Lutherische Theologie und Kirche, Heft 01/2019 - Einzelkapitel - »Befreit, um gebunden zu sein«. Luthers Summa des christlichen Lebens im historischen Zusammenhang: Redaktion: Ruprecht, Edition 9783846997376, 3846997376

Robert Kolb widmet sich Luthers Freiheitsschrift. Unter der Überschrift »Befreit, um gebunden zu sein« macht Kolb darauf

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Lutherische Theologie und Kirche, Heft 01/2019 - Einzelkapitel - »Befreit, um gebunden zu sein«. Luthers Summa des christlichen Lebens im historischen Zusammenhang: Redaktion: Ruprecht, Edition
 9783846997376, 3846997376

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Lutherische Theologie und Kirche, Heft 01/2019 – Einzelkapitel »Befreit, um gebunden zu sein«. Luthers Summa des christlichen Lebens im historischen Zusammenhang
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Copyright © 2019 Edition Ruprecht ISBN: 9783846997376

Robert Kolb

Lutherische Theologie und Kirche, Heft 01/2019 – Einzelkapitel »Befreit, um gebunden zu sein«. Luthers Summa des christlichen Lebens im historischen Zusammenhang Lutherische Theologie und Kirche, Heft 01/2019

Edition Ruprecht

ROBER KOLB

Befreit, um gebunden zu sein* Luthers Summa des christlichen Lebens im historischen Zusammenhang In der Entwicklung der Vorstellung von der notwendigen Reform der Kirche in Martin Luthers Denken war das Jahr 1520 besonders wichtig. Er schrieb vier Schriften, die, mit zwei weiteren von 1521 und 1522, den Kern seines Rufs zur Besserung der Kirche zusammenfassten. Auf die Bitte von Georg Spalatin, dem vertrauten Berater von Kurfürst Friedrich dem Weisen, schrieb Luther Von guten Werke, erschienen Juni 1520;1 danach veröffentlichte er zwischen August und November den Brief an den christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen Standes Besserung,2 De captivitate Babylonica,3 und Die Freiheit des Christenmenschen, die fast gleichzeitig auf Latein als De libertate Christiana gedruckt wurde.4 Seine Leser fanden in Contra Latomus5 (Mai 1521) und De votis monasticis6 (Januar 1522) die Ausarbeitung von essentiellen Elementen der früheren vier Schriften. Thomas Kaufmann hat behauptet – in seinem Kommentar zur Adelsschrift – dass der Brief an den christlichen Adel das ausschlaggebende Werk sei, durch das Luther zum Reformator geworden

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Der Aufsatz wurde als Vortrag am 21.12.2018 an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel gehalten. Er ist eine Vorarbeit zu einer Einführung in Luthers Freiheitsschrift für Studierenden in der Reihe „Mapping the Traditions“ von Paul Rorem (Princeton Theological Seminary) herausgegeben (LexingtonBooks/Fortress Academic Press). WA 6, 202–276. WA 6, 404–469. WA 6, 497–573. WA 7, 20–38 (Deutsch), 42–73 (Latein); vgl. Reinhold Rieger, Von der Freiheit eines Christenmenschen. De libertate christiana. Kommentare zu Schriften Luthers 1, Tübingen 2007. WA 8, 43–128. WA 8, 573–669. LuThK 43 (2019), 28–48 DOI 10.2364/3846997376

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ist.7 Denis Janz dagegen, in seiner neuen Übersetzung vom De captivitate babylonica praeludium, meint, dass diese Luthers bedeutendste Schrift war.8 Es stimmt, dass seit dem späteren 19. Jahrhundert diese beiden Abhandlungen, zusammen mit seiner Von der Freiheit eines Christenmenschen als die drei große „reformatorische Schriften“ des Wittenberger Professors gelten. Aber seine Zeitgenossen haben seine literarischen Erzeugnisse anders gesehen. Keine von diesen „reformatorischen Schriften“ ist in den Handbüchern zur Lektüre von Luthers Schriften von Luthers „Kaplan“ Joachim Mörlin (1565) und dem Eislebener Pastor Conrad Porta (1571) erwähnt.9 Ab und zu findet man ein Zitat aus einer, vor allem aus der Freiheitsschrift,10 aber seine Kommentare über den Galaterbrief und 1. Mose, sein Vom Abendmahl Christi Bekenntnis, seine Katechismen (einschließlich seiner Gebetbücher) und seine Postillen haben allein in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine größere Leserschaft gewonnen als die drei oder vier „reformatorische Schriften“.11 Die Schriften von 1520 waren offenbar seinen Schüler und Anhänger nicht sehr nützlich. 7

Thomas Kaufmann, An den Christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, Kommentare zu Schriften Luthers 3, Tübingen 2014, V. 8 Martin Luther, The Church Held Captive in Babylon, übers. v. Denis Janz, Oxford 2019, 1–2. 9 Joachim Mörlin, Wie die Bu[e]cher vnd Schrifften/des tewren vnd Seligen Manns Gottes D. Martini Luthers nu[e]tzlich zu lesen Fu[e]r einfeltige frome Pfarherrn vnd andere Christen Liebhaber vnd Leser/der Bu[e]cher D. Martini Lutheri, Eisleben 1565; Conrad Porta, Oratio continens adhorationem, ad assidvam Lectionem scriptorum Reverendi Patris & Praeceptoris nostri D. Martini Lvtheri vltimi Eliae & Prophetae Germaniae. Jena 1571. 10 Sie spielte ohne Zweifel eine Rolle in dem Streit über den Begriff von der Notwendigkeit der guten Werke um Andreas Musculus, Professor der Theologie in Frankfurt/Oder in den 1550er Jahren; in diesem Zusammenhang erschien Luthers Die Freiheit eines Christenmenschen wieder in: Simon Sinapius (Hg.), Von Freiheit vnd Dienstbarkeit eines Christen Menschen. Was D. Martinus Luther seliger Gedechtnis eigentlich gehalten/ gelehret vnd geschrieben hat/ Wegen jtziger obstehenden Disputation fur gemeine Leien auffs newe in Druck gegeben vnd gefertiget, Magdeburg 1563. Vgl. Matthias Richter, Gesetz und Heil: Eine Untersuchung zur Vorgeschichte und zum Verlauf des sogenannten Zweiten Antinomistischen Streits, Göttingen 1996, 208–250. 11 Robert Kolb, Martin Luther as Prophet, Teacher, and Hero. Images of the Reformer, 1520–1620, Grand Rapids 1999, 190–194.

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Trotzdem, am Ende des Briefes an Papst Leo X, der als Einführung in die lateinische Version des Werkes diente, hat Luther De Libertate Christiana eine „Zusammenfassung des christlichen Lebens“ genannt, und tatsächlich ist dieses Werk eine Formulierung der positiven Seite seines Reformprogramms, des Kerns seines neuen Verständnisses der biblischen Botschaft.12 Die Freiheit eines Christen Menschen/De Libertate Christiana und die anderen Schriften von 1520 erschienen in einer Reihe von öffentlichen Präsentationen seiner sich entwickelnden Theologie. Luthers Gedanken über die notwendige Reform der Lehre und der Praxis der Kirche wuchs aus Wurzeln, die in einer Vorstellung von Reform, einem Plan für die Verbesserung der Kirche lag, die Luthers Mentor im augustinischen Orden, Johannes Staupitz, schon in Gang gesetzt hatte, als Luther ins Kloster gekommen ist. Staupitz übte sein Amt als General-Vikar der Observanten Kongregation des Augustiner-Ordens in Mittel- und Nordwestdeutschlands aus im Dienst seiner Reform, die durch den Aufbau von neuen Klostern des Ordens und durch neue Elementen in der Predigt des Evangeliums, vor allem in seiner Prädestinationslehre und mit dem Fokus auf das Sündenopfer Christi, eingeführt werden sollte. Staupitz hat nicht nur Luther als den neuen Professor in Wittenberg für seine Pläne angeworben; er hat andere Kollegen, zum Beispiel Wenzeslaus Linck, später Pfarrer in Altenburg und Nürnberg, und Johann Lang, der die Reform in Erfurt eingeführt hat, auch zum weiteren Studium geschickt, um sie auf Schlüsselrollen in seiner Reform vorzubereiten.13 Luther wurde 1513 Staupitzens Nachfolger an der Wittenberger theologischen Fakultät. Er ließ im September 1516 seinen Studenten und Kollegen in der Fakultät der Artes in Wittenberg, Bernhard Bernhardi, Thesen für seine Promotion zum Licentiat ad sententiam verfassen, die aus Luthers Vorlesung über den Römerbrief Impulse bekommen hatte, Thesen, die die Gebundenheit des menschlichen Willens erklärt haben. Bernhardis „Propositiones“ kritisierten die Theologie von Gabriel Bie (ca. 1412–1495), dem Urheber von einigen von Luthers Lehren und dem hervorragendsten deutschen Vertreter der Theologie von William von Ockhams (ca. 1288–1347). Biel lehrte, dass der Mensch tun müsste, „was in ihm liegt,“– er müsste das Beste tun, das er kann – um die Gnade zu verdienen, die ihm ermög12 WA 7, 48,36–49,1. 13 Robert Christman, Luther College, Decorah, Iowa, USA veröffentlicht demnächst seine Forschung über das Stauptizschen Reformprogramm.

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licht, Werke zu tun, die Gott gefallen, und dadurch die Seligkeit zu gewinnen.14 Ein Jahr später, September 1517, kam der nächste öffentliche Schritt in Luthers Entwicklung einer neuen Vorstellung von der Lehre und der Praxis der Kirche. Sein Student Franz Günther hat Thesen, die Luther selbst verfasst hat, verteidigt, die den Gebrauch von Aristoteles weitgehend aus der Praxis der Theologie verbannten.15 Kurz danach geschah eine Ablenkung von dieser Reihe. Als Frater in dem Augustiner-Eremiten-Orden hatte Bruder Martin die Pflicht, den Pfarrern der Gemeinden in und um Wittenberg Hilfe auf der Kanzel und im Beichtstuhl zu leisten. Er merkte im Herbst 1517, was für eine schädliche Wirkung auf die Frömmigkeit der Laien die Ablasskampagne von Johann Tetzel hatte. Bis zu dieser Zeit war die Lehre von dem Ablass nicht ganz klar. Die erste ernste Untersuchung zur Ablasslehre kam aus der Feder des Thomas de Vio, Cardinal Cajetan, die Luther 1518 in Augsburg allzu gut kennengelernt hatte, als der Cardinal, Papst Leos Legat, ihn mit nach Rom nehmen wollte. Cajetans Studie erschien erst 1529.16 Auch die Praxis des Ablasses, wie Bernd Hamm gezeigt hat, war nicht genau bestimmt. Luthers Bruder im Kloster von Erfurt, Johann Jeuser von Paltz, hatte im späten 15. Jahrhundert und am Anfang des 16. Jahrhunderts mehrmals an Verkaufskampagnen unter der Leitung vom päpstlichen Legat Raimundus Peraudi teilgenommen. Paltz und Peraudi haben in diesen Jahren den Preis des Ablasses reduziert. Das wiederspiegelt die allgemeine Situation der Kirche am Ende des 15. Jahrhunderts in den deutschen Ländern: angesichts der schweren Krise in der Seelsorge hat man versucht, die Gnade Gottes immer leichter zu erwerben, im Preis von einem Ablass und in den notwendigen Leistungen, in verschiedenen guten Werken, durch die man hoffte, Gottes Huld zu verdienen.17 Luthers Versuch, eine normale theologische Diskussion über den Gebrauch vom Ablass zu veranlassen durch eine normale Methode 14 WA 1, 145–151. Über Biel, vgl. Heiko A. Oberman, The Harvest of Medieval Theology. Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism, Grand Rapids 1967, 160–184. 15 WA 1, 224–228. 16 Bernhard Alfred R. Felmberg, Die Ablasstheologie Kardinal Cajetans (1469– 1534), Leiden 1998. 17 Bernd Hamm, Ablass und Reformation. Erstaunliche Kohärenzen. Tübingen 2016.

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an der mittelalterlichen Universität, ein Thema zu untersuchen, die Disputation,18 ist fehlgeschlagen. Seine 95 Thesen über den Ablass entzündeten einen Feuersturm, eigentlich nicht wegen der Lehre des Ablasses, sondern über die implizite — vielleicht doch fast explizite — Infragestellung der Autorität des Papstes. Von dieser Zeit an war für seine Gegner die wichtigste Frage nicht Luthers Einsichten in die Gnade Gottes, sondern die Gefahr, dass er die Säule der Kirche und der Gesellschaft zerstören wurde.19 Die Ablenkung dieser scharfen Kritik führte dazu, dass Staupitz eine Direktive von Rom bekommen hat, innerhalb des Ordens etwas mit Luther zu tun. Die Brüder der sächsischen Provinz der Augustiner Eremiten sollten sich im April 1518 in Heidelberg treffen, und Luther sollte seine Position abklären und falsche Lehre widerrufen. Luther kam dahin mit Thesen nicht über den Ablass, auch nicht über die Autorität des Papstes. Stattdessen machte er einen neuen Schritt in der öffentlichen Präsentation des Kerns seiner Botschaft mit seinen Gedanken über Gott und wie er sich offenbart und darüber, was es heißt, Mensch zu sein. Luthers Gotteslehre stellte ein „Betreten verboten“ Schild vor aller Spekulation über Gott außerhalb seiner Selbstoffenbarung in Jesus Christus und in der Heiligen Schrift. Luther konzentrierte den Blick der Menschen auf die Inkarnation der zweiten Person der Heiligen Dreifaltigkeit als das fleischgewordene Wort und auf die Botschaft der Propheten und Apostel. Zweitens lehnte Luther die Definition des Menschseins von Aristoteles als animal rationalis ab, der sich an das ewige Gesetz als Garantie der Ordnung und Gerechtigkeit anpassen müsste. Luther definierte den Menschen vor allem als die Kreatur Gottes, die Gott vertraut. Statt der Vernunft, die Luther als gute Gabe Gottes sah, sei das Vertrauen das definierende Element des Menschseins.20 Gegen das Ende 1518 erschien dann eine weitere Entwicklung von Luthers Anthropologie, die Flugschrift über die dreierlei Gerechtigkeit, die er sofort umgearbeitet hat, und als De duplici iustita im Frühling 1519 veröffentlicht hat. Er unterschied die iustita aliena — 18 Irene Dingel, Von der Disputation zum Gespräch, Lutherjahrbuch 85 (2018), 61– 84. 19 David V. N. Bagchi, Luther’s Earliest Opponents, Catholic Controversialists, 1518–1525. Minneapolis 1991. 20 WA 1, 353–374. Vgl. Walther von Löwenich, Luthers Theologia crucis. München 4 1954; Gerhard O. Forde, On Being a Theologian of the Cross, Reflections on Luther’s Heidelberg Disputation, 1518, Grand Rapids 1997.

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später iustita passiva — von der iustita propria — später iustitia activa.21 Diese revolutionäre neue Definition vom Menschsein untergrub die mittelalterliche Werk-Gerechtigkeit und stellte den Menschen in eine totale Abhängigkeit von Gott, Gedanken, die Luther 1525 in seiner De servo arbitrio aber auch in De libertate christiana weiterentwickelt hat.22 1519 war ein Jahr mit vielen Ablenkungen für Luther, aber im Laufe von 1520 entwickelte sich der Kampf gegen Luther weiter, bis es Anfang 1521 zur Exkommunikation kam. Im Frühling 1520 hat ihn sein Freund, der Sekretär von Kurfürst Friedrich dem Weisen, Georg Spalatin, gebeten, eine Erklärung seiner Lehre von den guten Werken zu schreiben, und diese Schrift ist im Juni erschienen, eine Erläuterung des christlichen Lebens, das im Glauben an Jesus Christus gewurzelt ist, einen Glauben, der Gott glaubt, wenn er sagt „Du bist vor mir gerecht,“ und deswegen handelt in dieser Welt als Gerechter, als einer der dem Gesetz Gottes gehorsam ist. Im August erschien Luthers Brief an den christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen Standes Besserung, eine Umarbeitung von den Gravimina, den Beschwerden, die mehrere Reichstage zusammengestellt hatten, als Protest gegen die Missstände, die die Deutschen anhand des Papstums erlitten hat. Luther machte diese Gravimina zur Basis einer Dekonstruktion von vielen Missbräuchen vor allem in der ritualistischen Praxis der Frömmigkeit im mittelalterlichen System.23 Luther fuhr mit dieser Dekonstruktion fort in einer Schrift, die er Oktober 1520 veröffentlichte, De captivitate babylonica praeludium.24 Das Verständnis vom Christsein, mit dem Luther aufgewachsen ist, vermischte biblischen Elementen mit Überbleibseln von den traditionellen, vorchristlichen germanischen Religionen. Diese synkretistische Mischung funktionierte innerhalb der Strukturen dieser traditionellen Religionen, einer Struktur, die vorausgesetzt hatte, dass der Kontakt zwischen Menschen und den Göttern hauptsächlich durch die menschliche Leistung, durch das menschliche Herantreten an die Mächte geschaffen wird, unter der 21 WA 2, 145–152; vgl. sein De triplici iustitia, 1518, WA 2, 43–47. 22 Robert Kolb, Luther on the Two Kinds of Righteousness. Reflections on His TwoDimensional Definition of Humanity at the Heart of His Theology, Lutheran Quarterly 13 (1999), 449–466. 23 WA 6, 404–469, vgl. Martin Brecht, Martin Luther 1. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 1981, 352–360. 24 WA 6, 497–573.

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Leitung und Führung der priesterlichen Hierarchie. Luther hat als Kind gelernt, dass seine Teilnahme an der Messe und anderen sakralen, religiösen Tätigkeiten der Schlüssel war, die Tore des Himmels zu öffnen. Als er in seinen normalen, alltäglichen frommen Übungen keinen Frieden fand, ist er ins Kloster gegangen. Dort und in den Vorlesungen, die er über die Theologie an der Universität Erfurt gehört hat, hat er auch keine Ruhe gefunden. Durch sein Studium, besonders in seiner Lektüre der Heiligen Schrift, und in seiner Vorbereitung auf seine eigenen Vorlesungen, über die Psalmen und dann über den Römerbrief, den Galaterbrief, und den Hebräerbrief, hat er entdeckt, dass der Schlüssel des Verhältnisses zu Gott, der den Zugang zum Frieden öffnet, nicht in seiner eigenen religiösen Leistung lag, sondern in Gottes Kommen zu ihm durch sein Wort, das ihm die Vergebung der Sünden schenkte, die Christus in seinem Tod und in seiner Auferstehung gewonnen hat. In De captivitate Babylonica reagierte Luther auf das alte System, auf die Definition des Christseins seiner Jugend, mit dem Zorn des enttäuschten Liebhabers. Er riss das Fundament des alten Systems heraus, und mit einer scharfen Kritik analysierte er das sakramentale Wesen, das durch die Ausführung der äußerlichen Form ex opere operato die Gunst Gottes bestellen und die Hilfe Gottes manipulieren konnte. Der nächste Schritt in diesem öffentlichen Reformprogramm wäre bestimmt in einer positiven Darstellung des Christseins gekommen, ganz egal, was in den nächsten Monaten geschehen wäre. Tatsächlich kam dieser Schritt aber zum Druck, weil ein Adliger aus Sachsen im diplomatischen Dienst des Papstes, Karl von Miltitz, ein Mann offenbar mit mehr Ehrgeiz als Kompetenz, im Oktober 1520 versuchte, eine Lösung zum Lutherproblem zu finden. In Verhandlungen mit dem kursächsischen Hof und dann mit Luther selber hat von Miltitz vorgeschlagen, dass Luther einen freundlichen Brief an Papst Leo schreiben sollte, um sich mit ihm zu versöhnen, und mit diesem Brief sollte Luther eine Erklärung seiner Anliegen schicken. Diese Erklärung betitelt Luther in der deutschen Fassung „Von der Freiheit des Christenmenschen“ und auf Latein, „De libertate christiana.“25 Die schwedische Germanistin Birgit Stolt hat eine Untersuchung über den Ursprung von der Freiheitsschrift von Wilhelm Maurer verfeinert und weiter entwickelt. Sie zeigt, dass Luther wahrscheinlich ein lateinisches Konzept der Schrift entworfen hatte, von dem er 25 Brecht, Luther (wie Anm. 23), 255–263, 385–396.

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erstens eine im homiletischen Stil verfassten deutschen Fassung der Schrift geschrieben hat, die zuerst ohne den Brief an Papst Leo gedruckt wurde, und danach die lateinische Version im Stil von einer wissenschaftlichen Abhandlung ausgearbeitet hat, die etwas länger als die deutsche ist.26 Beide Fassungen erschienen im Laufe des Novembers 1520. In den folgenden dreizehn Monaten haben Drucker in Wittenberg, Leipzig, Straßburg, Augsburg, und Basel Die Freiheit eines Christenmenschen dreizehnmal veröffentlicht; De libertate Christiana wurde sechsmal in Wittenberg, Antwerpen, Basel, und auch in nicht identifizierten Orten gedruckt.27 Luthers Interesse an dem Text zeigte sich darin, dass er Verbesserungen in einer Kopie gemacht hat, die im Besitz des humanistischen Freundes von ihm, Beatus Rhenanus gefunden wurde, die als die Basis für die Baseler Edition der lateinischen von Adam Petri diente.28 Der demütige, eigentlich unterwürfige Ton des Briefs an Leo lässt den modernen Leser denken, dass Luther ironisch bzw. heuchlerisch gewesen ist, als er den Brief verfasst hatte. Eigentlich verwendete er nur den guten humanistischen Stil einer solchen Annäherung an einen Würdenträger. Er hat Leo persönlich hoch gelobt, aber er hat auch eine scharfe Kritik abgegeben an der Handlungen Leos Höflingen und an der ritualistischen Praxis, die sie verteidigt und gefördert haben. Diese Kritik setzte fort oder fasste zusammen, was Luther schon im Brief an den christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen Standes Besserung und in De captivitate babylonica praeludium geäußert hatte. Luther kannte ohne Zweifel seit seinem Studium an der Universität den stoischen Begriff von der inneren Freiheit, der Rückzug von

26 Birgit Stolt, Studien zu Luthers Freiheitstraktat mit besonderer Rücksicht auf das Verhältnis der lateinischen und der deutschen Fassung zu einander und die Stilmittel der Rhetorik, Stockholm 1969. 27 WA 7, 15–19, 38–41; vgl. James Hirstein, Publizistische Netzwerke der Reformation: Die Schlettstädter Druckvorlage von Luthers Freiheitsschrift, in: Ruth Slezska (Hg.), Reformation und Freiheit. Luther und die Folgen für Preußen und Brandenburg, Potsdam 2017, 60–63. 28 James Hirstein, Corrections autographes de Martin Luther. Le Tractatus de libertate christiana d’apres les edition de 1520 et de 1521: des suggestions d’émendation, Revue d’Histoire et de Philosophie Religieuses 95 (2015), 127– 163.

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den Anliegen der Welt schafft.29 Im Gegensatz hat er betont, dass die christliche Freiheit den Gläubigen entfesselt, um in der Welt Gottes Instrument zur Güte und Barmherzigkeit anderen Menschen gegenüber zu werden. Statt bloß eine in sich eingeschlossene Freiheit zu behaupten, vertieft Luthers Freiheitsbegriff das Engagement des Christen in der Welt. Im Unterricht an der Universität erlebte Luther in der Tradition von William von Ockham den Begriff hauptsächlich als einen Schlüssel zur Definition des Menschseins: die Freiheit des menschlichen Willens Gott gegenüber wäre ein notwendiger Bestandteil des Menschen. Daneben wurde „Libertas“ auch ein Terminus für die Freiheit von verschiedenen Formen des Bösen. Das Wörterbuch vom Kommilitonen des Johannes von Staupitz in Tübingen, Johannes Altensteig, das 1517 erschienen ist, listete drei Arten von Freiheit auf: Freiheit von der Sünde oder der Schuld (die Freiheit der Gnade), von dem Unglück (die Freiheit der Herrlichkeit) und von dem Zwang (die Freiheit des Wesens).30 Der Begriff „Freiheit“ ist zu Luthers Zeit im öffentlichen Bereich des deutschen Reiches kein sehr oft gebrauchter Begriff, so der Jenaer Profanhistoriker Georg Schmidt. „Mit Martin Luther stößt der Historiker auf einen Autor, der zu einem Zeitpunkt häufig von ‚Freiheit‘ sprach als dieser Begriff noch keineswegs zum Allgemeingut der politischen, nicht einmal der humanistischen Rede gehörte – zumindest nicht im deutschen Sprachraum.“31 Schmidt bemerkt dennoch, dass „Politiker, Humanisten und Aufständische“ von „[der] Freiheit von Rom und der kirchlichen Hierarchie“ gesprochen haben 29 Gudrun Holtz, Die Nichtigkeit des Menschen und die Übermacht Gottes. Studien zur Gottes- und Selbsterkenntnis bei Paulus, Philo und in der Stoa, Tübingen 2017, bes. 297–304, 328–334. Ich danke Herrn Professor Jorg Salzmann für diese Beobachtung. 30 Johannes Altenstaig, Vocabularius theologie, complectens vocabulorum/ descriptiones et significatus ad theologiam vtilium: et alia quibus prudens et diligens lector multa abstruse et obsucra theologrum dicta …, Hagenau 1517, CXXXIIIb–CXXXIIIIa. Vgl. Karl Zickendraht, Der Streit zwischen Erasmus und Luther über die Willensfreiheit, Leipzig 1909, 1–3; über Ockham, vgl. Michael Beyer, Logik der Freiheit. Die Prädestinationslehre Wilhelms von Ockham im Rahmen seiner Theologie, Tübingen 2017. 31 Georg Schmidt, Luthers Freiheitsvorstellungen in ihrem sozialen und rhetorischen Kontext (1517–1521), in: Dietrich Korsch/Volker Leppin (Hg.), Martin Luther – Biographie und Theologie, Tübingen 2010, 9.

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und dadurch ausdrücken wollten „dass der Mensch sich gegen unrechten Zwang wehren dürfe, ja wehren müsse.“ In der Tat haben mehrere Reichstagsbeschlüsse in Luthers ersten 37 Jahren, also bis 1520, auf die Freiheit der deutschen Nation Rom gegenüber bestanden. Um seine Wahl als Kaiser zu bestätigen musste Karl V 1519 versprechen, dass er „die deutsche Nation mit seiner Freiheit“ respektieren würde. Ulrich von Hutten sah die Freiheit als Bestandteil der humanistischen Reform.32 Die Städte strebten nach ihren Rechten gegenüber den Fürsten bzw. dem Kaiser. Im Kampf um ihre alten germanischen Rechten, verteidigten die Bauern ihre „alte Freiheit“ oder die „allgemeine Freiheit“ gegen die Ansprüche auf Wälder, Flüsse, und Wiese, die die Adligen unter dem neueingeführten römischen Recht stellen konnten.33 Ob Luthers Argumentation für die Freiheit von Sünden, Tod, und Teufel eine entscheidende Wirkung auf die bäuerlichen Aufstände von 1524–1526 hatte ist überhaupt nicht klar. Wilhelm Stolze hat gezeigt, dass auch die deutschen Übersetzungen von der Schrift von Desiderius Erasmus, Institutio Principis Christiani von Leo Jud in Zürich und von Georg Spalatin in Wittenberg auch in Süddeutschland verbreitet wurden.34 Trotzdem, behauptet Georg Schmidt, „Es war der Reformator, der diese Perspektive popularisierte, denn auf 5000 Belegstellen, die allein für die viel gelesenen deutschen Schriften Luthers zwischen 1517 und 1530 ermittelt wurden, dürfte es kein anderer Autor auch nur annähernd gebracht haben. Luther machte ‚Freiheit‘ in diesen Jahren zum mobilisierenden und emotionalisierenden Schlagwort, ohne Inhalt und Bedeutung festschreiben zu können. Freiheit wurde zum vielgestaltigen Bewegungsbegriff, der einen angestrebten oder ersehnten Zustand verkörperte, der zurückgewonnen oder herbeigeführt werden sollte.“35 32 A.a.O., 19–22. 33 Georg Schmidt, Freiheit, Pluralität und Frieden. Überlegungen zur deutschen Reformationsgeschichte, in: Wolfgang J. Weber/Regina Dauser (Hg.), Faszinierende Frühneuzeit. Reich, Frieden, Kultur und Kommunikation 1588–1800. Festschrift für Johannes Burkhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2008, 75–94; Schmidt, Freiheitsvorstellungen (wie Anm. 31), 22–30; vgl. Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München 2003, 75–104. 34 Wilhelm Stolze, Der geistige Hintergrund des Bauernkrieges: Erasmus und Luther, Zeitschrift für Kirchengeschichte 51 (1932), 456–479. 35 Schmidt, Freiheitsvorstellungen (wie Anm. 31), 22–23.

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Luther hatte schon in dem Begriff „Freiheit“ die Basis für seine eigene Anwendung des humanistischen Gebrauchs, aus dem Griechischen oder Lateinischen einen neuen Namen zu schaffen, gefunden. November 1517 fing dieser junge Mann aus Mansfeld mit dem Familiennamen „Luder“ an, Briefe mit dem griechischen Wort für „freien Menschen“ zu unterzeichnen, „Eleutherius“ und dann „Luther.“ Ab Frühjahr 1519 hörte er auf, sich als „Eleutherius“ zu präsentieren, aber dass er sich als einen Freien weiter erkannt hat, ist klar.36 Eigentlich fing er schon 1516 an, den Begriff von Freiheit in Verbindung mit seiner Heilslehre und seinem Verständnis vom christlichen Leben zu verwenden, mit einer Nebenbemerkung über das Paradox, dass der Befreite in Christus der Diener anderer Menschen geworden ist. Aber er hat nicht zu der Zeit diese Gedanken erweitert oder vertieft.37 Eine ähnliche Bemerkung befindet sich in seiner Auslegung von Psalm 14 vom Frühjahr 1518.38 Um diese Zeit hat er auch die dogmatische Summa von seinem römischen Gegner, dem Dominikaner Sylvestro Mazzolini da Priero (Prierias) gelesen. Prierias hatte in Auftrag vom Papst Leo Schriften gegen Luther im Laufe des Jahres 1518 veröffentlicht. Risto Saarinen hat dieses Werk und Luthers De libertate Christiana verglichen und meint, dass Luther hier Prierias‘ Argumentation für ein ritualistisches Verständnis vom christlichen Glauben direkt im Blick hatte als er über die christliche Freiheit geschrieben hat.39 Das kann wohl in der Entwicklung von Luthers Denken über die Freiheit von ritualischen Gesetzen eine Rolle gespielt haben, aber der Begriff von „Freiheit“ war schon vorher in seinem Kopf. In Laufe des nächsten Jahres, 1519, hat Luther eine umgearbeitete Fassung seiner Galaterbriefvorlesung von 1516–1517 verfasst, in der er wieder den Begriff von der Freiheit des Gläubigen vom Zwang des Gesetzes und die Notwendigkeit der guten Werken zur Seligkeit behauptete. Zum Beispiel, seine Behandlung der Beschreibung von Ishmael als „Kind der Sklavin“ in [Gal 4,31] erläuterte die Gebundenheit des Sünders unter dem Gesetz, der in Angst leben müsste.40

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Volker Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006, 124–125. WA 56, 480,22–482,11. WA 5, 407,42–408,2. Risto Saarinen, Liberty and Dominion: Luther, Prierias and Ringleben, NZSTh 40 (1998), 171–181. 40 WA 2, 559,21–30, vgl. WA 2, 559,31–561,3.

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In seiner Abhandlung Von guten Werken, fast ein halbes Jahr bevor er Die Freiheit des Christenmenschen geschrieben hat, hat Luther seinen Begriff von der Freiheit formuliert auf der Basis von [Röm 14,1], „den Schwachen im Glauben nehmt an“, [1. Kor 9,19ff], „obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne“ und [Mt 17,25,–27] (trotz der Tatsache dass „die Kinder frei“ sind, „damit wir aber keinen Anstoß geben“, sollte Petrus das Zweigroschenstück aus dem Mund des Fisches gebrauchen, die Steuer zu bezahlen). Luther schrieb, „Hie sehenn wir, das alle werck unnd ding frey sein einem Christen durch seinen glauben, unnd er doch, weil die andern noch nit gleuben, mit yhn tregt und helt, des er nit schuldig ist. Und das thut er aber ausz freyheit, dan er gewisz ist, es gefalle got also wol, unnd thut es gerne, nympts an wie ein ander frey werck, das im oh sein erwelen auff die handt stosset, dieweil er begeret und sucht nit mehr, dan wie er nur wirck got zu gefallen in seinem glauben.“41 Dieser Gedanke steht als das Fundament oder der Rahmen von Luthers Freiheitsschrift von November 1520 an fest. Die lateinische Fassung des Werkes beginnt nicht mit der zentralen These über Freiheit und Gebundenheit, sondern mit einem kurzen Diskurs über den Glauben. Das überrascht nicht, wenn wir erkennen, dass diese Schrift nicht nur eine Zusammenfassung von Luthers Rechtfertigungslehre ist, und auch seine „Summa des christlichen Lebens“, sondern auch eine Zusammenfassung seiner biblischen Anthropologie. Der Glaube definiert nicht nur was für einen Gott der Mensch hat, wie Luther im Großen Katechismus erklärt, sondern definiert auch sich selbst durch das Vertrauen zu Gott.42 Gottes Kind – und sogar Mensch – zu sein, heißt vor allem, Gott zu fürchten, zu lieben, und zu vertrauen.43 Mittelalterliche Theologen definierten den Glauben als die Erkenntnis der Faktizität einer Äußerung, den sogenannten „historischen Glauben“. Das Wort „fides“ trug diese Bedeutung und wurde als eine der drei theologischen „virtutes“ zusammen mit „spes“ und „caritas“ verstanden. Diese „virtutes“ waren nach einigen Scholastikern immer Gottes Gabe, aus seiner Gnade geschenkt, aber hatten immer den Sinn, dass die menschliche Kraft sie übt, dass die Leistung des Menschen eine große Rolle in diesen „virtutes“ spielte. Fides allein, ohne caritas, bliebe eine Schale, eine Hülse. 41 WA 6, 214,17–31. 42 BSELK 930/931,12–932/933,14. 43 BSELK 862/873, 6.

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Von Erasmus und dann von Melanchthon hat Luther gelernt, dass der Sinn vom griechischen „πίστις“ nicht diese bloße Erkenntnis der Fakten ist, sondern vielmehr durch „Vertrauen“ zu übersetzen wäre. „Ein Gott heisst das, dazu man sich versehen sol alles guten und zuflucht haben in allen nöten, also das ein Gott haben nicht anders ist denn im hertzen trauen und gleuben, das allein das trauen und gleuben des hertzens macht beide, Gott und Abgott. Ist der Glaube und vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht.“44 Luther hörte Gott wie er sagte, „Sihe zu und lass mich allein deinen Gott sein und suche je keinen andern, das ist: was dir mangelt an gutem, des versihe dich zu mir und such es bey mir und, wo du unglück und not leidest, kreuch und halte dich zu mir. ICH, Ich will dir gnug geben und aus aller not helffen, las nur dein hertz an keinem andern hangen noch ruhen.“45 Der Glaube an Christus sei der „unvergleichbare Schatz, der das ganze Heil mit sich bringt und der vor allem Übel schützt.“ Dieser Glaube erkenne, dass „alles in dir total schuldig ist, ist nur Sünden und verdammt“, mit Hinweis auf [Röm 3,10–12]. Diese Erkenntnis führt zur Schlussfolgerung, „dass du Christus brauchst, der für dich gelitten hat und auferstanden ist, damit du als Glaubender durch den Glauben ein anderer Mensch wirst, weil alle deine Sünden vergeben sind, und du durch die Verdienste eines andern, nämlich durch Christi Verdienste allein, gerechtfertigt bist“. Dieser Glaube herrscht [regnat] im Leben des Gläubigen, und daher kommt der Wille, an den Nachbarn im Dienst und in der Liebe gebunden zu sein.46 Luther sprach später in De libertate Christiana von drei „virtutes“ oder Kräften des Glaubens. „Virtus“ ist hier für Luther nicht mehr hauptsächlich eine menschliche Leistung, sondern eine Gabe Gottes. Die erste Kraft des Glaubens liegt darin, dass „er sich so fest an Gottes Verheißungen von der Vergebung der Sünden und dem neuen Leben klebt [adhaeret], dass der Glaube, das heißt auch dann dass der Mensch eins mit den Verheißungen wird, ja vielmehr ganz in ihnen verschlungen wird, und dadurch nicht nur an denen teilnimmt, sondern auch von ihren Kräften ganz gesättigt und sogar betrunken wird. Wenn die [körperliche] Berührung Christi heilt, wieviel mehr wird diese äußerst zarte Berührung im Geist, vielmehr dieses Verschlingen des Wortes, das alles vom Wort der Seele mitteilt. 44 BSELK 930,13–18. 45 BSELK 932,6–11. 46 WA 7, 52,2–13; WA 7, 51,27–34.

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Die Seele, der Mensch, wird dann durch den Glauben, ohne Werke, vom Wort Gottes gerechtfertigt, zur Heiligkeit und der Wahrheit restauriert, in Frieden gesetzt, befreit, mit aller Güte gefüllt, und als wirkliches Kind Gottes geschaffen.“47 Der Glaube, bzw. die Verheißungen Christi, ändert wesentlich die Identität des Sünders. Er wird Gottes Kind. Das Wort Gottes bestimmt die Wirklichkeit, und es nimmt den Sünder so völlig in sich, dass der nicht mehr Sünder bleibt, sondern ist vor Gott – was immer er in den eigenen Augen oder Erfahrungen erlebt – gerechtes Kind Gottes. Luthers Überzeugung, dass Gottes Wort ein schöpferisches Wort ist, und dass es in der Form der Verheißung die Wirklichkeit des Menschen ändert, ist die Voraussetzung für diesen Gedanken. Deswegen geht es in seiner „forensischen Rechtfertigungslehre“ nicht um eine juristische Fiktion, sondern um ein Wort, das eine neue Kreatur aus dem Nichts des Sünders (ex nihilo) hervorbringt.48 Deswegen ist die Absolution nicht bloß die Meinung eines netten Richters, die im Gegensatz zu den Fakten steht, sondern ist das Wort des Schöpfers, die aus dem Sünder das neugeborene Kind Gottes erschafft.49 Die zweite Kraft des Glaubens liegt darin, dass er Gott die höchstmögliche Ehre gibt, die Ehre des Vertrauens. Der Glaube betrachtet Gott als zuverlässig und würdig. Die Sünde von Adam und Eva lag darin, dass sie nicht mehr Vertrauen zu Gott und seinem Wort zeigten. Der Glaube bestätigt das Gott-gewollte Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen, ein Verhältnis von Glaubwürdigkeit und Vertrauen, Wahrheit und Gerechtigkeit.50 Die dritte Kraft oder „unvergleichbare Gnade“ des Glaubens ist die Vereinigung der Seele mit Christus. Parallel zu der neuen Identifizie47 WA 7, 53,15–22. Cum autem haec promissa die sint verba sancta, vera, iusta, libera, peacata et universa bonitate plena, fit, ut anima, quae firma fide illis adheret, sic eis uniatur, immo penitus absorbeatur, ut non modo anima per fidem solam, sine operibus, e verbo dei iustificatur, sanctificatur, verificatur, pactifiactur, lbieratur et omni bono repletur vereque filia dei effictur, sicut Iohan. 1. Dicit, Dedit eis potestatem filios dei fieri, iis qui credunt in nomine eius. 48 Johann Harr, Initium creaturae Dei. Untersuchung über Luthers Begriff der „neuen Creatur“ im Zusammenhang mit seinem Verständnis von Jakobus I,18 und mit seinem „Zeit“-Denken, Gütersloh 1939. 49 Vgl. Robert Kolb, Das Kreuz – die wirkliche Befreiungstheologie, CA Confessio Augustana IV/2016, 43–54. 50 WA 7, 53,34–54,30.

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rung des Gläubigen durch die Wirkung der Verheißung in Christus, ist seine Mitteilung seiner Eigenschaften von Gerechtigkeit und Unschuld an den Gläubigen. Luther verwendet die Metapher des Augustinus vom Austausch und der Teilung vom Reichtum im wirtschaftlichen Sinn, die auch Staupitz verwendet hatte, aber ohne den wirtschaftlichen Zusammenhang der Metapher zu verwenden.51 Im Gegensatz dazu übernahm Luther die Metapher von Bernhard von Clairvaux von der sündhaften Braut und dem unschuldigen Bräutigam als den Zusammenhang des Austausches des Besitzes von den beiden.52 Christus und der Sünder haben in ihrer Ehe alle Güter geteilt, so dass Christus alle Sünden und Schuld von der Braut weggenommen hat, und die Braut nimmt die Gerechtigkeit und Unschuld Christi in Besitz. Seine Hochzeitsring für seine Braut befreit sie von allen Sünden, versichert sie gegen den Tod, schützt sie vor der Hölle, gibt ihr ewige Gerechtigkeit und das Leben und Heil des Bräutigams53 „Der reiche und aufrechte Bräutigam Christus heiratet das arme Mädchen, die sündhafte Hure, und erlöst sie von allen Übeln und schmückt sie mit allen guten Gaben“.54 Luthers Gebrauch der Brautmystik des Mittelalters, in der Auslegung des Hohen Liedes geankert, suchte diese Metapher für die Vereinigung mit Christus aus, weil hier die Seele nicht in das unendliche Wesen Gottes verschwindet. Die eheliche „unio“ ist eine Vereinigung, in der die beiden Partner ihre eigene Identität nicht verlieren, sondern sogar verstärken. Identifiziert mit Christus in der Gerechtigkeit und Unschuld, wird der Mensch nicht göttlich, sondern menschlicher. Er kehrt zur ursprünglichen Gerechtigkeit des Menschen vor Gott zurück. Diese Gerechtigkeit drückt sich in der Nächstenliebe und dem Dienst der Kreaturen Gottes aus. Später hat Luther diesen fröhlichen Wechsel zwischen der Braut und dem Bräutigam in eine andere Metapher umgeformt. In den späten 1520er und frühen 1530er Jahren hat er den Austausch zwischen dem kriminellen Sünder, der die Todesstrafe verdient hatte, und dem unschuldigen Christus hervorgehoben, und Christus als 51 Bernd Hamm, Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, Reinhold Friedrich/Wolfang Simon (Hg.), Tübingen 2011, 326. 52 Volker Leppin, Luther’s Roots in Monastic-Mystical Piety, in: Robert Kolb/Irene Dingel/Lubomir Batka (Hg.), The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, Oxford 2014, 53–54. 53 WA 7, 55,17–20. 54 WA 7, 55,25–27.

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„den größten Sünder“ vor Gott beschrieben. Im Galaterbriefkommentar von 1535 hat er diese Beschreibung von der Versöhnung mit einer anderen Metapher zusammengestellt, die des „duellum mirabile“, in dem Christus in einem Duell mit Satan siegt.55 Aber schon in seiner Behandlung des Austauschs zwischen Christus und dem Sünder als Bräutigam und Braut in der Freiheitsschrift erwähnte Luther dieses Motiv. Der Wechsel zwischen Christus und dem Gläubigen sei „das Süßeste von Dramen“, und nicht nur „eine Vereinigung, sondern auch ein Krieg um das Heil, ein Sieg, die Seligkeit und die Erlösung. Weil Christus Gott und Mensch in derselben Person ist, und nicht gesündigt hat, nicht gestorben und verdammt ist, sondern kann nicht sündigen, sterben, oder verdammt werden,“ wird er in seinem erstaunlichen Duell mit den Feinden des Gläubigen bewirken, dass alle ihre Sünden verschlungen werden. Der Teufel wird hier als Feind nicht erwähnt, wie später im Galaterbrief-Kommentar, aber das Kampfmotiv gehörte schon zum fröhlichen Wechsel als Synonym. Auch zu Luthers Verständnis des Menschseins hat er die „geistlichen“ und „körperlichen“ „Naturen“ im Menschen unterschieden, aber in seiner Erklärung in De libertate Christiana fällt er ins Unklare. Am Anfang eines kurzen Abschnittes darüber, stellt er den „geistlichen, inneren, neuen Menschen“ [spiritualis, interior, novus homo] der auch „gerecht, frei, und wahrhaftig Christlich“ [iustus, liber, vereque Christianus] ist, dem „fleischlichen“ [carnalis] Menschen gegenüber, mit Hinweis auf [2. Kor 4,16], „wenn unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert“, und [Gal 5,17], „das Fleisch begehrt auf gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch; die sind gegeneinander, so dass ihr nicht tut was ihr wollt“. Hier spricht er schon vom Ringen des Menschen als „simul justus et peccator“ auch wenn er diesen Ausdruck nicht verwendet hat. Aber Luther hat diese äußerliche Seite des Menschen nicht konsequent als das Böse im Menschen vorgestellt. Auch an dieser Stelle ist das Äußerliche alles, was man als Menschen zum normalen täglichen Leben braucht, das keinen Unterschied im Verhältnis zu Gott macht. Deswegen macht es nichts aus im Verhältnis zu Gott ob er zeitlichen Segen wie Gesundheit, freie Bewegung, Essen, usw. hat oder nicht hat. Krankheit, Gefangenschaft, Hunger, Durst können die Seele nicht schaden, und solche haben nichts mit 55 WA 10 I,2, 220,19–221,30. Vgl. Uwe Rieske-Braun, Duellum mirabile. Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie, Göttingen 1999.

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der Freiheit oder Dienstbarkeit der Seele zu tun. Die Seele habe keinen Vorteil von heiligen Gewändern oder den Tätigkeiten des mittelalterlichen Klerus, zum Beispiel vom Fasten oder laut beten. Die Gerechtigkeit und Freiheit der Seele erforderten etwas ganz anders, nämlich den Glauben; gleichgültig ist es, was man isst, trinkt, oder was für Kleidung man trägt.56 Als eine Einführung zu seinen zwei Hauptthesen teilte Luther dem lateinischen Leser mit, dass er sie so formuliert hat, um es verständlicher für die „rudes“ das gemeine Volk zu machen, denn „denen allein ich diene“. Die Schrift präsentiert dann weiter ein sorgfältig konstruiertes Argument und eine Erläuterung seiner beiden Punkte auf der Ebene seiner Kollegen an den theologischen Fakultäten, aber sein Ziel blieb dasselbe: die Umstellung des Glaubens und des Lebens des „gemeinen Mannes“. Die Anliegen, die ihn drei Jahre früher zum Protest über die Ablasskrämerei brachten, bewegten ihn auch in den vier „reformatorischen“ Schriften des Jahres 1520. Die Form der knappen, klaren, aber doch provokativen akademischen Thesen, die am Anfang von De libertate Christiana stehen, konnte Ideen im Gedächtnis des Lesers und Hörers einprägen. Dass Luther noch in der Form der Disputation dachte, sehen wir auch in seiner Nummerierung der einzelnen Abschnitte der deutschen Version. Wie Thesen für eine Disputation hat Luther mit seinem Sermon vom Ablass und Gnade in Frühjahr 1518 angefangen, einige Abschnitte seiner deutschen Werke zu nummerieren. Diese Abschnitte waren normalerweise länger als die knappe These der Disputation, denn die Laien brauchten im gedruckten Text nicht nur die Herausforderung zur akademischen Debatte sondern auch eine vollere Erklärung. Luther fasste seine „Summa des Christlichen Lebens“ in zwei Thesen zusammen. „Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthon.“ „Eyn Christen mensch ist eyn diestpar knecht aller ding und yderman unterthon.“ Im lateinischen Text ist es nicht klar ob dieser „omni“ unter dem der Christ nicht unterworfen ist und die „omnibus“, denen er dienen soll, persönlich oder sachlich gemeint sind, aber im Deutschen ist es klar: „niemandt“ und „jedermann“ zeigen, dass die höchste Wirklichkeit für Luther persönlich ist.57 56 WA 7, 50,5–31. 57 WA 7, 49,22–25; 7: 21,1–4.

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In den ersten beiden Thesen nannte er nicht die Feinde, die Unterdrücker der Christen, aber im Laufe der Argumentation der Schrift erwähnte er „Sünden, Tod und die Hölle“ und auch die Gefangenschaft unter Gesetzen, die die Werke als Basis des Heils verlangen. Bemerkenswert ist die Abwesenheit des Teufels unter den Feinden, aber seine spätere Akzentuierung der Rolle des Teufels im alltäglichen eschatologischen Kampf des Christen fehlt in seinen frühen Schriften.58 Relativ selten kommt der Satan in den „Operationes“, seine Vorlesungen über die Psalmen von 1513–1515, vor, auch nicht in der Römerbrief-Vorlesung von 1515–1516, oder im Galaterbriefkommentar von 1519. Luther entwickelte sein Verständnis vom eschatologischen Kampf zwischen Gott und Satan, zwischen der Wahrheit Gottes und dem teuflischen Betrug, im Laufe des Kampfes mit dem Papsttum, der noch auf einer frühen Etappe war. Die Entfaltung der ersten Thesen ist eigentlich eine – und vielleicht die vollständigste außer dem Galaterbrief-Kommentar von 1531/1535 – Präsentation von Luthers Rechtfertigungslehre, die wir haben. Wir erwarten die Betonung des Glaubens, die hier ganz klar ist, aber wir erwarten weniger die Verbindung mit einer Versöhnungslehre, die nicht von der „Satisfactio vicaria“ spricht, sondern von – in der Terminologie von Gustaf Aulén – dem „Christus victor“ Thema. Luther sah in dem Tod Christi die Genugtuung der Forderung des Gesetzes nach dem Tod des Sünders [Röm 6,23]; er zitierte an Schlüsselstellen in seinen Schriften [Röm 4,25]: „er ist um unsere Sünden willen dahingegeben [in den Tod], und um unsere Rechtfertigung willen auferweckt.“59 Der Sieg der Auferstehung befreit die Gefangenen in Satans Gefängnisse und lässt sie wieder das volle menschliche Leben genießen. In der Freiheitsschrift ist das klar von dem Anspruch, den Christus als Bräutigam auf die Sünde der Braut erhebt, dass Christus die Sünden der Braut in sein Grab mitgenommen hat. Darüber hinaus widmet sich diese Schrift nicht nur dem Thema der Befreiung von der Sünde, um das gute Verhältnis zu Gott wiederherzustellen, sondern auch der Befreiung, um die volle Menschheit zu genießen in der Gebundenheit an den Nachbarn. Die Rechtfertigungslehre steht immer im engen Zusammenhang mit der Sündenlehre. Luthers Verständnis von der Sünde fand schon 58 Hans-Martin Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, Göttingen, 1967; Barth zitiert sehr wenige Lutherstellen vor 1521/1522. 59 Robert Kolb, Resurrection and Justification. Luther’s Use of Romans 4,25, Lutherjahrbuch 78 (2011), 39–60.

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1520, der lateinischen Version nach, ihr Fundament in dem Aufstand gegen Gott, da der Sünder ihn als Gott ablehnt und an seinen Verheißungen zweifelt. Gott die Ehre zu geben, dass man ihm vertraut und ihm Wahrheit und Gerechtigkeit zuschreibt, dass man sich ihm unterwirft – dazu ist der Mensch erschaffen.60 Der Glaube, das Vertrauen, das sich an Gott klammert, ist die Summa des Gehorsams, den Gott vom Menschen erwartet. Wie ein Jahrzehnt später, im Kleinen Katechismus, bzw. in dessen Erklärungen vom zweiten bis zehnten Gebot, worin aller Gehorsam und Ungehorsam aus dem ersten Gebot fließen, fasst Luther schon hier das ganze sündhafte Leben als Ergebnis des Unglaubens. Das heißt auch, dass die Frommen, die aus den eigenen Werken einen Ersatz für ihren Schöpfer als die Quelle aller Güte und ihre Zuflucht in allen Nöten schaffen, in diesem falschen Glauben unter Gottes Verdammung fallen, trotz ihrer äußerlichen aufrichtigen Werken, die sie als Abgott betrachten. Die Vergebung dieser Hauptsünde und aller anderen Sünden ruht auf Christi Tod und Auferstehung. Luther hat als den Schlüsselbegriff für seine Präsentation der positiven Seite der Umdefinierung des Christseins die Freiheit gewählt, die Befreiung durch Christus, durch seine Überwältigung und Beiseitesetzung der Feinde des Gläubigen. Dass Luther dieses Thema auch später als wichtig gesehen hat, ist klar im Großen Katechismus, wo er den zweiten Artikel des Credos mit dem Sieg Christi über den Teufel als Gefängniswärter interpretiert hat. „Was ist nu das, ein Herr werden? Das ists, das er mich erlöset hat von Sünde, vom Teuffel, vom Tode und allem unglück. Denn zuvor hab ich keinen Herrn noch König gehabt, sondern bin unter des Teuffels gewalt gefangen, zum Tode verdampt, in der Sünde und blindheit verstrickt gewesen. Denn da wir geschaffen waren und allerley guts von Gott dem Vater empfangen hatten, kam der Teuffel und bracht uns in ungehorsam, Sünde, Tod und alle unglück, das wir in seinem zorn und ungnad lagen, zu ewigem verdamnis verurteilet, wie wir verwirckt und verdienet hatten. Da war kein rath, hülff noch trost, biß das sich dieser einige und ewige Gottes Son unsers jamers und elend aus grundloser güter erbarmete und vom Himel kam, uns zu helffen. Also sind nu jene Tyrannen und Stockmeister alle vertrieben und ist an ire stat getretten Jesus Christus, ein Herr des lebens, gerechtigkeit, alles guts und seligkeit, und hat uns arme verlorne menschen aus der Hellen rachen gerissen, gewonnen, frey ge60 WA 7, 54,1–20.

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macht und widerbracht in des Vaters huld und gnade und als sein eigenthumb unter seinen schirm und schutz genomen, das er uns regiere durch seine gerechtigkeit, weisheit, gewalt, leben und seligkeit.“61 Luthers Begriff von der Versöhnung zwischen Gott und dem Menschen, die Christus gewirkt hat, gewann Gestalt aber nicht nur in der stellvertretenden Genugtuung und dem Sieg Christi über alle unsere Feinde. Das Thema der neuen Geburt oder der neuen Schöpfung der Christen durch die Annahme des Sünders in die Auferstehung Christi durch die Taufe oder die Absolution spielte eine prominente Rolle in Luthers Predigten, sowie das Thema von der Erwerbung des Sünders, „auf das ich sein eigen sey, in seinem Reich unter ihm lebe und im diene in ewiger gerechtigkeit, unschuldt und seligkeit.“62 Denn Luther verstand das freie Leben als ein Leben, dass Gottes Plan und Muster für das Menschsein entspricht. Der Mensch, der nach Gen 2 nicht allein sein dürfte, lebt wohl in einem Netzwerk von gegenseitig-unterstützenden Verhältnissen. Luther hätte auch als zweites These sagen können, „Der Mensch, der von allen Bösen befreit worden ist, ist jetzt frei, seine volle, vollständige Menschheit zu genießen, denn nur im gegenseitigen Dienst und Liebe kann ein Mensch erfahren, was Gott gewollt hat, als er den Menschen erschaffen hat.“ Dass wir „dienstbare Knechte in jeder Hinsicht sind, die sich den Nöten der Nächsten unterwerfen“, folgt aus Luthers Unterscheidung der zweierlei Gerechtigkeit. Denn der Mensch, der die Verheißung von Vergebung der Sünden, das Leben, und die Seligkeit in Jesus Christus glaubt, erkennt, dass er sich als gerechtfertigt, also gerecht vor Gott, und als Gottes gerechtes Kind betrachten muss. Diese Erkenntnis treibt ihn, als Gottes gerechtes Kind zu leben, und das Ebenbild von Gottes Liebe in der Welt zu verkörpern. Hier nennt Luther die beiden Thesen nicht ein Paradox, und sie sind nicht paradox. Denn die Freiheit des Christenmenschen existiert in der Kernidentität dieses befreiten, neugeborenen, vergebenen Menschen, und sein Dienst des Nachbarn existiert in den äußeren Identitäten, die Gott ihm im Kontext der Berufe seines Alltags gegeben hat. Die Freiheit und die Gebundenheit dieser Schrift werden in zwei verschieden Dimensionen des Lebens erlebt, in zwei unterschiedlichen aber ineinander verschlungenen „Reichen“, und sie widerspiegeln die zwei Aspekte der menschlichen Gerechtigkeit, die 61 BSELK 1056,1–17. 62 BSELK 872,7–9.

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Luther in seiner De duplici iustitia anderthalb Jahre zuvor dargelegt hat. So ist es klar, dass der Gläubige, der erkennt, dass Gott ihn für gerecht hält, sich selbst als gerecht versteht, und er will deswegen den Willen Gottes in dem ganzen Leben erfüllen. Wenn Gott mich gerecht gemacht hat, dann will ich gerecht handeln, gegenüber Gott mit Lob und Preis, gegenüber anderen Menschen mit Liebe als gebundener Diener. Gebundenheit an die Nöte der Nachbarn heißt eigentlich die Freiheit Mensch zu sein. Denn, wie Christus sich für die sündhaften Menschen geopfert hat, sind Christen bereit, Zeit und Gut für die Nachbarn zu opfern, damit sie Gott und den anderen Menschen dienen, um diese Nachbarn Gottes Liebe erfahren zu lassen. Luther beschrieb das christliche Leben, das sich aus dem Glauben ergibt, von verschiedenen Blickwinkeln. Er verwendete seine oft gebrauchte Metapher von dem guten Baum, der gute Früchte hervorbringt. Erstens heißt das, dass der Mensch gut gemacht werden muss, bevor er gute Früchte produzieren kann, und zweitens, weil Gott ihn gut gemacht hat, fließen die guten Werke aus seinem Glauben. Luther hat auch die mittelalterlichen Bezeichnungen für Christus als König und als Priester sein Werk weiter erläutert, und dann als Basis für die Beschreibungen der Gläubigen als Könige und Priester verwendet. Als Könige herrschen sie über alle ihre Feinde, und als Priester dienen sie den anderen Menschen, mit der Verkündigung des Evangeliums und mit der Liebe, die sich in Fürsorge für die Bedürfnisse des täglichen Lebens der Nachbarn zeigt. Dieses Leben befindet sich aber in ständigem Ringen gegen die Verführung des Fleisches, und Luther gan Anweisungen, wie man gegen diesen Feind kämpfen soll.63 Luthers „Summa des christlichen Lebens“ bleibt ein Meilenstein in der Erklärung des christlichen Glaubens. Er rief die Kirche zur Reform durch die Verkündigung der Annäherung Gottes an die Menschen in Jesus Christus, der Sünder von allem Böse zu befreien als Mensch zur Erde gekommen ist, damit wir frei sind, den Nächsten zu lieben, wie Gott uns schon geliebt hat. De libertate Christiana und Die Freiheit eines Christenmenschen sind deswegen eine Erinnerung an den Kern der biblischen Botschaft und die reformatorische Erklärung von der Befreiung der Sünder zur Übung des christlichen Lebens.

63 WA 7, 56,35–58,30; 7, 26,32–29,6.d