftlicher Machtinteressen war.1 Man kann nur dringend wünschen, daß die gegebene Anregung trotzdem auf fruchtbaren Boden fallen möge, und für kaum ein Gebiet lassen sich in dem Maße positive und dauernd wertvolle Ergebnisse von Versuchen dieser Art erwarten, wie für die Entwikkelung der Lage der Landarbeiter. In Kürze mögen beispielsweise einige ganz konkrete 3 Andeutungen über die Gesichtspunkte, welche hier in Frage kommen, gestattet sein. Der klassische Boden der „ländlichen Arbeiterfrage" ist der deutsche Osten. Hier zeigen sich gleichartige, als Massenerscheinungen wirkende Veränderungen, welche in ungleich höherem Maße als anderwärts dem Grundbesitz ebenso wie der Staatsgewalt ernste Probleme von verhängnisvoller Tragweite stellen. Der Grund aller Schwierigkeiten liegt in der Art, wie sich für die Landwirtschaft, speziell für den hier vorwiegenden Großgrundbesitz der Bedarf an Arbeitskräften auf die einzelnen Jahresabschnitte verteilt. Er ist jahraus jahrein zur Zeit der Ernte ein sehr viel größerer als während des gesamten übrigen Jahres, schon da, wo der Getreidebau noch den Schwerpunkt der Wirtschaft bildet, mehr noch bei vorwiegena

A: zentrale Vgl. unten, S. 90, Webers Anm. 2.

1 Kritik an der Anregung Paul Göhres (siehe oben, S. 71, Anm. 2) wurde vor allem geübt in der Conservativen Correspondenz, Nr. 20 vom 17. Febr. 1892, unter der Überschrift „Privatenqueten". Dieser Artikel wurde von der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, Nr. 83 vom 19. Febr. 1892, Mo.BI., nachgedruckt. Paul Göhre druckte ihn dann mit einem kritischen Kommentar versehen in den Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 3 vom 1. März 1892, S. 2 - 4 , erneut ab.

„ Privatenqueten "

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dem oder wenigstens starkem Kartoffelbau, am stärksten da, wo die intensivste Bodennutzung durch Anbau von Zuckerrüben stattfindet. Die Folge ist, daß die Landwirtschaft neben einem Stamm fester, das ganze Jahr hindurch zur Verfügung stehender Arbeiter 5 für den Sommer und speziell die Zeit der Ernte anderweitiger Arbeitskräfte bedarf, und damit ist die Scheidung der Arbeiter in zwei Hauptkategorien gegeben. Die einen sind die zeitweise und hauptsächlich gegen Geldlohn beschäftigten, aus den benachbarten Dörfern oder der Fremde herbeigezogenen „freien" Arbeiter. Von die10 sen soll in der nächsten Nummer die Rede sein. Die andere Kategorie, der feste Stamm dauernd derselben Wirtschaft eingefügter Gutsarbeiter, wird im Osten regelmäßig gebildet teils durch Gesinde, teils durch Leute, welche kleine Kathenhäuser, die ihnen der Gutsherr stellt und zu dem meist ein kleiner Garten gehört, auf dem Gute 15 bewohnen. Die Verhältnisse der letzteren Kategorie geben dem ganzen Osten auf dem Lande sein eigenartiges Gepräge, sie bilden den weitaus interessantesten Bestandteil der Landarbeiter, und es soll deshalb hier gerade von ihnen die Rede sein. Die historisch überkommene Gestaltung des Verhältnisses ist die: 20 Neben Wohnung und Garten erhalten die „Instleute" eine bestimmte Fläche Ackerlands zu Getreide-, Kartoffel- und Leinbau, je nach Güte des Bodens 2—6 Morgen, angewiesen, welche der Gutsherr düngt und bestellt. Sie dürfen eine Kuh, zuweilen deren mehrere frei weiden lassen und erhalten für den Winter Futter, daneben meist 25 auch freie Weide für Geflügel und häufig für noch anderes Vieh. Ferner haben sie freies Brennwerk, freie Fuhren, freie Krankenpflege zu beanspruchen. Ihr Lohn ist in sehr eigenartiger Weise so gestellt, daß sie für die Zeit des Getreidedreschens im Winter durch einen Anteil an dem Erdrusch, beim Dreschen mit dem Flegel meist 30 mit dem 15.-16. Scheffel, gelohnt werden, in der übrigen Zeit des Jahres aber entweder für den Arbeitstag einen - natürlich niedrigen Tagelohn (z.B. 30—40Pfg., neuerdings mehr) oder einen festen Satz für das ganze Jahr beziehen. Sie sind kontraktlich verpflichtet, sich selbst und meist 1, zuweilen 2 andere Personen, die sogen. „Schar35 werker"[,j das ganze Jahr über dem Gutsherrn zur Arbeit und zur Verfügung zu stellen; der Gutsherr seinerseits hat sie das ganze Jahr über zu beschäftigen. Die Scharwerker werden, wenn der Arbeiter arbeitsfähige erwachsene Kinder hat, aus diesen, sonst aus Dienstboten, die er mietet, gestellt. Das Budget eines solchen „Instmanns"

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stellt sich also, wenn das Verhältnis so gestaltet ist, wie es als Idealbild sich denken läßt und stellenweise vorkommt, dahin: er hat für Wohnung und Feuerung nichts zu verausgaben, der Bedarf an Kleidungsstücken wird zum großen Teil aus dem selbst gebauten, versponnenen und verwebten Flachse hergestellt, der Bedarf an Gemüse und Kartoffeln ganz aus dem Ertrag des Landes, der Brotbedarf ganz aus dem Landertrag verbunden mit dem Dreschertrag gedeckt, der Bedarf an Milch und Butter, sowie Eier ganz durch die Kuh und das frei gehaltene Geflügel geliefert; von dem auch in unterdurchschnittlichen Jahren b verbleibenden Überschuß der Kartoffeln und des Dreschertrages futtert er 1—2Schweine, die er schlachtet, und deckt daraus und aus der Nachzucht des sonstigen weidefreien Viehes einen Teil des Fleischbedarfs, nehmen wir an ein Drittel. Der verbleibende Rest materieller Bedürfnisse, nämlich: der ungedeckte Teil des Bedarfs an Fleisch, dann Colonialwaaren, ein Teil der Kleidung, Schuhe, der notwendige Ersatz des Mobiliars und der Gerätschaften, ist durch Ankauf zu beschaffen, und es wird dazu ein Teil, nehmen wir an die Hälfte des Baareinkommens aus der Löhnung, die der Tagelöhner selbst und die Scharwerker für ihn verdienen, verwendet. Den Rest des baaren Einkommens muß der Tagelöhner, so lange er eigne Kinder nicht hat, zur Löhnung der Dienstboten, die er stellt, verwenden, bis auf einen nicht bedeutenden Betrag, der ihm für die Befriedigung nicht materieller Bedürfnisse verbleibt. So weit geht also sein Budget auf; in normalen und noch mehr in guten Jahren aber erzielt er aus dem reichlichen Ertrag des eignen Landes und des Dreschens des Gutsgetreides bedeutende Überschüsse, die teils durch Verkauf des Getreides, teils durch Mästung von Schweinen zum Verkauf verwendet werden und reine zum Sparen verwendbare Baareinkünfte ergeben. Der Landarbeiter hat bei diesem Verhältnis ein entschiedenes Interesse an günstigen Getreide- und Viehpreisen, weil er selbst ein kleiner Unternehmer ist; es besteht überhaupt eine Interessengemeinschaft zwischen ihm und dem Gutsherrn, welche ihm täglich unmittelbar vor Augen steht; von der Gutsrente hängt die Gestaltung seines eigenen Budgets ab; Sonne und Wind, Regen, Frost- und Hagelschlag, Viehseuchen und Preisdruck durch wirtschaftliche Kri-

b A: Jahre

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sen und fremde Konkurrenz entscheiden über seine wirtschaftliche Lage in gleichem Sinne wie über die des Gutsherrn. Die Frauen und Kinder arbeiten nur in der Ernte einige Wochen mit, sie sind sonst in der eigenen Wirtschaft mit der Wartung des 5 eigenen Viehs, der Bestellung des Gartenlandes, mit Herstellung der Gespinste und Gewebe in einer Weise beschäftigt, welche die denkbar beste Vorbildung für die künftige | eigene Führung eines Haus- A 4 standes und eines kleinen landwirtschaftlichen Betriebes bietet. Die Lage des Arbeiters verbessert sich - das ist eine der wesent10 lichsten Seiten der Sache - mit seinen zunehmenden Jahren. Er fängt an als Knecht, das Mädchen als Magd; von den neben vollständig freier Station gegebenen, schon seit Jahren recht hohen Baarlöhnen legen sie zurück, bis die Ersparnis zur Anschaffung einer Kuh und der unentbehrlichen Utensilien zureicht; dann wird geheiratet und 15 eine Inststelle angenommen. Die ersten lVi Jahrzehnte sind für den jungen Haushalt eine schwierige Zeit; wenn aber erst eigene arbeitsfähige Kinder vorhanden sind, welche, als Scharwerker gestellt, die Haltung eines Dienstboten ersparen und zeitweise auswärts tagelöhnern, beginnt eine zunehmende Verbesserung und die Möglichkeit, 20 zurückzulegen und den Kindern Ersparnisse zu hinterlassen. Dies das Idealbild des Verhältnisses. Es ist nicht abzuleugnen, daß es in einer diesem Bilde nahe kommenden Gestaltung vorkommt. Aber neuerdings tritt leider die Wirklichkeit, wie es scheint, im allgemeinen in steigendem Maße in Gegensatz dazu, und hier be25 ginnt eine Aufgabe, die nach meiner Auffassung zunächst nur durch die Vorarbeit von Privatenqueten einer Lösung näher geführt werden kann. Es handelt sich zunächst darum, zu ermitteln, nach welcher Richtung die Lage derjenigen, sozialpolitisch wichtigsten Kategorie der 30 östlichen Landarbeiter, von welcher wir hier sprechen, von vorstehender Schilderung schon jetzt abweicht. Diese Abweichungen können nach den verschiedensten Richtungen hin liegen: es kann das Einkommen an Korn und Kartoffeln unzureichend sein, oder Gelegenheit zur Verwertung der Naturalien durch Verkauf fehlen, oder 35 es können die Preise ungünstig liegen, oder die Leute zu träge zur ordentlichen Wirtschaftsführung sein, oder es kann endlich ihr Gesamteinkommen so knapp bemessen sein, daß es nur in mittleren Jahren notdürftig ausreicht. Immer aber ist die Frage, ob eine solche Abweichung vorhanden ist, und wo sie liegt, der Beantwortung

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durch die Statistik vollkommen entzogen. Denn es handelt sich nicht um zahlenmäßig nach einer gleichartigen Schablone zu ermittelnde Dinge. Es kommt vielmehr lediglich darauf an, welche Bedürfnisse der Arbeiter durch Ankauf sich beschaffen muß und thatsächlich beschafft, und ob und welche Naturaleinkünfte er andrerseits ganz oder teilweise durch Verkauf verwertet. Diese beiden Fragen stehen absolut im Mittelpunkt, denn aus ihrer Beantwortung ergiebt sich, wohin die wirtschaftlichen Interessen des Arbeiters gravitieren. Es ist dringend erwünscht, so viel irgend möglich, lokale Beobachtungen über die Gestaltung des Arbeiterbudgets in dieser Beziehung zu erhalten. Man hat jetzt eine Enquête über die Lage der Landarbeiter durch Anfrage bei 3000 Gutsbesitzern veranstaltet 2 ; diese giebt eine große Menge völlig zuverlässiger Zahlenangaben über die einzelnen Bezüge der Arbeiter in fast allen Gegenden des Reichs, allein naturgemäß läßt sie uns in der gedachten wichtigsten Beziehung in 30 von 100 Fällen im Stich. Außerdem aber giebt sie nur die Anschauung wieder, welche tüchtige und zweifellos wohlwollende ländliche Arbeitgeber von der Lage ihrer Arbeiter haben. Die Arbeiter selbst zu fragen, ist, abgesehen von den sehr bedeutenden dazu erforderlichen und nicht vorhandenen Geldmitteln, mit Rücksicht auf die eigenartigen Mißdeutungen und das Mißtrauen, dem dieser Versuch bei den Verhältnissen des platten Landes begegnen würde, zur Zeit leider noch unmöglich. Dagegen sind Geistliche, die das Vertrauen ihrer Gemeinde genießen, durchaus in der Lage, die Auffassung der Landarbeiter über ihre Lage und die Art, wie sie ihr Budget zweckmäßigerweise gestalten können, zu ermitteln. Gerade auf diese subjektive Ansicht der Arbeiter kommt es an. Nicht nur aber für die Frage, wie es den Arbeitern zur Zeit objektiv und subjektiv geht, sondern für die wichtigere, welche Entwickelungstendenzen für die Gestaltung des geschilderten Verhältnisses maßgebend sind, können solche Beobachtungen wertvolle Dienste leisten. Es scheint nämlich, daß die skizzierte Art der Arbeitsverfassung in einer starken Umbildung, teilweise bereits geradezu in einer vollständigen Desorganisation begriffen ist. Allgemein wirtschaftliche Gründe dafür lassen sich mehrere angeben.

2 G e m e i n t ist die v o m Verein für Socialpolitik 1891 / 9 2 veranstaltete Enquete z u r Lage der Landarbeiter, für die W e b e r die Bearbeitung d e s Materials für d a s o s t e l b i s c h e D e u t s c h l a n d ü b e r n o m m e n hatte. Vgl. Weber, Landarbeiter.

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Steigt nemlich bei intensiver Wirtschaft der Getreidebau von seiner beherrschenden Stellung herunter und wird bei Einführung des Dampfmaschinendrusches infolge der dabei natürlich eintretenden Herabsetzung des Anteils, den die Arbeiter vom Erdrusch erhalten, der Ertrag für den Drescher ein erheblich geringerer, muß infolgedessen der Mann Brotkorn schon in mittleren Jahren zukaufen, so ist die Interessengemeinschaft in dieser Hinsicht erschüttert und, da der Arbeiter dann an billigen Preisen ein Interesse hat, teilweise in ihr Gegenteil verkehrt. Hat ferner bei steigender Intensität der Kultur der Landwirt ein steigendes Interesse daran, selbst sein Areal in rationeller Weise zu bewirtschaften, so giebt er dem Arbeiter statt des Landes, auf dem dieser Getreide und - hauptsächlich - Kartoffeln baute, lieber ein festes „Deputat" an Kartoffeln und Getreide, wie es das verheiratete Gesinde schon immer statt der Beköstigung erhielt. Aus dem „Drescher" wird ein „Deputant", der an der Höhe der Gutsernte und, da er selten zum Verkauf etwas übrig behält, an den Getreidepreisen kein Interesse hat. Und wo der Gutsherr nicht darauf hinwirkt, da verlangt der Arbeiter selbst bei sinkendem Ertrage des Dreschens und stark schwankenden Getreidepreisen auch statt des historischen Anteils am Erdrusch ein festes, für seinen Bedarf eben ausreichendes Getreidedeputat und statt des Ausfalls an Korn und Land Erhöhung des Geldlohnes. Weiter bei sinkenden Schweinepreisen verzichtet er auf die unrentable c Mastung und c auf den über seinen eigenen Nahrungsbedarf hinausgehenden 0 Betrag der Deputate, die er bis dahin verfuttert hatte, und verlangt dagegen abermals Erhöhung des Geldlohnes. Dann giebt die Zuteilung des Deputats zu Mißhelligkeiten Anlaß: die Leute sind unzufrieden mit der Qualität, auch wechselt der Bedarf - und beide Teile halten es für vorteilhafter, daß der Arbeiter nur nach Bedarf und Wahl sein Brotkorn vom Gut zum Marktpreise oder zu einem festen Preise bezieht, oder auch einfach sein Brot kauft, woher er will und kann, und das Äquivalent ist abermalige bedeutende Erhöhung des Geldlohnes. Die Kuh des Arbeiters, die bis dahin in dessen Stalle stand, für die er freie Weide und ein Futterdeputat bezog, nimmt bei Einführung der Stallfütterung der Gutsherr in seinen Stall. Allmählich wird überhaupt die Kuhhaltung dem Arbeiter lästig: die Kuh kann sterben, sie wird im C A: Mästung, und

d A: hinausgehende

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herrschaftlichen Stall nicht so gefuttert, wie das herrschaftliche Vieh, - oder es scheint ihm doch so - , der Milchertrag wechselt, für die Herrschaft sind die „Leutekühe" gleichfalls ein Gegenstand geringer Freude: beide Teile ziehen ein festes Milchdeputat oder wiederum eine Erhöhung des Baarlohnes unter Abschaffung der Kuhhaltung vor. Damit ist dann die alte Interessengemeinschaft zerstört und der Gutstagelöhner seines Charakters als Kleinunternehmer völlig entkleidet; er bildet nur noch eine Abart der fremden, gegen Geldlohn beschäftigten Arbeiter. In zahlreichen Übergangsformen, vielfach gekreuzt durch entgegenwirkende Tendenzen, findet sich diese Entwickelung im ganzen Osten. Fast überall wird der Landgeistliche Gelegenheit haben, mehrere dieser Übergangsformen nebeneinander, von den „Dreschern" durch die „Deputanten" hindurch bis zu den „Geldleuten" zu beobachten. Nun entstehen mehrere Fragen, die nur auf Grund lokaler Beobachtung zu beantworten sind: 1. Wie stellt sich das Budget dieser verschiedenen Kategorien zu einander? Es scheint im allgemeinen, daß die oben geschilderte Entwickelung von den Arbeitern als eine successive Erleichterung | 5 empfunden wird. Das ist auch in gewissem Sinne richtig: die schwere Sorgenlast des Kleinunternehmertums wird von ihren Schultern genommen, der Himmel und der Weltmarkt haben einen wesentlich geringeren Einfluß auf die Höhe ihres Bruttoeinkommens. Es ist eine überaus lohnende Aufgabe, die psychologischen Konsequenzen dieser Wandlung zu untersuchen; vorweg aber muß ermittelt werden, wie sich die thatsächliche materielle Lebenshaltung dabei gestaltet und ob nicht etwa die Empfindung, besser gestellt zu werden, zum Teil auf Illusion beruht. 2. Welche Wirkungen haben jene Differenzen nach Seite der Gestaltung des Familienlebens? Dabei ist zu erwägen, daß durch die Entziehung des Landes und der Viehhaltung die Frauen aus ihrer für die Gestaltung des Haushalts maßgebenden Position verdrängt, andererseits ihre Arbeitskraft für den Lohnerwerb frei wird. Wie steht es ferner mit den Wirkungen des Kinderreichtums? Es scheinen hier Differenzen zwischen den einzelnen oben bezeichneten Kategorien zu bestehen, namentlich scheint eine große Kinderzahl für Arbeiter, die wesentlich durch Landgewährung entlohnt werden, gefährlicher zu sein als für andere. Auch hier verschieben im übrigen die moder-

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nen Verhältnisse die alten Grundlagen der Arbeiterwirtschaft: die Kinder, welche früher mit den Jahren dem Haushalt Lohn einbrachten und die Haltung von Dienstboten als Scharwerker ersparten, ziehen jetzt in die Städte; die Verpflichtung zur Stellung von Schar5 werkern ist deshalb vielfach geradezu unerfüllbar. 3. Die Hauptfrage ist aber: wie stellen sich die Arbeiter zu den erwähnten verschiedenen Arten der Löhnung? Seitens der Landwirte wird behauptet, daß gerade sie es seien, welche die geschilderte Wandlung wünschten und erzwängen. Ist dies der Fall, so ist von 10 entscheidender Bedeutung, ob das auf der Meinung, daß die Landgewährung oder der Dreschanteil unzulänglich sei, oder auf Abneigung gegen die Interessengemeinschaft mit dem Gutsherrn und die daraus folgende relative Gebundenheit oder endlich auf Abneigung gegen die Unbequemlichkeit und das Risiko der eigenen Wirt15 schaftsführung beruht. Und das ist wiederum nur lokal und weit weniger durch Feststellung objektiver Thatsachen, als durch Erkundigung subjektiver Meinungen zu ermitteln; und wenig Persönlichkeiten sind in dem Maße in der Lage zu solchen Ermittelungen als die Landgeistlichen. 20 Es sind anscheinend sehr kleine Momente von nicht zentraler Natur, die damit berührt sind, aber wenn diese Wandlungen bei Hunderttausenden eintreten und die Interessen der Gutsherrn und ihrer Gutsarbeiter, wie es scheint, sich mehr und mehr zu scheiden beginnen, so ist die Erscheinung als Ganzes ein Moment von sozial25 politisch gewaltiger Bedeutung. Haben wir bisher von Verhältnissen gesprochen, welche historisch überkommen, jetzt in der Auflösung begriffen sind, so wird sich die weitere Betrachtung denjenigen Neubildungen zuzuwenden haben, welche auf dem Gebiet des ländlichen Arbeitsverhältnisses im Osten 30 zu konstatieren sind. |

2.

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35 Die ländlichen Arbeiter, welche man im Gegensatz zu den im vorigen Artikel behandelten, als „freie" zu bezeichnen pflegt, |diejeni- A 4 gen also, welche nicht auf festen Jahreskontrakt angenommen werden, demgemäß auch regelmäßig keine Wohnung auf dem Gute erhalten und in der Hauptsache (nicht ausschließlich) in barem Gel-

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de abgelohnt werden, nehmen eine von den „Instleuten" wirtschaftlich und sozial sehr abweichende Stellung ein. Es ist zwar selbstverständlich, daß, im großen Zusammenhang betrachtet, auch ihr Schicksal mit dem Wohl und Wehe der Landwirtschaft eng verknüpft ist: eine Depression, welche die letztere zu einer Einschränkung der verwendeten Arbeitskräfte zwänge, würde innerhalb einiger Jahre einen nach vielen Hunderttausenden zählenden Bruchteil brodlos als „industrielle Reservearmee" in die Städte werfen und beispielsweise die Besserung der Lebenslage, welche die Industriearbeiterschaft sich von der Aufhebung der Getreidezölle verspricht, in kurzer Zeit zu nichte machen. Allein während die Interessengemeinschaft mit dem Arbeitgeber dem Drescher täglich unmittelbar vor Augen geführt wird und die nächstliegenden Interessen jedes einzelnen, sein tägliches Brod, bei dem Ausfall der Ernte, dem Schwanken der Getreide- und Viehpreise in Frage steht, liegen die unmittelbaren Interessen des „freien" Arbeiters, welcher seinen Nahrungsbedarf zum weit überwiegenden Teil durch Kauf zu beschaffen hat, nach der entgegengesetzten Seite, und es ist nicht mehr als selbstverständlich, daß in dem Konflikt der unmittelbaren „Messer- und Gabelfrage" 3 des einzelnen mit den Interessen der Gesamtheit der Standesgenossen die letzteren nicht zum Bewußtsein und jedenfalls seitens des einzelnen nicht zur Berücksichtigung gelangen können. Die Landwirte sind nun fast einstimmig der Ansicht, daß die materielle Lage dieser sogenannten freien Arbeiter meist eine wesentlich ungünstigere ist als diejenige der im vorigen Artikel geschilderten Instleute. 4 Zweifellos ist, daß sie meist für den Landwirt billiger zu stehen kommen, wenn man nämlich die Naturaliengewährungen an die Instleute in Geld umrechnet. Das ist nun allerdings, da die Gewährung von Barlöhnen bei der Natur des Betriebes für den Landwirt spezifisch schwieriger ist, unrichtig, nichts destoweniger aber steht fest, daß der Instmann an Naturalien und unmittelbaren Lebensbedürfnissen im allgemeinen weitaus mehr bezieht, als der freie Arbei-

3 Der Chartistenführer Joseph Rayner Stephens erklärte 1838 auf einer Versammlung bei Manchester, daß der Chartismus eine „Messer- und Gabel-Frage" sei, daß die Charte „gute Wohnung, gutes Essen und Trinken, gutes Auskommen und kurze Arbeitszeit" bedeute. Erstmalig in deutscher Übersetzung zitiert in: Engels, Friedrich, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. - Leipzig: Otto Wigand 1845, S. 277. 4 Oben, S. 7 4 - 8 1 .

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ter durch Ankauf aus seinem Barlohn sich beschaffen könnte. Der Feststellung bedürfen aber die Fragen: 1) Inwieweit der vorhandene Interessengegensatz zwischen den kontraktlich gebundenen und den freien Arbeitern diesen subjektiv zum Bewußtsein gelangt, ob namentlich allgemein - wie es zweifellos stellenweise der Fall ist - die freien Arbeiter bereits erfüllt sind von dem in großartiger Entwickelung begriffenen gemeinsamen Klassenbewußtsein des modernen Proletariats, welches Stadt und Land zu umfassen strebt, oder ob doch dessen Vorstufe, der spezifische Selbständigkeitsdrang des modernen Arbeiters, entwickelt ist, und ob also 2) es auf diesem mehr ideellen Momente beruht, daß ein großer Teil der Arbeiterschaft die Position des freien Arbeiters mit seiner Geldlöhnung derjenigen des Instmannes vorzieht, oder auf dem Glauben, materiell besser gestellt zu sein (und worauf eventuell dieser Glaube beruht), oder endlich auf der rein äußerlichen Abneigung, eine Verpflichtung zur ununterbrochenen Arbeit während des ganzen Jahres zu übernehmen. Wo beide Kategorien nebeneinander bestehen, muß ferner ermittelt werden, ob sich Unterschiede im Küchenzettel der freien Arbeiter gegenüber den Instleuten bemerkbar machen, namentlich hinsichtlich der Fleischnahrung, vor allen Dingen aber, wie sich das Familienleben beider Kategorien zu einander verhält. In bezug auf den Umfang der Frauenarbeit differieren beide Kategorien häufig erheblich und zwar in sehr verschiedenem Sinn; es muß ermittelt werden, worauf dies beruht und welche Folgen es hat, besonders also, welche Stellung im Hause die Frau des Instmanns, die einem landwirtschaftlichen Kleinbetriebe vorzustehen hat, namentlich verglichen mit den Frauen solcher freien Arbeiter einnimmt, welche einen nennenswerten eigenen Wirtschaftsbetrieb, insbesondere eigenen Grund- und Pachtbesitz nicht haben. Diese besitzlosen Arbeiter bilden im Osten, abgesehen von Mecklenburg und einigen nicht umfangreichen Distrikten, bekanntlich den weitaus überwiegenden Teil der freien Arbeiter. Es ist nun bekannt, daß neuerdings eine energische, überwiegend (nicht durchweg) auf idealistischen Gesichtspunkten und einem warmen Interesse an der Zukunft der Landarbeiter beruhende Agitation zu gunsten der sogenannten Seßhaftmachung der letzteren sich geltend macht. 5 5 G e m e i n t ist die Debatte über die s o g e n a n n t e „innere Kolonisation" s o w i e die seit 1 8 9 0

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Von ganz eminentem e Interesse für die Erörterung dieser Frage wäre es, wenn die jeder statistischen Feststellung und überhaupt jeder nicht auf lokaler Erkundigung beruhenden Ermittelungsweise unzugängliche thatsächliche Lage der jetzt schon vorhandenen grundbesitzenden Arbeiter einigermaßen festgestellt werden könne. Das Urteil unbefangener Landwirte hierüber geht in denjenigen Gegenden, wo der Großgrundbesitz stark vorherrscht, sehr häufig dahin, daß diese Kategorie von Leuten die ungünstigst gestellte sei. Ist die Wirtschaft nicht ganz geringfügig, so hat der Arbeiter naturgemäß die Tendenz, nur eigenes, nicht fremdes Brod zu essen[,j und hungert sich durch, bezw. wird zum Feld- und Forstdiebe;' muß er notgedrungen auf Arbeit gehen, so ist die Scholle, an der er klebt, für ihn hinderlich in der Auswahl der Arbeitsstellen; 9 er steht dem Lohnangebote des Arbeitgebers relativ am machtlosesten gegenüber, und es besteht stellenweise die Gefahr, daß sich das schrecklichste der Schrecken entwickelt: ein Proletariat von Grundbesitzern, Menschen, denen der ererbte Besitz der heimatlichen Scholle zum Fluch geworden ist. Das scheint wenigstens stellenweise anders in Gegenden zu liegen, wo ein günstiges Mischungsverhältnis zwischen großem und mittlerem Besitz obwaltet. Es kann das seinen Grund nicht darin haben, daß die materielle Lage der Arbeiter beim mittleren Grundbesitz im allgemeinen etwa eine bessere wäre. Das Gegenteil ist der Fall: die Bezahlung und eventuell die Beköstigung durch die Bauern stehen zur Zeit, ganz überwiegend wenigstens, nach Höhe bezw. Qualität hinter den entsprechenden Leistungen des Großgrundbesitzes erheblich zurück und sind bei ausschließlichem11 Vorkommen bäuerlichen Besitzes, im Osten wenigstens, oft geradezu klägliche. Nichtsdestoweniger scheint die allgemeine Lage e A: eminenten

f A: Forstdiebe,

g A: Arbeitsstellen,

h A: ausschließlichen

verstärkt im deutschen Bereich einsetzende Agitation zur Einführung eines Heimstättenrechts nach amerikanischem Vorbild. Der Begriff „innere Kolonisation" umfaßt alle gesetzgeberischen Maßnahmen, die unter dem Eindruck der Abwanderung der Landarbeiter in die Industriebezirke teils aus nationalpolitischen, teils aus arbeitsmarktpolitischen Motiven in vielen europäischen Ländern ergriffen wurden. Ziel war die Vermehrung des bäuerlichen Mittelstandes und die Seßhaftmachung der Landarbeiter. Zur Kolonisationsgesetzgebung gehörten in Preußen das Ansiedlungsgesetz für Posen und Westpreußen vom 26. April 1886 und die Rentengutsgesetze (für ganz Preußen) vom 27. Juni 1890 und 7. Juli 1891. - Die Heimstättenbewegung erstrebte die Errichtung kleiner und mittlerer Bauernstellen, die vor Verschuldung und Zwangsvollstreckung durch Festsetzung eines Besitzminimums geschützt werden sollten.

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der grundbesitzenden Arbeiter, stellenweise auch der Arbeiter überhaupt, in subjektiver Beziehung beim bäuerlichen Besitz, besonders aber da, wo bäuerlicher und Großgrundbesitz in der Nachfrage nach Arbeitern konkurrieren, eine relativ zufriedenstellende zu sein. Die Gründe für dieses auch hier im Vordergrunde des Interesses stehende subjektive Moment sind für das am Tisch des Bauern mitessende Gesind bekannt und naheliegend, für die übrigen Kategorien von Arbeitern dagegen der Ermittelung bedürftig. Sie liegen - das ist kaum zweifelhaft - nicht auf rein materiellem Gebiete, sondern sind mindestens teilweise der ideelle Reflex der sozialen Schichtungsverhältnisse auf den Einzelnen: der tief entmutigende Gedanke, daß es für ewige Zeiten nur „Herren und Knechte" auf Erden gebe, lastet nicht auf dem' Landarbeiter, welcher den schweren Existenzkampf des bäuerlichen Besitzers, der physisch arbeitet wie er selbst, vor Augen hat, während der Arbeiter des Großgrundbesitzers nicht zu übersehen vermag, wie es um das ökonomische Fundament des Betriebes, in dem er ein untergeordnetes Glied bildet, bestellt ist; bedarf es doch auch für das Auge des Nationalökonomen und Technikers sehr scharfen Zusehens, um aus dem Totaleindruck des allgemeinen Klagens über die steigende Not die entscheidenden Züge herauszufinden und darnach die Prognose zu stellen: daß die Lage des Mittel- und Kleinbetriebes auf dem Lande, von bestimmten Ausnahmen abgesehen, trotz alledem eine sehr viel günstigere ist, als diejenige des Großbetriebes, der zumTeil k einer trüben Zukunft entgegengeht. Die Ermittelung, wie es um die Lage der Landarbeiter in jenen Distrikten gemischten Besitzstandes bestellt ist, | und der A 5 Vergleich mit andern ist aber deshalb wichtig, weil sie für die praktische Beantwortung der Frage von wesentlicher Bedeutung ist: ob nicht die vielbesprochene „Seßhaftmachung" der Landarbeiter überall da nur ein (nicht einmal schöner) Traum ist, wo nicht durch kolonisatorische Schöpfung bäuerlicher Stellen das einseitige Vorwiegen des Großbesitzes im Osten bereits vorher erheblich modifiziert worden ist. Die Entwicklung der „freien" Landarbeiterschaft des Ostens nimmt aber auch ganz überwiegend einen Verlauf, welcher der Tendenz der Verknüpfung der Landbevölkerung mit dem heimatlichen Boden entgegengesetzt ist. Den energischen Widerstand der Arbeii A: den

k A: teil

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ter allmählig überwindend, haben die Besitzer in steigendem Maße die Einführung des Akkordsystems mindestens für die Erntearbeiten, teilweise schon für den überwiegenden Teil aller Feldarbeiten, durchgesetzt. Die Abneigung der Arbeiter gegen diese Löhnungsform schreiben die Besitzer meist lediglich deren Trägheit zur Last. Es muß untersucht werden, in wie weit mit Recht, namentlich also, welche Konsequenzen für den Haushalt es hat, und ob nicht etwa die Planmäßigkeit der Wirtschaftsführung durch die ceteris paribus stets geringere Berechenbarkeit der Akkordlohneinnahme gegenüber dem festen Tagelohn beeinträchtigt wird, und wie dies subjektiv wirkt. Eine andere Konsequenz des Akkordlohnsystems läßt sich klarer erkennen: die stärkere Mobilisierung der Arbeiterschaft. Die Akkordsätze fordern, da sie meist je nach dem Saatenstand von Jahr zu Jahr verschieden angesetzt werden, am meisten zur Anstellung von Vergleichen mit den Sätzen anderer Gegenden, vor allen Dingen mit den Sätzen der Industrie, auf und legen den Gedanken des Berufswechsels an sich nahe; denn sie beseitigen wieder das Moment der (scheinbaren) Stabilität in den Löhnen, welches gerade den einzigen wesentlichen Vorzug der fest in Geld abgelohnten Arbeiter gegenüber den Dreschern bildete. Wie sie auf die Höhe des verdienten Lohnes wirken, ist überaus schwer zu erfahren und teilweise, aus nicht hinlänglich ermittelten Gründen, außerordentlich verschieden: in Schlesien haben sie anscheinend den außerordentlich niedrigen Stand der Tagelohnsätze gerade in den bestsituierten Gegenden mit verschuldet, anderwärts das Lohnniveau erheblich gehoben, so teilweise in Mecklenburg. Immer aber ist von wesentlichstem Interesse nicht die Thatsache der Lohnhöhe an sich, sondern die Frage, ob mit dem betreffenden Lohnsystem eine angemessene, geordnete Wirtschaftsführung möglich ist, ob sie thatsächlich stattfindet, und ob sich die Leute dabei wohl fühlen, oder weshalb dies - nach deren subjektiver Auffassung - etwa nicht der Fall ist. Steht also auch hier wesentlich die Feststellung subjektiver Momente im Vordergrunde, so ist eine andere Erscheinung auch nach Seite des objektiven Thatbestandes noch in Beobachtung zu ziehn: die Verhältnisse der Wanderarbeiter. Durch eine eingehende Bearbeitung 0 sind wir über die Lage der sogenannten „Sachsengänger", In Dr. Kärgers besonders für die Herren Geistlichen des Ostens sehr zu empfehlenden Schrift: „Die Sachsengängerei". Berlin, Parey, 1890.

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d.h. der (im Wesentlichen) nach den Rübengegenden Sachsens alljährlich für die Sommermonate abwandernden östlichen Bevölkerung in der Hauptsache in dankenswerter Weise aufgeklärt worden. Mag man nun über die Erscheinung denken wie man will - man darf sich hier durch die Ansichten der östlichen Grundbesitzer, welche naturgemäß die Schmälerung der ohnehin knappen Arbeitskräfte gerade in der arbeitsreichen Zeit nicht eben mit freundlichem Auge ansehen, nicht allzu ausschließlich beeinflussen lassen - , soviel ist sicher, daß sie in ihrer Vereinzelung nichts unmittelbar Bedrohliches und manche günstige Seiten haben würde. Allein es scheint, daß sie nur ein einzelnes Glied einer im Fluß befindlichen Bewegung ist, welche die gesamte Arbeitsverfassung des Ostens ergriffen hat. In wachsendem Maße, in den letzten Jahren anscheinend rapide steigend, macht sich, von Oberschlesien, den unteren Warthe-Gegenden und innerhalb der einzelnen Provinzen von zahlreichen lokalen Zentren ausgehend, eine Wellenbewegung der ländlichen Arbeiterschaft bemerkbar. Keineswegs nur dahin, wo Rüben und Hackfrucht gebaut 1 werden und wo eine teilweise Zuhilfenahme zuwandernder Arbeitskräfte in der Ernte ein zur Zeit unabweisliches wirtschaftliches Bedürfnis ist, sondern auch zur Getreideernte und teilweise zu allen Sommerarbeiten überhaupt wandern alljährlich Scharen von Arbeitern aus einem Kreise in den benachbarten, aus diesem wieder die dort heimischen Arbeiter in den nächsten und so fort, und es ist auffällig, daß mehrfach gerade in Gegenden, von welchen die stärkste Abwanderung stattfindet, auch die stärkste Zuwanderung zu beobachten ist, ja daß teilweise allsommerlich zwischen benachbarten Kreisen ein Austausch von Arbeitskräften stattfindet. Gekreuzt wird diese Bewegung einerseits durch den in geradezu bedrohlichem Umfang stattfindenden Abzug vom Lande in die großen Städte, andererseits durch die fast überall beginnende und jährlich sich steigernde Überflutung des Ostens mit russisch-polnischen, im Sommer periodisch herantransportierten Wanderarbeitern beiderlei Geschlechts. Die Verhältnisse dieser Wanderarbeiter sind nun bisher keineswegs hinlänglich festzustellen. Nicht selten befinden sich beide Teile, nachdem einige unangenehme Erfahrungen überwunden sind, subjektiv ganz wohl dabei. Die Ersetzung der einheimischen ArbeitsI A: gebraucht

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kräfte durch fremde involviert häufig (natürlich keineswegs in der Regel) für den Gutsbesitzer eine Ersparnis. Die fremden Arbeiter werden, wo das Verhältnis größere Dimensionen annimmt, in verschiedener Art untergebracht, teilweise in wenig menschenwürdiger Weise, teilweise - wo das Verhältnis bereits genügend entwickelt ist - in rationell errichteten, eine Gefährdung der Sittlichkeit thunlichst ausschließenden Kasernen, fast immer aber selbstverständlich in Wohnungen interimistischen Charakters. Sie werden meist beköstigt, bezw. es werden ihnen Materialien zur Beköstigung verabfolgt, die meist weit hinter dem, was das Gesinde an Kost erhält, zurückbleiben, und sie erhalten daneben Barlohn, der nur stellenweise höher ist als der den einheimischen Arbeitern gebotene, und häufig auch nicht einen höheren Wert repräsentiert als das, was die Wanderarbeiter in ihrer Heimat alles in allem gerechnet an Lohn verdienen können. Vielmehr beruht auf Seiten der letzteren der Drang zur Wanderarbeit augenscheinlich zum Teil auf einer Illusion, welche durch die relativ hohen Barbeträge erregt wird, die der Arbeiter am Schlüsse des Arbeitsverhältnisses mit nach Hause nimmt. Diese Barbeträge sind aber erspart durch das niedrige materielle und namentlich sozialethische Niveau der Lebenshaltung, welche die Kasernenexistenz des Arbeiters den Sommer über mit sich brachte, eine Lebenshaltung, zu welcher er in der Heimat in seiner eigenen Familie sich niemals bequemen würde, - mit Ausnahme der Russen und oberschlesischen Polen, die das niedrige Kulturniveau ihrer Heimat in die Arbeitsdistrikte mit hineintragen. Da nun ein Teil (nicht die Mehrzahl) das so erraffte kleine Kapital in der Heimat zur Innehaltung einiger Monate „Ferien" im Winter nach der oft sehr angespannten Erntearbeit benutzen, so ergiebt sich als Bilanz des Verhältnisses: für den Sommer eine Herabdrückung der Lebenshaltung des Arbeiters, welche ihn veranlaßt, im Winter seine Arbeitskraft teilweise brach liegen zu lassen. Es ist nun von Wichtigkeit[,j zu wissen, inwieweit dies freilich nur lokal zutreffende Bild in dem einen oder dem anderen Zuge allgemeiner anwendbar ist[,j und die sittlichen Konsequenzen des Wanderarbeitertums für das Familienleben sowie das Empfinden des einzelnen Arbeiters und die zu Grunde liegenden, teilweise nicht 6 materiellen Ursachen der Erscheinung durch eingehende | Lokalbetrachtungen weiter erkundet zu sehen, vor allem aber, die Stellungnahme der einheimischen Arbeiterschaft gegenüber den importier-

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ten fremden Arbeitskräften kennen zu lernen. D a ß die vielfach zweifellos vorhandene Mißstimmung der ersteren m nicht in energischerer Weise zum Ausdruck kommt, liegt zum Teil an dem Fehlen jeglicher Organisation der Landarbeiterschaft. Es ist aber ferner zweifelhaft und höchst wissenswert, wie diese Mißstimmung, soweit sie vorhanden ist, psychologisch zum Ausdruck gelangt, ob namentlich der Einführung ausländischer Arbeitskräfte mit niedriger Lebenshaltung gegenüber ein Klassenbewußtsein, sei es auf nationaler Grundlage, sei es auf grund der Kulturdifferenz, bei den einheimischen Arbeitern sich geltend macht, oder sich lediglich stumpfe Indolenz zeigt. Das letztere wäre, mag man im übrigen vom Standpunkt der Landwirtschaft die Zuziehung der fremden Arbeiter zur Zeit für unentbehrlich halten, keinenfalls normal und erfreulich. Welche von beiden Möglichkeiten aber vorliegt, ist wiederum nur auf grund lokaler Ermittelungen festzustellen. Das bisher skizzierte Gesamtbild der Entwickelung zeigt also manchen zweifellos unfreundlichen Zug. Wir sehen einen Zerfall der Interessengemeinschaft zwischen Grundbesitzer und Arbeiter durch Übergang zur reinen Geldwirtschaft, Loslösung der Interessen der Arbeiter von der Wirtschaft der Gutsherren, Zusammenschrumpfen des selbstbewirtschafteten Landes und teilweisen Wegfall der materiellen Grundlagen des Arbeiterhaushalts an Viehhaltung und Naturalien, Zunahme des schwankenden Faktors im Budget durch vermehrte Anwendung des Akkordlohnsystems, teilweisen Ersatz der heimischen Arbeitskräfte durch eine fluktuierende Bevölkerung von Wanderarbeitern und durch Import fremder Arbeiter und ein ungesundes Anschwellen des Zuzugs in die Städte. Mit einem Wort: wir sehen, wenn die allgemeinen Tendenzen der Entwickelung vorstehend wenigstens im allgemeinen richtig wiedergegeben sind, und es ist wohl zu beachten, daß die Farben zu diesem Bilde den Angaben der Arbeitgeber entnommen sind - ein Bild fortschreitender Zersetzung der historisch überkommenen Arbeitsverfassung in den landwirtschaftlichen Großbetrieben. Die materiellen und wirtschaftlichen Gründe dieser Entwickelung sind uns zum überwiegenden Teile bekannt; dagegen wird es die A u f g a b e lokaler Privatenqueten sein müssen, die psychologischen

m A: letzteren

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Momente, welche teils als mitwirkende Ursachen, teils als Begleiterscheinungen und Folgen dieser Umgestaltung hervortreten, zu ermitteln. Dazu sind nur lokale Erkundungen imstande, und ihre Aufgabe ist um so wichtiger, als dieser subjektive Thatbestand in erster Linie für die weitere Entwickelungstendenz entscheidend ist, für die Frage also: welche Entwickelung der Arbeitsverfassung für die Zukunft wahrscheinlich, erwünscht und möglich ist. Keime einer Neubildung zeigen sich mehrfach, und es soll in einem Schlußartikel 2) darauf noch kurz eingegangen werden. |

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3.

Der bisher geschilderten Tendenz zu immer weitergehender Loslösung des Landarbeiters vom Grund und Boden stehen, bisher nur vereinzelt, Spuren einer andersartigen Entwickelung gegenüber. In fast allen östlichen Provinzen, am meisten aber da, wo die Umbildung der Arbeitsverfassung zur rein geldwirtschaftlichen relativ weit fortgeschritten, oder wo die Konzentration des Bodens in wenigen Händen und der Gegensatz gegen die völlige Besitzlosigkeit der Landarbeiter am schroffsten ist, - so (ersteres) in Teilen von Pommern (Kr[eis] Lauenburg) und (letzteres) in Oberschlesien (Kr[eis] Pleß) - finden sich die teilweise schon älteren Ansätze zur Bildung eines tagelöhnernden Pächterstandes. Dem Manne wird zu relativ niedrigem Preissatz eine kleine Wirtschaft, Haus, Stallung und mehrere, bis zu zehn, Morgen fest abgegrenztes Land und daneben auskömmliche Viehweide oder sonstige Gelegenheit zur Beschaffung des Viehfutters, als des unentbehrlichsten Erfordernisses jeder selbständigen Arbeiterwirtschaft, verpachtet, die Gespanne des Gutsherrn zur Bestellung zur Verfügung gestellt, in der Ernte sein Korn im ganzen mit heruntergemäht, für beides eine Entschädigung berechnet, und von ihm und dem Herrn die Verpflichtung übernommen, gegen den Durchschnittstagelohn der freien Arbeiter auf dem Gute zu arbeiten, bezw. Arbeit zu geben. Oder - ein im Osten bisher

2) Im ersten Artikel über dieses Thema, in Nr. 4 d[ieses] Bl[attes] findet sich neben einigen andern geringem Druckfehlern auch eine größere Verwechslung. Es muß dort in Zeile 13 „konkrete" statt „zentrale" heißen.

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nur vereinzeltes, im Nordwesten Deutschlands bereits einheimisches Verhältnis - es wird ihm, bei größerem Umfang des verpachteten Areals, nur die Verpflichtung zur Erntearbeit gegen die Verpflichtung des Gutsherrn, sein Gespann zur Bestellung des Pachtlandes herzugeben, auferlegt, oder es wird einfach den im übrigen unter den bisherigen Bedingungen arbeitenden eigenen oder fremden Tagelöhnern die Möglichkeit gewährt, Land vom Gute zu einem niedrigen Satze zu erpachten. Die Gestaltung kann sehr verschieden sein, sofern nur das Moment des Pac/iiverhältnisses eine wesentliche Bedeutung hat. Die vom Arbeiter geschuldete Pacht und ein Teil des ihm geschuldeten Geldlohns rechnen sich dann gegeneinander, so daß äußerlich der Unterschied gegen das Verhältnis eines mit Land reichlich bedachten und dafür im Deputat verkürzten Instmannes nicht erheblich erscheint, und man jedenfalls einen prinzipiellen Gegensatz dieser Erscheinung zu dem bestehenden Zustand in Abrede zu stellen geneigt sein wird. Und doch ist er vorhanden. Der Parzellenpächter ist abgegliedert vom Haushalt des Gutes, seine Wirtschaft ist nicht wie die des Instmannes in allen ihren Beziehungen hineinverflochten in die Wirtschaft des Herrn, oder wie die des Deputanten nur die eines alimentierten Knechtes, - beide, Instmann und Deputantf,] unterstehen im Osten meist, immer aber die Deputanten, der Gesinde-Ordnung6 - und die Löhnung ist geldwirtschaftlich gestaltet: der Pächter fühlt sich als „freier" Tagelöhner und doch zugleich als Kleinwirt. Damit ist gegeben, daß das Verhältnis ebensowohl die Licht- als die Schattenseiten beider zeigen kann, und letzteres ist teilweise jetzt auch der Fall. Allein es fragt sich lediglich, wohin die Zukunft seiner Entwickelung geht, ob - vom Arbeiterstandpunkt aus - abwärts zu einem Mittel der Ausbeutung, oder aufwärts zu einer Form der weiteren Emanzipation der Arbeiterschaft, - ob es nur die ephemere Gestaltung einer im Verfall begriffe6 Anders als bei den Deputanten war die rechtliche Stellung der Instleute im Königreich Preußen nicht einheitlich geregelt: Nach den Maßstäben der preußischen Gesindeordnung von 1810 gehörten sie nicht zum Gesinde. In Ost- und Westpreußen wurden sie 1837 durch Kabinettsorder ausdrücklich den Bestimmungen der Gesindeordnung von 1810 in bezug auf die Zwangsrückführung unterstellt. Auch galten für sie die Vorschriften des preußischen Kontraktbruchgesetzes von 1854. GS 1810, S. 1 0 1 - 1 2 0 ; GS 1854, S. 2 1 4 - 2 1 6 ; Jahrbücher für die Preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung, Band50, 99. Heft, 1837, S.82f. (Kabinettsorder); vgl. auch Vormbaum, Thomas, Politik und Gesinderecht im 19. Jahrhundert. - Berlin: Duncker & Humblot 1980, S. 30f.

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nen Organisation des Arbeitsverhältnisses oder die Form darstellt, in welcher die Großwirtschaften in Zukunft ihre ständigen Arbeiter sich beschaffen werden. Ich halte - mögen in noch so vielen Einzelfällen die besonderen Verhältnisse andere Formen erheischen - in beiden Beziehungen das Letztere für das wahrscheinlichere. Es kommt alles darauf an, ob das Vorhandensein des Pachtverhältnisses auf die Dauer den Arbeitern dem Besitzer gegenüber eine selbständigere Stellung geben wird als jetzt, oder umgekehrt - beides wäre an sich denkbar. Die Landwirte betrachten die Landverpachtung von ihrem Standpunkt aus im wesentlichen als „Bindemittel" zur Verhütung des Kontraktbruchs; der Arbeiter, welcher eine Ernte auf eigenem Acker stehen hat, läuft nicht davon. Es ist vom Standpunkt des Arbeitgebers nur berechtigt, daß ihm dieser Gesichtspunkt wesentlich erscheint. Allein ein anderes, von den Landwirten selten oder ungern zugegebenes Moment spielt mit. Einem recht erheblichen Bruchteil der Großgrundbesitzer des Ostens liegt der Gedanke nahe, überhaupt Teile ihres Besitzes - zunächst womöglich einige Außenschläge, deren eigene Bewirtschaftung unbequem ist, wenn aber diese keine Liebhaber finden, auch anderes Land - im Wege der Verpachtung oder sonst aus der Hand zu geben. Die steigende Arbeitsnot - jetzt (noch!) gemildert durch die Möglichkeit, billige ausländische Arbeitskräfte heranzuziehen - verbunden mit der Gefährdung der Dauer der Getreidezölle 7 und dem trotz dieser schweren Konkurrenzdruck des billigen fremden Kornes, bringt in steigendem Maße den Besitzern die Notwendigkeit zum Bewußtsein, einen Teil des Areals aus der Hand zu geben, damit ihnen nicht das Ganze entgleite. Das Bestehen dieser Notwendigkeit in großen Teilen des Ostens zu bestreiten, ist in einem Moment nicht möglich, wo auf den ersten Anstoß hin von den Großgrundbesitzern dreier Provinzen weit über eine halbe Million Morgen Land den Rentenbanken zur Zerstückelung angeboten sind, 8 - und daß sie in wachsendem Maße 7 Am 1. Februar 1892 waren die Handelsverträge des Deutschen Reichs mit ÖsterreichUngarn, Italien, Belgien und der Schweiz in Kraft getreten. Die Handelsvertragspolitik zielte darauf ab, durch Reduzierung der Agrarzölle den Handelsaustausch mit den europäischen Nachbarstaaten und die eigenen Industrieexporte zu steigern. Tendenziell erforderte dies die Öffnung der deutschen Grenzen für die Agrarexporte der Nachbarstaaten. 8 Mit der preußischen Rentengutsgesetzgebung (vgl. oben, Anm. 5) wurden Rentenbanken eingerichtet. Die privaten Verkäufer von Gütern boten den Generalkommissionen, d.h. den für die Ansiedlung zuständigen Behörden, und Rentenbanken ihre Güter zur Vermittlung von Parzellierungen an. Die Rentenbanken schössen den Anbietern den Kaufpreis für die neu zu schaffenden Stellen in sofort einlösbaren Staatsschuldscheinen

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sich geltend machen wird, sobald die Staatsregierung ihre jetzige dem Import fremder Arbeiter relativ günstige Stellungnahme ändert, 9 unterliegt nicht dem mindesten Zweifel. Teils Vorläufer, teils Begleiterscheinung dieser Situation | sind und werden in vielleicht A 2 langsam, aber sicher steigendem Maße die Versuche sein, durch Abgabe von Land auf Grundlage eines Pachtverhältnisses einen eigenen stabilen Arbeiterstand wieder zu schaffen. Dies Schauspiel einer beginnenden Abbröckelung der landwirtschaftlichen Großbetriebe ist für den Historiker keineswegs ein gänzlich neues, es vollzieht sich seit zwei Jahrtausenden beim Vorliegen analoger wirtschaftlicher Bedingungen nicht zum ersten Male. Der Schwerpunkt der Entwicklung liegt nun unzweifelhaft in der Frage, wie sich der mittlere und der große landwirtschaftliche Betrieb in Zukunft zu einander verhalten werden. Es scheint, daß, wollen wir nicht eine Entvölkerung des deutschen "Ostens in" den Kauf nehmen, die Ersetzung eines erheblichen Bruchteils der Großbetriebe durch kleinbäuerliche erforderlich, weiter aber auch, daß sie wirtschaftlich möglich ist. Das ist selbstverständlich nicht überall der Fall. Es giebt umfangreiche Distrikte im Osten, welche bis auf weiteres schlechterdings nicht anders kultiviert werden können, als bei extensiver Bewirtschaftung einer sehr großen Fläche mit wenig Kapital und Arbeitskraft, also von einem Großbesitzer, der mit einer im Verhältnis zum Umfang der Wirtschaft sehr kleinen Rente vorlieb nehmen kann; es giebt andere, wo die Möglichkeit einer sehr intensiven Kultur bei starker Verwendung von Kapital die hier notwendig irrationellere Bewirtschaftung durch Bauern als eine volkswirtschaftliche Verschwendung erscheinen ließe, und wo auch der Großbetrieb durch Anbau von Handelsgewächsen wirtschaftlich dauernd mit Vorteil möglich ist. Aber ein Areal von gewaltigem Umfang im Osten giebt es, wo unter den Umständen, wie sie jetzt liegen und im nächsten Menschenalter liegen werden, der kleinbäuerliche Betrieb zwei wesentliche und gerade jetzt entscheidende Momente vor dem n A: Ostens, in vor und wurden ihrerseits Gläubiger der neuen Siedler. Bereits im ersten Jahr nach Erlaß des Rentengutsgesetzes vom 7. Juli 1891 wurden 1 4 0 0 0 0 - 1 5 0 0 0 0 ha, also zwischen ca. 549000 und ca. 588000 Morgen, Grundbesitz zur Parzellierung bei den Generalkommissionen angemeldet. Sering, Max, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland (Schriften des Vereins für Socialpolitik 56). - Leipzig: Duncker & Humblot 1893, S. 93. 9 Unter Leo von Caprivi waren 1890 die seit 1885 für polnische Arbeiter geschlossenen Grenzen wieder geöffnet worden.

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Großbetrieb voraus hat: einmal die relativ große Bedeutung der eigenen Arbeitskraft, des Mitarbeitens des Besitzers und seiner Familie in der Wirtschaft und die daraus folgende verhältnismäßig geringere Abhängigkeit von der Möglichkeit, fremde Arbeitskräfte zu verwenden, - dann aber die gleichfalls verhältnismäßig geringere Abhängigkeit von den Preiskonjunkturen des Weltmarkts, welche ihm deshalb eignet, weil die Bedeutung des Verkaufs von Produkten für das Budget des Bauern eine relativ geringere ist, kurz gesagt, weil er verhältnismäßig mehr von dem, was er baut, selbst aufißt. Es ist ganz gleichgültig, in wie viel einzelnen Fällen diese Momente zur Zeit durch andere, dem° Bauernbetrieb ungünstigere Einflüsse gekreuzt und überwogen werden, sie sind jedenfalls vorhanden, und ihre Bedeutung ist nicht in A b n a h m e , sondern in teilweise rapidem Ansteigen begriffen. Dies widerstreitet zwar den Vorstellungen, welche sowohl extrem manchesterliche als extrem sozialistische Richtungen von dem Einfluß des Weltmarktes und der Zukunft des vermeintlich zur Alleinherrschaft berufenen Großbetriebes haben. Allein beiden Richtungen ist charakteristisch die gleiche Ahnungslosigkeit von der absoluten Unvergleichbarkeit industrieller und landwirtschaftlicher Verhältnisse. Ihnen beiden, besonders allerdings der naiven Selbstgewißheit des reinen Sozialismus, liegt die Einsicht fern, daß sie selbst Produkte sind nicht etwa nur, wie der Sozialismus eventuell geneigt ist zuzugeben, gewisser gesellschaftlicher Zustände, sondern weiter auch einer bestimmten psychologischen Einwirkung, welche die Eigentümlichkeiten gerade der städtischen Existenz hervorbringen, - einer Verkümmerung gewisser Seiten des normalen menschlichen Geistes- und Seelenlebens, welche in dieser A r t nur die Stadt kennt. Dies weiter zu erörtern, führte hier zu weit; aber für Sozialhistoriker besteht ein Zweifel daran nicht, daß der Beginn ernsthaft sozialistischer Experimente im gewerblichen Leben, - des Versuches einer Organisation auf Grundlage einer Arbeitsteilung, die den Einzelnen bewußt als Glied in dem großen Ganzen der Volkswirtschaft verwerten wollte, - daß der Beginn einer solchen Gestaltung zugleich der Beginn eines geistigen Rückschlages sein würde, der in der p Masse der Menschen mit steigender und unwiderstehlicher Gewalt das Sehnen nach der eigenen Scholle, nach einer noch so kümmerlichen individualistischen Existenz außerhalb der O A: den

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gewerblichen Arbeitsteilung erwecken würde. Komplizierter sind die Einflüsse derjenigen Karrikatur des Sozialismus, welche wir in der internationalen Arbeits- und Produktionsteilung, soweit sie vereinzelt in ihren letzten Konsequenzen zu existieren begonnen hat, vor uns haben. Aber indem sie die geschäftliche Rentabilität des landwirtschaftlichen Betriebes bei uns untergräbt, zeigt sie die Tendenz, die landwirtschaftlichen Produkte in erhöhtem Maße wieder ihrer früher in erster Linie stehenden Bestimmung zuzuführen: der unmittelbaren Ernährung derer zu dienen, welche sie erzeugen. Alles in Allem: es scheint, daß wir uns im Beginn einer „BauernKonjunktur" befinden, und es fragt sich, welches die Stellung der Landarbeiter zu dieser Thatsache ist und sein wird. Dreimal in diesem Jahrhundert haben die Interessen der Bauern die Wirtschaftspolitik des Staates beherrscht: in den Jahren vor den Freiheitskriegen, als man den grundherrlichen Bauern die Freiheit und den größeren „spannfähigen" unter ihnen dauernden Besitz an einem Teil ihres Landes gab; 10 dann, als man in den zwanziger Jahren begann, durch Aufteilung der Dorfgemeinheiten und Zusammenlegung der zerstreut in der Flur liegenden Parzellen der einzelnen Besitzer ihre wirtschaftliche Selbständigkeit zu begründen; 11 10 Im „Edikt über die Bauernbefreiung" v o m 9. Oktober 1807 w u r d e die Erbuntertänigkeit in Preußen aufgehoben. Ergänzt w u r d e diese Verleihung der persönlichen Freiheit durch die Ermöglichung der M o d i f i k a t i o n eines Teils des von d e n Bauern genutzten Landes. Zugleich w u r d e die A b l ö s u n g der noch b e s t e h e n d e n privatrechtlichen A b g a b e n und Dienstpflichten mittels Landabtretungen oder Rentenzahlungen durch folgende G e setze ermöglicht: das Regulierungsedikt v o m 14. S e p t e m b e r 1811, die Deklaration v o m 29. Mai 1816 und die A b l ö s u n g s o r d n u n g v o m 7. Juni 1821. Das Regulierungsedikt von 1811 bezog sich auf Bauern mit schlechten Besitzrechten (Laß- und Pachtbauern), die Deklaration von 1816 begrenzte die Regulierungsmöglichkeit auf spannfähige Bauernstellen. Die A b l ö s u n g s o r d n u n g von 1821 ermöglichte den spannfähigen Bauern mit guten Besitzrechten (Eigentümer, Erbzinsleute, Erbpächter) die Ablösung ihrer Dienste und sonstigen Leistungen. G S 1 8 0 6 - 1 0 , S. 1 7 0 - 1 7 3 ; 1811, S. 281 - 2 9 9 ; 1816, S. 1 5 4 - 1 8 0 ; 1821, S. 7 7 - 8 3 ; Knapp, Bauern-Befreiung, Band 1, S. 126ff., 161 ff., 184ff. und 201 ff. 11 Weber bezieht sich hier auf die preußische Gemeinheitsteilungsordnung v o m 7. Juni 1821 und die damit z u s a m m e n h ä n g e n d e n Verkoppelungen und Separationen. Mit der Gemeinheitsteilungsordnung wurde die Aufteilung der Allmende an die Mitglieder der Nutzungsgemeinschaft eingeleitet. Darüber hinaus w u r d e im Sinne einer Flurbereinigung die Möglichkeit geschaffen, alte und neu entstandene Parzellen zu größeren und effektiver zu bewirtschaftenden Flächen um- und z u s a m m e n z u l e g e n . Dadurch verloren die Dorfgemeinschaften ihren genossenschaftlichen Charakter und hörte der Flurzwang auf. G S 1821, S. 5 3 - 7 7 ; Meitzen, August, Der Boden und die l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n Verhältnisse des Preußischen Staates nach d e m Gebietsumfange vor 1866, Band 1. - Berlin: Wiegandt & H e m p e l 1868, S. 4 0 9 f .

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endlich, indem man nach 1848 den Rest der alten Agrar- und Arbeitsverfassung an Frohnden, Diensten und Lasten beseitigte.12 In allen diesen Fällen gingen die Landarbeiter wirtschaftlich im wesentlichen leer aus. 1807 gab man ihnen die für sie wirtschaftlich nicht unbedenkliche „Freiheit" und gab gleichzeitig dem Gutsherrn das Recht, sich der kleinen „spannlosen" Besitzer zu entledigen und sie in besitzlose Arbeiter zu verwandeln;13 die Separationen und Gemeinheitsteilungen der späteren Jahre aber nahmen den grundbesitzenden Arbeitern die Weide auf den Dorfangern für ihr Vieh, die wichtigste Unterlage ihrer Wirtschaft, und gaben ihnen dafür oft nichts, günstigstenfalls aber eine kleine Entschädigung an Land, welches sie ohne stärkere Viehhaltung nicht düngen konnten. Die entscheidende Frage ist, ob wir diesmal, falls der Staat ernst macht und die Kolonisation des Ostens im großen Stil in Angriff nimmt, auch den Landarbeitern Anteil an dem Boden der Heimat geben können. Dazu gäbe es einen scheinbar sehr einfachen, direkten Weg: Schaffung kleiner Arbeiterstellen von 6—8 Morgen bei der Parzellierung und Vergebung gegen feste jährliche Rente, die der Mann herauszuwirtschaften hätte und deswegen auch Einnahmen durch Tagelohnverdienst suchen müßte. Das hätte seine schweren Bedenken. Es braucht sich nur ein einziges Jahr zu ereignen, daß der Inhaber einer solchen Stelle in der Nähe keine lohnende Arbeit findet, und der grundbesitzende Proletarier schlimmster Sorte ist fertig. Gestaltet man die Stelle etwas größer, so daß der Besitzer nur etwa lA Jahr Arbeitslohn zur Ergänzung seiner Einnahmen braucht, so steht nach der bisherigen Erfahrung in 9 von 10 Fällen zu erwarten, daß der Mann lieber auf das kümmerlichste lebt, als fremdes

12 Dies geschah in Preußen vor allem Im „Gesetz, betreffend die Ablösung der Reallasten und die Regulirung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse" vom 2. März 1850. G S 1850, S. 7 7 - 1 1 1 . Zu den preußischen Gesetzen während und unmittelbar nach der Revolution sowie zu den ergänzenden Gesetzen in den 1850er Jahren vgl. Meitzen, a.a.O., S. 4 2 3 - 4 2 5 . 13 Mit dem preußischen Befreiungsedikt von 1807 fiel, parallel zur Gewährung der persönlichen Freiheit, der Bauernschutz fort, was, in bestimmten Grenzen, die Einbeziehung nichtrentablen, nicht-spannfähigen gutszugehörigen Bauernlandes in die Gutswirtschaft ermöglichte und so die Umwandlung des Kleinbauerntums in eine freie Landarbeiterschaft begünstigte. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830. - Stuttgart: W. Kohlhammer 1975 2 , S. 189 f.

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Brot neben dem eigenen ißt. Gerade die Kleineigentümerstellen ferner sind der Herd der Sachsengängerei, der jährlichen Wanderbewegung nach dem Westen. Überdies wird auch die Familie, welche von dem selbstgebauten Getreide nicht leben kann und wesentlich Geldtagelohn verdient, die Brotnahrung einzuschränken und überwiegend die dem Boden quantitativ reichlicher abzugewinnenden Kartoffeln zu konsumieren gezwungen sein. Endlich ist nicht nur für die Frage der Fleischnahrung, sondern für das | Schicksal der Klein- A Wirtschaft überhaupt meist absolut entscheidend, ob in irgend einer Weise dafür gesorgt werden kann, daß der Kleingrundbesitzer, ohne allzuviel Futter kaufen zu müssen, genügend Vieh - jedenfalls ein bis zwei Kühe und mehrere Schweine und Gänse - halten kann, und das ist keineswegs etwa in der Mehrzahl der Fälle möglich. Kurz, es ist sehr zweifelhaft, ob dieser direkte Weg gangbar ist und ob wir nicht uns werden bescheiden müssen, nur solche Grundeigentümer zu schaffen, welchen das Eigentum an einem Stück Land nicht nur eine, wirtschaftlich oft als Hemmnis empfundene Beigabe, sondern die alleinige Grundlage ihrer Existenz sein kann, - ob wir also nicht die Entwickelung, soweit sie die Landarbeiter angeht, einen indirekten Weg laufen lassen müssen. Dieser indirekte Weg aber besteht in folgendem: Es ist im ersten Artikel davon die Rede gewesen, daß innerhalb der Gutswirtschaften ein gesundes Aszensionsverhältnis vom unverheirateten Knecht zum Instmann stattgefunden habe, unter besonderen Verhältnissen auch zum Wirtschaftsbeamten mit hohem Deputat. 1 4 Damit war nach dem bestehenden Zustande die Grenze erreicht, ein höheres Aufsteigen innerhalb der Heimat regelmäßig nicht möglich, resp. nur so möglich, daß der Arbeiter etwas als Aufsteigen ansieht, was in Wahrheit nicht dies, sondern - wirtschaftlich oder sozial - ein Herabsinken ist. Vielfach wird nämlich berichtet, 1 5 einerseits daß Instleute mit kleinem ersparten Kapital sich mit Vorliebe kleine Eigentümerstellen kaufen, und andererseits daß andere das Instverhältnis aufgeben und als „Losleute", „Einlieger" sich bei Bauern einmieten, die Wohnungsmiete abarbeiten und im

1 4 Vgl. oben, S. 77. 1 5 W e b e r bezieht sich auf die ihm z u r A u s w e r t u n g der E r h e b u n g d e s V e r e i n s für S o c i a l politik v o r l i e g e n d e n Berichte der o s t e l b i s c h e n G u t s b e s i t z e r . S i e sind verschollen.

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übrigen tagelöhnern: in beiden Fällen soll materiell meist eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lage eintreten. Ist das wirklich der Fall, so zeigt es nur um so deutlicher, daß unter den jetzigen Umständen das Instverhältnis nicht haltbar ist, und daß es nicht materielle Gründe sind q , sondern wesentlich die Abneigung, zeitlebens sich unselbständig in die Schranken der Gutswirtschaft gebannt zu sehen, sein muß, welche jene Erscheinung veranlaßt; denn die ausschließliche Motivierung mit der Trägheit der Arbeiter wird man wohl für einen Teil, aber nicht für den überwiegenden, gelten lassen. Wir werden gerade diese Schranke beseitigen und nach oben Luft schaffen müssen, indem wir den Gutsarbeitern die Möglichkeit geben, aus ihrer unselbständigen Situation zu einer selbständigen kleinbäuerlichen Position, zur Stellung, um mich eines durch Sombart wieder zu Ehren gekommenen Ausdrucks zu bedienen, eines „Kuhbauern" aufzusteigen. 16 Das ist die eine Seite der Sache. Die andere hängt damit direkt zusammen. Zur Übernahme einer solchen kleinbäuerlichen Stelle gehört, auch wenn die Vergebung gegen Rente erfolgt, ein kleines Kapital, vor allen Dingen aber die Fähigkeit des Arbeiters bezw. namentlich der Frau, eine Wirtschaft zu führen. Beides findet sich bei den Landarbeitern heutzutage selten, am häufigsten aber bei denjenigen Instleuten, welche eine Bodenanweisung von nicht allzu geringem Umfange und die Möglichkeit eigener Viehwirtschaft haben, welche also schon in unselbständiger Position Kleinwirte gewesen sind. Da nun das Instverhältnis in seiner alten Gestalt der Auflösung entgegengeht, so ist für uns die Frage, ob das obenerwähnte Pachtverhältnis allgemein entwickelungsfähig und als Ersatz des Instverhältnisses in Aussicht zu nehmen ist, von wesentlicher Bedeutung. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß dies noch zur Zeit nur stellenweise zutrifft, und daß die Arbeitgeber noch wenig geneigt sind, besonders günstige Pachtbedingungen zu gewähren. Allein zweierlei unterliegt keinem Zweifel: daß mit den Arbeitskräften einheimischer freier Tagelöhner allein die Fortführung der q Fehlt in A; sind sinngemäß ergänzt.

16 Anton Ludwig Sombart, genannt Sombart-Ermsleben, hatte sich insbesondere durch seine Förderung der „inneren Kolonisation" in Deutschland einen Namen gemacht. Den Begriff „Kuhbauern" verwandte er in seiner Schrift: Die Fehler im Parzellirungs-Verfahren der Preußischen Staatsdomänen. - Berlin: Wiegandt, Hempel und Parey 1876, S. 30.

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Gutswirtschaft je länger je mehr unmöglich wird, und daß wir eine Steigerung des Imports fremder Arbeiter auf die Dauer nicht zu dulden in der Lage sind. In den Grenzprovinzen ist zum Teil trotz des Imports von Russen 17 die Erlangung der unentbehrlichsten ständigen Arbeitskräfte ohne die Gewährung besonders guten Bodens und guter Viehweide nicht möglich. Diese Umstände in Kombination mit den oben angedeuteten Entwickelungsmomenten und dem unaufhaltsamen Eindringen der Geldwirtschaft bedingen aber den Übergang zum System der Arbeiter-Parzellen-Pacht in einer so erheblichen Zahl von Fällen, daß wir diesem System sehr wohl die führende Rolle in der ländlichen Arbeitsverfassung prognostizieren können. Dafür aber, daß die Pachtbedingungen auf die Dauer nicht ungünstige sein werden, wird der Arbeitermangel sorgen; und wenn es heute in Masuren und sonst den Instleuten möglich ist, Eigenkäthnerstellen aus ihren Ersparnissen zu bezahlen, so hoffen wir, daß es in Zukunft demjenigen Prozentsatz der Kleinpächter, welcher überhaupt dazu geneigt und qualifiziert ist, möglich sein wird, die Übernahme einer kleinbäuerlichen Rentengutsstelle als Lebensziel vor Augen zu haben und das Arbeit-Pachtverhältnis als Durchgangsstadium zu benutzen. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß in besonderen Fällen, namentlich wo neben großen Gütern auch zahlreicher bäuerlicher Besitz und gute Viehweide vorhanden ist, auch der Versuch gemacht wird, Arbeiterstellen zu vollem Eigentum auszulegen: immer aber nur da, wo die Möglichkeit, Grundbesitz zu kaufen und zu verkaufen oder zuzupachten, regelmäßig vorliegt. Denn einen schwereren Fluch, als ein kleines, zum Unterhalt nicht genügendes und unverkäufliches Grundeigentum in einer Gegend, wo lohnender Verdienst nicht völlig sicher ist, kann man den Landarbeitern nicht mit auf den Lebensweg geben. Nun ist uns aber vor allem Anderen zunächst eins zu wissen nötig, was wir im allgemeinen nicht wissen, sondern nur vermuten: wie sich denn die Arbeiterschaft zu dem Gedanken, eine eigene, sei es Pacht-, sei es Eigentümerstelle, überhaupt eine relativ selbständige eigene Wirtschaft zu übernehmen, verhält oder verhalten würde? Das heißt: nicht wie sich die Masse, sondern wie sich die wirtschaftlich Tüchtigsten dazu verhalten, denn es handelt sich lediglich dar-

17 Gemeint sind wohl Polen russischer Staatsangehörigkeit.

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um, ob diesen tüchtigsten Elementen, denjenigen, die vorwärts wollen, innerhalb der deutschen Heimat und innerhalb ihres landwirtschaftlichen Berufes die Möglichkeit, empor zu kommen, geboten werden kann. Nicht auf das Quantum kommt es an, sondern auf die Qualität derjenigen, welche geneigt wären, als Parzellenpächter in 5 ein Kontraktverhältnis zu treten oder von einer eigenen Scholle aus Arbeit zu suchen, und welche auf die dereinstige Möglichkeit, in eigener Wirtschaft eine sorgenschwere aber selbständige Existenz zu begründen, Wert legen würden. Daß sich solche Arbeiter fast überall finden, wissen wir; allein wie gesagt: auch wenn die Masse der 10 Arbeiter dazu geneigt wäre, aber gerade die wirtschaftlich leistungsfähigsten Elemente nicht, so wäre die Entwickelung aussichtsloser, als wenn ein noch so geringer Prozentsatz gerade der bestqualifizierten Leute von der Aussicht auf Anteil an dem Boden, den sie bebauen, und von dem Aufsteigen in den Bauernstand eine bessere 15 Zukunft erhofft. Wir müssen aber dann allerdings auch wissen, wie sich gerade die Masse der Arbeiter die denkbar günstigste Gestaltung ihrer Zukunft vorstellt, in welchem Punkte ihre jetzige Existenz ihnen verbesserungsbedürftig und -fähig erscheint - ganz gleichgiltig, ob sie damit objektiv recht hat, - denn nur darnach können wir 20 ermessen, ob die Aussicht auf die Zurückführung der Landarbeiterschaft im Ganzen zu stabilen Verhältnissen überhaupt vorhanden ist. Es kommt darauf an, ob die Leute die Selbstbewirtschaftung von Pachtland bei dauerndem Arbeitsverhältnis dann wünschen würden, wenn diejenigen Momente, welche dem Instverhältnis seinen Cha- 25 rakter als halbes Gesindeverhältnis geben, dabei vermieden würden. Keine statistische Zahl kann uns das leisten, nur lokale Erkundigung, und wiederum sehen wir uns auf die Herren Geistlichen auf dem Lande als diejenigen hingewiesen, welche uns hierüber Material verschaffen könnten. - | 30 A4 Falls sich der Evangelisch-soziale Kongreß, bezw. dessen Aktionskomitee entschließen sollte, seinerseits diesen Dingen näher zu treten und durch eine systematische Umfrage den Herren Geistlichen unmittelbare Anregung zu einer Äußerung zu geben, 1 8 so glaube ich,

1 8 Ein derartiger B e s c h l u ß wurde auf der S i t z u n g d e s A k t i o n s k o m i t e e s d e s E v a n g e l i s c h s o z i a l e n K o n g r e s s e s am 22. Juni 1 8 9 2 gefaßt. Vgl. „ A u s der letzten S i t z u n g d e s A k t i o n s k o m i t e e s " , in: Mitteilungen d e s E v a n g e l i s c h - s o z i a l e n K o n g r e s s e s , Nr. 6 v o m 1. Juli 1892, S.6.

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ist vorstehend der Nachweis, auf den es zunächst ankam, erbracht, daß es der Fragen genug giebt, welche zu stellen, und welche gerade an die Herren Geistlichen zu stellen, teilweise geradezu nur durch sie zu beantworten wären. Eine schriftliche Befragung der Landarbeiter selbst wird kein Verständiger für thunlich halten, vermittelst einer solchen könnte man vielleicht zu Parteizwecken Dinge in die Leute hinein-, nicht aber etwas aus ihnen heraustragen und überdies bei dem Naturell der Landbevölkerung eine ungeheuere Konfusion in den Köpfen anrichten. Es liegt auf der Hand, daß die gleiche Klippe für diejenigen Herren Geistlichen besteht, welche sich entschließen, auf eine solche Anfrage hin denjenigen oben berührten Verhältnissen der Arbeiter, welche ihnen nicht ohnehin bekannt sind, im Wege der Unterhaltung mit den Leuten näher zu treten, und daß es ein hohes Maß von Diskretion und Erfahrung voraussetzt, um die Gefahr zu vermeiden, daß der Geistliche, welcher die wirtschaftliche Lage seiner Gemeindeglieder vorurteilslos bei seelsorgerischer Berührung mit ihnen erörtert, das Bewußtsein der Klassengegensätze schärft. Wir wissen ferner, daß ein solches Vorgehen auch andere, besonders delikate Schwierigkeiten haben kann, daß nicht jeder Laienpatron auf dem Lande die richtige Vorstellung von der Aufgabe und Stellung des von ihm präsentierten Geistlichen haben wird, 19 - so wenig wie dies bei anderen Machthabern dieser Erde, wie die Menschen nun einmal sind, durchweg der Fall zu sein pflegt, - daß also hier Konflikte, Mißdeutungen und Störungen gesellschaftlicher Beziehungen sehr wohl möglich sind. Und endlich kann man uns die oft gehörte Behauptung entgegenhalten: das sei nicht des geistlichen Amts, es ziehe die Seelsorge herab in den Widerstreit der materiellen Interessen und verschleiere den Blick für das allein Wesentliche durch die Sorge um Äußerlichkeiten des Tages. Nun, es wäre gewiß ein gewagtes Unterfangen, vom Standpunkt des dem theologischen Leben fernerstehenden Laien aus, Gedanken über die Grenzen der Seelsorge deren berufenen Vertretern entwickeln zu wollen, wel-

19 In den östlichen G e b i e t e n Deutschlands besaßen die Gutsherren in ihrer Eigenschaft als Patronatsherren, d . h . als Stifter v o n G r u n d und B o d e n für die Kirche und als Erbauer und Erhalter v o n kirchlichen Gebäuden, vielfach das Präsentationsrecht bei Wiederbesetz u n g einer f r e i g e w o r d e n e n Pfarrstelle. Erst nach der Revolution v o n 1 9 1 8 / 1 9 w u r d e n v o n den Landeskirchen Schritte z u m allmählichen Abbau des Patronats eingeleitet.

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chen es ohnehin bekannt ist, daß nach der Auffassung weiter Kreise die Seelsorge nicht notwendig im geistlichen Gewände auftreten muß, oft gar nicht kann, und welche tagtäglich ihre Stellungnahme zu dieser wichtigen Lebensfrage der kirchlichen Praxis nach Pflicht und Gewissen erwägen müssen, - wir glauben nun einmal, daß eine „reinliche Scheidung" beider Gebiete praktisch undurchführbar ist. Eine allzu peinliche Zurückhaltung der Geistlichen hat lediglich die Folge, daß ihnen auf dem weiten Gebiete des menschlichen Lebens, wo ethische und materielle Interessen untrennbar ineinandergeschlungen sind, von den Pflegern der physischen Wohlfahrt, den Ärzten, Terrain an sozialpolitischer Bedeutung für die Masse des Volkes abgewonnen wird. - Aber all das kann hier außer Erörterung bleiben, denn es handelt sich lediglich darum, ob wir mit denjenigen Fragen, welche wir eventuell an die Herren Geistlichen zu richten haben, uns an die „zuständige" Instanz wenden, und das, glaube ich, muß entschieden bejaht werden. Immer wieder kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Probleme, um welche es sich handelt, zwar an äußere, materielle Verhältnisse anknüpfen, aber subjektiver Natur sind und in der Brust der Menschen liegen, um welche es sich handelt. Die - oft bei objektiv ganz gleicher Situation gänzlich verschiedene und gleich unberechtigte - Vorstellung der Beteiligten von ihrer Lage ist uns wichtiger als diese Lage selbst, sie ist auch für den weitern Gang der Entwickelung das wichtigere Moment. Nicht von Brot allein lebt der Landarbeiter und nicht nach seinem materiellen Interesse allein gestaltet sich sein Dasein, sondern zum guten Teil nach - Illusionen, wie man vom materiell-wirtschaftlichen Standpunkt aus sagen könnte, oder vielmehr nach Momenten, deren psychologische Unterlage uns zum Teil problematisch, meist aber der rein wirtschaftlichen Betrachtung unzugänglich ist. Verquickt mit zahllosen Absonderlichkeiten der Volkssitte und der persönlichen Eigentümlichkeiten, mit allen möglichen kleinlichen und unerfreulichen Momenten menschlicher Schwäche von jeglicher Art, liegen hier unzweifelhaft auch, oft kaum kenntlich in ihrer plumpen Erscheinungsform, ethisch-ideelle Beweggründe, mit welchen wir nicht nur rechnen müssen, weil sie nun einmal da sind, sondern die auch respektiert zu werden verlangen können. Diesen Beweggründen nachzugehen ist unumgänglich nötig und, da wir mit unserer wirtschaftlichen Weisheit hier an mehr als einem Punkte zu Ende sind, so liegt der Gedanke nahe und entspräche es dem Prinzip

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der Arbeitsteilung, wenn wir uns um Auskunft an die berufenen Hüter der sittlichen Kräfte im Volksleben wenden würden. Es handelt sich - selbstverständlich - nicht nur um die oben zufällig herausgegriffenen Probleme. Zahllose gleichartige schließen sich an. Wir müssen wissen, welchen Einfluß der Grundbesitz auf das Familienleben des Landarbeiters ausübt. Welche Stellung nimmt die Frau im Haushalt eines Kleinbauern, in dem eines grundbesitzenden Arbeiters und in dem eines völlig besitzlosen „Einliegers" ein? Hebt es ihre Stellung im Hause und dem Mann gegenüber, wenn sie die verantwortungsvolle Stellung an der Spitze einer eigenen Land- und Vieh Wirtschaft einnimmt, oder betrachtet er sie dann nur um so mehr als das ihm von der Vorsehung bei- bezw. untergeordnete Arbeitstier? Lassen sich hier Vergleiche mit Industriearbeitern ziehen? Wie steht es mit dem Verhältnis zu den Kindern, sind sie Gegenstand der Ausbeutung zum Lohnerwerb seitens der Eltern oder entziehen sie sich mit dem Moment, wo sie selbst verdienen, der elterlichen Zucht? Der Konfirmationsunterricht sowohl als die mannigfachsten kirchlichen Anlässe und die Seelsorge müssen Gelegenheit zu Beobachtungen darüber geben, ob die verschiedenen Kategorieen von Arbeitern - grundbesitzende, Instleute, Einlieger etc. - im Vergleich mit einander und mit den Bauern sich zum kirchlichen Leben verschieden verhalten und auch darüber, welche von ihnen die wirtschaftlich und ethisch bestentwickelte und tüchtigste ist. Unzweifelhaft kommt es gerade in diesem letzteren Punkte auf gänzliche Unbefangenheit des Urteils an. Sie ist nicht leicht zu üben. In Zeiten der Präponderanz materieller Interessen sind es - das braucht keinem Seelsorger gesagt zu werden - nicht immer die wirtschaftlich und ihrer ethischen Veranlagung nach schlechtesten Elemente, welche sich in trotziger Selbstgenügsamkeit dem kirchlichen Leben fern halten, in denen das religiöse Bewußtsein nicht zur Entwickelung gelangt oder unter den Strebungen des äußern Lebens erstickt wird. Um endlich nur noch eins zu erwähnen: das psychologische Verhältnis der Arbeiter der Bauern zu ihrem Arbeitgeber ist ungleich leichter zu erkunden als dasjenige des Arbeiters des Großgrundbesitzers zu seinem Herrn, dem er oft mit einem ziemlich unklaren Gefühl gegenübersteht und über den sich zu äußern er gerade, wenn das Verhältnis ein gutes nicht ist, eine natürliche und wohl zu respektierende Scheu besitzt. Dagegen ist für die ganze Frage der Kolonisation im Osten wesentlich, ob die Beziehungen der zu schaffenden

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mittleren Grundbesitzer zu ihren Arbeitern normalerweise innerlich gesund sein können. Genug des Fragens und der schon allzu langen Erörterung. Für den Fall, daß seitens des Kongresses oder seitens sonst Berufener eine Enquete über die Lage und Stimmung der Landarbeiter ins Werk gesetzt würde, zweifle ich nicht, daß ein äußerst schätzbares Material zu erlangen ist, und daß für beide Teile, die Herren Landgeistlichen und die nationalökonomische Fachwissenschaft, im weiteren Verlauf auch für diejenigen, welche mit der Lösung der Agrar5 frage des Ostens praktisch befaßt sind, aus | der gemeinsamen Arbeit schlechterdings nur Vorteil erwachsen kann. Je konkreter die Antworten, welche bei einer solchen Enquête die Befragten geben würden, ausfallen, je mehr sie nicht allgemeine Bemerkungen oder Klagen, sondern Thatsachen geben, und je mehr in den Berichten die Stimme der Arbeiter, über deren Auffassungen berichtet wird, erkennbar neben der des Berichterstatters durchklingt, ein um so brauchbareres Material bilden sie von unserm r Standpunkt aus. Denn um es noch einmal zu wiederholen: innere psychologische Momente sind es, auf welche es ankommt, nicht äußere Thatsachen allein, und noch weniger ein Urteil über „Schuld" und „Unschuld" des einen oder andern Teils in den bestehenden, teilweise nicht befriedigenden Verhältnissen. Es ist unmöglich, ein solches Urteil vom Standpunkte der lokalen Beobachtung, überhaupt bei Beobachtung nur der jetzigen und der unmittelbar vorangegangenen Zustände zu fällen, ja es ist ein solches Urteil überhaupt regelmäßig unzulässig, weil die Wucht der wirtschaftlichen Veränderung zur Zeit eine derartige ist, daß sie die Verantwortlichkeit des Einzelnen auch für die psychologischen Konsequenzen, die diese Veränderung mit sich führt, regelmäßig ausschließt. Niemand, der nicht verbohrter Parteimann ist, wird die lastende Schwere der gegenwärtigen Situation für die Landwirtschaft des Ostens verkennen 3 können. Es gereicht den vielgeschmähten preußischen „Junkern" zu hoher Ehre, daß sie nicht ein seine Rente verzehrender Stand von in der Stadt lebenden und den Landaufenthalt als Sommerfrische benutzenden Magnaten geworden sind, sondern die verantwortungsvolle Stellung als Eigenwirte festgehalten

r A: unsern

s A: erkennen

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und sich damit in den schweren Kampf der wirtschaftlichen Interessengegensätze begeben haben. Aber sie werden auch ihrerseits nicht vergessen, daß nicht hohe Bodenpreise und Reinerträge es gewesen sind, welche der großen historischen Machtstellung des Großgrund5 besitzers im Staat zur Grundlage dienten, sondern die Interessengemeinschaft mit ihren Arbeitern.

Zur Rechtfertigung Göhres

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Im Juni 1891 erschien die Schrift des Kandidaten der Theologie und späteren Generalsekretärs des Evangelisch-sozialen Kongresses Paul Göhre „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche". 1 Drei Monate lang hatte Göhre als Fabrikarbeiter gearbeitet, um die Situation der sächsischen Industriearbeiterschaft aus nächster Nähe zu studieren und sich über die „tatsächliche Lage derer, um derentwillen wir eine soziale, eine Arbeiterfrage haben", 2 ein eigenes Bild zu machen. Nach einer Wanderung als Handwerksbursche von Dresden nach Chemnitz, dem Zentrum der sächsischen Industrie, wurde er in einer Maschinenfabrik im Chemnitzer Vorort Kappel als Arbeiter eingestellt. 3 Göhres Schrift stieß sowohl auf Zustimmung als auch auf scharfe Ablehnung. Einer der Hauptkritiker war der einflußreiche Greifswalder Theologe Hermann Cremer, der seit 1886 als Konsistorialrat der pommerschen Kirchenleitung angehörte und als Haupt der orthodoxen „Greifswalder Schule" galt. In der Anfang 1892 erschienenen zweiten Auflage seiner Schrift „Die Aufgabe und Bedeutung der Predigt in der gegenwärtigen Krisis" 4 griff Cremer Göhres Forderung nach zeitgemäßen Formen der Vermittlung des Evangeliums scharf an. Gegen Göhres Forderung nach Anerkennung des Grundsatzes, „daß auch ein Sozialdemokrat ein Christ und ein Christ Sozialdemokrat sein kann", legte er ebenfalls entschiedenen Widerspruch ein. 5 Cremer bestritt, daß es, wie Göhre dies nahegelegt hatte, einen ideellen Kern in der sozialdemokratischen Bewegung gebe. Diese Kritik

1 Göhre, Paul, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Stud i e . - L e i p z i g : Fr. W. Grunow 1891. 2 Ebd., S. 1. 3 Zur Planung und Durchführung seines Experiments sowie zur Rezeption seiner Studie vgl. den Kommentar von Joachim Brenning und Christian Gremmels in: Göhre, Paul, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Mit einem Vorwort und einem Kommentar neu hg. von J. Brenning und C. Gremmels. - Gütersloh: Verlagshaus Mohn 1978, S. 1 1 7 - 1 5 7 . 4 Cremer, Hermann, Die Aufgabe und Bedeutung der Predigt in der gegenwärtigen Krisis. - Berlin: Wiegandt und Grieben 1892 2 . 5 Ebd., S.74f. und86f.

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Editorischer Bericht

Cremers wiederum veranlaßte seinen Greifswalder Kollegen, den Rechtsgelehrten Ernst Rudolf Bierling, Göhre zu Hilfe zu kommen. 6 Martin Rade, der Herausgeber der „Christlichen Welt", der wie Göhre zu jenem Kreis jüngerer Theologen gehörte, der sich um eine christlich motivierte sozialpolitische Neuorientierung innerhalb der christlich-sozialen Bewegung bemühte, und dessen Redaktionshelfer Göhre von 1888 bis 1890 gewesen war, 7 gab daraufhin Cremer die Möglichkeit, in einem offenen Brief in der „Christlichen Welt" zu den Vorwürfen Bierlings Stellung zu nehmen. 8 Cremer nutzte diese Gelegenheit zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Göhres Schrift, wobei er diesem nicht nur „Frühreife und Unreife" vorwarf, sondern auch einen grundsätzlichen Mangel an „rechter Sündenerkenntnis" . 9 Im übrigen hielt er Göhres Versuch, sich zeitweilig in die Arbeitswelt der Industriearbeiterschaft hineinzubegeben, überhaupt für überflüssig, d a d i e s e r f ü r d i e Pfarrer, „die wirklich in und mit ihrer Gemeinde leben", „nichts Neues gebracht" habe. 10 Martin Rade forderte daraufhin Max Weber auf, zu der Kontroverse Stellung zu nehmen. 1 1 Weber war Rade vermutlich durch Paul Göhre und Webers Vetter, den Theologen Otto Baumgarten, bekannt. Zudem arbeitete Weber eng mit Paul Göhre bei der Planung einer Landarbeiterenquete durch den Evangelisch-sozialen Kongreß zusammen.

Zur Überlieferung

und

Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Zur Rechtfertigung Göhres", in: Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Leipzig, Nr. 48 vom 24. November 1892, Sp. 1 1 0 4 - 1 1 0 9 , erschienen ist (A). Der Artikel ist gezeichnet mit „Dr. jur. Max Weber".

6 Bierling, Ernst Rudolf, Die Predigtaufgabe unsrer Kirche gegenüber der Sozialdemokratie. Offnes Sendschreiben an meinen lieben Kollegen Herrn Konsistorialrat Professor D. Cremer, in: Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Nr. 11 vom 10. März 1892, Sp. 231-240. 7 Brenning, Joachim, Christentum und Sozialdemokratie. Paul Göhre: FabrikarbeiterPfarrer-Sozialdemokrat. - Marburg 1980, S.V. 8 Cremer, Hermann, Die Predigtaufgabe unsrer Kirche gegenüber der Sozialdemokratie. Offne Antwort an meinen lieben Freund und Gegner, Herrn Geheimen Justizrat Professor D. Dr. Bierling, in: Die christliche Welt, Nr. 45 vom 3. Nov. 1892, Sp. 1035-1040. 9 Ebd., Sp. 1037 und 1040. 10 Ebd., Sp. 1035. 11 Dies teilt Weber am Anfang des Artikels mit. Ein entsprechendes Schreiben Rades ist nicht überliefert.

Zur Rechtfertigung Göhres

Der Herausgeber der Christlichen Welt1 stellte mir anheim, die Bemerkungen, die ich etwa zu der Kritik der Schrift meines Freundes Göhre 2 durch Herrn Kons[istorial]-Rat D. Cremer3 von meinem Standpunkte aus zu machen hätte, niederzuschreiben. Ein dem kirchlichen Leben fernerstehender Laie, fühle ich mich nicht legitimirt, mich in den Streit, soweit er sich auf dem Gebiete der theologischen Theorie abspielt, hineinzubegeben; doch möchte ich mit einigen Bedenken umsoweniger zurückhalten, als der Nächstbetroffene nach meiner Empfindung verhindert ist, sich an der Erörterung zu beteiligen, nachdem seitens des Herrn Kritikers über seine „Reife" 4 und selbst über das „Maß seiner Sündenerkenntnis"5 eine zum mindesten etwas seltsame Enquete unternommen worden ist. Das „Recht", nach der letztgedachten Eigenschaft zu fragen, nimmt der Herr Kritiker in Anspruch behufs Feststellung der Qualifikation des Inquisiten zum geistlichen Amt. 6 Gewiß ist es jedem, auch wenn er sonst nicht zur Prüfung dieser Qualifikation berufen ist, unbenommen, eine solche Frage zu stellen, immerhin muß es zweifelhaft erscheinen, ob dafür die Spalten einer Zeitschrift der richtige Ort und das große Publikum die geeignete Adresse sind. Eine öffentliche 1 Gemeint ist der protestantische Theologe Martin Rade, der von 1886/87 bis 1931 die von ihm begründete „Christliche Welt" herausgab. 2 Die Schrift Göhres „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" hatte damals beträchtliches Aufsehen erregt und in kirchlichen Kreisen zu scharfen Protesten gegen die Einmischung eines Theologen in die „soziale Frage" Anlaß gegeben (vgl. den Editorischen Bericht, oben S. 106f.). 3 Dies bezieht sich, wie aus den nachfolgenden Zitatnachweisen hervorgeht, nicht auf Cremers Abhandlung „Die Aufgabe und Bedeutung der Predigt in der gegenwärtigen Krisis", sondern auf seine Stellungnahme in der „Christlichen Welt": Die Predigtaufgabe unsrer Kirche gegenüber der Sozialdemokratie, vgl. oben, S. 107, Anm. 8. 4 Cremer, Predigtaufgabe, Sp. 1037. Wörtlich spricht Cremer hier von „jugendlicher Frühreife und Unreife" Göhres. 5 Ebd., Sp. 1038. Hier heißt es: „Ist nun nicht das Verständnis für die Aufgabe der Evangeliumspredigt abhängig von dem Maße der Sündenerkenntnis?" 6 Ebd. Cremer hatte bereits in einer früheren Schrift die Befähigung eines Kandidaten zum geistlichen Amt abhängig gemacht vom Grad seiner „Sündenerkenntnis". Vgl. Cremer, Hermann, Die Befähigung zum geistlichen Amte. - Berlin: Wiegandt und Grieben 1878.

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Kritik solcher Art, eine Rezension nicht der Ansicht, sondern der Person ist auf andern Gebieten der Wissenschaft wohl kaum erhört, und ich zweifle, ob der Theologie mit einem Privilegium odiosum 7 in dieser Hinsicht gedient sein würde. 5 Freilich soll sich die betreffende Erörterung nur auf die theoretische Erkenntnis des Wesens der Sünde beziehen; allein abgesehen von der Schwierigkeit oder vielmehr Unmöglichkeit einer solchen Scheidung gerade auf diesem Gebiet - für | welche die hier bespro- A 1105 chene Kritik selbst ein Beispiel bieten dürfte - , wird man erstaunt 10 sein, aus dem Munde eines Kritikers, der seinem Gegner „Scholastik" vorwerfen zu können glaubt, 8 zu vernehmen, daß er als erstes Erfordernis für die Ermittlung der äußern Verhältnisse und des Zustandes in den Köpfen der Arbeiter die Annahme seines theoretischen Standpunktes in der gedachten Materie aufstellt. Wir Laien, 15 die wir von diesem Standpunkte im allgemeinen wohl kaum Kenntnis haben, würden darnach freilich gänzlich auf einen Versuch, uns über die Stimmungen unsrer arbeitenden Gemeindegenossen gegenüber der Kirche zu unterrichten, verzichten müssen. Die Folgerungen Göhres aus dem vorgelegten Beobachtungsmaterial kann man zum 20 Teil vielleicht als voreilig ablehnen, ohne den Wert des Buches zu bestreiten. 9 Der Herr Kritiker stellt aber - und darum handelt es sich für mich - einen solchen Wert überhaupt in Abrede, zunächst indem er, nach seinem eignen Ausdruck, „kühn" behauptet, es habe denjenigen Geistlichen, „welche wirklich mit ihrer Gemeinde leben", 25 „nichts Neues" gebracht. 10

7 Lateinischer Fachausdruck im Recht. G e m e i n t ist eine für eine G r u p p e vergleichsweise ungünstige Rechtsregelung. 8 Bei Cremer, Predigtaufgabe, Sp. 1039, lautet es: „ D a s Verfahren, w e l c h e s G ö h r e fordert, setzt nur eine neue Scholastik an Stelle der alten." 9 G ö h r e forderte die Kirche auf, sich stärker als bisher um die Arbeiterschaft zu b e m ü h e n . Dies dürfe sich jedoch nicht in Reformen auf kirchlicher Ebene erschöpfen, sondern erfordere darüber hinaus ein Engagement für die Beseitigung sozialer Mißstände. Auf d i e s e m W e g e sei, w e n n auch nicht die Zurückdrängung, so d o c h „ d i e Erziehung, die Veredlung, die Christianisierung der heute noch wilden, heidnischen Sozialdemokratie, und die Vernichtung ihrer widerchristlichen materialistischen W e l t a n s c h a u u n g " erreichbar. G ö h r e s Haltung setzte voraus, daß es in der sozialdemokratischen Weltsicht einen humanitären Kern gebe, eine auch im Evangelisch-sozialen Kongreß nicht unumstrittene Ansicht. Vgl. Göhre, Fabrikarbeiter, S. 2 1 2 - 2 2 2 , bes. 2 2 0 - 2 2 2 ; das Zitat: S. 222. 1 0 C r e m e r , Predigtaufgabe, Sp. 1035. Bei C r e m e r heißt es wörtlich: „Ich behaupte kühn, daß G ö h r e s Buch w e n i g s t e n s den Pfarrern nichts Neues gebracht hat, die wirklich in und mit ihrer G e m e i n d e l e b e n " .

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Die in der That erstaunliche Kühnheit dieser Behauptung ermißt, wer eine Ahnung von den außerordentlichen Differenzen in der geistigen Eigenart der verschiedenen Schichten, Berufs- und örtlichen Gruppen der deutschen Arbeiterschaft hat. O b man, selbst innerhalb der großen Industrie, mit Arbeitern aus lokal konzentrirten oder aus über das Land zerstreuten, aus technisch hochentwikkelten und aufsteigenden oder aus niedergehenden Gewerben, mit organisirten oder unorganisirten Arbeitern, Gewerk- oder Fachvereinlern, mit pommerschen oder mit sächsischen oder mit Arbeitern aus Gegenden mit besonders starker Bodenverteilung zu thun hat: das sind so völlig verschiedne Dinge, daß es unbegreiflich bleibt, wie jemand, der diese Kategorien nicht sämtlich kennt, glauben will, aus der Schilderung der Lebensluft einer lokal begrenzten charakteristischen Gruppe „nichts Neues" entnehmen zu können. Es kommt freilich darauf an, was man unter „neu" versteht. Neue Ergebnisse für die theologische „ L o g i k " fehlen, neue ethische Begriffe sind nicht aufgedeckt; die spießbürgerliche Vorstellung, daß in der Arbeiterklasse finstre und geheimnisvolle Mächte am Werke seien, die es zu „enthüllen" gelte, findet sich nicht bestätigt; und der Leser bleibt bei Lektüre des Buches unter dem Eindruck, daß er es bei dieser Kategorie von Arbeitern 1 1 mit Menschen seines eignen Fleisches und Blutes, mit im wesentlichen gleichartigen geistigen und gemütlichen Bedürfnissen zu thun hat, die ihren materiellen und innerlichen Interessen, wie sie ihnen die Organisation der menschlichen Gesellschaft zuweist, ungefähr mit demselben Maße von Verständnis und Thorheit nachgehen, wie er selbst und seinesgleichen: - er findet, daß man, um Menschen dieser A r t kennen zu lernen, nicht nötig habe, unter die Arbeiter zu gehen. In diesem Sinne bringt also Göhres Buch in der That „nichts Neues". A b e r allerdings: wer glauben wollte, daß diese Thatsache selbst allgemein anerkannt sei, daß die Wesensgleichheit der geistigen und gemütlichen Interessen dieser Arbeiter - wohlgemerkt: nicht der Arbeiter überhaupt, aber eben dieser ungemein großen und wichtigen Kategorie des künftigen gewerblichen „Mittelstandes" - mit einer breiten bürgerlichen Schicht der besitzenden und regierenden Klassen bei der Beurteilung

1 1 Weber bezieht sich hier auf die Tatsache, daß Göhre die spezielle Kategorie der handwerklich ausgebildeten und hochqualifizierten Facharbeiter in einer Chemnitzer Maschinenfabrik untersucht hat. Göhre, Fabrikarbeiter, S. 12.

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der „Arbeiterfrage" allgemein zu Grunde gelegt werde: nun, der braucht, um eines Andern belehrt zu werden, nicht in die Details unsrer kirchlichen und Verwaltungspraxis oder beispielsweise der preußischen Schulpolitik hineinzusteigen, es genügt, daß er den Vorstellungskreis, aus dem die Ansichten des Herrn Kritikers über die Stellung des geistlichen Amts zu den geistigen Interessen der Arbeiter erwachsen sind, sich vergegenwärtige. - Wir kommen darauf nachher zurück; zunächst noch einige Worte über den Wert oder Unwert des von Göhre eingeschlagnen Weges. Wenn der Herr Kritiker sich gegen eine Überschätzung dieses Weges und dagegen wendet, daß man ihn für den einzig gangbaren und unentbehrlichen halte, 12 so wird man ihm darin zustimmen können; - m.W. hat übrigens weder Göhre noch sonst jemand, dessen Urteil ins Gewicht fällt, eine solche Behauptung aufgestellt. Für jeden aber, der sich ernstlich mit der Methodik wissenschaftlicher Enqueten beschäftigt, unterliegt es | andrerseits schlechterdings A 1106 keinem Zweifel, daß es zahlreiche und höchst wichtige „Imponderabilien" der Arbeiterfrage giebt, über die allerdings nur der Weg örtlicher autoptischer Recherche Aufschluß geben kann. An dem Bilde, das die kahlen Zahlen der Statistik im Zusammenhalt mit den Ergebnissen allgemeiner Ermittlungen von noch so vorzüglicher Methode uns bieten, vermissen wir, und zwar regelmäßig, den letzten entscheidenden Zug: den Stimmungsreflex in der Brust der Menschen, und dieser Reflex kann unter absolut gleichen wirtschaftlichen Zuständen ein ganz ungeheuer verschiedener sein. Dieses psychologische Moment giebt keine Zahl und keine noch so sorgfältige didaktische Erörterung greifbar wieder: nur die Epik einer Darstellung, wie sie Göhre bieten konnte, stellt es denen vor Augen, für die sein Buch - verstehe ich ihn recht - geschrieben war. Das Interesse an dem Buch ist deshalb kein eigentlich fachwissenschaftliches, wohl aber ein praktisch sozialpolitisches: es will und muß unter dem Gesichtspunkt beurteilt werden, ob es die Bevölkerungsklasse der einen, über die es handelt, und die andre, an die es sich richtet, einander näher gebracht hat. Das aber ist unzweifelhaft der Fall gewesen. Wenn der Herr Kritiker es für „schlimm genug" erachtet, daß viele Kreise, wie er selbst meint, erst durch dieses Buch über zahlreiche äußerliche und innerliche Lebensbedingungen der 12 Ebd., Sp. 1036.

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Arbeiterschaft aufgeklärt worden sind, 13 so werden andre dies nur zu begreiflich finden. Inwieweit es unter normalen Verhältnissen Geistlichen - für die das Buch übrigens doch nicht allein geschrieben ist - möglich sein wird, die wirtschaftlichen Existenzbedingungen der Arbeiter ihrer Gemeinde konkret und in ihren Zusammenhängen zu erkennen, bleibe hier dahingestellt. Auch ich habe von dieser Möglichkeit an sich eine hohe Vorstellung, und inwieweit die thatsächliche Kenntnis dem entspricht, darüber werden wir ja bei Gelegenheit der Enquete des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Landarbeiter Erfahrungen machen können, 1 4 auf die wir mit Grund gespannt sind. 3 Vorläufig tritt uns nur allzuoft die Bemerkung entgegen, über diese oder jene, auch sozialethisch wichtigsten Umstände „wisse der Geistliche nichts", „könne und brauche er nichts zu wissen". Und vor allem besteht wohl die Gefahr, daß dem Geistlichen nur eine dem Durchschnitt nicht entsprechende Art von Arbeitern wirklich näher bekannt wird, oder noch mehr, daß er das Mäntelchen, das die Leute sich umhängen zu müssen glauben, wenn sie mit dem geistlichen Amt zu thun haben, für ihren Alltagsrock hält. Es schiene mir keineswegs wunderbar, wenn es beispielsweise dem Herrn Kritiker so ergangen wäre. Denn gänzlich irre muß man in der That an seiner Urteilsfähigkeit in dieser Hinsicht werden, wenn man liest, daß er „den eignen Besuch der Volksschule" (als Schulinspektor? oder als Schüler?) und „die Militärdienstzeit" allen Ernstes für gleichwertige Gelegenheiten zum Studium der Gedankenwelt der deutschen Arbeiterschaft hält. 15 Es ist nur zu bezeichnend für diese patriarchalische Anschaua In A bindet die redaktionelle Anmerkung an: Für diese E n q u e t e werden wir, wenn erst Fragebogen ausgehen, unsre Leser zu erwärmen suchen. D[er] H e r a u s g e b e r ] .

13 Ebd., Sp. 1035. Bei Cremer heißt es: „Es ist ein Unglück, daß vielen erst dies Buch einigermaßen die Augen öffnen mußte". 14 Auf Veranlassung des Aktionskomitees des Evangelisch-sozialen Kongresses arbeiteten Paul Göhre, Generalsekretär des Kongresses, und Max Weber im Herbst 1892 einen Fragebogen für eine Erhebung über die Lage der Landarbeiter in Deutschland aus. Im Gegensatz zu der vom Verein für Socialpolitik 1891 /92 veranstalteten Enquete wollte der Evangelisch-soziale Kongreß jedoch nicht die Gutsbesitzer, sondern die Landgeistlichen über wirtschaftliche Situation und Lebensbedingungen der Landarbeiter befragen. Vgl. Webers Artikelreihe „.Privatenquêten' über die Lage der Landarbeiter", oben, S. 7 4 - 1 0 5 . 15 Cremer, Predigtaufgabe, Sp. 1036. Wörtlich: „Viel mehr Fähigkeit zu verstehen giebt schon der eigne Besuch der Volksschule in der Jugend und die Militärdienstzeit."

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ungsweise, daß sie den Arbeiter zeitlebens im Stadium des geistigen Kindesalters oder auf einer Stufe der Entwicklung, wie er sie mit zwanzig Jahren erreicht hat, wiederfinden zu können wähnt. Der Bekundung einer solchen Auffassung gegenüber wiegt die Andeutung des Herrn Kritikers, die Arbeiter ständen ihm „zu hoch", um sie „unter einer Verkleidung zum Gegenstand von Studien zu machen", 16 denn doch recht leicht; worin die hier behauptete Herabsetzung der Arbeiter eigentlich zu finden sein soll, ist nicht dargelegt, und solange eine solche Darlegung fehlt, hat man es eben nur mit einer Redewendung zu thun. Es ist sehr zu bezweifeln, ob die Arbeiter, und nicht nur die Sozialdemokraten unter ihnen, in der Betrachtungsweise des Herrn Kritikers diejenige Achtung vor ihren intellektuellen Bedürfnissen finden würden, die sie von allen andern Klassen, auch von den Inhabern des geistlichen Amtes, in Anspruch nehmen und von ihrem Standpunkt aus beanspruchen müssen. Es handelt sich da um einen Punkt, auf den in seiner Weise hingewiesen zu haben ein weiteres sehr wesentliches Verdienst des Göhreschen Buches ist. | Der Herr Kritiker führt aus, die Aufgabe des geistlichen Amtes sei A 1107 und werde bleiben, die Menschen - die er in erster Linie augenscheinlich als Objekt der Amtsthätigkeit betrachtet - „in den Besitz der Erlösung zu setzen". 17 (Ein evangelischer Laie würde seinerseits die Beziehungen seines Seelsorgers zu ihm nicht derart kategorisiren.) Er will nun zugestehen, daß zur Erreichung dieses Erfolgs auch „ein barmherziges Begreifen", 18 also eine gewisse Nachsicht mit den Schwierigkeiten gehöre, die - so glaube ich ihn nach dem Zusammenhang verstehen zu dürfen - durch die Entwicklung der verstandesmäßigen Erkenntnis der Naturkausalität auch für breitere Schichten des Volks heraufgeführt worden sind. Etwas ganz wesentlich andres aber, als ein solches nachsichtsvolles Ertragen und Verstehen ihrer geistigen Individualität beansprucht die moderne Arbeiterschaft, - wohlgemerkt: nicht alle Arbeiter jeder Art und aller Orten, wohl aber jene sehr ins Gewicht fallende Kategorie, die Göhre

16 Ebd., Sp. 1037. Wörtlich: „[...], und dazu stehen mir die Arbeiter zu hoch, als daß ich sie auch nur drei Monate lang unter einer Verkleidung bloß zum Objekt meiner Studien machen sollte!" 17 Ebd., Sp. 1039. 18 Ebd., Sp. 1040.

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schildern konnte und wollte. 19 Sie verlangen nicht, oder vielmehr sie wollen überhaupt keine Nachsicht und würden sie zurückweisen, sondern sie fordern Anerkennung ihres Rechtes, über diejenigen Dinge und so zu denken, über die und wie die sogenannten „gebildeten Stände" denken. Nicht nur verstehen und nachsichtig beurteilen, sondern berücksichtigen und als berechtigt anerkennen sollten wir es, daß sich ihr Intellekt von der Gebundenheit an die Tradition emanzipirt hat. Es ist eine Eigentümlichkeit des patriarchalischen Systems im wirtschaftlichen wie im kirchlichen Leben, in Wohlthätigkeitsvereinen wie in der Verwaltung, derartige grundverschiedne Dinge miteinander zu identifiziren. Grundverschieden aber sind sie in der That. Nicht Almosen und nicht Abhilfe im Wege der Wohlthätigkeit verlangt der Arbeiter für seine wirtschaftliche Notlage, sondern er beansprucht das Recht auf ein größeres Maß des Anteils an den Gütern dieser Erde. Er nimmt die Kranken-, die Unfalls-, die Alters- und Invalidenrente, weil sie ihm als ein Recht zustehen: ein Almosen würde er zurückweisen. So tritt er auch an die Hüter der sittlichen Mächte im Volksleben mit dem Begehren heran, daß sie die Achtung vor seiner intellektuellen Persönlichkeit und vor den sittlichen Kräften, die sich auch in dem Streben nach verstandesmäßiger Erkenntnis auswirken, dadurch bethätigen mögen, daß sie mit diesen Kräften rechnen, nicht durch „nachsichtiges" Hinnehmen der gegebnen Thatsache, sondern durch positives energisches Anerkenntnis der intellektuellen Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit. Er glaubt verlangen zu dürfen, daß sie in seiner Sprache zu ihm reden. Das ist - scheint mir - etwas wesentlich andres, als das Verlangen nach einem „Modeln der Glaubenswissenschaft", 20 wohin es der Herr Kritiker glaubt werfen zu sollen, und eine ganz andre Frage ist es sicherlich auch, ob und wie vom Standpunkt des geistlichen Amtes diesem Verlangen Rechnung getragen werden kann und darf, eine Frage, über die ich mich jedes Urteils enthalte. Die ungeheure Steigerung der Schwierigkeiten des verantwortungsvollen Seelsorgerberufs, die sie in sich birgt, leuchtet auch dem Laien ein; sie sind wohl ähnlich große, wie bei dem 19 Siehe oben, S. 110, Anm. 11. 2 0 Cremer, Predigtaufgabe, Sp. 1040. Cremer wies Göhres vermeintliches Bestreben zurück, „daß man die christliche Glaubenswissenschaft nach den Ergebnissen einer modernen Wissenschaft modelt, um dieselbe dem modernen Menschen einleuchtend zu machen."

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Versuch der Linderung der sozialen Not auf dem Boden des Rechtes statt auf dem der Wohlthätigkeit und einer etwaigen verbesserten Armenpflege. Daß aber die Thatsache jenes Anspruchs durch das Göhresche Buch erneut aufgedeckt und zur Erörterung gestellt wurde, ist - ich weiß es - auch in den Kreisen der Geistlichkeit, nicht nur von uns, begrüßt worden. In der That bildet dieser Punkt den Kern von Göhres „Ergebnissen", und es thut deren Wert nicht den mindesten Abbruch, wenn er sie in die Gestalt von bestimmten Forderungen gekleidet hat, deren Prüfung vorbehalten bleiben kann, wenn er dabei ferner - was ich nicht bestreite - in der Formulirung nicht immer vorsichtig gewesen ist, und wenn ihm endlich bei seiner Vorstellung von der Lösbarkeit des Problems unwillkürlich Denkkategorien der Ritschlschen Theologie,21 die nicht jeder sich aufoktroyiren lassen wird, vorgeschwebt haben. Wie wünschenswert die wiederholte Konstatirung jenes psychologischen Thatbestandes innerhalb der Arbeiterschaft gewesen ist, zeigt nichts deutlicher als die hier besprochene Kritik. Von meinem Laienstandpunkte aus erschiene es mir als ein | gewaltiger Fortschritt, wenn es gelänge, die überaus verschiednen A 1108 Ansprüche, mit denen die verschiednen Klassen der Bevölkerung dem geistlichen Amt entgegentreten und entgegentreten müssen, in psychologische Beziehung zu ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessenposition zu setzen. Einen Anfang zu einer solchen Betrachtungsweise bot seinerzeit der vortreffliche Verfasser der „Bäuerlichen Glaubens- und Sittenlehre" 22 auf einem Spezialgebiet, und einen ersten Versuch andrer Art auf anderm Gebiet bietet Göhres Schrift. Berücksichtigt man, daß es hier an einer erprobten Methodik bisher vollkommen fehlt, so wird man gestehen müssen, daß dieser erste Anfang als solcher eine recht respektable Leistung darstellt, und daß es ein äußerst wohlfeiles, aber nichts weniger als fruchtbares Beginnen ist, aus der Tiefe irgend eines Tintenfasses heraus den Pionier zu belehren, daß man in „nur drei Monaten" nicht alles

21 W e s e n t l i c h für d e n A n s a t z d e s T h e o l o g e n Albrecht Ritsehl war die Forderung, ein Christ m ö g e sich mit s e i n e m G l a u b e n nicht z u r ü c k z i e h e n , s o n d e r n sich praktisch-ethisch in der G e m e i n d e betätigen. Dieser soziale G r u n d z u g d e s s o g e n a n n t e n Ritschlianismus beeinflußte nachhaltig die e v a n g e l i s c h - s o z i a l e B e w e g u n g . 2 2 G e m e i n t ist der thüringische Landpfarrer H e r m a n n Gebhardt, der die genannte Schrift 1885 in erster und 1890 in zweiter Auflage a n o n y m veröffentlichte.

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Wissenswerte zuverlässig erfahren könne, und daß es „doch noch etwas andres" sei, um sein tägliches Brot dauernd schwere Fabrikarbeit thun zu müssen.23 Aus dem gleichen Grunde kann ich in der Möglichkeit, daß andre in ihrer Weise Göhres Schritt nachzuthun versuchen werden, 24 keine so fürchterliche Perspektive erblicken, mag dabei auch manches versehen werden. Am wenigsten ist verständlich, wieso dafür Göhre verantwortlich sein sollte. Es ist ja niemand, der einen an sich gangbaren, aber schwierigen Weg einschlägt, davor sicher, daß nicht auch ein Tölpel ihm zu folgen sucht und auf Abwege gerät. Wer in sozialdemokratischen Versammlungen über Angelegenheiten, die nicht die seinigen sind, das Wort ergreift, wer sich überhaupt unter einer Maske in Fachvereine und sonstige Interessenvertretungen der Arbeiter eindrängt und über fremde Interessen mit verhandelt und beschließt, der freilich wird mit Fug und Recht hinausgeworfen, und wer etwa diesen Weg beschreiten wollte, um in irgendwelchem Klasseninteresse zu spioniren, dem würden wir, denke ich, auch unsrerseits das Handwerk legen. Was das mit Göhres Versuch, in unbefangnen Meinungsaustausch mit den Arbeitern zu treten, zu thun hat, weiß ich nicht, bestreite aber, daß auf Seiten der Arbeiter aus einem solchen Unternehmen Mißtrauen gegen „uns" erwachsen wird. Solches Mißtrauen habe ich zwar in der Kreuzzeitung 25 und im Reichsboten, 26 die hierarchische und nicht Arbeiterinteressen vertreten, den Arbeitern soufflirt gefunden, nicht aber in den maßgebenden Blättern der Arbeiterpresse, 27 die an einer Ausnutzung die-

2 3 Bei Cremer, Predigtaufgabe, Sp. 1036, heißt es: „Ja es wäre ein vorzüglicher Weg, wenn er sich deckte mit dem Paulinischen .alles allen werden, um ihrer etliche zu gewinnen', aber daß das noch etwas ganz andres ist, liegt auf der Hand." 2 4 Cremer, ebd., Sp. 1036, befürchtete, daß demnächst ein Nationalökonom oder ein Predigtamtskandidat einen ähnlichen Versuch wie Göhre unternehmen würde. 25 Weber spielt auf den Artikel „Drei Monate Fabrikarbeiter" an. Er erschien in der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 279 vom 19. Juni 1891, Mo.BI. Die Kreuzzeitung mißbilligte vor allem Göhres positive Haltung zur Sozialdemokratie. 26 Siehe den ebenfalls unter dem Titel „Drei Monate Fabrikarbeiter" veröffentlichten Artikel im Reichsboten, Nr. 137 vom 16. Juni 1891, S. 1. Hier heißt es, Göhre habe sich aufgrund seines „jugendlichen Enthusiasmus" zu Urteilen verstiegen, „zu denen ihn seine drei Monate als Fabrikarbeiter noch keineswegs legitimieren." 27 Vgl. z.B. den kritischen, aber durchaus wohlwollenden Artikel von Max Schippel, Drei Monate Fabrikarbeiter, der in der unter der Schriftleitung Karl Kautskys stehenden Neuen Zeit erschienen ist (9. Jg., 2. Band, 1890/91, Nr. 41, S. 4 6 8 - 4 7 5 , und Nr. 42, S. 4 9 9 - 5 0 6 ) .

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ses Mißtrauens doch ein naheliegendes Parteiinteresse hätte. Es besteht aber eben wesentlich auf Seiten derer, die befürchten, daß die Ergebnisse nicht überall in ihre hierarchische Schablone passen möchten. Wer sich nicht zu der theologischen Position dieser Richtung bekennt, von dessen „Erfahrungen" 28 wird nur in Anführungszeichen gesprochen, weil er sie nicht als beamteter Geistlicher gemacht hat. Göhre hätte seine Wahrnehmungen „nur ein einziges Jahr" ausreifen lassen sollen, verlangt der Herr Kritiker 29 - es ist, irre ich nicht, rund ein Jahr bis zum Erscheinen des Buches nach Abschluß seiner Wanderzeit verstrichen: 30 aber was verschlägt das, da er nicht ordinirter Geistlicher war? Den sattsam bekannten Begriff des „Unberufenen" und deshalb „Unbefugten" handhabt die hierarchische wie die staatliche Bureaukratie mit gleich bedenklicher Präzision. Von diesem Vorstellungskreise aus wird Göhre darüber belehrt, daß solche Studien außerhalb der „gottgewiesenen Wege des Berufes" 31 liegen, ohne daß der Herr Kritiker den Anachronismus ahnt, der in dieser Canonisirung von Menschen zu menschlichen Zwecken geschaffener Berufsschranken in einem Augenblick liegt, wo einem stetig zunehmenden Bruchteil des Volkes der Begriff des Berufes in diesem Sinne abhanden kommt und zufolge der wirtschaftlichen Umwälzungen verloren gehen muß. Und wenn unter allerlei höflichen Wendungen dem Leser mindestens indirekt - und schwerlich unbewußt - nahe gelegt wird, Göhres Arbeitszeit unter den Begriff eines „neuen Sports" 32 zu subsumiren, so ist eine solche Kritik derart jeglichen Gerechtigkeitsbedürfnisses bar, daß ich mich nicht entschließen kann, wegen des vielleicht scharfen Tones mancher vorstehenden Ausführung irgend eine entschuldigende Bemerkung zu machen, wie sie mir sonst der Altersunterschied natürlich

28 So Cremer, Predigtaufgabe, Sp. 1037. 29 Ebd., heißt es: „Ja, wenn der Verfasser seine .Erfahrungen' erst in der Arbeit des Lebens gesichtet, erprobt und geklärt hätte, auch nur ein Jahr lang versucht hätte, mit dem Evangelium, das er verkündigen will, den Leuten in ihres Lebens und Sterbens Last und Not zu dienen!" 30 Göhre arbeitete in Chemnitz als Fabrikarbeiter von Anfang Juni bis Ende August 1890 (Göhre, Fabrikarbeiter, S. 1 und S. 12). Das Buch erschien laut Anzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige, Nr. 133, S.3420, am 12. Juni 1891. 31 Cremer, Predigtaufgabe, Sp. 1037: „[...], denn es war nicht der gottgewiesene Weg des Berufs". 32 Diese Wendung benutzt Cremer, ebd., Sp. 1036.

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erscheinen lassen würde. Daß die Art und Weise seiner Kritik schlechterdings nur erbittern konnte, das zu erkennen reicht die 1109 Psychologie des Herrn Kritikers aus, - | er wußte es, und daß er trotzdem geglaubt hat, sie der Öffentlichkeit übergeben zu sollen, ist bedauerlich, da ein objektives Bedürfnis dafür zu erweisen nicht einmal versucht worden ist. Sie ist bedauerlich auch noch aus einem andern Grunde. Es wird oft übersehen, eine wie eigenartige und in vieler Beziehung prekäre Stellung unsre theologischen Altersgenossen zu uns einnehmen. Die konventionellen Formen der äußeren Achtung, vereinbar mit der cynischsten Mißachtung des geistlichen Amts, werden in den für den offiziellen „Ton" maßgebenden militärischen und amtlichen Kreisen und deshalb in der Regel auch außerhalb dieser ja gewiß innegehalten. Verwandtschaftliche Bande und solche persönlicher Freundschaft führen auch die jüngere Generation der Theologen hin und wieder mit dem einen oder andern von uns zusammen. 33 Allein die Regel ist gerade in der jüngern Generation ein vollkommen verständnisloses Aneinandervorübergehen; es versteht sich im allgemeinen - daß es Ausnahmen, aber eben Ausnahmen, giebt, weiß ich wohl - für uns von selbst, daß unsre theologischen Altersgenossen in einer geistigen Welt leben, zu der für uns jede Brücke fehlt, und zwar ist es dafür gänzlich irrelevant, wie der einzelne sich im übrigen politisch, auch in Fragen der Kirchen- und Schulpolitik, stellt. Es wäre ein ungeheurer Irrtum, wollte man annehmen, daß es im wesentlichen oberflächliche oder irreligiöse Naturen wären, die diesen Standpunkt einnehmen. Mit welchen Empfindungen diese kühle, teils ironische, teils einfach gleichgiltige Behandlung als quantité négligeable von der andern Seite erwiedert zu werden pflegt, läßt sich ungefähr denken; man kann als Regel behaupten, daß es die Regel ist, daß heute junge Theologen mit Angehörigen andrer akademischer Berufe nicht ohne eine stillschweigende Reserve sich zusammenfinden können, und daß ein unbefangenes Zusammenarbeiten an sozialen Aufgaben annähernd unmöglich zu werden drohte.

3 3 Weber war vor allem durch seinen Vetter und Freund, den evangelischen Theologen Otto Baumgarten, in die Kreise jüngerer, sozialen Problemen aufgeschlossener Theologen eingeführt worden. Baumgarten, Otto, Meine Lebensgeschichte. - Tübingen: J . C . B. Mohr (Paul Siebeck) 1929, S. 215f.

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Nicht jeder vermag sich vorzustellen, wie schwer es ist, hier selbst im kleinsten Kreise der nächsten Bekannten Wandel zu schaffen. Auch hier hat - ich und nicht ich allein kann es aus eigner Erfahrung bezeugen - gerade Göhres Studie den Anfang eines Umschwunges herbeigeführt und eine Brücke zu gegenseitiger Anerkennung geschlagen: - in unsern Augen nicht das letzte ihrer Verdienste. Wenn nun jetzt sich zeigt, daß darauf die Antwort des hierarchischen Bureaukratismus in Gestalt des Hinweises auf den Satz Ne sutor ultra crepidam b34 erfolgt, und daß ein Theologe, der in seiner Weise auf unserm Gebiet mit uns zusammenzuarbeiten versucht, es sich bieten lassen muß, daß er öffentlich eine Art von Examensprädikat derart ausgestellt erhält, wie es die hier besprochene Kritik sich herausnimmt, so zeigt sich eben damit auch, daß in diesen Kreisen die Schwierigkeit der Stellung unsrer theologischen Altersgenossen absolut kein Verständnis findet. Es ist eine der herbsten Mitgiften unsrer Generation, daß für uns an der Eintrittspforte des Lebensweges die Resignation steht, die unsern Vätern erst in einem Alter zugemutet wurde, wo das natürliche Temperament an sich ihrer fähiger zu sein pflegt. Wir sind Epigonen einer großen Zeit, und es ist uns nicht möglich, auf dem Wege der altklugen Reflexion den ungestümen Drang des Idealismus wieder zu erwecken, der Illusionen bedarf, die durch die klarere Erkenntnis der nüchternen Gesetze des sozialen Lebens in uns zerstört sind. Traurig ist es, wenn auf einen vom Geist des Idealismus getragnen Versuch, über uns selbst hinauszugelangen, maßgebende kirchliche Kreise mit nichts Besserem als der Empfehlung der Leisetreterei zu reagiren wissen, trauriger, wenn die Diskretion und Achtung, die auch der ältere Mann dem jüngern schuldet, nur in der Form gewahrt, in der Art der Beurteilung aber verleugnet wird.

b In A bindet die redaktionelle Anmerkung an: Schuster bleib bei deinem Leisten! D[er] Herausgeber].

34 Plinius der Ältere, Naturalis historia 35, 85.

Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter

Editorischer Bericht

Zur

Entstehung

Der Enquete des Vereins für Socialpolitik über die Lage der Landarbeiter, in deren R a h m e n Max W e b e r mit der Bearbeitung der Verhältnisse im östlic h e n Deutschland beauftragt w o r d e n war, 1 w u r d e bereits vor der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse große A u f m e r k s a m k e i t zuteil. N e b e n vielen positiven Reaktionen gab es auch eine Anzahl v o n S t i m m e n , die sich vor allem mit der E r h e b u n g s m e t h o d e kritisch auseinandersetzten. So beklagte der mit der Sozialdemokratie sympathisierende Journalist Max Quarck bereits im Februar 1892, daß sich die Fragebogenaktion nur an die A r b e i t g e b e r gerichtet habe und damit „die eigentlich Betheiligten, die ländlichen Arbeiter, als A u s k u n f t s p e r s o n e n über ihre e i g e n e n Verhältnisse mit völligem Stillschweigen" ü b e r g a n g e n w o r d e n seien. Quarck bezeichnete die formale und inhaltliche Gestaltung der Fragebögen als w e n i g g e l u n g e n . 2 Kritik dieser Art v e r s t u m m t e auch nach Erscheinen des ersten Bandes der Enq u e t e 3 nicht und w u r d e vor allem v o n sozialdemokratischer Seite in einigen R e z e n s i o n e n wiederholt v o r g e t r a g e n . 4 Max W e b e r war sich der prinzipiellen Einseitigkeit des gewählten Verfahrens sehr w o h l bewußt. Er hatte bereits im Frühjahr 1892, als er mit der A u s w e r t u n g des Materials beschäftigt war, die Möglichkeit begrüßt, die Kenntnisse über die Lage der Landarbeiter durch eine Erhebung unter den

1 Webers Beitrag erschien im Dezember 1892 als Band 55 der Schriften des Vereins für Socialpolitik (MWG I/3). Zur Vorgeschichte der Erhebung und der Einbeziehung Webers siehe: Riesebrodt, S. 1 - 3 3 . 2 Quarck, Max, Eine „Aufnahme" der ländlichen Arbeiterverhältnisse, in: Sozialpolitisches Centralblatt, Nr. 6 vom 8. Febr. 1892, S. 79. 3 Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, I.Band (Schriften des Vereins für Socialpolitik 53). - Leipzig: Duncker & Humblot 1892. Angekündigt wurde der Band im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige am 2. November 1892. 4 „Die Verhältnisse der Land-Arbeiter in Deutschland", in: Vorwärts, Nr. 246 vom 20. Okt. 1892, und „Zur neuesten Untersuchung über die Lage der Landarbeiter", in: Die Neue Zeit, 11. Jg., Band 1,1892/93, Nr. 2, S. 51 - 5 6 .

Editorischer

Bericht

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Landgeistlichen zu e r g ä n z e n . 5 D e n n o c h war er überzeugt, daß die Enquete des Vereins für Socialpolitik das gesteckte Ziel erreicht habe; die Berichte der Arbeitgeber, auf d e n e n die U n t e r s u c h u n g basierte, seien relativ z u v e r lässig und ermöglichten in Detailfragen auch untereinander eine G e g e n k o n trolle. 6 Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß sich Max W e b e r mit den m e t h o d i s c h e n Unzulänglichkeiten offen auseinandergesetzt und die k o m plexe Problemlage systematisch dargestellt hatte, w u r d e sein im D e z e m b e r 1892 veröffentlichter Band „ D i e Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland" in nationalökonomischen Kreisen mit viel Beifall a u f g e n o m men. G e o r g Friedrich Knapp, der r e n o m m i e r t e Kenner der preußischen Agrargeschichte, fand die Arbeit „ g a n z v o r z ü g l i c h " und meinte, W e b e r sei „jetzt weitaus der erste K e n n e r " auf d i e s e m Gebiet. 7 Bereits zu Beginn des Jahres 1893 löste Max Weber sein in der Schlußbetrachtung des Landarbeiterbandes g e g e b e n e s V e r s p r e c h e n einer „ u m f a s s e n d e n W ü r d i g u n g " des v o r g e l e g t e n Materials 8 ein: In der im f o l g e n d e n a b g e d r u c k t e n Artikelserie „ D i e Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter" beschäftigte er sich, unter Berücksichtigung der Kritik an der E r h e b u n g s m e t h o d e , mit der Frage, w e l c h e wirtschafts- und sozialpolitische B e d e u t u n g den Ergebnissen der Enquete z u z u m e s s e n sei. 9 Die näheren U m s t ä n d e der Entstehung des Textes s o w i e der Publikation in der von d e m Heimatforscher und Dichter Heinrich S o h n r e y herausg e g e b e n e n Zeitschrift „ D a s Land" sind nicht bekannt.

Zur Überlieferung

und Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der A b d r u c k folgt d e m Text, der in s e c h s Folgen jeweils unter der Überschrift „ D i e E r h e b u n g des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter", in: Das Land. Zeitschrift für die sozialen und v o l k s t ü m l i c h e n A n g e l e g e n h e i t e n auf d e m Lande, hg. von Heinrich Sohnrey, Berlin, Nr. 1 v o m I . J a n u a r 1893, S . 8 - 9 , N r . 2 v o m

5 Siehe Webers Artikelreihe „,Privatenqueten' über die Lage der Landarbeiter", oben, S. 74-105. 6 Weber, Landarbeiter, S. 5 (MWG I/3, S. 63). 7 Brief Georg Friedrich Knapps an Gustav Schmoller vom 22. Dez. 1892, ZStA Merseburg, Verein für Socialpolitik, Rep. 196, Nr. 37, Bl.30f. 8 Weber, Landarbeiter, S. 775 (MWG I/3, S. 895, insbesondere Anm. 3). 9 Unabhängig von Webers Würdigung wurde von Kuno Frankenstein, der ebenfalls an der Bearbeitung der Erhebung beteiligt war, eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Enquete vorgelegt: Frankenstein, Kuno, Die Arbeiterfrage in der deutschen Landwirtschaft. Mit besonderer Berücksichtigung der Erhebungen des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter. - Berlin: Robert Oppenheim (Gustav Schmidt) 1893.

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Die Erhebung des Vereins für

Sozialpolitik

15. Januar 1893, S. 2 4 - 2 6 , Nr. 3 vom 1. Februar 1893, S. 4 3 - 4 5 , Nr. 4 vom 15. Februar 1893, S. 5 8 - 5 9 , Nr. 8 vom 15. April 1893, S. 129-130, und Nr. 9 vom 1. Mai 1893, S. 1 4 7 - 1 4 8 , erschienen ist (A). Wie aus einer Anmerkung Webers, unten, S. 137, hervorgeht, sind in dem Text des 3. Artikels (unten, S. 1 3 2 - 1 3 7 ) „eine Reihe unliebsamer Druckfehler" stehengeblieben, von denen Weber selbst nur den auffälligsten berichtigt. Die Anmerkung Webers bindet in A mit Sternchen an. Dieses wurde durch eine in offene Klammer gesetzte Ziffer ersetzt.

Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter

I. Wenn heutzutage in der Presse oder sonst die „Arbeiterfrage" erörtert wird, so versteht es sich - und das ist eine eigentümliche Erscheinung - regelmäßig von selbst, daß dabei an die Arbeiterscharen der Großstädte und Industriecentren gedacht wird. Rauchende Schornsteine, gewaltige Treibriemen und das Keuchen der Dampfmaschinen, Keller- und Dachwohnungen in den Hinterhäusern der Großstädte und die Schnapsschänken an ihren Straßenecken bilden den Hintergrund; im Vordergrunde stehen lärmende Volksversammlungen, Massenstreiks, Resolutionen und Zeitungsartikel gegen die „Brotverteuerung" und die „Champagner trinkenden Landwirte". Das ist die Lebensluft, in welcher unwillkürlich in der Phantasie der Redenden, Schreibenden und Lesenden die „Arbeiterfrage" haust, die Lebensluft des „Arbeiters" überhaupt. Man sollte meinen, die Existenz eines „Arbeiterstandes" sei eine Eigentümlichkeit des städtischen und gewerblichen Lebens, jedenfalls sei die Zahl der Lohnarbeiter in den Städten und in der Industrie eine ohne Vergleich größere als auf dem platten Lande, und auch eine „Arbeiterfrage", ein soziales Problem, welches der Lösung bedürfte, bestehe nur dort. Daß das letztere unrichtig ist, werden die späteren Darlegungen zu zeigen haben, - wie es mit dem ersteren steht, ergibt die Statistik. Sie weist für das Deutsche Reich im Jahre 1882 an landwirtschaftlichen Tagelöhnern und ihren nicht selbständig erwerbenden Angehörigen über sechs Millionen Köpfe, mithin rund Vi der damaligen Volkszahl der Nation auf. 1 Es gibt keine Gruppe von Arbeitern irgend einer Berufsart, welche an diese Zahl auch nur von ferne heranreichte. Dazu tritt noch das ländliche Gesinde.

1 Die Zahl der landwirtschaftlichen Tagelöhner mit und ohne Eigen- und Pachtland, der in der Wirtschaft des Haushaltungsvorstands tätigen Familienangehörigen und der Knechte und Mägde betrug 1882 5,7 Millionen. Statistik NF 2, S. 69*. Nach der Berufszählung vom 5. Juni 1882 betrug die Volkszahl des Deutschen Reiches 45 Millionen (ebd., S. 9*).

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Die Erhebung

des Vereins für

Sozialpolitik

Die Landarbeiterschaft ist aber nicht nur ihrer Zahl wegen von hervorragender Bedeutung, sondern noch mehr deshalb, weil sie neben dem Bauernstande gewissermaßen den breiten Unterbau des Staates und der Nation auf dem Lande bildet. Aus beiden ergänzt sich die Bevölkerung der Städte durch fortwährenden Zuzug von Arbeitskräften, sie liefern dem Heer die kräftigsten Rekruten. Während wir nun über die Lage der verschiedenen Berufsgruppen der industriellen Arbeiter im Laufe der Zeit immer vollständiger unterrichtet worden sind, bilden die Verhältnisse der Landarbeiter teils eine ungelöste Frage, teils den Gegenstand eines heftigen Meinungsstreites. Von der einen Seite - den Großgrundbesitzern - wurde häufig behauptet, daß die Lage der ländlichen Arbeiter überhaupt nichts zu wünschen übrig lasse, und ihre Existenz in ländlicher Beschaulichkeit und Zufriedenheit verlaufe, von der andern, daß sie ein „modernes Leibeigenschaftsverhältnis" 2 schlimmster Art darstelle. Es war an sich schon wahrscheinlich, daß beide Behauptungen, gleich unbewiesen wie sie waren, auch in gleicher Weise einseitig sein würden. Immerhin aber befanden wir uns darüber im dunkeln. Im Jahre 1848 hatte man zuerst Erhebungen über die Arbeiterverhältnisse auf dem Lande in Preußen angestellt, 3 im Jahre 1873 wurde dies unter Leitung des Professors von der Goltz für das Reich wiederholt. 4 Beidemal verfuhr man so, daß an eine größere Zahl von Grundbesitzern Fragebogen zur schriftlichen Beantwortung verschickt und die Resultate zusammengestellt wurden. 5 Ähnlich ist auch verfahren worden bei der Erhebung, welche in diesem Jahre der Verein für Sozialpolitik unter Leitung des Geh[eimen] Ober2 Als Zitat nicht nachgewiesen. Vgl. jedoch sinngemäß Schippel, Max, Die Rechtlosigkeit der landwirtschaftlichen Arbeiter in Preußen. II, in: Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens. 10. Jg., Band 1,1891 /92, Nr. 9, S. 266: „Sie [die rechtliche Lage] läßt die Landarbeiter als Heloten erscheinen gegenüber dem viel freieren gewerblichen Proletariat." 3 Gemeint ist die von dem preußischen Landesökonomiekoilegium 1848/49 ins Werk gesetzte Umfrage über Arbeitsmöglichkeiten und Auskommen der verschiedenen Gruppen der Landarbeiter. Der Generalsekretär des Kollegiums, Alexander von Lengerke, veröffentlichte die Ergebnisse 1849 unter dem Titel „ Die ländliche Arbeiterfrage". 4 Diese Erhebung, die auf eine Initiative des Kongresses deutscher Landwirte zurückging, zielte vor allem auf eine Klärung der Ursachen des Landarbeitermangels. Theodor Freiherr von der Goltz veröffentlichte die Ergebnisse 1875 unter dem Titel „Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich". 5 Die Fragebögen wurden an die landwirtschaftlichen Vereine in Preußen bzw. im Deutschen Reich verschickt. Vgl. Lengerke, Arbeiterfrage, S. 2, und Goltz, Lage, S. XI.

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Regierungsrats Dr. Thiel im Preußischen] Landwirtschaftlichen Ministerium über die Lage der Landarbeiter im ganzen Reich ins Werk gesetzt hat. Es sind an etwa 3000 Gutsbesitzer Fragebogen versandt worden und über 2000 Antworten eingegangen, 6 deren Ergebnis soeben in drei starken Bänden im Druck erscheint. 7 Über die wesentlichen Resultate soll in einer Reihe von Artikeln in dieser Zeitschrift berichtet werden. Vorerst ist nur einiges über die Art und Weise der Erhebung voranzuschicken. Man hat es befremdlich gefunden, daß bei einer Erhebung über die Lage der Landarbeiter nicht diese selbst, sondern nur ihre Arbeitgeber gefragt worden sind, und die sozialistische Presse hat geglaubt, daraus auf den Mangel der ehrlichen Absicht schließen zu dürfen, die wirklichen Mißstände auf dem Lande kennen zu lernen. 8 Nun ist der einseitige Ursprung der Berichte ganz unzweifelhaft und wie sich die Veranstalter der Enquête von Anfang an bewußt waren, eine höchst bedauerliche Lücke. Es hätte den Wert der Ergebnisse unbedingt ganz bedeutend erhöht, wenn man beide Teile hätte hören können. Eine andere Frage freilich ist es, wie dies zu veranstalten gewesen wäre. Die Erfahrungen mit der Enquête haben wiederholt gezeigt, wie verhältnismäßig selten selbst von Gutsbesitzern, die im Osten z.B. doch durch ihre Stellung als Gutsvorsteher Veranlassung haben, sich mit der „Schreiberei" vertraut zu machen, eine wirklich völlig brauchbare Beantwortung eines Fragebogens erfolgt: ein bedeutender Teil der Antworten wimmelt von Mißverständnissen und Irrtümern. 9 Wie würde sich das bei einer schriftlichen Befragung der Landarbeiter gestaltet haben? Überdies würde es keinen Sinn gehabt haben, wenn man etwa zur Kontrolle der Angaben des Gutsherrn einen seiner Arbeiter gefragt hätte. Denn deren Verhältnisse sind unter einander wieder außerordentlich verschieden und das einzelne Gut hält 3, 4, 5 gänzlich verschieden gestellte, ganz verschieden wohnende und essende Arten von Arbeitern; man hätte, wenn man 6 Insgesamt wurden 3742 Fragebögen abgesendet, von denen 2568 beantwortet wurden. Vgl. Thiel, Einleitung, S. X. 7 Die Bände erschienen in der Schriftenreihe des Vereins für Socialpolitik: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 53 bis 55. Band 53 erschien am 2. November 1892, die Bände 54 und 55 folgten am 17. Dezember 1892 (jeweils laut Anzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige). 8 Vgl. den Editorischen Bericht, S. 120. 9 Webers Urteil ist nicht überprüfbar, denn der Verbleib der Antworten ist nicht bekannt. Siehe Riesebrodt, S. 31.

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diesen Zweck erreichen wollte, etwa die zehnfache Zahl von Arbeitern fragen müssen, wie von Arbeitgebern. Aber - und das ist die Hauptsache - man hätte auch einen vollständig anderen Fragebogen für ihre Befragung aufstellen müssen, denn etwa 9/io von den Fragen, welche an die Arbeitgeber gerichtet waren, konnten nur sie und kein Arbeiter beantworten. 10 - Stellt man sich schließlich vor, was das Ergebnis des Ganzen gewesen wäre, so läßt sich mit Wahrscheinlichkeit sagen: eine große Konfusion in den Köpfen der Leute, welche es schwerlich verstanden haben würden, zu welchem Zweck man von ihnen Dinge wissen wolle, von denen sie annehmen, daß sie nur sie selbst etwas angehen. Zu solchen Experimenten fehlte dem Verein für Sozialpolitik nicht nur Zeit und Neigung, sondern auch das Geld. Will man wirklich nach der alten Regel verfahren, daß man „auch den andern Teil hören" soll, so muß man dann, wie dies anderwärts bei großen staatlichen Enqueten geschehen ist,11 beide Teile zu einer mündlichen, womöglich einer öffentlichen Verhandlung vorladen und dann vernehmen. So lange man dies nicht kann, ist es besser, ein Material zu gewinnen, welches die Auffassung eines Teiles über die Lage der Verhältnisse enthält, als durch ergebnislose Experimente die Sache, die man vertritt, zu kompromittieren. - Einen Versuch, auf einem Umwege auch an die Arbeiter heranzukommen und ihre Ansicht zu hören, oder doch jedenfalls noch Material aus einer anderen Quellen als aus den Berichten der Arbeitgeber zu gewinnen, beabsichtigt der „Evangelisch-soziale Kongreß" in Berlin zu unternehmen, dessen Ausschuß beschlossen hat, unter den Landgeistlichen eine Erhebung über die Lage der Landarbeiter zu veranstalten. 12 - Wir kommen darauf noch zurück. 13 10 Es kamen zwei Fragebögen zur Versendung. Ein spezieller, dessen Schwerpunkt auf den Arbeits- und Einkommensverhältnissen der einzelnen Gruppen der Landarbeiter lag, und ein allgemeiner, der stärker auf die Einschätzung der Gesamtlage der Arbeiter (Sittlichkeit, Überanstrengung, patriarchalische Beziehungen) abzielte. Die beiden Fragebögen sind abgedruckt in Thiel, Einleitung, S.XIV-XXIV, sowie als Anhang zum Editorischen Bericht bei Riesebrodt, S. 3 7 - 4 7 . 11 Anspielung auf die englischen Enquetekommissionen, die entweder von einem der beiden Häuser des Parlaments oder von der Regierung eingesetzt werden konnten und das Recht hatten, Bürger, seien es Beamte oder Privatpersonen, als Zeugen für bestimmte Mißstände im öffentlichen Leben zu einer öffentlichen „Vernehmung" zu laden. 12 Dieser Beschluß war auf Anregung Paul Göhres und Max Webers vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses am 22. Juni 1892 gefaßt worden. Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 6 vom 1. Juli 1892, S. 6. 13 Bezug nicht eindeutig.

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Ein empfindlicherer Mangel des Materials, als der eben erörterte, beruht darauf, daß wir durch die Erhebung über die Verhältnisse der Arbeiter der Bauern nur sehr lückenhaftes Material, namentlich für den Osten, erhalten. Die landwirtschaftlichen Vereine hatten diejenigen Personen angegeben, welche zur Beantwortung von Fragen geeignet und geneigt sein würden, und im Osten überwiegt in diesen | Vereinen der Großgrundbesitz noch mehr als anderwärts. Es ist auch A 9 aus diesem Grunde im höchsten Grade erwünscht, wenn in dieser Zeitschrift künftig im Anschluß an die nachfolgenden Erörterungen aus dem Kreise der Leser heraus das Wort ergriffen wird, um die Angaben, welche ich auf Grund des Materials zu machen imstande bin, richtig zu stellen oder zu ergänzen. |

II. U m das Wesen der ländlichen „Arbeitsverfassung", d . h . der Grundsätze, nach denen der Landwirt seine Arbeitskräfte verwendet, und die großen Verschiedenheiten unter den einzelnen vorkommenden Arten von Arbeitern zu verstehen, bedarf es einiger allgemeiner Vorbemerkungen. Jeder Landwirt weiß, daß er zu den verschiedenen Jahreszeiten sehr verschieden viele Arbeitskräfte gebraucht. Im Winter könnte er, zumal wenn er heutzutage mit Maschinen drischt, oder wenn er viel Zuckerrüben baut, mehrere Monate lang fast aller Arbeitskräfte bis auf das notwendigste Personal zur Wartung des Viehes, entbehren, in der Erntezeit kann er stets, und besonders wenn das Wetter sich etwas unsicher anläßt, zu viel Arbeitskräfte überhaupt kaum und genug meist nur sehr schwer bekommen. - Es gibt zwar eine große Anzahl von Industrien, welche gleichfalls nur „Saison-Gewerbe" sind und deshalb gleichfalls während der einzelnen Jahreszeiten einen ungemein verschieden starken Bedarf an Arbeitskräften haben, aber in keinem Gewerbe handelt es sich um so gewaltige Zahlen, wie in der Landwirtschaft. Diese besondere Lage, in der sich der Landwirt jedes Jahr von neuem befindet, ist, und zwar namentlich für die größeren Güter, das schwierigste Problem der ländlichen Arbeitsverfassung. Man hat auf sehr verschiedene Art versucht es zu lösen, und es verlohnt sich, darauf einen Blick zu werfen. Wo die eigentliche Sklaverei bestand - wir haben sie in Deutsch-

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land schon seit 1000 Jahren nicht gekannt - war man meist genötigt, die sämtlichen oder doch fast sämtliche Arbeitskräfte, welche man A 25 zur Zeit der Ernte brauchte, | das ganze Jahr über zu halten, denn es hat sich überall gezeigt, daß es nicht anging, in der Erntezeit gemiethete freie Leute neben den Sklaven zu beschäftigen, teils weil es gefährlich war, teils weil sich auf die Dauer niemand fand, denn im Sklavenstaate hat die Arbeit von jeher als schändend gegolten. D i e Folge war, daß man eine große Anzahl Leute, für welche man außerhalb der Ernte keine Arbeit hatte, das ganze Jahr über durchfüttern mußte, und daran sind früher oder später alle Sklavenwirtschaften zu Grunde gegangen oder haben doch keine wirtschaftlichen und technischen Fortschritte zeitigen können, - so z. B. diejenigen des alten römischen Reiches. Dort hielt man die Sklaven in Kasernen mit gemeinschaftlichen Speisesälen, ähnlich unsern Sachsengängerhäusern, nur daß sie zeitlebens so zu existieren hatten; sie wurden unter Aufsicht gemeinsam gespeist, zum dauernden Bedarf hatten sie nichts als einige Garnituren Kleidung, die ihnen geliefert und von ihnen „auf K a m m e r " abgegeben wurden, und kannten etwas wie „ E h e " regelmäßig nicht, die Kinder der Sklavinnen wurden, wenn entwöhnt, gemeinschaftlich erzogen. A l s nun aber nach der Schlacht im Teutoburger Walde 1 4 die Eroberungen ein Ende nahmen und infolge dessen keine oder wenig Sklaven auf den Markt kamen, ging es mit dieser A r t der Wirtschaft allmählich aber sicher zu Ende, weil das Halten so zahlreicher Sklaven zu kostspielig und irrationell wurde. Die grade entgegengesetzte Gestalt nimmt die Arbeitsverfassung in manchen Kolonialländern an, w o die Sklaverei nicht besteht, so, um ein Beispiel herauszugreifen, im Innern Argentiniens. 15 Die dortigen Kolonisten, welche durchweg Weizen zum Export bauen, halten, auch wenn ihr Besitz viele Hundert Hektar groß und ihr Viehstand ein erheblicher ist, - das Vieh ist freilich halbwild, die Kühe milchen nur, wenn sie gekalbt haben - selten mehr als einen ständigen Arbeiter, der eine A r t Inspektorstellung einnimmt. Im

14 In der genannten Schlacht vernichtete der Cheruskerfürst Arminius mit Verbündeten Im Jahre 9 n. Chr. ein römisches Heer unter Publlus Qulnctilius Varus. 15 Das Beispiel Argentinien behandelte Weber ausführlich 1894 in seiner zweiteiligen Artikelserle „Argentinische Kolonistenwirthschaften", unten, S. 2 8 6 - 3 0 3 .

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übrigen hält man eigene Arbeiter oder Gesinde garnicht, sondern zur Zeit der Feldbestellung und der Ernte kommen halbnomadenhafte Arbeiterscharen aus den weiter nach Innen gelegenen Distrikten, sie werden ohne Kontrakt, gegen Kost und (meist) Akkordlohn beschäftigt, als Unterkunft erhalten sie günstigstenfalls einen Schuppen, meist nur ein Regendach gestellt, die Weiber und Kinder (von förmlicher Ehe ist keine Rede, es besteht etwa die Bebel'sche Ehe auf Probe und gegenseitiges Gefallen) 16 kampieren im Felde in Zelten oder treiben sich umher. Das Korn wird auf dem Felde durch umherziehende Unternehmer mit Maschinen ausgedroschen, in Säkke gefüllt und verkauft, und alsdann zieht der ganze Schwärm wieder ab und der Kolonist sitzt allein in seinem öden Hause. Das ist natürlich nur möglich, weil z.B. Düngung ein unbekannter Begriff ist; trägt das Land nicht mehr, so geht man mit dem Tiefpflug einige Zoll tiefer und so weiter, nach einem Menschenalter wird der Boden tot und ausgelaugt sein. Jene wandernden Arbeiterscharen aber sind ein halbwildes, verwegenes Gesindel, vor dem man seines Lebens nicht sicher ist: ihr dauernder Besitz besteht aus einem Pferde und einem gewaltigen Manteltuch mit einem Loch für den Kopf, alles andere wird nach Gelegenheit gekauft und gestohlen, der Lohnverdienst zu einem winzigen Bruchteil der jeweiligen „Frau" überliefert, der Rest schleunigst verjubelt und alsdann ein jammervolles Leben geführt. Der ganze Zustand führt zu schauderhaften Verhältnissen, der Landbau ist ein gewagtes Spekulationsgeschäft und wird, sobald die Besiedlung eine dichtere und durch die Konkurrenz um die Arbeitskräfte eine größere wird, noch mehr aber, wenn der Boden erschöpft und die Notwendigkeit, rationell zu wirtschaften, entstehen wird, in dieser Weise absolut nicht weiter geführt werden können. - Diese beiden Extreme der Arbeitsverfassungen sind, das leuchtet ein, Symptome einer ungefähr gleich großen sozialen Barbarei, und es kann sich nur fragen, ob der höhere Grad von Verwahrlosung nicht auf seiten der absoluten Ungebundenheit der zuletzt besprochenen Arbeiter zu finden ist; denn an der Existenz des Sklaven und daran, daß seine Ernährung ausreichte, um die Arbeitskraft wieder zu ergänzen, hatte auch der Herr ein dringendes Interesse. 16 Anspielung auf August Bebels Schrift „Die Frau und der Sozialismus". Im Kapitel „Die Frau in der Zukunft" entwickelte Bebel das Modell der Ehe als eines jederzeit im beiderseitigen Einvernehmen wieder auflösbaren Privatvertrags. Das Buch hatte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Webers Artikel siebzehn Auflagen erreicht.

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Alle gesunden und normalen ländlichen Arbeitsverfassungen seßhafter und civilisierter Völker bewegen sich demgegenüber auf einem zwischen diesen Extremen liegenden Gebiet: man hält einen festen Stamm von dauernd das ganze Jahr über beschäftigten und kontraktlich gebundenen Arbeitskräften und daneben Arbeiter, welche nur im Sommer und in der Ernte verwendet werden. Ehe, zu Anfang dieses Jahrhunderts, die überlieferte Verfassung des platten Landes bei uns gesprengt wurde, waren die Verhältnisse im wesentlichen folgendermaßen gestaltet: An ständigen Arbeitskräften hielten sowohl der Bauer als die großen Güter zunächst lediges Gesinde für die Viehwartung. Die Feldbestellung besorgte der Bauer mit seinen Knechten meist ohne fremde Hilfe. Die großen Güter verwendeten für die Feldbestellung die Frondienste der unterthänigen spannfähigen Bauern. Sie mußten die Gutsäcker, die vielfach im Gemenge mit der Feldflur des Dorfes lagen, mitbestellen. Für die Erntearbeit wurden neben den Knechten die nicht spannfähigen Einsassen der Dörfer, Büdner, Häusler, Gärtner (Dreschgärtner), Instleute herangezogen. Denselben wurde dafür die Bestellung ihres Feldes von dem Gutsherrn resp. dessen unterthänigen Bauern und in den nicht unterthänigen Dörfern durch die Bauern mit ihren Gespannen geleistet. Sie hatten in den nicht unterthänigen Dörfern das Recht, auf der Gemeindeweide und in den Gütern auf der Gutsweide einige Stücke Vieh gegen geringes Entgelt zu halten, sonst aber keinen Anteil an der Allmende. Durch die Viehweide und dadurch, daß sie auch außerhalb der Erntezeit gegen Tagelohn arbeiteten, hatten sie ihr Auskommen. Auf den Gütern besorgten sie das Dreschen gegen Anteil, auch bei den größeren Bauern waren sie daran beteiligt. So beruhte die damalige Arbeitsverfassung auf gegenseitiger Aushilfe der Insassen der Dörfer und Güter, eine besitzlose freie Arbeiterschaft gab es nur in geringem Maße. Nun kam die Agrargesetzgebung dieses Jahrhunderts: Aufhebung der Erbunterthänigkeit, Regulierungen der gutsherrlichen Bauern, Ablösung der Dienste, Separationen und Verkoppelungen, Aufteilung der Allmenden. 17 Sie hatte folgende Wirkungen:

17 Weber bezieht sich auf die Kernstücke der preußischen Agrargesetzgebung: das Edikt über die Bauernbefreiung vom 9. Oktober 1807, das Regulierungsedikt vom 14. September 1811 und seine Deklaration vom 29. Mai 1816 mit der Begrenzung auf spannfähige Bauern, die Ablösungsordnung für die Dienste und sonstigen Leistungen von spannfähi-

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Die Dienste der gutsherrlichen Bauern fielen fort, die spannfähigen erhielten gegen Abtretung eines Teils ihres Landes an den Gutsherrn Eigentum an dem Rest, die nicht spannfähigen zog der Gutsherr zum Teil ein. Er hatte also jetzt ein weit größeres Feld in eigener Bewirtschaftung, dagegen nicht mehr die alten Arbeitskräfte^] und mußte für Heranziehung neuer und zwar in größerer Anzahl sorgen. Das that er, indem er einmal mehr Gesinde hielt, dann, indem er an Stelle der früheren nicht spannfähigen Bauern Instleute und Deputanten in größerer Zahl mit einigen Morgen Land auf Kontrakt ansetzte. Daneben bedurfte er in der Ernte auswärtiger Arbeiter zur Aushilfe. In den nicht unterthänigen Dörfern wurde durch die Aufteilung der Allmenden den angesessenen Arbeitern, Häuslern und Gärtnern die billige Viehweide genommen: „Die Bauern sind zu Edelleuten geworden und wir zu Bettlern", 18 klagten sie damals nicht ganz mit Unrecht, denn die 2—3 Kühe und Schweine hatten für sie einen gewaltigen Wert gehabt. Die Bauern hatten mehr Land erhalten, die Fronden der Gärtner und Häusler aber fielen weg, und sie bedurften gleichfalls, zumal in der Ernte, mehr Arbeitskräfte. Sie mieteten solche gegen Geldlohn, teils die angesessenen kleinen Leute, teils auswärtige besitzlose freie Leute, die in der Ernte herangezogen wurden, teils nahmen sie Mietsleute in Kontrakt für die Ernte, denen sie Wohnung, etwas Weide, Futter und etwas Land gaben. Durch die ganze Umwandlung |war also 1) ein größerer freier, nicht A kontraktlich gebundener und besitzloser Arbeiterstand entstanden, 2) die Scheidung zwischen Besitz und Nichtbesitz eine sehr viel schärfere geworden und 3) das Geldlohnsystem in die ländliche Arbeitsverfassung eingeführt, wenngleich in sehr verschiedenem Grade. So entstand der Zustand, welchen wir heute in Deutschland finden, und dessen bunte Mannigfaltigkeit in den folgenden Artikeln geschildert werden soll. I

gen Bauern mit „besseren Besitzrechten" und die Gemeinheitsteilungsordnung, jeweils vom 7. Juni 1821. Vgl. ausführlicher oben, S. 95, Anm. 10 und 11. 18 Als Zitat nicht nachgewiesen.

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III.

Unleugbar liegt zur Zeit der Schwerpunkt der „ländlichen Arbeiterfrage" in den weiten ebenen Gebieten des deutschen Ostens, auf den Kolonialgebieten östlich der Elbe. Nicht als ob die Zustände anderwärts befriedigende wären, aber in ihrer ganzen verhängnisvollen Schwere äußerte sich die Folge der großen Wandlung in unseren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen gerade in jenen von der Natur wenig begünstigten Ostmarken des Reichs. Das hat in der Hauptsache seinen Grund in der Art der Verteilung des Grundes und Bodens. Der landwirtschaftliche Großbetrieb, welcher ausschließlich oder fast ausschließlich mit fremden Arbeitskräften wirtschaftet, empfindet jede Verschiebung in den Bedingungen des Arbeitsmarktes ungleich schwerer als bäuerliche Wirtschaften, bei welchen die eigene Arbeitskraft des Besitzers und seiner Familie einen wesentlichen Bruchteil der erforderlichen Kräfte darstellt; je kleiner die Bauernwirtschaft, desto günstiger ist in dieser Beziehung ihre Lage. Und ebenso steht es mit den Wirkungen ungünstiger Getreidepreise. Die großen Wirtschaften, welche fast ihr gesamtes Produkt an den Markt bringen, werden durch wenige Mark Preisunterschied in ihrer Existenz bedroht, während bäuerliche Besitzer, die einen beträchtlichen Bruchteil ihrer Erzeugnisse zum eigenen Konsum verwenden, dagegen unempfindlicher sind, und wiederum um so unempfindlicher, je geringer der zum Verkauf bestimmte Bruchteil, je kleiner also die Wirtschaft ist. Nun ist aber das ostelbische Deutschland das Land des Großgrundbesitzes. Auch wo er nicht der Fläche nach überwiegt, bildet er den sozial wichtigsten Faktor des Lebens auf dem Lande. Der Großgrundbesitzer beherrscht die kommunalen Verbände, sein Hof bildet den Mittelpunkt des geselligen Lebens, ihm gliedern sich die Offizierkorps in den kleinen Garnisonen, die Beamten auf dem Lande und in den kleinen Städten in gesellschaftliA 44 eher Beziehung an, die Frage des | Wahlausfalls ist regelmäßig lediglich identisch mit der, wie weit der Großgrundbesitzer die Wähler an der Hand hat oder nicht, und bewegt sich deshalb in den stärksten Extremen von rechts nach links, von seiner Kaufkraft und Kauflust hängt der Absatz gewerblicher Produkte bei weitem in erster Linie ab, sein Schuldenstand ist maßgebend für den Zinsfuß der Hypotheken, er ist Träger des technischen Fortschritts, eine Änderung in der Wirtschaftsweise der großen Güter führt zu gewaltigen Schwankun-

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gen in der Zahl der Arbeitskräfte, welche das Land versorgt und benötigt, - kurz Tausende von Existenzen hängen allenthalben in ihrem gesamten Schicksal von der Lage ab, in welcher sich die großen Güter jeweilig befinden. Das ist im Westen und Süden wesentlich anders. Auch wo die großen Güter in erheblicher Zahl vorkommen, ist ihr Einfluß in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung ein ungleich geringerer. Für den Arbeitsmarkt und die Löhne ist auch auf dem Lande nicht der Bedarf der Landwirtschaft, sondern derjenige der Industrie in erster Linie maßgebend, die Übermacht des Geldkapitals befindet sich in den Händen des Gewerbes. Die Zahl der alten Familien ist eine geringere, der Besitz des Bodens wechselt stärker, wird in höherem Maße als ein reines Erwerbsgeschäft behandelt und büßt damit an Bedeutung für die soziale Stellung des Besitzers ein, dem ländlichen Wirtschaftsleben prägt das Bauerndorf seinen Charakter auf, der genossenschaftliche Zusammenhalt ist immerhin ein kräftigeres Moment als zwischen den durch jahrhundertelange Unfreiheit zu gegenseitigem Mißtrauen erzogenen Bauern des Ostens, und doch wird der geschäftliche Sinn in dem lebhafteren Dorfleben besser geschult als in dem oft trüben und öden Dasein des östlichen Bauern. Wo, wie am Rheine und vielfach im Süden, die Schollen von Hand zu Hand gehen, durch Parzellierung, Zusammenschlagung und allerlei Pachtverhältnisse Wirtschaften fortgesetzt neu entstehen und vergehen, da bildet der Bodenbesitz in den Augen der Menschen in weit geringerem Grade eine Schranke zwischen den Ständen. Der Besitzlose kann morgen Besitzer und der heutige Besitzer besitzlos sein, leichteren Mutes verlassen die Erben den Hof des Vaters, und wer Schiffbruch leidet, fällt nicht tief. Heitere Lebensfreude bildet dort den Grundzug des Temperaments des Landvolkes, lebhaften Geistes geht es politisch-freiheitlichen Ideen nach, und der Gedankenkreis ist im Dorfe nicht ein so durchaus verschiedener von demjenigen in der Stadt, während in dem festgegliederten, gleich einem unabwendbaren Lebensschicksal von den Vätern überkommenen Besitzverhältnisse des Ostens der Mann seiner ewig gleichförmigen „verdammten Pflicht und Schuldigkeit" mit demselben resignierten Gleichmut nachzugehen gewohnt ist, ob ihn nun das Geschick in einen Bauernhof oder in eine Arbeiterstelle hineingeboren werden ließ. Wenn aber freilich in diesen Köpfen der Gedanke einmal auftaucht, daß der Mensch es versuchen könne, außerhalb der heimatlichen Kreise auf der bewegten Flut des Lebens

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sein Glück zu finden, dann tritt er in der Form der Epidemie auf. Ganze Dörfer entleeren sich im Umsehen in wenigen Monaten von ihrem Nachwuchs, massenhaft strömt, wer irgend Kräfte in sich fühlt, hinaus in die Ferne weit weit weg - als wollten sie dem Gedanken an die Heimat entfliehen - über das große Wasser oder hinein in die dunklen Schächte der westfälischen Bergwerke, in die Arbeitsräume der Fabriken oder auf den großen Menschenmarkt in Berlin, und alle diese Arbeitskräfte sind dem Lande und oft dem Vaterlande für alle Zeiten verloren, denn es besteht keine Verwandtschaft und keine Möglichkeit des Verständnisses zwischen dem, was das ungebundene Leben draußen und in der Stadt bietet und.bedeutet, und den patriarchalischen Verhältnissen daheim. a Das Heer 3 ist im Osten die einzige von den Massen auf dem Lande wirklich voll verstandene politische Institution; und wenn schwerer Druck fremder Herrschaft den Zusammenhang zwischen den Geschicken des Vaterlandes und denen b des Einzelnen unmittelbar fühlbar macht, oder der König ruft, dann erhebt sich dies stille genügsame Volk einmütig, ohne Geräusch und Worte, aber mit wunderbarer Gewalt und schlägt die Schlachten des Vaterlandes in Ost und West. Das ist die Kraft und Schwäche der so entgegengesetzten sozialen Organisationen des Ostens gegen den Westen und Süden des Reiches, und dieser Gegensatz prägt sich auch in der verschiedenen Arbeitsverfassung des platten Landes aus. Gehen wir von dem früher besprochenen Unterschied der ständigen, gegenüber den nur zeitweilig beschäftigten Arbeitern aus, so findet sich die erstere Kategorie sowohl bei den Gütern als in den Bauernwirtschaften im ganzen Reich zunächst in Gestalt des häuslichen Gesindes vertreten. Große rein bäuerliche Gebiete im Westen und Süden kennen überhaupt nur diese Form des Arbeitsverhältnisses, und auch im Osten kommt dies, wennschon vereinzelter, vor. Besondere Eigentümlichkeiten bietet es gegenüber der Lage des städtischen Hausgesindes nicht. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß Knecht und Magd dies regelmäßig nicht zeitlebens bleiben wollen und können, und es fragt sich, in welcher Weise ein Familienhaushalt des ländlichen Arbeiters, der ihn von der Beköstigung und Beaufsichtigung im Hause des Dienstherrn befreit, begründet wer-

a A: D e r H e r r Vgl. unten, S. 137, Webers Anm. 1.

b A: den

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den kann und thatsächlich begründet wird, in welcher Art also Arbeiterfamilien existieren und wie ihr Dienstverhältnis geregelt zu sein pflegt. Das ist in verschiedener Art möglich. Im Vordergrund des Interesses steht zuerst die Frage, wie das Verhältnis des Arbeiters zum Grund und Boden rechtlich gestaltet ist. Der Arbeiter kann einerseits selbst Kleingrundbesitzer, also freier Eigentümer sein. Seine Familie und er selbst in freien Stunden bestellen das Land, er selbst geht regelmäßig oder zeitweise gegen Lohn auf Arbeit. Er hat sein eigenes Heim, in dem er frei schaltet, aber er ist allerdings an dieses Heim auch gebunden und regelmäßig nicht in der Lage, günstigen Lohnkonjunkturen nach auswärts nachzugehen. Oder aber umgekehrt: der Arbeiter ist besitzlos, er hat nur bewegliche Habe, seine Wohnung mietet er sich im Dorfe oder auf dem Gute und wechselt sie, wenn es ihm behagt, er ist beweglich und ungebunden, aber er ist ein Heimatloser, dem der Wirt kündigt, sobald Gefahr ist, daß er am Ort das Armenrecht - den „Unterstützungswohnsitz" - ersitze. 19 Dazwischen liegen zahlreiche andere Möglichkeiten. Der Arbeiter kann Kleinpächter sein, beim Arbeitgeber oder einem andern, er kann vom Arbeitgeber rein bittweise und für die Dauer seiner Arbeit ein Stück Land angewiesen erhalten oder auch an Flur und Almend c -Nutzungen beteiligt sein, endlich laut Kontrakt Anrecht auf Wohnung, Weide und eine bestimmte Ackernahrung auf dem Gut oder im Dorf haben. Damit zusammen hängt der zweite, gleich wichtige Punkt: Die Frage nach der rechtlichen Gestaltung seines Arbeitsverhältnisses. Der Arbeiter kann kontraktlich zur dauernden Arbeit bei einem Arbeitgeber verbunden sein, oder - der direkte Gegensatz - er kann ohne jede kontraktliche Vereinbarung wie thatsächlich, als sog. freier Arbeiter, regelmäßig und dauernd oder kürzere Zeit bei ihm in Arbeit stehen, oder es können Zwischenstufen vorliegen: Der Arbeiter soll für Gewährung der Wohnung oder des Landes zeitweise unentgeltlich oder gegen vereinbarte Vergütung zur Arbeit gehalten sein oder als Pächter neben dem Pachtzins eine bestimmte Zahl von c A: Alment 19 Der Anspruch auf soziale Unterstützung von einer Gemeinde war an einen festen Wohnsitz, den Unterstützungswohnsitz, gebunden. Nach dem vollendeten 24. Lebensjahr begründete ein zweijähriger Aufenthalt an einem bestimmten Ort die Zugehörigkeit zu dem entsprechenden Ortsarmenverband.

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Arbeitstagen übernehmen, und alles dies entweder nur für seine Person oder auch für sonstige Familienglieder. Es liegt in der Natur der ländlichen Verhältnisse, daß die kontraktliche Gebundenheit sich regelmäßig an die Gewährung von Land durch den Arbeitgeber anschließe. Die Beleihung mit Land ist auch geschichtlich die Grundlage der persönlichen Abhängigkeit und der A 45 Herrschaftsverhältnisse in | alter Form; ein persönliches Herrschaftsverhältnis begründet auch der feste Arbeitskontrakt, und in umgewandelter Form gilt der alte Grundsatz noch heute. Aus den Verhältnissen der Bodenverteilung und der Beweglichkeit des Bodens folgt demgemäß auch heute der wichtigste Unterschied der ländlichen Arbeitsverfassung im Osten gegen den Westen und Süden. Im Westen und Süden ist der Boden stark parzelliert und regelmäßig Gegenstand von Kauf und Pacht. Die Arbeiter sind deshalb dort zu einem sehr großen Teil Grundbesitzer, es mangeln dort regelmäßig feste d kontraktliche Dienstverhältnisse, und Güter wie Bauern halten neben dem Gesinde wesentlich nur freie, gegen Tagelohn arbeitende Leute im Dienst. Der grundbesitzende Tagelöhner ist, da jederzeit Gelegenheit ist, sein Anwesen zu verkaufen oder zu verpachten, durch seinen Besitz regelmäßig wenig gebunden. Anders im Osten und Norden. Dort ist der Boden wenig beweglich, selbständiger Kleinwirt zu werden dem Arbeiter sehr erschwert, meist unmöglich. Hier finden sich infolge dessen Pacht- und LeihVerhältnisse der allerverschiedensten Art, verbunden mit der Auferlegung der Verpflichtung zu dauernder oder zeitweiliger Arbeit beim Verpächter oder Leihherrn. Neben dem Gesinde halten die Gutsherren als Stamm die ständige Arbeiterschaft, Familien, welche kontraktlich gegen Landverleihung regelmäßig auf Arbeit kommen müssen, die Bauern Leute, welche in der Ernte für die Wohnung und für Pachtland zu Arbeitsdiensten verpflichtet sind. Wie im Westen und Süden die tagelöhnernden 6 Kleinwirte, so sind hier die auf dem Grund und Boden der Arbeitgeber wohnenden, mit Land und Wohnung beliehenen abhängigen Leute der feste Stamm von einheimischen Arbeitskräften. In unendlichen Variationen geht der eine Zustand in den andern über. Daneben finden sich dann noch die besitzlosen Mieter und endlich eine gewaltige Zahl wandernder, unsteter Arbeiter, welche zu dem d A: fest

e A: tagelöhnenden

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Ort, in welchem sie ihr Brot verdienen, in gar keine dauernde Beziehung treten, sondern wie die Zugvögel kommen und gehen. In welcher Weise die einzelnen Kategorien von Arbeitern miteinander kombiniert sind, das bildet die charakteristische Eigentüm5 lichkeit der ländlichen Arbeitsverfassung der einzelnen Gegenden und hat uns von jetzt an zu beschäftigen. |

IV. 1 ) f 10

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Beginnen wir bei Betrachtung der Landarbeiterverhältnisse mit dem östlich der Elbe liegenden Teil des Reiches, so finden wir hier, wo der Großgrundbesitz fast überall einen erheblichen, teilweise - im Gebiet der mecklenburgischen Ritterschaft und in den angrenzenden früher schwedischen Teilen Pommerns - den weitaus größten Teil des Areals in der Hand hält, die charakteristische Gestaltung des kontraktlichen Arbeitsverhältnisses auf den großen Gütern voll entwickelt. D e n Stamm der Arbeiterschaft bilden Familien, die auf den Gütern in Wohnungen, welche der Gutsherr stellt, ansässig sind, Ackerland und Viehweide zugewiesen erhalten und gegen einen, hinter dem sonst ortsüblichen Tagelohn zurückbleibenden Barlohnsatz das ganze Jahr über zur Arbeit verpflichtet sind. A b e r innerhalb dieses Gebietes findet sich eine charakteristische Verschiedenheit der Gestaltung: wenn man von der Ostseeküste aus nach Süden zu, nach Posen und Schlesien und der südlichen Mark, fortschreitet, so findet man in zunehmendem Maße, daß die im Norden noch durchaus vorherrschende Naturalien-Löhnung durch den Geldlohn verdrängt wird. Es liegt das teils an der größeren Kapitalkraft der schlesischen Besitzer, an dem stärkeren Eindringen der Industrie durch die Nähe der schlesischen Kohlendistrikte und der Großstädte, teils an der A r t der Lösung, welche die alten Agrarverhältnisse 11 D e r Verlust der K o r r e k t u r e n hat in dem letzten A r t i k e l (III) dazu geführt, d a ß eine R e i h e unliebsamer D r u c k f e h l e r stehen blieb. Nur den auffälligsten möchte ich berichtigen: auf der zweiten Seite, erste Spalte, Z e i l e 4 von unten muß es heißen: „Das Heer", nicht: „DerHerr".20

f Der Index für die A n m . 1) folgt in A nach der hier w e g g e l a s s e n e n Überschrift.

2 0 Oben, S. 134.

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speziell in Schlesien um die Mitte dieses Jahrhunderts erfahren haben. 21 Im Norden, Ostholstein, Mecklenburg, Pommern, zumal Hinterpommern, den preußischen und märkischen Höhendistrikten, besteht noch das alte patriarchalische Arbeitsverhältnis. Die regelmäßigen und ständigen Arbeitskräfte stellen dem Gut die Instleute, auch Dienstleute, Gutstagelöhner, Hoftagelöhner genannt. Der Mann hat sich selbst und außerdem mindestens eine, teilweise zwei weitere Personen, die sogenannten Scharwerker oder Hofgänger, zur Arbeit während des ganzen Jahres zu stellen. Hat er keine arbeitsfähigen Kinder, so mietet er einen Dienstboten, den er beköstigt und dem er einen Jahreslohnsatz zahlt. Der Entgelt für dessen Arbeit, ebenso wie für seine eigne fließt dem Tagelöhner zu. Dieser Entgelt nun besteht, bei aller Verschiedenheit im einzelnen, im wesentlichen gleichartig in folgenden Emolumenten: Der Instmann erhält eine Wohnung angewiesen. Teilweise zahlt er noch einen bis zu etwa 40 Mark pro Jahr ansteigenden Entgelt dafür oder hat eine Anzahl - bis zu 50 - sogenannte Hoftage unentgeltlich zu leisten, meist ist dies bei dem herrschenden Arbeitermangel weggefallen. Die Wohnung wird meist in kleinen Kathen, zu zwei, teilweise vier, selten für eine Familie, gewährt. Sie ist in der Qualität ganz ungemein verschieden, von gänzlich menschenunwürdigen Löchern in alten Lehmhütten an bis zu recht wohnlichen massiven Häuschen, wie sie namentlich in Teilen von Pommern und Mecklenburg vorkommen, herauf. Die Kapitalarmut der Mehrzahl der Besitzer, welche die Aufbauung neuer Wohnungen hindert, ist einer der schwersten Schäden im Osten. Zur Wohnung gehört in den besseren Gegenden ein Garten von verschiedener Größe, bis zu 1 Morgen (25 a) hinauf, stellenweise mit Obst und Gemüse, meist mit Kartoffeln und etwas Gemüse oder Futterrüben, auch Lein, zu bestellen und selbst zu düngen. Neben dem Garten erhält die Familie Ackerland, im Unterschied von ersterem regelmäßig nicht fest begrenzt, sondern 21 Mit der Ablösung der noch bestehenden bäuerlichen Dienstverpflichtungen in Schlesien (Gesetz vom 31. Oktober 1845, GS 1845, S. 6 8 2 - 6 8 4 ) wurde die ländliche Arbeitsverfassung schlagartig zuungunsten der bisher für Schlesien typischen Dreschgärtner geändert: In Mittelschlesien wurde der Dreschgärtner zum freien, grundbesitzenden Arbeiter, in Oberschlesien zum landlosen Tagelöhner, da hier Gutsherren „die Nichtregulierbarkeit der Dreschgärtnerstellen durchgesetzt hatten". Vgl. Weber, Landarbeiter, S. 496 (MWG I/3, S.596).

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mit den Schlägen der Gutswirtschaft wechselnd, von sehr verschiedener Größe bis zu 3A ha und mehr herauf; das Land wird vom Gut aus beackert und vom Arbeiter mit Kartoffeln, wo aber die alten Verhältnisse noch bestehen, namentlich mit Getreide bestellt, und oft von der Gutsherrschaft, an welche die Familie dann ihren Dung abzuliefern hat, gedüngt. Dazu tritt Weidenutzung für 1, selten noch für 2Kühe, Geflügel, teilweise noch Schafe, regelmäßig Schweine. Brennwerk wird meist unentgeltlich geliefert und Fuhren nach Bedarf geleistet. Endlich wird Lohn gezahlt. Er besteht entweder in einem festen Jahreslohn oder in Tagelohn für Mann und Hofgänger, welcher, wo die obigen Gewährungen noch voll gegeben werden, 30—40 Pf. pro Tag beträgt. Dieser Barlohn aber bezieht sich nur auf die Sommermonate und wird nur außerhalb der Zeit des Dreschens gegeben. Für das Dreschen wird dagegen, wo die moderne Verwandlung noch nicht die alten Bräuche beseitigt hat, in einer sehr originellen Weise, nämlich durch Naturalanteil, gelohnt. Die Arbeiterfamilien des Gutes haben das ausschließliche Recht, das Getreide des Gutes auszudreschen und verteilen unter sich den - je nach der Gegend - elften bis achtzehnten Teil des (Flegel-)Erdrusches. Früher geschah auch das Mähen in gleicher Weise im Anteil, das ist jetzt meist durch Geldlohn ersetzt. Eine so gestellte „Drescher"-Familie stellt aus dem selbstgewonnenen Flachs den überwiegenden Teil ihrer Kleidungsbedürfnisse her, das Fleisch liefern (gepökelt 9 ) ein bis zwei geschlachtete, selbst gefütterte Schweine und Hammel, Milch und Butter die Kuh, den gesamten Bedarf an Korn und Mehl der Dreschanteil und das eigne Land, ebenso den Bedarf an Kartoffeln, einschließlich des Viehfutters, bare Ausgabe deckt der Verkauf von Schweinen und Getreide, welcher in guten Erntejahren erhebliche Überschüsse darüber hinaus gibt. Der Arbeiter ist hier am Ausfall der Ernte und an den Preisen der Schweine und des Getreides in gleichem Sinne interessiert wie der Gutsherr, er ist überhaupt wie eine Art Teilhaber am Gut gestellt. Diese Organisation der Arbeitsverfassung ist nun aber nur noch in einem Teil der oben erwähnten, nördlichen Bezirke des Ostens erhalten. Je mehr man von den Höhen herab in die fruchtbaren und

g A: gepöckelt

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intensiv bewirtschafteten Flußthäler steigt und ebenso je weiter man sich nach Süden, nach Posen und Schlesien hinein begibt, desto mehr ist sie durch eine andre, welche man im Gegensatz zu diesem patriarchalischen System wohl eine „kapitalistische" nennen darf, ersetzt. Die Instleute Schlesiens, sog. „Lohngärtner" und „Deputanten", erhalten wie die nördlichen Instleute zunächst Wohnung. Aber dieselbe wird meist in größeren sog. „Familienhäusern" gewährt und ist in ihrer Qualität weit häufiger unter dem zulässigen hygienischen und sozialen Niveau. Man sollte es nicht glauben, daß[,j wie die Erhebung ergeben hat, z. B. in einem Fall in Schlesien in einer Stube 9 (neun!) Familien hausen, welche daneben nur noch einen finsteren Alkoven zum Schlafen inne haben. Hier harren geradezu skandalöse Mißstände des polizeilichen Eingriffs. - Acker und Garten werden in Oberschlesien vielfach gar nicht, sonst in geringerem Umfang als im Norden gegeben und nur mit Kartoffeln und etwas Kraut bestellt. Kuhweide ist eine seltene Ausnahme, die Arbeiter halten keine Kühe, sondern nur Schweine und allenfalls Ziegen, sie erhalten teilweise (oft recht kümmerliche) Milchdeputate. Selbst gesponnen | A 59 wird nur stellenweise. Naturalanteile sind die seltene Ausnahme; regelmäßig erhält der Deputant, der nichts ist als ein verheirateter Knecht, ein festes, ungefähr den Bedarf deckendes Korn- und Kartoffeldeputat neben festem Jahreslohn, der Lohngärtner nur Tagelohn und feste Accordsätze neben etwas „Erntegetreide". Während die Frau des nördlichen Dreschers nur in der Ernte und zeitweise im Sommer mit auf Arbeit geht, arbeitet die schlesische Arbeiterfrau tagaus tagein, zuweilen mit Ausnahme eines freien Wochentages, mit; - Scharwerker werden hier nicht gehalten, das ganze Verhältnis ist nicht darauf eingerichtet. Der Grund dieser Verschiedenheit liegt darin, daß der intensiver bewirtschaftete Boden für die Herrschaft von höherem Wert, die Gewährung von Land und namentlich von Viehweide an die Arbeiter deshalb zu kostspielig ist und deshalb durch die Geldlohnung verdrängt wird. Die gleiche Entwickelung macht sich nun aber auch im Norden allenthalben bemerkbar. Die Gewährung hoher Ernteanteile ist der Herrschaft, das Schwanken des Ertrages den Arbeitern lästig; man ersetzt den Dreschanteil durch feste Deputate, die eben den Bedarf decken; wo der Anteil bleibt, wird er durch die Dreschmaschinen stark, bis auf V33, herabgedrückt; die Kuh wird in den herrschaftlichen Stall gestellt, der Wartung der Arbeiterfrau also

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entzogen, schließlich abgeschafft, das Land bis auf den Kartoffelgarten eingezogen, das eigene Spinnen kommt ab; statt alles dessen tritt Erhöhung des Geldlohnes ein. Die Arbeiter haben unter diesen Umständen kein Interesse mehr an dem alten abhängigen Verhältnis, sie streben darnach, „freie", d.h. nicht durch Kontrakt gefesselte Leute zu werden. Diese „freien" Arbeiter nun, deren Zahl seit 60 Jahren in starker Zunahme begriffen ist, werden - neben geringen Naturalien, selten Wohnungsgewähr - in Geld gelohnt, sie kaufen ihre Bedürfnisse ein, haben also an den Preisen das umgekehrte Interesse wie der Gutsherr, und nähren sich überwiegend von Kartoffeln, dem Einzigen, was sie selbst allenfalls bauen, - ein bedenklicher Rückgang der Volksernährung. Sind sie selbst Grundeigentümer, so sind sie an die Scholle gebunden und müssen jeden Lohn nehmen, der ihnen in der nächsten Nähe geboten wird, und wenn die Stelle so klein ist, daß die Angehörigen sie allein bewirtschaften können, so „sachsengängern" sie nach dem Westen. Dazu kommt aber vor allem eins: wo Rüben gebaut werden, also in den fruchtbarsten Gegenden, ist der Bedarf an Arbeitern im Sommer ein ganz gewaltig viel stärkerer als im Winter, sie müssen von auswärts bezogen werden. Früher nahm man meist die aus dem übervölkerten Oderbruch abwandernden Leute, neuerdings in gewaltig zunehmendem Maße Polen aus Rußland und Galizien. Sie sind genügsam, werden, in einer zum Teil schauderhaften Art, hordenweise in Ställen oder kasernenartigen Gebäuden untergebracht, beköstigt, in Geld ziemlich niedrig gelohnt und im Herbst wieder „abgeschoben". Man hat keine Armenlasten an ihnen, sie müssen sich als Ausländer gefallen lassen, was sich der deutsche Arbeiter nicht bieten läßt und sind deshalb sowohl bequemer als billiger als die Einheimischen. Überall werden durch sie die deutschen Instleute und die deutschen Arbeiter überhaupt verdrängt; wo sie bleiben, sachsengängern sie, - und es beginnt so die ländliche Arbeiterbevölkerung sich wie eine gewaltige Flutwelle im Frühjahr von Ost nach West zu bewegen, um im Herbst wieder zurückzuströmen; im ganzen aber vollzieht sich eine Verschiebung der Nationalitäten und eine Zurückdrängung der deutschen Kultur nach dem Westen zu. Es ist nun eines der wichtigsten Ergebnisse der Erhebung, daß auch die Höhe der Löhne für die regelmäßig beschäftigten Arbeiter von der geschilderten Veränderung abhängig ist. Man sollte meinen,

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sie müsse sich, wo die Verhältnisse sonst gleich liegen, nach der Bodengüte richten und mit dieser steigen. Das ist unter unmittelbar benachbarten Gebieten allerdings in einem gewissen Grade der Fall, nicht aber, sobald man größere Bezirke ins Auge faßt. Die Löhne sind z. B. in der Oderebene höher als im schlesischen Gebirge. Aber wenn man den ganzen Osten zusammenfaßt, so sind sie am höchsten in denjenigen Gegenden des Nordens, wo der alte, gut genährte seßhafte Arbeiterstand der „Drescher" noch in alter Weise besteht, in dem vielgeschmähten Mecklenburg und Teilen von Pommern und Holstein. Hier bewegt sich der Durchschnittssatz, für das ganze Jahr berechnet, um 1,77 Mk. für den Mann, 1,10 Mk. für die Frau pro Tag, nach Osten zu sinkt die Höhe bis auf ca. 1,30 bezw. 0,90 Mk. in Ostpreußen, weit rapider aber nach Süden zu, zumal wo man in die fruchtbarsten polnischen Distrikte Posens kommt, und steht in Schlesien, und hier wieder in Oberschlesien, am tiefsten; an letzterer Stelle bewegt sich der Jahres-Durchschnittssatz um 0,87 Mk. für den Mann, 0,55 Mk. für die Frau (alles, wenn nur Geld gegeben wird). Ebenso sinkt der Satz überall da, wo die polnischen Wanderarbeiter in großer Zahl hinkommen, in auffallendem Maße. (Die Saisonlöhne an nur gelegentlich beschäftigte Leute, zumal in der Ernte, sind dagegen meist da am höchsten, wo die Kultur intensiv ist.) - In Mecklenburg verdient hiernach der Mann allein mehr, als in Schlesien Mann und Frau zusammen, obwohl die Preise die gleichen sind, - und damit stimmt, daß die Frau in Schlesien fast stets, in Mecklenburg fast nie regelmäßig mitarbeitet. - In Schlesien ist die Accordlöhnung in weitgehendstem Maße durchgeführt, im Norden fehlt sie vielfach fast ganz; - der schlecht genährte Schlesier hat nur bei dem Zwange des Accordsystems Arbeitslust und Arbeitskraft, der gut genährte Mecklenburger und Pommer läßt sich diesen Zwang nicht gefallen, leistet aber dennoch das Doppelte. Ein norddeutscher h Mäher mäht bis über 4, ein schlesischer meist wenig über 2 Morgen pro Tag. An einer Stelle in Posen22 wurden deutsche, einheimische halbpolnische und russisch-polnische Arbeiter beim Mähen zu denselben Sätzen beschäftigt: Die Deutschen verdienten dabei 6—8, die h A: nordischer 2 2 G e m e i n t ist der Kreis Z n i n in P o s e n . Vgl. W e b e r , Landarbeiter, S . 4 8 7 ( M W G 1/3, S. 585).

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einheimischen Halbpolen 3-3,50, die Russen 1,50-2 Mk. Die Deutschen konsumieren Brot, Fleisch und Milch, die Polen Kartoffeln und Schnaps. Im Norden steigt die Zahl der Fleisch-Mahlzeiten des Gesindes bis über 12 (zwei mal täglich) in der Woche, in Schlesien 5 sinkt sie bis auf 2. - Diese Beispiele mögen genügen. Es zeigt sich, daß die Leistungsfähigkeit der Arbeiter mit ihrer Nationalität und ihren Nahrungs-Gewohnheiten im Verhältnis steht und beide die Höhe der Löhne bedingen, und daß das Vordringen des Polentums und der Wanderarbeiter mit einem gewaltigen Ver10 lust der Nation an Arbeitsleistung und Volkskraft, vor allem auch an militärischer Tüchtigkeit der Bevölkerung verknüpft ist, daß aber all' dies durch die Umgestaltung der Arbeitsverfassung und des Lohnsystems wesentlich mit herbeigeführt ist. Wir haben uns nunmehr zunächst dem übrigen Deutschland zuzu15 wenden. I

V. 20 Verlassen wir die östlich der Elbe gelegenen preußischen Provinzen, um uns den Arbeiterverhältnissen in den übrigen Teilen des Reichs zuzuwenden. So verlohnt es noch, einen Augenblick in den Großherzogtümern Mecklenburg Halt zu machen. Hier ist die östliche Arbeitsverfassung am charakteristischsten ausgeprägt. Das platte Land 25 zerfällt politisch in das großherzogliche Dominium, in welchem rechtsgrundsätzlich der Landesherr, und in das ritterschaftliche Gebiet, in welchem die einzelnen Rittergutsbesitzer Gutsherren und damit Ortsobrigkeit sind. Auf dem ritterschaftlichen Gebiet sind die alten Bauernstellen im Wege des „Abmeierns" und „Legens" fast 30 völlig verschwunden und zu Instleuten, „Gutstagelöhnern", ohne Eigentum am Boden gemacht worden. Daher deren große Zahl: ein Drittel aller Hausstände in Mecklenburg sind solche von selbst wirtschaftenden Tagelöhnern. Auf dem Dominium ist durch eine ausgezeichnete Kolonisation ein Stand von Erbpacht- (in Strelitz 35 Zeitpacht-)Bauern und daneben von grundbesitzenden Büdnern und Häuslern neben den Domänenpachthöfen geschaffen worden. Rittergüter und Domänenpächter arbeiten mit Gutstagelöhnern, im Sommer und zur Ernte werden die Insassen der Dörfer, zumal die Häusler, herangezogen. Es zeigt sich nun ein doppeltes: einmal, daß

A129

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Arbeitermangel in erheblichem Umfang weit öfter bei der Ritterschaft als auf den Domänen, und regelmäßig fast nur auf den Rittergütern sich findet, die nicht in der Nähe von Bauerndörfern gelegen sind. Ferner aber: die in Mecklenburg sehr starke Auswanderung findet gleichfalls in weit erheblicherem Maße als vom Dominium von der Ritterschaft aus statt, und zwar sind es auch hier nicht die am schlechtesten, sondern die am besten gestellten Arbeiterfamilien, und unter diesen gerade die tüchtigsten, welche fortwandern. Was folgt daraus? Es sind die Sünden der Väter, welche sich an den heutigen Großgrundbesitzern rächen. Im Widerspruch mit dem Geist der alten Agrarverfassung, teilweise im Widerspruch mit dem Recht, haben sie die alten Bauern ihres Bodens entsetzt. Der Arbeiter auf den Rittergütern kann nicht hoffen, auf der heimatlichen Scholle selbständig zu werden, er zieht fort, und die Folge ist der Arbeitermangel und infolge dessen die Gefahr, daß den Gutsbesitzern nicht nur das einst von den Bauern genommene, sondern das ganze Areal aus der Hand gleitet. Es zeigt sich aber zugleich, in welcher ungefähren Richtung das einzig denkbare Heilmittel liegt. Die verschwundenen Bauerndörfer müssen im Wege der Kolonisation wieder geschaffen werden, dann wird der Großbesitz von Areal entlastet, welches er mit den heutigen Arbeitskräften nicht mehr bewirtschaften kann, und in dem Nachwuchs der Bauern erwachsen Arbeitskräfte, welche als Sommer-Arbeitskräfte auf den Gütern zu verwenden sind. - Es zeigt sich auch noch ein ferneres: Man hat lange geglaubt, dem Arbeitermangel im Osten dadurch abhelfen zu können, daß man den Arbeitern Gelegenheit böte, ein beliebiges kleines Stück Land zu Eigentum zu' erwerben, sie „seßhaft" machte. Die Mecklenburgischen Verhältnisse sind belehrend für die Frage, unter welchen Umständen eine solche Maßregel Erfolg versprechen würde, denn die dortige Kolonisation kann, wenigstens was die Ansetzung von Häuslern - Büdner mit 1—6 Morgen Land - anlangt, als gelungen angesehen werden. Zunächst ist Voraussetzung, daß der Grundbesitz des Arbeiters einem Dor/Verbande angehört. Nur wo ein nachbarliches Verhältnis zu den Mitgliedern einer Bauerngemeinde besteht, kann sich der ansässige Arbeiter heimisch fühlen. Der Bauer achtet ihn um seines Landbesitzes willen höher als die

i A: z u m

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besitzlosen „Einlieger", von denen er oft sehr hohe Mieten nimmt, dem Großgrundbesitzer gegenüber ist der Abstand bei beiden gleich groß, und der kleine Stellenbesitzer an die Scholle gefesselt und benachteiligt gegen den frei beweglichen besitzlosen Arbeiter. Ferner beruht die günstige Lage der mecklenburgischen Häusler auf ihrer starken Viehhaltung, die ihnen billig durch die Reservate an Gemeinde-Weideland ermöglicht wird. Die Kuh- und Schweinehaltung ist der wichtigste Mittelpunkt aller Landarbeiter-Wirtschaften, und nur wo Allmenden reserviert werden können, gedeiht der Häusler. Ein schließlicher Vorzug der mecklenburgischen Kolonisation ist das Institut der „Häuslerei-Reservate", - d.h. es wurden Landflächen in den Dörfern einbehalten behufs vorzugsweiser Verpachtung an die kleinen Besitzer. Der mecklenburgische Häusler hat also da, wo alle diese Institute zusammentreffen, die Möglichkeit, nach Belieben seinen eigenen Betrieb durch Zupachten auszudehnen und nur zeitweise oder aber dauernd auf Arbeit zu gehen, und zwar, da sein Besitz so klein ist, daß die Familie ihn allein bestellt, sowohl bei den benachbarten Bauern und Großgrundbesitzern als eventuell nach auswärts als Sachsengänger. Deshalb, weil er unabhängig und trotz seines Landbesitzes nicht schollenfest ist, befindet sich der mecklenburgische Häusler als solcher wohl, und wenn ein soeben mir zukommender Brief eines ostpreußischen bäuerlichen Besitzers 23 mir entgegenhält: der Versuch der Ansässigmachung von Arbeitern würde mißlingen, denn sie wollten kein Land, so habe ich zu erwidern: ganz gewiß wollen die Arbeiter nicht einen beliebigen, irgendwo, womöglich zwischen Rittergütern oder in Gutsbezirken gelegenen' Fetzen Land, nur deshalb weil es Land ist, ohne Sicherheit stets Arbeit zu finden und zu guten | Löhnen, und ohne die A130 Möglichkeit billig Vieh zu halten und ohne Anschluß an eine Bauerngemeinde. Das können sie garnicht wollen, sondern sie können sich auf eine Ansässigmachung auf kleinen Stellen, die ihren Nahrungsbedarf nicht ganz decken und sie nötigen, Arbeit zu suchen, nur da einlassen, wo dies alles zusammentrifft. Dörfer, die nur aus kleinen Käthnern bestehen, sind Räubernester schlimmster Sorte und eine Plage für die Umgegend. - Selbstverständlich ist, daß die so aus den

j A: belegenen 2 3 D i e s e r Brief war nicht mehr auffindbar.

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Häuslern und den sonstigen Dorfinsassen entnommenen Arbeitskräfte nicht geeignet sind, den Bedarf an dauernden Gutsarbeitern zu decken, und es fragt sich, welches rechtliche Verhältnis hierfür als geeignet zu betrachten ist, nachdem, wie sich auch in Mecklenburg zeigt, das bisherige Instverhältnis der Auflösung entgegengeht. Darüber können wir einige Andeutungen den Zuständen des nordwestlichen und nördlichen Tieflandes westlich der Elbe entnehmen, welchen wir uns jetzt zuwenden. Wir finden zunächst in der Provinz Sachsen und dem östlichen Hannover neben der festgefugten, aber äußerst verwickelten Besitzschichtung in den Dörfern, wo eine sehr große Zahl mit besonderen Namen bezeichneter Kategorien von Kleinstellenbesitzern neben den Bauern sitzen, auf den Gütern Modifikationen und Abarten des ostelbischen Gutstagelöhner-Verhältnisses in mannigfachster A r t , wobei k die Arbeiter teils auf dem Gut, teils auf eigenem Besitze wohnen und teils auf Dresch-Tantieme neben Tagelohn, teils auf Deputat und Jahreslohn, teils auf bloßen Tagelohn neben Landanweisung gestellt sind. Uns interessieren wesentlich zwei Typen des Kontraktarbeiter-Verhältnisses: das der westfälischen „Heuerlinge" und die eigentümliche Gestaltung, welche das Instverhältnis in Teilen Ostholsteins auf den großen Gütern angenommen hat. Die Heuerlinge sind eine Kombination von Kleinpächtern und Arbeitern, welche sich speziell auf den großen, geschlossen vererbten bäuerlichen Einzelhöfen des Nordwestens findet. D e r Heuerling pachtet vom Bauern Land und Kothe gegen geringere Pacht und leistet dagegen Arbeit in einer bestimmten Anzahl von Tagen gegen geringen oder keinen Lohn. D e r Gedanke ist: der Bauer hilft dem Heuerling mit dem Gespann bei der Feldbestellung, dieser dem Bauern mit der Sense in der Ernte und mit dem Flegel im Winter. Die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden da, wo dies Verhältnis besteht, als ausnehmend günstig geschildert. D e r Heuerling fühlt sich nicht an die Scholle gefesselt und doch verbindet ihn ein festes Band der Arbeits- und Interessengemeinschaft mit seinem Arbeitgeber, von welchem ihn keine erhebliche soziale Kluft trennt. Dies letztere sehr wesentliche Moment verhindert, daß man dies Verhältnis ohne weiters auf die großen Güter des Ostens übertragen

k A: woher

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könnte. Allein sehr wohl könnte in Frage kommen, ob nicht der Grundgedanke verwertbar wäre. Dieser Grundgedanke nämlich findet sich in modifizierter Art auch in dem Land- und Feldinstenverhältnis1, wie es im östlichen Holstein auf den großen Gütern zu finden ist. Dort haben sich die früher unterthänigen Bauern in Zeitpächter des Grundherrn verwandelt, und neben ihnen finden sich die alten Instleute, ebenfalls in Zeitpächter verwandelt. Die Bauern sind, wenn Gutsherren, verpflichtet^] ihnen ihr Land zu bestellen, sie - die Insten - ihrerseits sind zur Arbeit auf dem Gut gegen Tagelohn und Dreschanteil gehalten, die Frau hat eventuell in der Ernte mitzuhelfen; die Pacht wird auf den m Lohn angerechnet. Die Naturalien an Land und Weide, welche gegen die Pacht gewährt werden, sind erhebliche, aber nicht größer, als daß im allgemeinen die Familie die Arbeiten außer der dem Bauern obliegenden Feldbestellung besorgen kann, wenn der Mann Sonntags im Sommer hilft. Man sieht: das wesentliche ist der Ersatz der Scharwerkergestellung, welche im ganzen Osten mehr und mehr zur Unmöglichkeit wird, durch Zahlung einer Pacht, und die Verpachtung fest abgegrenzten Bodens statt des mit der Schlageinteilung des Gutes wechselnden Deputatlandes der östlichen Insten, wo der Gutsherr vom Dung der Instleute die zweite Frucht nimmt. Diese Umgestaltung ist durchaus rationell. Fällt die Scharwerkerhaltung weg, so kann der Gutsherr unmöglich die vollen Emolumente im bisherigen Umfang ohne Entschädigung weiter gewähren, andrerseits gefährdet eine Einschränkung den Haushalt der Familien schwer; das alte Instverhältnis war deshalb rationell, weil mehrere Arbeitskräfte aus einer Familienwirtschaft heraus gestellt wurden, das Moment des Familienhaushaltes und der dadurch ermöglichten billigen Ernährung ausgenützt wurde. Fällt das hinweg, so ist auch das Verhältnis selbst nicht in der bisherigen Art zu halten. Die ostholsteinische Gestaltung zeigt, wie ein Ersatz geschaffen werden kann: durch sachgemäße Entwicklung eines Arbeiter-Pachtverhältnisses. Jene bäuerliche Kolonisation einerseits, Verwandlung der Instleute in Kleinpächter andrerseits scheint also die Möglichkeit einer Weiterentwicklung im Osten darzustellen, welche dem bestehenbleibenden Großgrundbesitz Erlangung der unentbehrlichen Arbeits-

I A: Feldinsterverhältnis

m A: dem

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kräfte ermöglichen würde. - Ist es aber nicht vielleicht rationeller, noch radikaler vorzugehen und geradezu die Ausrottung des Großbesitzes und seinen Ersatz durch eine Verteilung des Bodens, wie wir sie im Süden und Westen finden, als Ziel in Aussicht zu nehmen? Wird damit nicht auch die ländliche Arbeiterfrage einfach und radikal gelöst? U m dies zu beantworten, werden wir die süd- und westdeutschen Verhältnisse einschließlich Thüringens und Hessens betrachten müssen. Vorher aber ist noch ein Blick auf zwei Gebiete zu werfen, welche den Einfluß besonders einschneidender wirtschaftlicher Veränderungen auf die ländliche Arbeiterverfassung erkennen lassen: Das westfälisch-rheinische Kohlen- und Industriebecken einerseits, der sächsische Städtedistrikt n andrerseits. Auf diese beiden charakteristischen Gebiete kommen wir im nächsten Artikel, welcher den Schluß dieser Serie bildet, zunächst zu sprechen. |

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VI. (Schluß.) Als diejenigen Umstände, welche die ländliche Arbeitsverfassung am gründlichsten zersetzen, wurden einerseits die Nähe der Industrie, andrerseits die intensive Rübenwirtschaft schon erwähnt. Beide thun dies in verschiedener Art. Die Industrie, die bei großem und schnellerem Umsatz ihres Kapitals Geldlöhne mit Leichtigkeit zahlen kann, welche aufzubringen der Landwirtschaft unmöglich sein würde, entfremdet die einheimische Arbeiterschaft, welche eben den Geldlohn, der ihr die große Unabhängigkeit und Beweglichkeit gibt, naturgemäß selbst den günstigsten Natural-Lohnbedingungen vorzieht, dauernd der ländlichen Arbeit. Die Rübenkultur dagegen und jede ähnliche ihr gleichartige Betriebsart - steigert nur die Differenz des Bedarfs an Arbeitern im Sommer und im Winter, und führt dazu, daß die ständig das ganze Jahr über beschäftigten Arbeiter einen immer kleineren Bruchteil der Arbeitskräfte überhaupt ausmachen. Diese beiden Erscheinungen können wir im rheinischwestfälischen Kohlenrevier einerseits und in den westlichen Teilen der Provinz Sachsen andrerseits beobachten.

n A: Städtedistrickt

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In den Berg- und Industriebezirken Westfalens ist vielfach der einheimische ländliche Arbeiterstand so gut wie verschwunden. D i e Bauern behelfen sich mit Gesinde und Wanderarbeitern, ständig werden jugendliche Personen aus den östlichen Provinzen herangezogen, nach kurzer Durchgangszeit gehen sie zum Bergbau mit seiner kurzen Arbeitszeit und hohen Löhnen über. Nur die unbrauchbarsten Arbeitskräfte bleiben auf dem Lande. Von einer eigentlichen „Arbeitsverfassung" des Landes kann kaum gesprochen werden, die gänzlich besitzlosen, kontraktlich nicht gebundenen Lohnarbeiter bilden weitaus die Mehrzahl der Arbeiterschaft. In den intensiv bewirtschafteten Gebieten der Provinz Sachsen, Braunschweigs und Südhannovers ist die alte einheimische Arbeitsverfassung, die im wesentlichen der des Ostens gleichartig war, gleichfalls im Zerfall begriffen. A n Stelle der Einzelkathen der alten Drescherfamilien oder doch daneben treten die großen Kasernements der Wanderarbeiter, welche für den Sommer zur Rüben- und jetzt auch schon zur Getreide-Arbeit in Trupps durch Agenten angeworben werden. Mit dem Beginn des Frühjahrs sieht man diese Völkerwanderung, aus den vier östlichen Grenzprovinzen allein etwa 120000 Menschen, sich in den wohlbekannten SachsengängerZügen durch Berlin ergießen, 24 im Spätherbst kommen sie truppweise wieder zurück. Zahlreiche Millionen Mark an ersparten Löhnen werden durch die Post den Sommer über in die Heimat befördert und nicht unbeträchtlich sind auch die Summen, die sie - wenigstens die leidlich Tüchtigen unter ihnen - im Herbst mit nach Hause bringen, um nun einige Monate „Ferien" zu machen. D i e unerfreuliche Seite der Erscheinung und ihre sittlichen Bedenken brauchen hier nicht besonders hervorgehoben zu werden, ihnen steht gegenüber, daß die Abwanderung zum sehr großen Teil aus Gebieten erfolgt, welche die einheimischen Arbeitskräfte nicht beschäftigen und ernähren können, und daß immerhin auch manche Gewohnheiten der in der Kultur höher stehenden westelbischen Gegenden nach dem Osten mitgenommen werden mögen. Werfen wir schließlich noch einen kurzen Blick auf die Verhältnisse des Südens und Westens, so sind diese außerordentlich mannigfal-

24 Karl Kaerger schätzte 1893 die Zahl der Wanderarbeiter östlich der Oder auf weit über 100000. Kaerger, Karl, Sachsengängerei, in: H d S t W 5 1 , 1 8 9 3 , S.474.

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tig in der Einzelgestaltung, derart, daß ihre Darstellung hier nicht unternommen werden kann. Einige wesentliche Züge gehen immerhin durch. Zunächst der regelmäßige Mangel großer Güter; es sind stets nur wenige Procent der Bodenfläche in ihrer Hand, so daß ihre Arbeitsverfassung keine Rolle spielt. Die demnach weitaus vorherrschenden Bauerngüter und die Bodenbesitzverteilung überhaupt haben zweierlei Charakter. Entweder - so z. B. in Teilen von Lothringen, Bayern, auf den schwäbischen und badischen Höhen, wo eine Parzellenwirtschaft nicht existenzfähig wäre - liegen größere geschlossene Bauernhöfe bei einander, welche Getreidebau und Viehzucht kombiniert betreiben und neben Gesinde auch eine Anzahl verheirateter Knechte halten, nur bei Gutsschlächtereien parzelliert werden und die Besitzer nicht allzuhäufig wechseln. Oder - so in großen Teilen der Rheinebene, den Weingegenden und überhaupt weiten Gegenden des Südens - der Boden ist parzelliert, wird weiter parzelliert, geht von Hand zu Hand, die Wirtschaften werden, dem französischen Recht gemäß, im Erbgang geteilt, 25 zahlreiche winzige Parzellenbesitzungen liegen zwischen mittleren und kleineren Bauern, entstehen neu und verschwinden wieder, Wein-, Tabak- und Handelsgewächsbau wird neben Körner- und Hackfruchtbau betrieben. Hier findet eine scharfe Scheidung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf dem Lande nur teilweise statt. Die kleinen Besitzer, welche ihre Nahrung nicht voll finden, gehen einige Wochen oder Monate auf Lohnarbeit, die größeren bedürfen nur zeitweise der Aushilfe. Kontrakte gibt es, außer mit dem Gesinde, welches teilweise nur noch auf Wochenlohn dient, nicht, beide Teile fühlen sich als gleichberechtigt, während im Norden die Frage des „Duzens" oder „Siezens" allmählich dahin gelöst wird, daß nicht nur der Arbeiter den Arbeitgeber, sondern auch umgekehrt dieser jenen mit „Sie" anredet, löst sie sich hier dahin, daß nicht nur der Arbeiter vom Arbeitgeber, sondern auch jener von diesem geduzt wird. Die Mehrzahl der Arbeiter ist angesessen und kauft, wenn die Verhältnisse günstig sind, Fetzen um Fetzen Land, oft unter hoher Verschuldung, 25 In Frankreich war seit der Französischen Revolution die Realteilung, „partage f o r c é " , vorgeschrieben. Diese Regelung wurde in d e n C o d e Civil Napoleons ü b e r n o m m e n und galt in Deutschland nach 1815 in den linksrheinischen G e b i e t e n s o w i e d e m ehemaligen G r o ß h e r z o g t u m Berg und d e m G r o ß h e r z o g t u m Baden. Vgl. Miaskowski, A u g u s t von, Das Erbrecht und die G r u n d e i g e n t h u m s v e r t e i l u n g im Deutschen Reich (Schriften des Vereins für Socialpolitik 20). - Leipzig: Duncker & H u m b l o t 1882, S. 2 2 5 - 2 2 7 .

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an. Sie verlangen, daß die Arbeitsleistung möglichst als nachbarliche Gefälligkeit angesehen werde. Die Not der verschuldeten kleinen Besitzer ist oft sehr hart, die Arbeiternot der größeren nicht minder, aber eine „ländliche Arbeiterfrage" in dem Sinn wie im Osten exi5 stiert trotzdem hier nicht, weil ein starkes rein ländliches besitzloses Proletariat und ein starker, sich aus sich heraus ergänzender Tagelöhnerstand nicht besteht. Der Procentsatz der Tagelöhner-Haushaltungen unter der Gesamtheit aller Haushalte steigt im Osten bis auf über 30pCt. (Mecklenburg) und sinkt im Süden bis auf ßVipCt. 10 (Schwaben), also den zehnten Teil.26 Einer radikalen Betrachtungsweise könnte es deshalb scheinen, als ob diese Art der Grundbesitz-Verteilung, speziell | die durchgän- A 148 gige Beteiligung der Arbeiter am Bodenbesitz^,] das einfachste und geeignetste Heilmittel der sozialen Schwierigkeiten auf dem Lande 15 auch im Osten sein würde, und als ob also die innere Kolonisation, deren Besprechung wir im übrigen einer selbständigen Erörterung vorbehalten 27 - sich, um eine Lösung auch der Landarbeiterfrage, wie sie es will, anzubahnen, ein derartiges Ziel in letzter Linie zu stecken habe. Angenommen selbst, es sei eine solche Zertrümme20 rung alles in größeren Komplexen bewirtschafteten Areals in einer irgend absehbaren Zeit und unter Zuhilfenahme entsprechend gewaltsamer Mittel durchführbar, so wäre sie doch keine Lösung, welche speziell, - worauf es uns hier ankommt, - vom Arbeiterstandpunkte aus zu wünschen wäre. Der geschilderte Zustand wäre auch 25 im Süden für die kleinen Besitzer und für die grundbesitzenden Arbeiter ein schlechthin unerträglicher, wenn eben nicht die Beweglichkeit des Bodens damit verbunden wäre, welche im allgemeinen den Arbeitern die Möglichkeit bietet, jederzeit durch Verkauf oder Verpachtung sich ihres Besitzes zu entledigen oder umgekehrt zu30 kaufend oder zupachtend in den Bauernstand aufzusteigen. Ohne diesen Grundstücksverkehr hätten wir in diesen Kleinbesitzern ein an die Scholle gefesseltes grundbesitzendes Proletariat schlimmster Art, an dessen Entstehung die Zustände schon jetzt gelegentlich heranstreifen. Eine solche Beweglichkeit des Bodens aber läßt sich

26 Vgl. Grohmann, Statistik, S. 445 und 446. Im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben waren 3,24 Prozent der Haushaltungen Tagelöhnerhaushaltungen. Ebd., S. 446. 27 Weber bezieht sich auf seine Rezension „Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten", unten, S. 2 2 3 - 2 2 8 .

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Die Erhebung des Vereins für

Sozialpolitik

im Osten, so lange dort nicht eine intensive gewerbliche Entwicklung entsteht und einen starken Zufluß von Geldmitteln mit sich bringt, nicht künstlich herbeiführen. - Frage man, welche Verteilung des Grundbesitzes dem Interesse der Landarbeiter unter den jetzt obwaltenden Umständen dabei am günstigsten ist, so kann nur die glückliche Mischung größerer, mittlerer und kleinerer Besitzungen, welche das nördliche Westfalen, Hannover, Schleswig-Holstein und Sachsen, als Einheit betrachtet, darstellen, als erstrebenswert angesehen werden, unter der einen Voraussetzung, daß durch einen energischen Fortgang der inneren Kolonisation und Schaffung geeigneter kleinbäuerlicher Stellen, den höchststehenden Elementen der Arbeiterschaft ein Aufsteigen in den Bauernstand ermöglicht wird. Der einzige Vorzug, den der Süden und Westen vom Standpunkt der Arbeiter aus haben, ist diese Möglichkeit, welche in gleicher Art im Osten bisher nicht vorhanden ist. Mag der Procentsatz derjenigen Arbeiter, welche thatsächlich dazu gelangen, ein bäuerliches Rentengut zu übernehmen, ein noch so geringer sein, es genügt, daß die Schranke nach oben, die jetzt besteht, beseitigt und die Vorstellung der Möglichkeit, in der Heimat selbständig zu werden, erweckt ist. Auch die Zahl derer, die im Auslande und in der Industrie thatsächlich die erträumte Unabhängigkeit finden, ist eine relativ geringfügige, nur die Vorstellung davon ist das, was heute die Auswanderung und den Abzug vom Lande bewirkt. Illusionen gehören zum täglichen Brot der Menschen, und hier handelt es sich nicht um die Erweckung einer unerfüllbaren Hoffnung, um eine bewußte Täuschung des gewaltigen Sehnens der Landarbeiter nach Freiheit und eigenem Brot, sondern darum, daß dadurch, daß ein wenn auch nicht großer Teil thatsächlich zu dieser Selbständigkeit gelangt, der gesamte Stand in seinen eigenen Augen und auch gegenüber den besitzenden Klassen auf dem Lande gehoben und mit dem Boden der Heimat verknüpft wird. Ich habe schon hervorgehoben, daß der Plan, den „Landhunger" der Arbeiter durch Ansiedlung auf Arbeiterstellen zu befördern, eine Erfüllung des Strebens der Arbeiter nicht enthält und nur die Ausnahme bei besonders günstigen Verhältnissen bilden darf. Ebenso habe ich schon angedeutet, daß die Ansetzung der Arbeiter als Pächter auf fest abgegrenztem Lande mit starker Weidenutzung oder Gewährung von Viehfutter als Ersatz für das Instverhältnis (Pachtzahlung statt Gestellung des Scharwerkers) und auch als Form der

Die Erhebung

des Vereins für

Sozialpolitik

153

„Seßhaftmachung" der Gutsarbeiter mir° die größte Zukunft zu haben scheint. Die Domänen können mit Versuchen darin vorangehen, und dem Vernehmen nach liegt dies auch in der Absicht der Domänenverwaltungen. 5 Da ich im übrigen hier nur über die Ergebnisse der Enquete kurz referieren, nicht aber praktische Vorschläge machen sollte und wollte, beschränke ich mich schließlich auf die Wiederholung meiner in der Versammlung des Vereins für Sozialpolitik ausgesprochenen Überzeugung, 28 daß ohne Ausschluß der ausländischen russisch10 polnischen Arbeiter eine Hebung unserer Kultur im Osten auf dem Lande und ein wirksamer Schutz des Deutschtums ebensowenig möglich sein werden wie eine gesunde Lösung der ländlichen Arbeiterfrage.

O A: nie

28 Gemeint ist Webers Referat über „Die ländliche Arbeitsverfassung" auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitikam 20. März 1893, unten, S. 1 6 5 - 1 9 8 .

Wie werden einwandfreie Erhebungen über die Lage der Landarbeiter angestellt?

Editorischer Bericht Zur

Entstehung

In der ersten Folge seiner Artikelserie „Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter" 1 hatte Max Weber auf die im Sommer 1892 vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses beschlossene Erhebung über die Lage der Landarbeiter hingewiesen, bei der, im Unterschied zu der Enquete des Vereins für Socialpolitik, nicht die Arbeitgeber, sondern die Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter befragt werden sollten. In Reaktion auf Webers Artikel meldete sich, ebenfalls in der Zeitschrift Das Land, ein schlesischer Arzt, der Kreisphysikus Richter aus GroßWartenberg bei Breslau, mit dem Vorschlag zu Wort, statt für Landgeistliche „einen Fragebogen für Landärzte anzufertigen und zu v e r s e n d e n " . Es gäbe, so der Verfasser, nur einen Stand, „ d e m der gewöhnliche Mann aus dem Volke sich gibt, wie er gewachsen ist; das ist der ärztliche. Darum ist jeder tüchtige Arzt ein berufener, wo nicht der allerberufenste Sozialpolitiker."2 Weber nahm zu dem Vorschlag, eine Erhebung über die Lage der Landarbeiter unter den Landärzten zu veranstalten, in der nächsten Nummer der Zeitschrift Das Land Stellung, in der auch die vierte Folge seiner Artikelserie „ Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter" erschien.

1 In: Das Land. Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande, Nr. 1 vom 1. Jan. 1893, S.8f.; oben, S. 1 2 3 - 1 2 7 , bes. S. 126. 2 Nr. 3 vom 1. Febr. 1893, S.45.

Editorischer Bericht Zur Überlieferung

und

155 Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Wie werden einwandfreie Erhebungen über die Lage der Landarbeiter angestellt?", in: Das Land. Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande, hg. von Heinrich Sohnrey, Berlin, Nr. 4 vom 15. Februar 1893, S. 59f., erschienen ist (A). Der Text ist gezeichnet mit „Charlottenburg. Dr. Max Weber."

Wie werden einwandfreie Erhebungen über die Lage der Landarbeiter angestellt?

Ich möchte nicht unterlassen, auch meinerseits meine Freude über die in der letzten Nummer von ärztlicher Seite gegebene Anregung auszusprechen. 1 Es muß erwogen werden, wie derselben Folge gege- 5 ben werden kann. Die Zahl der Landärzte ist eine gewaltige, und wohl nur ein kleiner Bruchteil wäre zur Beantwortung von Fragebogen bereit. Die Versendung von einigen Tausenden solcher kostet aber beträchtliches Geld. Aber eine Äußerung gerade dieser Kreise wäre speziell für die hygienische (Wohnungs- und Volksernährungs-) 10 Frage das denkbar Erwünschteste. Vielleicht werden noch näher präzisierte Vorschläge gemacht. - Die inzwischen durch Versendung von 15000 Fragebogen an Geistliche ins Werk gesetzte Erhebung des Evangelisch-Sozialen Kongresses scheint erfreuliche Resultate zu zeitigen. Es ist eine Anzahl geradezu mustergültiger Berichte, ohne 15 Breite und doch umfassend und sorgfältig präzisiert, eingelaufen. 2 A 60 Der | Erfolg hängt davon ab, wie viel derartige Arbeiten weiter eingehen werden. Dies zur vorläufigen Nachricht.

1 Vgl. oben, S. 154, Anm.2. 2 Der Fragebogen war im Januar 1893 verschickt worden; bis März 1893 wurden 5 - 6 0 0 beantwortete Fragebögen an den Evangelisch-sozialen Kongreß zurückgesandt (vgl. die Angabe Webers, unten, S. 166; diese Zahl erhöhte sich bis Juni 1893 auf 1000 (vgl. die Angabe Webers, unten, S. 706).

Die ländliche Arbeitsverfassung [Referat und Diskussionsbeiträge auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 20. und 21. März 1893]

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Der Verein für Socialpolitik hatte vom Dezember 1891 bis Februar 1892 eine umfassende Enquete über „Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland" durchgeführt. Für die wissenschaftliche Auswertung der Ergebnisse war eine ganze Reihe von Wissenschaftlern gewonnen worden, denen jeweils bestimmte geographische Regionen zur Bearbeitung übertragen wurden; 1 Max Weber hatte den politisch wie wissenschaftlich schwierigsten Part übernommen, nämlich die Bearbeitung der ostelbischen Gebiete Deutschlands. Bereits am 13. März 1892, also unmittelbar nach dem Abschluß der Befragungsaktion und dem Beginn der Arbeiten an der Auswertung des Enquetematerials, beschloß der Ausschuß des Vereins, die Ergebnisse auf der im Herbst anstehenden Generalversammlung zur Diskussion zu stellen. Nicht zufällig sollte diese Generalversammlung in Posen stattfinden, also in jener Stadt, in der die sogenannte preußische Ansiedlungskommission residierte. Als Themen wählte man 1. die ländliche Arbeiterfrage und die Binnenwanderungen innerhalb Deutschlands, sowie 2. die Bodenbesitzverteilung und die Sicherung des Kleingrundbesitzes. 2 Es ist leicht zu sehen, daß diese Probleme aufs engste miteinander verknüpft waren; die zunehmende Abwanderung eines erheblichen Teils der ländlichen Arbeiterschaft in die industriellen Regionen insbesondere Sachsens, Berlins, Hamburgs und des rheinisch-westfälischen Industriegebiets und die dadurch ausgelöste „Leutenot" vor allem in den Gebieten mit vorwiegender Großgüterwirtschaft standen offenbar in unmittelbarem Zusammenhang mit der gedrückten sozialen Lage von Teilen der ländlichen Unterschichten. Gleiches galt von der Bodenbesitzverteilung; insbesondere der Rückgang des bäuerlichen Kleinbesitzes und das Verschwinden der Bauerndörfer in den Gebieten mit vorwiegender Großgüterwirtschaft hatten zu dem verbrei1 Riesebrodt, S. 1 8 - 2 4 . 2 „Bericht über die Sitzung des Ausschusses des Vereins für Socialpolitik. Berlin, 13. März 1892", ZStA Merseburg, Verein für Socialpolitik, Rep. 196, Nr. 66, Bl. 2.

158

Die ländliche Arbeitsverfassung

teten Mangel an ländlichen Arbeitskräften beigetragen. Seit 1886 hatte der preußische Staat in den ostelbischen G e b i e t e n Preußens eine großangelegte Ansiedlungspolitik eingeleitet, die d e m Ziel galt, den polnischen Bevölkerungsteil z u r ü c k z u d r ä n g e n oder doch z u m i n d e s t den durch z u n e h m e n d e A b w a n d e r u n g s t e n d e n z e n g e s c h w ä c h t e n Bestand der d e u t s c h e n B e v ö l k e r u n g zu stärken. Die A n s i e d l u n g s k o m m i s s i o n war darum bemüht, unter Einsatz erheblicher Kapitalien in g r o ß e m Stil polnischen G r o ß g r u n d besitz aufzukaufen, zu parzellieren und auf den so g e w o n n e n e n Ländereien d e u t s c h e Bauerngüter zu b e g r ü n d e n . Diese B e s t r e b u n g e n konnten freilich die weitere A b w a n d e r u n g von Teilen der ländlichen Unterschichten und die A n s i e d l u n g von polnischen Landarbeitern e b e n s o w e n i g wie den Rückgang des selbständigen Kleinbesitzes aufhalten, ganz a b g e s e h e n davon, daß die Polen dazu ü b e r g e g a n g e n waren, durch G r ü n d u n g eigener Landbanken den Verkauf insolventen polnischen G r u n d b e s i t z e s an die A n s i e d l u n g s k o m m i s s i o n nach Möglichkeit zu verhindern. Den Ergebnissen der Enquete über die Lage der ländlichen Arbeiterschaft kam d e m g e m ä ß erhebliche politische B e d e u t u n g zu. Gleiches gilt für die Analyse der Ursachen der B i n n e n w a n d e r u n g , die zu großen Schwierigkeiten für die Landwirtschaft geführt hatte. Dies alles w u r d e zusätzlich überschattet von den V o r b o t e n einer s c h w e r e n Agrarkrise; die n u n m e h r auch auf den d e u t s c h e n Binnenmarkt drängende ü b e r s e e i s c h e Konkurrenz, die vergleichsweise w e s e n t lich kostengünstiger zu produzieren in der Lage war, konnte durch die Außenzölle nur in b e g r e n z t e m Maße abgefangen w e r d e n . Es kam infolged e s s e n zu e i n e m fortschreitenden Preisverfall für Getreide. In der deuts c h e n Öffentlichkeit w u r d e erbittert über das Für und Wider der Wirtschaftspolitik Caprivis gestritten, die in erster Linie auf die Förderung einer exportorientierten Industriewirtschaft setzte. Die Agrarier ihrerseits eröffneten eine systematische Agitation z u g u n s t e n des S c h u t z e s der Landwirtschaft mit Hilfe hoher Schutzzölle und anderer flankierender Maßnahmen, durch die die Agrarpreise von j e n e n des internationalen Marktes abgekoppelt und auf h o h e m Niveau stabilisiert w e r d e n sollten. Die b e v o r s t e h e n d e n V e r h a n d l u n g e n des Vereins für Socialpolitik über die Lage der Landarbeiterschaft und die damit v e r k n ü p f t e n Fragen der deuts c h e n Agrarverfassung betrafen also höchst aktuelle gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Fragen, deren politische B e d e u t u n g j e d e r m a n n vor A u g e n stand. Es war unzweifelhaft ein w e s e n t l i c h e s Ziel des Vereins für Socialpolitik, mit seinen Forschungen den politischen Instanzen bei ihren künftigen Entscheidungen wissenschaftliche Hilfestellung zu geben. Ende April oder Anfang Mai 1892 wandte sich Gustav Schmoller, der Vorsitzende des Vereins, an Max W e b e r mit d e m Ersuchen, auf der für den Herbst 1892 v o r g e s e h e n e n G e n e r a l v e r s a m m l u n g eines der Hauptreferate über die Ergebnisse der Enquete über die Lage der Landarbeiter in

Editorischer

Bericht

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Deutschland zu ü b e r n e h m e n . Dabei hat offenbar eine Rolle gespielt, daß ein Vortrag von Ende April/Anfang Mai 1892 z u m gleichen Gegenstand, den Max W e b e r in der „Staatswissenschaftlichen V e r e i n i g u n g " in Berlin gehalten hatte, ein überaus günstiges wissenschaftliches Echo g e f u n d e n hatte. 3 Max W e b e r dankte Schmoller für dieses, bei Lage der Dinge - W e b e r war erst frisch habilitiert - höchst ehrenvolle Angebot, wies aber zugleich darauf hin, daß sich Karl Kaerger, der die n o r d w e s t d e u t s c h e n Gebiete der Enquete bearbeitete und damals Privatdozent an der Landwirtschaftlichen H o c h schule in Berlin war, m ö g l i c h e r w e i s e ü b e r g a n g e n fühlen könnte. 4 O b w o h l Max W e b e r sich, wie er später rückblickend an Lujo Brentano schrieb, „dazu w e n i g berufen und qualifiziert f ü h l t e " , 5 ü b e r n a h m er dann doch die ihm angetragene Aufgabe. A m 1. Juli 1892 lud der Verein für Socialpolitik in einem R u n d s c h r e i b e n an seine Mitglieder zu der für den 30. S e p t e m b e r und 1. Oktober 1892 in Posen a n b e r a u m t e n G e n e r a l v e r s a m m l u n g ein. In d i e s e m Schreiben w u r d e Max W e b e r nach Georg Friedrich Knapp als zweiter Referent für einen „Bericht über die Enquete" genannt. 6 Allerdings mußte die G e n e r a l v e r s a m m l u n g w e g e n des A u s b r u c h s der Cholera in Posen w e n i g später kurzfristig abgesagt und ein neuer Termin festgelegt w e r d e n . A n einer zu d i e s e m Z w e c k nach Berlin e i n b e r u f e n e n V o r b e s p r e c h u n g am 27. D e z e m b e r 1892 nahm neben Gustav Schmoller, Otto Gierke, Max Sering und Hugo Thiel auch Max W e b e r teil. Als neuer Termin für die G e n e r a l v e r s a m m l u n g w u r d e n u n m e h r der 20. und 21. März 1893 in Berlin ins A u g e gefaßt. 7 Dieser Vorschlag w u r d e anschließend v o m A u s s c h u ß des Vereins z u m Beschluß e r h o b e n . 8 Nur w e n i g e Tage zuvor, am 17. D e z e m b e r 1892, war Max W e b e r s Unters u c h u n g über „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen D e u t s c h l a n d " als Band 55 der Schriften des Vereins für Socialpolitik im Druck e r s c h i e n e n . 9 Sie fand i n s b e s o n d e r e bei G e o r g Friedrich Knapp, d e m Altmeister der agrarwissenschaftlichen Forschung in Deutschland, uneingeschränkte A n e r k e n n u n g . Er erklärte daraufhin d e m Vorsitzenden Gustav Schmoller, daß er bereit sei, seinerseits z u g u n s t e n Max W e b e r s zurückzutreten; man m ö g e d i e s e m allein das einleitende Referat über die Enquete übertragen. 1 0

3 Vgl. unten, S. 908. 4 Brief an Gustav Schmoller, undat. [vor dem 31. Mai 1892], ZStA Merseburg, Verein für Socialpolitik, Rep. 196, Nr. 67, Bl. 170f. 5 Brief an Lujo Brentano vom 2[5]. Febr. 1893, BA Koblenz, Nl. Brentano, Nr. 67. 6 ZStA Merseburg, Verein für Socialpolitik, Rep. 196, Nr. 37, Bl. 97. 7 Notiz Gustav Schmollers vom 9. Jan. 1893, ebd., Nr. 38, BI.9. 8 Ebd. 9 Riesebrodt, S. 25. 10 Brief Georg Friedrich Knapps an Gustav Schmoller vom 22. Dez. 1892, ZStA Merseburg, Verein für Socialpolitik, Rep. 196, Nr. 37, Bl. 31.

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Die ländliche

Arbeitsverfassung

Schmoller hat diesen Vorschlag j e d o c h offensichtlich nicht aufgegriffen. 1 1 D e m g e m ä ß kam Max W e b e r nicht als erster Redner zu Wort. Es ist ein Z e i c h e n für die große Wertschätzung, die ihm von seiten der f ü h r e n d e n Mitglieder d e s Vereins e n t g e g e n g e b r a c h t wurde, daß er am f o l g e n d e n Tage, am 21. März 1893, in den A u s s c h u ß des Vereins, d e s s e n Mitgliedschaft verdienten Gelehrten vorbehalten war, kooptiert w u r d e . 1 2 A m 20. März 1893 eröffnete Gustav Schmoller die G e n e r a l v e r s a m m lung. 1 3 Er bezeichnete die ländliche Arbeiterfrage und die Frage nach d e m Erhalt des Bauernstandes als zentral für die soziale Zukunft des D e u t s c h e n Reiches und unterstrich nachdrücklich die Aufgabe des Vereins für Socialpolitik, unparteiisch die zur Diskussion s t e h e n d e n Fragen zu behandeln. Nach der Eröffnung hielt Knapp, wie geplant, den Einleitungsvortrag. 1 4 Er gab zunächst einen kurzen Überblick über die g e s a m t e Durchführung und A u s w e r t u n g der Landarbeiterenquete. Dann beschränkte er sich darauf, die unterschiedlichen Arbeitsverfassungen im Norden Deutschlands, d . h . Westfalen, Niedersachsen und den G e b i e t e n östlich der Elbe, miteinander zu vergleichen. A m Schluß seines Vortrags gab er der Hoffnung A u s d r u c k , die staatliche Kolonisationstätigkeit m ö g e intensiviert w e r d e n , um d e m kleineren landwirtschaftlichen Betrieb n e b e n d e m großen wieder mehr Chancen zu g e b e n . In A b w e i c h u n g von d e m P r o g r a m m 1 5 referierte anschließend der Statistiker G e o r g v o n Mayr über die d e u t s c h e n B i n n e n w a n d e r u n g e n . 1 6 Er fügte s e i n e m Vortrag neueste Aufstellungen bei, die auf Veranlassung des preußischen Ministeriums des Innern seit 1891 über die W a n d e r b e w e g u n g e n in den Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien angefertigt

11 Dies geht aus einer Mitteilung Georg Friedrich Knapps an Gustav Schmoller vom 12. Jan. 1893 hervor. Ebd., Nr. 38, BI.75. 12 „Bericht über die Sitzungen des Ausschusses des Vereins für Socialpolitik. Berlin, 1893, 19. März nachmittags 4, 21. März abends 6Uhr.", ebd., Nr.67, BI.3. Vgl. auch: Boese, Franz, Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872-1932 (Schriften des Vereins für Sozialpolitik 188). - Leipzig: Duncker & Humblot 1939, S. 69. Boese spricht von der „erstmaligen Kooptation" Max Webers. 13 Verhandlungen der am 20. und 21. März 1893 in Berlin abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik über die ländliche Arbeiterfrage und über die Bodenbesitzverteilung und die Sicherung des Kleingrundbesitzes (Schriften des Vereins für Socialpolitik 58). - Leipzig: Duncker & Humblot 1893, S . 2 - 5 . Vgl. auch Boese, Geschichte, S. 67-69. 14 Verhandlungen, S. 6 - 2 3 . 15 Ursprünglich sollte Max Weber unmittelbar nach Knapp sprechen (siehe die Programme der Posener und Berliner Tagung: ZStA Merseburg, Verein für Socialpolitik, Rep. 196, Nr. 37, Bl. 97, und Nr. 38, Bl. 14), tauschte dann aber mit Georg von Mayr. Vgl. Verhandlungen, S. 23. 16 Verhandlungen, S. 24-35.

Editorischer

Bericht

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w o r d e n waren. Zugleich wies er aber auf den noch m e t h o d i s c h ungesicherten Status der amtlichen Statistik über B i n n e n w a n d e r u n g e n hin. Nach einer kurzen Unterbrechung, in der Geschäftliches zur Behandlung stand, w u r d e Max W e b e r dann das Wort für seinen Vortrag über „ D i e ländliche Arbeitsv e r f a s s u n g " erteilt. 1 7 Die Reihe der Vorträge w u r d e durch ein Referat des Agrarhistorikers Pontus Fahlbeck aus Lund über die s c h w e d i s c h e n Landarbeiterverhältnisse beschlossen.18 In der anschließenden Debatte meldete sich zuerst der mit der Sozialdemokratie s y m p a t h i s i e r e n d e Journalist Max Quarck zu Wort, 1 9 der das Verfahren der Enquete, nur die A r b e i t g e b e r zu befragen, scharf angriff. Er warf Max W e b e r und Karl Kaerger, d e m Bearbeiter der Enquete für N o r d w e s t deutschland, vor, daß sie ungeachtet einer u n z u r e i c h e n d e n Materialbasis äußerst w e i t r e i c h e n d e S c h l ü s s e g e z o g e n hätten. Es sei b e z e i c h n e n d für die Unzulänglichkeit des Materials, daß sie dabei zu ganz unterschiedlichen Schlußfolgerungen gelangt seien. Karl Kaerger 2 0 w i e s im Anschluß daran diesen Vorwurf zurück, da es doch schließlich auf die jeweiligen Standpunkte a n k o m m e , von d e n e n aus man d e m Material gegenübertrete. Auf das T h e m a Arbeitermangel e i n g e h e n d , schlug Kaerger vor, Eingeborene aus den d e u t s c h e n Kolonien für einige Jahre auf den ostelbischen Gütern arbeiten zu lassen. Der G e o m e t e r und Landwirt A n t o n Ludwig S o m b a r t 2 1 unterstrich g e g e n ü b e r Quarck die Unmöglichkeit, die Landarbeiter selber über ihre Lage zu befragen. Im Hinblick auf Max W e b e r s Darlegungen bezweifelte er, daß es möglich sein w ü r d e , östlich der Elbe einen Arbeiterpächterstand - vergleichbar den Heuerlingen im nordwestlichen Deutschland - zu b e g r ü n d e n . Die Gefahr, die von polnis c h e n Wanderarbeitern für die d e u t s c h e Nationalität im O s t e n gemäß Max W e b e r s Einschätzungen ausgehe, schätze er für gering ein, unter der Voraussetzung, daß die Wanderarbeiter nach e i n e m halben Jahr wieder in ihre Heimat zurückkehrten.

17 Unten, S. 1 6 5 - 1 9 8 . 18 Fahlbecks Beitrag wurde nicht im Rahmen der „Verhandlungen" abgedruckt, sondern in: Hasbach, Wilhelm, Die englischen Landarbeiter in den letzten hundert Jahren und die Einhegungen (Schriften des Vereins für Socialpolitik 59). - Leipzig: Duncker & Humblot 1894, S. 4 0 1 - 4 1 0 . 19 Verhandlungen, S. 8 7 - 9 4 . Es war die erste Tagung des Vereins für Soclalpolltik, zu der auch Sozialdemokraten bzw. der Sozialdemokratie nahestehende Politiker und Publizisten eingeladen worden waren. In diesem Fall handelte es sich um die (späteren) Verfechter eines reformistischen Agrarprogramms: Max Quarck und Bruno Schoenlank. Boese, Geschichte, S. 68. 20 Verhandlungen, S. 9 4 - 9 9 . 21 Ebd., S. 9 9 - 1 0 2 .

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Die ländliche

Arbeitsverfassung

Den B e d e n k e n Sombarts g e g e n ü b e r der Schaffung eines Arbeiterpächterstandes östlich der Elbe schloß sich auch Landrat von W e r d e r aus Halle an. 2 2 Der Nationalökonom J o h a n n e s Conrad wandte g e g e n W e b e r s A u s f ü h r u n g e n ein, daß man die positive Rolle, die der Großgrundbesitz bei der G e r m a n i s i e r u n g des O s t e n s gespielt habe, höher veranschlagen m ü s s e . 2 3 Daraufhin meldete sich der sozialdemokratische Publizist und Politiker Bruno Schoenlank zu Wort. 2 4 Trotz w e i t g e h e n d e r Kritik an W e b e r erklärte er d e s s e n Vorschlag, die G r e n z e n für polnische Wanderarbeiter zu schließen für diskutabel; er forderte jedoch, daß eine solche Einwanderungssperre durch die G e w ä h r u n g des Koalitionsrechts auch für die ländlichen Arbeiter und die Beseitigung der G e s i n d e o r d n u n g v o n 1810 ergänzt w e r d e n m ü s s e . H u g o Thiel, G e h e i m e r Oberregierungsrat im preußischen Landwirtschaftsministerium und Organisator der Erhebung, warf Quarck und Schoenlank vor, daß sie die Lage der Landarbeiter mit der prinzipiell unterschiedlichen Situation der Industriearbeiter gleichsetzten und daher v o n falschen V o r a u s s e t z u n g e n a u s g i n g e n . 2 5 Der Geschäftsführer des Zentralv e r b a n d e s Deutscher Industrieller, Henry Axel Bueck, unterstrich, daß eine S p e r r u n g der G r e n z e n für polnische Wanderarbeiter den größeren Teil der östlichen G r o ß g r u n d b e s i t z e r ruinieren w ü r d e . 2 6 A n s c h l i e ß e n d ergriff der Direktor des B u n d e s der Landwirte, Heinrich Suchsland, das Wort, um die von Quarck und Schoenlank v o r g e t r a g e n e n Vorwürfe z u r ü c k z u w e i s e n . 2 7 Unmittelbar vor Max Weber, der mit s e i n e m Diskussionsbeitrag die Debatte beschloß, 2 8 gaben noch Max Q u a r c k 2 9 und A d o l p h W a g n e r 3 0 kurze Stell u n g n a h m e n ab. Das Protokoll v e r m e r k t e e b e n s o wie am Ende seines Vortrags auch am Schluß der abschließenden Stellungnahme Max W e b e r s : „Lebhafter Beifall." 3 1 Der zweite Tag der G e n e r a l v e r s a m m l u n g stand unter d e m T h e m a „Die Bodenbesitzverteilung und die S i c h e r u n g des K l e i n g r u n d b e s i t z e s " . Max W e b e r benutzte die sich an eine Reihe v o n Referaten anschließende Debatte dazu, nochmals auf die v o n Max Quarck vorgetragene Kritik an der Anlage der Enquete e i n z u g e h e n . 3 2

22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 102-106. Ebd., S. 106-111. Ebd., S. 111-114. Ebd., S. 114-120. Ebd., S. 120-123. Ebd., S. 123-126. Unten, S. 199-205. Verhandlungen, S. 126f. Ebd., S.127f. Ebd., S. 86 und S. 133. Unten, S.206f.

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Bericht

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Der Berliner National-Zeitung berichtete v o m 21. bis 23. März 1893 ausführlich über die G e n e r a l v e r s a m m l u n g . 3 3 Sie referierte auch d e n Vortrag W e b e r s über die ländliche Arbeitsverfassung, w o b e i sie W e b e r dahingehend interpretierte, als habe er eine staatliche Regelung der Landarbeiterlöhne verlangt. Die betreffende Passage, in der W e b e r paraphrasiert wird, lautet: „ m a n w e r d e d o c h wohl aber in Erwägung ziehen müssen, ob es nicht angezeigt erscheine, die Einwanderung russischer und polnischer Arbeiter zu beschränken und außerdem w e r d e eine staatliche Regelung der Landarbeiterlöhne eintreten m ü s s e n . " 3 4 In e i n e m S c h r e i b e n an die Redaktion dieser Zeitung, das v o m 21. oder 22. März 1893 s t a m m e n muß, stellte W e b e r den Sachverhalt klar. Es w u r d e von der National-Zeitung nur in indirekter Form w i e d e r g e g e b e n : „Dr. Max W e b e r , Charlottenburg, Leibnizs t r a ß e 1 9 , ersucht uns, den Bericht der M o n t a g s - V e r s a m m l u n g dahin berichtigen zu wollen, daß er nicht, wie es darin heißt, für staatliche Regelung der Lohnverhältnisse auf den Gütern eingetreten sei, eine solche vielmehr s c h o n zufolge der bereits vorgeschrittenen sozialen Z e r s e t z u n g für völlig unmöglich erachtet h a b e . " 3 5 Das Original von W e b e r s S c h r e i b e n ist nicht überliefert. Weitere Berichte über die G e n e r a l v e r s a m m l u n g des Vereins für Socialpolitik erschienen in der N e u e n Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung), im Vorwärts, in der Frankfurter Zeitung, d e m Sozialpolitischen Centralblatt, der Zeitschrift Das Land und im J a h r b u c h für G e s e t z g e b u n g , Verwaltung und Volkswirtschaft im D e u t s c h e n Reich. 3 6 Die hierin enthaltenen Z u s a m m e n fassungen der Beiträge W e b e r s w e i c h e n inhaltlich nicht v o n der im folgenden a b g e d r u c k t e n Fassung ab. Die National-Zeitung, die N e u e Preußische Zeitung und das Sozialpolitische Centralblatt berichteten, daß w ä h r e n d W e b e r s Vortrag der preußische Finanzminister J o h a n n e s v o n Miquel a n w e s e n d g e w e s e n sei. Der Vorwärts wies darauf hin, daß nicht nur Miquel, s o n d e r n auch der preußische Landwirtschaftsminister Wilhelm von Hey-

33 NZ, Nr. 193 vom 21. März 1893, Mo.BI., 1. Beiblatt; Nr. 196 vom 22. März 1893, Mo.BI., 1. Beiblatt, und Nr. 199 vom 23. März 1893, Mo.BI., 1. Beiblatt. 34 NZ, Nr. 193 vom 21. März 1893, Mo.BI., 1. Beiblatt, S. 1, Sp. 3 oben. Der entsprechende, nach den stenographischen Protokollen wiedergegebene Abschnitt befindet sich in diesem Band, S. 182. 35 NZ, Nr. 199 vom 23. März 1893, Mo.BI., 1. Beiblatt, S. 1. 36 Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 135 vom 21. März 1893, Mo.BI., und Nr. 137 vom 22. März 1893, Mo.BI.; Vorwärts, Nr.68 vom 21. März 1893, Nr.69 vom 22. März 1893 und Nr. 70 vom 23. März 1893; FZ, Nr. 82 vom 23. März 1893, 3. Mo.BI., und Nr. 83 vom 24. März 1893, 3. Mo.BI.; Sozialpolitisches Centralblatt, Nr. 26 vom 27. März 1893, S . 3 0 7 - 3 1 0 ; Das Land, Jan.-Sept. 1893, S. 1 3 0 - 1 3 2 , 1 4 8 - 1 5 1 ; Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 18. Jg., 1894, S. 9 3 - 1 2 2 (Artikel von Karl Rathgen).

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Die ländliche

Arbeitsverfassung

den-Cadow den Verhandlungen in weiten Teilen beigewohnt hätten. Die Frankfurter Zeitung erwähnte am Ende ihres Berichts über den ersten Verhandlungstag, daß Max Weber auf die Einwände gegen sein Referat „in lebhafter, stellenweise sehr erregter Polemik" erwidert habe.

Zur Überlieferung

und

Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt den stenographischen Protokollen: Verhandlungen der am 20. und 21. März 1893 in Berlin abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik über die ländliche Arbeiterfrage und über die Bodenbesitzverteilung und die Sicherung des Kleingrundbesitzes (Schriften des Vereins für Socialpolitik 58). - Leipzig: Duncker & Humblot 1893 (A). Das Referat und die Diskussionsbeiträge Webers finden sich S. 6 2 - 8 6 , S. 1 2 8 - 1 3 3 und S. 2 1 5 - 2 1 6 . Das Referat Webers ist überschrieben: „Referat von Privatdozent Dr. Weber (Berlin)." Der Kolumnentitel gibt den Titel an: „Die ländliche Arbeitsverfassung". Beide Diskussionsbeiträge beziehen sich auf sein Referat und die Debatte darüber. Die Diskussionsbeiträge werden jeweils eingeleitet mit „Referent Dr. Weber". Die Verhandlungen der Generalversammlung erschienen gedruckt am 8. Juli 1893.1 Es darf davon ausgegangen werden, daß Max Weber Gelegenheit hatte, die Protokolle vor der Drucklegung durchzusehen, zu korrigieren und somit zu autorisieren. 2

1 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige, Nr. 156 vom 8. Juli 1893, S. 4077. 2 So wurde zumindest später im Verein für Socialpolitik bei stenographischen Mitschriften verfahren. Vgl. MWG 1/15, S. 138f.

Die ländliche Arbeitsverfassung [Referat]

Meine Herren, ich glaube im Interesse der Versammlung zu handeln, wenn ich Sie bitte, mich davon zu dispensieren, Ihnen ein eigentliches Referat über die Enquete zu halten. Es ist über die Enquete und ihre wesentlichen Ergebnisse hier von Herrn Professor Knapp schon in umfassender Weise gesprochen worden 1 und in einer Form, mit welcher ich nicht zu konkurrieren versuchen möchte. Ich betrachte es aus diesem Grunde vielmehr als meine Aufgabe, in meinen Ausführungen eine Art von Überleitung zur Debatte zu versuchen, also in mehr zwangloser Weise diejenigen Punkte zu berühren, welche vielleicht geeignet sind, Gegenstand der Diskussion zu sein. Ich werde zwar auf einige allgemeine Gesichtspunkte zurückkommen, soweit sie von praktischer Bedeutung sind. Ich betrachte aber im wesentlichen meine Aufgabe als die eines, ich möchte fast sagen, enfant terrible für die Herren Landwirte, um ihnen Angriffspunkte zu bieten, gegen welche sie, wie ich hoffe, sich wenden werden. Ich muß zunächst mit einer persönlichen Bemerkung beginnen, nämlich mit einem Wort des Dankes an Herrn Professor Knapp. Es ist seine Art, fremde Leistungen in liebenswürdiger Weise anzuerkennen auch da, wo unzweifelhaft die Ausführung hinter der Absicht zurückgeblieben ist, und auch wenn man sich - wie ich jetzt - nicht in der Lage fühlt, diese Anerkennung in dem Umfang, wie er sie ausspricht, 2 auch nur annähernd entgegenzunehmen, so bleibt doch das Moment bestehen, daß diese seine freundliche und großherzige Weise ihm die Stellung zu uns Jüngeren und auch zu der akademischen Jugend begründet hat, welche er, wie wir alle wissen, einnimmt. | 1 Gemeint ist das vorausgegangene Referat Georg Friedrich Knapps über „ Die ländliche Arbeiterfrage". 2 Knapp hatte in seinem Vortrag Webers Untersuchung zur Lage der ostelbischen Landarbeiter mit den Worten gewürdigt: „Dies Werk vor allem hat die Empfindung geweckt, daß es mit unsrer Kennerschaft vorbei ist, daß wir von vorn zu lernen anfangen müssen." Knapp, Arbeiterfrage, S. 7.

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Arbeitsverfassung

Ich halte mit ihm die Ergebnisse der Enquete keineswegs für gering, auch nicht für praktisch gleichgültig, freilich nicht in erster Linie, insoweit sie die Fragen betreffen: wie geht es den ländlichen Arbeitern? wie ist ihr Leben im einzelnen gestaltet? gut oder schlecht? können wir es vergleichen mit dem Leben der industriellen Arbeiter und was ergiebt dieser Vergleich? - sondern mehr insoweit, als sie uns aufgeklärt haben über gewisse Entwickelungstendenzen in der Arbeitsverfassung des Ostens und über gewisse hochpolitische Fragen inbetreff der Zukunft der ländlichen Arbeitsverfassung, die ich in erster Linie erörtern will. Diese Ergebnisse sind erzielt worden, trotzdem die Enquete nur eine Arbeitgeberenquete gewesen ist. Ich würde es, - da wichtigere Fragen zur Diskussion stehen offen gestanden bedauern, falls die Diskussion sich zu eingehend auf diesen viel erörterten Punkt erstrecken sollte. Ich will nur hervorheben: praktikable Vorschläge, wie der Verein für Socialpolitik an die Arbeiter selbst hätte gelangen können, sind bisher nicht gemacht worden. Man hat zwar gesagt, er habe sich an Mittelsmänner wenden können und speciell auf Geistliche und Ärzte hingewiesen. 3 Dieser Versuch ist inzwischen gemacht worden von Seiten des evangelischsocialen Kongresses. Ich habe mit meinem Freunde Göhre einen Fragebogen ausgearbeitet, 4 welcher gänzlich anders als ein an Arbeitgeber zu richtender gestaltet werden mußte, von diesem sind 15 000 Exemplare verschickt worden und etwa 5—600 bearbeitet zurückgekommen von Seiten der evangelischen Geistlichen Deutschlands, an welche wir uns gewandt hatten. Die Bearbeitungen sind qualitativ geradezu hervorragend, besser als fast alles, was die Enquete des Vereins für Socialpolitik an Antworten geliefert hat. Quantitativ aber ist angesichts der fünffach größeren Zahl das Ergebnis doch bisher recht unbefriedigend 5 und würde, wenn nicht eine kirchliche Vereinigung, sondern der Verein für Socialpolitik sich an

3 Der Vorschlag, Geistliche zur sozialen Lage ihrer Gemeindemitglieder zu befragen, geht auf einen sächsischen Pfarrer zurück. Weber und Paul Göhre griffen diesen Vorschlag auf. Vgl. oben, S. 71 f. Zum Vorschlag, Landärzte zu befragen, siehe den Artikel eines schlesischen Arztes, in: Das Land. Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande, Nr. 3 vom 1. Febr. 1893, S. 45, sowie Webers Stellungnahme dazu, oben, S. 156. 4 Der Fragebogen ist in diesem Band, unten, S. 6 9 4 - 7 0 5 , abgedruckt. 5 Insgesamt wurden an den Verein für Socialpolitik 2568 Fragebögen ausgefüllt zurückgesandt. Vgl. Thiel, Einleitung, S. X.

Referat

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die Pfarrer gewandt hätte, wohl noch ein viel minimaleres gewesen sein. Ferner aber: der Versuch der Geistlichen, an die Arbeiter heranzukommen, hat Mißtrauen in außerordentlich hohem Grade bei den letzteren hervorgerufen. Wir haben Berichte aus vielen Bezirken, aus denen hervorgeht, daß man diese Geistlichen seitdem als „Socialdemokraten" betrachtet. Und auch andere, die versucht haben, unmittelbar an die Landarbeiter zu gelangen, haben ähnliche Erfahrungen gemacht, wenigstens schrieb mir Herr Bebel ganz offen, 6 daß die Schwierigkeit, an diese Arbeiter heranzukommen, nicht zu verkennen sei, auch für seine Partei - die ja ziemlich handgreifliche Erfahrungen auf dem Lande gemacht hat, die Veranlassung gewesen wären, daß sie nichts erhebliches auf dem Gebiete der Ermittelungen über die Lage der ländlichen Arbeiter bisher zu leisten vermocht hätte. Jedenfalls sind solche Versuche, die Arbeiter | einzuvernehmen, bisher in ihren Ergebnissen nicht sehr ermutigend, A 64 zumal für rein wissenschaftliche Vereinigungen. Damit gehe ich zur Sache über und greife als Unterlage für die wenigen praktischen Gesichtspunkte, welche ich hervorheben werde, eine Anzahl Typen heraus - in Anlehnung an die Ausführungen des Herrn Professor Knapp 7 - Typen ländlicher Arbeitsverfassungen, welche praktisch in Frage kommen, deren Betrachtung von Nutzen und Erheblichkeit sein kann für die Erörterung dessen, was im Osten auf dem Lande weiter geschehen wird, kann und soll. Meine Herren, es giebt im Süden und Westen ziemlich ausgedehnte Distrikte, welche insofern scheinbar eine beneidenswerte Stellung einnehmen, als eine „ländliche Arbeiterfrage" dort gar nicht existiert. Nicht als ob die Schwierigkeit, sich Arbeitskräfte zu beschaffen, für die Landwirte eine geringe oder die Lage der Landarbeiter eine glänzende wäre; im Gegenteil. A b e r in dem Sinne existiert dort keine ländliche Arbeiterfrage, als ein social geschiedener, sich aus sich selbst erzeugender ländlicher Arbeiterstand, dort so gut wie nicht besteht. Es ist die Gegend mit stark parzelliertem, im Erbgange regelmäßig weiter geteiltem Besitz: der Boden geht dort von einer Hand zur anderen, - der kleine Stellenbesitzer scharrt sein lebenlang Land zusammen bis zur bäuerlichen Selbständigkeit; stirbt er, so

6 Dieser Brief August B e b e l s an Max W e b e r konnte nicht ermittelt werden. 7 G e m e i n t sind die Ausführungen Knapps über „Die ländliche Arbeiterfrage"

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bricht das Kartenhaus häufig wieder zusammen, die Erben teilen, der Prozeß beginnt von neuem. Es besteht keine sociale Scheidewand zwischen dem kleinen Stellenbesitzer, welcher Arbeit sucht und dem größeren bäuerlichen Besitzer, welcher Arbeit bedarf. Dieser leistet dem kleineren Spannhülfe, der kleine Stellenbesitzer dem größeren Handhülfe. In unorganischer und individualistischer Weise wird so das gemeinwirtschaftliche Moment der alten organisierten Feldgemeinschaft der Dorfgemeinde ersetzt. Eine Kritik dieses Zustandes vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ist nicht schwer. Sie richtet sich aber nicht speciell gegen die Arbeitsverfassung innerhalb der Betriebe, sondern würde sich zu richten haben gegen die gesamte Grundbesitzverteilung und gegen die erbrechtlichen Grundsätze in diesen Gegenden überhaupt. Ich verzichte deshalb darauf, hierauf näher einzugehen; ich hebe nur ein psychologisches Moment hervor, das ist die eigentümliche Rolle, welche die Arbeit im Leben dieser Kleinstellenbesitzer, welche Tagelöhner nebenher sind, spielt. Die Konsequenz des Umstandes, daß eine sociale Scheidung des Kleinstellenbesitzers von dem Bauern hier nicht besteht, ist, daß der Arbeiter verlangt, als gleichberechtigte Partei unter Abstreifung aller Kennzeichen eines Herrschaftsverhältnisses A 65 behandelt | zu werden. Er verlangt, daß die Arbeit, welche er leistet, überhaupt möglichst angesehen wird nicht als übernommene Pflicht, sondern als erwiesene „Gefälligkeit". In den hessischen, württembergischen und rheinischen Dörfern, wo diese Zustände herrschen, betrachtet man das Tagelöhnern mit Vorliebe als gewissermaßen nachbarlich-freundschaftliche Aushülfe, welche entsprechend freundnachbarlich entgolten wird. Es scheidet sich in dem Gedankenleben dieser Menschen der Begriff der Arbeit vollständig von dem Begriff der Pflicht; der Mann würde glauben, sich zu verkaufen, wenn er die Arbeit als dauernde Kontraktpflicht übernähme. Es ist der Individualismus innerhalb der Arbeitsverfassung auf die Spitze getrieben und in die letzte psychologische Konsequenz durchgeführt: der Mann arbeitet in seinem eigenen Interesse; arbeitet er nicht, nun - so verdient er eben nichts und hungert unter Umständen oder schränkt sich ein, aber einen Verstoß gegen eine auf ihm lastende und als solche empfundene Pflicht begeht er damit nicht, er arbeitet eben - thatsächlich vielleicht, weil er muß, seiner Vorstellung nach, weil es ihm so beliebt. Er kennt nicht diejenige Art der Arbeit, welche wir im Osten kennen, diese straffe, pflichtgemäße,

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das ganze Leben umfassende Anspannung der Arbeitskräfte. Der charakteristisch-preußische Begriff der „verdammten Pflicht und Schuldigkeit"8 fehlt diesen Leuten. Dies oft übersehene psychologische Moment ist von erheblicher Bedeutung für die Frage: Ist eine solche Gestaltung der Arbeitsverfassung, die mit der radikalen Zerschlagung alles Großbesitzes identisch wäre, politisch als Ziel erwünscht? - Ich glaube: nein. Es ist kein Zufall, daß den Gegenden Deutschlands, wo diese Verfassung vorherrscht, nicht vergönnt gewesen ist, zu derjenigen politischen Organisation und zu der Ausgestaltung des politischen Sinnes zu gelangen, welche die Einheit des Reichs geschaffen haben. Meine Herren, einen Moment verweile ich auch bei der nordwestlichen Arbeitsverfassung, welche Herr Professor Knapp bereits besprochen hat. 9 Ich muß auch hier wie schon in dem, was ich bisher gesagt habe, zu dem Mittel einer starken Übertreibung gewisser typischer Momente greifen; es ist das berechtigt, wenn man eben wirklich entscheidende Momente übertreibt. Ich greife als einen solchen Typus heraus das große Bauerngut, von welchem Herr Professor Knapp gesprochen hat, 10 im deutschen Nordwesten. Diese Güter gehen im Erbgang geschlossen über, ein starker Bodenumsatz findet nicht statt; jede Generation stößt einen Teil ihrer Angehörigen aus dem väterlichen Erbe aus. Diese Leute - „Enterbte" im wahren Sinne des Worts - gehen teils aus dem Lande, teils gehen sie über in die Industrie, teils aber - und das interessiert uns hier - in den ländlichen Arbeiterstand. Die sociale Organisation des Landes ist entgegengesetzt der | eben besprochenen. Wenn dort die Erben in A 66 Gemeinschaft auf dem Gute bleiben, stehen sie nebeneinander zu gleichen Rechten. Hier dagegen ist die erbliche Gemeinschaft grundsätzlich monarchisch organisiert; unter der alleinigen Verfügungsgewalt des Anerben wird die Wirtschaft weiter geführt; die anderen scheiden aus, sie sind oder werden besitzlose Landarbeiter. Aber: es wird auch bei diesem Verhältnis nicht vergessen, daß es eine

8 Dieser Ausspruch wird Friedrich dem Großen zugeschrieben. Auch Otto von Bismarck sprach am 12. Juni 1882 vor dem Reichstag von „verdammter Pflicht und Schuldigkeit". Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesammtausgabe, hg. von Horst Kohl, 9. Band. - Stuttgart: Cotta 1894, S. 366f. 9 Knapp, Arbeiterfrage, S. 8 - 1 1 . 10 Ebd., S. 10f.

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Umgestaltung, eine Abgliederung aus dem Familienhaushalt darstellt, daß diese Landarbeiter, diese Heuerlinge, von denen Herr Professor Knapp gesprochen hat, 11 hervorgegangen sind aus dem Bauernstande, sie sind Zweige am Stamm der socialen Organisation, welche nicht zur Vollentwickelung - zur selbstständigen Unternehmerstellung - gelangen und auch niemals gelangen können. Die furchtbarsten Leidenschaften werden innerhalb dieser Familien wachgerufen, aber dennoch bleibt das Moment bestehen, daß häufig Blutsverwandtschaft, immer eine feste Wirtschafts- und Interessengemeinschaft, dieser Arbeitsverfassung, wie sie Herr Professor Knapp schilderte, zu Grunde liegt. Ich vermag nun aber Herrn Professor Knapp nicht vollständig zuzustimmen, wenn er sagte, daß nur der isolierte westfälische Bauernhof der Boden sei, auf dem die Heuerlinge und auf dem eine solche Kombination von Arbeitspflicht und Kleinpacht erwachsen könne[,j und daß deshalb an eine Übertragung auf östliche Verhältnisse nicht zu denken sei. 12 Erstens kommen gleichartige Gestaltungen auch auf den großen Gütern des Nordwestens vor, zweitens: in Schleswig-Holstein, wo sie in dieser Art nicht vorkommen, kommt etwas ihm analoges vor. Wenn man sich die Gestaltung der Verfassung ansieht, welche uns Herr Graf Holstein in einem ausgezeichneten Bericht über sein Gut in Schleswig-Holstein geschildert hat, 13 und wie sie dort überhaupt häufig vorkommt, so finden wir dort einen Arbeiterpächterstand, welcher gestaltet ist als ein kontraktliches Verhältnis gegenseitiger Aushülfe mit Hand- und Spanndiensten zwischen den großen Besitzern und den Arbeitern, ganz analog, wie das bei den Heuerlingen der Fall ist, und augenscheinlich gehören auch diese Zustände in Holstein zu den denkbar günstigsten, die es überhaupt in ganz Deutschland auf dem Lande giebt. Aber wir finden allerdings in diesen Gegenden als Konsequenz des geschlossenen Bauernguts auch etwas anderes, das ist die typische Auswanderung gerade derjenigen ländlichen Arbeiter, welchen es am besten geht und welche social am höchsten stehen, so in Westfa11 Ebd., S. 8 - 1 1 . 12 Ebd., S. 9 - 1 1 . 1 3 G e m e i n t ist vermutlich Konrad Adolf A u g u s t Graf Holstein, Erbherr auf W a t e r n e v e r s torff und Goartz, der im R a h m e n der Enquete d e s V e r e i n s für Socialpolitlk e i n e n ausführlic h e n Bericht über die Arbeitsverhältnisse auf s e i n e m G u t e i n g e s a n d t hatte. Der Bericht wird a u s g i e b i g zitiert in: G r o ß m a n n , S c h l e s w i g - H o l s t e i n , S . 4 5 1 - 4 5 6 .

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len die Heuerlinge. Es ist nicht wahr, daß aus Westfalen und Norddeutschland - und das gilt übrigens auch für den Osten - die Leute auswandern, welchen es schlecht geht und deshalb, weil es ihnen schlecht geht; im Gegenteil, die höchste Schicht der | ländlichen A 67 Arbeiter verschwindet. D e r niedersächsische Stamm hat vor den festen und scheinbar unwandelbaren Schranken des Rechts gerade auch infolge der festgefügten Organisation seiner bäuerlichen Verfassung eine außerordentlich hohe Achtung, aber es ist dadurch eine feste obere Schranke für das Hinaufsteigen geschaffen. D e r Mann kann sie nicht durchbrechen, nicht wie der Kleinbesitzer im Süden hoffen, allmählich sich in der Heimat zum selbständigen Wirt emporzuarbeiten; im Osten kann er nicht hinauskommen über den Instmann und Deputanten; und deshalb verzichten die besten und, wie übereinstimmend berichtet wird, wohlhabendsten Familien, oft schweren Herzens, auf die Existenz in der Heimat. Ist der Entschluß gefaßt, dann entflieht der Mann dem Heimatsgedanken am leichtesten, indem er hinübergeht über das große Wasser und sich da ankauft, wo ihm die alten Beziehungen am vollständigsten abgeschnitten sind. Dies Moment erweist sich stark in dem nordwestlichen Deutschland und ist charakteristisch für die Gründe der Auswanderung der Landarbeiter aus dem Osten. In die Städte entflieht junges, oft liederliches Volk, das nichts sucht als die Zerstreuungen und die Ungebundenheit der Großstadt, ins Ausland gehen altgediente, arbeitslustige Familien, - dieser Unterschied ist auch praktisch für die Frage nicht gleichgültig, was geschehen kann, um beiden Momenten zu steuern. Ich erörtere hier nicht näher den Einfluß, welchen intensives Auftreten der Industrie auf die Arbeitsverfassung des Landes hat. D e r Einfluß ist ein lediglich destruktiver. Wir sehen im rheinischwestfälischen Industriebezirk das Verschwinden jeglichen Stammes von einheimischen Landarbeitern. Es giebt so gut wie keinen dauernd als Landarbeiter thätigen vollkräftigen Menschen. D e r Prozeß vollzieht sich in der Weise, daß fortgesetzt aus dem Osten Arbeitskräfte herangezogen und dann nach einiger Zeit wieder an die Industrie abgegeben werden und ein weiterer Nachschub aus dem Osten stattfindet. Ich vernachlässige ebenso den Einfluß der Sachsengängerei in der Provinz Sachsen, der in anderer A r t , aber auch destruktiv, auf die bisherige Arbeitsverfassung gewirkt hat. Wenn hier die Wirkungen

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dieser Zersetzung sich so gestaltet haben, daß die Zustände, - auch die Verhältnisse der Wanderarbeiter, - relativ erträglich und für das Kulturniveau weniger gefährliche sind, so hat das seinen Grund einmal darin, daß in dieser Provinz mit ihrer Landwirtschaft intensivster Art, ihrem ausgezeichneten Boden, noch immer ein starkes Aufsteigen der Kultur stattfindet und auch unter ungünstigen Konkurrenzverhältnissen stattfinden kann; ferner darin, daß ein einheimischer, recht kräftiger Bauernstand vorhanden ist, welcher verhinA 68 dert, | daß ein so starkes Vakuum an einheimischen Arbeitskräften eintritt, wie das im Osten geschehen würde, vielmehr einheimische sächsische Arbeiter zur Ergänzung des auswärtigen Zuzugs liefert; und endlich und vor allem darin, daß eine Assimilierung der sächsischen Arbeiter mit den russischen und polnischen, welche aus dem Osten kommen, ausgeschlossen ist, hier ebenso, wie in Mecklenburg; die einheimischen Arbeiter schließen sich sorgfältig ab gegen deren Einflüsse; sie sehen mit Verachtung herab auf die niedrige Lebenshaltung der Sachsengänger, - erst, wo dieses Moment aufhört, weiter im Osten, wo die Gefahr der Assimilation vorliegt, beginnt die wirklich schwere Gefahr des Wanderarbeitertums. Ich überschreite damit die Elbe und begebe mich auf den klassischen Boden der ländlichen Arbeiterfrage. Meine Herren, das ostelbische Deutschland verdient ja aus dem Grunde diese Bezeichnung, weil es einen typischen, sich aus sich selbst ergänzenden und sehr zahlreichen ländlichen Arbeiterstand nirgends so wie hier giebt, und dies deshalb, weil der Großbetrieb, welcher ausschließlich auf fremde Arbeitskräfte angewiesen ist, nur hier die typische, wirtschaftlich und social wichtigste Form des Bodenbesitzes darstellt. Ich beschränke mich deshalb auch auf den Großgrundbesitz, welcher ja im wesentlichen identisch ist mit dem Großbetrieb, und seine Arbeitsverfassung. Nur diese Arbeitsverfassung stellt uns wirklich schwere und teilweise unlösbare Probleme. Die historisch überkommene ländliche Arbeitsverfassung des Großgrundbesitzes im Osten hat Herr Professor Knapp gleichfalls geschildert; er hat aber auch hervorgehoben, was das wichtigste Ergebnis der Enquete ist, daß die rettungslose Zersetzung dieser Arbeitsverfassung teils schon eingetreten, teilweise im Gange und ausschließlich eine Frage der Zeit ist. 14 In materieller Beziehung 14 Vgl. Knapp, Arbeiterfrage, S. 1 3 - 1 5 .

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führen zwei große Desorganisatoren diese Zersetzung in der augenfälligsten Weise herbei, der eine - unwichtigere - ist die Dreschmaschine, der andere die Zuckerrübe, die ich hier a potiori nenne als Repräsentantin der intensiven Bodenkultur überhaupt. Das vom Standpunkt der Wirtschaftsführung des Arbeitgebers entscheidende Moment ist dabei in letzter Linie: die Differenz des Arbeiterbedarfs im Winter und des Arbeiterbedarfs im Sommer, sie wächst derart, daß das Halten der im Sommer erforderlichen ländlichen Arbeitskräfte das ganze Jahr hindurch unzweckmäßig wird. Das hat das Zurücktreten der ständigen, seßhaften, mit den Gütern dauernd verbundenen Arbeiter zu Gunsten der Saisonarbeiter und ganz im allgemeinen die kapitalistische Umgestaltung des alten Arbeitsverhältnisses in einen reinen Lohnarbeitsvertrag zur Folge. - | Nun, meine Herren, diese Destruktion der Arbeitsverfassung des A 69 Ostens, die sich vor allen Dingen ausdrückt einerseits in der Einschränkung und Beseitigung der eigenen Wirtschaft des Instmannes, in der Abschaffung oder Herabdrückung des Dreschanteils, das heißt in der Abnahme des Anteils der Arbeit an dem Produkte der Arbeit, in der Beseitigung ferner der Viehweide, der Viehhaltung des Arbeiters - des Mittelpunktes seiner Wirtschaft - , andererseits in der Erhöhung des Geldlohns und damit dem Entstehen eines Interessengegensatzes zwischen Grundbesitz und Arbeiterschaft - diese Destruktion dieser Arbeitsverfassung hat da, wo sie bereits weit fortgeschritten ist, in ihrem Gefolge eine außerordentliche Herabdrückung der socialen Position und eine Gefährdung des Nahrungsstandes der Arbeiter herbeigeführt. Es läßt sich an der Hand des Enquetematerials verfolgen, daß da, wo die patriarchalische Verfassung in alter Weise noch besteht, in Mecklenburg und Pommern, um einen Hauptpunkt zu nennen - derjenige typische Konsum von Cerealien, welcher angenommen wird für eine normale Arbeiterfamilie, einschließlich des von ihr gehaltenen Viehes, bis auf etwa 40 Centner hinaufsteigt, daß er nach Osten zu herabsinkt bis auf etwa 28 Centner, daß er überall, wo in der Flußniederung zwischen Weichsel und Oder intensivere Kultur eingetreten ist, heruntergedrückt wird auf ein weit niedrigeres Niveau, und daß er in dem eigentlichen Gebiet der kapitalisierten desorganisierten Arbeitsverfassung, in den Provinzen Posen und Schlesien, am tiefsten herabsinkt. In Schlesien ist der Nahrungsstand der Landarbeiter zweifellos am schlechtesten. Es ist zwar vor einigen Tagen von einem schlesi-

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sehen Magnaten im Reichstag angedeutet worden, das möchte wohl ein durch meinen „Nationalliberalismus" herbeigeführter Rechenfehler sein; er hat dann gesagt, er sei durchaus nicht in der Kultur in der Weise zurück, wie ich das von ihm voraussetzte. 15 Meine Herren, natürlich er nicht, wohl aber seine Arbeiter, für die er verantwortlich ist. Sie sind durch die Umgestaltung der Arbeitsverfassung in ihrem Nahrungsstande wesentlich gefährdet, es ist ein kartoffelessendes Proletariat entstanden aus einer Bevölkerung, welche sich nährte von Cerealien und Milch. Es ist von mir mit nichten behauptet worden, daß diese Desorganisation der Arbeitsverfassung des Großgrundbesitzes eine „Schuld" der einzelnen Großgrundbesitzer sei. Im Gegenteil, auch die Arbeiter wollen die Fortführung dieser Verfassung nicht. Es wird von zahlreichen Seiten in der Enquete berichtet - und ich glaube es - daß, wie bei den Heuerlingen, gerade die bestgestellten unter den Instleuten es vorziehen, nicht nur in die Industrie, nein, auch zu den landlosen, ungebundenen, aber auch rein proletarischen Schichten der Landarbeiterschaft, zu den sog. 70 „freien" Arbeitern, überzugehen, | trotzdem das die Aufgabe einer außerordentlich sicheren materiellen Lage zu Gunsten einer gänzlich unsicheren Existenz bedeutet. Nichts spricht ein vernichtenderes Urteil über die Zukunft des Instverhältnisses als eben dieses Moment. Die patriarchalische Disposition des Herrn über das Schicksal des Arbeiters, wie sie die alte Instverfassung mit sich bringt, eben die wollen die Leute nicht länger dulden. Es sind psychologische Momente von übermächtiger Gewalt, welche sowohl den Zug in die Städte, wie die Desorganisation dieser Arbeitsverfassung herbeiführen. Meine Herren, also: die Arbeiter lösen sich aus dieser Verfassung heraus, sie verschwinden teils völlig, und teils bleiben sie doch nicht 15 W e b e r spielt hier auf d e n s c h l e s i s c h e n Rittergutsbesitzer A l e x a n d e r v o n S c h a l s c h a (Zentrum) an, der anläßlich der Beratung über die Ä n d e r u n g d e s G e s e t z e s über d e n U n t e r s t ü t z u n g s w o h n s i t z a m 17. März 1893 im Reichstag sagte: „ H e r r Kollege B a u m b a c h [Karl B a u m b a c h , D e u t s c h e Freisinnige Partei] hat uns einen N a t i o n a l ö k o n o m e n Max W e b e r zitirt, w e l c h e r gesagt hätte, der Z u g nach d e m W e s t e n w ä r e der Z u g nach h ö h e r e r Kultur. Ja, das ist ein sehr s c h ö n e s Wort; aber wir im Osten, In S c h l e s i e n sind auch nicht so ganz unkultivirt; wir sind nicht .Kanadier' und sind in m a n c h e n D i n g e n vielleicht weiter vorgeschritten, als es m a n c h e G e g e n d e n im W e s t e n sind, und d o c h ist der Z u g nach d e m W e s t e n ein großer. Ich kann d i e s e n Satz d e s Max W e b e r nicht a n e r k e n n e n , und so lange mir da nicht b e s s e r e B e w e i s e g e b r a c h t w e r d e n , bestreite ich, daß das richtig ist." Sten. Ber. Band 129, S. 1707.

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so wie früher in der Hand des Großgrundbesitzes. U n d wie reagiert der Großgrundbesitz? Er greift zu den Wanderarbeitern, er ruft fremde Arbeiter heran aus dem Osten, teils aus den übervölkerten Distrikten mit zahlreichem Kleinstellenbesitz, teils und zunehmend aus dem Ausland. A u c h hier ist es keineswegs einseitig der Großgrundbesitzer, der dieses Verhältnis einer Fluktuation der Bevölkerung schafft. Die Arbeiter kommen ihm dabei aus eigener Initiative in entschiedener Weise entgegen. Es ist in vielen Fällen zu beobachten, wenn man das Lohnniveau des Zuwanderungsgebietes mit demjenigen des A b w a n derungsgebiets vergleicht, daß es nicht nur nicht zu Ungunsten des Abwanderungsgebietes differiert, sondern gleichsteht, daß häufig sogar das umgekehrte der Fall ist. Nicht die Unterschiede in der Lohnhöhe allein oder auch nur vornehmlich sind es, die zur Wanderarbeit führen, sondern etwas ganz anderes; es ist die Abneigung, sich grade in der Heimat zu dauernder Arbeit zu binden, grade die wohlbekannte Arbeitsglocke des benachbarten heimatlichen Großgrundbesitzes hat einen besonders üblen Klang. Die Leute gehen den Sommer über fort, sie kommen im Herbst wieder zurück und bringen soviel bares Geld mit, daß sie einige Monate „Ferien" machen können, und sie haben dann die Illusion - es ist lediglich eine Illusion - , daß sie „mehr" verdient hätten, besser gestellt gewesen seien in der Fremde als zuhause. Sie bedenken nicht, daß sie das Mehr an baren Mitteln erspart haben allein auf Kosten ihrer Lebenshaltung, indem sie sich in der Fremde herdenweise in einem Kasernement und bei einer Ernährungsweise unterbringen ließen, wie sie sie sich in ihrer eigenen Familie und zuhause niemals bieten lassen würden. Erschwerend tritt nun aber hinzu unsere nationale Situation im Osten, in erster Linie, daß diese Wanderarbeiter herangezogen werden aus dem Ausland. Es ist - soviel kann man aus den Berichten der Enquete ersehen - lediglich eine Frage der Zeit, bis wann die ländlichen | Großgrundbesitzungen der Grenzgebiete, wenn sie lediglich A ihren wirtschaftlichen Lohninteressen folgen, sich ihrer einheimischen Arbeiter in der Hauptsache entledigt haben werden, und statt dessen eine Verwendung von Wanderarbeitern aus Polen und Rußland stattfindet. Durchaus nicht immer deshalb, weil diese Wanderarbeiter einen niedrigeren Lohn bekämen, sondern in erster Linie, weil man keine verwaltungsrechtlichen Pflichten, keine Armenla-

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sten u. s. w. für sie übernimmt, 1 6 - man schiebt sie eben nach Ausnutzung ihrer Arbeitskräfte wieder ab. Und ferner: der Russe muß sich auch etwas anderes bieten lassen als der einheimische Arbeiter; er ist prekärer gestellt und ein Wink an den benachbarten Amtsvorsteher genügt, um ihn schleunigst über die Grenze zurückzuspedieren, falls er sich den Wünschen des Großgrundbesitzers nicht überall fügt. Deshalb müssen - das ergeben die Berichte der Enquete - die selbstbewußten Arbeiter Westpreußens, die alten deutschen Instleute der Weichselniederungen, weichen zu Gunsten der polnischen Wanderarbeiter. Auf die Dauer ist die Polonisierung des Ostens, wenn es so weitergeht, absolut nicht auszuschließen, wir mögen noch so viel Grundbesitz in deutsche Hände überführen. 1 7 Die Entscheidung der Frage der Nationalität des platten Landes hängt auf die Dauer nicht von der Abkunft der besitzenden Schichten, sondern von der Frage ab, welcher Nationalität das Landproletariat angehört. Wir werden im Osten denationalisiert, und das ist keineswegs eine bloße Nationalitätensorge, sondern das bedeutet: es wird unser Kulturniveau, der Nahrungsstand der Landbevölkerung und ihre Bedürfnisse herabgedrückt auf das Niveau einer tieferen, östlicheren Kulturstufe. Giebt man sich Rechenschaft, welchen Umfang das bereits genommen hat, so sind dafür einige Anhaltspunkte vorhanden: der Wendepunkt in der Polenfrage ist das Jahr 1861; bis dahin nehmen die Polen prozentual langsam ab, von da ab langsam zu. 18 Es begann die Heranziehung polnischer Wanderarbeiter. Noch im Jahre 1873 überwog die Wanderung deutscher Arbeiter bis tief nach Galizien

16 Zur Regelung der Armenlasten siehe oben, S. 135, Anm. 19. 17 Das preußische Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886 sah für die Provinzen Posen und Westpreußen den Ankauf von polnischem Großgrundbesitz durch die mit staatlichen Geldern ausgestattete Ansiedlungskommission und die Schaffung von deutschem Kleingrundbesitz vor. 18 Weber stützt sich auf das später von ihm (unten, S. 2 4 0 - 2 5 2 ) besprochene Werk von der Goltz': Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat, S. 279f. Möglicherweise bezieht er sich auch direkt auf die hier zitierten Untersuchungen von Eugen von Bergmann und Wilhelm Vallentin (Bergmann, Geschichte; Vallentin, Westpreußen). Diese, von dem Tübinger Nationalökonomen Friedrich Julius Neumann herausgegebenen Studien zitiert Weber später in seiner Antrittsrede (unten, S. 544). Die These von einem „Wendepunkt in der Polenfrage" 1861 (bezüglich Posens) vertritt Neumann auch in einem Aufsatz aus dem Jahre 1883: Germanisierung oder Polonisierung?, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Neue Folge, Band 7,1883, S. 4 5 7 - 4 6 3 .

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und Rußland hinein. Erst seitdem ist die Entwickelung weiter fortgeschritten im Zusammenhang mit dem Niedergang der Landwirtschaft, derart, daß die entgegengesetzte Wanderbewegung alleinherrschend geworden ist. Dieser Zustand bestand ungehindert bis 5 1886. Innerhalb der Jahre 1861 bis 1886 hat nun - ich entnehme dies Beispiel dem eben erschienenen von der Goltz'schen Werke 19 - in Westpreußen in dem Komplex der Kreise Deutsch-Krone, Schlochau, Flatow, wo der Großgrundbesitz - das heißt hier der Besitz von 500Thaler Reinertrag - nur 35% der Fläche besitzt, die prozentuale io Abnahme des | Deutschen nur 0,7, also etwas über % % betragen; in A 72 den Danziger Niederungsgebieten, wo der Großgrundbesitz 50, und auf dem östlichen Höhenstreifen, wo er 64% der Flächen umfaßt, hat dagegen die Abnahme des Deutschtums 5'/2% betragen. 20 Eine derartige Differenz lediglich auf Grund des Umstandes, daß der Groß15 grundbesitz in dem betreffenden Falle vorwiegt, giebt den deutlichen Beweis dafür, daß, wie gesagt, der landwirtschaftliche Großbetrieb des Ostens der gefährlichste Feind unserer Nationalität, daß er unser größter Polonisator ist. Im Jahre 1886 wurde nun die Zuwanderung polnischer Arbeiter verboten, die vorhandenen polnischen Arbeiter 20 wurden des Landes verwiesen.21 Diese Verfügung wurde dann etwas gemildert 22 und schließlich am 26. November 1890 in der Hauptsache aufgehoben. Es wurde den Oberpräsidenten gestattet, im Falle des Nachweises des Bedürfnisses russische Arbeiter zuzulassen unter dem Vorbehalt, daß es sich nicht um Familien, sondern wesentlich 25 um ledige Arbeiter handeln würde, und daß sie bis zum 1. November über die Grenze zurückgeschafft werden sollten. 23 19 Goltz, Arbeiterklasse, S. 280f. 20 Die exakten Zahlen lauten bei von der Goltz, ebd., S. 281, für die Niederungsgebiete 5,59% und für die östlichen Höhenstreifen 5,10%. 21 1885 gab es zwei Ausweisungsverfügungen des preußischen Innenministeriums. Die Verfügung vom 26. März 1885 bezog sich auf Polen russischer Staatsangehörigkeit. Hatten sie keine Aufenthaltserlaubnis, wurden sie ausgewiesen. Zudem gab es Einreisebeschränkungen. Die Verfügung vom 26. Juli 1885 richtete sich auch gegen Polen österreichischer Herkunft; sie sah die Ausweisung aller Polen russischer und österreichischer Staatsangehörigkeit vor, auch derjenigen mit gültigen Aufenthaltsgenehmigungen. Insgesamt wurden von diesen Maßregeln ca. 40000 Polen betroffen. Vgl. Mai, Joachim, Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885/87. - Berlin: Rütten & Loening 1962, S. 42 und 57f. 22 Punkt 5 der Verfügung vom 26. Juli 1885 erlaubte Grenzgängern tagsüber oder sonst zeitlich befristete landwirtschaftliche Arbeit auf preußischem Gebiet. Ebd., S. 57. 23 Zwischen dem 15. November und dem I.April durften sich diese Arbeiter nicht in Preußen aufhalten. Der Erlaß vom 26. November 1890 bezog sich nur auf die Wiederzulas-

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Im Jahre 1891, dem ersten Jahre, nachdem diese Verfügung bestand, ist, wie ich mir aus den Zahlen des Herrn von Mayr, die uns hier vorliegen, zusammengerechnet habe, eine Zahl von rund 33000 russisch-polnischen Arbeitern allein in die vier Grenzprovinzen importiert worden. 24 Im Jahre 1892 trat wegen der Cholera eine erhebliche Erschwerung ein, schließlich wurde die Zufuhr am 1. September verboten; 25 es waren aber bereits über 21000 polnische Arbeiter hereingekommen, davon bereits 13000 innerhalb der ersten beiden Quartale, also Arbeiter, welche nicht nur als Erntearbeiter hereinkommen, sondern welche an eine Arbeitsstelle treten, für die sonst ständige deutsche Arbeiter hätten verwandt werden müssen. 26 Die Zahl von 33000 für 1891 ist übrigens noch nicht einmal vollständig, es fehlt für einen Teil des Gebiets ein volles Quartal.27 Diese Zahlen beziehen sich wie gesagt nur auf die Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien. Die russischen Arbeiter gehen aber bis nach Hessen-Nassau, sie finden in Mecklenburg und im ganzen Osten erhebliche und zunehmende Verwendung. Die Zahl der sämtlichen ländlichen Tagelöhner einschließlich der Tagelöhner in Nebenbetrieben, einschließlich der auch nur einen einzigen Tag in der Landwirtschaft beschäftigt gewesenen Tagelöh-

sung von russisch-polnischen Arbeitern in landwirtschaftlichen und industriellen Betrieben in den vier Grenzprovinzen. Mit Erlaß vom 18. Dezember 1890 wurden auch galizische Polen zugelassen. Vgl. die Angaben bei Nichtweiss, Johannes, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches.-Berlin: Rütten & Loening 1959, S.43. 24 Aus den von Georg von Mayr auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik vorgelegten Zahlen aus dem preußischen Innenministerium ergibt sich für 1891 eine Gesamtzahl von russisch- und galizisch-polnischen Arbeitern in den vier Grenzprovinzen (Westpreußen, Ostpreußen, Posen, Schlesien) von 27733 (gewerbliche Arbeiter eingeschlossen). Mayr, Statistik, S. 3 7 - 4 7 . Aus den Geschäftsakten des Vereins für Socialpolltik geht hervor, daß Weber während der Tagung dieselben Zahlen vorgelegen haben. ZStA Merseburg, Rep. 196, Nr. 38, B I . 3 — 3 g und 55. 25 Im September 1892 wurde eine Reihe von Verordnungen zur Bekämpfung der Cholera erlassen und scharfe Grenzkontrollen durchgeführt. Die Minister des Innern, für Landwirtschaft und der Medizinalangelegenheiten untersagten In einem Schreiben vom 19. September 1892 an die Oberpräsidenten der östlichen Provinzen schließlich den Zuzug russisch-polnischer Arbeiter. Vgl. die Angaben in: Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes, 17. Jg., 1893, S. 264. 26 In den ersten beiden Quartalen 1892 wanderten 13363, in den ersten drei Quartalen 19289 und im Jahr 1892 insgesamt 21 367 polnische Arbeiter aus Rußland und Osterreich in die vier preußischen Grenzprovinzen. Mayr, Statistik, S.48: Tabelle VI, Fortsetzung. 27 Für Westpreußen fehlen die Angaben für das erste Quartal. Ebd., S.38.

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ner betrug nun nach der letzten Berufsstatistik in den gedachten 4 Provinzen rund 800000; 28 davon beträgt diese Zahl 33000 etwa Vu. Sie müssen aber in Betracht ziehen, daß diese Zuwanderung von polnischen Arbeitern sich zu einem großen | Bruchteil auf ein weit A 73 enger umgrenztes Gebiet, eben grade auf den national umstrittenen Distrikt von vier Provinzen und auf die großen Güter beschränkt und hier mit voller Intensivität wirkt, und wenn Sie den entsprechenden Multiplikator anwenden, so sehen Sie schon aus diesen Zahlen, daß bereits jetzt eine derartig gewaltige Zuwanderung stattfindet, daß schon in kurzem die denationalisierenden Folgen absolut nicht ausbleiben können. - Und ferner: der einzelne polnische Arbeiter verdrängt in der Ernährung auf dem heimischen Boden nicht etwa nur einen einzelnen deutschen Arbeiter, sondern eine Arbeiterfamilie", er seinerseits nimmt ja die Lohnüberschüsse nach Rußland zurück und ernährt davon seine dortige Familie, und ebenso würde ein deutscher Arbeiter von seinen Lohnüberschüssen gleichfalls wenigstens einen erheblichen Bruchteil der Unterhaltskosten für seine einheimische Familie verwendet haben. Die Verdrängung umfaßt also auch rein ziffernmäßig ein Vielfaches der angegebenen Zahlen. Und endlich ist vom Interessenstandpunkt der Arbeiter aus zu sagen: die Heranziehung der Polen bedeutet eine Lähmung der deutschen Arbeiterschaft im Lohnkampf mit den Großgrundbesitzern, wie sie schwerer nicht gedacht werden kann. Alles in allem also, meine Herren: der Großgrundbesitz ist dasjenige Element, welches im Osten zur Zeit am stärksten polonisiert. Es ist eine Frage der Zeit, wann der Moment gekommen sein wird, wo er in seinem Auftreten gemeinschaftliche Sache mit den Polen wird machen müssen. Es ist auf die Dauer für ihn nicht möglich, die nationale Sache zu vertreten, wenn seine Arbeiter Polen sind. Er wird dem Schicksal nicht entgehen, dem österreichische Magnaten mit alten deutschen Namen verfallen sind: er verliert zunächst die Gemeinschaft der nationalen Interessen mit seinen Hintersassen, und dann wird er derjenige sein, welcher nachgeben wird. - Die ersten Symptome dafür sind denn auch vorhanden. Wenn im Reichstag oder Abgeordnetenhaus ein

28 Die Zahl der landwirtschaftlichen T a g e l ö h n e r mit und o h n e s e l b s t ä n d i g e n Landwirtschaftsbetrieb betrug in d e n vier östlichen G r e n z p r o v i n z e n 1 8 8 2 8 4 5 0 3 7 . Statistik N F 2 , S. 81*.

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schlesischer Besitzer sagen kann: es versteht sich von selbst, daß wir Großgrundbesitzer unsere Arbeiter nehmen können, woher wir wollen und sie billig bekommen können, und deshalb die Aufhebung derjenigen Schranken verlangt, welche jetzt noch dem Zuzug der fremden Arbeiter entgegenstehen 29 - nun, so ist das ein Manchester- 5 Standpunkt, der damit im schroffsten Widerspruch steht, daß derselbe Herr der Nation untersagen will, ihr Brot daher zu nehmen, woher sie will und es billig erhalten kann. Und wenn in Westpreußen die Vertreter des Großgrundbesitzes jetzt schon gemeinschaftliche Sache mit den nationalen Gegnern machen, so sind das eben die 10 ersten Anfänge, die uns zeigen, wohin es kommen kann, wenn die Sache so weiter geht. Ich habe absichtlich dieses nationale Moment in den Vordergrund gestellt, weil es das in erster Linie praktische ist, A 74 - es ist | eben keineswegs ein rein ideales, sondern involviert im Osten eine „Messer- und Gabelfrage" 30 in des Wortes vollster Be- 15 deutung.Meine Herren, wenn ich jetzt zunächst resümieren soll, was ich ausgeführt habe, so erlaube ich mir die allgemeine Bemerkung: ich betrachte die „ländliche Arbeiterfrage" hier ganz ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Staatsräson; sie ist für mich keine Frage 20 der Landarbeiter, also nicht die Frage: geht es ihnen schlecht oder gut, wie ist ihnen zu helfen? Diese Fragen können wir aufgrund der Enquete nur sehr bedingt beantworten, und jedenfalls ist es nicht derjenige Gesichtspunkt, unter dem ich die Sache betrachtet habe; aber freilich: noch viel weniger ist sie die Frage: wie sind den östli- 25 chen Großgrundbesitzern Arbeitskräfte zu verschaffen? Das Inter-

2 9 Der schlesische Rittergutsbesitzer Julius Szmula forderte am 9. März 1893 im preußischen Abgeordnetenhaus: „Eine große und kräftige Regierung mit hunderttausenden von Bajonetten könnte einfach sagen: nehmt die Leute, woher ihr sie bekommt, daß möglichst viel Land bebaut und Getreide erzeugt wird. Das wäre, meine Herren, eine große That der Regierung, das würde einer so großen Regierung würdig sein. Aber, meine Herren, diese Kautelen, die gestellt werden, sind meiner Ansicht nach ein Armuthszeugnis für die Stärke und die Kraft einer Regierung." Sten. Ber. pr. AH., 17. Leg. Per., V. Sess. 1892/93, Band 3, S. 1484. 3 0 Diese Formulierung geht auf den Chartistenführer Joseph Rayner Stephens zurück, der sie 1838 auf einer Versammlung bei Manchester prägte. Friedrich Engels zitierte sie zuerst in deutscher Übersetzung: „Der Chartismus [...] ist keine politische Frage, [...] sondern [...] eine Messer- und Gabel-Frage, die Charte, das heißt gute Wohnung, gutes Essen und Trinken, gutes Auskommen und kurze Arbeitszeit." Engels, Friedrich, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. - Leipzig: Otto Wigand 1845, S. 277.

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esse des Staates und einer Nation kann differieren von dem Interesse jedes einzelnen Standes, nicht nur von dem des Großgrundbesitzes, was gelegentlich vergessen wird, sondern auch von dem des Proletariats, was neuerdings mindestens ebenso oft vergessen wird. Das Interesse des Staates an der ländlichen Arbeiterfrage im Osten ist lediglich begriffen in der Frage, wie es um die Fundamente der socialen Organisation bestellt ist, ob der Staat sich darauf stützen kann, auf die Dauer, zum Zweck der Lösung derjenigen politischen Aufgaben, welche ihm im Osten demnächst bevorstehen. Diese Frage ist meines Erachtens zu verneinen. Meine Herren, ich anerkenne in dem Schlußwort zu meinem Enquetebericht, daß der Großgrundbesitz und seine Arbeitsverfassung für die Vergangenheit erhebliche Verdienste um die Nation hat. 31 Mißdeutungen in der Presse beider Richtungen veranlassen mich, das hier zu interpretieren. 32 Es ist mir nicht eingefallen, zu behaupten, daß wir eine besondere „Dankesschuld" gegenüber dem Großgrundbesitz als solchen abzutragen hätten. Ich bin der Ansicht, daß die Großgrundbesitzer der Vergangenheit dem Staate dienten, indem sie ihren eigenen Interessen dienten, daß sie vor allen Dingen nicht mehr gethan haben, indem sie für den Staat und an seiner militärischen und politischen Größe mitarbeiteten, als ihre „verdammte Pflicht und Schuldigkeit"33 so gut wie irgend ein anderer Stand im Staate, und nur weil dies nicht bei jeder Aristokratie selbstverständlich gewesen ist, erkennen wir es an. Ich glaube vor allem nicht, daß diese Anerkennung, so weit sie begründet ist, den Personen gebührt, sondern der socialen Organisation, deren Produkte diese Personen gewesen sind. In diesem Sinne ist diese Anerkennung einfaches Gebot der Gerechtigkeit. Aber, meine Herren, eben diese Organisation zerfällt; sie zerfällt vielleicht nicht plötzlich, vielleicht nicht vollständig z. B. bis zum Ende dieses Jahrhunderts. Je

31 Weber, Landarbeiter, S. 799f. (MWG I/3, S. 922f.). 3 2 Die Berliner National-Zeitung hatte in einem Artikel die agrar- und handelspolitischen Positionen der Konservativen angegriffen. Am gleichen Tag veröffentlichte daraufhin die Kreuzzeitung einen Artikel, in dem sie, Passagen aus dem Schlußteil von Webers Untersuchung zitierend und Weber so für sich politisch vereinnahmend, ihren Standpunkt verteidigte. NZ, Nr. 74 vom 2. Febr. 1893, Mo. Bl„ S.1, Sp. 1 - 3 , und Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 56 vom 2. Febr. 1893, Ab. Bl., S. 1, Sp. 1 - 3 . Vgl. auch Riesebrodt, S. 15f. 3 3 Siehe oben, S. 169, Anm.8.

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länger aber der Verfall sich fortsetzt, umsomehr nimmt er den ChaA 75 rakter eines | chronischen Fäulnisprozesses des Ostens an. Eine solche zerbröckelnde Organisation ist nicht fähig, die wichtigsten politischen Aufgaben des Staates lösen zu helfen: in erster Linie die Wahrung der deutschen Kultur im Osten, die Verteidigung unserer Ostgrenze, der deutschen Nationalität, auch im Frieden. Der Großgrundbesitz kann diese Aufgabe nicht lösen. Man muß die Vorstellung aufgeben, als ob er allein es wäre, auf welchen man sich auf die Dauer im Osten stützen könne und dürfe. Er wird entwurzelt und für den Staat wertlos - nicht durch seine Schuld, wie ich wiederhole, sondern durch übermächtige nationale Wandlungen materieller und psychologischer Art. Ich will nicht weiter ausgreifen, um nicht noch länger zu sprechen. Ich komme vielmehr unmittelbar zu denjenigen praktischen Forderungen, welche meines Erachtens sich aus dieser Situation ergeben. Die wichtigste Forderung, die überhaupt auf diesem Gebiete im gegenwärtigen Moment zu stellen ist, ist die des absoluten Ausschlusses der russisch-polnischen Arbeiter aus dem deutschen Osten. Als Übergangsstadium und sofort in's Werk zu setzen wäre der Ausschluß aller derjenigen Arbeiter, welche vor der Zeit der Getreideernte nach Deutschland hereinkommen. Aber es muß der Entschluß gefaßt werden, diesen Ausschluß der Fremdlinge zu einem absoluten zu machen. Ich freue mich, in diesem wichtigen Punkt die Zustimmung des Herrn Professor von der Goltz in seinem mir soeben zugegangenen neuen Werke zu finden. 34 Meine Herren, wer glauben sollte, daß wir im Osten nationale Politik aus „Chauvinismus" treiben - nun, der kann oder will nicht verstehen, um was es sich handelt. Es ist nicht möglich, zwei Nationalitäten mit verschiedenen Körperkonstitutionen, - verschieden konstruierten Mägen, um mich ganz konkret auszudrücken, auf einem und demselben Gebiete als Arbeiter gänzlich frei konkurrieren zu lassen. Es ist nicht möglich für unsere Arbeiter, mit den polnischen Arbeitern zu konkurrieren. Die deutschen Arbeiter müßten in ihren Bedürfnissen eine Kulturstufe heruntersteigen, ganz analog wie unser Landwirtschaftsbetrieb deshalb konkurrenzunfähig ist, weil er eine Kulturstu-

34 Gemeint ist Goltz, Arbeiterklasse, hier: S. 283, der ebenfalls das Verbot der Zulassung polnischer Wanderarbeiter fordert.

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fe heruntersteigen müßte, um mit den Landwirtschaftsbetrieben in Rußland, Argentinien und Amerika zu konkurrieren. E s giebt eine gewisse Situation kapitalistisch desorganisierter Volkswirtschaften, unter welchen die höhere Kultur nicht überlegen, sondern schwächer ist im Kampf um's Dasein gegenüber der niedriger stehenden Kultur. In einer solchen Situation befinden wir uns zur Zeit. Mit unseren polnischen Volksgenossen wollen wir schon fertig werden, wir hoffen, das polnische Proletariat des Inlandes auf das Niveau der deutschen Kultur zu heben, - unmöglich wird das aber, wenn der fortgesetzte | Einbruch östlicher Nomadenschwärme diese Kulturarbeit A 76 regelmäßig wieder vernichtet und in ihr Gegenteil umkehrt. Gegen die angeblich projektierte Kulieinfuhr erhob sich seinerzeit große Entrüstung, 3 5 die Einfuhr der Polen ist aber vom Kulturstandpunkt weit gefährlicher, denn mit den Kulis assimilieren sich unsere deutschen Arbeiter nicht, wohl aber ist dies mit den halbgermanisierten Slaven unseres Ostens 3 6 gegenüber den Polen der Fall. Meine Herren, die dermalige Verfügung des Ministeriums des Innern, auf welcher die Zulassung der polnischen Arbeiter beruht, 3 7 geht aus von dem Gedanken: es schade nichts, wenn die polnischen Arbeiter hereinkommen, sofern sie nur wieder herausgelangen. Erstens gelangen sie nicht alle wieder heraus. E s ist garnicht zu verhindern, wenn man die Leute nicht schlechterdings festbindet und über die Grenze schafft, daß nicht ein erheblicher Bruchteil dieser Arbeiter im Inlande verbleibt. E s ist aber auch nicht richtig, daß eben diese zeitweise Zulassung social- und nationalpolitisch nichts schadet, das - möchte ich glauben - geht aus dem, was ich auszuführen versuchte, mit Sicherheit hervor. Gerade diese zeitweise Zulassung, welche die Grundbesitzer jeder dauernden Verant-

3 5 Der Vorschlag westpreußischer Gutsbesitzer aus dem Jahre 1889, chinesische Kulis zur Landarbeit nach Deutschland zu holen, veranlaßte das preußische Landwirtschaftsministerium dazu, über das Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten am 19. August 1890 einen Bericht über die Arbeitsverträge der chinesischen Kulis an der Ostküste Sumatras einzuholen und zusammen mit dem Ministerium des Innern einen Briefwechsel mit dem Oberpräsidenten der Provinz Pommern über die Heranziehung von Chinesen als Arbeitskräfte zu führen. Vor allem in der sozialdemokratischen und freisinnigen Presse stießen diese Pläne auf heftige Kritik. Vgl. dazu die Angaben bei Nichtweiss, Saisonarbeiter, S. 38f. 36 Gemeint sind vermutlich die in Preußen ansässigen Polen, Kaschuben, Wenden und Masuren. 37 Gemeint ist der Erlaß vom 26. November 1890. Siehe oben, S. 177f„ Anm. 23.

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wortlichkeit für die verwendeten Arbeitskräfte enthebt, ist die denkbar gefährlichste Form, sie ist dasjenige Moment, welches zur Abschiebung der deutschen Arbeiter aus dem Osten führt und die Mobilisierung der Landbevölkerung am schärfsten fördert. Meine ganze Argumentation ist sehr einfach: Es hat die Enquete meines Erachtens zweifellos ergeben, daß der Nahrungsstand, daß die Lohnhöhe, daß die gesunde sociale Stellung der Arbeiter im Osten abhängt in erster Linie von der Intensität des Deutschtums. Die Enquete hat ferner ergeben, daß eine Verdrängung der deutschen Arbeiter durch die polnischen Wanderarbeiter in gefährlicher Weise erfolgt. Es ergiebt sich schon daraus die aufgestellte Forderung meines Erachtens von selbst. Man könnte nun, meine Herren, als zweites Moment in Frage ziehen, ob nicht dem Ausschluß der ausländischen Arbeiter ein Festhalten der inländischen Arbeiter an der Scholle entsprechen sollte. Ich habe nicht die geringste Neigung, hier eine Debatte über die Freizügigkeit zu entfesseln; es würde aber mißdeutet werden, wenn dazu bei dieser Gelegenheit garnicht Stellung genommen würde. Es ist diese Forderung - indirekte Einschränkung des Fortzuges durch Erhebung von Einzugsgeldern seitens der Städte, nicht nur von Enqueteberichterstattern gestellt, 38 sondern auch von der neuen agrarischen Bewegung, obwohl man nicht gewagt hat, sie bei der bekannten Audienz an das Ohr Seiner Majestät des Königs zu bringen, wahrscheinlich, weil ein stillschweigendes Anhören dieses Vorschlages gegenüber der öffentlichen Meinung bedenklich erschienen A 77 wäre. 39 Nun ist durchaus | nicht zu verkennen, daß das Fortziehen zumal der jungen Arbeitskräfte vom Lande in die Stadt ein oft geradezu unglaublich planloses ist, ohne Zweck und ohne eine Ahnung von den Konsequenzen geschieht, und mit einer wirklich besse38 Weber bezieht sich hierauf Berichte aus Ostpreußen. Ihnen zufolge forderten Gutsbesitzer die Erhebung von Einzugsgeldern durch Kommunen mit über 20000 Einwohnern mit dem Ziel, „bessere Arbeitskräfte" zu bekommen. Vgl. Weber, Landarbeiter, S. 197f. (MWG I/3, S. 275f.). 39 Der am 18. Februar 1893 gegründete Bund der Landwirte forderte in seinem Programm unter Punkt7 auch eine Einschränkung der „Freizügigkeit" für landwirtschaftliche Arbeitskräfte (von der Erhebung von Einzugsgeldern ist nicht die Rede). In die Denkschrift, die eine Abordnung der landwirtschaftlichen Zentralvereine der östlichen Provinzen dem Kaiser am 22. Februar 1893 überreichte und in der auf die bedrängte Lage der Landwirtschaft hingewiesen wurde, war dieser Vorschlag jedoch nicht aufgenommen worden. Vgl. Schulthess, 1893, S. 9 und S. 1 0 - 1 7 , bes. S. 16.

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ren Lage, in die sich diese Leute dadurch zu bringen glauben, schlechterdings nichts zu schaffen hat. Gäbe es technisch durchführbare Mittel, dem wirksam vorzubeugen, so würde ich an einem Eingriffe in das vermeintliche allgemeine Menschenrecht der freien Disposition über sich selbst gewiß am letzten Anstoß nehmen. Aber das vorgeschlagene Mittel ist unpraktikabel. Einmal sehe ich nicht ein, wie eine Kommune wie Berlin z.B. wirkliche Garantien für die Zurückschaffung derjenigen, welche sich der Zahlung entziehen, schaffen sollte. - Dann aber, und das ist der principielle Punkt gegenüber jeder Form der Beschränkung der Freizügigkeit: Glauben Sie denn, daß wir uns in der Lage fühlen könnten, der Landwirtschaft Leute zurückzuschicken, von denen wir nicht wissen, ob und in welchem Umfange sie lohnende Arbeit finden auf dem Lande? Mag auch Arbeitermangel auf dem Lande die Regel sein, unzutreffend ist, daß selbstverständlich überall auf dem Lande im Osten Arbeit zu finden sei, und vor allen Dingen, daß sie zu angemessenen Löhnen und dauernd zu finden sei. Es müßte also der einzelne Fall untersucht werden, es müßte auch die Möglichkeit vorhanden sein, wenn wir die Leute zurückschicken oder auf dem Lande festhalten, dem betreffenden Großgrundbesitzer vorzuschreiben, welchen Lohn er dem Manne zu zahlen hat. Wir würden dann ein Eingreifen in die Arbeitsverfassung des Ostens, eine staatliche Revision der Arbeitsverhältnisse auf dem Lande mit Lohntaxen irgendwelcher Art haben. Das wäre ja nun durchaus nichts unerhörtes. In Mecklenburg hat nach der achtundvierziger Bewegung der Landarbeiter eine ähnlich geordnete staatliche Regelung stattgefunden; es sind unter Zuziehung von staatlichen Kommissaren Regulative festgesetzt worden für einzelne Güter - und sie haben keineswegs bloß auf dem Papier gestanden - , durch welche die Gebührnisse der Landarbeiter festgestellt wurden. 40 Ich glaube aber, vor die Wahl gestellt, sich einen derartigen Eingriff gefallen zu lassen oder den gegenwärtigen Freizügig-

4 0 Gemeint ist die mecklenburgische „Verordnung wegen Einsetzung von SchiedsCommissionen zur Feststellung streitiger Verhältnisse der Hoftagelöhner" vom 15. Mai 1848. Die Kommissionen bestanden aus einem von der Regierung eingesetzten Commissarius und zwei von diesem ausgewählten Landwirten der Umgebung. Gesetzsammlung für die Mecklenburg-Schwerln'schen Lande. Zweite Folge, hg. von H.F.W. Raabe, 5. Band. - Wismar: Hinstorff'sche Hofbuchhandlung 1857, S. 3 8 0 - 3 8 2 . Diese Regelung galt für die ritterschaftlichen Güter; zur Stellung der Hoftagelöhner auf dem Domanlum siehe unten, S. 195, Anm. 61.

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keitszustand aufrecht zu erhalten, würde der überwiegende Teil der Landwirte doch das letztere wählen. Im Zusammenhang mit der Frage der Freizügigkeit möchte ich ein Wort über die Gesindeordnung mit Bezug auf die praktisch nichtige 3 Zwangsrückführung im Falle des Kontraktbruches sagen. 41 Sie ist 5 sowohl von Seiten der Berichterstatter als von seiten politischer Parteien im Lande zum Gegenstand von Erörterungen und Angriffen gemacht worden. 4 2 Der zunächst in die Augen fallende ÜbelA 78 stand an der Gesindeordnung ist, daß | schlechterdings keine Gleichmäßigkeit der Zustände in den einzelnen Gegenden besteht. In jeder 10 Provinz, in jedem Regierungsbezirk sind die Verhältnisse und die Praxis in der Subsumtion der einzelnen Kategorien unter die Gesindeordnung verschieden. Die Instleute, welche in Ost- und Westpreußen unter die Gesindeordnung fallen, 43 stehen in Pommern und Brandenburg nicht darunter. In Schlesien sucht man die Kontraktar- 15 beiter künstlich durch Hingabe des Mietsthalers 44 darunter zu bringen, ebenso auch die social viel tiefer stehenden Komorniks in Posen. 4 5 Eine scharfe Grenze ist auf dem Boden des geltenden Rechtes

a A: richtige Die Emendation wird durch die f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n W e b e r s nahegelegt. Vgl. auch A n m . 4 2 .

41 In § 167 der preußischen G e s i n d e o r d n u n g v o m 8. N o v e m b e r 1810 w u r d e festgelegt, daß „ G e s i n d e , w e l c h e s vor Ablauf der Dienstzeit ohne gesetzmäßige Ursache den Dienst verläßt", mit Hilfe von Zwangsmitteln zur Fortsetzung seiner Dienstaufgaben angehalten w e r d e n muß. G S 1810, S. 119. 4 2 Die Berichterstatter, also die bei der Enquete befragten Gutsbesitzer, plädierten teils für die Ersetzung der Z w a n g s r ü c k f ü h r u n g durch Haftstrafen, teils für beschleunigte Verfahren bei der Rückführung, w e l c h e w e g e n ihrer langen Dauer „gänzlich w i r k u n g s l o s " sei. Vgl. Weber, Landarbeiter, S . 3 8 0 ( M W G I/3, S . 4 7 1 ) . H a u p t k r l t i k e r d e s veralteten G e s i n d e rechts waren die Sozialdemokraten, vor allem aus koalitionsrechtlichen Gründen. 4 3 In der Kabinettsorder v o m 8. A u g u s t 1837 w u r d e festgestellt, daß die B e s t i m m u n g e n der G e s i n d e o r d n u n g v o m 8. N o v e m b e r 1810 bezüglich der Z w a n g s r ü c k f ü h r u n g auch auf die Instleute der Provinz Preußen (also den z w i s c h e n 1824 und 1877 z u s a m m e n g e l e g t e n Provinzen W e s t - und Ostpreußen) a n g e w e n d e t w e r d e n sollten. Die Kabinettsorder ist veröffentlicht in: Jahrbücher für die Preußische G e s e t z g e b u n g , Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung, Band 5 0 , 1 8 3 7 , S . 8 2 f . 4 4 Bei der Einstellung v o n g e m e i n e m G e s i n d e trat an die Stelle eines schriftlichen Vertrages die Zahlung eines Mietgeldes oder Mietstalers; die A n n a h m e des G e l d e s galt als Vertragsabschluß. Vgl. § 22 und 23 der G e s i n d e o r d n u n g v o m 8. Nov. 1810, G S 1810, S. 104. 4 5 In P o m m e r n (mit A u s n a h m e v o n N e u v o r p o m m e r n und Rügen), Brandenburg, Schlesien und Posen galt uneingeschränkt die G e s i n d e o r d n u n g von 1810, nach deren Maßstä-

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absolut nicht zu ziehen; es muß Gleichmäßigkeit hergestellt werden. Diese aber kann nur bestehen in der Beseitigung der Anwendbarkeit der Gesindeordnung auf alle diejenigen Personen, welche nicht wirklich zum häuslichen Gesinde gehören. Niemand hat bisher zu behaupten versucht, daß die bestehenden Zwangszurückführungsvorschriften genügten oder zweckmäßig seien, um Kontraktbruch zu verhindern. Im Gegenteil, aus der Enquete geht das fruchtlose und verbitternde der Maßregel hervor, welche in der Zwangszurückführung, zumal, wenn es sich um Familien handelt, liegt. Das einzige angemessene Zwangsmittel gegen Kontraktbruch bei Familien ist das Pfandrecht an demjenigen Mobiliar, welches der Arbeiter in das Gewahrsam des Gutsherrn gebracht hat. Nun könnte es sich ja fragen, ob an Stelle dieser bunten Mannigfaltigkeit des Rechts, dem die Landarbeiter unterstehen, nicht etwas einheitliches gesetzt werden könnte, in Verbindung etwa mit einem staatlichen Eingriff in die Land- und Weideverhältnisse der einzelnen Güter, nach Analogie der schon berührten mecklenburgischen Regulative. 4 6 Historisch wäre ein solcher Eingriff sehr wohl berechtigt auf Grund des Umstandes, daß diese jetzt depossedierten Arbeiter ehemals nicht bloß Lohnarbeiter, sondern in ihrer A r t so gut wie die Bauern auch anteilsberechtigt waren an dem Boden, welchen sie bebauten. Es wäre eine moderne Analogie zum Bauernschutz, eine Modifikation des bisherigen Grundsatzes der preußischen Socialpolitik, welche allein eine Bauernpolitik war - bei der Regulierung sowohl als bei der Gemeinheitsteilung hat sich das gezeigt 47 - zu Gunsten auch der bisher regelmäßig vergessenen Landarbeiter. A l lein dieses Eingreifen des Staates ist heute nicht mehr möglich, weil die Zersetzung dieser älteren socialen Organisation schon zu weit

ben Instleute nicht zum Gesinde gehörten. Lindenberg, C., Das Preußische Gesinderecht im Geltungsbereiche der Gesindeordnung vom 8. November 1810. - Berlin: H.W. Müller 1901 6 , S. 3f.; Vormbaum, Thomas, Politik und Gesinderecht im 19. Jahrhundert. - Berlin: Duncker & Humblot 1980, S. 30f. 46 Siehe oben, S. 185, Anm. 40. 47 Die Deklaration vom 29. Mai 1816 schloß kleinere, nicht s|j,uiniahige Bauernstellen von der Regulierung aus. Mit der Aufteilung der Allmende, eingeleitet durch die Gemeinheltsteilungsordnung vom 7. Juni 1821, verloren zudem Kleineigentümer zumeist auch ihr Mitweiderecht und damit die Basis für ihre Wirtschaft. Die preußische Agrargesetzgebung begünstigte mithin in erster Linie die mittlere spannfähige Bauernschaft. Zu den Gesetzen vgl. auch oben, S. 95, Anm. 10 und 11.

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vorgeschritten ist. In Frage könnte nur kommen - und das ist in Vorschlag gebracht worden 48 - ob man etwa Schiedsgerichte speciell zum Zwecke der Regelung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf dem Lande organisieren soll. Es käme nur darauf an, wie diese Schiedsgerichte zusammengesetzt wären, namentlich daß sie nicht ausschließlich beständen aus den InteressenA79 Vertretern eines Standes, daß nicht | z.B. etwa die Amtsvorsteher, welche aus den Gutsbesitzern hervorgehen, diejenigen wären, welche in diesen Schiedsgerichten die ausschlaggebende Stellung einnähmen. Im übrigen: versprechen würde ich mir von der Einführung eines solchen Instituts nicht viel, weil jede Organisation der Landarbeiter fehlt und bisher gesetzlich fehlen muß, 49 namentlich aber, weil eine solche Organisation, auch wenn sie jetzt gesetzlich zulässig wäre, garnicht möglich ist. Man braucht nur die konkreten Zustände sich vorzustellen. Ein Instmann, ein Arbeiterpächter, ein Häusler, ein Büdner, ein besitzloser Tagelöhner und ein Wanderarbeiter alle diese Kategorien können auf einem Gut vorkommen - , diese Leute können keine drei Schritte zusammengehen, ohne daß ihre Interessen auseinanderlaufen, und es ist nicht möglich, derartige verschiedene Interessengruppen nach Analogie etwa der Gewerkvereine zu organisieren. Meine Herren, ich habe nun noch kurz zu erörtern den Interessenstandpunkt der Landarbeiter gegenüber der brennenden Frage, die morgen zur Erörterung steht, gegenüber der inneren Kolonisation. 50 Es kommt hier für uns in Betracht einmal die Frage der Seßhaftmachung der Arbeiter als Arbeiter und dann die praktische Bedeutung der etwa zu schaffenden Möglichkeit, daß Landarbeiter aufsteigen in den Bauernstand. Die Bedeutung beider Maßregeln ist eine grund-

48 Auf welchen aktuellen Vorschlag sich Weber hier bezieht, konnte nicht ermittelt werden. 4 9 Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes, die 1871 auf das Deutsche Reich übertragen wurde, bot Landarbeitern keinen Schutz vor landesrechtlichen Bestimmungen, die Koalitionen der Landarbeiter verboten. Dies war in Preußen der Fall. Das preußische Dienstpflichtgesetz vom 24. April 1854 bedrohte Verabredungen von Landarbeitern zu Arbeitseinstellungen mit einer Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr. G S 1854, S.214-216. 5 0 Für den zweiten Verhandlungstag war als Thema „Die Bodenbesitzverteilung und die Sicherung des Kleingrundbesitzes" vorgesehen. Es hing eng mit den Fragen der „inneren Kolonisation" zusammen.

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verschiedene: die erste enthält nur eine Umgestaltung der Lage der Arbeiter innerhalb der gleichen socialen Schicht, in der sie verbleiben, die zweite dagegen würde, wenn sie gelänge, die obere Schranke des Aufsteigens hinwegräumen, welche die sociale Organisation im Osten den Landarbeitern gegenüber aufgerichtet hat. Was zunächst die Begründung von Arbeiterstellen anlangt, also von Stellen, welche begründet werden für Personen, die weiter dauernd auf Lohnarbeit gehen sollen, so steht es nicht, wie oft behauptet worden ist, im Einklang, sondern im Widerspruch mit dem Begriff des Grundeigentums, daß ein Mann, welchem sein Grund und Boden, den er bewirtschaftet, nicht die volle Möglichkeit der Existenz gewährt, sondern ihm nur mehr nebenher einen kleinen Beitrag, gewissermaßen wie ein Taschengeld zur Ergänzung seines Budgets liefert - , daß ein solcher Mann mit dem Boden in eine rechtliche Beziehung gesetzt wird, welche derjenigen des Eigentums auch nur analog ist. Es sind auch die Ergebnisse der Enquete über diesen Punkt gerade geeignet, das allerernsteste Mißtrauen gegen eine derartige Maßregel, wenn man sie als regelmäßige Form der Gestaltung unserer Arbeitsverfassung denken wollte, zu erregen. Überall, wo eine große Zahl derartig mit Grund und Boden versehener Arbeiter sich findet, sind die Löhne und zwar teilweise in einem unerhörten Maße gedrückt. Diese Leute | sind eben schollenfest, sie können A80 nicht fort. Und, meine Herren, wer glaubt, daß ein Mann, der deshalb nicht fort kann, und seine Arbeitskräfte ausnutzen, wo er will, weil einige Morgen deutschen Bodens an seinen Fersen kleben, daß dieser Mann eine angenehme Beziehung zum vaterländischen Boden gewinnen und ein brauchbares Glied innerhalb der socialen Gliederung auf dem Lande werden wird, der befindet sich in einem bedenklichen Irrtum. Der schrecklichste der Schrecken ist ein grundbesitzendes Proletariat, dem die ererbte Heimstätte zum Fluche wird. Es ist im übrigen ja die Lage der grundbesitzenden Arbeiter eine verschiedene, je nachdem sie in der Nachbarschaft von Bauern in Dorfgemeinden oder in der Nachbarschaft allein von großen Gütern sitzen. Dem Bauern gegenüber hebt der Grundbesitz den Mann, dem Großgrundbesitzer gegenüber nicht. Der Bauer beutet den Einlieger auch als Mieter aus, weniger als Arbeitskraft. Dem Großgrundbesitzer liegt dagegen an dem bischen Miete nichts, er will nur die feste, dauernde, an die Scholle gefesselte Arbeitskraft, und des-

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halb ist im Interessenkampf mit dem Großgrundbesitzer der grundbesitzende Arbeiter gegenüber dem besitzlosen benachteiligt. - Ich will damit nicht behauptet haben, daß eine Gründung von Häuslerstellen immer und überall auszuschließen wäre, aber sie darf nur der Schlußpunkt großer Kolonisation sein. Erst wo große Bauerndörfer entstanden sind, wo Arbeitsgelegenheit in nächster Nähe immer zu finden ist, wenn durch Reservate im allgemeinen vorgesorgt ist, daß der kleine Besitzer eine genügende Viehhaltung haben kann, erst dann kann die Begründung von Häuslern befürwortet werden. - Wie die Enquete ergiebt, ist die Gefahr der Schaffung Kartoffeln konsumierender Kleinstellenbesitzer eine dringende. Diese Gefahr ist nun aber am allerdringendsten bei denjenigen Stellen, welche ein Übergangsstadium bilden von den kleinsten Stellen zu Bauernstellen. Diese Leute, also die sogenannten Büdner, sind in der That schollenfest. Der kleine Häusler mit wenigen Morgen Land kann Sachsengänger werden, wenn er in der Nachbarschaft keine Arbeit findet. Der Büdner ist gebunden. Er hat einige Arbeitstage im Jahr übrig, die er verwerten müßte. Diese könnte er aber gerade nur in der Erntezeit verwerten und grade dann ist er unabkömmlich. Dieser Büdnerstand ist einer der gefährlichsten auf dem Lande. Überall, wo er in starkem Maße besteht, hat man beobachtet, daß solche Büdner unter allen Umständen es vermeiden, auf Arbeit zu gehen, daß sie lieber auf das kümmerlichste leben, auf ihrem Grund und Boden sich durchschlagen, als in der Heimat sich Arbeit suchen. Dieses Moment muß in allererster Linie davor warnen, derartige Stellen zu schaffen, und das um so mehr, als die Tendenz der Parzellierungsbewegung im A 81 Osten | gewisse ganz gleichartige Gefahren in sich birgt, welche auch für die Praxis der inneren Kolonisation von eminenter Bedeutung sind: Die unzweifelhaft vorhandene Tendenz der Güterzerschlagung und damit auch die Zukunft der inneren Kolonisation kann man unter zwei Gesichtspunkten betrachten: unter einem mehr optimistischen und unter einem mehr pessimistischen. Unter dem optimistischen betrachtet sie in erster Linie mein verehrter älterer und erfahrenerer Freund, Herr Professor Sering. Er erwartet von dem Fortschreiten der Technik eine Entwickelung kleinerer intensiv bewirtschafteter Stellen. Umgekehrt erwartet er von diesen kleineren Stellen, daß sie Fortschritte der Technik herbeiführen und eine Aufbesserung des landwirtschaftlichen Betriebes im Osten sich daran an-

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schließen werde. 51 Ich will das nicht bestreiten für erhebliche, von der Natur hervorragend begünstigte Teile des Ostens; bestreite es b aber für ein weitaus größeres Areal im Osten, welches der Überführung in den intensiven Betrieb mit Garten- oder Rübenkultur, intensiver Viehzucht oder ähnlichem zweifellos dauernd verschlossen ist, und für welches die Produktionsbedingungen dauernd auf eine Kombination von Getreidebau und Viehzucht in mittlerer Intensität zugeschnitten sein müssen, sofern man nicht den Übergang zur ewigen Weide unter Ersparung von Kapital und Arbeit herbeiführen will. Für dieses Areal kommt nun die gegenwärtige Lage der Landwirtschaft in besonders verhängnisvoller Art zur Geltung. Die Landwirtschaft im Osten ist vom geschäftlichen industrialistischen Standpunkt aus ein niedergehendes, konkurrenzunfähig werdendes Gewerbe, und grade dieser Niedergang der Konkurrenzfähigkeit führt meines Erachtens dazu, daß die Kleinbetreibe heute existenzfähiger sind als die für den Markt produzierenden großen Besitzungen. Derjenige Besitzer, welcher seine Produkte in erster Linie an denjenigen Ort bringt, wo die Preisgestaltung auf dem Weltmarkt am gleichgültigsten ist, nämlich in seinen eigenen Magen, der ist zur Zeit am existenzfähigsten im Osten, immer unter der Beschränkung auf dieses specifische, aber sehr große und socialpolitisch für uns wichtige Areal des charakteristischen mittleren Sandbodens und außerhalb der Nähe großer Städte und Verkehrswege. Daraus folgt aber eine schwere Kulturgefahr. Es könnte nämlich dahin kommen, daß auch hier die Differenz zwischen - um wiederum das frühere Bild zu gebrauchen - dem deutschen und polnischen Magen zur Geltung gebracht würde. Auch als Kleinbauer kann sich der Pole, der sich mit dem Anbau von Kartoffeln begnügt, mit einem viel kleineren Areal begnügen als der Deutsche, der Cerealien konsumieren will, und es entsteht die Gefahr, daß die innere Kolonisation zu einer Schaffung polnischer Zwergbetriebe und zur Denationalisierung des Ostens unter Herabdrückung der Kulturbedürfnisse | der Landbevölkerung A 82 führt. Diese Gefahr muß davor warnen, Stellen irgend welcher Art zu schaffen, welche unter demjenigen Stande der Größe ihrem Um-

b Fehlt in A ; b e s t r e i t e es sinngemäß ergänzt. 51 G e m e i n t sind die A u s f ü h r u n g e n in Max Serings Schrift über „ D i e innere Kolonisation im östlichen D e u t s c h l a n d " , bes. S. 93.

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fange nach sich befinden, der ausreicht, um eine deutsche Bauernfamilie zu ernähren. Vergleichen wir damit die Praxis der Generalkommissionen, 52 so ist der Minimalumfang einer Stelle von ihnen teils auf 1 ha, teils auf 2, 2l/ic, 3 ha festgesetzt. Meines Erachtens ließe es sich hören, wenn umgekehrt ein maximaler Umfang kleinerer Stellen auf etwa 2 ha und daneben ein Minimalsatz für Bauernstellen auf etwa 5 ha festgesetzt würde. Gerade diese Stellen von 2 bis 5 ha sind Büdnerstellen, welche die Familie nicht voll ernähren. Der Zustand eines solchen Mannes ist erträglich im Süden und Westen, wo jederzeit Gelegenheit zum Ankauf von Grund und Boden sich findet und der Mann dadurch nicht Sklave seiner Scholle wird. Im Osten ist eine solche Beweglichkeit nicht vorhanden, und die Gefahr der Schaffung eines Proletariats allerschlimmster Art außerordentlich groß. Inbezug auf die Schaffung von Arbeiterstellen sind also vom Arbeiterstandpunkt aus nur negative Forderungen: - was nicht geschehen soll - zu formulieren. Entscheidend ist, ob die Bedingungen für den Erwerb bäuerlicher Stellen so gestellt werden können, daß den Arbeitern der Erwerb von solchen ermöglicht wird, und das ist nicht heute, sondern morgen zu besprechen. Nun aber, meine Herren, wir mögen der inneren Kolonisation noch so weite Ziele stecken und sie uns soweit durchgeführt denken, wie wir wollen, sicher ist: wir können weder dem Großgrundbesitz im Osten den Garaus machen, noch wollen wir es. Es existiert kein Interesse daran, ihn zu vernichten, es existiert sogar ein Interesse daran, diese wirtschaftlichen und vor allen Dingen gesellschaftlichen Intelligenzcentren auf dem Lande zu erhalten, damit nicht auch dieses geistige Kapital von den Städten monopolisiert werde und ausschließlich in den Besitz des städtischen Bürgertums gelange, und damit nicht die politische Intelligenz künftig vom Lande ebenso auswandert wie zurzeit die Arbeitskräfte. c

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5 2 G e m e i n t sind die g e m ä ß d e m R e n t e n g u t s g e s e t z v o m 7. Juli 1891 in P r e u ß e n zuständigen A n s i e d l u n g s b e h ö r d e n , die 1817 gegründet und mit der Durchführung der G e m e i n heitsteilungen und A b l ö s u n g e n betraut w o r d e n waren. S i e waren im G e g e n s a t z z u der 1886 gebildeten A n s i e d l u n g s k o m m i s s i o n für P o s e n und W e s t p r e u ß e n auf die Vermittlung v o n Gütern für die Parzellierung und A n s i e d l u n g beschränkt und an keinen nationalpolitis c h e n Auftrag g e b u n d e n .

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Es fragt sich also, wenn der Großgrundbesitz im Osten weiter bestehen soll - und er wird es - : woraus rekrutieren sich seine Arbeitskräfte? Wie wird seine Arbeitsverfassung beschaffen sein? In erster Linie wird man ja die Arbeitskräfte aus den Bauerndörfern zu erhalten suchen, welche die innere Kolonisation schafft. Es ist schon jetzt aus dem Enquetebericht nachweisbar, daß beispielsweise in Mecklenburg auf den Domanialgütern und denjenigen Rittergütern, welche in der Nachbarschaft von Bauerndörfern liegen, von einem Arbeitermangel kaum gesprochen wird, daß also diese Nachbarschaft den Gütern hinlänglich Arbeitskräfte verschafft. 53 Das steht ja | in A Übereinstimmung mit der Tendenz der Entwickelung im Osten, welche in Dörfern wohnende freie Arbeiter an Stelle der kontraktlich gebundenen Arbeiter zu setzen im Begriff ist. Allein mit diesen Arbeitskräften allein, - das möchte ich etwas schärfer als Herr Professor Knapp 54 und auch als das neue Werk von von der Goltz 55 betonen, wird ein großes Gut nicht entfernt wirtschaften können. Nicht einmal die süddeutschen großen Höfe können es. Eine zweite und meines Erachtens praktisch wichtigere Form nun, in welcher der Großgrundbesitz der Zukunft sich Arbeiter wird verschaffen können, ist, wie ich glaube und schon hervorgehoben habe, 56 ein pachtartiges Verhältnis in Kombination mit einem Arbeitsvertrag, unter Spannhülfe des Herrn für das fest abzugrenzende Land des Arbeiters. Alle die Momente, welche das Instverhältnis heute der Auflösung verfallen lassen, die Unmöglichkeit, Scharwerker zu stellen^] und zahlreiche andere Momente fallen weg, wenn ein Pachtverhältnis geschaffen wird. Es zeigt sich auf denjenigen Gütern, welche zu einer derartigen Kombination von Parzellenpacht mit Auflegung der Arbeitsverpflichtung übergegangen sind, daß ihre Arbeitsverhältnisse relativ erträglich, zum Teil, wie in denjenigen ostholsteinischen Verhältnissen, welche der Graf Holstein schildert, 57 geradezu ausgezeichnete sind. Es läßt sich ja gewiß auch dieses Verhältnis ausbeuten zu Ungunsten der Arbeiter, und das ist 5 3 Vgl. Webers Ausführungen dazu in: Weber, Landarbeiter, S. 715f. (MWG I/3, S.828f.). 5 4 Weber bezieht sich auf Knapps Einleitungsvortrag über „Die ländliche Arbeiterfrage". 55 Gemeint ist Goltz, Arbeiterklasse. 56 Siehe Webers Artikel „.Privatenqueten' über die Lage der Landarbeiter", in diesem Band S. 99, und Weber, Landarbeiter, S. 801 f. (MWG I/3, S. 924f.). 57 Vgl. oben, S. 170, Anm. 13.

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teilweise geschehen. Ich glaube aber, daß das kein dauerndes Moment sein wird, denn ich glaube, daß einer Verbesserung der Stellung solcher Pächter entgegenkommen wird das Bedürfnis der Großgrundbesitzer nach Abstoßung des Areals, welches nicht ein abnehmendes, sondern ein stärker werdendes sein wird. Was die Stellung solcher Arbeiter anlangt, so fehlt hier die Gebundenheit an die Scholle, es bestehen die Vorteile der eigenen Wirtschaft, es besteht die Interessengemeinschaft mit dem Gutsherrn - in andrer Weise wie bei den Instleuten - , und es kommt angemessen zum Ausdruck, daß für die höchststehenden Elemente der Arbeiterschaft das Arbeitsverhältnis nur ein Durchgangsstadium sein soll. Daraus, daß ich also voraussetze, daß eine derartige Entwickelung und Gestaltung des Arbeitsverhältnisses im Osten möglich und wahrscheinlich ist, daraus folgt eine letzte Forderung, oder vielmehr eine Bitte, welche sich richtet an die Domänenverwaltung. Es ist nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert, daß der Staat als größter Grundbesitzer mit gutem Beispiel auf diesem Gebiete vorangeht. Wir sind nicht in der Lage, die Gestaltung der Arbeitsverfassung auf den großen Gütern irgendwie auf dem Wege des Zwanges unmittelbar zu fördern; wir sind aber in der Lage, die A 84 Entwickelung indirekt zu fördern, | indem wir die Praktikabilität einer Umgestaltung in unsrem Sinne zeigen. Dem Vernehmen nach soll der gegenwärtige Herr Minister für Landwirtschaft 58 aus eigener Initiative bereits die Absicht haben, in den Bedingungen der Pachtkontrakte der Domänenpächter eine Änderung herbeizuführen. 59 Die preußischen Domänenpachtkontrakte enthalten in den allgemeinen Bedingungen § 27 das Verlangen der Vorlegung einer großen Anzahl Listen: Ernte-, Erdruschlisten u.s.w. 6 0 Die Lohnlisten finden sich zur Zeit darunter nicht, und es wäre wohl wünschenswert, daß diese Lohnlisten sich künftig darunter befänden. Es wäre dies

58 Gemeint ist Wilhelm von Heyden-Cadow. 59 Dieser Sachverhalt konnte nicht aufgeklärt werden. 60 „Insbesondere hat er [der Pächter] denselben [den Kommissarien des Ministeriums oder der königlichen Regierung] seine auf die Naturalwirthschaft bezüglichen Rechnungen und Bücher jeder Art, namentlich die Düngungs-, Aussaat-, Ernte-, Erdrusch-, Viehbestands-Reglster auf der Pachtung zur Einsicht und Extrahirung vorzulegen." § 2 7 der „Allgemeinen Bedingungen zur Verpachtung der Königlich Preußischen Domainenvorwerke" vom 22. März 1882, abgedruckt in: Oelrichs, H., Die Domainen-Verwaltung des Preußischen Staates. - Breslau: Kern's Verlag 1888 2 , S. 3 2 - 6 9 ; §27: S.58.

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die einzige Möglichkeit, einmal ganz präcises und vergleichbares typisches Material aus den verschiedenen Provinzen des Landes zu gewinnen. Im Gegensatz zu den mecklenburgischen Domanialpachtkontrakten 61 enthalten ferner die preußischen Domanialpachtkontrakte irgend welche Vorschriften, welche den Domänenpächter anweisen, in welcher Weise er seine Arbeiter zu stellen hat, nicht. Es ist aber möglich, derartige Vorschriften aufzunehmen, und es ist meines Erachtens auch socialpolitisch richtig. Ich will mich auf die Einzelheiten nicht einlassen; ich glaube, daß es möglich wäre, sowohl inbezug auf die Wohnung in allererster Linie - einen Gedanken, den auch Professor von der Goltz vertritt 62 - als auch inbezug auf die Gewährung von Land an die Arbeiter gegen Pacht bis zu einer gewissen Größe, etwa zu dem Durchschnittspreise der Domänenpachtrente, als endlich auf die Viehhaltung der Arbeiter Vorschriften zu treffen, und ich hoffe, daß ein Modus gefunden werden wird, in welchem diesem Wunsche nachgekommen werden kann. Meine Herren, ich bin am Ende dieser unter dem Zwang der Umstände nicht eben sehr systematisch gestalteten Ausführungen. Sie werden vielleicht den Eindruck nicht ganz verloren haben, daß ich unter dem Druck einer gewissen Resignation gesprochen habe, und daß diejenigen Forderungen, soweit sie überhaupt positiver Art sind, welche ich versucht habe, hier aufzustellen, gleichfalls das Produkt einer solchen Resignation sind, - und das ist in der That der Fall. Indessen, - ich habe ja hier die Ehre, zu überwiegend älteren und erfahreneren Herren zu sprechen, als ich es bin - es ist das begründet in der Differenz der Situation der älteren Generation zu den seinerzeit Ihnen, meine Herren, gestellten Aufgaben gegenüber derjenigen Situation, in welcher wir Jüngeren uns heute befinden. Ich weiß nicht, ob alle meine Altersgenossen es in gleich starkem Maße empfinden, wie ich in diesem Augenblick: es ist der schwere Fluch des Epigonentums, der auf der Nation lastet, von ihren breiten Schichten herauf bis in ihre höchsten Spitzen: Wir können die naive 61 Auf dem mecklenburgischen Domanium war das Dienstverhältnis der Hoftagelöhner zu den Hofpächtern durch bestimmte Regulative festgelegt. Diese wurden den Hofpachtkontrakten als Anlagen beigefügt und normierten insbesondere die Einkünfte der Hoftagelöhner (Wohnung, Land, Weiderechte). Balck, C.W. A., Domaniale Verhältnisse in Mecklenburg-Schwerin, I.Band. - Wismar: Hinstorff'sche Hofbuchhandlung 1864, S.174ff. Vgl. auch Weber, Landarbeiter, S. 701 (MWG I/3, S. 813). 6 2 Goltz, Arbeiterklasse, S. 293f.

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enthusiastische Thatkraft nicht wieder aufleben lassen, welche die A 85 Generation vor uns beseelte, weil wir vor | Aufgaben anderer Art gestellt sind, als unsere Väter es seinerzeit gewesen sind. Sie haben um uns ein festes Haus gebaut, und wir sind eingeladen, darin Platz zu nehmen und es uns darin wohl sein zu lassen. Die Aufgaben, die uns gestellt, sind anderer Art. Wir können dabei nicht an große, der gesamten Nation gemeinschaftliche Empfindungen appellieren, wie es der Fall war, als es sich handelte um die Schaffung der Einheit der Nation und einer freien Verfassung. Wir stehen aber diesen Aufgaben auch als Menschen anderer Art gegenüber. Wir sind frei von zahllosen Illusionen, welche erforderlich sind, damit ein solcher Enthusiasmus sich auf ihnen aufbaut. Damit das Deutsche Reich geschaffen wurde, sind Illusionen ungeheurer Art nötig gewesen, die jetzt mit den Flitterwochen der Reichseinheit verflogen sind und die wir bei uns nicht künstlich und nicht auf dem Wege der Reflexion zu reproduzieren vermögen. Wenn jetzt ein Feind an der Ostgrenze erschiene und uns mit Kriegsmacht bedrohte, so bestände kein Zweifel, daß die Nation sich hinter den Fahnen sammeln würde, um die Landesgrenzen zu verteidigen. Wenn wir aber die friedliche Verteidigung der östlichen Grenze des Deutschtums unternehmen wollen, stoßen wir auf verschiedene sich widerstreitende Interessen. Schauen wir uns um nach Bundesgenossen, so muß, zum Teil wenigstens, diese Verteidigung unternommen werden gegen das Interesse des Großgrundbesitzes, sie muß unternommen werden gegen die Instinkte weiter manchesterlich-freihändlerisch gesinnter Teile der Bevölkerung, welche Ausnahmemaßregeln darin finden und fürchten, daß diese sich auch auf andere Gebiete erstrecken könnten. Und wenden wir uns endlich an das Proletariat - ja, die Zeit ist noch fern, wo wir in der Lösung socialer Aufgaben dem Proletariat der Städte die Hand werden reichen können. Ich hoffe, daß das kommen wird; zur Zeit ist meines Erachtens noch nicht die Rede davon. Es läge ja die Versuchung nahe, hier gegen den Socialismus in der üblichen Art in contumaciam63 zu verhandeln. Ich weiß nicht, ob seine Vertreter, die viel-

6 3 „Contumacia" bedeutet im allgemeinen „Ungehorsam". In der juristischen Fachsprache wird mit „contumacia" die Weigerung der Parteien bezeichnet, sich prozeßleitenden richterlichen Anordnungen unterzuordnen; in diesem Zusammenhang bedeutet es einfach: „in Abwesenheit des Beklagten ein Urteil fällen".

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leicht hier anwesend sind, das Wort ergreifen werden, und deshalb vermeide ich vorerst eine Auseinandersetzung. Ich bin der Ansicht, daß wir durch die Wahrung unsrer Nationalität im Osten auch dem Socialismus vielleicht wider seinen Willen einen Gefallen thun, denn wenn auch nur einige seiner Postulate in Erfüllung gehen sollen, so bedarf er einer kulturell sehr hochstehenden Arbeiterbevölkerung, und ich glaube, wenn wir eine solche hochstehende Arbeiterbevölkerung zu erhalten bestrebt sind - und ihre Erhaltung ist in unserm konkreten Falle nur möglich auf dem Boden der Nationalität - so fördern wir dadurch Interessen, deren Förderung ihm nicht gerade als Handlung der Feindseligkeit gegen seine Ziele erscheinen dürfte. | Eins aber, meine Herren, ist es in dieser Frage, was uns bei aller A 86 Skepsis allerdings leidenschaftlich zu bewegen geeignet ist. Es ist im socialen Leben die Regel, daß das Eingreifen des Staats in wirtschaftliche Verhältnisse kommt, wie die Reue, als hinkender Bote, 64 - zu spät. Hier zum ersten Mal tritt seit langer Zeit eine Aufgabe an den Staat heran, deren Inangriffnahme nicht zu spät ist, für die jetzt der richtige Moment ist, für welche es aber zu spät werden kann. Und das eben ist die eigenartige Größe der Situation. - Wenn wir der Lösbarkeit dieser Aufgabe auch noch so skeptisch gegenüberstehen - denn es ist aus hundert Gründen möglich, daß die innere Kolonisation mißlingt, und wenn wir keinen Erfolg haben, nun, dann werden wir doch dereinst das beruhigende Bewußtsein in uns tragen, ebenso gut wie irgend ein Heer, welches das Land verteidigt, an der Ostgrenze des Deutschtums auf der Warte gestanden zu haben. Aber freilich, meine Herren, wir stellen höhere Ansprüche an die Zukunft, wir glauben, daß sie die Wechsel, welche wir auf sie ziehen, einlösen wird, wir hoffen, daß uns dereinst am Abend unserer Tage vergönnt sein wird, was uns die Jugend versagte: mit ruhigem Blick in die Zukunft der Nation auf Grundlage einer gefestigten socialen Organisation des Staates und des Volkes an die Lösung der Kulturaufgaben, welche uns alsdann gestellt werden, gehen zu können. Wir hoffen, dereinst rückblickend sagen zu können: an diesem Punkt hat der preußische Staat seinen socialen Beruf rechtzeitig erkannt; er hat eingegriffen in die Speichen des Rades der socialen Entwickelung

6 4 Laut Grimm sprichwörtliche Wendung: „Reue ist ein hinkender Bote, sie kommt langsam aber gewiß."

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aus eigener Initiative und mit Erfolg, und er hat diesen Eingriff gewagt zum ersten Mal zur rechten Zeitld

d In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Lebhafter Beifall.)

[Erster Diskussionsbeitrag]

Meine Herren, ich habe im wesentlichen eine Anzahl einzelner Punkte der Diskussion zu berühren. Zunächst eine persönliche Bemerkung gegenüber Herrn Dr. Quarck. Ich habe ihn unter „denjeni5 gen, welche ein Schauergemälde zum Zweck des Interessenkampfes gegenüber den Großgrundbesitzern erwarteten", 1 wahrlich nicht gemeint; ich habe - ich will es offen sagen - an meine eigenen liberalen Gesinnungsgenossen dabei gedacht. Ich fühle mich in dieser Beziehung in der That im Gegensatz zu Personen, deren politische Ansicht 10 ich im übrigen teile, insofern, als ich den ganz blöden Haß gegen alles, was Grundbesitz und speciell was Großgrundbesitz im Osten heißt, nun einmal nicht zu teilen vermag. Ich habe im Gegenteil an der Arbeitsverfassung des deutschen Ostens, wie sie | früher be- A129 stand, ein zum Teil allerdings nur historisch-ästhetisches Vergnügen 15 vom Standpunkt einer zweckmäßigen Organisation der Arbeit aus. Ferner aber möchte ich Herrn Dr. Quarck doch sagen: die Polemik, die er hier vor uns entwickelt hat, - ich hoffe, daß er Gelegenheit finden wird, sie litterarisch noch zu ergänzen 2 - war meines Erachtens kleinlich. Er hat eine Anzahl kleiner Punkte vorgebracht, 20 aber nicht eine der großen Fragen berührt, für welche die Enquete eben doch in der That Ergebnisse geliefert hat. Er hat auch litterarisch die Sache ähnlich behandelt. 3 Er sollte zu diesen großen und 1 Weber hatte in der Vorbemerkung seiner Untersuchung über die Verhältnisse der Landarbeiter im osteibischen Deutschland darauf hingewiesen, daß das Bild, welches sich nach Auswertung der eingegangenen Berichte ergebe, „nicht den Erwartungen derjenigen" entspräche, „welche in betreff der Lage der Landarbeiter nur solche Angaben für glaubwürdig zu halten geneigt sind, die Stoff zu einem im wirtschaftlichen Interessenkampf gegen die Agrarpartei verwertbaren Schauergemälde bieten". Weber, Landarbeiter, S. 6 (MWG I/3, S. 65). Quarck hatte Weber in der Diskussion daraufhin vorgeworfen, Anspielungen zu machen, ohne diejenigen, die er meine, offen zu nennen. Verhandlungen, S. 8 7 - 9 4 , bes. S.87f. 2 Siehe dazu die von Max Quarck verfaßte Besprechung „Die Erhebungen (Bd. II und III) und Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik über die Verhältnisse der ländlichen Arbeiter", in: SozialpolitischesCentralblatt, Nr.28 vom 10. April 1893, S . 3 2 9 - 3 3 1 . 3 Gemeint sind die Artikel Max Quarcks in: Sozialpolitisches Centralblatt, Nr.6 vom 8. Febr. 1892, S. 78f., und Nr. 8 vom 22. Febr. 1892, S. 105f., in denen Quarck erhebliche Kritik an der Erhebungsmethode sowie an der Tatsache geäußert hatte, daß die ländlichen Arbeitgeber und nicht die Arbeiter selbst befragt worden waren.

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centralen Fragen sachlich Stellung nehmen. Ich bin mit Vergnügen bereit, mit Herren seiner wirtschaftspolitischen Richtung auf die Mensur zu treten, aber ich verlange dann auch einen Gegner, der Satisfaktion giebt und nicht verschwindet, wenn ich zuschlagen will, - und das hat er gethan. Er sagte, ich hätte den Stoff mit einem gewissen hohen nationalen Schwünge auf mangelhafter nationalökonomischer Grundlage behandelt. 4 Ich kann dies kritische Verfahren nicht als ein loyales von seiner Seite ansehen. Es ist das ein Entschwinden hinter einer Wolke von Stichen und unsubstanziierten Bemerkungen, ein Verfahren, welches man in der politischen Agitation, im journalistischen Kampf verwenden kann, aber hier in unserer Mitte nicht verwenden sollte. 3 Sie haben gegen mich den Ausdruck „mangelhafte nationalökonomische Grundlage" gebraucht und daran die ironische Bemerkung geknüpft, daß damit ein hoher nationaler Schwung verbunden gewesen sei. Vielleicht findet sich noch Veranlassung, uns darüber auseinanderzusetzen. Ich hoffe, daß die beiden Sitzungstage insoweit als einer behandelt werden, daß er sowohl als ich darauf zurückkommen kann. 5 In sachlicher Beziehung hat mich das, was Herr Dr. Schönlank gesagt hat, sehr viel mehr angesprochen. Freilich, indem er sagte: ich spreche nur für meine Person, nicht für eine politische Partei, 6 zeigte sich die Schwierigkeit einer Diskussion mit ihm und seinen Gesinnungsgenossen. Er ist eben, ich möchte sagen, offiziös gebunden an Rücksichten auf eine Parteischablone, wie ich es nicht bin, aber es ist mir trotzdem wertvoll, daß er sich hier ausgesprochen hat. Ich will ihm gegenüber nur sagen, daß ich meinerseits gegen die formelle Gewährung der Koalitionsfreiheit an die ländlichen Arbeiter nichts

a In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Zuruf des Herrn Dr. Quarck.)

4 Quarck hatte Weber während der Debatte vorgeworfen, er habe voreilig Schlüsse aus dem Enquetematerial gezogen: „[...], auf Grund dieses Materials kann man noch nicht die Landarbeiterfrage beurteilen, auch nicht in dem Sinne, wie es Herr Dr. Weber in hohem nationalen Schwünge, aber doch vielleicht mit mangelhafter Unterlage socialpolitisch gethan hat." Verhandlungen, S. 94. 5 Vgl. Webers 2. Diskussionsbeitrag, unten, S. 206, sowie Anm. 3, ebd. 6 Verhandlungen, S. 113: „Ich spreche hier für meine Person, nicht im Auftrage einer politischen Partei."

Erster

Diskussionsbeitrag

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einzuwenden hätte, auch nicht vom Interessenstandpunkt der Arbeitgeber, weil sie gänzlich irrelevant ist, weil die ländlichen Arbeiter keinen erheblichen Gebrauch davon machen könnten. Im übrigen muß ich ihm gegenüber so ehrlich sein, einzugestehen, daß ich zahlreiche wesentliche Bestimmungen der Gesindeordnung für das in der Hausgemeinschaft mit dem | Besitzer befindliche ledige Gesin- A de nicht nur für zulässig, sondern für wünschenswert erachte. Es handelt sich bei diesem ledigen Gesinde in zunehmendem Maße um so jugendliche Personen, daß ich eine energische Unterordnung trotz des möglichen Interessengegensatzes nicht für bedenklich halte. Es handelt sich dabei um ein Durchgangsstadium, und ich halte es z. B. auch für eine große Schwäche des socialistischen Programms, daß es die früher in demselben enthalten gewesenen Gesichtspunkte der Zucht gegenüber dem Nachwuchs, gegenüber der Jugend aus propagandistischem Interesse aufgegeben hat, vielleicht hat aufgeben müssen. Ich will mich heute damit nicht weiter beschäftigen und nur noch in methodologischer Hinsicht sagen: es mag richtig sein, und ich glaube, daß es wünschenswert ist, wie Herr Dr. Quarck sagt, 7 daß noch weitere Studien sich an diesen ersten Anfang einer Erhebung knüpfen. Warum diese weiteren Studien nicht jetzt noch gemacht werden können und warum man mit der Publikation der Ergebnisse dieser Enquete bis dahin hätte warten sollen, weiß ich aber nicht. Ich halte es für zulässig, daß zunächst diese eine Seite der Sache publiziert wird. Wir haben gerade erst auf Grund dieser Publikation die methodologische Möglichkeit gewonnen, zu korrekten Fragestellungen zu gelangen. Ich muß es deshalb auch ablehnen, irgend ein Verdienst für das, was in dem Fragebogen des evangelischen Kongresses mehr und anders gefragt wird, in Anspruch zu nehmen. 8 Daß Mängel des bisherigen Fragebogens vorhanden waren, verkenne ich nicht und auch seine Urheber nicht. Es ist richtig, daß der Fragebogen schnell

7 Aufgrund der von ihm beklagten Unzulänglichkeit der Erhebungsmethode hatte Quarck weitere Studien als wünschenswert erachtet. Ebd., S. 94. 8 Quarck hatte in seiner Stellungnahme den von Weber und Paul Göhre gemeinsam für den Evangelisch-sozialen Kongreß ausgearbeiteten Fragebogen für eine Erhebung unter den Landarbeitern als „weit besser gestaltet, als denjenigen des Vereins für Socialpolitik" bezeichnet. Ebd., S. 90.

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verfaßt ist, daß die ganze Enquete schnell gemacht ist; das liegt daran, daß die Verhältnisse der Landarbeiter sich auch mit einer ziemlichen Geschwindigkeit verändern und man deshalb mit Beschleunigung vorgehen mußte. Die Äußerung des Herrn Dr. Kaerger, 9 der hier so lebhaft opponiert worden ist, ist meines Erachtens etwas zu ernst aufgefaßt worden. Es war wohl mehr ein gewisser ballon d'essai b von seiner Seite, der nicht so ernst genommen werden wollte. Er berauscht sich nun einmal - das ist unser beständiger Streitpunkt - an dem Gedanken eines Herrschaftsverhältnisses über Menschen, in der Vorstellung wie ein energischer ländlicher Patriarch seine Arbeiter - und im Grunde wohl deshalb exemplifizierte er auf die Neger - „nicht als Menschen, auch nicht als Vieh, sondern als Kerls" behandelt - ich citiere aus seiner Schrift über Ostafrika. 10 Herr Generallandschaftsdirektor Sombart hat die Einwanderung der Polen für unbedenklich erachtet, sofern sie wieder abgeschoben würden. 11 Das ist aber eben, wie ich glaube, nicht auf die Dauer A 131 durchzuführen. Schon | jetzt verlangen nach unserer Enquete die Rittergutsbesitzer, daß man die Polen auch zur Besiedelung zuläßt. Es würde auch auf die Dauer nicht zu ertragen sein, wenn das nicht geschähe. Daß die Landwirtschaft im Osten zu Grunde gehen würde, wenn die Polen ausgeschlossen werden, kann ernstlich nicht behauptet werden. Sie sind ja von 1886 bis 1890 so gut wie ausgeschlossen gewesen.12 Es ist auch nicht richtig, daß die hereingezogenen Polen nur Ersatz für abwandernde Sachsengänger sind. Im Jahre 1891 sind 33000, im Jahre 1892 sind 21000Polen eingewandert. 13 Das Minus läßt sich nun aber hier nicht aus den Sachsengängern erklären; es war eine Folge des Verbots auf Grund der Cholera. Was aber ist die Begleiterscheinung dieses Rückganges gewesen? Zurückgang der b A: balon d'essay 9 Weber bezieht sich hier auf den Vorschlag Karl Kaergers, Eingeborene aus den deutschen Kolonien als Landarbeiter heranzuziehen. Ebd., S. 99. 10 In seiner Arbeit über die Kolonisation Deutsch-Ostafrikas hatte Kaerger wörtlich geschrieben: „ Drei Standpunkte giebt es, auf die man sich dem Neger gegenüber stellen kann; man behandelt ihn entweder als Thier, als gleichberechtigten Menschen oder als Kerl." Kaerger, Tangaland, S. 62. 11 Verhandlungen, S. 102. 12 Vgl. oben, S. 177, in Verbindung mit Anm. 21 - 2 3 . 13 Vgl. oben, S. 178, in Verbindung mit Anm. 24 und 26.

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Abwanderung von 129000 auf 111000.14 Es ist also das Kausalverhältnis eher das umgekehrte, wenn ein solches überhaupt besteht. Es ist mir ferner von Seiten des Herrn Sombart entgegengehalten worden, die Arbeiter seien mit einem großen Teil der Änderungen ihrer Stellung, die ich beklagt habe, zufrieden. 15 Ja gewiß, aber das ist gerade die gefahrvollste Schwierigkeit der Situation. Es liegt hier wie so oft zunächst eine materielle Erleichterung in dem Übergang vom kleinen Unternehmer zum Proletarier. Ich habe aber auch nicht gesagt, daß deshalb diese Wandlungen beklagenswert sind, weil die Arbeiter damit nicht zufrieden sind, sondern weil eine Zersetzung bestehender Organisationen und Interessengemeinschaften damit verknüpft ist, welche zu einer Auflösung der alten Arbeits Verfassung der Großbetriebe führen wird. Ich bestreite deshalb auch Herrn Geheimrat Conrad 16 gar nicht, daß sich die Lage der Arbeiter gehoben hat, daß sich die Löhne auch in Schlesien erhöht haben; ich will überhaupt nicht behaupten, daß es ihnen schlechter geht. Ich will auch - um auf einen Specialpunkt zu kommen - nicht bestreiten, daß trotz der Heruntersetzung der Rate des Dreschbetrages dasjenige, was die Drescher jetzt erhalten, gelegentlich mehr ist, als was sie früher mit der Hand sich erdroschen haben. Aber das entscheidende Moment ist: wir können aus der Enquete mit Sicherheit verfolgen, daß diese Steigerung des Anteils der Arbeiter am Produkt bei steigender Intensität immer nur bis zu einer gewissen Grenze geht; dann erfolgt der Umschlag, der Dreschanteil wird ganz abgeschafft, und damit der erste Schritt zur Alleinherrschaft des Geldlohnes gethan. Und so ist es auch mit der Gesamtentwickelung. Nicht die Schlechterstellung der Arbeiter, sondern ihre Verwandlung in Proletarier ist das entscheidende. Eine kurze Bemerkung gestatte ich mir auch Herrn Landrath von Werder gegenüber! Er sagte, daß das Heuerlingswesen nicht zu den intensiven Betrieben passe. 17 Das glaube ich auch. Diese werden A 132 14 Weber stützt sich hierauf die von von Mayrauf der Generalversammlung vorgelegten Zahlen über den „Abgang einheimischer Arbeiter". Von Mayr gibt für 1891 129540 und für 1892 111 523 abwandernde einheimische Arbeiter an. Mayr, Statistik, S. 3 7 - 4 7 und S. 48, Tabelle VI. 15 Verhandlungen, S. 102. 16 Conrad hatte Weber gegenüber eingewandt, daß sich die Lage der Arbeiter gerade in Westpreußen während der letzten vierzig bis fünfzig Jahre entscheidend gebessert habe. Ebd., S. 107. 17 Ebd., S. 104.

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mit freien Arbeitern sich behelfen müssen. Ich habe von Arbeiterpächtern gesprochen, die auf dem sehr großen Areal im Osten anzusetzen sind, wo ein intensiver Betrieb auch in Zukunft nicht möglich sein wird. Dann ist von Herrn Geheimrat Conrad noch eingegangen worden auf die Bedeutung des Großgrundbesitzes im allgemeinen. Ich möchte nur wiederholen, daß ich dessen Bedeutung absolut nicht zu unterschätzen glaube. Er hat gesagt, dem Großgrundbesitz verdanken wir die Germanisation des Ostens. 1 8 Ja, - aber ist es nicht ein eigenartiges Zusammentreffen: damals, als eine deutsche Bauernbesiedlung begann, war dieser Großgrundbesitz noch in den Händen von Polen, welche die deutschen Bauern heranzogen und dadurch sehr wider ihren Willen und wider ihr Interesse den Osten zu germanisieren begannen. Jetzt sind es die deutschen Großgrundbesitzer, die den Osten polonisieren sehr gegen ihren Willen, aber ohne daß sie es hindern können. Sie polonisieren den Osten, nachdem sie ihre eigenen Kinder - die deutschen Bauern, - verschlungen haben. Es ist gewiß nicht richtig, daß Schuld und Sühne sich auf dem socialen Gebiet individuell folgen, wohl aber rächt sich die Schuld an dem Stand. D e r Großgrundbesitzer-Stand hat sich übernommen mit demjenigen A r e a l , welches er, nicht immer gegen die Form, aber gegen den Geist der Agrarverfassung den Bauern abgenommen hat, und das hat jetzt die Gefahr herbeigeführt, daß ihm das ganze A r e a l zu entgleiten droht. Man mag nun übrigens das Verdienst des Großgrundbesitzes noch so hoch anschlagen; das entscheidende für uns kann doch nur sein: was wird seine Leistung für die Zukunft sein? Es ist zum mindesten aber sehr zweifelhaft, ob die Großgrundbesitzer der Zukunft eine ähnliche Menschenklasse sein werden, wie die vergangenen: Zukkerrübenindustrielle, Brennereibesitzer - das ist nicht der gleiche Stand wie der alte A d e l des Ostens. Es hat der Staat an diesem Stande, weil er gewisser socialer Qualitäten entbehrt, auf die es gerade ankommt, nicht das Interesse, wie an jenem alten Grundadel des Ostens, der in Interessengemeinschaft mit seinen Arbeitern lebte und in steigendem Maße verschwindet. Es ist dann noch mehr beiläufig darauf hingedeutet worden, die Qualität der Polen als Arbeiter sei eine gute ; es ist auch von einigen 18 Ebd., S. 110.

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Berichterstattern aus dem Osten behauptet worden: wir ziehen die polnischen Arbeiter deshalb heran, weil ihre Qualität besser ist. Das ist einfach nicht wahr, und wo es behauptet wird, beruht es auf einer naheliegenden Täuschung, die daraus entsteht, daß ein nach seinen 5 Bedürfnissen gut ernährter Pole mehr leistet als ein nach seinen höheren Ansprüchen schlecht genährter | Deutscher. Es ist aber A133 zweifellos, daß die Leistungsfähigkeit der Deutschen - etwa der Pommern, aber auch der deutschen Warthebrücher - gegenüber dem Polen das IV2 bis 2fache erreicht, oft noch übersteigt. Ein 10 Berichterstatter aus dem Osten führt nun zwar aus: in Accord leisten die Polen oft mehr als unsere Arbeiter im Tagelohn, nur im Tagelohn sind unsere Arbeiter den Polen freilich außerordentlich überlegen. Der betreffende Berichterstatter hat offenbar keine Ahnung davon, welch ein glänzendes Zeugnis er den deutschen Arbeitern damit 15 ausstellt. Es ist ein Jammer, daß an dieser Menschenklasse ein Raubbau getrieben wird durch die Annahme der Polen. Wenn das so weiter geht, dann werden wir die berühmten „Knochen des pommerschen Grenadiers" 19 wohl einst in Pommern selbst vergeblich suchen. Noch einmal, meine Herren, - wir wissen nicht, wohin die 20 Gestaltung des Ostens in späteren Jahrhunderten einmal gehen kann, wie künftige Generationen damit fahren werden, ob nicht die Organisationen, die wir heute schaffen wollen, künftig wieder zerfallen. Das ist wahr, aber wir brauchen das auch nicht zu wissen; man muß das Ziel in der Socialpolitik weder zu weit, noch zu kurz stellen, 25 man muß nicht Organisationen für die Ewigkeit schaffen wollen. Und wenn man uns sagen wollte, wir schöpften in das Faß der Danaiden, so antworten wir: wir halten es für die einzig realistische Socialpolitik, daß man versucht, frisches Blut in die Adern eines socialen Körpers zu führen, es muß dem Körper selbst überlassen 30 bleiben, ob er mit diesen frischen Säften Ökonomie zu treiben und daran zu erstarken weiß. c

c In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Lebhafter Beifall.)

19 Bezüglich eines Engagements des Deutschen Reiches im Orient sagte Bismarck am 5. Dezember 1876 im Reichstag: „[...] ich werde zu irgend welcher aktiven Betheiligung Deutschlands an diesen Dingen nicht rathen, so lange ich in dem Ganzen für Deutschland kein Interesse sehe, welches auch nur [...] die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers werth wäre." Sten. Ber. Band41, S.585.

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[Zweiter Diskussionsbeitrag]

Meine Herren! Ich bin auch nur in der Lage, eine persönliche BemerA 216 kung zu machen; sonst würde ich sachlich noch zu | sagen haben, daß ich in der Frage der Gesindeordnung vollständig auf dem Boden des Herrn Professor Sering stehe. 1 Herrn Dr. Quarck gegenüber habe ich zu bemerken, daß ich gestern annahm, daß die „schwankende Unterlage", von der er sprach, sich auf meinen eigenen innerlichen Zustand beziehen sollte und habe deshalb die Bemerkung gegen ihn gemacht. 2 Nach seiner jetzigen Erklärung 3 entfällt selbstverständlich der ihm gemachte Vorwurf in jeder Beziehung. Ich glaube daran wohl mit Zustimmung der Versammlung die allgemeine Bemerkung knüpfen zu dürfen, daß, wenn ich mich gestern etwas provokatorisch verhalten habe ihm sowohl wie seinen wirtschaftlichen Gesinnungsgenossen gegenüber, das nicht etwa den Zweck haben konnte, die Herren hier zu verscheuchen; - im Gegenteil, ich glaube, daß es im dringendsten Interesse der Versammlung liegt, daß die Herren wie diesmal sich auch ferner an sachlichen Auseinandersetzungen beteiligen werden, nicht aus dem Grunde, daß wir glauben, zu einer Verständigung gelangen zu können, sondern aus unserem rein egoistischen Interesse heraus. Wir bedürfen hier Gegner, welche rücksichtslos Kritik üben. Aber, meine Herren, ohne irgend jemand persönlich verletzen zu wollen, gestatten Sie die Bemerkung: wir müssen Gegner haben, die sich in der Form der Erörterung mit uns auf den gleichen Boden

1 Max S e r i n g hatte in s e i n e m Referat über die B o d e n b e s i t z v e r t e i l u n g und die S i c h e r u n g d e s K l e i n g r u n d b e s i t z e s hervorgehoben, daß auch er, in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit d e n soziald e m o k r a t i s c h e n R e d n e r n v o m Vortage, Q u a r c k und S c h o e n l a n k , der M e i n u n g sei, „daß viele B e s t i m m u n g e n der G e s i n d e o r d n u n g e n z u m a l in ihrer A n w e n d u n g auf e r w a c h s e n e P e r s o n e n der B e s e i t i g u n g dringend bedürfen." V e r h a n d l u n g e n , S. 136. 2 Vgl. oben, S. 200, mit A n m . 4. 3 Max Quarck hatte in der Debatte w ä h r e n d d e s zweiten V e r h a n d l u n g s t a g e s in Erwiderung auf W e b e r s ersten D i s k u s s i o n s b e i t r a g bemerkt, er habe a m Vortag nicht gemeint, W e b e r operiere auf „ s c h w a n k e n d e r G r u n d l a g e " , s o n d e r n er habe vielmehr s a g e n wollen, W e b e r hätte aufgrund der Unzulänglichkeit d e s E r h e b u n g s v e r f a h r e n s s e l b e r gar nicht anders gekonnt, als auf „ s c h w a n k e n d e r G r u n d l a g e " z u argumentieren. V e r h a n d l u n g e n , S. 215.

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stellen, auch bei Iitterarischen Auseinandersetzungen. Wenn - um mich deutlicher auszudrücken - Herr Dr. Schönlank einen Artikel im „Vorwärts" schreibt, 4 verlangt er wohl nicht, daß daran sich eine wissenschaftliche Diskussion anknüpft und daß man diesen Artikel als wissenschaftliches Produkt behandelt. Wenn aber etwa in einer Zeitschrift an der Enquete Kritik geübt und dann beansprucht wird, daß diese Kritik von uns als eine wissenschaftliche Arbeit citiert und behandelt wird, - glaube ich - wäre es eben richtiger, daß dabei nicht eine immerhin mehr journalistische Form gewählt würde, wie das bisher oft - nicht nur vonseiten des Herrn Dr. Quarck 5 - geschehen ist. Es mag ja sein, daß es sich dabei unsererseits um „Klassengewohnheiten", wenn Sie wollen, handelt, aber auch dann würde deren Berücksichtigung, wie ich glaube, zweckmäßig und jedenfalls unschädlich sein. Ich halte auch die journalistische Form für ganz berechtigt, aber zu anderen Zwecken. Sie verfolgt normalerweise Agitationszwecke; innerhalb einer wissenschaftlichen Diskussion stört sie, wie ich glaube, unnötigerweise den Zweck der Auseinandersetzung und führt - gewiß unabsichtlich, aber doch notwendig zu persönlichen statt zu sachlichen Erörterungen. Jedenfalls hoffe ich, daß die weitere litterarische Diskussion sich fruchtbar gestalten wird.

4 S c h o e n l a n k war 1 8 9 2 - 9 3 Redakteur d e s Vorwärts in Berlin. 5 A n s p i e l u n g auf die Artikel Max Q u a r c k s im S o z i a l p o l i t i s c h e n Centraiblatt, Nr. 6 v o m 8. Febr. 1892, S. 78f., und Nr. 8 v o m 22. Febr. 1892, S. 105f.

Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Im Anschluß an die Enquete des Vereins für Socialpolitik über die Lage der Landarbeiter führte der Evangelisch-soziale Kongreß 1892/93 auf Anregung seines Generalsekretärs Paul Göhre und Max Webers 1 eine weitere Erhebung über die Lage der Landarbeiter durch. Im Unterschied zu der Enquete des Vereins für Socialpolitik sollten nicht die ländlichen Arbeitgeber, sondern evangelische Pfarrer befragt werden. Paul Göhre und Max Weber entwarfen einen Fragebogen, 2 der nach eingehenden Beratungen im Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses an sämtliche evangelische Pfarrer im Deutschen Reich verschickt wurde. In dem im folgenden zum Abdruck gebrachten Artikel, der in der von Martin Rade herausgegebenen „Christlichen Welt" erschien, erläutert Max Weber die Entstehungsgeschichte der Erhebung, den Aufbau des verschickten Fragebogens sowie die Resonanz, die die Erhebung bei den Pfarrern fand. Die näheren Umstände der Entstehung des Textes sind nicht bekannt.

Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands", in: Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Leipzig, Nr. 23 vom 1. Juni 1893, S. 5 3 5 - 5 4 0 , erschienen ist (A). Der Artikel ist mit den Initialen Max Webers gezeichnet.

1 Siehe den Editorischen Bericht zu Webers Artikelreihe „.Privatenqueten' über die Lage der Landarbeiter", oben, S. 71 f. 2 In diesem Band abgedruckt, unten, S. 6 9 4 - 7 0 5 .

Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands

Die äußere Veranlassung zu der Enquete, über deren Zweck und wahrscheinliches Ergebnis in Nachstehendem einige vorläufige Mitteilungen gemacht werden sollen, bot die Publikation der Ergebnisse einer umfassenden Erhebung, die der „Verein für Sozialpolitik" über den gleichen Gegenstand veranstaltet hatte. Der gedachte Verein hatte sich, nach dem Muster früherer, in den Jahren 1849 und 1873 veranstalteter Ermittelungen, 1 durch Versendung eines Fragebogens an etwas über 3000 ländliche Arbeitgeber in ganz Deutschland gewendet und von über zwei Dritteln der Befragten mehr oder weniger ausführliche Beantwortungen erhalten; 2 dagegen hatten die Mittel des Vereins nicht ausgereicht, er auch die äußere Möglichkeit nicht gehabt, innerhalb seiner Erhebung auch die Landarbeiter selbst zu Worte kommen zu lassen. Es war das namentlich von sozialistischer Seite als eine ungerechtfertigte Einseitigkeit heftig getadelt worden, 3 und wenn auch dem Verein nach Lage der Umstände ein Vorwurf aus der Unzulänglichkeit seiner Mittel nicht gemacht werden darf, so kann doch schlechterdings nicht bestritten werden und ist auch von keiner Seite bestritten worden, daß eine Kontrolle der Angaben und noch mehr der immerhin oft recht subjektiv gefärbten Urteile der Arbeitgeber durch Befragung andrer Vertrauensmänner dringend erwünscht erscheinen mußte. | Eins - das scheinbar Nächstliegende - konnte dabei nicht in Frage A 536 kommen: die Arbeiter selbst in Gestalt der Versendung eines Frage-

1 Gemeint sind die vom preußischen Landesökonomiekollegium 1848/49 und vom Kongreß deutscher Landwirte 1873 durchgeführten Erhebungen über die ländliche Arbeiterfrage. Die Ergebnisse wurden 1849 von Alexander von Lengerke unter dem Titel „Die ländliche Arbeiterfrage" bzw. 1875 von Theodor von der Goltz unter dem Titel „Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich" veröffentlicht. 2 Von insgesamt 3742 abgesendeten Fragebögen wurden 2568 beantwortet. Thiel, Einl e i t u n g . S. X.

3 Kritik dieser Art wurde insbesondere im Sozialpolitischen Centralblatt, im Vorwärts und in Die Neue Zeit geübt. Genauere Nachweise oben, S. 120, Anm. 2 und 4.

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bogens an sie heranzuziehen. Es ist diese Möglichkeit bisher von keiner Seite behauptet worden, und jeder, der die Eigenart dieser Arbeiter, wie sie wenigstens in dem überwiegenden Teile Deutschlands und speziell im Osten ausgeprägt ist, kennt, weiß, daß ein solches Vorgehen erhebliche Verwirrung gestiftet, aber kein sachliches Ergebnis gehabt hätte. An die Arbeiter selbst konnte man nur im Wege entweder der direkten persönlichen Lokalrecherche gelangen oder - und das konnte allein in Frage kommen - auf dem Umwege, daß man ortsangesessene und möglichst unbefangne Mittelspersonen mit ihrer Befragung betraute. Als solche konnten im wesentlichen nur die Geistlichen und die Ärzte auf dem Lande in Betracht gezogen werden. Nun hätte man über die materielle Situation, speziell über die hygienische Seite der Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse wohl mit größerer Wahrscheinlichkeit von den Landärzten wirklich sachverständige Auskunft erhalten. 4 Dem stand aber einmal die äußerliche Unmöglichkeit entgegen, von einer Zentralstelle sich die Adressen der ungeheuern Zahl von Landärzten im Reiche zu verschaffen, und dann war auch ihre Bereitwilligkeit zur Beantwortung im allgemeinen recht fraglich. Beide Schwierigkeiten waren bei den Landgeistlichen ganz erheblich geringer. Endlich aber und namentlich hatten die bisherigen Enqueten die Wahrscheinlichkeit ergeben, daß die Probleme, die die Lage der Landarbeiter bietet, in ganz hervorragendem Maße auf dem psychologischen Gebiet liegen. Wenn diese Gründe dafür sprachen, denVersuch zunächst bei den Geistlichen zu machen, so wird es kaum einer besondern Begründung dafür bedürfen, daß gerade der Evangelisch-soziale Kongreß die Befragung der Geistlichen in die Hand nahm. Auf Veranlassung des Ausschusses des Kongresses arbeitete deshalb dessen Generalsekretär, Herr Paul Göhre, dem der Unterzeichnete manche bei der Erhebung des Vereins für Sozialpolitik gemachte Erfahrungen zur Verfügung stellen konnte, 3 einen vorläufigen Entwurf eines Fragea In A bindet die redaktionelle Anmerkung an: Herr Göhre bemerkt hierzu, daß der Verfasser obigen Artikels ebenso viel Anteil an den Fragebogen habe wie er. D[er] Herausgeber]. 4 Ein schlesischer Arzt hatte sich in der Zeitschrift Das Land mit dem Vorschlag, Landärzte zu befragen, zu Wort gemeldet. Weber hatte zu diesem Vorschlag Stellung genommen, siehe oben, S. 156.

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bogens aus, der in mehrfachen Sitzungen des Aktionskomitees, speziell vonseiten der Herren Ökonomierat Nobbe und Professor Adolf Wagner, eingehend kritisirt und erörtert und in seiner demgemäß verbesserten Form zur Versendung gelangt ist. Die Unmöglichkeit, aus der Gesamtheit der deutschen evangelischen Pfarreien diejenigen auszusondern, die nur oder überwiegend ländliche Distrikte umfaßten, nötigte dazu, den Fragebogen an alle überhaupt existirenden Pfarrämter, d.h. in rund 15000Exemplaren, zu versenden. Der Vorschlag, die zur Berichterstattung geeigneten Geistlichen durch die Superintendenturen auswählen und bezeichnen zu lassen, wurde, meines Erachtens mit Recht, abgelehnt, weil jeder Anschein eines auch nur „halbamtlichen" Charakters der Erhebung aus mannigfachen und naheliegenden Gründen vermieden werden mußte, auch keineswegs feststand, inwieweit die Stellungnahme der kirchlichen Obern eine freundliche sein würde. Der Fragebogen wurde im Dezember mit einem Anschreiben versendet, das um Einsendung der Antworten bis zum 15. März bat später wurde der Termin auf mehrseitiges Verlangen bis 1. Mai hinausgeschoben - und sich im übrigen über Zweck und Methode der Erhebung aussprach. 5 Es wurde darin das dringende Ersuchen ausgesprochen, grundsätzlich lediglich Angaben der Arbeiter der Beantwortung zu Grunde zu legen und jedenfalls, wo aus eigner Erfahrung und aus andern Quellen geschöpft werde, dies im einzelnen erkennbar zu machen. Der Fragebogen, auf dessen Inhalt hier etwas näher eingegangen werden soll, zerfällt äußerlich in vier Abschnitte, von denen der erste die allgemeinen zur Orientirung über Ursprungsort und allgemeine landwirtschaftliche Verhältnisse erforderlichen Fragen, der zweite solche über die Beschaffung des Lebensbedarfs der Arbeiter, Arbeitsgelegenheit und Familienleben, der dritte die Einkommensverhältnisse im einzelnen und der letzte einige unter der Bezeichnung „Ethische und soziale Verhältnisse" zusammengefaßte Fragen allgemeiner Art enthält, ohne daß die | im einzelnen ziemlich willkürliche A 537 5 Das Anschreiben ist abgedruckt in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 1 von Januar 1893, S.6f. Es ist unterzeichnet von dem I.Vorsitzenden Moritz Nobbe und dem 2. Vorsitzenden Adolf Stoecker sowie dem Generalsekretär des Evangelisch-sozialen Kongresses Paul Göhre; es ist mit „Neujahr 1893" datiert. In der redaktionellen Einleitung zu dem Anschreiben heißt es: „In diesen Tagen werden die Fragebogen und das dazu verfaßte Anschreiben verschickt." Ebd., S. 6.

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Scheidung der Fragen auf systematischen Wert Anspruch machen könnte. Es ist dem Fragebogen nun zunächst die große Zahl der gestellten Fragen vorgeworfen worden - das Sächsische Kirchen- und Schulblatt hat deshalb seine Versendung als eine „Zumutung" bezeichnet, die mit „Totschweigen" beantwortet zu werden verdiene. 6 Einzelne Berichterstatter finden, die Fragen seien bei den einzelnen Punkten derart gehäuft und zusammengeschachtelt, daß man „nervös" werde. Von wissenschaftlicher Seite wurde daraufhingewiesen, daß eine große Anzahl der Fragen - die über Kindersterblichkeit, Heiratsalter u. s. w. - aus der Statistik korrekter zu beantworten seien und lediglich zu unrichtigen Generalisationen verleiten würden. 7 Dem allem ist zunächst entgegenzuhalten, daß der Fragebogen keineswegs nur den Zweck verfolgt, neues Beobachtungsmaterial zu erfragen; mindestens ebenso wichtig war der fernere, den Landgeistlichen Anregung zu systematischer Beobachtung der wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Gemeindeglieder auch in ihrem eignen Interesse zu geben, und hierzu war eine ebenfalls systematische Aufstellung möglichst aller der Fragen geboten, die für die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiter überhaupt in Frage kamen. Es wurde auch nicht von der Voraussetzung ausgegangen, daß alle einzelnen Nebenfragen beantwortet werden müßten. Im ersten Abschnitt des Fragebogens sind zunächst Fragen nach dem Ursprungsort, der Art der Besitzverteilung und der Bodenbewegung, den vorkommenden Kategorien von Arbeitern und ihrem Zahlenverhältnis untereinander und zur Größe der Wirtschaften gestellt, namentlich auch darnach, inwieweit Arbeitskräfte durch Heranziehung von Wanderarbeitern von auswärts beschafft werden, ferner nach der Art der Fruchtfolge, der Höhe der üblichen Bodenpachten und insbesondre, um einen konkreten Anhalt zu haben, nach den für etwaige Schul- und Pfarräcker erzielten Pachten und den Grundsätzen, nach denen die Verpachtung (an Bauern oder an 6 Das Sächsische Kirchen- und Schulblatt, Nr. 8 vom 23. Febr. 1893, Sp. 74, bezeichnete die Forderung nach der Beantwortung der Fragebögen bis zum 15. März 1893 als eine „Zumuthung". Schon die Sammlung des für die Beantwortung nötigen Stoffes würde die „Arbeiterschaft in die größte Aufregung" versetzen und die Geistlichen nur unnötig mit Arbeit beschweren: „So dürfte unsere einzige Antwort für Herrn Göhre sein -Todtschweigen!" 7 Auf welche Stellungnahmen Weber hier anspielt, konnte nicht ermittelt werden.

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kleine Besitzer oder Arbeiter) erfolgt. Der zweite Abschnitt fragt zunächst, bis zu welcher Größe des Besitztums ansässige Leute auf Lohnarbeit als Ergänzung der Einnahme angewiesen sind - eine Angabe, die im allgemeinen ein charakteristischeres Bild von der Bodengüte giebt als andre Zahlen, und wendet sich dann den Wohnungsverhältnissen zu. Es wird nach Zahl, Größe, Ausstattung, Qualität der Zimmer, speziell der Schlafräume, Zahl der Betten im Verhältnis zur Zahl der Familienglieder, Gesindestuben, Unterkünften für die „Sachsengänger" (auswärtige Wanderarbeiter) und nach der Höhe des Mietzinses oder der Zahl der Arbeitstage, die für die Wohnung zu leisten sind - das Abarbeiten der Wohnung ist im Osten die Regel - , gefragt. Hier wie sonst wird ausdrücklich um Angabe von Beschwerden gebeten, die - gleichviel ob mit Recht oder Unrecht - seitens der Arbeiter erhoben zu werden pflegen. Es gelangen dann die Fragen nach der Beschaffung des Brennwerks und nach den von den Arbeitern benutzten Einkaufsstellen für Lebensbedürfnisse zur Erörterung. Sodann ist ziemlich spezialisirt nach der Art der Ernährung gefragt, zunächst den - von den städtischen Marktpreisen oft ziemlich unabhängigen und nicht immer niedrigem - Kosten der wichtigsten Nahrungsmittel (Kartoffeln, Brot, Milch, Fleisch) an Ort und Stelle, dann nach der Art der Beköstigung (Selbstbeköstigung, Beköstigung durch den Arbeitgeber), ferner im einzelnen nach der Zusammensetzung der Nahrung (Zahl der Fleischmahlzeiten, Brot- und Kartoffelkonsum, Alkoholkonsum). Es ist wohl kaum allgemein bekannt, wie ungemein groß die Unterschiede gerade der typischen Ernährungsweise auf dem Lande sind, daß es im Norden (Mecklenburg) Gegenden giebt, wo eine tägliche, und andre nicht minder fruchtbare (Schlesien), wo eine wöchentliche Fleischmahlzeit als günstiges Durchschnittsmaß gilt, der Brotkonsum um mehr als das Doppelte schwankt u.s.w. Es handelt sich da um gewaltige Differenzen der Bedürfnisse, damit aber hängt das gesamte Kulturniveau, und ferner die Bedeutung des Alkoholgenusses für den Körper derartig zusammen, sodaß gerade diese scheinbar rein äußerlichen und kleinlichen Momente von geradezu grundlegender Bedeutung sind. Des weitern wird von der Art und Zeitdauer der Arbeitsgelegenheit, dem Berufswechsel und den Folgen von Arbeits|losigkeit oder A Arbeitermangel und sodann von der Arbeitszeit, den Pausen, der Sonntagsruhe gehandelt. Hier wie immer ist auf die durchaus not-

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wendige Scheidung der verschiednen Kategorien von Arbeitern gedrungen. Es folgen einige Fragen nach dem materiellen Einfluß etwaiger Maschinenarbeit, sowie endlich nach der Art der Krankenversorgung und der Armenhäuser und die bei den Arbeitern darüber herrschenden Ansichten. Bei Behandlung des Familienlebens, auf das sich der nächstfolgende Fragekomplex bezieht, ist die zentrale Frage stets, in welcher Weise im allgemeinen der Lohnerwerb sich verteilt, ob die Frau stark, wenig oder gar nicht daran beteiligt ist, und in welcher Weise sie etwa in der eignen Wirtschaft (durch Viehzucht, Arbeit auf eignem Land u.s.w.) produktiv thätig ist. Es ist von ganz wesentlichem Interesse, zu erfahren, welche von beiden Arten der Beschäftigung die Stellung der Frau am meisten hebt, und welche, rein wirtschaftlich betrachtet, die rationellere ist, und es hat sich im Gegensatz zu oft gehörten Meinungen auch hier gezeigt, daß diese Frage durchaus nicht immer im selben Sinne zu beantworten, sondern von sehr mannigfachen Umständen abhängig ist. Selbstverständlich sind bei dieser Gelegenheit auch die naheliegenden Fragen nach den Mißständen, die die Lohnarbeit der Frau nach sich zieht, gestellt und auch die fernere, wie es mit der „Schonung von Wöchnerinnen" steht - ein Begriff, der teilweise bekanntlich auf dem Lande noch völlig fehlt. Näher eingegangen wird ferner auf das Heiratsalter; es ist überraschend, wie allgemein die bekannte Thatsache, daß das Proletariat früher heiratet und kinderreicher ist als die Besitzenden (Bauern), sich in den Angaben der Berichtenden wiederspiegelt. Es gehört hierher weiter die Frage, inwieweit die Vorwegnahme des ehelichen Zusammenlebens die Regel bildet und die eheliche Treue gewahrt wird: beides pflegt auf dem Lande, wie im allgemeinen ja bekannt, in einer für unsre Begriffe eigentümlichen Weise mit einander verbunden zu sein. Die fernere Frage nach Kinderzahl und Kindersterblichkeit hat, trotz den vorhandnen statistischen Daten, manche nicht uninteressante Bemerkungen zu Tage gefördert, ebenso die Frage nach dem Vorkommen bewußter Beschränkung der Kinderzahl. Es ist sodann auch um Ermittlung des Umfangs, der Art, der Wirkungen der Kinderarbeit, des Verhaltens der Arbeiter dazu, ferner der Stellung der Halberwachsenen bis zur Militärzeit und ihres pekuniären und sittlichen Verhältnisses zu den Eltern ersucht und endlich ein Komplex von Fragen den alten und invaliden Familiengliedern, der

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oft vorkommenden „Abschiebung" solcher Leute wegen befürchteter Armenlasten und der Wirkung der sozialpolitischen Gesetze hierauf und auf die Stimmung der Arbeiter gewidmet. Es ist leicht ersichtlich, daß die zuletzt berührten Gegenstände die Fragen des Familienlebens - dem Interessenkreise der Berichterstatter besonders nahe liegen, und daß die Berührung der rein materiellen Fragen mit den höchsten ethischen Interessen hier besonders leicht erkennbar ist. Das ist sowohl bei den oben erwähnten Fragen der Ernährungsweise, als bei dem nun folgenden, die Einkommensverhältnisse b im einzelnen behandelnden Abschnitt in sehr viel geringerm Maße der Fall. Es war eine Frage von prinzipieller Bedeutung, ob aus diesem Grunde diese Fragen entweder gänzlich fortzulassen oder doch erheblich zu beschränken seien. Der Inhalt der Antworten aber, die eingegangen sind, zeigt, daß das ein schwerer Fehler gewesen wäre. Das Material, das über die Details des Arbeiterhaushalts auf Grund dieser Fragen geliefert worden ist, hätte auf keinem andern Wege und durch keine andern Mittelspersonen beschafft werden können. Es konnte nur durch die strenge Forderung ganz konkreter materieller Angaben vermieden werden, daß die Berichterstatter sich auf allgemeine Klagen beschränkten, und es ist anzunehmen, daß der Zwang, sich ganz konkret ins Einzelne zu vertiefen, ihnen selbst oft Gelegenheit bot, auf völlig neue Gesichtspunkte auch über die Existenzbedingungen eines gesunden Familienlebens zu stoßen. Aus einer nicht geringen Anzahl von Berichten geht das hervor, es ist vielleicht manchem Referenten ergangen wie einem von ihnen, der gesteht, wie „betroffen" er A gewesen sei, als er mit einem nach seiner Ansicht gut gestellten Tagelöhner den Minimalbedarf der Familie und ihr Einkommen bis ins Einzelne aufgestellt und sich dabei in jedem Punkte von der Unmöglichkeit, dabei menschenwürdig und schuldenfrei zu existiren, überzeugt habe. Der Fragebogen scheidet außer dem ledigen Gesinde die „freien", d.h. kontraktlich nicht gebundnen und meist nur in Geld gelohnten von den in dauerndem Kontraktverhältnis stehenden und im Norden und Osten überwiegend in Naturalien (Land, Deputaten, Viehweide) abgelohnten Arbeitern. Es ist in erster Linie, soweit dies den Verfassern möglich sein würde, um Aufstellung detaillirter Budgets b A: Einkommenverhältnisse

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Kongresses

auf Grund der Angaben der Arbeiter ersucht und sind solche von den Referenten teilweise in ausgezeichneter Vollständigkeit geliefert worden. Festgestellt sollte jedenfalls werden: welchen Teil des Bedarfs die Arbeiter aus dem eignen Lande oder den Naturalien dekken, was sie an Nahrungsmitteln zukaufen müssen, oder ob und wieviel sie an Getreide oder landwirtschaftlichen Produkten aus ihrem Deputat noch verkaufen können. Es ist das für das Verhältnis der Interessen des Gutsherrn, der stets an hohen, und des Arbeiters, der, wenn er zukaufen muß, an niedrigen Preisen der Nahrungsmittel ein Interesse hat, das in letzter Linie entscheidende Moment. Die Fragen, inwieweit den Arbeitern nach ihren Angaben die Eigenwirtschaft als erwünscht gilt oder nicht und weshalb nicht, ob und wie sich eine Verschiebung zwischen den einzelnen Arbeiterkategorien vollzieht und eventuell warum und welche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses den Arbeitern selbst - mit Recht oder Unrecht - als die erstrebenswerteste gilt, schließen sich naturgemäß an. Spezielle Aufmerksamkeit sollte nach der Fragestellung den meist recht unerfreulichen Verhältnissen der sogenannten Hofgänger, d.h. der von den Arbeitern im Osten für den Dienstherrn als zweite oder dritte Arbeitskraft zu haltenden Dienstboten, zugewendet werden. Die letzte Gruppe der Fragen, Abschnitt 10 des Fragebogens, 8 behandelt zunächst die Herkunft und Abstammung der Landarbeiter, die Aus- und Abwanderung und den Einfluß der Bevölkerungsfluktuation und der modernen Wirtschaftsweise in psychologischer Beziehung, ferner den Umfang des Sparsinns, des Lektürebedürfnisses, das Verhältnis zu Schule und Kirche, endlich die Beziehungen zu den Arbeitgebern und Gutsbeamten, etwaige Arbeiter- oder Arbeitgeberverbände und den Stand der sozialistischen Agitation. Man sieht, die Anforderung, mit der der Kongreß an die Geistlichen herantrat, war eine auch quantitativ ganz gewaltige. Es kann vorläufig nur mit Genugthuung konstatirt werden, daß die Erwartungen, die man dabei hegte, durch den Erfolg weit übertroffen worden sind.

8 Es handelt sich um den Abschnitt „IV. Ethische und soziale Verhältnisse." Siehe unten, S. 7 0 3 - 7 0 5 . Die Angabe „Abschnitt 10" ist vermutlich ein Druckfehler, da Webers Beschreibung mit dem unten abgedruckten Fragebogen ansonsten übereinstimmt.

Die Erhebung

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Kongresses

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Das quantitative Ergebnis anlangend, so beträgt die Gesamtzahl der bisher eingegangnen Berichte rund 980, es sind noch weitere zugesagt, sodaß im ganzen gegen 1000 vorliegen werden. Von den 15000 Befragten sind etwa 9000 Landgeistliche, es haben also etwas über zehn Prozent geantwortet, wobei aber zu berücksichtigen ist, daß ein Teil der Antworten zusammengefaßte Berichte von bis zu etwa zwanzig Geistlichen einer Gegend darstellen, die die Antwort gemeinsam redigirt haben. In nicht ganz seltenen Fällen ist die Beantwortung ausdrücklich abgelehnt worden, teils weil sie zu viel Arbeit mache, teils weil die Befragung der Arbeiter Mißtrauen erregt habe, teils unter allerlei andern Gründen, schmählicherweise auch mehrfach, weil - einerseits - der Hofprediger Stöcker, oder andrerseits - der Professor Harnack zu den Ausschußmitgliedern gehörten, als ob das mit der Sache etwas zu thun hätte. 9 Einige Synoden haben die Verweigerung der Antwort beschlossen, an andern Stellen haben umgekehrt die kirchlichen Obern sich für den Gegenstand interessirt - kurz, es zeigt sich ein äußerst buntes, vielfach nicht uninteressantes pastoralpsychologisches Bild. Einige Bearbeiter haben auf die ganze Angelegenheit geringes Gewicht gelegt und sich begnügt, den Fragebogen mit einigen Randglossen zu versehen, ein andrer wieder hält die Sache für so epochemachend, daß er den Bericht dem Knopf der im Bau begriffenen Kirche einverleiben will. | Das Wichtigste ist, daß die Qualität der überwiegenden Zahl der A 540 Berichte eine ganz über alle Voraussicht gute ist. Zunächst ist die Zuverlässigkeit eine große. Einigen wenigen Berichten aus dem Osten merkt der Kundige wohl die waltende Hand des ländlichen Patrons etwas an; die Anweisung, besonders anzugeben, wo andre Quellen als Angaben der Arbeiter benützt sind, ist aber im allgemeinen gewissenhaft beobachtet; ein großer Teil der Berichte giebt genau an, wie die Daten gewonnen sind, und läßt erkennen, daß dabei in durchaus zweckmäßiger und sorgfältiger Weise und namentlich unter Heranziehung der Arbeiter in einem Maße, wie das bisher 9 Adolf Stoecker und Adolf von Harnack verkörperten die unterschiedlichen Richtungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, und zwar sowohl in kirchen- als auch in sozialpolitischer Hinsicht. Stoecker vertrat die konservativ-positive Richtung und die patriarchalische Variante der Sozialpolitik. Harnack war Haupt der vom Ritschlianismus beeinflußten freien theologischen Richtung; er stand der Sozialpolitik Stoeckerscher Observanz skeptisch gegenüber.

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Die Erhebung

des Evangelisch-sozialen

Kongresses

noch niemals versucht worden ist, verfahren wurde. Der Umfang der Berichte ist oft ein sehr bedeutender, ein ostpreußischer Bericht ist vom Verfasser gedruckt und umfaßt vierzig Druckseiten. 10 Es sind das systematische Monographien, die einen dauernden kulturhistorischen Wert haben. Die große Präzision, die Beschränkung auf konkretes Thatsachenmaterial und das praktische Verständnis für den landwirtschaftlichen Betrieb verdienen vollste Anerkennung und zeigen aufs schlagendste dasThörichte des Glaubens, daß die Geistlichen für Anfragen dieses Inhalts nicht die richtige Adresse seien. Die Mehrzahl der Berichte verdient vor allem, was die Befragung der Gutsbesitzer durch den Verein für Sozialpolitik an Berichten erzielt hat, durchaus den Vorrang. Dem Herkunftsort nach verteilen sich die Berichte wie folgt: 11 32 Thüringische Staaten Provinz Ostpreußen Provinz Westfalen u[nd] Lippe Westpreußen 14 Provinz Hessen-Nassau und " Posen 17 Waldeck 58 " Schlesien 50 Großherzogtum Hessen " Pommern 95 Rheinprovinz " Brandenburg Elsaß-Lothringen Großherzogtum Mecklenburg 24 141 Baden Provinz Sachsen und Anhalt 54 Württemberg Königreich Sachsen 24 Bayern Provinz Schleswig-Holstein Provinz Hannover, Oldenburg und Braunschweig

48 21 46 70 22 2 43 92 52 72

Dies Material ist, darüber kann kein Zweifel sein, ein ganz hervorragendes, wie es in ähnlicher Art wohl auf wenigen Gebieten zur Verfügung stehen dürfte. Aber allerdings stehen wir ihm insofern

10 Gemeint ist vermutlich die Schrift des ostpreußischen Pastors Carl Ludwig Fischer, Beitrag zur Orientierung über die Lage der ländlichen Arbeiter in Ostpreußen als Beantwortung des vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses ausgegangenen Fragebogens über die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reiche. - Königsberg: Gräfe & Unzer o.J. [1893]. Max Weber befaßte sich in dem Artikel „Monographien von Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter" (unten, S. 2 7 5 - 2 8 1 ) ausführlich mit dieser Schrift. 11 Diese Tabelle, nur in anderer Gliederung, stellte Paul Göhre an den Anfang seines Vortrags über die Enquete auf dem fünften Evangelisch-sozialen Kongreß. Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Frankfurt am Main am 16. und 1 7. Mai 1894. - Berlin : Rehtwisch & Langewort 1894, S. 43. Zu Webers und Göhres Referaten vgl. unten, S. 3 0 8 - 3 1 2 .

Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses

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fast ratlos gegenüber, als wir bisher nicht im klaren sind, wie es verarbeitet werden soll. Wer derartige Zusammenarbeitungen nie gemacht hat, kann sich von dem Umfange dieser Arbeit schlechterdings keine Vorstellung machen. Jedenfalls dürfen die Ansprüche 5 nach dieser Richtung nur auf ein bescheidnes Maß gestellt werden; die eigentliche Frische der Darstellung, die den Leser an den Originalberichten erfreut, wird überwiegend verloren gehen. Es wird nunmehr Sache des Kongresses und seines Aktionskomitees sein, zunächst zu erwägen, welche Form die für die Bearbeitung 10 passendste ist. Diesen Erörterungen soll hier ebensowenig vorgegriffen werden wie den künftigen Mitteilungen aus dem Inhalt der Berichte. Hier sollte nur die Art und das äußere Ergebnis der Erhebung in Kürze dargestellt werden.

Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten

Editorischer Bericht

Zur

Entstehung

Im Jahre 1886 leitete Preußen aus nationalpolitischen Gründen eine intensive Kolonisationspolitik ein. Mit dem Ansiedlungsgesetz vom 26. April 18861 sollte die Zurückdrängung der polnischen Bevölkerung in den Provinzen Westpreußen und Posen und die Stärkung des deutschen Volksteils erreicht werden. Unter der Leitung einer speziell zur Durchführung dieses Gesetzes geschaffenen Ansiedlungskommission wurde polnischer Besitz aufgekauft, parzelliert und zum Zweck der Ansiedlung deutscher Bauern und Arbeiter in Rentengüter umgewandelt. Zu Beginn der 90er Jahre wurde durch das Rentengutsgesetz vom 27. Juni 18902 und das Ergänzungsgesetz vom 7. Juli 18913 die bereits in Posen und Westpreußen erprobte Errichtung von Rentengütern für ganz Preußen ermöglicht. Im Gegensatz zur Ansiedlungskommission waren jedoch die mit der Durchführung des Gesetzes betrauten Generalkommissionen nicht mit staatlichen Geldern ausgestattet und auch nicht befugt, von sich aus Land aufzukaufen und zu parzellieren. Vielmehr waren sie auf die Beratung von Gutsbesitzern bei der technischen Durchführung von Parzellierungen und der Schaffung von Rentengütern sowie auf die Prüfung von Anträgen bei den Rentenbanken auf Ablösung der Rente oder auf Gewährung eines Darlehens beschränkt. Sie konnten, ebenfalls im Unterschied zur Ansiedlungskommission, auch die Gründung von Rentengütern durch Angehörige anderer Nationalitäten fördern, waren also nicht an einen nationalpolitischen Auftrag gebunden. 4 Vor diesem Hintergrund entwickelte sich zu Beginn der 1890er Jahre eine lebhafte Diskussion darüber, ob die staatliche Ansiedlungspolitik im Osten ausreiche, um sowohl die nationalpolitischen als auch die wirtschaftlichen Probleme auf dem Lande zu lösen. Dabei spielte zunehmend auch die Frage eine Rolle, wie man dem Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften abhelfen könne. 1 GS 1886, S. 131-134. 2 Ebd., 1890, S.209f. 3 Ebd., 1891, S. 279-284. 4 Waldhecker, Paul, Ansiedelungskommission und Generalkommission. Ein Beitrag zur inneren Kolonisation des Ostens, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 21. Jg., 1897, S. 207.

Editorischer

Bericht

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Der Jenaer Agrarwissenschaftler Theodor von der Goltz, einer der besten Kenner der preußischen Agrargeschichte, 5 veröffentlichte Anfang 1893 eine Abhandlung über die Probleme der Landarbeiter im ostelbischen Preußen. 6 Ausgehend von einer Analyse der preußischen Agrarreformen und deren Folgen für die Entstehung der modernen Landarbeiterschaft forderte er eine Intensivierung der staatlichen Kolonisation mit dem Ziel, die Ansiedlung von grundbesitzenden Arbeitern zu fördern. Unabhängig von dieser Studie erschien ebenfalls 1893 eine Abhandlung des Berliner Agrarwissenschaftlers Max Sering über agrarpolitische Fragen.7 Im Unterschied zu von der Goltz setzte sich Sering nur mit Fragen und Ergebnissen der „inneren Kolonisation" im Gefolge der Ansiedlungs- und Rentengutsgesetzgebung von 1886 und 1890/91 auseinander. Von der Goltz zitierte in seiner Schriftgrundsätzlich zustimmend - ausführlich aus Webers Landarbeiterenquete, 8 die 1892 als Band 55 der Schriften des Vereins für Socialpolitik veröffentlicht worden war. 9 Zudem hatte er im Mai 1893 Webers Untersuchung im Rahmen einer allgemeinen Besprechung der Enquete des Vereins für Socialpolitik rezensiert. 10 Sering dagegen behandelte Webers Studie nur am Rande. 11 Die intensive Beschäftigung mit der Landarbeiterfrage und den Kolonisierungsbestrebungen im Osten lenkte Max Webers Interesse auf die beiden Schriften. Die näheren Umstände, die den Anlaß dazu gaben, die im nachstehenden abgedruckte Rezension zu verfassen, sind nicht bekannt. Weber besprach die Studie von der Goltz' an anderer Stelle noch einmal separat. 12

Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten", in: Das Land. Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf

5 Zu von der Goltz' zahlreichen von Weber rezipierten Arbeiten siehe das Literaturverzeichnis, unten, S. 945. 6 Goltz, Theodor von der, Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat. - Jena: Gustav Fischer 1893. 7 Sering, Max, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland (Schriften des Vereins für Socialpolitik 56). - Leipzig: Duncker & Humblot 1893. 8 Goltz, Arbeiterklasse, S. 124-131. 9 Weber, Landarbeiter. 10 Goltz, Theodor von der, Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 5,1893, S. 752-762. 11 Sering, Kolonisation, bes. S. 10f„ 76ff„ 114,147f„ 160,168,179,184. 12 Siehe unten, S. 240-252.

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Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten

dem Lande, hg. von Heinrich Sohnrey, Berlin, Nr. 15 vom 1. August 1893, S . 2 3 1 - 2 3 2 , erschienen ist (A). Der Artikel ist gezeichnet mit „Max Weber".

Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten

1. Thfeodor] Freiherr v.d. Goltz, Professor in Jena. Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat. Jena, G. Fischer. 1893 300S. 8°. 2. Max Sering, Professor in Berlin. Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland. Leipzig, Duncker & Humblot, 1893 -330S. 8°. Die beiden Schriften, auf deren hohe Bedeutung an dieser Stelle nur mit einigen Worten hingewiesen werden kann, gehören aus dem gleichen Grunde zusammen, aus welchem der „Verein für Sozialpolitik" die beiden von ihnen behandelten Themata einer gemeinschaftlichen Besprechung unterzog, 1 weil sich nämlich Arbeiterfrage und Kolonisation auf dem Lande im Osten zu einander verhalten wie Problem und Lösung. - Beide befassen sich wesentlich mit den Verhältnissen des ostelbischen Deutschlands, und das ist nicht zufällig. Eine „ländliche Arbeiterfrage" vom Standpunkt der Unternehmer sowohl als der Arbeiter aus besteht freilich keineswegs nur in den östlichen preußischen Provinzen. Es wäre ein schwerer Irrtum zu glauben, daß die Landarbeiter der Kleinbauern des Südwestens materiell besser gestellt seien 3 als diejenigen etwa der großen mecklenburgischen und pommerschen Rittergüter - das gerade Umgekehrte ist der Fall. Es wäre ebenso verkehrt zu glauben, daß nur die großen Güter des Ostens an einem Mangel landwirtschaftlicher Arbeitskräfte zu leiden hätten, - aus den stark parzellierten Distrikten im Westen und Süden sind bei der Erhebung des Vereins für Sozialpolitik die gleichen leidenschaftlichen Klagen darüber laut geworden.

a A: seinen 1 Der Verein für Socialpolitik hatte am 20. und 21. März 1893 eine Generalversammlung über die ländliche Arbeiterfrage, die Bodenbesitzverteilung und den Kleingrundbesitz veranstaltet. Vgl. dazu: Verhandlungen der am 20. und 21. März 1893 in Berlin abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik über die ländliche Arbeiterfrage und über die Bodenbesitzverteilung und die Sicherung des Kleingrundbesitzes (Schriften des Vereins für Socialpolitik 58). - Leipzig: Duncker & Humblot 1893. Auch Weber nahm an dieser Generalversammlung teil. Seine Beiträge sind abgedruckt oben, S. 165-207.

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Zwei neue Schriften zur Landfrage

im

Osten

Ebensowenig beschränken sich die Schäden der jetzigen Grundbesitzverteilung auf den Osten. Die heillose Zersplitterung in großen Gegenden am Rhein und im Süden ist in ihrer Art ebenso kulturfeindlich und ungesund wie die Zusammenballung großer „Latifundien" in Schlesien. In beiden Fällen ist die Arbeiterfrage mit der Art der Bodenverteilung untrennbar verknüpft, nur in entgegengesetztem Sinn, wie ich das früher in dieser Zeitschrift auszuführen gesucht habe. 2 Aber dennoch sind vom Standpunkte des Staates aus die Verhältnisse des Ostens zur Zeit diejenigen, in welche ein alsbaldiger Eingriff als unumgänglichst erscheinen muß. - Einmal weil die Gefahren für das staatliche und nationale Interesse dort die unmittelbarsten sind. Die ungeheure Entvölkerung des platten Landes im Osten selbst bei Einrechnung der Städte wandern Jahr aus, Jahr ein VA des Überschusses der Geburten über die Todesfälle aus den östlich von Berlin gelegenen Bezirken fort 3 - und der Nachschub der Polen über die russische Grenze bedrohen die Nationalität; die Unmöglichkeit geordneter Feldbestellung ist dem Großbetriebe am gefährlichsten und verwandelt bevölkerte Distrikte in extensiv bewirtschaftete Weidereviere; - beides sind Kulturverluste definitiver Art, welche, wenn einmal eingetreten, überhaupt auch im Verlauf von Menschenaltern nicht wieder ganz rückgängig zu machen sind. - Dann aber auch deshalb, weil nur für den Osten schon jetzt angegeben werden kann, in welcher Weise der Staat helfend einzugreifen vermag. Beide Schriften - Sering ausdrücklich, v. d. Goltz dem Ergebnis nach - sehen in dieser Beziehung, neben anderm, was für jetzt unerörtert bleiben mag, die wesentliche Abhilfe in einer umfassenden kolonisatorischen Thätigkeit des Staates, behufs Umgestaltung der Grundbesitzverteilung, - nicht im Sinn einer Annäherung an den parzellierten Süden und Westen, aber an die Verhältnisse in denjenigen mittel- und nordwestdeutschen Bezirken, in welchen sowohl die Grundbesitzverteilung die günstigste Mischung großer, mittlerer und kleiner Betriebe darstellt, als die Arbeiterverhältnisse im allgemeinen die relativ gesundesten sind. Beide gelangen zu diesem Er-

2 Gemeint ist Webers Artikelreihe „Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter", abgedruckt oben, S. 1 2 3 - 1 5 3 . 3 Zwischen 1885 und 1890 betrug in den östlichen Gebieten die Abwanderung im Durchschnitt jährlich 75,04% des Geburtenüberschusses. Vgl. Sering, Kolonisation, S. 6.

Zwei neue Schriften zur Landfrage

im Osten

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gebnis aus dem gleichen Motiv: der Fehler der sozialen Gliederung liegt nach beiden in dem durch die geschichtliche Entwickelung dieses Jahrhunderts geschaffenen schroffen Gegensatz zwischen Bodenbesitz und Landproletariat, in der dadurch herbeigeführten sozialen „Isolierung" der Landarbeiterschaft des Ostens, in dem Mangel einer sozialen Stufenleiter, welche das Aufsteigen von unten nach oben in der Heimat ermöglicht, und in der Unmöglichkeit, unter den jetzigen Verhältnissen die landwirtschaftliche Produktion überwiegend in den Händen von großen, auf den sich bisher zunehmend verschlechternden Markt verwiesenen Betrieben zu belassen, mit einer proletarischen und flukturierenden Arbeiterbevölkerung, welche das eigene Interesse an dem Gedeihen des Betriebes zunehmend verliert. Naturgemäß erörtert v. d. Goltz mehr die Frage, wie die heutige Arbeitsverfassung entstanden ist, welche Fehler ihr anhaften und welcher Reformen sie bedarf; Sering mehr die Frage, wie es mit der Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Betriebsgrößen bestellt ist und welche Forderungen sich daraus für die künftige Gliederung der Betriebe ergeben, welcher Art Wirtschaften also im Osten die Zukunft gehört. Aber die Grundauffassung ist dennoch die gleiche, und es ist im Zusammenhalt mit dem Ergebnis der Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik das erfreuliche Resultat zu konstatieren, daß sich in einer Frage von grundlegender sozialpolitischer Bedeutung eine seltene Übereinstimmung der Ansichten auf Seiten der kompetentesten Beurteiler herausgebildet hat. Damit ist das Vorhandensein von Meinungsverschiedenheiten, teils über die einzuschlagenden Wege, teils über das mögliche Ergebnis der Umgestaltung überhaupt, nicht ausgeschlossen. Die beiden Schriftsteller, von welchen hier die Rede ist, sind Optimisten und sehen die Zukunft vielleicht in zu günstiger Beleuchtung: v. d. Goltz glaubt an den Erfolg einer materiellen Besserung der Arbeiter aus eigener Initiative der Grundbesitzer in größerem Maße, als wohl allgemein zugestanden wird, und Sering verspricht sich von dem Entstehen bäuerlicher Wirtschaften im Osten einen Aufschwung der Technik des Betriebes, der gleichfalls nicht von allen Befürwortern der Kolonisation in dieser Weise für möglich gehalten werden wird. Allein],| wenn wir auch in unseren Erwartungen vielleicht, namentlich soweit die nähere Zukunft in Frage kommt, skeptischer sein müssen, so trägt das für die Frage, was geschehen soll und nicht nur soll, sondern muß, wenn der Bestand der deutschen Kultur im Osten

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Zwei neue Schriften zur Landfrage

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Osten

gesichert werden soll, nichts aus; die zu lösende Aufgabe und die Mittel zu ihrer Lösung sind in den Hauptpunkten der beiden Schriften so formuliert, daß sie allseitige Zustimmung verdienen. Auf die Übereinstimmung einer Autorität auf dem Gebiete der Landarbeiterverhältnisse wie es v. d. Goltz ist, mit dem, was ich aus der Erhebung des V[ereins] f[ür] S[ozial-]P[olitik] schließen zu müssen glaube, konnte ich schon in der Generalversammlung des Vereins hinweisen. 4 Auch v. d. Goltz hält den Ausschluß der ausländischen Wanderarbeiter im Osten für unumgänglich, 5 er ist ebenso der Ansicht, daß das Instverhältnis in seiner jetzigen Gestalt nicht haltbar ist, wenn er sich auch zurückhaltender ausdrückt: jedenfalls hält er die Scharwerkerhaltung für nicht dauernd durchführbar, 6 und damit ist meines Erachtens der Übergang zu einem Arbeiter-Pachtverhältnis irgend welcher Art unumgänglich, wenn man die eigne Wirtschaft der Leute nicht beseitigen will. Er fordert ebenso ein Vorgehen der Domänenverwaltung im Sinne der mustergiltigen Umgestaltung der Arbeiterverhältnisse auf den Staatsdomänen. 7 Er wie Sering sind der Ansicht, daß die Begründung von Häuslereien zur Seßhaftmachung der Arbeiter nur im Anschluß an kräftige Bauerngemeinden zulässig ist. 8 Allerdings - und hier würden meines Erachtens eventuell gewisse Bedenken, aber wesentlich quantitativer Art, zu erheben sein, - erachtet er das Häuslerverhältnis und die Grün232 dung von Arbeiter-Rentengütern in | weiterem Maß für wünschenswert, als mir dies nach den bisherigen Erfahrungen ratsam erscheinen will. Aber die Wichtigkeit der Schaffung von Almenden für die etwa anzusetzenden Kleinbesitzer hebt er sehr energisch hervor. 9 Der Wert seines wie des Sering'sehen Werkes liegt nicht zuletzt in dem genauen Eingehen auf die ganz konkreten wirtschaftlichen Bedingungen der gesunden Existenz von Arbeiter- bezw. Kleinbauernwirtschaften, - Erörterungen dieser Art sind überhaupt von wissenschaftlicher Seite in der Litteratur, welche sich in meist ganz allgemein-philanthropischer Weise mit dem Gedanken der „Seßhaftma4 Vgl. oben, S. 182. 5 Goltz, Arbeiterklasse, S. 283. 6 Ebd., S. 198. 7 Ebd., S. 2 8 7 - 2 9 7 . Von der Goltz fordert von dem Staat als dem größten Grundbesitzer eine vorbildliche Gestaltung der ländlichen Arbeiterverhältnisse. 8 Ebd., S. 212, und Sering, Kolonisation, S. 138. 9 Goltz, Arbeiterklasse, S. 2 5 9 - 2 7 3 .

Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten

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chung" befaßt, nicht geboten worden. Das von Sering in eingehenden örtlichen Recherchen über die wirtschaftlichen Ergebnisse der Kolonisation und Güterparzellierungen in Mecklenburg, dem Kreis Kolberg-Körlin, Westpreußen, auf den Gütern der AnsiedelungsKommission und der polnischen Rettungsbank 10 und das Ergehen der Kolonisten gesammelte Material bietet zum erstenmal die Unterlage für eine Kritik der Parzellierungspraxis. Die positiven Forderungen Sering's sind weittragend und doch nicht phantastisch. Er berechnet, 11 daß zur Überführung des Ostens in die Grundbesitzverteilung des mittleren und nordwestlichen Deutschlands die Begründung von etwa 160000 Bauernstellen auf einem dem Großbesitz abzunehmenden Gesamtareal von etwas über zwei Millionen Hektar erforderlich wäre. Der Großbesitz behielte dort alsdann noch immer über vier Millionen Hektar oder ein Drittel der Fläche in Händen. Im ersten Jahre sind bekanntlich etwa 150000 Hektar zur Parzellierung angeboten worden. 12 Die Größe der zu begründenden Bauernstellen will auch Sering in Übereinstimmung mit dem, was über die Existenzfähigkeit gerade der kleineren, ohne erheblichen Bedarf an fremden Arbeitern bewirtschafteten Stellen, welche nicht für den großen Markt produzieren, bekannt geworden ist, auf etwa llh—\5 Hektar (30—60 Morgen) mittleren Bodens bemessen sehen, 13 die Durchführung der Kolonisation in Verbindung mit der Gewährung der Baugelder-Vorschüsse der Generalkommission belassen unter teilweiser Umgestaltung der geltenden Bestimmungen. Die Anlage soll nach ihm regelmäßig

10 Der Erlaß des Ansiedlungsgesetzes vom 26. April 1886 für die Provinzen Westpreußen und Posen führte auf polnischer Seite als Gegenreaktion zur Gründung von Landerwerbsgenossenschaften für polnische Ansiedler. Im Jahre 1888 wurde als Kreditvermittlungsinstitut für diese Genossenschaften in Posen die Bank Ziemski - auch „Rettungsbank" genannt - ins Leben gerufen. Ihre Hauptaufgabe war die Vermittlung und finanztechnische Abwicklung von Parzellierungen von Gütern polnischer Adliger für polnische Ansiedler. Die polnischen Adligen sollten so vom Verkauf ihrer Güter an die deutsche Ansiediungskommission abgehalten werden. Vgl. Sering, Kolonisation, S.243 und 254f. 11 Siehe für das folgende ebd., S. 33. 12 Ebd., S. 93. 13 Sering, ebd., S. 272, schreibt, daß die zu schaffenden Bauern- und Büdnerstellen den gegebenen Bodenverhältnissen so anzupassen seien, daß sie entweder „eine volle und wirtschaftliche Ausnutzung der vorhandenen Spannkraft gestatten oder aber mit dem Spaten bearbeitet werden können", im zweiten Fall dem Büdner also noch genug Zeit für Lohnarbeit geben. Genaue Zahlenangaben über die Größe der zu begründenden Bauernstellen macht Sering nicht.

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Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten

nicht dorfweise, sondern nach dem Hofsystem erfolgen. 1 4 Das ist wirtschaftlich an sich gewiß vorzuziehen, hat aber Bedenken im Hinblick auf das wünschenswerte kommunale Leben und namentlich die Bevölkerungsvermehrung - der Nachwuchs ist nach bekannten Erfahrungen auf dem Lande leichter unterzubringen, anzusiedeln 5 oder sonst zu verwerten, wenn er von Dorfgemeinschaften aufgenommen wird. Allein ich enthalte mich aller Kritik im einzelnen und überhaupt jedes Eingehens auf die Einzelheiten der beiden Schriften, welche freilich das für den Landwirt erst eigentlich Interessante in ihnen 10 darstellen, 15 weil zu hoffen und zu erwarten ist, daß jeder, der sich ein Urteil über diese Dinge zutraut oder bilden will, aus der Quelle selbst schöpfen wird.

14 „Gerade diejenige Ansiedlungsform hat sich am besten bewährt, welche innerhalb des Gemeindeverbandes dem Einzelwirt den freiesten Spielraum giebt: das Hofsystem". Ebd., S.271. Hofsystem bedeutet im Gegensatz zum Dorfsystem die Ansiedlung der Bevölkerung auf weiter auseinanderliegenden Einzelhöfen. 15 Die Zeitschrift „Das Land" wurde von dem Heimatforscher und Dichter Heinrich Sohnrey herausgegeben; sie wandte sich an ein breiteres, an den agrarischen Verhältnissen praktisch interessiertes Publikum, einschließlich der Landwirte selbst.

Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst dieses Jahres

Editorischer Bericht

Zur Entstehung 1890 wurde der „Volksverein für das katholische Deutschland" gegründet, der sich rasch zum mitgliederstärksten Verein des deutschen Katholizismus entwickelte. Er setzte sich für sozialpolitische Reformen ein und arbeitete mit der katholischen Arbeitervereinsbewegung und den christlichen Gewerkschaften zusammen. Vom 20. bis 30. September 1892 veranstaltete er in Mönchengladbach Kurse für Geistliche und die interessierte Öffentlichkeit über soziale Probleme der Gegenwart. 1 Im Vordergrund der Erörterungen stand die Auslegung der päpstlichen Enzyklika „Rerum Novarum" von 1891 über die Arbeiterfrage. Sie diente den im Rahmen dieser Kurse gehaltenen Vorträgen, die nicht eigentlich wissenschaftlichen, sondern stark moralisierenden Charakter trugen, als Richtschnur. In circa dreißig Vorträgen wurde die soziale Problematik in ihrer ganzen Breite behandelt: die Arbeiterfrage (Arbeiterschutz, Arbeiterversicherung), die Lage des Handwerks und die der bäuerlichen Bevölkerung. An zentraler Stelle wurden dabei die Aufgaben, die der Klerus zur Bekämpfung der Sozialdemokratie übernehmen sollte, erörtert. Die erfolgreiche Durchführung des Kurses sowie das rege Interesse, das er gefunden h a t t e - 5 8 2 Hörer hatten t e i l g e n o m m e n 2 - , ließen Ausschuß und Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses aufhorchen. Der lang gehegte Plan, Kurse über soziale Fragen durchzuführen, 3 nahm unter dem Eindruck des genannten katholischen Beispiels konkrete Formen an. In der Ausschußsitzung des Evangelisch-sozialen Kongresses vom 11. Oktober 1892 sowie in den November- und Dezem-

1 Siehe auch für das folgende den Bericht über den Kursus in: Der Volksverein. Stimmen aus dem Volksverein für das katholische Deutschland, Jg. 1892, S. 1 0 4 - 1 0 8 , sowie die Ankündigung in: Arbeiterwohl. Organ des Verbandes katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde, 12. Jg., 1892, S. 137f. 2 Der Volksverein, Jg. 1892, S. 105. 3 Bereits im Arbeitsprogramm von 1891 hatte der Kongreß die Veranstaltung von Kursen und Diskussionen über sozialpolitische Themen empfohlen. Bericht über die Verhandlungen des Zweiten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Berlin am 28. und 29. Mai 1891. - Berlin: Vaterländische Verlags-Anstalt 1891, S. 128.

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Die Evangelisch-sozialen

Kurse in Berlin

ber-Sitzungen des Aktionskomitees wurde über eine dem katholischen „praktisch-sozialen" Kursus vergleichbare evangelisch-soziale Veranstaltung beraten und als Termin der Spätherbst 1893 ins Auge gefaßt.4 Dabei wurde betont, daß im Gegensatz zur Veranstaltung des „Volksvereins für das katholische Deutschland" der Evangelisch-soziale Kursus „ausschließlich den Charakter des Unterrichts in der Sozialwissenschaft" tragen und keine Handlungsanweisungen im christlichen Sinne, sondern „gründliche Informationen" über die „wirtschaftlichen Gesetze, [...] Thatsachen und Resultate des modernen sozialen Lebens" geben solle. 5 Anders als bei der Mönchengladbacher Veranstaltung sollten daher namhafte Nationalökonomen als Vortragende gewonnen werden. 6 Noch bevor ein detailliertes Programm aufgestellt werden konnte, fand in Elberfeld vom 22. bis 24. Januar 1893 ein Evangelisch-sozialer Kursus statt, an dem Friedrich Naumann federführend beteiligt war. 7 Wie in Mönchengladbach stand auch hier weniger das rein wissenschaftliche Interesse im Vordergrund. Statt dessen sollten die Vorträge dazu dienen, der evangelischen Arbeitervereinsbewegung eine gemeinsame Richtung zu geben; in Einzelbeiträgen sollten zudem konkrete Informationen über das Versicherungswesen, den Arbeiterschutz, die Arbeitszeit und das Koalitionsrecht vermittelt werden. So wollte man die Weichen für ein gemeinsames Programm stellen. Die Vorbereitungen für den im Spätherbst 1893 geplanten Kursus des Evangelisch-sozialen Kongresses wurden im April 1893 weitergeführt. Am 26. April trat eine mit der Vorbereitung beauftragte Kommission zusammen. Max Weber, der vermutlich seit Oktober 1892 dem Ausschuß des Kongresses angehörte, 8 nahm gemeinsam mit den drei Berliner Nationalökonomen

4 „Aus den letzten Sitzungen des Ausschusses und des Aktionskomitees", in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 1 von Jan. 1893, S. 4f. 5 Ebd., S. 5. 6 Ebd. 7 Siehe auch für das folgende: Verhandlungen des evangelisch-sozialen Kursus in Elberfeld am 22., 23. und 24. Januar 1893. Nach den Manuskripten der Vorträge und Zeitungsberichten zusammengestellt. - Hattingen (Ruhr): C. Hundt o. J. [1893], 8 Unter den Akten des Evangelisch-sozialen Kongresses in der Versöhnungskirche Leipzig-Gohlis befindet sich ein Flugblatt vom Oktober 1892, auf dem die Mitglieder des Ausschusses und des von ihm jeweils auf zwei Jahre gewählten Aktionskomitees vermerkt sind. Als handschriftliche Ergänzung befindet sich unter „2. Ausschuß" der Vermerk „*Prof. Dr. Max Weber, Berlin". Akten des Evangelisch-sozialen Kongresses, Versöhnungskirche Leipzig-Gohlis, A II 1: Evangelisch-sozialer Kongreß. Akten und Schriftwechsel 1890-1910. Möglicherweise wurde Weber anläßlich der Beratung der Landarbeiterenquete des Kongresses auf der Ausschußsitzung am 11. Oktober 1892 kooptiert. Die Tagesordnung dieser Sitzung wird mitgeteilt in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 8 vom 1. Okt. 1892, S. 4. Allerdings wurde Weber erst im Dezember 1893 zum a. o. Professor ernannt.

Editorischer

Bericht

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A d o l p h Wagner, Max Sering und Karl O l d e n b e r g an dieser Sitzung teil, 9 auf der der Termin für den geplanten Kurs auf Oktober festgelegt wurde. Die Beteiligten zeigten sich einverstanden damit, daß die Veranstaltung im G e g e n s a t z zu ihren Vorläufern „wissenschaftlich und objektiv informierend gehalten" sein sollte: „kirchliche, evangelisch-konfessionelle G e s i c h t s punkte sollen ihn [ . . . ] nicht b e s t i m m e n , nur ethische, soziale. Er soll vor allem für Geistliche, Candidaten, Arbeitervereinsführer, e b e n überhaupt für alle diejenigen sein, die sich sozial, vor allem natürlich evangelisch-sozial bethätigen wollen, und dazu objektive nationalökonomische Kenntnisse b r a u c h e n . " 1 0 Für den Kursus waren z e h n Tage angesetzt; m o r g e n s sollten jeweils vier S t u n d e n V o r l e s u n g e n gehalten w e r d e n , nachmittags und abends waren Exkursionen und Diskussionen geplant. 1 1 Insgesamt w u r d e n neun Referenten mit acht V o r l e s u n g s t h e m e n v o r g e s e h e n . Für den Bereich Nationalökonomie w u r d e n der Breslauer Professor Ludwig Elster und der Berliner Ordinarius A d o l p h Wagner g e w o n n e n , für das T h e m a Arbeiterbew e g u n g der j u n g e Privatdozent der Staatswissenschaften und Mitarbeiter Gustav S c h m o l l e r s Karl O l d e n b e r g . Die „ D e u t s c h e S o z i a l g e s e t z g e b u n g " sollte v o n d e m B r a u n s c h w e i g e r Amtsrichter und nationalliberalen Sozialpolitiker Wilhelm Kulemann behandelt w e r d e n , Pastor Schäfer aus Altona sollte über „ D i e soziale B e d e u t u n g der Inneren Mission" referieren und Paul G ö h r e über „Evangelisch-soziale B e s t r e b u n g e n " . Für das T h e m a „Agrarpolitik" waren acht S t u n d e n v o r g e s e h e n , die v o n d e m A g r a r w i s s e n schaftler Max Sering bestritten w e r d e n sollten. Der Rostocker Nationalökonom Wilhelm Stieda sollte über „ G e w e r b e p o l i t i k " referieren. Max W e b e r sollte vier S t u n d e n über „ H a n d e l " lesen und sagte seine Mitwirkung fest zu. 1 2 Max W e b e r w u r d e in der Folge beauftragt, anstelle Serings das T h e m a Agrarpolitik zu behandeln; die G r ü n d e dafür sind uns nicht bekannt. J e d e n falls erschien am 13. Juli 1893 in der „Christlichen W e l t " 1 3 eine Einladung z u m Evangelisch-sozialen Kursus, in der Max W e b e r anstelle Serings als Referent für die achtstündige Vortragsreihe über Agrarpolitik angekündigt w u r d e . Das T h e m a „ H a n d e l " sollte n u n m e h r Karl Rathgen, Privatdozent der Nationalökonomie an der Universität Berlin und seit Herbst 1893 außerordentlicher Professor der Nationalökonomie in Marburg, b e h a n d e l n . 1 4

9 Brief Paul Göhres an Wilhelm Stieda vom 27. April 1893, Nl. Stieda, Nr. 254, 3.1, UB Leipzig, HSA. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Die christliche Welt. Evangelisch-lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Nr. 29 vom 13. Juli 1893, Sp.704. 14 Ebd. - Die den Vorlesungen zugrunde gelegten Zusammenfassungen wurden später

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Die Evangelisch-sozialen

Kurse in Berlin

Anfang August unternahm es Max Weber, den geplanten Kursus in einem Artikel in der „Christlichen Welt" dem gebildeten protestantischen Publikum vorzustellen. Er hob dabei den vom vorausgegangenen katholischsozialen Kursus in Mönchengladbach und der evangelisch-sozialen Veranstaltung in Elberfeld verschiedenen Charakter der Veranstaltung besonders hervor. Die näheren Umstände der Entstehung und Publikation des Artikels sind nicht bekannt.

Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst dieses Jahres", in: Die christliche Welt. Evangelisch-lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Leipzig, Nr. 32 vom 3. August 1893, Sp. 7 6 6 - 7 6 8 , erschienen ist (A). Der Artikel ist mit den Initialen Max Webers gezeichnet.

als Manuskript gedruckt unter dem Titel: Grundriß zu den Vorlesungen im Evangelischsozialen Kursus zu Berlin. Oktober 1893. - Berlin: Vaterländische Verlags-Anstalt o.J. [1893]. Der darin auch befindliche Grundriß Max Webers „Landwirtschaft und Agrarpolitik" wird unten, S. 2 5 9 - 2 7 1 , mitgeteilt. Zum Verlauf und endgültigen Programm des Kursus vgl. den dazugehörigen Editorischen Bericht, unten, S. 2 5 4 - 2 5 8 .

Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst dieses Jahres

Einem bereits früher gehegten Plan gemäß hat der Evangelischsoziale Kongreß für die Zeit vom 10. bis 20. Oktober eine Serie 5 „Evangelisch-sozialer Kurse" in Berlin eingerichtet und durch Bekanntmachung in den Zeitungen zur Teilnahme daran aufgefordert. Die Vorbesprechungen, die vorher zwischen Mitgliedern des Ausschusses und den in Berlin wohnenden und daran beteiligten Dozenten gepflogen wurden, ergaben in den wesentlichen Punkten Über10 einstimmung über das zu erstrebende Ziel.1 Darnach unterscheiden sich diese Kurse von den von katholischer Seite in München-Gladbach und von den evangelischerseits in Elberfeld im Laufe des letzten Jahres veranstalteten ähnlich gearteten Unternehmungen zunächst durch ihren akademischen Charakter. 15 Nicht nur sind die Dozenten überwiegend akademische Lehrer, sondern auch in der Form wird dieser Charakter gewahrt. Es soll, unter Zugrundelegung eines gedruckten Grundrisses, 2 über die betreffenden Themata je ein allerdings auf den denkbar geringsten Zeitabschnitt komprimirtes förmliches Kolleg gelesen werden, und es wird 20 von diesem Grundton nur abgewichen werden, soweit eben gerade der Umstand, daß nur wenige Stunden zur Verfügung stehen, dies mit sich bringt. In M[ünchen]-Gladbach wie in Elberfeld hatten die Zusammenkünfte den Charakter von Versammlungen sozial gleichstrebender Männer, die gehaltenen Vorträge den von Reden, die die 25 gemeinsame Überzeugung zum Ausdruck zu bringen suchten und demgemäß laut Protokollen mit „lebhaftem Beifall" u.s.w. gelohnt wurden. In Elberfeld waren die gehaltenen Vorträge im wesentlichen nur das Vorspiel zu den darauf folgenden Programmerörterungen, die es, nach Naumanns zutreffendem Ausdruck, ermögli30 chen sollten, die evangelischen Arbeitervereine auf bestimmte öko-

1 Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 230f. 2 Siehe Anm. 14, oben, S. 231 f.

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nomische Programmpunkte „einzudrillen." 3 In M[ünchen]-Gladbach wurde zwar davon ausgegangen, daß die Universitäten in ihren Lehrplänen die „katholischen Anschauungen" nicht genügend berücksichtigten, 4 und also eine Art Konkurrenzinstitut angestrebt, allein schon daraus folgte, daß diese Einrichtung in erster Linie einen apologetischen Zweck haben und das Rüstzeug zur „Verteidigung unsrer christlichen Wirtschaftsordnung" bieten sollte. In beiden Fällen war der polemische Zweck gegen die Sozialdemokratie die Hauptsache: man suchte - nicht durchweg mit Erfolg - nach einer theoretischen Formulirung, die unter Anerkennung des sozialen Reformbedürfnisses doch nicht nur in der Methode, sondern auch in den Zielen eine deutliche Scheidelinie gegen die Sozialdemokratie erkennen lasse. Das wird sich bei den Berliner Kursen wesentlich anders gestalten. Die Stellungnahme der einzelnen Dozenten zum Sozialismus ist eine keineswegs gleichartige, und die meisten von ihnen würden es jedenfalls ablehnen, sich auf positive Programmpunkte, z.B. etwa bodenbesitzreformerischer oder produktivgenossenschaftlicher Tendenz, „festnageln" zu lassen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß manche 3 Teilnehmer das Gefühl der Enttäuschung über die ziemlich kühle Skepsis, mit der die Dozenten oder einige von ihnen der Lösbarkeit gerade mancher unmittelbar interessiren767 den Probleme auf Grund ihrer Wissenschaft| liehen Ansicht gegenüberstehen müssen, nicht ganz verlieren werden. Das aber liegt im Wesen wissenschaftlicher Erörterung über diese Gegenstände bea A: mancher 3 In seinem Abschlußreferat über die „Grundlinien für ein christlich-soziales Reformprogramm" vom 24. Januar 1893 forderte Friedrich Naumann auf dem Elberfelder Kursus einen stärkeren Zusammenschluß der Mitglieder der evangelischen Arbeitervereine sowie eine bessere Schulung hinsichtlich des Verständnisses „für die großen sozialen Probleme der Gegenwart": „Die Mitglieder der evangelischen Arbeitervereine müssen auf ein bestimmtes Programm gedrillt werden." Verhandlungen des evangelisch-sozialen Kursus in Elberfeld am 22., 23. und 24. Januar 1893. Nach den Manuskripten der Vorträge und Zeitungsberichten zusammengestellt.-Hattingen (Ruhr): C. Hundt o.J. [1893], S.53. 4 Im Artikel „Der praktisch-soziale Kursus in München-Gladbach vom 20. bis 30. September 1892", in: Der Volksverein. Stimmen aus dem Volksverein für das katholische Deutschland, Jg. 1892, S. 105, heißt es: „Doch bald darauf wurden durch den Kirchensturm die Lehrsäle unserer Priesterseminarien auf ein Jahrzehnt verödet, während die staatlichen Hochschulen bis heute ihre Lehrpläne einer den praktischen Bedürfnissen des Klerus wie überhaupt den katholischen Anschauungen entsprechenden Behandlung der sozialen Frage verschlossen hielten."

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gründet und kann nicht vermieden werden, - ja, noch mehr, selbst wenn es vermieden werden könnte, sollte es nicht vermieden werden. Darauf möchten wir mit einigen Worten näher eingehen. Der Vorwurf, der gegen den Evangelisch-sozialen Kongreß und alles, was mit ihm zusammenhängt, von Anfang an erhoben worden ist und den meisten Anklang fand, ist der: er oder seine Bestrebungen beförderten den sozialpolitischen Dilettantismus unter den Geistlichen zum Schaden ihrer eigentlichen Pflichten und im Widerspruch mit der eigentlichen Natur ihres Einflusses auf das Volksleben. Es ist nun leicht erkennbar, daß dieses Bedenken am lautesten von Seiten geltend gemacht wurde, die sich einem „Einfluß" der Geistlichen, möge er gestaltet sein wie immer, überhaupt für ihre Person thunlichst zu entziehen geneigt sind. Und es steht ferner dies Bedenken in wunderlichem Widerspruch mit dem Umstände, daß nach unsrer politischen Verfassung über die Lebensfragen der Nation als Volksvertretung ein überwiegend und zunehmend aus reinen Dilettanten zusammengesetzter Personenkreis entscheidend mitzuwirken berufen ist 5 und nach Ansicht eben dieser Kreise berufen sein soll. Es unterliegt endlich keinem Zweifel, daß, wenn unter den heutigen sozialen Spannungsverhältnissen ein Geistlicher sozialpolitisch „dilettirt", er dies nicht aus Neigung zum Dilettantismus, sondern dem Zwange der Not gehorchend thut, weil es schon jetzt und in zunehmendem Maß unmöglich wird, den Einfluß der materiellen Interessenkonflikte auf die sittlichen Grundlagen des Volkslebens zu ignoriren oder eine „reinliche Scheidung" durchzuführen. Wir haben einfach mit der Thatsache zu rechnen, daß die Entwicklung unsers öffentlichen Lebens ausnahmslos jeden, dem ein Beruf im Dienst irgend einer Lebensgemeinschaft anvertraut ist, auf Schritt und Tritt zur Stellungnahme gegenüber Fragen zwingt, deren Tragweite er nur unvollkommen zu übersehen vermag. Es ist und wird immer mehr unmöglich, daß ein Geistlicher in irgendeiner Form geistige Gemeinschaft mit der Masse seiner Gemeindeglieder pflegt, wenn er ihren elementaren Lebensverhältnissen, den Quellen ihrer schwersten Sorgen und Kämpfe um die Grundlagen einer gesunden und gesitteten Existenz wie ein unerfahrnes Kind gegenübersteht. Das Zeitalter

5 W e b e r bezieht sich hier auf die Tatsache, daß in d e n m o d e r n e n Parlamenten nicht Fachleute, s o n d e r n Politiker, die in rein fachlicher B e z i e h u n g als Dilettanten z u gelten haben, über alle w e s e n t l i c h e n Fragen e n t s c h e i d e n .

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der sozialen Resignation der Massen liegt hinter uns, sie ist eine psychologische Unmöglichkeit gerade für die sittlich tüchtigeren Elemente und wird es für Menschenalter bleiben. Das sind allbekannte Wahrheiten, und sie ergeben, daß nicht irgendwelche Veranstaltungen, sondern die Natur der Dinge selbst die Geistlichen wie uns alle in die sozialpolitische Mitarbeit hineinzwingt. Aber eben deshalb ist vielleicht keine Eigenschaft zur Zeit den Geistlichen mehr vonnöten, als die volle Nüchternheit des Urteils, wie sie nur die Erkenntnis der wirtschaftlichen Voraussetzungen einer sozialen Erscheinung und der Schwierigkeiten, die sich der sozialpolitisch erwünscht scheinenden Lösung entgegenstellen, mit sich bringt. Die Beförderung dieser Einsicht in die realen Machtfaktoren und nicht der fruchtlose Versuch einer Unterdrückung des Strebens nach sozialer Bethätigung ist zugleich das schlechterdings einzige Mittel, von wirklich bedenklichem Dilettantismus, d.h. dem aus der Unkenntnis der wirtschaftlichen Ursachen einer Krankheitserscheinung hervorgehenden Versuch, an ihren Symptomen herumzuquacksalbern, abzuhalten. Diesem und keinem andern Zweck sollen die veranstalteten Kurse dienen. Sie wollen nicht Propaganda machen in den Kreisen der Geistlichen, die bisher sich von praktischer Beschäftigung mit den Fragen der Sozialpolitik ferngehalten haben - das überlassen sie andern Veranstaltungen - , sondern an der wirtschaftlichen Schulung der bereits in einer solchen Thätigkeit begriffnen Kräfte arbeiten. Sie werden deshalb nicht das Hauptgewicht darauf legen, Mittel und Wege zur Lösung der großen Probleme der Zeit aufzuzeigen, sondern - und die Innehaltung dieser Schranke erfordert eine gewisse Resignation - im geraden Gegenteil den vollen Umfang der wirtschaftlichen Schwierigkeiten zur Anschauung zu bringen und darauf hinzuwirken suchen, daß die Probleme überhaupt in ihrer Tragweite 768 richtig erkannt und die praktischen Fragen richtig \ gestellt werden. Darauf beruht auch die Formulirung der Themata und der mehrfach auffällig bemerkte Umstand, daß sie in keiner Weise die „evangelische Beleuchtung" des Stoffes andeuten oder versprechen. Eine solche „Beleuchtung" z.B. der „Landwirtschaft" vom evangelischen Standpunkt würde der betreffende Referent zweifellos abgelehnt haben zu versuchen. Es konnte nur die allerdings bescheidnere, aber wichtigere Aufgabe übernommen werden, die gegebnen technischen Eigentümlichkeiten und Bedürfnisse des Betriebes und ihre Folgen

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zu erörtern. Nicht glänzende Reden, sondern nüchtern sachliche Darlegungen hat der Teilnehmer an den Vorlesungen zu erwarten. Gerade deshalb aber darf gesagt werden: nicht die Beförderung des Dilettantismus, sondern der Kampf gegen ihn ist Z w e c k und Inhalt der Kurse. Es ist bei der kärglich bemessenen Zeit selbstverständlich, daß nichts einer erschöpfenden 15 Erörterung auch nur Ähnliches geboten werden kann, sondern lediglich eine Information, die genügt, das eigne Studium zu ermöglichen oder zu erleichtern, und zugleich die Mittel und Wege zu methodischer Beschäftigung damit angiebt. Gelegenheit zur Aussprache über die schwebenden Tagesfragen werden die Abenddiskussionen bieten. D e n Dozenten aber hat sich wohl selten eine lohnendere A u f g a b e geboten. Sie werden sich gegenwärtig zu halten haben, daß selten ein so aufnahmefähiger und qualifizirter Hörerkreis sich um sie versammelt hat. D i e Enquete über die Landarbeiter 6 und ihr Ergebnis hat den Glauben an die Unfähigkeit der Geistlichen zu praktischer A u f fassung wirtschaftlicher Zustände für immer zerstört. Hoffen wir, daß durch den zahlreichen Besuch der Kurse auch der Zweifel an der Ernstlichkeit ihres Interesses, wo er etwa noch bestehen sollte, endgiltig beseitigt wird.

b A: erschöpfende 6 Gemeint ist die 1892/93 vom Evangelisch-sozialen Kongreß durchgeführte Erhebung über die Lage der Landarbeiter.

[Rezension von:] Th[eodor] Freiherr von der Goltz, Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Im Zuge seiner Beschäftigung mit der Landarbeiterfrage wurde Max Webers Interesse nicht nur auf die Probleme der sogenannten „inneren Kolonisation", d.h. der Bestrebungen, deutsche Arbeiter und Bauern vor allem in den preußischen Ostprovinzen anzusiedeln, gelenkt, sondern auch auf die Frage nach der Entstehung der modernen Landarbeiterschaft. Beide Themen wurden in der Schrift Theodor von der Goltz' über die ländliche Arbeiterklasse und den preußischen Staat behandelt. 1 Von der Goltz war ein anerkannter Agrarwissenschaftler und zu dieser Zeit Professor in Jena, wo er zugleich auch die Landwirtschaftliche Lehranstalt an der Universität leitete. Er hatte sich bereits intensiv mit den Ergebnissen der vom Verein für Socialpolitik veranstalteten Erhebung über die Lage der Landarbeiter auseinandergesetzt und dabei Webers Untersuchung besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. 2 Weber hatte die Goltzsche Schrift schon zusammen mit der Untersuchung Max Serings über Kolonisationsfragen im östlichen Deutschland 3 besprochen. 4 Während er in jener, an ein breiteres Publikum gerichteten Rezension jedoch den Schwerpunkt auf das Thema „innere Kolonisation" legte, stellte er in der nachstehend abgedruckten Besprechung die Frage nach den historischen Bedingungen für die Entstehung der modernen Landarbeiterschaft in das Zentrum seiner Überlegungen. Die näheren Umstände der Entstehung des Textes sowie der Publikation in einer der führenden nationalökonomischen Fachzeitschriften sind nicht bekannt.

1 Goltz, Theodor von der, Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat. - Jena: Gustav Fischer 1893. 2 Ebd., S. 1 2 4 - 1 3 1 , und: ders., Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 5,1893, S. 7 5 2 - 7 6 2 . 3 Sering, Max, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland (Schriften des Vereins für Socialpolitik 56). - Leipzig: Duncker & Humblot 1893. 4 In diesem Band oben, S. 2 2 3 - 2 2 8 .

Editorischer

Zur Überlieferung

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Bericht

und

Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der im Augustheft der Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, hg. von Johannes Conrad u.a., Jena, 3. Folge, Band 6, 2. Heft, 1893, S. 2 8 9 - 2 9 6 , erschienen ist (A). Der Artikel ist mit „Berlin. Max Weber." gezeichnet.

[Rezension von:]

Th[eodor] Freiherr von der Goltz, Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat. Jena, G. Fischer, 1893. 8°. 300 SS. Das Buch ist nicht eine Umarbeitung der bekannten Schrift: „Die ländliche Arbeiterfrage und ihre Lösung" (1874, 2. Aufl.), sondern ein völlig neues Werk, und zwar nicht nur in der Art der Anlage, sondern auch in den praktischen Forderungen, welche gestellt werden. Wie nämlich schon der Titel andeutet und v.d. Goltz selbst (S. 3) bemerkt, hat er sich auf Grund der Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte veranlaßt gesehen, seinen früheren Standpunkt insofern erheblich zu ändern, als er nicht mehr von der Initiative der landwirtschaftlichen Unternehmer, sondern daneben oder vielmehr hauptsächlich von positiven Eingriffen des Staates eine Gesundung der auch nach seiner Ansicht bedrohlich gewordenen sozialen Zustände im Osten erwartet.1 Auch seiner Schrift liegt der Gedanke zu Grunde, daß die preußische Politik auf diesem Gebiet bisher von der Regulierungsgesetzgebung angefangen bis zu den Ablösungsgesetzen, und am meisten bei Gelegenheit der Gemeinheitsteilungen, 2 neben den Großgrundbesitzern nur von den selbständigen Bauern Notiz genommen, die Interessen der kleinen Besitzer aber ignoriert, die soziale Ausscheidung der Landarbeiter als besonderen Standes, auf welche die natürliche Entwickelung ohnedies hindrängte, noch künstlich verschärft und ihre Proletarisierung und soziale Isolierung auf das entschiedenste begünstigt hat. Und er fordert, daß nunmehr auch die Interessen der untersten Schicht der Landbevölkerung in den Kreis der staatlichen Thätigkeit einbegriffen werden. |

1 „Die in den beiden letzten Jahrzehnten gemachten Studien und Erfahrungen haben mich indessen zu der Überzeugung gebracht, [...] daß vielmehr ein direktes und zielbewußtes Eingreifen der Staatsgewalt erfordert wird, wenn nicht der vorhandene Schaden immer größer werden soll." Goltz, Arbeiterklasse, S. 3. 2 Zum Regulierungsedikt vom 14. September 1811, der Deklaration vom 29. Mai 1816, der Ablösungsordnung und der Gemeinheitsteilungsordnung, beide vom 7. Juni 1821, siehe oben, S. 95, Anm. 10 und 11.

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von: Th. Freiherr von der

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Die Schrift behandelt zunächst, rückblickend und sich dabei viel- A fach mit den Gedanken Knapps 3 berührend, die Verhältnisse vor der Bauernbefreiung, die Entstehung der modernen Landarbeiter durch die Bauernbefreiung und ihre historischen Schicksale seitdem (Kap. I und II), dann die zur Zeit bestehenden Übelstände und Gefahren (Kap. III) und endlich die Forderungen, welche an die Thätigkeit des Staates zu stellen sind (Kap. IV). In den ersten beiden Kapiteln wird der Nachweis unternommen, daß in den gutsunterthänigen Verbänden bis zur Regulierung eine soziale Scheidewand zwischen „Bauern" und „Landarbeitern" nicht bestanden habe, beide vielmehr identisch gewesen seien, 4 und zu diesem Behufe ein erhebliches Material an litterarischen Zeugnissen zumal des vorigen Jahrhunderts zusammengetragen. Man wird dem im allgemeinen und namentlich, soweit der Vergleich mit den jetzigen Zuständen in qualitativer und quantitativer Hinsicht in Frage steht, durchaus beistimmen, doch aber die Formulierung zu schroff finden dürfen. Es ist namentlich m. E. kein Grund gegen die Annahme einer sozialen Differenzierung, daß, wie v. d. Goltz mit Recht aus seinem Material entnimmt, 5 die wirtschaftliche Lage der sozial tiefer stehenden Schicht - der Instleute - oft eine günstigere war als die der höheren: der Bauern. Denn das Gleiche - relativ bessere Lage des Proletariats gegenüber den Kleinunternehmern - kommt innerhalb und außerhalb der Landwirtschaft auch heute, und zwar nicht nur in Einzelfällen, vor und ist nicht das für die Klassenschichtungen wesentlichste Moment. Es ist ferner auch m. E. zu weit gegangen, wenn v.d. Goltz den Landbesitz der Bauern wesentlich unter den Gesichtspunkt eines dem Arbeitslohn gleichzustellenden Entgeltes für zu leistende Arbeiten bringt. 6 Das ist doch selbst für die Fälle nicht anzuerkennen, wo die Dienste auch der spannfähigen Stellen ungemessene waren. Es ist ferner m. E. historisch unzutreffend, denn die Art der Besitzverteilung innerhalb der Grundherrschaften stammt

3 Georg Friedrich Knapp hatte in seiner Schrift: Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens, 2 Bände. - Leipzig: Duncker & Humblot 1887, erstmalig auf die negativen Folgen der preußischen Agrargesetzgebung, insbesondere die Entstehung eines Landarbeiterproletariats, aufmerksam gemacht. 4 Goltz, Arbeiterklasse, S. 60f. 5 Ebd., S. 40. 6 Goltz, Arbeiterklasse, S.20: „Das ganze gutsherrlich-bäuerliche Verhältnis ist [...] seinem innersten Wesen nach ein Arbeitsverhältnis."

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aus einer Zeit, wo die geschäftlich-gewerbliche Ausbeutung des Grundes und Bodens hinter der politischen Bedeutung der Grundherrlichkeit zurückstand; und es traf auch wirtschaftlich nicht zu, denn gerade die Notwendigkeit des staatlichen Bauernschutzes zeigt, daß vom Standpunkte des Arbeitsverhältnisses aus die Gewährung eines so großen Areals sowohl unverhältnismäßig als unzweckmäßig war. Wenn ferner das Band der Erb- oder doch der Schutzunterthänigkeit 7 mit immerhin bemerkenswerten Differenzen beide Kategorien - Bauern und Arbeiter - umfaßte, so hinderte das nicht notwendig das Bestehen sozialer Klassengegensätze innerhalb der Unterthanenschaft. In der That war ein solcher Gegensatz schon in der Stellung der kleinen Arbeitsstellenbesitzer außerhalb der Feldgemeinschaft in höchst markanter Weise begründet und findet in den schlesischen Urkunden, welche Meitzen (Urkfunden] schles[ischer] Dörfer) publiziert hat, wiederholt in dem Gegensatz der Bauern und der „kleinen Gemeinde" - umfassend Häusler, Dreschgärtner etc. Ausdruck. 8 Die nähere Ausführung würde hier zu weit führen; ich glaube nur noch hervorheben zu sollen, daß das Absetzungsrecht des Gutsherrn gegen die Bauern, auf welches v.d. Goltz Gewicht legt, 9 291 doch nicht regelmäßig ein ganz arbiträres war und | die Häufigkeit seiner Ausübung zweifelhaft ist. Allein aller Bedenken gegen die Formulierung ungeachtet trifft das, was v.d. Goltz mit der Gegenüberstellung der früheren und jetzigen Zustände beweisen will, dennoch zu. Denn zweierlei hat sich unzweifelhaft zu Ungunsten der Landarbeiter verschoben. Einmal bestand in der alten unterthänigen Gemeinschaft ein Ascensionsverhältnis, welches mehrere Stufen höher hinaufführte, als dies heute der Fall ist. Über den Besitz einer

7 Im Unterschied zu den erbuntertänigen Hofhörigen und bäuerlichen Hintersassen waren die Schutzuntertanen persönlich frei, also nicht an die Scholle gebunden. Bevor sie als Schutzuntertanen aufgenommen wurden, mußten sie sich allerdings dem Gutsherrn gegenüber zu bestimmten Diensten verpflichten. 8 Meitzen, Urkunden, S. 39f., 83,155. Kleinstbauern oder mit Land ausgestattete Landarbeiter hatten weder Anteil an der Flurgemeinschaft, noch Mitspracherechte in Gemeindeangelegenheiten. 9 Goltz, Arbeiterklasse, S.47, verweist auf die entsprechenden Paragraphen im preußischen Allgemeinen Landrecht. Danach galt das Absetzungsrecht in Fällen der „liederlichen" Wirtschaft, bei Ungehorsam, Diebstahl, Zuchthaus- und Festungshaft, Verschwendung von Darlehen, hohem Alter und unheilbarer Krankheit. In den beiden letztgenannten Fällen galt zugleich die Unterhaltspflicht des Gutsherrn für den abgesetzten Bauern. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Teil II, Tit. 7, §288 bis 294.

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von: Th. Freiherr von der

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Inst- bezw. Deputantenstelle 3 hinaus kann der heutige Gutstagelöhner normalerweise in der Heimat nicht aufsteigen: der unfreie Landarbeiter konnte es in einer jedenfalls bedeutend größeren Zahl von Fällen durch Übertragung einer unfreien Bauernstelle. Der Ausschluß der kleinen Stellen von der Regulierung 10 und die Separationen11 haben diesen Steg, der zum relativ selbständigen Unternehmertum hinaufführte, zerstört und ein sich aus sich selbst ergänzendes, zu dauernder Unselbständigkeit verurteiltes und isoliertes Proletariat geschaffen. Ferner aber: der Organisation der patriarchalischen Gutswirtschaften lag trotz der Herrengewalt des Besitzers der Gedanke zu Grunde, daß die unfreien Glieder der Wirtschaftsgemeinschaft in ihrer strengen Unterordnung eben doch Genossen der Gemeinschaft zu minderem Recht waren. Die Sprengung des Verbandes hat an die Stelle des persönlichen und deshalb eine menschliche Beziehung enthaltenden Herrschaftsverhältnisses eine rein kapitalistische, die unmittelbar psychologisch wirksame Seite ausscheidende Herrschaft gesetzt und damit eine Schranke aufzurichten begonnen, welche, wie überall, so auch hier thatsächlich zu einer auf die Dauer sehr viel schärferen Isolierung der dienenden Glieder führte. Wir finden die gleiche Entwickelung überall, in der Beseitigung des genossenschaftlichen Elements in der Stellung der Schiffsmannschaft, der Handlungscommis etc. ebenso wie hier auf agrarischem Gebiet. Und wenn deshalb v.d. Goltz an anderer Stelle (S. 189f.) das Vorhandensein eines „patriarchalischen" Verhältnisses für die frühere im Gegensatz zur Jetztzeit mit dem Bemerken bestreitet, daß die Beziehungen zwischen Herrschaft und Gesinde bezw. Instleuten früher nicht freundlicher und vertrauensvoller gewesen seien als jetzt, so ist dagegen zu sagen, daß darin die Eigentümlichkeit eines „patriarchalischen" Verhältnisses durchaus nicht a A: Deputatenstelle

10 In der Deklaration vom 29. Mai 1816 wurde die Regulierungsfähigkeit auf spannfähige Güter begrenzt, kleinere Bauernstellen wurden somit ausgeschlossen. 11 Mit der Gemeinheitsteilungsordnung von 1821 ging die Zusammenlegung der einem Besitzer zukommenden Stücke, die sich zuvor in Gemengelage befunden hatten, Hand in Hand (Separationen). Dadurch wurde zugleich der Flurzwang und zumeist auch das Mitweiderecht der Kleineigentümer aufgehoben. Eine Viehhaltung und damit eine gewisse Selbständigkeit wurde für diese somit zumeist unmöglich. Vgl. Weber, Landarbeiter, S. 36 (MWG I/3, S. 100 mit Anm. 31).

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notwendig zum Ausdruck kommt. Der Mangel des „geschäftlichen" Charakters, das Persönliche und „Familienartige" des Herrschaftsverhältnisses ist das Entscheidende. Blickt man - um ein anderes Beispiel heranzuziehen - z.B. auf die Verhältnisse innerhalb der Bauernfamilien bei herrschendem Anerbenrecht, so wird man das Obwalten wilder Leidenschaften, von Haß und Streit unter den bevorzugten und den zurückgesetzten, als Knechte dienenden Angehörigen als Regel finden, und dennoch beherrscht die Familienzusammengehörigkeit mit ihren psychologischen Konsequenzen das ganze Verhältnis. Das Verschwinden des analogen Elements aus der Arbeitsverfassung der Gutsbetriebe ist das, worum es sich handelt. Die Konsequenzen des damit zusammenhängenden Verschwindens der naturalwirtschaftlichen Interessengemeinschaft hat v.d. Goltz selbst in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Enquete des Vereins für Sozialpolitik geschildert. 12 Kap. III stellt zunächst in wirksamer Weise das Zahlenmaterial A 292 über | die Aus- und Abwanderung zusammen und bespricht sodann die sozialdemokratische Agitation und ihre Gefahren für das Land. Den letzteren Punkt anlangend, so ist m.E. vorläufig noch nicht empirisch festgestellt, welche Wirkung ein etwaiger Masseneintritt von Landarbeitern in die sozialistische Bewegung haben würde. Überwiegend befördert - daran dürfte kein Zweifel sein - der Sozialismus die Abwanderung nach den Industriebezirken, d.h. also die sozialistischen Landarbeiter bleiben eben nicht Landarbeiter. Neuerdings scheint das anders zu werden. Es interessiert dabei aber m.E. keineswegs nur die Frage, welche Wirkung das auf die Lage der Landarbeiter und ihr Verhalten, sondern mehr noch, welche es für den als Partei organisierten Sozialismus haben wird. Die sozialistischen mecklenburgischen Tagelöhner sind ebenso wie andere bei den jüngsten Wahlen vom Sozialismus ergriffene Volkskreise13 nur so lange ein einigermaßen verdauliches Element in der Partei, als sie sich die Lieferung der erforderlichen Kandidaten aus den Vorräten 12 Gemeint ist die Enquete des Vereins für Socialpolitik von 1891/92. 13 Bei den Reichstagswahlen vom 15. Juni 1893 erzielten die Sozialdemokraten ca. 360000 Stimmen mehr als bei den vorangegangenen Wahlen von Februar 1890. Auf dem Lande konnten sie insbesondere in Mecklenburg, Brandenburg, Schleswig-Holstein, Bayern und Pommern sowie den mitteldeutschen Kleinstaaten Erfolge verbuchen. Lehmann, Hans Georg, Die Agrarfrage in der Theorie und Praxis der deutschen und internationalen Sozialdemokratie.-Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1970, S.58 und279f.

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der Partei gefallen lassen. 14 Hört das mit erhöhtem Selbstbewußtsein auf, so wird die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen Stadt und Land fühlbar werden. Den individualistischen „Landhunger" als Leitmotiv des Landproletariats gab das Centraiorgan der Partei nach den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik zu und verzichtete in bemerkenswerter Ausführung für die nächste Zukunft auf die Verfolgung sozialistischer Ideale für das platte Land. 15 - Ich vermag deshalb der Erscheinung nicht so ausschließlich pessimistisch gegenüberzustehen, wie v.d. Goltz, wennschon es sicher ist, daß das Durchgangsstadium durch den Sozialismus ein überflüssiges und der natürlichen Entwickelung nicht förderliches ist. Die folgenden Ausführungen des gleichen Kapitels legen in sachkundigster Art die Möglichkeit und Notwendigkeit einer intensiven Steigerung der Getreideproduktion bis zur Deckung des vollen Nahrungsbedarfes Deutschlands einerseits, andererseits die Gefahr dar, daß statt dessen unter Ersparung von Kapital und Arbeitskraft die ewige Weide

14 In Wahlkreisen, die nur über unzureichende lokale Parteiorganisationen verfügten, wurden die Reichstagskandidaten von der nächsthöheren Parteiinstanz (Provinzial- oder Landeskonferenz) nominiert. Oftmals wurden dabei Kandidaten aufgestellt, die nicht bzw. nicht mehr ortsansässig waren. In Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelltz wurden Kandidaten aus Hamburg, Bielefeld, Rostock, Lübeck und Berlin für die Reichstagswahl 1893 nominiert. Siehe dazu: Schröder, Wilhelm Heinz, Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898-1918. Biographisch-statistisches Handbuch. - Düsseldorf: Droste Verlag 1986, S.25f., sowie: Vorwärts, Nr. 129 vom 4. Juni 1893, 2. Beiblatt. 15 Im Zentrum zweier Artikelserien Im Vorwärts über die Landarbeiterenquete des Vereins für Socialpolitik 1891 /92 (Nr. 6 7 - 6 9 vom 19. bis 22. März 1893) und die Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik über die ländliche Arbeiterfrage und die Bodenbesitzverteilung am 20. und 21. März 1893 (Vorwärts, Nr. 6 8 - 7 0 vom 21. bis 23. März 1893) stand die Frage nach dem Verhältnis der Sozialdemokratie zu den Landarbeltern und Bauern. Seit den Parteitagen in Halle (1890) und Erfurt (1891) hatte sich die Sozialdemokratie mit dieser Frage und den Möglichkeiten einer verstärkten Landagitation zur Gewinnung von Wählerstimmen auseinandergesetzt. Dabei hatte sie im Erfurter Programm den zwangsläufigen Untergang der bäuerlichen Kleinbetriebe prophezeit. Demgegenüber heißt es in einer der oben genannten Artikelserlen, auf die sich Weber hier offensichtlich bezieht, daß die Sozialdemokratie nicht mehr den Fehler begehen dürfe, die Landarbeiter nach den Verhältnissen der industriellen Arbeiter zu beurteilen (Nr. 67 vom 19. März 1893). Weiterhin heißt es, die Sozialdemokratie müsse vielmehr davon ausgehen, daß der Landarbeiter nicht den „Drang nach sozialistischer Produktionswelse" habe, daß er eher „ein Stück Land zur individualistischen Produktion haben" wolle. Darüber hinaus dürfe auch den kleinbäuerlichen Betrieben nicht die Schablone der sozialistischen Produktionswelse aufgezwängt werden (Nr. 69 vom 22. März 1893). Diese Artikelreihe bildete den Versuch, Innerhalb der Sozialdemokratie eine neue, reformistische Agrarpolitik durchzusetzen.

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auf Kosten des Ackerlandes vermehrt wird, und die verhängnisvolle Rolle, welche bei dieser doppelten Möglichkeit der Zukunftsentwikkelung der Arbeitermangel im Sinne der Entscheidung für die ungünstige Alternative spielt, besonders da die Verwendung arbeitssparender Maschinen, zumal der Dreschmaschinen, den Übelstand nicht mildert, sondern durch Vergrößerung des Unterschiedes zwischen den im Sommer und den im Winter nötigen Arbeitskräften verschärft. Kap. IV enthält die positiven Vorschläge, welche v.d. Goltz zur Zeit für das Eingreifen des Staates für praktikabel erachtet. Grundgedanke ist, daß die Instleute, aber unter Abschaffung der Scharwerkerpflicht, als ständige regelmäßige Arbeitskräfte fortbestehen, die Einlieger dagegen verschwinden und an ihre Stelle sowie an die der Scharwerker grundbesitzende Arbeiter - Häusler - mit ca. 2Vi Morgen Land treten sollen. 16 Es soll dadurch eine Ascension von den Instleuten zu den Häuslern und von diesen eventuell wieder zu den kleinen Bauern ermöglicht werden. Sowohl die Ansiedelung in besonderen Arbeiterkolonien als im Gutsbezirk verwirft v. d. Goltz, A 293 das Normale soll - und | dafür sprechen ja in der That schlechterdings alle Erfahrungen - die Ansetzung innerhalb der Bauerndörfer sein. Höchst sachverständig - die betreffenden Abschnitte sind ganz besonders wertvoll - wird die Unentbehrlichkeit der b Kuhhaltung und 0 der Bedarf an Kuhfutter und Streu besprochen und die Neuschaffung von Allmenden und Laubstreugerechtigkeiten gefordert. Als Rechtsform empfiehlt v.d. Goltz gesetzlich unverschuldbare, unteilbare, aber veräußerliche Rentengüter mit wenigstens teilweise unablöslicher Rente und Anerbenrecht. Die Kosten solcher Stellen inklusive] Gebäude berechnet er kapitalisiert auf 3—4000 M., das Inventar einschließlich aller Möbel auf 750-850 M. 17 Die Zahl der zu errichtenden Stellen soll 3—400000 betragen, 18 und v.d. Goltz denkt sich den Hergang der Kolonisation wie folgt. 19 Der Staat stellt

b A: Kuhhaltung, und

16 Goltz, Arbeiterklasse, S. 225. 17 Ebd., S. 242f. 18 Von der Goltz, ebd., S.247, empfiehlt die Schaffung von 6 0 0 0 0 - 8 0 0 0 0 neuen (spannfähigen) Bauernstellen sowie von 2 0 0 0 0 0 - 3 0 0 0 0 0 Häuslerstellen. 19 Siehe für das folgende ebd., S. 2 4 9 - 2 7 3 .

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einen neuen 100-Millionenfonds zur Verfügung 20 behufs vorschußweiser Beschaffung eines Teiles des demnächst in Renten zu amortisierenden Bodenkaufkapitals und zur Bevorschussung des Erwerbers. Durch Gesetz wird die Befugnis, die Errichtung von Arbeiterrentengütern zu beantragen und dazu diesen Fonds in Anspruch zu nehmen, den Landgemeinden, außerdem aber - wegen der voraussichtlichen regelmäßigen Abneigung der Gemeinden - den Kreisen übertragen, welch letztere ebenfalls einen Teil des Kapitals vorschußweise aufbringen sollen. Das erforderliche Land soll dann im Wege des freihändigen Ankaufes innerhalb der einzelnen Landgemeinden erworben und im übrigen (in der Hauptsache) analog wie bei den bisherigen Kolonisationen verfahren werden. - Ihre Ergänzung soll diese energische Kolonisation finden in Gestalt der Bereithaltung von Staatsmitteln behufs Gewährung von Darlehen an Landgemeinden zum Erwerb von Allmenden, welche in erster Linie den Kleinstellenbesitzern, erst in zweiter den übrigen Gemeindegliedern als Weideland gegen Entgelt zur Verfügung gehalten werden sollen. In überaus sorgfältiger Detailausführung weist v. d. Goltz die Bedeutung seiner Einzelvorschläge für die Arbeiterwirtschaften nach und kennzeichnet sodann die künftige rechtliche Stellung der grundbesitzenden Arbeiter innerhalb der Landgemeinden nach der neuen Landgemeindeordnung. 21 Es ist auch hier wieder zu betonen, daß der Wert dieser Erörterungen in der mit ausgezeichnetem Kennerblick bis ins Einzelne durchgeführten Darlegung der konkreten Möglichkeiten zu finden ist. Die große praktische Erfahrung, welche v.d. Goltz zur Verfügung steht, 22 kommt hier zur vollen Geltung. Ein ähnlicher, ins Detail ausgeführter Plan für die Arbeiterkolonisation liegt bisher nirgends vor, und doch ist er die Voraussetzung für alle legislatorischen Erörterungen, die durch allgemeine Aufstellungen über den wünschenswerten Gang der Entwickelung nichts gewinnen. - V. d. Goltz selbst

2 0 Bereits mit dem Gesetz vom 26. April 1886 war der preußischen Ansiediungskommission ein Fonds von 100 Millionen Mark zur Ansiedlung deutscher Bauern und Landarbeiter in Posen und Westpreußen zur Verfügung gestellt worden. G S 1886, S. 131. 21 Goltz, Arbeiterklasse, S. 2 7 3 - 2 7 8 . Gemeint ist die Landgemeindeordnung vom 3. Juli 1891. 22 Nach dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften ging von der Goltz aus gesundheitlichen Gründen zunächst in die landwirtschaftliche Praxis. Erst nach einiger Zeit praktischer Erfahrung nahm er sein landwirtschaftliches Studium auf.

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hält Bedenken mancherlei Art gegen seine Vorschläge für möglich, und einige solche möchte ich hier geltend machen, in der Überzeugung, daß der vollen Würdigung des Wertes seiner Schrift dadurch kein Eintrag geschieht. Es ist nämlich zunächst zweifelhaft, ob die anzusetzenden Häusler mit Vorliebe in der Heimat Arbeit suchen werden. Nach v. d. Goltz sollen sie als unständige Arbeiter neben den Instleuten stehen. Nur | A 294 unter günstigen Verhältnissen - die allerdings vorkommen - wird ihnen dann ein ständiger und reichlicher Lohnerwerb gesichert sein, und es spricht alles dafür, daß sie überwiegend zur Sachsengängerei neigen werden, wozu sie bei der Kleinheit der Stellen durchaus imstande sind. Das wird am meisten dort der Fall sein, wo der bekannte mittlere Sandboden des Ostens vorherrscht - und gerade für diese Bezirke ist die derzeitige Arbeiterkrisis der Landwirtschaft am brennendsten, weil hier die Zahlung hoher Geldlöhne (und solche müssen die Häusler beanspruchen) unmöglich ist. Will man andererseits sie kontraktlich binden und werden also etwa bei Übernahme des Rentengutes langfristige Arbeitsverträge mit ihnen geschlossen, - ein modus procedendi, der von agrarischer Seite mehrfach befürwortet ist, - so entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis, welches die Gefahr schlimmster Ausbeutung in besonders hohem Maße in sich trägt und das Institut zu diskreditieren geeignet ist. Ein Kontraktsverhältnis und eine feste Arbeitsgemeinschaft des Gutes mit den Arbeitern ist aber die natürliche Voraussetzung der Naturallöhnung, wie sie dem überwiegenden Teil des Ostens, der in absehbarer Zeit zur intensiven Kultur nicht überzugehen vermag, adäquat ist. Für dieses große Areal ist m.E. eine elastischere Struktur, d.h. die Fortbildung des Instverhältnisses zu einem Pachtverhältnis mit gegenseitiger Hand- und Spannhilfe zwischen Herrn und Arbeitern, das einzig Mögliche. Die Erhebungen, welche auf Veranlassung des preußischen] Landwirtschaftsministers über die Gestaltung solcher Arbeiterpachten jetzt vorgenommen werden, 23 werden das bestäti-

2 3 Karl Kaerger, der für d e n V e r e i n für Socialpolitik die A u s w e r t u n g d e s E r h e b u n g s m a t e rials über die L a g e der Landarbeiter in N o r d w e s t d e u t s c h l a n d ü b e r n o m m e n hatte, regte bei d e m p r e u ß i s c h e n Landwirtschaftsminister W i l h e l m v o n H e y d e n - C a d o w eine e i n g e h e n d e U n t e r s u c h u n g der b e s t e h e n d e n Arbeiterpachtverhältnisse und der Frage an, ob die A r b e i terpacht prinzipiell geeignet s e i n könne, die Landarbeiterfrage z u lösen. K a e r g e r wurde mit d i e s e r U n t e r s u c h u n g beauftragt, deren E r g e b n i s s e er 1 8 9 3 veröffentlichte; s i e h e d a z u Kaerger, Arbeiterpacht.

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gen1'. Was das Interesse der Arbeiter anlangt, so haben die Erhebungen des Vereins für Sozialpolitik m. E. den Glauben, daß die Arbeiter im allgemeinen die Erwerbung von Land in Gestalt von Arbeiterstellen erstrebten, nicht bestätigt, sondern vielmehr widerlegt. Es ist 5 nur lokal das Gegenteil der Fall, da nämlich, wo dieser Erwerb das künftige Aufsteigen in den Bauernstand ermöglicht. Das setzt nun v.d. Goltz als normal voraus; es ist aber im Osten in Ermangelung einer starken Beweglichkeit des Bodens nicht die Regel. Solche Existenzen, wie der südwestdeutsche Kleinbesitzer, der sein Lebe10 lang Fetzen um Fetzen Land ankauft, alle seine Überschüsse in Land anlegt und so schließlich zum kleinen Bauer wird, sind im Osten im allgemeinen nicht denkbar. In der gleichen Richtung liegen die Erfahrungen der Ansiedlungskommission. Sie setzt ihre Arbeiterstellen nur mit Schwierigkeit ab. 24 - Im übrigen würde es doch wohl auch 15 optimistisch sein, wollte man glauben, daß die Landgemeinden oder die Kreiskorporationen im allgemeinen diejenigen Instanzen sein würden, welche die Arbeiterkolonisation | unter einem wahrhaft A 295 " Auf die umfassende, im Druck befindliche Arbeit meines Freundes Dr. Karl Kaerger über die „Arbeiterpacht", welche die Ergebnisse dieser Ermittelungen zusammenfaßt und deren Druckbogen er mir freundlichst zur Verfügung stellte, möchte ich schon hier hinweisen. Die Begründung der im Text wiedergegebenen, jetzt auch von ihm vertretenen Ansicht ist eine ungleich gründlichere, als ich sie nach Lage des Materials, der verfügbaren Zeit und meiner Kenntnis der bestehenden Zustände in dem 0 Enquetebericht des V e r eins] f[ür] Sozialpolitik (Bd. 55) 25 bieten konnte. Mit seiner temperamentvollen^] aber die sachliche Erörterung fördernden Polemik gegen mich inbetreff der Ergebnisse der Enquete 26 werde ich mich bei anderer Gelegenheit auseinanderzusetzen haben. 27 |

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A: den

24 Die Durchführung des Gesetzes vom 26. April 1886 zur Förderung der Ansiedlung deutscher Bauern und Landarbeiter in den Provinzen Westpreußen und Posen oblag einer aus Beamten der beteiligten Fachressorts und landwirtschaftlichen Sachverständigen zusammengesetzten Ansiedlungskommission. Von der Goltz, Arbeiterklasse, S. 218, berichtet, daß sich unter den 771 bis zum I.Dezember 1891 von der Kommission angesiedelten Personen nur 73 befanden, die eine Arbeiterstelle, also eine Stelle von 0 - 5 ha Größe, übernahmen. 25 Weber, Landarbeiter. 26 Kaerger kritisierte in seinem Buch „Die Arbeiterpacht" vor allem, daß Weber seine These von der Proletarisierung der Landarbeiterschaft mit der Annahme einer Verschlechterung des Lebensstandards verbunden habe. Kaergers Kritik ausführlich unten, S. 364. 27 Dies geschah in dem im Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik veröffentlichten Artikel Webers „Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter", unten, S. 368-424.

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sozialpolitischen Gesichtspunkt in Angriff zu nehmen den guten Willen hätten. Schon jetzt sind die Gutsbezirke auch insofern eine Schmarotzerpflanze, als sie als „freie" Arbeiter regelmäßig Arbeitskräfte ausnutzen, welche sie weder erzogen haben, noch nach der Abnutzung unterhalten, beides den Dorfgemeinden überlassend. Trotz aller Kautelen, die v. d. Goltz treffen will, vergrößert sich diese Möglichkeit, wenn die vom Großbesitz beherrschten Kreiskorporationen gegen den Willen der Landgemeinden Arbeiter ansiedeln können. Man wird gut thun, nach den bisherigen Erfahrungen über die sozialpolitische Gesinnung der landwirtschaftlichen Unternehmer bei uns, so wenig Machtmittel als irgend möglich in ihre Hand zu legen, sonst könnte man leicht ein Proletariat schaffen, welches die eigene Scholle als Sklavenfessel empfindet. - Diese Bedenken bestehen für Gegenden mit sehr großer Arbeitsgelegenheit, gutem Boden, intensiver Wirtschaft, lebhaftem Bodenumsatz und besonders da, wo auch Arbeit in der Industrie zur Wahl steht, nicht. Dort ist ein „Heuerlings"-Verhältnis nicht am Platze, weil der Boden zu wertvoll ist, die Güter werden zunehmend geldwirtschaftlich mit freien Arbeitern wirtschaften, und hier hat im Anschluß an große Bauerndörfer der Häusler seine naturgemäße Stelle. Es ist also von entscheidender Bedeutung, wie man die Zukunft der Landwirtschaft ansieht: ob man mit v.d. Goltz glaubt, daß im allgemeinen der intensiven Wirtschaft für den Markt die Zukunft im Osten gehört, - dann werden die Vorschläge von v.d. Goltz für ein immer größer werdendes Areal unmittelbar praktikabel; - oder ob man für den überwiegenden Teil des Ostens für absehbare Zeit das Gegenteil annimmt, dann wird man mit der Arbeiterkolonisation, wie er sie vorschlägt, nur sehr vorsichtig und nur wenn im einzelnen Falle völlig feststeht, daß alle Bedingungen besonders günstig liegen, vorgehen, zumal es höchst problematisch bleibt, ob die Landgemeinden die unerläßliche Vorbedingung: Erwerb von Allmenden zur Viehweide, erfüllen werden, wenn diese wesentlich den Arbeitern zu gute kommen soll. Man wird dann eben den Schwerpunkt der kolonisatorischen Thätigkeit allein auf die ßawerwkolonisation legen; und diese Ansicht habe ich aus Gründen, die ich hier nicht wiederholen möchte, vertreten zu sollen geglaubt. 28 - Die weiteren Vorschläge der Schrift beziehen 28 Siehe Webers Vortrag auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 20. März 1893, oben, S. 191 f.

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sich zunächst auf die bei Schaffung der nötigen Kautelen gewiß praktische Einrichtung von Halbtagsschulen, um die Mitarbeit von Kindern zu ermöglichen. Das Unwesen der Hütekinder will auch v.d. Goltz beseitigen, im übrigen wird eine sehr genaue Kontrolle über die Art der Verwendung nötig sein, die ja freilich nicht die Gefahr der Kinderarbeit in der Industrie an sich trägt. Die ferner vorgeschlagene systematische Beurlaubung von Soldaten wird ebenfalls nur, wo feststeht, daß inländischen Arbeitskräften dadurch keine Konkurrenz gemacht wird, erwünscht sein. - Mit großer Gen u g t u u n g muß man es begrüßen, daß v.d. Goltz sich (S.279f.) unter überzeugender Darlegung der obwaltenden Gefahren für die Ausschließung der Zuwanderung polnischer Arbeiter in sehr energischer Form ausspricht. Es ist das m.E. - ich will die Gründe nicht wiederholen - die wesentlichste Forderung, die auf diesem Gebiet gegenwärtig überhaupt | zu stellen ist. Zur Zeit hört man freilich A 296 lediglich von Zusagen weiterer Erleichterung seitens der Staatsregierung: 29 es besteht eben die Gefahr, daß die landwirtschaftlichen Unternehmer nachgerade eine derartige politische Macht im Staat werden, daß ihre Interessen zu einer festen Schranke für alle sozialpolitische Thätigkeit des Staates erwachsen. - Von unmittelbar praktischem Wert sind endlich die Bemerkungen (S.287f.) über die Aufgabe des Staates als Domänenbesitzer: es scheint ja, daß die landwirtschaftliche Verwaltung in Preußen entschlossen ist, hier reformierend nach Art der mecklenburgischen Domanialverwaltung 30 vorzugehen. Hoffen wir, daß die Zeit kommt, wo dem durch regelmäßige Einstellung von Beträgen in den Etat behufs Aufkauf heruntergewirtschafteter Großbetriebe zur Melioration und andererseits durch Verwendung geeigneter Domänen zur Kolonisation eine noch umfassendere Bedeutung gegeben wird.

2 9 Auf Drängen der Großgrundbesitzer waren am 18. April 1891 polnische Arbeiter für sämtliche preußische Provinzen wieder zugelassen worden. Die Aufhebung der Einwanderungsverbote von 1885 hatte sich zunächst, d.h. in den Erlassen vom 26. November und 18. Dezember 1890, nur auf die vier preußischen Grenzprovinzen bezogen. Nichtweiss, Johannes, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches 1890-1914. - Berlin: Rütten & Loening 1959, S.43f. Auf welche sonstigen aktuellen Zusagen sich Weber bezieht, konnte nicht ermittelt werden. 3 0 Auf dem großherzoglichen Domanium in Mecklenburg-Schwerin war bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts systematisch die Ansiedlung von Landarbeitern betrieben worden.

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Wenn ich geglaubt habe, hier im wesentlichen nur die Bedenken, welche m. E. gegenüber den Ausführungen von v. d. Goltz bestehen bleiben, zusammenfassen zu sollen, und die Rücksicht auf den Raum mir verbot, die zahlreichen Ausführungen, denen man unbedingt zustimmen kann und muß, hier einzeln zu erörtern, so liegt das 5 daran, daß, wie schon hervorgehoben, die große Stärke des Buches und sein dauernder Wert in der Einzelerörterung der Bedürfnisse, Stärken und Schwächen des Arbeitshaushalts auf dem Lande liegt, in welchen sich der wohlbekannte praktische und nüchterne Blick seines Verfassers glänzend bewährt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß 10 es die entsprechende Beachtung an der Stelle finden wird, zu der es sprechen will: bei den Männern, in deren Hand die kolonisatorische Thätigkeit zur Zeit liegt.

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Landwirtschaft und Agrarpolitik Grundriß zu 8 Vorlesungen im Evangelischsozialen Kursus zu Berlin. Oktober 1893

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Der Evangelisch-soziale Kongreß hatte die Absicht, vom 10. bis 20. Oktober 1893 in Berlin einen Kursus über soziale Fragen nach dem Vorbild ähnlicher Veranstaltungen in Mönchengladbach und Elberfeld durchzuführen. 1 Im Unterschied zu letzteren sollte jedoch die geplante Tagung einen streng wissenschaftlichen Charakter tragen, ausgesprochen kirchliche oder politische Gesichtspunkte sollten keine Rolle spielen. Ziel der Veranstaltung war es, an sozialen Problemen interessierten Geistlichen Einblicke in die Komplexität wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse zu vermitteln. Rückschauend charakterisierte Paul Göhre, der Generalsekretär des Evangelisch-sozialen Kongresses, den Zweck des Kursus folgendermaßen: „Einmal wollte man durch ihn eine tiefere Kenntnis der nationalökonomischen Wissenschaft für alle die Gesinnungsgenossen ermöglichen, die ernstlich und gründlich an den gestellten eigentümlichen evangelisch-sozialen Problemen mitarbeiten möchten; andrerseits wollte man alle die, denen es vorwiegend um das Mitreden, ja Mitschwatzen, nicht aber um energische Förderung der Sache zu thun ist, durch eingehende Vorführung des ganzen großen sozialpolitischen Gebiets von ihrer oberflächlichen und schädlichen Mitarbeit für künftig abschrecken." 2 Auch Max Weber sah den Zweck der Kurse in der Verbreitung und Vertiefung des nationalökonomischen Wissens bei denjenigen Geistlichen, die, der Not gehorchend, sich mit den sozialen Problemen der Zeit auseinandersetzten. 3 Das Interesse, auf das der Evangelisch-soziale Kursus stieß, war unerwartet groß. Anstelle der fünfzig erwarteten Besucher kamen fünfhundert;

1 Vgl. hierzu im einzelnen den Editorischen Bericht zu Max Webers Artikel „Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst dieses Jahres", oben, S. 2 2 9 - 2 3 2 . 2 Göhre, Paul, Die evangelisch-soziale Bewegung, ihre Geschichte und ihre Ziele. Leipzig: Fr.W. Grunow 1896, S. 149. 3 Weber, Max, Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst dieses Jahres, oben, S. 236f.

Editorischer

Bericht

die weit ü b e r w i e g e n d e Mehrheit waren T h e o l o g e n ; aber auch Lehrer und Juristen waren unter den T e i l n e h m e r n . 4 Sieben Vortragsreihen von jeweils vier oder acht S t u n d e n waren v o r g e s e h e n 5 Namhafte Nationalökonomen sowie der B r a u n s c h w e i g e r A m t s r i c h ter und nationalliberale Sozialpolitiker Wilhelm Kulemann boten Vorlesungen über die f o l g e n d e n T h e m e n an: 1. „ E l e m e n t e der Nationalökonomie" (Adolph Wagner) 2. „ S y s t e m e der Volkswirtschaft" (Ludwig Elster) 3. „Agrarpolitik" (Max Weber) 4. „ G e w e r b e p o l i t i k " (Wilhelm Stieda) 5. „ H a n d e l " (Karl Rathgen) 6. „ D i e d e u t s c h e A r b e i t e r b e w e g u n g " (Karl O l d e n b e r g ) 7. „ D i e d e u t s c h e S o z i a l g e s e t z g e b u n g " (Wilhelm Kulemann). Wie im Stundenplan angekündigt, 6 hielt W e b e r seine V o r l e s u n g e n in der zweiten Veranstaltungswoche. Insgesamt handelte es sich um acht Stunden: Montag und Dienstag, den 16. Oktober und den 17. Oktober, jeweils von neun bis z e h n Uhr, Mittwoch, Donnerstag und Freitag, den 18., 19. und 20. Oktober, jeweils v o n elf bis d r e i z e h n Uhr. A m Donnerstag schloß sich von s e c h z e h n bis n e u n z e h n Uhr eine Diskussion über das T h e m a „Agrarpolitik" an. Auf Veranlassung Paul G ö h r e s erstellten alle Referenten mit A u s n a h m e des Breslauer Nationalökonomen Ludwig Elster 7 eine stichwortartige Z u s a m m e n f a s s u n g ihrer Vortragsreihe einschließlich Literaturangaben, s o g e nannte „ G r u n d r i s s e " , die den T e i l n e h m e r n zur b e s s e r e n Orientierung bereits vor V o r l e s u n g s b e g i n n Anfang Oktober zugestellt w e r d e n sollten. 8 Zu d i e s e m Z w e c k w u r d e n die „ G r u n d r i s s e " zu einer in der Berliner Vaterländis c h e n Verlags-Anstalt hergestellten Broschüre mit d e m Titel „Grundriß zu den V o r l e s u n g e n im Evangelisch-sozialen Kursus zu Berlin. O k t o b e r 1 8 9 3 " z u s a m m e n g e f a ß t ; diese trug den V e r m e r k „Als Manuskript gedruckt!"

4 Vgl. Göhre, Bewegung, S. 149. 5 Vgl. für das folgende: Göhre, Paul, Unser bevorstehender nationalökonomischer Kursus, in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr.7 von Aug./Sept. 1893, S. 1. Gegenüber den ursprünglichen Plänen (vgl. oben, S. 231) wurde auf die Vorträge über „Die soziale Bedeutung der Inneren Mission" und über „Evangelisch-soziale Bestrebungen" verzichtet. 6 Ebd., S. 2. Bis auf die Diskussionen, die entgegen den Ankündigungen im Programm stets nachmittags ab vier Uhr abgehalten wurden, wurde der Stundenplan generell eingehalten. Vgl. Göhre, Paul, Unser erster nationalökonomischer Kursus, ebd., Nr. 8 von Nov. 1893, S.1. 7 Göhre, Paul, Unser erster nationalökonomischer Kursus, ebd. 8 Ders., Unser bevorstehender nationalökonomischer Kursus, ebd., Nr. 7 von Aug./Sept. 1893, S. 2.

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Landwirtschaft

und

Agrarpolitik

Wann diese Broschüre fertiggestellt war, ist nicht bekannt, 9 doch hat sie mit Sicherheit spätestens zu Beginn des Kurses, also am 10. Oktober 1893, v o r g e l e g e n . 1 0 O b die Z u s e n d u n g an die Teilnehmer noch vor Beginn des Kurses tatsächlich erfolgt ist, war nicht festzustellen. W e b e r s „ G r u n d r i ß " trug, in A b ä n d e r u n g und Erweiterung seiner A n k ü n digung, den Titel „Landwirtschaft und Agrarpolitik". Er ist in der ersten Septemberhälfte 1893 verfaßt w o r d e n ; darauf deuten einige Briefe an seine spätere Frau hin: am 5. S e p t e m b e r 1893 schrieb W e b e r an Marianne Schnitger: „Jetzt muß ich auch etwas für die C u r s e im O c t o b e r a r b e i t e n . " 1 1 A m 8. S e p t e m b e r ergänzte er: „Hier passiert nicht viel. Ich suche so etwas für die C u r s e vorzuarbeiten, d o c h wird nicht sehr viel d a r a u s . " 1 2 A m 14. S e p t e m b e r 1893, kurz vor seiner Abreise nach Oerlinghausen, berichtete er: „ [ . . . ] aber heut A b e n d w e r d e ich soweit fertig, als ich es e b e n vor der Hochzeit überhaupt habe d u r c h s e t z e n k ö n n e n " , 1 3 A m 16. S e p t e m b e r fuhr W e b e r dann nach O e r l i n g h a u s e n , 1 4 w o er am 20. S e p t e m b e r heiratete. 1 5 Erst nach der anschließenden Hochzeitsreise kehrte er am 9. oder 10. Oktober nach Berlin z u r ü c k . 1 6 Z u d i e s e m Zeitpunkt lag der „ G r u n d r i ß " s c h o n gedruckt vor. Über den Kursus selbst ist uns ein Bericht überliefert, den Friedrich N a u m a n n für die Zeitschrift Martin Rades „ D i e christliche Welt" verfaßte. 1 7 Darin w u r d e n die Vorträge W e b e r s ganz b e s o n d e r s h e r v o r g e h o b e n : 1 8 „ E n de gut, alles gut. Das Ende sind die Vorträge von Dr. Weber über Landwirtschaft und Agrarpolitik, eine vortreffliche Gabe. In W e b e r vereinigt sich

9 Da es sich um keine Veröffentlichung, sondern nur um ein „als Manuskript gedrucktes" Papier handelt, ist das Erscheinungsdatum im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige nicht angezeigt. 10 Vgl. Göhre, Unser erster nationalökonomischer Kursus, S. 1. 11 Brief an Marianne Schnitger vom 5. Sept. 1893, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 12 Brief an Marianne Schnitger vom 8. Sept. 1893, ebd. 13 Brief an Marianne Schnitger vom 14. Sept. 1893, ebd. 14 Ebd. 15 Brief an Emmy Baumgarten vom 2. Sept. 1893, Bestand Eduard Baumgarten, Privatbesitz. Die standesamtliche Trauung fand am 19. September statt. 16 Dies hatte er jedenfalls in dem Brief an Emmy Baumgarten, ebd., angekündigt. Am 11. Oktober 1893 wurde Weber auf einer Versammlung des Evangelischen Bundes im Anschluß an den zweiten Kurstag gesichtet. NZ, Nr. 578 vom 12. Okt. 1893, Ab.BI., S.3. 17 Naumann, Friedrich, Der evangelisch-soziale Kursus in Berlin, in: Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Nr. 45 vom 2. Nov. 1893, Sp.1087f. 18 Da es sich bei dem Bericht Naumanns nicht um ein Referat der Vorträge Webers handelt, sondern eher um die Wiedergabe eines ganz subjektiv gefärbten Eindrucks von Webers Auftreten, wird der Bericht hier und nicht in Teil II des vorliegenden Bandes wiedergegeben.

Editorischer

Bericht

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Wissenschaftlichkeit mit praktischem Griff. Er weiß, was seine Hörer verstehen und was sie brauchen. Seine erste Stunde über die Vorgeschichte der deutschen Agrarverfassung war in unsern Augen die Perle des ganzen Kursus: munter, witzig, bisweilen fast übermütig keck, sachlich, anschaulich und dabei im Hintergrunde die gewaltige Tragik des Unterganges der freien deutschen Landgemeinden, eine Stunde voll Zorn, Wehmut und Lachens wie ein historisches Drama von Shakespeare. Natürlich konnten sich die weitern Stunden nicht in derselben Höhenlage bewegen. Es galt in das Detail einzugehen. Wir haben über Feldgraswirtschaft und Dreifelderwirtschaft, über Fruchtwechsel und ländlichen Maschinenbetrieb, über Export und Import, über Selbstbewirtschaftung und Verpachtung, Rittergüter, Bauern und Taglöhner, Dreschgärtner und Sachsengänger, Knechte und Mägde, Naturallohn, Geld, Silberwährung, Rentengüter und noch über viel andres gehört, und wo nur Weber hineingriff ins volle Menschenleben, da war es interessant. Er schaut das Leben gegenständlich an. Von allgemeinen weitgehenden Allerweltsmitteln will er nichts wissen. Wenn er von allgemeiner Bodenverstaatlichung hört, ergreift ihn .körperliches Unbehagen'. Er hat den Blick eines Politikers, er sieht die schlummernde Kraft in den kleinen Leuten des Ostens und fragt dabei, welche Rolle diese Kraft im Staatsganzen spielen soll. Er stellte den Kursus vor die Frage: sind wir es, die den deutschen Osten zu wecken berufen sind? Unter allen Vorlesungen war die seinige am meisten aktuell. Wir freuen uns, daß er ausdrücklich den evangelisch-sozialen Arbeiten seine Sympathie aussprach, solange die Theologen sich nicht streiten würden." Über die Diskussion, die sich über Webers Thema am 19. Oktober von sechzehn bis neunzehn Uhr angeschlossen hatte, berichtete Naumann: „Die Diskussion bei Dr. Max Weber gab viele wertvolle Einzelheiten. In landwirtschaftlichen Löhnen steht Mecklenburg am besten, Schlesien am schlechtesten. Viele Gedanken wurden wachgerufen durch die ungünstigen Zukunftsaussichten, die der Vortragende den Großgrundbesitzern zusprach. ,Ein Großgrundbesitz, der sich auf den Staat stützen muß, ist für den Staat eine zweifelhafte Stütze.',Ich würde den vollständigen Untergang des Großgrundbesitzes beklagen, aber es handelt sich darum, ob ein Viertel, die Hälfte oder gar drei Viertel einer Provinz in den Händen der Großgrundbesitzer sein soll.' ,lm Antisemitismus zeigt sich dasselbe Emanzipationsstreben gegenüber dem Großgrundbesitz, das früher in Gestalt des Liberalismus zum Ausdruck kam.'" 1 9

19 Naumann, Friedrich, Der evangelisch-soziale Kursus in Berlin, in: Die christliche Welt, Nr. 48 vom 23. Nov. 1893, Sp. 1154.

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Landwirtschaft und Agrarpolitik

Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Landwirtschaft und Agrarpolitik. Grundriß zu 8Vorlesungen im Evangelisch-sozialen Kursus zu Berlin. Oktober 1893", in: Grundriß zu den Vorlesungen im Evangelisch-sozialen Kursus zu Berlin. Oktober 1893. - Berlin: Vaterländische Verlags-Anstalt o.J. [September/Oktober 1893] erschienen ist (A). Das Titelblatt von Webers Vortrag trägt (wie der gesamte Grundriß) den Zusatz „Als Manuskript gedruckt!". Dem Namen des Autors ist die Bezeichnung hinzugefügt: „Assessor und Privatdozent der Jurisprudenz an der Universität Berlin." Die Zwischenüberschriften sind in der Vorlage in größerer Schrift und halbfett gedruckt.

Landwirtschaft und Agrarpolitik Grundriß zu 8 Vorlesungen im Evangelischsozialen Kursus zu Berlin. Oktober 1893

Umfangreichere Hauptwerke. v. d. Goltz, Handbuch der gesamten Landwirtschaft. 3 Bände. Tübingen, 1890. (Kürzer: derselbe in Schönbergs Handbuch der Politischen Ökonomie. Bandiii Abschn. XIII.) 1 Roscher, Nationalökonomik des Ackerbaues und der verwandten Urproduktionen. (Standpunkt der „historischen Schule".)2 Buchenberger, Agrarwesen und Agrarpolitik, bisher Band I, Leipzig 1892, als Abt. III T[eil]2 von Ad[olph] Wagners Handbuch der politischen Ökonomie (vom praktisch-politischen Standpunkt). Zur Einführung in die schwebenden Fragen: v. Miaskowski, Agrarpolitische Zeit- und Streitfragen. § 1. Vorgeschichte der modernen deutschen Agrarverfassung. Dorfgemeinden und Rittergüter, - Betriebsweise und sozialer Charakter der mittelalterlichen Agrarverfassung, - Art und Bedeutung ihrer modernen Umgestaltung. Hauptwerk: G[eorg] F[riedrich] Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Teilen Preußens. Leipzig 1887. 1 Der Artikel „ L a n d w i r t s c h a f t " v o n T h e o d o r v o n d e r G o l t z e r s c h i e n als A b s c h n i t t X I I I s o w o h l in B a n d 1 d e r e r s t e n A u f l a g e als a u c h in B a n d 2 d e r z w e i t e n A u f l a g e v o n S c h ö n b e r g s „ H a n d b u c h d e r P o l i t i s c h e n Ö k o n o m i e " . In d e r dritten A u f l a g e d e s H a n d b u c h s e r s c h i e n er als A b s c h n i t t X I V in B a n d 2. H a n d b u c h d e r P o l i t i s c h e n Ö k o n o m i e , hg. v o n G u s t a v S c h ö n b e r g , B a n d l . - T ü b i n g e n : H. L a u p p 1 8 8 2 , S. 5 4 1 - 6 6 8 ; d a s s . , B a n d 2, 1 8 8 6 2 , S. 3 - 1 4 8 , u n d dass., B a n d 2 , 1 8 9 1 3 , S. 1 - 1 2 6 . 2 W i l h e l m R o s c h e r gilt als B e g r ü n d e r d e r s o g e n a n n t e n älteren h i s t o r i s c h e n S c h u l e d e r d e u t s c h e n N a t i o n a l ö k o n o m i e . Vgl. b e s o n d e r s s e i n e „ A n s i c h t e n d e r V o l k s w i r t s c h a f t a u s d e m g e s c h i c h t l i c h e n S t a n d p u n k t e " . - L e i p z i g u n d H e i d e l b e r g : C. F. W i n t e r ' s c h e V e r l a g s buchhandlung 1861.

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Landwirtschaft

und

Agrarpolitik

§ 2. Die Betriebsformen und ihre technischen und wirtschaftlichen Bedingungen. a. Produktion für den eigenen Bedarf - für den Markt. Verhältnis der Bodenstatik zu beiden. b. Extensität und Intensität der Bewirtschaftung. - Reine Viehzucht. - Feldgraswirtschaft. - Dreifelderwirtschaft. - Hackfruchtbau, technische Nebengewerbe. - Maschinenbetrieb. | 4

Hauptzahlen über die Produktionsverhältnisse: Die mit Cerealien bebaute Fläche bildete 1883 bezw. 1885 ca. % der gesamten bebauten Ackerfläche in Deutschland, Österreich, Frankreich, 3 dagegen lA—Ys in England, 4 (mit Brotkorn speziell sind in ersteren Ländern ca. 30%, in England Vß—Vi des landwirtschaftlich genutzten Bodens bestellt.) 5 An Hackfrüchten (Kartoffeln, Rüben) steht Deutschland mit 15% der Anbaufläche obenan. 6 Futterkräuter. Deutschland Vio, England und Frankreich 15% . 7 Handelsgewächse (Tabak, Raps etc.): Deutschland 1,3%, Frankreich 2,7%, England 0,3% . 8 Brache und ewige Weide: Deutschland und Frankreich V—VH, England Vi der Ackerfläche, 9 in England ist gegen 1870 das Ackerland um Vi, vermindert, die ewige Weide um [A erhöht. 10 3 1883 waren 60,1% der Ackerfläche im Deutschen Reich mit Getreide- und Hülsenfrüchten bebaut, in Österreich 61,52% und in Frankreich 59,34%. Conrad, Johannes, Agrarstatistik, in: H d S t W I 1 , 1 8 9 0 , S.73. 4 In Großbritannien wurden 1885 25,79% und im Vereinigten Britischen Königreich (Großbritannien und Irland) 22,99% der Ackerbaufläche mit Getreide- und Hülsenfrüchten bebaut. Ebd. 5 Im Deutschen Reich wurden 31 % der gesamten Ackerbaufläche mit Brotkorn (Weizen und Roggen) bestellt, in Österreich 29,1%, in Frankreich 33% und in Großbritannien 15,9%. Ebd. 6 Vgl. die Angaben ebd. (15,1%). 7 Mit Futterkräutern wurden 1883 9,2% der Ackerfläche im Deutschen Reich bebaut. In Großbritannien (1885) 14,34%, im Vereinigten Britischen Königreich 14,07% und in Frankreich 15,75%. Ebd. 8 Ebd. Die Angabe für England bezieht sich auf das Vereinigte Britische Königreich. 9 12,7% der Ackerfläche im Deutschen Reich waren 1883 Ackerweide und Brache, in Frankreich 14,01% und in Großbritannien (1885) 48,36%, im Vereinigten Britischen Königreich 54,68%. Ebd. 10 Zwischen 1871 und 1883 nahm in England die Fläche des dauernden Graslandes

Landwirtschaft

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Agrarpolitik

Produzierte Quanta der Hauptproduktionsländer des Brotkornes (1878-87). 1 1 Weizen:' 2 Vereinigte] Staaten ca. 160Mill.hl. Frankreich ca. 100 " Indien ca. 100 " Rußland ca. 90 " Österreich,Deutschland (1878-87: 38 Mill. hl.), Italien zwischen] je 30 und 50 Mill. hl. Großbritannien u. Irland 27

Roggen: 13 Rußland 250Mill.hl. Deutschland 80 " (1878-87.) Österreich 43 " Frankreich 24 " Die anderen unerheblich

Etwas abgenommen hat in Deutschland seitdem die Anbaufläche und die Produktion von Brotkorn, etwas zugenommen die Heu- und Futter-Produktion. Geschätzte Gesamtproduktion der Erde an Cerealien (exklusive] Hülsenfrüchte) ca. 3 Milliarden hl. im Werte von 20—21 Milliarden3 M. Davon Europa ca. 1,8 Milliarde, Deutschland ca. Vi Milliarde hl. 14 Die Hackfruchtproduktion ist an Kartoffeln und an Zuckerrüben am stärksten in Deutschland (ca. % der gesamten Produktion). 15

a A: Millionen Siehe Anm. 14.

ohne Heide und Bergweide um 21,5% zu, die Fläche des Ackerlandes nahm im gleichen Zeitraum um 7,6% ab. Berechnet nach: Reitzenstein, Friedrich Frhr. von, und Nasse, Erwin, Agrarische Zustände in Frankreich und England (Schriften des Vereins für Socialpolitik 27). - Leipzig: Duncker & Humblot 1884, S. 168. 11 Gemeint ist die mittlere Getreideproduktion um 1878/87. 12 Vgl. zu den folgenden Zahlen: Juraschek, Franz von, Übersichten der Weltwirtschaft, Jahrgang 1885-1889. - Berlin: Verlag für Sprach- und Handelswissenschaft (P. Langenscheidt) o.J., S. 163. Sie lauten hier für die Vereinigten Staaten: 157,1, für Frankreich 104,1, für Britisch-Ostindien (1882/3-86/7) 96,2, für Rußland (mit Polen) (1883/87) 86,7, für Österreich-Ungarn 53,8, für das Deutsche Reich 38,4, für Italien (1879/87) 43,9 und für Großbritannien und Irland (1884/87) 27,4 Millionen Hektoliter. 13 Ebd.: die Angaben für Rußland (mit Polen) lauten (1883/87) 250,6, für das Deutsche Reich 80,6, für Österreich-Ungarn 43,2 und für Frankreich 24,3 Millionen Hektoliter. 14 Die Angaben lassen sich aus den Werten der Weltgetreideproduktion für 1889 (ebd., S. 164f.) errechnen. Für das Jahr 1884 wird ein Gesamtwert der Weltzerealienernte von 22 Milliarden Mark angegeben. Ebd., S. 169. 15 Die Statistik des Deutschen Reichs verzeichnete für 1892 eine Gesamternte von 91,4 Millionen Tonnen Feldfrüchten. Davon waren 48,8 Millionen Tonnen, also ca. % der Gesamternte, Hackfrüchte (Kartoffeln und Zuckerrüben). Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 2. Jg., 1893.-Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht 1893, S. III/43.

Landwirtschaft

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und

Agrarpolitik

Viehhaltung: 1 Stück Rindvieh kommt in Deutschland, Österreich, Frankreich auf je 3 Personen, in Nordamerika auf je 2. 16 1 Schwein kommt in Deutschland auf je 4 - 5 Personen (also auf jede Familie 1), in Nordamerika auf je 2Personen. 17 Abnehmend in Deutschland die Schafhaltung, absolut und relativ. 18 Zunehmend die Schweinehaltung. 19 |

5

§ 3. Die Standorte der Produktion und die Bedeutung der internationalen Konkurrenz. Hauptwerk: Max Sering, Die landwirtschaftliche Konkurrenz Nord-Amerikas. Von der Gesamtproduktion der Erde an Getreide von ca. 3 Milliarden hl. wird 0,6 Milliarde = Ys international ausgetauscht. 20 Mehreinfuhr von Getreide und Mehl: Die europäischen Staaten außer Rußland, Österreich-Ungarn und dem b Orient.

b A: den

16 Im Deutschen Reich kamen 1883 auf 100 Einwohner 34,5, in Österreich 1880 38,76Stück Rindvieh. In Frankreich wurden 1886 13275021 Stück Rindvieh gezählt, die Zahl der Einwohner betrug 38218903. In Nordamerika kamen, gemäß den Censuserhebungen vom Jahre 1880 bzw. 1881, auf 100 Einwohner 79 Rinder. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 5. Jg., 1884. - Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht 1884, S.33; Österreichisches Statistisches Handbuch für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder. 5. Jg., 1886. - Wien: Verlag der K. K. Statistischen Central-Öommission 1887, S.89; Annuaire Statistique de la France. Onzième Année, 1888. - Nancy: Imprimerie Berger-Levrault 1888, S. 6 und 215; Sering, Max, Die landwirthschaftiiche Konkurrenz Nordamerikas in Gegenwart und Zukunft. - Leipzig: Duncker & Humblot 1887, S. 593. 17 1883 kamen im Deutschen Reich auf 100 Einwohner 20,1 Schweine. Gemäß den Censuserhebungen von 1880 bzw. 1881 kamen in Nordamerika auf 100 Einwohner 93 Schweine. Statistisches Jahrbuch 1884, S.33; Sering, Konkurrenz, S.593. 18 Zwischen 1873 und 1883 nahm die Schafhaltung im Deutschen Reich um 23,26% ab. Statistisches Jahrbuch 1884, S. 32. 19 Zwischen 1873 und 1883 nahm die Schweinehaltung um 29,22% zu. Ebd. 20 Die mittlere Getreideproduktion um 1878/87 betrug 3 Milliarden hl, davon wurden 1887 569 Millionen hl (Getreide und Mehl) international umgesetzt. Juraschek, Übersichten der Weltwirtschaft, S. 163 und 179.

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Insbesondere] (1888) Deutschland für 180 Millionen M., Frankreich für 290 Mill. M., Italien für 120 Mill. M., England für 1 Milliarde M. 21 Mehrausfuhr (1888): Rußland für 800 Mill. M., Nordamerika und Kanada für 530 Mill. M., Ostindien für 300 Mill. M., ÖsterreichUngarn für 260 Mill. M. 2 2 Nach Abschluß der Handelsverträge 1892 betrug der Wert der deutschen Mehreinfuhr an Cerealien und Mehl rund 450 Mill. M. 2 3

§ 4. Die Rechtsformen des Betriebes. a. Agrarkommunismus. - Der Russische Mir 24 (v. Keußler, Genossenschaftliches] Grundbesitzrecht in Rußland 1889). - Südslavische Hauskommunionen. 2 5 - Sonstige Spuren. b. Das private Bodeneigentum und seine Entwickelung. c. Art der Bewirtschaftung: Eigenwirtschaft - Administration 26 Teilbau 27 - Verpachtung.

21 1888 lauteten die Werte in Millionen Mark für die Ein- und Ausfuhr jeweils für das Deutsche Reich: 211,8 und 34,8, für Frankreich: 299,8 und 11,7, für Italien: 128,4 und 10,2, für Großbritannien: 1047,2 und 14,8. Juraschek, Übersichten der Weltwirtschaft, S. 176. 22 Rußland exportierte 1888 Getreide und Mehl für 796,4 Millionen Mark (Einfuhr: 1,9 Mill.), Nordamerika und Kanada für 591,8 (Einfuhr: 64,4), Ostindien für 310,1 (Einfuhr: 2,5) und Österreich-Ungarn für 269,1 (Einfuhr: 10,7). Ebd. 23 Die Statistik des Deutschen Reichs verzeichnete für 1892 bei Getreide und Mehl eine Mehreinfuhr im Wert von 470 Millionen Mark. Statistik des Deutschen Reichs. Neue Folge, Band 7 4 . - B e r l i n : Puttkammer & Mühlbrecht 1894, S.5 und 7. 24 Der Mir, d. h. die russische Bauerngemeinde, verwaltete seine Angelegenheiten selbst. Er sorgte für die Umteilung des kommunalen Landbesitzes und der Weiden und war bis 1903 kollektiv für die Steuerzahlung verantwortlich. Vgl. MWG 1/10, S.764f. (Glossar). 25 Gemeint ist die bei den Südslawen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete Lebensform der Zadruga, bei der Großfamilien bis zu 60 Personen unter einem Hausvater zusammenlebten und wirtschafteten. 26 Gemeint ist die Verwaltung eines landwirtschaftlichen Gutes durch einen Stellvertreter des Eigentümers (Gutsverwalter). 27 Beim Teilbau handelt es sich um ein Pachtverhältnis, bei dem der Pächter einen Teil, oftmals die Hälfte des Rohertrags an den Verpächter abführen muß.

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Landwirtschaft

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Agrarpolitik

Hauptzahlen: Verpachtet ist ca. Vi der bebauten Fläche in Deutschland. 2 8 " " 40% " " " " Frankreich (inklusive] Teilbau) 29 " " % " " " " England. 3 0

In Deutschland sind von den Betrieben unter 2 und über 200 ha ca. Vi reine Pachtbetriebe, von denjenigen zwischen 2 und 200ha nur wenige Prozent (bei diesen sind dagegen Mischpachtverhältnisse häufig). 31 d. Kredit, speziell der Realkredit. - Rechtsformen der Verschuldung und ihre wirtschaftliche Bedeutung. Die deutsche Grundverschuldung wird auf 20 Milliarden M. = % des Wertes, 32 die französische auf 14 Milliarden Franks (11 Milliarden] M.) 33 = Vf, des Wertes geschätzt, 34 die englischen Verhältnisse sind wegen der differenten Rechtslage damit unvergleichbar. Im östlichen Preußen beträgt die Verschuldung des Großgrundbesitzes ca. das 32fache, des bäuerlichen ca. das 18fache des Grundsteuerreinertrages,35 in Baden ist innerhalb des bäuerlichen Besitzes 28 Im Deutschen Reich machte das Pachtland von der Gesamtanbaufläche (ausgenommen Holzland) nahezu 15% aus. Vgl. Rabe, Otto, Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Pacht. - Berlin: Paul Parey "1891, S. 15. 29 Der Anteil des gepachteten oder von Teilbauern bewirtschafteten Landes an der Gesamtanbaufläche betrug in Frankreich 40,23%. Ebd. 30 1890 betrug die Gesamtausdehnung des verpachteten Landes in Großbritannien 27924000acres, die des von Eigentümern bewirtschafteten Landes 4843000. Vgl. Paasche, Hermann, Die Entwickelung der britischen Landwirtschaft unter dem Druck ausländischer Konkurrenz, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 3, 1892, S.6. 31 1882 waren im Deutschen Reich von der Gesamtzahl der landwirtschaftlichen Betriebe von einer Größe bis zu 2 Hektar 24,9% reine Pachtbetriebe, von einer Größe von 200 Hektar und darüber 22,8%. In den Größenklassen 2 - 2 0 Hektar und 20-200 Hektar betrug der prozentuale Anteil der reinen Pachtbetriebe 2,7 und 3,8. Hier war der Anteil der Mischpachtungen (Betriebe mit Pacht- und Eigenland) umso stärker, nämlich 35,6% und 15,9%, während er bei der kleinsten und der stärksten Größenklasse (bis 2 Hektar und 200 Hektar und mehr) nur 24,9% und 14,1% betrug. Rabe, Bedeutung, S. 14. 32 Auf welche Angaben sich Weber hier bezieht, konnte nicht nachgewiesen werden. 33 Gemäß den Wechselkursen an der Berliner Börse entsprachen 1893 14 Milliarden Francs 11,2 Milliarden Mark. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 17. Jg., 1896. - Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht 1896, S. 126. 34 Für den 31. Dezember 1876 wurde in Frankreich eine Grundbuchschuld von 14,3 Milliarden Francs festgestellt. Wirminghaus, A., Hypothekenschulden (Statistik), in: HdStW 4 \ 1892, S. 515. 35 Weber bezieht sich vermutlich auf die 1883 vom preußischen Landwirtschaftsministerium durchgeführte Erhebung über die Verschuldung des Grundbesitzes in 52 Amtsgerichtsbezirken Preußens. Eine weitere Erhebung wurde erst 1896 durchgeführt. Die

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der | Besitz bis 5 ha mit 60%, von 5 - 1 0 mit 25%, von 1 0 - 5 0 mit 10% A 6 und über 50 ha mit 5% des Wertes verschuldet. 36 e. Das Erbrecht und seine wirtschaftliche und soziale Bedeutung. Teilbarkeit - Testierfreiheit - Anerbenrecht - Fideikommisse. (v. Miaskowski: Das Erbrecht und die Grundeigentumsverteilung im Deutschen Reich 1882.)

§ 5. Die soziale Gliederung der Landbevölkerung und ihre Stellung innerhalb des Gesamtvolkes. Hauptzahlen: 1882: Der Land- und Forstwirtschaft, Tierzucht, Fischerei angehörig: einschließlich der Angehörigen und Unselbständigen 19225455 = 42,5 Proz. der Gesamtbevölkerung Deutschlands. 37 Davon selbständige Landwirte 2252531 = 27,9 Proz. der landwirtschaftlichen] Bevölkerung. 38 Von je 1000 Einwohnern: Land-und Forstwirtschaft, Tierzucht, Fischerei . . . . 425,1, (Industrie 355,1, Handel und Verkehr 100,2, übrige Berufsstände 109,1). 39 Auf die Landwirtschaft kommen 500 und mehr von 1000 in: Posen, Ost-, Westpreußen, Pommern, Mecklenburg, Oldenburg, Hanno-

Ergebnisse der ersten Untersuchung wurden publiziert in den Landwirthschaftlichen Jahrbüchern, Band 13, Supplementband 1, 1884, S. 1 - 8 2 , sowie ebd., Band 14, Supplementband 2, 1885, S. 1 - 3 2 . 36 Vgl. Buchenberger, Adolf, Die Lage der bäuerlichen Bevölkerung im Großherzogtum Baden, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, 3. Band (Schriften des Vereins für Socialpolitik 24). - Leipzig: Duncker & Humblot 1883, S. 287. Nach Buchenberger war der kleine Grundbesitz verhältnismäßig am stärksten belastet, während mit dem Aufstieg in die Besitzgruppen der eigentlichen Bauern die Verschuldung zurückging. 37 Vgl. Statistik des Deutschen Reichs. Neue Folge, Band2. - Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht 1884, S.29*. 38 Vgl. ebd., S. 67*. Die Prozentangabe bezieht sich auf die im landwirtschaftlichen Bereich selbständig und unselbständig Erwerbstätigen ohne Angehörige. Die Referenzzahl ist daher nicht 19225455, sondern 8661 409. Ebd., S.29*. 39 Auf die „übrigen Berufsstände" kommen laut Reichsstatistik, ebd., S.42*, 119,6 (nicht 109,1) von je Tausend Einwohnern.

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ver, Südbaiern, - weniger als 400: Provinz Sachsen, Thüringen, Westfalen, Rheinland, - weniger als 200: Königreich Sachsen. 40 Mehr als in Deutschland kommen auf die Landwirtschaft in: Rußland, Österreich (ca. 60 Proz.), Ungarn (ca. 67Proz.), Italien (ca. 62Proz.). 41 Weniger in England: 14Proz. in England und Wales, 18Proz. in Schottland, etwa ebensoviel in Frankreich, der Schweiz, den c Vereinigten Staaten. 4 2 a. Besitz- und Betriebsgrößen: 1882 befanden sich im Deutschen Reich Betriebe: % aller B e t r i e b e : 4 3 % der landwirtschaftlich] bebauten Fläche: 4 4

Zwergbetriebe 0 - 2 ha 58,0 5,7

Kleinbetriebe 2 - 5 ha 18,6

Mittlere Bauernbetriebe 5 - 2 0 ha 17,6

10,0

28,8

GroßGroßbäuerliche] betrieb Betriebe 100 ha 2 0 - 1 0 0 ha u[nd] m e h r 5,3 0,51 31,1

24,4

Die Großbetriebe (über 100 ha) umfaßten über V2 der Fläche in: Pommern (57,4Proz.), Posen (55,3Proz.), Mecklenburg (Schwerin 59,0, Strelitz 56,0), 45 1 V3-V2 in: Ostpreußen (38,6Proz.), Westpreußen (47,1 Proz.), 7 Brandenburg (36,3Proz.), Schlesien (34,9Proz.), - zusammen in den sieben preußischen Ostprovinzen 42Proz., im Durchschnitt des preußischen Staates 31,7 Proz. , 46 C A: der 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. ebd., S.30*. Die Angabe für Österreich lautet 59,8%, für Ungarn 67,2% und für Italien 62,6%; Rußland wird in der Reichsstatistik nicht aufgeführt. 42 In England und Wales waren laut Reichsstatistik 14%, in Schottland 18,8%, in Frankreich 46,3%, in der Schweiz 45,9%, in den Vereinigten Staaten 47,3% und im Deutschen Reich 46,7% der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt. Vgl. ebd. 43 Vgl. Statistik des Deutschen Reichs. Neue Folge, Band5. - Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht 1885, S. 5*. Der Anteil der Großbetriebe von 100 Hektar an aufwärts an den landwirtschaftlichen Betrieben insgesamt wird hier mit 0,5% angegeben. 44 Vgl. ebd., S. 6*. Landwirtschaftliche Großbetriebe von 100 Hektar und darüber bebauten gemäß den Angaben der Reichsstatistik 24,1 % der landwirtschaftlichen Fläche. 45 Vgl. ebd., S.25* und 27*. Die Angabe für Mecklenburg-Schwerin lautet 59,9% (nicht 59%), die für Mecklenburg-Strelitz 61 % (nicht 56%). Ebd., S.27*. 46 Vgl. ebd., S.25*. In Schlesien umfaßten Betriebe über 100Hektar 34,5% (nicht 34,9%) und in Sachsen, das von Weber nicht genannt wird, 27,0% der landwirtschaftlichen Fläche, im Durchschnitt der sieben preußischen Ostprovinzen also 42,3% (errechnet nach den Angaben der Reichsstatistik, ebd.).

Landwirtschaft

und

Agrarpolitik

267

dagegen unter Vio in Westdeutschland (Hannover, Oldenburg, Hessen-Nassau, Westfalen, Hessen) und Süddeutschland. 47 In Frankreich sind die bäuerlichen Betriebe von ca. 5—30 ha in Zunahme, die Betriebe über 40 ha in Abnahme begriffen, Großbe5 triebe unerheblich, die Bauernbetriebe d über 20 ha stärker, die Kleinbetriebe schwächer als in Deutschland vertreten. 48 In England: Auseinanderfallen von Bodenbesitz und Betriebsgröße: von (1872) 1172000 Eigentümern besitzen ca. 2000 fast die Hälfte von ganz Großbritannien und Irland, 49 dagegen sind die Betriebe: 10 in Irland am meisten Kleinbetriebe unter 12ha (Vi der Fläche), 5 0 in England die bedeutendste Gruppe Betriebe von 40 bis 120 ha (Vi der Fläche), also Großbauern und kleine Großbetriebe. 51 b. Die soziale Stellung der landwirtschaftlichen Unternehmer in ihrer modernen Umgestaltung. 15 c. D as platte Land und das B evölkerungsproblem. Historische Verschiedenheiten der Lösung in Deutschland: „Landhunger" und Wanderung - Rodung und innere Kolonisierung 52 - die Städte - die Industrie - gegenwärtige Lage. d A: Bauernbetriebes

47 Vgl. ebd., S. 25* und 27*. 48 In Frankreich fand eine stete Ausdehnung des Kleinbesitzes vor allem auf Kosten des Großbesitzes, weniger auf Kosten des Mittelbesitzes, statt. Die Ursachen waren die geltende Realteilung sowie der wachsende Grunderwerb durch Landarbeiter. Vgl. Reitzenstein/Nasse, Agrarische Zustände, S. 1 0 - 1 2 . 49 Die amtliche Erhebung von 1873 verzeichnete für England und Wales insgesamt 972836 Grundeigentümer. 5408 Eigentümer (mit mehr als 1000acres) besaßen 64,7% der landwirtschaftlich genutzten Fläche von England und Wales. Reitzenstein/Nasse, Agrarische Zustände, S. 1 3 0 - 1 3 2 . Angaben zu Schottland und Irland finden sich hier nicht. 50 In Irland waren 1887 71,3% der Betriebe kleiner als 12 ha ( = 30 acres). Conrad, Johannes, Bauerngut und Bauernstand. II. Statistisch, in: HdStW2 1 , 1891, S. 273. Angaben über den Flächeninhalt werden hier nicht gemacht. 51 Der amtlichen Erhebung von 1873 zufolge besaßen 37116 Eigentümer (mit einem Besitz von 100 bis 1000 acres, also 40 bis 400 Hektar) ca. ein Drittel der landwirtschaftlich genutzten Fläche von England und Wales. Reitzenstein/Nasse, Agrarische Zustände, S. 1 3 0 - 1 3 2 . 52 „.Landhunger' und Wanderung" beziehen sich offenbar auf die Lösung des Bevölkerungsproblems bei den Germanen vor und während der Völkerwanderungszeit. In diesem Sinne verwendet Weber den Begriff „Landhunger" in seiner Habilitationsschrift: Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. - Stuttgart: Ferdinand Enke 1891, S.68f. mit Anm.38 (MWG I/2, S. 160). - „Rodung und innere Kolonisierung" charakterisieren wohl das Mittelalter einschließlich der Ostkolonisation.

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Landwirtschaft

und

Agrarpolitik

Innere Wanderung und Auswanderung: Gegenden mit Mehrzuwanderung-. Berlin, Brandenburg, Hansastädte, Königreich] Sachsen, Rheinprovinz, Westfalen: zusammen 1885/90 Gewinn 492 000 Köpfe oder 49Proz. ihrer natürlichen Zunahme (durch Überschuß der Geburten). 53 5 Gegenden mit Mehrabwanderung-, das übrige Deutschland: 1885/ 90 Verlust 837000 Köpfe oder 43,8 Proz. seiner natürlichen Zunahme. Das ostelbische Deutschland außer Brandenburg allein: 1885/90 Verlust 600000 Köpfe oder 3Ae der natürlichen Zunahme, 10 (Ostpreußen 132000 oder 100,6 Proz.). 55 Es betrugen Proz. der Bevölkerung: 187156 188557

die Stadtbevölkerung 32,1 Proz. 43,7 Proz.

die Landbevölkerung 67,9 Proz. 56,3 Proz.

In den Großstädten (über 100000 Einwohner) wohnten 1871: 4,8, 58 1885: 9,5, 59 1890:12 Proz. der Bevölkerung. 60

e In A folgt: Proz. Siehe Anm. 55.

53 Weber stützt sich hier und im folgenden auf die von Georg von Mayr zusammengestellten Angaben. Vgl. Mayr, Statistik, Tabelle I. Der Gewinn durch Zuwanderung betrug hiernach in den genannten Regionen 498642 bei einem Geburtenüberschuß von 1002415, also 49,74%. 54 Läßt man die Werte für die einzelnen Regierungsbezirke und Kreise unberücksichtigt und berücksichtigt nur die in den Zwischensummen der preußischen Provinzen und übrigen Länder genannten Werte, ergibt sich nach den Zahlen, ebd., für das übrige Deutschland eine Auswanderung von 845040 bei einem Geburtenüberschuß von 1 899461 (= 44,49%). 55 Vgl. ebd.: Zwischen 1885/90 gab es in den Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Posen, Pommern, Schlesien und den Großherzogtümem Mecklenburg eine Abwanderung von 596044 bei einem Geburtenüberschuß von 787058 (= 75,73%). In Ostpreußen betrug die Zahl der Abwanderer 131 733 bei einem Geburtenüberschuß von 130921. 56 Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs für das Jahr 1873. Erstes Heft. (Band II. Heft I der Statistik des Deutschen Reichs). - Berlin: Verlag des Königlichen Preußischen Statistischen Bureaus 1873, S. 159. 57 Statistik des Deutschen Reichs. Neue Folge, Band 32. - Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht 1888, S. 29*. 58 Ebd., S. 29*. 59 Ebd. 60 Gemäß der Volkszählung vom 1. Dezember 1890 wohnten in den Großstädten 11,4% der Bevölkerung. Vgl. Statistik des Deutschen Reichs. Neue Folge, Band 68. - Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht 1894, S. 20*.

15

Landwirtschaft

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Agrarpolitik

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d. Die Landarbeiter. Litteratur: v. d. Goltz, Die ländliche Arbeiterfrage und ihre Lösung. 2. Aufl. 1872.61 | Ders. : Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich A 8 (Tabellenwerk auf Grund einer Enquête). 62 1873.63 Ders. : Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat. 1893. (300S.). Quistorp (Pfarrer), Die soziale Not der ländlichen Arbeiter (Heft 10 der Evang[elisch]-soz[ialen] Zeitfragen). G[eorg] F[riedrich] Knapp, Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit. (4 kurze Vorträge.) 1891. Nobbe, Zur ländlichen Arbeiterfrage. (Vortrag auf dem 2. Evang[elisch]-Soz[ialen] Kongreß 1891.) Schriften des Vereins für Sozialpolitik Bd. 53—55,1892. (Die Verhältnisse der Landarbeiter betreffend, auf Grund einer Enquête.) 64 Monographien: K[arl] Kaerger, Die Sachsengängerei, 1880 (umfassende Darstellung auf Grund amtlicher Erhebungen). 65 Wittenberg (Pfarrer), Ländliche Arbeiterverhältnisse in Neuvorpommern und auf Rügen. 1893.66 'C[arl] Lfudwig]1 Fischer (Pfarrer), Beitrag zur Orientierung über die Lage der ländlichen Arbeiter in Ostpreußen. Königsberg 1893.67

f A: O. Verwechslung der Vornamen, vgl. Anm. 67 sowie das Literaturverzeichnis.

61 Die erste Auflage erschien 1872, die zweite 1874. 62 Gemeint ist die vom „Congreß deutscher Landwirthe" 1872/73 durchgeführte Erhebung über die Lage der Landarbeiter im Deutschen Reich, deren Ergebnisse in der genannten Publikation veröffentlicht sind. 63 Die Untersuchung erschien 1875. 64 Der Verein für Sociaipoiitik führte 1891 /92 eine Erhebung über die Lage der Landarbeiter durch. Nach der Erhebung des preußischen Landesökonomiekollegiums 1848/49 und der des „Congresses deutscher Landwirthe" 1872/73 war dies die dritte große Untersuchung über die Lage der ländlichen Unterschichten. Max Weber bearbeitete die Lage der ostelbischen Landarbeiter. Seine Ergebnisse wurden in Band 55 der Schriften des Vereins für Sociaipoiitik veröffentlicht. Vgl. Weber, Landarbeiter. 65 Die Schrift beruhte auf persönlichen Ermittlungen, die Karl Kaerger vor Ort 1889 mit behördlicher Unterstützung eingeholt hatte. Vgl. sein Vorwort. Sie erschien 1890. 66 Der genaue Titel lautet: Wittenberg, Hans, Die Lage der ländlichen Arbeiter in Neuvorpommern und auf Rügen. - Leipzig: Reinhold Werther 1893. 67 Der Verfasser der Schrift war der ostpreußische Pfarrer Carl Ludwig Fischer.

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Agrarpolitik

(Antwort auf den Fragebogen des Evang[elisch]-soz[ialen] Kongresses.) 6 8 Problem der ländlichen Arbeitsverfassung - Möglichkeiten der Lösung - die bestehenden Arbeitsverfassungen und ihre historische Herkunft - die Tendenzen der neuesten Entwickelung und ihre 5 Konsequenzen. Zahl der Landarbeiter: 1882 waren von 8 Millionen in der Landwirtschaft Erwerbstätigen unselbständig 5,8 Millionen, und zwar 1) Verwaltungs-und Aufsichtspersonal 47 000, 6 9 2) Knechte, Mägde und Gehilfen 1589000,™ 3) in der Landwirtschaft des Familienhauptes thätige Familienglieder. . . . 1934000, 7 1 4) Tagelöhner ohne selbständigen Betrieb 1373000, 7 2 73 (davon 1042000 in Preußen,) 5) Tagelöhner, die zugleich selbständig Landwirtschaft betreiben 866000.74|

A9

§ 6. Stellung und Aufgaben des Staates. Vgl. das zu § 5 zitierte Buch von v. d. Goltz,75 ferner: Sering, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland. Leipzig 1892. 76

68 Der Evangelisch-soziale Kongreß führte 1892/93 eine Erhebung über die Lage der Landarbeiter durch. Er wandte sich dabei mit einem von Paul Göhre und Max Weber ausgearbeiteten Fragebogen an die evangelischen Geistlichen im Deutschen Reich. Der Fragebogen ist abgedruckt im Rahmen der Vorbemerkung Webers zu „ Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands", unten, S. 6 9 4 - 7 0 5 . 6 9 Statistik des Deutschen Reichs. Neue Folge, Band 2, S.67*. Die genaue Zahl lautet: 47465. 7 0 Vgl. ebd. Die genaue Zahl lautet: 1 589088. 71 Vgl. ebd. Die genaue Zahl lautet: 1 934615. 7 2 Vgl. ebd. Die genaue Zahl lautet: 1373774. 7 3 Vgl. ebd., S. 81 *. Die genaue Zahl lautet: 1 042244. 7 4 Vgl. ebd., S. 67*. Die genaue Zahl lautet: 866493. 7 5 Gemeint ist Goltz, Theodor von der, Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat.-Jena: Gustav Fischer 1893. 76 Serings Schrift erschien 1893.

10

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Historische Phasen und Charakter der preußischen Agrarpolitik Regulierungsgesetze 77 - Gemeinheitsteilung 78 - Ablösungsgesetz 79 Zollpolitik Rückschlag in den 70er Jahren - Schutzzollpolitik80 - Rentengü5 ter-und Ansiedelungsgesetze. 81 Bodenbesitzreform- und Heimstättenbewegung 82 - Domänenpolitik des Staates. Bestehende Probleme und Aufgaben des Staates. Lage und Aussichten der inneren Kolonisation. - Stellung zu den Landarbeitern. 10 Stellung der Kirche. Vgl. dazu: Bäuerliche Glaubens- und Sittenlehre. Erfahrungen einesThüringschen Landgeistlichen (anonym). Gotha 1890.831

77 Das preußische Regulierungsedikt vom 14. September 1811 und seine Deklaration vom 29. Mai 1816 schufen die rechtlichen Voraussetzungen für die Modifikation bäuerlichen Eigentums und die Ablösung der bäuerlichen Abgaben und Dienstpflichten. Die Gesetze bezogen sich auf Bauern mit „schlechten Besitzrechten". 78 Gemeint ist die preußische Gemelnheltsteilungsordnung vom 7. Juni 1821, welche die Aufteilung der Allmende an die Mitglieder der Nutzungsgemeinschaft einleitete. 79 Dies bezieht sich entweder auf die Ablösungsordnung vom 7. Juni 1821, die spannfähigen Bauern mit „guten Besitzrechten" die Ablösung ihrer Dienste und Leistungen ermöglichte, oder auf das „Gesetz, betreffend die Ablösung der Reallasten und die Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse" vom 2. März 1850, das die in der Reformzeit eingeleitete Aufhebung der bäuerlichen Dienste und Abgaben endgültig regelte. 80 1879 ging das Deutsche Reich zu einem System hoher Schutzzölle für agrarische und industrielle Produkte über. 81 Gemeint sind die drei preußischen Gesetze vom 26. April 1886, 27. Juni 1890 und 7. Juli 1891. 82 Die Bodenbesitzreformbewegung strebte in ihrer ersten, radikalen Phase (bis 1898) die weitgehende Verstaatlichung oder Kommunalisierung des privaten Grundbesitzes im Deutschen Reich an. Das Ziel der seit 1890 in Europa einsetzenden Heimstättenbewegung war die Einführung eines Heimstättenrechts nach amerikanischem Vorbild, das die fast unentgeltliche Vergabe von Land an Siedler aus ungesicherten sozialen Verhältnissen regelte und diese unter einen besonderen Schutz vor Zwangsvollstreckung stellte. 83 Gemeint ist die von Hermann Gebhardt anonym veröffentlichte Schrift: Zur bäuerlichen Glaubens- und Sittenlehre. Von einem thüringischen Landpfarrer. - Gotha: Gustav Schioessmann 18902.

Monographien von Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Im Winter 1 8 9 2 / 9 3 hatte der Evangelisch-soziale Kongreß auf Vorschlag Max W e b e r s eine Enquete über die Lage der Landarbeiter in Deutschland in Angriff g e n o m m e n , die die Enquete des Vereins für Socialpolitik v o m Jahre 1891 / 9 2 e r g ä n z e n sollte; die e n t s p r e c h e n d e n Fragebögen waren im Januar 1893 an die evangelischen Geistlichen in Deutschland gesandt w o r d e n , hoffte man doch, daß die Landpfarrer ein objektiveres Bild von der Lage der Arbeiterschaft z e i c h n e n w ü r d e n als die Arbeitgeber. Maßgeblich beteiligt an der Erhebung war Paul Göhre, mit d e m W e b e r eng befreundet war. 1 Unter den zahlreichen e i n g e g a n g e n e n Berichten befand sich ein b e s o n ders ausführlicher, noch im s e l b e n Jahr als eigenständige Broschüre veröffentlichter Bericht des ostpreußischen Pfarrers Carl Ludwig Fischer. 2 Der Verfasser, v o n d e m nicht mehr bekannt ist, als daß er in der Pfarrei Q u e d n a u im Regierungsbezirk K ö n i g s b e r g tätig war, fühlte sich v o n d e m von W e b e r und G ö h r e ausgearbeiteten Fragebogen außerordentlich beeindruckt und zu einer ausführlichen U n t e r s u c h u n g der Landarbeiterverhältnisse in Ostpreußen veranlaßt: „In d e m Fragebogen des A k t i o n s k o m i t e e s des Evangelisch-sozialen K o n g r e s s e s steckt große, ernste Arbeit. Diese reizt zu einer zuverlässigen Auskunft, auch w e n n dieselbe e b e n so viel M ü h e kosten sollte als die gestellten Fragen s e l b s t . " 3 Fischers Ziel war dabei, der Behauptung der Sozialdemokraten, die Lage der ländlichen Arbeiter in Ost-

1 Zur Geschichte der Erhebung siehe in diesem Band auch folgende Artikel einschließlich der Editorischen Berichte: „,Privatenqueten' über die Lage der Landarbeiter" (S. 71 -105), „Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands" (S. 208-219), „Die deutschen Landarbeiter" (S. 308-345) und die Vorbemerkung Webers zu „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands" (S. 687-711). Im Rahmen dieser Vorbemerkung ist auch der Fragebogen abgedruckt. 2 Fischer, Carl Ludwig, Beitrag zur Orientierung über die Lage der ländlichen Arbeiter in Ostpreußen als Beantwortung des vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses ausgegangenen Fragebogens über die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reiche. - Königsberg: Gräfe & Unzer o. J. [1893], 3 Ebd., S. 3.

Editorischer

Bericht

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preußen sei eine schlechte, entschieden entgegenzutreten. 4 Obwohl seine Untersuchungsergebnisse demgemäß in ihrer Tendenz präjudiziell waren, erwiesen sie sich als so informativ und aufschlußreich für die Situation der Arbeiter auf dem Lande, daß Max Weber sie zusammen mit zwei weiteren Veröffentlichungen evangelischer Pastoren im Sozialpolitischen Centralblatt rezensierte. Die beiden letzteren Schriften 5 waren unabhängig von der Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses entstanden. Die Untersuchung von Wilhelm Quistorp, Pastor in Schwerinsburg in Pommern, war 1891 in der von Otto Baumgarten herausgegebenen Reihe Evangelisch-soziale Zeitfragen erschienen und hatte einiges Aufsehen erregt. Quistorp gehörte zusammen mit Paul Göhre zu den ersten evangelischen Geistlichen, die sich mit der Lage der sozialen Unterschichten auseinandersetzten und ihre Beobachtungen und Erfahrungen in die Öffentlichkeit brachten. 6 Von konservativer Seite wurden diese Bestrebungen zum Teil heftig angegriffen. Im Reichsboten entspann sich eine erregte Debatte über Quistorps Untersuchung; 7 die Conservative Correspondenz, Sprachrohr der Deutschkonservativen, attackierte Göhre und Quistorp in scharfer Form. In dem Artikel „Privatenqueten" 8 wurde Quistorp vorgeworfen, der Sozialdemokratie Agitationsmaterial geliefert zu haben. Daraufhin kam Göhre Quistorp in den Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses zu Hilfe: dieser habe zwar „etwas zu schnell generelle Urteile" abgegeben, doch sei seine Einschätzung der Tendenz nach deshalb noch nicht falsch. 9 Im Gegensatz zu Quistorps Untersuchung, die in der Tat die Lage der Landarbeiter in pauschaler Form schilderte und auf die lokalen Besonderheiten in Pommern nicht einging, 10 bemühte sich der Verfasser der dritten von Weber rezensierten Schrift, Hans Wittenberg, Pastor in Swantow auf Rügen, um eine präzise Schilderung der sozialen Lage der ländlichen

4 Ebd. 5 Quistorp, Wilhelm, Die soziale Not der ländlichen Arbeiter und ihre Abhilfe. - Leipzig: Fr. W. Grunow 1891; Wittenberg, Hans, Die Lage der ländlichen Arbeiter in Neuvorpommern und auf Rügen. - Leipzig: Reinhold Werther 1893. 6 Im gleichen Jahr hatte Göhre seine Schrift: Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. - Leipzig: Fr. W. Grunow 1891, veröffentlicht. 7 Entsprechende Artikel erschienen in der Berliner Zeitung Der Reichsbote in folgenden Nummern: Nr. 118 vom 24. Mai 1891, Nr. 124 vom 31. Mai 1891, I.Beilage, Nr. 131 vom 9. Juni 1891, 2. Beilage, und Nr. 134 vom 12. Juni 1891,1. Beilage. 8 Conservative Correspondenz, Nr. 20 vom 17. Febr. 1892. 9 Göhre, Paul, Dr. Borchardt und die Konservative Korrespondenz, In: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 3 vom 1. März 1892, S. 2f. 10 In seinem Vorwort erklärte es Quistorp explizit zu seinem Ziel, „nicht einseitig von pommerschen Verhältnissen auszugehen", sondern eine allgemeine Schilderung zu geben.

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Monographien

von

Landgeistlichen

Arbeiter in Neuvorpommern und auf Rügen. Seine Studie war die ausführlichste, sie hatte einen Umfang von 92 Seiten (Quistorps Untersuchung war 46, Fischers 40 Seiten lang). Wittenberg befaßte sich übrigens auch späterhin - seit 1894 war er Reiseprediger des Provinzialvereins für Innere Mission in Liegnitz - mit der sozialen Lage der ländlichen Arbeiterschaft. 11 Wegen seiner engagierten publizistischen Tätigkeit und seiner Beteiligung an der Gründung der Christlich-sozialen Vereinigung in Schlesien wurde ihm 1896 vom Provinzialverein gekündigt; 1897 wurde er dann in ein Berliner Pfarramt berufen. 12 Wann und ob Weber zu der Rezension der Schriften Quistorps, Wittenbergs und Fischers aufgefordert wurde oder ob er die Besprechung Heinrich Braun, dem Herausgeber des Sozialpolitischen Centraiblatts, von sich aus angeboten hat, ist nicht bekannt.

Zur Überlieferung

und

Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Monographien von Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter" in der Rubrik „Soziale Zustände" der Zeitschrift Sozialpolitisches Centraiblatt, hg. von Heinrich Braun, Berlin, 3. Jg., Nr. 9 vom 27. November 1893, S. 101 - 1 0 3 , erschienen ist (A). DerText ist mit „Berlin. Max Weber." gezeichnet.

11 1894 erschien seine hier zitierte Schrift in zweiter Auflage. Außerdem erschienen in diesem Jahr von ihm: Was haben wir Geistlichen zu thun, damit die Arbeiterbevölkerung, soweit sie dem kirchlichen Leben entfremdet ist, für dasselbe wiedergewonnen werde? Leipzig: Reinhold Werther 1894, sowie: Woran leidet der Landarbeiterstand in den östlichen Provinzen und wie ist ihm zu helfen? - Berlin: Trowitzsch und Sohn 1894. Siehe ferner: Die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse der evangelischen Landbewohner im Deutschen Reiche, dargestellt auf Grund der von der Allgemeinen Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine veranstalteten Umfrage, Band 1, bearbeitet von Pastor H. Wittenberg und Pastor E. Hückstädt. - Leipzig: Reinhold Werther 1895 (an der Bearbeitung des 1897 erschienenen zweiten Bandes war Wittenberg neben weiteren neun Spezialisten auch beteiligt), sowie ders., Was kann in sozialer Beziehung zur Hebung der Sittlichkeit auf dem Lande geschehen? - Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1895. 12 Pollmann, Klaus Erich, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. - Berlin: Walter de Gruyter 1973, S.237f.

Monographien von Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter

Quistorp (Pastor in Pommern): Die soziale Noth der ländlichen Arbeiter. (Evangelisch-soziale Zeitfragen, Heft 10; Leipzig 1891). Wittenberg (Pastor in Pommern): Die Lage der ländlichen Arbeiter in Neuvorpommern und auf Rügen. Leipzig 1893. a C[arl] L[udwig]a Fischer (Pastor in Ostpreußen): Beiträge zur Kenntniß der Lage der ländlichen Arbeiter in Ostpreußen. Königsberg^.1 Wenn die Enquete des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter ein zweifelloses Ergebniß hatte, so war es das, daß unsere Kenntniß auf diesem Gebiete zunächst am zweckmäßigsten durch autoptische Vertiefung in das Detail konkreter lokaler Zustände und monographische Zusammenfassung des so gewonnenen Stoffes erweitert wird. Die drei vorgenannten Monographien, alle aus dem Nordosten, dem Gebiete der patriarchalischen Arbeitsverfassung, stammend, bieten einen werthvollen Anfang in dieser Richtung. Wir sind über die Lage der Arbeiter in diesen Gegenden bisher auf die einseitigen Angaben der Gutsbesitzer beschränkt. 2 Der natürliche Klassenstandpunkt ist aber bei diesen Angaben nicht einmal das schwerste Bedenken gegen ihre Brauchbarkeit, sondern mehr ihre regelmäßig vollständige Unkenntniß über die Art, wie die Arbeiter mit ihren Gewährungen, zumal den Naturalien, zu wirthschaften im stände sind. Im Allgemeinen wird jeder Gutsbesitzer die thatsächliche Existenz der Arbeiter für den schlagendsten Beweis dafür halten, daß sie eben doch auch existiren können und sich hiermit begnügen. a A: O. Verwechslung der Vornamen, vgl. Anm. 1 sowie das Literaturverzeichnis. 1 Der genaue Titel lautet: Fischer, Carl Ludwig, Beitrag zur.Orientierung über die Lage der ländlichen Arbeiter In Ostpreußen als Beantwortung des vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses ausgegangenen Fragebogens über die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reiche. - Königsberg: Gräfe & Unzer o. J. [1893], 2 Der Verein für Soclalpolltik hatte seine Untersuchungen über die Lage der Landarbeiter 1891 /92 nur auf Angaben und Berichte der ländlichen Arbeltgeber gestützt.

276

Monographien

von

Landgeistlichen

Wenn man ferner, wie ich[,] der Ansicht ist, daß eine schriftliche Befragung der Arbeiter selbst nur ganz ausnahmsweise von Erfolg begleitet sein kann, so kann vorerst nur die Befragung von Vertrauensmännern weiter führen, und ich halte die drei obigen Arbeiten für einen Beweis dafür, daß meine Ansicht über die Qualifikation der Landgeistlichen als solcher begründet war. Die Fischer'sche Arbeit eine gedruckte Beantwortung des von Göhre und mir entworfenen Fragebogens des Evangelisch-sozialen Kongresses auf Grund von Befragung der Arbeiter - , bietet das bei weitem meiste konkrete Thatsachen-Material, die beiden andern relativ mehr allgemeine Gesichtspunkte. Die Quistorp'sche Schrift leidet an erheblichen Mißverständnissen in landwirthschaftlich-technischer Beziehung, welche es den Interessenvertretern der Arbeitgeber erleichterten, ihre Ergebnisse, welche ich[,] in so weit sie den bestehenden Zustand kritisiren, im Wesentlichen für richtig halte, anzufechten, 3 die beiden andern sind in dieser Hinsicht unangreifbar. Die Differenzen in dem Gesammturtheil über die Lage der Arbeiter sind, bei zweifellos gleicher subjektiver und objektiver Wahrhaftigkeit der Darstellung, sehr bedeutende und beweisen wieder, daß eben der individuelle Faktor den typischen grade bei dieser Arbeitsverfassung unendlich überwiegt. Am ungünstigsten beurtheilt Quistorp, am relativ günstigsten Fischer die Situation der ihnen bekannten Arbeiter, und dabei kann es nicht zweifelhaft sein, daß im Großen und Ganzen die pommerschen Landarbeiter durchschnittlich günstiger gestellt sind als die ostpreußischen. Der Bericht Fischers stammt aus einem der fruchtbarsten Gebiete Ostpreußens - Kreis Königsberg Land - ; allein wie wenig man selbst für dieses Gebiet seine Ansicht so, wie er es thut, generalisiren darf, zeigt ein anderer, mir vorliegender Bericht A 102 eines Geistlichen4 aus dem ebenso fruchtbaren Kreise | Fischhausen13, wonach sich - beispielsweise - der Fleischkonsum der sich b A: Fischhansen 3 Gemeint sind die Angriffe im Reichsboten und der Conservativen Correspondenz auf Quistorps Schrift. Siehe dazu die Hinweise im Editorischen Bericht, oben, S. 273. 4 Es handelt sich vermutlich um einen der zahlreichen Berichte, die von Seiten der evangelischen Geistlichen als Antwort auf den vom Evangelisch-sozialen Kongreß im Januar 1893 versandten Fragebogen eingegangen waren. Der Autor ließ sich nicht mehr ermitteln, der Text ebensowenig auffinden wie das übrige eingesandte Material. Vgl. auch den Editorischen Bericht zu „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands", unten, S. 6 8 7 - 6 9 2 .

Monographien

von

Landgeistlichen

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selbst beköstigenden Arbeiter der betreffenden Gegend auf das Fleisch eingesalzener Krähen (!) fast ausschließlich beschränkt, dafür aber der durchschnittliche Schnapsgenuß auf über Vi Liter pro Tag, in einzelnen Fällen bis zu Wi bis 2 Liter beläuft. Ich kann angesichts dessen nur bei meiner Auffassung stehen bleiben, daß zwar die Feststellung der thatsächlichen Lage der Landarbeiter in möglichst zahlreichen Fällen höchst werthvoll, eine Zusammenstellung aber zu einem Gesammturtheil nur unter dem Gesichtspunkte möglich ist, daß die Entwickelungstendenz ermittelt wird, jeder Versuch eines generalisirenden Urtheils aber über die Lage der östlichen Landarbeiter zur Zeit mit den thatsächlichen Verhältnissen schon an sich im Widerspruch steht. Um nun auf einige speziell in den Arbeiten von Fischer und Wittenberg berührte Punkte noch näher einzugehen, so stimmen beide in der Ansicht überein, daß die Lage der in Naturalien gelohnten Arbeiter die relativ günstigste sei. 5 Das ist in der That die Regel und beruht auf dem einfachen Umstände, daß bei der Naturallöhnung die Vortheile der Großproduktion durch Lieferung der Rohstoffe vom Gut mit der individualistischen Familienwirthschaft kombinirt, namentlich aber die Arbeitskraft des Arbeiters außer für das Gut auch noch zur Produktion seiner Bedarfsgegenstände voll ausgenutzt wird: er arbeitet nicht nur für den Herrn, sondern er erarbeitet darüber hinaus aus den ihm gelieferten Rohstoffen auch noch die Lebens- und Bedarfsgegenstände zur Reproduktion seiner Arbeitskraft. Diese Reproduktionskosten sind so für den Herrn auf das denkbare Minimum herabgedrückt, und es folgt daraus, daß bei Aufwendung des gleichen Geldwerths in Baarlohn einerseits, in Naturallohn andererseits im letzteren Fall dem Arbeiter eine ungleich höhere Lebensstellung ermöglicht wird als im ersteren. Beide genannten Referenten scheinen mir aber ein zu großes Zutrauen zu dem Bestände und der Bedeutung der jetzt bestehenden Arbeitsverfassung zu haben. Zunächst ist der Wegfall des Scharwerkerverhältnisses nur Frage der Zeit, darüber kann gegenüber den fast einstimmigen Berichten aus allen Theilen des Ostens ein Zweifel nicht aufkommen. Es ist der Wegfall dieser Institution aber auch schlechterdings zu fordern, so lange die Wohnungsverhältnisse auf dem

5 Fischer, Lage, S. 36; Wittenberg, Lage, S. 39.

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Lande nicht absolut andere werden, als sie zur Zeit sind. Fischer scheint die darin bestehenden Mißstände nicht hoch anzuschlagen, es ist das schwer verständlich, da er selbst berichtet, daß die Scharwerker sich zum Theil aus „gefallenen Mädchen" rekrutiren, 6 zumal angesichts dessen, daß - wie sein Bericht bestätigt - , die ostpreußischen Instwohnungen durchschnittlich einen Raum weniger enthalten als die vorpommerschen, 7 und also wohl die von Wittenberg für Pommern anschaulich geschilderten schmählichen Nachtquartirverhältnisse 8 in Ostpreußen verstärkt wiederkehren dürften. Mit Wegfall der Scharwerkerhaltung fällt das Instverhältniß in seiner jetzigen Bedeutung. Wäre das aber selbst nicht der Fall, so ist es doch zweifellos, daß seine relative zahlenmäßige Bedeutung stetig zurücktritt, die Instleute einen abnehmenden Bruchtheil der Landarbeiterschaft bilden. Es hätte keinen Sinn, hier die Gründe für diese Umgestaltung zu wiederholen, 9 nur muß im Zusammenhang damit auf eine erhebliche Lücke in den Erörterungen Wittenberg's aufmerksam gemacht werden. Obwohl Neuvorpommern und Rügen Centren der Verwendung von Wanderarbeitern sind, lehnt er es ab, sich über diese zu äußern, 1 0 und begnügt sich damit, als unerfreuliche Erscheinung das „Scheelsehen" der einheimischen Arbeiter auf die fremden Eindringlinge zu registriren. 11 Fischer kennt die Wanderarbeiter nicht, 1 2 die kurische Niederung zieht bisher noch weniger fremde Arbeiter heran. Thatsächlich handelt es sich hier aber um eine im Centrum des Interesses stehende Erscheinung. Wittenberg selbst rechnet vollkommen richtig den Arbeitern vor, daß die scheinbar bessere Löhnung der Wanderarbeiter eben nur scheinbar besser sei. 1 3 In den sechs bis acht Monaten der Arbeit verdient der Wander-

6 Fischer, Lage, S. 34. 7 Im Unterschied zu den Landarbeiterwohnungen in Ostpreußen gehörte zu den Wohnungen in Vorpommern neben einem Wohn- und einem Schlafzimmer, einer Küche und einem Dachboden noch ein Vorraum. Fischer, Lage, S. 7; Wittenberg, Lage, S. 78. 8 Wittenberg, Lage, S.78f. 9 Zu den Gründen der Umgestaltung und wiederholten Erörterung bei Weber siehe die Einleitung. 10 Ebd., S. 29: „Auf die Arbeit der Wanderarbeiter gehe ich hier nicht ein, da es mir nur auf eine Darlegung der Verhältnisse der in Neuvorpommern und Rügen wohnenden Arbeiterschaft ankommt". 11 Ebd., S. 45. 12 „Sogenannte Sachsengänger giebt es hier nicht." (Fischer, Lage, S. 9). 13 Wittenberg, Lage, S.44f.

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arbeiter in der That mehr, als der einheimische Arbeiter in dieser Zeit verdient, dafür findet er, in die Heimath zurückgekehrt, während des Restes des Jahres keinerlei Arbeit, und was er an Ersparnissen mitbringt, hat er sich durch die Art seiner Lebenshaltung auf Kosten derselben abgespart. „Zum Vergnügen" ziehen die Gutsherren die Polen und Schlesier freilich nicht heran, wohl aber weil sie billiger zu stehen kommen, theils durch die billige Form der Unterbringung, theils und namentlich weil sie im Herbst wieder abgeschoben werden 14 und keine verwaltungsrechtlichen Pflichten für sie entstehen (Armenlasten etc.). 15 Die Umgestaltung der Landwirthschaftsbetriebe in ein Saisongewerbe mit Saisonarbeitern ist für die Arbeiter und das Kulturniveau eine Gefahr ersten Ranges. - Es ist unzweifelhaft, daß die Lage der Landarbeiter in Vorpommern, Mecklenburg, Ostholstein und großen Theilen Nordwestdeutschlands relativ günstig, wohl am günstigsten von ganz Deutschland ist, auch die Löhne relativ hoch sind, was neben andern Ursachen der historisch überkommenen relativ hohen Lebenshaltung der einheimischen Arbeiter, welche den depossedirten Bauernstand repräsentiren, 16 zuzuschreiben ist. Ein Drittel aller Haushaltungen in Mecklenburg sind Tagelöhnerhaushaltungen, 17 und das ergiebt ein Hinaufreichen dieses Standes bis in eine Schicht der sozialen Pyramide, welche sonst der Mittelstand einnimmt. Dieser maaßgebende Einfluß der Lebenshaltung der einheimischen Arbeiter wird durch die Wanderarbeiterbewegung, eine akute Proletarisirungserscheinung, zunehmend zurückgedrängt. Dieser centralen Kulturgefahr gegenüber sind die einzelnen Mißstände, deren Abstellung Wittenberg mit anerkennenswerther Ent-

14 Die polnischen Wanderarbeiter mußten jeweils zwischen dem 15. November und dem 1. April Preußen wieder verlassen. Vgl. Nichtweiss, Johannes, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches. - B e r l i n : Rütten & Loening 1959, S.43. 15 Zur Regelung der Armenlasten siehe oben, S. 135, Anm. 19. 16 Dies gilt insbesondere für die Großherzogtümer Mecklenburg, wo in zwei großen Perioden des Bauernlegens (im 16. und im 18. Jahrhundert) der Bauernstand nahezu gänzlich eliminiert wurde; aus diesen „enteigneten" Bauern rekrutierten sich die Landarbeiter. Vgl. zur Sonderentwicklung in Mecklenburg: Dipper, Christof, Die Bauernbefreiung in Deutschland: 1790-1850. - Stuttgart: W. Kohlhammer 1980, S. 6 9 - 7 1 . 17 Von 100 Haushaltungen waren in Mecklenburg-Schwerin 31,72 und in MecklenburgStrelitz 31,48Tagelöhnerhaushaltungen. Vgl. Grohmann, Statistik, S.445.

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schiedenheit fordert, nur von relativer Bedeutung. Wir finden da den bekannten weitverbreiteten Mißbrauch, daß durch die widerwärtige Manipulation des Vorstellens der Gutsuhr dem ohnehin 14stündigen Erntearbeitstag noch Vi bis 3A Stunden zugelegt werden, entsprechend qualifizirt. 18 Die frühzeitige Arbeit - theilweise vom vierten Jahre an im eignen Hause, oft vor der Konfirmation schon schwere Arbeit, 3 bis 25pCt. der Schulkinder als Hütekinder verwendet 19 beurtheilt Wittenberg erheblich ungünstiger als Fischer. 20 Der Sonntagsruhe ist - und zwar nicht nur unter kirchlichen Gesichtspunkten ein eignes Kapitel gewidmet 21 und zutreffend ausgeführt, daß sie bei vorwiegender Naturallöhnung schlechterdings illusorisch ist, wenn nicht zur Besorgung der eignen Wirthschaft in der Woche regelmäßig bestimmte Halbtage ganz frei gegeben werden. Mit Recht wird geradezu der Erlaß eines polizeilichen Verbots der Scharwerkerhaltung gefordert, wenn nicht mindestens drei Räume zur Verfügung stehen, 2 2 endlich das Bildungsbedürfniß der Arbeiter als vorhanden und zu Recht bestehend anerkannt. 2 3 Wenn freilich der Verfasser es für denkbar hält, daß der „Bund der Landwirthe" sich diese Forderungen in Zukunft zu eigen machen könnte, so wird er Enttäuschungen erleben, wie er denn auch selbst in dieser Überzeugung bereits anläßlich der Andeutung des Bundesprogramms in Betreff der Freizügigkeit etwas stutzig geworden ist. 24 Daß diese Organisation die Interessen der Arbeiter wahrnehme, wird man von ihr weder verlangen noch auch wünschen. Dagegen ist es eine aktuelle Frage, inwie18 Wittenberg, Lage, S.20f. 19 Ebd., S. 27. Wittenberg gibt an, daß etwa zwischen 3% und 24% der Schulkinder als Hütekinder arbeiteten. 20 Im Gegensatz zu Wittenberg (siehe insbesondere S.26) schreibt Fischer: „Die Kinder, welche tüchtig bei der Arbeit sind, sind auch tüchtig in der Schule. Alle Berichte, die das Gegenteil behaupten, stammen von Männern, die das Landleben nicht kennen". Fischer, Lage, S. 19. 21 Wittenberg, Lage, S. 5 8 - 6 6 : „Der Sonntag auf dem Lande". 22 Ebd., S. 79. 23 Wittenberg schlägt die Errichtung von Volksbibliotheken auf den Gütern vor. Ebd., S. 8 2 - 8 4 . 24 Ebd., S. 88. Der Bund der Landwirte wurde am 18. Februar 1893 als Interessenorganisation des Großgrundbesitzes gegründet. In seinem Programm forderte er unter Punkt 7 eine „Anderweitige Regelung der Gesetzgebung über den Unterstützungswohnsitz, die Freizügigkeit und den Kontraktbruch der Arbeiter". Diese Forderung lief auf eine Einschränkung der Mobilität der Landarbeiter hinaus. Das Programm ist abgedruckt in: Schulthess, 1893, S. 9, sowie: Lexikon zur Parteiengeschichte, hg. von Dieter Fricke u.a., Band 1 . - Köln: Pahl-Rugenstein 1983, S.244.

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weit etwa künftig die Landgeistlichen berufen sein könnten, Mittelpunkte für die Vorstufen einer Organisation der Landarbeiterschaft, etwa in Gestalt evangelischer Arbeitervereine der modernen, mehr proletarischen Richtung, zu werden. Um „Vorstufen" kann es sich dabei zur Zeit nur handeln, weil, auch wenn das Koalitionsverbot bereits beseitigt wäre, 2 5 die Landarbeiter zur Zeit dennoch ihrer lokalen Dislokation und ihrer absolut differenten materiellen Interessengruppirung wegen einer gewerkschaftlichen Organisation regelmäßig unzugänglich sein würden. Vorerst ist dieser Gedanke noch verfrüht. Man kann bei der mehrfach prekären Stellung der Landgeistlichen, zumal solange das Privatpatronat besteht, 2 6 und bei der Neuheit dieses Problems für sie zur Zeit gerechterweise nicht mehr von ihnen verlangen, als Das, was ein großer Bruchtheil von ihnen anläßlich der Enquête des evangelisch-sozialen Kongresses an den Tag gelegt hat : die Fähigkeit und den guten Willen zu vorurtheilsfreiem Eindringen in die thatsächlichen wirthschaftlichen Verhältnisse des Arbeiterhaushalts, und Verständniß für den auch bei den Landarbeitern in roher und primitiver Form auftretenden, oft zur Karrikatur verzerrten, aber doch die Züge des Auf|wärtsstrebens an sich tragenden Drang zur Freiheit A 103 und Theilnahme an den Kulturgütern der Gegenwart. Es ist nicht ausgeschlossen und zu hoffen, daß sie schon jetzt in steigendem Maaße ihre Aufgabe dieser Klasse gegenüber da finden werden, wo sie in der That einen bedeutenden Beruf erfüllen können, den sonst zur Zeit auf dem Lande niemand übernehmen kann: in der Erziehung zu neuen Bedürfnissen, geistigen in erster Linie (und zwar nicht allein geistlichen), dann aber auch materiellen, in denjenigen Richtungen wenigstens, welche mit kirchlich-ethischen Interessen sich am meisten berühren: Wohnung, Sonntagsruhe, Kindererziehung und Nahrungsgewohnheiten, die den Schnapskonsum nicht geradezu unentbehrlich machen. So lange den Landarbeitern politisch und wirthschaftlich übermächtige Arbeitgeber gegenüberstehen, kann nur die Erhaltung ihrer in mannigfacher Beziehung bedrohten Lebenshaltung ein erreichbares Ziel bilden, und daran mitzuarbeiten sind auch die Landgeistlichen in der Lage und auch von ihrem Standpunkt aus interessirt. 25 Zum Koalitionsverbot in Preußen siehe oben, S. 188, Anm. 49. 26 Siehe oben, S. 101, Anm. 19.

Argentinische Kolonistenwirthschaften

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Im Dezember 1893 verhandelte der Reichstag über die Handelsverträge mit Spanien, Serbien und Rumänien. Mit Rumänien sollte das erste exportkräftige Agrarland in das Handelsvertragssystem Caprivis einbezogen werden, das den Partnerländern auf bilateraler Basis jeweils die Meistbegünstigung und eine Herabsetzung der Schutzzölle für Getreide von 5 auf 3,50 Mark pro Doppelzentner als Gegenleistung für die Erleichterung deutscher Importe einräumte. 1 Anläßlich dieser Beratungen erreichten die politischen Auseinandersetzungen über die Handelsvertragspolitik der Regierung Caprivi, die konsequent auf die Entwicklung des Deutschen Reiches zu einem exportorientierten Industriestaat setzte, ihren Höhepunkt. Angesichts der rapide steigenden Getreideimporte aus Übersee, insbesondere Nord- und Südamerika, zeichnete sich eine schwere Agrarkrise ab; der Preisverfall für Getreide auf dem Weltmarkt, der durch die Schutzzölle nur in begrenztem Umfang aufgefangen werden konnte, traf die deutsche Landwirtschaft insgesamt, besonders aber die einseitig auf Getreideproduktion ausgerichtete Großgüterwirtschaft im ostelbischen Preußen. Umgekehrt stand die bislang vom Deutschen Reich praktizierte Schutzzollpolitik einer Ausweitung des deutschen Industrieexports an die überwiegend noch agrarisch ausgerichteten Länder in Ost- und Südosteuropa, aber auch nach Übersee, in immer stärkerem Maße im Wege. Eine besondere Rolle spielte dabei Argentinien, welches eines der wichtigsten Länder in Südamerika war, in der die deutsche. Exportwirtschaft festen Fuß gefaßt hatte. Andererseits steigerte Argentinien seine Agrarproduktion seit Anfang der 1890er Jahre mit einer für die deutschen Agrarproduzenten beängstigenden Geschwindigkeit. Dabei spielte eine Rolle, daß der argentinische Peso während der Finanzkrise von 1889/90 stark abgewertet werden mußte und Argentinien demgemäß seine Getreideproduktion zeitweilig zu vergleichsweise äußerst niedrigen Preisen auf den Weltmarkt warf. Es avancierte 1893/94 zu einem der größten Weizenexportländer der Welt und stieg neben Rußland, Österreich-Ungarn,

1 Vgl. Weitowitz, Rolf, Deutsche Politik und Handelspolitik unter Reichkanzler Leo von Caprivi 1 8 9 0 - 1 8 9 4 . - Düsseldorf: Droste 1978.

Editorischer

Bericht

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den Vereinigten Staaten und Rumänien z u m größten Weizenlieferanten des D e u t s c h e n Reiches auf. 2 Darüber hinaus w u r d e n die u n g e w ö h n l i c h starken S c h w a n k u n g e n der Weltmarktpreise für Getreide in jenen Jahren vielfach auf die Rolle Argentiniens zurückgeführt, d e s s e n s c h u l d e n ü b e r l a d e n e W ä h r u n g i m m e r wieder dramatische K u r s s c h w a n k u n g e n d u r c h m a c h t e . O b w o h l Argentinien seit d e m Abschluß eines Freundschafts-, Handelsund Schiffahrtsvertrages v o m 19. S e p t e m b e r 1857 zu e i n e m b e d e u t e n d e n Handelspartner des D e u t s c h e n Reichs g e w o r d e n war, und zwar als Lieferant v o n Rohstoffen für die d e u t s c h e Industrie, i n s b e s o n d e r e Baumwolle und Produkte für die Lederherstellung, und seinerseits in beachtlichem Umfang d e u t s c h e Waren und Investitionsgüter einführte, geriet es z u n e h mend in das Kreuzfeuer der agrarischen Kritik, der sich Ende 1894 auch ein Teil der Nationalliberalen Partei anschließen sollte. 3 Vor d e m Hintergrund dieser sich bereits Anfang 1894 a b z e i c h n e n d e n Entwicklung verfaßte Max W e b e r die beiden n a c h s t e h e n d e n Artikel. Max W e b e r war, o b s c h o n ein erbitterter G e g n e r der Agrarier, d e n n o c h e m p f ä n g lich für deren A r g u m e n t , daß das Kulturniveau der d e u t s c h e n Landwirtschaft angesichts solcher Billigkonkurrenz gegebenenfalls mit staatlichen Mitteln verteidigt w e r d e n m ü s s e . Insoweit lehnte er die d o g m a t i s c h e n Positionen der Freihandelslehre durchaus ab. Der Fall der argentinischen Agrarwirtschaft hatte ihn s c h o n seit einiger Zeit beschäftigt; bereits in der zweiten Folge seiner Artikelserie über „Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter" v o m 15. Januar 1893 hatte er diesen, w e n n auch nur knapp, behandelt. 4 Er faszinierte ihn b e s o n d e r s insofern, als hier eine Reihe von ganz unterschiedlichen Faktoren z u s a m m e n k a m e n : Einerseits die Jungfräulichkeit des B o d e n s und die klimatischen B e d i n g u n g e n dieses Landes, die der Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion z u m i n d e s t kurzfristig b e s o n d e r s günstige Möglichkeiten boten. Z u m zweiten die Stellung Argentiniens innerhalb des W e l t w ä h r u n g s s y s t e m s , die es

2 Juraschek, Franz von, Getreidehandel. III. Statistik des Getreidehandels in der neuesten Zeit, in: HdStW4 3 ,1909, S.792f. 3 Die Kritik an Argentinien kulminierte im Dezember 1894 in einem von nationalliberaler Seite eingebrachten Antrag, den Handelsvertrag mit Argentinien zu kündigen (Sten. Ber. Band 141, S.241), und einer im März 1895 im Reichstag leidenschaftlich geführten Debatte zwischen Agrariern und den Anhängern einer freihändlerisch orientierten Handelsvertragspolitik. Eines der von agrarischer Seite vorgebrachten Argumente war, daß die deutsche Landwirtschaft niemals mit den in Argentinien üblichen Produktionsmethoden konkurrieren könne, die in großem Umfang auf Raubbau an jungfräulichen Böden beruhten, ein weiteres, daß Argentinien angesichts der dort bestehenden Währungsverhältnisse auch bei extrem niedrigen Getreidepreisen immer noch rentabel zu produzieren in der Lage sei. Wichtig sei es daher, das „für uns gefährlichste Land des Sommerweizens außer Konkurrenz" zusetzen. Sten. Ber. Band 139, S. 1443ff. und 1467ff. (DasZitat: S. 1464). 4 Siehe oben, S. 128f.

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Argentinische

Kolonistenwirthschaften

den großen Kolonisationsgesellschaften im Lande ermöglichte, angesichts der Entwertung der argentinischen W ä h r u n g und deren großen S c h w a n k u n g e n g e g e n ü b e r d e m Goldkurs, der damals als Maßstab der W ä h r u n g s kurse diente, e n o r m e G e w i n n e auf Kosten der e i n h e i m i s c h e n Volkswirtschaft zu erzielen. Vermutlich war der letztere Gesichtspunkt auch der Grund, weshalb W e b e r , o b w o h l kein A n h ä n g e r des Bimetallismus, seinen Artikel in einer Zeitschrift veröffentlichte, deren H e r a u s g e b e r Otto A r e n d t in zahlreichen Publikationen für die Einführung einer auf internationalen Verträgen b e r u h e n d e n Doppelwährung, d. h. G o l d - und Silberwährung, plädierte. In konservativen Kreisen besaß die Auffassung, daß die Lage der Landwirtschaft durch die Aufgabe des Goldstandards und die Rückkehr zu e i n e m bimetallistischen internationalen W ä h r u n g s s y s t e m nachhaltig v e r b e s s e r t w e r d e n könne, damals g r o ß e n Anhang. A r e n d t gehörte als Freikonservativer seit 1885 d e m preußischen A b g e o r d n e t e n h a u s an. 5 Das D e u t s c h e Wochenblatt diente f ü h r e n d e n Mitgliedern der Reichs- und freikonservativ e n Partei als Sprachrohr. 6 Max W e b e r verfügte in d i e s e m Fall über Informationen aus erster Hand; er schilderte die P r o d u k t i o n s m e t h o d e n und die Ertragslage einer argentinis c h e n Hazienda nach den Berichten eines d e u t s c h e n Kolonisten, mit d e m er unmittelbar bekannt g e w e s e n sein dürfte, wie sich aus seiner B e m e r k u n g schließen läßt, daß er „authentisch und e i n g e h e n d informirt" sei. 7 Um w e n es sich dabei gehandelt hat, ist uns freilich nicht bekannt. Es steht zu v e r m u t e n , daß W e b e r seinen G e w ä h r s m a n n durch Vermittlung eines Dozenten der Landwirtschaftlichen H o c h s c h u l e in Berlin - hier k o m m t in erster Linie Karl Kaerger in Frage - k e n n e n g e l e r n t hat. 8

5 Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs. - Stuttgart: W. Kohlhammer 1982 2 , S. 39f. 6 Lexikon zur Parteiengeschichte, hg. von Dieter Fricke u.a., Band3. - Köln: PahlRugenstein 1985, S.746. 7 Siehe unten, S. 286. 8 Karl Kaerger bereiste Mittu . icr 80er Jahre sowohl Südamerika als auch Ostafrika und befaßte sich mit kolonisatorischen Fragen und tropischer Landwirtschaft. Dabei qualifizierte er sich für seine späteren Aufgaben: Seit 1895 war er landwirtschaftlicher Sachverständiger bei den Kaiserlichen Gesandtschaften in Buenos Aires und Mexiko. Seine in den Jahren 1 8 9 5 - 1 9 0 0 an das Auswärtige Amt erstatteten Berichte veröffentlichte er 1901 unter dem Titel: Kaerger, Karl, Landwirtschaft und Kolonisation im Spanischen Amerika, 2 Bände. - Leipzig: Duncker & Humblot 1901.

Editorischer

Zur Überlieferung

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Bericht

und

Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der in zwei Folgen jeweils unter der Überschrift „Argentinische Kolonistenwirthschaften", in: Deutsches Wochenblatt, hg. von Otto Arendt, Berlin, Nr. 2 vom 11. Januar 1894, S . 2 0 - 2 2 , und Nr.5 vom 1. Februar 1894, S . 5 7 - 5 9 , erschienen ist (A). Beim zweiten Artikel folgt nach der Überschrift der Zusatz: „(Schluß)". Beide Artikel sind jeweils mit „Berlin. Max Weber." gezeichnet. Besonderheiten bei der Schreibung spanischer Begriffe und Ortsnamen - w i e „Laplata" statt „La Plata", „capatäs" (katalanisch) statt „capataz", „Puncho" statt „Poncho" oder „Galietas" statt „Galletas" - w u r d e n beibehalten. Webers eigene Anmerkungen binden in A mit Sternchen an. Diese wurden durch die Indizierung mit in offene Klammern gesetzte Ziffern ersetzt.

Argentinische Kolonistenwirthschaften

[1-] Für die Frage der Berechtigung der landwirthschaftlichen Schutzzölle ist es eine Vorfrage von grundlegender Bedeutung, ob eine Behauptung, mit welcher von freihändlerischer Seite stetig operirt wird, richtig ist, die nämlich: daß der nicht hinlänglich intensive Kultur stand der deutschen Bodenbewirthschaftung und die durch Kapitalmangel verschuldete Unmöglichkeit, rationell zu w i r t s c h a f ten, die wesentliche Schuld an der Konkurrenzunfähigkeit der deutschen Landwirthschaft trägt: wäre dies der Fall, dann allerdings wäre die „Konservirung" dieser „zurückgebliebenen Betriebsformen", dieser „altvaterischen Junkerbetriebe" ein zweischneidiges, den Kulturfortschritt ernstlich gefährdendes Heilmittel und prinzipiell zu verwerfen. Zur Beleuchtung dieser Frage möchte ich speziell für die Charakterisirung der überseeischen amerikanischen Konkurrenz hier in großen Zügen die Wirthschaftsweise eines argentinischen Kolonisten, über die ich zufällig authentisch und eingehend informirt bin 1 und welche als typisch gelten kann, in großen Zügen vorführen^] und zwar bis ins Detail, soweit dies erforderlich scheint; gerade die konkrete Gestaltung des Betriebes ist das, was für unsern Zweck interessirt. Der argentinische Weizen stellte freilich bis vor Kurzem nur einen kleinen Theil der Weltproduktion dar, insbesondere kam er im Allgemeinen kaum auf den deutschen Markt, allein einmal trugen seine Produktionskosten eben doch ihren Theil zur Bildung des Weltmarktpreises des Getreides bei und dann kehren gewisse typische Züge dieser Wirthschaftsweise mutatis mutandis auch in den Produktionsbedingungen unserer eigentlichen Konkurrenten wieder. Endlich aber ist allem Anschein nach auch die quantitative Bedeutung des argentinischen Exports und unserer Einfuhr daher in rapidem Aufschwung begriffen.

1 Wer dieser Informand war, ließ sich nicht ermitteln.

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Die betreffende Wirthschaft wurde im Wirtschaftsjahr 1891/92 in Argentinien, Provinz Entrerios, nahe dem Laplata, betrieben von einem Deutschen mit geringem Kapitalbesitz, der Gymnasialbildung genossen, dann - unvermögend - in einem Handelshause in Buenos Aires lange Jahre beschäftigt gewesen war und bei der mißlichen Geschäftslage, in welche die höchst erbärmlichen Valuta-Verhältnisse Argentiniens die dortigen Häuser, zumal fremde Importeure, versetzt hatten, genöthigt war, den Versuch, eine selbständige Existenz zu gründen, in der Landwirthschaft zu machen, welche gerade wegen der sinkenden Valuta (darüber unten) 2 existenzfähig war. Mit einem früheren englischen Schulmeister, der ein abenteuerliches Leben hinter sich hatte, associirt, hatte er seine Kolonistenstelle von einer der dortigen kolonisirenden Bodenspekulationsgesellschaften erstanden. Der Kolonist pflegt in solchen Fällen im Allgemeinen ca. lOOCuadras (ä ca. 1,67 ha, also 167 ha = ca. 670 Morgen) Land zu übernehmen, welche in dem zur Kolonisirung bereit gestellten Land, nach altrömischer Art in große Rechtecke von 8 x 12Vi = 100 Cuadras aufgetheilt, bereit liegen, während zwischen den Rechtecken Straßen, ä 20 m breit, laufen und von den Adjazenten 3 offen und in dem landesüblichen erbärmlichen Zustand zu erhalten sind. Die Kolonistenstelle, welche von den hier besprochenen beiden „Landwirthen" übernommen wurde, umfaßte 287Cuadras (480 ha, 1920Morgen). Der Landpreis betrug im Allgemeinen 40—50Pesos Gold (ä 4 M k . , also 160-200Mk.) pro Cuadra (100-120Mk. pro ha), insgesammt also im Mittel 52000Mk. Wird bereits bebautes Land gekauft, so wird meist eine Anzahlung verlangt, sonst oft der ganze Kaufpreis, bei schon kulturfähigem Lande gegen durchschnittlich 12%, zuweilen im Maximum bis 30% Zinsen, kreditirt. An mittellose Neukolonisten giebt die Gesellschaft Alles: Land, Hausmaterial, Einzäunungsmaterial für das Vieh, Pflüge und Saatgut und (früher) auch den Bedarf an Lebensmitteln für 2 Jahre ohne jede Anzahlung, gegen die Verpflichtung, bis zur Bezahlung jährlich Vi der Ernte statt der Zinsen abzuführen, welche Verpflichtung dann je nach dem Stand der Ratenzahlung entsprechend reduzirt wird. Ur-Hochwald existirt in Entrerios nicht, der einheimische Baumwuchs liefert schlechtes Brennholz und fast gar kein Nutzholz; na2 Siehe unten, S. 290. 3 Das heißt: den Anliegern.

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mentlich Bauholz ist deshalb selten und sehr theuer 1 '; Holzungen erhält der Kolonist nicht, den etwaigen Holzbestand auf seinem Areal darf er erst schlagen, wenn alles abgezahlt ist. Das Haus, welches der Kolonist selbst erbaut, ist in seiner typischen Form einstöckig, mit Schilf bedeckt, unter möglichster Ersparniß an Holzbalken aus selbst oder in der Ziegelei der Kolonie gebrannten Thonziegeln gebaut, unverputzt, ohne Dielen und Estrich, zwei Zimmer und eine offne Küche enthaltend und kostet ca. 250 Pesos Papier (bei dem damaligen Agio wenig mehr als 300 Mark, nominal ca. 1000 Mk.). Ställe und Scheunen existiren nicht, Arbeiterwohnungen ebenso wenig. In dieser Käthe hausten in unserm Fall die beiden ledigen Kolonisten und ihr Großknecht nebst Frau. Von den 287 a Cuadras 4 Land blieben 100 als Viehweide liegen und waren primitiv eingezäunt, - 10 waren mit Luzerne als Viehfutter bestellt, einige ferner gingen als Wegeland ab, der Rest, 160Cuadras (267 ha), wurde jahraus jahrein mit Weizen bestellt. Auch Mais würde gedeihen, aber, da er später gesät wird, den Heuschrecken, der furchtbarsten Landplage, anheimfallen. Der Boden trägt bei 12cm tieferen Pflügen 6—8 Jahre ohne jegliche Düngung annähernd gleichmäßig Weizen, alsdann ist es erforderlich, den Tiefpflug anzuwenden, worauf derselbe Raubbau in der neu emporgebrachten Krume weiter betrieben wird. - Es wurde - wiederum in altrömischer Art - kreuz und quer gepflügt, und zwar zwei Mal, das erste Mal im Hochsommer (Februar) und zwar so früh des nach der Ernte höchst üppigen Unkrauts wegen, das zweite Mal im Mai zur Saat. Bei erstmaligem Aufbrechen von Neuland wird ca. Vi cuadra pro Tag und Pflug umgebrochen, sonst bewältigten die sechs von Ochsen gezogenen Sitzpflüge unserer Kolonisten" 2Cuadras (3^3ha), zusammen 12Cuadras (20 ha) pro Tag. Wenn je ein Stück von lOCuadras (16,7 ha) fertig gestellt war, wurde es besät. Die Saat wurde durch doppeltes Eineggen eingebracht, 5 Eggen entsprechen hier den 6 Pflügen. Feldbestellung und Aussaat nimmt also zwei Mal " Brennholz, geschlagen, kostet die zweirädrige Fuhre 4 Pesos Papier (in Gold 16 Mk., aber nach dem bis 350% gehenden Goldzins nur ca. 6Mk.) |

a A: 267

b A: Kolonisten,

4 Weber gibt oben, S. 287, 2 8 7 Cuadras an.

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Februar und Mai - je ca. 14Tage bis drei Wochen in Anspruch. Das Saatgut beträgt ca. 80 bis 90 kg Weizen pro Cuadra ( 5 0 - 6 0 pro ha, es kommt also etwa ein altpreußischer Scheffel = 85 Pfd. auf 0,83 ha = 3Y3 Morgen). Die Ernte beginnt Mitte bis Ende November. Eine Mittelernte um diese Zahl vorwegzunehmen - erträgt brutto 1600 kg pro Cuadra (1 Tonne pro ha), eine „große" Ernte 2100kg (über lVtTonne pro ha), also bei Mittelernte etwa das 20fache der Einsaat (in Deutschland betrug die Brutto-Erntemenge pro ha Weizenland 1881/90 l , 3 2 T o . , 5 i m Osten, außer Berlin, aber nur zwischen 0,89 und 1,34). 6 Andrerseits kommt es vor, daß bei Mißernten selbst das Saatgut verloren geht - in Folge der mangelnden Düngung und Bodenbearbeitung. Im letzten Fall ist, wenn noch viel Kaufgeld rückständig ist, der Bankerott unvermeidlich, d. h. praktisch: es tritt ein neuer Kolonist an die Stelle des alten und versucht mit dem gleichen Raubbau sein Glück, und der bisherige beginnt anderwärts von vorn. Bei „großer" Ernte konnte fast die ganze Schuld oft aus den Erträgen des einen Glücksjahres gedeckt werden, bei Mittelernten kann der Kolonist bestehen und die Schuld in Raten abtragen, beides aber nur unter der weiteren Voraussetzung einer bestimmten Gestaltung des Goldagios, von welcher demnächst zu sprechen sein wird. Die Einbringung der Ernte geschah wie folgt - d. h. von „Einbringung" kann man nicht eigentlich sprechen, denn | sie kam nicht unter A 21 Dach und Fach. Sie wurde mit zwei Mähmaschinen (eigentlich wären drei nöthig) auf dem Felde 8—10 cm über dem Boden geschnitten und von der Maschine selbstthätig gebunden, die Stoppeln dann in Brand gesteckt. Das Schneiden dauerte etwa 1 Monat, bereits 14 Tage nach Beginn desselben wurde mit dem Dreschen begonnen, welches wiederum auf dem Felde selbst mittelst Dampfdreschmaschinen geschah, deren es in der Kolonie 4 auf 4000 Cuadras gab und die von Unternehmern vermiethet wurden. Die Maschinen besorgten das Dreschen und in Säcke füllen und stellten pro Tag 300 Sack ä 70 kg fertig, welche auf dem Felde, mit Stroh bedeckt, liegen blieben und 5 Die Angabe bezieht sich auf die Winter- und Sommerfrucht (Körner). Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 1. Jg., 1892. - Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht 1892, S. Iii/33. 6 Die entsprechenden Angaben zur Weizenernte im Osten schwanken zwischen 0,87 (Sommerfrucht in Ostpreußen) und 1,39 (Winterfrucht in Pommern) Tonnen pro Hektar Weizenland im Durchschnitt der zehn Jahre 1881/90. Ebd., S. Ml/36.

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von da aus meist direkt verkauft und von den Händlern auf dem nahen Laplata in die Silos von Buenos Aires geschafft wurden. Rentabler für den Kolonisten ist - und die hier besprochene Wirthschaft verfuhr so - den Weizen selbst mit Ochsenwagen, was 4 Pesos pro 18 Sack Kosten machte, nach dem Hafen von La Paz zu fahren und dort abzusetzen. Da die Dreschmaschinen von allen Kolonisten sehr begehrt waren und im Turnus genutzt wurden, konnte die ganze Prozedur inkl. des ratenweisen Verkaufes sich bis Anfang April hinziehen. So der äußere Verlauf der Bestellung, werfen wir nun einen Blick auf den Ertrag und die Produktionskosten der geschilderten Wirthschaft. - Zunächst die Brutto-Einnahme: Verkauft wurde so gut wie ausschließlich Weizen, das halbwilde Vieh hatte seines unbegrenzten Überflusses auf den ungeheuren Weideflächen und der mangelnden Exportfähigkeit wegen einen Verkaufswerth nur in der unmittelbaren Nähe großer Städte, wo Molkereiprodukte begehrt waren oder Konserven fabrizirt wurden. Der Ertrag einer Mittelernte in Weizen nun stellte sich nach den obigen Angaben auf brutto: 160 x 1600kg gleich 256000kg, abzüglich des Saatgutes von 12800kg: 243200. Der Preis des ausschließlich zum Export verkauften Weizens richtete sich nun - und das ist ein fundamentaler Punkt - nach dem Weltmarktpreis und nur nach diesem und schwankte also mit dem Goldagio. War der Goldkurs niedrig - etwa 150% - stand also die argentinische Valuta im Preise relativ hoch, so wurden zuweilen nur 5 Pesos Papier pro 100 kg gezahlt, jedes Sinken der argentinischen Valuta im Goldwerthe fand aber in einer Steigerung des in Papier gezahlten Preises seinen Ausdruck, bei einem Goldkurs von 350% kamen Preise bis zu YiVi Pesos in Papier vor, längere Zeit stand der Preis auf über 10 Pesos Papier, welche stets bei Ablieferung der einzelnen Posten dem Kolonisten sofort baar gezahlt wurden. Bei diesem Goldkurse hatte also die Mittelernte nach Abzug des Saatgutes rund 25 000 Pesos Papier präsenten Verkaufswerth, eine „große" Ernte aber bei gleichzeitigem hohen Goldkurs unter Umständen etwa 40000 Pesos Papier. Bei besonders niedrigem Agiostande dagegen ergab eine Mittelernte nur etwas über 12 000 Pesos Papier präsenten Verkaufswerth. Obige Tauschwerthe ergaben sich im Allgemeinen ohne wesentlichen Einfluß des Ausfalls der inländischen argentinischen Getrei-

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deernte - d . h . selbstverständlich war ein gewisser Einfluß derselben auf den Preis vorhanden, aber für diejenigen sehr zahlreichen Wirthschaften, welche in der Lage sind, die Wasserstraßen und Ströme zum Export nach Buenos Aires zu benutzen und deshalb nur für den Weltmarkt produziren, tritt er gänzlich in den Hintergrund gegen den unmittelbar wirksamen Einfluß des Weltmarktpreises. Stellen wir nun diesem Brutto-Erträgniß die Produktionskosten gegenüber, so scheiden wir zweckmäßigerweise die Grund- und Bodenkosten zunächst ganz aus und betrachten ohne Rücksicht auf theoretisch richtige Klassifizirung gesondert 1. die laufenden Betriebsausgaben und 2. das Inventar und die sonstigen durch einmalige Kapitalaufwendungen, welche verzinst und amortisirt sein wollen, zu bestreitenden Erfordernisse der Wirthschaft. Ad 1 kommen fast ausschließlich die Arbeitslöhne in Betracht. Der Posten für Reparatur- und Reproduktionskosten des lebenden und todten Inventars etc. ist höchst geringfügig zu veranschlagen, da das halbwilde Vieh sich ohne jedes Zuthun annähernd selbst reproduzirte, Wirthschaftsgebäude irgend welcher Art absolut nicht existirten und also fast nur die Abnutzung der Ackerwerkzeuge (6Pflüge, 5Eggen, 3Mähmaschinen, etwa 1/2 Dutzend Ackerwagen und einige Reservestücke) in Betracht kommt. Die Ausgaben für Arbeitslöhne nun stellten sich wie folgt: Als ständige Arbeiter wurden gehalten: Ein sogenannter Capatäs (Großknecht), der (ein Schweizer) mit seiner Frau im Kolonistenhaus wohnte, und unter Zuziehung seines (eine selbstgebaute kleine Käthe bewohnenden) Schwagers und dessen Frau die Obliegenheiten eines Inspektors, daneben das Viehmelken der „herrschaftlichen" sowohl wie der „Leutekühe" - in praxi beide zusammenfallend versah. Er erhielt nebst seiner Frau neben Theilnahme an der „herrschaftlichen" Kost 60 Pesos Papier pro Monat, der Schwager nebst Frau ebenso 40 Pesos Papier, beide zusammen also 100 Pesos Papier, die Aufwendungen für die Beköstigung der beiden Familien sind mit 21/2-3 Pesos pro Tag - ca. 80 Pesos pro Monat - sicher zu hoch berechnet. Daneben wurde zur Hütung des während des ganzen Jahres Tag und Nacht weidenden Viehs lediglich noch ein Junge mit pro Monat 10 Pesos und Kost im Werthe von Vi Peso pro Tag (Selbstkosten) gehalten. Die Kosten für diese Arbeitskräfte stellten sich also auf:

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100 x 12 = 1200 80 x 12= 960 10 x 12= 120 Vi x 365 = 182 zusammen 2462 oder rund 2500 Pesos Papier. Es sind dies die einzigen ständigen Arbeiter, welche gehalten wurden. Zur Feldbestellung und Ernte kommen und kamen Wanderarbeiter oder besser gesagt Nomadenschwärme aus den noch mit Urwalddickicht bedeckten Theilen der Provinz Corrientes am oberen Laplata herangezogen. Wo und wie diese Leute in der arbeitslosen Zeit existiren, ist dunkel, sie erscheinen, wenn die Zeit des Bedarfs beginnt und verschwinden nach Beendigung und nachdem sie den Lohn in Schnaps verjubelt haben, und der Kolonist sitzt wieder allein auf seiner öden Hacienda. Ihr gesammter Besitz besteht aus einem Pferd, einem Sattel, einem Anzug im Werth von ca. 15 Pesos, Revolver und Messer und - unentbehrlich - dem Puncho, einem Reitmantel, der aus einem ungeheuren groben Wolltuch mit einem Loch für den Kopf besteht. An Behausungen kennen sie nur Erdhütten, der Kolonist stellt ihnen lediglich eine auf Pfählen ruhende Strohbedachung zur Verfügung, unter der sie auf dem Sattel schlafen. Die meisten dieser Arbeiter sind unverheirathet, und man sucht auch möglichst ausschließlich unverheirathete zu erhalten. Monogamische relativ ständige Verhältnisse haben sie wohl, aber regelmäßig ohne irgend welche kirchliche oder zivile Trauung und auch thatsächlich ohne dauernde Bindung an ein und dasselbe Weib. Diese unendlich schmutzigen „Ehefrauen" und die noch schmutzigeren Kinder - wovon diese eigentlich leben und aufwachsen, ist auch den Kolonisten ein ungelöstes Räthsel - sucht man sich möglichst vom Leibe zu halten, sie treiben sich in Erdlöchern umher, stehlen Vieh und suchen der unersättlichen Gurgel des Mannes einen so großen Bruchtheil des Lohnes zu entreißen, wie eben möglich. Jegliche Armenpflege oder etwas Analoges oder irgend welche sonstige verwaltungsrechtliche Pflicht der Arbeitgeber für die Arbeiter sind gänzlich unbekannt. Diese Arbeiter werden auf einen Monat engagirt, aber ohne kon22 traktliche Bindung irgend einer Seite. Sie erhalten | neben Baarlohn

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durchweg die Kost. Diese setzt sich in folgender charakteristischer Art zusammen: Morgens: Gebratenes Fleisch nach Belieben undThee, sowie vier „Galietas", d.h. ungesäuertes schiffszwiebackartiges rundes Brot von 6—7 cm Durchmesser. Mittags: Reis- oder Nudelsuppe, gekochtes Fleisch nach Belieben. Abends: Gebratenes Fleisch nach Belieben, bei starker Arbeit Mais in Milch gekocht. Von Getränken nichts, - also fast ausschließlich Fleisch, welches in Mengen von fast 1 kg pro Tag und Kopf - auf 13 Arbeiter 10 kg verschlungen wird: es ist das billigste Nahrungsmittel, wirkliches Brot eine Delikatesse, da alles Getreide dem Export verfällt, Kundenmühlen nicht existiren, auch für die vereinzelten Kolonistenhöfe nicht existieren können und die eigne Herstellung für diesen nur periodischen Bedarf zeitraubend und relativ kostspielig wäre. Die Selbstkosten dieser Kost für den Kolonisten betragen (wesentlich des theuren Brennmaterials wegen) ca. 3A Peso pro Tag und Mann. Der gezahlte Geldlohn beträgt 15 - höchstens 20 Pesos, meist ca. 17Pesos pro Monat für Erwachsene, 8—12 für Jungen, in der Ernte für die besten Arbeiter 30 - höchstens 35, meist 25 Pesos. Das Mähen wird in Akkord gegeben. (Dauer: ein Monat, Lohn 8 0 - 1 0 0 Pesos pro Mann). Benöthigt werden: (für 160Cuadras): in der Feldbestellungszeit 13 Mann, in der Erntezeit alles inbegriffen 25, davon ein Theil, vielleicht 16, Jungen. Das Dreschen besorgt die Maschine gegen IPeso für 100 kg, alles, einschließlich des Einsackens, inbegriffen. Die Lohnausgaben berechnen sich hiernach wie folgt (in maximo): 1. Feldbestellung: 11/2 Monat 13 Mann ä 17 Pesos 332 Pesos 2. Ernte: 1 Monat dieselben Arbeitskräfte ä durchschnittlich 28 Pesos 364 Dazu treten: 4 Fuhrleute zum Zusammenfahren 112 8 Akkordarbeiter zum Mähen durchschnittlich ä 95 Pesos 760 Die Beköstigung der Arbeiter kostet für 45 x 13 + 30 x 13 + 30 x 4 + 30 x 8Tage = 1335 Tage ä 3 / 4 Peso rund 1000 "

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Dazu das Dreschen von 256000 kg ä 100 kg 1 Peso

2560

zusammen: 5128

" Pesos (Papier)

also bei Mittelernte rund 5000, bei großer Ernte von 40000 kg7 c (des c höheren Dreschlohnes wegen) ca. 6500 Pesos Papier. Die gesammten Lohnausgaben für ständige und nichtständige Arbeitskräfte und das Dreschen stellen sich also bei mittlerer Ernte auf rund 7500, bei großer Ernte auf rund 9000 Pesos, schlagen wir dazu einen schätzungsweisen Betrag von 700 bis 800 Pesos für Ergänzungen und Reparaturen des Inventars - nach dem oben Gesagten ist es sicher zu hoch gerechnet - so kommen wir auf 8300—9800 Pesos Papier laufende Betriebsausgaben je nach Größe der Ernte. Ad 2 (Anlagekapital, welches im Inventar steckt) ist zunächst der früher erwähnte Kostenbetrag von 250 Pesos Papier 8 für das Kolonistenhaus einzustellen. Dazu tritt das Inventar an Vieh, wobei daran zu erinnern ist, daß in Entrerios Viehzucht gar nicht betrieben wird: das Vieh hält man nur zu Arbeitszwecken und um der Milch willen - die halbwilden Kühe geben aber nur nach dem Kalben Milch -[,] ferner um das Fleisch für die Beköstigung der Arbeiter zu gewinnen. Es waren in der hier besprochenen Wirthschaft gehalten 94 Ochsen als Spannvieh für Wagen und Eggen, theilweise auch Pflüge, im Kaufwerth von 80 Pesos das Paar, zusammen 7520 Pesos.9 42 Pferde, auch als Spannvieh beim Pflügen auf schwerem Boden und zum Wasserziehen, ä Stück 30—35 Pesos, im Mittel zusammen 1365 Pesos. 16 Kühe der Milch wegen, ca. 480 Pesos werth. Daneben wurden fünf Sauen und ein Eber nebst Nachzucht und Hühner gehalten, diej,] als dem persönlichen Konsum bestimmt^] nicht unter das Wirthschaftsinventar zählen. Besondere Futterko-

c A: des

7 Gemeint sind 400000 kg. Nur dann ergibt sich unter Zugrundelegung der Miete für die Dreschmaschine von einem Peso pro 100 kg ein Aufpreis von ca. 1500 Pesos. 8 Siehe oben, S. 288. 9 Legt man einen Preis von „80 Pesos das Paar" zugrunde, ergibt sich für 94 Ochsen ein Kaufwert von 3760 Pesos.

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sten entstehen für das Vieh nicht, es wurde erwähnt, daß 100 Cuadras als Weideland liegen blieben, 10 mit Luzerne bestellt sind. 10 Der Gesammtkostenwerth des lebenden Inventars beträgt 9365 Pesos. Dazu trat das früher aufgeführte todte Inventar: 11 sechs Pflüge , fünf Eggen, drei Mähmaschinen, vier bis sechs Wagen, die Reservestücke und der sonstige Bedarf an Werkzeugen und Geschirr. Die Maschinen und eisernen Werkzeuge wurden nur aus England importirt und sind also in Gold zu zahlen. Genaue Angaben über die Ankaufskosten waren nicht zu erlangen, bei dem zur Beschaffungszeit nicht übermäßig hohen Stande des Goldagios wird man sie auf höchstens ca. 3—4000 Pesos beziffern können, so daß der gesammte Kapitalaufwand für Beschaffung des Inventars inkl. des „Hauses" sich bei niedrigem Goldkurse auf zwischen 14000 und 15 000 Pesos belaufen haben würde, bei hohem dagegen ca. 3000 Pesos höher zu berechnen wäre. Die Zinsen dieses Kapitals ä 12pCt. mit 1680-1800, imd Mittel etwa 1740PesoS[,j traten den laufenden Betriebsausgaben von (wie oben) 8300—9800 Mk. hinzu, so daß sich ein Selbstkostenbetrag von bei mittlerer Ernte rund 10000, bei großer rund 11500Mk. ergiebt, 12 während[,j wenn die Importartikel bei hohem Goldkurs gekauft werden mußten, noch ca. 500 Pesos Zinsen zuzuschlagen sind. Dieser Betrag umfaßt die gesammten Produktionskosten im engeren rein technischen Sinn, d.h. diejenigen Kosten, welche aufzuwenden sind, um auf dem von der Natur zur Verfügung gestellten rohen Boden das zum Absatz bestimmte Gut (Weizen) zu gewinnen. Dazu tritt nun die Aufwendung für den Bodenerwerb selbst resp. die Kosten der eventuellen Besitzkreditgewährung. - Es war oben berechnet, 13 daß der Gesammtkaufpreis der 287Cuadras 11480— 14350, im Mittel ca. 13000Pesos Gold betrug. Die Zinsen dieses Kapitals ä 12% würden ca. 1560 Pesos betragen. Es ist aber zu beachten, daß diese Zinsen eben - vorausgesetzt, daß der Kaufpreis d A: in

10 Siehe oben, S. 288. 11 Siehe oben, S. 291. 12 Nach den Angaben Webers, oben, S. 294, belaufen sich die Betriebsausgaben auf 8300-9800 Pesos, nicht Mark; der Selbstkostenpreis schwankt daher zwischen 10000 und 11 500 Pesos und nicht Mark. 13 Siehe oben, S. 287.

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rückständig geblieben wäre, - in Gold zu zahlen waren, so daß sie z. B. bei dem Goldkurse von 350% den Betrag von 5460 Pesos Papier repräsentirten, bei niedrigem (von 150%) dagegen 2340. Schwankt das Agio zwischen 250 und 300%, so sind im Mittel 4290 Pesos Papier anzusetzen. Die gesammten Produktionskosten einschließlich der Bodenerwerbskosten betragen hiernach unter der Voraussetzung, daß Boden und Inventar auf Kredit beschafft sind, zwischen 12300 und 17000Pesos Papier: bei mittlerer Ernte in minimo 12300Pesos Papier (Goldkurs 150%), bei hoher Ernte in maximo 17 000 Pesos Papier (Goldkurs 350%). Dem e steht bei mittlerer Ernte und 150% Goldkurs ein Roheinkommen von etwas über 12000 Pesos Papier, bei dem (damals normalen) hohen Agio von 250-300% von gegen 25 000 Pesos Papier, und bei sehr großer Ernte und sehr hohem Goldkurs, also starker Entwerthung der argentinischen Valuta[,] ein solches von gegen 40000 Pesos Papier gegenüber, so daß der Reinertrag in den beiden letzten Fällen sich von einem mittleren Betrage von 25000-12300 (mittlere Ernte, hoher Goldkurs) = 1370014 bis zu einem Höchstbetrage von 40000—17000 (große Ernte, sehr hoher Goldkurs) = 23000 Pesos Papier aufwärts bewegt, während bei mittlerer Ernte aber relativ niedrigem Goldkurs Produktionskosten und Bruttoertrag sich ungefähr decken. Wir haben nunmehr diejenigen Schlüsse zu ziehen, welche sich aus der im Vorstehenden möglichst eingehend erörterten Zusammensetzung der Produktionskosten die event[uell] noch weiter detaillirt werden könnten - ergeben.' |

[2.]

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Aus den in vielleicht ermüdender Ausführlichkeit gegebenen Zahlen treten einige für das Wesen der überseeischen Konkurrenz charakteristische Erscheinungen deutlich zu Tage. Die Deutlichkeit beruht zwar auf dem extrem auf die Spitze getriebenen Charakter des behandelten Falles, allein mutatis mutandis finden sich die wesent-

e A: Dann

f A: Ende des ersten Artikels.

14 Die Richtigkeit der Ausgangszahlen vorausgesetzt, müßte die Zahl lauten: 12700.

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liehen Züge in den Produktionsbedingungen unsrer übrigen landwirtschaftlichen Konkurrenten wieder, und eben deshalb schien die Erörterung bis in die konkreten Thatsachen des Wirthschaftsbudgets nöthig und hätte vielleicht eher noch weiter gehen müssen. Zunächst: kann man glauben, daß irgend welches Maximum von Kulturintensität eines landwirthschaftlichen Betriebes, verbunden mit einem Maximum von Intelligenz und Kapital^] unter den Verhältnissen unsres Ostens die Konkurrenz mit derartigen Betrieben, wie den geschilderten, aufnehmen könne? Ich meinerseits vermag diesen Glauben nicht zu hegen. Vergegenwärtigt man sich die Momente, welche die Produktion der Kolonisten begünstigen, so sind es zwei: die Jugendlichkeit des Bodens und die ebenso große Jugendlichkeit der sozialen Organisation. Zunächst das erste: ein Bodentypus, der im Stande wäre, eine Rohertragsrelation zu ergeben, wie die geschilderte, existirt bei uns im Osten überhaupt nicht in irgend in Betracht kommendem Maße, auch nicht bei irgend denkbarer Zunahme der Intensität des Betriebes, während dort noch auf ein halbes Menschenalter hin eine so extensive Betriebsweise, wie die geschilderte - ohne Düngung, Fruchtfolge und ohne Aufwand für Wirthschaftsgebäude, - die angegebenen Resultate zeitigt. Aber darauf lege ich nicht das Hauptgewicht. Entscheidender ist das zweite Moment. Um mit Wirthschaften wie den geschilderten konkurriren zu können, müßten wir in dem Charakter unsrer sozialen Struktur und in unserem Kulturniveau nicht herauf- sondern heruntersteigen können, auf dasjenige eines dünnbevölkerten halbbarbarischen Landes, wie es Argentinien noch ist. Denn worauf beruht die „Konkurrenzfähigkeit" dieser Produktions-Gebiete und was ermöglicht ihnen den geschilderten unerhörten Raubbau? Zunächst die - wenn ich so sagen darf - „Fungibilität" der landwirthschaftlichen Unternehmer. Dem Kolonisten liegt der Strick um den Hals. Einem kleinen Prozentsatz, der einen hazardartigen Gewinn aus dem ausgeplünderten Boden saugen und diesen dann rechtzeitig losschlagen konnte, steht eine gewaltige Mehrheit solcher gegenüber, welche durch eine einzige schlechte Ernte oder ein unzeitiges Sinken des Goldagios bankerott aus dem Besitz geschleudert werden. Aber was verschlägt der Bankerott unter so primitiven Verhältnissen der sozialen Organisation für die Produktion als Ganzes? Bei uns äußert sich der Untergang eines ländlichen Großbetriebs als ein chronisches Dahinsiechen des Betriebs, schlägt dem Boden und der

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Arbeitsverfassung schwer und in Jahren erst zu heilende Wunden (die Ansiedlungskommission weiß davon zu erzählen), 15 und der Unternehmer, den der Bankerott - gleichgiltig, ob formell in Gestalt des Konkurses oder nicht - trifft, ist eine sozial gebrochene Existenz, die sich zumeist nie wieder erhebt und für die Volkswirthschaft fruchtbar wird. Dort dagegen tritt einfach an Stelle des verkrachten Kolonisten ein anderer, die Arbeit und das Geld, das jener in den Betrieb steckte, ist ä fonds perdu gegangen, aber der Betrieb lebt sofort wieder auf. Und der Bankrotteur? Er setzt seinen Stab einige Dutzend Meilen weiter landeinwärts und versucht sein Heil auf einer Neusiedlung von vorn. Wer in einer sozial so primitiv organisirten gesellschaftlichen Gemeinschaft zu Falle kommt, stürzt nicht tief und steht gleich wieder auf den Füßen. Wollen wir, und vor Allem, selbst wenn wir wollten, könnten wir das auf unsre Verhältnisse übertragen? Aber weiter: wie steht es mit den Arbeitern? Wir sehen, die A 58 Löhne, die der Kolonist zahlt, sind nicht an sich niedrig, die | Kost muß für den, der den Fleischkonsum allein als Kulturmesser nimmt, einen märchenhaften Nahrungsstand repräsentiren. In Wahrheit freilich ist es die Kost nomadisirender Barbaren, und das sind diese Arbeiter auch in der That. Eben darin liegt offenbar bei einer kapitalistischen volkswirthschaftlichen Organisation ihr Vorzug für den Unternehmer im Konkurrenzkampf. Wenn man von einer „Arbeitsverfassung" hier überhaupt noch sprechen will, so ist deren Charakteristikum die extreme Ausgestaltung des landwirthschaftlichen Betriebes zum Saisongewerbe. Etwa 12—15 Wochen im Jahr saugt er Arbeitskräfte an und stößt sie nach gemachtem Gebrauch wieder aus, ohne Übernahme der geringsten Verantwortlichkeit und Sorge für ihre dauernde Erhaltung: er kann sich das ersparen. Die gänzlich unerreichbare Billigkeit dieses Verfahrens leuchtet ein. Können und wollen wir es unternehmen, gleich „billig" zu arbeiten, so müssen auch unsere Arbeiter auf dem Lande sich diesem Typus nähern, und 15 Weber bezieht sich hier auf die Arbeit und die Erfahrungen der preußischen Ansiedlungskommission in Posen; sie war 1886 zur Förderung der Ansiediung deutscher Bauern in den preußischen Provinzen Posen und Westpreußen eingerichtet worden. Ihre Aufgabe bestand in dem Ankauf und der Aufsiedlung polnischen Großgrundbesitzes. Dabei mußten oftmals umfangreiche Meliorationen auf den Ansiedlungsgütern durchgeführt werden. Siehe die „Denkschrift über die Ausführung des Gesetzes vom 26. April 1886", in: Sten. Ber. pr. AH, 1894, Anlagen, 2. Band, S. 1270.

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wer das Wanderarbeiterthum und die Poleneinfuhr im Osten beobachtet, findet die ersten Erscheinungsformen dieser Wandlung in der That vor sich. Es ist, mit einem Wort, der Umstand, daß wir auf dicht besiedel5 tem Boden ein altes seßhaftes Kulturvolk mit alter, fein ausgeprägter und deshalb auch empfindlicher sozialer Organisation und typischen nationalen Kulturbedürfnissen sind, was uns in die Unmöglichkeit versetzt, mit diesen Wirthschaften zu konkurriren. Man wird danach kaum Neigung verspüren, wie es so oft geschieht, das ohne Weiteres 10 als Symptom von Schwäche und wirthschaftlicher Rückständigkeit zu deuten. Ein Mann in den besten Jahren vermag nicht, ohne seine Knochen zu wagen, wie ein halbwüchsiger Straßenjunge Kobold zu schlagen und auf die Bäume zu klettern, und dennoch bleibt es dabei, daß er ein Mann ist und der andere ein Straßenjunge. 15 Aber damit sind die Lehren unseres Paradigmas nicht erschöpft. Mit einer geradezu klassischen Deutlichkeit, die wiederum mit dem extremen, aber deshalb eben wie eine „Reinkultur" als Paradigma verwerthbaren Charakter des Falles zusammenhängt, tritt die praktische Bedeutung des internationalen Währungsproblems in den ange20 führten Zahlen zu Tage. Es zeigte sich, daß unter den geschilderten Verhältnissen ein verschuldeter Kolonist überhaupt nur bei abnormer Entwerthung der einheimischen Valuta existiren kann. Der Grund ist einfach: die Produktionskosten des Kolonisten stiegen zwar gleichfalls mit dem Steigen des Goldkurses. Am wenigsten die 25 Löhne, welche auch innerhalb mehrjähriger Zeiträume so gut wie nicht davon berührt wurden (sie werden eben in Inlandsprodukten, namentlich in gemeinem Inlandsfusel angelegt). Auch die Kosten des Inventars steigen - indessen pflegt man die Importartikel einmal nur bei niedrigem Agio anzuschaffen und dann erscheint der Betrag 30 der Steigerung unter den Produktionskosten nur in Höhe der Zinsen, also dividirt. Jedenfalls aber steht diese Steigerung der Selbstkosten des Kolonisten in gar keinem Verhältniß zu dem Gewinn, welchen er durch Steigen des Goldagios vermöge des Umstandes bezieht, daß er in der Lage ist, unmittelbar zu wenig modifizierten Weltmarktsprei35 sen an Exporteure zu verkaufen und deshalb in Gold bezahlt wird. Dies Moment macht ihn überhaupt nur existenzfähig. Allein wenn nun das Agio sinkt? Das bedeutet für ihn, wenn es andauert, den Bankerott, aber die Produktion kommt damit höchstens zum Stagniren: ein Rückgang des Exports tritt mindestens dauernd nicht ein, es

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beginnt lediglich ein rationellerer, kapitalkräftigerer Betrieb auf den bisher einfach ausgeraubten Flächen. Stürzt dann die Valuta wieder, so beginnt eine neue Überschwemmung noch jungfräulichen Bodens durch Raubbauer, und in dieser Weise setzt sich der Prozeß fort: eine allerdings stoßweise aber konsequente Züchtung von lediglich für den Export wirthschaftenden Betrieben. Es tritt deshalb die Wirkung der Valutaverhältnisse auf die Produktion nicht etwa als ziffermäßiges statistisches Abhängigkeitsverhältniß zu Tage. Aber wesentlich die Valuta hat dahin geführt, daß der Laplata-Weizen in den Börsenberichten Deutschlands in den letzten Jahren eine Rolle zu spielen beginnt 2) . Daß die Gunst der natürlichen Bedingungen mitspielt, ist nicht zu bezweifeln und selbstverständlich, aber den spezifischen kapitalistischen Charakter und die exzessive Tendenz zum Export hat die Produktion durch die Währungsverhältnisse aufgedrückt erhalten. Und ist diese Erscheinung denn verwunderlich? Jedes solide Geschäft fürchtet privatwirthschaftlich die Schleuderkonkurrenz einer Konkursmasse, die amerikanischen Bahnen betrachten bekanntlich nichts als eine erheblichere Schädigung ihrer Interessen, als wenn eine bankerotte Konkurrenzbahn einen Receiver (Zwangsverwalter) erhält, und so steht es auch mit einer nicht voll zahlungsfähigen Volkswirthschaft, wie es ein in der Papierwirthschaft steckender 2) Wegen der Export-Ziffern vergl. die offizielle argentinische Publikation von Fließ: La produccion agricola y ganadera 9 de la Republ[ica] Argentina en el ano 1891, B[uenos] Aires 1892, und den Artikel in der Review of the River Plate vom Schluß des letzten Jahres, welchen h auch die „Kreuzz[ei]t[un]g" in Nr. 18 vom 12. Januar abdruckte, 16 auch z . B . den Börsenbericht derselben Nummer. 1 7

g A: ganadaa

h A: welche

16 D i e R e v i e w of t h e River Plate w a r n i c h t e r m i t t e l b a r . D i e N e u e P r e u ß i s c h e Z e l t u n g ( K r e u z z e i t u n g ) , Nr. 18 v o m 12. J a n . 1 8 9 4 , M o . B I . , r e f e r i e r t e u n d zitierte d e n b e t r e f f e n d e n Artikel, d e m z u f o l g e A r g e n t i n i e n 1 8 9 3 z u m d r i t t g r ö ß t e n W e i z e n e x p o r t e u r d e r W e l t a v a n ciert sei. Der W e i z e n e x p o r t h a b e 1 8 9 3 ü b e r 1 Million T o n n e n b e t r a g e n ; für 1 8 9 4 r e c h n e m a n mit e i n e r A u s f u h r v o n 1 V4 M i l l i o n e n T o n n e n . D i e T e n d e n z s e i s t e i g e n d , d a b i s l a n g in A r g e n t i n i e n k a u m 5 % d e s für d e n A n b a u g e e i g n e t e n B o d e n s g e n u t z t s e i e n . D e r Erfolg A r g e n t i n i e n s s e i h a u p t s ä c h l i c h auf d i e z ä h e A r b e i t d e r b e d ü r f n i s l o s e n i t a l i e n i s c h e n K o l o n i sten und Arbeiter zurückzuführen. 17 W e b e r b e z i e h t s i c h auf d i e A u s g a b e d e r N e u e n P r e u ß i s c h e n Z e i t u n g ( K r e u z z e i t u n g ) , Nr. 19 v o m 12. J a n . 1 8 9 4 , A b . B I . Im B e r i c h t v o n d e r P r o d u k t e n b ö r s e w e r d e n hier „ u m f ä n g l i c h e O f f e r t e n " in W e i z e n v o m La Plata e r w ä h n t .

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Staat ist. Gewiß: die Entwerthung der Valuta ist f ü r die davon betroffene V o l k s w i r t s c h a f t ein verwüstendes Unglück, aber das schließt nicht aus, daß sie eine Prämie zu Gunsten ihrer Privatwirthschaften involvirt. Das ist eben der charakteristische Verlauf bei kapitalistischer Organisation der Volkswirthschaft, daß die (relativ) sinkende Währung eines Landes den Produzenten desselben einen unreellen Gewinn auf Kosten der Gesammtheit abwirft. Irgend Jemand zahlt natürlich die Zeche; das ist die Volkswirthschaft des Landes mit der jeweilig sich verschlechternden Valuta als Ganzes betrachtet. Es zeigt sich aber ferner, d a ß der Produzent des Landes mit sinkender Währung sich in den objektiv unreellen Vortheil, welchen die Entwerthung der Valuta abwirft, mit einem andern v o l k s w i r t schaftlichen Faktor zu theilen hat: dem Kapital. Wir sahen, daß der einzige Produktionskostenfaktor, der in der That in vollauf gleichem M a ß e wie die H ö h e des Goldagios wächst, die Schuldenzinsen für den gewährten Besitzkredit sind, weil Gläubiger dieser Schulden die kapitalkräftige spekulative Kolonisationsgesellschaft ist, welche sich Zahlung in Gold ausbedingt. D e r verschuldete Produzent bleibt in allen Fällen ihr Sklave, dem sie nur soviel von dem Agio-Gewinn beläßt, wie eben nöthig ist, um ihn in ihrem eigenen Interesse über Wasser zu halten. D a s Kapital und die niedrigsten F o r m e n der Produktion sind es, welche den Gewinn aus den Währungsschwankungen auf Kosten der Gesammtheit beziehen. M a n braucht, um das anzuerkennen, wahrlich nicht A n h ä n g e r des Bimetallismus 3 ' oder Gegner der jetzt zur E r ö r t e r u n g stehenden Handelsverträge 1 8 zu sein - und in beiden Hinsichten vermag ich meinerseits z . B . die Ansichten des Herausgebers dieser Zeitschrift, 3) Im vorliegenden Fall ist die Valuta-Entwerthung, da Argentinien weit mehr Gold als Silber geprägt hatte, mit der Silber-Entwerthung überhaupt nicht identisch, und es würde auch eine Rehabilitirung des Silbers uns vor der weit gefährlicheren Papierwirthschaft kulturell niedrig stehender Staaten nicht schützen. Wahr ist andererseits, daß eine Wiederaufnahme der Baarzahlungen in reiner Goldwährung für Argentinien z . B . für absehbare Zeit eine Utopie ist. |

18 Gemeint sind die Handelsverträge mit Spanien, Serbien und Rumänien. Vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 282.

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der mir deren Spalten freundlichst öffnete, nicht zu theilen. 19 Aber es ist schlechthin widerwärtig, Thatsachen, die auf der Hand liegen und unbestreitbar sind, bestritten zu sehen mit einer Süffisance, wie sie sich in der That nur in dem spezifischen Dialekt einer wirthschaftspolitischen Schule findet, 20 welcher die Bedingtheit der ökonomischen Gesetze, an welche sie dogmatisch glaubt, durch die gänzlich irreale Voraussetzung der internationalen Kulturgleichheit noch immer nicht aufzugehen beginnt, - der gleiche Fehler, den der Internationalismus in jeder Form, auch in der des internationalen Sozialismus begeht. - Es können gewiß Situationen eintreten, wo man mit einem Konkursifex 21 Kontrakte schließen muß. Bedenklich sind sie immer und eigentlich nicht zulässig ohne bestimmte Garantie in Bezug auf seine Geschäftsgebahrung, - in unserem Falle um es A 59 konkret auszudrücken, in Bezug auf den | Gebrauch seiner Notenpresse. Solche Garantien zu geben kann nun ein souveräner Staat sich nicht herbeilassen. Trotzdem kann es sicherlich - aus welchen Gründen, bleibe dahingestellt - aus andern Gründen nothwendig oder überwiegend nützlich sein mit ihm, auch ohne solche Garantie, in die theilweise Wirthschaftsgemeinschaft sich einzulassen, welche jeder Handelsvertrag darstellt. Dann sind eben diese anderen Gründe zu prüfen, nicht ehrlich ist es aber, wenn das Vorhandensein einer ernsten Gefahr bei einer solchen Verflechtung der eignen zahlungsfähigen mit der fremden zahlungsunfähigen Volkswirthschaft einfach bestritten wird 4) . Es ist ein Umstand, welcher die Position der

4) Hier liegen für mich auch die entscheidenden Bedenken gegen den internationalen Bimetallismus, der diese Verflechtung in anderer Form gleichfalls herbeiführt, ganz abgesehen davon, daß er zur Zeit seine (keineswegs nothwendig in seinem Begriff liegende) Verbindung mit dem utopischen Bestreben nach Wiederherstellung der alten Silberwerthrelation noch nicht gelöst hat und daß er dagegen die meines Erachtens absolut nothwendig aus ihm resultirende Konsequenz einer Verstaatlichung (und zwar, wenn der Ausdruck erlaubt ist[,j „Verweltstaatlichung") der Silberbergwerke abzulehnen versucht, - weil er damit, wie der Herausgeber dieser Zeitschrift im konservativen] Handbuch

1 9 Vgl. ebd., S. 284, auch z u m Bimetallismus. 2 0 G e m e i n t Ist die Freihandelslehre, die vor allem v o n der Freisinnigen Volkspartei unter der Führung Eugen Richters vertreten wurde. 21 Konkursifex, d . h . ein Kaufmann, der bei seinen Geschäften einen Konkurs bereits einkalkuliert. In d i e s e m Fall b e z o g e n auf das hochverschuldete Argentinien.

Argentinische

Kolonistenwirthschaften

303

Regierung schwächt, daß sie genöthigt ist, ihre Bundesgenossen auch in den Reihen jener zu suchen, welche durch den prinzipiellen Gegensatz gegen die nationalen Grundlagen der Volkswirthschaft auf ihre Seite geführt sind. 22 In ihren letzten Konsequenzen ist die 5 Weltwirthschaft der Freihandelslehre ohne den Weltstaat und die volle Gleichheit des Kulturniveaus der Menschheit eine Utopie; der Weg dahin ist weit. So lange wir so in den Anfängen einer solchen Entwicklung stehen wie noch jetzt, handeln wir auch im Interesse der Weiterentwicklung, wenn wir die alten Baumstämme, aus welchen 10 vielleicht künftige Geschlechter den Bau der Wirthschafts- und Kulturgemeinschaft der Menschheit zusammen zu zimmern vermögen die historisch gegebenen nationalen Wirthschaftseinheiten - , nicht allzu voreilig umhauen und für das künftige Gebäude zuzuschneiden versuchen, sondern in ihrem naturgegebenen Wachsthume erhalten 15 und fördern. Es ist ein Vortheil für eine Nation, wenn sie billiges Brod ißt, aber dann nicht, wenn dies auf Kosten künftiger Generationen geschieht.

zutreffend ausgeführt hat, 2 3 sich selber aufhebt. - Z u r Zeit kann meines Erachtens aus der berechtigten Kritik der Bimetallisten am bestehenden Zustand nur die Forderung der Weiterführung einer entschieden nationalen Wirthschaftspolitik folgen. D e r Feind ist der Internationalismus jeder A r t .

22 Anspielung darauf, daß Caprivi den Handelsvertrag mit Rumänien nur mit Unterstützung der Sozialdemokratie und der Freisinnigen Volkspartei im Dezember 1893 im Reichstag durchsetzen konnte. 23 Gemeint sind vermutlich die Ausführungen über Bimetallismus im Rahmen des Artikels über die „Währungsfrage" (Konservatives Handbuch 1 , bes. S. 3 4 8 - 3 5 2 ) . Dieser Artikel ist nicht gezeichnet, doch gehörte Arendt, der Herausgeber des Deutschen Wochenblatts, zu d e m Kreis der engen Mitarbeiter des Konservativen Handbuchs. Es dürfte daher durchaus zutreffen, daß Arendt, der als Währungsfachmann bekannt war, den genannten Artikel verfaßt hat.

[Rezension von:] B[odo] Lehmann, Die Rechtsverhältnisse der Fremden in Argentinien

Editorischer Bericht

Zur Entstehung In den Jahren 1 8 9 3 / 9 4 befaßte sich Max W e b e r intensiv mit den wirtschaftlichen und i n s b e s o n d e r e d e n landwirtschaftlichen Verhältnissen in Argentinien. Anlaß dazu gaben die w a c h s e n d e n W e i z e n e x p o r t e Argentiniens, das infolge d e s Kursverfalls des Pesos auf d e m Weltmarkt und e b e n s o auf d e m d e u t s c h e n Binnenmarkt z u n e h m e n d als Billigproduzent auftrat. Bereits im zweiten Teil seiner Artikelfolge „ D i e E r h e b u n g des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter" v o m 15. Januar 1893 gab er eine kurze S c h i l d e r u n g der argentinischen Zustände. 1 Im Januar und Februar 1894 erschienen zwei Artikel v o n ihm über „ A r g e n t i n i s c h e Kolonistenwirthschaft e n " , 2 in d e n e n er die Wirtschaftsweise eines d e u t s c h e n Kolonisten in Argentinien untersuchte und mit der d e u t s c h e r Landwirte, i n s b e s o n d e r e in Ostelbien, verglich. In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g befaßte sich Weber auch mit der Schrift über „ D i e Rechtsverhältnisse der Fremden in A r g e n t i n i e n " . 3 Der Verfasser dieser U n t e r s u c h u n g , Bodo Lehmann, war von 1886 bis 1889 zunächst d e u t s c h e r Vizekonsul, dann Konsul in B u e n o s Aires, 4 w o er die Verhältnisse aus nächster Nähe studieren konnte. Die näheren U m s t ä n d e der Entstehung der Rezension Max W e b e r s und der Publikation in der Zeitschrift für das G e s a m m t e Handelsrecht, die von W e b e r s e h e m a l i g e m Handelsrechtslehrer in Berlin, Levin Goldschmidt, h e r a u s g e g e b e n w u r d e , sind nicht bekannt.

1 Siehe oben, S. 128f. 2 Siehe oben, S. 286-303. 3 Lehmann, Bodo, Die Rechtsverhältnisse der Fremden in Argentinien. - Buenos Aires: Compania Sud-Americana de Billetes de Banco 1889. In Deutschland wurde dieser Band von Kittler's Sortimentsbuchhandlung, Hamburg, und von Hermann Bahr, Berlin, vertrieben. 4 Dies geht aus den Akten des Auswärtigen Amtes hervor. ZStA Potsdam, Auswärtiges Amt, Nr. 52770-52772.

Editorischer

Bericht

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Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der A b d r u c k folgt d e m Text, der in der Zeitschrift für das G e s a m m t e Handelsrecht, hg. von Levin G o l d s c h m i d t u.a., Stuttgart, 42. Band, 1894, S. 3 2 6 - 3 2 7 , am 13. Januar 1894, 1 erschienen ist (A). D e m Text geht im Original eine offensichtlich v o m Herausgeber der Zeitschrift für das G e s a m m t e Handelsrecht hinzugefügte „ V I I . " , also siebte Rezension, voraus. Die Rezension ist g e z e i c h n e t : „Charlottenburg.

Max Weber".

1 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige, Leipzig, Nr. 10 vom 13. Jan. 1894, S.266.

[Rezension von:]

B[odo] Lehmann. Die Rechtsverhältnisse der Fremden in Argentinien. 8. (148 S.) Buenos Aires 1889 (Berlin, Hermann Bahr). Der Verfasser verfolgt mit der verdienstlichen und anspruchslos auftretenden kleinen Schrift nicht eigentlich wissenschaftliche A 327 Zwecke, sondern | will dem ihm in seiner amtlichen Thätigkeit als Konsul in Buenos Aires entgegengetretenen Bedürfniß einer übersichtlichen Zusammenstellung der für die Fremden wichtigsten Bestimmungen des argentinischen Rechts genügen. Die Darstellung, welche mit einer kurzen historischen Einleitung beginnt und dann nach einander die Verfassung und die staatsrechtliche Stellung des Fremden, das Eherecht, das materielle bürgerliche Recht, die Behördenorganisation und das Civilprozeßrecht, Strafgesetzgebung 3 und Strafprozeß, die geltenden Staats-, speziell Handelsverträge, speziell das Auslieferungsverfahren, endlich einige „praktische Materien", 1 namentlich die bei Eintreibung von Forderungen zu beachtenden Rechtssätze behandelt, läßt erkennen, daß der Verfasser das geltende Recht und die Praxis beherrscht und entspricht dem Zweck der Bearbeitung. In einigen Partien ist sie allerdings inzwischen durch die ziemlich lebhaft fortschreitende Gesetzgebung der letzten Jahre antiquirt. Wünschenswerth wäre eine Behandlung der Rechtsstellung der Kolonisationsgesellschaften und der Bedingungen des Landerwerbes durch Kolonisten gewesen, die Zahl der nicht naturalisirten Kolonisten ist z. B. in der Provinz Entrerios 2 nicht unerheblich, da die Landausbeutung dort meist rein kapitalistisch, nicht als dauernde bäuerliche Ansiedlung von Landwirthen, sondern von Geschäftsleuten je nach den Preiskonjunkturen des Getreides als reiner Raubbau betrieben wird. - Die Staatsschul-

a A: Straßgesetzgebung 1 Vgl. Kapitel VIII der Schrift Lehmanns. 2 Über die landwirtschaftlichen Verhältnisse in der argentinischen Provinz Entrerios berichten auch Max W e b e r s Artikel „Argentinische Kolonistenwirthschaften", oben, S.

286-303.

Rezension von: B. Lehmann

307

den Verhältnisse, welche für uns jetzt im Mittelpunkt des Interesses stehen, zieht der Verfasser nicht in den Bereich der Erörterung. Wie lange die geradezu privilegirte Rechtslage der nicht naturalisirten Fremden in Argentinien noch bestehen bleiben wird, steht 5 dahin; die Bewegung geht in neuester Zeit entschieden auf Beseitigung ihrer Sonderstellung und Aufnahme in den Unterthanenverband, sicherlich zum Heile des Landes, dessen heillos zerrüttetem politischen Leben damit (relativ) gesunderes Blut zugeführt würde. Von der praktischen Bedeutung der formalen Rechtsvorschriften 10 bekommt man naturgemäß aus der Zusammenstellung kein zulängliches Bild. Über die derzeitigen höchst erbärmlichen Zustände der einheimischen Justiz, speziell der jueces de paz, 3 zumal im Innern des Landes, schweigt des Verfassers Höflichkeit aus leicht begreiflichen Gründen.

3 D.h. die Friedensrichter.

Die deutschen Landarbeiter [Korreferat und Diskussionsbeitrag auf dem fünften Evangelisch-sozialen Kongreß am 16. Mai 1894]

Editorischer Bericht Zur

Entstehung

Auf A n r e g u n g Paul Göhres, des Generalsekretärs des Evangelisch-sozialen Kongresses, und Max W e b e r s führte der Evangelisch-soziale Kongreß 1 8 9 2 / 9 3 mit Hilfe evangelischer Geistlicher eine E r h e b u n g über die Lage der Landarbeiter im D e u t s c h e n Reich durch. 1 Paul G ö h r e erwartete v o n der Erhebung, daß die Geistlichen größere Vertrautheit mit ihrer sozialen U m g e b u n g g e w i n n e n w ü r d e n . 2 Max W e b e r h i n g e g e n hoffte auf eine Ergänzung der 1 8 9 1 / 9 2 v o m Verein für Socialpolitik veranstalteten Enquete über die Lage der Landarbeiter. Die Befragung der e v a n g e l i s c h e n Geistlichen versprach objektivere Ergebnisse als die Befragung der ländlichen A r b e i t g e ber; z u d e m hoffte W e b e r , man könne mit Hilfe der Geistlichen über die Feststellung der materiellen L e b e n s b e d i n g u n g e n hinaus mehr über die subjektive, p s y c h o l o g i s c h e Lage der L a n d a r b e i t e r i n Erfahrung bringen. 3 Ein von G ö h r e und W e b e r ausgearbeiteter Fragebogen 4 w u r d e im Januar 1893 in 1 5 0 0 0 Exemplaren aus praktischen G r ü n d e n an alle und nicht nur an die ländlichen Pfarrämter des Reiches verschickt; rund t a u s e n d k a m e n

1 Zur Vorgeschichte der Erhebung und der Rolle Max Webers siehe auch folgende Artikel Webers einschließlich der Editorischen Berichte: „,Privatenqueten' über die Lage der Landarbeiter" (oben, S. 71-105), „Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands" (oben, S. 208-219), „Monographien von Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter" (oben, S. 272-281) und „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands" (unten, S. 687-711). 2 Vgl. Göhres Artikel: „Die,Evangelisch-sozialen Zeitfragen'",in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 1 vom 24. Nov. 1891, S. 4. 3 Weber, Max, „.Privatenqueten' über die Lage der Landarbeiter", oben, S. 78. 4 In diesem Band im Rahmen der „Vorbemerkung" Webers zu „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands" abgedruckt, unten, S. 694-705.

Editorischer

Bericht

309

beantwortet wieder zurück. 5 Im Sommer 1893 begannen Göhre und Weber mit der Bearbeitung dieses Materials.6 Während Göhre die Berichte aus dem Süden und dem Westen auswerten wollte, übernahm Weber die Auswertung der Berichte über die ostelbischen Gebiete sowie die Provinz Sachsen und Anhalt. 7 Erste, vorläufige Ergebnisse trugen Weber und Göhre auf dem fünften Evangelisch-sozialen Kongreß in Frankfurt am Main am 16. Mai 1894 vor. 8 Ihren Referaten war am Vormittag der Vortrag des orthodoxen Greifswalder Theologen Hermann Cremer über „Die soziale Frage und die Predigt" vorausgegangen. 9 Cremer hatte bereits Anfang 1892 scharfe Kritik an Paul Göhre geübt, weil dieser drei Monate lang incognito als Handwerksbursche bzw. Facharbeiter die Lage der Industriearbeiter in Sachsen aus nächster Nähe studiert und darüber publiziert hatte. Diese Kritik hatte Max Weber zur Unterstützung Göhres auf den Plan gerufen. 10 Unter diesen Umständen sorgte die Tatsache, daß sich an Cremers Referat am Nachmittag des 16. Mai die Referate Paul Göhres und Max Webers anschlössen, für einige Spannung unter den Zuhörern. Als erster sprach Paul Göhre. 11 Da die Auswertung des Materials noch nicht weit gediehen war, entschloß er sich dazu, „in großen Zügen ein Bild von der Lage der deutschen ländlichen Arbeiter" 1 2 zu entwerfen und daraus die aus seiner Sicht entscheidenden Forderungen für eine Besserung der Lage der Landarbeiter zu ziehen. Nach einer kurzen Darstellung der Landarbeiterverhältnisse im gesamten Reich kam er zu der Feststellung, daß es eine Landarbeiterfrage im engeren Sinne nur in den Gebieten östlich der Elbe gebe. In enger Anlehnung an Webers Thesen schilderte er sodann den Zerfall der althergebrachten Arbeitsverfassung im Osten, die auf der Inter-

5 Göhre, Paul, Die deutschen Landarbeiter, in: Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Frankfurt am Main am 16. und 17. Mai 1894. - Berlin: Rehtwisch & Langewort 1894, S. 43. 6 Ebd. Zum Verbleib des Materials siehe den Editorischen Bericht zu „ Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands", unten, S. 689, sowie die Einleitung zum vorliegenden Band, S. 23f. 7 Göhre, Landarbeiter, S. 43f. 8 Eine spätere Veröffentlichung der endgültigen Ergebnisse der Enquete durch Weber und Göhre ist nicht zustandegekommen. Weber beauftragte mit der Auswertung eine Reihe seiner Schüler in Heidelberg. Siehe dazu den Editorischen Bericht zu „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands", unten, S. 688f. 9 Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 11 22.

10 Siehe Max Webers Artikel „Zur Rechtfertigung Göhres" und den dazugehörigen Editorischen Bericht, oben, S. 106-119. 11 Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 4 3 - 6 1 . 12 Ebd., S. 45.

Die deutschen

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Landarbeiter

e s s e n g e m e i n s c h a f t von Gutsherr und Hintersassen beruht habe. Die Folgen dieses Zerfalls, die massenhafte A b w a n d e r u n g der Einheimischen gen Westen, der Nachzug von polnischen und russischen Wanderarbeitern und die fortschreitende V e r e l e n d u n g der v e r b l e i b e n d e n d e u t s c h e n Arbeiterfamilien erfordere die Intervention des Staates z u g u n s t e n einer Bauernkolonisation „ i m großen Stile, planmäßig, d i s t r i k t w e i s e " . 1 3 Das letzte Ziel m ü s se, und darin gipfelte der Vortrag G ö h r e s , „die V e r d r ä n g u n g des großen G r u n d b e s i t z e s " , 1 4 die „ V e r n i c h t u n g der Vorherrschaft des östlichen Großg r u n d b e s i t z e s " 1 5 sein. Im A n s c h l u ß daran sprach Max W e b e r . 1 6 W ä h r e n d G ö h r e ganz unbefangen konkrete politische Forderungen aufgestellt hatte, nahm W e b e r in seinem - unten abgedruckten - Korreferat „ D i e d e u t s c h e n Landarbeiter" eine vorsichtigere Haltung ein. Er bezweifelte, ob eine Bauernkolonisation großen Stils Erfolg haben könne, und distanzierte sich v o n G ö h r e s scharf formulierter Forderung nach einer „ V e r n i c h t u n g der Vorherrschaft des östlichen G r o ß g r u n d b e s i t z e s " . Das Protokoll v e r m e r k t e am Ende s e i n e s Vortrags: „Langanhaltender Beifall." D e n n o c h fehlte es nicht an kritischen S t e l l u n g n a h m e n , insbesondere stieß W e b e r s Forderung nach Einführung der Koalitionsfreiheit auch für Landarbeiter k e i n e s w e g s nur auf G e g e n l i e b e . In der sich anschließenden Debatte w u r d e erstmals in aller Schärfe deutlich, wie tief die Kluft z w i s c h e n den „ J ü n g e r e n " der evangelisch-sozialen B e w e g u n g unter der Führung Friedrich Naumanns, Paul G ö h r e s und Max W e b e r s einerseits und den „ Ä l t e r e n " andererseits bereits war. Die sozialkonservativ und patriarchalisch ausgerichtete G r u p p e um A d o l p h Wagner, Adolf Stoecker und den V o r s i t z e n d e n des Evangelisch-sozialen Kongresses, Moritz A u g u s t Nobbe, zeigte sich über die Forderungen der „ J ü n g e r e n " schier entsetzt. Als erster ergriff Nobbe das Wort, um seinen Unwillen g e g e n ü b e r G ö h r e s Forderung nach Beseitigung des G r o ß g r u n d b e s i t z e s und W e b e r s Forderung nach Koalitionsfreiheit für die Landarbeiter z u m A u s d r u c k zu bringen. In den beiden Referaten, so Nobbe, hätte z u d e m eher die Individualität der beiden Redner als die Sachlage als solche ihren Niederschlag gefunden. Sofern die Resultate der Enquete mit den Vorträgen G ö h r e s und W e b e r s erschöpft sein sollten, so bleibe bei ihm ein Gefühl des „ U n g e n ü g e n d e n " z u r ü c k . 1 7 Im Anschluß daran meldete sich ein uns nicht näher bekannter Pfarrer aus P o m m e r n zu Wort, der sich m i t d e r W e b e r s c h e n Forderung nach

13 14 15 16 17

Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 58. S. 59. S. 6 1 - 8 2 . S. 8 2 - 8 6 . ZitatS. 82.

Editorischer

Bericht

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Einführung der Koalitionsfreiheit für Landarbeiter zwar prinzipiell einverstanden erklärte, eine Organisation der Landarbeiterschaft in evangelischen Arbeitervereinen j e d o c h weit v o n sich wies. 1 8 Bevor einer der f ü h r e n d e n Vertreter des G e s a m t v e r b a n d e s evangelischer Arbeitervereine Deutschlands, Pfarrer T h e o d o r Werth aus Schalke, das Wort zu e r g ä n z e n d e n Bem e r k u n g e n über die Polenfrage ergriff, 1 9 verteidigte A d o l p h Wagner auf das Entschiedenste die Verdienste des G r o ß g r u n d b e s i t z e s in PreußenDeutschland und verlangte zu d e s s e n Erhaltung und Stärkung eine Erhöhung der Kornzölle. 2 0 A n s c h l i e ß e n d w u r d e den Referenten, als erstem Weber, Gelegenheit zu einer abschließenden S t e l l u n g n a h m e g e g e b e n . 2 1 Weber faßte seinen Standpunkt in d e m unten a b g e d r u c k t e n Diskussionsbeitrag n o c h m a l s prägnant z u s a m m e n . Bei den Angriffen von Seiten der s o g e n a n n t e n „ Ä l t e r e n " auf d e m fünften Evangelisch-sozialen Kongreß blieb es nicht. In der Folge begann die konservative und regierungsoffiziöse Presse einen regelrechten Feldzug g e g e n Weber und Göhre, g e g e n den sich ersterer in s e i n e m Artikel „ Z u m Preßstreit über den Evangelisch-sozialen K o n g r e ß " 2 2 zur Wehr setzte.

Zur Überlieferung

und Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der A b d r u c k erfolgt nach den stenographischen Protokollen: Bericht über die V e r h a n d l u n g e n des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Frankfurt am Main am 16. und 17. Mai 1894. - Berlin: Rehtwisch & Langewort 1894 (A), die am 16. A u g u s t 1894 erschienen. 1 Das hier w i e d e r g e g e b e n e Korreferat W e b e r s findet sich dort unter der auch den v o r a n g e h e n d e n Vortrag Paul G ö h r e s u m f a s s e n d e n Überschrift „ D i e d e u t s c h e n Landarbeiter", S . 6 1 - 8 2 ; der sich daran anschließende Diskussionsbeitrag W e b e r s befindet sich S. 9 2 - 9 4 . Das Referat wird eingeführt mit: „ Darauf erhält das Wort z u m Korreferat Professor Dr. Max Weber-Berlin:" Der Diskussionsbeitrag wird eingeleitet mit: „Prof. Dr. Max Weber." Es darf davon a u s g e g a n g e n w e r d e n , daß Max Weber Gele-

18 Lüd., S. 86f. 19 Ebd., S. 91 f. 20 Ebd., S. 8 7 - 9 1 . 21 Ebd., S. 9 2 - 9 4 . 22 In diesem Band abgedruckt, unten, S. 4 6 3 - 4 7 9 . 1 WöcherrttiCtnes Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels, Nr. 33 vom 16. Aug. 1894, S. 769.

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genheit hatte, die Protokolle vor der D r u c k l e g u n g d u r c h z u s e h e n , z u korrigieren und somit z u autorisieren. S o w u r d e z u m i n d e s t später im E v a n g e l i s c h - s o z i a l e n K o n g r e ß verfahren. 2

2 Brief des späteren Generalsekretärs Schneemelcher an Martin Rade vom 21. Sept. 1903, Nl. Martin Rade, UB Marburg.

Die deutschen Landarbeiter [Korreferat]

Meine Damen und Herren ! Mein Freund Göhre hat meine Verdienste um die Enquête in einer Weise hervorgehoben, gegen die ich mich verwahren muß. Die Art, wie die Enquête veranstaltet wurde, und daß sie überhaupt zustande kam, ist ausschließlich sein Verdienst. Ich habe ihm in technischen Fragen zur Seite stehen können, mehr nicht. - Ich habe sodann auch meinerseits mit dem Ausdruck des Bedauerns zu beginnen, daß wir Ihnen heute von den Ergebnissen der Erhebung nicht mehr verarbeitetes Zahlenmaterial vorlegen können, namentlich daß wir noch nicht mit dem Druck des Materials haben beginnen können. Ich denke, daß das in einigen Monaten geschehen sein wird.1 Auf den Versuch, Ihnen hier mündlich Einzelheiten und ziffermäßige Zusammenstellungen vorzuführen, muß ich selbstverständlich verzichten - ich wüßte in der That nicht, wie das geschehen sollte. Ich könnte Ihnen allenfalls einen recht beträchtlichen Stoß Tabellen und Zusammenstellungen aus den bereits verarbeiteten Berichten hier auf diesen Tisch legen, über dessen Umfang Sie vielleicht erstaunen würden, aber damit wäre für unsere heutige Auseinandersetzung nichts gewonnen. | Es sind, wie Göhre vorhin gesagt hat, zwingende äußere Gründe A 62 und persönliche Verhältnisse gewesen, die uns gehindert haben, weiter zu kommen. Ich würde mich überdies sogar mit fremden Federn schmücken, wenn ich nicht hervorhöbe, daß auch derjenige Teil der Arbeit, welcher bereits erledigt ist, nicht zustande gekommen wäre ohne die energische Mithülfe eines Mitgliedes unserer neuen Frauengruppe, nämlich meiner Frau. 3 2 - Was ich heute hier a In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit.)

1 Siehe den Editorischen Bericht, oben, S. 309, Anm. 8. 2 In der Ausschußsitzung der Frankfurter Tagung wurde die Zulassung von Frauen zur Mitarbeit beschlossen. Marianne Weber gehörte der sich erst im Herbst 1894 offiziell konstituierenden evangelisch-sozialen Frauengruppe unter der Leitung von Elisabeth Gnauck-Kühne an. Eger, Hans, Der Evangelisch-Soziale Kongreß. - Leipzig: M. Heinsius 1931, S. 52f.

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unternehmen kann, ist in Ergänzung von Göhres Darstellung der allgemeinen Lebensbedingungen der Landarbeiterschaft, die ich in allen Hauptpunkten für richtig anerkenne, die Bedeutung der Fragen, über welche wir aus dem Material unserer Erhebungen Belehrung schöpfen wollen, zu charakterisieren und uns in allgemeinen Zügen wenigstens Rechenschaft zu geben, wie sie sich zu dem, was wir bisher auf diesem Gebiete gewußt haben, verhält. Wenn ich da nun zunächst auch meinerseits einige Bemerkungen in Ergänzung dessen, was Göhre über die allgemeine Bedeutung der Enquête sagte, machen darf, so möchte ich noch mehr, als er es gethan, hervorheben, daß ich das Zustandekommen der Erhebung als eine Errungenschaft begrüße, ganz unabhängig von der Frage, was an neuem, thatsächlichem Material dabei herauskommt, schon wegen des eigenartigen Charakters der Vertrauensmänner, deren Mitarbeit wir dabei in Anspruch genommen haben. Mitgearbeitet hat eine Personenklasse, die in unserm Staate bisher überhaupt noch nie zu Worte gekommen ist, und welche deshalb die Gesetzgebung bisher konsequent ignoriert hat: die deutschen Landarbeiter. Wir haben von den Berichterstattern verlangt, daß sie grundsätzlich nur persönlich ihnen gemachte Angaben der Arbeiter uns übermitteln sollten, und wir sehen aus den Berichten, daß das in umfassendem Maße geschehen ist. Die Landgeistlichen haben uns zum erheblichen Teil gewissenhaft darüber informiert, in welcher Art sie die Berichte aufgenommen haben. Teils haben sie die Arbeiter ihres Dorfes zusammengenommen und mit ihnen kollegialisch verhandelt, teils haben sie den Weg der ambulanten Einzelausfrage gewählt. Jedenfalls haben wir eine Fülle von Angaben aus Arbeitermund vor uns. Ich habe aber ferner noch einer ganz persönlichen Genugthuung Ausdruck zu geben über das Ergebnis der Arbeiten der Herren Landgeistlichen selbst. Als wir seinerzeit vor dem Projekt standen, ist uns von guten Freunden und solchen, die es zu sein vorgaben, erklärt worden, wir würden eine erbärmliche Blamage erleben bei dem Appell an die Landgeistlichen; die Enquête würde ein dilettantisches und unsachliches Material bieten; denn der Landgeistliche sei ja ein unpraktischer Mann und kenne die Dinge dieser Welt nicht. Es ist mir eine persönliche Freude, daß die entgegengesetzte AuffasA 63 sung, die wir gehabt haben, sich bestätigt hat. Auch ein andres trat uns entgegen - dies besonders von liberaler Seite: der wohlbekannte Unkenruf, daß durch ein solches Unternehmen und den Hinweis auf

Korreferat

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diese Fragen bei den Geistlichen ein sozialpolitischer Dilettantismus gezeitigt werde. Das ist im Munde gerade derer, die ihn hauptsächlich erhoben, ein Vorwurf seltsamer Art, in einer Zeit, wo über die tiefgreifendsten sozialpolitischen Fragen von einer Versammlung entschieden wird, die zu 2A aus Dilettanten auf diesem Gebiete besteht: dem deutschen Reichstag. 3 Der Erfolg der Erhebung ist schon quantitativ kein geringer. Wir können rechnen, daß 10—15% sämtlicher existierender evangelischer Landgeistlichen sich geäußert haben. 4 Aber nicht der Umfang der Beantwortung des Fragebogens kommt allein in Frage. Wenn ihn die 3—4fach größere Zahl mit Sorgfalt gelesen hat und sich die gestellten Fragen durch den Kopf gehen ließ, dann ist ein in unsren Augen wesentlich wichtigerer Zweck der Enquête erfüllt. Wir haben den Fragebogen vor allem andern auch unter dem Gesichtspunkt ausgearbeitet, das sozialpolitische Denken der Berichterstatter zu schulen, ihnen dazu behülflich zu sein, daß sie sich gewöhnen, in der Fülle der Erscheinungen, die ihnen das Leben täglich zeigt, das für die soziale Entwicklung dauernd Wichtige von dem Vorübergehenden, Unwichtigen unterscheiden zu können. Denn das ist ja doch diejenige spezifische Leistung, die uns Stubengelehrten, die wir die Dinge aus der Vogelperspektive sehen, im Wege der Arbeitsteilung zufällt. Es wird uns so oft auch in den Berichten entgegengehalten, daß die Herren, die inmitten des praktischen Lebens stehen, die Gutsbesitzer in ihrer Wirtschaft, die Geistlichen in ihrer Landgemeinde, den Erscheinungen näher stehen, als wir „am grünen Tisch". Das ist ganz richtig, und in dieser unmittelbaren Beschauung des Konkreten können wir nicht mit ihnen konkurrieren. Aber etwas geht ihnen ab, was der Büchergelehrte, in dessen Hand die Berichte aus dem ganzen Reich zusammenlaufen, leisten kann: das ist der

3 Weber bezieht sich hier am Beispiel des deutschen Reichstags und der Sozialgesetzgebung auf die Tatsache, daß In den modernen Parlamenten nicht Fachleute, sondern Politiker, die in rein fachlicher Beziehung als Dilettanten zu gelten haben, über alle wesentlichen Fragen entscheiden. 4 Max Weber veranschlagte die Zahl der evangelischen Landgeistlichen im Deutschen Reich auf 9000. Weber, Max, Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands, oben, S. 217. Aus organisatorischen Gründen waren aber Fragebögen an sämtliche, nicht nur an ländliche Pfarrer im Deutschen Reich verschickt worden. Von diesen 15000 versandten Fragebögen wurden rund 1000 beantwortet. Wie oben, S. 309, Anm. 5.

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Überblick über die relative Bedeutung der konkreten Erscheinungen für die Gesamtentwicklung. Dazu stehen sie eben den Dingen zu nahe - Vorgänge erscheinen ihnen riesengroß und von überragender Bedeutung, die in lokalen Verhältnissen ihren Grund haben und im großen Zusammenhang verschwinden. - Es ist dem Fragebogen besonders oft in den Berichten auch der Vorwurf gemacht worden: „diese oder jene Frage paßt nicht für unsre Verhältnisse, die kennt ihr Theoretiker nicht". Das kommt vor allem daher, daß wir einen einheitlichen Fragebogen für das ganze Reich haben ausarbeiten müssen. Das war im Gegensatz zu meinem Antrag aus dem - wie ich zugeben muß - entscheidenden Grunde b beschlossen worden, weil A 64 die Veranstaltung örtlich beschränkter Erhebungen dem | Charakter des Kongresses widerspräche und Mißstimmung hervorrufen würde. 5 Wenn ich nun versuche, die Ergebnisse dieser Enquête, soweit ich das Material bisher genauer durchgearbeitet habe - das heißt für den größten Teil Ostdeutschlands - in einigen allgemeinen Zügen mit dem in Verbindung zu setzen, was wir bisher über die dortigen Landarbeiterverhältnisse wußten, so kommt in erster Linie in Frage: wie stellt sich die Angabe der Berichterstatter zu den Ergebnissen der gleich umfassenden Enquête des Vereins für Sozialpolitik? Da ist denn - soviel ich bisher sehe - zu sagen: Grundsätzliche, große Abweichungen von den Kenntnissen, die wir bereits aus dieser Enquête geschöpft hatten, hat sie nicht gebracht. Abweichungen sind vorhanden z. B. teilweise - aber auch nur teilweise - in den Lohnsätzen, und das habe ich nicht anders erwartet. Denn es betrifft Fälle, wo ich bei Bearbeitung der Berichte der vorigen Enquête schon die Angaben als nicht ganz zuverlässig behandelt habe. Wenn man im Lauf der Zeit rund 1000 Berichte über denselben Gegenstand durcharbeitet, bekommt man doch einen einigermaßen sicheren Blick dafür, ob ein Bericht glaubhaft und wahrscheinlich ist oder nicht. b A: Grunde, 5 Weber bezieht sich hier offensichtlich auf die B e s p r e c h u n g e n des Fragebogens im Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen K o n g r e s s e s im Herbst 1892. In m e h r e r e n Sitzungen w u r d e hier der ursprüngliche Entwurf Webers und G ö h r e s einer Kritik vor allem durch Moritz A u g u s t N o b b e und A d o l p h Wagner unterzogen. Weber, Max, Die Erhebung des Evangelisch-sozialen K o n g r e s s e s über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands, oben, S. 21 Of.

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Nicht also einen Gegensatz gegen die Resultate der früheren Erhebung, sondern eine Ergänzung, aber teilweise eine Ergänzung in recht wichtigen Punkten, finden wir in unserm Material. Um Ihnen nun heute doch ein Bild zu geben, in welcher Richtung sich die im Werke befindliche Verarbeitung unseres Materials zur Zeit bewegt, so will ich folgendes hervorheben: die Enquête des Evangelischsozialen Kongresses hat uns, was die Enquête des Vereins für Sozialpolitik unterlassen hat, Zahlen geboten, die sich auf die soziale Schichtung der ländlichen Arbeiterschaft beziehen, indem sie ziffernmäßig das relative Vorkommen der Arbeiter der einzelnen Kategorien auf den einzelnen Gütern und in den einzelnen Gemeinden erkennen lassen. Wir haben ferner Ziffern erhalten, welche die Lebensmittelpreise im Detailverkehr des platten Landes, und solche, welche die Bodenpacht angeben. Wir haben nun in den Gemeindelexika 6 und den sonstigen amtlichen Materialien in Preußen Zahlen, welche uns gleichfalls die einzelnen Gemeinden vorführen nach der Zahl ihrer Haushalte und nach der Qualität ihrer Äcker, und es ist nun die, wie Siec mir ohne weiteres zugeben werden, recht zeitraubende Arbeit zu machen, die Ziffern, welche unsre Enquête ergeben hat, mit diesem Material zusammenzuarbeiten, daraus für die sämtlichen in Frage kommenden Gemeinden und Gutsbezirke das soziale und wirtschaftliche Ensemble, innerhalb dessen sich die Arbeiterschaft befindet, von der die Berichte sprechen, zu ermitteln, und alsdann nach den Zusammenhängen zu forschen, in welchem die Lohnsätze und die Gesamtlage | der Arbeiter, wie sie uns die Berich- A te darstellen, mit jenen Grundlagen etwa stehen könnten. Nun, meine Herren, wenn ich mich auch darüber aussprechen soll, was für Ergebnisse bei diesen Untersuchungen ungefähr herauskommen werden, so kann ich das hier nur in wenigen Umrissen versuchen. Mit einer allgemeinen Eigentümlichkeit agrarischer Erhebungen haben wir zu rechnen: gerade die wichtigsten Ergebnisse werden einen rein negativen Charakter haben; wir werden in besonders c A: sie 6 Gemeint ist das 1887/88 in 13 Bänden erschienene „Gemeindelexikon für das Königreich Preußen". Es wurde hauptsächlich auf der Grundlage der Materialien der Volkszählung von 1885 erstellt. Es ist nach Städten, Landgemeinden und Gutsbezirken geordnet und enthält Angaben zum Flächeninhalt, zum Grundsteuerreinertrag, zur Bodenart, zur Bevölkerungsdichte und zur Konfession.

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vielen Fällen, wo wir einen bestimmten Zusammenhang theoretisch erwarten zu müssen glaubten, entdecken, daß dieser Zusammenhang nicht besteht. Das ist gerade das Charakteristikum von Erhebungen auf dem platten Lande, daß sie durch solche negative Resultate, die uns zunächst enttäuschen könnten, bestimmte nationalökonomische Vorurteile widerlegen. Das Land, die Erhebungen über die Verhältnisse der ländlichen Arbeiter sind es gewesen, die das berüchtigte „eherne Lohngesetz" 7 als praktisch nicht geltend exakt nachgewiesen haben - ein Verdienst des Herrn Freiherrn von der Goltz mit seiner Enquête aus dem Anfang der 70er Jahre. 8 Auch unsere Enquête wird - soviel kann ich schon jetzt sagen - in ähnlicher Art, wie diejenige des Vereins für Sozialpolitik, ergeben, daß eine große Anzahl von Momenten, welche man als maßgebend für die Höhe der Löhne der Landarbeiter und ihre materielle Lage überhaupt voraussetzen würde, nur in beschränktem Maße und in zweiter Linie, nicht fundamental, in Betracht kommen. Dahin gehören z.B. die Lebensmittelpreise. Keine Spur von Parallelismus der Lebensmittelpreise und der Lohnhöhe, auch nicht in großen Bezirken. Hohe Lebensmittelpreise in Schlesien, niedrige in Ostpreußen und Pommern und gerade umgekehrt das Verhältnis der Löhne. Bei der Bodengüte zeigt sich dasselbe Verhältnis. Ausgezeichnete Bodenqualität in Nieder- und Mittelschlesien, aber miserable Löhne; erbärmlicher Boden in Pommern und dabei relativ hohe Löhne. Daß ferner das Maß der Intensität der landwirtschaftlichen Kultur des Bodens keineswegs identisch sei mit der Höhe der Lebenshaltung der Arbeiter, das habe ich schon auf Grund der früheren Erhebun-

7 Ferdinand Lassalle prägte In Anknüpfung an die Lohntheorien David Ricardos und Karl Marx' den Begriff des „ehernen Lohngesetzes". Lassalle ging dabei davon aus, daß sich der Arbeltslohn jeweils auf den Satz einpendeln würde, der nötig sei, um den Arbeiter auf dem unentbehrlichen Subsistenznlveau zu halten, das zu seiner Reproduktion erforderlich sei; demgemäß seien alle Versuche, die soziale Lage der Arbeiterschaft mit sozialpolitischen Maßnahmen zu verbessern, auf die Dauer erfolglos. Lassalle, Ferdinand, Offnes Antwortschrelben an das Central-Comité zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeitercongresses zu Leipzig. - Zürich: Meyer & Zeller 1863, S. 15f. 8 1873 wurde auf Anregung des Kongresses deutscher Landwirte unter der Leitung von Theodor Freiherr von der Goltz eine Erhebung über die ländlichen Arbeiterverhältnisse durchgeführt. Die Ergebnisse wurden 1875 von von der Goltz In seinem Werk „Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich" veröffentlicht.

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gen behaupten zu sollen geglaubt 9 und mir dadurch den Vorwurf, in wirtschaftlichen Dingen „reaktionär" zu sein, von guten Freunden zugezogen. 1 0 Diese Behauptung - wenigstens, so viel ich bisher sehe - wird durch unsere Enquête bestätigt. Diese negativen Resultate, die also darauf hinweisen, daß diejenigen Momente, die ich soeben hier in Betracht zog, nicht in erster Linie die Lage der Landarbeiter bestimmen, ergeben im Zusammenhalt mit anderen Umständen und mit positiven Ergebnissen der Enquête einen ziemlich sicheren Schluß darauf, welches Moment dann das entscheidende ist für das Schicksal und die Gesamtlage der Arbeiter. Es ist das die historisch erwachsene soziale Schichtung der Bevölkerung | auf dem Lande. A 66 Das Kausalverhältnis kehrt sich hier einmal wenigstens teilweise um. Wir sind durch unsere moderne wissenschaftliche Methode gewöhnt worden, technisch-ökonomische Bedingungen und Interessen grundsätzlich als das Prius anzusehen und daraus die soziale Schichtung und die politische Gestaltung eines Volkes abzuleiten. Diese Methode behält selbstverständlich auch für das Land ihr gutes Recht, allein wir sehen hier einmal besonders deutlich, daß es sich um Wechselwirkungen handelt, bei denen den rein ökonomischen Momenten keineswegs die führende Rolle zukommt. Die A r t der Bevölkerungsgruppierung, die Betriebs- und Bodenverteilung, die Rechtsformen der Arbeitsverfassung innerhalb der einzelnen Bezirke sind von unendlich viel entscheidenderer Bedeutung für die materielle und sozialethische Lage, die gesamte Lebenshaltung der Landarbeiter, als etwaige Unterschiede in der Gunst oder Ungunst der ökonomischen Bedingungen, unter denen die Landwirtschaft in den einzelnen Gegenden arbeitet, oder als das Verhältnis der Erträge bestimmter Betriebsformen zu einander. Jene sozialen Schichtungsverhältnisse sind es, welche die Lebenshaltung der Arbeiter und als Folge dieser Lebenshaltung - nicht umgekehrt - ihren Lohn, ihre gesamte wirtschaftliche Lage fast ausschließlich bestimmen. Nun, meine Herren, welches sind denn ganz allgemein gesprochen diejenigen sozialen Momente, welche vom Standpunkt der Arbeiter

9 Weber, Landarbeiter, S. 779 (MWG I/3, S. 900), und Webers Diskussionsbeitrag auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 20. März 1893, oben, S. 203. 10 Gemeint ist Webers Kritiker Karl Kaerger, der in seiner Schrift „Die Arbeiterpacht" (S.33) behauptete, Webers Feststellung hätte „leicht reaktionäre Strömungen veranlassen können", wäre sie unwidersprochen geblieben.

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aus günstig, und welche ungünstig wirken? Da finden wir auf dem platten Lande einen merkwürdigen Gegensatz gegen die Verhältnisse der Industrie. In der Industrie kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die wirtschaftlich höchststehende Schicht von denjenigen Industriearbeitern gebildet wird, welche am vollständigsten als reine Lohnarbeiter proletarisiert und am meisten als gesonderte Klasse abgeschieden und damit zum Klassenbewußtsein gelangt sind. Alle Mischformen sind hier anachronistische Reste aus der Vergangenheit und dem chronischen Siechtum verfallen: so, ganz überwiegend wenigstens, die Hausindustrie und große Teile des Handwerks. Das Umgekehrte sehen wir auf dem platten Lande. Hier zeigt sich, soweit wir urteilen können, auf Grund des Materials, daß die soziale Isolierung in Verbindung mit der Proletarisierung der Landarbeiterschaft unter den gegenwärtigen Verhältnissen dasjenige Moment ist, welches die schwersten wirtschaftlichen Nachteile für die Arbeiter mit sich bringt, sie am tiefsten relativ und absolut herunterdrückt. Wo noch gemeinwirtschaftliche Reste vorhanden sind, wo der Anschluß nach oben am wenigsten verloren gegangen ist, wo eine proletarisch abgeschlossene Klasse von reinen Lohnarbeitern, die in ihrer Gesamtphysiognomie den Charakter der Industriearbeiterschaft an sich trägt, in der kleinsten Relativzahl vorhanden ist: da sind die Verhältnisse für die Arbeiter am günstigsten, am ungünstigsten aber da, wo A 67 die Masse der Arbeiter, | zu reinen Lohnarbeitern proletarisiert und womöglich durch einen Fetzen Bodeneigentum an die Scholle gekettet, der wirtschaftlichen Übermacht gewaltiger Grundherren schutzlos preisgegeben sind. Wenn wir uns nach dem Süden und Westen Deutschlands wenden, so finden wir, daß die günstigsten Verhältnisse für die Arbeiter diejenigen in den Allmendgemeinden sind, da, wo die Aufteilung des Gemeindelandes zu Privateigentum am wenigsten fortgeschritten ist, wo die tagelöhnernden Kleinbesitzer an der gemeinschaftlichen Benutzung des Gemeindelandes einen Rückhalt haben, einen unverbringlichen Anteil am Boden der Heimat, der sie in den Kreis der Gemeindegenossen stellt.11 Dort finden wir auch das stärkste Heimatsgefühl der Arbeiterschaft, eine Anhänglichkeit an den Boden 11 Im Gegensatz zu Preußen blieben in Teilen Süd- und Südwestdeutschlands die Allmenden mit ihrem gemeinwirtschaftlichen Charakter weitgehend erhalten und wurden nicht aufgeteilt.

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des väterlichen Dorfes, so stark, daß der ausgezeichnete Leiter der badischen Domänenverwaltung glaubt, von „Schollenkleberei" sprechen zu müssen. 12 Könnten wir doch etwas von dieser „Schollenkleberei" in die Arbeiterschaft des Ostens hineintragen! In Preußen ist diesem Zustande der Allmendwirtschaft, der Beteiligung der Tagelöhner als Genossen an der Benutzung des Gemeindelandes seinerzeit ein gewaltsames Ende bereitet worden. Die Hemmung der rein technischen Produktionsinteressen, welche diese gemeinwirtschaftliche Gebundenheit mit sich brachte, fiel dem wirtschaftlichliberalen preußischen Gesetzgeber aus dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts in die Augen, und mit geradezu fanatischem Zorn hat er im Wege der Gemeinheitsteilung, der Verkoppelung und Separation die Allmenden gesprengt, das Land verteilt und damit die Arbeiter aus der Teilnahme an dem gemeinschaftlichen Besitz herausgesetzt. 13 Es ging das bekannte Wort unter den Arbeitern in den 40er Jahren, daß durch die Separationen die Bauern zu Edelleuten und die Landarbeiter zu Bettlern und Knechten geworden seien, 14 und dieses Wort hat seine tiefe Berechtigung. Nun, meine Damen und Herren, in wirtschaftlicher Beziehung verwandt waren, vom Standpunkt der Arbeiter aus, mit jenen Allmenddörfern die östlichen, patriarchalischen Gutswirtschaften, wie sie Ihnen Göhre geschildert hat. 15 Wirtschaftlich, auf ihre materielle Lage wirkte diese gemeinwirtschaftliche Arbeitsverfassung ähnlich und wirkt noch jetzt so, wo sie besteht. Die günstigsten Verhältnisse herrschen auf dem Lande in Mecklenburg und der sogenannten Holsteinschen Grafenecke, 1 6 wo die alte patriarchalisch-gemeinwirtschaftliche Arbeitsverfassung noch am vollständigsten erhalten ist, teilweise erhalten ist durch staatlichen Zwang, wie in Mecklenburg, wo die Tagelöhner 1848 den

12 Es handelt sich um den Direktor der badischen Domänenverwaltung Ferdinand Lewald. Vgl. Hof- und Staats-Handbuch des Großherzogthums Baden. 1892. - Karlsruhe: G.Braun o.J., S.433; dass. 1893, S.154, und 1896, S.548. Das Zitat konnte nicht nachgewiesen werden. 13 Gemeint ist die preußische Agrarpolitik im Zusammenhang mit der Gemeinheitsteilungsordnung vom 7. Juni 1821. Vgl. oben, S. 95, Anm. 11. 14 Als Zitat nicht nachgewiesen. 15 Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 5 2 - 5 4 . 16 Gemeint ist die Ostküste Schleswig-Holsteins, an der im Gegensatz zu den übrigen Regionen Schleswig-Holsteins der Großgrundbesitz dominierte.

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Gutsherren die Erhaltung ihrer alten Gerechtsame abtrotzten: 1 7 Anteil am gutsherrlichen Acker, Anteil am Ertrage seiner Ernte, Anteil namentlich an dem Weideland des Gutes schlingen hier ein festes Band wirtschaftlicher Interessengemeinschaft um Herrn und Arbeiter. Auch hier ist der Arbeiter Flurgenosse. Der Unterschied gegen den Süden ist, daß er diese Gerechtsame im Gutsland, nicht im A 68 Gemeindeland | hat, aber im übrigen ist ein solcher Gutstagelöhner rein wirtschaftlich betrachtet - praktisch in der Art seines Einkommens nicht viel anders und im ganzen eher noch günstiger, jedenfalls bezüglich der Höhe der Einkünfte sichrer, gestellt, als ein Mann, der im Süden in einer Gemeinde mit großer Allmende sitzt. Aber da begegnen wir alsbald einer eigenartigen Erscheinung: während wir im Süden die Schollenkleberei haben, ist in Mecklenburg, wo die Löhne so hoch sind, wie nirgends sonst im Osten, die Ab- und Auswanderung in ganz erschreckend hohem Maße vorhanden. Und weiter: Ganz allgemein begegnen wir im Osten der scheinbar seltsamen Erscheinung: gerade die Landarbeiter, denen es materiell am besten geht, ziehen in die Stadt und in die Fremde aus den Gegenden, wo der Großgrundbesitz stark vorherrscht. Warum? Es müssen wohl ideelle Momente von übermäßiger Gewalt mitsprechen: es ist die Unmöglichkeit, jemals sich selbst und seine Kinder, wie es im Süden möglich ist, zur Selbständigkeit in der Heimat aufsteigen zu sehen, für alle Zeit im Herrendienst stehen zu müssen, welche diese Leute in die Fremde treibt. Ein uralter Satz, so alt, daß er trivial geworden ist. Aber deshalb ist er dennoch wahr geblieben. Zum ersten Male begegnen wir hier einer eigenartigen psychologischen Konsequenz, welche die Art der Grundbesitzverteilung mit sich bringt. Gewiß, wir haben es d hier, - ich habe das meinerseits stets anerkannt - mit Illusionen zu thun. Denn welches Schicksal erwartet den Mann in der Stadt oder über See? Aber es sind Illusionen, die nicht ignoriert werden dürfen. Sie tragen einen typisch d Fehlt in A; es sinngemäß ergänzt.

17 Anspielung auf die in der Revolution durchgesetzte Verordnung vom 15. Mai 1848 „wegen Einsetzung von Schieds-Commissionen zur Feststellung streitiger Verhältnisse der Hoftagelöhner" (Mecklenburgische Gesetzsammlung, 2. Folge, Band 5, (wie oben, S. 185, Anm. 40), S. 3 8 0 - 3 8 2 ) . Diese Kommissionen erließen Regulative, durch die die gegenseitigen Rechte und Pflichten auf den einzelnen ritterschaftlichen Gütern festgelegt wurden.

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modernen Zug und sind Beispiele dafür, daß es auch im wirtschaftlichen Leben Ideale giebt, deren Macht gewaltiger ist, als die der materiellen Interessen. Aber weiter! D e r Fortschritt der landwirtschaftlichen Betriebsweise führt auch innerhalb der Großbetriebe des Ostens zur Beseitigung der alten, gemeinwirtschaftlichen Elemente in der Arbeitsverfassung. Wie in den separierten Dörfern dem kleinen Besitzer, so wird hier dem Instmann die Viehweide entzogen; mit zwingender Gewalt dringt der Geldlohn in die Arbeitsverfassung ein und sprengt die alte Interessengemeinschaft. D e r moderne Betrieb fordert dazu heraus, die Gutswirtschaft zum Saisongewerbe umzugestalten, Arbeiter heranzuziehen, wenn Bedarf, und sie wieder abzustoßen, wenn die Erntezeit vorüber ist; so entsteht das Wanderarbeitertum: an die Stelle der deutschen Instleute des Ostens tritt das Heer der polnischen Nomaden. Dulden wir das nicht, dann müssen die Großbetriebe aus Arbeitermangel zu Grunde gehen, und die Frage ist nur, wie lange sich dieser chronische Fäulnisprozeß fortsetzt. Besser vielleicht, wenn ihm ein Ende mit Schrecken gesetzt würde. Was ist der Grund dieser Erscheinung? Woher kommt es, daß auf dem platten Lande der technische Fortschritt - denn ein wirtschaftlich-technischer Fortschritt ist ja die Aufteilung der Allmende, | die Einziehung A 69 der Viehweiden, weil sie eine viel intensivere Ausnutzung der Bodenkräfte zuläßt - woher kommt es, daß dieser technische Fortschritt zur Verschärfung der sozialen Gegensätze führt? Eine gänzlich eigenartige Erscheinung ist das ja nicht; es ist eine Erscheinung, die sich wiederholt, und die man sogar als Axiom dahin formulieren kann, daß der technische Fortschritt in seinen ersten Stadien stets zu Gunsten Weniger auf Kosten der Vielen erfolgt. D e r Satz gilt auch für andere, speziell agrarische Verhältnisse. So ist es - das Beispiel liegt ja unserm verehrten Herrn Ehrenpräsidenten besonders nahe 1 8 - auf dem Gebiete der Versicherung: die alten bäuerlichen Brandkassen kontribuirten mit ihrer technisch primitiven Beitragsverteilung die Reichen zugunsten der Armen - die moderne Technik mit

18 Adolph Wagner, der Ehrenpräsident des Evangelisch-sozialen Kongresses, hatte sich besonders mit dem Versicherungswesen, und zwar mit der Frage nach der Einführung staatlicher Versicherungen und des Versicherungszwangs auseinandergesetzt. Siehe insbesondere seinen Artikel „Versicherungswesen" in: Handbuch der Politischen Ökonomie, hg. von Gustav Schönberg, Band 2. - Tübingen: H. Laupp 18913, S. 939-1026.

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ihrer Gefahrenklassifikation erzieht denjenigen zum Aufbau massiver Häuser mit geringerer Brandgefahr, der das Vermögen dazu hat, und entzieht demjenigen, der es nicht hat, die Möglichkeit der Versicherung überhaupt. So ist es mit der Hypothekenentschuldung. Unsre technisch vorzügliche, namentlich Frankreich gegenüber vorzügliche Hypothekengesetzgebung kommt dem wirtschaftlich Starken zugute; den Schwachen, die große Masse der Grundbesitzer, macht sie bei uns in einem Maße dauernd tributpflichtig, wie es ohne diese Gesetzgebung schon rein technisch unmöglich wäre. 19 Reaktionär wäre es, deshalb den technischen Fortschritt zu bekämpfen, kurzsichtig aber, seine Konsequenzen zu übersehen. - Jeder erkennt diese Konsequenzen heute in der Entwicklung, welche die Arbeitsverfassung des Gewerbes nimmt, weil es sich hier um örtlich zusammengedrängte Massenerscheinungen handelt. Aber die Sache liegt in der Landwirtschaft nicht anders. Auch hier erweitert der technische Fortschritt mit seinen Folgen den Abstand zwischen Besitz und Nichtbesitz; teils materiell, teils - und das ist das wichtigste - psychologisch. Er führt mit Notwendigkeit zum Geldlohn, mindestens zur Entziehung oder Beschränkung der eigenen Wirtschaft. Was aber hat ein in Geld gelohnter Landarbeiter, der den größeren Teil seines Brotes kaufen muß, für Interessen gemein mit seinem Herrn, der teuere Kornpreise braucht? Noch mehr aber: welches sympathische Band verbindet ihn so mit seinem Herrn, wie den Instmann, der selbst in sich, in seiner Wirtschaft im kleinen erprobte, wie dem Landwirt unter den Nöten, welche die Ungunst des Wetters und des Weltmarktes bringen, zu Mut ist? Im Gegensatz zu der Enquête des Vereins für Sozialpolitik behaupten unsere Berichte, daß Beschränkung des Naturallohnes meist gegen den Willen der Arbeiter, einseitig von der Herrschaft, erfolge, die Arbeiter den Naturallohn vorzögen. Ich muß die allgemeine Richtigkeit dieser Beobachtung bezweifeln. Aber wie dem sei: eins jedenfalls, was mit der Art der Gestal-

19 Umfang der Einschreibungen und Einschreibungszwang in das Hypotheken- oder Grundbuch waren im deutschen Bereich weitaus größer als in Frankreich und den deutschen Gebieten französischen Rechts. Dadurch wurde den, zumeist bürgerlichen, Gläubigern große rechtliche Sicherheit geboten, die die Hypothek zu einer dauerhaften und attraktiven Kapitalanlage machte. Siehe zu den Konsequenzen für den östlichen Grundbesitz auch die Ausführungen Webers in dem Artikel: „.Römisches' und .deutsches Recht'", unten, S. 528-531.

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tung des alten Naturallohnes bei uns untrennbar verknüpft war, wollen sie nicht mehr: das persönliche Herrschaftsverhältnis. Dem entweichen gerade die Tüchtigsten. Die Geistlichen haben eben A 70 nicht die Fortgezogenen, sondern die Dagebliebenen gefragt, Meine Herren, mein Freund Göhre hat die Umwandlung, welche infolge dieser technischen Entwicklung im Osten sich vollzieht, Ihnen bereits geschildert; ich habe dem nur noch einige Bemerkungen hinzuzufügen. Wir haben im Osten eine neue eigenartige Klassenbildung vor uns, eine langsame, aber geradezu grundstürzende Umgestaltung der sozialen und wirtschaftlichen Physiognomie zweier großer Klassen, deren Eigenart den Charakter des Ostens bestimmt: der Großgrundbesitzer einerseits und der Landarbeiter andrerseits. Der alte Grundadel des Ostens - nun, dessen Bedeutung für den Osten hat ja auch Göhre anerkannt - wie mir aber schien, doch etwas widerwillig. E r ist eben nicht drei Monate Landwirt, sondern drei Monate Industriearbeiter gewesen. e 2 0 Ich meinerseits erkenne diese Bedeutung für die Vergangenheit voll und rückhaltslos an; ich habe das an andrer Stelle oft genug gesagt und brauche es, glaube ich, hier nicht zu wiederholen. Aber ich bestreite, daß diesem Grundadel für die Zukunft eine ähnliche Rolle beschieden sein wird, ja, daß er überhaupt in seinem alten Charakter noch besteht oder erhalten werden kann. Diesem Grundadel eigen war das naive Bewußtsein, die Vorsehung habe es so eingerichtet, daß er zum Herrscher und die Anderen auf dem Lande zum Gehorsam berufen seien. Warum? Darüber machte er sich keine Gedanken. Die Abwesenheit der Reflexion war ja eine seiner wesentlichen Herrschertugenden.' Das ist mein vollständiger Ernst. Die Abwesenheit rein geschäftlicher Gesichtspunkte, die Unentwickeltheit des kaufmännischen Erwerbsinteresses in seinem Betriebe war für ihn charakteristisch und vom Standpunkt des Staates aus wertvoll. Es war kein Unternehmerstand, sondern ein Stand von Grundherren, die über Land und Leute

e In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit.) Zusatz: (Heiterkeit.)

f In A folgt der redaktionelle

20 Paul Göhre hatte 1891 drei Monate als Fabrikarbeiter und Handwerksgeselle in Chemnitz verbracht, um die soziale Lage der Arbeiterschaft aus nächster Nähe kennenzulernen. Seine Beobachtungen veröffentlichte er 1891 in seiner aufsehenerregenden Schrift „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche".

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schalteten, wie eine Schar kleiner politischer Herrscher. Diese Klasse unseres Grundadels, der Grundbesitzer überhaupt, die eben wegen dieses Mangels eigentlich geschäftlicher Intelligenz als politisch herrschende Klasse brauchbar war, fällt jetzt fort, es entsteht statt dessen eine Klasse ländlicher Unternehmer. Wenn Sie sich die nicht von mir, sondern von ihren landwirtschaftlichen Berufsgenossen - sogenannten „Rüben"-Barone betrachten, so sind das - nicht schlechtere Menschen, als die alten ländlichen Patriarchen im Osten - aber eine Klasse mit einer anderen sozialen und wirtschaftlichen Physiognomie. Es sind ländliche Gewerbetreibende, die in erster Linie ihren geschäftlichen Interessen nachgehen und, wollen sie bestehen, nachgehen müssen, und der Staat hat kein größeres politisches Interesse an ihnen, als an den industriellen Arbeitgebern. Und auch wenn Sie unsere alten östlichen Adelsgeschlechter betrachten, die Charakterzüge, welche ihre Repräsentanten zunehmend aufweisen, gerade diejenigen, welche auch wir als wirtschaftspolitische 71 Gegner wegen ihrer geistigen | Bedeutung besonders hoch stellen ich denke z.B. an einen Namen, der in letzter Zeit unter einem vielberufenen Antrag gestanden hat 21 - so werden Sie finden: das sind nicht mehr die Leute von ehedem. Auf ihrer Stirn wechselt die Zornesröte der Leidenschaft mit der Blässe des Gedankens; agrarische Grübler sind es, eine Mischung von Stubengelehrten und Edelleuten, eine Klasse vollständig anderer Art, als wir sie im Osten gewohnt waren. Wir sehen hier die Entwicklung einer gewerblichen Unternehmerklasse vor uns; das ist eine Funktion, die so gut von irgend einem technisch-landwirtschaftlich vorgebildeten Geschäftsmann versehen werden kann, wie von Nachkommen unseres alten Adels. Und wie liegt es auf der andern Seite bei den Landarbeitern? Das Charakteristische der Entwicklung - auch Göhre hob das hervor - ist

21 Gemeint ist der konservative Reichstagsabgeordnete Hans Wilhelm Alexander Graf Kanitz. Er hatte am 7. April 1894 einen Antrag auf Errichtung eines Getreidemonopols im Reichstag eingebracht, demzufolge der Ein- und Verkauf von ausländischem, für den Verbrauch im Inland bestimmten Getreides vom Reich übernommen werden sollte. Zugleich sollten Mindestverkaufspreise festgesetzt werden, um so den durch den überseeischen Getreideimport verursachten Preisverfall bei inländischem Getreide rückgängig zu machen. Der Antrag ist abgedruckt in: Sten. Ber. Band 137, S. 1414; die Debatte über den Antrag fand am 13. und 14. April 1894 statt. Vgl. Sten. Ber. Band 135, S. 2096ff. und 2105 ff.

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nicht etwa, daß es den Landarbeitern schlechter geht als ehedem. Das kann kein Mensch allgemein behaupten. Man kann freilich auch nicht allgemein das Gegenteil behaupten. Das individuelle Moment überwiegt gerade in der ländlichen Arbeitsverfassung alles andere. 5 A b e r eins ist ein absolut durchgehender Entwicklungszug, der weitaus wichtigste: daß sie als Klasse proletarisiert werden. Ihr ganzer materieller Interessenstandpunkt und mehr noch ihre soziale Physiognomie nähert sich in konsequenter Entwicklung dem, was wir an den Industriearbeitern, an dem modernen Proletariat überhaupt zu 10 sehen gewohnt sind. Sie werden eine unter sich gleiche proletarische Klasse, wie die Grundbesitzer zu einer Klasse von Unternehmern werden. Und das wird hier auf die Dauer die gleiche Wirkung üben, wie überall, wo wir dieser Erscheinung begegnen. Vor allem tritt eins ein, ein Phänomen von alles überragender Bedeutung - : der Ersatz 15 der persönlichen Herrschaftsverhältnisse durch die unpersönliche Klassenherrschaft. Wir kennen die Erscheinung und ihre psychologischen Konsequenzen aus der Industrie. D e r einzelne Unternehmer verweist den Arbeiter, der ihn um höheren Lohn angeht, auf die Wirkung der Konkurrenz. Nur die Klasse kann mit der Klasse ver20 handeln; die Verantwortlichkeitsbeziehungen zwischen dem einzelnen Herrn und dem einzelnen Arbeiter verschwinden; der einzelne Unternehmer wird gewissermaßen fungibel; er ist nur noch Typus der Klasse. Die persönliche Verantwortlichkeitsbeziehung verschwindet; etwas Unpersönliches, die Herrschaft des Kapitals pflegt 25 man es zu nennen, tritt an die Stelle. Und das hat vor A l l e m eine naturgemäße psychologische Folge. Die alte Arbeitsverfassung mit ihrer persönlichen Verantwortlichkeit des Herren für das Ergehen seiner Leute, und mit der übermächtigen Herrscherstellung des Herrn, trug zugleich die psychologischen Vorbedingungen einer Un30 terwerfung des Beherrschten, wie sie jedes Arbeitsverhältnis darstellt, in sich. Sie konnte, in ihrer brutalen Ehrlichkeit, gegen die Person des Herrn, welcher seiner Pflichten gegen die Beherrschten uneingedenk war, einen persönlichen Haß | erzeugen. In Zeiten A 72 wilder Erregung nahm man an ihm persönlich Rache. A b e r ungleich 35 gewaltiger ist, was uns die neue Entwicklung bringt. Die Resignation der beherrschten Massen schwindet, und wie an Stelle der persönlichen Herrschaftsbeziehung die Herrschaft der Klasse, so tritt mit Naturnotwendigkeit an die Stelle des persönlichen Hasses das Phänomen des „objektiven Hasses" - ein bekannter technischer Aus-

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druck des Sozialismus - 2 2 des Hasses der Klasse gegen die Klasse, vergleichbar dem Nationalhaß feindlicher Völker, den er oft genug psychologisch ersetzt. Wie der Erbfeind gehaßt wird, nicht als Person, sondern als Angehöriger seiner Nation, so der Unternehmer als Angehöriger seiner Klasse, nicht weil man ihn sittlich verantwortlich macht für das, was die Klasse thut. Die äußersten Konsequenzen dessen zeigte uns die letzte Zeit in deutlicher Sprache. 23 Wer die psychologisch zwingende Notwendigkeit dieser Erscheinung nicht sehen will, muß sich die Augen verbinden. Man muß den Thatsachen ins Gesicht sehen können. Ist das nicht ein Problem neuer und eigner Art auch für die Kirche? Ich meine fast, es ist heute morgen mit Unrecht daran vorbeigegangen worden. Es wurde behauptet, es sei eine moderne Erscheinung, daß die Kirche daran denke, im wirtschaftlichen Leben „Partei zu nehmen," 24 - hat sie das nicht schon immer gethan? Sie hat, gerade in diesem Entwickelungsprozeß, von dem wir sprechen, von jeher Partei genommen, von Thomas von Aquino angefangen, bis zu unserm Freunde Naumann hier. 9 Sie hat von jeher äußerst mißtrauisch dem entgegengestanden, was wir als Geldwirtschaft zu bezeichnen gewohnt sind, nicht nur dem Kapitalzins, sondern allem, was damit zusammenhängt. Warum hat sie das gethan? Deshalb, weil, wie sie instinktiv erkannte, die Geldwirtschaft notwendig die unmittelbaren Herrschaftsbeziehungen des Einzelnen zum Einzelnen beseitigte, und Beziehungen rein „geschäftlicher", das heißt unpersönlicher Art, die Herrschaft des Besitzes als Klasse über die Besitzlosen an die Stelle setzte. Sie können die brutalste Herrschaftsbeziehung,

g In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit.)

22 Als Zitat nicht nachgewiesen. 23 Möglicherweise handelt es sich hier um eine Anspielung auf eine Reihe anarchistischer Attentate, die sich z w i s c h e n 1892 und 1894 in Frankreich häuften. Vgl. Linse, Ulrich, „Propaganda der Tat" und „Direkte A k t i o n " , in: M o m m s e n , Wolfgang J. und Hirschfeld, Gerhard (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. - Stuttgart: Klett 1982, S. 247. 24 Die Vormittagsdiskussion hatte sich in A n k n ü p f u n g an das Referat von Hermann Cremer über „Die soziale Frage und die Predigt" um die Frage gedreht, ob und inwieweit in der Predigt soziale und wirtschaftliche Fragen a n g e s p r o c h e n w e r d e n sollten. Dabei w u r d e unterstellt, daß die Stellung und Parteinahme der Kirche zu diesen Fragen ein m o d e r n e s Phänomen sei. Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelischsozialen Kongresses, S. 11 - 4 3 .

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auch die Beziehung des Herrn zu dem rechtlosen Sklaven, sittlich erfassen und verklären, unter einen religiösen Gesichtspunkt bringen und mit religiösen Postulaten daran treten, weil sie Beziehungen des einzelnen Menschen zum Menschen sind. Dagegen fehlen Ihnen noch - irre ich nicht - die Formen, um den Klassenkampf mit ethischen Momenten zu durchdringen. Hier fehlt das persönliche Verantwortlichkeitsmoment, der Angriffspunkt, an dem die seelsorgerische Behandlung des Individuums, Herrschers wie Beherrschten, einzusetzen gewohnt ist. Das ist die Erscheinung, welche schon der älteren Kirche unheimlich war, und welche, wenn ich nicht irre, auch unsern Freund Naumann beschäftigt. 25 Er giebt den Widerstand auf, soweit der industrielle Großbetrieb in Frage kommt, den er als Thatsache und als notwendig anerkennt, aber | er zieht in seiner A 73 Anschauung nicht die Konsequenzen für die kapitalistische Entwikkelung überhaupt. Heute, meine Herren - gern oder ungern - wird die Kirche mit der Thatsache, daß ein Ersatz der persönlichen Herrschaft durch die Klassenherrschaft sich vollzieht, rechnen müssen. Jedes Eifern gegen die psychologischen Konsequenzen dessen, als gegen eine „Auflehnung wider die gottgesetzte Autorität" 26 ist vergebens. Aber noch weniger verstehe ich, wie man glauben kann, das gehe die Kirche nichts an; sie könne es ignorieren. Es ist der wesentlichste Grund, weshalb wir glauben, über diese Dinge zu Ihnen sprechen zu sollen, daß wir der Ansicht sind: der Versuch, an diesen Thatsachen vorbeizugehen, ist unmöglich. Jede Stellungnahme der Kirche zu sozialen Problemen, welche davon absieht und nach alter Art an die persönliche Verantwortlichkeit ausschließlich anknüpfen will, geht von irrealen Voraussetzungen aus. Der Klassenkampf ist da und ein integrierender Bestandteil der heutigen Gesellschaftsordnung - nur die Form steht zur Diskussion - die Thatsache aber muß auch die Kirche anerkennen, und mit dieser Anerkennung allein schon ist der Klassenkampf für die heutige Gesellschaft, auch vom Standpunkt der Kirche aus, legalisiert.h Man darf nicht glauben, dem Phänomen des h In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Bewegung.) 25 Anspielung auf Friedrich Naumanns Schrift „Was heißt Christlich-Sozial?", mit der sich Weber in seiner gleichnamigen Rezension, unten, S. 350-361, näher auseinandersetzte. 26 Als Zitat nicht nachgewiesen.

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Klassenhasses psychologisch näher kommen zu können, wenn man seine Wurzeln ignoriert. Überlieferte „Autoritäten" haben ethische Bedeutung, wenn ihre innerliche Anerkennung psychologisch möglich ist. Hier ist aus der Autorität selbst etwas andres geworden: wie sollte der Glaube an sie derselbe bleiben? - Wenn ich soeben von Legalisierung des Klassenkampfes gesprochen habe, so kann das ja mißdeutet werden. Ich habe damit nicht gesagt, daß die Kirche in diesem Kampfe Partei zu ergreifen habe, auch nicht, daß es der einzelne Pfarrer solle oder auch nur könne. - Übrigens, meine Herren, wäre das etwas Unerhörtes vom sittlichen Standpunkte aus? Der Klassenkampf innerhalb der Nation ist psychologisch und sittlich verhehlen wir es uns nicht - ein Analogon zu den Kämpfen unter Nationen. Die Beamten der christlichen Kirchen haben von jeher den Segen auf die Waffen des Vaterlandes herabgefleht, und ich persönlich vermag keinen Stein auf einen Geistlichen zu werfen, dessen Überzeugung es ist, daß der Emancipationskampf einer aufsteigenden Klasse ein gottgewollter und guter Kampf sei.' Nun, meine Herren, ich habe hier über die ländliche Arbeiterfrage zu sprechen. Meinem sonstigen Arbeitsgebiet gemäß, erörtere ich deshalb diejenigen Aufgaben, die für den Staat und seine Gesetzgebung auf diesem Gebiete erwachsen. Nicht weil ich glaube, daß der Evangelisch-soziale Kongreß zu aktiver Mitarbeit berufen wäre. Er kann die Frage seinerseits so wenig lösen, wie er etwa die BauernA 74 kolonisation in die Hand nehmen kann. Aber wir be | schränken unsre Erörterung hier doch mit Recht nicht auf solche Probleme: man muß das Arbeitsgebiet im ganzen kennen, wissen, wo und mit welchen Zielen andre Kräfte, der Staat, die Gemeinde, arbeiten, will man die Bedeutung der etwa möglichen Thätigkeit der Kirche und ihrer Diener nicht unrichtig einschätzen. Eine Forderung, welche von der Sozialdemokratie für die Landarbeiter von jeher erhoben worden ist, zugleich die einzige praktische Forderung, welche sie auf diesem Gebiete erhebt, ist die Gewährung der Koalitionsfreiheit. Für Preußen besteht sie bekanntlich nicht, und Koalitionen zur Erlangung besserer Lohnbedingungen sind strafbar. 2 7 Das ist eine Anomalie, die m . E . Exzesse nicht verhini In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Beifall.) 27 Zum Fortbestehen der Koalitionsverbote für Landarbeiter in Preußen siehe oben, S. 188, Anm.49.

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dert, aber, wenn die Entwickelung weiter fortgeschritten ist, den Klassenkampf nur verbittern wird. Alle Erfahrungen sprechen dafür. Ich für meine Person kann nur sagen, daß mir die Gewährung der Koalitionsfreiheit vollständig selbstverständlich erscheint. Ich würde in diesem Punkte sogar glauben, daß auch für die Landgeistlichen an dieser Forderung ein gewisses Interesse besteht. Ich hoffe auf die Begründung evangelischer Arbeitervereine auf dem Lande unter ihrer Führung und kann nicht wünschen, daß diese, wie es jetzt möglich ist, Chikanen ausgesetzt sind. Aber für die Schicksale und Chancen der Landarbeiter im Klassenkampf darf man andrerseits freilich die Bedeutung dieser Forderung auch nicht überschätzen. Die Koalitionsfreiheit für die Landarbeiter wird nicht dieselben Folgen haben, wie die entsprechende Institution für die Industriearbeiter. Es handelt sich um eine Bevölkerung, die über weite Gegenden disloziert und in der buntesten Weise aus Knechten, Instleuten, Kleinbesitzern, besitzlosen Arbeitern und Parzellenpächtern zusammengesetzt ist. Es ist vorerst noch ausgeschlossen, daß von dieser Koalitionsfreiheit in derselben Weise Gebrauch gemacht wird, wie in der Industrie. Das könnte ja aber anders werden, und man möge doch jedenfalls nicht glauben, daß durch die Beseitigung dieser Schranke der Kampf etwa erst geschaffen werde. Latent ist er vorhanden, auch ohne die Koalitionsfreiheit. Das einzige Kampfmittel, welches die Arbeiter zur Zeit haben, ist die Fortwanderung, und davon machen sie Gebrauch. Es wäre zweifellos erwünscht, daß auch die Landarbeiter in die Lage versetzt würden, die Interessen ihrer Klasse organisiert wahrzunehmen. Denn wer nimmt diese Interessen jetzt wahr? Verbände verschiedenster Art fühlen sich dazu berufen. Wenn man z. B. das Programm des „Bundes der Landwirte" liest, so müßte man meinen, er sei dazu da, auch die Landarbeiterschaft zu vertreten. 2 8 Das ist denn doch eine Naivität'. Gegen die Existenz des Bundes der Landwirte kann nur der etwas einwenden, der auf einem borniert gegnerischen wirtschaftlichen oder politischen Interessenstandpunkte steht. Es ist selbstverständlich, daß eine solche Organij A: Naivetät 28 Der Bund der Landwirte beanspruchte in seinem Gründungsprogramm vom 18. Februar 1893, die Interessen der deutschen Landwirtschaft schlechthin zu vertreten. Das Programm ist abgedruckt in: Schulthess, 1893, S. 9, und Lexikon zur Parteiengeschichte, hg. von Dieter Fricke u.a., Band 1 . - K ö l n : Pahl-Rugenstein 1983, S. 244.

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sation entsteht, um die Interessen der Landwirte wahrzunehmen; 75 aber ebenso selbstverständlich ist, daß diese Organisation eine solche der ländlichen Arbeitgeber k und deshalb gerade unter den heutigen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Arbeiter zu vertreten, so wenig wie die Gruppe der Steuer- und Wirtschaftsreformer dazu legitimiert war, die die gleiche Prätension erhob. 29 Die einzigen Forderungen aber, welche sie aufstellten, waren: die Beschränkung der Freizügigkeit und die Einführfreiheit für die russisch-polnischen Arbeiter. 130 Das sind Forderungen, die von Arbeiterverbänden doch wohl nicht aufgestellt würden. Ich möchte, wie gesagt, über die Möglichkeit, daß die Landarbeiter die Wahrung ihrer Interessen in organisierten Verbänden selbst in die Hand nehmen, ziemlich skeptisch denken. Immerhin wäre es möglich, daß aus Evangelischen Arbeitervereinen solche Verbände im Lauf der Zukunft erwüchsen. Die Evangelischen Arbeitervereine mit ihrer mehr patriarchalischen Organisation wären dann Vorstufen dazu. Und soweit in den Landgeistlichen des Ostens das geeignete Material zur Organisation solcher Vereine gegeben wäre, und soweit sie sich zu dieser Aufgabe berufen fühlten, würde ich mich freuen, wenn sie sich ihr unterzögen. Damit ist keineswegs gesagt, daß sie im weiteren Verlauf auch als Interessenvertreter sich in den Dienst der Klasseninteressen der k A: Arbeitgeber,

I In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit.)

29 In der „Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer" hatten sich 1876 Agrarier zunächst freihändlerischer, dann aber schutzzöllnerischer Richtung zusammengeschlossen. Gemäß ihrer Satzung bezweckte die Vereinigung, „die Ideen und Grundsätze einer gemeinnützigen, auf christlichen Grundlagen beruhenden Volkswirtschaft im Volke zu verbreiten und in der Gesetzgebung zum Ausdruck zu bringen." Tatsächlich handelte es sich aber um eine Interessenorganisation des Großgrundbesitzes. Zit. nach Stephan, F., Die 25jährige Thätlgkeit der Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer (1876-1900). - Berlin: Bureau der Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer 1900, S. 15. 30 Der Bund der Landwirte forderte in seinem Programm vom 18. Februar 1893 unter Punkt7: „Anderweitige Regelung der Gesetzgebung über den Unterstützungswohnsitz, die Freizügigkeit und den Kontraktbruch der Arbeiter." Die „Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer" forderte auf ihrer Generalversammlung 1892 ebenfalls eine Revision dieser Gesetzgebung mit dem Ziel, die Bewegungsfreiheit der Landarbeiter einzuschränken. Weiterhin wurde die unbeschränkte Zulassung von „Arbeitern aus Nachbarstaaten" verlangt. Bericht über die Verhandlungen der XVII. Generalversammlung der Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer zu Berlin, am 24. Februar 1892, erstattet vom Bureau des Ausschusses. - Berlin: Bureau der Steuer- und WirthschaftsReformer 1892, S. 96f.

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Arbeiterschaft stellen könnten. Ob sie dazu berufen oder auch nur in der Lage sind, ist eine ganz andre Frage, die aber die Landgeistlichen jetzt nicht zu kümmern braucht. Denn keineswegs ist etwa die Wahrnehmung von materiellen Klasseninteressen gegenüber dem Arbeit5 geber der einzige oder der wesentliche Gesichtspunkt, unter welchem die Entstehung Evangelischer Arbeitervereine auf dem Lande unter Führung der Geistlichen erfolgen sollte und könnte. Ihrer warten umfassendere Aufgaben. Verkennen wir nicht, meine Herren, daß wir mit einem langsa10 men, aber unaufhaltsamen Umschwung bei den Landarbeitern auch inbezug auf ihre geistigen Bedürfnisse zu rechnen haben. Es ist nicht zuletzt auch der dunkle und halb unbewußte Drang nach geistiger Kultur, was die Leute vom Lande treibt. Grade das Unbekannte daran ist es, was sie suchen. Und diesen geistigen Bedürfnissen wird 15 Rechnung getragen werden, darauf verlassen Sie sich, wenn nicht von Ihnen, dann von andern und unter andern Gesichtspunkten. Nimmermehr darf gerade dies geistige Arbeitsfeld der Sozialdemokratie überlassen werden. Wir sind heute hinaus über die Aufklärungswut, welche vor 20 und 30Jahren herrschte, 31 sie ist in die 20 Rumpelkammer geworfen. Seitdem wir mit Bewußtsein der nackten Thatsache gegenüberstehen, daß unsre gesellschaftlichen Zustände uns noch auf lange hinaus, vielleicht auf immer, höchstens gestatten, eine lendenlahme Halbbildung in den Massen zu züchten, haben wir das Interesse an der „Aufklärung" um ihrer selbst willen verloren. 25 Aber der tiefe idealistische Drang, der in dem Durst nach geistiger Kultur sich geltend macht, | schlummert auch in den Landarbeitern. A 76 Derjenige wird ihr Vertrauensmann sein, der ihn weckt. Hier liegen vielleicht die wichtigsten Aufgaben, welche der evangelischen Landgeistlichen in nächster Zukunft harren. 30 Kehre ich nun zu der Frage zurück, die ja auch Göhre in den Kreis seiner Erörterungen gezogen hat, zu der Aufgabe des Staats gegenüber der jetzigen Situation auf dem Lande im Osten, und stelle ich damit zugleich die Frage, welche damit zusammenfällt: Welche Ziele

31 Die klassische liberale Doktrin ging davon aus, daß der Erwerb von Bildung den geeigneten Weg darstelle, um der Arbeiterschaft zum sozialen Aufstieg innerhalb des bestehenden Wirtschaftssystems zu verhelfen. Sie fand ihren Niederschlag insbesondere in den Arbeiterbildungsvereinen, die Ende der 1850er und während der 1860er Jahre allerorten, meistens auf bürgerliche Initiative hin, gegründet wurden.

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würde eine zielbewußte Bewegung der Landarbeiter im Osten, wenn sie jemals entstehen könnte, sich zu stellen haben? so muß ich etwas weiter ausgreifen und fragen: Von welchen Gesichtspunkten aus können wir überhaupt unter unsren deutschen Verhältnissen praktische Agrarpolitik treiben? Kann etwa das Produktionsinteresse für uns das maßgebende sein? - das heißt, meine Herren: daß wir es nicht einfach zu ignorieren vermögen, wird sich von selbst verstehen; aber es fragt sich: ist es das entscheidende? Handelt es sich also mit andern Worten darum, wie mit technisch möglichst vollkommenen Mitteln ein möglichst großes Quantum landwirtschaftlicher Güter erzeugt werden kann, und ist das die Frage, die wir zu lösen haben? Ich glaube es nicht. Treten wir dem Sinn der Frage näher. Um das gleiche Quantum Feldfrüchte und Vieh, dem Werte nach, wie es unser Boden jetzt erträgt, oder auch ein größeres, landwirtschaftlich zu produzieren, dazu würde eine Menschenzahl von sehr viel geringerem Umfange genügen, als die Zahl der heutigen landwirtschaftlichen Bevölkerung ist. Eine Anzahl über das Land zerstreuter, mittelgroßer Betriebe mit Maschinen unter Ersparung menschlicher Arbeitskraft würde mit einem Bruchteil der heute vorhandenen Landbevölkerung diesen Zweck erreichen können. Allein, nimmt man einmal diesen rein wirtschaftlichen Produktionsstandpunkt ein, so muß man noch weiter gehen und sagen: Unser landwirtschaftlicher Boden ist zum großen Teile ökonomisch überhaupt nicht wert, daß man ihn bebaut. Der Boden im Osten Preußens ist zum guten Teil derart, daß eine weltwirtschaftliche Produktionsorganisation getrost zwei Drittel des Landes als Wüste liegen lassen würde, wenn es sich nur darum handelte, die Welt mit Brot zu versorgen. Das liefern uns unsere ausländischen Konkurrenten billiger. Aber gerade an diesen Konsequenzen sehen wir: nicht dieses Interesse kann für uns im Vordergrund stehen, sondern ein andres: Das Interesse an der Art der Dislokation der Bevölkerung des Landes. Es ist für die Zukunft der Nation nicht gleichgiltig, wie sich die Bevölkerung zwischen landwirtschaftlicher und industrieller Thätigkeit, zwischen der Stadt und dem Lande verteilt. Für uns ist die Landbevölkerung etwas ganz anderes als eine Bevölkerung, die dazu bestimmt ist, sich selbst und andre mit Getreide und Kartoffeln zu versorgen. Sie ist die physische Reserve, nicht nur der Stadtbevölkerung, sondern der Nation überhaupt. | A 77 Sie ist auch in der Geschichte niemals etwas anderes gewesen.

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Fragen wir uns, welcher tiefe Sinn der historisch überkommenen Organisation der Landwirtschaft zu Grunde gelegen hat, wie sie unter der Gutswirtschaft in der Vergangenheit bestand, so finden wir: das Interesse des Staates und der Gesellschaft war das, eine herrschende Klasse zu haben, mit welcher der Staat regieren konnte, und unterthänige B a u e r n und Landarbeiter, welche dieser Klasse die Mittel zu einer standesgemäßen Existenz und dem Staat die Soldaten lieferten. E s war absolut nicht das Produktionsinteresse oder ein Interesse an rationeller Bewirtschaftung des Grundes und B o d e n s dabei im Spiele. U n d in der That hat der patriarchalische G r o ß b e trieb des preußischen Ostens dieser Aufgabe genügt, j e n e herrschende Klasse zu sustentieren, daneben aber auch in seiner Weise in relativ großer Vollkommenheit die Aufgabe erfüllt, eine physisch kräftige Landbevölkerung zu erhalten. W o der alte patriarchalische G r o ß b e t r i e b noch heute besteht, haben wir die physisch kräftigste Bevölkerung; wo seine Desorganisation am weitesten fortgeschritten ist, haben wir die erbärmlichsten sozialen, nationalen und physischen Zustände. E i n Arbeiter aus Pommern leistet das Doppelte, wie ein Arbeiter aus Schlesien, das Dreifache wie ein Russe. - A b e r dieser landwirtschaftliche G r o ß b e t r i e b hatte noch eine weitere politische Bedeutung. E r war eine politische Reserve des Staates gegenüber dem städtischen Bürgertum. E s war nicht gleichgiltig, daß in Gestalt unsrer östlichen Gutshöfe eine herrschende Klasse gerade dieses Charakters, ohne geschäftliche Erwerbsinteressen, über das Land disloziert war, daß hier soziale Anschlußpunkte vorhanden waren, z . B . für die Garnisonen, für die B e a m t e n des Ostens, daß dadurch im Osten ein agrarisches E l e m e n t in die Verwaltung des Staates hineinkam, und daß so Einhalt geboten wurde der Monopolisierung der politischen Intelligenz durch das Bürgertum, das seine Qualifikation zur politischen Herrschaft erst nachzuweisen hatte und leider bis heute noch nicht nachgewiesen hat. Ich als klassenbewußter Bourgeois kann das ohne Verdacht der Befangenheit konstatieren. A b e r , meine H e r r e n , darin stimme ich mit G ö h r e überein: Heute ist der patriarchalische Grundbesitz in diesen seinen Funktionen tot. D e r unvermeidlich wachsende Klassengegensatz gegen seine Arbeiter entzieht ihm die Brauchbarkeit für den Staat für die bisherigen Z w e c k e ; weder erzieht er uns in der Gestaltung, die er mehr und mehr annehmen muß, eine physisch kräftige Landbevölkerung, noch

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ist er selbst noch fernerhin zum politischen Herrscher berufen. Göhre will ihn ekrasieren. 32 Er sagt, und das ist ja im wesentlichen richtig: Er verteuert das Brot und verbilligt die Menschen. Vornehmlich in seinem Interesse sollen wir die Getreidezölle aufrecht erhalten, die Getreideeinfuhr absperren, und seinetwegen müssen wir A 78 dagegen die Grenzen aufmachen für die Einfuhr russischer | Nomaden. Er will ihn durch Bauern ersetzen, und da hat er nun von der Zukunft dieser Bauern ein ungemein optimistisches Bild entrollt. Er macht sich, glaube ich, kaum eine Vorstellung von den unerhörten Schwierigkeiten, welche sich der Ansiedlung von Bauern mit hoher Lebenshaltung bisher entgegengestellt haben, und davon, welche finanziellen Opfer es dem Staate kosten würde, wenn man hier Wirtschaften schaffen wollte, welche, wie z.B. auch Sering sie sich vorstellt, 33 einen technischen Fortschritt und eine intensivere Bodenausnützung gegenüber der jetzigen Art der Bewirtschaftung durch den Großbetrieb darstellen würden. Solche zu schaffen, ist ja das Bestreben der Ansiedlungskommission in Posen, 34 und wer die Ansiedlungsgüter gesehen hat, der weiß, daß es dort auch von Erfolg begleitet ist. Das erfordert aber, daß man Bauern bekommt, welche womöglich mit einem Kapital von 10000 Mk. dahin kommen." 1 Nun, meine Herren, das mindeste, was ein solcher Mann braucht, sind 4000 Mk. n Der prosperiert aber nicht bei der Ansiedlungskommission. Ich habe einen Bauern gesehen, der 18000 Mk. in seine Höfe und Ställe verbaut hat. 3 5 Und er hatte nicht zu viel darauf verwendet. m In A folgt der redaktionelle Zusatz: ( W i d e r s p r u c h . ) Zusatz: (Zuruf: 1 0 0 0 M k . )

n In A folgt der redaktionelle

3 2 G ö h r e forderte in s e i n e m Vortrag die „ V e r n i c h t u n g der Vorherrschaft d e s östlichen G r o ß g r u n d b e s i t z e s " . Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 59. 3 3 Max Sering war unter a n d e r e m in seiner Schrift „ D i e innere Kolonisation im östlichen Deutschland" (Leipzig: Duncker & Humblot 1893) dafür eingetreten, in den östlichen Gebieten Deutschlands eine starke mittelbäuerliche und kleinbäuerliche Siedlungsstruktur zu schaffen. 3 4 Die A n s i e d l u n g s k o m m i s s i o n hatte gemäß d e m A n s i e d l u n g s g e s e t z v o m 26. April 1886 die Aufgabe, in d e n preußischen Provinzen Posen und W e s t p r e u ß e n polnischen Besitz aufzukaufen, zu parzellieren und in Rentengüter für d e u t s c h e Bauern u m z u w a n d e l n , mit d e m Ziel einer Stärkung der d e u t s c h e n Volksgruppe. 3 5 W e b e r hatte mehrfach G e l e g e n h e i t zur Besichtigung preußischer Ansiedlungsgüter In Posen, so im S o m m e r 1888 anläßlich seiner zweiten militärischen Übung sowie anscheinend am 21. April 1894, also kurz vor seiner Teilnahme am fünften Evangelisch-sozialen Kongreß. Siehe die A u s f ü h r u n g e n in der Einleitung zu d i e s e m Band, S. 12, A n m . 26.

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Das sind dann freilich stattliche Wirtschaften; sie bringen mehr aus dem Boden hervor, als das der Großbetrieb konnte. Aber es erfordert auch, daß der Staat gewaltige pekuniäre Opfer dafür bringt, und die Mittel dazu sind nicht vorhanden, um hunderttausend solcher Bauernwirtschaften erster Klasse zu schaffen. Trotzdem ist auch meiner Ansicht nach das Verlangen nach staatlicher, groß angelegter, systematischer Kolonisation richtig. Nur darf man nicht Göhres optimistische Erwartungen daran knüpfen. Der entscheidende Gesichtspunkt liegt anders wo. Wir müssen festhalten an dem Ziele der Kolonisation des deutschen Ostens, weil wir den Großbetrieb, wie er war, nicht halten können, und weil sie zugleich das einzige Mittel einer Lösung der Landarbeiterfrage ist: sie schafft einen Weg nach oben für die Arbeiter, bietet die Möglichkeit, sie wieder anzuschließen an die Klasse der Besitzenden, mit der sie den Anschluß verloren haben. Die soziale Kluft zwischen ihnen und den Gutsbesitzern zu füllen, ist die erste Aufgabe, um die es sich handelt. Denn, wo dieser Anschluß vorhanden ist, wie z.B. im mecklenburgischen Domanium, im Gegensatz zur Ritterschaft, 36 da bleiben sie im Lande. Das führt nun aber keineswegs dazu, daß man ein Ekrasieren des Großgrundbesitzes in Aussicht nimmt. Ein weit bescheideneres Ziel genügt. Es ist nicht dasselbe, oder nur dem Grade nach verschieden, ob der Großgrundbesitz 20 oder 50% des Bodens in der Hand hat. Es ist vielmehr sozialpolitisch das Gegenteil von einander; denn das Maß der Bodengliederung, der Bevölkerungsgruppierung ist das allein Ausschlaggebende für die Stellung der Masse der Landarbeiterschaft. Der mögliche Anschluß an volk| reiche Dorfgemeinden erhält die A Arbeitskräfte dem Lande. Alle Erfahrungen sprechen dafür, daß auch die Güter dann aus den Dörfern mit Arbeitskräften versorgt werden können, und keine Änderung der Arbeitsverfassung - auch nicht die auch von mir vertretene Umwandlung der Insten in Parzellenpächter, wie wir sie in Holstein finden - ist aussichtsvoll, ohne eine solche tiefgreifende Umwandlung des sozialen Ensembles, in

36 Mecklenburg-Schwerin hatte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Ansiedlung von Landarbeitern auf dem großherzoglichen Domanium begonnen. Diese Politik führte zur „Entstehung großer und wohlhabender Bauerndörfer", während sich auf den ritterschaftlichen Gütern nur bäuerliche Kleinstellen (Büdnereien und Häuslereien) befanden. Vgl. Weber, Landarbeiter, S . 6 9 8 f . (MWG I/3, S.810).

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dem die Arbeiter sich bewegen sollen. Wir halten also an dem Gedanken der Kolonisation als Hauptforderung an den Staat fest, aber ich für meinen Teil sage, wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir daran festhalten unter einem pessimistischen Gesichtspunkte. Ich glaube nicht, daß die Kolonisation des deutschen Ostens - zunächst wenigstens - dazu führen wird, daß eine Hebung der landwirtschaftlichen Technik eintritt, etwa weil die Technik der Bauern besser wäre als die des Großbetriebs - das Umgekehrte ist der Fall sondern ich halte sie deshalb für notwendig und aussichtsvoll, weil unsere internationalen Konkurrenzverhältnisse den Boden des deutschen Ostens unter dem Gesichtspunkte des Produktionsinteresses für den Weltmarkt wertlos machen. Es ist nicht möglich für uns, zu konkurrieren mit Ländern wie Argentinien, die eine Struktur gröbster Form haben, wo soziale Pflichten irgendwelcher Art unbekannt sind. 37 Ich bin der Meinung, daß die Bauernkolonisation deshalb Aussicht auf Erfolg hat, weil derjenige zur Zeit am existenzfähigsten ist, der seine Produkte soviel als möglich selbst verzehrt und möglichst ohne Lohnarbeit sein Land bestellt, der deshalb unabhängig ist von den Schwankungen der Preislage auf dem Weltmarkte und von der Bewegung der Arbeitslöhne. Das werden aber keine technisch hochstehenden Großbauern sein, sondern kleine Kolonisten, die mit der Not des Tages kämpfen. Aus diesem pessimistischen Grunde glaube ich, daß die Kolonisation im Osten Aussicht hat. Nicht ohne daß technische Rückschritte eintreten werden. Ich halte uns aber trotzdem, ja gerade deshalb für verpflichtet, sie durchzuführen. Warum? Wir setzen diese Bauern nicht an, damit sie sich selbst im Osten materiell wohl und behaglich fühlen, oder etwa, weil ihre Arbeiter materiell besser gestellt sein werden, als beim großen Besitzer - das Gegenteil trifft zu, - sondern im Interesse des Staates. Wir wollen sie anschmieden an den Boden des Vaterlandes, nicht mit rechtlichen Ketten, sondern mit psychologischen. Wir wollen, ich sage es offen - ihren Landhunger ausnützen, um sie an die Heimat zu fesseln, und müßten wir eine Generation in den Boden stampfen, um die Zukunft des Landes zu wahren, so würden wir diese Verantwortung auf uns nehmen. Denn, meine Herren, um auf den größeren Zusammenhang zu kommen, in dem sich unsre Sozialpolitik zur Zeit bewegt - wir be3 7 Siehe dazu Webers Artikel 286-303.

„Argentinische

Koionistenwirthschaften",

oben, S.

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finden uns in einer Übergangsperiode im eigentlichsten | Sinn des A 80 Wortes. Wir kennen den weiteren Fortgang der technisch-ökonomischen Umwandlung nicht. Wir wissen nicht, und es ist zweifelhaft, wie weit die Illusion, unter der z.B. auch unsre industriellen Arbeitermassen stehen, daß wir technisch noch lange so weiter fortschreiten werden, berechtigt ist. Das Tempo zum mindesten wird sich schwerlich so fortsetzen. Erst dann, wenn das Ende des gegenwärtigen rapiden Fortgangs, der technischen Umgestaltung gekommen sein wird, erst dann wird die Menschheit in der Lage sein, sich definitive, neue und dauernde soziale Organisationen zu geben. Wir können jetzt nur für diese Zukunft - wir wissen nicht, wann sie da sein wird - arbeiten, deshalb interessirt uns für jetzt ausschließlich die Erhaltung der Volkskraft, und dafür steht uns im Osten zur Zeit das Mittel der Bauernkolonisation allein zur Verfügung. Wir wollen also den Osten weiter bäuerlich besiedeln einerseits, weil wir im Besitze einer relativ zahlreichen Landbevölkerung bleiben müssen und nicht anders bleiben können; und wir erwarten andrerseits von der Verleihung des Grundbesitzes an breitere Schichten des Volks, daß sie einen Regulator der Volksvermehrung darstellen werde. Was ist nun das Ergebnis dessen, was ich ausgeführt habe? Manches, zumal das letzte, erschien wohl vielen von Ihnen schroff und brutal. Allein wir treiben Sozialpolitik nicht, um Menschenglück zu schaffen. Meine Herren, ich verlasse mit dieser Bemerkung den speziellen Gegenstand unsrer heutigen Erörterung, um meinen Standpunkt in dieser Frage kurz prinzipiell zu rechtfertigen. Ich bin überzeugt, daß das Quantum subjektiven Glücksgefühls mit der Hebung der Massen, die wir als unumgängliche Aufgabe vor uns sehen, nicht zunehmen, sondern wahrscheinlich abnehmen wird. Das Quantum des subjektiven Glücksgefühls ist größer bei geistig tief stehenden, stumpf resignierten Volksschichten, als bei einem von Ihnen hier, größer beim Instmann als beim Bauer, größer bei dem stumpf resignierten Arbeiter des Ostens, als bei dem städtischen Proletarier, größer beim Tier, als beim Menschen. Wir hörten aus der Begrüßungsansprache des Herrn Pfarrer Naumann gestern eine unendliche Sehnsucht nach Menschenglück heraus, 38 die uns sicher

38 Der öffentlichen Tagung des Evangelisch-sozialen Kongresses war am 15. Mai 1894 eine Sitzung des Ausschusses und eine Begrüßungsversammlung für die bereits anwesenden Kongreßmitglieder vorausgegangen. Bericht über die Verhandlungen des Fünften

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alle ergriff, aber grade von unserem pessimistischen Standpunkt aus gelangen wir, und speziell ich persönlich, zu einem Gesichtspunkte, der mir doch noch ungleich idealistischer erscheint. Ich glaube, wir müssen darauf verzichten, positives Glücksgefühl im Wege irgend einer sozialen Gesetzgebung zu schaffen. Wir wollen etwas Anderes und können nur etwas Anderes wollen: Das, was uns wertvoll erscheint am Menschen, die Selbstverantwortlichkeit, den tiefen Drang nach oben, nach den geistigen und sittlichen Gütern der Menschheit, den wollen wir hegen und stützen, auch wo er uns in seiner primitivsten Form entgegentritt. Wir wollen, soweit es in A 81 unsrer Macht steht, die | äußeren Verhältnisse so gestalten, nicht: daß die Menschen sich so wohl fühlen, sondern daß unter der Not des unvermeidlichen Existenzkampfes das beste in ihnen, die Eigenschaften, - physische und seelische - welche wir der Nation erhalten möchten, bewahrt bleiben. Nun, meine Herren, dabei handelt es sich um Werturteile, und diese sind wandelbar. Es handelt sich überhaupt um ein irrationales Moment. A b e r dieser irrationale Gesichtspunkt ist in Wahrheit nicht nur uns eigen, sondern - zum Beispiel auch den besten Vertretern des Sozialismus. D i e Sozialdemokratie hat freilich einen mechanischen, materialistischen Jargon. Sie spricht von der allesbewegenden Bedeutung der „Messer- und Gabelfrage". 3 9 Nehmen wir sie aber bei ihren Forderungen beim Worte, so steckt dahinter derselbe Irrationalismus wie bei uns. Warum läßt sie denn nicht das polnische Tier da, wo es wie jetzt genug zu essen bekommt, existieren, bis es stirbt, ohne eine andere Existenz geahnt oder gewünscht zu haben, wenn es ihr lediglich auf die Messer- und Gabelfrage ankommt? D e r Hohn gegen den Idealismus ist Jargon, Renommage, weiter nichts. In der Ehrlichkeit, den irrationalen Gesichtspunkt jedes Arbeitens am Fortschritt der Menschheit auszusprechen, sind wir jünger, als die greisenhaften Nörgler, die jetzt die Vertretung des Sozialismus zu ihrer Sache gemacht haben. Evangelisch-sozialen Kongresses, S.1. Über die Begrüßungsansprache Naumanns berichtete die Frankfurter Zeitung, Nr. 134 vom 16. Mai 1894, Ab. Bl., S. 1. Diesem Bericht zufolge forderte Naumann eine „Wiedergeburt der Gesinnung und des Gemüths" und ein erneuertes Verständnis des Evangeliums, das „zum sozialen Frieden" führen und den gegenwärtigen „schleichenden Krieg" beenden solle. 39 Der Begriff geht auf den Chartistenführer Joseph Rayner Stephens zurück, der auf einer Versammlung 1838 bei Manchester verkündete: „Der Chartismus [...] das ist eine Messer- und Gabel-Frage, die Charte, das heißt gute Wohnung, gutes Essen und Trinken, gutes Auskommen und kurze Arbeitszeit." Friedrich Engels zitierte diese Rede in seiner Schrift: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. - Leipzig: Otto Wigand 1845, S. 277.

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Unter solchen idealistischen Gesichtspunkten kann aber auch meines Erachtens die evangelisch-soziale Arbeiterbewegung allein bestehen, auf die ich hier zum Schluß noch einmal zurückkomme. Schon jetzt steckt sie ja ihr Programm weiter, als die eigenen Berufsinteressen erheischen würden. Will sie das thun, dann muß sie rücksichtslos und ohne Angst und Sentimentalität vorwärts; ein Rückwärts giebt es dann nicht. Und soll ich einen Blick in ihre Zukunft wagen, so kann ich die Hoffnung nicht unterdrücken, daß der Geist, der in ihr lebt, dereinst für das Proletariat auch von politischer Bedeutung wird. Wir stehen heute in Deutschland vor keiner größeren Gefahr für unser politisches Leben, als die ist, daß wir unter die Herrschaft des Spießbürgertums, des Kleinbürgertums geraten. Und die typischen Eigenschaften des Spießbürgertums: - das Fehlen der großen nationalen Machtinstinkte, die Beschränkung des politisehen Strebens auf materielle Ziele oder doch auf das Interesse der eigenen Generation, das Fehlen des Bewußtseins für das Maß der Verantwortung gegenüber unsrer Nachkommenschaft - das ist dasjenige, was uns auch von der sozialdemokratischen Bewegung - auch sie ist zum guten Teil ein Produkt deutschen Spießbürgertums dauernd trennt. Das Interesse an der Macht des nationalen Staates ist für niemand ein größeres als für das Proletariat, wenn es weiter denkt, als bis zum nächsten Tage. D i e höchststehenden Arbeitergruppen Englands würden keinen Tag - aller Gewerkvereine ungeachtet - ihren | Standard of life erhalten können, wenn eines A 82 Tages die internationale politische Machtstellung ihres Reiches dahinsänke. Das möge sich auch unser Proletariat gesagt sein lassen. Wir hoffen, daß das bei uns überwunden wird, daß wir in Zukunft einmal über die K ö p f e der Spießbürger hinweg einer proletarischen Bewegung die Hand werden reichen können, welche in dieser Beziehung größer denkt, als die heutige. - Und endlich, meine Herren: das Maß von politischer Macht und von Macht im weitesten und höchsten Sinne des Wortes, welche die Arbeiterschaft im eigenen Staate einnimmt, auch dies wird von dem Maße des Ernstes und der Gewalt ihrer Ideale abhängen, und von dem Maße des Mutes, mit welchem sie dafür eintritt, aber nicht von dem Maße des Geschreis, mit welchem sie materielle Interessen, die Messer- und Gabelfrage der lebenden Generation, auf ihre Fahne schreibt. 0 o In A f o l g t d e r r e d a k t i o n e l l e Z u s a t z : (Langanhaltender Beifall.)

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[Diskussionsbeitrag]

Ich habe zunächst mit einer persönlichen Bemerkung zu beginnen. Herr Landesökonomierat Nobbe sprach von einem gewissen Gefühl der Enttäuschung über das „Ergebnis" der Enquête. Nun, meine Herrn, ich glaubte für jeden hinlänglich deutlich gesagt zu haben, daß und warum ich „Ergebnisse" der Enquête hier nicht vortragen, sondern nur ihre allgemeine Bedeutung für die agrarpolitischen Fragen der Gegenwart charakterisieren konnte, und vor allen Dingen glaube ich, keinen Anlaß zu dem Glauben gegeben zu haben, als ob ich etwa diesen Vortrag, der meine subjektive persönliche Ansicht darüber enthielt, als „alles, was die Enquête überhaupt nur zu Tage fördern sollte", angesehen wissen wollte. 1 Diese sogenannte Enttäuschung war wohl auch mehr sachlicher Art: er war unangenehm davon berührt, daß ich nicht in schärferer Tonart mich Göhre gegenüber für die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Bedeutung des Großgrundbesitzes im Osten engagiert habe. Das kann ich deshalb nicht, weil ich ehrlicherweise nicht die Meinung vertreten kann, daß diese Stellung sich halten lasse. Die Junker als Junker zu halten, als einen Stand von demjenigen sozialen und politischen Charakter, der sie in der Vergangenheit waren, wäre - gegen diese meine Ansicht hat niemand hier ein ernstliches Argument vorzubringen gesucht selbst mit ökonomischen Mitteln, wie sie uns nicht zu Gebote stehen, nicht möglich. Kann sich der Staat politisch dauernd auf einen Stand stützen, der selbst der staatlichen Stütze bedarf? An Stelle der „Herren", auf sicherer väterlicher Scholle sitzenden Existenzen, die ihm ererbte Herrschertugenden ersten Ranges, wie ich stets anerkannt habe, zur Verfügung stellten, finden wir im Osten heute den Typus des „notleidenden Landwirts", der die politische Macht umgekehrt in den Dienst wirtschaftlicher Interessen stellt - stellen muß. - Herr

1 Der Vorsitzende des Evangelisch-sozialen Kongresses, Moritz A u g u s t Nobbe, hatte in der Diskussion die Zuverlässigkeit der Darlegungen G ö h r e s und W e b e r s in Zweifel g e z o g e n : „Ich muß nun sagen, daß, w e n n die Resultate dieser Enquête mit den heutigen beiden Vorträgen erschöpft wären, daß ich dann das Gefühl d e s U n g e n ü g e n d e n hätte." Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 82.

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Geheimrat Wagner berührte die Getreidezölle: 2 da ich mich stets als deren A n h ä n g e r bekannt habe, so liegt nur die Quantitätsfrage zwischen ihm und mir, und die ist, daran möchte ich erinnern, unter anderm doch auch eine Machtfrage. Ich betrachte, obwohl ich gewiß hier nicht für Verteidigung der Handelsverträge bin, die 1 Vi Mark | Zollermäßigung als eine freilich etwas hohe Versicherungsprämie A für den Bestand der Zölle überhaupt. 3 H e r r Geheimrat Wagner stützte sich für die Erhaltung des Großbesitzes auf unser Bedürfnis nach einer zahlreichen Landbevölkerung; 4 - wem dies Interesse in erster Linie steht, der m u ß aber konsequent für die Vermehrung der Steuergemeinden auf Kosten der Großbetriebe eintreten, denn es ist statistisch feststehend und auch natürlich, daß diese im Verhältnis zur Fläche weit weniger Menschen auf dem L a n d e ernähren, als die D ö r f e r . Erhaltung der Landbevölkerung und Erhaltung der „ J u n k e r " ist aber heute nicht mehr ein und dasselbe. - D a ß die Koalitionsfreiheit die bestehenden Zustände auf die D a u e r nicht verschlimmern wird, davon bin ich überzeugt, denn wie bekannt, ist der Kontraktbruch doch gerade jetzt, wo wir sie nicht haben, auf dem Lande eine alltägliche Erscheinung. Es hat aber auch seine eigenartigen Konsequenzen, daß m a n den Arbeitern als einziges Kampfmittel gegen die Besitzer nur die Fortwanderung läßt. Die gleichen A r g u m e n t e , wie heute hier, 5 sind seiner Zeit für die Industrie gebraucht worden. D a ß ich im Übrigen auf diese Forderung fundamentalen Wert nicht legen kann und warum nicht, habe ich ja gesagt. D a n n coramiert mich - gewissermaßen - H e r r Geheimrat Wagner, wen ich mit dem Ausdruck „Spießbürgertum" gemeint habe. 6 Ich 2 A d o l p h Wagner forderte eine Erhöhung der Kornzölle. Ebd., S. 89. 3 Im Z u g e seiner Handelsvertragspolitik hatte Reichskanzler Leo von Caprivi eine Ermäßigung der Einfuhrzölle für Getreide im Reichstag durchgesetzt. Seit 1892 galt damit für die Länder, die Handelsverträge mit d e m Deutschen Reich abgeschlossen hatten (1891/ 92: Österreich-Ungarn, Italien, Belgien, die Schweiz; 1 8 9 3 / 9 4 : Rumänien, Serbien, Rußland) der neue Tarif von 3,50 Mark pro Doppelzentner Getreide. Z u v o r hatte der Tarif 5 Mark betragen. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs. - Stuttgart: W. K o h l h a m m e r 1982 2 , S.1077f. 4 Vgl.: Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 89f. 5 N o b b e hatte auf die Gefahr des Mißbrauchs der Koalitionsfreiheit durch die Sozialdemokratie, b e s o n d e r s bei Erntestreiks, hingewiesen. Ebd., S. 86. 6 Wagner hob d e m g e g e n ü b e r die Bedeutung des Mittelstandes hervor. Ebd., S. 90.

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Die deutschen

Landarbeiter

dachte dabei zunächst an die Masse des Kleinbürgertums, deren Dominieren die Signatur der Wahlen mehr und mehr geworden ist. Aber da ich darnach gefragt werde, kann ich freilich nicht leugnen, daß mir auch diejenige weit verbreitete Anschauung als eine „spießbürgerliche" erscheint, welche Thron und Altar auf die Schultern 5 sinkender Klassen: des Großgrundbesitzes und des Handwerks, am sichersten stützen zu können glaubt. Daß wir ein großdenkendes Proletariat zur Zeit nicht haben, habe ich selbst gesagt, aber wer daran verzweifelt, daß wir es bekommen können in Gestalt einer klassenbewußten, aber weitblickenden Arbeiteraristokratie, der 10 verzweifelt an der politischen Zukunft des Vaterlandes. Gegen den Gedanken, man könne und solle den Großgrundbesitz „ekrasieren", habe auch ich mich verwahrt. Was mir aber möglich und erwünscht erscheint, ist z.B. - da einmal die Frage: was denn nun Concretes geschehen solle, aufgeworfen ist - das Erscheinen 15 eines ständigen Etatstitels zum Ankauf herabgewirtschafteter Güter zur Vermehrung des Domänenbestandes einerseits und die planmäßige Parzellierung geeigneter Domänen andrerseits. Wenn man auf etwas derartiges hier den Namen „Expropriation" 7 hat verwenden wollen, nun, meine Herrn, dann ist auch die private Güterschlächte- 20 rei eine „Expropriation". Diese aber besteht und wird bestehen, und A 94 ich meine, ein staatlicher Güterverkauf verhält | sich zu ihr ebenso wie ein Zentralschlachthaus zu Einzelschlächtereien 3 , sie hat vor ihr die gleichen Vorzüge voraus. Endlich ist hier auch bestritten worden, daß die evangelische 25 Geistlichkeit auf dem Lande sich an der Gründung von Evangelischen Arbeitervereinen aktiv beteiligen könne. 8 Ob dies bei den derzeitigen Patronats- und sonstigen Zuständen 9 auf dem Lande möglich ist, ist sicher zweifelhaft. Wo es aber möglich ist, und der betreffende Geistliche Kraft und Beruf dazu in sich fühlt, da, meine 30 ich, sollte er vor dem Versuch nicht zurückschrecken. Daß der Geistliche einen solchen Verein nicht unter dem Gesichtspunkt einer a In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit)

7 Diesen Begriff hatte Nobbe in die Diskussion eingeführt. Ebd., S. 84. 8 Ein Pfarrer aus Pommern hatte als Diskutant auf der Tagung so argumentiert. Ebd., S. 87. 9 Zum Institut des Patronats siehe oben, S. 101, Anm. 19.

Diskussionsbeitrag

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Organisation zum Klassenkampf schaffen oder wie eine Gewerkschaft organisieren wird, soll und kann, versteht sich von selbst; ich habe ja betont, daß es ganz andere Aufgaben gegenüber dem Landproletariat giebt, die in diesen Vereinen angegriffen werden müssen. 5 Es ist lediglich meine persönliche Hoffnung, die ich ehrlich ausspreche, daß an Stelle des ungeordneten und latenten Kampfes - denn ich wiederhole es, er besteht auf dem Lande oder er wird entstehen, und nur auf die Form kommt es an - eine geordnete Interessenvertretung auch der Landarbeiterschaft erwachsen wird, und ich meine, daß 10 dazu Evangelische Arbeitervereine eine Vorstufe bilden können, und daß es im Interesse der Gesamtheit liegt, wenn das der Fall wäre, und die Herausbildung des Klassenbewußtseins, welches auch dem Landproletarier kommen wird, nicht unter anderen Händen sich vollziehe. Eine geordnete Vertretung der Klasseninteressen aber 15 halte ich auch bei den Landarbeitern für die Dauer unvermeidlich.

[Rezension von:] Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze von Friedrich] Naumann

Editorischer Bericht

Zur Entstehung 1890 leitete Wilhelm II. eine Wende in der Sozialpolitik ein, der auch die preußische Landeskirche folgte. Mit der Ansprache des Evangelischen Oberkirchenrates vom 17. April 1890 öffnete sie sich für die sozialen Fragen und räumte den Geistlichen einen bislang nicht gekannten Spielraum in dieser Hinsicht ein. 1 Die gleiche Zeitströmung fand ihren Niederschlag auch in der Gründung des Evangelisch-sozialen Kongresses. Dieser war Ausdruck eines immer stärker werdenden Bestrebens unter der protestantischen Geistlichkeit, sich mit der Arbeiterfrage und der Sozialdemokratie und ihren Erfolgen auseinanderzusetzen. Im Evangelisch-sozialen Kongreß fanden sozialkonservative Geistliche der Richtung Adolf Stoeckers und sozialliberale Geistliche zusammen. Die sog. „jüngere" sozialliberale Richtung lehnte die herkömmliche patriarchalische Behandlung der Arbeiterfrage ab und bemühte sich um eine sozialpolitische Neuorientierung auf der Grundlage der christlichen Weltanschauung. Die „ J u n g e n " wurden angeführt von Paul Göhre, der mit seiner Studie „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" 2 großes Aufsehen erregt hatte. In erster Linie aber war es Friedrich Naumann, der der neuen Bewegung Profil verlieh und Resonanz in der breiteren Öffentlichkeit verschaffte. Dazu trug auch Naumanns Rolle in der evangelischen Arbeitervereinsbewegung bei. Er hatte in Frankfurt a. M., wo er als Vereinsgeistlicher für die Innere Mission tätig war, einen Arbeiterverein gegründet. Seine sozialreformerische Einstellung brachte ihn rasch in Gegensatz zu dem rheinisch-westfälischen Arbeiterverband, der konservativ, kulturkämpferisch und antisozialdemokratisch geprägt war. Es geht auf Naumanns Einfluß zurück, daß in dem Programm des Gesamtverbandes evangelischer Arbeitervereine von 1893 entschiedene sozialpolitische Positionen Berücksichtigung fanden. 3

1 Pollmann, Klaus Erich, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. - Berlin: Walter de Gruyter 1973, S. 81 - 8 4 . 2 Leipzig: Fr. W. Grunow 1891. 3 Theiner, Peter, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland ( 1 8 6 0 - 1 9 1 9 ) . - B a d e n - B a d e n : Nomos 1983, S.27f.

Editorischer

Bericht

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N a u m a n n faßte seine bis dato e r s c h i e n e n e n wichtigen Aufsätze zu sozialpolitischen Fragen und z u m christlichen Sozialismus Anfang 1894 in der Schrift „Was heißt C h r i s t l i c h - S o z i a l ? " 4 z u s a m m e n . Darin legte er dar, daß die Sozialdemokratie eine politische und gesellschaftliche Kraft darstelle, die man ernst n e h m e n m ü s s e und die schwerlich weiterhin u m g a n g e n w e r d e n könne. 5 Statt der Sozialdemokratie k o m p r o m i ß l o s den Kampf anzusagen, wie es die ältere christlich-soziale Richtung und der Evangelische Oberkirchenrat auch noch nach der W e n d e von 1890 taten, 6 forderte er zu einer maßvollen, eher a b w a r t e n d e n Haltung auf. 7 Auf Dauer, so Naumann, w e r d e die Sozialdemokratie die Bevölkerung nicht zufriedenstellen können. Die seit 1890 stets z u n e h m e n d e n Erfolge der Sozialdemokratie w ü r d e n bald an eine G r e n z e stoßen. Dann aber sei die große S t u n d e der ChristlichSozialen g e k o m m e n . Sie hätten die Chance, die Sozialdemokratie zu beerben und die Arbeiterschaft für höhere, über den materiellen A s p e k t hinausg e h e n d e Ziele zu g e w i n n e n . Bis dahin m ü s s e die Christlich-soziale B e w e g u n g weiter an einer Erneuerung der evangelischen Lehre arbeiten, die auch die sozialen Fragen in den Blick n e h m e n m ü s s e . In A n l e h n u n g an das Urchristentum m ü s s e sie eindeutig Partei für die S c h w ä c h s t e n n e h m e n . N a u m a n n hatte dabei i n s b e s o n d e r e jene sozialen Randgruppen im A u g e , die von der Agitation der Sozialdemokratie nicht erfaßt w u r d e n , wie die untere Beamtenschaft und zahlreiche Dienstleistungsberufe, z . B . die Kutscher, Portiers, Diener, Kellner. Für die nächste Zeit formulierte N a u m a n n die f o l g e n d e n konkreten Forderungen: V e r b e s s e r u n g des Arbeiterschutzes, die schrittweise E i n d ä m m u n g der privaten Verfügungsgewalt über den Boden, Steuerreformen, die die Steuerlast stärker auf die Schultern der besitzenden Schichten verlagerten, sowie die Stärkung der Stellung der G e w e r k s c h a f t e n und beruflichen Fachvereine. 8 Die Schrift N a u m a n n s lud zur A u s e i n a n d e r s e t z u n g geradezu ein. Daß es dabei zu scharfen Kontroversen k o m m e n w ü r d e , lag auf der Hand. D e n n N a u m a n n lehnte s o w o h l die evangelische A m t s k i r c h e als auch die „ b ü r g e r liche Nationalökonomie" entschieden ab. Zwar befasse sich die Nationalö k o n o m i e mit sozialen Fragen, d o c h von e i n e m Standpunkt aus, der eine Betrachtung dieser Frage „im Sinne der armen Brüder" unmöglich mache. 9 Martin Rade, der Herausgeber der „Christlichen Welt" und S c h w a g e r Friedrich Naumanns, wandte sich an den liberalen T h e o l o g e n Paul Drews

4 Gesammelte Aufsätze. - Leipzig: A. Deichert'sche Verlagsbuchhandlung (G. Böhme) 1894. 5 Ebd., S.4. 6 Pollmann, Kirchenregiment, S. 83f. 7 Siehe auch für das folgende: Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 3 - 6 . 8 Ebd., S. 86. 9 Ebd., S. 17.

Nachf.

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Rezension

von: Was heißt

Christlich-Sozial?

und an Max Weber mit der Bitte, Naumanns Schrift aus theologischer respektive nationalökonomischer Sicht zu besprechen. 10 Max Weber akzeptierte, hatte er doch der Evangelisch-sozialen Bewegung von Anbeginn an mit großer Sympathie gegenübergestanden. Für seinen Vetter, den Theologen Otto Baumgarten, hatte er seinerzeit redaktionelle Arbeiten für die neugegründeten Evangelisch-sozialen Zeitfragen übernommen 11 und einen Beitrag über die Landarbeiterfrage zugesagt. 12 Paul Göhre hatte er gegen Angriffe aus dem orthodoxen Lager verteidigt. 13 Den antisemitisch verbrämten Sozialkonservativismus Stoeckers lehnte er auf das Schärfste ab. 14 Webers Bindungen an die Evangelisch-soziale Bewegung waren anfänglich geprägt durch seine engen Beziehungen zu Otto Baumgarten und Paul Göhre; mit letzterem arbeitete er an der großen Landarbeiterenquete des Evangelisch-sozialen Kongresses zusammen. Mit der Übernahme der Besprechung der Schrift „Was heißt Christlich-Sozial?" trat dann zunehmend die Beziehung zu Friedrich Naumann, dem unbestrittenen Vordenker der jüngeren Christlich-Sozialen, in den Vordergrund. Aber nicht nur in dieser Hinsicht bedeutete die Rezension Webers eine Wende. Zugleich formulierte er hier erstmals seine grundsätzlichen Einwände gegen die christlichsozialen Positionen, die seine künftige Haltung in diesen Fragen maßgeblich bestimmen sollten. Trotz aller Sympathie für Naumann und größtem Respekt vor dessen persönlicher Integrität im Kampf mit den Kirchenbehörden 15 scheute sich Weber nicht, seine Kritik an dem Programm Naumanns und den zugrundeliegenden ökonomischen Prämissen in aller Schärfe darzulegen. Wie aus einer Anmerkung Rades zu der Besprechung Webers hervorgeht, sollte die Rezension ursprünglich schon in Nr. 19 der „Christlichen Welt" vom 10. Mai 1894 zusammen mit einer vom theologischen Stand10 Dies geht aus der Anmerkung Rades zu der im folgenden abgedruckten Besprechung Webers hervor. 11 Brief an Hermann Baumgarten vom 3. Jan. 1891, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 7. 12 Brief an Hermann Baumgarten vom 28. April 1892, ebd. 13 Siehe Webers Artikel „Zur Rechtfertigung Göhres". In diesem Band, oben, S. 108-119. 14 Mommsen, Max Weber2, S. 20. 15 In einem Brief an Martin Rade zeigte sich Weber erschrocken über das Verhalten der Kirche gegenüber Naumann und stellte sich vorbehaltlos hinter ihn. Brief an Martin Rade vom 23. Dez. 1893, UB Marburg, Nl. Martin Rade. Offensichtlich aufgrund einer Fehlinformation von Paul Göhre ging Weber dabei davon aus, daß Naumann aus seiner Stellung entlassen worden sei. Tatsächlich war Naumann durch das Frankfurter Konsistorium nur gemaßregelt worden, weil er in einer Versammlung gemeinsam mit dem früheren Kandidaten der Theologie und Sozialdemokraten Theodor von Wächter aufgetreten war. Vgl. Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 32f.

Editorischer Bericht

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punkt aus verfaßten Besprechung von Paul Drews erscheinen, also in der Nummer, die dem fünften Evangelisch-sozialen Kongreß gewidmet war. Zum Teil aufgrund des unvorhergesehen großen Umfangs wurden beide Besprechungen dann erst in der darauffolgenden Nummer gedruckt. 16 Webers Rezension hat möglicherweise am 12. April 1894 als Manuskript vorgelegen. 17

Zur Überlieferung

und

Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze von Friedrich] Naumann", in: Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Leipzig, Nr. 20 vom 17. Mai 1894, Sp. 4 7 2 - 4 7 7 , erschienen ist (A). Der Text ist gezeichnet: „Max Weber". Webers eigene Anmerkungen binden in A mit Sternchen an. Diese wurden durch die Indizierung mit in offene Klammern gesetzte Ziffern ersetzt.

16 Drews, Paul, Für und wider Naumann, in: Die christliche Welt, Nr. 20 vom 17. Mai 1894, Sp. 4 6 7 - 4 7 2 . Webers Besprechung schloß sich unmittelbar an. 17 Im Brief an Marianne Weber vom 12. April 1894, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, heißt es: „ich habe heut Vi Dutzend Briefe hinter mir ([...] ferner Recensionen betr. etc. etc.)".

[Rezension von:] Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze von Friedrich] Naumann 3

Der auf Wunsch des Herrn Herausgebers 1 hier unternommne Versuch, den ökonomischen Gehalt von Naumanns Schrift in wenigen Zeilen herauszuschälen, stößt auf besondre Schwierigkeiten. Sie 5 enthält nichts weniger als ein positives, geschlossenes Programm oder praktische Folgerungen aus einem solchen, vielmehr sind die darin enthaltnen wirtschaftspolitischen Aphorismen ganz überwiegend Ausfluß energischer Sympathien und Antipathien ihres Verfassers und tragen das Widerspruchsvolle an sich, das mit diesem höchst 10 persönlichen und irrrationalen Ursprung von selbst gegeben ist. Eine wirkliche Analyse müßte ihre Wurzeln bis in seine bedeutende und eigenartige Persönlichkeit zurückverfolgen, und zu einem solchen Beginnen bin ich, vor allem andern, nach meinem Empfinden, zu jung. Wenn ich trotzdem eine kurze Skizze von Naumanns sozialpoli- 15 tischer Position v e r s u c h e , s o muß ich überwiegend wiederholen, was ich bei andern Gelegenheiten darüber schon gesagt habe. | A 473 Was zunächst in die Augen fällt, ist der bewußt radikale, richtiger: modern-proletarische Zug seiner Auffassungsweise. Die Anlehnung an die „bürgerliche" nationalökonomische Wissenschaft weist er aus 20 dem Erfahrungsgrunde von sich, weil sie es erschwere, die Welt „im Sinne der armen Brüder" zu betrachten (S. 17); die geeignete Vorbildung für einen Christlich-Sozialen sei vielmehr - wie er es in der ihm eignen scharf pointirten Weise ausdrückt - das Parallelstudium von u Eine d a n k b a r e A u f g a b e wäre der Vergleich mit d e m christlichen Sozialismus Englands. D a v o n ein a n d e r m a l . 2 |

a In A bindet die redaktionelle Anmerkung an: Auf die B e s p r e c h u n g der Schrift durch einen T h e o l o g e n folgt hier eine zweite von n a t i o n a l ö k o n o m i s c h e r Seite. Beide w a r e n für die K o n g r e ß n u m m e r e r b e t e n , m u ß t e n aber u m ihres U m f a n g s willen und weil es nicht angezeigt schien, jene N u m m e r ganz d e m E i n e n zu w i d m e n , zurückstehen. D[er] H i e r a u s geber].

1 Gemeint ist Martin Rade. Das entsprechende Schreiben ist nicht überliefert. 2 Zu einer derartigen komparativen Analyse ist es nicht gekommen.

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von: Was heißt

Christlich-Sozial?

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„Marx und Christus." 3 Das sei für einen Christlich-Sozialen, der nicht „Professor" werden wolle und deshalb nicht über alle Einzelheiten im Reinen sein müsse, genug, 4 - an der akademischen, zumal der historisch beschreibenden Nationalökonomie, die nach seiner Ansicht den Thatendrang gefährdet, hat er keine Freude (S. 42) 5 eine kleine Enttäuschung für uns nach den Herbstkursen 6 - : er verlangt aber doch (S. 18), daß man die Sozialdemokratie „mit Glauben und historischer Bildung" studire. 7 Woher diese letztere nehmen? Marx besaß sie in seiner Art in eminentem Maße, aber weder von ihm noch vom Neuen Testament wird man behaupten, daß historische Bildung durch sie vermittelt werde. Der Sinn dieser widerspruchsvollen Bemerkungen Naumanns ist in der, ich möchte sagen „weltfreudigen" Tendenz seiner Anschauungsweise zu suchen. Der Kampf gegen die Weltfremdheit - pastorale wie akademische - mit ihren „aus der Vergangenheit hergeholten" Idealen scheint ihm die dringendste Aufgabe. 8 Und hier liegt ein wesentlicher Kraftquell seiner sozialpolitischen Empfindung, sympathisch und, in seiner Übertreibung, bedenklich zugleich. Es ist die rückhaltlose Anerkennung des technischen Fortschritts mit allen seinen Konsequenzen, einschließlich der modernen Arbeitsverfassung, als providentiellen Mittels zur Emanzipation der Menschheit: „Gott will die Maschine" (S.35). 9 Deshalb wird - im Gegensatz gegen die ältere christlich-soziale Richtung - entschlossen gebrochen mit der sentimentalen Fiktion der Interessenharmonie herrschender und beherrschter Klassen (der „allgemeinen Harmoniesuppe" S. 27) und, um es deutlich zu sagen, der Klassenkampf legalisirt. Das 3 Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 17. 4 Ebd. 5 Ebd., S . 4 8 : „ A b e r unsere historische Art der Auffassung ist nicht die Geschichtsbetrachtung des Materialismus, [...] sie ist auch nicht die der historischen Nationalökonomie, die mehr beschreibt als z u m Handeln d r ä n g t " . 6 G e m e i n t sind die v o m Evangelisch-sozialen Kongreß v o m 10. bis 20. Oktober 1893 veranstalteten nationalökonomischen Kurse für Geistliche, an d e n e n auch Max Weber mitgewirkt hatte. Siehe zu diesen Kursen den Editorischen Bericht zu W e b e r s Beitrag: „Landwirtschaft und Agrarpolitik. Grundriß zu 8 V o r l e s u n g e n im Evangelisch-sozialen Kursus zu Berlin. Oktober 1 8 9 3 " , oben, S. 2 5 4 - 2 5 7 . 7 Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 18: „ W e n n j e m a n d mit d e m Glauben an J e s u s und mit historischer Bildung an das Studium der Sozialdemokratie herantritt, so wird er vielfache Bereicherung erfahren". 8 Ebd., S. 33: „Viele Christen von heute haben ihre Ideale in vergangenen Tagen." 9 Ebd., S. 35: „Gott will den technischen Fortschritt, er will die Maschine."

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von: Was heißt

Christlich-Sozial?

ist gegenüber manchen Illusionen kirchlicher Sozialpolitiker ein Fortschritt zum Realismus. Es bedeutet aber namentlich - und darin stimmt Naumann mit Schall überein 10 - die Loslösung vom konservativen Parteiprogramm. In Naumanns Augen ist das letztere (S. 16) ein „Programm für Herren", er lehnt auch - und dies zum Teil im Widerspruch mit Schall - diejenigen Seiten desselben ab, die, wenigstens vorgeblich, die Stärkung der Stellung der Kirche bezwecken, 11 da „nicht Kirchlichkeit, sondern Brüderlichkeit" 12 das Ziel sein müsse. Das Arbeitsgebiet sei die „unterste Schicht"13 des Volkes, „mehr der Geselle als der Meister, mehr der Dienstbote als die Herrschaft, mehr der ungelernte Tagearbeiter als gelernte Arbeiter" (S.50). 14 Scheinbar etwas unvermittelt neben diesem Programm, gerade die tiefststeilende Kategorie der Arbeiter zu emanzipiren, steht die Ansicht, daß zur christlich-sozialen Bearbeitung am geeignetsten seien, neben den Hausindustriellen: Portiers, Auslaufer, Diener, Kutscher, kleine Beamte und derartige den „Rand" des Proletariats repräsentirende Gruppen. 15 Der innere Grund ist aber, daß diese unter sich ungleichartigen Kategorien ein Moment gemeinsam haben: die Schwierigkeit einer gewerkschaftlichen, überhaupt einer spontanen Organisation in freien Vereinen, und der Gedanke nahe liegt, hier mit einer zunächst mehr patriarchalischen Organisation vorbereitend zu arbeiten. Der Gedanke ist fraglos richtig, und ich kann nur bedauern, daß Naumann, wie er (S. 24) besonders hervorhebt, der Ansicht ist, bei

10 Naumann setzte sich intensiv mit der Schrift des evangelischen Geistlichen Eduard Schall über „Die Socialdemokratie in ihren Wahrheiten und Irrthümern und die Stellung der protestantischen Kirche zur socialen Frage" (Berlin: Elwin Staude 1893) auseinander. Schall beschreibt in dem Kapitel „Zunftpartei" die unzulängliche, oberflächliche Haltung des Konservativismus den sozialpolitischen Problemen gegenüber. Siehe bes. S. 123. Naumann zitiert diese Passage zustimmend. Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 79. 11 Naumann bedauerte in seiner Besprechung, daß Schall den Konservativismus nicht ausführlicher behandelt habe, da „viele Christen noch immer an den innern Zusammenhang konservativer und christlicher Ideen" glaubten. Ebd. 12 Ebd., S. 16: „Nicht Kirchlichkeit ist es, wonach wir dürsten, sondern Brüderlichkeit." 13 Ebd., S. 49. 14 Ebd., S. 50: „Der Gehilfe ist im allgemeinen mehr ein Gegenstand unserer Fürsorge als der Meister, der Dienstbote mehr als die Herrschaft, der ungelernte Tagearbeiter mehr als der gelernte organisierte Arbeiter, der Arbeitslose mehr als der, der dauernde Arbeit hat." 15 Ebd., S. 25. Naumann spricht in bezug auf diese Gruppen vom „Rand der Sozialdemokratie".

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den Landarbeitern des Ostens sei für ein gleichartiges Vorgehen die Zeit noch nicht gekommen, aus dem meines Erachtens doch wenig zutreffenden Grunde, daß der Tagelöhner, wenn er aus seiner Stumpfheit erwache, zunächst „schimpfen" wolle. 16 Ich sehe nicht 5 ein, weshalb man dieses vermeintliche Bedürfnis sich zunächst austoben lassen13 und dann mit Einwirkungsversuchen nachhinken sollte. Entweder steckt hier noch ein Rest konservativer Parteitradition, oder die taktische Rücksicht, nicht zu allen andern Gegnern noch in Gestalt der wirtschaftlich übermächtigen östlichen Großgrundbesit10 zer vorzeitig sich einen weitern Gegner auf den Hals zu ziehen, oder endlich, Naumann hält, mit unter dem Eindrucke der ziemlich er-| gebnislosen Berliner Besprechung über den Gegenstand, 1 7 das Ma- A 474 terial, das zur organisatorischen Arbeit zur Verfügung stünde, noch nicht für reif und zufolge der Patronats- 18 und sonstigen sozialen 15 Verhältnisse auf dem Lande auch nicht für äußerlich genügend selbständig gestellt. Es spielt wohl noch ein andres Moment mehr unbewußt mit, von dem weiter unten zu reden sein wird. 19 Nicht in vollem Maße tritt aber überhaupt in der hier erörterten Schrift Naumanns seine Stellung zur Organisationsfrage der Arbei20 ter zu Tage. Vielleicht sind auch seine Ansichten über die weitere Zukunft in dieser Beziehung (christlich-soziale Fachvereine?) noch nicht geklärt, da speziell die Bewegung der Evangelischen Arbeitervereine vorerst noch zu sehr in den Anfängen steht, als daß wir das Weitere nicht zunächst der Zukunft überlassen müßten. Die Zukunft 25 wird dann auch über die Stellung entscheiden, die evangelische Geistliche innerhalb oder zu dieser Bewegung von ihrem Standpunkte aus einnehmen können. Es wird dann zu bedenken sein, daß ein b Fehlt in A; lassen sinngemäß ergänzt.

16 Ebd., S.24: „[...] wenn er erwacht, dann will er zuerst räsonnieren, fluchen, er will zornig und wüst sein, ehe er praktische Politik treiben lernt." 17 Es ist nicht eindeutig zu klären, welche „Berliner Besprechung" Weber meint. Möglicherweise handelt es sich um die Ausschußsitzung des Gesamtverbandes evangelischer Arbeitervereine am 31. Mai 1893 in Berlin. Hier wurde, unter Beteiligung Naumanns, das Programm des Gesamtverbandes verabschiedet, das die volle Koalitionsfreiheit nur für gewerbliche, nicht aber für ländliche Arbeiter forderte. Vgl. Just, A., Der Gesamtverband der Evangelischen Arbeitervereine Deutschlands, seine Geschichte und seine Arbeiten. Gütersloh: Bertelsmann 1913 2 , S. 1 4 - 1 7 . 18 Siehe oben, S. 101, Anm. 19. 19 Siehe unten, S. 356.

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Unterschied ist zwischen dem Organisator einer Klassenbewegung, wie es Naumann in seiner Art ist, und einem Interessenvertreter, der sich in den Dienst der Klasse stellt. Es wird die Gefahr sein, der Jüngere, die es ihm nachthun wollen, verfallen, daß sie nicht jenes, sondern dieses werden. Darüber aber jetzt schon zu diskutiren, hätte keinen Zweck, und ich kann es jedenfalls nur erfreulich finden, wenn Naumann die anachronistische Vorstellung, als ob ein Geistlicher zwar in konservativen Handwerkervereinen gegen die Börse wettern dürfe, dem Versuch einer Organisation des Proletariats aber seine Teilnahme versagen müsse, zweifellos nie gekommen ist. Die stillschweigende Voraussetzung der christlich-sozialen Bewegung älterer Observanz, daß „Thron und Altar" auf der Schulter des Großgrundbesitzes und des Handwerks am sichersten ruhen, ist für ihn ein überwundner Standpunkt. Nur dem Zwecke, eine Grundlage für die Arbeiterorganisation zu gewinnen, dienen nun auch - und das ist zu ihrer Würdigung zu berücksichtigen - die im engern Sinn „nationalökonomischen" Spekulationen Naumanns, deren Entwicklung er zu diesem Behuf für unentbehrlich hält. Er hat darin wahrscheinlich psychologisch recht, und es ist ein Charakteristikum für den deutschen Charakter der Evangelischen Arbeitervereine, daß sie mit der Wahrnehmung naheliegender Klassen- und Berufsinteressen sich nicht begnügen, sondern einer spekulativen Grundlage, einer eignen ökonomischen Theorie, bedürfen. Naumann speziell glaubt charakteristischerweise, daß hier, also auf dem Gebiete der Theorie, nicht der Praxis, die Scheidewand gegen die Sozialdemokratie gezogen werden müsse, solle anders das Bestehen einer solchen überhaupt gesichert sein. Er glaubt sie nun in der verschiednen Stellung zur „Kapitalkonzentration" gefunden zu haben. Die Sozialdemokratie bedeute den Klassenkampf gegen das Unternehmertum, lasse dagegen fatalistisch 2 ' die „Kapitalkonzentration" sich fortsetzen, hoffend, dereinst die Expropriateure expropriiren zu können. 2 0 Die Bewegung der Evangelischen Arbeitervereine solle dagegen gerade den Kampf gegen 2)

Die Bemerkungen über dies „fatalistische" Moment in der sozialdemokratischen Bewegung gehören zum Besten aus Naumanns Schrift. |

20 Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S . 2 0 f . , 51 und 88, In A n l e h n u n g an die ents p r e c h e n d e n T h e s e n des K o m m u n i s t i s c h e n Manifests.

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die „Kapitalkonzentration" in den Vordergrund rücken, während die „Betriebskonzentration" als Hebel technischen Fortschritts anerkannt werde. 21 Wie die Gegenüberstellung von „Krupp" und „Stumm" (Beispiele der Betriebskonzentration) einerseits und „Rothschild" andrerseits illustriren soll, 22 glaubt Naumann unter „Kapitalkonzentration", kurz gesagt, die Anhäufung arbeitsloser Renten irgendwelcher Art, die Anhäufung überhaupt von Kapital, ohne daß der Zweck einer volkswirtschaftlich rationellem Betriebsorganisation dazu einen zulänglichen Grund bietet, zu verstehen. Aber ich fürchte, er identifizirt dennoch „Betriebskonzentration" überhaupt mit „industriellem Großbetrieb" und erkennt z.B. nicht, daß ganz die gleiche Bedeutung für die organisatorische Funktion des Handels in der Volkswirtschaft die Konzentration z.B. der großen Bankkapitalien hat. Es gehört zu den ältesten Gepflogenheiten der theologischen Nationalökonomie seit Thomas von Aquino, daß ihnen die „Handelskapitalien" mit der chemisch reinen | arbeitslosen A 475 Rente in der gleichen Verdammnis waren. In Naumanns Ausführungen läßt die Andeutung, daß die Geschichte des kanonischen Zinsverbots 23 studirt (S. 15) und das „alte Zinsproblem" wieder aufgerollt werden solle, den Anknüpfungspunkt an diese Antezedenzien deutlich erkennen. Ich enthalte mich, solange nicht eine nähere Präzisirung erfolgt, der Kritik und möchte für jetzt nur einem Irrtum entgegentreten, dem Naumann offenbar huldigt: daß ein hoher Zinsfuß eine gesteigerte „Kapitalkonzentration" (in seinem Sinne) bedeute und um deswillen bekämpft werden müsse, ein Sinken des Zinsfußes also gewissermaßen eine Dezentralisirung des Kapitals oder doch eine Vermehrung des Einkommens aus Arbeit auf Kosten des Kapitals herbeizuführen geeignet sei. Der Stand des Zinsfußes ist im wesentlichen nur ein Symptom, das je nach den Umständen sehr verschieden zu deuten ist. Keinesfalls bedeutet sein Sinken an sich eine Abnahme der großen Vermögen, noch weniger bewirkt es eine solche, - regelmäßig umgekehrt: es entzieht einer ganzen Klasse

21 Ebd., S. 22. 22 Ebd. 23 Im 12. und 13. Jahrhundert wurde das Gesetzbuch des kanonischen Rechts um Bestimmungen gegen den Wucher erweitert. Die Kirche wollte damit sowie mit zahlreichen Konzilsbeschlüssen der geldwirtschaftlichen Umgestaltung begegnen. Vgl. ausführlich zur Geschichte des Zins- und Wucherverbots: Le Goff, Jacques, Wucherzins und Höllenqualen.-Stuttgart: Klett-Cotta 1988, bes. S. 1 8 - 2 3 .

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kleiner und mittlerer Vermögen die werbende Kraft und die Fähigkeit, der Existenz des Besitzers einen Halt zu verleihen, und stärkt also die relative Macht der großen Kapitalisten, indem es die kleinen aus den Reihen der „Besitzenden" streicht. Man kurirt auch hier die Krankheitsgründe nicht, wenn man die Symptome unterdrückt. Naumann wird aber dem Anschluß an den Lassalleanismus24 auch bei seiner Legalisirung der „Betriebskonzentration" nicht entgehen, wenn er konsequent bleibt. Nicht zufällig schweben ihm nämlich gerade die völlig exzeptionellen Beispiele von Krupp und Stumm vor. Die normale Form der Schöpfung von Großbetrieben ist und wird notwendig immer mehr die Anhäufung großer Aktienkapitalien, und die Dividende ist Naumann schwerlich heiliger als der Zins. Er denkt aber, wie gesagt, offenbar nur an den Fall des von einem Privatunternehmer persönlich geleiteten industriellen Großbetriebes, und dieser genießt seine relative Sympathie. Weshalb? das ist ihm vielleicht selbst teilweise unbewußt geblieben, - thatsächlich aber ist es der gleiche Grund, aus dem die Kirche von jeher der Evolution der bürgerlich-geldwirtschaftlichen Wirtschaftsorganisation mißtrauisch gegenüberstand. Das Charakteristikum der modernen Entwicklung ist der Wegfall der persönlichen Herrschaftsverhältnisse als Grundlage der Arbeitsverfassung und damit der subjektiven, psychologischen, einer religiös-ethischen Deutung und Ausprägung zugänglichen Voraussetzungen der Abhängigkeit der beherrschten Klassen. Im Handwerk, in der Arbeitsverfassung der Landwirtschaft, auch und gerade der landwirtschaftlichen Großbetriebe, ist die psychologische Unterlage für ein Unterwerfungsverhältnis, wie es jedes Arbeitsverhältnis ist, die persönliche, individuelle Beziehung zum Herrn, vorhanden. Daher, wie ich glaube, auch Naumanns unbewußt geringeres Interesse an dem Emanzipationskampf der Landarbeiter. Der persönlich geleitete industrielle Großbetrieb, den Naumann als Enwicklungsprodukt anzuerkennen sich genötigt sieht, steht dem noch relativ nah. Die moderne Entwicklung aber setzt an die Stelle dessen zunehmend die unpersönliche Herr-

24 Im Gegensatz zum Marxismus, der die Kapitalkonzentration als unabwendbares Schicksal der modernen wirtschaftlichen Entwicklung ansah, ging Lassalle von der Erwartung aus, den Kapitalismus auf betrieblicher Ebene mit Hilfe der Gründung von Produktivassoziationen mit Staatshilfe überwinden zu können. Dies dürfte Weber mit der Bemerkung vom „Lassalleanismus" Im Auge gehabt haben.

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schaft der Klasse der Besitzenden, rein geschäftliche an die Stelle der persönlichen Beziehungen, Tributpflichten an eine unbekannte, nicht sichtbare und greifbare Macht an die Stelle der persönlichen Unterordnung und beseitigt damit die Möglichkeit, das Verhältnis 5 der Herrschenden zu den Beherrschten ethisch und religiös zu erfassen. Der einzelne Unternehmer ist nur Typus der Klasse. Dies, und nicht irgend welche wirtschaftlichen und sozialen Schäden der Besitzverteilung, ist vom religiösen Standpunkt aus das Problem. Die Logik dieser Entwicklung, die die spezifisch moderne Klassenbil10 dung darstellt, wird auch Naumann, soll sein Programm für ihn Wahrheit werden, zur Parteinahme gegen jede Form des privaten Kapitals zwingen, denn es stehen sich nicht mehr einzelne Personen mit individuellen psychologischen Beziehungen, sondern kampfbereite Klassen gegenüber, bei denen die sittlich-religiöse Einwirkung 15 auf das Individuum vorerst versagt. Thatsächlich fühlt er sich auch bereits als „Partei" gegenüber den „Besitzenden" schlechthin (S. 14).25 Wenn er dabei auf Christus exemplifizirt, der bei den Zöllnern saß (S. 92),26 so möge er mir die etwas pedantische | Bemer- A 476 kung nicht verargen, daß die römischen Publikanen 27 wohl nicht als 20 Repräsentanten des arbeitenden Volkes, sondern nach der Volksauffassung als solche der Erpressung und des Wuchers und als Vertreter des Kapitalismus der damaligen Zeiten zu gelten haben. Naumann hält „Geiz und Wucher" für die „Todsünden" der heutigen herrschenden Klassen (S. 22). 28 Darin liegt der Begriff einer „Klas25 sensünde", denn es soll der Vorwurf ja nicht die Individuen treffen. Zugehörige einer in gleichem Sinne „sündigen" Klasse aber waren die Zöllner: und zu ihnen kam Christus.

25 Naumann spricht hier von den „besitzenden Klassen". 26 Ebd., S. 97. 27 Publikanen hießen die privaten Geschäftspartner des römischen Staats für öffentliche Lieferungen, vor allem aber für die Pacht staatlichen Besitzes und staatlicher Einkünfte. Die Publikanen entrichteten als Steuerpächter dem Staat eine pauschale Pachtsumme und trieben die Steuern vor Ort selbst bzw. durch ihr Personal (im Neuen Testament die „Zöllner" genannt) ein, was z.T. zu unerträglichen Pressionen in den Gemeinden und Provinzen führte. Siehe auch Weber, Max, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. - Stuttgart: Ferdinand Enke 1891, S. 183 (MWG I/2, S.263f.). 28 Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 22: „Geiz und Wucher sind die Haupttodsünden, ethisch und wirtschaftlich."

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Wie steht es nun mit der Praktikabilität des Kampfes gegen die Kapitalkonzentration als eines Programms für eine proletarische Bewegung? Wird sie dauernd um dieses Banner zu scharen sein? Zum Kampf gegen den Zins werden stets die in erster Linie sich berufen fühlen, die Zinsen zu zahlen haben. Das sind nicht die Proletarier. Alle Erfahrung spricht dagegen, denn das Hemd ist jedermann näher als der Rock. Eine Arbeiterpartei wird stets mit dem sich auseinandersetzen wollen, der ihr Herr ist: das ist der Unternehmer, und nicht mit dem Kapitalisten, der der Plagegeist eben dieser Herren ist. Nur an einem Punkte berühren sich die Interessen des Proletariats unmittelbar und fühlbar feindlich mit denen des Besitzes als solchen: das ist in der Wohnungsfrage. Daher ist auch für Naumann der Bodenbesitz der Typus des „Kapitals". Wenn er hier positive, zumal agrarpolitische Vorschläge (mit denen ich mich nicht identifiziren will) als Flickwerk bezeichnet (S. 36) und das Recht des Kapitals an sich erörtert sehen will, 29 so dokumentirt sich darin wie in der grundsätzlichen Verwerfung der privaten Ausnutzung der Bodenrente (S. 22) und in dem positiven Vorschlag der Verstaatlichung oder Kommunalisirung des Rentenzuwachses seine Anhängerschaft an den extremeren Flügel der Bodenbesitzreformer. 3 0 Ich enthalte mich hier einer Auseinandersetzung mit letztern. Die Aneignung des Bodens durch die Gemeinschaft ist mir eine leere juristische Formel, so lange ich nicht weiß, was nun weiter werden soll. Programmpunkte in Betreff einer kommunalen Wohnungspolitik würden mir wertvoller erscheinen.

29 In A n l e h n u n g an Eduard Schall (siehe o b e n , A n m . 10) wirft N a u m a n n d e n Konservativ e n „ e w i g e Reparaturarbeit o h n e Bauplan" auf ihrem u r e i g e n s t e n Gebiet, der Landwirtschaft, vor. Als agrarpolitische V o r s c h l ä g e böten sie nur die R e f o r m d e s Erb- und Familienrechts, die Einführung eines H e i m s t ä t t e n g e s e t z e s , die Ü b e r f ü h r u n g der H y p o t h e k e n s c h u l d e n in amortisierbare R e n t e n s c h u l d , Kornzölle, d e n Bimetallismus und die Ä n d e r u n g d e s G e s e t z e s über d e n U n t e r s t ü t z u n g s w o h n o r t an. Ebd., S . 7 9 f . D e m g e g e n ü b e r stellt N a u m a n n d e n privaten Besitz an B o d e n grundsätzlich in Frage. Ebd., S . 2 2 u n d 86. (Auf der v o n W e b e r g e n a n n t e n S. 3 6 findet sich keine A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d i e s e n Fragen.) 30 Der 1888 g e g r ü n d e t e D e u t s c h e B u n d für B o d e n b e s i t z r e f o r m , die Vorläuferorganisation d e s B u n d e s D e u t s c h e r B o d e n r e f o r m e r v o n 1898, sah in d e m Privateigentum an G r u n d und B o d e n die Ursache für alle z e i t g e n ö s s i s c h e n sozialen P r o b l e m e und plädierte daher in s e i n e m P r o g r a m m „für die Ü b e r f ü h r u n g d e s G r u n d b e s i t z e s bzw. der G r u n d r e n t e aus Einzelhänden in die H ä n d e der G e s a m t h e i t oder der G e m e i n d e " . Zitiert nach S e e mann, Josef, B u n d D e u t s c h e r B o d e n r e f o r m e r , in: Lexikon zur Parteiengeschichte, hg. v o n Dieter Fricke u.a., Band 1. - Köln: P a h l - R u g e n s t e i n 1983, S. 283.

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Glaube ich hiernach nicht, daß das von Naumann jetzt teils formulirte, teils angedeutete Programm mit seinen theoretischen Unterlagen sich dauernd brauchbar erweisen wird, so ist aber damit gegen ihn noch nichts bewiesen. Es ist, wie gesagt, eine deutsche Sitte vielverspottet und doch ein Symptom des unausrottbarsten Idealismus - , daß der Einzelne sich für seinen Privatgebrauch eine eigne Philosophie und ein eignes ökonomisches System zurechtzimmert. Darin ist Naumann den Seinigen mit gutem Beispiel vorangegangen. Gerade das Widerspruchsvolle seines Systems zeigt, daß er nicht zu den üblichen theoretischen Weltverbesserern gehört. Entscheidend für die Zukunft der von ihm geleiteten Bewegung ist nicht sein System, sondern das Maß von gesund proletarischem Bewußtsein, das er ihr zu geben verstehen wird. Und in dieser Beziehung strotzt er von Lebenskraft und Vertrauen auf die Zukunft. Manche seiner Worte lesen sich fast wie eine Drohung nach oben: Gott könne „das Elend nicht wollen", das Gegenteil zu behaupten, sei „Blasphemie", und er würde, glaubte er es, keinen Sonntag mehr von diesem Gott zu predigen vermögen. 31 Mit diesem aprioristischen Optimismus tritt er auch an das Bevölkerungsproblem heran. Dieses älteste und ernsteste Problem der gesamten Sozialgeschichte - wer ihm diesen Rang bestreitet, mit dem wird man wenigstens wissenschaftlich nicht diskutiren wollen - besteht für Naumanns Anschauung nicht. Daß er die wirtschaftliche Notlage als Folge eines reichen Kindersegens für eine spezifische „Unbarmherzigkeit" der modernen Wirtschaftsverfassung hält, ist ein völliger historischer Irrtum. 3 2 Daß der Gedanke der „Beschränkung der Kinderzahl" ihm offenbar identisch ist mit dem Schmutz der Großstadt, 3 3 entspricht nicht den Thatsachen, wie er bei den tagelöhnernden ländlichen Kleinbesitzern im Oberelsaß und bei dem Bauernschlage, den man in Frankreich (nicht überall, aber vielfach) an Orten findet, wo das Zweikindersystem herrscht, erkunden könnte. Der Grund seiner völlig negativen Stellung ist wiederum seine bewußt proletarische Betrachtungsweise, die - dies unbewußt - die | Konsequenz hat, daß ihm die Zuerkennung einer A 477 31 Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 76. 32 Naumann setzt sich in dem Kapitel „Malthus und seine Nachfolger" mit den sozialen Fragen des Bevölkerungswachstums auseinander. Ebd., S. 7 5 - 7 7 . Siehe auch ebd., S.35f. 33 Ebd., S. 75: „[...] der Rat, daß das Volk im ganzen weniger Kinder haben sollte, ist ein Rat der Sünde".

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sozialpolitischen Funktion an den Besitz als solchen regelmäßig schwer fällt. Wir Bourgeois sehen in dem Besitz - nicht allein, aber allerdings wesentlich auch in dem privaten erblichen Bodenbesitz einen bevölkerungspolitischen Regulator, ein Mittel, das dem Einzelnen die Verantwortlichkeit zuschiebt für die Kinder, die er in die Welt setzt, und darin liegt für uns eine wesentliche Seite des Besitzverteilungsproblems, daß die gegenwärtige Entwicklung den Besitz dieser Rolle entkleidet. Daß für Naumann das Problem nicht besteht, ist auch eine Konsequenz seines Glaubens an die unbegrenzte Zukunft des technischen Fortschritts. Auch diesen Glauben teilen wir nicht. Wenn das jetzige Zeitalter der Evolution der Technik sich seinem Ende nähern wird, dann wird die Menschheit wieder in die Lage kommen, sich auf Dauer berechnete wirtschaftliche Organisationen zu geben. Vielleicht wird dann der numerus clausus, der in den englischen Gewerkvereinen als Organisationsprinzip aufzutauchen begonnen hat, 34 die Stelle der alten Zunftorganisation übernehmen, damit aber auch deren bevölkerungspolitische Bedeutung. Verschwinden aber wird das Bevölkerungsproblem nie, so wenig wie es jemals gefehlt hat. Damit genug der Auseinandersetzung. Ich habe absichtlich nicht die praktischen Ziele,3> die Naumann, wennschon nur als vorläufige, aufführt (S.86), besprochen, sondern versucht, seine Gesamtposition zu verdeutlichen. Soweit er diese seine Gesamtposition seinerseits theoretisch hat formuliren wollen, nahm die Erörterung notgedrungen den Charakter der Kritik an, denn er hat sie eben, wie ich 3) Es sind neben der Betonung des Arbeiterschutzes teils bodenreformerische, nämlich 1. obligatorische staatliche Hypothekenbanken, 2. staatliches Bodenvorkaufsrecht zum jetzigen Bodentaxwert als Vorbereitung des Bodenregals 3 5 ; teils die Einkommen- und Vermögensverteilung betreffend: 1. progressive Einkommensteuer, 2. ebensolche Erbschaftssteuer; teils organisatorische: Fachvereine und Gewerkschaften in allen Berufen als obligatorische Berufsvertretungen. |

3 4 In Großbritannien kontrollierten die Gewerkschaften in einer Reihe von Gewerben, insbesondere im Bereich der Hafenarbeit, die Vermittlung von Arbeitsgelegenheiten und waren demgemäß an einer Beschränkung der um Arbeit nachsuchenden Mitglieder interessiert. Dabei kam es verschiedentlich zu Aufnahmebeschränkungen bei den Gewerkschaften (numerus clausus). Vgl. Brentano, Lujo, Gewerkvereine, in: HdStW 4 2 , 1900 S. 618. 3 5 Mit „Bodenregal" ist hier wohl in Anlehnung an mittelalterliche Rechtsverhältnisse die Einführung des staatlichen Oberbesitzes an Grund und Boden gemeint.

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glaube, teils unrichtig, teils unvollständig formulirt. Der aufrichtigen Sympathie für den Mann und seine praktische Arbeit und der Freude an der Kraft der Rede und des Willens, von der auch die hier besprochne Schrift zeugt, werden diese Bemerkungen bei niemand, 5 namentlich nicht bei mir, Eintrag thun.

Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter

Editorischer Bericht

Zur

Entstehung

Bei der 1891 / 9 2 v o m Verein für Socialpolitik durchgeführten, großangelegten Enquete zur Lage der Landarbeiter in Deutschland hatte Max W e b e r die Bearbeitung des politisch brisantesten Teils ü b e r n o m m e n , nämlich der ostelbischen Provinzen. Damals z e i c h n e t e sich bereits ab, daß die 1886 eingeleitete Politik der Z u r ü c k d r ä n g u n g d e s Polentums in den preußischen O s t p r o v i n z e n mit Hilfe der staatlich g e f ö r d e r t e n A n s i e d l u n g d e u t s c h e r Bauern nicht die erwarteten Erfolge hatte und, w e n n überhaupt, eine erhebliche E r h ö h u n g d e s der A n s i e d l u n g s k o m m i s s i o n zur V e r f ü g u n g s t e h e n d e n Kapitals n o t w e n d i g w e r d e n w ü r d e . Hinzu kam die sich seit g e r a u m e r Zeit abz e i c h n e n d e „ L e u t e n o t " in der östlichen Großgüterwirtschaft, bedingt durch die z u n e h m e n d e A b w a n d e r u n g v o n Landarbeitern in die rasch w a c h s e n d e n Industriezentren in Sachsen, Berlin, H a m b u r g und Rheinland-Westfalen, die nur teilweise durch den Rückgriff auf polnische Wanderarbeiter aufgefangen w e r d e n konnte. Vor allem aber hatte Caprivis Übergang zu einer Politik der Handelsverträge, die auf eine Förderung der industriestaatlichen Entwicklung d e s D e u t s c h e n Reichs statt einer einseitigen B e g ü n s t i g u n g des agrarischen Sektors hinauslief, zu erheblichen politischen A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n geführt. Die im Z u g e der D u r c h s e t z u n g dieser Politik erforderliche H e r a b s e t z u n g der Agrarzölle für die Handelsvertragspartner um 1,50 Mark pro D o p p e l z e n t n e r w u r d e v o n der g r o ß g r u n d b e s i t z e n d e n Aristokratie in Preußen nicht nur als s c h w e r e Belastung der durch die ü b e r s e e ische K o n k u r r e n z b e d r o h t e n Großgüterwirtschaft im O s t e n a n g e s e h e n , s o n d e r n auch als akute G e f ä h r d u n g ihrer durch die wirtschaftliche Entwicklung seit längerem erschütterten gesellschaftlichen Vorrangstellung in Staat und Gesellschaft. Unter diesen U m s t ä n d e n kam d e n Ergebnissen der Enquete über die Lage der Landarbeiterschaft in den ostelbischen G e b i e t e n Deutschlands eine unmittelbare politische B e d e u t u n g zu. Denn die A b w a n d e r u n g d e u t s c h e r Landarbeiter v o m flachen Land und die Z u w a n d e r u n g v o n polnischen Arbeitern waren unmittelbar verknüpft mit d e m w e i t e r e n Schicksal der „ i n n e r e n Kolonisation", d . h . der Z u r ü c k d r ä n g u n g der polnischen B e v ö l k e r u n g durch A n s i e d l u n g v o n d e u t s c h s t ä m m i g e n Bauern und Landarbeitern; vor allem aber war der Z u s a m m e n h a n g der Landarbeiterfrage mit

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der wirtschaftlichen Lage des Großgrundbesitzes, die sich infolge der zun e h m e n d e n ü b e r s e e i s c h e n Konkurrenz, aber auch der durch soziale Faktoren vorangetriebenen Verschuldung der großen Güter rapide verschlechtert hatte, unübersehbar. D e m e n t s p r e c h e n d groß war das A u f s e h e n , w e l c h e s Max W e b e r s A u s w e r t u n g der Enquete in seiner umfangreichen A b h a n d l u n g „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland" in den Schriften des Vereins für Socialpolitik 1 und dann deren Präsentation auf der der Landarbeiterfrage und der inneren Kolonisation g e w i d m e t e n G e n e r a l v e r s a m m l u n g des Vereins für Socialpolitik am 20. und 21. März 1893 2 in der Öffentlichkeit erregte. Dies war zunächst darin begründet, daß W e b e r in einer außerordentlich kurz b e m e s s e n e n Frist e i n e m höchst s p r ö d e n Material b e m e r k e n s w e r t e Einsichten v o n weitreichender B e d e u t u n g abzuringen verstanden hatte, ein Tatbestand, der ihm fast über Nacht zu g r o ß e m wissenschaftlichen A n s e hen verhalf; darüber hinaus aber hatte Max W e b e r aus den Resultaten Folgerungen abgeleitet, die von großer politischer Brisanz waren. Er erklärte, w e n n auch mit einiger Zurückhaltung, daß die Existenz des Großgrundbesitzes in den ostelbischen Gebieten Deutschlands unter den obwaltenden U m s t ä n d e n mit den d e u t s c h e n Nationalinteressen unvereinbar g e w o r den sei. Allein die Intensivierung der A n s i e d l u n g von bäuerlichen Betrieben von g e n ü g e n d e r Größe, v e r b u n d e n mit der Schaffung neuer dörflicher Gemeinschaften, die dann als lokale Rekrutierungszentren auch v o n ländlichen Arbeitern dienen könnten, k ö n n e einen A u s w e g aus der unter nationalpolitischen G e s i c h t s p u n k t e n unhaltbar g e w o r d e n e n Situation eröffnen. Zu den für die A b w e h r der „Polonisierung" der d e u t s c h e n O s t p r o v i n z e n erforderlichen behördlichen Maßnahmen g e h ö r e i n s b e s o n d e r e die rigorose Sperrung der östlichen G r e n z e n für polnische Wanderarbeiter, auch w e n n dies bei Lage der Dinge auf Kosten der ö k o n o m i s c h e n Interessen der Großgüterwirtschaft g e h e n w e r d e . Auf längere Frist, so meinte er, sei es aussichtslos, in den östlichen Provinzen Deutschlands eine Landwirtschaft zu betreiben, die in g r o ß e m Umfang für den Markt produziere, es sei denn, man wolle die allmähliche V e r d r ä n g u n g der d e u t s c h s t ä m m i g e n landwirtschaftlichen B e v ö l k e r u n g z u g u n s t e n der auf e i n e m niedrigeren Kulturniveau s t e h e n d e n polnischen in Kauf n e h m e n . Unter diesen Umständen stießen W e b e r s Darlegungen nicht nur auf große Z u s t i m m u n g , s o n d e r n auch auf scharfe Kritik, nicht allein von w i s s e n schaftlicher, s o n d e r n vor allem auch von politischer Seite. Bereits auf der G e n e r a l v e r s a m m l u n g des Vereins für Socialpolitik hatte ihm der mit der

1 Weber, Landarbeiter. 2 Referat und Diskussionsbeiträge Webers sind abgedruckt, oben, S. 1 6 5 - 2 0 7 .

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Sozialdemokratie sympathisierende Publizist Max Quarck vorgeworfen, er habe aus einem auf einer schmalen und ungesicherten empirischen Basis gewonnenen Material zu weitreichende Schlüsse gezogen; außerdem habe sich die Enquete ausschließlich an die Adresse der Arbeitgeber gerichtet, 3 ein Umstand, den Weber freilich nicht selbst zu verantworten hatte. Ebenfalls hatte auch schon bei dieser Gelegenheit Karl Kaerger, einer der Mitarbeiter an der Enquete, der die Bearbeitung Nordwestdeutschlands durchgeführt hatte, 4 und der seit 1891 Privatdozent an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin und gut mit Weber bekannt war, einige der zentralen Argumente Webers angegriffen. Er bestritt insbesondere die These, daß unter den gegebenen Umständen eine fortschreitende Proletarisierung der Landarbeiterschaft und, verbunden damit, ein fortschreitendes Absinken ihres Lebensstandards und ihres Kulturniveaus zu erwarten seien. 5 Kaerger führte im Anschluß an die Bearbeitung der Enquete des Vereins für Socialpolitik 1893 eine eigene Untersuchung über die ländliche Arbeiterfrage und speziell das Institut der Arbeiterpacht durch. 6 Ziel derselben war es, zu prüfen, ob die westfälische Heuerlingsverfassung auch auf die ostelbischen Gebiete angewendet und damit Abhilfe für den chronischen Mangel an ländlichen Arbeitskräften geschaffen werden könne. In diesem Zusammenhang übte Kaerger scharfe Kritik an einigen von ihm mißverstandenen Schlußfolgerungen Webers, insbesondere an der - in dieser Form freilich von Weber nicht behaupteten - These, daß eine direkte Korrelation zwischen der Intensivierung der Bodenkultur und der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterschaft bestehe: 7 Die ökonomische Lage der Arbeiter verändere sich weder in ihrem Charakter, noch verschlechtere sie sich zwangsläufig mit steigender Intensivierung der Kultur. Dort, wo eine Änderung stattfinde, im Sinne einer Umwandlung des anteilsmäßig gewährten Dreschanteils in feste Deputate oder Geldlöhnung, müsse dies nicht unbedingt eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage bedeuten. Neben dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Webers Thesen hatte sich in der Öffentlichkeit schon nach der Generalversammlung

3 Verhandlungen der am 20. und 21. März 1893 in Berlin abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik über die ländliche Arbeiterfrage und über die Bodenbesitzverteilung und die Sicherung des Kleingrundbesitzes (Schriften des Vereins für Socialpolitik 58). - Leipzig: Duncker & Humblot 1893, S. 88, 94 (im folgenden zitiert als: Verhandlungen). 4 Kaerger, Karl, Die ländlichen Arbeiterverhältnisse in Nordwestdeutschland, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, 1. Band (Schriften des Vereins für Socialpolitik 53).-Leipzig: Duncker & Humblot 1892, S. 1 - 2 3 9 . 5 Verhandlungen, S. 95f. 6 Siehe Kaerger, Karl, Die Arbeiterpacht. Ein Mittel zur Lösung der ländlichen Arbeiterfrage. - Berlin: Gergonne 1893. 7 Ebd., Vorwort und S. 11 f.

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des Vereins für Socialpolitik, insbesondere aber im Anschluß an den Evangelisch-sozialen Kongreß vom 16. und 17. Mai 1894, auf dem Weber und Göhre in ihren Vorträgen zusätzlich auf die Ergebnisse einer an die evangelischen Geistlichen gerichteten Enquete über die Lage der Landarbeiterschaft hatten zurückgreifen können, eine scharfe politische Kontroverse ergeben. Insbesondere in der konservativen und deutschnationalen Presse waren Webers Darlegungen ungewöhnlich schroff angegriffen worden, obschon er sich hinsichtlich der politischen Schlußfolgerungen im engeren Sinne eher Zurückhaltung auferlegt hatte.8 Vor diesem Hintergrund unternahm es Max Weber, die wesentlichen Ergebnisse seiner Untersuchungen zur ostelbischen Landarbeiterfrage unter dem Titel „Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter", d.h. die längerfristigen Trends und deren ökonomische, soziale und politische Implikationen, noch einmal in zusammenhängender Form darzulegen. Er tat dies in zwei an unterschiedliche Zielgruppen gerichteten, voneinander nicht unerheblich abweichenden Fassungen der gleichen Abhandlung. Die in einer einschlägigen Fachzeitschrift, dem Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, veröffentlichte Fassung richtete sich an das interessierte Fachpublikum; hier nahm Weber zugleich die Gelegenheit wahr, die fachliche Kritik an seinen Untersuchungen, insbesondere jene von Karl Kaerger, im Detail zu erörtern und zurückzuweisen. Er tat dies in ungewöhnlich scharfer Form, wohl auch deshalb, weil er einer Verwässerung seiner Ergebnisse durch fachwissenschaftliche Detailkritik ein für alle Mal einen Riegel vorschieben wollte. Wenig später erschien eine zweite Fassung in den damals von Hans Delbrück herausgegebenen, einflußreichen Preußischen Jahrbüchern, die innerhalb des Spektrums der periodischen Monatsschriften eine liberal-konservative Position einnahmen und insbesondere auch von den politischen Führungseliten gelesen wurden. 9 Diese, nur wenig später erstellte, Fassung richtete sich an ein breiteres Publikum. Demgemäß bemühte sich Weber hier um größere Allgemeinverständlichkeit und klarere Formulierungen und verzichtete auf die Fußnoten, in denen er sich mit der wissenschaftlichen Kritik an seiner Untersuchung auseinandergesetzt hatte. Außerdem wurden die Einleitung überarbeitet und verändert, der Schlußteil neu gefaßt, gemäß der Zielsetzung der Veröf-

8 Vgl. Referat und Diskussionsbeitrag Webers auf dem fünften Evangelisch-sozialen Kongreß, oben, S. 3 1 3 - 3 4 5 ; zu der sich anschließenden Kontroverse siehe Webers Artikel: „Zum Preßstreit über den Evangelisch-sozialen Kongreß" unten, S. 4 6 7 - 4 7 9 . 9 Hans Delbrück nahm wiederholt in den Preußischen Jahrbüchern zur Polenfrage und zu den Fragen der inneren Kolonisation Stellung. Siehe u.a.: Delbrück, Hans, Das Polenthum, in: Preußische Jahrbücher, Band 76,1894, S. 1 7 3 - 1 8 6 . Vgl. auch andere Äußerungen Delbrücks zu dieser Frage in der Rubrik „Politische Korrespondenzen".

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Entwickelungstendenzen

fentlichung in dieser prononciert politisch ausgerichteten Zeitschrift die politischen A s p e k t e stärker akzentuiert, und ein leidenschaftliches Plädoyer für eine verstärkte staatliche A n s i e d l u n g s - und Kolonisationspolitik in den östlichen G e b i e t e n Deutschlands hinzugefügt. Z u w e l c h e m Zeitpunkt Weber die beiden Artikel n i e d e r g e s c h r i e b e n hat, läßt sich nicht b e s t i m m e n . Seine K o r r e s p o n d e n z e n g e b e n hierüber keinen Aufschluß.10

Zur Überlieferung

und Edition

Manuskripte sind nicht überliefert. Der Artikel erschien in zwei Fassungen: 1. E n t w i c k e l u n g s t e n d e n z e n in der Lage der ostelbischen Landarbeiter. Von Dr. M a x W e b e r , Professor an der Universität Berlin, in: Archiv für soziale G e s e t z g e b u n g und Statistik. Vierteljahresschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder, hg. von Heinrich Braun, Berlin, Band 7, Heft 1, 1894, S. 1 - 4 1 (A), am 9. Juni 1894, 1 und 2. E n t w i c k e l u n g s t e n d e n z e n in der Lage der ostelbischen Landarbeiter. Von M a x W e b e r , in: Preußische Jahrbücher, hg. v o n Hans Delbrück, Berlin, Band 77, 3. Heft, S e p t e m b e r 1894, S. 4 3 7 - 4 7 3 (B). Der Text „erster H a n d " ist der ausführlichere; in ihm setzt sich W e b e r auch mit der wissenschaftlichen Kritik an seinen Landarbeiterstudien auseinander. Die zweite Fassung ist komprimierter und in ihrer Diktion vielfach schlagkräftiger und pointierter. Es ist eine gleichgewichtige Fassung, die z u d e m eine wesentlich breitere Publikumswirksamkeit gehabt hat als A. Beide Fassungen stellen im G r u n d e eigene Texte dar. Daher w e r d e n , a b w e i c h e n d v o m sonstigen Verfahren der MWG, nicht nur der Text letzter Hand (B), s o n d e r n nacheinander beide Fassungen abgedruckt. Die Varianten w e r d e n nur bei Fassung A textkritisch annotiert. Auf eine W i e d e r h o l u n g des Erläuterungsapparats wird verzichtet. Nicht e i g e n s als Varianten a u s g e w o r f e n sind die Unterschiede in der Schreibweise, z. B. -t- (in A die Regel) statt -th- (in B die Regel). Das gleiche gilt für Wörter wie Verhältnis, Verhängnis und deren V e r b i n d u n g e n (in A die Regel) statt Verhältniß, Verhängniß (in B die Regel). A u c h w u r d e darauf verzichtet, die A b w e i c h u n g e n -i- / -ie- a n z u m e r k e n . Dies gilt für Worte wie

10 Die Angaben Arthur Mitzmans, Weber habe die erste Fassung im Herbst 1893 und die zweite Fassung im Frühjahr 1894 verfaßt, lassen sich nicht belegen. Mitzman, Arthur, The Iron Cage: An Historical Interpretation of Max Weber. - New York: A.A.Knopf 1970, S. 120ff.; vgl. dazu auch: Tribe, Keith, Prussian agriculture - German politics: Max Weber 1 8 9 2 - 7 , in: Economy and Society, Band12,1983, S.213f. 1 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige, Nr. 131 vom 9. Juni 1894, S.3525.

Editorischer

Bericht

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ignoriert, Ignorierung (in A die Regel) statt ignorirt, Ignorirung (in B die Regel), o b w o h l zahlreiche A b w e i c h u n g e n von der Regel v o r k o m m e n . So heißt es in A 1 ( S . 3 6 9 ) „ E r k e n n t n i ß " , in A 1 7 (S. 3 8 9 f . ) „kritisirt" u n d i n A 2 5 (S. 401) „ B e t r i e b s g r ö ß e n v e r t h e i l u n g "

und u m g e k e h r t in B 4 4 2 (S. 375)

„ I s o l i e r u n g " . Diese Entscheidung w u r d e getroffen, um die sachlich wichtigen Varianten nicht z u z u d e c k e n . W e b e r s eigene A n m e r k u n g e n w e r d e n in A je Seite neu gezählt und binden in B mit S t e r n c h e n an. Sie w e r d e n im f o l g e n d e n A b d r u c k jeweils durchgezählt. Nur im textkritischen Apparat, w o B als Variante erscheint, w e r d e n die S t e r n c h e n beibehalten.

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Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter. 3

b

Der mehrfach und mit Recht beklagte übergroße Umfang der Publikation des Vereins für Sozialpolitik über die Verhältnisse der Land- 5

B 4 3 7 a In B bindet die Fußnote an: Der Aufsatz ist eine Umarbeitung - Zusammenziehung und Erweiterung - eines Artikels mit der gleichen Überschrift aus Heinrich Brauns Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Berlin 1894, Carl Heymanns Verlag. Bd. VII, Heft 1 und 2.' b—b (S. 370) B: Der „Verein für Sozialpolitik" hat eine Erhebung über die Verhältnisse der Landarbeiter veranstaltet, deren Ergebnisse seit l l /i Jahren in 3 starken Bänden vorliegen. Die darin niedergelegten Angaben sind durch Nachfrage bei den Grundbesitzern gewonnen, eine Befragung der Arbeiter (wie sie seither der Evangelischsoziale Kongreß durch Vermittelung der Landgeistlichen unternommen hat) mußte damals des Kostenpunktes wegen unterbleiben. Das gewaltige Material an Thatsachen, welches die Enquete ergab, ist also gewiß ein einseitiges und läßt einen ganz einwandfreien Schluß auf die thatsächliche Lage der Landarbeiter nicht zu. Allein da im Jahre 1849 und wieder 1873 Erhebungen in gleicher Weise ins Werk gesetzt worden sind, 2 so ist etwas sozialpolitisch Wichtigeres möglich: durch Vergleichung der Ergebnisse der drei Erhebungen, welche alle dieselbe Fehlerwahrscheinlichkeit an sich tragen, über die Tendenzen der Entwicklung in den Landarbeiterverhältnissen Auskunft zu erlangen. Nicht die Frage: haben die jetzigen Arbeiter einen auskömmlichen Lohn, gute Wohnungen oder nicht, ist B 4 3 8 die wichtigste, sondern die: wohin geht die | Gesammtentwickelung ihrer Stellung innerhalb der Nation, was ist ihre Zukunft? Für die Beurtheilung dieser Frage bietet uns die Publikation eine Grundlage, welche gewiß nicht einen endgültigen, aber doch einen in hohem Grade wahrscheinlichen Schluß gestattet. Sie zeigt uns gewisse elementare Wandlungen innerhalb der sozialen Struktur, der Arbeitsverfassung der großen Gutsbetriebe des Ostens, deren Wirkung, ähnlich der von Verschiebungen in der Moleküllagerung der Körper, deshalb nur um so unwiderstehlicher eintritt, weil sie sich langsam und dem an die großen Ziffern der Statistik gewöhnten Auge fast unmerklich vollzieht. - Index fehlt in B; in B folgt kein Absatz.

1 Der Aufsatz erschien nur in Heft 1. 2 Gemeint sind die auf Anregung des preußischen Landesökonomiekollegiums 1848/49 und auf Anregung des Kongresses deutscher Landwirte 1873 durchgeführten Erhebungen über die Lage der Landarbeiter, deren Ergebnisse Alexander von Lengerke 1849 unter dem Titel „Die ländliche Arbeiterfrage" und Theodor von der Goltz 1875 unter dem Titel „Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich" veröffentlicht hatten.

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Entwickelungstendenzen

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arbeiter 1 ' rechtfertigt es an sich, wenn an dieser Stelle noch einmal der Versuch einer Zusammenfassung der Ergebnisse speziell für den Osten gemacht und damit zugleich schon entstandene Mißverständnisse berichtigt und künftigen vorgebeugt wird. Der einseitige und subjektive Charakter, den bei der von Niemand bestrittenen nur provisorischen Natur des Materials jede solche Erörterung mit einiger Wahrscheinlichkeit an sich trägt, kann davon nicht abhalten. Denn grade die unübersichtliche und notwendig fragmentarische Natur der Angaben, welche jede noch so vollkommene Erhebung über die Verhältnisse der Landarbeiter des Ostens zu Tage fördern würde, nötigt zur Aufsuchung heuristischer Prinzipien für die Erkenntniß des Wesentlichen in dem Wust berichteter Thatsachen. Als solche eignen sich aber meines Erachtens am besten allgemeine Gesichtspunkte, welche sich prima facie aus dem bisher Bekannten zu ergeben scheinen und deren Erprobung dann zur Aufgabe der weiteren induktiven Arbeit gemacht werden kann. Eine fernere planlose Ansammlung von Material wäre eine unökonomische Verwendung der Arbeitskräfte: man muß eine Vorstellung davon haben, die Richtigkeit 0 welchen | Gedankens man an den Thatsachen A 2 prüfen will. Allein ich bin, im Gegensatze zu der von einzelnen Kritikern vertretenen geringschätzigen Meinung über den Wert der Enqueteberichte, 3 auch der Überzeugung, daß dieselben zur wissenschaftlichen Begründung einer bestimmten Ansicht über die allgemeinen Entwicklungstendenzen im Osten ausreichendes Material bieten. Trifft dies zu, so bleibt die weiter zu beantwortende Frage

dl)

Bd. 53, 54, 55, der Schriften des V[ereins] f[ür] Sozialpolitik, hier speziell] Bd. 5 5 . d 4 |

c A: Richtigkeit,

d Fehlt in B.

3 Weber spielt hier in erster Linie auf die Kritik des wenig später der Sozialdemokratie beigetretenen Publizisten Max Quarck an, der ihm auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 20. März 1893 vorgeworfen hatte, auf zu schmaler empirischer Grundlage operiert und zu weitreichende Schlüsse gezogen zu haben. Siehe oben, S. 200, Anm.4. 4 Siehe die Aufstellung der Titel im Literaturverzeichnis unter „Schriften des Vereins für Socialpolitik", unten, S. 949.

A1

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zunächst die: in welchem (vielleicht sehr großen, ja denkbarerweise überwiegenden) Bruchteil von Fällen diese Tendenzen durch andere - und eventuell durch welche - derart überwogen werden, daß sie sich nicht rein oder auch gar nicht durchzusetzen vermögen; denn daß die in der Umgestaltung der Arbeitsverfassung liegenden Triebkräfte zwar zweckmäßigerweise zunächst theoretisch isoliert und für sich analysiert werden, deshalb aber noch nicht entfernt die praktisch allein oder auch nur notwendig überwiegend wirksamen sind, hat niemals bestritten werden sollen. b e [B 438] Auch die® Umgestaltung der Arbeitsverfassungs selbst' und ihre Wirkung, um die es sich für uns hier handelt, kann 9 nicht isoliert betrachtet h werden, sondern" hängt mit dem Schicksal der Landwirtschaft im Osten überhaupt und 'a potiori mit der Zukunft' der landwirtschaftlichen Großbetriebe daselbst zusammen. k Nur von den Arbeitern der Großbetriebe wird hier gesprochen. So völlig unberechtigt es nun ist, die östlichen landwirtschaftlichen'' Großbetriebe unter Ignorierung der ungeheuren Differenzen ihrer natürlichen Bedingungen als eine wesentlich gleichartige Masse zu betrachten, ganz allgemein das Vorhandensein einer „Notlage" zu behaupten, oder sie ebenso allgemein zu bestreiten, oder doch, soweit sie zugestanden wird, mit mangelndem Kapital oder mangelnder Intelligenz des Leiters zu 'motivieren, so' trifft doch ein für die Bedeutung der gegenwärtigen Lage entscheidendes Moment bei allen in gleicher Weise zu. Die ostelbischen großen Güter sind keineswegs nur Wirtschaftseinheiten, sondern lokale politische Herrschaftszentren m . Sie waren nach den Traditionen Preußens bestimmt, die materielle Unterlage für die Existenz einer Bevölkerungsschicht zu bilden, in deren Hände der Staat die Handhabung der politischen Herrschaft, die Vertretung der militärischen und politischen Macht der Staatsgewalt zu legen gewohnt war. Die Angehörigen des Landadels qualifizierten sich, vom Standpunkte des Staatsinteresses aus, wie es die preußische Tradition verstand und nach ihrer Geschichte verstehen mußte, zu dieser "Stellung als Ver-

e B: Die f Fehlt in B. g In B folgt: aber h B: werden. Sie i B: speziell k B: Gewiß ist es nun völlig unberechtigt, diese dem Osten charakteristischen I B: motiviren. Trotzdem m In B hervorgehoben. n B: Vertrauens-Stellung deshalb,

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trauensmänner," weil sie wirtschaftlich | „satte Existenzen" waren 0 A 3 mit relativ unentwickeltem Erwerbstrieb und demgemäß unterdurchschnittlicher wirtschaftlicher Intelligenz, der p rein geschäftlichen Ausbeutung ihrer Machtstellung regelmäßig nicht geneigt und 5 jedenfalls nicht darauf angewiesen. Die Beherrschung der wirtschaftlich und sozial unentwickelten und politisch wichtigsten Osthälfte des Staates q ließ sich, auf diesen Stand gestützt, billig und doch ohne r erhebliche Corruptionsgefahr erreichen/ Mit einem Wort, die [B 439] Gutshöfe des Ostens bedeuteten eine Dislokation der 3 politisch herr10 sehenden Klasse über das b Land und 0 bilden als die Stützpunkte, bei welchen die Garnisonen und das Beamtentum der Kreis- und selbst Regierungshauptstädte adäquaten gesellschaftlichen Anschluß finden, noch jetzt ein ungemein wirksames - thatsächlich das ausschlaggebende - Gegengewicht gegen die Monopolisirung der politischen 15 Intelligenz durch das städtische Großbürgertum. Allein mit dieser Stellung sind c - nach den nun einmal maßgebenden Anschauungen - c bestimmte Ansprüche an die Lebenshaltung von selbst d gegeben. Nun hoben und d heben sich aber seit 50 Jahren die e Lebenshaltung und Lebensansprüche der städtischen bürgerli20 chen Bevölkerung stetig in eminentem Maße, am meisten' diejenigen des Großbürgertums, also des bisherigen Hauptkonkurrenten der ländlichen Aristokratie um die politische Herrschaft. Der unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen selbstverständliche, ja unumgängliche Versuch, mit dieser Lebenshaltung gleichen Schritt 25 zu halten, bildet für die breite Masse der östlichen Grundaristokratie ein Verhängnis, welches auch ohne alle Einflüsse der ausländischen Konkurrenz ihre wirtschaftliche Grundlage gefährden muß. Die Ansprüche an die Lebenshaltung, welche heute ein preußischer 9 Rittergutsbesitzer, alle Extravaganzen ausgeschlossen, stellen 9 muß, wenn 30 er sich auf dem Standard of life eines Mitgliedes der herrschenden

o B: waren, p B: deshalb zu einer q B: Staats r B: Gefahr der | Korruption B 4 3 9 durchführen. a B: einer b B: Land. Sie c Fehlt in B. d B: gegeben, Ansprüche an die Kindererziehung, die Form der Geselligkeit und in zahlreichen anderen Dingen, welche hauptsächlich die eigenthümliche Erscheinung bewirken, daß, während die Kosten der meisten Massenartikel stetig fallen, doch unser Leben stetig theurer wird. Der Gutsbesitzer muß in seiner Lebenshaltung auf der Stufe stehen, welche das städtische „höhere" Bürgerthum im Durchschnitt einnimmt, oder: er wird zum Bauern. - Nun e Fehlt in B. f In B folgt: gerade g B: Rittergutsbesitzer - alle Extravaganzen ausgeschlossen - stellen h B: „herrschenden Klassen"

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Klasse h erhalten will, vermögen die typischen östlichen Rittergüter, welche bekanntlich das Gegenteil von Latifundien' sind, schlechterdings nicht zu bieten. Ein Areal von k500—1000 Ha. oder etwas mehr auf Boden von nicht (für den Osten) überdurchschnittlicher Güte* trägt hier, trotz der gesteigerten Erträge, keine „Herrschaft" 'mehr, denn'diese Steigerung ist durchschnittlich eine außerordentlich viel langsamere gewesen, als die Steigerung der durchschnittlichen Lebenshaltung der herrschenden Klassen, und dieser relative Maßstab ist ausschlaggebend. Das wird oft verkannt, weil es den Anschein A 4 hat, als seien die Erfordernisse | des Gutshaushalts im Wesentlichen B 440 natural|wirtschaftlich zu bestreiten und deshalb keine erhebliche Belastung des Budgets, allein dabei liegen optische Täuschungen vor, denn die moderne Lebensführung fordert stetig wachsende Baarausgaben m . Das veränderte soziale Ensemble, innerhalb dessen er seine Rolle zu spielen hat, erdrückt denjenigen Rittergutsbesitzer, der ein Areal zur Verfügung hat, welches nicht wiederum so groß ist, daß es eine wirkliche Selbstbewirtschaftung überhaupt ausschließt. Die politische Macht, statt sich auf die gesicherte materielle Unterlage stützen zu können, muß nun umgekehrt in den Dienst der wirtschaftlichen Interessen gestellt "werden, es ist" nur natürlich, daß das Verlangen nach Schutz bereits leicht die Tonart des unbefriedigten Almosenempfängers "annimmt, und es tritt uns auf dem Lande 0 statt der wirtschaftlich „satten Existenzen" der bekannte Typus des „notleidenden Landwirtes" entgegen. Das p würde auch p ohne alle internationale Konkurrenz der Fall sein. Es liegt auf der Hand, daß die politische Machtstellung auf dieser Grundlage dauernd nicht aufrecht zu erhalten ist; ein bedeutendes relatives Herabsteigen auf der politischen und gesellschaftlichen Stufenleiter ist unter allen Umständen, sofern nicht die fortschreitende industrielle Entwickelung geradezu unterbunden wird, die unumgängliche Folge. Allein nicht nur der Ertrag des Bodens läßt den Rittergutsbesitzer bei dem Streben nach Aufrechterhaltung der 3 politischen Machtstellung im Stich, sondern auch die sozialen Gruppen, die er beherrschte

i B: „Latifundien" k B: ca. 500Hektar bei durchschnittlichem [und noch erheblich mehr bei unterdurchschnittlichem] ka östlichem Boden, wie es mehr als 'A aller Rittergüter im Osten nur besitzen, ka [ ] in B. I B: mehr. Denn m B: Baarausgaben n B: werden. Es ist darum O B: annimmt. Auf dem Lande tritt uns p B: würde - in beschränktem Maße - auch a B: seiner

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und auf welche er sich stützte. Die Organisation der großen Güter, wie wir sie aus den Regulierungen 5 überkommen hatten, trug die Eierschalen der isolirten Hauswirtschaft b (genauer gesagt, der von Rodbertus sogenannten Oikenwirtschaft 6 ) 0 noch an sich. Der aus 5 der Wirtschaft ausgeführte Bruchteil des Produkts war allerdings ein wesentlich größerer geworden, als im Mittelalter, allein die beginnende Verflechtung in die Weltwirtschaft wurde nicht und konnte auch nicht bewußt und planvoll vollzogen c werden, sondern c wurde den Betrieben teils halb widerwillig durch die Verhältnisse aufge10 zwungen, teils andauernd 0 ignoriert. Der typische Rittergutsbesitzer wirtschaftete in traditioneller Weise weiter, als ob er für Lokalmärkte produzierte. Die alte Arbeitsverfassung und soziale Schichtung blieb in dem Inst- und Gutstagelöhnerverhältniß des Ostens erhalten. Der 6 Arbeiter war und blieb Kleinwirt, beliehen mit Land als 15 Entgelt für die Unterwerfung unter die Herrschaft des Herrn und als | Genosse beteiligt an dem Ertrage der Wirtschaft. Erst im Laufe des' A 5 Jahrhunderts drang die Gewährung nennenswerter Geldlöhne ne- B 441 ben und schließlich teilweise an Stelle der Land- und der Ertragsanteile in diese Arbeitsverfassung ein. Auch dann noch war die Guts20 Wirtschaft überwiegend eine Form der patriarchalisch geleiteten und beherrschten Gemeinwirtschaft. Der Gutsherr war nicht ein gewöhnlicher Arbeitgeber, sondern ein politischer Autokrat, der die Arbeiter persönlich beherrschte, im Übrigen einen so erheblichen Bruchteil der unmittelbaren materiellen Interessen mit ihnen ge25 meinsam hatte, wie dies bei keinem modernen Unternehmer sonst im Verhältnis zu seinen Arbeitern der Fall ist. Schlechter Ernteausfall, niedrige Getreide- und Viehpreise belasten das Budget eines auf Land- und Rohertragsanteil gestellten Instmannes 9 ebenso schwer

b Fehlt in B. f B: dieses

c B: werden. Sie d In B folgt: von ihnen e In B folgt: ländliche g B: Instmannes, der Getreide und selbst gezogene Schweine verkauft,

5 Gemeint sind die im Anschluß an das preußische Regulierungsgesetz vom 14. September 1811, seine Deklaration vom 29. Mai 1816 und die Ablösungsordnung vom 7. Juni 1821 eingeleiteten Verfahren zur Allodiflkation bäuerlichen Eigentums und zur Ablösung der bäuerlichen Abgaben und Dienstpflichten. 6 Johann Karl Rodbertus prägte den Begriff der „Oikenwirtschaft", d.h. der naturalen, auf dem Sklavensystem beruhenden geschlossenen Hauswirtschaft des Altertums, in seinen „Untersuchungen auf dem Gebiete der Nationalökonomie des klassischen Altertums"; siehe bes. den 2.Teil dieser Untersuchungen in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band4,1865, S.343f.

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oder schwerer als das des Herrn. D a ß diese Sachlage die Arbeiter um so unbedingter der Disposition des Herrn auslieferte, liegt auf der Hand. Wichtiger aber war h (vom Standpunkt des Herrn), daß das materielle Interessenband ein immerhin so starkes war, und h die Landarbeiter - oder doch deren im Osten weitaus wichtigste 5 'Schicht, die Instleute' - von dem gewerblichen Proletariat k so scharf trennte, daß ein''gegen die Herrn gerichtetes Klassenbewußtsein des ländlichen Proletariats 1 , außer in Zeiten hochgradiger politischer Erregung, sich nur rein individuell gegenüber dem einzelnen Herrn, soweit er hinter der durchschnittlichen Mischung naiver Brutalität 10 mit Menschenfreundlichkeit zurückstand, m entwickeln konnte. m D e m entsprach es auf der anderen Seite, daß die Landarbeiter normalerweise nicht dem Druck einer rein geschäftlichen Ausbeutung ausgesetzt "waren, da ihnen nicht ein Unternehmer, sondern eben ein Territorialherr en miniature gegenüberstand." Der mangelnde 15 spezifisch geschäftliche Erwerbssinn der Herren und die stumpfe Resignation der Arbeiter ergänzten einander und waren die psychologische Stütze der traditionellen Betriebsweise wie der traditionellen politischen Herrscherstellung der Grundaristokratie. Die Decadence dieser politischen Machtstellung aber in Verbin- 20 dung mit der teils eingetretenen, teils drohenden Depossedierung durch das kapitalkräftige 0 Bürgertum - sei es in Form des Kaufes, sei es der Verpachtung der Güter - führen mit zwingender Gewalt die Herren der landwirtschaftlichen Großbetriebe, wenn sie dies bleiben wollen, dazu, zu werden, was sie früher nicht - wenigstens nicht in 25 erster Linie - waren: Unternehmer, die unter rein geschäftlichen 13 B 442 A 6 Gesichtspunkten wirtschaften. | E n t w e d e r dies geschieht, oder der Großbetrieb zerfällt im Wege der völligen oder teilweisen Zerschlagung in q Kleinbetriebe, - dieser zweite mögliche Fall interessiert uns hier nicht." Im ersteren Fall „bewegt sich der B o d e n " zwar keines- 30 wegs, wie behauptet wird, „in der Richtung zum besten", wohl aber zum kapitalkräftigsten Wirt; und dieser müßte seine Natur verleug-

h B: für die Grundlagen der Machtstellung des Gutsherrn jenes starke materielle Interessenband, welches i B: Schicht: die „Instleute" k B: scharf trennte. Ein I In B folgt: konnte m B: entwickeln. n B: waren. Ihnen stand eben nicht ein „Unternehmer", sondern ein Territorialherr en miniature gegenüber. o B: kapitalkräftigere p In B hervorgehoben. q B: Kleinbetriebe.

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nen, wollte er nicht das, was der Grundaristokratie in zweiter Linie stand, in die erste stellen: den geschäftlichen Erwerb. Damit aber wird der isolierten Gutswirtschaft der letzte Stoß versetzt. Mit der Beseitigung der Isolierung der Gutswirtschaften tritt die Notwendigkeit eines relativ weit größeren Gehorsams gegenüber den weltwirtschaftlichen Produktionsbedingungen gebieterisch an diese Betriebe heran. Die notwendigen Konsequenzen dessen für den Wirtschaftsbetrieb a können hier unmöglich im einzelnen erörtert werden. Es genügt für unsern Zweck, an die bekannten allgemeinen Erscheinungen zu erinnern. Zweifellos® sind b zunächst jene Folgen, 0 je nach der Gunst oder Ungunst der Boden- und klimatischen Verhältnisse, verschieden. Ein Teil des von der Natur in beiden Beziehungen besonders begünstigten Areals ist gewiß 0 in der Lage, im Wege eines d hoch intensiven 0 Betriebes bei e starker Kapitalinvestierung e die internationale Konkurrenz aufzunehmen. Diese der intensiveren Kultur zugeführten Betriebe haben alsdann nach bekannten allgemeinen Gesetzen das Streben, speziell kapitalintensiv zu 'werden, und'folgen eben deshalb der von Sering zutreffend nachgewiesenen Tendenz der Verkleinerung des von einem Zentrum aus bewirtschafteten Areals unter konzentrierter Kapitalinvestition. 7 Schon daraus folgt vom Standpunkte des politischen Herrschaftsinteresses aus eine Schwächung der Machtstellung des Gutsbesitzers: das beherrschte Areal wird kleiner. Sie werden freilich keine bäuerlichen, aber bürgerlich-kapitalistische Großbetriebe und verschmelzen - eine in den Rübendistrikten zu beobachtende Erscheinung - mit den aufsteigenden großbäuerlichen Betrieben zu einer einheitlichen Masse von Unternehmungen mit bürgerlich gewerblichem 9 Typus. Ein anderer und zwar der am ungünstigsten ausgestattete Teil des Areals ist weltwirtschaftlich wertlos und kann im Großbetriebe nur als Weiderevier für sehr extensive Viehzucht

a Fehlt in B. b Fehlt in B. c B: zweifellos d B: hochintensiven k e m Kapitalaufwand f B: werden. Sie g B: bürgerlich-gewerblichem

e B: star-

7 Die entsprechende Passage lautet: „Die privatwirtschaftlichen Gesichtspunkte [...] haben überall dazu geführt, daß mit fortschreitender Kultur und Volkszahl die Betriebseinheiten verkleinert worden sind. Steigerung der Produktionsmittel und Arbeitsleistungen mit Beschränkung des Raumes ihrer Anwendung ist ein Entwicklungsgesetz". Sering, Kolonisation, S. 94.

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benutzt werden. Problematisch ist das relative Größenverhältnis dieses zu dem eben besprochenen Teile des Areals; für den Großbetrieb dürfte aber der zuletzt genannte Bruchteil, also der zur ewigen A 7 Weide prädestinierte^] der weitaus größere sein. Die | Getreidezölle verringern ihn und vergrößern das für den intensiven Getreidebau [B 443] qualifizierte Areal," die bisherige Begünstigung der Rübenkultur und die noch bestehende der 'Brennerei entziehen ihm ein erhebliches Areal zu Gunsten der betreffenden Hackfrüchte. Der Mangel an Arbeitern hat die Tendenz, ihn zu vergrößern. - Nicht so erheblich wie diese beiden für uns wichtigsten Bodengruppen' sind dagegen für den Osten diejenigen Bruchteile, welche der reinen oder überwiegenden intensiven Viehzucht und der Gartenkultur vom weltwirtschaftlichen Standpunkte aus zuzuweisen sind. Der letztere nicht k , weil eine Verschiebung zu seinen Gunsten um wenige Prozente des Areals eine völlige Umwälzung des Konsums voraussetzte, und der erstere nicht1, weil die in England zu Gunsten der intensiven Viehzucht bestehenden klimatischen und sonstigen Vorbedingungen im Osten mit Ausnahme der Küstenstriche Ostpreußens und einiger anderer relativ beschränkter Bezirke weder vorhanden sind, noch in absehbarer Zeit eintreten werden2*. - In den Fällen171, wo die Großbetriebe, den Postulaten der internationalen Produktionsteilung gehorchend, unter Ersparnis von Kapital und Arbeit zur extensiven" Weidewirtschaft übergehen, entgleitet der Beherrschung des Grundherrn zwar nicht das Areal 0 - dies zeigt im Gegenteil die Tendenz zu A 7 B 443

2) Ein erheblicher Teil der Fälle, in denen der Übergang zur reinen oder fast reinen Viehzucht auf gutem Boden sich vollzogen hat, hat nicht in wirtschaftlichen Momenten, sondern in dem Mangel an Arbeitskräften seinen Grund, auch wo der Betrieb ein kapitalintensiver ist. |

h — h B: Zwischen beiden liegen zahlreiche Kategorien von Boden mittlerer Qualität in den verschiedensten Abstufungen, dessen Überführung zur intensiveren Kultur mit abnehmender Güte zunehmende Kapitalaufwendungen erfordert. Werden diese nicht gemacht, so wird er durch die Weltmarktskonjunkturen von der Fähigkeit, durch Produktion für den Markt eine Rente abzuwerfen, mehr und mehr ausgeschlossen und damit, wenn er B 4 4 3 weiter im kapitalschwachen Großbetriebe genutzt wird, in die gleiche | Lage wie der schlechteste Boden gebracht, - d.h. er kann erfolgreich mit Feldfrüchten nicht bestellt werden. Dieser Bruchtheil dürfte der umfangreichste sein. Die Getreidezölle vergrößern auf seine Kosten das Areal, welches intensiv mit Getreide bebaut werden kann, i B: Kartoffelsprit-Brennerei ermöglichen seine Bebauung mit den betreffenden Hackfrüchten. Weit unerheblicher k B: ist klein I B: deshalb m In B folgt: nun n Fehlt in B.

o In B hervorgehoben.

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starker Ausdehnung13 - wohl aber verlieren sie die Hintersassen, die sie beherrschten, da sie nur ein Minimum an Arbeitskräften halten, und auch die Zahl der Unternehmer verringert sich im Wege der Latifundienbildung. Auch hier also büßt der Stand als solcher qseine politischeq Machtstellung ein. D i e zahlreichen Übergänge zwischen den Extremen in der Bodenqualität enthalten beide Möglichkeiten kombiniert in sich und sind in ihren Schicksalen problematisch. Bei ihnen allen aber besteht, wenn nicht auf die Dauer Zerschlagung in Kleinbetriebe oder Verödung als Weiderevier eintreten soll, r die Notwendigkeit umfassender Steigerung der Kapitalintensität und s damit des Aufgebens der traditionellen Betriebsweise, oder mit s anderen Worten: an die Stelle der Grundaristokratie tritt - mit oder ohne Personenwechsel - mit Notwendigkeit, wenn die Betriebe Großbetriebe bleiben, 3 eine landwirtschaftliche Unternehmerklasse, | die A8 sich in ihren sozialen | Charakterzügen von den gewerblichen Unter- B 444 nehmern prinzipiell nicht unterscheidet. Diese Umwandlung in b der allgemeinen Stellung 0 der ländlichen Arbeitgeber hat auf die Stellung der Arbeiter zu ihnen die bedeutendsten Rückwirkungen. Bei allem Durchgehen typischer Züge ist die Mannigfaltigkeit der Arbeitsverfassung und die rein individuelle Gestaltung der Lage der einzelnen Arbeiter eine Begleiterscheinung der patriarchalischen Gutswirtschaft noch jetzt in ähnlicher Weise wie in der Gutsverfassung des Feudalzeitalters. Denn csie ist c nicht nach geschäftlichen Gesichtspunkten und unter dem Einfluß des Strebens nach möglichst hohem Unternehmergewinn gestaltet, sondern historisch entwickelt für den Zweck, dem Gutsherrn eine standesgemäße Existenz zu ermöglichen; sie streifte deshalb so wenig als eben möglich von ihrer überkommenen natural- und gemeinwirtschaftlichen Grundlage ab. Eine ländliche Arbeiterklasse mit unter sich gleichartigen wirtschaftlichen Interessen existierte und existiert deshalb in der überwiegenden Hälfte des Ostens noch nicht. - Die

p B: Ausdehnung, q B: an seiner politischen r In B nach neuem Absatz: Überall aber finden wir eine gemeinschaftliche Erscheinung als Ergebniß der Situation: wo nicht auf die Dauer Zerschlagung in Kleinbetriebe oder Verödung als Weiderevier eintreten soll, da besteht s B: eines Wirthschaftens unter kaufmännischen Gesichtspunkten, wie sie der traditionelle Grundherr im Osten nicht kannte. Mit a B: N o t w e n d i g keit b B: dem allgemeinen Typus C B: die Arbeitsverfassung der Güter war

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moderne Entwickelung sucht zunächst innerhalb dieses naturalwirtschaftlichen Rahmens das Prinzip der Wirtschaftlichkeit 0 in der Lohngestaltung entschiedener zur Geltung zu e bringen und e beseitigt demgemäß zunächst die gemeinwirtschaftlichen Reste (Landanteil, Dreschanteil, Weideanteil). 'Dies schon deshalb/weil die gemeinwirtschaftliche Arbeitsverfassung mit ihren Anteilslöhnen die relative 9 Isolierung des einzelnen Gutsbetriebes in wirtschaftlicher Beziehung voraussetzt. h Mit jeder Kapitalinvestierung schwindet dies Moment,' der Ernteertrag des in die Volkswirtschaft verflochtenen Gutes ist nicht mehr das Arbeitsprodukt lediglich der Wirtschaftsgemeinschaft der Gutsinsassen, und der Entgelt für die Verwendung der Produkte fremder Arbeit in das Gut erscheintk der kapitalistischen Organisation entsprechend 1 als m latente oder offene m Kapitalrente, welche aus den Erträgen vorweg bestritten werden muß. Damit verschwinden die auf dem Anteilsprinzip beruhenden Lohnformen," umsomehr, als ihr Bestand in der Hauptsache die Folge [B 445] mangelnden Betriebskapitals des Unternehmers 0 war. p Der bürgerlich geschäftliche Charakter der modernisierten Betriebe führt aber darüber hinaus, aus bekannten allgemeinen und zwingenden Gründen^] auch zur immer weiteren Beseitigung der Naturallöhne überhaupt und zur Herrschaft des Geld- speziell des Geldakkordlohnsystems. Diese Tendenz ist so zwingend, daß sie selbst das durch den A 9 Naturallohn, wie gleich zu erörtern sein | wird, besser gewahrte Prinzip der Wirtschaftlichkeit der Lohngestaltung überwiegt.

d In B hervorgehoben. e B: bringen. Sie f B: Diese Antheilsrechte am Ertrage fallen schon deshalb auf die Dauer nothwendig fort, g Fehlt In B. h In B folgt: Von dem Ertrage eines Gutes, das nach alter Art ohne besondere Aufwendungen für Maschinen, Kunstdünger, Drainage etc. bewirthschaftet wurde, konnte der Herr mit seinen Arbeitern annähernd behaupten: dieser Ertrag sei das Ergebniß ihrer Arbeit und nur dieser. i B: Moment: k B: erscheint, I B: entsprechend, m B: (laB 445 tente oder offene) n In B folgt: und zwar o In B folgt: und seiner darauf | beruhenden Unfähigkeit, Geldlöhne zu zahlen, p—p (S. 379) B: Gerade der Geldlohn ist aber das auf die Dauer unentbehrliche Korrelat jeder auf rein geschäftlicher Grundlage ruhenden Wirthschaftsverfassung und wird auch den landwirthschaftlichen Betrieben, zumal in Gestalt des nach der Leistung bemessenen Geldafcfcordlohnsystems, aufgezwungen. Wir müssen, um die volle Bedeutung dieser langsamen, aber unvermeidlichen Umwandlung zu verstehen, näher auf die charakteristischen Eigenthümlichkeiten der ländlichen Arbeitsverfassung im Osten eingehen. Diese beruhen, wie bei jeder Arbeitsverfassung größerer Güter, auf der Art, in der sie das wichtigste Problem der Organisation der Arbeit im landwirthschaftlichen Betriebe zu lösen sucht. Dies Problem besteht darin,

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Untersuchen wir die Wirkung dieser in einem sehr verschiedenen Entwicklungsstadium befindlichen Umgestaltung auf die Lage der Arbeiter, so ist, wie bei jeder Erörterung über die ländliche Arbeitsverfassung, von deren wichtigstem Problem auszugehen, welches darin b e s t e h t / daß bei jeder Art des Ackerbaues - weit weniger bei der reinen Viehzucht - der Bedarf an Arbeitskräften während der verschiedenen Jahreszeiten ein q stark schwankender ist. Darauf beruht die typische Unterscheidung von ständigen 3 und Saisonarbeitern, die ersteren von jeher 0 überwiegend in Naturalien gelohnt, kontraktlich gebunden und c meist auf dem Gute wohnend, die letzteren c überwiegend in Geld - Tagelohn oder Akkord - gelohnt, regelmäßig von auswärts als „fremde" Arbeiter zeitenweise herangezogen und wieder abgestoßen. Nur bei sehr extensivem Betrieb kann die gesammte Erntearbeit mit den Kräften der eigenen Arbeiter unter Zuziehung ihrer Frauen etc. bewältigt werden. Es existiert kein Mittel, namentlich auch kein maschinelles, um diese Differenz auszugleichen; gerade die am allgemeinsten anwendbaren Maschinen, speziell die Dreschmaschine, steigern dieselbe vielmehr, und insbesondere wird sie durch jede Steigerung der Intensität des Betriebes, am meisten durch den Hackfruchtbau, sehr stark vergrößert. Die Veränderung der Arbeitsverfassung, welche durch diese d Umgestaltung der Betriebsweise herbeigeführt wird, betrifft aber 6 sowohl die Zusammensetzung der Arbeiterschaft als Ganzes, wie den Typus jeder Kategorie für sich. Es ändert sich einmal f die Relation' der ständigen zu den unständigen Arbeitskräften, und es verwandelt sich ferner sowohl die Physiognomie der ständigen Arbeiterschaft, für sich betrachtet, wie die der unständigen. 9 Als das normale traditionelle Verhältnis, von dem wir auszugehen haben, kann der Zustand gelten, daß 9 das Vieh von ledigem Gesinde h besorgt wird, h welches auch die | Feldbestellung '(Pflügen B 446 etc.) besorgt, und daß den' Bedarf an ständigen Feldarbeitern im

q In B folgt: sehr a In B hervorgehoben. b B: Saisonarbeitern in der L a n d w i r t schaft. Von jeher sind die ersteren c B: wohnen meist auf dem Gute. Die letzteren werden d B: die moderne e B: nun f B: das Zahlenverhältniß g B: Nach der normalen traditionellen Einrichtung des Betriebes wird h B: gewartet, i B: wenigstens zum Theil besorgt. Den

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übrigen k die Instleute mit den oben schon 8 besprochenen Anteilsrechten k an Mahd und Erdrusch (Mandel und Dreschmaß), Landzuweisung, bestehend in festem Gartenland und mit den Gutsschlägen rotierenden 1 „Morgen", und m Viehweide, decken." 1 Sie stehen nicht in einem individuellen Kontraktsverhältnis zum Herrn, sondern die Arbeiter-Familie ist der Herrschaft des Herrn unterworfen und desA 10 halb zur Arbeit nach seiner Willkür | mit allen verfügbaren Kräften verpflichtet" - mindestens sind zwei Arbeitskräfte zu stellen, so daß der Instmann eventuell, mangels erwachsener Kinder, einen „Scharwerker" miethen und dem Herrn vorhalten muß. Schriftliche Kontrakte und ein Recht auf Arbeitsgewährung bestanden 0 ursprünglich nicht, ebenso wurde Geldlohn nur außerhalb der Ernte- und Dreschzeit und mehr nach Art eines Taschengeldes gezahlt. Es war p ein rein einseitiges Unterwerfungsverhältnis, welches die Arbeiterfamilien, q welche normalerweise Wohnungen, die der Herr stellte, besetzten," ihm auch formell zur unbedingten Disposition stellte. Nach einigen Provinzialrechten ist r die Gesindeordnung anwendbar, 9 so daß in Beschränkung der Freizügigkeit auch Zwangsrückführung bei vorzeitigem Abzug stattfindet, 3 Koalitionsrecht besteht durchweg nicht. 10 Dies die ständigen Arbeitskräfte. Die unständigen dagegen wurden, soweit nicht die Erntearbeit der Instfrauen ausreichte, aus den benachbarten Bauerndörfern ohne festen Kontrakt herangezogen und gegen Geldlohn, früher gelegentlich auch - die Schnitter b gegen Anteilsakkord, beschäftigt, sie c wohnten regelmäßig nicht auf dem Gut, und ihre Rechtsstellung näherte sich schon damals der der Industriearbeiter an. Alle anderen, sehr mannigfaltigen Katego-

k B: decken die Instleute. Sie erhalten als Lohn die erwähnten Antheilsrechte I A: rotierender m B: Viehweide. n B: verpflichtet, o A: bestand p In B folgt: also q B: die der Herr in seinen Gutswohnungen unterhielt, r In B folgt: auf die Instleute a B: stattfindet, b B: „Schnitter" c B: beschäftigt. Sie

8 Oben, S. 373. 9 Nur in Ost- und Westpreußen waren die Instleute durch Kabinettsorder vom 8. August 1837 bezüglich der Zwangsrückführung ausdrücklich der Gesindeordnung von 1810 unterstellt. Siehe: „Über die Verhältnisse der Instleute in Preußen", in: Jahrbücher für die Preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung, Band 50, 1837, S. 82f. 10 Zum Problem Landarbeiter und Koalitionsrecht siehe oben, S. 188, Anm. 49.

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rieen d von Arbeitern auf den Gütern e waren, wenigstens 0 in den Nordprovinzen (anders schon früher in Schlesien), lokale Spezialitäten oder durch Umgestaltung und Kombination entstanden. 'Darin sind seit einem halben Jahrhundert erhebliche Modifikatio5 nen eingetreten/ Derjenige Typus von ständigen Kontraktsarbeitern, dessen Weiterverbreitung auf den großen Gütern im Osten durch die gegenwärtige Entwicklung 9 , wie es scheint, am meisten begünstigt wird, isth der '„Deputant", d.h.' ein Arbeiter, welcher B 447 zur Arbeit das ganze Jahr verpflichtet ist, regelmäßig in kvom Gut 10 gestellten Wohnungen k umsonst oder gegen niedrige Miethe wohnt und neben einem niedrigen Baarlohn, der entweder als Tagelohn je nach Zahl der Arbeitstage oder wie die Gesindelöhnung als fester Jahreslohn gezahlt wird, ein sogenanntes „Deputat", d.h. statt der dem ledigen Gesinde zubereitet gereichten Beköstigung die entspre15 chenden Naturalien geliefert erhält. Diese Naturalien sind ihrem Betrage nach im allgemeinen berechnet auf die Deckung des Bedarfs an Nahrungsmitteln für den Arbeiter selbst und seine Familie, deren Mitarbeit demgemäß in Gestalt der Stellung einer zweiten Arbeitskraft regelmäßig 'das ganze Jahr hindurch' in Anspruch genommen 20 wird. "Theoretisch | könnte die Beschaffung der ständigen Arbeits- A 11 kräfte allein in Gestalt des von der Gutsküche gemeinsam beköstigten, in Gesindestuben billig untergebrachten Gesindes als die für den Gutsherrn zweckmäßigste erscheinen. Allein sie hat sich seit dem Zeitalter der antiken Sklavenkasernen für den Großbetrieb als un25 praktikabel erwiesen, und zwar auch ganz abgesehen von der selbstverständlich ungenügenden Zahl der verfügbaren ehelosen Arbeits-

d B: Kategorien e B: waren f B: Diese Form der Arbeitsverfassung ist aber heute im Abnehmen begriffen. Sie herrscht in der geschilderten Art - mit der eigenartigen Antheils-Lohnform - überhaupt auch für die in Naturalien gelohnten Arbeiter nur noch in der Nordhälfte des Ostens: - Preußen, Pommern, Mecklenburg, das nördliche Brandenburg und Posen - und geht auch dort zurück. g B: Entwickelung h In B folgt: vielmehr i B: „Deputant". Er ist k B: Guts-Wohnungen I Fehlt in B. m - m (S. 382) In B nach neuem Absatz: Der Gegensatz gegen das Instverhältniß im engeren Sinne besteht also in dem Wegfall der Antfiei/rechte und ihrem Ersatz durch feste Bezüge - ganz wie es den obenerwähnten 11 allgemeinen Grundzügen der Entwickelung entspricht. Index fehlt in B.

11 Oben, S. 3 7 8 mit textkritischer Anm. p.

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kräfte.3) Überdies ist zur Zeit im Osten gerade die Schwierigkeit, lediges Gesinde zu erhalten, besonders groß. m Das Deputantenverhältnis gewinnt deshalb" sowohl auf Kosten des alten Instverhältnisses als auf Kosten der Haltung des 0 ledigen Gesindes an Boden. p

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q3) Die Sklavenkasernen der römischen Landwirte verfielen in der Hauptsache allerdings, weil eine Reproduktion der Sklavenbevölkerung aus sich selbst mangels monogamischer Verhältnisse, trotz systematischer Züchtung der Prostitution^] nach bekannten physiologischen Gesetzen unmöglich war, mit Aufhören der Eroberungen und des Sklavenmarktes. Wahrscheinlich wirkte aber ein anderes, schwer abschätzbares Moment mit, welches auch heute wirksam ist: die unter dem Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit teils objektiv, teils subjektiv bestehenden Vorzüge der individualistischen Familienküche gegenüber dem gemeinsamen, patriarchalisch-kommunistischen Kochtopf des Gutes. Es ist zweifellos, daß heute das ländliche Gesinde ganz unvergleichlich besser genährt ist, als irgend eine andere Kategorie ländlicher Arbeiter. Der Deputant und verheiratete Tagelöhner würde eine Kost, wie sie ihm seine Frau vorsetzt, niemals dauernd sich aus der Gutsküche bieten lassen, die gleiche subjektive Befriedigung könnte ihm diese, wenn überhaupt, nur durch ein erhebliches Mehrmaß von Leistungen dauernd verschaffen, und objektiv entbehrt sie der größeren individuellen Anpassung und vollständigeren Ausnutzung der Reste im individualistischen Familienhaushalt. Der germanische Grundherr fuhr bei Beköstigung seiner Vasallen im Herrenhofe vermutlich teuerer, als nachdem er sie auf Dienstlehen gesetzt hatte, der moderne Grundherr fährt billiger, wenn er seinen Knechten die Verwendung der Naturalien auf ihre Gefahr überläßt, als wenn er sie selbst in Administration nimmt." |

n Fehlt in B. o In B folgt: - stets schwieriger zu erlangenden p In B folgt als neuer Absatz: Aber über das Deputantenverhältniß hinaus führt die Entwicklung zu einer stetigen Zunahme der nur oder fast nur in Geld gelohnten Arbeiter. Zu Anfang des Jahrhunderts waren sie in nennenswerthem Maaße nicht vorhanden. Schon 1849 stand fest, daß sie diejenige Schicht von Arbeitern waren, die sich am schnellsten vermehrt hatte: 1 2 das ist auch weiter so geblieben. Den Mehrbedarf von Arbeitskräften bei intensiverer Kultur durch Ansetzung neuer Instleute zu beschaffen, suchte der Grundbesitzer zu vermeiden: er hätte Theile seines Landes in demselben Augenblick an Arbeiter abgeben müssen, wo der Ertragswerth dieses Landes für ihn stark stieg und wo infolge des Prosperirens der Landwirthschaft bis zum Beginn der 70er Jahre die Zahlung von Geldlöhnen für ihn erleichtert worden war. Heutzutage wiederum fehlt ihm das Kapital, Arbeiterhäuser in einer den fortgeschrittenen Anforderungen entsprechenden Weise zu bauen. So führte, auch von den später zu erwähnenden Einflüssen der Verschiebung des Arbeitsbedarfs abgesehen, die Entwickelung zu einem allmählichen Zurücktreten der relativen Bedeutung der in Naturalien gelohnten Arbeiter. Der „freie Arbeitsvertrag" mit in Geld gelohnten, auf eigenem Grund und Boden oder als Miether ansäßigen Arbeitern hielt seinen Einzug in das Land. - Betrachten wir die Konsequenzen. | q - g Fehlt In B. 12 W e b e r bezieht sich hier vermutlich auf die A n g a b e Alexander von Lengerkes, der In den von Ihm veröffentlichten Ergebnissen der 1 8 4 8 / 4 9 v o m preußischen L a n d e s ö k o n o miekolleglum durchgeführten Erhebung über die Lage der Landarbeiter darauf verwies, daß. „neuere Verträge" den Arbeltern keine Ernte- und Dreschanteile mehr gewährten. Lengerke, Arbeiterfrage, S. 244.

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Die große Praktikabilität des Verhältnisses der auf vorwiegenden B 448 Naturallohn gesetzten, verheirateten Deputatknechte und Gutstagelöhner liegt' darin, daß aus dem einzelnen Haushalt des Tagelöhners mehrere Arbeitskräfte gestellt s und also s so billig wie möglich, bei Ausnutzung einerseits aller Vorzüge des Großbetriebes für die Beschaffung der Bedarfsgegenstände unter Ausschaltung aller Zwischenglieder, andrerseits unter Verwertung der Vorzüge der Familienwirtschaft als Konsumtionsgemeinschaft, ernährt werden. Allein die Vorzüge der Naturallöhnung gehen | 'je nach deren Gestaltung' A 12 noch weiter. Die Gewährung der Deputate an die Arbeiterfamilien erfolgt nämlich in verschiedener Art. In Teilen von Schlesien erhalten die Deputatknechte feste wöchentliche bezw. monatliche Fleisch-, Kartoffel-, Brot-, Salz-, Milch- und Leinwandbezüge, - sie erhalten hier also die Bedarfsgegenstände, wenn der Ausdruck erlaubt ist, im Zustande von Ganz- bezw. Halb-Fabrikaten, als ganz oder fast ganz konsumreife Produkte; u ihre eigene Beziehung" dazu ist a eine fast nur konsumtive,® der Unterschied von der einfachen Gesindebeköstigung nicht "bedeutend, entsprechend dem Umstände, daß hier 0 die Tendenz zur Bodenkonzentration die eigene Wirtschaft der 0 unfreien Unterthanen gänzlich absorbierte bezw. nicht aufkommen ließ. In den nördlichen Provinzen ist das regelmäßig anders. Die Zerealien werden als Deputat unvermahlen und unverbacken gegeben, die Kartoffeln meist nur zum Teil, den andern Teil baut der Deputant selbst und erhält zu diesem Behufe Land angewiesen, d teilweise wird ihm auch das Saatgut gestellt, regelmäßig hat er dies selbst zu ersparen, auch den Dünger selbst zu produzieren. Ebenso steht es mit dem Flachs: er säet und erntet ihn, wo noch die alten Verhältnisse bestehen, selbst, er gewinnt ferner die Wolle vom eigenen Schaf, für welches ihm Weide gestellt wird, Milch und Butter von der eigenen Kuh, welche ihm von der Herrschaft geweidet und gefüttert wird, das Fleisch vom eigenen Schwein, welches er aus seinen Naturalien füttert, die Gespinste und Gewebe stellt die Familie im Winter selbst her. Mit anderen Worten, es ist e auch ein wesentlicher Teil des Produktionsprozesses seines Bedarfs vom

r B: lag S B: w e r d e n . Sie k ö n n e n auf diese A r t t B: theilweise, u n d zwar in d e n Nordprovinzen, u B: ihr eigenes V e r h a l t e n a B: ein fast n u r konsumtives, b B: b e d e u t e n d . D e r G r u n d liegt darin, d a ß in Schlesien c In B folgt: f r ü h e r d B: angewiesen; e In B folgt: dort

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H e r r n auf ihn abgewälzt, es werden seine freie Zeit, die späten A b e n d s t u n d e n , die freien Sonntage und die arbeitsstille Winterszeit, und es werden seine nicht mitarbeitenden Familienglieder' mit ausgenutzt. So werden die Arbeiterfamilien selbst für die Erzeugung des B 449 zur Reproduktion | der Arbeitskräfte Unentbehrlichen verwendet u n d 9 die wirtschaftlichen Vorzüge der Familienwirtschaft nicht nur als Konsumtions-, sondern auch als Produktionsgemeinschaft den Interessen des H e r r n nutzbar gemacht. Fragen wir unter Beiseitesetzung der sozialen Seite der Sache zunächst nur, wie sich der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit, hier: der kleinstmöglichen Unterhaitungs- und Reproduktionskosten der Arbeitskraft, dazu stellt, so ist das Ergebnis für den H e r r n h ein ersichtlich" notwendig günstigeres als in Schlesien. U m den gleichen Nahrungsstand wie dort zu erzieA 13 len, hat er hier erheblich geringere O p f e r | zu bringen, da er 'fast ausschließlich (außer der Wohnung)' Rohstoffe und N a t u r k r ä f t e zur Verfügung stellt und die Produktion und Verarbeitung genußreifer Bedarfsmittel daraus auf die Arbeiter überwälzt. 4 ' O d e r umgekehrt gesagt: mit den gleichen oder geringeren A u f w e n d u n g e n ermöglicht er der Arbeiterfamilie einen relativ erheblich höheren Nahrungsstand. E r spannt dabei allerdings ihre Arbeitskraft bis auf den letzten überhaupt denkbaren G r a d an, und dies geschieht freilich in Schlesien ceteris paribus nicht in gleicher A r t ; es hat das aber bei dem sklavenartigen Kulturniveau der dortigen polnischen Arbeiterschaft

A 13

B 449

4 > Selbst die scheinbar anachronistische Produktionsform der Hausspinnerei und -Weberei besteht hier vor dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit. Die darauf verwendete Arbeitskraft übersteigt zwar die zur Produktion der erzeugten Bekleidungsgegenstände „gesellschaftlich notwendige" 1 3 weit, sie muß aber andernfalls während der betreffenden Wintermonate völlig brach liegen. |

f B: Familienmitglieder g In B folgt: dadurch der Wohnung) fast ausschließlich

h B: offenbar ein

i B: (außer

13 Weber verwendet hier einen Marxschen Terminus. Gemäß der Arbeitswertlehre von Karl Marx richtet sich der Wert einer Ware nach der zu ihrer Herstellung durchschnittlich benötigten, d.h. „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit". Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der polltischen Ökonomie, Band 1. - Hamburg: Otto Meissner 1890 4 , S. 5. Weber zitiert Marx' Arbeitswertlehre und den Begriff „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit" explizit in seiner Vorlesung „Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land" vom Sommersemester 1895. Nachschrift von unbekannter Hand, S. 144f., Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG, Abtlg. III).

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nicht etwa deren Hebung, sondern begreiflicherweise nur das Brachliegen des Eigeninteresses an der Güterproduktion in den hier notwendig nur k rein konsumtiven Familienwirtschaften zur Folge. 'Aber allerdings' ist diese abweichende Gestaltung der Lage der 5 nordöstlichen Gutsarbeiter gegenüber der m schlesischen nicht" aus diesen Erwägungen der Wirtschaftlichkeit heraus entstanden. Die Differenz hat vielmehr historische Gründe. D e r schlesische Deputatknecht verleugnet seinen Ursprung nicht. Er befindet sich in einer nur wenig modifizierten Hausgesindestel10 lung. Sein Haushalt ist kaum merklich vom Gutshaushalt abgegliedert, seine Situation gleicht der eines beköstigten Knechtes °sehr, wie das auch darin zum Ausdruck kommt, 0 daß mit dem Deputatknecht und seiner Ehefrau meist je besondere Kontrakte geschlossen, für beide Lohn und Naturalien je besonders, aber dennoch so 15 ausgeworfen werden, daß die Bezüge von Mann und Frau "zusammen | genommen" sich zu dem dort typischen Bedarf einer Arbeiter- B 450 familie nebst Kindern ergänzen. 3 Anders im Norden. Das Deputantenverhältnis als normale Lohnform ständiger Kontraktsarbeiter b hat sich dort überhaupt erst teil20 weise durchgesetzt, es bildet noch nicht die Regel, andrerseits 0 ist es im hohen d Grade wahrscheinlich, daß die ihm jetzt günstige Entwikkelung der Arbeitsverfassung künftig darüber hinaus zu einer rein e geldwirtschaftlichen Gestaltung des Lohnes führen wird. D e r nördliche Deputant ist historisch keineswegs ein von der Gutsküche sich 25 allmählich emanzipierender Knecht. Die Form der | Entlohnung ist A 14 allerdings von den Gutsbeamten her übernommen: Vögte, Kämmerer, Oberknechte etc. wurden von jeher in dieser Weise ausgestattet. Allein die große Masse der Deputanten hat eine andere Geschichte hinter sich, ihre historischen Vorfahren im Norden waren frohn30 pflichtige Eigenwirte. D e r moderne Deputant steht nur am (vorläufigen) Schlußpunkt einer Entwicklung 1 , welche weit in die Vorzeit der modernen landwirtschaftlichen Großbetriebe hinaufreicht. Sie beginnt mit dem (allerdings nur lokal nachweisbaren) Zustande, daß

k Fehlt in B. I B: Freilich m B: den n In B folgt: etwa o B: sehr. Das kommt auch darin zum Ausdruck, p B: zusammengenommen a In B folgt: D e r schlesische Deputant ist ein Produkt beginnender Emanzipation des Hausgesindes aus dem herrschaftlichen Haushalt. b B: Kontraktarbeiter c B: andererseits d A: hohem e In B hervorgehoben. f B: E n t w i c k l u n g

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dem Grundherrn nicht Arbeiten geleistet, sondern Naturalien zur Bestreitung seines Haushaltes geliefert wurden. Der Grundherrschaft entsprach ein grundherrlicher Haushalt, aber keine Gutswirtschaft, der Herr bezog, kraft seiner politischen Herrschaft, als Zivilliste 14 könnte man sagen, seinen Unterhalt von den abhängigen Wirtschaften; nicht er, sondern nur diese waren landwirtschaftliche Produzenten. Auf diesen Zustand folgte in England wie bei uns der andere, welcher den bekannten Typus der patriarchalischen Gemeinwirtschaft 9 bildet, daß nämlich 5 beide, Herr wie Hintersassen, wirtschaften, die abhängigen Wirtschaften der Bauern h zugleich die Arbeitskräfte für die Gutswirtschaft stellen." In England blieb dies ein Intermezzo 5 ',' der Grundherr zog sich im Verlauf der Entwicklung1* wieder auf die Benutzung der Hintersassen, 1 als tributpflichtiger, aber selbständiger Kleinproduzenten, zurück. Nur daß er jetzt statt der Naturalien Geldrente bezog. Im deutschen Osten dagegen steigerte sich zufolge der Rückständigkeit der geldwirtschaftlichen Entwickelung die naturalwirtschaftliche Unternehmerstellung des Grundherrn auf Kosten der Hintersassen weiter, und nur ein Teil der letzteren mit einem Teil ihres Areals vermochte sich bei Gelegenheit B 451 der Regulierungen aus der erdrückenden | Umarmung frei zu machen; im übrigen" 1 kehrte sich der frühere Zustand um, der Gutsherr wurde der einzige Unternehmer: nicht, wie einst, er, sondern die Hintersassen beziehen jetzt das feste Deputat aus den Produkten des Gutes. "Aber diese" Entwickelung ist, wie gesagt, im Norden bisher unvollendet, und zwar wesentlich dank der wirtschaftlichen Schwäche der Gutsherren: es war nicht zuletzt der Mangel an Betriebskapital auf Seiten dieser, welcher den in der Regulierung begriffenen A 15 Bauern die Existenz als solche rettete. Es würde 0 | sonst, wenn die A 14

p5)

Am besten unter diesem Gesichtspunkte geschildert von Vinogradoff: Villainage in England^] 1892. p | g B: bildet: h B: stellen zugleich die Arbeitskräfte für die Gutswirthschaft. i B: Intermezzo: Index fehlt in B. k B: Entwickelung I B: Hintersassen m B: Übrigen n B: Diese o A: würden p Fehlt in B.

14 Als Zivilliste wird in konstitutionellen Monarchien das dem Monarchen verfassungsrechtlich zugesicherte Jahreseinkommen aus dem Staatshaushalt bezeichnet.

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Gutsherren zur Bewirtschaftung größerer Flächen q die Macht q besessen hätten, alsbald ein bedeutender'Teil der Bauernwirtschaften durch Aufkauf 3 verschwunden sein. Mangel an Betriebskapital und damit die Unmöglichkeit, Baarlöhne zu zahlen, hinderte ebenso die vollständige Proletarisierung der von der Regulierung ausgeschlossenen und allmählich depossedierten kleinen Bauern und Landarbeiter. Der Gutsherr mußte die Entlohnung in Gestalt von Ertragsanteilen, Landbeleihung und Weiderechten bestehen lassen, weil er zufolge seiner wirtschaftlichen Schwäche nur naturalwirtschaftlich löhnen konnte. Damit war zunächst die Weiterexistenz mehrerer Hunderttausend eigentümlich zwitterhafter Kleinwirtschaften im Osten - der Instwirtschaften (im engeren Sinne des Wortes, in welchem es die Deputanten ausschließt) - gefristet. - Die eigentümliche Doppelstellung dieser mit Land beliehenen und am Ertrag beteiligten Arbeiter, teils als Kleinunternehmer, teils als Teilhaber an der Wirtschaft des Herrn^,] wurde schon oben erörtert. 1 5 Die vollständige Unterwerfung unter die Disposition des Herrn, aber verbunden mit wirtschaftlicher Interessengemeinschaft, ist das dem Verhältnis Charakteristische. Das Deputantenverhältnis, welches bei steigendem Wert des Bodens und Übergang zur intensiveren Wirtschaft neben und an die Stelle des alten Instverhältnisses zu treten pflegt, enthält in Gestalt der Einziehung eines Teiles des Landes und der Ersetzung der Anteile am Rohertrag durch feste Deputate, die b Beschränkung des bis dahin die Arbeiter treffenden Risikos und insoweit unbedenklich eine Besserstellung. Zugleich entzieht es sein Budget der Verflechtung in die Wirtschaft des Herrn und stellt ihn damit in höherem Maße auf eigene Füße. Jede weitere Beschneidung der Kleinunternehmerstellung des Instmannes und jedes Steigen der relativen Bedeutung des Geldlohnes wirkt in gleichem Sinne | und könnte c also B als eine materielle 0 Besserstellung der Arbeiter erscheinen gegenüber der absoluten Unterwerfung des alten Instmannes. e Allein das

q B: das Kapital r B: weit bedeutenderer a B: Ankauf b B: eine c B: kann d Fehlt in B. e - e ( S . 388) B: Dieser Rückgang der Kleinunternehmerstellung macht beim Deputanten nicht Halt. Das wesentliche Moment der Stärke der überkommenen Naturallöhnung war - sahen wir 16 - daß der einzelne Haushalt dem Gut

15 Oben, S.379f. 16 Oben, S. 380.

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ist problematisch. D e n n weil die Kapitalkraft der früheren Gutsherren gering und ihr geschäftlicher Erwerbssinn unentwickelt war, war diese formale, schrankenlose Disposition des Herrn für die Arbeiter, rein wirtschaftlich betrachtet, nicht nur nicht ungünstiger als deren jetzige Lage, sondern eine relativ günstigere Gestaltung des Verhältnisses, wie die Entwickelung der Arbeiterverhältnisse in Schlesien zeigt. e In Schlesien nämlich - es handelt sich hier f um Mittel- und | A 16 Niederschlesien - 9 ist einerseits der Verlauf in charakteristischen Punkten anders gewesen als im Norden, andererseits bereits weiter vorgeschritten. 5 Wir finden hier noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in den Dreschgärtnern eine Kategorie von Arbeitern, deren allgemeine h Stellung völlig derjenigen der Instleute entspricht. D e r Unterschied ihrer Lage war ein doppelter. Einmal war' ihnen (im Gegensatz zu den „Robotgärtnern" Oberschlesiens) ein erbliches Besitzrecht zuerkannt 3 und die gegenseitigen Rechte und Pflichten als Reallasten behandelt, der Disposition des Herrn über sie also eine rechtliche Schranke gezogen. Andererseits aber war die wirtschaftliche Übermacht der sehr reichen schlesischen Magnaten eine ungleich größere als die der nordischen Gutsherren. Beides B 453 vereint, wurde den | Arbeitern verhängnisvoll. Das Verhältnis war nicht so elastisch wie das Instverhältnis, und die Umgestaltung der Gutswirtschaften im Sinne umfassenderer und rationellerer Eigen-

mehrere Arbeitskräfte stellte, neben dem Instmann resp. Deputanten den Scharwerker. Zu dieser Gestellung mehrerer Arbeitskräfte sind die Arbeiter mehr und mehr außer Stande. D i e eigenen Kinder bleiben nach der Militärzeit spätestens fort, und außer dem übelst berufenen Gesindel verdingt sich heute Niemand mehr leicht dem Instmann zum Scharwerker - dem niedersten Grade des ländlichen Gesindes. Es steht fest, daß die Tage des Scharwerkerverhältnisses gezählt sind. Dann aber entfallen die Vorzüge der Naturallöhnung für den Gutsherrn; die Naturalien, welche für den Bedarf einer Familie berechnet waren, kann er für die halbe Arbeitsleistung nicht gewähren, und kürzt er sie, so reichen sie zur Ernährung der Familie nicht mehr. Beide Theile werden so zum Geldlohn gedrängt. D e r Geldlohn hat ja augenscheinlich am unbedingtesten den Vorzug, daß der Arbeiter weiß, was er erhält. Der Werth der Leistung des Gutsherrn, welcher bei Naturallöhnung höchst problematisch ist, ist hier rechtlich sichergestellt. Aber nicht immer bedingt die rechtliche formale Fixirung eine Besserung der w i r t schaftlichen Lage der Arbeiterschaft. D a s zeigt deutlich der Gang, den die Entwickelung in Schlesien genommen hat. f B: namentlich g B: hatte die Art der Wirthschaftsbetriebe früher als im Norden einen geschäftlich-kapitalistischen Charakter angenommen und war gleichzeitig das Verhältniß der Arbeiter zum Gut rechtlich-formal in höherem Maße festgelegt als im Norden. h B: wirthschaftliche i B: wurde a B: zugestanden

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Wirtschaft des Herrn b sprengte es deshalb auseinander. Die Gutsherren erzwangen die Ablösung der Arbeitspflichten, aber auch der Anteilrechte, und die Dreschgärtner wurden zu formell 0 freien Kleinstellenbesitzern, welche zur Arbeit auf dem Gute nicht mehr 5 verpflichtet, aber auch nicht mehr anteilsberechtigt, dabei aber auf die Arbeit auf den Gütern angewiesen blieben. Den vermehrten Bedarf an Arbeitskräften deckten die Gutsherren, indem sie neben den früheren Dreschgärtnern in neu errichteten Familienhäusern sogenannte „Lohngärtner" mit kleiner Landanweisung ansetzten, 10 eine Parallelerscheinung zu den Instleuten. d Aber der d größeren Kapitalkraft der Unternehmer entsprechend wurde das Arbeitsverhältnis sowol e der früheren Dreschgärtner als der Lohngärtner auf geldwirtschaftlicher Grundlage geregelt, der Kleinstellenbesitzer erhielt von Anfang an meist nur Geldlohn, der Lohngärtner daneben 15 Land und Weide, beides in ungleich geringerem Umfange als der nördliche Instmann. Nun ist es charakteristisch für die traditionelle ländliche Lohnbildung, daß der Kleinstellenbesitzer zur Zeit nach der Ablösung an Geldlohn nicht erheblich mehr erhielt, als der Instmann neben seinen Naturalien, und daß er ebenso heute regel20 mäßig an Geldlohn nur das Nämliche erhält, was die Lohngärtner oder sonstige besitzlose Arbeiter neben der ihnen gewährten Wohnung und der Landanweisung beziehen. Die Gutsherren pflegen sich dieserhalb in der Vorstellung zu gefallen, sie gewährten den besitzlosen Arbeitern Wohnung und Land „gratis". Historisch und wirt25 schaftlich ist nur die umgekehrte Ausdrucks|weise korrekt: sie rech- A 17 nen dem Kleinstellenbesitzer das Areal und die Wohnung, welche sie ihm nicht gewähren, sondern welche er selbst besitzt, auf seinen Lohn an. Es entspricht das auch in Wahrheit der Art, wie die Grundbesitzer die Lohnfrage fzu behandeln'pflegen. Wenn man im Ge30 spräche mit Grundbesitzern z.B. aus Sachsen, 17 wo die Verwendung von grundbesitzenden Arbeitern aus den Dörfern gleichfalls mehrfach vorkommt, den dort früher typischen Lohnsatz von 1 Mk. kriti-

b A: Herrn,

c B: formal

d B: Der

e B: sowohl

f B: anzusehen

17 Gemeint ist die preußische Provinz Sachsen. Die Ergebnisse der Erhebung des Vereins für Socialpolitik über die Lage der Landarbeiter in der Provinz Sachsen wurden von Friedrich Großmann in Band 54 der Schriften des Vereins für Socialpolitik, S . 4 8 0 527, veröffentlicht.

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sirt 9 , so beziehen h sich die Betreffenden stets darauf, daß die Arbeiter, da sie eigenen Besitz haben, für die Bestreitung ihrer Existenz auf diesen Lohn nicht angewiesen' seien: Es k zeigt sich, wie irrelevant die 'Rechtsformen des Arbeiterbesitzes' gegenüber der übermächtigen Gewalt der traditionellen wirtschaftlichen Verhältnisse B 454 sind. Nicht die Arbeitsleistung | ist auf dem Lande der Maßstab des Lohnes, sondern das Mindestmaß der Bedürfnisse der Arbeiter nach ihrer traditionellen Lebenshaltung. Das gilt für den Deputanten so gut wie für die sonstigen reinen Lohnarbeiter: die Höhe der gewährten Deputate ist in den einzelnen Gegenden sehr stark verschieden und richtet sich lediglich nach dem historisch überkommenen und auf dieser Grundlage sich langsam fortentwickelnden Nahrungsstand" 1 , dieser bestimmt den Lohn, nicht umgekehrt. Angesichts dessen war es vom Standpunkt der Arbeiter ein bedeutungsvoller Vorzug der nördlichen patriarchalischen Arbeitsverfassung mit ihrer Behandlung der Instleute nicht als reiner Lohnarbeiter, sondern als unfreier Wirtschaftsgenossen, daß trotz, ja man kann sagen: gerade wegen der formell schrankenlosen Verfügungsgewalt des Herrn vermöge der Stetigkeit der traditionellen Competenzen" der Arbeiter ihre materielle Lage, was den Nahrungsstand anlangt, mit der allmählichen Steigerung der Roherträge sich stetig hob. In stark abgeschwächtem Maße kann das Gleiche auch die Begleiterscheinung der Deputatlöhnung sein. Ganz anders beim Geldlohnsystem. Die Naturallöhne der Instleute und in geringerem Maße auch der Deputanten werden aus den steigenden Roherträgen unter Abwälzung eines entsprechenden Teils des Risikos und, wie oben ausgeführt, 18 des Produktionsprozesses auf den Arbeiter bestritten, die Geldlöhne aus den sinkenden Reinerträgen ohne eine entsprechende Überwälzung. Das bedingt den Fortfall der oben erörterten 1 9 rein wirtschaftlichen Vorzüge. Der Umstand, daß ein Teil der Arbeiter eigenen Grundbesitz hat, wirkt dabei fast ausschließlich ungünstig, denn ihre ScholA 18 lenfestigkeit und | die eben besprochene Wirkung auf die Lohnbe-

g B: kritisirte h B: bezogen i In B hervorgehoben. k B: es form des Arbeiterbesitzes B: Rechtsformen m B: Nahrungszustand petenzen

18 Oben, S. 383f. 19 Oben, S. 383f.

I A: Rechtsn B: Kom-

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messung drückt auf das Lohnniveau im Allgemeinen. Der Kleinstellenbesitzer ist aus der Wirtschaftsgemeinschaft des Gutes ausgeschaltet. Er befindet sich nicht, wie der Getreide verkaufende Instmann, in Interessengemeinschaft, sondern, da er Brod zukauft, im 5 Interessengegensatz zum Gutsherrn. Es entspricht aber, wo die Machtverhältnisse zwischen Unternehmer und Arbeiter für den letzteren so ungünstige sind wie auf dem Lande, seinen 0 materiellen Interessen nicht, daß eine formale rechtliche Schranke, welche die wirtschaftliche Machtlage doch nicht zu alterieren vermag, in Gestalt 10 der Verleihung des Eigentums an der Arbeiterstelle errichtet wird. Es wird dadurch das die volle, formale Dispositionsgewalt des Herrn voraussetzende patriarchalische Herrschaftsverhältnis in ein geschäftliches p verwandelt und damit p für den Arbeiter an Stelle der Eventualität einer brutalen, persönlichen Beherrschung, der er sich B 455 15 durch Wegzug entziehen kann, die andere der geschäftlichen Ausbeutung gesetzt, der er, weil sie äußerlich unmerklicher eintritt, sich thatsächlich schwerer entzieht, 3 als Kleineigentümer sich auch gar nicht zu entziehen in der Lage ist. Man zwingt ihn durch die formale rechtliche Gleichstellung in einen Interessenkampf, den eine weithin 20 über das Land dislocirte, der Organisation unfähige Arbeiterschaft durchzufechten nicht die Macht hat. Wenn hier das traditionelle Instverhältnis als ein „patriarchalisches" bezeichnet und als ihm charakteristisch die „Interessengemeinschaft" des Arbeiters mit dem Herrn hingestellt worden ist, so 25 sollte dieser Ausdruck billigerweise b von dem Mißverständnis verschont bleiben, als ob damit irgend eine persönliche Vertrauensbeziehung zwischen Herrn und Arbeiter als notwendige Folge dieser Arbeitsverfassung behauptet werden sollte. Behauptet werden soll nur, daß sie ein festes gemeinschaftliches Interessenband um Herrn 30 und Arbeiter schlingt und die patriarchalische Leitung der Wirtschaftsgemeinschaft durch den Herrn dieser Sachlage ebenso adäquat ist wie sie mit dem Geldlohnsystem in Widerspruch steht, weil das materielle Interessenband fehlt. Die patriarchalische Arbeitsverfassung bringt ehrlich zum Ausdruck, daß auf dem Lande der Arbei35 ter nicht in einem Vertrags-, sondern in einem persönlichen Unter-

o B: dessen Weise

p B: verwandelt. Damit wird

a B: entzieht und

b B: billiger

392

1.

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werfungsverhältnis zum Herrn steht, und diese Ehrlichkeit ist ihre Stärke. Sie setzt aber eben deshalb jene resignierte^] in die Tradition der Unfreiheit gebannte Arbeiterbevölkerung voraus, welche die A 19 östlichen Instleute repräsentierten, und diese Voraussetzung wird mehr und mehr zu Schanden. Nicht nur die Unternehmer, sondern ebenso auch die Arbeiter sind es, welche sukzessive 0 das Deputanten- statt des Instverhältnisses, den Geldlohn statt des Naturallohns, die rechtliche Ungebundenheit statt des Kontrakts bevorzugen, das scheint d durch die Enquête 0 im allgemeinen völlig sicher gestellt. Wie dem aber sei, jedenfalls zerfällt mit dieser Umwandelung eine notwendige Voraussetzung der patriarchalischen Herrschaft : die Interessenbeziehung zum einzelnen Gut. Die Unterschiede in der Stellung der einzelnen Kategorieen von Arbeitern nivellieren sich, und die Person des Unternehmers wird für die ländlichen Arbeiter in ähnlicher Art „fungibel", wie sie es für die gewerblichen regelmäßig schon ist. Mit andern Worten, die Entwickelung führt zur stetigen Annäherung der ländlichen Arbeiterschaft® an den Charakter einer in ihren wesentlichen Lebensbedingungen einheitlichen Klasse mit B 456 proletarischem Typus, | wie die Industriearbeiterschaft sie bereits darstellt. Die kapitalistische Unternehmung strebt aus den oben angedeuteten Gründen 2 0 aus dem Naturallohnsystem trotz seiner wirtschaftlichen Vorzüge heraus, - die Arbeiter suchen den Geldlohn, weil er sie am meisten von der Abhängigkeit von der Wirtschaft und dem guten Willen des Herrn befreit, trotzdem sie sich dabei wirtschaftlich schlechter stehen. Wie der Geldzins des Bauern im Mittelalter als das wichtigste Symptom seiner persönlichen Freiheit erscheint, so der Geldlohn des Arbeiters heute. Die Landarbeiterschaft opfert ihre materiell oft günstigere, immer aber gesichertere, abhängige Lage dem Streben nach persönlicher Ungebundenheit. Daß diese entscheidende psychologische Seite des Vorgangs den Beteiligten wesentlich unbewußt sich vollzieht, steigert nur die Wucht ihrer Wirksamkeit. Für eine Arbeiterschaft aber, welche ebenso wenig wie die Industriearbeiter normaler Weise die geringste Aussicht hat, in die Schicht der selbstständigen f Unternehmer aufzu-

c Fehlt in B.

d B: jetzt

20 Oben, S. 3 7 1 - 3 7 7 .

e A: Arbeiterschaft,

f B: selbständigen

1.

Entwickelungstendenzen

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steigen, hat diese Umwandlung nur einen Sinn als vorbereitendes Stadium für einen Klassenkampf. Es zeigte sich schon, daß auch die Grundherren der Umwandlung in eine unter sich wesentlich gleichartige Klasse mit geschäftlichem Unternehmertypus zu verfallen begonnen haben. Auch hier setzt die moderne E n t w i c k l u n g 9 an Stelle der persönlichen Herrschaftsverhältnisse die unpersönliche Klassenherrschaft mit ihren psychologischen Konsequenzen. h Betrachten wir nun die Chancen dieses in offener oder latenter | Form zu gewärtigenden Kampfes unter der Voraussetzung, daß un- A ter Erhaltung der Großbetriebe den oben angedeuteten weltwirtschaftlichen Postulaten 21 genügt wird. Ist anzunehmen, daß durch den Kampf hindurch die kämpfenden Teile zu irgend einer Form des neuerdings sog. „sozialen Friedens"[,] d.h. eines chronischen Waffenstillstandes gelangen, wie etwa in den höchst entwickelten englischen Industrieen, bei welchem nach der Ansicht der Fachspeziali-

g B: Entwicklung h - h (S. 394) B: Es fragt sich nun: was wird weiter daraus werden? Wird der Kampf einen ähnlichen Verlauf nehmen wie in der Industrie? Ist es wahrscheinlich, daß im Laufe der Zeit im Wege der Arbeiterorganisation daraus eine ländliche Arbeiter-Aristokratie ersteht, wie wir sie in manchen Großindustrien Englands finden, wo gerade die volle Proletarisirung den Durchgangspunkt für eine aufstrebende Bewegung der höchsten Schichten der Arbeiterschaft bildete? - 2 2 So günstig steht leider die Prognose des ländlichen Klassenkampfs nicht. Versuchen wir uns die Wirkungen zu verdeutlichen, welche die Umgestaltung der Betriebsweise gemäß den Anforderungen der internationalen Konkurrenzlage für die Gesammtlage der Landarbeiterschaft mit sich bringt, so müssen wir von einem Durchschnittszustande der landwirthschaftlichen Betriebe ausgehn, wie er vor 40 bis 50 Jahren auf mittlerem Sandboden im Osten bei Gütern von 500 und etwas mehr Hektar noch als Regel gelten konnte, heute natürlich nicht mehr ist:

21 Oben, S. 375. 22 In Großbritannien kontrollierten die hochqualifizierten Spitzen der Arbeiterschaft insbesondere im Maschinenbau und anderen, Facharbeit voraussetzenden Produktionszweigen die Organisation und Herstellung auf Werkstatt- bzw. unterster Produktionsebene weitgehend autonom. Sie schlössen sich häufig zu Gewerkschaften zusammen, die auf die Abgrenzung gegenüber der ungelernten Arbeiterschaft erhebliches Gewicht legten. Für diese Gruppen der gelernten Arbeiterschaft bürgerte sich zeitgenössisch der später von Lenin popularisierte Begriff „Arbeiteraristokratie" ein. Marx benutzte ihn in bezug auf den „bestbezahlten Theil der Arbeiterklasse". Marx, Das Kapital (wie Anm. 13), S. 634. Gemäß Weber ging es der englischen Arbeiterbewegung nicht in erster Linie um die „Solidarität aller Beherrschten", sondern um die „Heraushebung der Qualitätsarbeit", was zur Mittelstandsbildung unter der Arbeiterschaft führe. Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 108.

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sten im Grunde beide Teile gewinnen, 23 oder daß doch, da es ja auf die äußere Form nicht notwendig ankommt, ein irgend welcher Zustand eintritt, der in gleichem Maße eine relative Stetigkeit der sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen gewährleistet? Wir müssen zur Beantwortung dieser Frage die Rückwirkung der einzelnen Umwandlungen, welche unter dem Drucke der Weltwirtschaft sich in der Betriebsart denkbarer' Weise vollziehen können, näher betrachten. Wohl oder übel müssen wir dabei von irgend einem, wenngleich fiktiven Normaltypus traditionell bewirtschafteter Güter ausgehen, ohne doch bestimmte Ziffern als charakteristisch zu gründe legen zu können." Ausschluß des MaschinenbeB 457 triebs, inten |siver Viehzucht und starken Hackfruchtbaus ksind dabei einerseits selbstverständlich,'* Emanzipation von der Dreifelderund extensiven Feldgraswirtschaft 'ebenfalls. Eine nähere positive Umschreibung wäre willkürlich, wir müssen die allgemeine Qualität von Wirtschaften mit überwiegendem, nicht intensivem6' GetreideA 20

m6) So mißlich es ist, mit einem allgemeinen Begriff von „Intensität" zu arbeiten, so ist dies doch innerhalb des R a h m e n s einer kurzen theoretischen E r ö r t e r u n g wie hier nicht zu umgehen und wie sich zeigen wird, für deren Zwecke auch unschädlich. m \

i A: d e n k b a r e n k B: einerseits, I - / (S. 396) B: andererseits. Nicht intensiver Getreidebau bei mäßiger Viehhaltung beherrscht 1 ® den Wirthschaftsbetrieb. Wir suchen nun zu ermitteln, welchen Einfluß eine Umgestaltung des Betriebes unter geschäftlichen Gesichtspunkten in den uns interessirenden Punkten ausüben mußte. Einfach liegt diese Frage, wenn es sich um Übergang zu reiner oder annähernd reiner Viehzucht handelt. Hier ist eine starke Verminderung der Arbeitskräfte die Folge. Dies um so mehr, als bei uns allgemein nicht die englische, intensive, sondern eine ziemlich extensive Weidewirthschaft in Frage käme, welche eines Minimums von Arbeitskräften bedarf. In besonders starkem M a a ß e werden die unständigen Arbeitskräfte, deren der Getreidebau für Sommer und E r n t e bedarf, davon betroffen. Nicht so einfach Index fehlt in B. la B: beherrschen m Fehlt in B. 2 3 Weber spielt hier vermutlich auf die Untersuchung des Freiburger Nationalökonomen Gerhart von Schulze-Gaevernitz über die englische sozialpolitische Entwicklung an. Schulze-Gaevernitz hatte diese als vorbildlich für Deutschland dargestellt. Starke Gewerkschaften, die Einfluß auf die Gesetzgebung zugunsten der Arbeiterschaft nehmen, sowie die institutionelle Verankerung des Schlichtungswesens hätten zur friedlichen Lösung des Klassenkonflikts beigetragen und der Arbeiterschaft eine Teilnahme an den wachsenden Gewinnen gesichert. Vgl. Schulze-Gaevernitz, Gerhart von, Zum socialen Frieden. Eine Darstellung der socialpolitischen Erziehung des englischen Volkes im neunzehnten Jahrhundert, 2 Bände. - Leipzig: Duncker & Humblot 1890, bes. Band 2, S. 2 5 3 - 2 7 9 . Weber zitierte diese Schrift in seiner Vorlesung „Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land" von 1895. Nachschrift von unbekannter Hand, S. 38, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG, Abtlg. III).

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bau und mäßiger Viehhaltung auf mittlerem Sandboden mit zwischen 500-1000 ha Ackerfläche als Ausgangspunkt nehmen und festzustellen versuchen, welche Unterschiede sich gegen die dort typischen Arbeiterverhältnisse bei größerem Umfange des Betriebes, auf besserem Boden, endlich bei extensiverer oder intensiverer Betriebsweise finden. Dies vorausgeschickt, lassen sich aus dem vorliegenden Material eine Anzahl zunächst rein empirischer, bisher aber unbestritten gebliebener Beobachtungen entnehmen. Wenn man als maßgebende Ziffer für die Ertragsfähigkeit den Grundsteuerreinertrag annimmt, die Größe der Ackerbaubetriebe nach der mit Feld|früchten bebau- A ten Fläche bemißt, und unter „ständigen" Arbeitskräften Gesinde, Kontraktsarbeiter und die das ganze Jahr hindurch beschäftigten Freiarbeiter 24 begreift, so scheinen sich, wenn man die einzelnen maßgebenden Faktoren je isoliert und unter der Voraussetzung des Gleichbleibens der übrigen betrachtet, folgende Einwirkungen derselben ziemlich stetig zu wiederholen: 1. Mit zunehmender Betriebsgröße findet sich eine langsame, aber stetige Abnahme der Zahl der ständigen und (in geringerem Maße) auch der unständigen Arbeitskräfte im Verhältnis zur Bodenfläche und zur Ertragsfähigkeit. Der wichtige Satz, dessen exakte Feststellung Kaerger's Verdienst ist, 25 entspricht in jeder Weise bekannten anderweitigen Analogieen. 2. Mit zunehmender Bodenqualität steigt die Zahl der ständigen Arbeitskräfte auf derselben Bodenfläche langsam, nimmt dagegen (in stärkerer Relation) im Verhältnis zur Ertragsfähigkeit ab. Ebenso nimmt sie ab im Verhältnis zu der Zahl der unständigen Arbeitskräfte, welche letztere dagegen in annähernder Relation zur Ertragsfähigkeit steigt. Der Grund ist wenigstens für den Getreidebau naheliegend. Der bessere Boden erfordert einen erheblich gesteigerten Arbeitsaufwand bei sonst gleichen Verhältnissen wesentlich für die Erntezeit, nicht im gleichen Maße für die sonstigen Feldarbeiten. 3. Vergleicht man den traditionellen Wirtschaftsbetrieb mit reiner, nicht intensiver Viehzucht, also mit extensiver Weidewirtschaft,

24 Freiarbeiter hießen die kontraktlich nicht g e b u n d e n e n Tagelöhner. Sie w u r d e n im Gegensatz zu den vertraglich ebenfalls nicht g e b u n d e n e n Saison- und Wanderarbeitern das ganze Jahr über beschäftigt. 25 Vgl. Kaerger, Arbelterpacht, S. 1 7 8 - 1 8 1 , bes. S. 180.

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1.

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so zeigt sich bei der letzteren eine sehr starke an Verschwinden grenzende" Abnahme der ständigen und eine mindestens ebenso starke der nicht ständigen Arbeitskräfte im Verhältnis zur Bodenfläche und Ertragsfähigkeit aus auf der Hand liegenden Gründen. 4. In abgeschwächtem Maße findet das gleiche beim Zurücktreten des Anbaus von Feldfrüchten zu gunsten intensiver Viehzucht statt. 5. Ungleichmäßig' dagegen ist die hier °am meisten 0 interessierende Wirkung des intensiveren Ackerbaus (Drillen und Hacken der Zerealien, starke Kunstdüngung, Dreschmaschinen, Maschinenbetrieb überhaupt, intensive Hackfruchtkultur etc.) im Vergleich mit der traditionellen Wirtschaftsweise. Zunächst sind die einzelnen Formen, in welchen sich der Übergang zur intensiven Ackerbaukultur vollzieht, selbstverständlich nicht unter einander von gleicher Wirkung. A b e r in einem Punkt kommen sie im Ergebnis dennoch A 22 alle überein: In der starken relativen | Steigerung des Bedarfs an Sommer- g e g e n ü b e r den W/nierarbeitskräften bei absoluter Steigerung des Arbeitsbedarfs im ganzena. Das letztere Moment wird regelmäßig zuerst, das erstgenannte im weiteren Verlauf der Entwicklung 3 wirksam. Demgemäß b steigt, soviel ersichtlich, 0 bei langsamer Zunahme der Intensität 0 und in den Anfangsstadien des Überganges die Zahl der ständigen Arbeitskräfte im Verhältnis zur Bodenfläche langsam; die der nichtständigen schneller; im weiteren Verlauf oder bei schnellerem Übergang zur Intensität die der d nichtständigen fast ausschließlich, und es findet sogar bei hohen Intensitätsgraden eine relative und schließlich absolute Abnahme der ständigen Arbeitskräfte statt. D e r letzte Punkt, die - nicht überall, aber anscheinend überwiegend, in den Gegenden mit starkem Wanderarbeiterzuzug fast ganz regelmäßig, - eintretende absolute Abnahme der ständigen Arbeiter, könnte überraschen. D i e Gründe der Erscheinung liegen auch - wie nachher zu erörtern 26 - nicht nur, B 458 aber doch immerhin auch in der A r t der Betriebs|einrichtung. D i e Kunst der traditionellen Betriebsweise in der Verteilung der Arbeiten über die Jahreszeiten bestand"5 in der möglichsten Verminderung

n A: grenzenden O B: mehr p B: im Verhältniß zu a B: Ganzen ä B: Entwickelung b B: steigt c B: Intensität, d Fehlt in A, B; der sinngemäß ergänzt. e In B folgt: nämlich

26 Unten, S. 3 9 6 - 3 9 8 .

1.

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der Saisondifferenzen und der Sorge dafür, daß die verfügbaren Arbeitskräfte auch ständig beschäftigt seien, also in der möglichsten Abschwächung' des Charakters der Landwirtschaft als eines Saisonbetriebes. 9 Verhältnismäßig ebenso leicht aber läßt sich eine Ver5 Schiebung in der Disposition im umgekehrten Sinne vornehmen, also ein Teil der Arbeiten, die normalerweise11 im Winter vorgenommen werden, den Sommer- und Herbst-Saison-Arbeitern übertragen und dadurch der Charakter als Saisonbetrieb verstärken, der Bedarf an Dauerarbeitern auch absolut nicht unbeträchtlich vermindern. Die 10 Vorfrage, ob das möglich und zweckmäßig ist, hängt davon ab, ob gerade Saisonarbeiter mit besonderer Leichtigkeit zu erlangen sind. Das war unter den alten stabilen Verhältnissen und bei der traditionellen Wirtschaftsweise nicht der Fall. Anders mit Umsichgreifen der intensiven Kultur. Sie bedarf verstärkter Saisonarbeit und schafft' 15 sie sich durch Steigerung der Saison-Geldlöhne. Es entsteht und wächst dadurch mit den modernen Verkehrsmitteln eine Klasse von Arbeitern, die überhaupt nur landwirtschaftliche Saisonarbeiter sind, die Wanderarbeiter. Es wandert zunächst der Bevölkerungsüberschuß übervölkerter oder extensiv bewirtschafteter Gegenden. 20 Aber auf die Dauer ergreift die Wanderbewegung stetig größere Bruchteile der Landarbeiterschaft überhaupt. Das so geschaffene | Material von Saisonarbeitern nützt' der intensive Betrieb bis aufs A 23 äußerste k aus. 'Es entsteht so gut wie kein Aufwand für die Unterbringung der Arbeiter,' diem Akkordlöhne steigern die "Leistung, 25 und nicht zuletzt: der Wanderarbeiter ist" aus dem gesammten Ensemble seiner Familie und gewohnten Umgebung gerissen, er ist nur Arbeitskraft für den Gutsherrn wie in seinen eigenen Augen. Die Wanderarbeiterkaserne ist in ihrer Funktion das geldwirtschaftliche Analogon der antiken Sklavenkaserne. Der Gutsbesitzer spart °Ar30 beiterwohnungen und Landanweisung, vor allem" jegliche verwal-

f In B hervorgehoben. g In B folgt: Man vertheilte - mit anderen Worten - die nothwendige Arbeit möglichst über das ganze Jahr. h B: normaler Weise i In B hervorgehoben.

j In B folgt:

nun

k B:

Äußerste

I Fehlt

in

B.

m B:

Die n B: Leistung; aber der Wanderarbeiter ist auch an sich arbeitswilliger. Polnische Mädchen, welche in der Heimath kein noch so hoher Lohn zu energischer Arbeit anspornt, leisten auswärts Außergewöhnliches. Der Wanderarbeiter ist eben o B: Arbeiterwohnungen, denn die Unterbringung der Wanderarbeiter macht wenig oder keine Kosten. Er spart ferner die Landanweisung, endlich aber und vor Allem

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tungs- und armenrechtliche p Verantwortung und zahlt p in Gestalt B 459 der höheren Saisonlöhne im ganzen q | regelmäßig nicht mehr, oft weniger, als wenn er den traditionellen Entgelt das ganze Jahr hindurch an einheimische Arbeiter zahlen würde. Die Nachteile des Geldlohns unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit gleichen s sich für ihn in dieser Form mehr als aus. In einzelnen Teilen Schlesiens betrachtet man die Wanderarbeiter schon als „Stamm" der Arbeiterschaft. - Welcher Grund aber veranlaßt, vom Interessenstandpunkt der Arbeiter aus, die Wanderbewegung? Differenzen des Lohnniveaus scheinen das Nächstliegende und bilden einen erheb- 10 lieh mitwirkenden Faktor. A b e r die Erhebungen des Vereins für Sozial-Politik 3 sowohl als die des Evangelisch-Sozialen Kongresses bestätigen, daß auch, wo solche absolut nicht vorliegen und auch alle in den Bevölkerungsverhältnissen möglicherweise liegenden 13 Umstände fehlen, gewandert wird, ja daß benachbarte Gebiete ihre 15 Arbeitskräfte direkt oder auf Umwegen geradezu austauschen. Der Grund ist eine Kombination wirtschaftlicher und psychologischer Momente. D e r Wanderarbeiter würde eine allgemeine Lebenshaltung - es handelt sich nicht allein, nicht einmal hauptsächlich, um die Nahrung 7 ) - und ein solches Ensemble, wie es ihn auf der fremden 20 Arbeitsstelle umgiebt, in der Heimat sich nicht bieten lassen. A u f Grund eben dieser erniedrigten Lebenshaltung aber und der durch die A u f g a b e der gewohnten heimatlichen Umgebung vermehrten Arbeitsenergie erspart er, auch wenn die Lohnsätze in der Fremde A 24 nicht höher sind, als in der Heimat, relativ erhebliche Beträge, | wie 25 er sie im heimatlichen Arbeitsverhältnis nicht zu ersparen vermöchte, und kann - ein begreifliches Verlangen - in der ohnehin arbeitslosen Winterszeit c „Ferien" machen. A b e r ferner und namentlich: die Abwanderung entzieht ihn der Notwendigkeit, bei den benachbarten heimatlichen Gutsherren Arbeit zu suchen. Gerade die Arbeit in 30

A 23

B 459

7> Auch bei dieser darf man nicht an Fälle d e n k e n , wie die Z u w a n d e r u n g aus halbbarbarischen G e g e n d e n (Oberschlesien) nach Gegenden mit einem Maximum von Kultur (Sachsen). Bei den Wanderungen innerhalb des Ostens ist nach den Zeugnissen der Berichte die Nahrung der Wanderarbeiter ganz überwiegend - A u s n a h m e n k o m m e n vor die schlechteste von allen. |

p B: Verantwortung. Dagegen zahlt er liegende C B: Winterzeit

q B: Ganzen

a B: Sozialpolitik

b A:

1.

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der Heimat aber ist mit dem traditionellen Herrschaftsverhältnis historisch und gedankenmäßig verknüpft, 0 es ist der dunkle Drang nach persönlicher Freiheit, welcher die Arbeiter zur Arbeit in die Fremde treibt. e Auch hier opfern sie e ihre gewohnten Lebensverhältnisse 'und Nahrungsstand'dem Streben nach Emanzipation aus der Unfreiheit: ihre stumpfe Resignation wird durchbrochen. s Auch die® vielbeklagte „Mobilisierung" der Landarbeiter ist zugleich der erste Anfang der Mobilmachung zum Klassenkampf. | Wir sehen: die Konsequenzen planmäßiger „Verflechtung in die B Weltwirtschaft" für die landwirtschaftlichen Betriebe des Ostens auf demjenigen Areal - dem h größten meines Erachtens h - , welches zu intensiver Viehzucht nicht überzugehen vermag, sind, wenn sie Großbetriebe bleiben wollen, schon unter dem Gesichtspunkt der Bevölkerungssc/i/c/iftmg schwerwiegender Art. Gehen sie in Unterordnung unter die Gebote der internationalen Produktionsteilung zur extensiven Weidewirtschaft über, so sinkt der Nahrungswert der Bodenprodukte und die Bevölkerungsziffer. Gehen sie unter Steigerung der Bodenkultur zum intensiven Ackerbau über, so schränken sie die relative Bedeutung, teilweise auch die absolute Zahl der ständigen Arbeiter ein, befördern dagegen die Fluktuation der Arbeiterschaft und gefährden damit 'das allgemeine Kulturniveau' durch Entstehung eines modernen Nomadentums. Es kommt darin nur zu deutlich zum Ausdruck, daß die Konkurrenzfähigkeit der ausländischen Produzenten eben in dem niedrigeren1* Kulturniveau beruht, auf den ungeschwächten Naturkräften des Bodens und dem Fehlen der mittelbaren Belastung durch das soziale Ensemble, welches die Bevölkerungsdichtigkeit und die Lebensansprüche einer Bevölkerung mit älterer Kultur schaffen. Die landwirtschaftlichen Großbetriebe auf dem nicht besonders begünstigten Boden des Ostens 'müßten, - ich kann es nur wiederholen, - in' der Bodenkultur und in m der Lebenshaltung der Arbeiter eine Kulturstufe heruntersteigen,"1 um als Großbetriebe konkurrenzfähig zu bleiben.

d B: verknüpft: e B: Sie opfern f Fehlt in B. g B: Die h B: unzweifelhaftgrößten i B: die Stabilität der Gruppirung der Bevölkerung k In B hervorgehoben. I B:müßtenin m B: dem sozialen Niveau der Arbeiter wie der U n t e r n e h mer eine Kulturstufe heruntersteigen können,

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"Man könnte nun annehmen, daß diese Erscheinung, wie bei der A 25 kapitalistischen Entwicklung einzelner Großindustrien, vorübergehend sein und daß zunächst zwar die relative Zahl der ständigen Arbeiter eine geringere, ihre Lebenshaltung aber eine entsprechend höhere werden, daß im weiteren Verlaufe auch die Wanderarbeiter auf das gleiche Kulturniveau gehoben, der Enderfolg also Ersatz von Arbeit durch Kapital und Hebung der Lebenshaltung der, zufolge Abstoßung überflüssig und unwirtschaftlich verwendeter Menschenkräfte, an Zahl etwas verminderter Arbeiter sein werde. Die Gestaltung der Verhältnisse in Teilen der Provinz Sachsen und manche anderen einzelnen Erscheinungen könnten als Paradigmen dafür dienen, und wir werden alsbald noch einige andere Symptome, welche dafür verwertet werden könnten, kennen lernen. Mit der Prüfung dieser Frage, soweit die bisherigen lückenhaften Beobachtungen diese zulassen, kehren wir noch einmal zu der Erörterung zurück, welche Wirkung die einzelnen in der Bodenqualität und der Bewirtschaftungsart liegenden Faktoren auf die Lage der Arbeiter ausüben. Wir gehen wiederum von dem oben 27 angenommenen traditionellen Typus des mittleren Ritterguts aus. Zunehmende Größe der

n—n (S. 402) B: Diese verhängnißvolle Situation ist auch für die rein materielle Lage der Landarbeiterschaft - ihren Nahrungsstand - von maßgebender Bedeutung in einem Augenblick, wo zum ersten Mal die freie Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt als organisatorisches Prinzip auch auf dem Lande erscheint. Die an die Tradition gebundene Art der Lohnbemessung, welche dem platten Lande eignete, brachte es mit sich, daß die Einkommens- und Ernährungsverhältnisse der Arbeiter durch rein ökonomische Momente nur theilweise und indirekt, unmittelbar dagegen durch solche Umstände bestimmt werden, welche jenen festen Halt, den die Tradition einer festgefügten typischen Arbeitsverfassung bot, erschüttern. Das ist aber gerade bei denjenigen Veränderungen der Fall, welche die moderne Betriebseinrichtung mit sich bringt. Sehen wir uns die wichtigsten derjenigen Faktoren an, welche einen Einfluß auf die Lage B 461 der Arbeiter möglicherweise ausüben | können: Es sind: l.die verschiedene Größe der einzelnen Betriebe; 2. die verschiedene Güte des Bodens; 3. die verschiedene Intensität der Bodenbewirthschaftung; 4. die Grundbesitzvertheilung. Was zunächst die Wirkung der Größe der Betriebe auf die Lage der Arbeiter anlangt, so scheint der Satz ziemlich allgemein aufgestellt werden zu dürfen: je größer der Betrieb, desto weniger ständige Arbeiter bedarf er im Verhältnis zur bebauten Fläche. Es folgt kein Absatz in B; Index fehlt in B.

2 7 Oben, S. 372.

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einzelnen Betriebe8* führt dann, so wurde oben konstatirt,28 zu einer | relativen Abnahme der ständigen Arbeitskräfte im Verhältnis zur A 26 bebauten Fläche, zunehmende Qualität des Bodens zu einer relati° 8) Es ist daran zu erinnern, daß es sich hier nur um Vergleichung von Großbetrieben A 2 5 (isolierten Gütern) verschiedener Größe unter sich handelt. Bäuerliche Betriebe sind damit absolut unvergleichbar; es ist ferner eine ganz von der nach der Wirkung der konkreten Betriebsgröße verschiedene Frage, wie die allgemeine Grundbesitz- und Betriebsgrößenvertheilung (beides darf im Osten in der Hauptsache identifiziert werden) in einer Gegend im Sinne starken Vorherrschens von Großbetrieben wirkt. Ein solches führt bei besonders intensiver Kultur zur Hebung der Saisonlöhne, oft auch, wie es scheint, des Geldlohnniveaus überhaupt, weil stetig Arbeitskräfte herangezogen werden müssen. Dagegen scheint die Lage der ständigen Arbeiter in solchen Fällen nicht von der Grundbesitzverteilung an sich, sondern von ganz anderen Umständen abzuhängen, nämlich von der Stärke der Tradition, der nationalen Herkunft, mit einem Wort, dem geschichtlich begründeten Kulturniveau der Arbeiterschaft. In Mecklenburg, Neuvorpommern und der Holsteiner „Grafenecke", 2 9 also dem ganzen Küstengebiet von Rügen bis Alsen ist sie weit überdurchschnittlich, in den Magnatengegenden Schlesiens, auch den nicht stark polnischen, weit unterdurchschnittlich auch bei Gleichheit der Bodenqualität und der Intensität der Bewirtschaftung. Daran ist unbedenklich - ich habe das in der Enquetebearbeitung auszuführen versucht 30 - die auch auf die benachbarten Gebiete zurückwirkende, alte und sozial festgefugte Arbeitsverfassung zumal Mecklenburgs und Ostholsteins im Gegensatz zu der schlesischen schuld. Dies übersieht Kaerger, wenn er in seiner Schrift über „Die Arbeiterpacht als Mittel zur Lösung der ländlichen Arbeiterfrage" (Berlin 1893) gegen eine allerdings nur vermeintliche Behauptung von mir (siehe | unten) 31 als Beispiel A 2 6 der günstigen Wirkung der Intensität der Bodenkultur auf die Lage der Arbeiter, Neuvorpommern in's Feld führt. 3 2 Ich habe ganz dasselbe wie vorstehend bereits Bd. III, S. 40 verbanden] mit S. 762ff. der Enquetebearbeitung gesagt. 0 3 3 o Fehltin B. 28 Oben, S. 395. 29 Im Gegensatz zu d e n Marsch- und Geestdistrikten, w o der bäuerliche Grundbesitz überwog, herrschte an der Ostküste Schleswig-Holsteins der Großgrundbesitz vor. Dieses Gebiet w u r d e als „ G r a f e n e c k e " bezeichnet. 30 In W e b e r s Untersuchung über die Lage der ostelbischen Landarbeiter heißt es: „ D i e H ö h e der Lebenshaltung der m e c k l e n b u r g i s c h e n Arbeiter ist [...] ganz wesentlich der Art, in welcher die patriarchalische Arbeitsverfassung dort erhalten und fortentwickelt ist, zu danken." Weber, Landarbeiter, S . 7 6 3 ( M W G I/3, S . 8 8 1 ) . 31 Unten, S. 4 1 1 - 4 1 5 , A n m . 13. 32 Karl Kaerger hatte Max W e b e r s angebliche Behauptung, daß zwischen der Intensivierung der Bodenkultur und d e m Sinken des Lohnniveaus ein unmittelbarer Kausalzusamm e n h a n g bestehe (vgl. oben, S. 364), scharf kritisiert. In d e m Ansteigen der Löhne sowie generell d e m b e m e r k e n s w e r t e n Lohnniveau im Regierungsbezirk Stralsund, also Neuvorp o m m e r n (und Rügen), sah er ein Beispiel für die Fehlerhaftigkeit dieser These. Die hohen Löhne in d i e s e m Bezirk bestätigten vielmehr „aufs Neue die Abhängigkeit der L o h n h ö h e v o m Ertrage des B o d e n s " . Kaerger, Arbeiterpacht, S. 7. 33 Weber hatte e n t g e g e n der Ansicht Kaergers nicht das relativ hohe Lohnniveau in N e u v o r p o m m e r n in Zweifel g e z o g e n , auch nicht d e s s e n Z u s a m m e n h a n g mit der dortigen Bodenqualität und d e m Ertrag, wohl aber die Behauptung, daß grundsätzlich ein Kausalverhältnis zwischen Bodengüte und -ertrag und Lohnniveau g e g e b e n sei: Ein solches

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ven Abnahme derselben im Verhältnis zur Ertragsfähigkeit, also auch zum präsumtiven Ertrage, zunehmende Intensität zu einer relativen Abnahme derselben jedenfalls im Verhältnis zu dem Gesamtaufwand von Arbeit innerhalb des Betriebes, also präsumtiv auch zum Produkt, bei hoher Intensität sogar zu einer absoluten 5 Abnahme, zunehmende Extensität endlich zu einer absoluten Abnahme derselben. Wie steht es nun in allen diesen Fällen mit der materiellen Lage der teils absolut, theils relativ verringerten ständigen Arbeiterschaft?" [B 461 ] Eine Abnahme der ständigen Arbeiter im Verhältnis zur bebauten 10 Fläche bei untereinander gleichen Verhältnissen der Bodenqualität und Intensität scheintp regelmäßig mit einer Hebung ihrer Lage verbunden zu q sein 9) , und das entspricht wiederum" bekannten AnaB 461

9) Beispiel: Nach einem sehr sorgfältigen, aus Angaben der Arbeiter und Wirtschaftsbüchern der Güter zusammengestellten Bericht auf die Enquete des ev[angelisch]-soz[ialen] Kongresses] aus dem Kreise Königsberg (Land) 3 4 stellt sich innerhalb eines Bezirkes, der so eng ist, daß die Bodenverhältnisse schwerlich Einfluß haben, bei anscheinend auch etwa gleicher Intensität des Anbaues, und wenn man gleichmäßig dieselben Geldumrechnungsfaktoren anwendet, das Reineinkommen der Instfamilien, abzüglich Kosten für Scharwerker, auf mehreren benachbarten Gütern wie folgt: 1. für 1 Instmann, derauf je 35 ha. Fläche kommt, auf 525,35 Mk. 2. " 1 " " " " 40 " " " " 742,50 " 3. " 1 " " " " 43 " " " " 752,50 " 4. " 1 " " " " 53 " " " " 803,63 " Also ein völliger Parallelismus. In einem fünften Fall stellt sich das Einkommen: 5. für 1 Instmann, derauf je 57 ha. Fläche kommt, auf 645,00 Mk. Hier wird teilweiser Dreschmaschinenbetrieb gemeldet. Der Abstand von Fall 1 zu Fall 2 ist auffallend groß, auch hier wird für Fall 1 teilweiser Dreschmaschinenbetrieb gemeldet. Fall 1 und 5 untereinander folgen wieder der Regel. Es zeigt sich, daß nur unter sich annähernd gleiche Betriebsformen vergleichbares Material ergeben. '(Mit den Betriebsgrößen hängt in diesen Fällen die Verschiedenheit der Arbeitsintensität nicht zusammen.)'' |

p In B folgt: nun ferner q B: sein.*' Das entspricht r B: (In diesem Falle hängt übrigens die Verschiedenheit der Arbeitsintensität mit der Betriebsgröße nicht zusammen.) Verhältnis bestehe nur bei einander benachbarten Bezirken. Sobald man aber größere Bereiche, etwa Provinzen, miteinander vergleiche, zeige sich, daß die Lohnhöhe abhängig sei von dem Grad, in dem die patriarchalische Arbeitsverfassung in den betreffenden Gebieten fortbestehe. Weber, Landarbeiter, S.40 verbunden mit S.762ff.; siehe auch ebd., S. 791 f. (MWG I/3, S. 104, 880ff., 912f.). 34 Weber bezieht sich hier und in der im folgenden wiedergegebenen Tabelle auf den 1893 gedruckten Bericht des Königsberger Pfarrers Carl Ludwig Fischer über die Lage der ländlichen Arbeiter in Ostpreußen. Vgl. Fischer, Lage, S. 21 - 3 3 . Weber rezensierte diese Schrift. Siehe oben, S. 2 7 5 - 2 8 1 .

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logien s und ist natürlich, da es sich in diesem Falle lediglich um eine rationellere Disposition über die vorhandenen Arbeitskräfte unter Ersparung unnützer Mitesser handelt. Daraus ergiebt sich - und das entspricht der Erfahrung daß ceteris paribus, d . h . bei gleicher Bodenqualität und Wirtschaftsintensität, | die Arbeiter größerer A 27 Großbetriebe besser gestellt sein werden als die kleinerer. Dieser Satz hört aber sofort auf richtig zu sein, sobald man verschieden intensive Betriebsformen und namentlich, wenn man Güter aus verschiedenen^] nicht unmittelbar benachbarten Gegenden mit 'verschiedener Arbeitsverfassung und Kulturstufe der Arbeiter'mit einander vergleichen wollte, wie etwa Oberschlesien und Ostpreußen. Die Vergleichbarkeit besteht a in dieser Beziehung 3 nur für lokale Bezirke mit traditionell gleichartigen Verhältnissen. 13 Ähnlich liegt die Sache mit der Wirkung der Bodenqualität. Die [B 462] bessere Qualität des Bodens c wirkt, da, wie oben gesagt, 3 5 die Relation der ständigen Arbeitskräfte zur Bodenfläche langsam steigt, zur Ertragsfähigkeit dagegen abnimmt, c bei den auf Anteil gesetzten Instleuten unter sonst gleichen Verhältnissen naturgemäß steigernd auf das Einkommen; in einem gewissen, aber erheblich geringeren Maße d scheint das auch bei den Deputanten der Fall zu sein. d Was die Geldlöhne anlangt, so ist eine Abhängigkeit von der Bodengüte (Grundsteuerreinertrag) in unmittelbar benachbarten Bezirken selten sicher zu konstatieren. Hier überwiegen die rein individuellen Umstände (Weite der Wege, Isoliertheit des Gutes u . s . w . ) . Faßt man Bezirke von etwa vier bis fünf Kreisen von e unter sich e gleichen Boden- und Bewirtschaftungsverhältnissen zusammen, so findet regelmäßig ein deutlicher Parallelismus der Lohnhöhe mit der Boden-

s In B folgt: in der Industrie t In B hervorgehoben. a Fehlt in B. b In B folgt: E b e n s o ist es eine ganz andere Frage, wie sich die Lage der Arbeiter | bäuerlicher Betriebe zu der in Großbetrieben verhält. U n t e r einander vergleichbar sind nur Betriebe des gleichen sozialen Gesammtcharakters. c B: erfordert in der E r n t e einen größeren Arbeitsaufwand, im Übrigen steigt mit zunehmender Qualität der Bedarf an ständigen Arbeitskräften langsamer als die Ertragsfähigkeit. Sie wirkt deshalb d B: wirkt das auch auf die D e p u t a n t e n zurück. e B: in sich etwa

35 Oben, S. 395.

1.

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A 28 güte statt.10) | Sobald man aber große Gebiete - Provinzen - zusammenfaßt, hört dieser Parallelismus auf, ja, er hört nicht nur auf, sondern 'kehrt sich um', wenn man die Reinertragsziffern Schlesiens mit denen des Nordens vergleicht. Der Grund liegt wiederum in der Differenz der Arbeitsverfassung. s 9 Wir fanden also für die bisher erörterten Faktoren - Betriebsgröße und Wirtschaftsintensität - , daß sie in ihrer Bedeutung für die B 462

10) Beispiele: Die Lohnverhältnisse Ostpreußens, wo eine hochintensive Feldbebauung (Rübenkultur etc.) im allgemeinen auch auf den besten Bodenklassen h nicht besteht," die verschiedene Intensität durchschnittlich vielmehr der verschiedenen Bodengüte etwa entsprechen dürfte. Nach den allerdings sehr rohen, hier aber doch vorläufig genügenden Zusammenstellungen in der Enquête 3 6 zeigt sich folgender Parallelismus:

Durchschnitt des 1. Regierungsbezirk Königsberg

Kreis Orteisburg, Neidenburg Ermland Kreis Mohrungen, 1 Preußisch] Holland, [ Osterode J Samland und Natangen .

Durchschnitt des 2. Regierungsbezirk

Grundig steuer77 i " reinertrages pro Ha. 1

A 27

an c« £3 .5 G G uG tj cd S Mk.

4,31 8,71

1,10 1,21

9,92

1,32

13,12

1,50

Gumbinnen

Südwestliches Masuren Masurische Höhenkreise Südliches Littauen . . . Ostliches und nördliches Littauen

< ubû cOuJO ca (0 ç •o i ï i £C J-. n u3 u K a co) ij ? B o fl £ / Nicht die Arbeiter mit i14> Völlig unverständlich ist mir, wie Quarck in einem seiner Artikel (Sozialpolitisches] Centralbl[att] Bd. 2, S.331) behaupten kann, von dieser Seite der Sache - der G e f ä h r d u n g der Lebenshaltung der Arbeiter durch den Polenimport - habe „kaum Jem a n d " gesprochen. 7 6 Es ist von meiner Seite von nichts anderem mit solcher Betonung gesprochen worden, als eben hiervon. Man hat, wie es scheint - und zwar nicht Quarck allein - in meinen Bemerkungen darüber einen deplazierten Appell an nationale Empfindungen finden wollen. Ich bin aber der Ansicht, daß ein Pole oder Mongole als Beherrscher des Ostens, wenn er sich die A u f g a b e der Erhaltung des Kulturniveaus der Arbeiter stellte, nicht anders verfahren könnte als ein Deutscher. Freilich erschöpft sich für mich die Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer Nationalität nicht in dieser hier einmal nachweisbaren materiellen Beziehung. A b e r vorhanden ist eben auch diese Seite der Sache. Ein sentimentaler Kosmopolitismus, wie ihn auch Quarck a n d e u t e t , indem er sich an dem G e d a n k e n erwärmt, daß im Verlauf dieser E n t w i c k l u n g immer weitere Schichten tiefstehender Völker an das Licht unserer Kultur herangezogen w ü r d e n , 7 7 vergißt, daß es sehr A 3 7 fraglich ist, ob diese Völkerschaften bei | einem solchen Modus procedendi etwas von uns profitieren, sicher dagegen das U m g e k e h r t e , daß die große Masse unserer Arbeiter bei freier, internationaler Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt (mag, beiläufig b e m e r k t , die Wirtschaftsorganisation eine kapitalistische oder eine sozialistische sein, wenn sie nur international ist) mit mathematischer Sicherheit gezwungen werden würde, sich den gewohnten Lebensbedürfnissen dieser „interessanten" Bevölkerungen zu akkomodieren. Kaerger (I.e. S. 37 und 39) bestreitet umgekehrt einen Einfluß der Poleneinfuhr auf die Lebenshaltung der einheimischen Arbeiter, o h n e die Selbstironie zu b e m e r k e n , die in der Begründung liegt, daß sie ja abwandern k ö n n t e n , wenn sie die Konkurrenz der F r e m d e n f ü r c h t e t e n . 7 8 - Selbst aus der Wetterau wird berichtet (conf. „ L a n d " 1893, No. 17), 7 9 daß

j_y (S. 417) Fehlt in B.

76 Bei Quarck heißt es: „Davon, daß der Standard of life der gesammten deutschen Landarbeiter durch den Polenimport [...] tief gedrückt wird, sprach kaum Jemand." Quarck, Erhebungen, S.331. 77 Quarck schreibt: „Vielleicht schimmert die Erkenntnis durch, daß die Polenwelle nur eine kleine Theilbewegung in jenem unaufhaltbaren Strom ist, welcher die Völker der Erde von Osten nach Westen zu Immer höherer Kultur führt". Ebd. 78 Bei Kaerger heißt es: „Ihr Einfluß [der russischen und galizischen Wanderarbeiter] auf unsere deutschen Verhältnisse scheint in viel geringerem Maße der einer Herabdrückung des Lohnniveaus und der Lebenshaltung der einheimischen Arbeiter zu sein [...] als vielmehr eine Vertreibung der deutschen Arbeiter nach dem Westen." Kaerger, Arbeiterpacht, S. 37. Die ostelbischen Landarbeiter würden durch die polnischen Wanderarbeiter nicht geschwächt, „denn die Freizügigkeit und die Eisenbahnen gestatteten es ihnen ja, falls sie die Konkurrenz der Fremden fürchteten, wo anders hin sich um Arbeit zu wenden". Ebd., S.39. 7 9 Das Land. Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande, Nr. 17 vom 1. Sept. 1893, S. 268.

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höchster, sondern die mit niedrigster Lebenshaltung werden bevor- A 37 zugt und behalten das k Feld, und zwar entscheidet auch hier'' nicht das rein wirtschaftliche Interesse der Unternehmer 1 allein, sondern ihr damit nur indirekt verknüpftes Machtinteresse. m Die Herbeizie5 hung der Polen ist im eigentlichsten Sinne Kampfmittel in dem hier schon antizipierten Klassenkampf, gerichtet gegen das erwachende ein Versuch der Arbeiter, die dortigen zum Teil ungewöhnlich niederen Löhne aufzubessern, zur Heranziehung von Polen führte. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch mit einem Wort auf Quarck's Erörterung im Sozialpolitischen Centralblatt Bd. 2, S.39ff. und S. 329ff. über den Wert der Enquête zurückkommen. 80 Ich halte seine Bedenken teils für unzutreffend, teils für nebensächliche Punkte betreffend. Die von ihm gewiß mit Recht gewünschten eingehenden, auch die Arbeiter als Experten heranziehenden Monographien über die Lage der Landarbeiter in den einzelnen Gegenden sind durch die Enquête nicht nur nicht präkludiert, sondern diese ist die unerläßliche Grundlage dafür, ebenso wie sie es für die Enquête des EvangelischSozialen Kongresses war. Eine recht wertvolle Monographie dieser Art liegt in Kaerger's Schrift vor. Ich glaube angesichts der Ergebnisse der Enquête, daß Quarck sich nicht zu nahe getreten wäre, wenn er sein erstes überaus ungünstiges Urteil als in der That etwas „voreilig" modifiziert hätte. Aber er ist so sehr von Mißtrauen dagegen erfüllt, daß er glaubt, diese Ergebnisse einer von mir m. W. nie prätendierten besonderen Sachkenntnis meinerseits zuschreiben zu müssen. 81 Ich ziehe es vor, dieses unverdiente Lob meines Herrn Gegners mit der Beurteilung zu kompensieren, die mir mein Freund Kaerger in der zitierten Schrift angedeihen läßt, woselbst ich teils als „Liberaler", 82 teils als „Kathedersozialist", 83 jedenfalls aber nicht unter denen figuriere, welche „die Verhältnisse des Landes aus eigener Anschauung kennen". 84 - Bei einer anderen Gelegenheit komme ich, wie ich hoffe, auf einzelne sachliche Ausstellungen Quarck's zurück.' 85 |

I B: Gutsherren m In B folgt: Die Disposition k B: Feld. Auch hier entscheidet über den Polen ist schrankenlos: ein Wink, und der benachbarte Amtsvorsteher - auch ein Gutsbesitzer - spedirt ihn über die Grenze zurück.

8 0 Gemeint sind: Quarck, Enquete, undders., Erhebungen. 81 Quarck hatte in seinem zweiten Artikel über die Erhebung des Vereins für Socialpolitlk zur Lage der Landarbeiter die Untersuchung Webers besonders hervorgehoben: „[...] der Weber'sche Schlußband überragt verhältnismäßig die beiden übrigen an Ernst und Sachkenntnis um mehr als eine Haupteslänge." Quarck, Erhebungen, S. 330. 8 2 Kaerger hatte Weber in die Nähe jener „liberalen Städter" gerückt, die der Meinung wären, man solle den Grundbesitz, könne er sich ökonomisch nicht mehr halten, politisch „fallen" lassen und das Land aufteilen. Kaerger, Arbeiterpacht, S. 231. 8 3 Dies war nur indirekt der Fall. Bei Kaerger heißt es, wenn Weber mit seinen Thesen recht habe, so existiere „eine ländliche Arbeiterfrage im Sinne der Kathedersozialisten [...], nämlich die Frage, wie ist die materielle Lage der Landarbeiter nicht in Bezug auf ihren Verdienst, sondern in Bezug auf ihren Nahrungsstand zu heben?" Kaerger, Arbeiterpacht, S. 11. 8 4 Ebd., S. 1. Siehe ausführlich unten, S. 419, Anm. 88. 8 5 Eine erneute Auseinandersetzung mit den Ansichten Quarcks ist nicht überliefert.

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Selbstbewußtsein der Arbeiter, und triumphierend melden die Berichte, daß sie in dieser Beziehung recht" wirksam gewesen sei. Niemals wird der Streit verstummen, ob die Abwanderung die Zuwanderung, oder diese jene veranlaßt habe, 0 für die Würdigung | A 38 ihrer Bedeutung ist er ganz müßig:p beide steigern sich gegenseitig, 5 B 469 weil sie, wie gesagt, | Kampfmaßregeln in einem latenten Kampfe zwischen Besitz und Arbeit darstellen. 3 Es zeigt sich aber dabei

B 4 6 9 n B:auch o B:habe; p B: müßig; a In B folgt: Die Fortwanderung ist latenter Streik, die Poleneinfuhr das entsprechende Kampfmittel dagegen. In diesem Kampf kommt nun endlich auch der Grundbesitzvertheilung im Osten eine verhängnißvolle Rolle zu.*' Von dem Arbeitermangel betroffen 3 3 werden naturgemäß diejenigen Besitzkategorien, welche fremde Arbeitskräfte gebrauchen, zum Theil schon die Großbauern, besonders aber, in mit der Größe sich steigerndem Maaß, die Rittergüter. Der Bauer ist gar nicht in der Lage, einen Polenimport planmäßig ins Werk zu setzen. Das kann nur der Rittergutsbesitzer. Er ist zur Zeit, wenn er intensiv wirthschaften will, geradezu darauf angewiesen. Schon den gewöhnlichen Bedarf an Erntearbeitskräften kann er heute nicht mehr aus der Nachbarschaft decken. Warum nicht? Weil ein großer Theil dieser Nachbarschaft ebenfalls aus Rittergütern besteht, die ebenfalls nicht „Produzenten", sondern „Konsumenten" von Arbeitskräften sind; - mit anderen Worten: wegen Mangels an Dörfern. Die durchschnittliche Dichtigkeit der Bevölkerung der Gutsbezirke beträgt nur einen Bruchtheil derjenigen der Landgemeinden: natürlich, denn erstere ernähren nicht in erster Linie die ansässige Bevölkerung an Ort und Stelle, sondern senden ihre Produkte auf den fremden Markt. Wo, wie in Mecklenburg auf den Domänen durch einsichtige Kolonisation ein starker Bauernstand geschaffen ist, 8 6 hat man wenig über Arbeitermangel zu klagen und ist die Abwanderung gering. In den Bezirken der Ritterschaft, welche die Bauern gelegt hat, 8 7 rächt sich dieser Raub, - denn das ist er theils ökonomisch, theils auch formaljuristisch - durch Blutleere an Arbeitskräften. Es ist doch kein Zufall, daß gerade der Osten mit vorherrschendem Großbesitz die höchsten Verschuldungsziffern und den stärksten Arbeitermangel aufweist. Die „Sünden der Väter" kommen über die heutigen Gutsbesitzer und bedrohen uns mit einer slavischen Überfluthung, die einen Kulturrückschritt von mehreren Menschenaltern bedeuten würde. B 469 Hierzu gehört die Fußnote: *' Das Vorherrschen des Großbesitzes an sich steigert nur die sozialen Klassenunterschiede. Die materielle Lage der Arbeiter kann dadurch, wenn und solange eine festgefügte typische Arbeitsverfassung besteht, durch den starken Arbeitsbedarf größerer Güter gehoben werden. So war es bisher in Neuvorpommern zufolge der hohen, aus der Vergangenheit übernommenen Lebenshaltung der Arbeiterschaft. Umgekehrt in Ober-Schlesien, wo der polnischen Arbeiterschaft übermächtige Magnaten gegenüberstehen. aa B: betroffen,

8 6 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts w u r d e auf d e m großherzoglichen D o m a n i u m in M e c k l e n b u r g - S c h w e r i n eine intensive Ansiediungspoiitik betrieben. 8 7 In d e n ritterschaftlichen Bezirken M e c k l e n b u r g - S c h w e r i n s hatten sich die Güter auf Kosten d e s Bauernlandes vergrößert; die Bauern waren in großem Maßstab v o n ihren Stellen vertrieben und so g e z w u n g e n w o r d e n , sich als Landarbeiter auf den Gütern zu verdingen.

1.

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zugleich die Aussichtslosigkeit dieses" Kampfes für beide Teile. Der Klassenkampf in der östlichen Landwirtschaft | wäre ein Ringen auf B 470 einem versinkenden Kahne: Beide Teile würden zu gründe 0 gehen. Dies um so sicherer, als der Kampf auf seiten d der Arbeiter auch 5 nach Aufhebung des Koalitionsverbots notwendig® ein unorganisierter bleiben würde. Die Koalitionsfreiheit, welche den Landarbeitern zu gewähren lediglich ein Gebot der formalen Gerechtigkeit ist, wird ihnen als Kampfmittel, von lokalen Streitfällen abgesehen, nichts nutzen, weil die Art ihrer Dislokation deren zielbewußten Gebrauch 10 dauernd hindert. Dies auch, nachdem die fortschreitende Proletarisierung sie einander unter sich gleichartiger gemacht haben wird, zur Zeit kommt die Unmöglichkeit einer Vereinigung ihrer in ihren' Interessen weit auseinanderstrebenden Gruppen dazu. 9 So sieht sich unter dem Gesichtspunkte dieser Entwicklungsten15 denzen betrachtet die Zukunft der Landarbeiter und die „Landarbeiterfrage", welche Kaerger so ruhigen Muthes in eine „Frage, wie den Großgrundbesitzern Arbeitskräfte geschafft werden können" [,] auflösen zu können meint,15) doch wohl etwas unfreundlicher an. 9 | hl5) Kaerger hebt (I.e. S. 1) hervor, daß nur die „Theoretiker" nicht, dagegen alle A 3 8 „praktischen Landwirte" und alle die, w e l c h e „die Verhältnisse des L a n d e s aus eigener A n s c h a u u n g kennen", die Frage so wie er formulieren w ü r d e n . 8 8 W e n n die „praktischen Landwirte" die Frage anders als so formulieren würden, wäre das seltsam, v o n wissenschaftlicher Seite aber ist diese Formulierung bisher Kaerger allein vorbehalten geblieben (conf. darüber v . d . Goltz - einen wissenschaftlichen E x p e r t e n auf d i e s e m G e b i e t e , der zugleich d e m Requisit Kaerger'sr,] „praktischer Landwirt" g e w e s e n zu sein, g e n ü g t 8 9 - im „ H a n d e l s m u s e u m " 1893, N o . 8) ; ich kann nicht finden, daß die halbwahren Sentiments

b B: des c B: Grunde d B: Seiten e B: nothgedrungen g Fehlt in B einschließlich Index. h - / i ( S . 4 2 0 ) Fehlt in B.

f A:

ihrer

88 Bei Kaerger heißt es: „Die praktischen Landwirthe und alle die, die die Verhältnisse auf dem Lande aus eigener Anschauung kennen, sind hierüber ganz anderer Meinung, als die Theoretiker. Erstere sehen die ländliche Arbeiterfrage In der Frage: Wie sind dem östlichen Grundbesitz billige und genügende Arbeitskräfte zu verschaffen? während die wissenschaftliche Nationalökonomie in der ländlichen Arbeiterfrage im Wesentlichen ein Analogon der gewerblichen Arbeiterfrage erblickt, und ihr daher die Formullrung giebt: Wie ist die materielle Lage der Landarbeiter zu heben?" Kaerger, Arbeiterpacht, S. 1. 8 9 Nach seinem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften war Theodor von der Goltz zunächst in die landwirtschaftliche Praxis gegangen, bevor er dann Landwirtschaft in Poppelsdorf studierte. 9 0 Theodor von der Goltz besprach in der Zeitschrift Das Handels-Museum ausführlich die v o m Verein für Socialpolitik veranstaltete Erhebung über die Lage der Landarbeiter. Siehe Goltz, Verhältnisse I , I I .

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A 39

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Mit dem Tröste, daß 'ihr Einkommen' vielfach, teilweise beträchtlich, gestiegen ist, werden k nur die landläufigen Wohlfahrtspolitiker oder Interessenvertreter der Unternehmer sich zufrieden geben. Thatsächlich wird die Lage auf diesem Gebiete 1 auf die Dauer mindestens so ernst werden, wie auf dem der Industrie, und die erwachsen- 5 den Probleme erschöpfen sich wahrlich nicht im „Arbeitermangel". Es findet eine überaus tiefgreifende Umwandlung des Charakters der Bodenbesitzer sowohl, als ihrer Arbeiter statt, welche die Stellung des Staates zu beiden wesentlich verschieben, die ersteren ihrer Qualifikation zu politischen Vertrauenspersonen des Staats"1 ent- 10 kleiden muß. Und diese Umwandlung hat eine gewaltige Verschiebung der Bevölkerung, Kulturgefahren sowohl für die Produktion als für die Arbeiterschaft im Gefolge, welche auch rein politisch nicht "gleichgültig sind. Indessen diesen letzteren Punkt erörtere ich hier

glücklich wären, mit welchen er jetzt S. 3 8 - 4 0 seiner Schrift 91 diesen Satz zu stützen sucht und deren letzter Grundton mit geringen Variationen immer wieder ist: erstens daß die Löhne der Arbeiter sich stetig besserten, daß sie, zweitens, soweit dies nicht der Fall, ja fortziehen könnten, und daß sie, drittens, überhaupt nicht wüßten, was sie wollten. Aus dem ersten Punkt soll folgen, daß die Landarbeiter in günstigerer Lage seien als die gewerblichen Arbeiter. Unbegreiflich muß dann für Kaerger das Bestehen einer gewerblichen Arbeiterfrage sein, denn auch die Löhne der gewerblichen Arbeiter haben sich, wenn man mit Durchschnitten rechnet, seit Jahrzehnten fortgesetzt gehoben. Der zweite Punkt enthält einen Circulus vitiosus: Ziehen die Landarbeiter nicht fort, so beweist das, daß ihre A 3 9 Lage gut ist, ziehen sie aber fort, nun - so wissen sie laut | Punkt3 eben nicht, was sie wollen, denn ihre Lage ist ja gut. Daß sie nicht wissen, was sie wollen, ist nun im allgemeinen richtig und hat, abgesehen von ihrem ihnen nicht zur Last zu legenden Kulturniveau, seinen Grund darin, daß sie garnicht in der Lage sind, bei der derzeitigen Grundbesitzverteilung irgend welche praktikable Ziele auf dem Lande zu verfolgen - das möchte selbst Kaerger, wenn er Instmann wäre, schwer fallen. Dagegen scheinen sie eben - und mehr kann man von ihnen nicht verlangen - doch ungefähr zu wissen, was sie nicht wollen: die patriarchalische Gebundenheit in den Fesseln der Grundherrlichkeit. Der entziehen sie sich durch Ab- und Auswanderung, oft gegen ihr materielles Interesse. Würde Kaerger anders verfahren ? h

i B: auf dem Lande das Einkommen der Arbeiter k In B folgt: gegenüber diesen ernsten Erscheinungen I B: Gebiete, auch was die Verschärfung der Klassengegensätze anlangt, m B: Staates n—n (S. 421) B: gleichgiltig sind. - Nach n e u e m Absatz folgt in B: Die Feststellung dieser unerfreulichen Zustände hätte nun lediglich die Bedeutung einer der heute so in Mode befindlichen sozialpolitischen Jeremiaden, Index fehlt in B.

91 Also Kaergers Schrift „Arbeiterpacht".

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nicht eingehender, da es hier nicht auf praktische Vorschläge zur Änderung der bestehenden Situation abgesehen ist.16> Solche Vorschläge wären ja überhaupt gänzlich aussichtslos," wenn die hier herausgehobene Entwickelungstendenz den Charakter eines allein herrschenden Naturgesetzes hätte. Allein °das ist nicht der Fall", sie kann vielmehr ihre Wirkung nur entfalten unter den eigenartigen Bedingungen, welche die Besitzverteilung auf dem Lande im Osten in Verbindung mit den Herrschaftsansprüchen einer sinkenden Klasse mit sich bringt. Andernfalls müßte sie auch im Westen unter gleichen Bodenverhältnissen in gleicher | Stärke eintreten, und das A 40 ist nicht der Fall, - womit nicht gesagt sein soll, daß etwa der Westen und Süden auf dem gleichen Gebiete keine Probleme aufzuweisen hätten. Aber für die | hier geschilderten wirtschaftlichen Umwälzun- B 471 gen ist es eben p nicht ungefähr dasselbe, q ob der Großbesitz und -Betrieb 20 oder ob er 50pCt. der Fläche okkupiert, 'sondern es ist das Gegenteil von einander. r Vorbedingung eines erfolgreichen Eingreifens des Staates in die große Kulturfrage, die sich hier erhebt - ich glaube die Bedeutung der Landarbeiterverhältnisse und ihrer Entwickelung durch diese Bezeichnung nicht zu überschätzen - , ist eben, daß man die jetzige Grundbesitzverteilung im Osten nicht als eine unantastbare Grundlage der bestehenden politischen und sozialen Organisation betrachsl6)

In den A n s i c h t e n über das, was zu g e s c h e h e n habe, stimme ich, so viel ich sehe, mit Kaerger überein, n a c h d e m dieser seine früheren A n s i c h t e n entsprechend geändert h a t . 9 2 D a s Material, welches er in seiner n e u e s t e n Schrift zur Begründung beibringt und mit der ihm e i g e n e n Umsicht und Energie g e s a m m e l t hat, ist e b e n s o neu als ausgezeichnet, wie mich d e n n die vorstehende Polemik überhaupt nicht abhalten darf, den h o h e n Wert der Schrift auch hier zu b e t o n e n . s |

o In B hervorgehoben. p Fehlt in B. q In B folgt: oder lediglich ein quantitativer Unterschied, r In B hervorgehoben; in B folgt ohne Absatz: Hunderttausend Bauern verhalten sich zum heimathlichen B o d e n auch in der Stunde der N o t h , wie sie die heutigen Konkurrenzverhältnisse über die Landwirthschaft bringen, anders als hunderttausend Landarbeiter. s Fehlt in B.

9 2 Im Gegensatz zu der in seiner Schrift von 1890 über die Sachsengängerei (Kaerger, Sachsengängerei) vertretenen Ansicht, dem Arbeitermangel durch die Seßhaftmachung der Arbeiter auf Landparzellen zu begegnen, plädierte Kaerger nunmehr in seiner neuesten Untersuchung für die Bildung von Pächterstellen. Kaerger, Arbeiterpacht: Dritter Abschnitt: „Die Arbeiterpacht als Mittel zur Lösung der ländlichen Arbeiterfrage", S. 2 0 1 - 2 2 8 .

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tet, in welche ein radikaler Eingriff jedenfalls nicht geplant werden dürfe. Die Gefahren der intensiven Kultur sowohl, als der Weltmarktskonjunkturen überhaupt, auch soweit sie die intensive Kultur nicht begünstigen, bestehen für unsere Kultur im Osten in der Hauptsache im Zusammenhang mit der bestehenden Grundbesitzverteilung; vielleicht nicht der günstigste Boden (z.B. Reg[ierungs]Bezfirk] Stralsund), oder andrerseits der allerschlechteste Boden, wohl aber der typische „mittlere Sandboden", das charakteristische überwiegende Areal des Ostens, befindet sich zum Schaden der Bodenkultur und des Kulturniveaus der Landarbeiter in dieser Besitzverteilung festgelegt und durch die goldenen Klammern der Hypothekenverschuldung zusammengehalten. Und auch die Arbeitsverfassung kann nicht ohne gleichzeitige Änderung der Besitzverteilung 'etwa in dem von Kaerger (und mir) gewünschten Sinne' umgeschaffen werden." Es a mag lokal vorkommen, im ganzen aber ist es schlechterdings Illusion, zu glauben, daß B 472 bei der | jetzigen Besitzverteilung b die Arbeiter sich zur Übernahme von Heuerlingsstellen entschließen werden. Mit Recht hob Knapp hervor c (Verh[andlungen] des Vereins f[ür] Sozial-Politik S. 16) c , daß die Entwickelung im allgemeinen den umgekehrten Verlauf nimmt. 9 3 Es ist das auch vom Standpunkt der Arbeiter selbstverständlich. d Mag das abfällige Urteil Kaerger's über ihre Intelligenz noch so berechtigt sein, d94 einen Erfolg hat die intensivere Kultur bei ihnen gehabt, und zwar einen Kulturerfolg, aber er liegt nicht auf

t Fehlt in B. u In B folgt: Wir finden, wie Kaerger überzeugend nachgewiesen hat, die günstigsten Arbeiterverhältnisse zur Zeit einerseits bei den Heuerlingen Westfalens, andererseits bei den Pachtarbeitern Ostholsteins. 95 In beiden Fällen ist das Charakteristische der Verhältnisse eine Verbindung von Kleinpacht- mit Arbeits-Kontrakten. Die Arbeiter erhalten Land und Viehweide verpachtet und gegen berechnetes Entgelt vom Gut bestellt und leisten dem Gut Arbeit gegen Tagelohn, und Forderungen sowie Schulden beider Theile werden gegen einander gerechnet. Es ist das Instverhältniß, aber unter Gewährung festen abgegrenzten Landes und unter Beseitigung des Moments von Unfreiheit, welches im Instverhältniß noch immer steckt, - freier Arbeitsvertrag und doch eigner Kleinbetrieb der Arbeiter. a B: Allein: es b In B folgt: im Osten c Fehlt in B. d B: Denn

9 3 Knapp, Arbeiterfrage, S. 16. 9 4 Dies bezieht sich vermutlich auf die Äußerung, daß nur der ländliche Arbeitgeber weiß, was er will. „ Die ländlichen Arbeiter wissen das nicht." Kaerger, Arbeiterpacht, S. 39. 9 5 Kaerger, Arbeiterpacht, bes. S. 186.

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materiellem Gebiet: sie lernten die Freiheit kennen, und dem dumpfen Streben darnach sind sie, das zeigt sich, in steigendem Maße 6 geneigt,' anderes, selbst ihr materielles | Wohlbefinden zu opfern. Es A kann für sie bei der jetzigen Grundbesitzverteilung die Vorstellung diese, nicht die objektive Möglichkeit ist entscheidend - eines Weges nach oben innerhalb der Heimat nicht erwachsen. Und unter diesen Umständen ziehen sie unbewußt, aber sicher, den zutreffenden Schluß: daß unter der vorwiegenden Herrschaft des Großbesitzes und Großbetriebes auf dem Lande Heimatlosigkeit und Freiheit ein und dasselbe ist. 9

e B: M a a ß e f A: geneigt g In B folgt nach neuem Absatz: D a s wichtigste Problem bleibt deshalb die innere Kolonisation, auch unter dem Gesichtspunkte der ländlichen Arbeiterfrage. Sie liegt heute in den H ä n d e n der Ansiedlungskommission einerseits und wird hier vom Staat d u r c h g e f ü h r t , 9 6 und der Generalkommissionen andererseits, welche auf A n t r a g privater Großgrundbesitzer die Abzweigung von R e n t e n g ü t e r n 9 3 vermitteln. 9 7 Die Ansiedlungskommission hat bereits ca. 1500, die Generalkommissionen ca. 6000Bauern eingesetzt. 9 8 Die quantitative Überlegenheit der privaten Besiedlung hat aber zwei Schattenseiten: sie schafft l . z u einem sehr großen Theil kleine Zwergbauern. D e n n gerade diese k ö n n e n heute am ehesten den Preisdruck auf die P r o d u k t e ertragen, da sie dieselben überwiegend selbst verzehren, und leiden nicht unter d e m Arbeitermangel, weil sie keine Lohnarbeit verwenden. Es besteht aber eben deshalb die G e f a h r , daß gerade diejenige Schicht der Bevölkerung auf diese Weise ansässig wird, welche mit den geringsten Kulturansprüchen sich begnügen kann, also ein Grundbesitzer-Pro/etanai - der schrecklichste der Schrecken - entsteht. D a s um so m e h r als 2. die Generalkommissionen es nicht in der H a n d h a b e n , für Ausstattung der neu entstehenden G e m e i n d e n mit Allmenden genügend zu sorgen. G e r a d e für die kleinen Leute sind diese aber eine Lebensfrage. Deshalb ist es unentbehrlich, daß eine groß angelegte staatliche, also eine D o m ä n e n k o -

96 Mit dem Gesetz vom 26. April 1886 wurde die Ansiedlungskommission ins Leben gerufen, die in den Provinzen Westpreußen und Posen polnischen Grundbesitz mit Hilfe von Staatsgeldern aufkaufte, parzellierte und In Rentengüter für deutsche Bauern und Arbeiter umwandelte. 97 Im Gegensatz zur Ansiedlungskommission waren die mit der Durchführung der Rentengutsgesetzgebung von 1890/91 In Preußen betrauten Generalkommissionen an keinen nationalpolitischen Auftrag gebunden und führten auch selbst keine Aufkäufe und Parzellierungen von Gütern durch, sondern leisteten nur Hilfestellung auf Antrag der jeweiligen Interessenten. 98 Bis Ende 1894 entstanden aufgrund der Tätigkeit der Ansiedlungskommission 1606 Rentengüter; die Generalkommissionen vermittelten die Gründung von 7081 Rentengütern. Sering, Max, Innere Kolonisation, in: HdStW, 1. Suppl.-Band, 1895, S. 584b.

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Ionisation - in A n k n ü p f u n g an den bald wieder aufgegebenen Versuch in den 70er J a h r e n " - daneben tritt. B 473 Kein Verständiger kann andererseits wünschen, daß der D o | m ä n e n b e s t a n d des Staates eine starke Verminderung erleide und der Staat einer seiner wichtigsten Regulatoren auf agrarischem Gebiet beraubt werde. Nur die thörichte Angst vor d e m G e d a n k e n einer „Expropriation" ist es, die weite Kreise verhindert zu sagen, was im Stillen doch jeder denkt: Ein großer Theil des G r o ß b e sitzes im Osten ist in privaten H ä n d e n nicht haltbar. M a n möge, nicht überstürzt, aber systematisch und allmählich, aus dafür zu gewährenden Etatsmitteln diesen Theil aufkaufen und in D o m ä n e n verwandeln, welche an kapitalkräftige D o m ä n e n p ä c h t e r unter Gewährung von staatlichen Meliorationsdarlehen verpachtet werden. So wird dem D o m ä nenbestand auf der einen Seite hinzugefügt, was ihm auf der andern genommen wird, und auf die Dauer werden sich die finanziellen Interessen des Staats dabei günstig stehen. Es handelt sich dabei freilich um eine große A u f g a b e , welche in dieser F o r m wohl noch nirgends gelöst ist. Nicht zu jeder Domänenverwaltung könnte man das Z u t r a u e n h a b e n , daß sie Derartiges zu bewältigen bereit und im Stande sein würde. Ich glaube aber: man kommt nicht in den Verdacht der Schmeichelei, wenn man anerkennt, daß gerade die deutschen Domänenverwaltungen - nicht nur Preußens, sondern z.B. auch Mecklenburgs und Badens, sich bisher den A u f g a b e n gewachsen zeigten, welche im Lebensinteresse der Nation an sie gestellt wurden. Möge die Z u k u n f t halten, was die Vergangenheit versprach, g a B: Rittergütern

9 9 Dies bezieht sich auf die 1875/76 von der Domänenverwaltung in Neuvorpommern unternommene Gründung von vier Bauernkoionien. Siehe dazu: Sering, Kolonisation, S. 1 5 9 - 1 6 7 .

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Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter. 0 1

Der „Verein für Sozialpolitik" hat eine Erhebung über die Verhält5 nisse der Landarbeiter veranstaltet, deren Ergebnisse seit \¥i Jahren in 3 starken Bänden vorliegen. Die darin niedergelegten Angaben sind durch Nachfrage bei den Grundbesitzern gewonnen, eine Befragung der Arbeiter (wie sie seither der Evangelisch-soziale Kongreß durch Vermittelung der Landgeistlichen unternommen hat) mußte 10 damals des Kostenpunktes wegen unterbleiben. Das gewaltige Material an Thatsachen, welches die Enquete ergab, ist also gewiß ein einseitiges und läßt einen ganz einwandfreien Schluß auf die thatsächliche Lage der Landarbeiter nicht zu. Allein da im Jahre 1849 und wieder 1873 Erhebungen in gleicher Weise ins Werk gesetzt 15 worden sind, so ist etwas sozialpolitisch Wichtigeres möglich: durch Vergleichung der Ergebnisse der drei Erhebungen, welche alle dieselbe Fehlerwahrscheinlichkeit an sich tragen, über die Tendenzen der Entwicklung in den Landarbeiterverhältnissen Auskunft zu erlangen. Nicht die Frage: haben die jetzigen Arbeiter einen auskömm20 liehen Lohn, gute Wohnungen oder nicht, ist die wichtigste, sondern die: wohin geht die | Gesammtentwickelung ihrer Stellung innerhalb B 438 der Nation, was ist ihre Zukunft? Für die Beurtheilung dieser Frage bietet uns die Publikation eine Grundlage, welche gewiß nicht einen endgültigen, aber doch einen in 25 hohem Grade wahrscheinlichen Schluß gestattet. Sie zeigt uns gewisse elementare Wandlungen innerhalb der sozialen Struktur, der " Der Aufsatz ist eine Umarbeitung - Zusammenziehung und Erweiterung - eines B 4 3 7 Artikels mit der gleichen Überschrift aus Heinrich Brauns Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Berlin 1894, Carl Heymanns Verlag. Bd. VII, Heft 1 und 2. |

1 Der Abdruck erfolgt ohne Wiederholung des oben, S. 3 6 8 - 4 2 4 , dem Text beigegebenen Erläuterungsapparats.

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Arbeitsverfassung der großen Gutsbetriebe des Ostens, deren Wirkung, ähnlich der von Verschiebungen in der Moleküllagerung der Körper, deshalb nur um so unwiderstehlicher eintritt, weil sie sich langsam und dem an die großen Ziffern der Statistik gewöhnten Auge fast unmerklich vollzieht. - Die Umgestaltung der Arbeitsverfassung und ihre Wirkung, um die es sich für uns hier handelt, kann aber nicht isolirt betrachtet werden. Sie hängt mit dem Schicksal der Landwirthschaft im Osten überhaupt und speziell der l a n d w i r t schaftlichen Großbetriebe daselbst zusammen. Gewiß ist es nun völlig unberechtigt, diese dem Osten charakteristischen Großbetriebe unter Ignorirung der ungeheuren Differenzen ihrer natürlichen Bedingungen als eine wesentlich gleichartige Masse zu betrachten, ganz allgemein das Vorhandensein einer „Nothlage" zu behaupten, oder sie ebenso allgemein zu bestreiten, oder doch, soweit sie zugestanden wird, mit mangelndem Kapital oder mangelnder Intelligenz des Leiters zu motiviren. Trotzdem trifft doch ein für die Bedeutung der gegenwärtigen Lage entscheidendes Moment bei allen in gleicher Weise zu. Die ostelbischen großen Güter sind keineswegs nur W i r t schaftseinheiten, sondern lokale politische Herrschaftszentren. Sie waren nach den Traditionen Preußens bestimmt, die materielle Unterlage für die Existenz einer Bevölkerungsschicht zu bilden, in deren Hände der Staat die Handhabung der politischen Herrschaft, die Vertretung der militärischen und politischen Macht der Staatsgewalt zu legen gewohnt war. Die Angehörigen des Landadels qualifizirten sich, vom Standpunkte des Staatsinteresses aus, wie es die preußische Tradition verstand und nach ihrer Geschichte verstehen mußte, zu dieser Vertrauens-Stellung deshalb, weil sie w i r t s c h a f t lich „satte Existenzen" waren, mit relativ unentwickeltem Erwerbstrieb und demgemäß unterdurchschnittlicher wirthschaftlicher Intelligenz, deshalb zu einer rein geschäftlichen Ausbeutung ihrer Machtstellung regelmäßig nicht geneigt und jedenfalls nicht darauf angewiesen. Die Beherrschung der wirthschaftlich und sozial unentwickelten und politisch wichtigsten Osthälfte des Staats ließ sich, auf B 439 diesen Stand gestützt, billig und doch ohne Gefahr der | Korruption durchführen. Mit einem Wort, die Gutshöfe des Ostens bedeuteten eine Dislokation einer politisch herrschenden Klasse über das Land. Sie bilden als die Stützpunkte, bei welchen die Garnisonen und das Beamtenthum der Kreis- und selbst Regierungshauptstädte adäquaten gesellschaftlichen Anschluß finden, noch jetzt ein ungemein

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wirksames - thatsächlich das ausschlaggebende - Gegengewicht gegen die Monopolisirung der politischen Intelligenz durch das städtische Großbürgerthum. Allein mit dieser Stellung sind bestimmte Ansprüche an die Lebenshaltung von selbst gegeben, Ansprüche an die Kindererziehung, die Form der Geselligkeit und in zahlreichen anderen Dingen, welche hauptsächlich die eigenthümliche Erscheinung bewirken, daß, während die Kosten der meisten Massenartikel stetig fallen, doch unser Leben stetig theurer wird. Der Gutsbesitzer muß in seiner Lebenshaltung auf der Stufe stehen, welche das städtische „höhere" Bürgerthum im Durchschnitt einnimmt, oder: er wird zum Bauern. Nun heben sich aber seit 50 Jahren Lebenshaltung und Lebensansprüche der städtischen bürgerlichen Bevölkerung stetig in eminentem Maße, am meisten gerade diejenigen des Großbürgerthums, also des bisherigen Hauptkonkurrenten der ländlichen Aristokratie um die politische Herrschaft. Der unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen selbstverständliche, ja unumgängliche Versuch, mit dieser Lebenshaltung gleichen Schritt zu halten, bildet für die breite Masse der östlichen Grundaristokratie ein Verhängniß, welches auch ohne alle Einflüsse der ausländischen Konkurrenz ihre wirthschaftliche Grundlage gefährden muß. Die Ansprüche an die Lebenshaltung, welche heute ein preußischer Rittergutsbesitzer alle Extravaganzen ausgeschlossen - stellen muß, wenn er sich auf dem Standard of life eines Mitgliedes der „herrschenden Klassen" erhalten will, vermögen die typischen östlichen Rittergüter, welche bekanntlich das Gegentheil von „Latifundien" sind, schlechterdings nicht zu bieten. Ein Areal von ca. 500Hektar bei durchschnittlichem [und noch erheblich mehr bei unterdurchschnittlichem] 3 östlichem Boden, wie es mehr als lA aller Rittergüter im Osten nur besitzen, trägt hier, trotz der gesteigerten Erträge, keine „Herrschaft" mehr. Denn diese Steigerung ist durchschnittlich eine außerordentlich viel langsamere gewesen, als die Steigerung der durchschnittlichen Lebenshaltung der herrschenden Klassen, und dieser relative Maßstab ist ausschlaggebend. Das wird oft verkannt, weil es den Anschein hat, als seien die Erfordernisse des Gutshaushalts im Wesentlichen natural|wirthschaftlich zu bestreiten und deshalb keine erhebliche B 440

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Belastung des Budgets, allein dabei liegen optische Täuschungen vor, denn die moderne Lebensführung fordert stetig wachsende ßaarausgaben. Das veränderte soziale Ensemble, innerhalb dessen er seine Rolle zu spielen hat, erdrückt denjenigen Rittergutsbesitzer, der ein Areal zur Verfügung hat, welches nicht wiederum so groß ist, daß es eine wirkliche Selbstbewirthschaftung überhaupt ausschließt. Die politische Macht, statt sich auf die gesicherte materielle Unterlage stützen zu können, muß nun umgekehrt in den Dienst der w i r t schaftlichen Interessen gestellt werden. Es ist darum nur natürlich, daß das Verlangen nach Schutz bereits leicht die Tonart des unbefriedigten Almosenempfängers annimmt. Auf dem Lande tritt uns statt der wirthschaftlich „satten Existenzen" der bekannte Typus des „nothleidenden Landwirthes" entgegen. Das würde - in beschränktem Maße - auch ohne alle internationale Konkurrenz der Fall sein. Es liegt auf der Hand, daß die politische Machtstellung auf dieser Grundlage dauernd nicht aufrecht zu erhalten ist; ein bedeutendes relatives Herabsteigen auf der politischen und gesellschaftlichen Stufenleiter ist unter allen Umständen, sofern nicht die fortschreitende industrielle Entwickelung geradezu unterbunden wird, die unumgängliche Folge. Allein nicht nur der Ertrag des Bodens läßt den Rittergutsbesitzer bei dem Streben nach Aufrechterhaltung seiner politischen Machtstellung im Stich, sondern auch die sozialen Gruppen, die er beherrschte und aufweiche er sich stützte. Die Organisation der großen Güter, wie wir sie aus den Regulierungen überkommen hatten, trug die Eierschalen der isolirten Hauswirthschaft noch an sich. Der aus der Wirthschaft ausgeführte Bruchtheil des Produkts war allerdings ein wesentlich größerer geworden, als im Mittelalter, allein die beginnende Verflechtung in die Weltwirthschaft wurde nicht und konnte auch nicht bewußt und planvoll vollzogen werden. Sie wurde den Betrieben theils halb widerwillig durch die Verhältnisse aufgezwungen, theils andauernd von ihnen ignorirt. Der typische Rittergutsbesitzer wirthschaftete in traditioneller Weise weiter, als ob er für Lokalmärkte produzirte. Die alte Arbeitsverfassung und soziale Schichtung blieb in dem Inst- und Gutstagelöhnerverhältniß des Ostens erhalten. Der ländliche Arbeiter war und blieb Kleinwirth, beliehen mit Land als Entgelt für die Unterwerfung unter die Herrschaft des Herrn und als Genosse betheiligt an dem Ertrage der B 441 Wirthschaft. Erst im Laufe dieses Jahrhunderts drang die Gewäh-

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rung nennenswerther Geldlöhne neben und schließlich theilweise an Stelle der Land- und der Ertragsantheile in diese Arbeitsverfassung ein. Auch dann noch war die Gutswirthschaft überwiegend eine Form der patriarchalisch geleiteten und beherrschten Gemeinwirthschaft. Der Gutsherr war nicht ein gewöhnlicher Arbeitgeber, sondern ein politischer Autokrat, der die Arbeiter persönlich beherrschte, im Übrigen einen so erheblichen Bruchtheil der unmittelbaren materiellen Interessen mit ihnen gemeinsam hatte, wie dies bei keinem modernen Unternehmer sonst im Verhältniß zu seinen Arbeitern der Fall ist. Schlechter Ernteausfall, niedrige Getreide- und Viehpreise belasten das Budget eines auf Land- und Rohertragsantheil gestellten Instmannes, der Getreide und selbst gezogene Schweine verkauft, ebenso schwer oder schwerer als das des Herrn. Daß diese Sachlage die Arbeiter um so unbedingter der Disposition des Herrn auslieferte, liegt auf der Hand. Wichtiger aber war für die Grundlagen der Machtstellung des Gutsherrn jenes starke materielle Interessenband, welches die Landarbeiter - oder doch deren im Osten weitaus wichtigste Schicht: die „Instleute" - von dem gewerblichen Proletariat scharf trennte. Ein gegen die Herrn gerichtetes Klassenbewußtsein des ländlichen Proletariats konnte, außer in Zeiten hochgradiger politischer Erregung, sich nur rein individuell gegenüber dem einzelnen Herrn, soweit er hinter der durchschnittlichen Mischung naiver Brutalität mit Menschenfreundlichkeit zurückstand, entwickeln. Dem entsprach es auf der anderen Seite, daß die Landarbeiter normalerweise nicht dem Druck einer rein geschäftlichen Ausbeutung ausgesetzt waren. Ihnen stand eben nicht ein „Unternehmer", sondern ein Territorialherr en miniature gegenüber. Der mangelnde spezifisch geschäftliche Erwerbssinn der Herren und die stumpfe Resignation der Arbeiter ergänzten einander und waren die psychologische Stütze der traditionellen Betriebsweise wie der traditionellen politischen Herrscherstellung der Grundaristokratie. Die Decadence dieser politischen Machtstellung aber in Verbindung mit der theils eingetretenen, theils drohenden Depossedirung durch das kapitalkräftigere Bürgerthum - sei es in Form des Kaufes, sei es der Verpachtung der Güter - führen mit zwingender Gewalt die Herren der landwirthschaftlichen Großbetriebe, wenn sie dies bleiben wollen, dazu, zu werden, was sie früher nicht - wenigstens nicht in erster Linie - waren: Unternehmer, die unter rein geschäftli-

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B 442 chen Gesichtspunkten wirthschaften. | Entweder dies geschieht, oder der Großbetrieb zerfällt im Wege der völligen oder theilweisen Zerschlagung in Kleinbetriebe. Im ersteren Fall „bewegt sich der Boden" zwar keineswegs, wie behauptet wird, „in der Richtung zum besten", wohl aber zum kapitalkräftigsten Wirth; und dieser müßte seine Natur verleugnen, wollte er nicht das, was der Grundaristokratie in zweiter Linie stand, in die erste stellen: den geschäftlichen Erwerb. Damit aber wird der isolierten Gutswirthschaft der letzte Stoß versetzt. Mit der Beseitigung der Isolierung der Gutswirthschaften tritt die Nothwendigkeit eines relativ weit größeren Gehorsams gegenüber den weltwirthschaftlichen Produktionsbedingungen gebieterisch an diese Betriebe heran. Die nothwendigen Konsequenzen dessen für den Wirthschaftsbetrieb sind[,j je nach der Gunst oder Ungunst der Boden- und klimatischen Verhältnisse, verschieden. Ein Theil des von der Natur in beiden Beziehungen besonders begünstigten Areals ist zweifellos in der Lage, im Wege eines hochintensiven Betriebes bei starkem Kapitalaufwand die internationale Konkurrenz aufzunehmen. Diese der intensiveren Kultur zugeführten Betriebe haben alsdann nach bekannten allgemeinen Gesetzen das Streben, speziell kapitalintensiv zu werden. Sie folgen eben deßhalb der von Sering zutreffend nachgewiesenen Tendenz der Verkleinerung des von einem Zentrum aus bewirthschafteten Areals unter konzentrirter Kapitalinvestition. Schon daraus folgt vom Standpunkte des politischen Herrschaftsinteresses aus eine Schwächung der Machtstellung des Gutsbesitzers: das beherrschte Areal wird kleiner. Sie werden freilich keine bäuerlichen, aber bürgerlich-kapitalistische Großbetriebe und verschmelzen - eine in den Rübendistrikten zu beobachtende Erscheinung - mit den aufsteigenden großbäuerlichen Betrieben zu einer einheitlichen Masse von Unternehmungen mit bürgerlich-gewerblichem Typus. Ein anderer und zwar der am ungünstigsten ausgestattete Theil des Areals ist weltwirthschaftlich werthlos und kann im Großbetriebe nur als Weiderevier für sehr extensive Viehzucht benutzt werden. Zwischen beiden liegen zahlreiche Kategorien von Boden mittlerer Qualität in den verschiedensten Abstufungen, dessen Überführung zur intensiveren Kultur mit abnehmender Güte zunehmende Kapitalaufwendungen erfordert. Werden diese nicht gemacht, so wird er durch die Weltmarktskonjunkturen von der Fähigkeit, durch Produktion für den Markt eine Rente abzuwer-

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fen, mehr und mehr ausgeschlossen und damit, wenn er weiter im kapitalschwachen Großbetriebe genutzt wird, in die gleiche | Lage B 443 wie der schlechteste Boden gebracht, - d . h . er kann erfolgreich mit Feldfrüchten nicht bestellt werden. Dieser Bruchtheil dürfte der umfangreichste sein. Die Getreidezölle vergrößern auf seine Kosten das Areal, welches intensiv mit Getreide bebaut werden kann, die bisherige Begünstigung der Rübenkultur und die noch bestehende der Kartoffelsprit-Brennerei ermöglichen seine Bebauung mit den betreffenden Hackfrüchten. Weit unerheblicher sind dagegen für den Osten diejenigen Bruchtheile, welche der reinen oder überwiegenden intensiven Viehzucht und der Gartenkultur vom w e l t w i r t schaftlichen Standpunkte aus zuzuweisen sind. Der letztere ist klein, weil eine Verschiebung zu seinen Gunsten um wenige Prozente des Areals eine völlige Umwälzung des Konsums voraussetzte, und der erstere deshalb, weil die in England zu Gunsten der intensiven Viehzucht bestehenden klimatischen und sonstigen Vorbedingungen im Osten mit Ausnahme der Küstenstriche Ostpreußens und einiger anderer relativ beschränkter Bezirke weder vorhanden sind, noch in absehbarer Zeit eintreten werden 2) . - In den Fällen nun, wo die Großbetriebe, den Postulaten der internationalen Produktionstheilung gehorchend, unter Ersparniß von Kapital und Arbeit zur Weidewirthschaft übergehen, entgleitet der Beherrschung des Grundherrn zwar nicht das Areal - dies zeigt im Gegentheil die Tendenz zu starker Ausdehnung, - wohl aber verlieren sie die Hintersassen, die sie beherrschten, da sie nur ein Minimum an Arbeitskräften halten, und auch die Zahl der Unternehmer verringert sich im Wege der Latifundienbildung. Auch hier also büßt der Stand als solcher an seiner politischen Machtstellung ein.

Überall aber finden wir eine gemeinschaftliche Erscheinung als 30 Ergebniß der Situation: wo nicht auf die Dauer Zerschlagung in Kleinbetriebe oder Verödung als Weiderevier eintreten soll, da besteht die Nothwendigkeit umfassender Steigerung der Kapitalintensität und eines Wirthschaftens unter kaufmännischen Gesichtspunkten, wie sie der traditionelle Grundherr im Osten nicht kannte. Mit

2 ) Ein erheblicher Theil der Fälle, in denen der Übergang zur reinen oder fast reinen B 443 Viehzucht auf gutem B o d e n sich vollzogen hat, hat nicht in wirthschaftlichen Momenten, sondern in dem Mangel an Arbeitskräften seinen Grund, auch wo der Betrieb ein kapitalintensiver ist. |

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anderen Worten: an die Stelle der Grundaristokratie tritt - mit oder ohne Personenwechsel - mit Nothwendigkeit eine landwirthschaftliB 444 che Unternehmerklasse, die sich in ihren sozialen | Charakterzügen von den gewerblichen Unternehmern prinzipiell nicht unterscheidet. Diese Umwandlung in dem allgemeinen Typus der ländlichen Arbeitgeber hat auf die Stellung der Arbeiter zu ihnen die bedeutendsten Rückwirkungen. Bei allem Durchgehen typischer Züge ist die Mannigfaltigkeit der Arbeitsverfassung und die rein individuelle Gestaltung der Lage der einzelnen Arbeiter eine Begleiterscheinung der patriarchalischen Gutswirthschaft noch jetzt in ähnlicher Weise wie in der Gutsverfassung des Feudalzeitalters. Denn die Arbeitsverfassung der Güter war nicht nach geschäftlichen Gesichtspunkten und unter dem Einfluß des Strebens nach möglichst hohem Unternehmergewinn gestaltet, sondern historisch entwickelt für den Zweck, dem Gutsherrn eine standesgemäße Existenz zu ermöglichen; sie streifte deshalb so wenig als eben möglich von ihrer überkommenen natural- und gemeinwirthschaftlichen Grundlage ab. Eine ländliche Arbeiterklasse mit unter sich gleichartigen wirtschaftlichen Interessen existirte und existirt deshalb in der überwiegenden Hälfte des Ostens noch nicht. - Die moderne Entwickelung sucht zunächst innerhalb dieses naturalwirthschaftlichen Rahmens das Prinzip der Wirthschaftlichkeit in der Lohngestaltung entschiedener zur Geltung zu bringen. Sie beseitigt demgemäß zunächst die gemeinwirthschaftlichen Reste (Landantheil, Dreschantheil, Weideantheil). Diese Antheilsrechte am Ertrage fallen schon deshalb auf die Dauer nothwendig fort, weil die gemeinwirthschaftliche Arbeitsverfassung mit ihren Antheilslöhnen die Isolirung des einzelnen Gutsbetriebes in wirthschaftlicher Beziehung voraussetzt. Von dem Ertrage eines Gutes, das nach alter Art ohne besondere Aufwendungen für Maschinen, Kunstdünger, Drainage etc. bewirthschaftet wurde, konnte der Herr mit seinen Arbeitern annähernd behaupten: dieser Ertrag sei das Ergebniß ihrer Arbeit und nur dieser. Mit jeder Kapitalinvestirung schwindet dies Moment: der Ernteertrag des in die Volkswirthschaft verflochtenen Gutes ist nicht mehr das Arbeitsprodukt lediglich der Wirthschaftsgemeinschaft der Gutsinsassen, und der Entgelt für die Verwendung der Produkte fremder Arbeit in das Gut erscheint, der kapitalistischen Organisation entsprechend, als (latente oder offene) Kapitalrente, welche aus den Erträgen vorweg bestritten werden muß. Damit verschwinden die auf dem

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Antheilsprinzip beruhenden Lohnformen, und zwar umsomehr, als ihr Bestand in der Hauptsache die Folge mangelnden Betriebskapitals des Unternehmers und seiner darauf | beruhenden Unfähigkeit, B Geldlöhne zu zahlen, war. Gerade der Geldlohn ist aber das auf die Dauer unentbehrliche Korrelat jeder auf rein geschäftlicher Grundlage ruhenden Wirthschaftsverfassung und wird auch den landwirtschaftlichen Betrieben, zumal in Gestalt des nach der Leistung bemessenen Geldö/c/cordlohnsystems, aufgezwungen. Wir müssen, um die volle Bedeutung dieser langsamen, aber unvermeidlichen Umwandlung zu verstehen, näher auf die charakteristischen Eigenthümlichkeiten der ländlichen Arbeitsverfassung im Osten eingehen. Diese beruhen, wie bei jeder Arbeitsverfassung größerer Güter, auf der Art, in der sie das wichtigste Problem der Organisation der Arbeit im landwirthschaftlichen Betriebe zu lösen sucht. Dies Problem besteht darin, daß bei jeder Art des Ackerbaues - weit weniger bei der reinen Viehzucht - der Bedarf an Arbeitskräften während der verschiedenen Jahreszeiten ein sehr stark schwankender ist. Darauf beruht die typische Unterscheidung von ständigen und Saisonarbeitern in der Landwirthschaft. Von jeher sind die ersteren überwiegend in Naturalien gelohnt, kontraktlich gebunden und wohnen meist auf dem Gute. Die letzteren werden überwiegend in Geld - Tagelohn oder Akkord - gelohnt, regelmäßig von auswärts als „fremde" Arbeiter zeitenweise herangezogen und wieder abgestoßen. Nur bei sehr extensivem Betrieb kann die gesammte Erntearbeit mit den Kräften der eigenen Arbeiter unter Zuziehung ihrer Frauen etc. bewältigt werden. Es existirt kein Mittel, namentlich auch kein maschinelles, um diese Differenz auszugleichen; gerade die am allgemeinsten anwendbaren Maschinen, speziell die Dreschmaschine, steigern dieselbe vielmehr, und insbesondere wird sie durch jede Steigerung der Intensität des Betriebes, am meisten durch den Hackfruchtbau, sehr stark vergrößert. Die Veränderung der Arbeitsverfassung, welche durch die moderne Umgestaltung der Betriebsweise herbeigeführt wird, betrifft nun sowohl die Zusammensetzung der Arbeiterschaft als Ganzes, wie den Typus jeder Kategorie für sich. Es ändert sich einmal das Zahlenverhältniß der ständigen zu den unständigen Arbeitskräften, und es verwandelt sich ferner sowohl die Physiognomie der ständigen Arbeiterschaft, für sich betrachtet, wie die der unständigen. Nach der normalen traditionellen Einrichtung des Betriebes wird

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B 446 das Vieh von ledigem Gesinde gewartet, welches auch die | Feldbestellung wenigstens zum Theil besorgt. Den Bedarf an ständigen Feldarbeitern im übrigen decken die Instleute. Sie erhalten als Lohn die erwähnten Antheilsrechte an Mahd und Erdrusch (Mandel und Dreschmaß), Landzuweisung, bestehend in festem Gartenland und mit den Gutsschlägen rotirenden „Morgen", und Viehweide. Sie stehen nicht in einem individuellen Kontraktsverhältniß zum Herrn, sondern die Arbeiter-Föm///e ist der Herrschaft des Herrn unterworfen und deshalb zur Arbeit nach seiner Willkür mit allen verfügbaren Kräften verpflichtet, - mindestens sind zwei Arbeitskräfte zu stellen, so daß der Instmann eventuell, mangels erwachsener Kinder, einen „Scharwerker" miethen und dem Herrn vorhalten muß. Schriftliche Kontrakte und ein Recht auf Arbeitsgewährung bestanden ursprünglich nicht, ebenso wurde Geldlohn nur außerhalb der Ernteund Dreschzeit und mehr nach Art eines Taschengeldes gezahlt. Es war also ein rein einseitiges Unterwerfungsverhältniß, welches die Arbeiterfamilien, die der Herr in seinen Gutswohnungen unterhielt, ihm auch formell zur unbedingten Disposition stellte. Nach einigen Provinzialrechten ist auf die Instleute die Gesindeordnung anwendbar, so daß in Beschränkung der Freizügigkeit auch Zwangsrückführung bei vorzeitigem Abzug stattfindet, - Koalitionsrecht besteht durchweg nicht. Dies die ständigen Arbeitskräfte. Die unständigen dagegen wurden, soweit nicht die Erntearbeit der Instfrauen ausreichte, aus den benachbarten Bauerndörfern ohne festen Kontrakt herangezogen und gegen Geldlohn, früher gelegentlich auch - die „Schnitter" - gegen Antheilsakkord, beschäftigt. Sie wohnten regelmäßig nicht auf dem Gut, und ihre Rechtsstellung näherte sich schon damals der der Industriearbeiter an. Alle anderen, sehr mannigfaltigen Kategorien von Arbeitern auf den Gütern waren in den Nordprovinzen (anders schon früher in Schlesien) b lokale Spezialitäten oder durch Umgestaltung und Kombination entstanden. Diese Form der Arbeitsverfassung ist aber heute im Abnehmen begriffen. Sie herrscht in der geschilderten Art - mit der eigenartigen Antheils-Lohnform - überhaupt auch für die in Naturalien gelohnten Arbeiter nur noch in der Nordhälfte des Ostens: - Preußen, Pommern, Mecklenburg, das nördliche Brandenburg und Posen - und geht auch dort zurück. Derjenige Typus von ständigen Kontraktsarb B: Schlesien),

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beitern, dessen Weiterverbreitung auf den großen Gütern im Osten durch die gegenwärtige Entwickelung, wie es scheint, am meisten begünstigt wird, ist vielmehr der „Deputant". Er ist ein A r b e i t e r , B welcher zur Arbeit das ganze Jahr verpflichtet ist, regelmäßig in Guts-Wohnungen umsonst oder gegen niedrige Miethe wohnt und neben einem niedrigen Baarlohn, der entweder als Tagelohn je nach Zahl der Arbeitstage oder wie die Gesindelöhnung als fester Jahreslohn gezahlt wird, ein sogenanntes „Deputat", d.h. statt der dem ledigen Gesinde zubereitet gereichten Beköstigung die entsprechenden Naturalien geliefert erhält. Diese Naturalien sind ihrem Betrage nach im allgemeinen berechnet auf die Deckung des Bedarfs an Nahrungsmitteln für den Arbeiter selbst und seine Familie, deren Mitarbeit demgemäß in Gestalt der Stellung einer zweiten Arbeitskraft regelmäßig in Anspruch genommen wird. Der Gegensatz gegen das Instverhältniß im engeren Sinne besteht also in dem Wegfall der Antheilxe.c\)Xt und ihrem Ersatz durch feste Bezüge - ganz wie es den obenerwähnten allgemeinen Grundzügen der Entwickelung entspricht. Das Deputantenverhältniß gewinnt sowohl auf Kosten des alten Instverhältnisses als auf Kosten der Haltung des - stets schwieriger zu erlangenden - ledigen Gesindes an Boden. Aber über das Deputantenverhältniß hinaus führt die Entwicklung zu einer stetigen Zunahme der nur oder fast nur in Geld gelohnten Arbeiter. Zu Anfang des Jahrhunderts waren sie in nennenswerthem Maaße nicht vorhanden. Schon 1849 stand fest, daß sie diejenige Schicht von Arbeitern waren, die sich am schnellsten vermehrt hatte: das ist auch weiter so geblieben. Den Mehrbedarf von Arbeitskräften bei intensiverer Kultur durch Ansetzung neuer Instleute zu beschaffen, suchte der Grundbesitzer zu vermeiden: er hätte Theile seines Landes in demselben Augenblick an Arbeiter abgeben müssen, wo der Ertragswerth dieses Landes für ihn stark stieg und wo infolge des Prosperirens der Landwirthschaft bis zum Beginn der 70er Jahre die Zahlung von Geldlöhnen für ihn erleichtert worden war. Heutzutage wiederum fehlt ihm das Kapital, Arbeiterhäuser in einer den fortgeschrittenen Anforderungen entsprechenden Weise zu bauen. So führte, auch von den später zu erwähnenden Einflüssen der Verschiebung des Arbeitsbedarfs abgesehen, die Entwickelung zu einem allmählichen Zurücktreten der relativen Bedeutung der in Naturalien gelohnten Arbeiter.

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Der „freie Arbeitsvertrag" mit in Geld gelohnten, auf eigenem Grund und Boden oder als Miether ansäßigen Arbeitern hielt seinen Einzug in das Land. - Betrachten wir die Konsequenzen. | B 448 Die große Praktikabilität des Verhältnisses der auf vorwiegenden Naturallohn gesetzten, verheiratheten Deputatknechte und Gutstagelöhner lag darin, daß aus dem einzelnen Haushalt des Tagelöhners mehrere Arbeitskräfte gestellt werden. Sie können auf diese Art so billig wie möglich, bei Ausnutzung einerseits aller Vorzüge des Großbetriebes für die Beschaffung der Bedarfsgegenstände unter Ausschaltung aller Zwischenglieder, andrerseits unter Verwerthung der Vorzüge der Familienwirthschaft als Konsumtionsgemeinschaft, ernährt werden. Allein die Vorzüge der Naturallöhnung gehen theilweise, und zwar in den Nordprovinzen, noch weiter. Die Gewährung der Deputate an die Arbeiterfamilien erfolgt nämlich in verschiedener Art. In Theilen von Schlesien erhalten die Deputatknechte feste wöchentliche bezw. monatliche Fleisch-, Kartoffel-, Brot-, Salz-, Milch- und Leinwandbezüge, - sie erhalten hier also die Bedarfsgegenstände, wenn der Ausdruck erlaubt ist, im Zustande von Ganzbezw. //a/ö-Fabrikaten, als ganz oder fast ganz konsumreife Produkte; ihr eigenes Verhalten dazu ist ein fast nur konsumtives, der Unterschied von der einfachen Gesindebeköstigung nicht bedeutend. Der Grund liegt darin, daß in Schlesien die Tendenz zur Bodenkonzentration die eigene Wirthschaft der früher unfreien Unterthanen gänzlich absorbierte bezw. nicht aufkommen ließ. In den nördlichen Provinzen ist das regelmäßig anders. Die Zerealien werden als Deputat unvermahlen und unverbacken gegeben, die Kartoffeln meist nur zum Theil, den andern Theil baut der Deputant selbst und erhält zu diesem Behufe Land angewiesen; theilweise wird ihm auch das Saatgut gestellt, regelmäßig hat er dies selbst zu ersparen, auch den Dünger selbst zu produziren. Ebenso steht es mit dem Flachs: er säet und erntet ihn, wo noch die alten Verhältnisse bestehen, selbst, er gewinnt ferner die Wolle vom eigenen Schaf, für welches ihm Weide gestellt wird, Milch und Butter von der eigenen Kuh, welche ihm von der Herrschaft geweidet und gefüttert wird, das Fleisch vom eigenen Schwein, welches er aus seinen Naturalien füttert, die Gespinste und Gewebe stellt die Familie im Winter selbst her. Mit anderen Worten, es ist dort auch ein wesentlicher Theil des Produktionsprozesses seines Bedarfs vom Herrn auf ihn abgewälzt, es werden seine freie Zeit, die späten Abendstunden, die freien

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Sonntage und die arbeitsstille Winterszeit, und es werden seine nicht mitarbeitenden Familienmitglieder mit ausgenutzt. So werden die Arbeiterfamilien selbst für die Erzeugung des zur Reproduktion | der B 449 Arbeitskräfte Unentbehrlichen verwendet und dadurch die w i r t schaftlichen Vorzüge der Familienwirthschaft nicht nur als Konsumtions-, sondern auch als Produktionsgemeinschaft den Interessen des Herrn nutzbar gemacht. Fragen wir unter Beiseitesetzung der sozialen Seite der Sache zunächst nur, wie sich der Grundsatz der W i r t schaftlichkeit, hier: der kleinstmöglichen Unterhaltungs- und Reproduktionskosten der Arbeitskraft, dazu stellt, so ist das Ergebniß für den Herrn offenbar ein nothwendig günstigeres als in Schlesien. Um den gleichen Nahrungsstand wie dort zu erzielen, hat er hier erheblich geringere Opfer zu bringen, da er (außer der Wohnung) fast ausschließlich Rohstoffe und Naturkräfte zur Verfügung stellt und die Produktion und Verarbeitung genußreifer Bedarfsmittel daraus auf die Arbeiter überwälzt 3) . Oder umgekehrt gesagt: mit den gleichen oder geringeren Aufwendungen ermöglicht er der Arbeiterfamilie einen relativ erheblich höheren Nahrungsstand. Er spannt dabei allerdings ihre Arbeitskraft bis auf den letzten überhaupt denkbaren Grad an, und dies geschieht freilich in Schlesien ceteris paribus nicht in gleicher Art; es hat das aber bei dem sklavenartigen Kulturniveau der dortigen polnischen Arbeiterschaft nicht etwa deren Hebung, sondern begreiflicherweise nur das Brachliegen des Eigeninteresses an der Güterproduktion in den hier nothwendig rein konsumtiven Familienwirthschaften zur Folge. Freilich ist diese abweichende Gestaltung der Lage der nordöstlichen Gutsarbeiter gegenüber den schlesischen nicht etwa aus diesen Erwägungen der Wirthschaftlichkeit heraus entstanden. Die Differenz hat vielmehr historische Gründe. Der schlesische Deputatknecht verleugnet seinen Ursprung nicht. Er befindet sich in einer nur wenig modifizirten Hausgesindestellung. Sein Haushalt ist kaum merklich vom Gutshaushalt abgegliedert, seine Situation gleicht der eines beköstigten Knechtes sehr. Das

3) Selbst die scheinbar anachronistische Produktionsform der Hausspinnerei und -We- B 4 4 9 berei besteht hier vor dem Grundsatz der Wirthschaftlichkeit. Die darauf verwendete Arbeitskraft übersteigt zwar die zur Produktion der erzeugten Bekleidungsgegenstände „gesellschaftlich nothwendige" weit, sie muß aber andernfalls während der betreffenden Wintermonate völlig brach liegen. |

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kommt auch darin zum Ausdruck, daß mit dem Deputatknecht und seiner Ehefrau meist je besondere Kontrakte geschlossen, für beide Lohn und Naturalien je besonders, aber dennoch so ausgeworfen 450 werden, daß die Bezüge von Mann und Frau zusammengenommen sich zu dem dort typischen Bedarf einer Arbeiterfamilie nebst Kindern ergänzen. Der schlesische Deputant ist ein Produkt beginnender Emanzipation des Hausgesindes aus dem herrschaftlichen Haushalt. Anders im Norden. Das Deputantenverhältniß als normale Lohnform ständiger Kontraktarbeiter hat sich dort überhaupt erst theilweise durchgesetzt, es bildet noch nicht die Regel, andererseits ist es im hohen Grade wahrscheinlich, daß die ihm jetzt günstige Entwikkelung der Arbeitsverfassung künftig darüber hinaus zu einer rein geldwirthschaftlichen Gestaltung des Lohnes führen wird. Der nördliche Deputant ist historisch keineswegs ein von der Gutsküche sich allmählich emanzipirender Knecht. Die Form der Entlohnung ist allerdings von den Gutsbeamten her übernommen: Vögte, Kämmerer, Oberknechte etc. wurden von jeher in dieser Weise ausgestattet. Allein die große Masse der Deputanten hat eine andere Geschichte hinter sich, ihre historischen Vorfahren im Norden waren frohnpflichtige Eigenwirthe. Der moderne Deputant steht nur am (vorläufigen) Schlußpunkt einer Entwickelung, welche weit in die Vorzeit der modernen landwirthschaftlichen Großbetriebe hinaufreicht. Sie beginnt mit dem (allerdings nur lokal nachweisbaren) Zustande, daß dem Grundherrn nicht Arbeiten geleistet, sondern Naturalien zur Bestreitung seines Haushaltes geliefert wurden. Der Grundherrschaft entsprach ein grundherrlicher Haushalt, aber keine Gutswirthschaft, der Herr bezog, kraft seiner politischen Herrschaft, als Zivilliste könnte man sagen, seinen Unterhalt von den abhängigen Wirthschaften; nicht er, sondern nur diese waren landwirtschaftliche Produzenten. Auf diesen Zustand folgte in England wie bei uns der andere, welcher den bekannten Typus der patriarchalischen Gemeinwirthschaft bildet: beide, Herr wie Hintersassen, wirthschaften, die abhängigen Wirthschaften der Bauern stellen zugleich die Arbeitskräfte für die Gutswirthschaft. In England blieb dies ein Intermezzo: der Grundherr zog sich im Verlauf der Entwickelung wieder auf die Benutzung der Hintersassen als tributpflichtiger, aber selbständiger Kleinproduzenten, zurück. Nur daß er jetzt statt der Naturalien Geldrente bezog. Im deutschen Osten dagegen steigerte

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sich zufolge der Rückständigkeit der geldwirthschaftlichen Entwikkelung die naturalwirthschaftliche Unternehmerstellung des Grundherrn auf Kosten der Hintersassen weiter, und nur ein Theil der letzteren mit einem Theil ihres Areals vermochte sich bei Gelegenheit der Regulirungen aus der erdrückenden | Umarmung frei zu B machen; im Übrigen kehrte sich der frühere Zustand um, der Gutsherr wurde der einzige Unternehmer: nicht, wie einst, er, sondern die Hintersassen beziehen jetzt das feste Deputat aus den Produkten des Gutes. Diese Entwicklung ist, wie gesagt, im Norden bisher unvollendet, und zwar wesentlich dank der wirthschaftlichen Schwäche der Gutsherren: es war nicht zuletzt der Mangel an Betriebskapital auf Seiten dieser, welcher den in der Regulirung begriffenen Bauern die Existenz als solche rettete. Es würde sonst, wenn die Gutsherren zur Bewirthschaftung größerer Flächen das Kapital besessen hätten, alsbald ein weit bedeutenderer Theil der Bauernwirthschaften durch Ankauf verschwunden sein. Mangel an Betriebskapital und damit die Unmöglichkeit, Baarlöhne zu zahlen, hinderte ebenso die vollständige Proletarisirung der von der Regulirung ausgeschlossenen und allmählich depossedirten kleinen Bauern und Landarbeiter. Der Gutsherr mußte die Entlohnung in Gestalt von Ertragsantheilen, Landbeleihung und Weiderechten bestehen lassen, weil er zufolge seiner wirthschaftlichen Schwäche nur naturalwirthschaftlich löhnen konnte. Damit war zunächst die Weiterexistenz mehrerer Hunderttausend eigenthümlich zwitterhafter Kleinwirthschaften im Osten der Instwirthschaften (im engeren Sinne des Wortes, in welchem es die Deputanten ausschließt) - gefristet. - Die eigenthümliche Doppelstellung dieser mit Land beliehenen und am Ertrag betheiligten Arbeiter, theils als Kleinunternehmer, theils als Theilhaber an der Wirthschaft des Herrn, wurde schon oben erörtert. Die vollständige Unterwerfung unter die Disposition des Herrn, aber verbunden mit wirthschaftlicher Interessengemeinschaft, ist das dem Verhältniß Charakteristische. Das Deputantenverhältniß, welches bei steigendem Werth des Bodens und Übergang zur intensiveren Wirthschaft neben und an die Stelle des alten Instverhältnisses zu treten pflegt, enthält in Gestalt der Einziehung eines Theiles des Landes und der Ersetzung der Antheile am Rohertrag durch feste Deputate, eine Beschränkung des bis dahin die Arbeiter treffenden Risikos und insoweit unbedenklich eine Besserstellung. Zugleich entzieht es sein

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Budget der Verflechtung in die Wirthschaft des Herrn und stellt ihn damit in höherem Maße auf eigene Füße. Jede weitere Beschneidung der Kleinunternehmerstellung des Instmannes und jedes Steigen der 452 relativen Bedeutung des Geldlohnes wirkt in gleichem Sinne | und kann also als eine Besserstellung der Arbeiter erscheinen gegenüber der absoluten Unterwerfung des alten Instmannes. Dieser Rückgang der Kleinunternehmerstellung macht beim Deputanten nicht Halt. Das wesentliche Moment der Stärke der überkommenen Naturallöhnung war - sahen wir - daß der einzelne Haushalt dem Gut mehrere Arbeitskräfte stellte, neben dem Instmann resp. Deputanten den Scharwerker. Zu dieser Gestellung mehrerer Arbeitskräfte sind die Arbeiter mehr und mehr außer stände. Die eigenen Kinder bleiben nach der Militärzeit spätestens fort, und außer dem übelst berufenen Gesindel verdingt sich heute Niemand mehr leicht dem Instmann zum Scharwerker - dem niedersten Grade des ländlichen Gesindes. Es steht fest, daß die Tage des Scharwerkerverhältnisses gezählt sind. Dann aber entfallen die Vorzüge der Naturallöhnung für den Gutsherrn; die Naturalien, welche für den Bedarf einer Familie berechnet waren, kann er für die halbe Arbeitsleistung nicht gewähren, und kürzt er sie, so reichen sie zur Ernährung der Familie nicht mehr. Beide Theile werden so zum Geldlohn gedrängt. Der Geldlohn hat ja augenscheinlich am unbedingtesten den Vorzug, daß der Arbeiter weiß, was er erhält. Der Werth der Leistung des Gutsherrn, welcher bei Naturallöhnung höchst problematisch ist, ist hier rechtlich sichergestellt. Aber nicht immer bedingt die rechtliche formale Fixirung eine Besserung der wirthschaftlichen Lage der Arbeiterschaft. Das zeigt deutlich der Gang, den die Entwickelung in Schlesien genommen hat. In Schlesien nämlich - es handelt sich namentlich um Mittel- und Niederschlesien - hatte die Art der Wirthschaftsbetriebe früher als im Norden einen geschäftlich-kapitalistischen Charakter angenommen und war gleichzeitig das Verhältniß der Arbeiter zum Gut rechtlich-formal in höherem Maße festgelegt als im Norden. Wir finden hier noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in den Dreschgärtnern eine Kategorie von Arbeitern, deren wirthschaftliche Stellung völlig derjenigen der Instleute entspricht. Der Unterschied ihrer Lage war ein doppelter. Einmal wurde ihnen (im Gegensatz zu den „Robotgärtnern" Oberschlesiens) ein erbliches Besitzrecht zuge-

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standen und die gegenseitigen Rechte und Pflichten als Reallasten behandelt, der Disposition des Herrn über sie also eine rechtliche Schranke gezogen. Andererseits aber war die wirthschaftliche Übermacht der sehr reichen schlesischen Magnaten eine ungleich größere als die der nordischen Gutsherren. Beides vereint, wurde den | Arbeitern verhängnißvoll. Das Verhältniß war nicht so elastisch wie B das Instverhältniß, und die Umgestaltung der Gutswirthschaften im Sinne umfassenderer und rationellerer Eigenwirthschaft des Herrn sprengte es deshalb auseinander. Die Gutsherren erzwangen die Ablösung der Arbeitspflichten, aber auch der Antheilrechte, und die Dreschgärtner wurden zu formal freien Kleinstellenbesitzern, welche zur Arbeit auf dem Gute nicht mehr verpflichtet, aber auch nicht mehr antheilsberechtigt, dabei aber auf die Arbeit auf den Gütern angewiesen blieben. Den vermehrten Bedarf an Arbeitskräften deckten die Gutsherren, indem sie neben den früheren Dreschgärtnern in neu errichteten Familienhäusern sogenannte „Lohngärtner" mit kleiner Landanweisung ansetzten, eine Parallelerscheinung zu den Instleuten. Der größeren Kapitalkraft der Unternehmer entsprechend wurde das Arbeitsverhältniß sowohl der früheren Dreschgärtner als der Lohngärtner auf geldwirthschaftlicher Grundlage geregelt, der Kleinstellenbesitzer erhielt von Anfang an meist nur Geldlohn, der Lohngärtner daneben Land und Weide, beides in ungleich geringerem Umfange als der nördliche Instmann. Nun ist es charakteristisch für die traditionelle ländliche Lohnbildung, daß der Kleinstellenbesitzer zur Zeit nach der Ablösung an Geldlohn nicht erheblich mehr erhielt, als der Instmann neben seinen Naturalien, und daß er ebenso heute regelmäßig an Geldlohn nur das Nämliche erhält, was die Lohngärtner oder sonstige besitzlose Arbeiter neben der ihnen gewährten Wohnung und der Landanweisung beziehen. Die Gutsherren pflegen sich dieserhalb in der Vorstellung zu gefallen, sie gewährten den besitzlosen Arbeitern Wohnung und Land „gratis". Historisch und wirthschaftlich ist nur die umgekehrte Ausdrucksweise korrekt: sie rechnen dem Kleinstellenbesitzer das Areal und die Wohnung, welche sie ihm nicht gewähren, sondern welche er selbst besitzt, auf seinen Lohn an. Es entspricht das auch in Wahrheit der Art, wie die Grundbesitzer die Lohnfrage anzusehen pflegen. Wenn man im Gespräche mit Grundbesitzern z.B. aus Sachsen, wo die Verwendung von grundbesitzenden Arbeitern aus den Dörfern gleichfalls mehrfach vorkommt, den dort früher typischen Lohnsatz

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von I M k . kritisirte, so bezogen sich die Betreffenden stets darauf, daß die Arbeiter, da sie eigenen Besitz haben, für die Bestreitung ihrer Existenz auf diesen Lohn nicht angewiesen seien: es zeigt sich, wie irrelevant die Rechtsformen gegenüber der übermächtigen Gewalt der traditionellen wirthschaftlichen Verhältnisse sind. Nicht die 454 Arbeitsleistung | ist auf dem Lande der Maßstab des Lohnes, sondern das Mindestmaß der Bedürfnisse der Arbeiter nach ihrer traditionellen Lebenshaltung. Das gilt für den Deputanten so gut wie für die sonstigen reinen Lohnarbeiter: die Höhe der gewährten Deputate ist in den einzelnen Gegenden sehr stark verschieden und richtet sich lediglich nach dem historisch überkommenen und auf dieser Grundlage sich langsam fortentwickelnden Nahrungszustand, dieser bestimmt den Lohn, nicht umgekehrt. Angesichts dessen war es vom Standpunkt der Arbeiter ein bedeutungsvoller Vorzug der nördlichen patriarchalischen Arbeitsverfassung mit ihrer Behandlung der Instleute nicht als reiner Lohnarbeiter, sondern als unfreier Wirthschaftsgenossen, daß trotz, ja man kann sagen: gerade wegen der formell schrankenlosen Verfügungsgewalt des Herrn vermöge der Stetigkeit der traditionellen Kompetenzen der Arbeiter ihre materielle Lage, was den Nahrungsstand anlangt, mit der allmählichen Steigerung der Roherträge sich stetig hob. In stark abgeschwächtem Maße kann das Gleiche auch die Begleiterscheinung der Deputatlöhnung sein. Ganz anders beim Geldlohnsystem. Die Naturallöhne der Instleute und in geringerem Maße auch der Deputanten werden aus den steigenden Roherträgen unter Abwälzung eines entsprechenden Theils des Risikos und, wie oben ausgeführt, des Produktionsprozesses auf den Arbeiter bestritten, die Geldlöhne aus den sinkenden Reinerträgen ohne eine entsprechende Überwälzung. Das bedingt den Fortfall der oben erörterten rein wirthschaftlichen Vorzüge. Der Umstand, daß einTheil der Arbeiter eigenen Grundbesitz hat, wirkt dabei fast ausschließlich ungünstig, denn ihre Schollenfestigkeit und die eben besprochene Wirkung auf die Lohnbemessung drückt auf das Lohnniveau im Allgemeinen. Der Kleinstellenbesitzer ist aus der Wirthschaftsgemeinschaft des Gutes ausgeschaltet. Er befindet sich nicht, wie der Getreide verkaufende Instmann, in Interessengemeinschaft, sondern, da er Brod zukauft, im Interessengegensatz zum Gutsherrn. Es entspricht aber, wo die Machtverhältnisse zwischen Unternehmer und Arbeiter für den letzteren so ungünstige sind wie auf dem Lande, dessen materiellen Interessen nicht, daß eine formale

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rechtliche Schranke, welche die wirthschaftliche Machtlage doch nicht zu alteriren vermag, in Gestalt der Verleihung des Eigenthums an der Arbeiterstelle errichtet wird. Es wird dadurch das die volle, formale Dispositionsgewalt des Herrn voraussetzende patriarchalische Herrschaftsverhältniß in ein geschäftliches verwandelt. Damit wird für den Arbeiter an Stelle der Eventualität einer brutalen, B 455 persönlichen Beherrschung, der er sich durch Wegzug entziehen kann, die andere der geschäftlichen Ausbeutung gesetzt, der er, weil sie äußerlich unmerklicher eintritt, sich thatsächlich schwerer entzieht und als Kleineigenthümer sich auch gar nicht zu entziehen in der Lage ist. Man zwingt ihn durch die formale rechtliche Gleichstellung in einen Interessenkampf, den eine weithin über das Land dislocirte, der Organisation unfähige Arbeiterschaft durchzufechten nicht die Macht hat. Wenn hier das traditionelle Instverhältniß als ein „patriarchalisches" bezeichnet und als ihm charakteristisch die „Interessengemeinschaft" des Arbeiters mit dem Herrn hingestellt worden ist, so sollte dieser Ausdruck billiger Weise von dem Mißverständniß verschont bleiben, als ob damit irgend eine persönliche Vertrauensbeziehung zwischen Herrn und Arbeiter als nothwendige Folge dieser Arbeitsverfassung behauptet werden sollte. Behauptet werden soll nur, daß sie ein festes gemeinschaftliches Interessenband um Herrn und Arbeiter schlingt und die patriarchalische Leitung der W i r t schaftsgemeinschaft durch den Herrn dieser Sachlage ebenso adäquat ist wie sie mit dem Geldlohnsystem in Widerspruch steht, weil das materielle Interessenband fehlt. Die patriarchalische Arbeitsverfassung bringt ehrlich zum Ausdruck, daß auf dem Lande der Arbeiter nicht in einem Vertrags-, sondern in einem persönlichen Unterwerfungsverhältniß zum Herrn steht, und diese Ehrlichkeit ist ihre Stärke. Sie setzt aber eben deshalb jene resignirte, in die Tradition der Unfreiheit gebannte Arbeiterbevölkerung voraus, welche die östlichen Instleute repräsentirten, und diese Voraussetzung wird mehr und mehr zu Schanden. Nicht nur die Unternehmer, sondern ebenso auch die Arbeiter sind es, welche das Deputanten- statt des Instverhältnisses, den Geldlohn statt des Naturallohns, die rechtliche Ungebundenheit statt des Kontrakts bevorzugen, das scheint jetzt im allgemeinen völlig sicher gestellt. Wie dem aber sei, jedenfalls zerfällt mit dieser Umwandelung eine nothwendige Voraussetzung der patriarchalischen Herrschaft: die Interessenbeziehung zum

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einzelnen Gut. Die Unterschiede in der Stellung der einzelnen Kategorieen von Arbeitern nivelliren sich, und die Person des Unternehmers wird für die ländlichen Arbeiter in ähnlicher Art „fungibel", wie sie es für die gewerblichen regelmäßig schon ist. Mit andern Worten, die Entwickelung führt zur stetigen Annäherung der ländlichen Arbeiterschaft an den Charakter einer in ihren wesentlichen Lebensbedingungen einheitlichen Klasse mit proletarischem Typus, | B 456 wie die Industriearbeiterschaft sie bereits darstellt. Die kapitalistische Unternehmung strebt aus den oben angedeuteten Gründen aus dem Naturallohnsystem trotz seiner wirthschaftlichen Vorzüge heraus, - die Arbeiter suchen den Geldlohn, weil er sie am meisten von der Abhängigkeit von der Wirthschaft und dem guten Willen des Herrn befreit, trotzdem sie sich dabei wirthschaftlich schlechter stehen. Wie der Geldzins des Bauern im Mittelalter als das wichtigste Symptom seiner persönlichen Freiheit erscheint, so der Geldlohn des Arbeiters heute. Die Landarbeiterschaft opfert ihre materiell oft günstigere, immer aber gesichertere, abhängige Lage dem Streben nach persönlicher Ungebundenheit. Daß diese entscheidende psychologische Seite des Vorgangs den Betheiligten wesentlich unbewußt sich vollzieht, steigert nur die Wucht ihrer Wirksamkeit. Für eine Arbeiterschaft aber, welche ebenso wenig wie die Industriearbeiter normaler Weise die geringste Aussicht hat, in die Schicht der selbständigen Unternehmer aufzusteigen, hat diese Umwandlung nur einen Sinn als vorbereitendes Stadium für einen Klassenkampf. Es zeigte sich schon, daß auch die Grundherren der Umwandlung in eine unter sich wesentlich gleichartige Klasse mit geschäftlichem Unternehmertypus zu verfallen begonnen haben. Auch hier setzt die moderne Entwicklung an Stelle der persönlichen Herrschaftsverhältnisse die unpersönliche Klassenherrschaft mit ihren psychologischen Konsequenzen. Es fragt sich nun: was wird weiter daraus werden? Wird der Kampf einen ähnlichen Verlauf nehmen wie in der Industrie? Ist es wahrscheinlich, daß im Laufe der Zeit im Wege der Arbeiterorganisation daraus eine ländliche Arbeiter-Aristokratie ersteht, wie wir sie in manchen Großindustrien Englands finden, wo gerade die volle Proletarisirung den Durchgangspunkt für eine aufstrebende Bewegung der höchsten Schichten der Arbeiterschaft bildete? So günstig steht leider die Prognose des ländlichen Klassenkampfs nicht.

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Versuchen wir uns die Wirkungen zu verdeutlichen, welche die Umgestaltung der Betriebsweise gemäß den Anforderungen der internationalen Konkurrenzlage für die Gesammtlage der Landarbeiterschaft mit sich bringt, so müssen wir von einem Durchschnittszu5 stände der landwirthschaftlichen Betriebe ausgehn, wie er vor 40 bis 50 Jahren auf mittlerem Sandboden im Osten bei Gütern von 500 und etwas mehr Hektar noch als Regel gelten konnte, heute natürlich nicht mehr ist: Ausschluß des Maschinenbetriebs, inten|siver Vieh- B 457 zucht und starken Hackfruchtbaus einerseits, Emanzipation von der 10 Dreifelder- und extensiven Feldgraswirthschaft andererseits. Nicht intensiver Getreidebau bei mäßiger Viehhaltung beherrscht 0 den Wirthschaftsbetrieb. Wir suchen nun zu ermitteln, welchen Einfluß eine Umgestaltung des Betriebes unter geschäftlichen Gesichtspunkten in den uns interessirenden Punkten ausüben mußte. 15 Einfach liegt diese Frage, wenn es sich um Übergang zu reiner oder annähernd reiner Viehzucht handelt. Hier ist eine starke Verminderung der Arbeitskräfte die Folge. Dies um so mehr, als bei uns allgemein nicht die englische, intensive, sondern eine ziemlich extensive Weidewirthschaft in Frage käme, welche eines Minimums von 20 Arbeitskräften bedarf. In besonders starkem Maaße werden die unständigen Arbeitskräfte, deren der Getreidebau für Sommer und Ernte bedarf, davon betroffen. Nicht so einfach dagegen ist die hier mehr interessirende Wirkung des intensiveren Ackerbaus (Drillen und Hacken der Zerealien, star25 ke Kunstdüngung, Dreschmaschinen, Maschinenbetrieb überhaupt, intensive Hackfruchtkultur etc.) im Vergleich mit der traditionellen Wirthschaftsweise. Zunächst sind die einzelnen Formen, in welchen sich der Übergang zur intensiven Ackerbaukultur vollzieht, selbstverständlich nicht unter einander von gleicher Wirkung. Aber in 30 einem Punkt kommen sie im Ergebniß dennoch alle überein: In der starken relativen Steigerung des Bedarfs an Sommer- im Verhältniß zu den W/Vzterarbeitskräften bei absoluter Steigerung des Arbeitsbedarfs im Ganzen. Das letztere Moment wird regelmäßig zuerst, das erstgenannte im weiteren Verlauf der Entwickelung wirksam. Dem35 gemäß steigt bei langsamer Zunahme der Intensität, und in den

c B: beherrschen

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Anfangsstadien des Überganges^] die Zahl der ständigen Arbeitskräfte im Verhältniß zur Bodenfläche langsam; die der nichtständigen schneller; im weiteren Verlauf oder bei schnellerem Übergang zur d Intensität die d e r e nichtständigen fast ausschließlich, und es findet sogar bei hohen Intensitätsgraden eine relative und schließlich absolute A b n a h m e der ständigen Arbeitskräfte statt. Der letzte Punkt, die - nicht überall, aber anscheinend überwiegend, in den Gegenden mit starkem Wanderarbeiterzuzug fast ganz regelmäßig, eintretende absolute A b n a h m e der ständigen Arbeiter, könnte überraschen. Die Gründe der Erscheinung liegen auch - wie nachher zu erörtern - nicht nur, aber doch immerhin auch in der Art der Be458 triebs|einrichtung. Die Kunst der traditionellen Betriebsweise in der Vertheilung der Arbeiten über die Jahreszeiten bestand nämlich in der möglichsten Verminderung der Saisondifferenzen und der Sorge dafür, daß die verfügbaren Arbeitskräfte auch ständig beschäftigt seien, also in der möglichsten Abschwächung des Charakters der Landwirthschaft als eines Saisonbetriebes. Man vertheilte - mit anderen Worten - die nothwendige Arbeit möglichst über das ganze Jahr. Verhältnißmäßig ebenso leicht aber läßt sich eine Verschiebung in der Disposition im umgekehrten Sinne vornehmen, also ein Theil der Arbeiten, die normaler Weise im Winter vorgenommen werden, den Sommer- und Herbst-Saison-Arbeitern übertragen und dadurch der Charakter als Saisonbetrieb verstärken, der Bedarf an Dauerarbeitern auch absolut nicht unbeträchtlich vermindern. Die Vorfrage, ob das möglich und zweckmäßig ist, hängt davon ab, ob gerade Saisonarbeiter mit besonderer Leichtigkeit zu erlangen sind. Das war unter den alten stabilen Verhältnissen und bei der traditionellen Wirthschaftsweise nicht der Fall. Anders mit Umsichgreifen der intensiven Kultur. Sie bedarf verstärkter Saisonarbeit und schafft sie sich durch Steigerung der Saison-Geldlöhne. Es entsteht und wächst dadurch mit den modernen Verkehrsmitteln eine Klasse von Arbeitern, die überhaupt nur landwirthschaftliche Saisonarbeiter sind, die Wanderarbeiter. Es wandert zunächst der Bevölkerungsüberschuß übervölkerter oder extensiv bewirthschafteter Gegenden. Aber auf die Dauer ergreift die Wanderbewegung stetig größere Bruchtheile der Landarbeiterschaft überhaupt. Das so geschaffene

d B:zu

e Fehltin B; der sinngemäß ergänzt.

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Material von Saisonarbeitern nützt nun der intensive Betrieb bis aufs Äußerste aus. Die Akkordlöhne steigern die Leistung; aber der Wanderarbeiter ist auch an sich arbeitswilliger. Polnische Mädchen, welche in der Heimath kein noch so hoher Lohn zu energischer Arbeit anspornt, leisten auswärts Außergewöhnliches. Der Wanderarbeiter ist eben aus dem gesammten Ensemble seiner Familie und gewohnten Umgebung gerissen, er ist nur Arbeitskraft für den Gutsherrn wie in seinen eigenen Augen. Die Wanderarbeiterkaserne ist in ihrer Funktion das geldwirthschaftliche Analogon der antiken Sklavenkaserne. Der Gutsbesitzer spart Arbeiterwohnungen, denn die Unterbringung der Wanderarbeiter macht wenig oder keine Kosten. Er spart ferner die Landanweisung, endlich aber und vor Allem jegliche verwaltungs- und armenrechtliche Verantwortung. Dagegen zahlt er in Gestalt der höheren Saisonlöhne im Ganzen | regelmäßig B 459 nicht mehr, oft weniger, als wenn er den traditionellen Entgelt das ganze Jahr hindurch an einheimische Arbeiter zahlen würde. Die Nachtheile des Geldlohns unter dem Gesichtspunkt der W i r t s c h a f t lichkeit gleichen sich für ihn in dieser Form mehr als aus. In einzelnen Theilen Schlesiens betrachtet man die Wanderarbeiter schon als „Stamm" der Arbeiterschaft. - Welcher Grund aber veranlaßt, vom Interessenstandpunkt der Arbeiter aus, die Wanderbewegung? Differenzen des Lohnniveaus scheinen das Nächstliegende und bilden einen erheblich mitwirkenden Faktor. Aber die Erhebungen des Vereins für Sozialpolitik sowohl als die des Evangelisch-Sozialen Kongresses bestätigen, daß auch, wo solche absolut nicht vorliegen und auch alle in den Bevölkerungsverhältnissen möglicherweise liegenden Umstände fehlen, gewandert wird, ja daß benachbarte Gebiete ihre Arbeitskräfte direkt oder auf Umwegen geradezu austauschen. Der Grund ist eine Kombination wirthschaftlicher und psychologischer Momente. Der Wanderarbeiter würde eine allgemeine Lebenshaltung - es handelt sich nicht allein, nicht einmal hauptsächlich, um die Nahrung 4) - und ein solches Ensemble, wie es ihn auf der fremden Arbeitsstelle umgiebt, in der Heimath sich nicht bieten

4) Auch bei dieser darf man nicht an Fälle denken, wie die Zuwanderung aus halbbar- B 4 5 9 barischen Gegenden (Oberschlesien) nach Gegenden mit einem Maximum von Kultur (Sachsen). Bei den Wanderungen innerhalb des Ostens ist nach den Zeugnissen der Berichte die Nahrung der Wanderarbeiter ganz überwiegend - Ausnahmen kommen vor die schlechteste von allen. |

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lassen. Auf Grund eben dieser erniedrigten Lebenshaltung aber und der durch die Aufgabe der gewohnten heimathlichen Umgebung vermehrten Arbeitsenergie erspart er, auch wenn die Lohnsätze in der Fremde nicht höher sind, als in der Heimath, relativ erhebliche Beträge, wie er sie im heimatlichen Arbeitsverhältniß nicht zu ersparen vermöchte, und kann - ein begreifliches Verlangen - in der ohnehin arbeitslosen Winterzeit „Ferien" machen. Aber ferner und namentlich: die Abwanderung entzieht ihn der Nothwendigkeit, bei den benachbarten heimathlichen Gutsherren Arbeit zu suchen. Gerade die Arbeit in der Heimath aber ist mit dem traditionellen Herrschaftsverhältniß historisch und gedankenmäßig verknüpft: es ist der dunkle Drang nach persönlicher Freiheit, welcher die Arbeiter zur Arbeit in die Fremde treibt. Sie opfern ihre gewohnten Lebensverhältnisse dem Streben nach Emanzipation aus der Unfreiheit: ihre stumpfe Resignation wird durchbrochen. Die vielbeklagte „Mobilisirung" der Landarbeiter ist zugleich der erste Anfang der Mobilmachung zum Klassenkampf. | B 460 Wir sehen: die Konsequenzen planmäßiger „Verflechtung in die Weltwirtschaft" für die landwirthschaftlichen Betriebe des Ostens auf demjenigen Areal - dem unzweifelhaft größten - , welches zu intensiver Viehzucht nicht überzugehen vermag, sind, wenn sie Großbetriebe bleiben wollen, schon unter dem Gesichtspunkt der BevölkerungsSchichtung schwerwiegender Art. Gehen sie in Unterordnung unter die Gebote der internationalen Produktionstheilung zur extensiven Weidewirthschaft über, so sinkt der Nahrungswerth der Bodenprodukte und die Bevölkerungsziffer. Gehen sie unter Steigerung der Bodenkultur zum intensiven Ackerbau über, so schränken sie die relative Bedeutung, theilweise auch die absolute Zahl der ständigen Arbeiter ein, befördern dagegen die Fluktuation der Arbeiterschaft und gefährden damit die Stabilität der Gruppirung der Bevölkerung durch Entstehung eines modernen Nomadenthums. Es kommt darin nur zu deutlich zum Ausdruck, daß die Konkurrenzfähigkeit der ausländischen Produzenten eben in dem niedrigeren Kulturniveau beruht, auf den ungeschwächten Naturkräften des Bodens und dem Fehlen der mittelbaren Belastung durch das soziale Ensemble, welches die Bevölkerungsdichtigkeit und die Lebensansprüche einer Bevölkerung mit älterer Kultur schaffen. Die landwirthschaftlichen Großbetriebe auf dem nicht besonders begünstigten Boden des Ostens müßten in der Bodenkultur und in

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dem sozialen Niveau der Arbeiter wie der Unternehmer eine Kulturstufe heruntersteigen können, um als Großbetriebe konkurrenzfähig zu bleiben. Diese verhängnißvolle Situation ist auch für die rein materielle Lage der Landarbeiterschaft - ihren Nahrungsstand - von maßgebender Bedeutung in einem Augenblick, wo zum ersten Mal die freie Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt als organisatorisches Prinzip auch auf dem Lande erscheint. Die an die Tradition gebundene Art der Lohnbemessung, welche dem platten Lande eignete, brachte es mit sich, daß die Einkommens- und Ernährungsverhältnisse der Arbeiter durch rein ökonomische Momente nur theilweise und indirekt, unmittelbar dagegen durch solche Umstände bestimmt werden, welche jenen festen Halt, den die Tradition einer festgefügten typischen Arbeitsverfassung bot, erschüttern. Das ist aber gerade bei denjenigen Veränderungen der Fall, welche die moderne Betriebseinrichtung mit sich bringt. Sehen wir uns die wichtigsten derjenigen Faktoren an, welche einen Einfluß auf die Lage der Arbeiter möglicherweise ausüben | können: Es sind: 1. die verschiedene Größe der einzelnen Betriebe; B 461 2. die verschiedene Güte des Bodens; 3. die verschiedene Intensität der Bodenbewirthschaftung; 4. die Grundbesitzvertheilung. Was zunächst die Wirkung der Größe der Betriebe auf die Lage der Arbeiter anlangt, so scheint der Satz ziemlich allgemein aufgestellt werden zu dürfen: je größer der Betrieb, desto weniger ständige Arbeiter bedarf er im Verhältnis zur bebauten Fläche. Eine Abnahme der ständigen Arbeiter im Verhältniß zur bebauten Fläche bei untereinander gleichen Verhältnissen der Bodenqualität und Intensität scheint nun ferner regelmäßig mit einer Hebung ihrer Lage verbunden zu sein. 5) Das entspricht bekannten Analogien in der Industrie 5) Beispiel: Nach einem sehr sorgfältigen, aus Angaben der Arbeiter und Wirthschafts- B 4 6 1 büchern der Güter zusammengestellten Bericht auf die Enquête des ev[angelisch]-soz[ialen] Kongresses] aus dem Kreise Königsberg (Land) stellt sich innerhalb eines Bezirkes, der so eng ist, daß die Bodenverhältnisse schwerlich Einfluß haben, bei anscheinend auch etwa gleicher Intensität des Anbaues, und wenn man gleichmäßig dieselben Geldumrechnungsfaktoren anwendet, das Reineinkommen der Instfamilien, abzüglich Kosten für Scharwerker, auf mehreren benachbarten Gütern wie folgt:

1. 2. 3. 4.

für " " "

1 Instmann, derauf je 35 ha. Fläche kommt, auf 525,35 Mk. 1 " " " " 40 " " " " 742,50 " 1 " " " " 43 " " " " 752,50 " 1 " " " " 53 " " " " 803,63 "

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und ist natürlich, da es sich in diesem Falle lediglich um eine rationellere Disposition über die vorhandenen Arbeitskräfte unter Ersparung unnützer Mitesser handelt. Daraus ergiebt sich - und das entspricht der E r f a h r u n g - , daß ceteris paribus, d.h. bei gleicher Bodenqualität und Wirthschaftsintensität, die Arbeiter größerer Großbetriebe besser gestellt sein werden als die kleinerer. Dieser Satz hört aber sofort auf richtig zu sein, sobald man verschieden intensive Betriebsformen und namentlich, wenn man Güter aus verschiedenen^] nicht unmittelbar benachbarten Gegenden mit verschiedener Arbeitsverfassung und Kulturstufe der Arbeiter mit einander vergleichen wollte, wie etwa Oberschlesien und Ostpreußen. Die Vergleichbarkeit besteht nur für lokale Bezirke mit traditionell gleichartigen Verhältnissen. Ebenso ist es eine ganz andere Frage, wie sich 462 die Lage der Arbeiter | bäuerlicher Betriebe zu der in Großbetrieben verhält. Unter einander vergleichbar sind nur Betriebe des gleichen sozialen Gesammtcharakters. Ähnlich liegt die Sache mit der Wirkung der Bodenqualität. Die bessere Qualität des Bodens erfordert in der Ernte einen größeren Arbeitsaufwand, im Übrigen steigt mit zunehmender Qualität der Bedarf an ständigen Arbeitskräften langsamer als die Ertragsfähigkeit. Sie wirkt deshalb bei den auf Antheil gesetzten Instleuten unter sonst gleichen Verhältnissen naturgemäß steigernd auf das Einkommen; in einem gewissen, aber erheblich geringeren Maße wirkt das auch auf die Deputanten zurück. Was die Geldlöhne anlangt, so ist eine Abhängigkeit von der Bodengüte (Grundsteuerreinertrag) in unmittelbar benachbarten Bezirken selten sicher zu konstatiren. Hier überwiegen die rein individuellen Umstände (Weite der Wege, Isolirtheit des Gutes u.s.w.). Faßt man Bezirke von etwa vier bis fünf Kreisen von in sich etwa gleichen Boden- und Bewirthschaftungsverhältnissen zusammen, so findet regelmäßig ein deutlicher

Also ein völliger Parallelismus. In einem fünften Fall stellt sich das Einkommen: 5. für 1 Instmann, derauf je 57 ha. Fläche kommt, auf 645,00 Mk. Hier wird theilweiser Dreschmaschinenbetrieb gemeldet. Der Abstand von Fall 1 zu Fall 2 ist auffallend groß, auch hier wird für Fall 1 theilweiser Dreschmaschinenbetrieb gemeldet. Fall 1 und 5 untereinander folgen wieder der Regel. Es zeigt sich, daß nur unter sich annähernd gleiche Betriebsformen vergleichbares Material ergeben. (In diesem Falle hängt übrigens die Verschiedenheit der Arbeitsintensität mit der Betriebsgröße nicht zusammen.) |

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Parallelismus der Lohnhöhe mit der Bodengüte statt. 6 ' Sobald man aber große Gebiete - Provinzen - zusammenfaßt, hört dieser Parallelismus auf, ja, er hört nicht nur auf, sondern kehrt sich um, wenn man die Reinertragsziffern Schlesiens mit denen des Nordens ver5 gleicht. Der Grund liegt wiederum in der Differenz der Arbeitsverfassung. Beide bisher erörterten Faktoren also stehen an Bedeutung | hin- B 463 ter einem anderen: - der Art der Arbeitsverfassung und der Nationalität der Arbeiter - zurück. Sehen wir nun zu, welcher Einfluß dem 10 dritten oben aufgeführten Faktor: der zu- oder abnehmenden Intensität des Betriebes, zukommt. Eine Abnahme der Betriebsintensität - sei es nun der Arbeits- oder der Kapitalintensität - wird bei fortbestehendem Großbetrieb im Osten regelmäßig mit Verdrängung der Feldarbeit durch extensive Viehzucht identisch sein, eine Steigerung 15 der Intensität gegenüber der traditionellen Betriebsweise kann in Form intensiverer Viehzucht erfolgen, - dann handelt es sich um Zunahme der „Kapitalintensität" des Betriebes - oder in Gestalt intensiverer Ackerbaukultur - dann nimmt der Betrieb an Intensität des Kapital- sowohl als des Arbeits-Aufwandes zu.

6) Beispiele: Die Lohnverhältnisse Ostpreußens, wo eine hochintensive Feldbebauung B 4 6 2 (Rübenkultur etc.) im allgemeinen auch auf den besten Bodenklassen 1891 nicht in großem Umfange bestand, die verschiedene Intensität durchschnittlich vielmehr der verschiedenen Bodengüte etwa entsprechen dürfte. Nach den allerdings sehr rohen, hier aber doch vorläufig genügenden Zusammenstellungen in der Enquête zeigt sich folgender Parallelismus:

Königsberg

Kreis Orteisburg, Neidenburg Ermland Kreis Mohrungen, 1 Preußisch] Holland, [ Osterode J SamlandundNatangen .

Grund2 steuerr* reinertrages pro Hektar

1. Regierungsbezirk

OÛ c CS C «2 C

Die Blätter, welche die Interessen des Proletariats vertreten, thäten gut, dem Pharisäismus eines Theils der bürgerlichen Presse mehr als bisher zu mißtrauen, welche diejenigen Ausgaben, die mit dem vielberufenen „Sekt" stigmatisirt zu werden pflegen, als den Nagel zum Sarge der Landwirthschaft hinstellen. Die „Sektströme" münden - von persönlichen Extravaganzen, für die keine Klasse aufkommt, abgesehen - im großen Durchschnitt in ganz andere Kehlen, als in diejenigen der Kategorie von Landwirthen, um die es sich hier handelt. - Es stehen ganz andere Ausgaben in Frage, die gleichen, welche es veranlassen, daß trotz Verbilligung der meisten Massenartikel die Lebenshaltung sich, wie jeder weiß, fortgesetzt vertheuert hat.

21 Agrarkonferenz, S. 61 f. 22 Der Nationalökonom Johann Karl Rodbertus sah in der „ V e r s c h u l d u n g s f o r m des Grundbesitzes nach Capitalwerth", d.h. nach Verkehrswert, eine der Hauptursachen für die hohe Verschuldung des Grundbesitzes. Der Boden, der einen weltgehend fixen Ertrag bringe, solle nicht in Kapital, sondern nur In festen, unveränderlichen Rentenbeträgen abgelöst werden, die keinen Z i n s s c h w a n k u n g e n unterlägen. Vgl. Rodbertus-Jagetzow, Johann Karl, Zur Erklärung und Abhülfe der heutigen Creditnoth des Grundbesitzes. 2 B ä n d e . - Berlin: Hermann Bahr [1868], passlm, Zitat: B a n d l , S. 141; siehe auch: Conrad, Johannes, Rentenprinzip, in: H d S t W 5 1 , 1 8 9 3 , S. 4 2 7 - 4 3 0 . 23 Agrarkonferenz, S. 6.

Die Verhandlungen

der Preußischen Agrarkonferenz

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des Erwerbers als Betriebskapital, welches er sich sonst anderweit beschaffen müßte. Das Entscheidende liegt also in dieser Beziehung zunächst in dem Erscheinen auch weniger kapitalkräftiger Käufer auf dem Gütermarkt, welches durch unsere Hypothekengesetzge5 bung unzweifelhaft mehr erleichtert wird als in irgend einem Lande Europas. 2 4 Gemeinschaftlich ist dagegen - wie Sering nach Rodbertus mit Recht hervorhob - den Erbabfindungen und Kaufschillingen, daß ihre Höhe notorisch außer allem Verhältniß zum möglichen Ertrage des Gutes zu stehen pflegt 4 ', weil der „Verkehrswerth" des 10 Bodens den „Ertragswerth" dauernd beträchtlich übersteigt. 25 Den Grund für diese bekannte Erscheinung suchte die Konferenz, soweit sie sich darüber äußerte, für den Kleinbesitz und Parzellenerwerb mit Recht in dem „Landhunger" der kleinen Leute, einem Phänomen, welches ökonomisch dahin zu interpretiren ist, daß ein Theil 15 des Ertrages der Arbeit des Erwerbers kapitalisirt und als Entgelt gezahlt wird für die rechtliche Unentziehbarkeit der Arbeitsgelegenheit (des gekauften oder ererbten Bodens). Was die größeren Güter anlangt, so verwies Sering gewiß mit Recht darauf, daß das geltende Erbrecht und die derzeitige Hypothekengesetzgebung in Verbin-

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Die Thatsache selbst, deren fundamentale Bedeutung für die Bodenverschuldung Sering und Andere mit Recht betonten, wurde in der Konferenz nur vereinzelt von agrarischer Seite in Abrede gestellt. Geh.-Rath G a m p führte aus persönlicher Erfahrung einige gezahlte und verlangte Kaufpreise von östlichen Gütern an, welche den Versicherungswerth der Gebäude, des Inventars und der Ernte nur wenig überstiegen, und schloß daraus, daß die Meliorationen der Grund des Steigens der Güterpreise im letzten Menschenalter gewesen seien. 2 6 Mit welchem Recht bei dieser Rechnung die Abschreibungen gerade auf den Bodenweith angenommen werden, ist nicht ersichtlich; die gegebenen Zahlen - S. 92, 93 der Protokolle - lassen vielmehr vermuthen, daß das in den Gebäuden steckende Kapital objektiv zum guten Theil unwirthschaftlich aufgewendet war. Jedenfalls beweisen die Fälle nicht - worauf es allein ankommt - , daß auch der so normirte Kaufpreis nicht dennoch zu hoch im Verhältniß zum Rein-Ertrage war. Das war anscheinend der Fall, da der Erzähler die beweiskräftigste Kaufofferte, trotzdem er nach seiner Rechnung „8000 Morgen des schönsten Bodens für 20000 M." erhalten hätte, 2 7 abgelehnt hat. |

24 Vgl. dazu W e b e r s A u s f ü h r u n g e n , unten, S. 5 2 8 - 5 3 1 . 25 A g r a r k o n f e r e n z , S. 6 f . 26 Ebd., S. 93. 27 Es heißt ebd.: „ D i e Preisforderung betrug für das G u t 1 0 5 0 0 0 0 M., die V e r s i c h e r u n g s s u m m e für G e b ä u d e , Inventar und Ernte z u s a m m e n 1 0 2 8 0 0 0 M., sodaß also der Käufer, w e n n er das Glück gehabt hätte, unmittelbar nach d e m Kaufe a b z u b r e n n e n , 8 0 0 0 M o r g e n s c h ö n e n B o d e n s für w e n i g m e h r als 2 0 0 0 0 M. erlangt hätte." G a m p lehnte d i e s e Offerte ab.

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dung mit dem freien Güterverkehr dazu führe, bei jeder steigenden Konjunktur steigende Theile der Grundrente als Erbschulden und Restkaufgelder kapitalisirt in die Hand des beweglichen Besitzes zu spielen und so die Zeiten schlechterer Konjunktur mit unerschwinglichen Tributpflichten der landwirthschaftlichen Betriebe zu belasten. 28 Ein Moment aber fand keine Erwähnung, obwohl es zwar gewiß nicht allein entscheidend ist, aber doch bei der sehr weitgehenden Loslösung der Bodenpreise vom Ertrage in erster Reihe mitspielt: der Umstand, daß an den Grundbesitz sich bei uns thatsächlich eine spezifische soziale und politische Position im Staatsleben und in der Gesellschaft knüpft. Wer ein Rittergut kauft, zahlt einen Theil des Preises als Entgelt für den Eintritt in den Stand der Rittergutsbesitzer. Diese „Eintrittsgebühr" belastet ihn mit Tributpflichten an den mobilen Besitz, und dies wieder ist eine Folge der Diskrepanz der politischen und der wirthschaftlichen Machtverhältnisse. Wollte man karrikiren, so würde man sagen: der Hypothekengläubiger d.h. natürlich nicht der einzelne, sondern die Gesammtheit derselben - läßt sich diesen Theil des Zinstributes dafür zahlen, daß der ökonomisch schwächere Gutsbesitzer als solcher der politisch und sozial relativ hoch bewerthete Vertrauensmann des Staates, er dagegen trotz seiner ökonomischen Überlegenheit der von der politischen Macht ausgeschlossene, auch sozial und gesellschaftlich wesentlich niedriger eingeschätzte Berliner Fortschrittsmann 29 ist. Auch die Art der Bewegung der Bodenpreise erklärt sich mit- nicht: allein - hieraus; sie folgen den sinkenden Erträgen zunächst fast gar nicht, bis ein plötzlicher Zusammenbruch erfolgt: bei der Bewerthung spielen eben ökonomisch irrationale Momente mit, reichen diese einmal nicht aus, das Niveau zu halten, so fehlt jeder Maaßstab, A 536 und Preise und Pachten sind in Gefahr, in's Bodenlose zu | sinken. Gerade die mittleren Rittergüter sind nun, soweit unsere Kenntniß reicht, am Bodenumsatz mit am stärksten betheiligt. Je mehr sich der Umfang den Latifundien nähert, desto stabiler wird der Besitz. Ebenso ist die Beweglichkeit bei den Bauerngütern eine geringere, sie bleiben im allgemeinen weit mehr in derselben Familie, und erst in der untersten Schicht beginnt die Beweglichkeit wieder, um in

2 8 Agrarkonferenz, S. 7. 2 9 A n s p i e l u n g auf die ü b e r w i e g e n d in d e n linksliberalen Parteien vertretene K a u f m a n n schaft.

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einzelnen Theilen von Schlesien und noch mehr im Westen unter dem Druck des „Landhungers" das Maximum im Parzellenumtrieb zu erreichen. Deshalb nimmt auch, so viel die bisherigen Erhebungen erkennen lassen, wenn man Besitzgrößenklassen zusammenstellt, im großen Durchschnitt die relative Höhe der Verschuldung bei uns im Osten von unten nach oben, im Westen und Südwesten, wo die Rittergüter sozial und politisch keine Rolle spielen, von oben nach unten zu. Kommen wir nun zu den in der Konferenz erörterten Wegen zur Abhülfe, so soll die Besprechung des Anerbenrechts und der Verschuldungsgrenze einem besonderen Artikel vorbehalten bleiben. 30 Beide Mittel kommen - namentlich das letztere - offenbar nur in Betracht zur Verhinderung weiterer künftiger Verschuldung von Besitzern, welche noch nicht zu den überschuldeten gehören. Billigerweise fragen wir aber zunächst: was schlägt die Konferenz vor zur Sanirung eben dieser von ihren Schulden Erdrückten. Das Ergebniß der Berathungen formulirt auch Sering in dem soeben erscheinenden Aufsatz in Schmollers Jahrbuch dahin, daß sie in dieser Beziehung resultatlos verlaufen ist. 31 Dies ist sicherlich nicht Schuld der Konferenz, aber es ist in der That der Fall. In dem Arbeitsprogramm findet sich die Andeutung eines durch die Gesetzgebung herbeizuführenden „Liquidationsverfahrens". 32 Es ist ferner darin auf den bekannten Vorschlag hingewiesen, durch Ausgabe unverzinslicher Bodenscheine seitens zu bildender Genossenschaften, welche zumTheil durch absolut sichere Hypotheken zu decken seien, die Mittel zur Amortisation der nachstehenden Hypotheken zu gewinnen. 33 Als Professor Schmoller diesen Plan als „Utopie" bezeichnete, 34 stieß er auf gereizten Widerspruch bei Herrn v. Plötz, 35 - jetzt scheint der „Bund der Landwirthe" selbst von diesem unter den heutigen Verhältnissen banktechnisch unmögli-

30 Siehe Webers Artikel: „Das Anerbenrecht auf der preußischen Agrarkonferenz." Unten, S. 502-511. 31 Sering, Die preußische Agrarkonferenz, S. 967. 32 Agrarkonferenz, S. X. 33 Ebd., S. XIII. 34 Ebd., S. 263. 35 Ebd., S. 289-291. Berthold von Ploetz war von 1893 bis 1898 erster Vorsitzender des Bundes der Landwirte, der als Interessenvertretung des Großgrundbesitzes gegründet worden war.

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chen Gedanken abgekommen zu sein. 36 Das Eintreten der Gesammtheit - des Staates - , welches Geh. Rath Gamp forderte, 3 7 sei es durch unverzinsliche Vorschüsse (Graf Stosch unter Hinweis auf die schlesische Provinzialhülfskasse, 38 v. Gustedts 20—30 Millionen unverzinslicher Vorschuß an jede Provinz zur Gründung von Darlehnskassen und Ausgabe von Grundnoten durch die Landschaften), 3 9 sei es durch seinen Kredit, wurde außer von Anderen von Adolf Wagner als politisch unmöglich zurückgewiesen. 40 Die Durchführung einer Amortisation der Nachhypotheken ohne eine unmöglich zu erschwingende Steigerung der jetzigen Lasten des Besitzers durch Zuschläge zum Zins wurde andererseits als nur in Verbindung mit der Gewährung eines wie immer gearteten „Geschenkes" des Staates denkbar bezeichnet. Es konnte also nur eine korporative Zusammenfassung der Grundbesitzer zum Zwecke der Durchführung der Hypothekenabstoßung, unter Engagement mit ihrem Kredit, eventuell auch mit Baarmitteln, in Frage kommen. Sering hatte im Anschluß an den bekannten österreichischen Gesetzentwurf 41 sich den Hergang so gedacht, 42 daß Grundbesitzer-Organisationen etwa die Landwirthschaftskammern - bei Subhastationen behufs Verhinderung der Verschleuderung bis zu einer angemessenen Taxe mitbieten und nach erhaltenem Zuschlag den bisherigen Besitzer oder einen Verwandten oder, wenn beides nicht möglich, einen Dritten in der ungefähren Lage eines Rentengutsbesitzers wieder in den Besitz einsetzten, - daß diese Organisationen aber auch außerhalb von Subhastationsfällen die Liquidation der Verhältnisse übere A: Gutstedt 3 6 Der Sachverhalt konnte nicht nachgewiesen werden. 3 7 Agrarkonferenz, S. 96f. 38 Ebd., S. 157. 3 9 Ebd., S. 165. Mit dem Begriff „Grundnoten" sind Pfandbriefe gemeint. 40 Ebd., S. 311 f. 41 Gemeint ist der 1890 von der österreichischen Regierung Eduard Graf Taaffe eingebrachte Gesetzentwurf zur Bildung von Z w a n g s b e r u f s g e n o s s e n s c h a f t e n der Landwirte, die vor allem durch die Verpflichtung, bei Zwangsversteigerungen zugunsten des Besitzers zu intervenieren, die Verschuldung d e s Grundbesitzes aufhalten sollten. Sering, Max, Die Entwürfe für eine neue Agrargesetzgebung in Österreich, in: Jahrbuch für G e s e t z g e b u n g , Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 18. Jg., 1894, S . 3 8 8 - 3 9 0 ; Ogris, Werner, Die Rechtsentwicklung in Cisieithanien 1 8 4 8 - 1 9 1 8 , in: Die Habsburger Monarchie 1 8 4 8 - 1 9 1 8 , hg. von A d a m Wandruszka und Peter Urbanitsch, 2. Band: Verwaltung und Rechtswesen. - Wien: Verlag der Österreichischen A k a d e m i e der Wissenschaften 1975, S. 628f. 4 2 Agrarkonferenz, S. 12f.

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schuldeter Besitzer und die Ablösung der letzten Hypotheken durch Verhandlung mit den Gläubigern unter Kreditgewährung in die Hand nehmen sollten, wenn der Besitzer sich für die Zukunft den gleichen Schranken unterwürfe. Was zunächst den letzteren Gedanken anlangt, so setzt eine solche delikate Sanirungsprozedur quantitativ und qualitativ das Vorhandensein von geeigneten Organen der betreffenden Instanzen in einem Maaße und Umfange voraus, der leicht unterschätzt werden möchte. 5) Und auch über den Erfolg des mit oder ohne Subhastation erzielten Rétablissements des überschuldeten Besitzers wird man die Bedenken, welche sich wie ich glaube, auch Sering nicht verhehlte, doch noch pessimistischer beurtheilen. Das überschuldete Gut ist in einem großen Bruchtheil der Fälle devastirt, es genügt nicht, daß der Besitzer entschuldet wird, er müßte mit Betriebsfonds ausgestattet werden, und er ist nach Vornahme der Kur, die doch einer wirthschaftlichen capitis deminutio gleicht, schwerlich noch das, was man mit Recht in ihm zu finden wünscht, sondern er steht im Kreise seiner Standesgenossen ähnlich, wie ein Kaufmann nach einer „guten Pleite" oder - wenn das zu schroff erscheint - doch nach einem Zwangsvergleich oder einer außerkonkurslichen „Sanirung" unter Seinesgleichen dasteht. - Vor allem aber versagten sich die „Standesgenossen" auf das Unzweideutigste der ihnen zugeschobenen Aufgabe, ihren eigenen Kredit für den ihrer bedrängten Genossen zu engagiren, dies trotz des eindringlichen Appelles von Professor Schmoller an die Opferwilligkeit im Interesse des Standes. 43 - Von entschieden agrarischer Seite (von Knebel-Döberitz) wurde offen gesagt, es werde im Lauf des nächsten Jahrzehnts ein erheblicher Bruchtheil derselben „über die Klinge springen" müssen. 44 Soweit hinter den landschaftlichen Beleihungsanstalten erhebliche Hypotheken ständen, würden die Besitzer thatsächlich von den Gläubigern gehalten, da es für diese einen billigeren Verwalter des ihnen verfallenen Gutes nicht gebe. Ge5)

Man braucht nur mit den gleichartigen Verhandlungen gewerbsmäßiger Güterparzellanten vertraut zu sein, um die UnWahrscheinlichkeit, daß diese Organe hier ausreichen würden, zu würdigen. |

43 Gerade Gustav Schmoller hatte mit Nachdruck die G r ü n d u n g einer Korporation der Grundbesitzer gefordert. Ebd., S. 2 6 4 - 2 6 6 . 44 „ [ . . . ] , es springt Ihnen in den nächsten Jahren doch ein größerer Prozentsatz besonders des mittleren Besitzstandes über die Klinge". Ebd., S. 134.

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heimrath Thiel führte aus, daß diesem Zustand gegenüber es erwünschter wäre, statt derartiger nur formaler Eigenthümer säßen Pächter, 45 und unwillkürlich erinnert diese Äußerung an die unter englischen Eindrücken entstandenen Gedankengänge des weiland Oberpräsidenten v. Schön. 46 Ist sie zutreffend, so kommt es darauf an, wer als Verpächter zu denken wäre. Will man den Pächtern die wirthschaftlichen Vorzüge des vielgerühmten englischen „joint business" zuführen, bei welchem die Kreditinstanz des Pächters ein kapitalstarker Grundherr war, welcher Meliorationskredit gegen Pachtrentenzuschlag ertheilte, 47 während der Staat seit 1846 den Grundherrn ihrerseits den Improvement fund zur Verfügung stellte, 48 so muß man auch Verpächter vom Umfange der englischen Landlords voraussetzen, und auch dann wird, wenn man an private Grundherren denkt, stets die Tendenz zur Kürzung der Pachtperiode und Aneignung der durch den Pächter erzielten Wertherhöhung drohen. Anders wäre es freilich, wenn die Domänenstrwaltung im Wege systematischen allmäligen Aufkaufs den Domänenbestand in größtem Maaßstabe auf Kosten der leistungsunfähigen Rittergutsbetriebe vergrößerte und unter organisirter Fürsorge für Meliorationskredit verpachtete. Sie könnte hier, mit anfänglichen Opfern, die

45 Ebd., S. 46. 46 Theodor von Schön hatte als Oberpräsident der Provinz Preußen (1824 bis 1842) günstige Kredite aus einem drei Millionen-Taler-Fonds, der ihm von der Regierung zur Verfügung gestellt worden war, an den Großgrundbesitz vergeben. Er verfolgte dabei das politische Ziel, den alten preußischen Adel als staatstragende Schicht lebensfähig zu erhalten und vor dem „Ausverkauf" zu bewahren. Vgl.: Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön. 2. Theif, 3. Band. - Berlin: Franz Duncker 1876, S. 7 7 - 8 0 . 47 Der Begriff „joint business" wird in der zeitgenössischen Literatur erläutert als Gesellschaftsverhältnis zwischen Pächter und Verpächter, bei dem der Grundeigentümer sich nicht nur auf die Verpachtung des Landes und das Einziehen des Pachtzinses beschränkt, sondern in der Regel auch die Kosten aller größeren Bauten und Meliorationen trägt. Vgl. Reitzenstein, Friedrich Frhr. von, und Nasse, Erwin, Agrarische Zustände in Frankreich und England (Schriften des Vereins für Socialpolitik 27). - Leipzig: Duncker & Humblot 1884, S. 138. 48 Weber spricht hier die Vergabe billiger staatlicher Kredite an, die nach Aufhebung der Kornzölle 1846 als Kompensation für den Wegfall des landwirtschaftlichen Schutzes gedacht waren. Die Verwaltung der Gelder unterstand den seit 1845 tätigen „Inclosure Commissioners". Die staatlichen Kommissare wurden in ihrer Arbeit unterstützt durch verschiedene „Improvement Companies", die zusammen mit den staatlichen Stellen im Zeitraum von 1846 bis 1912 über 18 Millionen Pfund an Krediten auszahlten. Siehe Orwin, Christabel, und Wetham, Edith, History of British Agriculture 1 8 4 6 - 1 9 1 4 . - Newton Abbot Devon: David & Charles 1971 2 , S. 1 9 4 - 2 0 0 .

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sich später voll bezahlt machen, ein Kulturwerk in die Hand nehmen, wie es ohne die Möglichkeit einer gleichen Schadloshaltung die einsichtige Arbeit der Ansiedlungskommission 49 vollbringt. - Und andererseits predigt nichts eindringlicher als jenes negative Resultat der Agrarkonferenz die Nothwendigkeit einer Änderung der Grundbesitzvertheilung im Osten. Wer die unsachliche Erregung am eige- A nen Leib erfahren hat, 50 welche diese Forderung, unzweideutig ausgesprochen, auf der agrarischen Seite zu veranlassen pflegt,6> wird es taktisch erklärlich finden, wenn der Verfasser einer be- und anerkannten Schrift über „die innere Kolonisation im östlichen Deutschland"51 bei einer Gelegenheit, wo mit den Vertretern des Großgrundbesitzes zu verhandeln war, diesen Gesichtspunkt nicht dahin stellte, wohin er an sich sachlich gehörte: an die Spitze der Generaldiskussion, sondern ihn sich aus der Mitte der Konferenz heraus im Lauf der Erörterung gewissermaaßen aufdrängen ließ. - Mit Recht hob Graf Zedlitz hervor, daß hier eine „stärkere Hand" eingreifen

61

Den Grund dafür hat sehr zutreffend der Präsident der Generalkommission 52 in Frankfurt, welcher den passiven Widerstand des Großgrundbesitzes gegen die Rentengutsbildung zu empfinden Gelegenheit hat, hervorgehoben; es sind allein die politischen Machtinteressen des Standes, die Bedeutung der „Geschlossenheit der Phalanx in den Kreistagen", wie er sich ausdrückte, welche hier maaßgebend sind, entgegen dem w i r t schaftlichen Interesse der Landwirtschaft. 53

49 Die Ansiedlungskommission war zur Durchführung des preußischen Ansiedlungsgesetzes vom 26. April 1886 gegründet worden. Sie sollte in Westpreußen und Posen polnischen Grundbesitz aufkaufen, parzellieren und mit deutschstämmigen Bauern aufsiedeln. 50 Anspielung auf die Pressekampagne gegen Max Weber und Paul Göhre im Anschluß an den fünften Evangelisch-sozialen Kongreß. Siehe oben, S. 463-479. 51 Gemeint ist Max Sering, der Verfasser der Schrift: Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland (Schriften des Vereins für Socialpolitik 56). - Leipzig: Duncker & Humblot 1893. 52 Die Generalkommissionen waren mit der Durchführung der Rentengutsgesetze vom 27. Juni 1890 und 7. Juli 1891 betraut. Ihre Arbeit bezog sich auf ganz Preußen. Im Unterschied zur Ansiedlungskommission waren sie an keinen nationalpolitischen Auftrag gebunden. 53 Der Präsident der Generalkommission in Frankfurt a.O., Hermann Metz, hatte folgendes ausgeführt: „Ich glaube, es liegt doch wohl der Gedanke zu Grunde, daß durch die Vergrößerung der Anzahl der kleineren und mittleren Besitzer die politische Bedeutung, die der Großgrundbesitz bisher immer noch hat, einigermaßen abgeschwächt werden könnte. Denn das ist wohl nicht ganz zu leugnen: die feste Phalanx, die der Großgrundbesitz im Kreistag, bei den Wahlen u.s.w. bis jetzt noch bildet, wird im Laufe derZeit vielleicht etwas durchbrochen werden." Agrarkonferenz, S. 129.

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müsse. 54 Dies trifft schon deshalb zu, weil der relativ schnelle Fortgang der Rentengutsbesiedlung - es sind bereits ca. 5500 Rentengüter und Familien allein im Bezirk der Generalkommission zu Bromberg angesiedelt auf 9 Quadratmeilen Land 5 5 - an der Schattenseite krankt, in großem Maaßstabe im Gegensatz zur Ansiedlungskommission Zwergbauernbetriebe mit entsprechend niedrigem Standard of life schaffen zu müssen und für die unentbehrliche Ausstattung mit Gemeinde-Allmenden regelmäßig nicht sorgen zu können, - und weil ferner die normale Form der Rentengutsansiedlung die Abzweigung von Außenschlägen unwirthschaftlich großer Güter ist, eine solche aber nicht die herrschende Form der Bauernbesiedlung bleiben darf. Es ist nicht einzusehen, welche andere Maaßregel hier in Frage kommen kann, als eine staatlich kontrollirte Domänenkolonisation größten Umfangs, welche also auf der einen Seite den Domänenbestand allmählich in ähnlichem Umfange verkleinern würde, wie ihn der Güteraufkauf auf der anderen erweiterte. Merkwürdigerweise gehen die Erörterungen über die Güterparzellirung meist von der Annahme aus, daß selbstverständlich die aufgekauften Güter alsbald zur Kolonisation zu verwenden seien. Nichts wäre verkehrter, denn ein überschuldet gewesenes Gut ist regelmäßig das dazu am wenigsten geeignete Objekt. Die Ansiedlungskommission krankt an der Nothwendigkeit, das gekaufte Areal regelmäßig möglichst bald zu kolonisiren und zu diesem Behuf mit großem Verlust durch „zwischenzeitliche Verwaltung" vorbereiten zu müssen. 7) Die aufgekauften Güter machen in sehr vielen Fällen besser zunächst eine lange

7)

E b e n s o wie daran, daß sie nach vollendeter Kolonisation zahllose Stundungsgesuche der Ansiedler zu erledigen, dieselben überhaupt gewissermaßen in Nachbehandlung hat. Beides ist anders bei der Rentengutsansiedlung durch die Generalkommissionen. 5 6 Die kolonisirende Behörde sollte thunlichst auf den Akt der D u r c h f ü h r u n g der Kolonisation beschränkt sein. 5 4 Agrarkonferenz, S. 61: „[...] und wir werden uns die Frage vorlegen müssen, ob es nicht zweckmäßig wäre, an diesem Punkte mit stärkeren Mitteln einzusetzen." 5 5 Die Zahl der von der Generalkommission in Bromberg in Ost- und Westpreußen und Posen begründeten Stellen betrug Ende 1894 5148 und umfaßte 55696 ha Land. Sering, Max, Innere Kolonisation, in: HdStW, 1. Suppl.-Band, 1895, S. 584 c. Die von Max Weber angegebenen neun Quadratmeilen entsprechen ca. 51 000 ha. 56 Im Gegensatz zur Ansiedlungskommission waren die Generalkommissionen auf die Beratung verkaufswilliger Gutsbesitzer und die technische Durchführung von Parzellierungen und die Schaffung von Rentengütern beschränkt, die finanztechnische Abwicklung oblag gemäß der Rentengutsgesetzgebung von 1890/91 den Rentenbanken.

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dauernde Meliorationskur in den Händen von kapitalkräftigen Domänenpächtern durch, denen Meliorationskredite bei kontrollirter Verwendung zur Verfügung zu stellen wären. Ich habe diesen Gesichtspunkt hervorgehoben, weil er mir nothwendiger Weise die 5 positive Seite des negativen Ergebnisses der Entschuldungs-Berathungen in der Agrarkonferenz zu sein scheint, und weil er mir, wie ich nicht leugnen kann, praktisch weit erheblicher erscheint, zwar nicht als die Frage des Anerbenrechts, wohl aber als diejenige einer papiernen Verschuldungsgrenze. Der regionale Zusammenhang der 10 Bodenvertheilung mit der Höhe der Verschuldung wurde im Übrigen auch in der Konferenz mehrfach und von Niemand klarer dargelegt, als von dem Finanzminister Dr. Miquel 57 und, wie erwähnt, vom Grafen Zedlitz. 58 Auch Sering bezweifelt ihn wohl nicht. Daraus aber sind denn die Konsequenzen zu ziehen, und ich glaube 15 keineswegs, daß in Bezug auf diese zwischen der Auffassung Sering's und dem Gedankengang, den ich vorstehend anzudeuten versuchte, eine grundsätzliche Differenz sich ergeben würde.

57 Miquel hatte darauf hingewiesen, daß in den östlichen Provinzen Preußens, wo der Großgrundbesitz vorherrsche, die Verschuldung am höchsten sei. Agrarkonferenz, S. 55f. 58 Dieser hatte auf Grund der hohen Verschuldung im Osten für eine „Mischung von großem, mittlerem und kleinem Besitz" in den östlichen Provinzen plädiert. Ebd., S. 61.

Das Anerbenrecht auf der preußischen Agrarkonferenz

Editorischer Bericht Zur

Entstehung

Vom 28. Mai bis zum 2. Juni 1894 tagte unter der Leitung des Landwirtschaftsministers Wilhelm von Heyden-Cadow die preußische Agrarkonferenz. Hier wurde über die Ursachen der wachsenden Verschuldung des Grundbesitzes sowie über Mittel zur Abhilfe verhandelt. 1 Im Mittelpunkt stand dabei u. a. die Frage einer eventuellen Modifikation des Erbrechts. Bis zur preußischen Agrargesetzgebung zu Beginn des 19. Jahrhunderts - so referierte Georg Friedrich Knapp auf der Konferenz 2 - galt für Bauern mit „schlechten" Besitzrechten, sofern ihr Besitz erblich war, Anerbenrecht, das heißt, ihr Grund und Boden wurde ungeteilt jeweils an einen Erben weitergegeben, ohne daß dieser die Miterben hätte abfinden müssen. Mit der Bauernbefreiung und den Regulierungen, auf Grund derer die Bauern ihr Land als Eigentum erwerben konnten, änderte sich dies. Die Erben hatten nunmehr Anspruch auf Realteilung oder eine angemessene Entschädigung. Diese neue Rechtslage wurde auf der Agrarkonferenz als eine der Hauptursachen für die Verschuldung des bäuerlichen Grundbesitzes angesehen. Als Mittel zur Bekämpfung der Verschuldung wurde daher eine Reaktivierung des Anerbenrechts in modifizierter, liberalisierter Form erwogen. Das Anerbenrecht sollte nicht als Zwangserbrecht, sondern als Intestaterbrecht wiedereingeführt werden, das heißt, der Eigentümer sollte die volle Testierfreiheit behalten. Genauere Vorstellungen über den regionalen Anwendungsbereich bestanden indes nicht, auch blieb die Frage, wie die Miterben abgefunden werden sollten, ungeklärt. Die Wiedereinführung des Anerbenrechts war in der zeitgenössischen Diskussion sehr umstritten. Während Verfechter der inneren Kolonisation wie z.B. Max Sering sich vehement für das Anerbenrecht einsetzten, lehnten Linksliberale - an füh-

1 Die Agrarkonferenz vom 28. Mai bis 2. Juni 1894. Bericht über die Verhandlungen der von Sr. Excellenz dem Kgl. Preuß. Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten zur Erörterung agrarpolitischer Maßnahmen einberufenen Konferenz. - Berlin: Paul Parey 1894. Siehe auch den Editorischen Bericht zu Webers Artikel „Die Verhandlungen der Preußischen Agrarkonferenz", oben, S. 480f. 2 Agrarkonferenz, S. 31 - 3 3 .

Editorischer

Bericht

501

render Stelle ist hier Lujo Brentano zu nennen - das Anerbenrecht als illiberalen Anachronismus rundweg ab, weil sie dadurch die Eigentumsrechte des Einzelnen in gefährlicherweise beschnitten sahen. 3 In Preußen war das Anerbenrecht in der Provinz Hannover wiedereingeführt worden. Dem Höferechtgesetz vom 2. Juni 1874 4 zufolge konnte der Eigentümer eines Bauernhofes durch eine entsprechende Eintragung in die beim zuständigen Amtsgericht geführte Höferolle seinen Hof ungeteilt an einen Erben übertragen unc^ so dem Anerbenrecht wieder zur Geltung verhelfen. Die Eintragung in die Höferolle konnte jederzeit widerrufen werden und berührte die Testierfreiheit nicht. Max Weber, der zu den Befürwortern des Anerbenrechts für Bauerngüter, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen, gehörte, setzte sich in der hier mitgeteilten Besprechung mit den Argumenten auseinander, die auf der Agrarkonferenz für bzw. gegen das Anerbenrecht vorgetragen worden waren. Wenige Wochen zuvor hatte er in derselben Zeitschrift bereits einen Überblick über die Verhandlungen der Konferenz gegeben. 5 Seine Hoffnung, daß die preußische Regierung eine entsprechende Gesetzesvorlage einbringen werde, erfüllte sich nur teilweise: Das Anerbenrecht wurde 1896 nur für Renten- und Ansiedlungsgüter eingeführt. 6

Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Das Anerbenrecht auf der preußischen Agrarkonferenz" in der Zeitschrift Sozialpolitisches Centraiblatt, hg. von Heinrich Braun, Berlin, 3. Jg., Nr. 48 vom 27. August 1894, S. 5 7 3 - 5 7 5 , erschienen ist (A). Der Text ist gezeichnet: „Berlin. Max Weber." Webers eigene Anmerkungen, die auf jeder Seite neu gezählt sind, sind hier durchnumeriert.

3 Vgl. die Auseinandersetzungen über das Anerbenrecht auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 29. September 1894, in: Verhandlungen der am 28. und 29. September 1894 In Wien abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik über die Kartelle und über das ländliche Erbrecht (Schriften des Vereins für Socialpolitik 61). - Leipzig: Duncker & Humblot 1895, S. 2 7 9 - 3 1 5 . 4 GS 1874, S. 186-191. 5 „Die Verhandlungen der Preußischen Agrarkonferenz", oben, S. 4 8 3 - 4 9 9 . 6 GS 1896, S. 1 2 4 - 1 3 9 . Zur Auseinandersetzung mit diesem Gesetz siehe Webers Artikel: „Der preußische Gesetzentwurf über das Anerbenrecht bei Rentengütern", unten, S. 5 8 9 - 5 9 6 .

Das Anerbenrecht auf der preußischen Agrarkonferenz. 1 '

Die Agrarkonferenz hat die Frage des Anerbenrechts wesentlich unter dem Gesichtspunkt behandelt, der unproduktiven Verschuldung des Grundbesitzes durch Erbtheilshypotheken vorzubeugen. Die Verhandlung über das Anerbenrecht auf der Konferenz ist wesentlich deshalb bedeutsam, weil die fast allseitige, nur in Bezug auf den Umfang des zukünftigen Anwendungsgebietes zumTheil differirende Ansicht sich dem Institut so günstig erwies, daß an dem Erscheinen einer Gesetzesvorlage, die eine zum mindesten sehr starke Ausdehnung seines Geltungsbereichs bezweckt, schon für eine der nächsten Landtagssessionen wohl nicht zu zweifeln ist. Ebensowenig ist die grundsätzliche Geneigtheit des Landtages, einer solchen Anregung Folge zu geben, fraglich. Dies wird je nach dem politischen und sozialpolitischen Standpunkt 2) verschieden beurtheilt werden. Als feststehend darf gelten, daß, wenn die Testir- und Verfügungsfreiheit erhalten bleibt, auch Angehörige des politischen und wirthschaftspolitischen Liberalismus dem Institut nicht grundsätzlich feindlich gegenüberstehen werden. Die erste Phase in dem Bestreben nach Erhaltung und Neubelebung des durch die Gesetzgebung systematisch zurückgedrängten Sondererbrechts in Bauerngüter, die hannoversche Höferolle, ist bekanntlich einer Anregung aus poli-

" Vergl. den Artikel in N o . 45 dieser Zeitschrift. 1 Vom Standpunkt rein wirtschaftlicher Gerechtigkeit ist erhebliches gegen das Anerbenrecht nicht zu sagen. Rein wirthschaftlich bedeutet bei der gegenwärtigen Lage der Landwirthschaft die Übernahme eines Gutes durch einen einzelnen Erben auch bei sehr bedeutender Bevorzugung desselben gegenüber den Miterben regelmäßig keine Besserstellung. Nur eine soziale Deklassirung der aus dem Erbe Gestoßenen ist normalerweise die Folge. Im Rheinland, w o die gleiche reale Theilung des Grundeigenthums im Erbfall die Regel ist, hält die Bevölkerung gleichfalls nicht aus wirthschaftlichen Gründen, sondern aus Abneigung gegen politische und soziale Differenzirung daran fest. 2)

1 In diesem Band, oben, S. 4 8 3 - 4 9 9 .

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auf der preußischen

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tisch liberalen Kreisen entsprungen. 2 Meine persönliche entschiedene Vorliebe für das Anerbenrecht in Bauerngüter glaube ich bei dieser Gelegenheit den Lesern dieser Zeitschrift nicht aufdrängen zu sollen und verhalte mich deshalb wesentlich kurz referirend. - Für die Behandlung des Anerbenrechts auf der Agrarkonferenz hat jener fast überraschende Consensus omnium den Nachtheil gehabt, daß es verhältnißmäßig kurz fortkam: es konnte ihm nur eine Sitzung gewidmet werden. 3 Das einleitende Referat von Sering4 begnügte sich, da dem Referenten die Verschuldungsgrenze offenbar das interessantere Problem war, mit wenigen Sätzen; die Generaldiskussion streifte die Frage nur. Entschieden sehr zu kurz kam z.B., möchte ich glauben, die Erörterung der offenbar den Landwirthschaftsminister persönlich lebhaft beschäftigenden Zweifel über die Schwierigkeiten, die das Verhältniß zu den differenten ehelichen Güterrechten machen könnte. - In der für das Erbrecht bestimmten Sitzung leiteten der Präsident des Oberlandeskulturgerichts Glatzel und Professor Brunner in eingehenden und unzweifelhaft sehr durchsichtigen Ausführungen die Besprechung ein. 5 Der bestehende Rechtszustand ist bekanntlich im wesentlichen folgender: Man kann in Preußen drei Hauptgebiete mit wirklich typischen Formen der Vererbung unterscheiden. Zunächst im Rheinland den großen Geltungsbereich des französischen Rechts mit seinem Prinzip der Naturaltheilung. 6 Die Zustände, welche der Grundsatz der Realtheilung hier herbeiführt, sind bekanntermaaßen oft, auch rein privatwirthschaftlich betrachtet, recht seltsam, so z. B. kommt im Fall des Mengebesitzes es recht oft vor, daß der eine der Erben den Hof fast ohne Land, die anderen Landparzellen ohne Hof ererben und nun ersterer angrenzende Äcker um jeden Preis zupach2 Ein nationalliberaler Abgeordneter aus Hannover, Heinrich Bening, hatte am 5. Februar 1868 mit Unterstützung führender Nationalliberaler (Johannes von Miquel, Rudolf von Bennigsen) einen entsprechenden Antrag im Preußischen Abgeordnetenhaus eingebracht. Sten. Ber. pr. AH, 10. Leg.Per., I.Sess. 1867/68, Anlagen, Band2, S. 513. Auf diesen Antrag geht das Gesetz, betreffend das Höferecht in der Provinz Hannover vom 2. Juni 1874 zurück, das vor allem von Miquel gefördert wurde. GS 1874, S. 186-191. Was den Inhalt des Gesetzes anbelangt, siehe oben, S. 501, im Editorischen Bericht. 3 Gemeint ist die vierte Sitzung der preußischen Agrarkonferenz am 31. Mai 1894. Agrarkonferenz, S. 201 - 2 6 0 . 4 Ebd., S. 5 - 2 0 . 5 Ebd., S. 201 - 2 0 8 und 2 0 8 - 2 1 1 . 6 Zur Anwendung des Prinzips der Naturalteilung in Deutschland siehe oben, S. 150, Anm.25.

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ten, letztere ihre Landfetzen um jeden Preis an Nachbarn verpachten müssen, - denn es ist menschlich, daß sie regelmäßig nicht an oder von einander pachten. Weder volks- noch privatwirthschaftlich ist Vernunft in dem Verhältniß, und es sind auch absolut nicht ökonomische Gründe, sondern solche, die in einer irrationalen, auf Durchführung völliger sozialer Gleichstellung der Kinder gerichteten iiecfeanschauung der Bevölkerung ihren Grund haben, welche diese Zustände erhalten haben. Sie sind dauernd nur möglich bei herrschendem Zweikindersystem, wie in Frankreich. Anders als im Wege eines ziemlich hoch zu greifenden Parzellirungsminimums ist aber hier vorerst schwerlich zu helfen, - den Weg, die Erbtheilungsgewohnheiten durch Einführung des Anerbenrechts zu ignoriren, erachteten die rheinischen Experten für nicht beschreitbar. 7 - Die zweite Region mit annähernd typischem Erbrecht ist in denjenigen Theilen von Hannover und Westfalen zu finden, wo von der durch die Höfe- und Landgüterrollengesetzgebung gebotenen Möglichkeit, durch (jederzeit widerrufliche) Eintragung eines Landguts in ein öffentliches Register den Übergang des Guts auf einen oder mehrere Erben unter starker Bevorzugung vor den Miterben zu sichern, Gebrauch gemacht worden ist. Das ist in den übrigen Provinzen fast gar nicht, in Hannover bei über 60000 und bei 2000 bis 3000 westfälischen Bauernhöfen der Fall. 8 An der Bewährung des Instituts in den Augen der Nächstbetheiligten ist kaum zu zweifeln, Löschungsanträge scheinen zu den größten Seltenheiten zu gehören - trotz einer lebhaften gegen das Institut gerichteten Agitation. Hier wird, trotzdem der einzige „Bauer" der Konferenz, der Hannoveraner Schoof, das Anerbenrecht für entbehrlich erachtete, 9 dessen Einführung als im Zweifelsfalle eintretende Vererbungsform ernstlichen Schwierigkeiten kaum begegnen. Der Osten der Monarchie und auch große Theile des westlich der Elbe gelegenen, weder dem Anerbenrecht noch der Freitheilung zugehörigen Areals unterliegen zur Zeit dem System der Werththeilung, d. h. es wird in Ermangelung anderer Dispositionen das Grundstück nach seinem Verkaufswerth eingeschätzt und dieser Werth bei 7 Soder Düsseldorfer Landgerichtsdirektor Schmitz. Agrarkonferenz, S. 144. 8 In die hannoverschen Höferolien waren Ende 1894 66344 Höfe eingetragen; die westfälische Landgüterrolle verzeichnete zur gleichen Zeit 2357 Höfe. Vgl. Sering, Max, Höferecht, in: HdStW, 1. Suppl.-Band, 1895, S. 475 und 477. 9 Agrarkonferenz, S. 167. Vgl. oben, S. 484, Anm. 8.

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der Erbtheilung in die Erbmasse eingeworfen. Weder wird das Grundstück, wie am Rhein, real getheilt, noch wird die Konsequenz der Veranschlagung nach dem Verkaufswerth: wirklicher Verkauf an einen Dritten und Theilung des Erlöses unter die Erben durchgeführt, wie es in einigen Gegenden Englands bei freeholders typisch bei jedem Erbgang geschieht 10 und unter diesen Umständen allein rationell ist, - sondern einer der Erben übernimmt das Gut unter antheiliger Erstattung der Verkaufswerthquoten, d.h. unter entsprechender Verschuldung mit Erbhypotheken, deren Zinsen ihn, da der Verkaufswerth den Ertragswerth regelmäßig beträchtlich übersteigt, erdrücken. Trotzdem also das Gut „in der Familie" bleiben soll, wird der übernehmende Erbe behandelt wie ein Dritter. Diesem gesetzlichen Erbrecht gegenüber reagirt bekanntlich der Wunsch des Bauernstandes, das Gut existenzfähig in der Familie zu erhalten, durch eine Art willkürlichen Anerbenrechts in Gestalt der Gutsüberlassungsverträge. Daß dieser Ersatz für das Anerbenrecht, bei dem der Bauer sich häufig zu früh auf das Altentheil setzt und mit diesem das Gut überlastet, nur ein unvollkommener ist, wird von niemandem bezweifelt. Das Anerbenrecht wäre hier eine wesentliche Verbesserung schon bestehender Zustände. Die vom Landwirthschaftsminister ins Werk gesetzten Ermittelungen 11 werden hoffentlich genügend klar ergeben, in welchem Umfang sie eigentlich bestehen. Was bisher - z. B. in den immerhin nicht unter einander gleichwerthigen Erhebungen des Vereins für Sozialpolitik - vorliegt, 12 giebt über das Anwendungsgebiet kein zulängliches Bild. Es 10 Die selbständigen Bauern (freeholders) verfuhren so z.B. in den südlichen und östlichen Distrikten der Grafschaft Lincoln. Vgl. Reitzenstein, Friedrich Frhr. von, und Nasse, Erwin, Agrarische Zustände in Frankreich und England (Schriften des Vereins für Socialpolitik 27). - Leipzig: Duncker & Humblot 1884, S. 136. 11 Der preußische Landwirtschaftsminister Wilhelm von Heyden-Cadow und der preußische Justizminister Hermann von Schelling veranlaßten im Mai 1894 eine Umfrage bei den Landratsämtern und Amtsgerichten über die Vererbungsgewohnheiten auf dem Land. Die Ergebnisse dieser Erhebung wurden später von Max Sering in vier Bänden unter dem Titel: Die Vererbung des ländlichen Grundbesitzes im Königtum Preußen. Im Auftrage des Kgl. Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten. - Berlin: Paul Parey 18991910, herausgegeben. 12 Der Ausschuß des Vereins für Socialpolitik hatte 1881 eine Erhebung über die bäuerlichen Zustände in Deutschland beschlossen. Gustav Schmoller und Georg Friedrich Knapp hatten einen entsprechenden Fragebogen ausgearbeitet. Die Ergebnisse wurden 1883 in drei Bänden veröffentlicht: Bäuerliche Zustände in Deutschland. Berichte, veröffentlicht vom Verein für Socialpolitik. Band 1 - 3 (Schriften des Vereins für Socialpolitik 22-24). - Leipzig: Duncker & Humblot 1883. Siehe auch: Miaskowski, August von,

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besteht eine Grenze sowohl nach oben als nach unten: die Kleinstellenbesitzer, denen der Grund und Boden nicht die Freiheit von fremdem Dienst gewährt, also nicht Unterlage eines „StandesbeA 574 wußtseins" ist, parzelliren in vielen Gegenden | regelmäßig, wo die Bauerngüter geschlossen übergehen. Die kleineren und mittleren Rittergüter wiederum, die zunehmend bürgerlich gewerblichen Charakter annehmen oder wirthschaftlich zerfallen, sind meist weit weniger stabil in der Familie als die Bauernhöfe. Für die größeren^] nicht fideikommissarisch gebundenen^] ist zur Zeit testamentarische Verfügung die ordnungsmäßige Form der Wahrung der Familieninteressen. Immerhin würde erst ein gesetzliches Anerbenrecht der testamentarischen Bevorzugung einzelner Kinder den erforderlichen Halt geben. Intensive Kultur scheint dem geschlossenen Gutsübergang überall - aber nicht durchweg in gleichem Maaß - gefährlich zu werden; und in der That läßt sich für industriell betriebene Wirthschaften, Handelsgewächsbau, Rübengüter etc. kein wirthschafts- oder sozialpolitischer Grund gegen die durch gleiche Erbtheilung - die hier auch der Rechtsauffassung der Betheiligten zu entsprechen pflegt - erzwungene beschleunigte Bewegung zum kapitalkräftigsten Wirth geltend machen. Immerhin kann hier die bestehen bleibende Testirfreiheit ein genügendes Ventil bilden. Jedenfalls ist es erwünscht, daß uns die erwähnten Ermittelungen und eventuell noch weitere bei den Interessenten selbst darüber ins klare setzen, ob eine nach Wirthschaftsgebieten innerhalb der einzelnen Provinzen vorzunehmende regionale Abgrenzung des Anwendungsbereichs, ähnlich dem badischen Hofgütergesetz, erforderlich ist. 13 Wie verschieden sich z.B. der ländliche Einzelhof gegenüber der dorfartigen Besiedelung zum Anerbenrecht verhält, wurde auch in der Konferenz angedeutet. Sehr der Untersuchung bedürftig ist die bevölkerungspolitische Wirkung des Anerbenrechts. In der überwiegenden - nördlichen Hälfte des Ostens bedeutet freilich gegenüber dem bestehenden Das Erbrecht und die Grundelgenthumsvertheilung im Deutschen Reiche. 2 Bände (Schriften des Vereins für Socialpoiitik 20, 25). - Ebd. 1882 und 1884. 13 In Baden erstreckte sich der Geltungsbereich des Anerbenrechts nur auf den Schwarzwald. Die Einrichtung der geschlossenen Hofgüter ging auf das Edikt vom 23. März 1808 zurück; ihre Verzeichnung in den entsprechenden Amtsgerichtsbezirken des badischen Schwarzwalds erfolgte aufgrund des badischen Hofgütergesetzes vom 23. Mai 1888. Gesetzes- und Verordnungs-Blatt für das Großherzogthum Baden, Karlsruhe, Nr. XVI vom 30. Mal 1888, S. 2 3 5 - 2 3 9 .

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Zustande das Anerbenrecht wohl kaum eine wesentliche Verschiebung der hier maaßgebenden Faktoren, so daß die Frage nur praktisch wäre, wenn man wahlweise daneben die Einführung des Naturaltheilungsprinzips des französischen Rechts für diese agrarische Hälfte des Ostens ernstlich zur Diskussion stellen könnte. Das wird befürworten, wer aus machtpolitischen Gründen die Vernichtung der größeren Landwirthschaftsbetriebe und damit die Beseitigung eines politischen Konkurrenten gegenüber dem städtischen Bürgerthum und der großgewerblichen Interessenten-Gruppe, seien es Unternehmer, seien es Arbeiter, wünscht und so zu erreichen glaubt. Wirthschaftlich steht zwar ziemlich fest, daß alle Nachtheile, in keiner Weise dagegen, daß irgend einer der Vorzüge dieser Form des Erbganges in den Osten übertragen würden®, sofern man nicht die Bodenqualität, Charakter der Bevölkerung, Nähe der Industrie und Verkehrswege und die Art der Bodenbewegung zugleich in diese Theile des Ostens verpflanzen kann. Dagegen ist die Frage für Theile Schlesiens und die fränkischen Partien Mitteldeutschlands, wo die Naturaltheilung eine relativ weit größere Rolle spielt, aufzuwerfen. Allgemein zu beantworten wird sie kaum sein: es kommt vor allem auf die Größe der im Wege des Anerbenrechts vererbten Güter an, daneben auf die Art der Arbeitsverfassung. Als Regel behaupten zu wollen, daß das Anerbenrecht die Wahrscheinlichkeit einer proletarischen Volksvermehrung, die Freitheilung die Neigung zur Regulirung derselben mit sich bringe, wäre ebenso gewagt wie der lokal mehrfach durch Beispiele zu belegende umgekehrte Schluß. - Was unter den jetzigen Verhältnissen durch das Anerbenrecht wohl ziemlich allgemein unzweifelhaft gestärkt wird, ist die Auswanderung und der Wegzug vom Lande, und zwar, je größer die Anwesen sind, die man einbezieht, in desto höherem Maaße. Daher ist als naturgemäße Kompensation, wie Prof. Gierke hervorhob, zunächst verstärkte kolonisatorische Thätigkeit nöthig, wenn man die aus dem Erbe Gestoßenen dem Lande erhalten will.14 Sollten aber die großen Güter überhaupt dem Anerbenrecht unterstellt werden, so ist ein ferneres Gegengewicht in Gestalt einer eigentlich von niemandem

a A: wurden

14 Agrarkonferenz, S. 229f.

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grundsätzlich bekämpften Forderung - der endlichen Einführung einer nicht zu hohen Maximalgrenze für Fideikommisse - gänzlich unumgänglich. Es ist nicht zutreffend, daß, wie Gierke (in Conrad's Handw[örter-]B[uch] Art. „Fideikommisse") ausführt, 1 5 der Fideikommißbesitz in Bezug auf seine Aufsaugungstendenz mit dem nicht gebundenen Besitz gleichstehe, sondern alle Anzeichen lassen schließen, daß der Fideikommißbesitz regelmäßig die einzige noch in stärkerem Maaße nach Bodenkonzentration strebende Form des Grundbesitzes ist, und zwar meist nach einer Besitzzusammenballung ohne jedes in den Betriebsgrößenverhältnissen liegende w i r t schaftliche Motiv, lediglich als Form der Trennung von Bodenarbeit und Grundrente. Über die Art, wie das Anerbenrecht im einzelnen ausgestaltet werden sollte, ist nun eine - diesen mancherlei Zweifeln und Schwierigkeiten gegenüber - unzweifelhaft herrschende Ansicht auf der Konferenz nicht zum Durchbruch gelangt. Das rein fakultative Anerbenrecht - durch freiwillige Eintragung in eine Höferolle - schien für das b Rheinland zunächst das einzig mögliche 16 - was einem Verzicht auf seine Durchführung daselbst in irgend nennenswerthem Umfang gleichkommt. Absolutes Anerbenrecht andererseits, unter Ausschluß der Testirfreiheit (etwa, wie Adolf Wagner allgemein festgestellt sehen wollte, unter Zulassung der Erbfolgeänderung nur bei Zustimmung eines Familienraths) 17 wurde von Brunner für solche Güter befürwortet, die eine Schuldentlastung durchgemacht hätten 18 - der Plan der Schuldentilgung liegt jetzt einstweilen im leeren. Am unbedenklichsten wäre der Konferenz wohl die gesetzliche Einführung eines nur in beschränktem Maaße abzuändernden Anerbenrechts für Rentengüter erschienen, - auch historisch entstammt ja das Institut in England wie in Deutschland der Erbfolge in

b Fehlt in A; das

s i n n g e m ä ß ergänzt.

1 5 Gierke, F i d e i k o m m i s s e , S. 423. 1 6 Max S e r i n g s c h l u g in s e i n e m Einleitungsvortrag die Einführung v o n Höferollen für d a s G e b i e t d e s f r a n z ö s i s c h e n R e c h t s vor, allerdings, s o fügte er hinzu, „mit der Empfindung, daß praktisch damit d o c h nicht viel z u erreichen s e i n wird." Agrarkonferenz, S. 9. D i e s e r A u f f a s s u n g s c h l o ß sich der D ü s s e l d o r f e r T e i l n e h m e r an. Ebd., S . 144. 1 7 Agrarkonferenz, S. 250.

18 Ebd., S. 211.

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nicht vollfreien Besitz oder der Nachahmung derselben. Im übrigen blieb fraglich, ob die dem Anerbenrecht zu unterwerfenden Güter in einer amtlichen Höferolle ex officio, aber unter Zulassung der Wiederaustragung, registrirt werden sollten, so daß also jederzeit ein dauernder Austritt aus dem Anwendungsbereich möglich bleiben würde, oder ob das Anerbenrecht als gesetzliches Intestaterbrecht für jedes ihm unterworfene Gut gelten sollte, so daß es nur für den einzelnen Fall durch Testament ausgeschlossen oder modifizirt werden könnte. Die letztere, entschieden konsequentere und erwünschtere Behandlungsweise ist offenbar um so möglicher, je mehr man das Anwendungsgebiet des Anerbenrechts regional und sachlich beschränkt auf seinen naturgemäßen Geltungsbereich: Bauerngüter in rein agrarischen, von der Natur nicht zu industriellem oder Gartenbetrieb bestimmten Bezirken. In manchen Punkten zweifelhaft blieb auch die Behandlung der Abfindungen und sonstigen Rechte der Miterben. Zwar fand der Grundsatz der i?enie«abfindung allseitigen Beifall. Naturgemäß wäre aber dann an sich meines Erachtens die bei den englischen entails19 vielfach übliche Form der Leibrente - so daß also nur die noch auf dem Gut des Vaters aufgewachsene Generation in wirtschaftlicher Beziehung zum Gute bliebe. Die amortisirbare Rente, welche die Konferenz wohl überwiegend bevorzugte, - wobei dann die Miterben durch Rentenbriefe einer Rentenbank abgefunden werden 3) Dafür: Denkschrift des Deutschen Landwirthschaftsraths vom 27. April 1886 an den Reichskanzler. 20 I

19 Die „entails" entsprachen den deutschen Fideikommissen, ohne jedoch das Grundeigentum vergleichsweise stark zu binden. Denn die Stiftung mußte im englischen Fall von Generation zu Generation erneuert werden. Der älteste erbberechtigte Sohn entschied im Moment seiner Volljährigkeit darüber, ob er das Eigentum annehmen oder die Stiftung erneuern wolle. Inder Regel war das letztere der Fall: sein Vater behielt das Nutzungsrecht auf Lebenszeit; er selbst verzichtete auf die Anwartschaft auf das unbeschränkte Eigentum und erhielt dagegen die Anwartschaft auf das Nutzungsrecht; bis zum Tode seines Vaters wurde ihm eine jährliche Rente ausgesetzt. Sein erstgeborener Sohn wurde wiederum im voraus zum Erben bestimmt. Für die noch zu erwartenden jüngeren Geschwister des designierten Erben waren Renten als Abfindungen vorgesehen. Reitzenstein/Nasse, Agrarische Zustände, S. 193f. 20 Seit 1872 delegierten die landwirtschaftlichen Zentralvereine Deutschlands Vertreter in den Landwirtschaftsrat, der gegenüber den Reichsbehörden beratende Funktionen ausübte. Die betreffende Denkschrift ist abgedruckt in: Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche, S. 209f.

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und die Rente auf die Bank übergehen könnte - sollte nach Ansicht eines Theils der Konferenz dem Nebenzweck der Verwandlung des Anerben in einen Rentenguts- oder doch einen in ähnlichem Umfang in der Verfügung beschränkten Besitzer dienen, eine Konsequenz, die der Vorliebe für das Anerbenrecht immerhin einigen Abbruch thun würde, die aber für die oben bezeichnete, für das Anerbenrecht überhaupt speziell geeignete Kategorie an sich keineswegs zweckwidrig wäre. Als vorbeugende Maaßregel gegen eine Neigung des Anerben, das billig übernommene Gut baldmöglichst zu veräußern und so den Zweck des Instituts zu vereiteln, kam das durch die moderne Hypothekengesetzgebung erschwerte und dadurch im wesentlichen beseitigte Surplus-Referat in Betracht, d. h. die Belastung des Gutes für den Fall der Veräußerung mit der Verpflichtung zur Auszahlung des entsprechenden Antheiles vom Mehrerlöse gegenüber dem Übernahmepreis an die Miterben. Daraus sollte als „logische Konsequenz" des Anerbenrechts auch die Einführung der Verschuldungsgrenze sich ergeben. Wo das Anerbenrecht den Volksanschauungen und der wirthschaftlichen Natur des Objekts entspricht, hat sich - so in Hannover - die gesetzliche Festlegung derartiger A 575 Kautelen nicht als | unentbehrlich gezeigt. Im übrigen würden sie wohl besser in einem zeitlich beschränkten Vorrecht der Miterben, das Gut dem Anerben, der es veräußern will, zum Übernahmepreise abzunehmen - also einer Art Retraktsrecht - gefunden, dessen grundbücherliche Gestaltungsform wohl nicht unüberwindliche Schwierigkeiten machen würde. Ein solches entspräche z.B. annähernd dem Rückkaufsrechte des Ansiedelungsfiskus, wie es in den Normalrentengüterverträgen der Ansiedelungskommission in einer übrigens (nach dem geltenden Recht) juristisch anfechtbaren Form enthalten ist. 21

21 Der v o n der A n s i e d l u n g s k o m m i s s i o n für Westpreußen und Posen aufgestellte Normalrentengutsvertrag ist abgedruckt als Anlage XIII zu Nr. 42 der Drucksachen des preußischen A b g e o r d n e t e n h a u s e s , 17. Leg.Per., I . S e s s . , 3. Band, 1889. Weber bezieht sich hier speziell auf § 8, 3. Absatz, w o d e m Fiskus für den Fall des nicht ausdrücklich g e n e h migten E i g e n t u m s w e c h s e l s durch Erbgang ein Rückkaufsrecht g e g e n den neuen Inhaber des Rentenguts eingeräumt wird. Die rechtliche Zulässigkeit dieser B e s t i m m u n g bezweifelte Weber s c h o n in seiner fünften und letzten T h e s e anläßlich seiner Promotion 1889. Vgl. Weber, Max, Entwickelung d e s Solidarhaftprinzips und d e s S o n d e r v e r m ö g e n s der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und G e w e r b e g e m e i n s c h a f t e n In den italienischen Städten. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der juristischen Doktorwürde

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Der Raum verbietet eine eingehendere Erörterung des auch technisch-juristisch 4 ' interessanten Problems. Hier konnte nur der Stand der Frage in der Konferenz registrirt werden. Die Freunde des Instituts müssen wünschen, daß es nicht über denjenigen Kreis länd5 licher Besitzungen hinaus ausgedehnt werde, für den es binnen absehbarer Zeit unzweifelhafte Aussicht auf Anerkennung durch das Rechtsbewußtsein der Betheiligten hat.

4) V e r g l . d a r ü b e r z. B . d i e A u s f ü h r u n g e n in d e n M o t i v e n z u m E n t w u r f d e s E i n f ü h r u n g s g e s e t z e s f ü r d a s B ü r g e r l i c h e ] G e s e t z b u c h S. 2 0 5 f f . 2 2

von der J u r i s t i s c h e n Fakultät der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität z u Berlin g e n e h migt und z u g l e i c h mit d e n a n g e h ä n g t e n T h e s e n am 1. A u g u s t 1889 öffentlich z u verteidigen. - Stuttgart: G e b r ü d e r K r ö n e r 1889, S . 58 ( M W G 1/1). 2 2 Entwurf eines E i n f ü h r u n g s g e s e t z e s z u m Bürgerlichen G e s e t z b u c h e , S . 2 0 5 - 2 3 0 .

Die Kampfesweise des Freiherrn v. Stumm

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Anläßlich der Reichstagsdebatte vom 9. Januar 1895 über die sogenannte „Umsturzvorlage" 1 hielt der saarländische Schwerindustrielle Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg, seit 1867 Abgeordneter der Deutschen Reichspartei, eine spektakuläre und folgenreiche Rede, in der er nicht nur einschneidende Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie verlangte, sondern auch die Evangelisch-soziale Bewegung und den „Kathedersozialismus" angriff und beide Gruppen mit jener auf eine Stufe stellte. 2 In diesem Zusammenhang warf er den Nationalökonomen an der Universität Berlin vor, Andersdenkende, die nicht „in das sozialistische Horn" stießen, zu boykottieren. Zudem unterstellte er ihnen die Absicht, sozialdemokratische Studenten mit den übrigen Studenten „in eine Art gemeinschaftlicher Verbindung bringen" zu wollen. 3 Er spielte dabei auf die Unterstützung Adolph Wagners für die im Oktober 1893 gegründete Sozialwissenschaftliche Studentenvereinigung an, die durch Veranstaltungen und Vorträge Hörer aller Fakultäten in das Gebiet der Nationalökonomie und der sozialen Fragen einführen wollte und der eine Reihe sozialistischer Studenten angehörte. 4 Im Dezember 1894 versuchte der antisemitische Verein Deutscher Studenten durch einen Masseneintritt seiner Mitglieder die angeblich jüdische

1 Zur Vorgeschichte der „Umsturzvorlage" und zur Haltung Webers siehe den Editorischen Bericht zu der von Weber unterzeichneten „Erklärung gegen die Umsturzvorlage", unten, S. 8 7 2 - 8 7 7 . 2 Sten. Ber. Band 138, S. 2 0 6 - 2 1 3 . Von Stumm bekräftigte seine Angriffe auf die Evangelisch-soziale Bewegung und den Kathedersozialismus erneut am 7. Februar 1895, ebd., S. 728f. 3 Ebd., S. 210. 4 Vgl. Köhnke, Klaus Christian, Wissenschaft und Politik in den Sozialwissenschaftlichen Studentenvereinigungen der 1890er Jahre, in: Simmel und die frühen Soziologen, hg. von Otthein Rammstedt. - Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 3 0 8 - 3 4 1 ; ferner: Adolph Wagner. Briefe, Dokumente, Augenzeugenberichte 1 8 5 1 - 1 9 1 7 , hg. von Heinrich Rubner. Berlin: Duncker & Humblot 1978, S. 285, Anm. 3, sowie Schultze, Ernst, Die sozialwissenschaftliche Vereinigung, in: Die Zukunft, Band 11, 8. Juni 1895, S. 4 6 6 - 4 6 9 . Auch Max Weber referierte in dieser Vereinigung. Siehe unten, S. 912f. Die Vereinigung war im Oktober 1893 unmittelbar im Anschluß an den ersten sozialwissenschaftlichen Kursus des Evangelisch-sozialen Kongresses gegründet worden.

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Vorherrschaft in der Sozialwissenschaftlichen Studentenvereinigung zu brechen. Diese sah sich daraufhin zur Selbstauflösung gezwungen; als sie sich mit neuen Statuten wieder konstituieren wollte, verweigerte ihr der Universitätsrektor Otto Pfleiderer die erforderliche Genehmigung. Erst im Oktober 1895 unter dem Rektorat Adolph Wagners wurde sie wieder zugelassen. 5 Adolph Wagner, der die studentischen Initiativen auf wissenschaftlicher Ebene unterstützte, griff indes in den um die Jahreswende 1894/95 schwelenden Streit nicht ein und fühlte sich gerade deshalb von den Attakken von Stumms schwer getroffen, dies umso mehr, als sie sich ja auch gegen den Evangelisch-sozialen Kongreß richteten, dessen Mitbegründer er war. Anläßlich einer Versammlung der Christlichsozialen Partei am 18. Januar 1895 in Berlin wies Wagner die Vorwürfe von Stumms entschieden zurück. 6 Daraufhin entspann sich zwischen ihm und von Stumm bzw. dessen Sprachrohr, der „Post", 7 eine erbitterte Kontroverse, in deren Verlauf die „Post" Wagner der Unaufrichtigkeit bezichtigte. Die Auseinandersetzung gipfelte schließlich darin, daß von Stumm Adolph Wagner durch einen Vertrauten - Richard Vopelius - am 25. Januar 1895 eine Duellforderung überbringen ließ.8 Wagner erklärte sich daraufhin bereit, bestimmte Äußerungen gegen von Stumm zurückzunehmen, stellte allerdings die Bedingung, daß auch von Stumm sich von seinen Behauptungen distanziere und zugebe, sie „mangels genügend Information" gemacht zu haben. 9 Dieser Vorschlag wurde ebenso abgelehnt wie das Angebot, die Angelegenheit vor ein Ehrengericht zu bringen. 10 Stattdessen folgte am 27. Januar 1895 in der „ Post" eine Notiz „von Redaktionswegen", in der Wagner, da er die Duellforderung nicht angenommen hatte, indirekt Feigheit unterstellt wurde. Es wurde an die Öffentlichkeit appelliert, über Wagners Ablehnung der Duellforderung zu urteilen. Wagner habe, so hieß es, „unter nichtigen Vorwänden abgelehnt", seine Äußerungen gegen von Stumm zurückzunehmen bzw. die Forderung zum Duell anzunehmen; „überlassen wir", so

5 Köhnke, Wissenschaft und Politik, S. 312-314. Vgl. auch Kampe, Norbert, Studenten und „Judenfrage" im Deutschen Kaiserreich. - Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 170-173. 6 Wagner, Adolph, Mein Konflikt mit dem Großindustriellen und Reichstags-Abgeordneten Freiherrn von Stumm-Halberg, in: Die Zukunft, Band 10,16. Febr. 1895, S. 307-315. 7 Die Tageszeitung „Die Post" war das offizielle Organ der Deutschen Reichspartei. Im folgenden können ihre Artikel nur indirekt zitiert werden, da die Bände für die betreffenden Monate Januar bis März 1895 als verloren gelten müssen. 8 Wagner, Adolph, Meine Duellangelegenheit mit dem Freiherrn von Stumm, in: Die Zukunft, Band 10,2. März 1895, S. 409-411. Wagner faßte seine Artikel noch im selben Jahr zusammen unter dem Titel: Mein Konflikt mit dem Großindustriellen und Reichstagsabgeordneten Freiherrn von Stumm-Halberg. - Berlin: O. Häring 1895. 9 Zitiert nach: Wagner, Meine Duellangelegenheit, S. 414. 10 Ebd., S. 416f.

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schloß der Artikel, „das Urtheil über die Person und das Verhalten des Professors Wagner allen anständig Denkenden." 11 Max Weber hatte diese Auseinandersetzung mit wachsender Aufmerksamkeit verfolgt. Obwohl er sich dem konservativen Adolph Wagner weder politisch noch persönlich in irgendeiner Weise verbunden fühlte, hielt er es für absolut notwendig, gegen die „objektiv betrachtet skandalöse Kampfesweise" des Freiherrn von Stumm das Wort zu ergreifen. Dabei sollte zugleich zum Ausdruck gebracht werden, daß sich die sogenannten „Jungen" der Evangelisch-sozialen Bewegung, also Weber selbst, Friedrich Naumann, Paul Göhre und andere, in diesem Punkte uneingeschränkt hinter Wagner zu stellen bereit waren. 12 Weber war darüber aufgebracht, daß von Stumm diesen Konflikt von einer Zeitung austragen ließ und sich selbst dabei im Hintergrund hielt. Rückblickend bezeichnete er deshalb von Stumm als einen „Wicht, der sich nicht scheut, Sie [Wagner] anonyml zum mindesten indirekt der Unwahrhaftigkeit zeihen zu lassen". 13 Weber entschloß sich offenbar unmittelbar nach Erscheinen des ehrenrührigen Artikels der „Post" vom 27. Januar 1895, in die Kontroverse einzugreifen. Er verfaßte einen „sehr scharf persönlich" gegen von Stumm gerichteten Artikel und sandte ihn der Kreuzzeitung, hielt es aber selbst für fraglich, ob die konservative Zeitung sich zu einem Abdruck bereit finden würde. 14 Webers Befürchtung war berechtigt. Der Chefredakteur der Kreuzzeitung, Wilhelm Freiherr von Hammerstein, schickte ihm den Artikel mit der Bemerkung zurück, daß er, Hammerstein, sollte er die Beleidigung eines Gegners für nötig erachten, sie lieber selber schreibe. 15 Auch die Veröffentlichung einer zweiten, gemilderten Fassung wurde abgelehnt mit dem Argument: „,bei der großen Empfindlichkeit des Kaisers gegen Andeutungen, wie die, daß er unter dem Einfluß des Herrn v. Stumm stehe, würde es von der .Kreuzzeitung' unklug sein, einen Artikel, der das offen ausspreche, zu nehmen.'" 1 6 Seinem Bruder Alfred schrieb Max Weber später, die zweite Fassung sei wegen „Majestätsbeleidigung" abgelehnt worden. 17 Er gab

11 Zitiert nach ebd., S. 417. 12 So rückblickend im Brief an Adolph Wagner vom 14. März 1895. Dieser Brief liegt nur in zwei Abschriften von jeweils unbekannter Hand im Nachlaß Weber vor. ZStA Merseburg, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30/3 und 30/4. 13 Ebd. 14 Brief an Alfred Weber vom 1. Febr. 1895, Abschrift Marianne Weber (masch.), ZStA Merseburg, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30/4. 15 So berichtete Weber in seinem Brief an Clara Weber vom 11. Febr. 1895, ZStA Merseburg, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30/3. 16 Zitiert nach den Worten Webers, ebd. 17 Brief an Alfred Weber vom 24. Febr. 1895, Abschrift Marianne Weber (masch.), ZStA Merseburg, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30/4.

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Bericht

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j e d o c h nicht auf. A m 15. Februar 1 8 9 5 trat v o n S t u m m a u s s e i n e r A n o n y m i tät h e r a u s u n d e r n e u e r t e in d e r „ P o s t " s e i n e A n s c h u l d i g u n g e n g e g e n die E v a n g e l i s c h - s o z i a l e B e w e g u n g , die K a t h e d e r s o z i a l i s t e n u n d W a g n e r . Die Erklärung l a u t e t e : 1 8 „ Berlin 15. Februar 1895. Aus fast allen Theilen Deutschlands, selbst aus Österreich und der Schweiz gehen mir von den verschiedensten Berufsständen so zahlreiche Zustimmungs-Erklärungen zu meinen am 9. Januar und 7. Februar im Reichstage gehaltenen Reden zu, daß es mir besonders seit meiner Erkrankung ganz unmöglich geworden ist, dieselben einzeln zu beantworten. Ich bitte deshalb die Herren Absender, meinen Dank in der Form gegenwärtiger Erklärung entgegennehmen und versichert sein zu wollen, daß ihre Zustimmung mir ein neuer Sporn sein wird, um auf dem betretenen Wege fortzufahren und die Umsturz-Bestrebungen unentwegt zu bekämpfen, mögen sie von Anarchisten oder waschechten Sozialdemokraten, von verblendeten evangelischen Geistlichen oder von dünkelhaften Professoren betrieben werden. Die pöbelhaften, zum Theil auf Fälschung meiner Worte basirten Angriffe, welche von dieser Gesellschaft in urtheilslosen Versammlungen, in der Presse, wie in direkten Kundgebungen gegen mich geschleudert werden, berühren mich nicht mehr, seitdem die streitbaren Herren es ablehnen, für Beleidigungen mit ihrer Person einzutreten. Ich schöpfe sogar aus der Maßlosigkeit dieser persönlichen Angriffe mit Genugthuung den Beweis, wie schwer man sich durch meine Enthüllungen getroffen fühlt und wie wenig Sachliches man mir entgegen zu stellen vermag. Der Größenwahn der grauen Theorie hat in diesen Tagen wahrhafte Orgien gefeiert und auch dem Blödesten die Augen über dieses Treiben öffnen müssen. Möchte man an den maßgebenden Stellen endlich erkennen, daß es vergeblich ist, mit Strafparagraphen gegen den Umsturz vorzugehen, so lange man den pseudowissenschaftlichen und pseudo-christlichen Sozialismus ruhig gewähren läßt. Frhr. v. Stumm-Halberg." D i e s e n Artikel n a h m W e b e r z u m A n l a ß e i n e r e r n e u t e n S t e l l u n g n a h m e g e g e n v o n S t u m m , in d e r er a l l e r d i n g s „ d e n Kaiser m ö g l i c h s t a u s d e m Spiel l i e ß " . 1 9 D i e s e w u r d e , n a c h d e m sie a n d e r t h a l b W o c h e n

liegengeblieben

w a r , 2 0 schließlich a m 26. Februar 1 8 9 5 in d e r K r e u z z e i t u n g v e r ö f f e n t l i c h t . K u r z z u v o r , a m 18. Februar, hatte d e r Kaiser d e m V o r s t a n d d e s B u n d e s d e r L a n d w i r t e e i n e A u d i e n z g e w ä h r t , w ä h r e n d d e r er d e n V o r s t a n d e r m a h n t hatte, „ j e d e r s e n s a t i o n e l l e n Agitation sich z u e n t h a l t e n " . 2 1 O f f e n s i c h t l i c h , so Weber, führte der Chefredakteur der Kreuzzeitung, Hammerstein, diese

18 Die Erklärung war dem späteren Artikel Webers als redaktionelle Anmerkung der Kreuzzeitung beigefügt. Sie wird im folgenden hiernach zitiert, da die entsprechende Ausgabe der „Post" verschollen ist. 19 WieAnm. 17. 20 Brief an Alfred Weber vom 27. Febr. [1895], ZStA Merseburg, Rep.92, Nl. Max Weber, Nr. 4. 21 Ansprache des Kaisers, zitiert nach: Schulthess 1895, S. 47.

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Die Kampfesweise des Freiherrn v. Stumm

„Wendung in der Stimmung des Kaisers gegen die Agrarier auf Stumm zurück". Daher hole er nunmehr den Artikel „aus der Schublade" und werfe ihn Stumm „an den Schädel!" 2 2 Nur diese dritte Fassung ist überliefert. Die Redaktion der Kreuzzeitung fügte ihrem Abdruck der Zuschrift Webers folgende „Nachschrift" hinzu: „Wir haben nicht die Absicht, uns in den Streit Stumm-Wagner einzumischen, glauben aber bei der Einseitigkeit, mit der die ,Post' die Partei des Frhrn.v. Stumm nimmt, der Gegenseite das Wort nicht verschränken zu sollen." Auf den Artikel folgte eine Entgegnung in der „Post", die Weber wenig später mit einem weiteren Artikel parierte. 23

Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Die Kampfesweise des Freiherrn v. Stumm" in der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 96 vom 26. Februar 1895, Ab. Bl., S. 2, erschienen ist (A). Als redaktioneller Zusatz war unterhalb der Überschrift vermerkt: „(Eingesandt.)" Der Artikel ist gezeichnet „Freiburg i.B. Professor Max Weber." In der Bayerischen Staatsbibliothek, München, befindet sich unter der Signatur Ana 446, OM 1, eine maschinenschriftliche Abschrift des Artikels unbekannter Herkunft.

22 WieAnm. 20. 23 In diesem Band abgedruckt, S. 522f.

Die Kampfesweise des Freiherrn v. Stumm

Wäre 3 der Freiherr v. Stumm lediglich der von seiner eigenen Fraktion am meisten gefürchtete Debatteur geblieben, als welcher er sich im Laufe der Jahre, zuerst den Freihändlern, dann den Sozialisten gegenüber, entwickelt hatte, so könnte man seine Äußerungen nach wie vor einfach als Produkte eines die politische Urtheilsfähigkeit ausschließenden Fanatismus behandeln. Das neueste aber, was er von sich gegeben hat: die Erklärung in der „Post" vom 15. d.M. b , trägt Eigenheiten an sich, gegen welche im Interesse der Aufrechterhaltung guter Sitten im politischen Meinungskampfe alsbald protestirt werden muß. Ich greife hier nur eine, die nach jeder Richtung abstoßendste, heraus: Es ist unter ehrenhaften Politikern noch niemals üblich gewesen, persönliche Ehrenhändel politisch zu fruktifiziren, wie es hier durch ihn schon zum zweiten Male geschieht.1 Jeder, der das Duell als eine unter Umständen unentbehrliche Form des Eintretens für seine Überzeugung, wo sie die Ehre des Gegners berührt, anerkennt, konnte ihm sagen, daß ein öffentliches Affichiren derartiger Vorgänge allen Gepflogenheiten bei uns ins Gesicht schlägt. Sie ist eine Geschmacklosigkeit, welche der Freiherr von Stumm bramarbasirenden 0 Parvenüs und Renommisten besser überlassen hätte. Zweierlei tritt erschwerend hinzu. Einmal: Frhr. v. Stumm konnte von jedem, mit den Verhältnissen noch so oberflächlich Vertrauten erfahren, daß seinen Behauptungen, zumal gegen Professor Wagner, auch jeder Schatten von Berechtigung abging. Er war deshalb als Kavalier verpflichtet, sie zurückzunehmen, sobald er dies, wie in diesem Fall, in Ehren konnte. In scharfen Worten

a A: Wie b In A folgt: *> In der dazugehörigen redaktionellen Anmerkung gibt die Kreuzzeitung von Stumms Erklärung wieder; sie wird hier im Editorischen Bericht, S. 515, mitgeteilt. c A: bramabasirenden

1 Das „erste Mal" bezieht sich auf die am 27. Januar 1895 in der „Post" erschienene ehrenrührige Notiz „von Redaktionswegen", hinter der sich von Stumm verbarg und in der Wagner indirekt der Feigheit bezichtigt worden war. Siehe den Editorischen Bericht, S. 513f.

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Die Kampfesweise

des Freiherrn

v.

Stumm

spricht der schöne Erlaß Kaiser Wilhelms I. über die Offizier-Ehrengerichte von dem, der „leichtfertig mit der Ehre eines anderen verfährt." 2 Weiter aber: Frhr. v. Stumm weiß nachgerade, daß von einer „Ablehnung" seiner Forderung nicht die Rede sein kann. Unter Offizieren soll jedem Zweikampf ein Ehrenspruch vorangehen, und kein „Ehrenkodex" - um diesen unsäglich gymnasiastenhaften Ausdruck der „Post" zu verwenden 3 - verbietet, daß dies auch anderwärts geschehe. Ließ Frhr. v. Stumm ein entsprechendes Verlangen ohne weitere Erörterung zu einer „Ablehnung" stempeln, so befand er sich auch hier mit den Thatsachen und allen Gepflogenheiten in „Ehrensachen" im Widerspruch. Es kann unter diesen Umständen nur angenommen werden, daß es ihm bei seinem Vorgehen nicht so wohl auf die Ahndung einer persönlichen Kränkung, als vielmehr lediglich darauf ankam, durch die öffentliche Aufstellung einer solchen Behauptung einen politischen Gegner an irgend einer Stelle zu diskreditiren. Welches aber war diese Stelle? Hüben und drüben bei politischen Freunden und Gegnern konnte er sich von derartigem keinen praktisch werthvollen Effekt versprechen. In den Kreisen, welche das Duell als „Standessitte" pflegen, kann das widerwärtige Zeitungsspektakelstück, zu welchem die Affaire nachgerade geworden ist, nur Achselzucken hervorrufen. Es scheint, daß er glaubte, auf die Person des Monarchen durch die öffentliche, aber darum nicht minder unrichtige Behauptung, die „KathederSozialisten" ständen nicht mit ihrer Person für ihre Äußerungen ein, einen Eindruck zu machen.

2 In dem Vorspann der entsprechenden Verordnung heißt es, daß auf ehrengerichtlichem Wege wegen eines Duells in erster Linie dann eingeschritten werden solle, „wenn ein Offizier in frevelhafter Weise einem Kameraden ohne jede Veranlassung eine schwere Beleidigung zugefügt haben sollte." „Denn", so heißt es weiter, „einen Offizier, welcher im Stande ist, die Ehre eines Kameraden in frevelhafter Weise zu verletzen, werde Ich ebensowenig in Meinem Heere dulden, wie einen Offizier, welcher seine Ehre nicht zu wahren weiß." Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere im Preußischen Heere. Vom 2. Mai 1874. Neuer unveränderter Abdruck. - Berlin: R.v. Decker's Verlag 1882, S.9f. 3 Der von Stumm beauftragte Richard Vopelius hatte in der „Post" zuvor öffentlich erklärt, er habe der „Hineinziehung eines Ehrengerichtes nicht zustimmen [..] können, da ein solches Verfahren dem Ehrenkodex widerspreche". Die Erklärung, die am 29.Januar 1895 in der „Post" erschienen war, ist abgedruckt in: Wagner, Adolph, Meine Duellangelegenheit (wie oben, S. 513, Anm. 8), S. 420.

Die Kampfesweise

des Freiherrn

v.

Stumm

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Man kann es nun einem in seiner Art hervorragenden, gewiß für das Wohl seiner Arbeiter, wie er es einmal versteht, 4 ehrlich besorgten Großindustriellen wohl allenfalls nachsehen, wenn ihn die Beobachtung, daß die Zeit über sein „auf zwei Augen" aufgebautes patriarchalisches System hinwegschreitet, so leidenschaftlich erregt, daß er, auch wo er hier und da in der Sache Recht hat, sich regelmäßig kläglich0 in e seinen Kampfmittelne vergreift und dadurch seine Sache kompromittirt. Er ist auch zu blind, als daß man ihm die furchtbare Schärfung der Klassengegensätze, die sein Auftreten mitverschuldet, noch zurechnen könnte. Hier aber handelt es sich um eine Kampfesweise, welche auch den wildesten Exzessen der Parteiwuth nicht durchgehen dürfte: Er hat hier einen Weg vertreten, welcher, konsequent weiter verfolgt, zu einer Herabwürdigung der Herausforderung zum Zweikampfe, welche grade dessen Anhängern eine ernste Angelegenheit sein müßte, zu einem theatralischen „Koup" führt. Derartiges darf um so weniger geduldet werden, je mehr der Unfug, durch speziell auf die Person des Monarchen berechnete Mittel - ich erinnere nur an die Publikation von Jugendbriefen des Ministers Miquel an Karl Marx durch den Abgeordneten Bebel 5 -politische Gegner „todt machen" zu wollen, sich ohnehin und zwar merkwürdig „allseitig" einzubürgern scheint. Darüber dagegen sind wir beruhigt, daß solche Apostrophirungen an der Stelle, an die sie sich richten zu können glauben, als das gewürdigt werden, was sie sind: läppische Geschmacklosigkeiten.

d A: klüglich

e A: seine

Kampfmittel

4 Bezeichnend für die Stumm'sche Arbeiterpolitik war die Verbindung von sozialer Fürsorge mit der Forderung nach absolutem Gehorsam, nicht nur im betrieblichen, sondern auch im privaten Bereich. Zu dem sogenannten „System Stumm" siehe: Born, Karl Erich, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. - Wiesbaden: Franz Steiner 1957, S. 67f. 5 August Bebel hatte auf dem Kölner Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Oktober 1893 die Abschriften von vier Briefen des preußischen Finanzministers Johannes von Miquel an Karl Marx aus den Jahren 1850 und 1851 vorgelegt. Er verlas den Brief Miquels an Marx vom Sommer 1850, in dem sich Miquel als „Kommunist" und „Atheist" bezeichnete. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Köln am Rhein vom 22. bis 28. Oktober 1893. - Berlin: Vorwärts 1893, S. 2 6 0 - 2 6 2 . Nach einem erneuten Hinweis Bebels auf diese Briefe nahm Miquel am 27. November 1893 im Reichstag zu den Enthüllungen Stellung. Sten. Ber. Band 133, S. 116 und 118f.

Eingesandt

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Am 26. Februar 1895 erschien in der Kreuzzeitung der Artikel Max Webers über „Die Kampfesweise des Freiherrn v.Stumm". 1 Weber schaltete sich mit diesem Artikel in die Duellaffäre zwischen dem Berliner Nationaiökonomen Adolph Wagner und dem saarländischen Großindustriellen Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg ein. 2 Er war von vornherein davon ausgegangen, daß seine Stellungnahme nicht unwidersprochen hingenommen werden würde und hatte deshalb seinen Bruder gebeten, die „Post", das Sprachrohr von Stumms und das offizielle Organ der Deutschen Reichspartei, zu „observieren, damit ich, thut er das Maul auf, ihm alsbald wiederum an die Gurgel springe" , 3 In der Tat erschien am 6. März 1895 in der „Post" ein Artikel ohne Verfasserangabe mit dem Titel „Zweikampf und Ehrengericht". 4 In diesem Artikel wurde nochmals die Duellaffäre Wagner/von Stumm aufgerollt und Adolph Wagner vorgeworfen, die „Offiziersqualität" des Freiherrn von Stumm mißachtet zu haben. Von Stumm habe als Offizier nicht anders handeln können, Wagners Vorschlag einer schiedsgerichtlichen Einigung also ablehnen müssen. Am Schluß des Artikels nahm ein langer Absatz Bezug auf Max Webers Stellungnahme und kritisierte sie scharf. Es sei Adolph Wagner gewesen, der die Vorgänge an die Öffentlichkeit gezogen habe, nicht aber von Stumm oder die „Post". Letztere habe die Vorgänge in „denkbar knappster Weise" am 27. Januar 1895 in ihrer Nr. 26 der Öffentlichkeit dargestellt und damit nur auf die öffentlichen Beschuldigungen

1 In diesem Band abgedruckt, S. 517-519. 2 Zur Vorgeschichte siehe den Editorischen Bericht zu diesem Artikel, oben, S. 512-516. 3 Brief an Alfred Weber vom 27. Febr. [1895], ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 4. 4 Die Post, Nr. 64 vom 6. März 1895, 1. Beilage. Ein Exemplar dieses Artikels ist in den Akten des preußischen Kultusministeriums überliefert. ZStA Merseburg, Rep. 76 Va Sekt. 1 Tit. IV Nr. 44 Band 1, Bl.98f. Die übrigen hier relevanten Artikel der „Post" müssen als verschollen gelten.

Editorischer

Bericht

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W a g n e r s reagiert. 5 Da Weber in s e i n e m im f o l g e n d e n a b g e d r u c k t e n „Einges a n d t " auf die g e g e n ihn gerichtete Passage unmittelbar B e z u g nimmt, wird sie hier vollständig w i e d e r g e g e b e n : 6 „Was unsere Ausführungen über die thatsächlichen Verhältnisse bei Ehrensachen betrifft, so möchten wir dieselben besonders dringend dem Professor Max Weber in Freiburg empfehlen, der, wie wir hören, Reserve-Offizier sein soll. Sollte ihm aber unsere Auseinandersetzung noch nicht genügen, so sind gewiß ältere Kameraden in seiner näheren Umgebung in der Lage, ihm die Sicherheit des Urtheils in Ehrenhändeln zu geben, welche man in seinem .Eingesandt' (Kreuz-Zeitung Nr. 96) nur allzusehr vermißt. Namentlich muß die Bemängelung des Herrn Professors Weber, ,ein öffentliches Affichiren derartiger Vorgänge widerspreche allen Gepflogenheiten', zurückgewiesen werden. Da die Beleidigung eine öffentliche war, so mußte die Öffentlichkeit wissen, wie der weitere Verlauf sich gestaltet habe. Das ist in denkbar knappster Weise in Nr. 26 der Post geschehen. Die Einzelheiten hat erst Professor Wagner affichirt."

Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der A b d r u c k folgt d e m Text, der unter der Überschrift „ E i n g e s a n d t " in der N e u e n Preußischen Z e i t u n g (Kreuzzeitung), Nr. 119 v o m 12. März 1895, Mo.BI., S . 3 , erschienen ist (A). Der Artikel ist g e z e i c h n e t „Freiburg i.B. Professor Max Weber." In der Bayeris c h e n Staatsbibliothek, M ü n c h e n , befindet sich unter der Signatur Ana 446, O M 2, eine maschinenschriftliche Abschrift d e s Artikels unbekannter Herkunft.

5 In dieser Notiz „von Redaktionswegen" wurde Wagner, weil er die Duellforderung von Stumms abgelehnt hatte, indirekt Feigheit vorgeworfen. Der Artikel appellierte explizit an die Öffentlichkeit, über Wagners Ablehnung der Duellforderung zu urteilen. Die Notiz ist abgedruckt in: Wagner, Adolph, Meine Duellangelegenheit (wie oben, S. 513, Anm.8), S.417. Vgl. auch den Editorischen Bericht zu Webers Artikel „Die Kampfesweise des Freiherrn v. Stumm", oben, S. 513f. 6 Wie Anm. 4.

Eingesandt

Soeben kommt mir die „Post" vom 6 . d . M . zu Gesicht, in der ein anonymer Artikel über „Zweikampf und Ehrengericht" sich auch mit mir befaßt. Ich nehme an, daß der Verfasser mit demjenigen der Stummschen „Myrmidonen", 1 der in der „Post" vom 1. d.M. 2 von meiner „unqualifizirbaren" Gesinnung ebenfalls anonym sprach, nicht identisch ist. Einen der „älteren Kameraden", deren Belehrung er mich empfiehlt, kann ich in ihm freilich auch nicht vermuthen. Ein solcher hätte schwerlich über einen Ehrenhandel öffentlich anders als unter seinem Namen sich geäußert. Ebensowenig hätte er Ansichten wie die aufgestellt: „Da die Beleidigung eine öffentliche war, so mußte die Öffentlichkeit wissen, wie der weitere Verlauf sich gestaltet habe." Der „Öffentlichkeit" lag an dieser Wissenschaft gewiß nichts, und für einen Offizier in Ehrensachen ist sie niemals die zur Beurtheilung zuständige Instanz. Gerade er darf sie gar nicht anrufen. Er muß vielmehr für sich das Vertrauen in Anspruch nehmen, daß er seine Ehre zu wahren gewußt habe, ohne darüber dem Zeitungspublikum einen unerbetenen Bericht zu erstatten. Obendrein entsprach nun hier jener Bericht - die Notiz in der „Post" 3 nicht einmal derjenigen Darstellung, die der „Post"-Anonymus jetzt von dem Verlauf der Sache giebt, und diese Darstellung wiederum wird von Professor Wagner fast durchweg angefochten. - Danach wird niemand glauben, daß Frhr. v. Stumm durch die Herbeiführung jener Notiz etwa einer Pflicht gegen seine Offiziersqualität genügen wollte. Gegenüber meiner Deutung seiner Motive konnte er schweigen. Dann überließ er der „Öffentlichkeit", dieses Schweigen günstig oder ungünstig für ihn zu deuten. Selbst aber zu schweigen und die Vertretung seines Verhaltens in Ehrensachen anderen, zumal

1 Anspielung auf „ameisenhafte Geschäftigkeit und Vielzahligkeit". Die Myrmidonen, bekannt als ein archaischer Volksstamm Thessaliens, wurden nach der Sage von Zeus aus Ameisen geschaffen. 2 Dieser Artikel ist nicht mehr nachzuweisen. 3 Gemeint ist die Notiz „von Redaktionswegen" in der „Post", Nr. 26 vom 27. Januar 1895. Vgl. auch Anm. 5 im Editorischen Bericht, oben, S. 521.

Eingesandt

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anonymen Artikelschreibern zu überlassen, - das war jedenfalls dann schwerlich das Richtige, wenn er wirklich Gewicht darauf legen sollte, sein Verhalten speziell mit Berücksichtigung seiner jetzt plötzlich hervorgehobenen Offiziersqualität beurtheilt zu sehen. Wenn 5 endlich ihn, bez. seinen anonymen Preßfreund meine größere Jugend, wie es scheint, gestört hat, so muß ich daran erinnern, daß auf dem Kampfplatz, den der Frhr. v. Stumm betreten zu wollen schien, die Altersunterschiede nicht zu gelten pflegen. Mir scheint im übrigen, daß die „Öffentlichkeit" nachgerade der weiteren Erörterung 10 dieser Sache herzlich satt sein dürfte, und ich werde auf weitere Artikel dieser Art nicht mehr antworten. Mit der formal verantwortlichen Redaktion der „Post" insbesondere, mich an dieser Stelle über Fragen solcher Art auseinanderzusetzen, wäre ein Mißbrauch der Gastfreundschaft, welche die „Kreuzzeitung" in ritterlicher Weise 15 einem sonst politisch Andersdenkenden in ihren Spalten gewährt hat.

Römisches" und „deutsches" Recht

Editorischer Bericht

Zur Entstehung Die Veröffentlichung des ersten Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs 1888 ließ die Diskussion über den Charakter des „deutschen" gegenüber dem „römischen" Recht wieder aufleben. Es erschien eine kaum noch übersehbare Fülle von Schriften, die sich kritisch mit dem Entwurf auseinandersetzten. Die Verfasserwaren zumeist Professoren, Rechtsanwälte oder Richter. Auch ließen die Deutschen Juristentage und alle Bundesregierungen Gutachten anfertigen. Ebenso befaßten sich die Vereinigungen des Handels, der Industrie und der Landwirtschaft sowie alle größeren Tageszeitungen mit dem Entwurf. 1 Aus dieser Fülle von Veröffentlichungen ragten vor allem zwei Kritiker heraus, die sich gegen den dem Entwurf zugrundeliegenden rechtswissenschaftlichen Positivismus wandten und demgegenüber eine stärkere Berücksichtigung sozialer Faktoren verlangten. Anton Menger, Professor für österreichisches Zivilprozeßrecht in Wien, übte vom sozialistischen Standpunkt aus scharfe Kritik an dem Entwurf. Der Berliner Jurist Otto Gierke hingegen unterzog den Entwurf einer Kritik vom sozialkonservativen, deutschrechtlichen Standpunkt aus. Er beklagte die mangelnde Berücksichtigung des „sozialen Rechts", das er im germanischen und deutschen Recht verwirklicht sah. 2 Der Entwurf, so Gierke, offenbare zwar „manche lobenswerthe Eigenschaft": „Nur ist er nicht deutsch, nur ist er nicht volksthümlich, nur ist er nicht schöpferisch - und der sittliche und soziale Beruf einer neuen Privatrechtsordnung scheint in seinen Horizont überhaupt nicht eingetreten zu s e i n ! " 3 Die heftige Kritik, die an dem Entwurf geübt wurde, führte im Dezember 1890 zur Bestellung einer zweiten Kommission seitens des Bundesrates,

1 Einen Überblick über die Auseinandersetzung mit dem ersten Entwurf in der Öffentlichkeit gibt Schubert, Werner, Die Entstehung der Vorschriften des BGB über Besitz und Eigentumsübertragung. - Berlin: de Gruyter 1966, S.35f. 2 Vgl. Pfeiffer-Munz, Susanne, Soziales Recht ist deutsches Recht. Otto von Gierkes Theorie des sozialen Rechts, untersucht anhand seiner Stellungnahmen zur deutschen und schweizerischen Privatrechtskodifikation.-Zürich: Schulthess 1979, bes. S. 6ff., 28f. 3 Gierke, Otto, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 12. Jg., 1888, S. 844.

Editorischer Bericht

525

die den Entwurf einer Überarbeitung unterziehen sollte. 4 Die Tätigkeit dieser Kommission zog sich bis Oktober 1895 hin. Durch Veröffentlichungen im Reichsanzeiger, anderen Zeitungen und Zeitschriften wurde die Öffentlichkeit über die Arbeit der Kommission fortlaufend informiert. Die Tatsache, daß dem „deutschen" Recht ein spezifisch sozialer Charakter zugeschrieben wurde, führte zudem dazu, daß in der sozialpolitischen Aufbruchstimmung der frühen 1890er Jahre die Debatte weit über die Fachkreise hinausgetragen wurde und sich auch die Evangelisch-soziale Bewegung daran beteiligte. In diesem Zusammenhang bat Martin Rade, der Herausgeber der „Christlichen Welt", Max Weber um eine Stellungnahme zu diesen Problemen. Die weiteren Umstände der Einbeziehung Webers sind nicht bekannt. Rückschauend berichtete Max Weber über seinen Artikel: „Aber längst habe ich mich überzeugt, daß gerade die ,agrarkapitalistischeri Institute (z.B. die moderne Hypothek, darüber habe ich mich Gierke gegenüber einmal geäussert in der .christlichen Welt'), welche die romanistischen Völker in ihren entscheidenden Zügen gar nicht kennen gelernt haben, durchaus germanische Gewächse sind. Staatspapiere und Handelsgesellschaften erst recht, sodaß man geradezu das deutsche Recht als juristische Hebamme wichtigster kapitalistischer Institutionen ansehen muß." 5

Zur Überlieferung

und Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „.Römisches' und .deutsches' Recht", in: Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Leipzig, Nr. 22 vom 30. Mai 1895, Sp. 5 2 1 - 5 2 5 , erschienen ist (A). Der Artikel ist gezeichnet: „ Max Weber".

4 Siehe auch für das folgende: Schubert, Werner, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB. - Berlin, New York: de Gruyter 1978, S. 5 7 - 6 1 . 5 Brief an Georg von Below vom 23. Aug. 1905, Abschrift Marianne Weber (masch.), ZStA Merseburg, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30/4.

Römisches" und „deutsches" Recht

D e r Herr Herausgeber ersuchte mich, ihm über den Komplex von Erörterungen und Kontroversen, die man unter dem vorstehenden Etikett zu katalogisiren pflegt, einige Zeilen zur Verfügung zu stellen. In einem kurzen Artikel an dieser Stelle über diese technisch schwierigsten rechtshistorischen und rechtspolitischen Fragen überhaupt etwas zu sagen, wäre schlechthin leichtfertig und widersinnig, wenn nicht gerade in den Köpfen der jüngern sozialpolitisch interessirten geistlichen Kreise darüber, um was man unter jenen Schlagworten eigentlich streitet, zum Teil eine geradezu trostlose Verwirrung der Vorstellungen angerichtet wäre. Das römische Recht ist der sozialpolitische Sündenbock: breit Kreise glauben allen Ernstes, die Rezeption des römischen Recht in Deutschland trage den wesentlichsten Teil der Schuld an der Entwicklung der sozialen Schäden der Gegenwart, die „Rückkehr zum deutschen Recht" sei eins der Hauptschemata für eine moderne „Lösung der sozialen Frage." Dabei wird die Gesamtheit der vom sozialreformerischen Standpunkte mißliebigen Rechtsinstitute der Gegenwart dem römischen Recht zugewiesen, und mit einer A r t von Rechtschauvinismus alles, was die Gegenwart an rechtspolitischen Reformideen gezeitigt hat, oder was dem subjektiven Sehnen des Reformers entspricht, für das „deutsche" Recht konfiszirt. Es wird nicht daran gedacht, daß - um Beispiele zu nennen - die Rechtsformen der modernen Börsengeschäfte (so das Reportgeschäft) spezifisch germanistische Struktur zeigen, daß die Ausgestaltung des Bodenrechts Englands, die in der That einer der Hebel zur kapitalistischen Bodenkonzentration und zur Entwurzelung des englischen Bauernstandes war, ganz auf germanischem Rechtsformalismus beruht, daß andrerseits die ziemlich kümmerliche Rechtsidee des projektirten sogenannten „Heimstättenrechts" in dem Hauptpunkt, der bevormundenden ökonomisch uninteressirten „Heimstättenbehörde", nicht sowohl germanisch, als vielmehr preußisch-büreaukratisch gedacht war. 1

1 Hauptziel der Heimstättenbewegung, die in den 1890er Jahren ihren Höhepunkt erreichte, war der Schutz des ländlichen Kleinbesitzes vor Zwangsvollstreckung. Zu dem

Römisches"

und „deutsches"

Recht

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Der Irrtum ruht aber auf einer weit breitern Basis, als auf der einen bloßen Unkenntnis rechtshistorischer Thatsachen. Es kehrt auch hier die Erscheinung wieder, daß die Symptome einer ökonomischen Erscheinung mit ihren Gründen verwechselt werden, und daß man mit dem Versuch der Beseitigung jener diese bekämpfen zu können meint. Die Übernahme gewisser Sät2e des römischen Rechts entsprang gewissen rein technischen Verkehrsbedürfnissen, sie war insoweit nur die Folge einer bestimmten Höhe der ökonomischen Entwicklung; die gleichen oder ganz ähnliche Rechtssätze hätte der Verkehr sich später geschaffen, wenn sie nicht importirt worden wären. Ein andrer Komplex von Rechtssätzen dagegen war die Waffe, mittelst deren bestimmte zur ökonomischen Macht gelangende Klassen ihre Interessen durchsetzten. Hier war dann aber das Entscheidende die Frage der Machtlage. Die Anwendung des römischen Rechts war nur eins der Kampfmittel, die verwertet wurden, und wo dies Kampfmittel versagte, traten andre an die Stelle. Die deutschen Grundherrn setzten, als sie im Interesse der Entwicklung landwirtschaftlicher Großbetriebe aus der agrarischen Gebundenheit des Mittelalters herausstrebten und ihre Bauern legen wollten, gegen diese teilweise auch das „römische Recht" in Bewegung; die irischen Landlords entnahmen ihre Schablone, um die irische Landbevölkerung um ihr Bodenrecht zu bringen, dem englischen Pachtrecht, indem sie das Claneigentum als Privateigentum des Häuptlings, dessen Rechtsnachfolger sie waren, deuteten. 2 Als die liberalen Büreaukraten der zwanziger Jahre im Wege der Gemeinheitsteilungsordnungen 3 mit förmlicher Animosität gegen Allmenden und Waldnutzungen wüteten, konnte man an überwiegende Einflüsse „romanistischer" .Rectevorurteile denken: bei der ersten „Stein-Hardenbergschen Agrargesetzgebung" mit Ablösungen, Verbot von Frohnden

hauptsächlich von konservativer Seite geplanten Heimstättenrecht siehe W e b e r s Gutachten für den 24. Deutschen Juristentag und den dazugehörigen Editorischen Bericht, unten, S. 6 4 1 - 6 6 6 . 2 Die englische Eroberung Irlands führte im 17. Jahrhundert zur A b l ö s u n g der keltischen clanschaftlichen Agrarverfassung durch das englische Zeitpachtsystem. Vgl. Jaffe, Moritz, Die Entwickelung d e s irischen Pachtwesens v o n 1700 bis zu den A n f ä n g e n der Agrarreform, in: Jahrbuch für G e s e t z g e b u n g , Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 19. Jg., 1895, bes. S . 8 1 2 f . 3 G e m e i n t ist die preußische G e m e i n h e i t s t e i l u n g s o r d n u n g v o m 7. Juni 1821, GS 1821, S. 5 3 - 7 7 , die die Ü b e r f ü h r u n g von gemeinschaftlich g e n u t z t e m Boden in Privateigentum regelte. Siehe auch oben, S. 95.

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u.s.w., 4 derjenigen der Stadt Florenz unter der Herrschaft des parte | 522 guelfa, der kapitalstarken Zünfte, zu einer Zeit, als diese die Versetzung unter die „Nobili" als politische Strafe handhabten, 5 sieht man, daß es ökonomische und politische Mac/irinteressen des Bürgertums sind, die die Sprengung der Grundherrschaften und der agrarischen Gebundenheit herbeiführten. Nicht Ursache, sondern Begleiterscheinung und Symptom der gleichzeitigen sozialen Verschiebungen war die Aufnahme des römischen Rechts. Damit ist nicht gesagt, daß die in jenen wirtschaftlichen Machtverschiebungen liegende soziale Entwicklungstendenz nicht unter Umständen durch die Rechtsformen, in die sie sich kleidete, also je nachdem auch durch das römische Recht, verstärkt worden wäre und noch würde. Das ist vielmehr zweifellos der Fall gewesen. Und ebenso ist es unfraglich, daß die Anwendung des römischen Rechts auch in jenen Fällen, wo es nicht bewußt in den Dienst der Klasseninteressen gestellt, sondern seiner technisch höhern Vollkommenheit wegen übernommen wurde, einschneidende Wirkungen gehabt hat, - aber nicht weil es „römisches", sondern weil es juristisch-technisch vollkommeneres Recht war. Diese Wirkungen beruhten auf einem allgemeinen Gesetze, dem nicht nur das Recht untersteht. Fortschritte der Technik pflegen zunächst dem ökonomisch Stärkern zu gute zu kommen, und was für die Werkzeugstechnik gilt, gilt auch für das Recht. Nehmen wir ein Beispiel - das des Hypothekenwesens, auf dem besonders Mißbrauch mit wirklichen oder vermeintlichen Wirkungen des angeblich deutschen und angeblich römischen Rechts getrieben zu werden pflegt. Das juristisch-technisch vollkommenste Hypothekenrecht besitzt zur Zeit Preußen, namentlich im Gegensatz zu Frankreich und dem Südwesten Deutschlands. 6 Ein Gläubiger, dem in Frankreich ein 4 W e b e r bezieht sich auf die Kernstücke der v o n Stein eingeleiteten und von Hardenberg fortgeführten preußischen A g r a r r e f o r m g e s e t z g e b u n g z w i s c h e n 1807 und 1821. Siehe oben, S. 95, A n m . 10. 5 Weber spielt hier auf die A g r a r r e f o r m e n an, die die guelfische Partei bzw. die großen Zünfte in Florenz v o r n e h m l i c h im 14. Jahrhundert und zu Beginn des 15. Jahrhunderts g e g e n die ghibeliinischen Großgrundbesitzer durchsetzten. Siehe dazu: Pöhlmann, Robert, Die Wirthschaftspoiitik der Florentiner Renaissance und das Princip der Verkehrsfreiheit. - Leipzig: S. Hirzei 1878, S. 1 - 1 7 , bes. 3 - 5 . Die Adligen waren während dieser Zeit in Florenz v o n allen politischen Ä m t e r n a u s g e s c h l o s s e n . 6 Bis zur Einführung des B G B waren in Deutschland drei H y p o t h e k e n s y s t e m e in Kraft: 1) das aus Frankreich ü b e r n o m m e n e und dort gültige Trans- und Inskriptionssystem, 2) das

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Grundstück verpfändet wird, hat nicht das Maß von Sicherheit, daß der Verpfänder wirklich Eigentümer ist, noch ob und für welchen Betrag das Grundstück etwa schon vorher einem andern verpfändet worden ist, der ihm also vorgeht, noch endlich ist er dagegen, daß allerlei Vorrechte von Ehefrauen u.s.w. auf dem Grundstück haften, die im Fall der Exekution und des Zwangsverkaufs ihm vorgehen, sichergestellt, wie dies unter dem preußischen Grundbuchsystem der Fall ist. a Ebenso ist er nicht sicher, daß nicht bei Subhastationen ihm sein Geld vorzeitig zurückgezahlt wird, 3 obwohl er dem Gläubiger, der den Zwangsverkauf veranlaßte, in der Regelung vorausging, oder gar, daß trotz diesem letzteren Umstände der Preis des Grundstücks im Zwangsverkauf seine eigne Forderung nicht deckt. Alles dies ist nach preußischem Subhastationsrecht ausgeschlossen. 7 Was ist die Folge? Eine verzinsliche Hypothekenforderung ist in Frankreich und im Südwesten in außerordentlich viel geringerm Maß eine geeignete Form der Vermögensanlage als in Preußen, wo jeder, der die Möglichkeit hat, mit Freuden sein Kapital durch Kauf von Hypothekenforderungen Zinsen tragen läßt. Der verleihende Gläubiger rechnet dort auf regelmäßige Rückzahlungen, und solche pflegen auch vereinbart zu werden; der Schuldner ist indirekt genötigt, seine Schuld abzutragen. In Preußen ist das anders: der Gläubiger will sein Geld gar nicht vom Schuldner zurückhaben, so wenig wie der Staatsgläubiger das seinige vom Staat, sondern ihm liegt nur an den Zinsen; je länger der Schuldner die Schuld unabgetragen läßt, um so besser für die Gläubiger - die „Sicherheit" der Hypothek vorausgesetzt. Braucht der Gläubiger das Kapital, so kann er es ja durch Verkauf der Hypothekenforderung sich beschaffen, ebenso wie der Besitzer von Staatsschuldscheinen. Es fällt jener indirekte Zwang zur Abzahlung der Schuld, wie ihn die geringere

a Lies: E b e n s o ist er nicht sicher, daß bei Subhastationen ihm sein Geld vorzeitig zurückgezahlt wird,

Hypothekenbuchsystem, 3) das Grundbuchsystem. Das letztere galt in Preußen. Im Gegensatz zu den beiden anderen Systemen mußte nach dem Grundbuchsystem der gesamte dingliche Rechtszustand eines Grundstückes aus dem Grundbuch ersichtlich sein. 7 Im preußischen Zwangsvollstreckungsgesetz vom 13. Juli 1883 wurde die Reihenfolge, in der die Gläubiger bei Zwangsversteigerungen befriedigt werden mußten, genau festgelegt. GS 1883, S. 138 ff.

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rechtliche Sicherheit der französischen Hypothek herbeiführt, fort, und die Folge - natürlich nicht hiervon allein oder auch nur in erster Reihe, aber doch eben auch hiervon - ist der chronische Charakter eines großen Teils der Hypotheken Verschuldung in Preußen, der sonst nur vorübergehend auf dem Boden lasten würde, wie dies in dem ungeheuern Unterschied der Hypothekenschuld Preußens gegen die französische deutlich zu Tage tritt. Die Tributpflicht des Bodens an die Städte und die Kapitalisten ist dadurch bedeutend verbreitert und überdies der deutsche Zinsfuß in die Höhe getrieben, A 523 der wesentlich niedriger wäre, wenn etwa 10Milliarden | Anlagekapitalien mehr sich an den Markt drängten, die jetzt in Hypotheken dauernd festgelegt bleiben, und die die goldnen Klammern verstärken, wodurch die derzeitige Bodenverteilung im Interesse der Zinsgläubiger, die die Parzellirung verpfändeter Grundstücke nicht rechtlich, aber faktisch unmöglich machen können, festgelegt ist. Die bürgerlichen Gläubiger sind die ökonomisch Stärkeren: sie haben den Vorteil von der technischen Verbesserung der Hypothekengesetzgebung. Oder, um dem gleichen Gebiet ein zweites anderweitiges Beispiel zu entnehmen: die Mannheimer Hypothekenbank reformirt zur Zeit das ländliche Kreditwesen Badens in einer Art, die der Geschäftseinsicht ihres Leiters nur zur Ehre gereichen kann. 8 Sie giebt den Bauern Darlehen zu einem Zinsfuß und vermutlich auch in einer Rechtsform, die die Abtragung der Schuld erleichtern und herbeiführen, in einer Art, wie dies die bisherigen Privatgläubiger, zu denen namentlich die Sparkassen gehören, nicht thun wollten noch konnten. Die Sparkassen vornehmlich sind es, die als Gläubiger der Bauern verdrängt werden und der frühern Anlagegelegenheit beraubt, ihren Zinsfuß herabsetzen müssen: - die Sparkasseneinleger sind die kleinen Leute, die Käufer der Pfandbriefe der Hypothekenbank die Kapitalisten. Auch hier kommt die juristischtechnische Verbesserung den ökonomisch Stärkern zu gute. Beiläufig bemerkt kann in diesen Fällen nicht das römische Recht dafür verantwortlich gemacht werden. Im Gegenteil. Die preußische Hy8 Direktor der 1871 g e g r ü n d e t e n R h e i n i s c h e n H y p o t h e k e n b a n k in M a n n h e i m war der bei J o h a n n C a s p a r Bluntschli habilitierte Jurist Felix Hecht, der eine R e i h e wichtiger U n t e r s u c h u n g e n i n s b e s o n d e r e über das ländliche D a r l e h e n s w e s e n veröffentlichte. Darin vertrat er die Ansicht, daß e s notwendig sei, die a u f g e n o m m e n e n H y p o t h e k e n jeweils z u L e b z e i ten d e s S c h u l d n e r s w i e d e r z u tilgen, um einer d a u e r n d e n V e r s c h u l d u n g d e s G r u n d b e s i t zes vorzubeugen.

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pothek steht dem mittelalterlichen deutschen Rentenkauf ebenso nahe, wie die französische Hypothek der römischen: das Moment der höherstehenden juristischen Technik ist das entscheidende, und nur da, wo diese den in Frage stehenden römischen Rechtsinstituten innewohnt, tritt unter Umständen diese eigenartige Wirkung ein. Der Kampf gegen eine technisch vollkommne Ordnung des Grundverschuldungswesens ist analog dem frühern Kampf der Handarbeit gegen die Maschine. Es wäre hier wie dort ein höchst unpraktischer Weg, die einmal gewonnene höhere Technik zurückschrauben zu wollen, um soziale Vorteile zu erzielen; nur die Änderung des sozialen und ökonomischen Untergrundes trifft das, was man treffen will, an der Wurzel. Es ist aber überhaupt regelmäßig lediglich eine Unklarheit, wenn man mit dem Schlachtgeschrei „deutsches Recht!" schon irgend etwas gesagt zu haben meint, und womöglich den Evangelisch-sozialen Kongreß dafür aufzubieten, wäre geradezu eine Spielerei. Nicht die ästhetische Freude an einer wirklich oder vermeintlich „germanistischen" Rechtsform als solcher, sondern ihre soziale Praktikabilität für die heutigen deutschen Zustände muß das bei der Beurteilung Maßgebende sein. Wer sich - wie es vorkommt - ausschließlich an jenem Schlachtrufe berauscht, ist ein „Weltverbesserer", d.h. nicht ein wahrer, sondern ein solcher in Gänsefüßchen, dem nüchterne Sozialpolitiker im Bogen aus dem Wege gehen. Denn das Charakteristikum des „Weltverbesserers" ist sein Aberglaube an gewisse juristische Universalrezepte: die Bodenverstaatlicher, 9 gewisse extreme Spielarten der Bimetallisten, 10 manche Anhänger des Antrags Kanitz 11 und ähnliche sektenhafte Fanatiker mit ihrem Glauben an die

9 Anspielung auf den Deutschen Bund für Bodenbesitzreform, der die Abschaffung des privaten Grundbesitzes forderte. 10 Weber wandte gegen die bimetallistische Bewegung, die ein auf internationalen Verträgen beruhendes Doppelwährungssystem anstrebte, ein, daß sie von der falschen Voraussetzung einer internationalen „Kulturgleichheit" ausgehe und bei aller berechtigten Kritik an dem Goldstandard letztlich der deutschen Volkswirtschaft schade. Vgl. oben, S. 301 f. Welche „extreme Spielarten" er meinte, konnte nicht ermittelt werden. 11 Der 1894 erstmalig im Reichstag eingebrachte Antrag des Konservativen Hans Wilhelm Alexander Graf Kanitz sah ein staatliches Getreidehandelsmonopol vor. An- und Verkauf des zum Verbrauch im Inland bestimmten ausländischen Getreides sollten ausschließlich auf Rechnung des Reiches erfolgen und der Getreidepreis künstlich hochgehalten werden. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs.-Stuttgart: W. Kohlhammer 1982 2 , S. 1079f.

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absolut zentrale Bedeutung gerade ihrer speziellen Idee sind Beispiele dafür, und ähnlich steht es auch mit der nicht ganz kleinen Schar der populären Wald- und Wiesengermanisten, deren Treiben fast ebenso unfruchtbar ist wie die philiströse und nachgerade widerwärtige Pedanterie der Sprachreinigungsfexe 12 und die ernste Kritik der Rechtsformen z.B. des bürgerlichen Gesetzentwurfs, die von hervorragenden wissenschaftlichen germanistischen Autoritäten ausgeht, 13 nur kompromittirt. Diese Kritik richtet sich zum Teil gegen die technische Gestaltung des Rechtsformalismus des Entwurfs, und insoweit ist sie schlechterdings zu einer Erörterung außerhalb der wirklich technisch sachverständigen Kreise nicht geeignet. Thatsächlich ist in dieser Hinsicht der entscheidende Punkt die unzulängliche Durchbildung des juristischen Nachwuchses, der einen andern Rechtsformalismus als den römischen überhaupt nicht wirklich gründlich kennen zu lernen pflegt. Ein andrer Teil der Kritik will historisch bei uns erwachsene Institutionen, namentlich des Agrarrechts, gegen die Nivellirung schütA 524 zen, die im ökonomischen Interesse gewisser | bürgerlicher Kreise liegt. Er könnte des Hinweises auf die vermeintlich spezifisch „deutsche" Qualität seiner Schützlinge entbehren, denn in Wahrheit ist nicht diese, sondern sind politische und sozialpolitische Erwägungen maßgebend. Wenn man für gewisse Reformpläne auf dem Gebiet des modernen Realkredits Propaganda machen will mit der Bemerkung, sie seien „deutsches" im Gegensatz zum „römischen" Recht, so ist das Unfug. Auch Institute wie das Anerbenrecht wollen heute doch besser als durch Polemik gegen den Romanismus begründet sein, zumal der heut praktische Gegensatz dagegen, die Realteilung der Höfe nach französisch-rheinischem Rechte, durchaus nicht auf spezifisch römischer Grundlage sich entwickelt hat, sondern^,] wenn man überhaupt nach einer solchen suchen will, eher auf germanistische Wurzeln rückführbar ist. Endlich giebt es unzweifelhaft Fälle, wo jenes Nivellirungstreiben sich nicht mit politischen Erwägungen, sondern mit gewissen volks-

1 2 A n s p i e l u n g auf die v o r n e h m l i c h v o m A l l g e m e i n e n D e u t s c h e n S p r a c h v e r e i n seit 1 8 8 5 propagierte „ R e i n i g u n g " der d e u t s c h e n S p r a c h e v o n Fremdwörtern. - F e x e bedeutet Narren. 1 3 G e m e i n t ist vor allem Otto G i e r k e . Vgl. oben, S. 524.

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tümlichen Gerechtigkeitsbegriffen in Widerspruch setzt - und hier ist denn allerdings der Ort, wo für den konkreten Fall vom spezifisch „deutschen" Rechtsbewußtsein - aber nicht dem der Vergangenheit, sondern dem der Gegenwart - mit Recht auszugehen ist. Allein auch hier handelt es sich in einem großen Bruchteil der Fälle nicht um den Kampf gegen die „römische" Qualität des Rechts, sondern gegen die formale Betrachtungsweise des Juristen, wenn auch beides aus Gründen, die in der Geschichte des Rechtsunterrichts liegen, nicht ganz außer Zusammenhang steht. Die Erscheinung der zunehmenden ausschließlich formalen Denkfähigkeit der Juristen hängt vielmehr mit Momenten auf dem Gebiete der Zivilrechtspflege zusammen, die in der That zu sehr ernsten Betrachtungen wohl herausfordern können. Was der sozialen Bedeutung des Privatrechts heute den empfindlichsten Abbruch thut, ist nicht sein Inhalt, sondern neben dem Umstand, daß für die breite, besitzlose Masse der Nation das Privatrecht eine unmittelbar fühlbare Bedeutung nun einmal nur in geringem Maße haben kann, besonders die veränderte Stellung der Zivilrechtspflege im Volksleben. Die Trennung der Justiz von der Verwaltung und die Garantie für die „Unabhängigkeit" der Richter waren unentbehrliche Fortschritte, aber sie haben die Richter und damit die Justiz in ihrer sozialen Bedeutung nicht gehoben. Daß in Preußen der Landrat gesellschaftlich eine ganz andre Position einnimmt als der Amtsrichter, hat seinen Grund zum Teil in seiner wesentlich prekäreren Lage, die ihn bei jedem ernstlichen Verstoß b gegen die Anstands- und Ehrbegriffe der in dieser Beziehung sozial maßgebenden Kreise annähernd vor die Existenzfrage stellt, während der Richter, bevor an ihn die Chance auch nur einer Zwangsversetzung tritt, schon annähernd in der Gosse gefunden sein muß. Die Stellung als Landrat ist eine bestimmte gesellschaftliche Qualifizirung der Person, diejenige als Richter nicht. - Dazu tritt nun ein Weiteres. Die völlige Ausscheidung der Rechtspflege aus der Verwaltungsthätigkeit hat die erstere dahin gedrängt, das Ziel ihrer Vervollkommnung nachgerade in eine Art der Rechtsentwicklung und Rechtspflege zu setzen, bei der die Notwendigkeit, daß Menschen und nicht Maschinen auf dem Richterstuhl sitzen, eigentlich

b A: Vorstoß

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nur als bedauerliche Unvollkommenheit erscheint. Das Ideal dieser Auffassung wäre die Verwandlung des Richters in einen Paragraphen- und Präjudizienautomaten, in den man oben denThatbestand und die Kosten wirft, auf daß er unten das Urteil nebst Gründen ausspeie. Nichts ist bedenklicher in den Augen der Gerichte, selbst der höchsten, als wenn sie in die Lage kommen, vom sozialpolitischen oder sozialethischen Standpunkte die Erscheinungen bewerten zu müssen, wie dies z.B. bei so gewaltigen Erscheinungen, wie die Kartelle es sind, sehr wohl vorkommen kann, auch schon bei uns vorgekommen ist,14 - wie es ferner bei der Beurteilung der Ansprüche aus Termingeschäften an der Börse unumgänglich ist, wenn der Rechtspflege nicht geradezu Hohn gesprochen werden soll: fast niemals ist hier ein durchgreifendes formales Kennzeichen der Reellität des konkreten Geschäfts gegeben, stets handelt es sich um Würdigung der Reellität der Person. Gemäß einer großen Tradition entzieht sich die englische Rechtspflege gegebnen Falls einer ethischen A 525 Würdigung | ökonomischer Vorgänge nicht - der deutsche Richter wirft das ethische Richtschwert weit von sich und ruft nach formalen Merkmalen. Und es ist ja wahr: riefe er nicht darnach, so würde es heute das Publikum thun. Die breite Durchschnittsmasse der heutigen Juristen bringt die Voraussetzungen zur Ausfüllung einer größeren und würdigeren Rolle wohl nicht überall mit sich. Aber eben deshalb wird, so lange dies so bleibt, auch die „soziale" Bedeutung der Zivilrechtspflege bei uns eine relativ bescheidne bleiben, der Inhalt des Rechts möge nun „deutsch" oder „römisch" sein. Die Gefahr, vor der sich eine sozialreformatorische Bewegung heute vor allen Dingen hüten muß, ist: sich nicht durch Schlagworte bestechen zu lassen und darüber die Prüfung dessen, was sich dahinter verbirgt, zu versäumen. 14 In seinem Urteil über die Zulässigkeit von Kartellen vom 4. Februar 1897 berief sich der sechste Zivilsenat des Reichsgerichts in Leipzig auf eine Reihe von vorangegangenen Gerichtsurteilen, auf die auch Weber hier Bezug nehmen dürfte. Es handelt sich um die Urteile des Reichsgerichts vom 25. Juni 1890, des bayerischen obersten Landesgerichts vom 7. April 1888 und des Oberlandesgerichts Dresden vom 19. September 1893. Diesen Urteilen lag die Anschauung zugrunde, daß es nicht gegen das Prinzip der Gewerbefreiheit verstoße, „wenn sich Gewerbsgenossen zu dem in gutem Glauben verfolgten Zwekke miteinander verbinden, einen Gewerbszweig durch Schutz gegen die Entwertung seiner Erzeugnisse und die sonstigen aus Preisunterbietungen Einzelner hervorgehenden Nachteile lebensfähig zu erhalten." Entscheidungen des Reichsgerichts in Civilsachen, 38. Band. - Leipzig: Veit 1897, S. 158.