Kirche und Gemeinde in freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht 9783897104402, 9783767571273, 3897104407

Das Selbstverständnis und die konkrete Gestalt der Kirche sind die an erster Stelle ins Auge fallenden Unterschiede zwis

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Kirche und Gemeinde in freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht
 9783897104402, 9783767571273, 3897104407

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Kirche und Gemeinde in freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht
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Inhalt
Vorwort
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Burkhard Neumann / Jürgen Stolze (Hg.) Kirche und Gemeinde aus freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht

Burkhard Neumann Jürgen Stolze (Hg.)

Kirche und Gemeinde aus freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht

Bonifatius Edition Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

IMO-COC-027574

393-53323-1109-1036 klimaneutral gedruckt

Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. Die bei der Produktion unvermeidlich anfallenden CO2-Emissionen wurden durch den Ankauf von hochwertigen Zertifikaten neutralisiert. Diese werden in geeignete Projekte zur Reduktion von CO2 in Entwicklungsländern investiert. Das verwendete Papier ist mit dem FSC-Siegel versehen, da ein großer Teil der Rohstoffe aus verantwortungsvoller Waldbewirtschaftung stammt. Der Druckvorgang erfolgte ohne den sonst üblichen Einsatz von Industriealkohol. Es wurde mit mineralölfreien Skalenfarben gedruckt. Die Senkung der Emissionen und des Energieverbrauchs sind wichtige Schritte zur Verbesserung der Umweltbilanz.

Umschlaggrafik: Christian Knaak, Dortmund

ISBN 978-3-89710-440-2 (Bonifatius) ISBN 978-3-7675-7127-3 (Edition Ruprecht) © 2010 by Bonifatius GmbH Druck · Buch · Verlag Paderborn und Edition Ruprecht, Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung der Verlage. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG.

Satz: Andrea Pollmann, Johann-Adam-Möhler-Institut, Paderborn Gesamtherstellung: Bonifatius GmbH Druck · Buch · Verlag Paderborn

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rainer Dillmann

Kirchenbilder in der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

André Heinze

Nicht nur Gemeinden, sondern auch Kirche Die Pastoralbriefe als Herausforderung freikirchlicher Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Burkhard Neumann

Der Wandel des katholischen Kirchenbildes bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil . . . . . .

63

Johannes Demandt

Der Wandel eines freikirchlichen Gemeindeverständnisses Dargestellt am Beispiel des Bundes Freier evangelischer Gemeinden . . . . . . . . . . . . . .

87

Wolfgang Thönissen

Das Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils in ökumenischer Verständigung . . . . . . . . . . . . 123 Michael Nausner

Geistgewirktes Mit-Sein Methodistische Ekklesiologie als Ausdruck globaler Verbundenheit . . . . . . . . . . 149 5

Niels Gärtner

Das Verhältnis evangelische Landeskirche – Herrnhuter Brüdergemeine: Ortsgemeinde, Regionalgemeinde, Doppelmitgliedschaft Gelebte Gemeindemodelle der Herrnhuter Brüdergemeine . . . . . . . . . . . . . . . 179 Michael Hardt

Gemeinde aus katholischer Sicht . . . . . . . . . . . 195 Ralf Dziewas

Die unverbindliche Treue Dimensionen des Amtes im kongregationalistischen Verhältnis von Gemeindebund und Ortsgemeinde . . . . . . . . . 217 Tim Lindfeld

Kirche und Gemeinde im ökumenischen Dialog mit den Freikirchen . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Kim Strübind

Baptistische Ekklesiologie und Ökumene Eine (selbst-)kritische Ortsbestimmung . . . . . . . . . 275 Jürgen Stolze

Versuch einer Zusammenfassung aus freikirchlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Wolfgang Thönissen

Versuch einer Zusammenfassung aus katholischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

6

Jürgen Stolze

Lukas 9,57-62 Morgenandacht am 28. Februar 2008 . . . . . . . . . . 311 Johannes Oeldemann

„Licht der Welt“ Biblische Besinnung zu Mt 5,14-16 . . . . . . . . . . . . 315 Autorenspiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

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Vorwort Unter neuer Herausgeberschaft, aber mit derselben Zielsetzung legen wir hiermit den vierten Band der Gespräche zwischen Vertretern der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) und der römisch-katholischen Kirche vor. Dokumentiert sind die Gesprächsbeiträge, die beim gleichnamigen Symposion im Februar 2008 in Paderborn vorgetragen wurden. Den bisherigen Herausgebern, Bischof i.R. Dr. Walter Klaiber und Prof. Dr. Wolfgang Thönissen, sei für ihre Arbeit an den ersten drei Bänden von Herzen gedankt. Das jeweilige Selbstverständnis und die konkrete Gestalt der Kirche sind die zunächst an erster Stelle ins Auge fallenden Unterschiede zwischen den Freikirchen und der römisch-katholischen Kirche: Hier eine Fülle ganz unterschiedlicher, häufig kongregational verfasster überschaubarer Gemeinden mit dem Anspruch, in dieser Form Gemeinde nach dem Vorbild des Neuen Testaments zu sein; dort die weltweite römisch-katholische Kirche, die davon ausgeht, bei allem Wandel ihrer 2000-jährigen Geschichte in der Kontinuität mit der Kirche der ersten Christen zu stehen. Mit diesen beiden Organisationsformen ist der Raum markiert, in dem sich sehr unterschiedliche Formen von kirchlichen Strukturen und Selbstverständnissen herausgebildet haben. Lassen sich zwischen den hier nur angedeuteten Positionen Brücken finden? Oder stehen sich ganz unterschiedliche Typen von Kirche gegenüber, die zwar, wie in den bisherigen Gesprächsrunden deutlich geworden ist, in Kernpunkten des Glaubens vieles verbindet, die aber dennoch als Kirchen Welten voneinander trennen? Können vielleicht Kirchen, die wie die römisch-katholische Kirche weltweit verfasst sind, aber in der VEF mit kongregational 9

geprägten Freikirchen verbunden sind, eine wichtige Brückenfunktion haben? Im Blick auf diese Fragen lohnt sich ein genauerer Blick auf das jeweilige Selbstverständnis. Denn auch ein kongregationalistisches Gemeindeverständnis ist, wenn es das Zeugnis des Neuen Testaments ernst nimmt, offen für die universale Dimension von Kirche, und auch das römisch-katholische Verständnis der einen, weltweiten Kirche blendet die Realität der Ortsgemeinde, in der ja die Kirche zuerst gelebt und erfahren wird, nicht aus. Das ist der Grund, warum diese Gesprächsrunde sich dem umfassenden Thema der Kirche, ausgehend von der Verhältnisbestimmung zwischen Gemeinde und universaler Kirche, gewidmet hat. Dass damit nur ein allererster Schritt aufeinander zu getan werden konnte auf einem Feld, das kaum zu überschauen ist, war allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bewusst. Dennoch erwies es sich, wie die hier vorgelegten Beiträge zeigen, als äußerst sinnvoll, das Thema von dieser Perspektive aus anzugehen, weil sich, wie in den ersten Gesprächsrunden, auch diesmal überraschende Annäherungen an Punkten zeigten, an denen man sie im Vornherein kaum vermutet hätte. Im Blick auf die vorherige Gesprächsrunde, die sich dem Thema des Schriftverständnisses gewidmet hatte, wurde vor allem die Relevanz einer biblischen Grundlegung des je eigenen Kirchenverständnisses deutlich. Unsere Kirchen müssen sich immer wieder neu der Frage stellen, inwieweit das Zeugnis der Bibel die maßgebliche und darum auch kritische Norm des jeweiligen Kirchenverständnisses darstellt. Es kennzeichnet das in den vergangenen Jahren gewachsene Vertrauen zwischen beiden Gesprächspartnern, dass in aller Ehrlichkeit auch theologische und strukturelle Defizite bzw. Herausforderungen benannt werden können, denen sich unsere Kirchen stellen müssen, wenn sie ihren eigenen Glauben ernst nehmen. 10

Wir geben diesen Band an die Öffentlichkeit in der Hoffnung, dass auch er, wie seine Vorgänger, einen Beitrag leistet für die weitere Verständigung zwischen den in der VEF verbundenen Freikirchen und der römischkatholischen Kirche. Denn nur wenn man den ökumenischen Partner wirklich kennt und versucht, ihn mit seinen eigenen Augen zu sehen, kann man in einen echten Dialog eintreten und gemeinsam nach Wegen suchen, dem Ziel der Einheit der Christenheit näherzukommen. Das haben wir auch in diesem Gesprächsgang versucht und hoffen, den Leserinnen und Lesern etwas von dem dabei gemeinsam Entdeckten weitergeben zu können.

Paderborn/Frankfurt a.M., im Dezember 2008

Burkhard Neumann

Jürgen Stolze

Direktor am Johann-AdamMöhler-Institut für Ökumenik

Pastor der Evangelischmethodistischen Kirche

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Kirchenbilder in der Bibel Rainer Dillmann

Vorbemerkung Kirchenbilder in der Bibel – dieses Thema möchte ich präzisieren: Kirchenbilder im Neuen Testament; denn Kirche ist wesentlich eine neutestamentliche Wirklichkeit. Zwar lassen sich bereits im Alten Testament ekklesiale Strukturen entdecken, aber wieweit alttestamentliche Vorstellungen von Israel als Volk Gottes auf die Kirche zu übertragen sind, ist umstritten. Zwar kann in Bezug auf das Alte Testament von „Kirchenmodellen“ in der nachexilischen Zeit, die ein „neues Verständnis im Blick auf die Ganzheit ‚Israels’ markieren“,1 gesprochen und die Kirche als „Teil des umfassenden Gottesvolkes“2 gesehen werden, aber die Kirche tritt nicht einfach anstelle des alttestamentlichen Gottesvolkes. Es wäre jedenfalls falsch, die Kirche als das neue Israel zu definieren. Es scheint somit gerechtfertigt, die nachfolgende Darstellung von Kirchenbildern auf das Neue Testament zu konzentrieren. Die Überschrift spricht von Kirchenbildern. Der Plural ist angesichts der Komplexität und Vielfalt der Bilder, die sich im Neuen Testament in Bezug auf die Kirche finden, nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig. Auf alle Bilder von Kirche im Neuen Testament einzugehen,  1 Vgl. F.-L. Hossfeld, Volk Gottes als „Versammlung“, in: J. Schrei-

ner (Hg.), Unterwegs zur Kirche. Alttestamentliche Konzeptionen, Freiburg i.Br. 1987 (QD 110), 123-142. 2 H.F. Fuhs, Volk Gottes – JHWHs Verwandtschaft. Basiskirchliche Strukturen im Alten Testament, in: J. Ernst (Hg.), Kirche im Übergang, Paderborn 2003, 21-42, hier 31.

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scheint mir in diesem Zusammenhang unmöglich. Deshalb ist eine Auswahl zu treffen. Zunächst werde ich auf den zentralen Begriff dêêëçóßá eingehen. Es folgen dann die Bilder von Kirche als Volk Gottes, als Leib Christi, als Pflanzung, Bau und Tempel, als Ort der Versöhnung, als Hausordnung Gottes und letztlich als Ort der Gegenwart Christi in der Welt. Fragen der Entstehung und Entwicklung von Kirche im Neuen Testament, von Strukturen, Organisation und des Amtes sowie die Frage der Stiftung durch Jesus Christus bleiben dabei weitgehend ausgeklammert.3

Kirche als Versammlung des eschatologischen Gottesvolkes Der wohl wichtigste Begriff, in dem das Kirchenverständnis des Neuen Testaments sich ausdrückt, ist dêêëçóßá. Im Neuen Testament begegnet uns dêêëçóßá insgesamt 114-mal. Allerdings ist die Verteilung recht einseitig. In den synoptischen Evangelien findet sich dêêëçóßá nur im Matthäusevangelium (Mt 16,18; 18,17 [2-mal]); im Johannesevangelium fehlt der Begriff ganz. Im paulinischen Schrifttum dagegen ist der Begriff fest verankert. In den echten Paulusbriefen findet er sich insgesamt 46-mal – davon allein 22-mal im Ersten Korintherbrief – und in den Deuteropaulinen 16-mal (8-mal  3 Zu solchen Fragen vgl. J. Roloff, Kirche im Neuen Testament,

Göttingen 1993 (GNT 10); H.-J. Venetz, So fing es mit der Kirche an. Ein Blick zurück in das Neue Testament, Zürich 1981; K. Berger, Art. Kirche II. Neues Testament, in: TRE 18 (1989) 201-218; J. Gnilka, Die frühen Christen. Ursprünge und Anfang der Kirche, Freiburg i.Br. 1999 (HThK.S 7); T. Söding, Blick zurück nach vorn. Bilder lebendiger Gemeinden im Neuen Testament, Freiburg i.Br. 1997; vgl. auch R. Dillmann, Ekklesiale Wirklichkeit im Neuen Testament. Ein kommunikatives Netzwerk eigenständiger Ortskirchen, in: J. Ernst (Anm. 2), 43-65.

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im Eph; 4-mal im Kol; 1-mal im 2 Thess und 3-mal im 1 Tim). Auch in der Apostelgeschichte ist dêêëçóßá relativ häufig zu finden – insgesamt 23-mal. In der Offenbarung begegnet der Begriff ausschließlich im Zusammenhang mit den sieben Sendschreiben (20-mal). Die restlichen Belege verteilen sich auf Hebr (2-mal), 3 Joh (3mal) und Jak (1-mal).4 Wie die Statistik zeigt, kann Leben und Wirken Jesu ohne Rückgriff auf den Begriff dêêëçóßá beschrieben bzw. dargestellt und verkündet werden. Erst für die nachösterliche Gemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen Jesu ist dêêëçóßá zentral. In diesem Begriff drückt sich ihr Selbstverständnis aus. Es scheint somit sinnvoll, mit dem in diesem Begriff enthaltenen Bild zu beginnen, wenn es darum geht, Kirchenbilder im Neuen Testament darzustellen. Herausragende Bedeutung haben dabei in erster Linie Paulus und die von ihm abhängigen Schriften. Auf diese fallen mehr als die Hälfte der Belege. Die Apostelgeschichte dürfte dagegen weniger geeignet sein, da hier neben der theologischen Bedeutung von dêêëçóßá an mehreren Stellen das wohl eher technische Verständnis von Versammlung vorausgesetzt ist (sicher in Apg 19,32.39). Auf die Offenbarung wird am Ende dieses Beitrages gesondert eingegangen. Etymologisch ist dêêëçóßá von dêêáëÝù (= herausrufen) abzuleiten. Im hellenistischen Bereich bezeichnete dêêëçóßá „die Versammlung der freien stimmberechtigten Bürger eines Gemeinwesens“5 und war Ausdruck der Volkssouveränität. Dabei dachte die Antike sehr konkret: Diese Bürgerversammlung wurde als „Herausgerufene“ bezeichnet, weil sie mittels eines Herolds  4 Vgl. J. Roloff, Art. dêêëçóßá, in: EWNT 1 (1980) 998-1011, hier

999. 5 H.-J. Klauck, Gemeinde zwischen Haus und Stadt. Kirche bei Pau-

lus, Freiburg i.Br. 1992, 35.

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einberufen wurde. Klauck übersetzt deshalb dêêëçóßá ôï™ èåï™ mit „Bürgerversammlung Gottes“.6 EÅêêëçóßá ist also durchaus ein profaner Begriff, der jedoch im Neuen Testament zu einem theologischen Begriff wird wie schon in der spätdeuteronomistischen Theologie das hebräische qehal.7 Und wenn wir nach einem einzigen deutschen Wort suchen, das sowohl dem profanen wie auch dem theologischen Gebrauch des Begriffes Ekklesia gerecht werden kann, „so dürfte sich als Übersetzung das Wort Versammlung in erster Linie empfehlen“.8 Ein weiterer Aspekt ist zur Klärung des Begriffes wichtig: Indem das Neue Testament dêêëçóßá als Selbstbezeichnung übernimmt, greift es zugleich auf den Sprachgebrauch der Septuaginta zurück. Diese übersetzt das hebräische qehal überwiegend – nicht ausschließlich – mit dêêëçóßá. Dennoch scheint eine direkte Ableitung aus dem Sprachgebrauch der Septuaginta nicht richtig.9 Die christlichen Gruppen übernahmen diesen Begriff vielmehr gefiltert durch das zeitgenössische Judentum, in dem qehal „das endzeitliche Aufgebot Gottes bezeichnete“.10 Paulus spricht konsequent von der dêêëçóßá ôï™ èåï™ (1 Kor 1,2; 10,32; Gal 1,13 u.ö.). Möglicherweise geht dieser Sprachgebrauch auf die Urgemeinde in Jerusalem zurück.11 Der Gebrauch des Plurals (1 Kor 11,16.22; Gal 1,2; 1 Thess 2,14) zeigt, dass  6 Ebd. 7 Vgl. dazu F.-L. Hossfeld (Anm. 1), 134-135. 8 K.L. Schmidt, Art. dêêëçóßá, in: ThWNT 3 (1967) 502-539, hier

505. 9 Vgl. K. Stendahl, Art. Kirche II. Im Urchristentum, in: RGG4 3

(2000) 1297-1304; P. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, Göttingen 1965, 210-217. 10 J. Roloff (Anm. 4), 1000; dieses Verständnis von qehal findet sich auch in Qumran: 1 QM 4,10; 1 QS 1,25. 11 So J. Roloff (Anm. 4), 1002.

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der Begriff sowohl die „örtliche Versammlung der Christen wie auch die überörtliche Gemeinschaft der Glaubenden“12 umfasst. Universaler und lokalpartikularer Aspekt sind in diesem einen Begriff vereint. Mit dieser etymologischen und traditionsgeschichtlichen Ableitung von dêêëçóßá kommt ein erstes Bild von Kirche in den Blick: Kirche ist die Versammlung des eschatologischen Gottesvolkes vor Ort. Auf dem Hintergrund alttestamentlicher und frühjüdischer Vorstellungen wird dabei die Ganzheit nicht ausgeblendet. Kirche in ihrer Universalität ist deshalb mehr als der Zusammenschluss einzelner, eigenständiger Ortskirchen. In den konkreten Ortsgemeinden tritt die eine Kirche sichtbar in Erscheinung. So versteht es wohl Paulus, wenn er der dêêëçóßu ôï™ èåï™ ô† ï¡ów dí Êïñßíèv schreibt (1 Kor 1,2). Der sprachliche Wechsel von dêêëçóßá ôï™ èåï™ zu dêêëçóßá ×ñéóôï™ (vgl. Röm 16,16) macht zugleich deutlich, dass Kirche im Ostergeschehen gründet und von dorther lebt; darin unterscheidet sich die dêêëçóßá von der alttestamentlichen qehal, die im Sinaigeschehen gründet.13

Kirche als Volk Gottes Im Anschluss an dieses Bild von der Kirche als Versammlung des eschatologischen Gottesvolkes scheint es sinnvoll, als zweites das Bild von der Kirche als Volk Gottes aufzugreifen. Im Zweiten Vatikanischen Konzil war dieses Bild zentral. Aus neutestamentlicher Sicht kommt diesem Bild nicht eine so zentrale Rolle zu. Zwar ist der Begriff ëáüò im Neuen Testament häufig belegt, aber an der überwiegenden Mehrzahl der Stellen  12 J. Roloff (Anm. 4), 1000. 13 So F.-L. Hossfeld (Anm. 1), 141.

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bezeichnet er Israel. Und es scheint mir nicht richtig, diese Stellen ekklesiologisch zu vereinnahmen. Im Neuen Testament gibt es insgesamt 142 Belege für ëáüò. Davon finden sich lediglich 12 im Corpus Paulinum, aber 84 im lukanischen Doppelwerk (36 in Lk; 48 in der Apg). Ëáüò ist eine lukanische Vorzugsvokabel. Der Begriff selbst ist mehrdeutig. Das Bedeutungsspektrum reicht von Leute, Volksmenge (ohne nationale Nuance), Israel als erwähltes Gottesvolk bis hin zur Bezeichnung für die christliche Gemeinde, wobei der Unterschied zu hèíïò faktisch aufgehoben wird.14 Welche Bedeutung vorherrschend ist, lässt sich nur aus dem literarischen Kontext entnehmen. Die Überzeugung, dass Israel Gottes erwähltes Volk ist (ëá’ò ôï™ èåï™), gehört zu den Grunddaten des Neuen Testaments. In Kontinuität zu Israel kann dann auch die christliche Gemeinde als Volk Gottes bezeichnet werden. Das Neue Testament kann sich dabei auf alttestamentliche Vorgegebenheiten stützen, da bereits im Deuteronomium wie auch insbesondere in der prophetischen Tradition die national-religiöse Vorstellung gesprengt und die Völker in die Heilserwartungen Israels einbezogen werden (vgl. Jes 2,1-5; 56,6-7; 60,1-11; Mi 4,1-4). Am stärksten ausgeprägt ist der Volk-Gottes-Gedanke im lukanischen Doppelwerk. „Lukas hat den Begriff ëáüò ... bewusst und gezielt eingesetzt.“15 Er weitet den ethnisch bestimmten Begriff aus und gibt ihm eine universale Dimension. Jesus ist das Heil, das Gott bereitet hat „vor dem Angesicht aller Völker (ðáíô§í ô§í ëá§í Plural!),  14 Vgl. H. Frankemölle, Art. ëáüò, in: EWNT 2 (1992) 837-848, hier

839. 15 Ebd., 843; Einen guten Einblick in das Verständnis von Israel bei

Lukas bietet A. George, Israël, in: ders. (Hg.), Études sur l’oeuvre de Luc, Paris 1978, 87-125.

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ein Licht zur Offenbarung für Völker (dèíç) und zur Herrlichkeit für sein Volk (ëáüò) Israel“ (Lk 2,31-32). Mit der Darstellung Jesu im Tempel (Lk 2,22-38) beginnt die Wallfahrt der Völker zum Zion.16 Für Lukas gibt es nur ein Gottesvolk. Jesus verkündet vom neuen Wirken Gottes an seinem Volk und beginnt mit der Sammlung Israels. Dazu sendet er auch seine Apostel aus. Ostern ist in der lukanischen Konzeption kein Bruch; mit Ostern „wird die Sendung an Israel lediglich vertieft und erweitert“.17 Die Kirche tritt also nicht an die Stelle Israels. Zwischen Israel und der Kirche besteht vielmehr Kontinuität. Zwar ist „die Jüngergemeinde vor Pfingsten ... nicht die Kirche, ... hat ... aber doch mit der Kirche Entscheidendes zu tun“.18 Dies zeigt sich u.a. in der Betonung des Zwölferkreises. So betont Lukas die Kontinuität der sich aus Juden und Heiden zusammensetzenden christlichen Kirche zum alttestamentlichen Gottesvolk. Mit dieser Konzeption wahrt Lukas die Kontinuität in der Heilsgeschichte. Das Entstehen der christlichen Kirche kündet weder von einem Bruch in der Heilsgeschichte, noch macht es die Geschichte Gottes mit Israel zu einer Vorgeschichte. Sie ist vielmehr deren Weiterführung unter Einschluss der Völker. Der Begriff dêêëçóßá tritt demgegenüber im lukanischen Doppelwerk zurück. Mit Ausnahme in der Abschiedsrede des Paulus in Milet (Apg 20,28) überwiegt in der Apg wohl eher die technische Verwendung des Begriffes auch dort, wo von der christlichen Gemeindeversammlung gesprochen wird.

 16 Vgl. dazu R. Dillmann, Die lukanische Kindheitsgeschichte als Ak-

tualisierung frühjüdischer Armenfrömmigkeit, in: SNTU 25 (2000) 76-97, insb. 94-95. 17 G. Lohfink, Die Sammlung Israels. Eine Untersuchung zur lukanischen Ekklesiologie, München 1975 (StANT 39), 83. 18 Ebd., 75.

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Kirche als Leib Christi Die Bezeichnung Leib Christi (ó§ìá ×ñéóôï™) findet sich innerhalb des Neuen Testaments in zwei Kontexten: in der Abendmahlsüberlieferung (vgl. Mt 26,26; Mk 14,27; Lk 22,19; 1 Kor 11,24) und in ekklesiologisch bedeutsamen Texten der paulinischen Tradition (vgl. 1 Kor 12,12-31; Röm 12,4-5; Kol 1,24; 2,19; 3,15; Eph 1,23; 4,12.16; 5,23.30). Sein Gebrauch in 1 Kor 10,1617 und 11,27.29 schließt sich eng an die Abendmahlsvorstellung an. Die ekklesiologische Bedeutung dieses Bildes bleibt also auf den paulinischen Sprachkreis begrenzt. Der wohl wichtigste paulinische Text ist 1 Kor 12,12-31. Hier entwickelt Paulus das Bild vom Leib Christi im Anschluss an die Ausführungen über die Einheit und Verschiedenheit der Charismen, von der 1 Kor 12,4-11 handelt. Der Text leitet ein mit einem Vergleich: êáèÜðåñ (gleichwie). Der Akzent liegt auf dem einen Leib und den vielen Gliedern, dem einen Geist, mit dem alle getauft sind. Zunächst geht es Paulus um den einen Christus: ”íôùò êár ¿ ×ñéóôüò. Erst nachdem er das in der Antike weitverbreitete Bild von dem Leib und seinen vielen Gliedern weiter entfaltet hat, kommt er am Ende des Abschnittes zu der Formulierung: „Ihr aber seid Leib Christi und Glieder als Teil“ (1 Kor 12,27). Die Gemeinschaft als Ganze ist Leib Christi und jeder Einzelne Glied dieses Leibes. Die Herkunft dieses Bildes ist in der Exegese umstritten. Weitgehend aufgegeben ist heute seine Ableitung aus einem gnostischen Erlöser-Anthropos-Mythos. In der neueren Literatur wird das Bild überwiegend aus dem Herrenmahl hergeleitet. Der Kontext von 1 Kor 11 sowie die ausdrückliche Verknüpfung von Brot und Leib Christi in 1 Kor 10,16 legen dies nahe. Auch wenn damit 20

nicht alle Fragen gelöst sind19 und kosmologisch-mythische Vorstellungen bei Paulus nachwirken,20 scheint mir diese Auffassung am ehesten zutreffend. In 1 Kor 10,16 wird aus der Teilhabe am Brot, d.h. am Herrenmahl, die Teilhabe am Leib Christi gefolgert. Weil die Christen in Korinth an dem einen Brot teilhaben, sind sie ein Leib. Das gemeinsame Herrenmahl erhält damit eine ekklesiologische Dimension. Die Gemeinschaft, die sich beim Mahl bildet, ist zugleich Gemeinschaft mit Christus. Die paulinische Leib-Christi-Vorstellung wird ausschließlich paränetisch entfaltet und ermöglicht eine auf die Praxis ausgerichtete sakramentale Identifikation.21 Darüber hinaus scheint mir wichtig, dass Paulus meidet, einzelne Glieder des Leibes mit konkreten Positionen oder Funktionen in der Gemeinde in Beziehung zu setzen. Kol und Eph gehen hier einen Schritt weiter, indem sie Christus als êåöáëÞ (Haupt) bezeichnen. Ein soziologisches Verständnis des paulinischen Bildes scheint mir deshalb verfehlt. Der Gedanke, dass alle eins sind in Christus, ist zentral. Das Bild vom Leib ist dem unterzuordnen. Dementsprechend findet der Vergleich mit einem Organismus hier seine Grenzen. Kirche repräsentiert als Leib Christi Christus in dieser Welt. Daraus lässt sich schwerlich der Umkehrschluss ziehen: Wo die Kirche ist, ist Christus.22 In den Zusammenhang des Bildes von der Kirche als Leib Christi gehört auch der für Paulus ekklesiologisch zentrale Begriff der êïéíùíßá. Mittels dieses Begriffes  19 Diesen Einwand erhebt Schrage gegen die Herleitung aus dem

Herrenmahl; vgl. W. Schrage, Der Erste Brief an die Korinther (1 Kor 11,17-14,40), Neukirchen-Vluyn 1999 (EKK 7/3), 213-214. 20 Vgl. H.-J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief, Münster 1982 (NTA 15), 338-343. 21 Ebd., 346. 22 Vgl. dazu W. Schrage (Anm. 19), 212-213.

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werden Christologie und Ekklesiologie miteinander in Beziehung gesetzt. Die in der Kirche als Leib Christi erfahrene Gemeinschaft findet ihren adäquaten Ausdruck im gemeinsamen Herrenmahl. „Im sakramentalen Geschehen des Abendmahls, in dem Christus Gemeinschaft stiftet zwischen sich und denen, die Anteil empfangen an seinem Leib und seinem Blut, liegt der Ursprung der Kirche, und zwar der Kirche als Gemeinschaft.“23 Kolosser- und Epheserbrief haben das Bild von der Kirche als Leib Christi weiterentwickelt. Jetzt ist Christus „das Haupt des Leibes, der Kirche“ (Kol 1,18; vgl. auch Eph 5,23). Diese Gleichung Kirche = Leib Christi findet sich bei Paulus nicht. Ob sie dort bereits implizit vorausgesetzt ist,24 ist umstritten. Erst im Kolosser- und Epheserbrief wird dies ausgesprochen. Kol greift dieses Bild im Kontext des Christushymnus am Ende der ersten Strophe auf (Kol 1,15-21).25 Die beiden parallel formulierten Aussagen der Verse 17 und 18a sind mit êár ášôüò an den vorangegangenen Vers angeschlossen. Sie sind deshalb grammatikalisch der Begründung zuzuordnen, die in Vers 16 mit ”ôé eingeleitet wurde. Christus ist Erstgeborener der Schöpfung, weil in ihm alles erschaffen wurde und alles durch ihn und auf ihn hin erschaffen ist (Kol 1,16); er ist vor allem, in ihm hat alles Bestand, er ist das Haupt des Leibes, der Kirche (Kol 1,17-18a). Kosmos und Kirche werden hier miteinander  23 J. Hainz, Koinonia. „Kirche“ als Gemeinschaft bei Paulus, Regens-

burg 1982 (BU 16), 175. 24 So H. Schlier, Der Brief an die Epheser. Ein Kommentar, Düssel-

dorf 41963, 90. 25 Die erste Strophe umfasst die Verse Kol 1,15-18a. Zu dieser Ab-

grenzung siehe: A. Hölscher, Christus als Bild Gottes. Zum Hymnus des Kolosserbriefes, in: ders. / R. Kampling (Hg.), Religiöse Sprache und ihre Bilder. Von der Bibel bis zur modernen Lyrik, Berlin 1998, 114-131, insb. 120-126.

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in Beziehung gebracht. Allerdings sehe ich in der ekklesiologischen Ausweitung keine Störung der einheitlichen „kosmisch-christologischen Orientierung des Hymnus“,26 sondern eine notwendige Ergänzung. Wo die kosmische Funktion Christi in den Blick kommt, muss auch seine Funktion in Bezug auf die Kirche neu bedacht werden. Der Kosmos als organisches Ganzes ist ein in der griechisch-römischen Antike weitverbreitetes Bild. Es findet sich bereits bei Platon, später dann in der Stoa, aber auch im hellenistischen Judentum, etwa bei Philo. Seine Verwendung in der Ekklesiologie scheint deshalb konsequent. Die grundlegende ekklesiologische Bedeutung dieses Bildes von Christus als Haupt der Kirche, die sein Leib ist (vgl. Eph 1,22-23), hat m.E. Heinrich Schlier bereits treffend zusammengefasst: Durch diese Beziehung (ó§ìá – êåöáëÞ) wird „die unzertrennbare Zusammengehörigkeit und von Gott verfügte Zuordnung von Kirche und Christus angezeigt, ... die Unterordnung des Leibes unter das Haupt ... und entsprechend die Überordnung des Hauptes über den Leib ... [und letztlich] die Einheit des Leibes betont“.27 Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist dieses Bild in der katholischen Ekklesiologie eher in den Hintergrund getreten – zu Unrecht wie mir scheint, da es gerade die Verwiesenheit aller Glieder aufeinander und zueinander wie auch aller auf Christus hin prägnant auszudrücken vermag.

 26 So J. Ernst, Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolos-

ser, an die Epheser, Regensburg 1974 (RNT), 170. 27 H. Schlier (Anm. 24), 90.

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Das Bild vom Bau und vom Ackerfeld Das Bild von der Kirche als Bau bzw. Tempel ist im Neuen Testament in unterschiedlichen Traditionen verhaftet. Es findet sich bei Paulus (vgl. 1 Kor 3,9-17), in den Deuteropaulinen (vgl. Eph 2,19-22) und im Ersten Petrusbrief (vgl. 1 Petr 2,3-6). Unter Berücksichtigung des Gleichnisses vom Hausbau (Mt 7,24-27) dürfte das Bild auch hinter den Aussagen des Matthäusevangeliums stehen, die von Petrus als dem Fels, auf dem Christus seine dêêëçóßá bauen wird, sprechen (vgl. Mt 16,18). Paulus greift das Bild vom Bau im Ersten Korintherbrief im Kontext des Parteienstreits auf und verknüpft es dort mit dem Bild vom Ackerfeld. Beide Bilder umschreiben in diesem Zusammenhang die Verantwortung, die den Verkündern obliegt. Ihr Wirken ist Dienst an der einen Sache, ihre Aufgabe ist ihnen von Christus selbst zugewiesen (vgl. 1 Kor 3,5). Die Verknüpfung beider Bilder findet sich schon im Alten Testament (vgl. Jer 1,10) und in Qumran (vgl. 1 QS 11,8). Beim Bild vom Pflanzen liegt „der Ton auf dem umgreifenden Wirken Gottes“.28 Das Bild ist im Alten Testament vorbereitet und im Frühjudentum sowie in Qumran weit verbreitet.29 Mit diesem Bild wird das Wirken des Paulus und das des Apollo in Korinth miteinander in Bezug gesetzt und betont herausgestellt, dass das alles Entscheidende Gottes Wirken ist. Aus der unterschiedlichen Zuordnung von Pflanzen und Begießen sollten keine allzu weitreichenden Schlüsse gezogen werden. Das Bild vom Bau wird in 1 Kor 3 in zweierlei Weise entfaltet: in Bezug auf das Legen des Fundaments und in  28 H.-J. Klauck, 1. Korintherbrief, Würzburg 1984 (NEB 7), 34. 29 Vgl. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1-4, Gü-

tersloh 1992 (ÖTBK 7/1), 260.

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Bezug auf das darauf zu bauende bzw. gebaute Werk. Bei Letzterem interessiert weder die Bauweise, noch der Baugrund; es wird lediglich nach den verwendeten Materialien unterschieden. „Dies unterstreicht den Vorrang des Fundament-Legens, das für alle weiteren Tätigkeiten den entscheidenden Maßstab setzt.“30 Das Fundament ist Jesus Christus (1 Kor 3,11). Daran kann und darf kein Verkünder rütteln. Dies ist gleichsam die gemeinsame Basis, ohne die eine christliche Gemeinschaft nicht Kirche sein kann. Verglichen werden hier jedoch die unterschiedlichen Verkündigungsdienste. Vergleichspunkt „ist Wert und Unwert der jeweiligen Gemeindearbeit“.31 Das Werk der Verkünder wird einer Feuerprobe ausgesetzt. Wie dies genauer zu verstehen ist, bleibt dunkel. Über die persönliche Rettung des Verkünders sagt der Text nichts. Paulus entwickelt hier gleichsam eine Kriteriologie, mit der pastorale Arbeit bewertet werden kann. Das maßgebliche Kriterium ist Christus selbst. Dies entzieht allem Parteienstreit in Korinth den Boden. Zum Schluss dieses Abschnittes greift Paulus dann das Bild vom Tempel auf und überträgt es auf die Gemeinde und ihre Verkünder. Eine solche Übertragung findet sich auch in Qumran (vgl. 1 QS 9,6). Die Gemeinde ist „Tempel Gottes und Wohnung des Geistes“.32 Die Frageform konfrontiert die Korinther mit der Diskrepanz zwischen ihrem Anspruch und ihrer Realität. Die Gemeinde selbst kommt hier ins Blickfeld. Ihr wird bewusst gemacht, dass dort, wo ein anderer Maßstab als Christus selbst gilt, Gemeinde nicht aufgebaut, sondern gespalten und letztlich aufgelöst wird. Das Urteil über die Qualität der Verkünder kann getrost Gott überlassen werden (vgl.  30 H. Merklein (Anm. 29), 257. 31 H.-J. Klauck (Anm. 28), 34. 32 H. Merklein (Anm. 29), 273.

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1 Kor 3,15). Die Gründung von Parteien aber führt die Gemeinde an den Abgrund. In anderer Weise wird das Bild vom Bau im Ersten Petrusbrief aufgegriffen. Hier kommen gleich eine ganze Reihe von Bildern in den Blick: heilige Steine, geistiges Haus, heilige Priesterschaft, Eckstein, auserwähltes Geschlecht, Königshaus (vgl. 1 Petr 2,4-6). Es sind Ehrentitel, die hier benannt werden. Der Verfasser des Briefes zeigt mit diesen Bildern seinen Leserinnen und Lesern, in welch unvergleichlichem Status sie sich befinden. Zugleich will er ihnen aber auch Trost spenden in ihrer bedrängten Situation und aufzeigen, dass gerade diese Bedrängnis sie auf der Seite Gottes stehen lässt.33 Die Ausführungen haben also eine überwiegend paränetische Funktion. Die Auslegungsgeschichte dieses Textes diente weitgehend als Begründung eines allgemeinen Priestertums aller Christen. Auch das Vaticanum II hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf 1 Petr 2,5.9b verwiesen (vgl. LG 9 und 10). Brox sieht darin eine Überbetonung und fordert, diesen Text „im Zusammenhang messianisch-eschatologischer Hoffnung zu lesen“ und ihn als Ermutigung der Kirche in schwieriger Zeit zu verstehen.34

Die Kirche als Ort der Versöhnung im Epheserbrief Das zentrale Thema des Epheserbriefes ist die Kirche. In keiner anderen neutestamentlichen Schrift tritt die Ekklesiologie so sehr in den Vordergrund wie in diesem Brief. Die Kirche ist „Leib Christi“ mit Christus als Haupt  33 Vgl. dazu N. Brox, Der Erste Petrusbrief, Neukirchen-Vluyn 1979

(EKK 21), 94-96. 34 Ebd., 107-110.

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(Eph 1,22-23; 2,16) und Braut Christi (Eph 5,31-32). Mit diesen Bildern hebt der Eph die untrennbare Einheit von Christus und der Kirche hervor. Der wichtigste ekklesiologische Abschnitt ist Eph 2,11-22. Der Abschnitt Eph 2,11-22 gliedert sich in drei Einheiten: Die Verse 11-13 bieten eine Gegenüberstellung der ehemaligen Heiden mit Israel, die jetzt aufgehoben ist. Die Begründung dafür erfolgt in der zweiten Einheit (VV.14-18). Das zentrale Stichwort dieser Einheit ist „Friede“; mit der ersten Einheit ist sie mittels des Begriffspaares „fern – nahe“ verknüpft. Durch Christius haben beide – Kirche und Israel – Zugang zum Vater. Die letzte Einheit (VV.19-22) zieht daraus die notwendigen Schlussfolgerungen: Auch die Heidenchristen sind Mitglieder der Heiligen und Hausgenossen Gottes. Die entsprechenden Stichworte sind dem Bild des Baus entnommen. Zunächst sollen die Adressaten des Briefes sich an das erinnern, was durch Gottes Handeln geschehen ist. Ihnen wird ihre eigene Situation vor und ohne Christus vor Augen gestellt.35 Als Heiden waren sie von der Heilsgemeinde ausgeschlossen; sie waren Fremde ohne Zugang zu Gott und damit ohne Hoffnung. Der Eph setzt hier die alttestamentlich-jüdische Auffassung voraus, dass Gott sich Israel zugewandt und ihm mittels des Bundes am Sinai Gemeinschaft geschenkt hat. Der Erwählungsgedanke ist hier klar ausgesprochen. Mit dem Begriffspaar „fern und nah“ wird diese Distanz zu Gott und ihre Überwindung ausgesprochen (V.13). Im Blut Christi – das heißt: in seinem Tod am Kreuz – ist diese Distanz überwunden. Deshalb sind in der Kirche die Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden aufgehoben (vgl. auch Gal 3,28). Der Epheserbrief betont  35 Vgl. R. Schnackenburg, Der Brief an die Epheser, Neukirchen-

Vluyn 1982 (EKK 10), 104.

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somit die Einheit der Kirche aus Juden und Heiden. Ein möglicher Gegensatz zwischen Ekklesia und Synagoge ist ihm fremd. Die Begründung für die Überwindung dieses Gegensatzes erfolgt in der zweiten Einheit, die die Verse 14-18 umfasst. Diese Verse bieten eine christologische Auslegung von Jes 9,5-6; 2,7 und 57,19. Der Hauptgedanke ist: Christus hat Frieden gestiftet. „Dieser (= Christus) ist unser Friede“ steht gezielt am Anfang dieser Einheit. Dieser Gedanke wird auf das Verhältnis von ehemaligen Heiden und Israel mit Blick auf die Kirche übertragen. Sie ist die neue Einheit in Christus. Aber nicht nur ehemalige Heiden und Israel sind in der Kirche miteinander vereint und versöhnt. Beide – Israel und die Heiden – sind durch das Wirken Christi auch mit Gott versöhnt. Beide haben in Christus endgültig Zugang zu Gott. In diesem umfassenden Sinn ist Christus unser Friede. Die letzte Einheit in den Versen 19-22 zieht daraus die notwendigen Schlussfolgerungen für die Adressaten des Briefes: die Heidenchristen sind Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes. Dabei wird das Bild vom Bau aufgegriffen und vielfältig variieret. Es gibt ein gemeinsames Fundament: die Apostel und die Propheten. Apostel sind für den Eph die, die das Evangelium zuerst verkündet haben. Sie verbürgen die Wahrheit des Evangeliums. Auf die Zwölfzahl ist Eph nicht festzulegen. Die Propheten sind nach dem Eph nicht die Propheten des Alten Testaments. Nach Eph 4,11 sind sie von den Aposteln zu unterscheiden. Es sind wohl geisterfüllte Männer und Frauen (vgl. Eph 3,5) der Urkirche, die neben den Aposteln zur Verkündigung des Evangeliums beigetragen haben (vgl. auch 1 Kor 12,28-29). Beide Gruppen bilden gemeinsam das Fundament. Die Apostolizität der Kirche hat nicht nur einen formalen Aspekt; letztlich gründet sie in der Geistbegabung. Ob Christus der Eckstein oder der Schlussstein ist, ist in der Forschung um28

stritten. Nach Schnackenburg haben auf dem Hintergrund der urchristlichen Tradition und von Jes 28,16 die Argumente „für Christus als Eckstein das stärkere Gewicht“.36 Christus ist der Stein, auf dem der ganze Bau ruht und der ihn zusammenhält. Zum Schluss kommt auch das Bild von der Kirche als Tempel Gottes in den Blick (vgl. auch 1 Kor 3,9-12; 1 Petr 2,3-6). Das Bild vom Bau darf jedoch nicht statisch verstanden werden; es ist vielmehr ein dynamisches Bild, ein Bau, der wächst und vom Geist zur Vollendung geführt wird.37

Kirche als Hausordnung Gottes – das Kirchenbild der Pastoralbriefe Den Pastoralbriefen fehlt weitgehend eine theologisch begründete Ekklesiologie. Im Vordergrund stehen „die von den praktischen Bedingungen der Entstehungszeit eingeforderten Konkretisierungen“.38 Die zentrale ekklesiologische Metapher ist das Haus. 1 Tim spricht vom „Haus Gottes“ und setzt es mit der dêêëçóßá èåï™ æ§íôïò gleich (1 Tim 3,15). Das Haus war nicht nur die wichtigste ökonomische Einheit der Antike, es hatte auch für die frühchristliche Mission eine große Bedeutung.39 Mit dem Anwachsen der Gemeinden verloren die Hausgemeinden jedoch an Bedeutung. Mit der Metapher vom Haus werden deshalb Selbstverständnis und Anspruch der Kirche neu definiert. Es liegt in der Konsequenz dieses Bildes, dass nun das Miteinander der ein 36 Ebd., 123-124. 37 Vgl. ebd., 107. 38 L. Oberlinner, Die Pastoralbriefe. Kommentar zum Titusbrief, Frei-

burg i.Br. 1996 (HThK 11/2,3), 74. 39 Vgl. A. Weiser, Evangelisierung im „Haus“, in: BZ 34 (1990) 63-

86.

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zelnen Gläubigen – anders als beim paulinischen Bild vom Leib Christi – entsprechend der antiken Hausordnung „dem Schema von Über- und Unterordung folgt“.40 Wie der Hausherr das Hauswesen verwaltet, so verwaltet der Episkopos die christliche Gemeinde. Die Parallelität zum antiken Hauswesen ist offensichtlich. Sie dürfte gewollt und beabsichtigt sein. Die Kirche wird zu einer von Gott gewollten Institution, die Überlieferungen bewahrt, binnenkirchlich stabilisiert und nach außen werbend wirkt. „Türen und Fenster dieses Hauses und Hauswesens sind zur Umwelt hin weit geöffnet.“41 Der einzelne Glaubende ist in diesem Haus gut aufgehoben und ihm wird darin Geborgenheit geschenkt. Allerdings wird dieser Vorteil mit dem Verlust der Eigenverantwortung der Gemeinde als Ganzer erkauft. Die Gemeinde ist nicht mehr Subjekt, sondern wird zum Objekt. Damit ist die Zeitbedingtheit dieses Bildes offensichtlich. Wer heute die Subjektwerdung der Gemeinde will, wird sich wohl von diesem Schema der Über- und Unterordnung lösen müssen. Die Adressaten der Briefe – Timotheus und Titus – scheinen bewusst gewählt zu sein. Die beiden Paulusschüler dienen zur Charakterisierung der Amtspersonen. Sie sind zugleich Garanten der Tradition. Somit wird die Kontinuität von Personen und den von ihnen ausgeübten Funktionen bestimmt. Damit wird der Gedanke einer apostolischen Sukzession in dem Sinne angedacht, dass die in den verschiedenen Funktionen und Ämtern Verantwortlichen die unverfälschte Weitergabe des Evangeliums garantieren. Heinrich Schlier spricht in diesem Zusammenhang von drei Prinzipien, die in den Pastoralbriefen herrschen bzw. durchschimmern: das Prin 40 L. Oberlinner (Anm. 38), 81. 41 A. Weiser, Die Kirche in den Pastoralbriefen. Ordnung um jeden

Preis?, in: BiKi 46 (1991) 107-113, hier 112.

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zip des Amtes, das der Sukzession und das des Primates.42 Mit dieser Gemeindeordnung will der Verfasser einen Schutzwall schaffen, um die Einheitlichkeit des christologischen Bekenntnisses und die Einheit der Gemeinden zu gewährleisten.

Die Kirche als Ort der Gegenwart Christi in der Welt In der Offenbarung begegnet der Begriff dêêëçóßá fast ausschließlich in den sieben Sendschreiben an die Gemeinden in Kleinasien. Meist wird deshalb die ekklesiologische Bedeutung von dêêëçóßá in der Offenbarung als gering eingeschätzt.43 Zu Unrecht wie mir scheint. Die Briefe haben alle den gleichen Aufbau und folgen einem festen Schema: Adscriptio und Schreibbefehl: „an den Engel der Gemeinde in ... schreibe:“ Botenformel: „so spricht ...“ Christologisches Prädikat: Hoheitstitel Situationsschilderung: „Ich kenne / ich weiß ...“ Weckruf: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt“ Überwinderspruch: „Wer siegt ...“ „Die Einzelelemente haben mit dem bekannten Briefschema und seinen zahlreichen Motiven wenig zu tun,  42 Vgl. H. Schlier, Die Ordnung der Kirche nach den Pastoralbriefen,

in: ders. (Hg.), Die Zeit der Kirche. Exegetische Aufsätze und Vorträge, Freiburg i.Br. 21958, 129-147, hier 146. Die Nennung des Primates als drittes Prinzip verwundert in diesem Zusammenhang. Schlier sieht es in den von ihm in den Pastoralbriefen festgestellten Abstufungen des Amtes durchschimmern. 43 Vgl. J. Roloff (Anm. 4), 1011.

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greifen aber teils auf prophetische Sprachformen zurück.“44 Diese Feststellung von Klauck sollte davor warnen, die Sendschreiben lediglich als Einzelbriefe an eine einzelne konkrete Gemeinde zu verstehen. Manche vermuten, dass mit der Formel ëÝãåé (= so spricht) auf eine Formel in kaiserlichen Edikten zurückgegriffen wird. Damit käme den Sendschreiben eine autoritative Bedeutung zu – vergleichbar einem Hirtenbrief. Die christologische Rückbindung aller Sendschreiben ergibt sich aus den Hoheitstiteln. Diese verweisen auf die Eigenschaften, die dem Menschensohn in Offb 1 zugeordnet werden: Er, der die sieben Sterne in seiner Rechten hält Er, der Erste und der Letzte Er, der das scharfe und zweischneidige Schwert trägt der Augen hat wie Feuerflammen Er, der die sieben Geister Gottes und die Sterne hat der den Schlüssel Davids hat Er, der Amen heißt, der treue und zuverlässige Zeuge

1,12.16 1,17.18 1,16 1,14 1,16 1,18 1,5

Jeder Brief konzentriert sich auf einen wichtigen Aspekt christlicher Existenz: Liebe (Offb 2,1-7), Armut (Offb 2,8-11), Lehre (Offb 2,12-17), Geist (Offb 2,18-29), Leben (Offb 3,1-6), Treue (Offb 3,7-13) und Hoffnung (Offb 3,14-22).45 In den Sendschreiben kommen die inneren und äußeren Gefährdungen jeder christlichen  44 H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament,

Paderborn 1998, 265. 45 Vgl. dazu J. Ellul, Apokalypse. Die Offenbarung des Johannes –

Enthüllung der Wirklichkeit, Neukirchen-Vluyn 1981, 116-136.

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Gemeinde zu Wort. Die einzelnen Sendschreiben sind an folgende Gemeinden gerichtet: Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea. Auf der Landkarte ergeben sie fast einen geschlossenen Kreis. Der Kreis sowie die Zahl Sieben weisen auf die Ganzheit. Trotz konkreter Bezüge zur historischen Situation der Kirche in Kleinasien ist mit diesen Sendschreiben die Kirche als Ganze angesprochen. Die genannten Gemeinden repräsentieren in ihrer Gesamtheit die Kirche mit all ihren Großartigkeiten, aber auch mit ihren Gefährdungen. Am Anfang behandelt die Offenbarung das Thema Kirche. Denn Christus ist nicht selbst in der Geschichte gegenwärtig. Seine Herrschaft kann nur durch die Kirche in der Weltgeschichte sichtbar werden. So wird die Kirche in der Offenbarung nicht einfach als Teil der Gesellschaft gesehen; vielmehr ist alle menschliche Wirklichkeit in der Beziehung der Kirche zu Christus, ihrem Herrn, verankert. Die Ekklesiologie der Offb kann deshalb als christologische Ekklesiologie bezeichnet werden.

Fazit Das Kirchenverständnis des Neuen Testaments gibt es nicht; auch finden wir innerhalb des Neuen Testaments keine dogmatische Definition von Kirche. Darüber ist sich die neutestamentliche Wissenschaft im Wesentlichen einig – unabhängig von der Konfession. Das Verständnis von Kirche kommt vielmehr in unterschiedlichen Bildern zum Tragen. Einige dieser Bilder von Kirche konnten hier aufgegriffen und dargestellt werden. Ob dies die wichtigsten sind, darüber lässt sich streiten. Wichtig scheint mir: Keines dieser Bilder darf verabsolu33

tiert oder in eine dogmatische Aussage gepresst werden. Die unterschiedlichen Bilder ergänzen einander und erst in ihrer Zusammenschau lässt sich erahnen, was Kirche nach dem Neuen Testament ist. Bilder sind in der Lage, eine komplexe Wirklichkeit einprägsam auszudrücken, ohne sich in Details zu verlieren. Zugleich sind sie offen für unterschiedliche Deutungen. Manchmal bringen sie semantisch Neues zur Sprache und eröffnen so ungewohnte Zugänge zu einer vermeintlich vertrauten Wirklichkeit.

ZUSAMMENFASSUNG Das Neue Testament hält viele Bilder von Kirche bereit. Jedes dieser Bilder trifft Wesentliches, ohne jedoch Vollständigkeit zu beanspruchen. Erst in der Zusammenschau aller Bilder kommt die Komplexität von Kirche im Neuen Testament zum Tragen.

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Nicht nur Gemeinden, sondern auch Kirche Die Pastoralbriefe als Herausforderung freikirchlicher Ekklesiologie André Heinze

1. Einleitung Dem Thema „Kirche und Gemeinde“ soll sich im Folgenden durch einen Blick auf die Pastoralbriefe (Past) genähert werden. In ihnen begegnet die Aufforderung zu einer aufgrund der damaligen Umstände neu zu gestaltenden Leitungsstruktur. Dabei ergeht zum einen die Aufforderung hierzu von einer übergemeindlichen Autorität in die Gemeinden hinein, zum anderen umfasst die Aufforderung die Schaffung einer auch inhaltlichen Leitungsstruktur, die die bisherigen hausgemeindlichen Strukturen überwinden, offensichtlich bewusst „übergemeindliche“ Autoritäten benennen und einführen und hierdurch „kirchliche“ Institutionen schaffen möchte. Diese Beobachtungen sind insbesondere für die kongregationalistisch organisierten Freikirchen von Interesse, die – wie z.B. im Falle der Baptisten – ein hohes Gewicht auf die Selbstverantwortung und Selbstorganisation der Ortsgemeinde legen und übergemeindlichen Strukturen und Institutionen zurückhaltend bis ablehnend gegenüberstehen. Der folgende Beitrag wird daher zunächst die Aussagen der Past zur Gemeindeorganisation darstellen, sodann nach der Rezeption dieser Aussagen in baptistischer Literatur fragen und schließlich versuchen, Impulse aufzuzeigen, die aus diesem neutestamentlichen Blickwinkel für freikirchliche Gemeinden und Gemeindebünde entstehen können. 35

2. Beobachtungen zu der Entwicklung des Amtes in den Pastoralbriefen 2.1 Vorbemerkungen zu den Pastoralbriefen Wer über die Past spricht, der kommt nicht umhin, wenigstens kurz die Eckpunkte oder auch Vorentscheidungen seines Lesens dieser neutestamentlichen Bücher zu benennen. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass es sich bei den Past um pseudepigrafe Schriften handelt, die um die Wende zum 2. Jahrhundert im Kontext eines hier nicht weiter zu problematisierenden paulinischen Kreises entstanden sind.1 Der Anlass zu diesen drei Schriften scheint nach den aus ihnen zu erhebenden Merkmalen massive Auseinandersetzungen mit Irrlehrern gewesen zu sein.2 Die von diesen vertretene(n) Lehre(n) werden in den Briefen selbst inhaltlich nur skizzenhaft angedeutet. Hierbei finden sich Hinweise auf eine starke Inanspruchnahme mythologisch gedeuteten alttestamentlichen Materials, sowie jüdischer Legenden, die zu einer geforderten Lebensweise zusammengefasst wurden, die in die unterschiedlichen Richtungen einer Askese wie auch eines Libertinismus ausufern konnte. Eine Negierung der Schöpfung in ihren Kreisen ist durchaus denkbar, wenn man die Betonung der grundsätzlichen Güte der Schöpfung durch die Verfasser der Past als Reaktion  1 Vgl. hierzu U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttin-

gen 31999, 346ff. Einen kurzen Überblick über die Diskussion zur Pseudepigrafie der Past bietet z.B. A. Weiser, Der zweite Brief an Timotheus, Neukirchen-Vluyn 2003 (EKK 16/1), 51-59. 2 Vgl. J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, Neukirchen-Vluyn 1988 (EKK 15), 42f.: „In den Gemeinden hat sich ... eine Irrlehre verbreitet, die ihre Kontinuität in der paulinischen Tradition ernstlich bedroht.“

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hierauf betrachtet.3 Gleichwohl: Diese inhaltliche Beschreibung bleibt ausgesprochen skizzenhaft. Viel deutlicher werden die Verfasser, wenn sie über die Handlungsweise der Personen handeln, die diese Lehren in den Gemeinden vertreten. Sie unterstellen ihnen einen unmoralischen Lebenswandel und Gewinnsucht;4 ein Eindringen in die Gemeinde maßgeblich über den Weg der Beeinflussung von Frauen und dem Eindringen in „die Häuser“5 und die häufigen Warnungen vor dem Eingehen auf allerlei Auseinandersetzungen könnten auf eine intensive konfrontative Verkündigungspraxis dieser Personen hinweisen.6 In der Darstellung dieser Personen durch die Past gibt es keinerlei zwingende Gründe für die Annahme, dass sie von außerhalb der Gemeinden kommen und in diese eindringen.7 Vielmehr erscheint das, was als Charakterisierung der Irrlehre wahrnehmbar ist, sich auch durch einen extremen Paulinismus innerhalb der Gemeinde entwickelt haben zu können. Paulus selbst bietet Ansatzpunkte, die – entsprechend weitergedacht – auch mitten in einer paulinischen Gemeinde zu Überzeugungen führen können, die sich in Richtung einer spirituellenthusiastischen, prägnostischen Theologie ausformen konnten.8 Damit befinden sich die Gemeinden in der Si 3 Vgl. z.B. 1 Tim 4,3; Tit 1,15. 4 Vgl. z.B. 1 Tim 1,9f.; 6,5; 2 Tim 3,2ff.; 3,13; Tit 1,11. 5 Vgl. z.B. 2 Tim 3,6ff.; Tit 1,11. 6 Vgl. z.B. 1 Tim 1,4ff.; 4,2; 6,4; 2 Tim 2,14ff.23; Tit 1,10; 3,9. 7 Vgl. hierzu J. Roloff (Anm. 2), 234: „Das verbreitete Klischee, das

unter einseitiger Betonung der nomistisch-jüdischen Elemente der Irrlehre deren Vertreter als von außen in die Gemeinden eingedrungene palästinisch-judenchristliche Gnostiker erklären will, basiert letztlich auf der Prämisse eines jüdischen Ursprungs der Gnosis.“ 8 Vgl. hierzu z.B. die Aussage der Irrlehrer in 2 Tim 2,18, nach der die Auferstehung bereits geschehen sei. Eine solche These könnte

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tuation, dass in ihnen einzelne Gruppen, nach eigener Überzeugung ganz auf dem Boden paulinischer Lehren stehend, eine Theologie entwickeln und propagieren, die nach Ansicht der Verfasser der Past genau diese paulinische Theologie verlassen hat. Die Dramatik dieser Problematik ist nicht zu überschätzen, berufen sich doch ganz einander entgegenstehende Strömungen in den Gemeinden gemeinsam auf das paulinische Erbe und nehmen es jeweils für sich in Anspruch. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass als eigentliche Adressaten der Past nicht die konkreten historischen Einzelpersonen Timotheus und Titus anzunehmen sind, sondern die Gemeinden, in denen Personen wie Timotheus und Titus in besonderer Stellung tätig sein könnten oder – wie es der Absicht der Past entspricht – sollen. Zur Fiktion des Absenders fügt sich also die Fiktion der Adressaten. Hierdurch entsteht eine bemerkenswerte Kommunikationsstruktur: Die lesende Gemeinde erhält fiktiv Anteil an einem Schreiben des Apostels an seine Vertrauten, indem diese beauftragt werden, sich mit Themen eben der lesenden Gemeinde zu beschäftigen. Dem immer wieder zu findenden Einwand gegen diese Struktur, der sich auf die besonderen persönlichen Nachrichten etwa an Timotheus im 2 Tim stützt, ist mit dem Hinweis auf den Charakter gerade des 2 Tim als fiktivem Testamentsbrief zu begegnen.9

 die Folge einer überspitzten Interpretation der paulinischen Taufaussage von Röm 6,1-14 sein. 9 Vgl. hierzu ausführlich M. Wolter, Die Pastoralbriefe als Paulustradition, Göttingen 1988 (FRLANT 146), 222-242.

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2.2 Der Aufbau des Episkopenamtes zulasten der eingeführten Gemeindeämter Der auffällig geringen inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Irrlehren steht ein ausgeprägtes Interesse der Past an den Leitungsstrukturen gegenüber,10 die den Einfluss dieser Gegner in den Gemeinden offensichtlich nicht in der Form unterbinden können, wie dieses die fiktiven Timotheus und Titus sollen. Bezüglich dieser von den Past vorgefundenen Strukturen sind zwei Hinweise für das Folgende zu beachten: Das Witwenamt in 1 Tim 5,3-16 und der Umgang mit dem Amt des Presbyters. 2.2.1 Die Zurückdrängung des Witwenstandes In 1 Tim 5,3-16 findet sich eine in diesem Kontext überraschend lange Ausführung über den Stand der Witwen, die sich bei näherem Hinsehen als Klärung dahingehend darstellt, welche Frauen eigentlich zum Stand der „wahren Witwen“ gehören, die scheinbar auf einer offiziellen Liste geführt und einer Besoldung empfohlen werden. Ansätze zu solch einer innerhalb der Gemeinden sich bildenden eigenen Gruppe von verwitweten Frauen sind in Apg 9,36-41 zu beobachten, wenn im Bericht der Auferweckung der Tabita der kleine Hinweis in V.41 auf eine parallel zu den Heiligen genannte Gruppe der Witwen beachtet wird. Das Idealbild dieser Witwen begegnet dann neben den Hinweisen auf die eschatologisch ausgerichtete Existenz von ihnen in 1 Kor 7,8f. in der stilisierten Person der Hanna in Lk 2,36-38, die ihre  10 Vgl. J. Roloff (Anm. 2), 215f.: Die äußere Erscheinungsform der

Kirche „wird sorgsam bedacht, ja, es will so scheinen, als komme ihr mehr Gewicht zu als dem Inhalt ihrer Verkündigung, über den die Briefe sich ausgesprochen summarisch äußern.“

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über 60-jährige Witwenschaft mit Fasten und Beten zugebracht habe. Das Bild der Witwe ist damit nicht mehr zuerst das Bild einer zu versorgenden Frau, wie es in Apg 6 erscheint, sondern das einer Frau, die sich im Besonderen dem Leben der Frömmigkeit hingegeben hat, zu dem auch die Übernahme von Diensten in der Gemeinde gehörte. Somit hat man sich unter den Witwen weniger einen zu versorgenden als vielmehr einen die Gemeinde mitversorgenden Stand vorzustellen, der als solcher auch eine besondere Stellung innerhalb der Gemeinde einnahm.11 Allerdings: Ein genauerer Blick auf die Ausführungen zu den Witwen in 1 Tim 5 lässt schnell erkennen, dass bei genauer Anwendung der hier angeführten Anweisungen im Grunde nach einiger Zeit kaum noch Witwen vorhanden sind, die diesen geordneten Dienst in den Gemeinden übernehmen können. Zunächst nämlich schließen die Verfasser in V.4 alle Witwen aus diesem durch Liste und Besoldung geordneten Dienst aus, die in ihren eigenen Familien leben. Einerseits sollen sich die Familien selbst um diese Witwen kümmern, wodurch sie den Anspruch auf zusätzliche Besoldung durch die Gemeinde, gleichzeitig aber auch die Verpflichtung zum gemeindlichen Dienst verlieren. Denn diese Frauen sind nach Überzeugung der Verfasser allein ihren Familien zum Dienst verpflichtet.12 Damit ist als Erstes die Gruppe der familiär eingebundenen Witwen für eine Tätigkeit in der Gemeinde ausgenommen. Ab V.9 folgt dann  11 Hier könnte man überlegen, ob die in Apg 9 erwähnte Tabita

selbst zu diesem Stand gehört hat und ihre Charakterisierung, nach der sie viele gute Dienste tat und Almosen gab, eben eine Charakterisierung auch dieses Standes war. 12 Dieses Verständnis von V.4 geht aus sprachlichen und sachlichen Gründen davon aus, dass das Subjekt des dortigen Verbs die „Witwen“ sind und nicht die erwähnten Verwandten; vgl. J. Roloff (Anm. 2), 287f.

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nach einer positiven Beschreibung der diakonischen Dienste von Witwen eine zweite formale Beschränkung für die Aufnahme in den Stand: Die Frau muss über 60 Jahre alt sein und darf bis dahin nur mit einem Mann verheiratet gewesen sein. Was sie mit dieser Festlegung, vor allem der zweiten bewirken, wird deutlich, wenn man sich nun die ausführlichen Anordnungen für die jüngeren Witwen ab V.11 anschaut. Für diese nämlich möchten die Verfasser festlegen, dass sie erneut zu heiraten haben, damit sie ihre Begierden im Zaum halten und nicht „in den Häusern umherlaufen und schwatzen“, sondern stattdessen einen neuen eigenen Hausstand gründen. In der Praxis führt die Anwendung dieser Regeln dazu, dass es bald keine bzw. nur noch sehr wenige Witwen in diesem stark innergemeindlich, auf die Ortsgemeinde bezogenen Gemeindedienst mehr geben wird. Da nämlich alle Jüngeren heiraten sollen, wird es nach und nach auch unter den später über 60 Jahre alten Witwen nur noch wenige geben, die bis dahin nur einmal verheiratet waren. Somit versuchen die Verfasser durch diese Anordnungen von außen in die innere Struktur der Gemeinde einzugreifen und einen offensichtlich geachteten und in den Gemeinden auch sehr wirksamen Mitarbeiterinnenstand in seiner Bedeutung und seinem Einfluss zurückzudrängen. 2.2.2 Die Zurückdrängung des Presbyteramtes Etwas ganz Vergleichbares lässt sich auch beim zweiten, offensichtlich ebenfalls gut eingeführten Gemeindedienst beobachten, dem Presbyter. Hier soll zunächst mit 1 Tim 5,17-20 ein Text außerhalb der Tugend- oder Kriterienkataloge in 1 Tim 3 und Tit 1 betrachtet werden, der das Verhalten gegenüber den Presbytern thematisiert. Allerdings – und hier ist eine Kleinigkeit zu beachten – nicht gegenüber allen Presbytern. Denn der 41

Text spricht nicht von „den Presbytern“ allgemein, sondern von „den Ältesten, die gute Vorsteher sind“. Interessant ist dabei, dass dieses gute Vorstehen mit dem Wort- und dem Lehrdienst konkretisiert wird. Diese guten Presbyter sind also nach dem Text aller Ehre wert, genauer gesagt einer doppelten Ehre, was wahrscheinlich ebenso wie bei den Witwen auf eine Besoldung hinweist. Zusätzlich aber stehen diese nach 5,19ff. auch unter einem besonderen Schutz, was eine besondere Beobachtung zulässt. Zunächst wird der alte Grundsatz, dass nur mehrere Zeugen eine Klage als rechtens zulassen, explizit für die Presbyter als gültig erklärt. Man kann fragen, wieso dies überhaupt erwähnt werden muss. Eine Möglichkeit wäre der Gedanke, dass die Presbyter bisher einer Rechtssprechung in der Gemeinde enthoben wären. Dies aber würde eine sehr exponierte Stellung von ihnen voraussetzen, die sich sonst nicht erkennen lässt. Die Stoßrichtung liegt wohl eher in der Instanz, die diese Anklage von mehreren Zeugen annehmen kann und soll. Als diese Instanz ist hier kein anderer als Timotheus aufgerufen. Er ist der Richter, vor dem Anklage erhoben wird, und er ist auch der, der das Urteil vor der Öffentlichkeit des Presbyteriums und der anklagenden Gemeinde spricht. Die besondere Bedeutung einer Person wie die des Timotheus wird hier zur Sprache gebracht. Eine zweite Beobachtung zur Bedeutung der Presbyter kann 1 Tim 3 und Tit 1 entnommen werden. 1 Tim 3 bietet zwei umfangreiche Kataloge, die erwähnen, welche Kriterien und Tugenden von potenziellen Bewerbern auf oder Inhabern von besonderen Gemeindediensten erfüllt sein sollen.13 Auffällig hierbei ist, dass in den um 13 Im Hintergrund dieser Kriterienkataloge sind Berufspflichtenlehren

anzunehmen, die in hellenistischer Umwelt nichts Ungewöhnliches waren und unter anderem für Feldherren, Hebammen oder

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fangreichen Listen von 1 Tim 3 nun aber jegliche Erwähnung der Presbyter fehlt. Die Verfasser konzentrieren sich ganz auf den Episkopos und dann auf die männlichen wie weiblichen14 Diakone bzw. Diakoninnen. Allerdings liegt in Tit 1,6 ein solcher Katalog auch für die Presbyter vor. Dieser aber ist nun insofern sehr interessant, da er zum einen im Vergleich zu den Katalogen in 1 Tim 3 ausgesprochen kurz ausfällt und er zum anderen durch den folgenden V.7 in eine ganz andere Richtung gelenkt zu sein scheint. Das Ziel der dortigen Argumentation sind nicht die Presbyter, sondern ist der Episkopos. Der Übergang von den einen zum anderen ist überaus hart: Nach der einführenden Aufforderung „Du sollst Älteste einsetzen, wie ich dir befohlen habe“ folgt die kurze Liste, um dann übergangslos fortzusetzen „Denn ein Bischof soll untadelig sein als ein Haushalter Gottes“ mit einer sich daran anschließenden wesentlich längeren Tugendliste für das Amt des Episkopos. Dieser erscheint hier wie die Idealfigur des Presbyters und auf ihn scheint es letztlich anzukommen. Überblickt man diese Aussagen, so sind sie auf den ersten Blick verwirrend. Einerseits kennen die Verfasser das Gremium der Presbyter und scheinen es auch zu achten – zu beachten ist aber die Differenzierung, die in 1 Tim 5,17ff. vorgenommen wird –, andererseits aber ist deutlich erkennbar, dass das Proprium der Aussagen vor  auch Berufstänzer vorliegen. Sie sind sich alle darin einig, dass die Forderung nach einem tugendhaften Verhalten für öffentliche Personen eine Grundthese hellenistischer Popularphilosophie war. Vgl. M. Dibelius / H. Conzelmann, Die Pastoralbriefe, Tübingen 3 1955 (HNT 13), 41f. 14 1 Tim 3,11 erwähnt zwar nicht die weibliche Amtsbezeichnung, dennoch ist davon auszugehen, dass hier nicht die Ehefrauen der zuvor erwähnten Diakone, sondern weibliche Amtsträger aufgerufen sind. Vgl. G. Lohfink, Weibliche Diakone im Neuen Testament, in: G. Dautzenberg u.a., Die Frau im Urchristentum, Freiburg i.Br. 1983 (QD 95), 320-338, hier 332ff.

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allem auf dem einen Episkopos liegt. Diese Beobachtungen lassen sich am besten miteinander verbinden, wenn man Roloff folgt und in den Past den Versuch einer Verschmelzung von Episkopal- und Presbyterverfassung erkennt.15 Was bei Roloff ebenfalls bereits angedeutet ist, muss aber noch deutlicher betont werden: Den Verfassern geht es über die Verschmelzung hinaus um ein Zurückdrängen des Presbyteramtes zugunsten des Episkopenamtes. Der Episkopos scheint nach dieser Vorstellung aus dem Presbyterkreis heraus berufen zu sein – an dieser Stelle greift die Erwähnung der Einsetzung des „Timotheus“ durch die Presbyter in 1 Tim 4,14 –, ist aber letztlich die von den Past eigentlich betonte und gewollte Gestalt der inhaltlichen und strukturellen Gemeindeleitung. Damit liegt bei der Auseinandersetzung um den Presbyter etwas Ähnliches vor, wie es zuvor bei den Witwen deutlich wurde: ein gewohntes Gemeindeamt wird durch die Verfasser zurückgedrängt. Dies erfolgt bei den Witwen ohne direkt erkennbaren Ersatz,16 bei den Presbytern zugunsten einer Struktur, die zwar das Presbyterium beibehält, es aber letztlich unter die Leitung des einen Episkopos stellt. 2.2.3 Ursachen des Eingriffs von außen in die inneren Angelegenheiten der Gemeinden Aus welchem Grund und welchem Recht greifen die sich paulinischer Autorität bedienenden Verfasser der Past so in die Belange der Gemeinden ein? Hier drängt sich die latent die Argumentationen durchziehende Auseinandersetzung mit den wahrgenommenen Gefährdungen durch die Irrlehrer als Ausgangspunkt einer Ant 15 Vgl. J. Roloff (Anm. 2), 169ff. 16 Es ist aber zu überlegen, ob das in 1 Tim 3,11 erwähnte weibliche

Diakonenamt hier einen Ersatz bieten soll.

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wort auf. In diesem Zusammenhang ist dann aber auf eine weitere Beobachtung aufmerksam zu machen. In 2 Tim 3,6 und Tit 1,11 ist von einem Eindringen der Irrlehrer in „die Häuser“ die Rede. Hinter der Rede von den „Häusern“ ist an diesen Stellen sicherlich nicht die ansonsten auch bekannte und in den Past deutlich ekklesiologisch gefüllte Metapher vom Haus Gottes zu vermuten, sondern viel eher Hinweise auf die konkrete Organisationsform der Gemeinden in Hausgemeinden.17 Diese scheinen immer noch die Grundstruktur der gemeindlichen Selbstorganisation darzustellen.18 Obwohl es gemeinsame gottesdienstliche Versammlungen der Christinnen und Christen eines Ortes gegeben hat, versteht sich die Kirche noch nicht als ein organisiertes, institutionelles Gesamtgebilde, sondern hat immer noch die einzelnen „(Privat-)Häuser“ als ihre dezentrale Organisationsform. Der Hausvorsteher jedes dieser Häuser konnte nach traditioneller Begrifflichkeit als Episkopos bezeichnet werden. Allerdings übernehmen die Past diese Bedeutung des Begriffs Episkopos an dieser Stelle gerade nicht. Vielmehr ist es angebracht, hinter den Mit 17 Vgl. T. Holtz, Die Pastoralbriefe, Berlin 41986 (ThHK 13), 212. 18 Grundlegend hierzu immer noch H.-J. Klauck, Hausgemeinde und

Hauskirche im frühen Christentum, Stuttgart 1981 (SBS 10). Zur Diskussion der Frage, inwieweit die soziologische Struktur der Hausgemeinde die frühe Christenheit auch in der Ausbildung einer Ekklesiologie geprägt hat, vgl. vor allem G. Schöllgen, Hausgemeinden, oikos-Ekklsiologie und monarchischer Episkopat, in: JAC 31 (1988) 74-90. Schöllgen kommt hierbei u.a. zu der These, dass erstmalig in der Entwicklung der frühen Christenheit in den Past die Gemeindeorganisation am Hausmodell orientiert wurde (ebd., 82). Erst hier also habe sich die oikos-Struktur in einer Ekklesiologie niedergeschlagen. Dieser These kann von den Vorarbeiten zu diesem Beitrag nur zugestimmt werden. Einen hilfreichen Überblick über diese Diskussion bietet U. Wagener, Die Ordnung des „Hauses Gottes“. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe, Tübingen 1994 (WUNT II, 65), 15ff., in ihrem Forschungsbericht über die Ständetafeln.

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gliedern des Presbyterkollegiums die Vorsteher der einzelnen Hausgemeinden zu erkennen. Waren nun diese Hausgemeinden für die Irrlehrer ihr Einfallstor in die Gemeinde, so entschied sich am Umgang mit ihnen in jeder einzelnen Hausgemeinde, ob die sich dort versammelnden Christinnen und Christen noch auf dem Boden der nach Ansicht der Past rechten Lehre waren. Und je nachdem, wie ein einzelner Presbyter als Hausvorsteher mit diesem Einfall umgehen konnte, war er ein „gut Vorstehender“, der auch einen guten Wort- und Lehrdienst tat, oder aber eben ein nicht so „gut Vorstehender“. Der Gesamtgefahr der so in die Häuser eindringenden Irrlehre aber konnte nun nach Ansicht der Past nicht mehr die eben qualitativ vielgestaltige und damit lehrmäßig unsichere Gruppe der Presbyter begegnen, sondern nur eine Person, die eventuell aus ihrer Mitte berufen, dann aber als zentrale Autorität tätig werden durfte und sollte: Der Episkopos als Einzelautorität. Der Eingriff von außen in die Belange der Gemeinde erfolgt demnach in der Absicht, die Gemeinden vor dem Einfluss der in ihren Hausgemeinden lebenden und wirkenden Irrlehrer zu beschützen. Hierzu greifen die Verfasser tief in die Struktur der bestehenden Gemeinde ein und versuchen, die Leitungsstruktur neu zu ordnen. Zu beachten ist hierbei, dass sie hierzu sowohl die Vorstellung vom „Haus“ als reale Struktur der Teilversammlung der Gemeinde überführen in die Vorstellung von der Gesamtgemeinde als dem umfassenden „Haus Gottes“, als auch die Stellung des realen Hausvorstehers, des häuslichen Episkopos, überführen in die des Vorstehers des umfassenden Hauses Gottes.

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2.2.4 Timotheus und Titus als Idealtyp des Episkopos An dieser Stelle muss aber noch einen Schritt weitergegangen und die oben angedeutete Abfassungsperspektive der Briefe in den Blick genommen werden. Denn bei dieser kann wahrgenommen werden, dass die Personen Timotheus und Titus doch seltsam frei schwebend in dieser Leitungsstruktur stehen. Im Grunde gibt es für sie in diesem Modell – Diakone, mehrere Presbyter, ein Episkopos – keinen Platz. Es sei denn, man erkennt in ihnen die Vorabbildung des gewünschten Episkopos. Dies ist nun sehr wahrscheinlich, wie ein Vergleich der Aufgaben des Episkopos einerseits mit denen des Timotheus und Titus andererseits ergibt. In Tit 1,9 werden nach den äußeren Kriterien des Episkopos auch seine Aufgaben genannt: Er soll sich an das „gewisse Wort der Lehre“ halten, damit er mit der „heilsamen Lehre ermahnen und die Widersprechenden zurechtweisen“ kann. Vergleicht man dies mit der Aufgabenbeschreibung an Timotheus z.B. in 2 Tim 4,2, lassen sich interessante Parallelen finden: „Predige das Wort, ... weise zurecht, drohe, ermahne mit aller Geduld und Lehre.“ Die „heilsame Lehre“ ist nach 1 Tim 1,10 Paulus selbst anvertraut und in Tit 2,1 ist sie Maßstab der Rede des Titus. Die Zurechtweisung – in Tit 1,9 ebenfalls Aufgabe des Episkopos – ist in 1 Tim 5,20 Aufgabe des Timotheus. Erkennt man demnach in Tit 1,9 die Aufgabenbeschreibung des Episkopos, so deckt sich diese auffallend mit dem, wozu auch die fiktiven Personen Timotheus und Titus beauftragt sind. Von hierher ist auch ein nochmaliger Blick auf 1 Tim 5,19ff. interessant. Wurde dort deutlich, dass Timotheus die eigentliche Gerichtsbarkeit über die Presbyter anvertraut wurde, so muss nun gefolgert werden, dass in der Zeit, in der ein „Timotheus“ nicht mehr da ist, wohl kein anderer als der Episkopos diese Aufgabe wahrzunehmen hat. 47

Von dieser Beobachtung der Vorabbildung des Episkopos in den literarischen Figuren des Timotheus und des Titus kann gleichzeitig auch eine Überlegung zu seiner Vollmacht gemacht werden. Das Zentrale dieser fiktiven Adressaten ist immer wieder ihr betonter Bezug zu Paulus, der in dem als Testamentsbrief stilisierten 2 Tim seinen Höhepunkt hat. Demnach ist ein zentrales Moment des Episkopos seine direkte Rückbindung an den Apostel bzw. die ihn repräsentierende Tradition, die in der Autorität der Verfasser der Past Gestalt annimmt. Hier hat dann auch die Einsetzung des Timotheus durch Handauflegung von Paulus in 2 Tim 1,6 ihren sachgemäßen Kontext.

2.3 Ergebnis: Die Veränderung der Gemeindeordnung durch den Eingriff externer Autoritäten Der hier nur skizzenhaft mögliche Gang durch einige Aspekte der Past kann abgebrochen werden, um die bisherigen Beobachtungen zu bündeln. In einer Situation, in der Gruppen von Hausgemeinden durch wahrscheinlich innergemeindliche radikale Paulusinterpretation in Richtung auf eine pneumatisch-spirituelle, im weitesten Sinne prägnostische Theologie gedrängt werden sollten, greifen die sich als wahre Verwalter paulinischer Tradition sehenden Verfasser dieser Briefe ein. Sie leisten hierbei nicht zuerst und vor allem eine inhaltlich diskursive Auseinandersetzung mit der Irrlehre, sondern sie nehmen sich die Strukturen der Gemeinde vor. Hierbei erkennen sie im Besonderen zwei zentrale Angriffspunkte der Irrlehrer: die Frauen und hierbei insbesondere das Institut der Witwen und die Presbyter, die Vorsteher der Hausgemeinden aber von unterschiedlicher Qualität waren. Beide Institutionen werden nicht grundsätzlich negiert, wohl aber in ihrer Bedeutung für die 48

Gesamtgemeinde zurechtgestutzt. Parallel hierzu wird das geordnete Amt des Episkopos aufgebaut, das in der paulinischen Tradition in dieser Funktion noch nicht bekannt ist.19 Dieser wird die zentrale Leiter- und Lehrgestalt mit einer über einzelnen (Haus-)Gemeinden hinausreichenden Autorität. Er wird in den fiktiven Adressaten Timotheus und Titus idealtypisch beschrieben, und zwar sowohl im Hinblick auf seine Aufgaben als auch im Hinblick auf sein Fundament, das in einer klaren Anbindung an die apostolische Tradition liegt. Das so geschaffene neue Gemeindeamt hat die Aufgabe des Kontinuitätserweises zur Gestalt des Apostels. So bieten die Past zwei interessante Impulse in Hinsicht auf die Frage nach dem Verhältnis von Gemeinde und Kirche. Einerseits ganz grundsätzlich durch den deutlichen Versuch einer Gruppe von Paulusschülern, als ungesund und gefährlich erkannte Strukturen in Gemeinden aus der Position einer gemeindeübergeordneten Instanz der apostolischen Autorität her neu und in ihrer Überzeugung hilfreich zu ordnen. Andererseits aber dahingehend, dass in diesem Ordnungsversuch selbst das Modell eines mit einer Vorform späterer Episkopalverfassung ausgestatteten Gemeindebundes entwickelt wird, der einzelne Versammlungen von Christinnen und Christen oder auch bereits organisierte (Haus-)Gemeinden zusammenführt und einer apostolisch legitimierten Leitung zuordnet. Im Grunde legen die Verfasser der Past damit ein Modell vor, das – konsequent durchgeführt – genau solch ein Eingreifen wie das durch die Past überflüssig machen würde, da durch den Episkopos bereits  19 Allein in Phil 1,1 ist in den unbestrittenen Paulinen von „Episko-

pen“ die Rede, im deutlichen Unterschied zu den Past aber eben im Plural. Damit scheint in Phil der angesprochene Sachverhalt zu greifen, dass die einzelnen Hausgemeinden, die auch in Philippi zu denken sind, jeweils von einer Person geleitet wurden, die nach damaligem Sprachgebrauch als Episkopos bezeichnet wurde.

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diese apostolische Autorität zur Leitung eines Gemeindebundes vorhanden wäre. Mit anderen Worten: Was die Past an Einfluss auf einzelne Gemeindegruppen leisten wollen, soll in Zukunft durch den Episkopos möglich sein.

3. Die Rezeption der Pastoralbriefe in der Gemeindeliteratur des Baptismus20 3.1 In dem Bekenntnistext „Rechenschaft vom Glauben“ In der Bekenntnisschrift der Baptisten, der „Rechenschaft vom Glauben“,21 kommen die Aussagen aus den Past als biblische Belegtexte zu dem Artikel über die „Geistesgaben, Dienste und Ordnungen“ vor: „Die christliche Gemeinde beruft geeignete Männer und Frauen, deren besondere Begabung durch den Heiligen Geist und Berufung durch Gott sie erkennt, in spezielle Dienste und bildet sie dazu aus. Insbesondere ordnet sie die Dienste der Verkündigung, Unterweisung, Seelsorge, Diakonie und Leitung. Geistesgaben und Ämter dienen in gleicher  20 Für das Folgende werden allein Quellen herangezogen, die unter

den Mitgliedern Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden eine weite Verbreitung gefunden haben. Hierzu zählen neben dem Bekenntnistext, der „Rechenschaft vom Glauben“, Beiträge der Kirchenzeitung „Die Gemeinde“ und Mitarbeiterhilfen. 21 Die „Rechenschaft vom Glauben“ (= RvG) wurde zwischen 1974 und 1977 von einer internationalen Kommission erarbeitet und 1977 für die westdeutschen, 1978 für die ostdeutschen Gemeinden auf den jeweiligen „Bundesräten“ der Gemeinde angenommen und den Gemeinden zum Gebrauch empfohlen. Zwischen der west- und der ostdeutschen Fassung bestand in der Formulierung des Artikels über die Taufe (2.I.3) eine Differenz, die durch eine gemeinsam 1995 verabschiedete Neuformulierung dieses Abschnittes aufgehoben wurde. Die RvG ist als elektronisches Dokument abzurufen unter www.baptisten.org/pdf/werwirsind/id-7-pdf. pdf. Im Folgenden wird auf die Abschnitte verwiesen.

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Weise der Sammlung und Sendung der Gemeinde Jesu Christi.“22 Es ist deutlich, dass hierdurch ein Verständnis der Belege aus den Past im Sinne einer Prüfung der „Eignung“ entsprechender Dienstträger intendiert ist. Von der speziellen Konzentration der Past auf die Gestaltung der Dienste und Ordnungen zur Sicherung apostolischer Tradition ist ebenso wenig zu spüren wie von der möglichen Notwendigkeit, dass von außen, hier also vom Gemeindebund aus, in die Belange einer Ortsgemeinde etwa eingegriffen werden sollte oder könnte, um beobachteten Fehlentwicklungen etwas entgegenzusetzen. Dies wird auch deutlich, wenn man sich den sogleich folgenden Absatz in der RvG anschaut, der nun dezidiert das Verhältnis zwischen Ortsgemeinde und Bund unter dem Aspekt der Dienste und Ordnungen in den Blick nimmt: „Jede Ortsgemeinde versteht sich als Manifestation des einen Leibes Christi und ordnet ihr Leben und ihren Dienst selbst. Untereinander sind die Ortsgemeinden verbunden nicht zuerst durch organisatorische Zusammenschlüsse, sondern durch den einen Herrn und den einen Geist. Die Gemeinden stärken sich aber gegenseitig durch Gemeinschaft im Glauben und Voneinander-Lernen, durch Fürbitte und gegenseitige Hilfe.“23 Wie diese hier im letzten Satz zur Sprache kommende Hilfe aussehen kann, wird nicht ausgeführt. Auch die als neutestamentlichen Belege angeführten Stellen helfen eigentlich nicht weiter. Während die hier erwähnte Stelle 1 Kor 1,2 die Ansprechbarkeit der einzelnen Gemeinde im Miteinander aller Gemeinden betont, bringt die ebenfalls erwähnte Stelle Eph 4,3-6 die Einheit aller  22 RvG 2.I.5. Hier werden 1 Tim 3; 4,12-16; 5,17-22; 2 Tim 2,2 und

Apg 20,28 als Belegstellen angeführt. 23 Ebd.

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Christen zum Ausdruck. Bemerkenswert ist, dass in diesem Zusammenhang nun auch noch 1 Kor 16,1-4, also der Hinweis auf die Sammlung für Jerusalem, genannt ist. Nun kann man sicherlich gegen eine solche Auswertung einwenden, dass sich Belege in Bekenntnistexten selten eignen, komplexere Aussagen der Bibeltexte aufzurufen. Dennoch ist diese Beobachtung auszuwerten, gibt sie doch einerseits einen Einblick sowohl in die Rezeption der biblischen Texte, die bei der Abfassung der RvG im Hintergrund stand, und bietet sie andererseits auch eine mögliche Vorgabe zur weitergehenden und sich an der RvG orientierenden Rezeption. Diese geht in Richtung einer im weitesten Sinne pragmatischen Nutzbarmachung der Past für die Bestimmung der Eignung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern innerhalb der Ortsgemeinde. Damit wird zwar der oberflächlichen Sache, nicht aber der eigentlichen zugespitzten Intention der Past Rechnung getragen.

3.2 In Bibelarbeiten der Gemeindezeitschrift „Die Gemeinde“ Ein nächster Blick soll den Bibelarbeiten gelten, die in der früher wöchentlich, heute 14-tägig erscheinenden Kirchenzeitung „Die Gemeinde“ veröffentlicht wurden. Die Verbreitung dieser Zeitschrift geht zwar seit ca. 15 Jahren kontinuierlich zurück, sie hat aber, wie der Leserbriefrücklauf zeigt, immer noch einen nicht unbeträchtlichen Einfluss gerade auf die traditionsbewussten Mitglieder baptistischer Gemeinden. Hier allerdings ist eine interessante Beobachtung zu machen: In den vergangenen 45 Jahrgängen wurden insgesamt nur 35 Bibelarbeiten über die Past verfasst und von diesen nur eine, die sich wenigstens annähernd mit der 52

Frage der Ämter in den Gemeinden beschäftigt, nämlich zu 1 Tim 3,4f.24 In dieser wird zwar die pseudepigrafe Abfassung vorausgesetzt, allerdings geht es dann auch hier zuerst um die Frage des rechten Hausvorstandes.25 Im Hintergrund dieses Artikels stand jedoch die konkrete Anfrage, anhand dieses, dem Verfasser vorgegebenen Textes, eine Stellungnahme zu der Frage zu verfassen, ob denn Personen, deren Kinder nicht gläubig sind, für ein Gemeindeamt zur Verfügung stehen dürften. Die Anfrage intendierte also die Richtung der Rezeption, die in Andeutungen bereits in der RvG deutlich wurde: Eine Anwendung des Pflichtenkatalogs. Neben diesem Beitrag fehlen Arbeiten, die von Texten der Past ausgehend über die Gemeindeämter handeln, von der Reflexion des Eingreifens externer Autoritäten zur Sicherung der Gemeinde ganz zu schweigen.26  24 Zum Vergleich: 1 Tim 2,1ff.; 2 Tim 1,7 werden in jeweils fünf,

2 Tim 3,14-17; Tit 2,11ff. in jeweils vier Bibelarbeiten bearbeitet. 25 A. Heinze, Wer ist berufen?, in: Die Gemeinde (4/2006) 10f. 26 Dieses Bild wird auch bestätigt, wenn man sich die in den Jahren

recht zahlreichen Artikel anschaut, die nicht direkt biblische Texte behandeln, sich aber allgemein mit der Rolle der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gemeinden beschäftigen. In den ausgewerteten Beiträgen der letzten 15 Jahre ist zunächst auffällig, dass sie häufig ganz ohne einen direkten Rekurs auf das Neue Testament auskommen. Es ist zu spüren, dass die Lösung möglicher Probleme in einer Gemeinde nicht durch „biblische Rezepte“ erwartet wird – was ja bereits als ein Fortschritt bewertet werden könnte. Bemerkenswert ist aber gleichzeitig, dass nun die Lösung möglicher Herausforderungen in der Gemeinde durch allerlei Hilfen aus dem Bereich des Managements, dem Coaching oder der Supervision erwartet wird, die durchweg nicht in der Verantwortung der Kirche bzw. des „Bundes“ angesiedelt werden. Hilfen aus dem Gemeindebund selbst finden nur in wenigen Artikeln einen Niederschlag, in denen die Gemeinschaft der Pastorinnen und Pastoren und das „Netzwerk Beratung von Gemeinden“ aufgerufen werden. Eine Einflussnahme des Bundes etwa durch die Leitung der Kirche in Belangen der haupt- wie ehrenamtlichen Mitarbeiterschaft oder gar der Ortsgemeinden wird als Möglichkeit nicht aufgegriffen.

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3.3 In Schulungsmaterialien Wenigstens etwas anders sieht es in dem Schulungsmaterial aus, das für die Gemeinden zur Durchführung von Hauskreisen, Kleingruppen etc., in denen miteinander Bibel gelesen wird, zur Verfügung gestellt wurde.27 Hier gibt es seit den 1970er-Jahren mehrere Veröffentlichungen, die sich mit den Past beschäftigen und dabei teilweise auch mit den dortigen Aussagen über die Dienstträger. Allerdings fällt auch hier auf, dass die bereits bei RvG gesehene Rezeptionsrichtung sich weitestgehend wiederholt. Das 1977 erschienene Heft der „Gemeindebibelschule“28 zu den Timotheusbriefen beinhaltet auch eine Gesprächshilfe für die Teilnehmenden am Bibelgespräch zu 1 Tim 3,1-15.29 Bereits die Überschrift dieses Beitrags zeigt die bereits bekannte Rezeption: „Merkmale guter Mitarbeiter“. Diese kommt dann auch in der Zusammenfassung am Beginn des Artikels zur Sprache: „Wir sehen in diesem Abschnitt, welche Anforderungen an leitende Mitarbeiter der Gemeinde im 1. Jahrhundert gestellt wurden, und wollen unsere heutigen Berufungen von vollzeitlichen und nebenamtlichen Mitarbeitern stärker von  27 Hier muss leider in der Vergangenheit gesprochen werden, da der-

zeit keinerlei entsprechende Veröffentlichungen aufgelegt werden. 28 Die Arbeitshefte „Gemeindebibelschule“ (später „Treffpunkt Bi-

bel“) erschienen zwischen 1977 und 2006 vierteljährlich. Sie unterstützten die in zahlreichen Gemeinden stattfindenden Kleingruppen, die sich zum gemeinsamen Bibellesen trafen. Die Arbeitshefte hatten in der Regel einen Umfang von ca. 30 Seiten und beinhalteten eine Einführung in ein biblisches Buch bzw. Thema, sowie sich daran anschließende Gesprächshilfen zu einzelnen biblischen Texten. Die Resonanz auf die „Gemeindebibelschule“ war bis weit in die 1990er-Jahre in den Gemeinden des BEFG sehr positiv, sodass den hier vermittelten Inhalten eine weite Wirkung zugeschrieben werden kann. 29 O. Vf., Merkmale guter Mitarbeiter, in: Gemeindebibelschule (1/1977) 13f.

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diesen biblischen Leitvorstellungen beeinflussen lassen.“30 Wie wenig der Verfasser die Notwendigkeit sieht, die Leserinnen und Leser in die Auseinandersetzung über die Leitungsstruktur hineinzunehmen, die dieser Brief reflektiert, zeigt sich dann auch darin, dass die Problematik des Verhältnisses zwischen Episkopos und Presbytern ganz einfach nivelliert wird: „Leitende Mitarbeiter werden im Neuen Testament entweder mit dem mehr alttestamentlichen Begriff ‚Älteste’ oder mit dem mehr griechisch gefüllten Begriff ‚Bischöfe’ bezeichnet. Beide meinen dieselben Personen.“31 Ein deutlich ausgeprägteres Problembewusstsein kommt in der Gesprächshilfe zu Tit 1 in einem 1991 erschienenen Themenheft zu den Past zum Ausdruck.32 Hier wird im Zusammenhang der Ältestenberufungen von Tit 1,5f. die Spannung zwischen Gemeinde und externer Autorität zur Sprache gebracht, wenn formuliert wird: „In welcher Form die junge Gemeinde eine Mitsprachemöglichkeit hat, bleibt unklar. Wahrscheinlich aber wird – entsprechend der Missionssituation – die Initiative stark von Titus ausgegangen sein.“33 Die Wahrscheinlichkeit externen Eingriffs in die Ortsgemeinde wird hier für möglich gehalten, wenn auch nicht weiter thematisiert. Das Eingreifen scheint der „Missionssituation“ und der noch „jungen“ Gemeinde im Gegenüber zu Irrlehren geschuldet. Im weiteren Verlauf erfolgt aber ein interessanter Versuch einer Aktualisierung des Textes, wenn darauf aufmerksam gemacht wird, dass die Irrlehrer aus den eigenen Reihen kommen „und jetzt durch die  30 Ebd., 13. 31 Ebd. Zu beachten ist hier, dass der Verfasser ganz selbstverständ-

lich von Bischöfen im Plural spricht. 32 O. Vf., Der Dienst der Gemeindeleitung, in: Gemeindebibelschu-

le (2/1991) 4f. 33 Ebd., 4.

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‚Hauskreise’ [!!] ziehen, um Gehör zu finden“.34 Ebenfalls wird in diesem Artikel die Schwierigkeit der Redeweise von den Ältesten und dem Bischof angedeutet. In einem anderen Artikel dieses Heftes wird auch auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, dass der Bischof Leiter des Presbyterkreises gewesen sein könnte.35 Allerdings wird hinsichtlich der Frage des Verhältnisses von Episkopos und Presbyter die bereits bekannte Ansicht wiederholt, dass „diese beiden Begriffe austauschbar seien“.36 Diese angebliche Identität von Presbytern und Bischof wird auch in einem weiteren Artikel desselben Heftes zu 1 Tim 3 wieder selbstverständlich angenommen, der dann auch erneut auf eine Berücksichtigung der geforderten Tugenden auf mögliche Berufungen abzielt. Gleichzeitig aber wird hier dann doch deutlich gemacht, dass Paulus (!!) diese Ausführungen im Angesicht der Bedrohung durch Irrlehren wichtig war.37 Ein letztes Arbeitsheft mit Berücksichtigung von 2 Tim und Tit erschien – nun unter dem neuen Titel „Treffpunkt Bibel“ – 2003. Auch hier findet sich unter der Überschrift „Klare Ordnungen für Gemeindeleitungen“ ein Beitrag zu Tit 1,1-9, der allerdings gegenüber den Aussagen von 1991 einen deutlichen Rückschritt bezüglich der Vermittlung der Textsituation darstellt.38 Selbstverständlich wird bei der Information über den Begriff  34 Ebd., 5. 35 W. Buck, Anleitung zu den Leitungsämtern und den Bereichen der

Mitarbeit im Neuen Testament, in: Gemeindebibelschule (2/1991) 30f., 31. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. o. Vf., Der Dienst der Bischöfe und Diakone. 1 Tim 3, in: Gemeindebibelschule (2/1991) 16f., 16: „Für Christen in leitender Funktion (...) hat das Neue Testament zwei Bezeichnungen: Älteste und Bischöfe. Offensichtlich handelt es sich um ein und denselben Personenkreis.“ 38 B. Theis, Klare Ordnungen für Gemeindeleitungen, in: Treffpunkt Bibel (2/2003) 23-25.

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Episkopos unter Berufung auf Phil 1,1 vorausgesetzt, dass es „in den einzelnen Gemeinden mehrere Gemeindeleiter (...) und nicht einen Bischof für mehrere Gemeinden“ gab und dass die Begriffe „Ältester“ und „Gemeindeleiter“ vielfach gleichbedeutend benutzt wurden.39 Was dann folgt, ist eine Wiederholung der im Text gefundenen Anforderungen an die leitenden Persönlichkeiten. Die Beobachtungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Rolle der geordneten Dienste in den Gemeinden zum Zwecke der Ordnung und Abwehr von Irrlehre wird nur angedeutet. Die Rolle einer etwa wie in Tit 1,5f. extern in die Belange der Gemeinde eingreifenden Größe wird ebenfalls höchstens zaghaft vermittelt und mit der damaligen Missionssituation und der noch „jungen“ Gemeinde begründet. Gänzlich ohne jede Berücksichtigung bleibt die Spannung zwischen Presbytern und Episkopos und damit auch einerseits das grundsätzliche Thema eines von außen als notwenig gesehenen Eingreifens in bestehende Leitungsstrukturen zum Zwecke einer Optimierung angesichts der Bedrohung der Gemeinden durch Irrlehrer, wie andererseits die Frage nach übergemeindlichen Leitungsstrukturen überhaupt. So beachtenswert und zu unterstützen es ist, wenn in einer Kirche den interessierten Kirchengliedern Hilfen zur Auseinandersetzung mit biblischen Texte vermittelt werden, so wichtig ist auch der Blick auf die damit vermittelten Inhalte und das damit an den Bibeltexten geschaffene Problembewusstsein für die gegenwärtige Gemeinde von Christinnen und Christen. Die vorgefundenen Arbeiten in der „Gemeindeliteratur“ der Baptisten müssen sich fast durchweg die Frage gefallen lassen, ob  39 Ebd., 23. Man kommt nicht umhin nachzufragen, ob alleine die

Übersetzung von Episkopos mit Gemeindeleiter der den Past zu entnehmenden Intention nicht gänzlich widerspricht.

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sie tatsächlich der Brisanz und Herausforderung der damaligen Situation Rechnung getragen haben. Wo dies aber nicht geschehen ist, dort wurde gleichzeitig nicht vermittelt, dass die Frage nach dem Miteinander und der Struktur von mehreren (Orts-)Gemeinden bereits im Neuen Testament als Herausforderung erkannt und – auch jenseits einer rein „geistlichen“ oder finanziellen Ebene – behandelt wurde. Der Eingriff in die Strukturen bestehender und sich selbst verwaltender Gemeinden durch eine externe, sich auf apostolische Autorität berufende Instanz wurde übersehen – damit aber auch das Bewusstsein für solche zur Ortsgemeinde hinzutretende Instanzen nicht gefördert.40

4. Ergebnisse Der vorgelegte Beitrag hat nur einen sehr kleinen Ausschnitt neutestamentlicher Impulse zur Frage nach dem Verhältnis von Gemeinde und übergemeindlichen Strukturen und dessen Rezeption im Baptismus aufgreifen können. Bezüglich der Aufnahme dieser biblischer Impulse im Baptismus kann hier nur angedeutet werden, dass auch bei anderen neutestamentlichen Schriften, z.B. aus dem Eph, ähnliche Entdeckungen gemacht werden können. Die Wahrnehmung der Problematik eines Bezuges zwischen Ortsgemeinden und einer sie umfas 40 Dies ist gerade auch deshalb sehr zu bedauern, da die Frage nach

einem geordneten Miteinander von Ortsgemeinde und Kirche/ Bund im nationalen wie internationalen Baptismus auf der Ebene der Kirchenleitung als große Herausforderung erkannt wird. So fand 2000 in Kassel eine nationale Konsultation, 2006 in Elstal bei Berlin eine internationale Konsultation zu diesem Thema statt. Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass es in beiden Symposien zusammen nur einen Beitrag gab, der sich dieser Frage aus dezidiert neutestamentlicher Sicht näherte.

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senden Größe eines Gemeindebundes oder gar einer Kirche bereits in den Schriften des Neuen Testaments findet so gut wie nicht statt. Die neutestamentlichen Aussagen über die Gemeinde werden stattdessen im Baptismus nahezu ausschließlich auf die eigene Ortsgemeinde hin gelesen und konkretisiert. Das Eingreifen in diese wird letztlich nur einer Autorität zugebilligt: Der apostolischen, die in evangelischer Tradition hinter den biblischen Schriften vermutet wird. Diese Autorität geht dann aber auch ganz in der Schrift auf, sodass eine institutionelle Autorität, wie sie die Past vorstellen, aus dem Blick gerät. Eine im Sinne der Past über einer Ortsgemeinde stehende Autorität, die auch in diese eingreifen dürfte, ist außerhalb der Sicht. Nun mag sich an dieser Stelle tatsächlich viel traditionelle Abwehr des Großkirchlichen mit all seinen hierarchischen Strukturen und den sich damit verbindenden Problemen in das möglicherweise doch vorhandene kollektive Selbstbewusstsein baptistischer Freikirchlicher gemischt haben. Deshalb soll zum Schluss versucht werden, die Impulse der Past in einer Weise zur Sprache zu bringen, die auch die freikirchliche Ekklesiologie mit ihrer Betonung der Ortsgemeinde berücksichtigt. Hierbei fällt zuerst auf, dass die Past keine apostolische Verordnung, sondern ein apostolischer Einspruch mit zwar deutlichem, aber eben nur empfehlendem Charakter sind. Wenn oben ausgeführt wurde, dass die Irrlehrer der Past aus den Gemeinden selbst kommen und sich durchaus auch als Paulinisten bezeichnen könnten, so steht für die ersten Leser der Past apostolische Aussage gegen apostolische Aussage. Zwar unterlassen es die Verfasser nicht, die besondere Autorität des Apostels durch die Pseudepigrafie aufzurufen, doch ist es bemerkenswert, dass entsprechende apostolische Imperative, die genau diese Autorität zur Wirkung kommen lassen würden, fehlen. Dass Paulus selbst dieses konnte und 59

tat, zeigen seine in nicht geringeren Spannungssituationen verfassten Kor und Gal. Der externe Eingriff der Autoritäten des Gemeindebundes in die Ortsgemeinden und ihre Strukturen erfolgt also in den Past nicht als Direktive, sondern empfehlend. Dieses entspricht recht gut dem, was man vom Verhältnis des Bundes der Baptistengemeinden zu den einzelnen Ortsgemeinden sagen kann. Man mag sich darüber streiten, ob theologische Erkenntnis oder nur Fehlen der rechtlichen Möglichkeiten zur Durchsetzung dafür verantwortlich sind, aber der BEFG kann den Gemeinden unter seinem Dach tatsächlich nur Empfehlungen geben: Von der RvG bis hin zur Besoldungsliste von Pastorinnen und Pastoren, von der Musterordnung für Gemeinden bis hin zu theologischen Stellungnahmen – all dies ist von der jährlichen Synode des BEFG (dem sogenannten Bundesrat) oder von einzelnen hiermit beauftragten Gremien beschlossen, kann den Gemeinden dann aber nur – wie es so schön heißt – „zum Gebrauch empfohlen werden“. Hiermit aber nimmt der Bund einerseits eine Verantwortung wahr: Er kümmert sich um die Hilfen, die der Ortsgemeinde theologisch, strukturell und organisatorisch helfen; andererseits nimmt er den Ortsgemeinden eben ihre jeweils eigene Verantwortung aber nicht ab. Die Entscheidung der Verantwortung, ob und wie diese Hilfen angenommen werden, bleibt ganz bei der Ortsgemeinde. Hier kann durchaus eine Ähnlichkeit zur Situation der damaligen Gemeinden erkannt werden: Hier wie dort stehen manchmal Aussage gegen Aussage, Verständnis der apostolischen Schriften gegen Verständnis der apostolischen Schriften, Empfehlung gegen Empfehlung. Und hier wie dort hat die jeweilige Instanz nur die Kraft der Überzeugung. Genau hier läge dann aber auch in einem Kirchenmodell, das sich dieser kongregationalistischen Selbstständigkeit der Ortsgemeinde verpflichtet weiß, die Haupt60

aufgabe kirchlicher Institutionen – sei dieses in Fragen der äußeren Struktur oder auch in Fragen der Lehre und Lehrbildung. Es kann nicht um hierarchische Bestimmung, sondern allein um intensive Überzeugungsarbeit gehen. Die Kirche in einem kongregationalistisch strukturierten Gemeindebund kann nur überzeugen, nie zwingen, sie kann Irrtümer nur mit dem verantwortlichen und überzeugenden Rekurs auf die apostolische Autorität der Schrift überwinden, nie aber selbst aus sich heraus mit eigener Kraft abschaffen. In diesem Sinne hat die Kirche bei uns nach meiner Vorstellung vor allem Aufgaben im Bereich der Aufklärung und der Bildung. Aufklärung und Bildung, damit die selbstständigen Ortsgemeinden mit ihrer im Grunde sehr aus der Versammlung aller Gemeindeglieder heraus entstehenden Entscheidungsvollmacht tatsächlich nicht nur die Macht, sondern die Kompetenz haben, gut zu entscheiden. „Gut“ in dem Sinne, wovon sie sich haben überzeugen lassen und nicht in dem Sinne, wie es ihnen jemand anderes gesagt hat. An dieser Stelle hat meine Kirche meiner Meinung nach immer noch nicht genug getan – vielleicht, weil häufig die Energie fehlt, nach der Entwicklung von Stellungnahmen auch noch für den notwendigen und überzeugenden Transfer in die Gemeinden zu sorgen. Ein solcher Transfer kann nicht allein bei den Hauptamtlichen, ihrer Aus- und Fortbildung enden, sondern müsste in viel größerem Umfang als bisher die Gemeindeglieder selber durch entsprechende kompetenzbildende Angebote erreichen. Aus diesem Grunde wurde in diesem Beitrag bewusst auf die weitverbreitete Literatur baptistischer Gemeinden zurückgegriffen. Das Ergebnis dieser Betrachtung aber unterstreicht die Aufgabe der Kompetenzbildung nur auf das Deutlichste. Und dass entsprechendes Material für die Gemeindeglieder derzeit nicht angeboten wird, macht sie umso schwerer. 61

ZUSAMMENFASSUNG Der Beitrag beobachtet in den Pastoralbriefen den Versuch, dass außerhalb der Gemeinden stehende Personen in die Entwicklung dieser Gemeinden eingreifen möchten. Hierbei werden insbesondere die „von außen“ kommenden Impulse in den Blick genommen, die angesichts einer Bedrohung durch Irrlehrer Veränderungen bei den eingeführten geordneten Diensten fordern. Dargestellt wird, welche Bedeutung in diesem Prozess eine theologische Autorität gewinnt, die den einzelnen Gemeinden übergeordnet werden soll. Hiervon ausgehend wird die Rezeption der Pastoralbriefe im deutschen Baptismus untersucht. Insbesondere wird gefragt, ob und inwieweit gerade auch die gemeindenahe Literatur diese Impulse der Pastoralbriefe aufgreift und die Möglichkeiten oder Notwendigkeiten übergemeindlicher kirchlicher Organe zur Sprache bringt. Von hier aus wird eine in der Tradition des deutschen Baptismus angelegte vereinfachende Rede von der „Selbstständigkeit der Ortsgemeinde“ im Gegenüber zu einer kirchlichen Struktur oder Verfassung kritisch befragt.

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Der Wandel des katholischen Kirchenbildes bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil Burkhard Neumann

In der Kürze der Zeit einen Überblick zu geben über den Wandel des (katholischen) Kirchenbildes im Laufe der vergangenen zwei Jahrtausende ist eigentlich kaum möglich. Selbst wenn man die Kirchengeschichte in entsprechende Epochen aufteilt, gibt es darin nicht das eine vorherrschende oder sich wandelnde Kirchenbild, sondern es gibt in der Aufnahme und Reflexion des neutestamentlichen Befundes in der Geschichte eine Fülle von Kirchenbildern, die sich zudem, gerade weil es sich um Bilder handelt, systematisch nicht auf den einen Begriff von Kirche bringen lassen und die darum, wenn überhaupt, erst dann ein Gesamtbild liefern können, wenn sie mit anderen Bildern zusammen gesehen werden. Ich spreche dabei bewusst von Bildern der Kirche. Denn die Ekklesiologie vollzieht sich bekanntlich innerhalb der Dogmen- und Theologiegeschichte weitgehend indirekt. Traktate bzw. Summen der Ekklesiologie gibt es erst seit dem 14. Jahrhundert, und dabei handelt es sich vor allem um kirchenrechtliche Schriften, die die Frage nach der Vollmacht von Bischöfen und Päpsten untersuchen. Wenn man bedenkt, dass erst die Kirchenkonstitution Lumen gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils eine ausdrückliche und umfassende Reflexion der katholischen Kirche auf ihr Selbstverständnis bietet, dann wundert es nicht, dass erst im Anschluss an das Konzil die Ekklesiologie Gegenstand ausdrücklicher theologischer Traktate wurde.1 Die großen systematischen Sum 1 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien allein aus dem deutsch-

sprachigen Raum folgende Werke genannt: H. Küng, Die Kirche,

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men des Mittelalters etwa behandeln die Kirche nicht in einem ausdrücklichen Abschnitt. Das heißt natürlich nicht, dass die Kirche in der theologischen Reflexion nicht gegenwärtig ist, aber sie ist, von Einzelfragen abgesehen, viel mehr der Raum, in dem sich Glaube, Liturgie und Theologie vollziehen und kommt von daher eher indirekt zur Sprache. Dies vorausgesetzt möchte ich im Folgenden einige der Bilder benennen, unter denen die Kirche im Laufe der Geschichte bedacht und verstanden worden ist, Bilder bzw. Vorstellungen, die durch die Geschichte hindurch das römisch-katholische Kirchenbild geprägt haben und bis heute prägen und die den Grund bildeten, auf dem die Reflexion des Zweiten Vatikanischen Konzils aufbauen konnte. Dabei möchte ich im Anschluss an Medard Kehl drei Phasen unterscheiden: die Zeit der Patristik als Zeit der Identifizierung von Kirche, die Zeit des Mittelalters als Zeit der Differenzierung der Christenheit und die Zeit von Reformation und Gegenreformation als Zeit der Legitimierung von Kirche.2 Dabei lassen sich innerhalb dieser Phasen nochmals verschiedene Schwerpunkte deutlich machen, die dementsprechend die Bilder von Kirche prägen.3  München 31992 (Freiburg i.Br. 11967); M. Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 1992; S. Wiedenhofer, Das katholische Kirchenverständnis. Ein Lehrbuch der Ekklesiologie, Graz 1992; J. Werbick, Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg i.Br. 1994; R. Miggelbrink, Einführung in die Lehre von der Kirche, Darmstadt 2003. Zu berücksichtigen wären ferner die verschiedenen Gesamtdarstellungen der katholischen Dogmatik, die in den vergangenen Jahren erschienen sind. 2 Vgl. M. Kehl, Art. Ekklesiologie, in: LThK3 3 (1995) 568-573, hier 569-571. 3 Vgl. zum Folgenden: HDG III/3, a-d; Y. Congar, Art. Kirche II. Dogmengeschichtlich, in HThG I, 801-812; H. Fries, Wandel des

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1. Die Patristik: Identifizierung Wenn man versucht, die Fülle dessen, wie in der Zeit der Patristik die Kirche verstanden wird, begrifflich zu bündeln, dann bieten sich dazu vor allem zwei Begriffe an, nämlich mysterium und communio. Wenn die Kirchenväter die Kirche als mysterium verstehen, ist damit gemeint, dass die Kirche in das seit Urzeiten verborgene Heilsgeheimnis Gottes hineingehört, das in Christus geoffenbart worden ist (vgl. Kol 1,25-27; Eph 3,1-13; 5,32). Die Kirche wird also verstanden „als Teil des gesamten in Jesus Christus offenbar gewordenen und jetzt auf der ganzen Welt verkündeten Heilsplanes Gottes“.4 Von diesem Heilsplan Gottes spricht die ganze Heilige Schrift in der Einheit von Altem und Neuen Testament. Da die Theologie der Kirchenväter wesentlich Schriftauslegung ist, orientieren sich auch ihre Aussagen zur Kirchen ganz und gar an der Schrift. Dort finden sie eine überbordende Fülle von Bildern, die aufgrund der geistlichen Schriftauslegung selbstverständlich auch das Alte Testament mit einbezieht und die die Väter auf die Kirche als Teil des göttlichen Heilsmysteriums hin ausdeuten.5 Das bedeutet zunächst, dass Kirche mehr ist als die irdische Kirche, weil sie die gesamte Heilsgeschichte umfasst. Sie geht zurück bis zu Abel, dem ersten der Gerechten, und lässt sich darum auch im gesamten Alten Bund finden. „Von weit her ist die Kirche, seitdem Heilige auf Erden genannt werden, gibt es die Kirche auf  Kirchenbildes und dogmengeschichtliche Entfaltung, in: MySal 4/1, 223-285. 4 S. Wiedenhofer, Ekklesiologie, in: Handbuch der Dogmatik. Hg. v. Th. Schneider. Erarb. v. B.J. Hilberath u.a. Bd. 2: Gnadenlehre, Ekklesiologie, Mariologie, Sakramentenlehre, Eschatologie, Trinitätslehre, Düsseldorf 1992, 47-154, hier 71. 5 Vgl. dazu grundlegend H. Rahner, Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964.

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Erden.“6 Zugleich ist die Kirche aber auch mehr als die irdische Kirche bzw. die Gemeinde am Ort, die eben nur ein Teil dessen ist, was Kirche ausmacht. Dementsprechend kann Augustinus sagen: „Unser Herr Jesus Christus ist als ganzer, vollkommener Mann sowohl Haupt wie Leib. Das Haupt anerkennen wir in dem Menschen, der geboren ist aus Maria der Jungfrau, gelitten hat unter Pontius Pilatus, begraben wurde, auferstanden und zum Himmel aufgefahren ist und nun zur Rechten des Vaters sitzt, von wannen wir ihn erwarten als Richter der Lebendigen und der Toten: das heißt Haupt der Kirche. – Der Leib dieses Hauptes ist die Kirche, nicht nur die, welche hier an diesem Orte ist, sondern die an diesem Ort und über den ganzen Erdkreis verbreitete; nicht nur jene, die zu dieser Zeit leben, sondern alle, von Abel her bis zu denen, die bis zum Ende geboren und an Christus glauben werden: das gesamte Volk der Heiligen, die zu dem einen Staat gehören, der Christi Leib und dessen Haupt Christus ist.“7 Wie an diesem Zitat deutlich wird, ist eines der zentralen Bilder der Kirche das Bild des Leibes Christi. Gerade bei Augustinus wird deutlich, wie es diesem Bild gelingt, sowohl die Verbundenheit als auch die Differenz zwischen Christus und seiner Kirche deutlich zu machen und zugleich die zentrale Rolle der Eucharistie hervorzuheben. Als Leib Christi bedarf die Kirche ihres Hauptes, Christus, aber zugleich ist sie wirklich Leib Christi, denn erst in der Einheit von Haupt und Leib ist für Augustinus der ganze Christus zu finden. Für ihn gilt,  6 Augustinus, In Ps 128,2 (CCL 40, 1882); Übers. aus: Aurelius Au-

gustinus, Über die Psalmen. Ausg. u. übertr. v. H.U. von Balthasar, Einsiedeln 21983 (CMe 20), 300f. 7 In Ps 90,2,1 (CCL 39, 1266); Übers. aus: Texte der Kirchenväter. Eine Auswahl nach Themen geordnet. Bd. IV. Zusammengestellt u. hg. v. A. Heilmann unter wissensschaftl. Mitarbeit v. H. Kraft, München 1964, 22.

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„dass unser Herr Jesus Christus, der bereits für uns litt und auferstand, das Haupt der Kirche ist, und dass die Kirche sein Leib ist und dass in seinem Leibe die Einheit der Glieder und das Bänderwerk der Liebe die Gesundheit darstellt … Denn, Brüder, seht unseres Hauptes Liebe. Schon ist er im Himmel, und doch leidet er hienieden, solange die Kirche hienieden leidet. Hienieden hungert Christus, hienieden dürstet er, ist nackt, ist fremd, ist krank, ist im Kerker. Denn was immer sein Leib hier leidet, das, sagt er, leide auch er: …‚ Denn was immer ihr einem meiner Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan’ (Mt 25,45).“8 Dieser wirkliche Leib Christi, der die Kirche ist, wird aufgebaut durch den mystischen Leib Christi, d.h. die Eucharistie. Gerade die Vieldeutigkeit des neutestamentlichen Leib-Christi-Begriffs ermöglicht es den Vätern, beides untrennbar zusammen zu sehen. Die Eucharistie ist darum nicht primär Gnadenmittel für den Einzelnen, sondern sie macht die Kirche zu dem, was sie ist, zum Leib Christi. Auch hier findet sich die klassische Formulierung dazu bei Augustinus: „Wenn du also verstehen willst, was der Leib Christi ist, dann höre auf den Apostel. Der sagt den Gläubigen: Ihr aber seid Christi Leib und Glieder (1 Kor 12,27). Wenn ihr selbst also Leib Christi und seine Glieder seid, dann liegt euer eigenes Geheimnis auf dem Altar. Ihr empfangt also euer eigenes Geheimnis … Seid also, was ihr seht, und empfangt das, was ihr seid: Leib Christi.“9 Dieses Bild des Leibes Christi wird bei den Vätern aber ergänzt durch eine ganze Fülle anderer Bilder, in denen  8 Augustinus, Sermo 137,1-2 (PL 38, 754f.); Übers. aus: Augustinus,

Das Antlitz der Kirche. Ausw. u. Einl. v. H.U. von Balthasar, Einsiedeln 31991 (CMe 41), 103. 9 Augustinus, Sermo 272 (PL 38, 1247); Übers. aus: Quellen geistlichen Lebens. Die Zeit der Väter. Hg. u. eingel. v. W. Geerlings u. G. Greshake, Mainz 1980, 115.

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die Kirche als Volk und Haus Gottes, als der wahre Tempel, das neue Jerusalem oder die Arche Noah gedeutet wird. Kennzeichnend ist dabei, dass diese Bilder ineinander übergehen und erst in dieser ganzen Vielfalt das aufleuchten lassen, was Kirche als Ganze ist. Daneben gibt es ein ganzes Spektrum von Bildern, das die Kirche im Bild der Frau in allen Dimensionen dieses Frauseins zeigt. Denn die Kirche ist ebenso Braut Christi wie zugleich die Mutter der Gläubigen, die in der Taufe ihre Kinder gebiert, sie ist aber auch die Jungfrau, weil sie allein Christus treu ist. Zugleich werden damit auch – neben dem Hohenlied, das als Lied zwischen Christus und seiner Kirche gedeutet wird – die großen Frauengestalten der Bibel, neben Maria vor allem die des Alten Testaments, auf die Kirche gedeutet. Gerade in der Aufnahme dieser Bilder macht etwa Origenes in der Deutung der Dirne Rahab aus dem Josua deutlich, dass die Kirche die aus den sündigen Heidenvölkern berufene und allein von Christus geheiligte Gemeinschaft der Glaubenden ist.10 Das Bild von der Kirche als Mutter, um ein anderes Element aus diesem Bildfeld herauszunehmen, betont dabei zum einen die Rolle der Kirche als Vermittlerin der göttlichen Wahrheit und des göttlichen Lebens, es wird aber (wie andere Bilder auch) zugleich dazu verwendet, die Einheit der Kirche gegen die Häretiker zu betonen und zu bewahren. Dementsprechend heißt es bei Cyprian von Karthago: „Die Braut Christi kann keine Ehebrecherin sein, denn sie ist rein und keusch. Sie kennt nur ein Haus, und rein und züchtig hütet sie die Heiligkeit ihres einen Gemachs. Sie bewahrt uns für  10 Vgl. Origenes, hom. in Jos 3,5; 6,4 (PG 12, 841f.; 855f.) sowie das

gesammelte Material zu dieser Deutung bei H.U. von Balthasar, Casta meretrix, in: ders., Sponsa Verbi. Skizzen zur Theologie II, Einsiedeln 31971, 203-305.

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Gott und führt ihre Kinder ins Himmelreich. Wer sich darum von der Kirche trennt und der Buhlerin zugesellt, schließt sich von selbst von den Verheißungen der Kirche aus. Wer die Kirche verlässt, erlangt nie den Siegespreis Christi. Ein Fremder ist er, ein Gottloser, ein Feind. Der kann Gott nicht zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat.“11 Auch hier zeigt sich der Übergang zwischen verschiedenen Bildern, der dieses Bild der Mutter davor bewahrt, dem Verständnis Gottes als des Vaters gleichrangig zur Seite gestellt werden: „Lieben wir den Herrn, unseren Gott, lieben wir auch seine Kirche; jenen als den Vater, diese als die Mutter; jenen als den Herrn, diesen als seine Magd; denn wir sind ‚die Söhne seiner Magd’. Aber dieses Eheband wurde in großer Liebe gefestigt: niemand beleidigt den einen und macht sich zugleich um den andern verdient … So haltet denn alle, Geliebteste, einhellig fest an Gott, dem Vater, an der Kirche, der Mutter.“12 Diese Kirche ist aber als Teil des Heilsmysteriums Gottes nicht die ideale, reine Kirche, sondern sie ist, wie etwa bereits Origenes in seinem Kirchenverständnis reflektiert, als die irdische Kirche eine Gemeinschaft, die Heilige und Sünder in sich enthält, was ebenfalls in der Aufnahme biblischer Bilder gedeutet wird: „Jetzt aber, da wir, obwohl wir große Fortschritte machen und uns mit größtem Eifer bemühen, dennoch nach meiner Meinung niemand von uns eine solche Reinheit erlangen kann, dass er nie von einem schlechten Gedanken be 11 Cyprian, De unitate ecclesia 6 (CSEL 3, 214); Übers. aus: Quellen

geistlichen Lebens (Anm. 9), 77. Zur damit verbundenen Frage nach der Heilsnotwendigkeit der Kirche vgl. W. Beinert, Die alleinseligmachende Kirche. Oder: Wer kann gerettet werden?, in: StZ 208 (1990) 75-85; 264-278. 12 Augustinus, In Ps 88 II, 14 (CCL 39, 1244); Übers. aus: Augustinus, Das Antlitz der Kirche. Ausw. u. Einl. v. H.U. von Balthasar, Einsiedeln 31991 (CMe 41), 117.

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fleckt wird, jetzt ist es gewiss, dass auch die Jebusiter mit den Söhnen Judas in Jerusalem wohnen [vgl. Jos 15,63].“13 Das zweite Stichwort für das Kirchenbild der Väter ist das der communio. In den ersten Jahrhunderten bilden sich vor allem in der Auseinandersetzung mit häretischen, gnostisch geprägten Strömungen jene Elemente heraus, die Kirche als Kirche identifizierbar machen und die für die katholische Kirche bis heute als normativ gelten: der Kanon der biblischen Schriften, die in die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse einmündende regula fidei sowie das bischöfliche Amt als Grundstruktur der Kirche.14 Zugleich formen sich auch die zentralen liturgischen Feiern, d.h. besonders die Feier der Taufe und der Eucharistie und werden, vor allem in den sogenannten mystagogischen Katechesen nach der Taufe in der Osternacht, in ihrer Bedeutung für die Gläubigen und für die Kirche reflektiert und meditiert. Dabei ist es vor allem die Eucharistie, in der sich der communio-Gedanke der Kirche in seiner ganzen Breite zeigt. Denn Eucharistie ist zum einen communio mit Christus, die aber eben geschieht in der communio des Leibes Christi, der Kirche. Diese communio konkretisiert sich „zunächst in der eucharistischen Ortskirche, die sich mit ihrem Bischof um den Altar versammelt“,15 die aber zugleich in eucharistischer Gemeinschaft miteinander stehen und so als die Gemeinschaft der verschiedenen bischöflichen Ortskirchen – synchron und diachron – die eine bzw. universa 13 Origenes, hom. in Jos 21,2 (PG 12, 930); Übers. aus: Th. Elßner /

Th Heither, Die Homilien des Origenes zum Buch Josua. Die Kriege Josuas als Heilswirken Jesu, Stuttgart 2006 (Beiträge zur Friedensethik 38), 107. 14 Vgl. M. Fiedrowicz, Theologie der Kirchenväter. Grundlagen frühchristlicher Glaubensreflexion, Freiburg i.Br. 2007, 44-236. 15 M. Kehl (Anm. 1), 323.

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le Kirche bilden:16 „Jede Familie wird notwendigerweise in ihrem Charakter nach ihrem Ursprung bestimmt. Daher sind so viele und so große Gemeinden nur jene eine apostolische Urgemeinde, von der alle abstammen. So sind alle Urgemeinden und so sind alle apostolisch, wenn alle nur eine Kirche sind. Die Einheit erweist sich dadurch, dass man einander den ‚Frieden’ gewährt, sich Bruder nennt und durch das Band der Gastfreundschaft miteinander verbunden ist. Diese Rechte werden durch keinen anderen Grund bestimmt als durch die eine Überlieferung derselben heilsnotwendigen Lehre … Wenn der Herr Christus Jesus die Apostel aussandte zu predigen, darf man keine anderen Prediger gelten lassen als die, die Christus einsetzte. Denn kein anderer kennt den Vater als der Sohn und der, dem es der Sohn offenbarte, und augenscheinlich offenbarte der Sohn es keinen anderen als den Aposteln, die er aussandte zu predigen, das heißt das, was er ihnen offenbarte. Was sie aber predigten, das heißt, was ihnen Christus offenbarte, das darf man – dies will ich ebenfalls hier als Prinzip aufstellen – auf keinem anderen Wege nachweisen als durch dieselben Gemeinden, die die Apostel persönlich gegründet haben durch ihre persönliche, an sie gerichtete Predigt, ebenso in sogenannter mündlicher Belehrung wie später durch ihre Briefe. Ist dies der Fall, so steht ebenso fest: Jede Lehre, die mit jenen apostolischen Gemeinden als den Stammmüttern und Ursprüngen des Glaubens übereinstimmt, hat als die Wahrheit zu gelten, da sie zweifellos das besitzt, was die Gemeinden von

 16 Für die besondere Rolle der römischen Kirche und daraus folgend

des Bischofs von Rom, aus dem sich letztendlich das Papstamt entwickelt hat, vgl. die Darstellung bei K. Schatz, Der päpstliche Primat. Seine Geschichte von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, Würzburg 1990.

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den Aposteln, die Apostel von Christus, Christus von Gott empfingen.“17 Was den Leib Christi nach Irenäus von den Irrlehrern unterscheidet, das ist gerade die „Aufeinanderfolge der Bischöfe, denen die Apostel die jeweilige Ortskirche übertragen haben. Dieses Bewahren gibt es bei uns bis heute, ohne dass dabei die Schriften gefälscht werden; in vollem Umfang wird ausgelegt, nichts hinzugefügt und nichts weggelassen: hier werden die Schriften unverfälscht gelesen und entsprechend erklärt, legitim und genau, ohne Risiko und ohne Blasphemie; vor allem aber gibt es hier das Geschenk der Liebe, das wertvoller ist als Gnosis, rühmlicher als Prophetie und alle anderen Charismen überragt.“18 Und vier Jahrhunderte später kann Gregor der Große sagen: „Das Wort des Glaubens wird den erwählten Gläubigen durch die Bischöfe und Lehrer der heiligen Kirche bis ans Ende der Welt verkündigt.“19 Diese Betonung des bischöflichen Amtes in seiner sich mehr und mehr herausbildenden Vollmacht bedeutet aber in einem solchen umfassenden Verständnis von Kirche noch nicht jene Unterscheidung von Klerus und Laien, wie sie für das Mittelalter kennzeichnend wird. Denn „nicht bestimmte Orte noch Ränge schenken uns die Nähe zu unserem Schöpfer, vielmehr verbinden wir uns mit ihm durch ein verdienstvolles Leben, trennen uns aber von ihm durch ein schändliches“.20 „Macht ist in ihrer Ordnung gut, bedarf aber eines umsichtigen Lebens des [bevollmächtigten] Leiters. Daher übt sie derjenige gut aus, der sie sowohl zu begrenzen  17 Tertullian, praescr. 20,4-21,2 (FC 42, 267-269). 18 Irenäus von Lyon, haer IV, 33, 7f. (FC 8/4, 263-265). 19 Gregor der Große, In 1 Reg 4,90 (CCL 144, 341); Übers. aus: Gre-

gor der Große, Von der Sehnsucht der Kirche. Ausgew. u. übertr. v. M. Fiedrowicz, Einsiedeln 1995 (CMe 48), 80. 20 Gregor der Große, Ep 7,29 (CCL 140, 488); Übers. aus: ebd., 125.

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als auch geltend zu machen vermag … Wenn jemand also ein Dienstamt in zeitlicher Vollmacht übernimmt, muss er mit größter Sorge darauf achten, das Nützliche dabei anzunehmen, das Versucherische aber zu bekämpfen; er muss sich mitsamt dieser Vollmacht auf gleicher Stufe mit den anderen betrachten, aber auch den Sündern mit strafendem Eifer entgegentreten.“21

2. Das Mittelalter: Differenzierung Mit der sogenannten Konstantinischen Wende erhält die Kirche eine staatlich festgelegte Rolle und Aufgabe im Reich. Kirche und Reich, damit aber auch geistliche und weltliche Herrschaft werden mehr oder weniger identisch bzw. gehen ineinander über. Dabei verlaufen die Entwicklungen in der Kirche des Westens, auf die ich mich im Folgenden konzentriere, anders als in den Kirchen des Ostens und wirken sich bis auf die Gegenwart aus. Geht man zunächst von einer Symbiose von geistlicher und weltlicher Herrschaft aus, wobei diese Unterscheidung nur sehr vorsichtig zu gebrauchen ist, weil wir hier nicht unsere Vorstellungen eines säkularen Staatwesens eintragen dürfen, so führt die faktische Geschichte zu einer immer stärkeren Differenzierung zwischen beiden Aspekten, die im Investiturstreit und der von Cluny ausgehenden Reform unter Papst Gregor VII. im 11. Jahrhundert ihren Höhepunkt findet. Diese Reform wollte, wie Yves Congar betont hat, „die Kirche der Macht der Laien wieder entreißen, die als Besitzer der Kirchen (Eigenkirchen) die Stellen besetzten, ein

 21 Gregor der Große, Mor 26,26,45 (CCL 143, 1300); Übers. aus:

ebd., 139.

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Verfahren, das die Simonie begünstigte und zu einem Absinken der sittlichen Haltung des Klerus führte“.22 Im Mittelpunkt des Streits steht dabei die Freiheit der Kirche. „Die naiv-ungebrochene Einheit von Kirche und Gesellschaft zerbricht; die Kirche schafft sich ihren Eigen- und Freiraum, um ihren spezifisch geistlichen Auftrag ungehinderter ausüben zu können.“23 In dieser Auseinandersetzung beruft sich Gregor auf seine Gewalt als Papst, die direkt von Gott kommt und von der her sich erst die weltliche Gewalt ableitet. Im Dictatus Papae von 1075 wird diese Zuspitzung auf eine aus heutiger Perspektive kaum erträgliche Weise formuliert, denn Kirche wird hier vom Papst und seinem universalen Anspruch her verstanden. Dahinter steht „der spirituelle Grundgedanke, dass die rechte, gottgewollte Ordnung der Kirche nur durch den Gehorsam gewährleistet sei, wobei sich der Gehorsam gegenüber Gott vor allem im Gehorsam dem Petrus und seinem irdischen Stellvertreter gegenüber verwirklicht“.24 Da Gregor, um diesen Anspruch des Papsttums zu begründen, von den Kanonisten entsprechende rechtliche Sammlungen zusammenstellen ließ, entwickelt sich in der Folgezeit ein ausdrückliches Kirchenrecht, das sich weitgehend auf die Rechte und Vollmachten von Päpsten und Bischöfen konzentriert (vgl. die entsprechenden rechtlichen Aussagen im Dictatus Papae). Dementsprechend sind auch die ersten Gesamtdarstellungen zur Ekklesiologie, die im 14. Jahrhundert aufkommen, wie schon gesagt, keine Summen der Ekklesiologie im theologischen Sinne, sondern viel stärker kirchenrechtlich geprägt. „Ihnen geht es um die klare Abgrenzung und Zuordnung der ‚Gewalten’ in der Christenheit und dabei vor allem um die Le 22 Y. Congar (Anm. 3), 804. 23 M. Kehl (Anm. 1), 349. 24 Ebd., 348.

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gitimation der absoluten Vorrangstellung der päpstlichen Gewalt vor der kaiserlichen einerseits und der bischöflich-konziliaren anderseits.“25 Zu dieser Verrechtlichung des Kirchenverständnisses kommt hinzu die immer schärfere Trennung von Klerus und Laien, was sich auch daran zeigt, dass die Liturgie immer mehr „Klerikerliturgie“ wird, an der die Laien nicht mehr wirklich beteiligt sind. Das um 1140 entstandene Decretum Gratiani, die auch wirkungsgeschichtlich bedeutendste Sammlung kirchlicher Rechtsvorschriften des Mittelalters, unterscheidet dementsprechend zwei Arten von Christen: „Die eine Art hat sich dem Gottesdienst geweiht und der Betrachtung und dem Gebet gewidmet, ihr kommt es zu, sich aus allem Lärm weltlicher Dinge zurückzuziehen. Es sind die Kleriker und die Gottgeweihten, nämlich die Conversen (Ordensleute) … Es gibt aber eine andere Art von Christen, nämlich die Laien … Diesen ist der Besitz zeitlicher Güter erlaubt, aber nur zur Nutznießung … Sie können dann gerettet werden, wenn sie durch Wohltaten den Sünden entgangen sind.“26 Damit wird das sich an der Regel Benedikts orientierende Mönchtum, also „das Monastische – im Gegensatz zum ‚Weltlichen’ – zu einer prägenden und das Bild der Kirche insgesamt formierenden Kraft“.27 Noch deutlicher wird dieser Gegensatz in dem Diktum von Papst Bonifaz VIII. (1294-1303) aus der Bulle „Clericis laicos“ von 1296, mit der der Papst die Besteuerung kirchlicher Güter im Krieg zwischen England und Frankreich verhindern wollte, und in der es heißt: „Dass die Laien den Klerikern bitter feind

 25 M. Kehl (Anm. 2), 570. 26 Decretum Gratiani C. 12, q.1 c.7: TzT.D 5, Nr. 82. 27 H. Fries (Anm. 3), 241.

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sind, überliefert das Altertum, und auch die Erfahrungen der Gegenwart geben es deutlich zu erkennen.“28 Dennoch ist damit natürlich nicht alles gesagt, was man über das Kirchenbild im Mittelalter sagen kann. Denn zum einen bleibt die Frage nach der Vollmacht des Papstes durchaus umstritten, wie die Debatte um den Konziliarismus zeigt, und wird auch in den folgenden Jahrhunderten in der Auseinandersetzung mit den aufkommenden Nationalstaaten immer wieder angesprochen. Zuspitzungen oder Übertreibungen über das Ausmaß der päpstlichen Gewalt, wie sie etwa bei dem Theologen Silvester Prierias (1456-1523) zu finden sind,29 sind deshalb keineswegs unumstritten und stehen darum auch nicht für die Ekklesiologie der Kirche dieses Zeitraums. Zum anderen wird Kirche innerhalb der Theologie weiterhin theologisch (und nicht nur juristisch) reflektiert. Dabei ist vor allem die Vorstellung von der Kirche als Leib Christi vorherrschend, allerdings mit einer wichtigen Änderung im Sprachgebrauch. War für die Kirchenväter die Eucharistie der mystische Leib Christi und die Kirche als Frucht der Eucharistie der wahre Leib Christi, so wird im Mittelalter diese Begrifflichkeit genau umge-

 28 TzT.D 5, Nr. 78. 29 Vgl. S. Prierias, In Martini Lutheri conclusiones Dialogus (1518):

TzT.D 5,2, Nr. 144: „Die Gesamtkirche ist ihrem Wesen nach die Versammlung aller Christgläubigen zum Gottesdienst … Die Gesamtkirche ihrer Kraft und Macht nach schließlich ist die römische Kirche, das Haupt aller Kirchen, und der Papst. Die römische Kirche ihrer Vertretung nach ist das Kardinalskollegium, ihrer Kraft und Macht nach aber der Papst, der das Haupt der Kirche ist, freilich in anderer Weise als Christus.“; B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 123-125; O.H. Pesch, Hinführung zu Luther, Mainz 21983, 108, Anm. 20.

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kehrt.30 Der wahre Leib Christi ist nun die Eucharistie, in der Christus wahrhaft gegenwärtig ist (vgl. die entsprechende Reflexion über die Realpräsenz Christi in der Eucharistie und die damit verbundene Herausbildung der sogenannten Transsubstantiationslehre), während die Kirche als der mystische Leib Christi betrachtet wird. „Man sieht die Kirche nun weniger im Zusammenhang mit der Eucharistie, man betrachtet sie als Leib in Verbindung mit Christus, ihrem Haupt.“31 Dabei bleibt in der Verwendung dieses Bildes ebenso deutlich, dass Kirche mehr ist als die irdische Gemeinschaft, wie die wesensmäßige Differenz zwischen Christus und den Leitern der Kirche bewahrt ist. So heißt es etwa bei Thomas von Aquin: „Christus ist also ohne jede Einschränkung und für alle Zeiten das Haupt aller Menschen, aber in verschiedenem Grade.“32 „Das Haupt wirkt in doppelter Weise auf die Glieder: durch einen inneren Einfluss, der dem ganzen Körper Leben und Bewegung gibt, und durch ein äußeres Lenken … Nun strömt uns die innere Gnade einzig und allein von Christus zu, dessen Menschheit aus ihrer Verbindung mit Gott die Kraft zur Rechtfertigung hat. Die äußere Führung der Kirche dagegen kann auch anderen zukommen, und diesem Sinne können auch andere als ‚Haupt der Kirche’ genannt werden … Zwischen ihnen und Christus besteht jedoch ein doppelter Unterschied: Erstens: Christus ist das Haupt aller, die zur Kirche gehören, an allen Orten, zu allen Zeiten und für jeden Zustand. Andere Menschen dagegen sind es nur für einen bestimmten Ort – man denke an die Bischöfe der ein 30 Vgl. dazu H. de Lubac, Corpus Mysticum. Kirche und Eucharistie

im Mittelalter. Eine historische Studie. Übertr. v. H.U. von Balthasar, Einsiedeln 21995. 31 Y. Congar (Anm. 3), 806. 32 Sth III, q.8 a. 3 c.

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zelnen Kirchen – oder nur für eine bestimmte Zeit – der Papst das Haupt der Gesamtkirche für die Zeit seiner Regierung – oder nur für einen bestimmten Stand (‚Zustand’), nämlich für den Pilgerstand. Zweitens: Christus ist aus eigener Kraft und Machtvollkommenheit das Haupt der Kirche; alle anderen sind es nur als Seine Stellvertreter.“33 Neben dieser theologischen Reflexion muss für diese Epoche schließlich auch auf die vielfältigen Reformbewegungen hingewiesen werden, die die reale Kirche kritisieren, um sie zu ihrem eigentlichen Wesen zurückzuführen. Genannt werden muss hier zum einen Joachim von Fiore, der im bevorstehenden Zeitalter des Heiligen Geistes die Realisierung der ecclesia spiritualis, der geistlichen Kirche erwartete, und zum anderen Franz von Assisi, der ausgerechnet unter dem Pontifikat Innozenz III., also auf dem Höhepunkt der mittelalterlichen Idee des Papstes als Herrscher, das Bild einer armen und dienenden Kirche zeichnet, die dadurch frei und unabhängig sein kann.

3. Die Neuzeit: Legitimierung Mit dem Zerbrechen der abendländischen Kirche und der damit verbundenen notwendigen Auseinandersetzung mit den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen verändert sich dementsprechend auch das Bild der katholischen Kirche. Gegenüber der Reformation und ihren Anfragen wird nun die Legitimation der sichtbaren römisch-katholischen Kirche als der einen und wahren Kirche Christi betont und das vor allem in den

 33 Sth III q. 8 a. 6 c.

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Punkten, die vonseiten der Reformatoren angefragt worden waren.34 Prägend wurde dabei vor allem Kardinal Robert Bellarmin, in dessen Bestimmung der Kirche die klassischen drei Elemente oder vincula der Kirchenzugehörigkeit auftreten, die in der Folgezeit von der katholischen Theologie weitgehend übernommen werden: die Einheit im Glauben, die Einheit in den Sakramenten und die Einheit mit dem Papst und den Bischöfen. „Es gibt nur eine Kirche, nicht zwei, und jene eine und wahre [Kirche] ist ein Zusammenschluss (coetus) von Menschen, der durch das Bekenntnis desselben christlichen Glaubens und durch die Gemeinschaft derselben Sakramente, unter der Leitung der legitimen Hirten, vor allem des einen Stellvertreters Christi auf Erden, des römischen Papstes, verbunden ist. Aus dieser Definition kann man leicht erschließen, welche Menschen zur Kirche gehören, welche wiederum nicht zu ihr gehören. Denn diese Definition hat drei Teile: das Bekenntnis des wahren Glaubens, die Gemeinschaft der Sakramente und die  34 Vgl. etwa den Römischen Katechismus: „Man muss aber den

Gläubigen über die Eigenschaften dieser Kirche Aufschluss geben, aus welchen man erkennen kann, welche Wohltat jene von Gott empfangen haben, welche das Glück hatten, in ihr geboren und erzogen zu werden. Als die erste Eigenschaft nun wird im Symbolum der Väter hingestellt, dass sie eine ist. Denn ‚eine’, heißt es [Cant. 6,8], ‚ist meine Taube’, eine ist ‚meine Schöne’. ‚Eine’ aber heißt eine so große Menge Menschen, die doch so weit und breit zerstreut ist, aus den Gründen, welche vom Apostel in seinem Briefe an die Epheser [Eph. 4,5] niedergeschrieben sind, denn er verkündet, dass nur ‚ein Herr, ein Glaube, eine Taufe’ ist. Einer ist auch ihr Leiter und Regierer, und zwar unsichtbar Christus, welchen der ewige Vater gesetzt hat, ‚zum Haupte [Eph. 1,22] über die ganze Kirche, die sein Leib ist’, sichtbar aber der, welcher den römischen Stuhl des Apostelfürsten Petrus als rechtmäßiger Nachfolger inne hat.“ (Katechismus nach dem Beschlusse des Konzils von Trient für die Pfarrer. Auf Befehl der Päpste Pius V. und Klemens XIII. herausgegeben, Kirchen/Sieg 1970, 78).

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Unterwerfung unter den legitimen Hirten, den römischen Papst … Und darin besteht der Unterschied zwischen unserer Ansicht und allen anderen, dass alle anderen innere Tugenden fordern, damit jemand der Kirche angehört, und deshalb die wahre Kirche zu einer unsichtbaren machen. Wir aber glauben einerseits, dass in der Kirche alle Tugenden wie Glaube, Hoffnung, Liebe zu finden sind; andererseits glauben wir nicht, dass irgendeine innere Tugend erforderlich ist, damit jemand auf irgendeine Weise als Teil der wahren Kirche bezeichnet werden könne, von welcher die Schriften sprechen, sondern nur das äußere Bekenntnis des Glaubens und die Gemeinschaft der Sakramente, die sinnenfällig greifbar ist. Denn die Kirche ist ein so sichtbarer und manifester Zusammenschluss von Menschen wie das Gemeinwesen des römischen Volkes oder das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig.“35 Die besondere Betonung der Sichtbarkeit der Kirche will dabei nicht die innere Wirklichkeit der Kirche abwerten, sondern sie richtet sich offenkundig gegen eine als spiritualistisch verstandene Tendenz, die die Kirche (um bewusst mit Melanchthon zu sprechen) als „civitas platonica“36 (miss)versteht.37 Wie nahezu in der gesamten Theologie der Folgezeit wird aber die hier gemeinte apologetische Abgrenzung der Kirche mehr oder weniger verstanden als umfassende Definition der Kirche. „Aus der Theologie der Kirche wird eine Apologetik der Kirche.“38 Die Ekklesiologie  35 Disputationes de controversiis Christianae Fidei adversus huius

temporis haereticos. Controversiae generales: De conciliis III, c. 2: TzT.D 5, Nr. 154. 36 Apol. VII, 20 (BSLK 238, 21f.). 37 Vgl. Th. Dietrich, Die Theologie der Kirche bei Robert Bellarmin (1542-1621). Systematische Voraussetzungen des Kontroverstheologen, Paderborn 1999 (KKTS 69), bes. 469-509. 38 H. Fries (Anm. 3), 259.

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wird damit zunehmend „reduziert auf die Untersuchung über die Kirche als sichtbare, hierarchisch geordnete Gesellschaft, über die Autorität und die Form, in die sich diese Autorität kleidet, über die Art, wie sie sich vom Sitz ihres obersten Trägers her ausgliedert“.39 Die kritische Auseinandersetzung mit der Aufklärung, der Französischen Revolution und der Säkularisation mit ihren Folgen prägen dann im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend die Ekklesiologie. Die päpstlichen Dogmen des Ersten Vatikanischen Konzils sowie die sich zunehmend durchsetzende Neuscholastik sehen die Kirche vor allem als „societas perfecta“,40 die sich als solche klar abgrenzt von der gesamten neuzeitlichen und weitgehend negativ gesehenen Entwicklung der Gesellschaft. In der Enzyklika „Immortale Dei“ Papst Leos XIII. vom 1.11.1885 heißt es darum: „So wie Jesus Christus auf die Erde kam, damit die Menschen ‚das Leben haben und es in Fülle haben’ [Joh 10,10], ebenso hat die Kirche als Ziel das ewige Heil der Seelen vorgegeben: und deswegen ist ihre Natur so beschaffen, dass sie sich, von keinen räumlichen oder zeitlichen Grenzen eingeschränkt, danach ausstreckt, das ganze menschliche Geschlecht zu umfassen … Obwohl diese Gesellschaft nicht anders als die bürgerliche Gemeinschaft aus Menschen besteht, ist sie dennoch wegen des ihr bestimmten Ziels und der Mittel, mit denen sie zum Ziel strebt, übernatürlich und geistlich: und deshalb unterscheidet sie sich und hebt sich von der bürgerlichen Gesellschaft ab: und – was höchst wichtig ist – sie ist eine ihrer Art und ihrem Recht nach vollkommene Gesellschaft, da sie die für ihre Erhaltung und Tätigkeit notwendigen Hilfsmittel nach  39 Y. Congar (Anm. 3), 809. 40 Vgl. S. Wiedenhofer, Art. Societas perfecta, in: LThK3 9 (2000)

681f.

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dem Willen und durch die Wohltat ihres Gründers alle in sich und durch sich selbst besitzt. So wie das Ziel, nach dem die Kirche strebt, bei weitem das edelste ist, so ist auch ihre Vollmacht die vortrefflichste von allen und kann nicht geringer als die bürgerliche Herrschaft gehalten werden oder dieser in irgendeiner Weise untertan sein.“41 Das Bild der societas perfecta dient also vor allem dazu, die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat deutlich zu machen und ihre Freiheit vom Staat zu begründen. Die Kirche wird hier „als eine eigene, vollständig verschiedene und unabhängige, in sich autarke, in der absoluten Souveränität des unfehlbaren Papstes ruhende ‚societas perfecta’ betrachtet, die von Gott mit allen notwendigen Heilsmitteln (besonders dem hierarchischen Amt und den durch sie verwalteten Sakramenten ausgestattet ist“.42 Die damit verbundene Abgrenzung der katholischen Kirche von den Entwicklungen der Neuzeit und die Bildung eines entsprechenden konfessionellen katholischen Milieus führten zwar unbestritten zu einer lebendigen und die Katholiken bis heute prägenden Kirchlichkeit. Aber der Preis dafür war die zunehmende und auf Dauer nicht durchzuhaltende Distanz und damit Entfremdung von der Moderne, für die die Modernismuskrise am Beginn des 20. Jahrhunderts ein deutliches Beispiel ist. Allerdings ist auch dies nur die eine Seite der theologischen Reflexion auf die Kirche. Denn neben diesen Entwicklungen kommt es, auch und gerade durch die verstärkte Einbeziehung der eigenen Geschichte, zu einer relecture des altkirchlichen Verständnisses, deren Ansätze sich vor allem in der katholischen Tübinger Schule zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden. Johann  41 DH 3166f. 42 M. Kehl (Anm. 2), 571.

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Adam Möhler bestimmt in seiner Symbolik die Kirche darum nicht primär von ihrer Hierarchie her, auch wenn er sie selbstverständlich nicht leugnet, sondern er versteht sie als einen lebendigen Organismus, in dem sich Gottes Offenbarung durch die Geschichte hindurch vollzieht: „Unter der Kirche auf Erden verstehen die Katholiken die von Christus gestiftete sichtbare Gemeinschaft aller Gläubigen, in welcher die von ihm während seines irdischen Lebens zur Entsündigung und Heiligung der Menschheit entwickelten Tätigkeiten unter der Leitung seines Geistes bis zum Weltende vermittels eines von ihm angeordneten, ununterbrochen währenden Apostolats fortgesetzt und alle Völker im Verlaufe der Zeiten zu Gott zurückgeführt werden.“43 Die Sichtbarkeit der Kirche wird dabei theologisch verankert, nämlich in der Inkarnation: „Der letzte Grund der Sichtbarkeit der Kirche liegt in der Menschwerdung des göttlichen Wortes; hätte sich dasselbe den Herzen der Menschen eingesenkt, ohne die Knechtsgestalt anzunehmen, und somit überhaupt ohne auf eine leibliche Weise zu erscheinen, so würde es auch nur eine unsichtbare, innere Kirche gestiftet haben.“44 Von daher kommt Möhler zu der in der Folgezeit nicht unumstrittenen Formulierung der Kirche als der „unter den Menschen in menschlicher Form erscheinende, stets sich erneuernde, ewig sich verjüngende Sohn Gottes, die andauernde Fleischwerdung desselben, so wie denn auch die Gläubigen in der Heiligen Schrift der Leib Christi genannt werden“,45 eine Formulierung, die, wie der Kontext deutlich macht, die wesensmäßige Unterschei 43 Johann Adam Möhler, Symbolik oder Darstellung der dogmati-

schen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften. Bd. I. Hg., eingel. u. komm. v. J.R. Geiselmann, Köln 1958, 387. 44 Ebd., 388. 45 Ebd., 389.

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dung von Christus und der Kirche nicht leugnen will, der es vielmehr darum geht, die sichtbare Kirche „als Organ und als die Erscheinung des Göttlichen“46 deutlich zu machen. Neben Möhler und den anderen Theologen der Tübinger Schule muss auch Matthias J. Scheeben genannt werden, durch den der Begriff des Mysteriums für die Kirche innerhalb der Theologie neu wahrgenommen wird: „So gruppiert sich um das große Mysterium des eucharistischen Christus die wunderbar reale, wunderbar erhabene Gemeinschaft der Gläubigen Christi, welche wir die Kirche nennen, eine Gemeinschaft, die darum auch in sich selbst ein großes Mysterium ist, die alle ihre Glieder auf geheimnisvolle Weise erhebt und auf geheimnisvolle Weise in ihnen wirkt.“47 Diese Gedanken und Bilder treten in der Folgezeit aufgrund der oben genannten Entwicklung zunächst zurück, sie gewinnen aber im 20. Jahrhundert im Kontext der vielfältigen innerkatholischen Erneuerungsbewegungen, vor allem der Bibelbewegung und der liturgischen Bewegung, innerhalb der Theologie und dann auch innerhalb der kirchlichen Lehre mehr und mehr Raum. Werke wie Karl Adams „Das Wesen des Katholizismus“ aus dem Jahr 192448 oder Romano Guardinis Buch „Vom Sinn der Kirche“, 1922 veröffentlicht, die zahlreiche Neuauflagen erfahren, bestimmen nun auch das neue bzw. erneuerte Bild von Kirche. Guardinis Buch beginnt mit dem programmatischen Satz: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die  46 Ebd. 47 M.J. Scheeben, Die Mysterien des Christentums. Wesen, Bedeu-

tung und Zusammenhang derselben nach der in ihrem übernatürlichen Charakter gegebenen Perspektive dargestellt. Ausgabe letzter Hand. Hg. v. J. Höfer, Freiburg i.Br. 31958 (Gesammelte Schriften 2), 448. 48 K. Adam, Das Wesen des Katholizismus, Augsburg 1924.

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Kirche erwacht in den Seelen.“49 Die Kirchlichkeit des Glaubens wird dabei als Gegenpol zu einer einseitig individualistischen und subjektiven Sicht des Glaubens verstanden, wobei gerade das Objektive der Kirche in Lehre und Liturgie als wesentliches Element des Glaubensweges verstanden wird: „Das religiöse Leben kommt nicht mehr nur vom Ich, sondern erwacht zugleich im Gegenpol, in der objektiven, geformten Gemeinschaft. Es lebt auch von dort, also von zwei Polen her. Das Leben ist wieder, was es seiner Natur nach sein muss, eine Spannungserscheinung, ein Flammenbogen, der voll und frei nur steht, wenn er Bogen ist, von hüben und drüben her aufsteigt. Das Objektive ist nicht mehr bloß Grenze des Subjektiven, als des eigentlichen religiösen Bereiches, sondern von vornherein gegebenes notwendiges Wesensstück des religiösen Lebens. Es ist dessen Vorbedingung und Inhalt.“50 Dementsprechend bestimmt Guardini hier die Kirche als „das Neue Leben seiner überpersönlichen Seite nach; die wiedergeborene Menschengemeinschaft. Der Einzelne ist ‚Kirche’, sofern er auf den Aufbau dieser Gemeinschaft gerichtet, ihr Glied, ihre Zelle bildet. Das aber tut er mit all jenen Kräften, die über bloß Persönliches hinaus auf die Ganzheit als solche gestellt sind, sie aufbauen, in sie hineingeben und aus ihr empfangen. Die Kirche ist die überpersönliche, objektive Seite des Neuen Lebens – obwohl sie natürlich aus Persönlichkeiten besteht.“51 Diese vielfältigen Neuansätze in der Ekklesiologie, zu denen auch eine neue und intensive Lektüre der Kirchenväter beiträgt, für die aus dem französischen Raum etwa die Namen Henri de Lubac, Jean Danielou, Yves  49 R. Guardini, Vom Sinn der Kirche, Mainz-Paderborn 51990 (11922),

19. 50 Ebd., 29. 51 Ebd., 37.

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Congar und im deutschsprachigen Raum Hugo Rahner und Hans Urs von Balthasar stehen, finden schließlich einen ersten Widerhall in der 1943 veröffentlichten Enzyklika Pius XII. „Mystici Corporis Christi“, die gegenüber einem einseitig juridischen Verständnis die Kirche als den vom Geist beseelten mystischen Leib Christi versteht und damit jenes Bild aufnimmt, das, wenn auch in unterschiedlicher Akzentsetzung, vom Neuen Testament an zu den zentralen Bildern von Kirche gehört.52 Damit wird eine Sicht der Kirche, die in der Gefahr steht, ihre Sichtbarkeit und ihren rechtlichen Charakter zu sehr zu betonen, auf ihre geistlichen Wurzeln zurückgeführt. Zugleich löste „Mystici Corporis“ eine Diskussion aus über die Frage nach der Kirchenzugehörigkeit und damit verbunden den ekklesialen Status der nichtkatholischen Kirchen, die erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu einer theologisch konsistenten Lösung führte.53 Aber das ist nicht mehr Thema meines Beitrags.

ZUSAMMENFASSUNG Ausgehend von der Unterscheidung dreier Phasen der Kirchengeschichte, der Patristik als Zeit der Identifizierung von Kirche, des Mittelalters als Zeit der Differenzierung der Christenheit und der Zeit von Reformation und Gegenreformation als Zeit der Legitimierung von Kirche (so Medard Kehl), wird hier ein Überblick über die verschiedenen prägenden Bilder von (katholischer) Kirche bis zum Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils gegeben.  52 Vgl. Th. Ruster, Art. Mystici Corporis Christi, in: LThK3 7 (1998)

583. 53 Vgl. dazu F. Ricken, „Ecclesia … universale salutis sacramentum“.

Theologische Erwägungen zur Lehre der Dogmatischen Konstitution „De Ecclesia“ über die Kirchenzugehörigkeit, in. Schol. 40 (1965) 352-388, hier 360-366.

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Der Wandel eines freikirchlichen Gemeindeverständnisses Dargestellt am Beispiel des Bundes Freier evangelischer Gemeinden Johannes Demandt

1. Die Vorgeschichte Selbstverständlich gehört zur Vorgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden genau genommen ein breiter Strom der vorausgegangenen Kirchengeschichte und in besonderer Weise der Reformationsgeschichte. Dieser Sachverhalt scheint zwar heute in manchen Freien evangelischen Gemeinden wenig bewusst zu sein, war aber den Gründervätern vor allem im Blick auf das Erbe der Reformation sehr wichtig.1 Freikirchliches Gedankengut begegnet im 17. Jahrhundert besonders bei Jean de Labadie und im 18. Jahrhundert bei Hochmann von Hochenau und teilweise bei Gerhard Tersteegen.

 1 Vgl. W. Haubeck / W. Heinrichs / M. Schröder (Hg.), Lebens-

zeichen. Die Tagebücher Hermann Heinrich Grafes in Auszügen, Wuppertal-Witten 2004, 44ff.; 56ff.; R. Schmitz, Heinrich Neviandt. Ein Lebensbild, Witten o.J. (1926) 67-77; 112-114. Auch später wird diese Achtung gelegentlich zum Ausdruck gebracht, so z.B. von O. Bamberger, Volkskirche oder Gemeinde von Glaubenden?, in: W. Arnold / O. Bamberger, Volkskirche oder Christusgemeinde. Zwei Beiträge zur Beleuchtung einer unabweisbaren kirchengeschichtlichen Frage, Witten 1961, 36; G. Hörster, Art. Freie evangelische Gemeinden, in: TRE 11 (1983) 493-497 [„Freie evangelische Gemeinde“ ab hier = FeG].

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1.1 Jean de Labadie Jean de Labadie (1610-1674) war ursprünglich römischkatholisch und Jesuit. Bereits in dieser Eigenschaft arbeitete er 1644 in Amiens – so der Historiker Max Goebel – an einer „Reformation der Kirche nach dem Muster der alten Kirche und namentlich nach der ersten apostolischen Gemeinde zu Jerusalem, indem er [...] mit Erlaubniß seines Bischofs ‚die Frucht seiner Arbeit’, die wirklich erweckten und bekehrten Seelen zu einer besonderen und geschlossenen Gemeinde (‚Brüderschaft’) sammelte [...], um dadurch eine wahre christliche Gemeinde und eine würdige Abendmahlsfeier und zwar ‚unter beiderlei Gestalt’ mit lauter Gläubigen zu erlangen. Hiermit hatte Labadie, ohne bis dahin eine wirkliche und völlige Trennung von der Kirche selbst zu wollen und zu wünschen, den entscheidenden Schritt seines Lebens schon getan.“2 Weil bei der Frage nach einem freikirchlichen Gemeindeverständnis immer wieder der Begriff des Separatismus gebraucht wird, scheint mir auch folgende Bemerkung Goebels von Bedeutung zu sein: Labadie hatte „mitten in der Gemeinde, nicht durch Austritt aus ihr und der Welt in einen alten oder neuen Orden [...] eine besondere Gemeinde von Gläubigen aus den Ungläubigen, eine ecclesiola in ecclesia gesammelt und demnach die Separation der Gläubigen in der Kirche von der Kirche aus Frömmigkeit begonnen, wie sie bis dahin nur  2 M. Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-

westfälischen evangelischen Kirche, Bd. 2. Das 17. Jahrhundert oder die herrschende Kirche und die Sekten. Nachdr. d. Ausgabe Koblenz 1852, Gießen 1992 (TVGMS 280), 193f.; P. Begheyn, Art. Labadie, Jean de, in: Diccionario historico de la Compania de Jésus 3, Rom-Madrid 2001, 2248f., stellt Labadie als stark spiritualistisch dar. Den Hinweis verdanke ich Herrn Prof. Dr. H.J. Urban, Paderborn.

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außer der Kirche bei den Wiedertäufern Statt gefunden hatte“.3 Konventikelartige Versammlungen gab es bereits in Genf Mitte des 17. Jahrhunderts, als Labadie dort predigte und u.a. auf seinen Hörer Philipp Jacob Spener, den späteren Begründer des lutherischen Pietismus, starken Einfluss ausübte.4 In Genf ebenso wie später im niederländischen Middelburg ging es Labadie darum, „innerhalb der bestehenden Kirche die wahre Kirche der Wiedergeborenen wiederherzustellen“.5 Der Vorwurf mystisch-chiliastischer Schwärmerei führte schließlich zu seiner Amtsenthebung,6 sodass Labadie fortan außerhalb der Kirche wirkte. Die Separation war von ihm also nicht von vornherein intendiert, musste aber notfalls in Kauf genommen werden. Nachfolge Jesu Christi war nach Labadies Überzeugung mit der Absage an die Welt verknüpft,7 was in der Gemeindefrage unter Umständen eine solche Konsequenz bedeuten konnte.

1.2 Hochmann von Hochenau und Gerhard Tersteegen Das Gedankengut Labadies wirkte weit über seinen persönlichen Lebensraum hinaus. Es erreichte auch das  3 M. Goebel (Anm. 2), 194. 4 J. van den Berg, Die Frömmigkeitsbestrebungen in den Niederlan-

den, in: M. Brecht (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 1. Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, 100, mit Bezug auf J. Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 21986 (BHTh 42), 142-145. 5 J. van den Berg (Anm. 4), 101. 6 Ebd., 102. 7 „Puisqu’estre appellé de Dieu, est estre appellé à le suivre, et à suivre Jesus-Christ, il faut nécessairement quitter le Monde.” Zit. ebd., 101.

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Gebiet der reformierten Kirche am Niederrhein.8 Dort verband es sich u.a. mit dem innerkirchlichen Pietismus Theodor Undereycks (1635-1693) und dem Radikalpietismus Ernst Christoph Hochmanns von Hochenau (16701721), dessen freies Predigtamt „prinzipiell keine konfessionellen Schranken kannte“.9 Es ist zwar nicht sicher, aber doch wahrscheinlich, dass Hochmann von Hochenau in Mülheim a.d. Ruhr war10 und der jüngere Gerhard Tersteegen (1697-1769) ihm dort begegnet ist. Auch scheint Hochmann Einfluss auf Wilhelm Hoffmann (1676-1746), den „geistlichen Vater“ Tersteegens, genommen zu haben.11 Tersteegen muss wichtige Anliegen Hochmanns geteilt haben. Nachdem dieser 1710 im Bergischen Land, u.a. auch in Elberfeld, tätig war, wurde das, „was von Hochmann begonnen worden war, [...] von Tersteegen still weitergepflegt“.12 Entsprechendes wird man auch für das Gebiet des Niederrheins annehmen dürfen, wo Hochmann besonders lange und stark gewirkt hat.13 Freilich muss man in Rechnung stellen, dass Tersteegens Anliegen mit demjenigen Hochmanns nicht völlig deckungsgleich war. Während Ter 8 H. Renkewitz, Hochmann von Hochenau, Witten 1969 (AGP 5),

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194; vgl. auch R. Hoenen, Die Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland, Tübingen 1930, 10. Hoenens Meinung, die tiefsten Wurzeln des Separatismus lägen „in der Geschichte und der Eigenart jener Landstriche“, wo er auftrat (S. 9), bleibt allerdings merkwürdig unvermittelt. H. Renkewitz (Anm. 8), 195. Ebd., 210. Ebd., 211, mit Bezug auf H. Forsthoff; vgl. A. Jung, Als die Väter noch Freunde waren. Aus der Geschichte der freikirchlichen Bewegung, Wuppertal-Kassel-Witten 1999, 12. H. Renkewitz (Anm. 8), 205; M. Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westfälischen evangelischen Kirche, Bd 3. Die niederrheinische reformierte Kirche und der Separatismus in Wittgenstein und am Niederrhein im 18. Jh., Nachdr. d. Ausgabe Koblenz 1860, Gießen 1992 (TVGMS 280), 293. H. Renkewitz (Anm. 8), 194.

steegen neben seiner erwecklichen Predigttätigkeit eher die Stille der Abgeschiedenheit suchte, war Hochmann enthusiastisch geprägt und forderte er seine Hörer zur Separation auf.14 Beide gebrauchten jedoch die Sprache quietistischer Mystik,15 und beiden war, so Renkewitz, „das Freiwerden von der Macht der Sünde im neuen Leben wichtiger als der Freispruch von der Schuld der Sünde“.16 1727 publizierte Tersteegen das von ihm übersetzte „Manuel de piété“ Labadies (Middelburg 1668) unter dem Titel „Hand-Büchlein der wahren Gottseligkeit“.17 Dies ist ein Indiz dafür, dass – so Max Goebel – Tersteegen „äußerlich und innerlich die Brücke zwischen Labadie im siebenzehnten und der neuen Erweckung im achtzehnten Jahrhundert“ bildete. Tersteegen reiste seit 1732 häufig in die Niederlande und wirkte dort in den von labadistischem Gedankengut geprägten erweckten Kreisen.18 Von Tersteegen ist bekannt, dass er merkwürdigerweise fast nie zur Kirche ging und auch das Abendmahl nicht empfangen wollte, weil er die kirchliche Praxis nicht gutheißen konnte, dass Gläubige es gemeinsam mit Ungläubigen genießen sollen.19 Das Empfinden dieser Abendmahlsproblematik zeigt sich später genauso bei den Vätern der Freien evangelischen Gemeinden, jedoch ziehen sie daraus andere Konsequenzen. Vermutlich ab 1727 bestand mit der soge 14 Ebd., 196. 15 Ebd., 213. 16 Ebd., 215, mit Bezug auf G. Tersteegen, Geistliche Brosamen, Bd.

I 1, Mülheim/R. 1798, 244. 17 Neu hg. Köln 1997. 18 J.F.G. Goeters, Der reformierte Pietismus in Bremen und am Nie-

derrhein im 18. Jh., in: M. Brecht / K. Deppermann (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 2. Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1995, 403f. 19 M. Goebel (Anm. 12), 420.

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nannten Pilgerhütte Otterbeck in Heiligenhaus (bei Velbert) eine kleine geistliche Wohngemeinschaft, die Tersteegen von Mülheim aus über viele Jahre betreute.20 Dort versuchte man, in Zurückgezogenheit ein geheiligtes Leben zu führen.

1.3 Der Genfer Réveil Für die Vorgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden ist der Genfer Réveil (die Erweckung) von unmittelbarer Bedeutung. Er wurde beeinflusst von dem englischen Kaufmann Richard Wilcox und besonders von dem schottischen Kongregationalisten Robert Haldane (1764-1842).21 Haldane hatte in seiner Heimat Evangelisationsarbeit betrieben, ohne damit neben der presbyterianischen Staatskirche eine neue Kirche gründen zu wollen. Jedoch kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, in deren Folge sich auch selbstständige Gemeinden bildeten. Die Mitglieder mussten bekehrt sein und sich einer „strengen Zucht“ unterwerfen.22 „Die Kindertaufe ließ man fallen, ohne jedoch die Erwachsenentaufe als unerlässlich hinzustellen.“23 Im August 1817 kam es in Genf unter dem Einfluss Haldanes und des Engländers Henry Drummond zur Gründung der unabhängigen „Église de Bourg de Four“ nach schotti-

 20 H. Neeb, Gerhard Tersteegen und die Pilgerhütte Otterbeck in

Heiligenhaus 1709-1969. Geschichte und Tersteegen-Briefe an die Bewohner, Düsseldorf 1998, 20ff.; M. Goebel (Anm. 12), 377. 21 Vgl. H. Weyel, Robert Haldane (1764-1842). Seemann, Erweckungsprediger und FeG-Ideengeber aus schottischem Adel, in: Christsein Heute 115 (5/2008) 42-45; (6/2008) 56f. 22 R. Hoenen (Anm. 8), 14. 23 Ebd., 14.

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schem Vorbild.24 Die Vereinigung mehrerer Gemeinden zu einer Église libre évangélique sollte nicht als Sektenbildung verstanden werden. Sie gab sich ein Glaubensbekenntnis,25 das später der Freien evangelischen Gemeinde Elberfeld-Barmen als Vorbild diente. Der Genfer Réveil erfasste in den 1820er-Jahren vor allem Theologiestudenten, darunter auch Adolphe Monod (1802-1856). Dieser brachte das Gedankengut nach Lyon.26 Dort machte er 1831 als Pfarrer der reformierten Gemeinde seine Gemeindeglieder auf die Gefahr eines unwürdigen Abendmahlsgenusses aufmerksam und wurde dafür vom Konsistorium gerügt. Als er sich nach seiner Pfingstpredigt weigerte, das Abendmahl auszuteilen, wurde er von seinem Amt suspendiert. Daraufhin bildete sich um Monod die Église évangélique libre de Lyon. Monod war es aber wichtig zu betonen, dass er die etablierte Kirche nicht von sich aus verlassen habe, sondern dass er von der Kirchenbehörde dazu gezwungen worden sei.27 Im Gegensatz zu seinem Bruder Fréderic hat Adolphe Monod später nicht an dem freikirchlichen Gemeindeverständnis festgehalten, sondern er kehrte wieder in die reformierte Kirche zurück, als diese ihn 1836 auf eine Professur in Montauban (bei Toulouse) berief.28 In seiner Gemeinde in Lyon verzichtete er be 24 Ebd., 14f.; H. Lenhard, Studien zur Entwicklung der Ekklesiologie

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in den Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland, Wuppertal-Witten 1977, 24f. R. Hoenen (Anm. 8), 17. Ebd., 12f.; W. Dietrich (Hg.), Ein Act des Gewissens. Erinnerungen an Hermann Heinrich Grafe, Witten 1988 (Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden 1), 112. Seine neue Gemeinde sei „née de ma destitution [...] non d’une démission; nous ne nous sommes point séparés, nous avons été séparés.“ (Entstanden durch meine Absetzung […], nicht durch einen Rücktritt; wir haben uns nicht getrennt, wir wurden getrennt.) Zit. bei H. Lenhard (Anm. 24), 38. Ebd.

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wusst auf eine schriftliche Verfassung, weil er keine zu starke Festlegung treffen wollte und weil auch die Jerusalemer Urgemeinde eine solche nicht besessen habe.29 Monod versuchte „Weitherzigkeit bei der Aufnahme mit strenger Gemeindezucht beim Abendmahl zu verbinden. Die Aufnahme in die Gemeinde wurde nicht mit der Kindertaufe, die man beibehielt, gekoppelt, sondern allein von dem freiwilligen Bekenntnis des einzelnen abhängig gemacht“, welches seinem Wandel nicht offenkundig widersprechen durfte.30

2. Das Gemeindeverständnis bei H.H. Grafe und H. Neviandt 2.1 Grafes Eindrücke in Lyon Aus beruflichen Gründen hielt sich der Kaufmann Hermann Heinrich Grafe (1818-1869) in den Jahren 1841/ 42 in Lyon auf und lernte dort die von A. Monod gegründete Église évangélique (libre) kennen. Dieses stark missionarisch ausgerichtete Gemeindemodell begeisterte ihn. Hier „wurde er in seinen Gedanken über die freie Gnade Gottes als Mittelpunkt der christlichen Botschaft und über das Abendmahl als Mahlgemeinschaft der Glaubenden wesentlich beeinflusst“.31 Im März 1842 äußerte Grafe in einem Brief aus Lyon an einen Freund den Wunsch, dass Gott „‚den Elberfelder Brüdern die Gnade gebe, sich total von der Welt zu scheiden und ihre eigene Kirche zu haben’, zu der nur Gläubige bzw. Bekehrte gehörten und am Abendmahl teilnähmen, so‚ wie es hier (in Lyon), in Genf, Lausanne, namentlich in  29 Ebd., 41. 30 Ebd. 31 G. Hörster (Anm. 1), 494.

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England ist“.32 Nach seiner Rückkehr ins Wuppertal blieb Grafe noch jahrelang Glied der reformierten Kirche, jedoch blieb der starke Eindruck von der Lyoner Gemeinde unauslöschlich in seinem Gedächtnis und nährte seine Sehnsucht nach einer ähnlichen Gemeinde in Deutschland.

2.2 Der Einfluss von Auguste Rochat Starken Einfluss auf Grafe nahm in jenen Jahren auch der Schweizer Theologe Auguste Rochat (1789-1847).33 Grafe übersetzte und veröffentlichte 1855 dessen 1837 in französischer Sprache erschienenes Gemeindeverständnis unter dem Titel „Bemerkungen nach dem Wort Gottes über Wesen, Verfassung und Ziel der Gemeine oder Kirche Christi“.34 Weyel bezeichnet dieses Buch als „Meilenstein in der Geschichte der Freien evangelischen Gemeinden“.35 Nach Rochat manifestiert sich die  32 H. Weyel, Die freie Gemeinde im freien Staat. Zum 160. Todestag

von Auguste Rochat (1789-1847), dem Vordenker der Freien evangelischen Gemeinden, in: Christsein Heute 115 (1/2008) 46f. 33 1808-1812 Theologiestudium in Lausanne. Um 1818 erlebte er als Pfarrer eine grundlegende Veränderung: Er entdeckte „den Unterschied von Gesetz und Evangelium wie auch die persönliche Befreiung zum Heil und zur Heiligung allein durch die Gnade Gottes“ (ebd., 47). Fortan besuchte er auch die Konventikel des Réveil. Nachdem diese 1823 durch die Staatskirche verboten worden waren, trat Rochat 1824 aus der Kirche aus und wurde bald darauf Prediger einer kleinen Hausgemeinde in Rolle. In Verbindung mit Karl von Rodt kam es 1834 zu einem Verband von 46 dissidenten Gemeinden; vgl. H. Weyel, Einzelgemeinde und Bund. Eine offene Beziehung in der Geschichte Freier evangelischer Gemeinden, in: ThGespr 25 (2001) Beiheft 2, 69-99, hier 70ff. 34 Im Selbstverlag der Freien evangelischen Gemeine in Elberfeld und Barmen, vgl. H. Weyel (Anm. 32), 47. Der französische Titel lautete: „Quelques aperçus simples et bibliques sur la nature, la constitution, et le but de l’Église de Christ“ (1837). 35 H. Weyel (Anm. 32), 46.

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„Église universelle“ in der jeweiligen „Église particulière“ (d.h. Einzelgemeinde), die wiederum die „Église universelle“ „darstellt“. Offensichtlich mit innerer Zustimmung schreibt Weyel: „Grafe und Rochat sehen von der Bibel her nur die Ortsgemeinde als berechtigt an, den Begriff Kirche oder Gemeinde zu verwenden.“36 Infolgedessen lehnen sie jedes Kirchenregiment ab, suchen aber dennoch die gelebte Einheit aller wahren Gemeinden Christi.37 Es bleibt rätselhaft, warum Rochat die neutestamentliche Verwendung des dêêëçóßá-Begriffs für die Gemeinden einer ganzen Region oder für die universale Kirche zu ignorieren scheint (vgl. Mt 16,18; Apg 9,31; 1 Kor 15,9; Gal 1,13; Eph 1,22; Phil 3,6). Freilich darf die Wahrnehmung dieser Begrifflichkeit nicht mit der Annahme einer starren hierarchischen Kirchenstruktur gleichgesetzt werden, wie sie sich später bildete. Beispielsweise deuten die übergemeindlichen Ämter der Apostel, Evangelisten und Lehrer (1 Kor 12,27ff.) auf Ansätze gemeinsamer Strukturen der urchristlichen Gemeinden, auch wenn das Apostelamt auf ausgewählte Augenzeugen des Auferstandenen beschränkt war. Zur Ortsgemeinde können nach Rochat nur solche gehören, „die sich in ihrem Bekenntnis und Wandel als Gläubige darstellen“.38 Die Gemeinde ist „kein freier Verein“, sondern „ein von Gott selbst mit bestimmten Ordnungen gestiftetes Institut“.39 Die Aufnahme in die Gemeinde wird genau genommen nicht von Menschen vorgenommen, sondern diese können nur ihre Erkenntnis kundtun, dass jemand „vom Herrn seiner Gemeinde hinzugefügt“ ist.40  36 Ebd., 49. 37 Ebd. 38 Ebd., 48. 39 Ebd., 49. 40 Ebd.

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2.3

Die erste Freie evangelische Gemeinde auf deutschem Boden

2.3.1 Der Evangelische Brüderverein Im Jahre 1850 kam es in Wuppertal zur Gründung des Evangelischen Brüdervereins. Dazu gehörte u.a. auch Grafe. Der Verein hatte sich im Sinne der Evangelischen Allianz die evangelistische Durchdringung des Landes zum Ziel gesetzt, ohne sich auf eine bestimmte Gemeindeform festzulegen oder die erreichten Zuhörer für die eigene ekklesiologische Überzeugung zu vereinnahmen. Dass es dennoch unter den sehr verschieden geprägten Mitarbeitern in der Gemeindefrage zu Spannungen kam, ist nicht verwunderlich. Der Brüderverein spielte in den erweckten Kreisen Wuppertals und darüber hinaus eine beachtliche Rolle. Das zeigt auch der Umstand, dass 1852 die „Pilgerhütte Otterbeck“ an ihn, genau genommen aus rechtlichen Gründen an Grafe verkauft wurde. Dieser äußerte in der Mitgliedersitzung am 11. September, „dass die Otterbeck schon seit über 100 Jahren der Sammelpunkt jener Stillen im Lande gewesen sei, die unter dem Namen ‚Terstegianer’ od[er] ‚Tersteegens Freunde’ in der vielfach todten Kirche innere Mission getrieben und dadurch der ganzen Gegend des berg[ischen] Landes u[nd] über dessen Grenzen hinaus von sehr großem Segen für die wahre Kirche Christi gewesen wären, dass ferner diese Tersteegens Freunde nun meinten, dass der ev[angelische] Brüderverein und seine Bestrebungen so große Ähnlichkeit mit dem Wirken Tersteegens hätte, dass sie glaubten, vollkommen im Sinne dieses frommen Mannes zu handeln, wenn sie jene Stiftung Otterbeck als eine thatsächliche Anerkennung der geistigen Gemeinschaft zwischen ihnen u[nd]

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dem Brüderverein einem Mitgliede desselben übertrügen“.41 2.3.2 Zwei Sackgassen Aufgrund seines inneren Konflikts beim Empfang des Abendmahls in seiner reformierten Kirchengemeinde blieb Grafe diesem zunächst fern, bevor er das Presbyterium schließlich um Privatkommunion bat. Verständlicherweise konnte dieses von seinen theologischen Voraussetzungen her das Gesuch nicht positiv beantworten. 1853 bat Grafe um Aufnahme in die örtliche Baptistengemeinde, stellte dies jedoch unter die Bedingung, sich keiner Glaubenstaufe unterziehen zu müssen. Auch in diesem Falle kann es nicht verwundern, dass Julius Köbner, der Pastor jener Baptistengemeinde, aufgrund seines Gemeinde- und Taufverständnisses der Bitte Grafes nicht entsprechen wollte. Er lehnte es auch ab, den in seinen Augen ungetauften Grafe zum Abendmahl zuzulassen. 2.3.3 Der Austritt aus der reformierten Kirche Nach langen inneren Kämpfen entschloss Grafe sich zusammen mit fünf weiteren Personen zum Austritt aus der reformierten Kirche und zur Gründung der Freien evangelischen Gemeinde Elberfeld-Barmen. Im Austrittsschreiben vom 30. November 1854 gaben sie ihre Beweggründe an. U.a. heißt es: „Es handelt sich für uns nicht um herrschende Uebelstände, um eine mangelhafte Praxis in der Kirche, die mit der Zeit und nach Umständen beßer werden könnte, es handelt sich für uns  41 So das Protokoll von Carl Brockhaus, Handschriftliche Protokolle,

56-57; im Besitz des Archivs der FeG Barmen, Unterdörnen, zit. in: H. Neeb (Anm. 20), 69.

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vielmehr um die Grundlage der bestehenden Volkskirche, in welcher der Ungläubige mit den Gläubigen, aufgrund einer Massenkonfirmation dasselbe Recht genießt. Ueberzeugt von der Nothwendigkeit des persönlichen Glaubens, um Christo anzugehören, fühlen wir uns in unserem Gewißen gebunden, diesen großen evangelischen Grundsatz nicht nur mit dem Munde zu bekennen, sondern auch mit der That zu bewahrheiten. Und, was uns in dieser Beziehung für die Person gilt, als Christ, das gilt uns auch für die Gemeinschaft, als eine christliche, die aus Personen besteht und nicht aus Institutionen, welche, blos objectiv gehalten, subjectiv nichts bedeuten. [...] Es ist ein Unrecht an der Wahrheit, Jemanden auf ein Glaubensbekenntniß zu verpflichten, deßen Inhalt er doch nicht glaubt. [...] Indem wir so die Trennung der Gläubigen von den Ungläubigen, nach 2. Cor. 6,14-18, verlangen, könnte es den Schein haben, als wären wir in dem Wahn befangen, eine absolut reine Gemeine von Auserwählten und Wiedergeboren[en] herstellen zu wollen. Wir protestiren gegen einen solchen Irrthum. Wir wißen zu gut aus der Geschichte der ersten christlichen Gemeinen, dass sich Heuchler, oder falsche Brüder ‚neben einschleichen’ können, als dass wir etwas verlangen, wozu uns das Wort Gottes kein Recht verleiht. Sie werden aber, ehrwürdige Herren, mit uns den großen Unterschied erkennen, der darin besteht, Heuchler in der Gemeine zu dulden, die als solche nur Gott bekannt sind, der das Herz prüfet und die Seinen kennt, oder mit der offenbaren Welt Gemeinschaft zu pflegen und an Einem Joche zu ziehen, die als solche doch den breiten Weg des Verderbens geht. Matth. 7,13. Wir bitten Sie daher, ehrwürdige Herren, unsern Austritt als einen Act des Gewißens anzusehen und nicht als den Ausdruck einer bloßen Opposition. Wir erklären es vor dem Herrn, dass wir die Brüder in Ihrer Gemeine, wie in jeder andern Kirche, von Herzen 99

liebhaben, und dass wir das Band, welches uns mit ihnen in Christo, unserm erhöhten Haupte, auf ewig umschlingt, nicht gering achten. Wir wünschen vielmehr durch die That zu beweisen, dass wir mit Ihnen, als Glieder Eines Leibes, aufs engste verbunden sind, damit die Welt an der brüderlichen Liebe untereinander erkenne[n], dass wir Christi42 wahre Jünger sind.“43 Mit der Gründung einer Gemeinde von Gläubigen sollte also eine Trennung von der „Welt“ vollzogen werden,44 ein Motiv, das sich – wie erwähnt – in seinem Kern bereits bei Labadie45 und bei Tersteegen findet.46 2.3.4 Der Versuch, Gemeinde als sichtbare Einheit der Glaubenden darzustellen In der Neugründung ging es den Vätern um eine „Gemeinde, der nur an Christus Glaubende angehören sollten, die aber zugleich so weit und offen sein müsse, dass alle Glaubenden, welche Auffassung sie in einzelnen Lehr- oder Lebensfragen auch verträten, geistliche Heimat in ihr finden könnten“.47  42 Im Original irrtümlich „Christo“. 43 W. Dietrich (Anm. 26), 215-219. (Originalfassung). 44 Vgl. W. Heinrichs, Freikirchen – eine moderne Kirchenform, Gie-

ßen-Wuppertal 21990, 378. 45 Labadie sah die „Welt“ jedoch nicht nur außerhalb, sondern auch

innerhalb des Glaubenden. J. de Labadie, Handbüchlein der wahren Gottseligkeit (1727), Übersetzung des „Manuel de Piété“ von G. Tersteegen, Köln 1997, 111-114. 46 „Die Nähe Gottes macht Herz oder Gemüt frei von Welt oder Sünde. In diesem Sinne im NT. Im Pietismus besonders bei Tersteegen.“ A. Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 21968, 232. 47 H. Weyel, Kirchliche und staatliche Reaktionen auf die Gründung der ersten Freien evangelischen Gemeinde, in: W. Dietrich (Hg.), Ein Act des Gewissens. Dokumente zur Frühgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden, Witten 2002 (Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden 2), 137. Sowohl Grafe

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Diese Bestimmung impliziert eine zweifache Annahme: 1. dass es im Wesentlichen klar sei, was „an Christus glauben“ bedeute, und 2. dass dieser Glaube von seiner individuellen Ausgestaltung zu unterscheiden sei. Nun wird man vielleicht davon ausgehen dürfen, dass es im damaligen kirchlichen Kontext des frommen Wuppertals tatsächlich einigermaßen klar war, wie der Christus-Glaube verstanden und gelebt wurde. Ob dies jedoch auch jenseits der erwecklichen Kreise so klar war, darf man wohl infrage stellen. Dennoch ist deutlich, dass die Gründerväter eine Gemeinde vor Augen hatten, die möglichst allen Glaubenden Raum bot. Sie erachteten das Christus-Fundament dieser Gemeinde für so stark, dass es durch unterschiedliche Erkenntnisse in Einzelfragen (z.B. in der Tauffrage) nicht erschüttert werden könnte. Dies gehört bis heute zum Kern unseres Gemeindeverständnisses. Grafe begnügt sich nicht mit dem Gedanken einer ecclesia invisibilis. Vielmehr ist er überzeugt, dass die wahre Gemeinde sichtbar darzustellen sei,48 ohne dabei ein perfektionistisches Gemeindeverständnis zu vertreten.49 Grafe will keine neue Konfession oder „Kirche“ als Institution, sondern jenseits aller Konfessionen die Einheit der Glaubenden darstellen. Was das Verhältnis der Gemeinden zueinander betrifft, liegt ihm an einer „Selbstständigkeit in der Verbundenheit der Gemeinden“.50 Grafe konnte aber verständlicherweise nicht verhindern, dass sich sein Gemeindetyp  als auch Neviandt war bewusst, dass der Glaube als solcher nicht „festgestellt“ werden kann; streng genommen ging es ihnen deshalb um eine Gemeinde der Bekennenden. Vgl. H. Lenhard (Anm. 24), 87; 140. 48 W. Heinrichs (Anm. 44), 386. 49 Ebd., 384. 50 So der erste Träger des Neviandt-Preises August Jung am Tag der Preisverleihung am 08.03.2008 in Dietzhölztal-Ewersbach.

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im Laufe der Zeit zu einer eigenen Denomination innerhalb der evangelischen Konfessionsfamilie entwickelte. Zentrum der Gemeinde war das Abendmahl bzw. Herrenmahl, in welchem der Leib Christi zur Darstellung kommt.51 2.3.5 Die „freie Gnade“ als Grund der Gemeinde Wolfgang Heinrichs äußert die Auffassung, die „theologische Mitte“ der damaligen Freien evangelischen Gemeinde sei „offenbar nicht in einer der reformatorischen Bekenntnisschriften zu suchen [...], sondern in einem aus Pietismus und Erweckungsbewegung erwachsenen undogmatischen, am eigenen Bibelverständnis orientierten Erfahrungsschatz“.52 Er hat wohl richtig gesehen, dass es den Vätern Freier evangelischer Gemeinden ein Anliegen war, auf der Grundlage lebendiger Glaubenserfahrung Gemeindebau jenseits jeglicher dogmatischer Erstarrung zu betreiben. Doch wird man sagen können, dass der Inhalt dieses Erfahrungsschatzes einen starken Bezug auf das Evangelium von der „freien Gnade“ hatte und somit dogmatisch positiv gefüllt war. Damit erhielt ein zentrales reformatorisches Element prägende Bedeutung für die Ursprungstheologie Freier evangelischer Gemeinden. Heinrichs selber schreibt: „Das für seine Theologie grundlegende Motiv der Einheit leitet nun Grafe von dem Begriff der ‚freien Gnade’ Gottes ab. Diese begründet für ihn erst den freien Menschen, der  51 Von vornherein formierte sich die erste FeG in Abgrenzung gegen

die Exklusivität der von John Nelson Darby geprägten „Christlichen Versammlung“, deren Exponenten seit 1852 die Wuppertaler Brüder Karl und Wilhelm Brockhaus waren. Vgl. R. Hoenen (Anm. 8), 9, und W. Heinrichs (Anm. 44), 378ff. (404). 52 W. Heinrichs, Ein Akt der Solidarität – Austrittserklärung ... vom 19.12.1856, in: W. Dietrich (Anm. 47), 170.

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sich unabhängig von Staat und Gesellschaft mit Gleichgesinnten zusammenschließt.“53 Grafe kommt von der Erfahrung der „Freiheit der Kinder Gottes“ her (Röm 8,21; Gal 5,1), denen die Gebote Gottes leicht vorkommen (1 Joh 5,3).54 Heinrichs, der einen mentalitätsgeschichtlichen Ansatz vertritt, bemerkt: „Eine so gewonnene Freiheit unterscheidet sich freilich von der modernen, autonomem Freiheit des Liberalismus. Sie ist eine geschenkte Freiheit. Trotzdem trägt sie [...] emanzipative Züge, die Grafe letztlich auch als modernen Denker ausweisen. [...] Christsein und Gemeindezugehörigkeit werden zur individuellen Entscheidung des Menschen.“55 Damit deutet Heinrichs jenes Spannungsfeld an, in welchem sich das Selbstverständnis Freier evangelischer Gemeinden seither bewegt. Freilich ist zuzugeben, dass es in der bisherigen Geschichte der Gemeinden immer wieder Phasen gegeben hat, in denen der individuellen Entscheidung ein so großes Gewicht beigemessen wurde, dass dagegen der die menschliche Freiheit begründende Befreiungsakt Gottes an Bedeutung einbüßte. In seinem Buch „Erinnerungen an H.H. Grafe“ betont Grafes Schwager Heinrich Neviandt (1827-1901), der erste Pastor der Gemeinde Elberfeld-Barmen, dass Grafe „von vorn herein ein besonders klarer Blick für das Heil aus freier Gnade geschenkt [war]. Die ewige Gnade Gottes, die mit allmächtiger Hand den Sünder auf seinem Wege aufhält, die allen Widerstand überwindet und ihn aus dem Kinde des Zornes zu einem Kinde des Friedens macht, ohne alles eigene Verdienst, war ihm so unwidersprechlich durch seine eigene Lebensführung in’s Herz geschrieben, dass sie von da an das A und O in  53 W. Heinrichs (Anm. 44), 381; vgl. H. Lenhard (Anm. 24), 45ff. 54 W. Heinrichs (Anm. 44), 381. 55 Ebd.

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seiner ganzen christlichen Anschauungsweise blieb.“56 Die Art und Weise, wie Neviandt darüber berichtet, lässt den Schluss zu, dass dieser Begriff auch für ihn selbst von herausragender Bedeutung war und seine Verkündigung prägte.57 Grafe verstand die „freie Gnade“ als eine solche, die an den Herzen wirkt und insofern subjektiv erfahrbar ist. Mit zunehmendem Alter sah er jedoch, dass die Voraussetzung dafür in der Objektivität und Unbedingtheit des von Gott in Christus geschaffenen Heils liegt.58 Im Blick auf Grafe spricht Hartmut Lenhard von der „freien Gnade“ als einem „Schlüsselbegriff“ und „theologischen Leitbegriff“.59 Er sei für Grafe nicht nur im engeren Sinne theologisch, sondern auch ekklesiologisch von Belang.60 Als Grafe nach Lyon kam, spielte der Begriff in der dortigen Gemeinde eine herausragende Rolle. Adolphe Monod hatte ihn vermutlich aus der von Haldane beeinflussten Genfer Erweckung mitgebracht.61 Lenhard weist jedoch darauf hin, dass Grafe den Begriff der „freien Gnade“ vielleicht schon von Vertretern der deutschen Erweckungsbewegung wie Ludwig Hofacker und Friedrich Wilhelm Krummacher her kannte.62 Der Begriff gibt wieder, was die Reformatoren ins Zentrum ihrer Theo 56 H. Neviandt, Erinnerungen an H.H. Grafe (1882), in: W. Dietrich

(Anm. 26), 103f. 57 Vgl. R. Schmitz (Anm. 1), 14. 58 H. Lenhard (Anm. 24), 43, mit Bezug auf H. Neviandt, Erinnerun-

gen an H.H. Grafe (Anm. 56). 59 H. Lenhard (Anm. 24), 43f. Ähnlich H. Weyel, Als Gemeinde un-

terwegs. 125 Jahre FeG Wuppertal-Barmen (1979) 28-31. 60 H. Lenhard (Anm. 24), 45ff. 61 Ebd., 43. In Art. 10 der „Profession de foi de l'Église évangélique

libre de Genève“ von 1848 heißt es: „Nous croyons que le commencement et la fin du salut [...] sont un don gratuit de la miséricorde divine; le vrai croyant ayant élu en Christ avant la fondation du monde [...]“, in: R. Hoenen (Anm. 8), 97). 62 H. Lenhard (Anm. 24), 44.

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logie gestellt haben,63 und geht sachlich ins 17. Jahrhundert zurück. In der „Geschichte des Pietismus“ schreibt der Niederländer Johannes van den Berg: „Das Festhalten an der Prädestinationslehre gegenüber den Angriffen von humanistischer und arminianischer Seite führte zu einer starken Betonung der ‚freien Gnade’ und der unbedingten Abhängigkeit des Menschen von Gottes Handeln. Dieser Faktor hat den Ton der reformierten Frömmigkeit im 17. Jahrhundert nicht unwesentlich mitbestimmt.“64 Er hatte seine starke Wirkung sogar noch bis in die Barmer Erklärung von 1934 hinein (These VI)65 und wird sie hoffentlich weiterhin haben. In der Frühzeit der Freien evangelischen Gemeinden ist der Zusammenhang von Rechtfertigungslehre und Ekklesiologie praktisch-theologisch wirksam geworden. Man wollte Gemeinde nicht selber „machen“, sondern erwartete, dass Gott in der Verkündigung des Evangeliums von der Rechtfertigung des Sünders immer neu Glauben bewirkt und dadurch Gemeinde baut. Nach Ansicht der Gründerväter ist Gottes befreiende Gnade keine frei  63 Daran erinnerte W. Huber in seiner Predigt zum Reformationstag

2004 im Rundfunkgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin: „Durch Konzentration auf das Wesentliche wollen wir das Feuer wieder entfachen, das in der reformatorischen Glut unserer Kirche enthalten ist. Wir wollen die geistliche Substanz wieder frei legen, um die es damals ging und heute geht. Gottes freie Gnade wollen wir verkündigen, damit Menschen ihre Freiheit wahrnehmen und nach ihr leben. In dieser Freiheit können sie Gott Gott sein lassen, weil sie nicht mehr selbst Gott spielen müssen.“ www.ekd.de/predigten/2004/041031_huber_kwg_ reformationstag.html. 64 J. van den Berg (Anm. 4), 69. 65 Nach W. Krötke, Die Kirche im Umbruch der Gesellschaft, Tübingen 1994, 117 ist es erstaunlich, dass „die VI. These der Barmer Theologischen Erklärung mit der Bestimmung ‚freie Gnade Gottes’ die Summe alles dessen zieht, worum es in der Kirche zu gehen hat“. Vgl. auch K. Teschner (Hg.), Die Botschaft von der freien Gnade. Evangelisation in unserer Zeit, FS für J. Hansen zum 60. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1990.

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schwebende, sie ist immer nur Gnade in Beziehung zum Menschen. Das bedeutet, dass da, wo sie auf einen Menschen trifft, dieser auch verändert wird. Das ist allein das Werk des Heiligen Geistes. Trotz starker Bedenken gegenüber einem formulierten Glaubensbekenntnis ließ Grafe sich von der Nützlichkeit eines solchen überzeugen. Als Grundlage diente das Glaubensbekenntnis der Genfer Église évangélique libre.66 Entsprechendes gilt für die Verfassung.67

2.4 Die Gründung des Bundes Freier evangelischer Gemeinden Im Jahre 1874 kam es – zunächst unter dem Namen „Vereinigung von freien evangelischen Gemeinen und Abendmahlgemeinschaften“ – zur Gründung eines Bundes, in welchem sich 22 Gemeinden zusammenschlossen.68 Als Zweck des Bundes wird in § 3 der „Leitenden Grundsätze“ die gegenseitige Stärkung im Glauben genannt, aber auch „sich in der Überzeugung gegenseitig zu befestigen, dass der Herr sein Volk berufen hat, nicht nur innerlich durch einen Geist miteinander verbunden zu sein, sondern auch diese Einigkeit [...] äußerlich darzustellen“.69 In § 7 betonen die Verantwortlichen, „dass die Selbständigkeit jeder einzelnen Gemeinschaft bewahrt bleibt, weil wir nicht zu herrschen, sondern zu dienen begehren“.70  66 Vgl. W. Haubeck, Gemeindegründung: Glaubensbekenntnis und

Verfassung, in: W. Dietrich (Anm. 47), 114. 67 Vgl. ebd., 115. 68 H. Weyel (Anm. 33), 76. 69 R. Hoenen (Anm. 8), 104. 70 Ebd.

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3. Entwicklungen in der zweiten Generation (ca. 1890-1904)71 3.1 Die sogenannte Krise im Bund Bis in die jüngste Vergangenheit hat die Geschichtsschreibung der Freien evangelischen Gemeinden in einem ganz bestimmten Sinne von einer ernsten Krise des Bundes im Jahre 1898 gesprochen.72 Es ist das Verdienst von August Jung, den lange gebräuchlichen Begriff der „Krise“ entzaubert und die historischen Vorgänge präzisiert zu haben. Bis dahin war man fast ausnahmslos einer falschen Erinnerung von Friedrich Fries (1856-1926), dem Gründer des Bundes-Verlags und des Diakonischen Werkes Bethanien, sowie dessen Biografen Konrad Bussemer auf den Leim gegangen. Nach deren ab ca. 1920 kolportierter „Erinnerung“ soll es während der Bundeskonferenz vom Juni 1898 zu einer Krise und infolgedessen zum Rücktritt des in der Gemeinde ElberfeldBarmen als Prediger tätigen Präses Friedrich Koch (1847 71 Auf die extrem independentistische Position G.F. Nagels in dessen

Buch „Der große Kampf“ (Witten 1896) kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu den für unser Thema wichtigen Beitrag von M. Schröder, Freie evangelische Gemeinden als Modell der Einheit in Christus – Anspruch und Wirklichkeit; in: W. Haubeck / W. Heinrichs / M. Schröder (Hg.), Einheit in Christus. Anspruch, Wirklichkeit und Perspektiven, Witten 2004, 45ff. 72 K. Bussemer, Friedrich Fries, ein Diener der Gemeinde Jesu aus dem Volk (1856-1926). Sein Leben, nach seinen Mitteilungen und eigenen Erinnerungen zusammengestellt von seinem Schüler und Mitarbeiter, Witten 1929, dort Kap. 8: „Die Krisis im Bunde der Gemeinden“ (254-280), 254-275 abgedruckt bei A. Jung, Das Erbe der Väter, Witten 2007, 138-149; H. Lenhard (Anm. 24), 198ff.; H. Weyel, Was ist der Bund?, in: Christsein Heute 114 (5/2007) 8. Eine Bemerkung von Weyel klingt so, als habe Präses Koch die „Krise“ dadurch ausgelöst, dass er das „im Sinne des Independentismus“ abgegebene Mehrheitsvotum der Bundesleitung für die Akzeptanz der damals baptistisch orientierten Velberter Gemeinde im Bund ablehnte und von allen Ämtern zurücktrat.

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1919) gekommen sein. Anlass der Krise sei die Aufnahme der damals baptistisch orientierten Gemeinde Velbert in den Bund gewesen. Präses Koch habe in angemaßter Autorität die Nichtaufnahme dieser Gemeinde durchsetzen wollen, sei gescheitert und deshalb zurückgetreten. Die „Wittener“ (F. Fries u.a.) stellten dies im Nachhinein als zentralistische Ambition Kochs dar, während sie selbst den Independentismus hochgehalten hätten. Jung hat aufgrund seines Quellenstudiums zeigen können, dass es im Sommer 1898 keine solche Konfrontation gab. Die Gemeinde Velbert war bereits im März 1897 in den Bund aufgenommen worden, als sie in der Tauf- und Abendmahlsfrage noch „bundeskonform“ war.73 Dies änderte sich jedoch im Herbst desselben Jahres mit Beginn der Wirksamkeit des Predigers August Wesser, der mit einigen baptistisch Gesinnten die Glaubenstaufe zur Bedingung für Mitgliedschaft und Abendmahlszulassung machte. Einen so gravierenden Eingriff in das ekklesiologische Grundverständnis der Freien evangelischen Gemeinden konnten die Elberfelder Ausschuss-Mitglieder (u.a. Koch und Neviandt) natürlich nicht gutheißen. Friedrich Koch vertrat folgerichtig in der Ausschuss-Sitzung am 2. März 1898 die Meinung, dass der Bund eine Gemeinde mit rein baptistischem Tauf- und Abendmahlsverständnis auf Dauer nicht würde verkraften können und forderte deshalb energisch, entsprechenden Tendenzen Einhalt zu gebieten. Als er merkte, dass die maßgebenden Brüder ihm darin nicht folgten, trat er von allen Ämtern zurück.74 Friedrich Fries dagegen deutete den kritischen Umgang Kochs mit dem Velberter Sonderweg in der Tauf- und Abendmahls 73 A. Jung (Anm. 72), 71. 74 Ebd., 75.

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frage als angemaßten Zentralismus.75 Für sich selber nahm er in Anspruch, mit der Toleranz gegenüber der Gemeinde Velbert den Independentismus des Bundes zu wahren, während er Koch und den Wuppertalern einen Machtanspruch unterstellte, der die Freiheit der einzelnen Gemeinden gefährde. Diesem Urteil Fries’, dem die Mehrheit des Bundes-Ausschusses damals tragischerweise folgte, muss mit August Jung „entschieden widersprochen werden“.76 Die Interpretation der Selbstständigkeit der Ortsgemeinde im Sinne einer „Lehr-Autonomie“ musste schließlich „zu einem Bund der Beliebigkeit“ führen, was Jung die „Fries’sche Wende“ nennt.77 Einen solchen extremen Independentismus hat Koch mit seinem Votum vergeblich zu verhindern versucht. Allerdings muss das Spannungsverhältnis zwischen dem Brüderverein und den Freien evangelischen Gemeinden mitbedacht werden. Fries ist zugutezuhalten, dass er die Evangelisationsarbeit nicht länger an den Brüderverein delegiert, sondern in den Ortsgemeinden verankert sehen wollte.78

3.2 Das Wirken von Otto Schopf Otto Schopf (1870-1913), ein Freund von Friedrich Fries, ist in seiner Bedeutung für den Bund auf eine Stufe  75 Vgl. ebd., 77. 76 Ebd., 78. Eine ganz andere Frage ist, ob und unter welchen Vo-

raussetzungen künftig eine stärkere Zusammenarbeit mit den Baptistengemeinden möglich ist. Die Tatsache, dass bereits etwa ein Drittel der deutschen Baptistengemeinden in der Tauffrage ähnlich verfährt wie die Freien evangelischen Gemeinden, stimmt hoffnungsvoll. 77 Ebd., 79. 78 Vgl. K. Mosner, Friedrich Fries, ein Diener der Gemeinde Jesu aus dem Volk und Bahnbrecher der Freien evangelischen Gemeinden, Witten 1929, 40.

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mit Grafe gestellt worden.79 Er hatte 1891-1896 an der Evangelischen Predigerschule in Basel studiert, anschließend ein halbes Jahr in Lausanne, vermutlich an der dortigen Theologischen Fakultät der Église libre. „Schopf vertritt, wie Fries, ein betont independentes (unabhängiges) Gemeindeverständnis, das aber“, so Weyel, „gleichzeitig auf eine wirksame Profilierung des Bundes FeG als Zweck- und Arbeitsgemeinschaft ausgerichtet ist und damit auf eine stärkere Identität des Bundes als eigene Denomination hinausläuft.“80 Schopf ahnt jedoch etwas von der Grenze des Independentismus. Er bedeute nicht, „dass wir nicht auch wie die ersten Gemeinden (Apg. 15) uns sagen ließen, was nach der Erkenntnis leitender Brüder dem Heiligen Geist und ihnen gefiel, was zu tun wir gut tun“.81 Selbst wenn man beachtet, dass in Apg 15,22 nicht nur die Apostel und Ältesten, sondern die gesamte Gemeinde als beschlussfassendes Gremium genannt wird, so spricht diese Praxis eher gegen als für einen Independentismus. Auf Anregung von Fries gründete Schopf ein Evangelisationswerk. Seine Begegnung mit dem bekannten englischen Baptistenprediger Charles Haddon Spurgeon in London machte ihm die Evangelisation zu einer dringenden Angelegenheit. Aber Schopf ist ähnlich wie Neviandt kritisch gegenüber der Messbarkeit geistlichen Erfolgs: „Die Bekehrung der Menschen ist kein Rechenexempel, sondern ein Werk der souveränen und unergründlichen Gnade Gottes. Lange ist nicht alles Segen, was man so nennt, [für ihn ist wichtig,] dass der zahlenmäßige Erfolg durchaus nicht gleichbedeutend mit der Ewigkeitsfrucht  79 H. Weyel, Otto Schopf: Der richtige Mann zur richtigen Zeit,

1. Teil, in: Christsein Heute 114 (10/2007) 50f. 80 Ebd., 52. 81 O. Schopf, Gemeinde von Gläubigen oder Unsere Bestrebungen

in den freien evangelischen Gemeinden, Waldbröl 1920, 7f., zit. nach H. Weyel (Anm. 72), 19.

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ist.“82 Schopf war auch „der erste von allen christlichen Führern Deutschlands“, der die schwärmerischen Ereignisse vom Juli 1907 in Kassel als Irrweg entlarvte.83 Vor allem zur Beförderung einer freikirchlichen Gemeindelehre setzte Schopf sich erfolgreich für die Gründung einer eigenen theologischen Ausbildungsstätte in Wuppertal-Vohwinkel ein; sie konnte am 10. April 1912 eröffnet werden.84 In hermeneutischer Hinsicht spricht er sich gegen blinden „Schriftgehorsam“ aus, stattdessen geht es ihm um „kindlichen Liebesgehorsam gegen den Vater“.85 Mit diesem reformatorischen Akzent, der auch für sein Gemeindeverständnis von Bedeutung ist, grenzt Schopf sich gegen einen Fundamentalismus ab, der die Freien evangelischen Gemeinden als Gefährdung immer begleitet hat. Eine für Freie evangelische Gemeinden jener Zeit wohl typische Bemerkung Schopfs betrifft die Frage der Konfessionalität. Zu den „Vorzügen“ der Freien evangelischen Gemeinden zählt er, dass wir „kein Bekenntnis, keine Dogmatik, keine festgelegte Schriftauslegung haben, die uns zusammenhält, sondern nur die Liebe“.86 (Die Problematik dieser Aussage kann ich an dieser Stelle leider nicht diskutieren.) Für Schopf ist der Begriff der individuellen (Gewissens-) Freiheit „der zentrale ekklesiologische Grundwert“, dessen Verwirklichung Freie evangelische Gemeinden an 82 H. Weyel (Anm. 79), 52. 83 O. Schopf, Zur Casseler Bewegung, Bonn 2. Aufl. o.J. (1907); vgl.

A. Jung, Vom Kampf der Väter. Schwärmerische Bewegungen im ausgehenden 19. Jh. Dokumente aus Freien evangelischen Gemeinden und kirchlichen wie freikirchlichen Gemeinschaften, Witten 1995, 201-206. 84 H. Weyel (Anm. 79), 53. Seit 1946 befindet sich das Theologische Seminar des Bundes in Dietzhölztal-Ewersbach (Hessen). 85 Ebd. 86 H. Weyel, Otto Schopf: Der richtige Mann zur richtigen Zeit, 2. Teil, in: Christsein Heute 114 (11/2007) 51.

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streben sollen.87 „Es ist uns aus der Schrift besonders klar geworden, wie wichtig die Freiheit ist. In unseren Kreisen soll das köstliche Gut der Gewissensfreiheit besonders gehütet werden. Jeder Gläubige in unserer Mitte soll frei nach seinem Glauben leben können, weil, was nicht aus Glauben kommt, Sünde ist.“88 Auf die Ebene der Gemeinde übertragen heißt das für Schopf: „Wir wünschen Gemeinden zu sein: Frei von jedem Kirchenregiment, jeder Kirchenverfassung und kirchlichen Zusammenfassung der Gemeinden, vielmehr Freiheit der Einzelgemeinde, die in einem unmittelbaren Verhältnis und in unmittelbarer Verantwortlichkeit Christo, dem Haupt der Gemeinde, gegenübersteht.“89 Nicht trotz, sondern aufgrund dieser Betonung hielt Schopf auch einen „Bund der Freikirchen auf breitester Ebene“ für erstrebenswert. Ich denke: In der Tat ist mit der Gewissensfreiheit ein Element des Gemeindeverständnisses angesprochen, das nur zum größten Schaden der Gemeinde einem oberflächlichen Einheitsstreben geopfert werden kann. (Die Gründerväter verstanden ihren Austritt aus der Landeskirche als „Act des Gewißens“!) Doch muss man auch fragen, ob die Berufung auf die Gewissensfreiheit nicht manchmal als Vorwand für mangelnde Bereitschaft zur Beschäftigung mit der biblischen Botschaft benutzt wurde und wird. Jedenfalls entsteht gelegentlich der Eindruck, dass Gewissensfreiheit mit einem extremen Individualismus und mit Willkür verwechselt wird.90

 87 H. Lenhard (Anm. 24), 234. 88 H. Weyel (Anm. 86), 51. 89 Ebd. 90 Vgl. U. Betz, „Von Freiheit will ich singen ...“ Zur Ekklesiologie

der Freien evangelischen Gemeinden, in: ThGespr 27 (2003) 4.

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4. Das Gemeindeverständnis bis zum Zweiten Weltkrieg (ca. 1905-1945) 4.1 Konrad Bussemer und Autorenkollektiv Einer der wichtigsten theologischen Lehrer des deutschen Bundes Freier evangelischer Gemeinden war Konrad Bussemer (1874-1944). Er ist vor allem durch das Buch „Die Gemeinde Jesu Christi. Ihr Wesen, ihre Grundsätze u. Ordnungen“91 bekannt geworden, das er zusammen mit mehreren Brüdern in erster Auflage 1905 herausgab. Das Werk hat noch bis in die 1980er-Jahre (teilweise umgearbeitete) Neuauflagen erlebt und so innerhalb der Gemeinden außerordentlich prägend gewirkt. Darin heißt es: „Die Gemeinde soll gebaut werden im Sinne evangelischer Heiligung und evangelischer Freiheit.“92 Es ist nicht auszuschießen, dass damit implizit auch das Element der „freien Gnade“ aufgenommen werden sollte, explizit hat es aber nicht mehr das starke Gewicht wie im Anfang. Unter dem Einfluss der Heiligungsbewegung verlagert sich der Akzent von Gottes freier Gnadenwahl hin zum freiwilligen Glauben des Menschen.93 Die Taufe wird im Geschehen des anfänglichen Glaubens angesiedelt, was jedoch nicht auf die Kindertaufe bezogen wird. Taufe ist noch kein reiner Bekenntnisakt, wie es später vielfach gesehen wurde, sondern auch Handeln Gottes.94 Im Blick auf die Taufe hält Bussemer ein Dreifaches fest: „1. Die Taufe der Gläubigen durch Untertauchen ist der apostolisch-normalen und schrift 91 Witten 61968. 92 K. Bussemer, Die Gemeinde Jesu Christi, Witten 41931, 33. 93 A. Jung (Anm. 72), 107. 94 K. Bussemer (Anm. 92), 48. Der Verfasser spricht sogar vorsichtig

in Anführung von einem „sakramentalen“ Charakter der Taufe.

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gemäßen Taufe am nächsten; 2. wir sind gebunden, es dem Geiste der Schrift nicht gemäß zu achten, solche von der Gemeindegliedschaft und dem Mahle des Herrn zurückzuweisen, die in dieser Frage anders denken; 3. wir sind gebunden, von dem, der in der Gemeinde aufgenommen werden will, überhaupt nichts weiter zu verlangen, als dass er an Jesus Christus als seinen Retter und Herrn glaube.“95

4.2 Die erste Bundesverfassung Nachdem der Bund im Jahre 1920 auf 100 Gemeinden angewachsen war, beantragte er die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, was faktisch das Eingeständnis einschloss, den Weg hin zu einer anerkannten Freikirche einzuschlagen.96 In diesem Zusammenhang wurde 1922 die erste Bundesverfassung verabschiedet.97 Sie war stark independentistisch geprägt und brachte zum Ausdruck, dass der Bund Freier evangelischer Gemeinden „eine in übergeordnete Behörden gegliederte ‚Kirche’ nicht sein will“.98 Der Bund könne „nur mit geistlichen Mitteln auf die Gemeinden einwirken, also den Gemeinden nur ratend, helfend und mahnend zur Stütze dienen. Er kann daher in die Angelegenheiten der Einzelgemeinde nicht wider deren Willen eingreifen.“99 Als „Zweck“ des Bundes nennt die Verfassung die öffentliche Vertretung aller gemeindlichen Belange, die „gegenseitige Förderung“ der Gemeinden und die „gemeinsame Betätigung [in der missionarischen  95 Ebd., 65. 96 H. Weyel (Anm. 33), 79. 97 Vgl. R. Hoenen (Anm. 8), 112-118. 98 Zit. nach H. Weyel (Anm. 33), 79. 99 Art. 6, zit. bei R. Hoenen (Anm. 8), 113.

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Aufgabe] durch Zusammenschluss der Kräfte“. H. Weyel räumt ein, dass zu den Grundsätzen des Bundes im Jahre 1922 „nicht mehr die noch 1874/75 deutlich bekannte und gesuchte sichtbare Einheit des Leibes Christi innerhalb und über den Bund hinaus zu gehören“ scheint.100 Zugunsten eines „konfessionellen Independentismus“,101 den der independent denkende Grafe gerade nicht angestrebt hatte, vollzog sich die Abkehr von einem wichtigen Ziel der Vätergeneration. Nach Jung verstand „die neue Verfassung von 1922 den Bund nur noch als reinen Arbeitsbund […] ohne jegliche Beziehung zum Leib-Christi-Gedanken“.102

4.3 Die Zeit des Dritten Reiches Im Jahr der Machtergreifung Hitlers (1933) übernahm Jakob Lenhard (1882-1948) mit dem Amt des Bundesvorstehers eine schwere Bürde. Umso bedeutsamer ist es, dass sein Biograf Wilhelm Wöhrle mit hoher Anerkennung von seiner Leitungskompetenz spricht.103 Sie zeigte sich u.a. darin, dass Lenhard im Oktober 1933 gemeinsam mit den leitenden Brüdern den Versuch zweier Prediger abwehrte, eine neue Verfassung durchzusetzen, die dem Gedankengut der Nationalsozialisten nahe stand.104 Aufs Ganze gesehen nahm man in den Freien evangelischen Gemeinden gegenüber dem Nationalsozialismus jedoch eine zwiespältige Haltung ein.  100 H. Weyel (Anm. 33), 80. 101 Ebd., 80. 102 A. Jung (Anm. 72), 107; vgl. H. Lenhard (Anm. 24), 203. 103 W. Wöhrle, Jakob Lenhard, in: Gärtner 42/44 (1947/48) 628f. 104 Es handelte sich um den Prediger der Gemeinde Wuppertal-Bar-

men Lic. Paul Sprenger (1898-1945), der mehr oder weniger von Richard Hoenen, damals Lehrer an der Predigerschule in Wuppertal-Vohwinkel, unterstützt wurde. Vgl. H. Weyel (Anm. 33), 82.

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Man „sah keinen Widerspruch zwischen dem ‚Totalitätsanspruch Gottes’ und dem ‚Totalitätsanspruch des Staates’“.105 Leider kam es im Jahre 1939 doch zu einer Verfassungsänderung, in der sich das „Führerprinzip“ manifestierte, sodass der Bundesvorsteher mit besonderen Befugnissen ausgestattet und Mehrheitsentscheidungen unterbunden wurden.106 Nicht nur, aber auch für sein Gemeindeverständnis ist bedeutsam, dass Lenhard im Neuen Testament zwischen „bindenden“ und „nicht bindenden“, weil den „örtlichen und zeitlichen Bedürfnissen“ entsprechenden Linien unterschied107 − im freikirchlichen Kontext keine Selbstverständlichkeit!

5. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute (1946-2008) 5.1 Internationale Zusammenarbeit Bereits im 19. Jahrhundert kam es auch in anderen Ländern Europas sowie in Nordamerika zur Bildung von Freien evangelischen Gemeinden und in der Folge auch zu einer internationalen Zusammenarbeit. Die offizielle Gründungskonferenz der „International Federation of Free Evangelical Churches“ (IFFEC) fand jedoch erst 1948 in Bern statt. Den Segen der die nationalen Grenzen überschreitenden geistlichen Einheit erfuhren die deutschen Gemeinden nach dem Krieg u.a. durch vielfältige Hilfslieferungen von ausländischen Bünden.  105 H. Weyel, Die Machtergreifung Hitlers. Wie die Freien evangeli-

schen Gemeinden darauf reagierten, in: Christsein Heute 115 (2/2008) 48. 106 Zum Ganzen vgl. H. Weyel, 50 Jahre unbewältigter Vergangenheit?, in: Gärtner 90 (5-9/1983) 71ff. 107 H. Weyel, Jakob Lenhard. Präses der Freien evangelischen Gemeinden von 1933 bis 1947, in: Christsein Heute 114 (8/2007) 53.

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5.2 Eine neue Verfassung (1954) Die nach dem Krieg einsetzende Neubesinnung mündete 1954 in eine neue Verfassung, in der das Führerprinzip „zugunsten des Bundesrats und des Bundestags aufgegeben“ wurde.108 Es heißt dort: „Jede Einzelgemeinde regelt ihre Angelegenheiten selbstständig unter Einordnung in das Bundesganze. Sie verpflichtet sich, in Zusammenarbeit mit der Bundesleitung die Bundesaufgaben zu verwirklichen“ und „freiwillig regelmäßige und angemessene Beiträge an den Bund“ zu zahlen.109 Hier konkretisiert sich die Einsicht, dass die geistliche Zusammengehörigkeit der Gemeinden auch als finanzielle Verantwortungsgemeinschaft sichtbar werden muss.

5.3 Kritische Stimmen zum Selbstverständnis Freier evangelischer Gemeinden In einem Beitrag zum Gemeindeverständnis aus dem Jahre 1961 übernimmt der Düsseldorfer Gemeindepastor Walter Arnold zwar unkritisch die Institutionskritik Emil Brunners, kommt andererseits aber doch zu einer hilfreichen Akzentuierung, wenn er sagt: „Die Gemeinde ist keine Gründung von Menschen, kein frommer Verein, der aus dem Entschluss seiner Mitglieder entsteht, sondern ein Werk Gottes, eine Neuschöpfung des Heiligen Geistes.“110 Der langjährige Dozent und Rektor des Theologischen Seminars Ewersbach Gerhard Hörster äußerte bereits 1973: „So wie dem einzelnen Glaubenden die Gemeinde vorgegeben“ sei, so sei der Einzel 108 H. Weyel (Anm. 33), 86. 109 E.W. Erdlenbruch / H.-A. Ritter, Freie evangelische Gemeinden,

Witten 1972, 34f.; vgl. H. Weyel (Anm. 72), 20. 110 W. Arnold, Das Wesen der Christusgemeinde. Eine heilsge-

schichtliche Studie, in: ders. / O. Bamberger (Anm. 1), 22.

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gemeinde die Gesamtgemeinde vorgegeben. Die über viele Jahrzehnte gepriesene Unabhängigkeit der Ortsgemeinde vertrage sich nicht mit dem paulinischen „Leib Christi“-Gedanken. „Entweder wir überwinden den Independentismus durch biblisch ausgerichtete Verkündigung oder wir gehen an ihm zugrunde.“111 Hörsters Kollege Hermann Ruloff fragte u.a. kritisch, ob die von Freien evangelischen Gemeinden vertretene „Freiheit in jedem Falle die Freiheit des Evangeliums“ war und ob das „kongregationalistische Missverständnis“ nicht die Entwicklung der Gemeinden zum „religiösen Interessenverband“ begünstigt.112 Jung bemerkte zur Tauffrage, dass sich „Grafe nachweislich nicht auf das Evangelium berufen [hat]. Ein ungebundener, weltlicher Freiheitsgedanke gab hier den Ausschlag.“113

5.4 Revision der Verfassung (1976) Am 12. Juni 1976 kam es erneut zu einer Revision der Verfassung. Ihr wurde nun eine Präambel vorangestellt, in der es heißt: „Der Bund Freier evangelischer Gemeinden ist eine geistliche Lebens- und Dienstgemeinschaft selbständiger Gemeinden. Verbindliche Grundlage für Glauben, Lehre und Leben in Gemeinde und Bund ist  111 G. Hörster, Die Gemeindelehre des Apostels Paulus, in: Gärtner

80 (1973) 947; ähnlich A. Jung, Die Entstehung der ersten Freien evangelischen Gemeinden und die Anfänge des Bundes, in: Gärtner 81 (1974) 387; vgl. auch J. Demandt, Mehr frei als evangelisch? Eine kritische Besinnung zum Selbstverständnis der Freien evangelischen Gemeinden, in: Gärtner 86 (1979) 756f.; 772f. 112 H. Ruloff, Das Erbe H.H. Grafes in unseren Gemeinden, in: Gärtner 76 (1969) 965-967; 984-987, zit. nach H. Lenhard (Anm. 24), 279. 113 A. Jung, Was nötigt uns heute noch zu unserem Weg als Freie evangelische Gemeinden?, in: Gärtner 75 (1968), 926-928; 945947; 965-967, zit. nach H. Lenhard (Anm. 24), 279.

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die Bibel, das Wort Gottes.“114 Damit wird das Verständnis des Bundes als reiner „Arbeitsgemeinschaft“ verlassen und dem Einheitsgedanken wieder stärker Raum gegeben. Indem die Präambel zugleich die Übereinstimmung mit dem Apostolicum betont, das seit 1978 im Gesangbuch steht, ergeht auch nach außen ein Signal der Einheit. Ausdrücklich geschieht dies auch durch die Aussage, dass „die Bundesgemeinschaft […] als Teil der weltweiten Christusgemeinde zu deren Einheit im biblischen Sinne“ beiträgt.115 Diese Grundbestimmungen wurden in der Verfassung vom 16.09.1995 bestätigt.

5.5 Woraus besteht eine Gemeinde? Ein − wie mir scheint − für die Frömmigkeit der Gemeinden typischer Gedanke drückt sich in dem Satz aus: „Freie evangelische Gemeinden bestehen aus Menschen, die ihr Christsein ernst nehmen wollen.“116 Der Satz lehnt sich nicht nur an Luthers Gedanken zu einer Deutschen Messe von 1526 an („die mit Ernst Christen sein wollen“), sondern in ihm schwingt − sicher ungewollt − auch ein leicht arroganter Ton mit: Wir nehmen unsern Glauben ernst, die Anderen nicht. Bedenklicher noch erscheint mir aber der Umstand, dass hier Gemeindewirklichkeit einseitig „von unten“, d.h. von den gläubigen Individuen her beschrieben wird. Ihre Summe scheint Gemeinde auszumachen, während das Neue Testament die Gemeinde primär von Christus her versteht (Eph 1,22; 2,20; 4,15; Kol 1,18; 1 Petr 2,4f.).117  114 E.-W. Erdlenbruch / H.-A. Ritter, Freie evangelische Gemeinden,

Witten 51990, 56. Dazu kritisch U. Betz (Anm. 90), 10. 115 E.-W. Erdlenbruch / H.-A. Ritter (Anm. 114), 57. 116 Ebd., 4. 117 Vgl. auch Neviandts christozentrisches Gemeindeverständnis bei

H. Lenhard (Anm. 24), 153ff.

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5.6 Aktuelle Entwicklungen Naturgemäß ist es schwierig, aktuelle Entwicklungen angemessen zu beurteilen, dazu fehlt der notwendige zeitliche Abstand. Neue geistliche Impulse, z.T. auch aus dem Ausland, haben dazu beigetragen, dass es hier und da zu geistlichen Aufbrüchen kam und neue Gemeinden entstanden. In der Praxis scheint allerdings manchmal ein reduziertes Gemeindeverständnis vorzuherrschen, das primär auf zahlenmäßiges Wachstum abzielt. Zu einem nicht geringen Teil verdanken die Freien evangelischen Gemeinden ihr zahlenmäßiges Wachstum der Aufnahme von Mitgliedern, die in anderen Kirchen unzufrieden sind, und werden so zu einem Sammelbecken für sehr unterschiedliche Frömmigkeiten. Hinzu kommt, dass sich auch die Pastorenschaft zu einem nicht geringen Teil aus solchen rekrutiert, die ursprünglich in anderen Denominationen beheimatet waren. Vor diesem Hintergrund gelingt es anscheinend immer weniger, zentrale Elemente des Gemeindeverständnisses an die nachwachsende Generation zu vermitteln. Nach meinem Eindruck betrifft dies besonders die reformatorische Identität. Anstatt der Verkündigung der „freien Gnade“ die höchste Priorität einzuräumen, überlässt man das Feld oftmals einem unevangelischen Aktionismus. Eine zu erhoffende Besinnung auf die Ursprünge des Bundes birgt für jede Generation die Möglichkeit in sich, die Gestaltungskraft der „freien Gnade“ neu zu entdecken.

6. Ausblick In einer Zeit zunehmender Säkularisierung der Gesellschaft muss es dankbar stimmen, dass sich im Bund 120

Freier evangelischer Gemeinden viele Christen für ein glaubwürdiges Christus-Zeugnis engagieren. Dabei spielt die Selbstständigkeit der Gemeinden eine wichtige Rolle. Aus meiner Sicht muss jedoch zwischen Selbstständigkeit und Autonomie der Gemeinde deutlicher unterschieden werden. M.E. hat Grafe mit Rochat richtig gesehen, dass die Ortsgemeinde entsprechend dem Neuen Testament beanspruchen darf, im vollen Sinne Gemeinde zu sein. Er hat jedoch nicht angemessen gewürdigt, dass das Neue Testament den Begriff Gemeinde auch auf die Gesamtheit der Gemeinden in einer Region oder weltweit anwendet.118 Es kann deshalb keine Autonomie im Sinne einer völligen Unabhängigkeit bzw. Independenz der Ortsgemeinde geben, sondern nur eine Selbstständigkeit, die sich auf Christus gründet, der sie grundsätzlich mit der Vielzahl anderer Gemeinden auf diese oder jene Weise verbindet. (Mit dieser Feststellung der prinzipiellen Verbundenheit der Christen untereinander sind auch die vielfältigen sich daraus ergebenden Aufgaben angedeutet.) Entsprechend ist „der Bund Freier evangelischer Gemeinden nicht lediglich als Zweckverband, sondern als eine legitime Gestalt des Leibes Christi neben anderen anzusehen. Als solche ist er, wie es die Präambel der Bundesverfassung seit 1976 ausdrückt, eine ‚geistliche Lebens- und Dienstgemeinschaft’.“ Die geistliche Herausforderung besteht in einer angemessenen Gestaltung der Beziehung zwischen Ortsgemeinde und Bund einerseits sowie zwischen Ortsgemeinde und

 118 S.o. unter 2.2. Das sieht inzwischen auch H. Weyel deutlicher,

ders., Einzelgemeinde und Gesamtgemeinde. Neutestamentliche und systematische Aspekte der Beziehung zwischen Gemeinde und Gemeindebund, in: ThGespr 27 (2003) 13-19, hier 14.

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anderen christlichen Gemeinden und Kirchen andererseits.119 Ob eine halbsynodale Ordnung, wie sie im französischen Bund Freier evangelischer Gemeinden besteht, auch im deutschen Bund praktikabel ist, sollte m.E. ernsthaft geprüft werden.120 Fragen von gemeinsamem Interesse der Gemeinden werden an eine Synode delegiert, ohne dass die Selbstständigkeit der Ortsgemeinde eingeschränkt wird. Nach meiner Kenntnis hat unsere französische Schwesterkirche mit dieser Ordnung im Wesentlichen gute Erfahrungen gemacht.

ZUSAMMENFASSUNG Die aus der Erweckungsbewegung hervorgegangenen Freien evangelischen Gemeinden waren am Beginn ihrer Geschichte stark darum bemüht, die Einheit derer darzustellen, die von der „freien Gnade“ erfasst waren. Im weiteren Verlauf wurde dieses Bemühen zugunsten eines zur Konfession erhobenen, teilweise extremen Independentismus zurückgedrängt. Etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist ein vermehrtes Streben nach sichtbarer Einheit bei gleichzeitigem Festhalten an der Selbstständigkeit der Gemeinden wahrnehmbar.

 119 Vgl. J. Demandt, Einheit in Jesus Christus. Das Verhältnis Freier

evangelischer Gemeinden zu anderen Christen, Gemeinden und Kirchen, in: MdKI 51 (2000) 3ff. 120 Vgl. H. Weyel (Anm. 33), dort ist allerdings irrtümlich von einer „Synodal-Kommunion“ statt von einer „Synodal-Kommission“ die Rede.

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Das Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils in ökumenischer Verständigung Wolfgang Thönissen

1. Das Konzil der Kirche über die Kirche Wie kein Konzil in der Kirchengeschichte zuvor hat sich das II. Vaticanum (1962-1965) als ein Konzil der Kirche über die Kirche in das Gedächtnis der Kirche eingebrannt. „Seit der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils bestand allgemein deutlich der Eindruck, dass die dogmatische Erklärung über die Kirche das Hauptstück des Konzils werden würde.“1 So schien sich auch das Wort Romano Guardinis vom „Erwachen der Kirche in den Seelen“ zu bestätigen. Dieses Konzil hat die Kirche erstmals selbst in den Mittelpunkt konziliarer Entscheidungen gestellt. Die Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ bestimmt Wesen, Sendung und Struktur der Kirche, die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ stellt das Verhältnis von Kirche und Welt in den Mittelpunkt der theologischen Erörterung, die Erklärung „Dignitatis humanae“ klärt das Verhältnis von Kirche und moderner Gesellschaft, das Ökumenismusdekret „Unitatis redintegratio“ richtet schließlich das Verhältnis der katholischen Kirche zu den von ihr getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in neuer Weise aus ebenso wie „Nostra aetate“ das Verhältnis zu Judentum, Islam und anderen Religionen. In dieser Hinsicht hat das Zweite Vatikanische Konzil die Kirche zum umfassen 1 G. Philips, Die Geschichte der dogmatischen Konstitution über

die Kirche „Lumen Gentium“, in: LThK.E I, 139.

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den, fast allbeherrschenden Thema gemacht. Es hat erstmals in der Geschichte zu verbindlichen Aussagen zur Kirche gefunden. War Thema mittelalterlicher Konzilien durchweg das Verhältnis von Papst und Konzil gewesen,2 so wurde die Kirchenfrage allerdings erst durch die Reformation herausgefordert. Doch gelang es dem Konzil von Trient (1545-1563) nicht, sie zu klären. Das Erste Vatikanische Konzil (1869-1870) beabsichtigte, Wesen und Natur der Kirche, und zwar unter den Voraussetzungen der Entwicklung des modernen nationalen Verfassungsstaates, zu bestimmen, eine Entscheidung kam aber nicht mehr zustande. So suchten die diesem Konzil folgenden Päpste durch Enzykliken die Kirchenfrage voranzutreiben. Unter ihnen ragen die Enzykliken „Satis cognitum“ Leos XIII. von 1896 sowie „Mystici corporis“ Pius’ XII. von 1943 heraus. Fast 100 Jahre nach dem Ersten Vatikanischen Konzil gelang es dann dem II. Vaticanum nach langer Vorbereitung und teilweise kontroverser Diskussion unter den Konzilsvätern, die seit annähernd 500 Jahren durch die reformatorischen Auseinandersetzungen offen gebliebene Kirchenfrage einer Klärung zuzuführen. In dem zwischen dem I. und II. Vaticanum liegenden Jahrhundert schwoll die theologische Literatur über das Thema der Kirche geradezu flutartig an. Im Rückgriff auf die neutestamentliche Exegese und die patristische Forschung wurden verschiedene Kirchenbegriffe, Kirchenverständnisse und Kirchenbilder in den Mittelpunkt theologischer Untersuchungen gerückt.3 Im deutschen und  2 Vgl. zum geschichtlichen Kontext von „Lumen gentium“ P. Hüner-

mann, Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, in: HThK Vat.II, 2, 271-288. 3 Vgl. den Überblick bei Y. Congar, Die Lehre von der Kirche. Vom Abendländischen Schisma bis zur Gegenwart, Freiburg i.Br. 1971 (HDG III/3d), 114-119.

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französischen Sprachraum erschienen eine Vielzahl von Büchern und anderen Schriften, die eine neue Orientierung in der Ekklesiologie einleiten. Dahinter stehen Entwicklungen in Bibelbewegung, liturgischer und ökumenischer Bewegung. Sowohl in der katholischen wie der evangelischen Theologie beginnt eine umfassende Besinnung auf die ekklesiologische Frage. Beiträge zur Ekklesiologie beziehen sich auf einzelne Begriffe wie der mystische Leib Christi, das Volk Gottes, die Kirche als Sakrament. Die Stoßrichtung dieser Veröffentlichungen ist klar, sie richten sich gegen die einseitige Festlegung auf die juridisch-apologetische Sichtweise der Kirche.

2. Die Überwindung des univoken Kirchenbegriffs Der kontroverstheologischen Sicherung der Kirche galt die Aufmerksamkeit der katholischen Theologie seit der Zeit der Reformation. Gegenüber dem analogen Sprachgebrauch des Kirchenbegriffs noch zur Zeit der mittelalterlich-scholastischen Theologie4 nimmt die Kirchenkonzeption des italienischen Kontroverstheologen und Jesuiten Robert Bellarmin nur noch einen eingeschränkten und eindimensionalen Sprachgebrauch in Anspruch. Zwar führt auch Bellarmin die Kirche inkarnatorisch auf Christus zurück, doch definiert er Kirche als jene Gruppe von Menschen, die durch dasselbe Bekenntnis des christlichen Glaubens und die Gemeinschaft derselben Sakramente verbunden sind, und zwar unter der Herrschaft der legitimen Hirten und vor allem des einen Stell-

 4 Vgl. hierzu J. Ratzinger, Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekkle-

siologie, Düsseldorf 1969, 75-89; Y. Congar (Anm. 3), 52-62.

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vertreters Christi auf Erden, des römischen Pontifex.5 Im Rückgriff auf den in der Scholastik und von Thomas von Aquin verwendeten corpus-Begriff bezieht Bellarmin den Kirchenbegriff mit seinen verschiedenen Dimensionen ganz auf die Perspektive der organisatorisch-juridischen Gestalt der Kirche und des darin enthaltenen Aspekts der Sichtbarkeit. Zwar sind damit nicht alle Aspekte des Bellarminschen Kirchenbegriffs genannt. Dennoch aber wird diese exponierte Definition bis in das 20. Jahrhundert hinein zur vorherrschenden und wirkungsmächtigen ekklesiologischen Leitmarke. Diese „univoke Redeweise bringt für die Ekklesiologie eine Engführung mit sich“.6 Die congregatio sanctorum wird ganz und einseitig als societas perfecta interpretiert.7 Die institutionelle Sicherung der Kirche beherrscht auch den Entwurf einer Konstitution über die Kirche Christi auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1870-1871). Dabei tritt das am Staatsbegriff orientierte Leitbild einer vollendeten öffentlichen Gesellschaft vollends hervor.8 Zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Ersten Vatikanischen Konzil führte Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika „Satis cognitum“ von 1896 das Wesen der Kirche ganz auf die Absicherung und Abgrenzung nach außen zurück. Bei der Bestimmung der Kirche ist der Aspekt der Einheit besonders zu berücksichtigen. Die „eine und einzige Kirche Jesu Christi“ schließt alle diejenigen aus, die ge 5 R. Bellarmin, Disputationes de controversiis Christianae Fidei ad-

versus huius temporis haereticos IV, 3,2, Paris 1870 (Opera omnia, ed J. Fèvre II), 317f. 6 P. Hünermann (Anm. 2), 273. 7 Vgl. Th. Dietrich, Die Theologie der Kirche bei Robert Bellarmin, Paderborn 1999 (KKTS 69), 510. 8 Der erste Entwurf der Konstitution über die Kirche, in: J. Neuner / H. Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, neubearb. v. K. Rahner u. K.-H. Weger, Regensburg 11 1971, 261f.

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sondert gehen, also vom Willen der Vorschrift Christi abweichen und den Weg des Heiles verlassen haben.9 In besonderer Weise rückt dann Pius XII. in seiner Enzyklika „Mystici corporis“ von 1943 den Aspekt der Kirche als mystischer Leib Jesu Christi in den Mittelpunkt, ohne freilich das traditionelle Kirchenbild zu korrigieren.10 Die unter der Vorstellung vom mystischen Leib Christi durchgeführte Retheologisierung des Kirchenbegriffs fängt den Aspekt der Sichtbarkeit ein. Vom Wesen der Kirche kann hinfort nicht mehr gesprochen werden ohne Berücksichtigung dieses mystischen Gedankens. Dabei kann diese Enzyklika theologische Neuansätze an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert von Johann Michael Sailer, Johann Sebastian Drey und Johann Adam Möhler aufgreifen. „Der Begriff der Kirche wird einseitig bestimmt, wenn man sie eine Anstalt nennt oder einen Verein, gestiftet zur Erhaltung und Fortpflanzung des christlichen Glaubens; sie ist vielmehr ein Erzeugnis des christlichen Glaubens, eine Wirkung der in den Gläubigen durch den Heiligen Geist lebendigen Liebe.“11 Noch vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil konzentrierte sich daher die theologische Debatte auf die drei grundlegenden Wesensbestimmungen der Kirche als Sakrament, als mystischer Leib Jesu Christi, als Volk Gottes.

 9 DH 3304f. 10 DH 3809. 11 J.A. Möhler, Die Einheit in der Kirche oder das Princip des Katho-

licismus, Tübingen 1825, 193.

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3. Das Verständnis der Kirche als universales Sakrament des Heils Hatte die Enzyklika Pius XII. bereits einem mehrstufigen Kirchengliedschaftsbegriff eingeführt, so entwickelt sich daraus allmählich auch ein mehrstufiger Kirchenbegriff, der dann in der für das Zweite Vatikanische Konzil ausschlaggebenden Dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ eingeführt wird. Freilich hatte die das Konzil vorbereitende Konzilskommission zunächst noch die neuscholastische Sichtweise vorgelegt und damit blieben die Grundlinien dieses Entwurfes auf die apologetische Sichtweise der Kirche eingeschränkt. Dieses vorbereitende Schema lässt das traditionelle Bild von der Kirche als Gesellschaft erkennen.12 Bereits die ersten Sitzungen des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962 machten jedoch deutlich, dass die Mehrheit der Konzilsväter dem Entwurf der römischen Vorbereitungskommission nicht mehr folgen wollten. Der Entwurf der deutschsprachigen Bischofskonferenzen, in dessen Mittelpunkt das Thema der Kirche als Sakrament des Heils stand, wurde mehrfach überarbeitet und bildete schließlich den Grundansatz für die Dogmatische Konstitution „Lumen gentium“.13 Die seit dem Konzil bis heute diskutierte Frage nach den ekklesiologischen Leitbildern von der Kirche verdankt sich dem Umstand, dass die dogmatische Behandlung der Lehre von der Kirche erst im zwanzigsten Jahrhundert zu einer Entfaltung der Ekklesiologie als systemati 12 Das lassen die Themen erkennen: Natur und Sendung der Kirche,

die Mitglieder der Kirche, die Lehrautorität der Kirche, das Bischofsamt, die Laien, Kirche und Staat, die Kirche und die Rückkehr der getrennten Christen. 13 Vgl. G. Wassilowsky, Universales Heilssakrament Kirche. Karl Rahners Beitrag zur Ekklesiologie des II. Vatikanums, Innsbruck 2001 (IThS 59).

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schem Traktat innerhalb der Dogmatik als Fach der Theologie geführt hatte. Die nicht unerheblichen Schwierigkeiten, die sich bei der Suche nach einem theologischen Begriff der Kirche ergaben, haben wohl auch damit zu tun, dass die dogmatische Theologie nicht auf eine größere Tradition systematischer Ekklesiologie zurückgreifen konnte. Erschwerend kommt hinzu, dass sich aus dem Neuen Testament ebenfalls keine systematische Lehre von der Kirche erheben lässt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dieser theologischen Debatte zweifellos neue Nahrung gegeben. Mehr als in anderen Traktaten muss die Ekklesiologie den Gestaltwandel der Kirche, dem sie nicht nur seit dem letzten Konzil unterworfen ist, reflektieren. Theologische Reflexion und Veränderungen im Leben und in den Strukturen der Kirche beeinflussen und bedingen sich gegenseitig. Nichts zeigt dies deutlicher als die Diskussion über die Leitbilder: Das Leitbild „Leib Christi“ verdankt sich der wachsenden Kritik an der Erstarrung des äußeren Lebens der Kirche in Hierarchie und Institution und der zunehmenden Erkenntnis der „actuosa participatio" des gesamten Volkes Gottes. Das Leitbild „Volk Gottes“ versteht sich – theologiegeschichtlich betrachtet – als Reaktion auf die durch den Begriff „Leib Christi“ herbeigeführte Romantisierung des Kirchenbegriffs und will der Geschichtlichkeit und der historischen Bedingtheit der Kirche, ihrem viatorischen Charakter, stärkeren Ausdruck verleihen. Das Leitbild „Kirche als universales Sakrament des Heils“ will der Verhältnisbestimmung von der nur im Glauben fassbaren verborgenen Wirklichkeit der Kirche und ihrer sichtbarinstitutionellen Gestalt dienen und ist Ausdruck der neu gewonnenen heilsgeschichtlichen Sichtweise. Das Leitbild „Kirche als Communio“ schließlich kommt der Ursehnsucht der Menschen nach personaler Gemeinschaft

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entgegen und bereitet dem Verständnis der Kirche als Orts-Kirche und Orts-Gemeinde den Weg. Lassen sich die hier genannten Bilder, wie Johann Auer dies fordert, in einem übergreifenden theologischen Terminus als dogmatischem Modellbegriff erfassen?14 Sieht man hierzu die ekklesiologische Begriffsbildung durch, so lässt sich leicht erkennen, dass sich unter der grundlegenden Perspektive einer sakramentalen Denkstruktur eine solche Synthese durchführen lässt. Der Begriff der Sakramentalität gehört zu den Grundlagen der konziliaren Ekklesiologie.15 Wenigstens siebenmal führen Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils zumindest in sachlicher, wenn auch nicht in begrifflicher Übereinstimmung die Aussage vom sakramentalen Charakter der Kirche an.16 „Christus ist das Licht der Völker. Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündet (vgl. Mk 16,15). Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“17 Vorstellung und Begriff der Sakramentalität haben sich der katholischen Theologie so tief eingeprägt, dass sie in ihr eine „durchlaufende Denkstruktur der Ekklesiologie“18 zu erkennen glaubt. Die Vorstellung von der Sakramentalität der Kirche hatte seit dem 19. Jahrhundert bis zur Rezeption  14 J. Auer, Die Kirche – Das allgemeine Heilssakrament, Regensburg

1983 (KKD 8), 85. 15 W. Beinert, Die Sakramentalität der Kirche im theologischen Ge-

spräch, in: Theologische Berichte IX. Kirche und Sakrament. Hg. v. J. Pfammatter u. F. Furger, Zürich 1980, 13-63. 16 LG 1, 9, 48, 59; SC 5, 26; UR 3. 17 LG 1. 18 H. Döring, Grundriß der Ekklesiologie, Darmstadt 1986, 100-123.

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durch das II. Vaticanum bereits eine Entwicklung durchgemacht, in der sich verschiedene Entwürfe mit- und gegeneinander profiliert hatten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gewinnt dieser ekklesiologische Topos seine bis heute ungebrochene Bedeutung. Es ist dies im Wesentlichen das Verdienst der beiden Theologen Otto Semmelroth und Karl Rahner.19 Wichtige Impulse leisteten aber auch Edward Schillebeeckx20 und Joseph Ratzinger.21 Sie konnten dabei auf verschiedene Arbeiten der Theologen Henri de Lubac22 und Yves Congar23 zurückgreifen. Am Vorabend des Konzils hatten sich Vorstellung und Begriff der Sakramentalität der Kirche innerhalb der katholischen Theologie so weit etabliert, dass sie sozusagen kirchenamtlich rezipiert werden konnten. Dabei stachen zwei Grundmuster heraus, welche das Konzil zu verbinden trachtete: die auf Otto Semmelroth zurückgehenden funktionalen Entwürfe (Sakrament als Instrument des Heiles)24 und die auf Karl Rahner zurückgehenden Entwürfe, die die Zeichenhaftigkeit in den Vordergrund rückten (Sakrament als signum).25 Mit der fundamentalen Aussage, die Kirche sei in Christus gleichsam das Sakrament, d.h. Zeichen und Werkzeug, suchte das Konzil diese beiden Grundvorstellungen zu integrieren. Für die nachfolgende theologische Diskussion erwies sich die ekklesiologische Re 19 Vgl. hierzu G. Wassilowsky (Anm. 13). 20 E. Schillebeeckx, Christus – Sakrament der Gottbegegnung, Mainz

1960. 21 J. Ratzinger, Art. Kirche. III. Systematisch, in: LThK2 6 (1961) 173-

183. 22 H. de Lubac, Corpus Mysticum. L’Eucharistie et l’Église au Moyen

Âge, Paris 1949, dt. Einsiedeln 1969. 23 Y. Congar, Esquisses du mystère de l’Église, Paris 1941. 24 O. Semmelroth, Die Kirche als Sakrament des Heiles, in: MySal,

Bd. IV/1, 309-355. 25 K. Rahner, Kirche und Sakramente, Freiburg i.Br. 1960 (QD 10).

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zeption des Begriffs der Sakramentalität als das vorherrschende Sachproblem. Denn es konnte nicht unberücksichtigt bleiben, dass mit dem ekklesiologisch rezipierten Begriff eine andere Qualität des Begriffes „Sakrament“ angezielt war. Damit wird ein analoger Gebrauch des Begriffs der Sakramentalität notwendig.26 Die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ führt das sakramentale Verständnis von Kirche unter dem Titel „Mysterium Ecclesiae“ ein und bezieht so beide Vorstellungen, die vom Sakrament und die vom Mysterion, aufeinander. Das ist im Ganzen ein ekklesiologisches Programm, mit dem folgende Zusammenhänge erfasst und dargelegt werden sollen: (1.) „Ecclesia sit in Christo veluti sacramentum“ (LG 1). Nur in Christus ist die Kirche „Sakrament“. Die Kirche ist also nicht in einem absoluten Sinne „Sakrament“, sondern in Relation zu Christus. In Wahrheit ist also die Aussage über die Kirche eine christologische. Christus selbst ist das Licht der Völker, nicht die Kirche, in ihr allerdings leuchtet das Licht Christi auf. Christus ist somit das Subjekt des Heilshandelns. (2.) „Signum et instrumentum“ (LG 1): In einem übertragenen Sinn muss die Kirche im Heilswerk Christi verstanden werden als von ihm selbst eingesetztes Zeichen und Werkzeug; die Kirche fungiert wie ein Sakrament „für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“, sie ist aber selbst kein Sakrament. So ist die Kirche die Vermittlung zwischen Gott und Menschheit, in ihm handelt die Kirche als eigenständiges Subjekt. (3.) „Ecclesia, seu regnum Christi iam praesens in mysterio“ (LG 3): Die Kirche ist heilsökonomisch-trintitarisch in das Mysterium der Selbstoffenbarung Gottes in Christus durch den Heiligen Geist  26 Vgl. hierzu W. Thönissen, Gemeinschaft durch Teilhabe an Jesus

Christus. Ein katholisches Modell für die Einheit der Kirchen, Freiburg i.Br. 1996, 158-174.

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eingespannt. Ihr Grund liegt in Gottes schöpferischem Handeln für die Menschheit, ihr Ziel in der eschatologischen Wiederkunft Christi zur Erlösung der Menschheit. Insoweit ist die Kirche das Mysterium des Gottesreiches selbst und damit Gegenstand des Glaubens. (4.) „In mundo visibiliter“ (LG 3): Durch die Kraft Gottes wächst die Kirche sichtbar in der Welt. Die Sichtbarkeit der Kirche ist somit ein wesentliches, dem trinitarisch-heilsökonomischen Mysterium entsprechendes Moment ihrer Sakramentalität. In Anknüpfung an diese fundamentalen Aussagen eines sakramentalen Kirchenverständnisses führt LG Art. 8 in nochmaliger Verdichtung und Vertiefung aus: „Der einzige Mittler Christus hat seine heilige Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst und trägt sie unablässig … Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst.“27 Danach kann Kir 27 Der ganze Text in LG 8 lautet: „Der einzige Mittler Christus hat

seine heilige Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst und trägt sie als solches unablässig; so gießt er durch sie Wahrheit und Gnade auf alle aus. Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst. Deshalb ist sie in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heils-

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che als Mysterium im sakramentalen Sinne begriffen werden, wobei genauerhin drei Ebenen unterschieden werden müssen: (1.) das tranzendental-göttliche Element, (2.) das irdisch-menschliche Element, (3.) die Vereinigung dieser beiden Elemente, das Sakrament. Kirche gibt es nach diesem Verständnis nur als Sakrament, das heißt als Zeichen und Werkzeug im Heilswerk Jesu Christi. Das Mysterium „Kirche“ erscheint hier in der Spannungseinheit von sichtbarer und verborgener Kirche, eine Einheit, die nicht auseinandergerissen werden darf. „Der springende Punkt dieses sakramentalen Kirchenverständnisses liegt nun darin: Kirche im vollen theologischen Sinn des Wortes existiert nur auf der dritten Ebene, also in der Einheit von transzendent göttlichem und immanent menschlichem Element.“28 Kirche zeichnet sich dadurch so als „Sakrament“ aus, dass sich das „Göttliche“ unter dem Wirken des Heiligen Geistes gleichsam in einer konkret geschichtlich-gesellschaftlichen Gestalt „inkarniert“. Kirche ist deshalb auch als Institution eine geschichtliche „Größe“, und zwar gerade in der Spannungseinheit von gesellschaftlichem Gefüge und dem Heiligen Geist, dem, wie der Text sagt, dieses Gefüge zum Wachstum des Leibes Christi dient. Somit weist Kirche in einer Bewegung des Transzendierens in  organ dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4, 16). Dies ist die einzige Kirche Christi, die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen … Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird. Das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen.“ 28 Vgl. M. Kehl, Die Kirche und die Kirchen, in: W. Thönissen (Hg.), „Unitatis redintegratio“. 40 Jahre Ökumenismusdekret – Erbe und Auftrag, Paderborn 2005 (KKSMI 23), 117-129, hier 120.

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ihrem Selbstvollzug immer über sich hinaus auf Christus selbst und ist auch als irdisch-geschichtliche Größe „epiphan“ für das „Göttliche“.29 Dieser mehrdimensionale und komplexe Kirchenbegriff bringt unter dem Leitbegriff der Sakramentalität mehrere theologische Grundeinsichten zur Geltung: (1.) Jesus Christus ist das „Ursakrament“. Wenn von Kirche gesprochen wird, dann soll damit die bleibende Herkünftigkeit der Kirche aus dem Geheimnis Jesu Christi ausgesagt werden. Die Kirche ist Geheimnis, weil sie selbst Gegenstand des Offenbarwerdens des grundlegenden göttlichen Mysterions ist, auf das sich der Glaube bezieht. Sie geht aus diesem Geheimnis Gottes als Zeichen und Werkzeug des göttlichen Heilswirkens hervor. (2.) Die Kirche ist universales Heilssakrament Jesu Christi. Weil sie von Christus herkommt und zu ihm zurückkehrt, ist Kirche in dieser Bezogenheit auf Christus Zeichen für Christus selbst wie Instrument seiner vergegenwärtigenden Selbstmitteilung in der Welt. Als Geheimnis ist die Kirche gleichsam wirksames Zeichen der Nähe Gottes in Jesus Christus durch das Wirken des Heiligen Geistes. Dieser Grundgedanke wird dann von „Lumen gentium“ unter dem Begriff von der Kirche als communio im Sinn der Eucharistie feiernden Gemeinschaft entfaltet. (3.) Die Kirche ist als das von Christus gestiftete Sakrament Ort des ganzen sakramentalen Lebens der Gläubigen. In dieser Weise verweist die Kirche auf den Vollzug der Sakramente, wie diese selbst innerhalb der Kirche zur Verwirklichung gelangen. So bildet die Kirche selbst eine lebendige sakramentale Wirklich-

 29 So die Ausführungen von M. Böhnke, Die komplexe Wirklichkeit

der Kirche als pneumatologisches Problem, in: Cath(M) 61 (2007) 264-278.

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keit.30 „Lumen gentium“ entfaltet diesen Gesichtspunkt unter dem Begriff vom Volk Gottes.31 Insoweit erweist sich der Sakramentsbegriff als weit genug, die Vorstellungen vom Leib Christi, Volk Gottes, Communio sinnvoll zu integrieren.32

4. Die konkrete Existenzform der Kirche. Elemente und Güter der Heiligung Die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ hat für die ekklesiologische Fragestellung mit ihren Differenzierungen im Kirchenbegriff eine signifikante Unterscheidung eingeführt. Diese hatte sich schon einige Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil angedeutet. Die Enzyklika Pius XII. von 1943 „Mystici corporis“, welche das sakramentale Kirchenverständnis der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ vorbereitete, entwickelte neben der Lehre von der Kirchengliedschaft, in der wesentliche Gedanken Kardinal Bellarmins kirchenamtlich aufgenommen werden,33 die These vom Votum Ecclesiae,34 also jenen Gedanken vom unbewussten Sehnen und Verlangen auf den mystischen Leib des Erlösers für all diejenigen außerhalb der sichtbaren katholischen Kir 30 Vgl. W. Kasper, Die Kirche als universales Sakrament des Heils,

in: ders., Theologie und Kirche, Mainz 1987, 245-251. 31 LG 9-17. 32 Mein eigener in Anm. 26 genannter Versuch einer Ekklesiologie in

ökumenischer Perspektive suchte die sakramentale Denkstruktur auf der Grundlage einer eucharistischen Communio-Eklesiologie durchzubuchstabieren. 33 DH 3802. Vgl. dazu K. Rahner, Die Gliedschaft in der Kirche nach der Lehre der Enzyklika Pius XII. „Mystici Corporis Christi“, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 10: Kirche in den Herausforderungen der Zeit. Studien zur Ekklesiologie und zur kirchlichen Existenz. Bearb. v. J. Heislbetz u. A. Raffelt, Freiburg i.Br. 2003, 3-71. 34 DH 3821.

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che. Diese Bezugnahme auf die Kirche als den mystischen Leib Jesu Christi ist nun entscheidend. Denn dieser Gedanke kann nur verwendet werden, wenn er die Unterscheidung von physischem Leib – das ist der auferstandene Christus – zum gesellschaftlichen Leib Christi mit sich führt.35 Diese Differenzierung erlaubt nun überhaupt erst, von einem Sehnen und Verlangen derer zu sprechen, die nicht dem gesellschaftlichen Leib Christi angehören und damit die Einheit nicht wahren, dennoch aber auf persönliche Weise ihrem wahrhaftigen Streben nach Christus selbst Ausdruck verleihen. Weil Christus selbst und sein Heiliger Geist die gesellschaftliche Ordnung immer überragen und sie letztlich tragen, ist die gesellschaftliche Ordnung der Kirche und ihre Einheit auf das übernatürliche Prinzip, nämlich den Heiligen Geist, bezogen. Das gesellschaftliche Gefüge dient dem Heiligen Geist zum Aufbau des mystischen Leibes Christi. Das ist dann bereits die Aussage von „Lumen gentium“ Nr. 8, eine der komplexesten Aussagen der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“. Hier erfüllt der Subsistenzbegriff („Subsistit“) eine entscheidende Funktion, es ist die ontologische Brücke zwischen dem mystischen Leib Christi, der Gegenstand des Glaubens ist, und dem gesellschaftlichen Gefüge der Kirche mit ihren Institutionen. Das „Est“ wäre hier unangemessen, denn es könnte diese Unterscheidung zwischen Christus und der Kirche nicht aussagen. Freilich bilden der mystische Leib und das gesellschaftliche Gefüge der Kirche eine komplexe Wirklichkeit, aber die Verbindung zwischen beiden Bereichen muss per viam analogiam vollzogen werden. Nur so ist die Unterscheidung keine Trennung, aber auch keine vollständige, und zwar ununterscheidbare Beziehung. Warum ist diese Unterscheidung notwendig?  35 DH 3809f.

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Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich diese neue Perspektive als eine notwendige, wenn auch nicht allein hinreichende Differenzierung im ekklesiologischen Selbstverständnis. Natürlich ist von der Kirche Jesu Christi die Rede. Sie ist eine einige und einzige, und zwar als Mysterium in und durch Christus.36 Die ekklesiologische Differenzierung setzt genau da an, wo ein sakramentalgeschichtliches Verständnis der Kirche eine Unterscheidung im Verhältnis von verborgener, die Kirche als Geheimnis als Ganze betreffend, und der sichtbaren Kirche als irdischer Institution einfügt. Diese auf dem Gedanken der Analogie beruhende Differenzierung führt eine Öffnung herbei und stellt zugleich eine epochale Wende im Verständnis und Verhältnis der katholischen Kirche zu den von ihr getrennten Kirchen und Gemeinschaften dar. So könnte man, um in einem Bild zu sprechen, darauf hinweisen, dass gerade die durch das Konzil erneuerte Ekklesiologie, das sakramental-symbolische Verständnis von Kirche, der Nagel ist, an dem die ganze Ökumene hängt. Die ekklesiologischen Fragen stehen damit naturgemäß im Vordergrund der Interpretation des Ökumenismusdekretes. Die ganze Tragweite dieser grundlegenden Entscheidung des Konzils wird aber erst nach und nach klar. Entscheidend geht es um die Frage, ob das „subsistit“ aus „Lumen gentium“ Nr. 8 als Öffnungsklausel in sprachlicher und begrifflicher Differenzierung im Kontext der erneuerten Ekklesiologie verstanden werden kann. Dabei hängt die Interpretation nicht am lateinischen „subsistit“ allein, entscheidend ist vielmehr der ekklesiologische Rahmen, der die Substanz des ekklesiologischen Denkens des Zweiten Vatikanischen Konzils enthält. Das in der ökumenischen Debatte weithin als Schlagwort geführte und ekklesiologisch umstrittene „subsistit“  36 UR 2: unitatis Ecclesiae sacrum mysterium.

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bezieht sich dem Wortlaut nach auf einen Passus aus der Kirchenkonstitution Lumen gentium: „Haec Ecclesia … subsistit in Ecclesia catholica“ (LG 8). Dem in der dritten Sitzungsperiode 1964 von der Mehrheit der Konzilsväter angenommenen Endtext der Kirchenkonstitution gingen zahlreiche Schemata voraus, in denen es noch geheißen hatte: „Haec igitur Ecclesia … est Ecclesia Catholica“. In der letzten Fassung wurde das „est“ durch ein „subsistit“ ersetzt, nachdem die Theologische Kommission sich für das einfache „subsistit in“ entschieden hatte. Die Debatten während des Konzils zeigen deutlich, dass das „subsistit“ gewählt wurde, um die Aussage über die Existenz der Elemente der Heiligung und der Wahrheit außerhalb des sichtbaren Gefüges der katholischen Kirche bestätigen zu können. Darin kommt die Intention des Konzils zum Ausdruck, zwei grundsätzliche Auffassungen miteinander zu verknüpfen, die durch das ökumenische Problem gestellt sind: (1.) Christus hat eine einige und einzige Kirche gegründet (una et unica ecclesia), als sichtbares Gefüge auf Erden. (2.) Außerhalb ihres sichtbaren Gefüges gibt es vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit. Es besteht heute in der Forschung weithin Übereinstimmung darüber, dass mit der Entscheidung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das „subsistit“ auch über den ekklesialen Status nichtkatholischer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften mitentschieden wurde. Ist die Kirche im Sinne des sakramentalen Verständnisses eine komplexe Wirklichkeit, kann von ihr auf der Ebene der Sichtbarkeit ausgesagt werden: „Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht (subsistit) in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird.“ Die Analyse dieser Textpassage zeigt vier entscheidende Merkmale ihrer konkreten Existenzweise auf: (1.) Die eine Kirche Jesu 139

Christi existiert in geschichtlicher Konkretheit; sie findet ihre konkrete Gestalt in der katholischen Kirche. Hier ist sie „strukturell vollständig verwirklicht“37 – integral, wie UR 22 sagt. (2.) Die katholische Kirche ist nicht schlechthin – ununterscheidbar – identisch mit der einen Kirche Christi, sie existiert in einer grundlegenden, wesensmäßigen, substanziellen Übereinstimmung mit ihr. Das Sein der Kirche Jesu Christi ist, um ein Wort von J. Ratzinger aufzugreifen, freilich immer größer als die konkrete Existenz der katholischen Kirche.38 (3.) Die eine Kirche Christi ist wahrhaft anwesend in den Ortsgemeinschaften der Gläubigen, die in Verbundenheit mit ihren Bischöfen selbst Kirchen heißen (LG 26). Die vom Nachfolger Petri und den Bischöfen in Gemeinschaft geleitete Kirche existiert konkret also „in und aus den Teilkirchen“ (LG 23). Die eine Kirche realisiert sich in den verschiedenen von Bischöfen geleiteten Kirchen, die untereinander eine einträchtige Vielfalt von Ortskirchen darstellen. Das „subsistit“ begründet insofern die Gemeinschaft der vielen Teil-Kirchen. (4.) Das „subsistit“ begründet die nachfolgende Aussage über die ekklesialen Elemente, auch außerhalb der katholischen Kirche. In dieser Sicht stellt das „subsistit“ eine ekklesiologische „Öffnungsklausel“ (Lothar Ullrich) dar. Die hier erkennbare Relationalität im Kirchenverständnis lässt Raum, um das Kirche-Sein der von Rom getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zu erfassen und zu bewerten. Auch außerhalb der katholischen Kirche kann von der „Gegenwart des Ekklesialen“39 gesprochen  37 M. Kehl, Die Kirche und die Kirchen (Anm. 28), 124. 38 So J. Kardinal Ratzinger in einem Artikel der Frankfurter Allgemei-

nen Zeitung: Freitag, 22. September 2000, Nr. 22, 51. 39 Notifikation der Kongregation für die Glaubenslehre zu dem Buch

„Kirche: Charisma und Macht. Versuch einer militanten Ekklesiologie“ von Pater Leonardo Boff OFM. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1985 (VApS 67), 6.

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werden; auch außerhalb der katholischen Kirche gibt es „Kirchenwirklichkeit“, es besteht außerhalb kein „kirchliches Vakuum“.40 Im „subsistit“ liegt somit das ganze ökumenische Problem verborgen. Begriffsgeschichtlich betrachtet, gelangt das lateinische „subsistere“ infolge des christologischen und trinitätstheologischen Konflikts im 5. Jahrhundert zu philosophischer und theologischer Bedeutung. Das Verb „subsistere“ meint „anhalten, stehenbleiben, unter etwas stellen“.41 Im Mittelalter bildet sich als grundlegende Bedeutung das Charakteristikum heraus: als Subjekt existieren. Subsistenz zeigt das selbstständige Sein des konkreten Subjektes an. Nach Thomas von Aquin bezeichnet Subsistenz den Akt, mit dem Wesen oder Natur seine Existenz erhält.42 Karl Rahner stützt sich schließlich in seiner Neuformulierung der kirchlichen Trinitätslehre auf den Begriff der Subsistenz und bringt mit ihm die Existenzweise des einen göttlichen Wesens in drei distinkten Subsistenzweisen zum Ausdruck. Der Ausdruck „Subsistenz“ will somit keine Multiplikation des Wesens Gottes nahelegen, aber die konkrete Existenz des einen Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist aussagen. Das „subsistit“ will deshalb, ekklesiologisch betrachtet, auch keine Multiplikation der Kirche, sondern ein dynamisches Beziehungsgefüge zwischen der Einheit der Kirche und der Existenz ekklesialer Elemente zum Ausdruck bringen. Das deutsche Wort „verwirklichen“, welches das lateinische „subsistit“ nur unvollkommen wiedergibt, weist auf diese dynamische Komponente hin. „Subsistenz“ und „Elemente“ stehen in einer dynamischen  40 Enzyklika „Ut unum sint“ von Papst Johannes Paul II. über den

Einsatz für die Ökumene. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1995 (VApS 121), Nr. 13. 41 Ch. Horn, Art. Subsistenz; in: HWP 10 (1998) 486-493. 42 „Subsistentia autem idem est quod res subsistens“ (Sth III, 2,3).

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Beziehung zueinander.43 So verstanden, markiert das „subsistit“ die bleibende Aufgabe der katholischen Kirche, trotz aller konfessioneller Ungleichartigkeit und bestehender dogmatischer Differenzen ihr Verhältnis zu nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften auf dem Weg des ökumenischen Dialoges zu klären. Eine einfache „Rückkehr-Ökumene“ hat das Konzil mit dieser Grundsatzentscheidung über das „subsistit“ verworfen.

5. Die Kirche als Communio. Die ökumenische Bedeutung der katholischen Ekklesiologie Die Herausforderung durch das sakramentale Kirchenverständnis besteht in der Aufgabe, Konsequenzen für die ökumenische Fragestellung zu ziehen, und zwar im Blick auf die von der katholischen Kirche getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, mit denen keine Kirchengemeinschaft besteht. Das „subsistit“ zielt auf die reale Existenzweise der Kirche und öffnet zugleich den Blick auf sogenannte ekklesial-sakramentale Strukturelemente, die das Sein der Kirche in geschichtlichen und realsymbolischen Vollzügen definieren. Das heißt: Es sind Elemente der Wahrheit und der Heiligung, aus denen die Kirche insgesamt erbaut wird. Die finden sich dann auch außerhalb der katholischen Kirche, wenn auch nicht, so das römisch-katholische Selbstverständnis, integral in Fülle, sondern mit Mängeln behaftet.44 Um diese Aussage allerdings richtig einzuordnen  43 Vgl. Notifikation der Glaubenskongregation (Anm. 39), 6. 44 So sagt es dann die Glaubenskongregation „voll nur“: Kongregati-

on für die Glaubenslehre, Erklärung „Dominus Iesus“ über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche. Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über

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und zu verstehen, muss man darauf verweisen, dass auch die katholische Kirche die ihr eigene Katholizität aufgrund der Spaltungen der Christen nicht voll wirksam werden lassen kann, wie das Ökumenismusdekret ausführt.45 Ja mehr noch, dies bedeutet auch für die Kirche „eine Wunde“, die sie daran hindert, „ihre Universalität in der Geschichte voll zu verwirklichen“.46 Darüber hinaus bleibt auch das legitime geistliche, theologische und liturgische Erbe der verschiedenen theologischen Traditionen zu berücksichtigen, das zur vollen Katholizität und Apostolizität der Kirche hinzugehört.47 Das ist zweifellos eine ekklesiologische Bewertung nichtkatholischer Kirchen und Gemeinschaften, die im ökumenischen Dialog weiterhin zu klären ist. Das Ökumenismusdekret entwickelt im Anschluss an die Aussagen von „Lumen gentium“ eine realistische ökumenische Perspektive auf folgender Grundlage: Glaube und Taufe bilden die Grundvoraussetzungen der in Christus gestifteten Gemeinschaft unter all denen, die zu Recht den Namen Christi tragen.48 Deshalb richtet sich der Anspruch aller Getauften – zunächst christologisch – auf das Bekenntnis zu Jesus Christus selbst. Er selbst trägt das wahre Erbe der Kirche. Deshalb führt die Taufe in den wahren Leib Jesu Christi. Der christologischen Grundaussage folgt die ekklesiologische, und nicht umgekehrt. Das bedeutet: Wer in rechter Weise, auch außerhalb der sichtbaren Kirche, getauft wurde,  45 46

47 48

die Kirche. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 42007 (VApS 148), Nr. 16. UR 4. Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als Communio. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1992 (VApS 107), Nr. 17. UR 17. UR 3.

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gehört zu Christus und zu seiner Kirche, dieser Christ steht damit in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche. Der Hinweis auf die Elemente und Güter der Heiligung und der Wahrheit, die auch außerhalb der katholischen Kirche existieren können, lässt sich weiter differenzieren. Hierzu gibt das Ökumenismusdekret einen entscheidenden Hinweis und insoweit erweist sich dieser Text als dritter entscheidender Referenztext nach LG 1 und LG 8 für die Klärung der ekklesiologischen Problematik in ökumenischer Perspektive. Es heißt nämlich: aus diesen Elementen der Heiligung und der Wahrheit wird letztlich die Kirche erbaut, und zwar, sowohl was das innere Geheimnis der Kirche ausmacht wie auch ihre sichtbare Verfassung, d.h. letztlich all das, was von Christus ausgeht und zu ihm zurückführt: „das gehört rechtens zu der einzigen Kirche Christi“.49 Man sieht, worauf diese Argumentationsfigur hinausläuft: Das Kirche-Sein erschließt sich nicht allein über die sichtbare äußere Gestalt, sondern vom mysterialen Charakter der Kirche als Ganzer her. In Christus ist sie Zeichen und Werkzeug der Gemeinschaft mit Gott. So umfasst die Kirche als eine einzige komplexe Wirklichkeit sichtbare Elemente und innere Gaben des Heiligen Geistes, nämlich das geschriebene Wort Gottes, Gnade, Glaube, Hoffnung und Liebe. Insoweit können die von Christus ausgehenden Elemente und Güter der Wahrheit und der Heiligung berechtigterweise auch auf andere, von der  49 UR 3. Der Text lautet: „Hinzu kommt, dass einige, ja sogar viele

und bedeutende Elemente oder Güter, aus denen insgesamt die Kirche erbaut wird und ihr Leben gewinnt, auch außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche existieren können: das geschriebene Wort Gottes, das Leben der Gnade, Glaube, Hoffnung und Liebe und andere innere Gaben des Heiligen Geistes und sichtbare Elemente: all dieses, das von Christus ausgeht und zu ihm hinführt, gehört rechtens zu der einzigen Kirche Christi.“

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katholischen Kirche getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften angewendet werden. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die hier mit dem Begriff der „Subsistenz“ beschriebene ekklesiologische Verhältnisbestimmung – Joseph Ratzinger spricht von einer ontologischen Brücke zu der Existenz anderer Kirchengemeinschaften50 – entschieden in die Perspektive des Gemeinschaftsgedankens gerückt.51 Das Konzil hat dafür den in verschiedenen Bezügen und Qualifikationen verwendeten Begriff der Communio (Gemeinschaft) herangezogen. Er kann heute als ein weiterer Schlüsselbegriff der Ekklesiologie des II. Vaticanums bezeichnet werden, der insbesondere die Materie der Gemeinschaft im sakramentalen Leben normiert.52 Ansatzpunkt für das hieraus zu entfaltende Konzept von Gemeinschaft ist das Verständnis des neutestamentlichen und in der patristischen Theologie verwendeten Wortes von der Koinonia: „Gemeinschaft (communio) entsteht durch Teilhabe (participatio) an Jesus Christus“ ist die Kurzformel hierfür. Insoweit ist der griechische Begriff „koinonia“ weiter als der lateinische Begriff „communio“.53 Er umfasst sowohl die Bedeutung von Teilhabe (participatio) wie Gemeinschaft (communio). Von dieser Leitperspektive aus betrachtet erscheint die ekklesiale Wirklichkeit im Licht des eucharistischen Mysteriums (communio eucharistica). In diesem Sinne spricht das Ökumenismusdekret zu Recht von der „ursprünglichen und vollständigen Wirklichkeit (substantia) des eucharistischen Myste 50 J. Cardinal Ratzinger, Weggemeinschaft des Glaubens. Kirche als

Communio. Festgabe zum 75. Geburtstag, Augsburg 2002, 207f. 51 Vgl. hierzu insgesamt meine in Anm. 26 genannte Studie. 52 Vgl. M. Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würz-

burg 1992; J. Meyer zu Schlochtern, Sakrament Kirche. Wirken Gottes im Handeln der Menschen, Freiburg i.Br. 1992. 53 Grundlegend ist hierfür LG 7.

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riums“.54 Anwendung findet diese so verifizierte Idee der Communio in verschiedenen ekklesialen Kontexten.55 Sowohl die Frage nach der Kirchenzugehörigkeit wie die Frage des Verhältnisses der getrennten Christen zur katholischen Kirche werden mit dieser Grundkonzeption verbunden. Die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ spricht von Graden der Zugehörigkeit und unterscheidet die volle Eingliederung des katholischen Gläubigen von der Verbundenheit mit der katholischen Kirche.56 Das Ökumenismusdekret gebraucht im selben Problemkontext allerdings auch den Begriff der Communio, um die Verbundenheit der getrennten Christen mit der katholischen Kirche auszudrücken: communio cum Ecclesia catholica, etsi non perfecta.57 Gleichzeitig sind nicht nur einzelne Individuen im Blick, sondern auch die Gemeinschaften und Kirchen, denen sie angehören. Insoweit verbindet vor allem das Ökumenismusdekret – und das ist programmatisch zu lesen – den Begriff der Communio mit der Frage nach dem Verhältnis der katholischen Kirche zu den von ihr getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Deshalb kommt es zu dem bis dahin in der Tradition nicht geläufigen Begriff der communio plena bzw. communio non plena. Die entscheidende ökumenische Stoßrichtung erhält diese Communio-Idee dadurch, dass sie die klassische Einheitsvorstellung, die wohl im Ganzen in Geltung bleibt, neu ausrichtet und gewichtet. Die neuere Ausrichtung wird man auf die Kurzformel bringen dür 54 UR 22. 55 Hierbei erfährt die Communio-Vorstellung freilich selbst verschie-

dene Brüche innerhalb unterschiedlicher ekklesiologischer Traditionen. Vgl. hierzu insbes. J. Werbick, Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg i.Br. 1994, bes. 1115. 56 LG 15. 57 UR 3.

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fen: Einheit kann von nun an verstanden werden als Gemeinschaft, als communio ecclesiarum. Das Entscheidende an diesem Gedankengang ist die folgende Erkenntnis: Maßstab der ekklesiologischen Beurteilung sind die ekklesialen Strukturelemente, die, von Christus eingesetzt, zu den Grundelementen des Kircheseins zählen. Hier ist entscheidend, dass die Kirche nicht als geschlossene sichtbare Heils-Anstalt ins Feld geführt wird, sondern als Mysterium des Glaubens in den Blick kommt, welches sichtbare und verborgene Elemente enthält. Dazu zählen im Kern die Verkündigung des Evangeliums, der Glaube der Kirche, die Sakramente, Taufe und Eucharistie und das geistliche Amt in der Kirche nebst Bischofsamt und Papstamt. In ihnen und aus ihnen ist die Kirche wirksam und zeichenhaft lebendig. Im ökumenischen Prozess kommt es darauf an, diese Elemente der Wahrheit und der Heiligung gegenseitig zu entdecken und miteinander teilzuhaben. Das ist auch der Vorschlag des Ökumenischen Rates der Kirchen in der sog. Toronto-Erklärung von 1950, wenn es dort heißt: „Allgemein wird in den verschiedenen Kirchen gelehrt, dass andere Kirchen bestimmte Elemente der wahren Kirche haben, die in manchen Traditionen vestigia ecclesiae genannt werden. Zu diesen Elementen gehört die Verkündigung des Wortes, die Auslegung der Heiligen Schrift und die Verwaltung der Sakramente. Diese Elemente sind mehr als bloße Schatten des Lebens der wahren Kirche.“58 Der Weg der gegenseitigen Anerkennung der Kirchen läuft so über die gegenseitige Wahrnehmung und Anerkennung dieser wahren Elemente der Kirche. Die Lehre vom „subsistit“ be 58 Die Kirche, die Kirchen und der Ökumenische Rat der Kirchen, in:

Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung. Im Auftrag des Referates für Glauben und Kirchenverfassung hg. v. L. Vischer, München 1965 (TB 30), 258.

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gründet die Existenz dieser für die Kirche und ihr Sein wahrhaftigen Elemente und Güter. Es kommt deshalb im ökumenischen Dialog darauf an, die Diskussion über das „subsistit“ zu führen, und zwar in allen Kirchen. Die These vom „subsistit“ ist keineswegs eine die Ökumene hemmende Vorstellung, sondern ihre einzige Möglichkeit. Insoweit ist das „subsistit“ keine apologetische Abgrenzungs-, sondern eine ökumenische Öffnungsklausel. Sie ist zugleich eine Chiffre für die ökumenische Herausforderung auf dem Weg zur Einheit der Kirche Jesu Christi.

ZUSAMMENFASSUNG Gegenüber den seit der Reformationszeit einsetzenden apologetisch-kontroverstheologischen Sicherungen des Kirchenverständnisses suchte die katholische Theologie des 19. Jahrhunderts durch Rückgriff auf die patristische Theologie den Begriff der Kirche als Mysterium für die noch auszuarbeitende Ekklesiologie zugrunde zu legen. Das Zweite Vatikanische Konzil stellt das katholische Kirchenverständnis dann ganz unter den Begriff des Mysteriums und sucht mithilfe einer erstmals formulierten sakramentalen Denkform die der Theologie bekannten Kirchenvorstellungen vom Leib Christi, Volk Gottes, von der Kirche als Communio zu integrieren. Dieses sakramentale Kirchenverständnis bietet auch die Grundlage für die Ausarbeitung einer ökumenischen Verhältnisbestimmung der katholischen Kirche zu den von ihr getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften.

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Geistgewirktes Mit-Sein Methodistische Ekklesiologie als Ausdruck globaler Verbundenheit Michael Nausner „Ein zu selbstbewusster und konfessionszentrierter Methodist ist fürchterlich langweilig für alle außer seiner Familie und seinen Gesinnungsgenossen.“ Albert C. Outler (1908-1989)1

In diesem Artikel nähere ich mich dem Thema methodistischer Ekklesiologie unter dem doppelten Aspekt der Vernetztheit und der Globalität, zwei Eigenarten methodistischen Kircheseins, die eine wichtige Rolle spielen und die ich für unsere heutige gesellschaftliche Situation für zentral erachte.2 Ich beginne mit einigen philosophischen und pneumatologischen Vorüberlegungen.

 1 A.C. Outler, Do Methodists Have a Doctrine of the Church?, in:

D. Kirkpatrick (Hg.), The Doctrine of the Church, London 1964, 27. (Diese und alle weiteren Übersetzungen aus dem Englischen stammen vom Autor.) 2 Dieser Ansatz steht also in einem Spannungsverhältnis zum EKDImpulspapier „Kirche der Freiheit“, wo Wolfgang Huber in seinem Vorwort schreibt: „Der Dialog der Religionen, die weltweite Ökumene, die internationale Vernetzung der evangelischen Kirche in Deutschland und das gemeinsam verantwortete weltweite Gerechtigkeitshandeln – um einige wichtige Beispiele zu nennen – werden in diesem Text nicht eigens thematisiert“, in: Kirche der Freiheit, Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert, Hannover 2006, 8. Dies sind Themen, deren Behandlung ich für die heutige Zeit als zum Kerngeschäft der Kirche gehörend ansehe, vor allem die letzten beiden für diesen Artikel zentralen Themen.

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Singulär plural sein Im Sommer 1995 schrieb der Straßburger Philosoph Jean-Luc Nancy einen Essay mit dem Titel Singulär plural sein.3 Zur Zeit des rasenden Krieges in Bosnien und anderer blutiger „Konflikte zwischen Identitäten“4 reflektiert er ausgehend von Martin Heideggers Frühwerk Sein und Zeit die grundlegende Bedeutung des Mitseins. Dem Heideggerschen Modell des Existenzialismus wirft er vor, „dem Mitsein nicht genügend Gewicht beigemessen zu haben“ und setzt ihm „die groben Umrisse ... einer Existenzialanalytik des Mitseins“ entgegen.5 „Die Existenz jedoch ist mit“, schreibt Nancy, „oder es existiert nichts“.6 Die Gemeinschaftlichkeit des menschlichen Seins ist nichts, was nachträglich zum Individuellen dazukommt, sondern grundlegend. „Unser Mit-sein, als Zu-mehreren-sein ... ist keineswegs die sekundäre ... Zerstreuung eines primären Wesens ... Die Pluralität des Seienden steht am Grund des Seins.“7 In diesem Mitsein, das per definitionem plural ist, entsteht Sinn und nicht in Individuen an sich. Es ist ein Sinn, der demgemäß nicht von Einzelnen verwaltet werden kann, sondern sich dynamisch in einem relationalen Gewebe immer neu ereignen muss. Und nur in der kontinuierlichen Rückbesinnung auf diese fundamentale Pluralität unseres Seins erwächst Sinn. Er erweist sich sozusagen zwischen uns als Menschen und trotzt somit einer Vereinnahmung durch Individuen. „Denn Sinn gibt es nie für einen“, meint Nancy, „sondern immer von einem  3 J.-L. Nancy, Singulär plural sein, Berlin 2004. 4 Ebd., 10. 5 Nachwort von U. Müller-Schöll, in: ebd., 173. 6 Ebd., 23. 7 Ebd., 34.

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zum anderen, immer zwischen dem einen und dem anderen“.8 Nun ist Jean-Luc Nancy weder bekennender Christ noch Theologe.9 Dennoch dient mir seine Existenzialanalytik des Mitseins als inspirierender Anstoß für ekklesiologische Überlegungen. Denn in unserer westlichen Welt, in der kollektive Identität so selbstverständlich als exklusiv und polarisierend verstanden wird, braucht es Gemeinschaftsmodelle, die sich als Alternativen zu solchen Vereinfachungen anbieten. Ich bin überzeugt davon, dass das Wesen der Kirche als geistgeleiteter Gemeinschaft eine solche Alternative darstellt. Wie verstehen und leben wir also Kirche in einer Umwelt, in der wir täglich mit der Rhetorik einander strikt ausschließender Gruppen konfrontiert sind: Einheimische und Ausländer, Christen und Muslime, Katholiken und Protestanten, Heterosexuelle und Homosexuelle? Wie verstehen und leben wir Kirche in einer Kultur, in der mit großer Selbstverständlichkeit unabhängiger Individualismus als das Ziel par excellence für menschliche Entwicklung dargestellt wird? Wie verstehen und leben wir Kirche in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der scheinbar immer irrsinniger auf die Qualität und Verrechenbarkeit der Leistung Einzelner geachtet wird? Wenn wir, wie Nancy behauptet, als Einzelne plural konstitutiert sind, dann ließe sich gerade auch für christliche Gemeinschaft sagen, dass sie nicht eine sekundäre Konsequenz individuellen Daseins darstellt, sondern einen Ausgangspunkt für die Beschreibung christlichen Lebens in seiner Fülle. Ekklesiologie wäre dann derjeni 8 Ebd., 54. 9 Er ist sich allerdings dessen bewusst ist, dass er das Risiko eingeht,

einen christlich-idealistisch-humanistischen Akzent anklingen zu lassen; vgl. ebd., 9.

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ge Diskurs, der aus christlicher Perspektive diese unsere grundlegende Verfasstheit als singulär plural behandelt.

Geistgewirktes Mit-Sein Dieses konstitutive Mit-Sein unseres Lebens als Individuen verstehe ich als Ausdruck dafür, dass wir Geistwesen sind. Das Wirken des Geistes zwischen uns, im Bereich des Mit, führt uns zur Fülle gottgewollten Lebens. So fängt das Leben in der Nachfolge an, und so erfüllt es sich. Nie ist es ein isoliertes Leben Einzelner, sondern ein Leben des Miteinanders, ja des Zusammengebundenseins durch den Heiligen Geist. Nicht umsonst ist im Apostolischen Glaubensbekenntnis von der Kirche im dritten Artikel vom Heiligen Geist die Rede. Jesus selbst hat die Taufe mit dem Heiligen Geist bzw. den Empfang der Kraft des Heiligen Geistes für das gemeinsame Leben in der Nachfolge als konstitutiv erklärt (Apg 1,5.8). In geistgewirkter Verbundenheit wurzelt Kirchesein, in diesem pneumatologischen Miteinander kommt, wenn man so will, das konstitutive Mit-Sein unserer Existenz zu seiner Erfüllung. Der anglikanische Bischof von Winchester John V. Taylor hat dieses ekklesiologisch grundlegende Mit-Sein durch den Geist in den frühen 1970er-Jahren in seinem Buch The Go-Between God zum Ausdruck gebracht. Dort beschreibt er den Heiligen Geist als einen „Strom der Kommunikation, ein Dazwischen-Gehen“.10 Der Heilige Geist bringt das Mit unserer Existenz zum Schwingen und formt es zu einer lebendigen Gemeinschaft. Dabei gilt die Geisteskraft des DazwischenGehens nicht exklusiv einer Gruppe von Erwählten, son 10 J.V. Taylor, The Go-Between God. The Holy Spirit & the Christian

Mission, London 1972, 17.

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dern der ganzen Welt, sodass eine strikte Trennung zwischen Kirche und Welt nicht möglich ist. „Der Heilige Geist, der Dazwischengeher“, schreibt Taylor, „steht nicht nur zwischen einem Gläubigen und einem anderen Gläubigen, sondern zwischen Christen und jedem anderen Menschen, mit dem er die Gemeinschaft gegenseitigen Wahrnehmens teilt. Wäre dem nicht so, wäre die Grenze der Kirche ein Abgrund, wogegen wir sie ja als einen Ort der Begegnung kennen, wo neues Leben entsteht.“11 In diesem Verständnis von der Grenze der Kirche als Ort der Begegnung, wo neues Leben entsteht, als kreative Kontaktzone zur Welt, kommt ein grundlegender missiologischer Impetus kirchlicher Existenz zum Ausdruck. In seiner Überzeugung von der Unmöglichkeit der Abgrenzung der Kirche von der Welt ist Taylor von Dietrich Bonhoeffer beeinflusst, der in seiner Ethik schreibt, die Kirche sei „nicht dazu da, um der Welt ein Stück ihres Bereiches streitig zu machen“.12 Denn eine strikte Abgrenzung zwischen Kirche und Welt würde die Wirklichkeit dessen verleugnen, „dass Gott die ganze Welt in Christus mit sich versöhnt hat“.13 Kirchesein ist somit Ausdruck eines grundlegenden Mit-Seins einzelner Gläubiger, gleichzeitig aber auch eines Mit-Seins der Gläubigen mit der Welt. Das kommt auch in den Worten des Münchner Erzbischofs Reinhard Marx zum Ausdruck, der in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung im Februar 2008 den Satz gesagt hat: „Die Pfarreien sind das Tor der Kirche in die Gesellschaft.“14 Damit ist etwas ekklesiologisch Entscheidendes gesagt über die christliche Kirche.  11 Ebd., 151. 12 D. Bonhoeffer, Ethik, München 1949, 215. 13 Ebd., 217. 14 „Die Kirche muss stören“. Interview mit Erzbischof R. Marx, ge-

führt von M. Drobinski u. M. Maier-Albang, in: Süddeutsche Zeitung, 08.02.2008, 6.

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Sie ist nicht für sich selber da, sondern ist wie ein Tor zu den Menschen hin.15 Die Berufung der Kirche heraus aus der Welt dient letztlich der immer wieder neuen Verknüpfung und Vernetzung mit der Welt, hinein in die Welt. Kirche ist ekstatisch. Sie ist am meisten bei sich selbst, wenn sie bei anderen ist. Im Mit-Sein bewährt sie sich. Das ist mit dem Bild vom Tor in die Gesellschaft schön ausgedrückt. Die Kirche hat eben nicht nur ein Tor, sondern sie ist wie ein Tor. Die Verwirklichung gemeinschaftlichen Mit-Seins in der Kirche drückt sich in einer leidenschaftlichen und geistgewirkten Vernetzung und Verknüpfung zwischen Kirche und Welt aus.

Ekklesiologische Identität globaler Verbundenheit Von der Perspektive solchen Mit-Seins und geistgewirkter Verbundenheit her will ich mein Verständnis methodistischer Ekklesiologie darlegen. Das ist die erste Akzentsetzung, die ich vornehme. Es geht mir um die Hervorhebung des Relationalen dieser Tradition; es geht mir, um einen Begriff aus der Computerwelt zu bemühen, um ihre Konnektivität, das, was sich im methodistisch-theologischen Diskurs hinter dem aus dem Englischen stammenden Begriff Konnexio verbirgt. Die zweite Akzentsetzung ist diejenige auf die Globalität methodistischen Kircheseins.16 Denn es gehört zum grundle 15 Dass ein solches Verständnis für die weltweite United Methodist

Church (Deutsch: Evangelisch-methodistische Kirche) bis heute maßgeblich ist, spiegelt sich in dem von der Generalkonferenz 2000 angenommenen Motto Open Hearts – Open Minds – Open Doors, siehe: www.umc.org. 16 Bischof i.R. Rüdiger Minor spricht lieber von „welt“-weiter Kirche, da im Begriff „Welt“ auch theologische Dimensionen mitschwingen, die im Begriff „Globus“ fehlen, vgl. ders., Konnexionalismus

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genden Lebensnerv methodistisch-ekklesiologischer Existenz, sich global zu verstehen, und zwar nicht als eine zusätzlich wählbare Option,17 sondern als ein konstitutives Element gemeinschaftlichen Mit-Seins. Das ist ganz im Sinne des Evangelisten Lukas, der laut Rainer Dillmann den „ethnisch bestimmten Begriff“ des Gottesvolkes ausweitete und ihm „eine universale Dimension“ gab.18 Und diese Universalität gilt nicht nur übergreifend als Summierung von Einzelgemeinden, sondern ist konstitutiv für die Kirche, wo auch immer sie in Erscheinung tritt. „Kirche in ihrer Universalität ist deshalb mehr als der Zusammenschluss einzelner, eigenständiger Ortskirchen,“ schreibt Dillmann mit Verweis auf 1 Kor 1,2. „In den konkreten Ortsgemeinden tritt die eine Kirche sichtbar in Erscheinung.“19 Die Ortsgemeinde wäre demnach nicht ein isolierbarer Teil der weltweiten Kirche, sondern der sichtbare Ausdruck eines grundlegenden Mit-Seins, einer globalen Vernetztheit.

 und Katholizität, in: EmK Geschichte 28 (2/2007) 7-14, hier 8. Ich würdige diese Perspektive, will aber am Sprachgebrauch der Globalität festhalten, um ekklesiologische Globalität als Alternative zu den ausgrenzenden Mechanismen ökonomischer Globalisierung im Blick zu behalten. 17 In seinen historischen Studien betont David Hempton die Internationalität als ein unerlässliches Kennzeichen methodistischer Ekklesiologie: „any account of Methodism that failed to take into account its international dimensions was by definition incomplete, perhaps even dangerous“, in: ders., Methodism. Empire of the Spirit, New Haven-London 2005, 5. 18 Vgl. den Beitrag von R. Dillmann in diesem Band. 19 Ebd. Ein solches Verständnis spiegelt sich auch in der Formulierung in Artikel 130 der Kirchenordnung der EmK, in der von der Kirche als konnexionalem Volk gesagt wird: „Ihr Horizont ist weltumspannend, ihr Einsatz ortsbezogen“, in: Verfassung, Lehre und Kirchenordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche, Frankfurt a.M. 2005, 74 (fortan VLO).

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Identität als Verbundenheit So gründet kirchliche Identität in einer umfassenden Vernetzung, denn kirchliches Verbundensein wurzelt im Wirken der durch Jesus Christus sichtbar gewordenen und im Heiligen Geist fortlebenden göttlichen Liebe zur ganzen Welt. So ist Kirche nichts Geringeres als die sichtbar gewordene Liebe Gottes, wobei das Mit-Sein des/der Einzelnen nicht getrennt gesehen werden darf vom Miteinandersein aller Gläubigen. Was im Herzen eines Menschen beginnt, ist nicht isolierbar von der Dynamik der Gemeinschaft. Kirche, so könnte man somit sagen, ist der gemeinschaftliche Ausdruck der Herzen verändernden Macht göttlicher Liebe. Und göttliche Liebe, die der ganzen Welt gilt, zielt auf globale Verbundenheit ab. Kirchliche Identität sehe ich deshalb auch als einen Ausdruck einer globalen Verbundenheit, der jegliche von innen her definierte Homogenität fremd sein muss.20 Identität und damit auch Differenz erweist sich somit nicht in erster Linie darin, wie kirchliche Gemeinschaft sich von anderen unterscheidet oder abgrenzt, sondern darin, mit wem sie in Verbindung steht und Verbindlichkeit praktiziert. Verbindlichkeit ist ein Wort, das dem in der methodistischen Tradition oft gebrauchten Begriff accountability nahekommt, womit das Wesen wechselseitiger Verantwortlichkeit im Verbund methodistischer Christen gemeint ist. Theologisch lässt sich dieses Verständnis von Identität als Verbundenheit an der Lehre von der Gottebenbildlichkeit festmachen. In der methodistischen Tradition, die via Anglikanismus auch bedeutende Einflüsse östli 20 Zum Thema Identität und Homogenität siehe H. Bedford-Strohm,

Pluralismus und Identität aus theologischer Sicht, in: M. Schreiner (Hg.), Vielfalt und Profil. Zur evangelischen Identität heute, Neukirchen-Vluyn 1999, 1-16.

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cher Theologie in sich aufgenommen hat, spielt der Gedanke der Gottebenbildlichkeit eine zentrale Rolle. Diese Gottebenbildlichkeit darf nicht als eine einfache Spiegelung des Göttlichen im Menschlichen oder gar als dem Menschen innewohnende Qualität missverstanden werden. Das Ebenbild Gottes, schreibt der methodistische Theologe Theodor Runyon, „ist weder eine Fähigkeit im Menschsein selbst noch eine Funktion, die unabhängig vom Schöpfer verwirklicht werden könnte, weil es in der Beziehung selber besteht“.21 Ebenbildlichkeit im Sinne einer Beziehung zu Gott weist auf die grundlegende Verbundenheit des Menschen als seine tiefste Identität hin. Und diese Ebenbildlichkeit gilt nicht nur für einzelne Menschen, sondern auch für die menschliche Gemeinschaft, wie die griechisch-orthodoxe Nonne Verna Harrison, die an einem methodistischen Seminar in den Vereinigten Staaten lehrt, aufgezeigt hat. In ihrer Lektüre der für John Wesley so einflussreichen kappadozischen Väter kommt sie zu dem Schluss, dass Gottebenbildlichkeit auch gemeinschaftlich verstanden werden muss. Christliche Gemeinschaft ist das Ebenbild der trinitarischen Gemeinschaft. Dies wurzelt in der Überzeugung, dass die gesamte „menschliche Gemeinschaft dazu berufen ist, Gottes Ebenbild zu tragen“.22

 21 Th. Runyon, Die neue Schöpfung. John Wesleys Theologie heute,

Göttingen 2005, 22-23. 22 N.V. Harrison, Serving and Being Served as Image of God, Vortrag

gehalten beim 12th Oxford Institute of Methodist Theological Studies im August 2007 in Oxford: http://www.oxford-institute.org/ docs/2007papers/2007-4Harrison.pdf, 10.

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Die globale Verbundenheit der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) Wie nun erweist sich dieser grundlegende Aspekt kirchlich-globaler Verbundenheit in der gelebten Wirklichkeit methodistischer Traditionen? Als jemand, der von methodistischer Kultur in einem halben Dutzend Ländern beeinflusst ist, muss ich diesen Plural der Traditionen verwenden. Bei aller globalen Vernetztheit sind die regionalen Unterschiede bedeutend. Denn die methodistische Bewegung, die zunächst als eine Erweckungsbewegung innerhalb der anglikanischen Kirche des 18. Jahrhunderts entstand, entwickelte sich vor allem nach der Bildung einer unabhängigen Kirche in den Vereinigten Staaten 1784 auf beiden Seiten des Atlantiks und dann weltweit sehr unterschiedlich. In ihrer gut 250-jährigen Entwicklung war sie geprägt von einer großen Anzahl von Verselbstständigungen, von denen wohl die Heilsarmee und die Pfingstbewegung die prominentesten sind, aber auch von einer Reihe von (Wieder)vereinigungen, von denen sicherlich die mittlerweile 40 Jahre alte Union mehrerer methodistischer Kirchenfamilien zur United Methodist Church die umfassendste und folgenreichste war. Auch die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland ist ein Teil dieser weltweiten Kirche. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen Kirchenvereinigungen mit anderen Konfessionen wie in Australien, Belgien, Indien, Italien, Japan, Kanada, den Niederlanden, Spanien und anderen Regionen. In Schweden scheint sich 2008 ein bereits in den 1960er-Jahren initiierter, aber erst jetzt verwirklichter Vereinigungsprozess zu vollziehen. Dort haben sich in den letzten Jahren Jugendverbünde und Theologische Seminare dreier Freikirchen vereinigt und die Vereini158

gung des Baptistischen Bundes, des reformierten Missionsverbundes und der Evangelisch-methodistischen Kirche zu einer gemeinsamen Kirchenföderation scheint trotz großer ekklesiologischer Unterschiede unmittelbar bevorzustehen. Ekklesiologische Verbundenheit führt also im Methodismus immer wieder zu einer Verabschiedung von exklusiv verstandener Identität.23 Diese Verbundenheit erschöpft sich jedoch nicht in einer Organisation kirchlich-struktureller Art. Sie hat vielmehr ihre Wurzeln in einer grundlegenden Verbundenheit kosmischer Art.

Kosmische Verbundenheit, die im Herzen ihren Niederschlag findet Ich verstehe den kosmischen Kontext göttlichen Wirkens als einen entscheidenden Ausgangspunkt für ein volles Verständnis methodistischer Ekklesiologie. Bereits im Neuen Testament hat christliche Gemeinschaft auch kosmische Dimensionen. So betont Rainer Dillmann ausgehend vom Christushymnus im Kolosserbrief, dass „Kosmos und Kirche ... miteinander in Beziehung gebracht“ werden und dass darin eine „notwendige Ergänzung“ besteht. Diese Ergänzung ist gerade im Methodismus vonnöten, wo die persönliche Herzensfrömmigkeit als charakteristisch für wesleyanisches Kirchesein verstanden wird. Dabei wird leicht vergessen, dass das erneuernde Schöpfungshandeln Gottes im Herzen mit  23 Treffend formuliert Michel Weyer in einem Artikel über methodis-

tische Ekklesiologie: „In ihrer ökumenischen Selbstverpflichtung geht also die EmK so weit, dass sie den Verlust ihres eigenen Lebens ins Auge fassen kann“, in: ders., Arbeitspapier zum Kirchenverständnis der EmK, Mittel- und Südeuropäische Zentralkonferenz, Budapest 2002, 7.

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dem Erneuerungshandeln im ganzen Kosmos zusammengehört. Vielfach wird der Anfang der methodistischen Bewegung mit dem lebensverändernden Erlebnis John Wesleys in der Aldersgate Street in London 1738 angegeben. Dort erfährt Wesley nach ausführlichen Kontakten mit einem deutschen Herrnhuter bei der Verlesung von Martin Luthers Vorrede zum Römerbrief eine seltsame Erwärmung seines Herzens. In der Tat ist die lebensverändernde Herzenserfahrung der Liebe Gottes bis heute ein Markenzeichen methodistischer Frömmigkeit geblieben. Dieser Blick nach innen ist wichtig, darf aber nicht auf Kosten des Blickes nach außen geschehen. Die Erfahrung der Herzensveränderung ist nämlich bisweilen allzu individualistisch interpretiert worden, was Methodisten immer wieder auch zu einer Weltfremdheit verführt hat, die Wesley selbst fremd war. Auch Theodor Runyon nimmt die Tradition der Herzenserfahrung als Kennzeichen methodistischer Frömmigkeit ernst, interpretiert sie aber aus einer schöpfungstheologischen Perspektive. In seinem Buch Die neue Schöpfung zeigt er, wie sich die Herzenserfahrung nicht von sozialer, ja von kosmischer Verbundenheit trennen lässt. Eine solche Erfahrung transzendiert das Subjekt und bringt das grundlegende Mit-Sein zum Ausdruck. Sie macht die Verbundenheit mit einer größeren sozialen Wirklichkeit lebendig, und damit ist sie auf andere hin ausgerichtet und kann nicht sozusagen im Herzen gehortet werden. Letztlich „ist echte Erfahrung Gottes“, schreibt Runyon, „nicht meine Erfahrung, sondern die Erfahrung des anderen, in dessen Leben ich durch die Gnade hineingenommen bin“.24 Im Sinne der göttlichen creatio continua beschreibt er diese innere neue Schöpfung als etwas, das nie isoliert in einem Herzen ge 24 Th. Runyon (Anm. 21), 177.

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schieht, sondern immer gleichzeitig am kosmischen Erlösungswerk Gottes teilhat. So betont Runyon: „Aus Wesleys Sicht hat jede echte Gotteserfahrung kosmische Dimensionen.“25 Was also Gott im Herzen wirkt, verändert einen Menschen grundlegend und verbindet ihn mit seinen Mitmenschen, ja mit dem ganzen Kosmos. Vor diesem theologischen Hintergrund kosmischer Verbundenheit will ich auch die strukturelle Verbundenheit methodistischen Kircheseins verstehen.

Zwischen soteriologischer und pragmatischer Verbundenheit Bevor ich aber zu den Details dieser strukturellen Verbundenheit komme, scheint mir ein Wort zu John Wesley als praktischem Theologen angebracht.26 Was heute in der Evangelisch-methodistischen Kirche als eine gründlich verfasste Struktur erscheint, hat seine Wurzeln in einem schlichten soteriologischen Interesse John Wesleys. Einerseits hielt er sich bis zu seinem Lebensende an die anglikanische Kirche, andererseits waren ihm kirchliche Strukturen nicht heilig. Von Anfang an kam er ins Gehege mit seiner Kirche, nicht zuletzt, weil er sich entgegen dem Parochialsystem der anglikanischen Kirche zum Reiseprediger berufen wusste. Kirchliche Strukturen müssen nach seiner Überzeugung verändert werden, wenn sie nicht mehr dem Ziel dienen, Seelen aus der Macht Satans zu Gott zu führen und sie aufzubauen in Ehrfurcht vor und Liebe zu Gott, wie er  25 Ebd., 180. Auf ähnliche Weise finden wir bei John V. Taylor diese

Zusammenschau vom Wirken der göttlichen Geistkraft im Herzen der Menschen und im Kosmos, vgl. J.V. Taylor (Anm. 10), 23. 26 Siehe R.L. Maddox, Responsible Grace. John Wesley’s Practical Theology, Nashville 1994.

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es in einem Brief von 1746 ausdrückte. So schreibt der methodistische Ökumeniker Geoffrey Wainwright: „Wesleys Einstellung zu ‚aller kirchlichen Ordnung’ war soteriologisch orientiert und recht pragmatisch in ihren Kriterien ... Diese Einstellung ist charakteristisch geblieben für den Methodismus, und es ist gut für unsere ökumenischen Partner, sich der Position bewusst zu sein, von der aus wir in einen Dialog einsteigen.“27 In dieser Kombination von soteriologischer und pragmatischer Ausrichtung zeigt sich sowohl die Stärke als auch die Schwäche methodistischer Ekklesiologie. Die Stärke liegt in der dynamischen Flexibilität, mit der von Anfang an Wege gefunden wurden, Menschen in Not das Heil in Jesus Christus zu vermitteln. Die Schwäche liegt in einer pragmatischen und zunächst nicht theologisch motivierten Kirchenstruktur. Den Grund dafür hat der eingangs zitierte methodistische Theologe Albert Cook Outler auf bis heute einflussreiche Weise bei einem Vortrag in Oxford 1962 dargelegt und dabei gleichzeitig einige bleibende Herausforderungen methodistischer Ekklesiologie formuliert. Warum tun sich gemäß Outler Methodisten so schwer mit der Lehre von der Kirche? Die Antwort ist: Schlicht und einfach deswegen, weil „die frühen Methodisten keine Kirche waren und keine Absichten hatten, eine zu werden“.28 Der frühe Methodismus war eine Erweckungsbewegung innerhalb der anglikanischen Kirche und entwickelte sich als solche in kritischer Solidarität mit anglikanischer Ekklesiologie. Outler sieht die Schwierigkeit einer Erstellung methodistischer Ekklesiologie darin, dass sein „ekklesiologisches Muster ... tatsächlich darauf abgestimmt [war], innerhalb einer umfassenden Umgebung der Katholizität zu funktionieren (womit ich meine, was ursprünglich mit die 27 G. Wainwright, Methodists in Dialog, Nashville 1995, 73. 28 A.C. Outler (Anm. 1), 12.

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sem Wort gemeint war: die effektive und universale christliche Gemeinschaft)“.29 In der entscheidenden Entstehungsphase ging es also nie um eine grundlegende ekklesiologische Identität, sondern es ging mit den Worten Outlers darum, „wie man ein evangelischer Orden (oder eine Gesellschaft) innerhalb einer ‚katholischen’ (oder quasi-katholischen) Kirche sein konnte, die sich hartnäckig weigerte, diesen Orden und sein Unternehmen zu unterstützen oder auch nur anzuerkennen“.30 Hier hört man Anklänge an die Geschichte der römisch-katholischen Kirche und deren kontinuierliches Ringen darum, um Reformation bemühte Orden als integrierten Teil des kirchlichen Organismus zu bewahren. Laut des letzten Dialogpapiers zwischen Katholiken und Methodisten soll es der Katholik Johann Adam Möhler gewesen sein, der bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Ähnlichkeit zwischen dem Beginn der methodistischen Bewegung und den Anfängen des Mönchtums in der frühen Kirche aufmerksam gemacht hat.31 Nach der Konvergenzerklärung Taufe, Eucharistie und Amt von 1982 in Lima ist dann vor allem im Anschluss an die ökumenische Vollversammlung in Nairobi 1986 diese Analogie als möglicher Ausgangspunkt für organische Einheit zwischen Methodisten und Katholiken weltweit angedacht worden.32 Solche Überlegungen erfuhren durch die Veröffentlichung der Erklärung Dominus Iesus  29 Ebd., 27. 30 Ebd., 13. 31 Die Gnade, die euch gegeben ist in Christus. Katholiken und Me-

thodisten denken weiter nach über die Kirche. Von Helmut Nausner besorgte Übersetzung des Dialogpapiers der 8. Dialogrunde zwischen Katholiken und Methodisten, noch unpubliziertes Dokument, § 29, 12. 32 Siehe dazu die ausgezeichnete Darstellung von D.M. Chapman, In Search of the Catholic Spirit. Methodists and Roman Catholics in Dialogue, Peterborough 2004, 145 u. 254.

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im Jahre 2000 einen entscheidenden Dämpfer, wo seitens des Vatikan den Kirchen, in denen der „gültige“ Episkopat und das eucharistische Mysterium nicht im römisch-katholischen Sinne verwirklicht sind, das Kirchesein „im eigentlichen Sinn“ abgesprochen wurde. Im britischen Methodismus ist das Bewusstsein, eine ecclesiola in ecclesia zu sein, bis heute noch viel lebendiger als in den USA. Die erlebte Spannung einer Identität zwischen Bewegung und Kirche klingt in einem jüngst erschienenen Band über den britischen Methodismus immer wieder durch33 und spiegelt sich auch in einer langen Geschichte von Initiativen zur Wiedervereinigung zwischen dem britischen Methodismus und seiner Mutterkirche, der anglikanischen Kirche. In den Vereinigten Staaten von Amerika hingegen verstand man sich sehr früh bereits als eine etablierte Kirche mit eigener Verfassung. Bis heute lässt sich dieses gespaltene Selbstverständnis des Methodismus beobachten, was Outler als die Spannung zwischen „ecclesia per se – institutionelle Pflege und Verwaltung – und ecclesia in actu – Verkündigung, Fürsorge und Dienst“ beschreibt.34 Der Schwerpunkt allerdings lag von Anfang an und bis heute bei dem zweiten. „Wesley definierte die Kirche als Akt, als Mission, als ein Unternehmen, um Seelen im christlichen Leben zu retten und zur Reifung zu bringen.“35 Vereinfacht ausgedrückt ging es im Methodismus von  33 So schreibt zum Beispiel C. Marsh, Appealing to ‚Experience’:

What does it mean?, in: ders. u.a. (Hg.), Unmasking Methodist Theology, London-New York 2004, 128: „‚Ekklesiologisches Bewusstsein’ im Methodismus ist ... weniger kirchlich als es der Methodistenkirche angenehm ist, vom ökumenischen Kontext gar nicht zu sprechen.“ 34 A.C. Outler (Anm. 1), 26. 35 Ebd., 19. Dieses dynamische Selbstverständnis des Methodismus spiegelt sich auch in der soteriologischen Betonung einer via salutis gegenüber einem ordo salutis, wie sie R.L. Maddox (Anm. 26), 157ff. beschrieben hat.

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jeher mehr um die Heiligung der Menschen als um die Verfassung einer „Heilsinstitution“.

Verbundenheit als Symbiose? – Methodismus als Zusammenfluss von Traditionen Deshalb halte ich es für problematisch, eine stabil verfasste Ekklesiologie als Proprium methodistischen Erbes zu verstehen. Zu symbiotisch sind die methodistischen Anfänge und zu eklektisch ihr Erbe. Outler verwendet den Begriff Symbiose (griech. Mit-Leben) mehrere Male in seinem Vortrag, woran ich im Sinne eines ekklesiologisch verstandenen Mit-Seins gerne anknüpfe.36 Die methodistische Bewegung erwächst aus einer Pluralität verschiedener Traditionen und braucht deshalb bis heute die Gemeinschaft mit anderen Traditionen, das Mit-Sein in vielfältiger Gemeinschaft. So spricht Outler im Zusammenhang der Entwicklung von einer Bewegung zu einer Konfession von „symbiotischen Adaptionen“ ekklesiologischer Momente verschiedener Traditionen.37 „Wenn wir die Anomalien methodistischer Ekklesiologie ... verstehen wollen“, sagt er scherzhaft etwas später, „müssen wir diese tief verankerte symbiotische Tendenz mit beachten“.38 Welche diese Zusammenflüsse der Traditionen sind und wie sie zu interpretieren sind, darüber streiten sich bis heute die Gelehrten. Und das ist meines Erachtens in einer lebendigen Glaubenstradition ein fruchtbarer Streit. Wenn dieser Streit aufhört, verfallen  36 Siehe außerdem David Hemptons Analyse des weltweiten Metho-

dismus als ein symbiotisches Phänomen. Er spricht von einer konstitutiven Spannung zwischen Wettbewerb und Symbiose, nicht zuletzt im Verhältnis zur anglikanischen Mutterkirche: ders. (Anm. 17), 11-30. 37 A.C. Outler (Anm. 1), 20. 38 Ebd., 22.

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wir schnell der Illusion einer fest geformten Tradition, die keiner Interpretation mehr bedarf. Nur zwei verschiedene Beschreibungen des Traditionshintergrundes des Methodismus seien hier exemplarisch genannt. Theodor Runyon zählt in seinem Buch Die neue Schöpfung zu diesen Beeinflussungen den Puritanismus, den Anglikanismus, den Pietismus, den römischen Katholizismus und die altkirchliche Orthodoxie.39 In Thomas E. Franks für angehende Pastorinnen und Pastoren geschriebenen Buch Polity, Practice, and the Mission of the United Methodist Church sieht die Aufzählung etwas anders aus. Er verbindet Pietismus und Puritanismus zu einem Strang und nennt dann auch Anglikanismus, Katholizismus, dezidiert allerdings noch einmal die Reformation und schließlich die Erweckungsbewegung.40 Die Erwähnung der Erweckungsbewegung erscheint mir entscheidend, da sie von jeher eine große Herausforderung für die Verfechter stabiler Kirchenstrukturen war. Im Kontext des demokratischen Amerika des 19. Jahrhunderts spielten diese Bewegungen natürlich eine ganz andere Rolle als im königlichen England des 18. Jahrhunderts. „Amerikanische Erweckungsbewegungen“, schreibt Frank, „wurden zu einer demokratischen Kraft, die alle traditionellen Grenzen kirchlicher Autorität übertraten“.41 Damit hatte der Methodismus als Kirche von Anfang an zu ringen, und das bleibt eine Herausforderung bis zum heutigen Tag, wie man im jüngsten Band der Reutlinger Theologischen Studien mit dem Titel Methodismus und charismatische Bewegung nachlesen kann. Hier zeigt sich eine zeitgenössische Fassung der grund 39 Th. Runyon (Anm. 21), 223ff. 40 Th.E. Frank, Polity, Practice, and the Mission of the United Metho-

dist Church, Nashville 2002, 55ff. 41 Ebd., 62.

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legenden Spannung innerhalb des Methodismus zwischen Bewegung und Kirche. So beklagt Vilém Schneeberger die Dominanz kirchlicher Strukturen mit den Worten: „Das Wirken des Heiligen Geistes ... wurde von den eingeführten Regeln allmählich überschattet. Das Werk Gottes sollte mit Hilfe der Strukturen erhalten bleiben.“42 Das Problem der Skepsis der methodistischen Charismatiker gegenüber kirchlichen Strukturen, die als geisthemmend erlebt werden, bringt Walter Klaiber auf den Punkt, wenn er schreibt, dass die charismatischen EmK-Gemeinden „stark mit sich selbst und der eigenen Mission beschäftigt (sind), so dass die Verbindung mit der Konnexio und ihren Aktivitäten eher gering ist“.43 Mit dem Stichwort Konnexio bin ich nun endlich bei der strukturellen Eigenart der weltweiten Evangelisch-methodistischen Kirche angelangt.

Strukturelle Verbundenheit – Konnexio Diese Konnexio lässt sich als Weiterführung zweier grundlegender ekklesiologischer Charakteristiken verstehen. Wie aus der Verfassung der Evangelisch-methodistischen Kirche ersichtlich, lässt sich die Ekklesiologie der EmK einerseits unschwer in die westliche Tradition des Christentums einordnen, insofern sie sich gemeinsam mit Christen aller Welt als „Teil der weltweiten Kirche“ versteht, „wie wir sie im Apostolischen Glaubensbe 42 V. Schneeberger, Ein Herr – ein Geist – Ein Glaube. Die pneuma-

tologische Programmatik wesleyanischer Theologie, in: Chr. Raedel (Hg.), Methodismus und charismatische Bewegung. Historische, theologische und hymnologische Beiträge, Göttingen 2007 (Reutlinger Theologische Studien 2), 135. 43 W. Klaiber, Mein Weg mit der charismatischen Bewegung, in: ebd., 28.

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kenntnis als die heilige christliche Kirche bekennen“.44 Sie versteht sich andererseits als protestantische Ekklesiologie, insofern sie sich zu einem reformatorischen Kirchenverständnis bekennt, nach welchem Kirche diejenige Gemeinschaft ist, in der „das reine Wort Gottes gepredigt und die Sakramente ordnungsgemäß verwaltet werden“.45 Zu diesem allgemein christlichen und reformatorischen Erbe kommt aber dann das spezielle methodistische Kennzeichen des Verbundssystems, die Konnexio. In dem von dem methodistischen Kirchenhistoriker Russell Richey herausgegebenen Band mit dem Titel Marks of Methodism wird zwischen diesen drei Traditionssträngen eine Verbindungslinie gezogen. Methodistische Ekklesiologie beruft sich demnach auf die altkirchlichen Bekenntnisse, das reformatorische Erbe und die konnexionale Struktur.46 Die konnexionale Struktur hat die Aufgabe, das altkirchliche und reformatorische Erbe im Verbundssystem lebendig zu halten. Insofern wird dem Konnexionalismus also nicht nur eine strukturelle, sondern nicht zuletzt auch eine der Katholizität entsprechende theologische Bedeutung beigemessen.47 Es ist nun schon durchgeklungen, dass das konnexionale System zunächst als eine sehr pragmatische Organisati 44 VLO § 203, 95. 45 Ebd. 26 u. 58. In seiner Predigt On the Church, die sich dezidiert

mit dem Wesen der Kirche auseinandersetzt, zitiert Wesley dieses reformatorische Prinzip aus den Glaubensartikeln der anglikanischen Mutterkirche, vgl. Of the Church, Sermon LXXIV, in: The Works of John Wesley, London 31872, Bd. VI, 396 (fortan WW). 46 R.E. Richey / D.M. Campbell / W.B. Lawrence, Marks of Methodism. Theology in Ecclesial Practice, Nashville 2005 (United Methodism and American Culture 5), 8. Vgl. außerdem den einführenden Band dieser Reihe, der ausschließlich dem Thema Konnexionalismus gewidmet ist: R.E. Richey / D.M. Campbell / W.B. Lawrence (Hg.), Connectionalism, Ecclesiology, Mission, and Identity, Nashville 2000 (United Methodism and American Culture 1). 47 Vgl. R. Minor (Anm. 16), 10f.

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onsweise der hervorwachsenden Erweckungsbewegung entstanden ist. Das muss im Blick behalten werden, um das konnexionale System nicht vorschnell zu einem ekklesiologischen Modell per se hochzustilisieren. Der britische Theologe und ehemalige Präsident der britischen Methodistenkirche Brian Beck hat das sehr nüchtern auf den Punkt gebracht. Er spricht davon, dass die Konnexio für Wesley zunächst einfach „ein praktisches und pastorales Arrangement im Dienst der Mission“ war und von allen als eine „verfassungsmäßige und nicht eine ekklesiologische Angelegenheit“ angesehen wurde.48 Zunächst ging es nämlich um nichts anderes als um die Konnexio, die Verbindung mit John Wesley selbst und damit um eine hierarchische Struktur ähnlich derjenigen in einem Kloster zwischen Abt und Mönchen. Aus dieser vertikalen Beziehung entwickelte sich erst nach Wesleys Tod etwas Horizontales.49 Beck schlägt nun vor, der Gefahr einer rein organisatorischen Sichtweise der Konnexio entgegenzuwirken, indem man sie im Kontext der koinonia versteht. Denn weil die Konnexio als eine freiwillige Organisation entstand, fehlt ihr die Dimension eines verbindlichen Bundes mit Gott, wie sie im Begriff koinonia zum Ausdruck kommt.50 Neben der Gefahr der Verengung der Konnexio hin zu einer rein organisatorischen Angelegenheit steht ein solches globales System auch in der Gefahr, sich imperialistisch zu gebärden. Und dieser Versuchung hat die weltweite EmK, die so stark im amerikanischen Imperium verankert ist, nicht immer widerstehen können. Sehr eindrucksvoll und ernüchternd hat das David Hempton  48 B. Beck, Connexion and Koinonia: Wesley’s Legacy and the Ecu-

menical Ideal, in: R.L. Maddox / Th. Runyon (Hg.), Rethinking Wesley’s Theology for Contemporary Methodism, Nashville 1998, 129. 49 Vgl. ebd., 130. 50 Vgl. ebd., 135f.

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auf den Punkt gebracht, wenn er den „Aufstieg des Methodismus zur Globalität ... im Gefolge zweier expandierender Zivilisationen, britisch und amerikanisch“ beschreibt. Das führte auch zu innerkirchlichen Spannungen zwischen „kultureller Eroberung und interkultureller Verhandlung“.51 Deshalb ist es wichtig, sich die theologischen Wurzeln für kirchliche Einheit und organisatorische Formen immer wieder bewusst zu machen. Dabei kann John Wesleys wichtigste Predigt zum Thema Kirche nützlich sein.52 Er baut sie auf Eph 4 auf, wobei vor allem Vers 3 entscheidend ist: „Seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit des Geistes durch das Band des Friedens.“ Indem die Einigkeit dem Wirken des Geistes zugesprochen und die Verbundenheit als eine des Friedens hervorgehoben wird, wird der Kirche als (bisweilen zu imperialem Gehabe verleiteter) Organisation die absolute Bedeutung genommen. Eine andere biblische Metapher für ein Verständnis der Konnexio als ekklesiologisches Modell ist diejenige vom Leib Christi. Sie wird auch vielfach verwendet, um das konnexionale System theologisch zu begründen. Das ist auch im letzten Dialogpapier zwischen Katholiken und Methodisten der Fall, wo es heißt: „Einzelne Christen und ihre Gemeinden sind in wesentlicher Weise in einem Gewebe von gegenseitigen und voneinander abhängigen Beziehungen verbunden. Das Bild des Apostels Paulus, das er für die Kirche gebraucht, der Leib Christi, drückt in kraftvoller Weise diese grundsätzliche Verbundenheit aus.“53 In der Tat ist es wichtig, die vielfältige konnexionale Verbundenheit immer wieder neu theologisch zu veran 51 D. Hempton (Anm. 17), vgl. 151-177. 52 Vgl. WW Bd. VI, 394. 53 Die Gnade, die euch gegeben ist in Christus (Anm. 31), § 61, 23.

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kern, damit sie nicht zu einem rein organisatorischen Modell verkümmert, sondern auch theologisch sinnhaft bleibt. Walter Klaiber und Manfred Marquardt haben den inneren Sinn dieser Verbundenheit in ihrem Buch Gelebte Gnade schön formuliert. Sie beschreiben den Sinn der Konnexio als einen dreifachen: erstens die Verbindung mit Gott, zweitens die Verbindung der Christen untereinander und drittens die Verbindung mit anderen Gemeinden und zu Menschen außerhalb der Kirche. Wichtig ist, dass „diese Dreifachverbindung etwas wesentlich Zusammengehörendes“ ist.54 Mit anderen Worten: Die Verbundenheit mit der Welt ist nicht etwas Zusätzliches. Vielmehr manifestiert sich die Übung innerer Konnexionalität in einer neuen Qualität der Verbundenheit mit der Welt. Es besteht also innerhalb dieser drei Dimensionen der Verbundenheit ein Entsprechungsverhältnis:55 Je intensiver die Verbundenheit mit Christus und seiner Gemeinde, je offener und liebevoller die Verbindungen mit der Umwelt. Ganz konkret zeigt sich nun diese Konnexio in einer Kirchenverfassung, die in einem Verbund von ineinander greifenden Konferenzen besteht, wobei Konferenz sowohl der Ausdruck für eine regelmäßige Versammlung ist, als auch für das tägliche Leben der in verschiedenen Einheiten organisierten Kirche. Das alltägliche Leben der Gemeindebezirke wird auf den Bezirkskonferenzen verhandelt. Auf der Jahreskonferenz treffen sich alle Pastorinnen und Pastoren einer Region gemeinsam mit ebenso vielen Laien und ziehen Jahresbilanz. An Jahreskonferenzen geschehen auch die Ordinationen. Der globale Charakter der Kirche kommt aber nicht zuletzt durch die  54 W. Klaiber / M. Marquardt, Gelebte Gnade. Grundriss einer Theo-

logie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Göttingen 22006, 394. 55 Vgl. ebd., 395.

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General- und Zentralkonferenzen zum Ausdruck. An der Generalkonferenz, an die aus allen Teilen der Welt entsandt wird und die paritätisch aus etwa fünfhundert Laien und fünfhundert Ordinierten zusammengesetzt ist, werden die die globale Kirche betreffenden Fragen verhandelt. Die Zentralkonferenzen schließlich sind dazu da, die an der Generalkonferenz gefassten Beschlüsse auf die Verhältnisse der entsprechenden Regionen der Welt anzupassen. An Zentralkonferenzen werden auch die Bischöfe eingesetzt. (Innerhalb der Vereinigten Staaten haben die Zentralkonferenzen in den Jurisdiktionalkonferenzen ihre Entsprechung.) Zu diesen organisatorisch miteinander fest verknüpften Einheiten von Bezirkskonferenz, Jahreskonferenz, Zentralkonferenz und Generalkonferenz gehören auf ganz entscheidende Weise auch die kleinen Gruppen für gemeinsames Bibellesen, Beten und gegenseitige Seelsorge. Sie können als die kleinsten Einheiten der Konnexio angesehen werden und waren letztlich auch die entscheidende Initialzündung für die Entstehung der methodistischen Bewegung. Denn diese sogenannten Covenant Groups gehören bereits seit den 1730er-Jahren zum Selbstverständnis methodistischen Kircheseins. Zum Amtsverständnis der EmK, das mit dieser kirchlichen Struktur eng zusammenhängt, will ich nur kurz soviel sagen, dass auch in ihm die globale Vernetztheit methodistischer Ekklesiologie zum Ausdruck kommt. So sind ordinierte Pastorinnen und Pastoren nicht Mitglieder der Ortsgemeinde, sondern gehören zum Verbund der Jahreskonferenz und können aufgrund dieser Mitgliedschaft durch Transfer in jeder Jahreskonferenz der weltweiten EmK mitarbeiten. Sie verstehen sich von jeher als Reisepredigerinnen und Prediger (itinerant preachers), insofern als sie vom Bischof zu immer wieder neuen Dienstorten innerhalb des Gebietes der Jahreskonferenz entsandt werden können. Während der letz172

ten Jahrzehnte hat es ausgedehnte Verhandlungen und Diskussionen über die Zuordnung des Diakonats zum Presbytertum gegeben. Während das Diakonat früher eine Übergangsphase hin zur Ältestenordination war, sind die beiden Dienste heute als je eigene Aufträge definiert.56 Das Episkopat schließlich ist zwar ein Amt im Dienst der Einheit bzw. der Aufsicht (episkope), entspringt jedoch nicht einer eigenen Ordination. Bischöfin oder Bischof werden „abgesondert“ (set apart) zum Dienst für die Kirche. Sie vermitteln keine sakramentale Autorität und haben auch keine Lehrhoheit. Wohl aber symbolisieren sie als von der Gemeinschaft Gewählte „die Einheit der Konnexio“. „Aber die Einheit, die sie repräsentieren, ist nicht in ihrem Amt verkörpert, sondern in der ganzen Verbindung von Konferenzen und Ortsgemeinden.“57 Diese Verbundenheit wird als eine verstanden, die ständig im Fluss ist, die von kontinuierlichem Gespräch geprägt ist. Ein typisch methodistischer Ausdruck dafür ist das englische Verb conferencing bzw. für den britischen Kontext conferring,58 womit gemeint ist, dass die vielfältigen Verbindungen davon leben, dass die Kommunikation auf den verschiedenen Ebenen aufrechterhalten bleibt. Da reicht es nicht, dass man sich einmal jährlich zur Konferenz trifft. Vielmehr ist die gesamte Konnexio mit all ihren facettenreichen Kommunikationsvorgängen ein Organismus, der von diesem fortdauernden Gespräch lebt, das als conferencing/conferring beschrieben  56 Für eine Übersicht über die neuesten Entwicklungen siehe H. Esch-

mann, Amt und Ordination in der Evangelisch-methodistischen Kirche. Eine Standortbestimmung und die neuere Diskussion in der Generalkonferenz der UMC, in: ThFPr 33 (2007) 4-18. 57 Th.E. Frank (Anm. 40), 231. 58 Vgl. A. Shier-Jones, Conferring as Theological Method, in: C. Marsh u.a. (Hg.), Unmasking Methodist Theology, London-New York 2004, 82-94.

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wird. So kann die methodistische Konnexio als eine Gemeinschaft des Gesprächs59 verstanden werden und die Verfassung als eine alle vier Jahre erneuerte Dokumentation60 dieses fortlaufenden Gesprächs.61 Letztlich kann damit die von der Konnexio ständig revidierte Verfassung als ein lebendiger Ausdruck des Priestertums aller Gläubigen verstanden werden, insofern Ordinierte und Laien gemeinsam an diesem für die EmK verbindlichen Dokument arbeiten.

Soziale Verbundenheit Schließlich will ich rückblickend auf das Thema dieses Artikels die Entsprechung zu der hier beschriebenen Verbundenheit skizzieren. In dem Begriffspaar global und vernetzt werden nicht zwei Dinge nebeneinander gestellt, sondern Globalität und Vernetztheit jeweils als einander bedingend ineinander verschränkt. Die innere konnexionale Vernetztheit ist als solche eine soziale Vernetztheit mit der ganzen Welt. Das kommt auch in der Kirchenordnung der EmK zum Ausdruck. Dort werden die sogenannten Sozialen Grund 59 Die reformierte Theologin Kathryn Tanner hat die Kirche als eine

community of argument bezeichnet, was einem Verständnis von Konnexio als der Prozess von conferencing/conferring nahekommt, vgl. dies., Theories of Culture. A New Agenda for Theology, Minneapolis 1997, 123. 60 Die Einschränkungsbestimmungen nehmen nur sechs Aspekte der kirchlichen Verfassung von diesem Erneuerungsprozess aus, nämlich: Glaubensartikel und Glaubensnormen, Glaubensbekenntnis, Bischofsamt, Rechtsverfahren, Allgemeine Regeln, Pensionszusage, vgl. VLO § 17-22, 36. 61 Das betont vor allem Thomas Edward Frank, indem er wiederholt vom christlichen Gespräch als dem Kennzeichen der Konnexio spricht und der Verfassung (Discipline) als dem ständig in einem Erneuerungsprozess befindlichen Ausdruck dieses Gesprächs, vgl. ders. (Anm. 40), 45ff.

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sätze (Teil IV)62 der Beschreibung der kirchlichen Struktur bzw. Ordnung (Teil V) vorgeordnet. Das verdient ekklesiologische Beachtung. Denn ich sehe in dieser Vor- bzw. Zuordnung eine entscheidende Kontextualisierung der ekklesiologischen Struktur. Die Sozialen Grundsätze erwuchsen aus der Formulierung eines sozialen Bekenntnisses, das dieses Jahr seinen hundertsten Geburtstag feiert63 und dem bei der Generalkonferenz 2008 eine für das gemeinsame Singen gedachte Litanei zur Seite gestellt wurde. Wie sieht nun dieser Kontext aus, den die Sozialen Grundsätze beschreiben? Die Struktur dieser Grundsätze lässt sich neben die Organisationsstruktur der EmK stellen und spiegelt eine ähnliche Vernetzung. Die innere Struktur von vernetzten Konferenzen findet ihre Entsprechung in der Vernetzung mit dem globalen Kontext und ist so ein Ausdruck für John Wesleys Überzeugung, dass es keine „Religion“ gibt, die nicht „soziale Religion“ ist, „keine andere Heiligung als soziale Heiligung“ und dafür, dass die Konnexio Christen verbindet „im Glauben und Dienst (eines) weltweiten Zeugnisses“, wie es in der Kirchenordnung heißt.64 Im Grunde sind sie nichts anderes als eine Herausforderung, die konnexionale Struktur mit christlicher und damit sozialer Lebenspraxis zu füllen. So gehören sie zur Berufung aller Glaubenden, „Christus in der Welt zu bezeugen“ und sind gedacht als „eine hilfreiche Wegweisung für diesen Dienst“.65 Sie „rufen zu einer vom Glauben geprägten Lebenspraxis;

 62 VLO IV, 77ff. 63 Vgl. H. Nausner, Die Entstehung der Sozialen Grundsätze und

Schwerpunkte der Entwicklung seit 1908, in: EmK Geschichte 28 (2/2007) 27-37. 64 VLO II.1.4., 49. 65 Ebd., Art. 220, 97.

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sie sollen in gut prophetischem Sinn aufklären und überzeugen“.66 Die Sozialen Grundsätze nehmen ihren Ausgangspunkt in Gottes Schöpfung, indem sie mit einer Beschreibung der natürlichen Welt beginnen. Es folgen fünf Bereiche des sozialen Zusammenlebens aller Menschen: die menschliche Lebensgemeinschaft, die soziale Gemeinschaft, die wirtschaftliche Gemeinschaft, die politische Gemeinschaft und schließlich die Weltgemeinschaft. Die Beschreibung der sozialen Verortung der Kirche beginnt somit mit der Globalität der Schöpfung und hört mit der Globalität der ganzen Menschheit auf. Fragen globaler Gerechtigkeit und Solidarität gehören somit zum Kern methodistischer Ekklesiologie, wobei die konkrete Ausformulierung entsprechend dem sich verändernden sozialen Kontext sich in einem ständigen Veränderungsprozess befindet.

Eucharistisches Nachwort Ihre ekklesiologische Verankerung hat die Sorge um Gerechtigkeit und Solidarität in der Feier der Eucharistie – oder wie wir Protestanten bevorzugt sagen, im Abendmahl. In ihrer vielschichtigen Bedeutung ist sie eine zentrale Manifestation des von Gott gewollten Ineinander innerer Verbundenheit und globaler Vernetztheit. Entgegen der gängigen Praxis in der EmK hat John Wesley empfohlen, das Abendmahl so oft wie möglich zu feiern.67 Für unsere heutige zunehmend interkulturelle  66 Ebd., IV, 77. 67 Zur Frage des Abendmahls aus freikirchlicher und vor allem evan-

gelisch-methodistischer Perspektive siehe W. Klaiber, Wer ist zum Abendmahl eingeladen? Neutestamentliche und Freikirchliche Perspektiven, in: ThFPr 32 (2006) 4-22.

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gesellschaftliche Situation ist der Aspekt des Abendmahls als kulturelle und ethnische Polarisierungen überwindendes Mahl von vorrangiger Bedeutung. Gerade die EmK mit ihren US-amerikanischen Wurzeln leidet ja unter den Folgen einer schmerzhaften Geschichte der ethnischen Segregation (sie spaltete sich in den 1840erJahren aufgrund der Sklavenfrage) und hält deshalb bereits in § 5 ihrer Verfassung fest, dass sie „sich dem Rassismus in allen Bereichen ihres Lebens und in der Gesellschaft“ widersetzt.68 Dagegen ist das konstitutive MitSein jeder/s Einzelnen und die globale Vernetzung im Abendmahl ein kraftvolles Zeichen. Wie sich das im gemeinsamen Feiern des Abendmahls zeigt, wird treffend im Lima-Papier Taufe, Eucharistie und Amt beschrieben. Ich sehe gerade in den Paragraphen 19 bis 21 des Teils über die Eucharistie eine gute Übereinstimmung mit dem ekklesiologischen Entwurf, den ich hier unterbreitet habe.69 So heißt es dort, dass die eucharistische Gemeinschaft „an einem bestimmten Ort ... das Einssein der hier Teilhabenden mit Christus und mit den anderen mit ihnen Teilhabenden zu allen Zeiten und an allen Orten“ bedeutet.70 Stärker könnte man die innere Vernetzung aller Christen in Raum und Zeit nicht ausdrücken. In den beiden folgenden Paragraphen kommt dann der soziale und globale Aspekt zum Tragen. Da wird die Eucharistie als eine „Herausforderung bei der Suche nach angemessenen Beziehungen im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben“ beschrieben, womit die Bedeutung von drei der in den sozialen Grundsätzen genannten Gemeinschaften  68 VLO § 5, 33. 69 Taufe, Eucharistie und Amt, Konvergenzerklärungen der Kommis-

sion für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, in: DwÜ 1, 545-585, hier 562f. 70 Ebd., Nr. 19 (562).

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für das kirchliche Leben bezeichnet ist. Nicht zuletzt aber kommt die Globalität des Feierns zum Vorschein, wenn es heißt: „Die Eucharistie nimmt den Gläubigen hinein in das zentrale Geschehen der Geschichte der Welt.“71 So wenig, wie es möglich ist, die Veränderung eines menschlichen Herzens unter Absehung göttlichen Wirkens in der ganzen Welt zu verstehen, so wenig ist es möglich, Abendmahl zu feiern, ohne dabei einerseits an einer großen Schar der Gläubigen teilzuhaben und andererseits mitten in die sozialen Herausforderungen unserer Weltgemeinschaft hineingestellt zu sein. Und in dieser Kontaktzone zwischen Gemeinschaft der Gläubigen und Weltgemeinschaft erfüllt die (Evangelisch-methodistische) Kirche ihre Berufung.

ZUSAMMENFASSUNG Dieser Artikel betont zwei für den heutigen interkulturellen Kontext relevante Aspekte evangelisch-methodistischer Ekklesiologie: Konnexionalität und Globalität. Ausgehend von dem philosophischen Konzept des konstitutiven Mit-Seins wird ein Kirchenverständnis aus der Perspektive globaler Verbundenheit skizziert. Aus der methodistischen Tradition erwächst ein ökumenisch geprägtes („symbiotisches“) kirchliches Selbstverständnis. Der Konnexionalismus bezeichnet die einerseits pragmatische, andererseits theologisch begründete Struktur der weltweiten EmK. Die sozialen Grundsätze sind die weltzugewandte Entsprechung der konnexionalen Struktur und das Abendmahl der für kirchliches Sein konstitutive Ort, in dem persönliche Frömmigkeit und globale Verbundenheit ihren wichtigsten Ausdruck finden.  71 Ebd., Nr. 20 (563).

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Das Verhältnis evangelische Landeskirche – Herrnhuter Brüdergemeine: Ortsgemeinde, Regionalgemeinde, Doppelmitgliedschaft Gelebte Gemeindemodelle der Herrnhuter Brüdergemeine Niels Gärtner

In der Herrnhuter Brüdergemeine in Deutschland gibt es heutzutage zwei Gemeindemodelle: Ortsgemeinde und Regionalgemeinde. Sie sollen auf dem theologischen Hintergrund des Grundes der Unität beleuchtet und in ihrer heutigen Ausgestaltung reflektiert werden.

1. Die Basis für das Kirchenverständnis der Herrnhuter Brüdergemeine: Der Grund der Unität1 Zwei zentrale Elemente für das Selbstverständnis der Herrnhuter Brüdergemeine aus dem Grund der Unität sollen als theologische Grundkomponenten für die Beurteilung der gegenwärtigen Gemeindeformen dienen. Daneben ließen sich noch einige andere Wesensmerkmale aufzählen, die hier aber unberücksichtigt bleiben sollen.

 1 Der Grund der Unität ist der theologische Vorspann der Church

Order, der als gemeinsame Basis für alle 19 Provinzen der weltweiten Brüder-Unität gilt. Die maßgebliche englische Ausgabe: Church Order of the Unitas Fratrum (Moravian Church) 2002, Bethlehem, PA 2002. Eine Übersetzung findet sich in der Kirchenordnung der Europäisch-Festländischen Brüder-Unität, HerrnhutBad Boll 1992 mit den Ergänzungen bis 2008.

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1.1 Der persönliche Glaube Im Grund der Unität § 4 Das Wort Gottes und die Lehre heißt es: „Der Glaube der Kirche entsteht und lebt durch das Zeugnis von Jesus Christus und durch das Wirken des Heiligen Geistes. Dieses Zeugnis spricht jeden Menschen persönlich an und führt ihn dazu, seine Sünde zu erkennen und die von Christus erwirkte Erlösung anzunehmen. In der Gemeinschaft mit ihm wird die Liebe Christi immer mehr zur Kraft des neuen Lebens, die den ganzen Menschen durchdringt und umgestaltet. So schafft der Heilige Geist in den Herzen der Einzelnen einen lebendigen Glauben und lässt uns an den Früchten von Christi Heil Anteil bekommen und Glieder an seinem Leib sein.“ Von Anfang an spielt der persönliche Glaube, das persönliche Erleben der Rettungstat Christi eine zentrale Rolle im Bewusstsein der Herrnhuter Brüdergemeine. Es geht weniger um das intellektuelle Verstehen des Glaubens oder der dogmatischen Glaubensaussagen als vielmehr um den im Herzen erlebten Glauben. Gerade deshalb spricht Zinzendorf immer wieder von einer Herzensreligion: eine Religion, die mein Herz erreicht und erwärmt (was nicht ausschließt, dass auch der Kopf und der Verstand sich mit dem Glauben beschäftigen können). Deutlich ist hier Zinzendorfs pietistische Wurzel, die Abgrenzung zur Orthodoxie, die die Zeit vor Zinzendorf kirchlicherseits geprägt hat und zu manchen heute schwer nachvollziehbaren Auswüchsen geführt hat. Der persönliche, erlebte Glaube steht im Zentrum des menschlichen Lebens in Bezug zu Gott und zwar des gesamten Lebens. Da gibt es nicht eine Zeit des Gottesdienstes und eine Zeit des Arbeitslebens, sondern alles ist eins, alles ist vom Glauben durchdrungen: Die Versammlungen der Gemeinde, die Familie, die Arbeit, das 180

Reisen, ja sogar das Schlafen, sodass Zinzendorf vom „Liturgisch schlafen“ reden kann (was keinesfalls den Kirchenschlaf meint): „Ich habe überhaupt eine große Idee vom Schlafe. Unsere Art zu ruhen ist eine Art von kirchlichen Handlungen und gehört in die BrüderAgenda … Denn man schläft in einer seligen GemütsSituation, in einer solchen Nähe mit dem Heilande, dass der erste Blick beim Aufwachen gleich davon zeugt.“2 Dieser persönlich erlebte Glaube „erlöst uns aus unserer Vereinzelung und vereint uns zu seiner lebendigen Gemeinde“.3 Er bestimmt das Leben und Handeln und er führt die Menschen zur Gemeinschaft zusammen. Der Glaube erschöpft sich nicht allein in der Gottesbeziehung, sondern drängt den Glaubenden auch in die Gemeinschaft mit anderen Glaubenden. Dort kann der Glaubende seine erlebte „Konnexion zum Heiland“4 einbringen und danach leben. Zinzendorf statuiert deshalb: „Kein Christentum ohne Gemeinschaft“ und führt das in seinen Londoner Predigten aus: „Aber sobald Menschen zusammen sind, Mann, Frau, Kinder, Gesinde, Verwandte und Nachbarn, die sonst nahe zusammengehören, so erfordert der naturelle Gedanke, den man von Freundschaft und Gemeinschaft hat, dass man, wo möglich, die Herzen zusammenfasst zu einerlei Grund. Dass man die Menschen nicht zwinge, sondern Bescheidenheit brauche und sich dem Elend der unzähligen geistlichen Meinungen anpasse, das macht den Satz nicht schwächer. Es sollten von Rechts wegen alle  2 Vgl. H.-Chr. Hahn / H. Reichel, Zinzendorf und die Herrnhuter

Brüder, Hamburg 1977, 213. Gemeint ist der besondere Schlaf in speziellen Schlafeinrichtungen. Unterschieden davon ist der alltägliche normale Schlaf. 3 Grund der Unität § 2. 4 Konnexion zum Heiland ist für Zinzendorf ein zentraler Begriff für den persönlichen Glauben.

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Herzen, die mit dem Blut Jesu Christi erlöst sind, zusammengefasst werden.“5 Dieser persönliche Glaube dringt also auf Gemeinschaft hin und formt die Herrnhuter Brüdergemeine.

1.2 Die unaufhörliche Suche nach der rechten Lehre: Ökumene Im Grund der Unität § 4 Das Wort Gottes und die Lehre heißt es: „Die Brüder-Unität beteiligt sich an der unaufhörlichen Suche nach der rechten Lehre. Bei der Auslegung der Heiligen Schrift und der Weitergabe der Lehre in der Kirche orientieren wir uns an zwei Jahrtausenden ökumenischer christlicher Tradition und an den Einsichten unserer Vorfahren im Glauben in der Brüder-Unität, so wie auch wir darum beten, das Evangelium von Jesus Christus tiefer zu verstehen und klarer zu verkündigen. Wie aber die Heilige Schrift kein Lehrsystem enthält, hat auch die Brüder-Unität selbst kein solches entwickelt, weil sie weiß, dass das in der Bibel bezeugte Geheimnis Jesu Christi vom Menschen weder vollständig erfasst noch ausgedrückt werden kann. Zugleich gilt, dass die Erkenntnis von Gottes Heilswillen durch den Heiligen Geist in der Bibel vollständig und eindeutig offenbart ist.“6 Schon in diesen grundlegenden Worten kommt der ökumenische Gedanke klar zum Tragen. Die BrüderUnität hat kein neues, abgrenzendes Lehrsystem des christlichen Glaubens entwickelt, sondern weiß als eine Besonderheit, dass sie permanent auf der Suche ist. Dabei wird die Suche an sich nicht idealisiert oder auf ein  5 Vgl. N.L. von Zinzendorf, Londoner Predigten I, London-Barby

1756, 327. 6 Grund der Unität § 4.

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scheinbar perfektes Lehrsystem in der Zukunft spekuliert. Vielmehr kommt darin die Zeitbedingtheit der bisherigen Lehrsysteme zum Ausdruck, ihre Vorläufigkeit und ihre Veränderlichkeit. Kein System gilt von sich aus für immer, kein System enthält das Geheimnis Christi in vollem Sinne. Messen lassen müssen sich die menschlich geschaffenen Systeme immer wieder am durch den Geist gewirkten Glauben. Wie schon die Bibel immer wieder unterschiedlich von Gott redet und manche dunkle Seite offenbart, so ist es auch heute an uns, aus dieser vielgestaltigen Offenbarung die Antworten und Wege für den Glauben heute zu suchen und zu finden. Dabei werden die bisherigen Lehrsysteme nicht als irrelevant abgetan oder nicht beachtet, sondern als wichtige Glaubenszeugnisse gewürdigt. Sie beinhalten immer einen Funken der göttlichen Wahrheit, die für uns Menschen nur unvollkommen zu erkennen ist. Der Grund der Unität zählt zu den wichtigen Bekenntnistexten neben der Confessio Augustana auch den Heidelberger Katechismus, das Bekenntnis der Böhmischen Brüder von 1535, als auch neuere Bekenntnistexte wie die Barmer Theologische Erklärung von 1934.7 Manche der Texte widersprechen sich inhaltlich und theologisch. Weil sie aber nicht Endpunkte, sondern Wegsteine sind, können sie als Orientierungspunkte gewürdigt werden. Die Zusammenarbeit und die Würdigung der unterschiedlichen Konfessionen steht im Mittelpunkt der Brüder-Unität: „Wir erkennen, dass die verschiedenen Kirchen durch die Gnade Christi viele Gaben erhalten haben. Es ist unsere Sehnsucht, voneinander zu lernen und uns gemeinsam über den Reichtum der Liebe Christi  7 Hinzu kommen noch das Apostolische, Athanasianische und Nicä-

nische Glaubensbekenntnis, der Kleine Katechismus Luthers, der Berner Synodus von 1532 sowie die 39 Artikel der Kirche von England.

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und die Vielfalt der göttlichen Weisheit zu freuen. Wir bekennen uns zu unserem Anteil an der Schuld, die sich in der Zerrissenheit und Trennung der Christenheit zeigt. Durch solche Trennungen stehen wir selbst der Botschaft und der Kraft des Evangeliums im Wege. Wir erkennen die Gefahr der Selbstgerechtigkeit und des lieblosen Urteilens über andere. Da wir mit der ganzen Christenheit als Wanderer unterwegs sind und unserem kommenden Herrn entgegengehen, begrüßen wir jeden Schritt, der uns dem Ziel der Einheit in ihm näher bringt.“8 Das Ziel ist nicht die Herabsetzung der anderen Konfessionen, sondern die aktive Zusammenarbeit der Kirchen am Reich Gottes. So kann das christliche Zeugnis in der Welt wachsen und die Liebe, die Jesus Christus auf die Welt gebracht hat, erfahrbar und spürbar sein für alle Menschen. Ein Stück eigene Demut gehört immer mit dazu. Schon Zinzendorf brachte das in einem Liedvers zum Ausdruck: „Die Glieder Jesu freun sich sehr, doch ohne viel Geräusche; sie rühmen sich auch niemands mehr nach Ansehn und nach Fleische, sie hängen ihre Herzen nicht an Väter und Regierer. Nur er ist ihre Zuversicht, ihr Herr und Haupt und Führer. Auch denken wir in Wahrheit nicht, Gott sei bei uns alleine. Wir sehen, wie so manches Licht auch andrer Orten scheine. Da pflegen wir denn froh zu sein und uns nicht lang zu sperren;  8 Grund der Unität § 6.

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wir dienen ihm und ihm allein, dem einen großen Herren.“9 Zinzendorf hat versucht, seine ökumenisch theologischen Gedanken in der sogenannten Tropenlehre zusammenzufassen.10 Als Tropus bezeichnet er eine Lehrweise über den Glauben. Es gibt eine lutherische Lehrweise (einen lutherischen Tropus), eine brüderische Lehrweise, eine katholische Lehrweise und viele mehr. Alle Lehrweisen/Tropen geben einen Teil der göttlichen Wahrheit wieder, sind aber nie identisch mit ihr. Deshalb ist es Zinzendorf auch möglich, die unterschiedlichen Lehrmeinungen nebeneinander stehen zu lassen, sie als Bereicherung zu erleben und nicht als Bedrohung für den eigenen Glauben.11 Diese ökumenischen Grundgedanken haben einen ganz erheblichen Einfluss auf den Werdegang und die Identität der Brüdergemeine. Zinzendorf schwebte nie eine neue Konfession, vielleicht sogar eine Suprakonfession vor, sondern die Zusammenarbeit der lebendigen Christen in den unterschiedlichen Konfessionen. Niemand sollte seine Konfession verlassen müssen, um in der Brüdergemeine mitzuarbeiten. Die ersten Siedler von Herrnhut 1722 gehörten ganz selbstverständlich zur (landeskirchlichen) Gemeinde Berthelsdorf. Zinzendorf schwebte eher eine Art Orden oder Bewegung vor, die Christen unterschiedlicher Konfession zusammenbringt. So war Zinzendorf sehr erbost, als er von seiner Ameri 9 Vgl. Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine, Hamburg

1967, Nr. 353. 10 Den Begriff Tropus als Erziehungsweise und Grundelemente der

Denkweise übernimmt Zinzendorf von Christoph Matthäus Pfaff, vgl. H.-Chr. Hahn / H. Reichel (Anm. 2), 412-417. 11 Zinzendorf selbst hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich als lutherischer Christ fühlt, aber er hatte immer Hochachtung für seine reformierten oder brüderischen Mitstreiter, vgl. ebd., 416.

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kareise Anfang der 1740er-Jahre zurückkam und feststellte, dass seine Stellvertreter in dieser Zeit die Brüdergemeine als selbstständige Kirche vom Preußischen Königshaus hatten anerkennen lassen. Der Weg zur selbstständigen Freikirche war damit beschritten (gegen den Willen und Grundsatz Zinzendorfs). Auf Gemeinschaft drängender persönlicher Glaube und Ökumene sind also zwei Grundzüge der Herrnhuter Brüdergemeine, die von ihrer Gründung an immer mit ihr verbunden waren. Aber wie sieht es heute aus?

2. Die heutige Ausgestaltung des Kirchenverständnisses in Deutschland Die oben skizzierten Grundzüge für das Kirchenverständnis haben bei der Ausbreitung der Brüdergemeine eine wichtige Rolle gespielt. Es wurde immer versucht, sie den örtlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten anzupassen. So kommt es, dass wir in unserer Provinz, der europäisch-festländischen Provinz der Brüder-Unität, verschiedene Formen (auch der Mitgliedschaft) haben. Ich möchte mich hier auf den deutschen Bereich beschränken, weil Deutschland mit seinem evangelisch-landeskirchlichen Territorial- und Parochialsystem eine besondere Situation bildet. Strukturell gilt es zu unterscheiden zwischen Ortsgemeinden und Nicht-Ortsgemeinden. Unter Ortsgemeinde ist einfach gesagt eine Gemeinde zu verstehen, die in erreichbarer Nähe ihres Kirchengebäudes lebt. Alle anderen Mitglieder leben in einer Art Diasporasituation, die sich entweder als eigenständige Gemeinde – Regionalgemeinde – manifestieren oder als Gemeinbereich einer Ortsgemeinde zugeordnet sind. Weil die Situation in den Gemeinbereichen und den Regionalgemeinden 186

sehr ähnlich ist und sich deutlich von denen der Ortsgemeinden unterscheiden, möchte ich sie hier zusammenfassend einfach Nicht-Ortsgemeinden nennen.

2.1 Die Ortsgemeinde Nach Herrnhut gründeten die Schwestern und Brüder eine Reihe weitere Siedlungen der Brüdergemeine wie Niesky (auch in der Oberlausitz), Gnadenfrei (in Schlesien), Gnadau (bei Madgeburg), Herrndyk (in Holland) und viele mehr. Die Siedlungen wurden nach dem gleichen Schema aufgebaut: das Zentrum bildet ein freier Platz (Zinzendorfplatz), an dem die wichtigsten Gebäude errichtet wurden. An einer Seite steht der Versammlungssaal (Kirche), an den anderen Seiten die Chorhäuser12 und der Gasthof für Gäste der Gemeinde. In den Straßen, die vom Platz abzweigten, konnten Familien und Handwerker ihre Häuser bauen. In den Chorhäusern wurde ein gemeinschaftliches Leben praktiziert der ledigen Brüder, der ledigen Schwestern, der Witwen, usw. Das Leben und Arbeiten fand in einem sehr engen gemeinschaftlichen Rahmen statt.13 Ein enges Netz von liturgischen Veranstaltungen prägte den Alltag. Auch wenn sich heute einiges verändert hat, sind doch der Gemeinschaftsgedanke und das vielfältige Angebot der Gemeinde charakteristisch für die Ortsgemeinden.  12 Die Gemeinde wurde in Gruppen eingeteilt, die sich nach der so-

zialen Stellung richteten. So gab es das Chor der ledigen Brüder, die gemeinsam im Brüderhaus lebten, das Chor der Witwen, die gemeinsam im Witwenhaus wohnten, das Chor der verheirateten Schwestern, die natürlich in ihren Familien lebten. Die Choreinteilung hatte auch seelsorgerische Aspekte. 13 Ausführlich ist das gemeinschaftliche Leben mit seinen Diensten beschrieben bei H.-J. Wollstadt, Geordnetes Dienen in der christlichen Gemeinde, Göttingen 1966.

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Neben der Predigtversammlung (Gottesdienst) finden Singstunden statt, Morgenandachten, Kinderstunden, Schwesterntreffen und vieles mehr. Viele Mitglieder treffen sich nicht nur zu den Veranstaltungen der Gemeinde, sondern auch bei der Arbeit, auf der Straße, beim Einkaufen. Historisch gewachsene Formen und Traditionen können hier gepflegt werden. Der weiße quer ausgerichtete Saal ohne Altar (dafür mit Liturgustisch) unterscheidet sich deutlich von jedem landeskirchlichen Kirchengebäude. Auch der Gottesacker (Friedhof) hat ein unverkennbar brüderisches Element mit den gleichförmig liegenden Grabsteinen. Schon die Gesamtanlage mit Zinzendorfplatz und den barock anmutenden Chorhäusern weist deutlich auf die Herrnhuter Brüdergemeine hin. Auch liturgische Formen wie die wöchentliche Singstunde, die Lesungen in der Karwoche oder der Ostermorgen, bei dem die Gemeinde hinter den Bläsern vom Versammlungssaal auf den Gottesacker zieht, um direkt bei Sonnenaufgang der Auferstehung der Verstorbenen zu gedenken, werden hier gepflegt. Beim Abendmahl werden Brot und Wein in den Reihen weitergegeben, während die Gemeinde singt. Ebenso zählen das Hosiannasingen, ein Wechselgesang zwischen Chor und Kinderchor zu Palmsonntag und erstem Advent, und die Kerzen in der Christnachtsfeier zu brüderischen Besonderheiten. In solchen Brüdergemeinsiedlungen wird auch diakonisch gearbeitet. Viele Gemeinden unterhalten Kindergärten, Altenheime oder sogar Schulen.

2.2 Nicht-Ortsgemeinden: Regionalgemeinden und Gemeinbereiche Wie kann man eigentlich als Mitglied der Brüdergemeine außerhalb solcher Siedlungen leben? Lange Zeit wurde die Mitgliedschaft sehr rigoros gehandhabt. Auf188

grund des rechtlich besonderen Status der Brüdergemeinsiedlungen durften nur Mitglieder der Brüdergemeine in solchen Orten leben (und am gemeinschaftlichen Leben teilnehmen). Wer dorthin ziehen wollte, musste Mitglied der Brüdergemeine werden, wer von dort wegziehen wollte, musste seine Mitgliedschaft aufgeben, weil ein gemeinschaftliches Leben in der Diaspora nicht vorstellbar war. Erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ergab sich eine Öffnung der Mitgliedschaft:14 es wurde möglich, auch an anderen Orten Mitglied der Brüdergemeine zu sein, und auch in den Brüdergemeinsiedlungen durften Nichtmitglieder wohnen. Diese Öffnung brachte eine ganze Menge von Problemen mit sich. Wie kann ich Mitglied der Brüdergemeine sein, ohne in das enge gemeinschaftliche Leben eingebunden zu sein? Wie unterscheidet sich ein Mitglied der Brüdergemeine von den landeskirchlichen Mitchristen? Wie soll generell das Verhältnis zur evangelischen Landeskirche für solche Mitglieder sein? Hier wurde sich des ökumenischen Erbes erinnert und an die gute Zusammenarbeit in der Diasporaarbeit gedacht. Schon bald entwickelte sich die Doppelmitgliedschaft. Exkurs: Doppelmitgliedschaft Was bedeutet Doppelmitgliedschaft? Doppelmitgliedschaft bedeutet, gleichzeitig Mitglied von zwei Kirchen zu sein. Für die Brüdergemeine war von Zinzendorfs Tropenlehre herkommend der Gedanke einer Doppelmitgliedschaft nahe liegend. Wer nicht in der Brüdergemeine aktiv sein konnte, sollte Gemeinschaft in einer anderen Kirche suchen, vorzugsweise in der evangeli 14 Einer der Gründe war die staatlich erzwungene Öffnung. Bisher

waren die Brüdergemeinorte selbstständig und unabhängig. Die geistliche Gemeinde und die politische Gemeinde waren nicht zu trennen. Alle politischen Ämter waren gleichzeitig geistliche Ämter; vgl. ebd.

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schen Landeskirche. So wurde vonseiten der Brüdergemeine schon früh eine Doppelmitgliedschaft möglich. Aber auch die Landeskirchen haben nach einer langen Phase des Mit- und Nebeneinanders15 gemerkt, dass brüderisches Christsein nicht den eigenen Grundsätzen widerspricht und haben sich der Doppelmitgliedschaft geöffnet. Das ist sehr bemerkenswert, weil sich evangelische Landeskirchen von sich aus als Heimstatt aller evangelischen Christinnen und Christen in einer Region verstehen. Das Anerkennen einer Doppelmitgliedschaft ist also für viele Landeskirchen kein einfacher Verwaltungsakt, sondern durchaus eine theologische Selbstreflexion. Seit den 1950er-Jahren gibt es einen Grundlagenvertrag zwischen der EKD und der Brüdergemeine, der die Doppelmitgliedschaft bestätigt und auch die finanziellen Angelegenheiten regelt. So wird das Kirchensteueraufkommen der Doppelmitglieder zwischen der jeweiligen Landeskirche und der Brüdergemeine geteilt. Wie sieht die Situation heute aus? 38 % aller Mitglieder der Brüdergemeine sind Doppelmitglieder,16 wobei die regionale Verteilung sehr unterschiedlich ist. Während die Regionalgemeinden meist zwischen 60-70 % Doppelmitgliedern haben,17 sind in den Ortsgemeinden nur 10-20 % Doppelmitglieder. Die Mehrzahl der Mitglieder lebt auch nicht in Ortsgemeinden, sondern außerhalb. Durch die Doppelmitgliedschaft kommt ein zentrales  15 Nach anfänglichem misstrauischen Beäugen der Herrnhuter Brü-

dergemeine durch die Landeskirchen hat sich im Laufe der Zeit ein gutes Miteinander entwickelt. Viele brüderische Diasporaarbeiter haben die Landeskirchen immer wieder gestärkt und unterstützt. Diese Arbeit fand vor allem im 19. Jahrhundert statt. 16 Stand 2006. 17 Ich beziehe mich nur auf die Zahlen der Regionalgemeinden. Die genauen Zahlen für die Gemeinbereiche sind nur schwer zu ermitteln, weil jede Ortsgemeinde erst eine Differenzierung ihrer Mitglieder in „eigentliche“ Ortsgemeinmitglieder und Gemeinbereichsmitglieder vornehmen müsste.

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Anliegen Zinzendorfs wieder zum Vorschein: die gelebte Ökumene. Wenn ich Mitglied der Landeskirche vor Ort bin und dort mitarbeite und gleichzeitig Mitglied der Brüdergemeine bin, dann habe ich beides: Heimat und Gemeinschaft vor Ort und gleichzeitig Mission und Ökumene, eine weltweite Gemeinschaft. Doppelmitgliedschaft ist deshalb keine „Notlösung für die Diaspora“, sondern eine dem Grundanliegen der Herrnhuter Brüdergemeine entsprechende Daseinsform.18 Wie sieht das Leben in einer Regionalgemeinde aus? Geprägt durch die Diasporasituation finden Versammlungen an verschieden Orten statt, manchmal in landeskirchlichen Räumen, aber auch häufig in privaten Häusern. Viele Mitglieder nehmen weite Wege in Kauf, um an den Versammlungen teilzunehmen. Häufig kommen auch nur kleine Gruppen zusammen. In einigen Regionen finden monatliche Treffen statt, in anderen nur vierteljährliche. Deshalb spielen Besuche, Telefonate und Schriftverkehr wie ein monatlicher Gemeindegruß eine besondere Rolle. Eine enge Gemeinschaft wie an einem Ort kann hier nicht gepflegt werden, aber es gibt andere unverwechselbare Elemente, die sich auch von der evangelischen Landeskirche unterscheiden. Ich möchte drei wichtige Punkte anführen. Erstens das überregionale Bewusstsein. Dazu zählt, dass ich als Mitglied der Herrnhuter Brüdergemeine ein Mitglied einer weltweiten Kirche bin. Das kann keine Landeskirche mit ihren Millionen von Mitgliedern leisten. Als Mitglied der Brüdergemeine versuche ich über meinen Horizont hinauszublicken. Ich interessiere mich für meine Geschwister in Tansania oder Nicaragua und deren Lebenssituation, für ihre andersartigen Gottesdienste und Bibelauslegung. Ich freue mich, wenn Besuch kommt oder im Gemeindegruß berichtet wird. Es gibt  18 Vgl. dazu Zinzendorfs Tropenlehre.

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eine aktive Partnerschaftsarbeit, die Besuche und Reisen ermöglicht. Zweitens gibt es besondere seelsorgerische Situationen bei Besuchen oder Versammlungen. Ich komme mit Menschen zusammen, die mir nahe sind, die ich oft schon lange kenne, die aber meine soziale Welt vor Ort nicht kennen (meine Nachbarn, meine Arbeitskollegen, meine Freunde). Ähnlich wie in der Krankenhausseelsorge bietet sich die Möglichkeit, Ärger, Wut oder Enttäuschung loszuwerden, ohne dass etwas wieder in meine soziale Welt zurückkommt19 – eine Situation, die Ortsgemeinden kaum bieten können. Und drittens schließlich gibt es eine große Offenheit für „untraditionelle“ Formen. Es ist schon von den Räumlichkeiten gar nicht möglich, viele geschichtlich gewachsene und in Ortsgemeinden praktizierte Formen in Regionalgemeinden durchzuführen. Deshalb gibt es immer wieder neue Formen, die versuchen, das Erbe aufzunehmen, aber den Gegebenheiten anzupassen. Wichtig ist, was der Gemeinschaft und dem Glauben dient, weniger wichtig sind traditionelle Formen an sich. Dadurch entsteht auch eine engere Verzahnung von persönlichem Glauben und den gottesdienstlichen Formen. Es ist deutlich, dass sich das Gemeindeleben in Ortsgemeinden und außerhalb von Ortsgemeinden deutlich unterscheidet.  19 Jeder, der im Bereich der Seelsorge arbeitet, weiß, wie schnell Ge-

rüchte und Halbwahrheiten entstehen. Je enger eine Gemeinschaft ist, desto schwieriger kann es sein, unterschwellige Konflikte auszuräumen oder überhaupt zur Sprache zu bringen. In der Krankenhausseelsorge bieten sich immer wieder neue Situationen zwischen Seelsorger oder Seelsorgerin und den Patienten. Der Seelsorger oder die Seelsorgerin kommen von außen; sie kennen die persönliche Situation nicht, sie kennen die Familie meist nicht. Deshalb brauchen Patienten kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Eine ähnliche Situation gibt es auch oft bei der Telefonseelsorge.

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3. Bewertung und Ausblick Wenn man diese beiden gelebten Modelle der Herrnhuter Brüdergemeine in Deutschland vergleicht, wird schnell deutlich, dass beide Formen ihre Stärken und Schwächen haben. Keine ist von sich aus besser oder entspricht allein dem theologischen und traditionellen Erbe. Die gelebte Gemeinschaft mit ihren speziell brüderischen Traditionen ist sicherlich ein Identitätspunkt für die Ortsgemeinden. Auf der anderen Seite fordert diese Arbeit oft soviel Kräfte, dass Elemente wie das weltweite Bewusstsein oder die Ökumene zu kurz kommen. Vieles dreht sich um die eigene Gemeinde. Schon die sehr geringe Zahl von Doppelmitgliedern in Ortsgemeinden macht deutlich, dass es hier nur ein Entweder-oder geben kann. Die Brüdergemeine ist in Ortsgemeinden oft eine Art Konkurrenz zur evangelischen Landeskirche. Vieles, was Ortsgemeinden zur Identität haben wie Gebäude oder Formen, fehlt in Nicht-Ortsgemeinden. Auch das Geschichtsbewusstsein, das häufig ja auch mit Gebäuden verbunden ist, ist für Nicht-Ortsgemeinden weniger identitätsstiftend. Dafür ist das weltweite Bewusstsein stärker ausgeprägt, Besuche und Interesse an Partnerschaft mit Südafrika oder Surinam und vieles mehr. Hierdurch unterscheidet sich die Herrnhuter Brüdergemeine deutlich von den evangelischen Landeskirchen. Auch das ökumenische Grundanliegen, die Zusammenarbeit der Konfessionen, kommt durch die von vielen Mitgliedern gelebte Doppelmitgliedschaft deutlich zum Ausdruck. Zwei gelebte Gemeindemodelle der Herrnhuter Brüdergemeine in Deutschland, die nebeneinander existieren. Das führt aber auch immer wieder zu Problemen und Missverständnissen. So wird oft das eigene Erleben von 193

Brüdergemeine mit der ganzen Brüdergemeine gleichgesetzt.20 Die Unterschiede zu anderen Gemeinden müssen erst langsam von beiden Seiten erlebt werden. Das ist kein leichter Prozess. Auch die Erwartungshaltungen spielen bei Ortswechseln eine Rolle. Wenn jemand aus einer Ortsgemeinde wegzieht und in einer Regionalgemeinde eine solche Gemeinschaft sucht, wird er oft enttäuscht sein. Aber auch wenn umgekehrt jemand von außerhalb in eine Ortsgemeinde zieht, erlebt er oft eine Enge und wenig Blick über den Horizont und zur Ökumene hin. Miteinander ins Gespräch kommen, Brücken bauen zwischen verschiedenen Vorstellungen und das Annehmen und Akzeptieren von anderen Glaubenserfahrungen – das waren schon immer Stärken der Herrnhuter Brüdergemeine und durch sie können wir diese Weite und Unterschiedlichkeit in den Gemeinden auch aushalten und annehmen. Im Zentrum muss immer der gelebte Glaube an Jesus Christus stehen und nicht die Struktur der Gemeinde oder Kirche.

ZUSAMMENFASSUNG In der Herrnhuter Brüdergemeine in Deutschland gibt es hauptsächlich zwei Gemeindeformen: Ortsgemeinden und Regionalgemeinden. Beide haben unterschiedliche Schwerpunkte und Ausrichtungen, aber sie basieren beide auf Grundanliegen der Herrnhuter Brüdergemeine, auf Gemeinschaft und Ökumene.

 20 Eigentlich müsste man neben Orts- und Regionalgemeinden auch

die besondere Situation der Stadtgemeinden wie z.B. Dresden berücksichtigen.

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Gemeinde aus katholischer Sicht Michael Hardt

Wie der Begriff der „Gemeinde“ aus katholischer Sicht zu fassen ist, scheint auf den ersten Blick seit zwei Jahrtausenden, jedenfalls ab etwa dem vierten Jahrhundert, festzustehen. Die ersten christlichen Gemeinden werden in den Städten gegründet. Infolge der Mission auf dem Lande bilden sich Diözesen mit Gemeinden aus, die im Auftrag des Bischofs von Priestern geleitet werden. Dieser Prozess der Entstehung der Territorial-Pfarrei findet allerdings erst auf dem Trienter Konzil einen vorläufigen Abschluss. „Gemeinde“ meint dann die kleinste Seelsorgeeinheit innerhalb einer Diözese, wobei die Bezeichnung „Gemeinde“ in der katholischen Sprachregelung neueren Datums ist. Ursprünglich steht für die Bezeichnung der kleinsten Seelsorgeeinheit das Wort „Pfarrei“. Erst im 20. Jahrhundert, vor allem seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts, findet ein allmählicher Wechsel der Bezeichnung von „Pfarrei“ zu „Gemeinde“ statt oder aber es werden beide Bezeichnungen zum Wort „Pfarrgemeinde“ oder „Kirchengemeinde“ verknüpft.1 Wer in den augenblicklichen Umbrüchen der Seelsorgsstrukturen in den Diözesen Deutschlands gesicherte Erkenntnisse darüber finden will, was unter „Gemeinde“ in Zukunft verstanden werden soll, findet sich auf einer Vielzahl von Baustellen wieder und stößt dort unter den Trümmern auf die Steine, auf denen in der Vergangenheit die Pastoral gebaut wurde und auf neu gestaltete Steine, die in Zukunft  1 E. Gatz, Art. Gemeinde, II. Historisch-theologisch, in: LThK3 4

(1995) 419-420.

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das „Haus“ der Pastoral tragen sollen. Es ist in der Tat ähnlich wie beim Hausbau der letzten Jahrzehnte: Ziegelsteine und Hohlblocksteine werden durch große Quadersteine ersetzt. Allerdings bleiben unter den größeren Steinen die kleinen Steine des Ursprungs erkennbar, sodass sich die Frage stellt, ob im Hinblick auf das Ziel einer effektiven Seelsorge wirklich Neues entsteht, ob wirklich neue Prinzipien zur Anwendung gelangen. Dabei wird sich zeigen, dass bei allen Überlegungen zur Gestaltung einer effektiven, d.h. Menschen nahen Seelsorge letztendlich die gleichen Prinzipien ihre Wirkkraft entfalten sollen.

Das Pfarrprinzip Mit dem „Pfarrprinzip“ ist das grundlegende Prinzip gegeben, das auch in Zukunft Hauptträger der Seelsorge bleiben wird. Das kirchliche Gesetzbuch aus dem Jahr 1983 regelt dies in eindeutiger Weise im Can. 515. Dort heißt es: „Die Pfarrei ist eine bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen, die in einer Teilkirche auf Dauer errichtet ist und deren Seelsorge unter der Autorität des Diözesanbischofs einem Pfarrer als ihrem eigenen Hirten anvertraut ist.“2 Das Pfarrprinzip gerät allerdings schon in den Jahren vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil in die Diskussion. Dabei wird deutlich, dass bereits damals „Pfarrei“ und „Gemeinde“ keine identischen Größen sind. Die „Pfarrei“ wird eher als eine Verwaltungsgröße verstanden, während sich Seelsorge, die ja auch die Grenzen des Territoriums überschreitet, eher mit dem Verständnis der „Gemeinde“ als Ort „geistlicher Beheimatung“ verknüpft. Vorsichtig ausgedrückt: Gemeinde findet sich innerhalb der Grenzen des Territoriums, aber  2 CIC can. 515 § 1.

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eben auch außerhalb dieser Grenzen. In diesem Zusammenhang setzt sich Karl Rahner mit dem Pfarrprinzip kritisch auseinander. In seinen „friedlichen Erwägungen über das Pfarrprinzip“3 denkt er in den 50erJahren des vorigen Jahrhunderts darüber nach, in welchem Maße die Pfarrei wirklich die „totale Heimat des christlichen Menschen“ sein kann. Im Hintergrund der „friedlichen Erwägungen“ steht offenbar ein Streit zwischen dem Pfarrklerus und den Ordensleuten über die Mitarbeit der Ordensleute in der außerordentlichen bzw. kategorialen Seelsorge. Rahner hält an dem Grundsatz des Pfarrprinzips fest, will aber seine Grenzen bewusst machen. „Prinzipien sind gut. Menschen, die keine haben, sind Quallen. Aber man kann Prinzipien auch – zu Tode reiten. Und damit tut man selbst den heiligsten Prinzipien keinen Dienst.“4 Rahner unterscheidet im Folgenden zwei Arten von Prinzipien: Prinzipien, die als Einzige ihren Gegenstandsbereich beherrschen sollen und Prinzipien, die in einem Gebiet menschlichen Handelns auch zur Geltung kommen sollen, aber mit anderen zusammen. Das Pfarrprinzip gehört für ihn zu der zweiten Gruppe von Prinzipien. Im Pfarrprinzip kommen nun zwei Prinzipien zum Tragen, das Pfarrerprinzip und das Pfarreiprinzip. Nach dem Pfarrerprinzip wird die ganze Seelsorge einer bestimmten Gruppe durch den Pfarrer ausgeübt. Das Pfarreiprinzip verlangt, dass die ganze Seelsorge auf dem Gebiet der Pfarrei geschieht, sodass sie sich an Menschen wendet, die zur selben Pfarrei gehören.5 Rahner führt die Neubetonung des Pfarrprinzips in den 1950er-Jahren auf die neue geistige Lage der Zeit zurück, aber auch auf eine theoreti 3 K. Rahner, Friedliche Erwägungen über das Pfarrprinzip, in: ders.,

Schriften zur Theologie, Bd. 2, Einsiedeln 1955, 299-337. 4 Ebd., 299. 5 Ebd., 301.

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sche Begründung, auf die man sich in der neuen Situation wieder bezieht. Der höhere Bildungsstand des Weltklerus wecke jetzt auch das Verlangen, die größeren Aufgaben der Seelsorge selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht nur auf den Gottesdienst, die Predigt und die Verwaltungsaufgaben zu beschränken. Gewichtiger ist das andere Argument. Angesichts der Kollektivierung des Lebens gibt es einen neu erwachten Willen zur Gemeinde unter den Laien. Rahner kommt abschließend zu dem Ergebnis: „Es kann gut sein, dass in dieser Richtung die Bedeutung der Pfarrgemeinde noch sehr viel wachsen und das Pfarrleben noch sehr wesentlich ausgestaltet werden kann, zumal der Christ von heute – auch in den sogenannten katholischen Ländern – in der Diaspora lebt.“6 Ein erstes Fazit der Rahnerschen Überlegungen aus den 1950er-Jahren, der Zeit der Blüte des kirchlichen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg, ist die Neubetonung der Territorialpfarrei als Ort der Seelsorge, um den Menschen angesichts der Kollektivierungserfahrungen neu einen Ort der geistigen und geistlichen Beheimatung zu geben. Die Unterscheidung der Begrifflichkeit von Pfarrei und Gemeinde hat dabei allerdings noch nicht einen solch konzeptionell trennenden Hintergrund wie in den Debatten der Gegenwart um die Struktur der Pastoral mit den neuen Modellen des Pastoralverbundes oder der pastoralen Räume.

Das Wesen der Pfarrei als territoriale Altargemeinde Das Prinzip der Pfarrei hat seine tiefste Begründung in der Feier der Eucharistie als der Mitte und dem Aus 6 Ebd., 304.

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gangspunkt aller Seelsorge. „Wo sich die Seelsorge in Bünden, Vereinen, Organisationen usw. von dem entscheidenden Anliegen des Christentums, dass der Mensch in der heiligen Gemeinde Gott durch das Opfer unseres Herrn anbetet und im Sakrament dem Gott der Gnade und des ewigen Lebens wahrhaft und geschichtlich begegnet, mehr oder weniger loslöst, da wird solche ‚Seelsorge’ leerer Betrieb, Vereinsmeierei, rationalistische Weltverbesserung und geschäftige Organisation, in der die Mitglieder ihren Vorteil suchen und nicht Gott. Der Altar steht aber zunächst einmal in der Pfarrkirche. Denn sie ist die Repräsentantin des Bistums und der nach dem Kirchenrecht primäre Ort der Seelsorge … Wenn also alle Seelsorge ihren Mittelpunkt im Altar der Pfarrkirche hat, ist und bleibt das vom Altar der Pfarrkirche ausgehende Leben der Pfarrei die grundlegende Seelsorge.“7 Zwanzig Jahre später im Handbuch der Pastoraltheologie findet sich der gleiche Wortlaut im Abschnitt über „Die Träger des Selbstvollzugs der Kirche“. „Die territoriale Altargemeinde bildet den Kern des Wesens einer Pfarrei.“8 Rahner betont an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich, dass alle Aufgaben, die vom Altar nicht ernsthaft erreicht werden oder abgeleitet werden können, auch nicht wirklich Aufgabe der Pfarrei und des Pfarrers sein können.9

Aspekte einer neuen Theologie der Gemeinde Es sei noch einmal daran erinnert, das Wort „Gemeinde“ hat sich in der katholischen Theologie und Kirche  7 Ebd., 307. 8 K. Rahner, Die Träger des Selbstvollzuges der Kirche, in: HPTh 1,

202. 9 Ebd., 204.

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erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil durchgesetzt. Die Worte „Kirche“ und „Pfarrei“ besaßen den eindeutigen Vorzug. Der Wechsel der Sprachregelung hat mit Verschiebungen im Verständnis zu tun. Gegenüber einem einseitig rechtlichen-institutionellen Begriff von Kirche im Sinne einer territorial umschriebenen kirchlichen Verwaltungseinheit bzw. eines Seelsorgebezirks betont der Begriff „Gemeinde“ den im Glauben wurzelnden Zusammenschluss von Menschen, die sich zum Evangelium Jesu Christi bekennen. Die kirchenrechtliche Bestimmung des Begriffs der „Pfarrei“ prägte auch eher eine Vorstellung der Gläubigen als den passiven Empfänger der kirchlichen Gnadenmittel. „Gemeinde“ hingegen bringt mehr die in der Taufe geschenkte Würde und Gleichheit aller Christen zum Ausdruck.10 Es gehört zur Grundstruktur der Einzelgemeinde, dass diese nicht nur ein „Teil“ der ganzen Kirche ist, vielmehr ereignet sich in jeder Gemeinde in vollem Sinne die Kirche. Allerdings ist eine Ortsgemeinde nur dann die Kirche, wenn sie im Verband der Einheit des Glaubens, der Liebe und der fundamentalen Rechtselemente mit den Gemeinden Jesu Christi steht. Die Verantwortung für die Verkündigung des Wortes Gottes geht die ganze Gemeinde an. Darum haben Gesprächskreise, die Einbeziehung der Eltern und anderer Katecheten bei der Sakramentenvorbereitung eine große Bedeutung erhalten. Gremien wie Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand, die kirchlichen Vereine sind Ausdruck dafür, dass die Gemeinde nicht nur Objekt der Seelsorge, des Pfarrerprinzips ist, sondern selbst Trägerin der Seelsorge. Die drei Grundfunktionen der Gemeinde, Liturgie, Diakonie, Katechese verdichten sich in der Feier der Eucharistie. Hier bekennt die Gemeinde öffentlich das „Herrsein“ Jesu Christi; „hier sagt die Gemeinde zusammen  10 K. Lehmann, Gemeinde, in: CGG 29, 6-65, hier 8f.

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Lob und Dank; von hier aus schöpft der Christ im Gedächtnis des Todes und der Auferstehung des Herrn die unermüdliche Kraft der Hingabe für den Dienst der Liebe. Eine Eucharistiefeier, die nicht ausmündet in die Diakonie, verdient diesen Namen nicht recht.“11 Alle diese Aspekte einer neuen Theologie der Gemeinde wurzeln in der Erneuerung des Kirchenbildes im II. Vaticanum und in den darauf folgenden Jahrzehnten der Kirchenreform in der Praxis der Gemeinden. Die Umsetzung dieser Reformen wurde in Deutschland vor allem getragen von der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1971-1975.

Das neue Verständnis von Gemeinde in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils Das neue Verständnis von Gemeinde findet sich im Zweiten Vatikanischen Konzil nicht direkt ausgeprägt in eigenen Dokumenten, die das Thema „Gemeinde“ behandeln. Vielmehr müssen die Konsequenzen für die Veränderungen des konkreten Gemeindelebens aus den unterschiedlichen Dokumenten des Konzils erhoben werden. Sie betreffen die Betonung der aktiven Mitfeier und Mitgestaltung der Liturgie durch die Laien. Der andere Akzent der Kirchenkonstitution, die zunächst vom Mysterium der Kirche und vom Volk Gottes vor allen Darlegungen der hierarchischen Verfassung handelt, stellt einen Brennpunkt der neuen Sicht der Kirche und des Miteinanders von Priestern und Laien dar. Des Weiteren ist zu nennen die Hochschätzung des Laienapostolates, die auf der einen Seite über die Grenzen der Gemeinde hinausweist, aber in der Gemeinde wurzelt. Die  11 Ebd., 32.

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neue Sicht von Kirche und Gemeinde, die Konsequenzen für das Leben der Kirche finden ihren Ausdruck vor allem in der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“. Der damalige Impuls zur Erneuerung hat in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts in den Gemeinden zur Einrichtung der Pfarrgemeinderäte geführt. In Deutschland ist nicht der Pfarrer der Vorsitzende, sondern ein aus den Mitgliedern des Pfarrgemeinderates gewählter Laie. In zahlreichen Gemeinden wird die Arbeit der Pfarrgemeinderäte in sogenannten Sachausschüssen für Liturgie, Öffentlichkeitsarbeit, Jugendarbeit etc. reflektiert und weiter entwickelt. Die Sachausschüsse arbeiten vielfach selbstständig ohne Beteiligung der Priester. Die neuen Akzente für das Gemeindeleben werden heute 40 Jahre nach dem Konzil dafür Sorge tragen müssen, dass die Gemeinden Zukunft behalten auch ohne die ständige Präsenz des Pfarrers. Was Karl Rahner in den 1950erJahren zu Recht ironisch das Pfarrerprinzip nannte, erhielt durch das Konzil Ergänzung durch die aktive Gestaltung des Gemeindelebens durch die Laienräte und die Mitarbeit der Laien in der Sakramentenpastoral, der Jugendarbeit und vielen anderen Bereichen der Pfarrei. Der Blick auf einige wenige Textstellen in den Dokumenten des Konzils verdichtet die Zusammenfassung des Konzilsimpulses.

Die Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“ In der Konstitution über die heilige Liturgie findet sich der Hinweis zur intensiveren Einbeziehung der Gläubigen an verschiedenen Stellen. In der Nr. 14 heißt es: „Die Mutter Kirche wünscht sehr, alle Gläubigen möch202

ten zu der vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern geführt werden, wie sie das Wesen der Liturgie selbst verlangt und zu der das christliche Volk …kraft der Taufe berechtigt und verpflichtet ist.“ Im zweiten Kapitel über das heilige Geheimnis der Eucharistie wird der Wille zur Erneuerung, vor allem zur aktiven Mitfeier, besonders stark formuliert. In der Nr. 48 heißt es: „So richtet die Kirche ihre ganze Sorge darauf, dass die Christen diesem Geheimnis des Glaubens nicht wie Außenstehende und stumme Zuschauer beiwohnen; sie sollen vielmehr durch die Riten und Gebete dieses Mysterium wohl verstehen lernen und so die heilige Handlung bewusst, fromm und tätig mitfeiern, sich durch das Wort Gottes formen lassen, am Tisch des Herrenleibes Stärkung finden. Sie sollen Gott danksagen und die unbefleckte Opfergabe darbringen nicht nur durch die Hände des Priesters, sondern auch gemeinsam mit ihm und dadurch sich selber darbringen lernen. So sollen sie durch Christus, den Mittler, von Tag zu Tag zu immer vollerer Einheit mit Gott und untereinander gelangen, damit schließlich Gott alles in allem sei.“ Von unschätzbarem Wert für die aktive Mitfeier der ganzen Gemeinde war die Einführung der Muttersprache in der Liturgie der Messfeier.

Die dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ Die Nr. 26 der Kirchenkonstitution verdeutlicht zwei Aspekte des Gemeindeverständnisses. Die Gemeinde lebt aus der Eucharistie und sie ist „Kirche“ in der Verbindung mit der Altargemeinschaft des Bischofs im eucharistischen Netz aller Einzelgemeinden des Bistums. Der Text lautet: „Der Bischof ist, mit der Fülle des Wei203

hesakramentes ausgezeichnet, ‚Verwalter der Gnade des höchsten Priestertums’, vorzüglich in der Eucharistie, die er selbst darbringt oder darbringen lässt und aus der die Kirche immerfort lebt und wächst. Diese Kirche Christi ist wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend, die in der Verbundenheit mit ihren Hirten im Neuen Testament auch selbst Kirchen heißen. Sie sind nämlich je an ihrem Ort, im Heiligen Geist und mit großer Zuversicht (vgl. 1 Thess 1,5), das von Gott gerufene neue Volk. In ihnen werden durch die Verkündigung der Frohbotschaft Christi die Gläubigen versammelt, in ihnen wird das Mysterium des Herrenmahls begangen, ‚auf dass durch Speise und Blut des Herrn die ganze Bruderschaft verbunden werde’. In jedweder Altargemeinschaft erscheint unter dem heiligen Dienstamt des Bischofs das Symbol jener Liebe und jener ‚Einheit des mystischen Leibes, ohne die es kein Heil geben kann’. In diesen Gemeinden, auch wenn sie oft klein und arm sind oder in der Diaspora leben, ist Christus gegenwärtig, durch dessen Kraft die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche geeint wird.“

Das Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam actuositatem“ Das Dekret über das Laienapostolat bringt in bisher nicht so ausdrücklich formulierter Weise die Hochschätzung für die Mitarbeit der Laien in der Kirche zur Sprache und umschreibt deren Eigenbereich und Eigenverantwortung gegenüber dem Dienst der Priester. „Das Erlösungswerk Christi zielt an sich auf das Heil der Menschen, es umfasst aber auch den Aufbau der gesamten zeitlichen Ordnung. Darum besteht die Sendung der 204

Kirche nicht nur darin, die Botschaft und Gnade Christi den Menschen nahezubringen, sondern auch darin, die zeitliche Ordnung mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen und zu vervollkommnen. Die Laien, die diese Sendung der Kirche vollziehen, üben also ihr Apostolat in der Kirche wie in der Welt, in der geistlichen wie in der weltlichen Ordnung aus“ (Nr. 5). „Als Teilnehmer am Amt Christi, des Priesters, Propheten und Königs, haben die Laien ihren aktiven Anteil am Leben und Tun der Kirche. Innerhalb der Gemeinschaften der Kirche ist ihr Tun so notwendig, dass ohne dieses auch das Apostolat der Hirten meist nicht zu seiner vollen Wirkung kommen kann“ (Nr.10). An dieser Stelle wird dann auch der Bereich der Pfarrei angesprochen. „Die Pfarrei bietet ein augenscheinliches Beispiel für das gemeinschaftliche Apostolat; was immer sie in ihrem Raum an menschlichen Unterschiedlichkeiten vorfindet, schließt sie zusammen und fügt es dem Ganzen der Kirche ein. Die Laien mögen sich daran gewöhnen, aufs engste mit ihren Priestern vereint in der Pfarrei zu arbeiten; die eigenen Probleme und die der Welt, sowie die Fragen, die das Heil der Menschen angehen, in die Gemeinschaft der Kirche einzubringen, um sie dann in gemeinsamer Beratung zu prüfen und lösen; endlich jede apostolische und missionarische Initiative der eigenen kirchlichen Familie nach Kräften zu unterstützen“ (Nr. 10). „Das Apostolat im sozialen Milieu, nämlich das Bemühen, Mentalität und Sitte, Gesetz und Strukturen der Gemeinschaft, in der jemand lebt, im Geist Christi zu gestalten, ist so sehr Aufgabe und Pflicht der Laien, dass sie durch andere niemals entsprechend erfüllt werden kann“ (Nr. 13).

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Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland Im Jahre 1969 beschloss die deutsche Bischofskonferenz, zur Verwirklichung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils statt einzelner Diözesansynoden eine Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland abzuhalten. Als die Gemeinsame Synode der Deutschen Bistümer einberufen wurde, stand die Kirche – allerdings nicht nur in Deutschland – mitten in einer schweren Autoritätskrise, die sich spürbar in einer Krise im Verständnis des kirchlichen Amtes zuspitzte. Wahrscheinlich hat die Kirche in ihrer Geschichte nie zuvor einen so hohen Verlust an Priestern durch die Aufgabe des Priesteramtes zu verzeichnen gehabt wie in den ersten 15 Jahren nach dem Zweiten Vaticanum. Für die Frage nach der neuen Sicht der Gemeinde sind die folgenden Beschlüsse von Bedeutung: „Die pastoralen Dienste in der Gemeinde“, „Die Beteiligung der Laien an der Verkündigung“ und die „Verantwortung des ganzen Gottesvolkes für die Sendung der Kirche“.

Die pastoralen Dienste in der Gemeinde12 Die Leitidee des Beschlusses lautet: „Aus einer Gemeinde, die sich pastoral versorgen lässt, muss eine Gemeinde werden, die ihr Leben im gemeinsamen Dienst aller und in unübertragbarer Eigenverantwortung jedes einzelnen gestaltet.“ Mit diesem Ausgangspunkt bei der Gemeinde griff die Synode ein Thema auf, das innerhalb der katholischen Kirche relativ neu war, aber im Mittel 12 Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutsch-

land. Offizielle Gesamtausgabe, Freiburg i.Br. 21976, 581-636.

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punkt der nachkonziliaren Diskussion stand: die Wiederentdeckung der Ortskirche innerhalb der Universalkirche. Damals begannen die Diskussionen um den Übergang von der Volkskirche zur Gemeindekirche und später dann im Kontext der Befreiungstheologie die Entstehung der Basisgemeinden. Die Wiederentdeckung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften und damit verbunden die Entwicklung einer Theologie der Laien gehört bleibend zu den großen Errungenschaften der kirchlichen Reformbewegung des 20. Jahrhunderts. In den 1970er-Jahren entsteht neu der Beruf des Pastoralreferenten und des Gemeindereferenten. Bis in die Gegenwart ist die Frage nach dem Selbstverständnis dieses neuen Berufes ungeklärt, d.h. inwieweit der neue Beruf Anteilhabe am kirchlichen Amt ist oder wirklich ein Beruf, der sich als Sendung aufgrund von Taufe und Firmung versteht. Ist Gemeindeleitung denkbar ohne die Verbindung mit der Leitung auch der Eucharistiefeier? Alle entsprechenden Modelle, z.B. in der Schweiz, sind Lösungen, die zunächst aufgrund der seelsorglichen Nöte durch praktische dienstrechtliche Umschreibungen geregelt worden sind. Faktisch ist aber ein sogenanntes „Laien-Amt“, ein schlechter Begriff für einen notwendigen Beruf, entstanden.

Die Beteiligung der Laien an der Verkündigung13 Das wichtige Thema dieses Beschlusses ist die Frage der Laien-Predigt. Ausgangspunkt für den Beschluss war die Bewusstwerdung der Verantwortung der ganzen Gemeinde für die Verkündigung. Das Glaubenszeugnis der Christen hat seinen Ort nicht nur außerhalb der gottesdienstlichen Versammlung, sondern auch in ihr. Im Hin 13 Ebd., 153-178.

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tergrund des Beschlusses stehen die Erfahrungen mit der Mitwirkung von Laien bei Gruppengottesdiensten, bei Bußgottesdiensten, bei Predigtgesprächen etc. In den Beschlüssen der Synode finden sich zahlreiche Modelle für die Mitarbeit der Laien in der Gemeinde, die regional sehr unterschiedlich bis in die 1990er-Jahre hinein das Leben in den Gemeinden geprägt haben. Die „Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester“14 aus dem Jahre 1997 hat den Brauch der Laienpredigt sowohl bei den ehrenamtlichen Laienmitarbeitern etwa am „Familiensonntag“ wie bei den Pastoralreferenten und Gemeindereferenten untersagt und als einen Dienst deklariert, der mit dem Weiheamt verbunden ist. Das Verhältnis des Leitungsdienstes zur Mitarbeit der hauptamtlichen und ehrenamtlichen Laien in der Gemeinde bleibt in den 1990erJahren auf der Tagesordnung in den Publikationen der „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles“ und des Sekretariates der Deutschen Bischofskonferenz. Zu nennen sind hier „Der Leitungsdienst in der Gemeinde“15 (1994), „Der pastorale Dienst in der Pfarrgemeinde“16 (1995) und „Der Priester, Hirte und Leiter der Pfarrgemeinde“17 (2002). Alle Texte unterstreichen einerseits das Amt des Pfarrers als Leiter der Gemeinde bzw. als Moderator innerhalb der sogenannten Pfarrverbünde,  14 Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am

Dienst der Priester, 15. August 1997. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1997 (VApS 129). 15 Der Leitungsdienst in der Gemeinde, 23. Februar 1994. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1994 (ADBK 118). 16 Der pastorale Dienst in der Pfarrgemeinde, 28. September 1995. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1995 (DtBis 54). 17 Kongregation für den Klerus. Der Priester, Hirte und Leiter der Pfarrgemeinde, 4. August 2002. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2002 (VApS 157).

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andererseits betonen die Texte die Mitarbeit und Ergänzung der pastoralen Arbeit durch das Laienapostolat in den aus den Konzilstexten bekannten Formulierungen. Die Absicht, auch eine Klarstellung über das Amt des Pfarrers herbeizuführen, ist den Dokumenten durchaus anzumerken.

Orte der „geistlichen Heimat“ jenseits der Ortsgemeinde Zu Beginn des neuen Jahrtausends haben in allen deutschen Diözesen Überlegungen und Planungen eingesetzt, mit neuen pastoralen Modellen den Sendungsauftrag der Kirche erfüllen zu können. Ausgangspunkt dieser Suche ist faktisch der massive Priestermangel. Die Grundfrage lautet dabei: „Will man bestehende Gemeinden attraktiver, lebendiger, spiritueller machen, sodass sich Christen heute wieder oder vermehrt in Gemeinden wohl fühlen, zu den Gottesdiensten und Veranstaltungen kommen? Oder fragt man sich, welche Sozialform dem Suchen heutiger Menschen nach Sinn am ehesten entsprechen könnte, in welchen Formen Verkündigung des Evangeliums am besten geschehen könnte?“18 In dieser Fragestellung wird ernst genommen, was sich in dem noch unpräzisen Sprachwechsel von Pfarrei und Gemeinde in den 1950er-Jahren bereits abzeichnete: Viele der aktiven Christen einer Pfarrei haben außerhalb ihrer Grenzen Orte der „geistlichen Beheimatung“ und nehmen am Gemeindeleben der Pfarrgemeinde kaum teil. Solche Orte der geistlichen Beheimatung können Klöster sein, Orte wie Taizé, die neueren geistlichen Gemein 18 J. Pock, Aufreger oder Auslaufmodell? Spannungsreiche Diskus-

sion über die Zukunft der Gemeinde, in: HerKorr 61 (2007) 585589, hier 587.

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schaften, Familienkreise oder aber auch neue Formen des Gottesdienstes wie „Nacht der Lichter“ im Anschluss an in Taizé übliche Gottesdienste. Manche finden in Gottesdiensten mit modernen Texten und Liedern mehr Kraft für ihr Leben als in der überkommenen Form der Eucharistiefeier. Die herkömmliche Pfarrgemeinde bietet für viele suchende und fragende Christen keine Antworten mehr. Viele machen in den Pfarrgemeinden die Erfahrung, dass spirituelle Angebote kaum gemacht, bildungsorientierte Angebote nicht wahrgenommen werden und sich das Pfarrleben neben der Sakramentenvorbereitung vor allem auf Gemeinschaftsveranstaltungen für die ältere Generation beschränkt. Aus der Entstehung und Bedeutung der neuen Orte der geistlichen Beheimatung wächst die Frage nach der Örtlichkeit unserer Kirche im Allgemeinen und besonders auch im Blick auf den Fortbestand und die Rolle der Territorialpfarrei in der Zukunft. Auch katholische Christen nehmen die Angebote der Kirche zunehmend „ereignisorientiert“ statt „gewohnheitsmäßig normorientiert“ und somit wahlweise an.19 „Die Sehnsucht boomt, aber die Kirchen schrumpfen“(Günter Nenning). „Geht der religiöse Aufschwung an der Kirche vorbei?“,20 fragt der Pastoraltheologe Paul M. Zulehner in seinem Beitrag zum Sonderheft der Herder Korrespondenz „Was die Kirche bewegt“. Angebote wie die city-Pastoral in Großstädten wie Frankfurt versuchen, Menschen mitten im Trubel der Stadt zu erreichen. Der Priestermangel in den Diözesen führt dazu, dass durch die Schaffung der Pfarrverbünde, in denen mehrere Pfarreien zusammenarbeiten, ebenfalls neue  19 Vgl. M.N. Ebertz, Wie ticken Katholiken? Die Ergebnisse der Si-

nusstudie, in: HerKorr Spezial 2006: Was die Kirche bewegt. Katholisches Deutschland heute, 2-6, hier 2. 20 P.M. Zulehner, Spirituelle Runderneuerung. Geht der religiöse Aufschwung an der Kirche vorbei?, in: ebd., 6-10.

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Orte der geistlichen Beheimatung entstehen, in denen Menschen aus unterschiedlichen Pfarreien zusammenkommen und in den Gottesdiensten und Veranstaltungen der anderen Gemeinden des Verbundes neue Nachbarn, neue christliche Geschwister kennenlernen. Die Pfarrverbünde vermitteln also durchaus nicht nur Mangelerfahrungen, sondern auch Neuigkeitserlebnisse für den gelebten Glauben. Ein wichtiges Stichwort für die Wichtigkeit des Lebensumfeldes in und jenseits der Ortsgemeinde ist die „Entfremdung“ vieler Katholiken von der Kirche. Darauf macht die Sinusstudie aufmerksam. Die Sinusstudie ist eine aktuelle Milieu-Studie von „Sinus Sociovision“, die milieuspezifische Beziehungen und Einstellungen zu Religion und katholischer Kirche in Deutschland erhoben hat. „‚Milieus’ sind, grob gesagt, Bevölkerungsgruppen, die sich durch ähnliche Lebensbedingungen (soziale Lage im vertikalen Raum), Lebenserfahrungen, Lebensauffassungen, Lebensweisen, Lebensstile und Lebensführungen (kulturelle Orientierungen im horizontalen Raum) ausweisen. Die Milieus der Katholikinnen und Katholiken sind wie Stämme, die einem teilweise fremd vorkommen – je nachdem, welchem Milieu-Stamm man selbst angehört. Einige dieser Milieus beißen sich, passen nicht zueinander. Die einen sind häufig in der Kirche ‚vor Ort’ anzutreffen, andere nur einmal im Jahr, wieder andere an ganz anderen kirchlichen Orten und bei ganz bestimmten Gelegenheiten.“21 Die Bezeichnungen dieser Milieus seien an dieser Stelle kurz genannt: die Traditionsverwurzelten, die Konservativen, die bürgerliche Mitte, die Etablierten, die Postmateriellen, die modernen Performer, die Experimentalisten, die Hedonisten und die Konsum-Materialisten. Die Mitglieder dieser unterschiedlichen Milieus haben alle, bedingt  21 M.N. Ebertz (Anm. 19), 2f.

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durch ihr Milieu, unterschiedlichen Kirchenkontakt und sind auch von der Kirche nur in sehr differenzierter Weise erreichbar oder gar nicht ansprechbar. Diese Studie wird innerkatholisch derzeit intensiv diskutiert und es gibt bereits einige Versuche, in der Pastoral auf diese Milieus zuzugehen.

Das Pfarrprinzip im Widerstreit mit den Orten der „geistlichen Beheimatung“ Die Nachzeichnung der Umbrüche im Leben der Pfarrgemeinden seit dem Zweiten Weltkrieg belegt bei Berücksichtigung der regionalen Ungleichzeitigkeiten ein Auseinanderbrechen der ursprünglichen Nähe der Bereiche von „Pfarrei“ und „Gemeinde“. Jenseits der kirchenrechtlichen Umschreibung, die die Pfarrei als „communitas christifidelium“ im Bereich einer Teilkirche benennt, zeichnet sich eine Entwicklung ab, in der „Gemeinde“ eher als Ort „geistlicher Beheimatung“ verstanden und die „Pfarrei“ stärker als früher zur kirchlichen Verwaltungseinheit wird. Diese Entwicklung schließt ein, dass die Pfarrei auch weiterhin für die Seelsorge Ort der geistlichen Grundversorgung bleiben wird. Das Pfarrprinzip oder was Karl Rahner eigentlich in ihm sieht, das Pfarrerprinzip, bleibt auch in der heutigen Strukturdebatte das Grundprinzip der Seelsorge. Auch in den pastoralen Räumen oder in den noch kleineren Strukturen der Pastoralverbünde mehrerer Pfarrgemeinden bleibt das Amt des Pfarrers konstitutiv für die Existenz der Pfarrei. Im Blick auf die Ausübung des Pfarramtes hält die Instruktion „Der Priester, Hirte und Leiter der Pfarrgemeinde“ eine bedeutsame Mahnung fest: „Der Pfarrer soll in enger Gemeinschaft mit dem Bischof und mit allen Gläubigen vermeiden, in sein Hirtenamt Formen ei212

nes improvisierten Autoritarismus oder ‚demokratistische’ Führungsbedingungen einzuführen, die der tieferen Wirklichkeit des Dienstamtes fremd sind.“22 Im Kontext dieser Vorstellung von der Pfarrei hat das II. Vaticanum das Apostolat der Laien hervorgehoben und damit den Begriff der Pfarrei durch die Perspektive der Gesamtverantwortung des Volkes Gottes für die Verkündigung ergänzt. In der Sicht des Konzils lebt die Pfarrei aus dem Wurzelgrund der Eucharistie. Gemeindeleitung und Vorsitz bei der Eucharistiefeier gehören zusammen. Hier liegt der wesentliche Grund für die Notsituation der Pfarrgemeinden angesichts des Priestermangels, da die sonntägliche Eucharistiefeier nicht mehr grundsätzlich gesichert ist. Kirche lebt von der Eucharistie als dem zentralen Sakrament. Dieser Grundsatz wird auch in den Modellen der pastoralen Räume verwirklicht. Auch wenn die Zahl der sonntäglichen Eucharistiefeiern sinkt, soll in den Gemeinden die Mitfeier der Eucharistie ermöglicht werden. Der Erhalt des Eucharistieprinzips steht nicht im Gegensatz zum gemeinsamen Dienst der Verkündigung durch Priester und Laien. Für das II. Vaticanum tut sich hier keine Differenz auf. Die Frage nach den Orten „geistlicher Beheimatung“ kann ebenfalls in diesem Kontext gesehen werden. Das Plädoyer von Paul M. Zulehner, Fritz Lobinger und Peter Neuner „Leutepriester in lebendigen Gemeinden“23 als weiteres Modell für die Pastoral der Zukunft verbleibt grundsätzlich im Eucharistieprinzip, verbindet damit aber die Rückholung der „Gemeinde“ als Ort der „geistlichen Beheimatung“ in die „Pfarrei“. Im Hinter 22 Kongregation für den Klerus. Der Priester, Hirte und Leiter der

Pfarrgemeinde (Anm. 17), 32. 23 P.M. Zulehner / F. Lobinger / P. Neuner, Leutepriester in lebendi-

gen Gemeinden. Ein Plädoyer für gemeindliche Presbyterien, Ostfildern 2003.

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grund dieses Modells steht die Einladung an die Kirchen des Nordens, die Weihe der „viri probati“ neu zu überdenken und am Modell der Kirchen des Südens auszurichten.24 In den jungen Kirchen des Südens sind praktisch alle Pfarreien Pfarrverbände, die auf eine Form der Gemeindeleitung gebaut sind, die sich nicht auf die Anwesenheit eines Priesters stützen kann, der in der jeweiligen Gemeinde lebt. In diesen selbstsorgenden Gemeinden hat sich praktisch eine gemeinschaftliche Gemeindeleitung entwickelt. Dieses Modell sollen die Kirchen des Nordens übernehmen, indem sie durch die Weihe von „viri probati“ für die Pfarrverbände eine Gemeindeleitung durch ein Presbyterium ermöglichen. Die Mitglieder des Presbyteriums verbleiben in ihren Berufen. Diese nebenamtlichen Priester, Leutepriester genannt, sollen von den hauptamtlichen Bistumspriestern mit Theologiestudium unterstützt und geistlich zugerüstet werden. Die Gruppe der Leutepriester trägt in diesem Modell die Verantwortung für die Pfarrverbände oder für die Großpfarrei. Natürlich wäre mit einem solchen Presbyterium innerhalb der Pfarrei die Seelsorge mit ihren unterschiedlichen Feldern gut zu organisieren.25 Dieses Modell der Ausfaltung des priesterlichen Amtes in „Leutepriester“ und „Bistumspriester“ bestätigt, wie schon oben kurz erwähnt, die Grundvoraussetzung für das kirchliche Leben in der Gemeinde: Kirche lebt von der Eucharistie. Das Leben der Pfarrgemeinden hat sich in den letzten 60 Jahren verändert. Die Pfarrerzentriertheit ist ergänzt worden durch die Gesamtverantwortung von Priestern und Laien für die Verkündigung. Orte der „geistlichen Beheimatung“ außerhalb der Pfarrei werden zur „Ge 24 F. Lobinger, Vom Pfarrverband zu Leutepriestern, in: ebd., 21-125,

hier 22. 25 Vgl. ebd., 23ff.

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meinde“, in dem Sinne, dass hier geistliche Zurüstung erfahren wird bzw. Diakonie und Verkündigung gelebt werden. Die Pfarrei bleibt kirchenrechtlich aber der „Erstort“ der Seelsorge und der geistlichen Beheimatung, weil sie doch auch in Zukunft Lebensraum in einem umfassenderen Lebensraum für die Menschen sein wird. Hinter dieses Ergebnis aus den neueren Dokumenten zum Verständnis der Gemeinde und der Zusammenarbeit von Priestern und Laien in der Pastoral hat der Würzburger Pastoraltheologe Erich Garhammer in einem Vortrag vor der Paderborner Dechantenkonferenz im Februar 2008 ein großes Fragezeichen gesetzt. Das augenblickliche Modell der Pfarreiengemeinschaft bedeute häufig die Fortführung der bisherigen Praxis auf einer anderen Ebene. Die Kooperationsstrukturen vertieften nicht selten die Differenz zwischen Priestern und Laien und auch zwischen Ehren- und Hauptamtlichen. Die Suche nach neuen kirchlichen Sozialformen ist die zentrale Aufgabe der Gegenwart. Hinter dieser These steht die Sorge, dass gerade auch die neuen Strukturen die Menschen heimatlos machen und „geistliche Beheimatung“ in der Pfarrei oder im Pastoralverbund noch schwieriger wird. In die gleiche Richtung wies der Beitrag von Bernhard Spielberg, ebenfalls Pastoraltheologe aus Würzburg. Er wünschte sich einen Weg jenseits der „Apparate-Pastoral“ hin zu Erlebnis und Erfahrung. Menschen suchen heute neu Verankerung und Verwurzelung, jedoch nicht in den klassischen Kirchengemeinden. „Menschen wollen als Personen wahrgenommen werden“. Spielberg forderte, das Konstrukt Pfarrgemeinde aufzubrechen in Pfarrei und Gemeinde und eine stärkere Kategorialisierung der Seelsorge anzustreben. Die These von Spielberg bestätigt die Linien dieser Ausführungen, dass in den letzten 60 Jahren „Gemeinde“ in Abhebung von der Pfarrei zum Inbegriff der „geistlichen Beheimatung“ geworden ist, die sich allerdings auch 215

außerhalb der Grenzen der Pfarrei ergeben kann. Die These von Garhammer bestätigt meine Ausgangsüberlegung, dass auf der Baustelle der Pastoral für die Zukunft die Steine nur größer geworden sind.

ZUSAMMENFASSUNG Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts findet in der katholischen Kirche ein Wechsel der Bezeichnung von „Pfarrei“ zu „Gemeinde“ als Begriff für die kleinste Seelsorgeeinheit statt. Unter „Pfarrei“ wird die territorial umgrenzte Seelsorgeeinheit verstanden, während „Gemeinde“ zunehmend weiter gefasst wird als Ort der „geistlichen Beheimatung“. Zugleich wird infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland bewusst, dass die ganze Gemeinde Trägerin der Seelsorge ist. Diese Akzente erhielten angesichts des sich abzeichnenden Priestermangels durch die Einführung pastoraler „Laienberufe“ eine Konkretisierung, die die Pastoral der Gemeinden neu strukturierte. Der Zusammenschluss mehrerer Gemeinden zu einem Pastoralverbund unter der Leitung eines Pfarrers als dem neuen pastoralen Modell hat die Frage nach den Orten der „geistlichen Heimat“ verschärft. Alle Modelle für die Pastoral der Zukunft sind nach wie vor auf das Eucharistieprinzip gebaut und versuchen damit die „Pfarrei“ als den Ort der „geistlichen Beheimatung“ zu erhalten oder wieder zu gewinnen. Die „Gemeinde“ stellt also derzeit einen Bauplatz dar, an dem aus alten und neuen Steinen das Haus „geistlicher Beheimatung“ für die Zukunft geplant werden muss.

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Die unverbindliche Treue Dimensionen des Amtes im kongregationalistischen Verhältnis von Gemeindebund und Ortsgemeinde Ralf Dziewas

1. Einleitung Kirchensoziologisch betrachtet gehören zum Kongregationalismus all jene Gemeinschaften, die in der „Ortsgemeinde das grundlegende und wesentliche Element von Kirche“1 sehen und einem Zusammenschluss von Einzelgemeinden keine, die jeweilige Ortsgemeinde bindende Entscheidungskompetenz zugestehen.2 Nun ist aber das Amt als geordneter Dienst einer Kirche oder Glaubensgemeinschaft selbst in den kongregationalistisch verfassten Denominationen nicht allein in die Entscheidungskompetenz der einzelnen Ortsgemeinden ge 1 So J. Huxtable, Art. Kongregationalismus, in: TRE 19 (1990) 452-

462, in seiner Definition des Kongregationalismus: „Kongregationalismus ist eine Form der Kirchenordnung, die auf der Überzeugung gründet, dass die Ortsgemeinde das grundlegende und wesentliche Element von Kirche ist“ (ebd., 452). 2 Vgl. E. Geldbach, Art. Kongregationalismus, in: ELThG 2 (1993) 1151f. In diesem weiteren Sinne besitzen die meisten der in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen zusammengeschlossenen Gemeinschaften eine kongregationalistische Struktur. Vgl. Vereinigung Evangelischer Freikirchen (Hg.), Freikirchenhandbuch. Informationen – Anschriften – Texte – Berichte, Wuppertal 2004, 25; 28; 31; 34; 45 für die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland, den Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, den Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland, den Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden sowie den Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden.

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legt. Schon um die gegenseitige Anerkennung von Pastoren und Pastorinnen sowie von Diakoninnen und Diakonen sicherzustellen, bedarf es einer wechselseitigen Verbindlichkeit zwischen den Gemeinden hinsichtlich des Umgangs mit dem Amt. Aber mit derartigen Verbindlichkeiten hat der Kongregationalismus aufgrund seiner starken Betonung der Autonomie der Ortsgemeinde zunächst einmal grundsätzliche Probleme. Historisch besitzt der Kongregationalismus seine Wurzeln im Widerstand gegen die englische Kirchenpolitik des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts. Da das auf staatlicher Amtseinsetzung beruhende Episkopalsystem der englischen Kirche von vielen Puritanern als unbiblisch abgelehnt wurde,3 entstanden erste unabhängige Gemeinden. Als sich mit der Uniformitätsakte von 1662 die Hoffnung auf eine Reform der Nationalkirche hin zu einer presbyterianischen oder kongregationalistischen Struktur zerschlug,4 entstanden unter Exilanten in den Niederlanden und in Nordamerika freikirchliche Gemeinden und kongregationalistisch strukturierte Gemeindebünde, aus denen in der Folgezeit die meisten heute noch existierenden kongregationalistisch organisierten Denominationen hervorgingen. Für kongregationalistisch geprägte Konfessionen ist jede Gemeinschaft von Gläubigen, die sich in verbindlicher Form zu gottesdienstlicher Gemeinschaft und einem gemeinsamen Leben als Nachfolger Jesu versammelt und in der die Vielfalt der Gaben des Heiligen Geistes sichtbar wird, eine vollgültige Gestalt des Leibes Christi. Da dies nach kongregationalistischem Verständnis nur in einer verbindlichen Gemeinschaft von entschiedenen Christen möglich ist, verbindet sich das Prinzip der Orts 3 Vgl. K.W. Clements, Art. Kongregationalismus 2. Historisch, in:

EKL3 2 (1989) 1384-1387, bes. 1384. 4 J. Huxtable (Anm. 1), 453.

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gemeinde vielfach mit einer freiwillig gewählten, zumindest aber einer bewusst vollzogenen Zustimmung zur Mitgliedschaft.5 Wer zur Gemeinde als Leib Christi hinzukommt, entscheidet sich für ein intensives Miteinander an diesem Ort, mit diesen Mitchristen, ist bereit, seine eigenen Gaben einzubringen und mit allen anderen gemeinsam nach den Geboten und Anordnungen des Wortes Gottes zu fragen.6 Eine solche Gemeinschaft  5 Ausdruck dieser Verbindung von Ortsgemeinde als Leib Christi

und der bewussten Entscheidung zur verbindlich gelebten Gemeinschaft sind die in den Anfängen des Kongregationalismus üblichen Bundesverträge, die sich die einzelnen Gemeinden gaben. Ich zitiere als Beispiel den Bundesvertrag der Gemeinde in Axminster in Devon aus dem Jahr 1660 in der Übersetzung von J. Huxtable (Anm. 1), 454: „Nachdem uns der Herr in die Gemeinschaft mit seinem Sohn gerufen und uns von der Notwendigkeit kirchlicher Gemeinschaft überzeugt hat, so bekennen wir feierlich und in der Kraft Christi, dass wir den Herrn als unseren Gott anerkennen, uns ihm opfern, und dass wir in der Kraft Christi gemeinsam in allen seinen heiligen Geboten und Anordnungen wandeln wollen gemäß der Richtschnur seines Wortes; und gleichermaßen opfern wir uns füreinander in dem Herrn, damit wir gemeinsam in der Ausübung aller dieser Gnadengaben wandeln und solche Pflichten erfüllen, die von uns als Kirche Christi gefordert werden.“ Hier verpflichtet sich eine Ortsgemeinde dazu, sichtbar und verbindlich als Leib Christi zu leben, weil sie sich „von der Notwendigkeit kirchlicher Gemeinschaft überzeugt“ und in die Gemeinschaft des Sohnes Gottes gerufen weiß, und sie macht dies an der gemeinsamen Ausübung der Gnadengaben und dem Wandel nach den Geboten und Anordnungen des Wortes Gottes, also der Schrift fest. 6 Daher verzichten viele kongregationalistische Gemeinden darauf, unmündige Kinder zu taufen, da diese den Akt der Aufnahme in den Leib Christi nicht bewusst vollziehen können und die damit verbundene Verantwortung für das geistliche Leben der Gemeinschaft noch nicht wahrnehmen können. Vgl. E. Brand, Art. Baptisten, in: ELThG 1 (1992) 174-178, der in seiner Zusammenfassung der baptistischen Taufauffassung die Verpflichtung zu „verbindlicher Gemeinschaft“ und „verantwortlicher Bruderschaft“ betont: „Wer durch das Evangelium zur Umkehr geführt wird und die persönliche Antwort des Glaubens gegeben hat, wird durch die Taufe in den Leib Christi eingegliedert. Weil der Glaube konstitutiv zur Taufe gehört, setzt die Taufe das persönliche Bekenntnis des Glau-

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von Christen, die gemeinsam in der Schrift nach den Geboten des Leibes Christi sucht und diese dann auch gemeinsam lebt, braucht nach kongregationalistischem Verständnis keine Kirchenhierarchie und kein übergemeindliches Lehramt,7 ja an und für sich auch überhaupt kein geistliches Amt in den Gemeinden. „Durch die Kraft des Heiligen Geistes eignet jeder einzelnen Gemeinde die Befähigung zur verantwortlichen Ordnung ihres Lebens und Gottesdienstes, frei von der Bevormundung durch irgendeine geistliche oder weltliche Autorität.“8 Dennoch wissen die Gemeinden vor Ort sehr wohl um ihre gegenseitige Ergänzungsbedürftigkeit, auch wenn jede für sich in Anspruch nehmen kann, vollgültig Leib Christi zu sein. Und zu den Zielen, zu denen sich autonome Ortsgemeinden zu Gemeindebünden zusammenschließen, gehören klassischerweise die Ausbildung von Geistlichen oder anderen hauptamtlichen Mitarbeitern sowie Fragen der Repräsentanz gegenüber der Öffentlichkeit, die Vertretung in interkonfessionellen Gesprächen und Gremien sowie die Klärung theologischer Streitfragen. Für all dies aber braucht es stabilisierte übergemeindliche Strukturen und eine davon ist auch im Kongregationalismus das Amtsverständnis.  bens voraus. Der Täufling bekennt sich öffentlich zu Jesus Christus, wird seiner Herrschaft übereignet und verpflichtet sich zur Nachfolge in verbindlicher Gemeinschaft der Glaubenden. Die Gemeinde bezeugt mit dem Täufling das Ja Gottes zu ihm und verpflichtet sich zu verantwortlicher Bruderschaft. Der Taufe folgt die Aufnahme in die Gemeinde“ (ebd., 176f.). 7 Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass von den in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen zusammengeschlossenen Konfessionen bisher nur aus der Evangelisch-methodistischen Kirche eine eigene Dogmatik vorgelegt wurde, vgl. W. Klaiber / M. Marquard, Gelebte Gnade. Grundriss einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Göttingen 22006. 8 J. Huxtable (Anm. 1), 452.

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2. Das Amt als normativ stabilisierte Erwartungsstruktur im Kongregationalismus Es gehört zu den grundlegenden soziologischen Einsichten, dass die Strukturbildung sozialer Systeme wesentlich auf der Ausbildung von Erwartungen beruht. Durch Erwartungsstrukturen lässt sich erwartetes (mithin wahrscheinliches) von unerwartetem (mithin erklärungsbedürftigem) Verhalten unterscheiden, was den weiteren Kommunikationsvorgang prägt und anregt.9 Erwartungsstrukturen schaffen Normalitäten, an denen sich die Kommunikation orientiert, denn Kommunikation wird strukturiert durch das, was als relevant und gültig unterstellt werden kann. Auch das Amt des Pastors oder der Pastorin lässt sich zunächst einmal über die damit verbundenen Erwartungen beschreiben. Gibt es einen Pastor in der Gemeinde, laufen Kommunikationsprozesse anders ab, als wenn die Gemeinde keinen hauptamtlichen Geistlichen besitzt. Gehört zu seinen Aufgaben und Kompetenzen die seelsorgerliche Begleitung und die theologisch-biblische Unterweisung von Gemeindemitgliedern, ist es sinnvoll, sich mit Glaubensproblemen oder Bibelfragen an ihn als Fachmann zu wenden. Gehört die Durchführung von Kasualien wie Taufe, Trauung und Beerdigung allein in seinen Tätigkeitsbereich, weiß man, mit wem man die Details solcher Veranstaltungen abklären muss. Je stärker das Amtsverständnis in einer Gemeinde durch klare Erwartungsstrukturen an den Pastor oder die Pastorin geprägt ist, desto stärker richten sich die religiösen Kommunikationsprozesse einer Gemeinde an diesen Erwartungen aus. Gleiches gilt für das Amt des Diakons oder der Diakonin, sofern dieses in freikirchlichen Ge 9 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen

Theorie, Frankfurt a.M. 1987, 426-436.

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meinden bereits mit klaren Erwartungsstrukturen hinterlegt ist.10 Bei alledem gibt es allerdings einen wichtigen Unterschied hinsichtlich der Verbindlichkeit bestehender Erwartungsstrukturen. Als normativ können Erwartungen gelten, an denen ein System auch dann festhalten will, wenn die Erwartungen enttäuscht werden. Zumeist reagieren soziale Systeme bei normativen Erwartungen mit Sanktionen auf Erwartungsenttäuschungen.11 Ein katholischer Geistlicher, der demonstrativ ein ökumenisches Abendmahl austeilt, wird ebenso mit Sanktionen rech 10 Im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden gibt es den ge-

ordneten Dienst der Diakonin oder des Diakons seit dem Jahr 2000 als gleichberechtigtes Amt neben dem pastoralen Dienst. So enthält die Präambel der Ordnung für Diakoninnen und Diakone die Aussage: „Zur Nachfolge Jesu gehören gleichrangig pastorale und diakonische Berufungen und Beauftragungen. Sie werden von der Gemeinde erkannt, bestätigt und verantwortet. Um der Aufgabe und der Ausgestaltung diakonischen Handelns weiten Raum und zukommendes Gewicht zu geben, wird mit dieser Ordnung ein rechtlicher Rahmen für verschiedene Ausdrucksformen der voll- oder teilzeitlichen Mitarbeit im Diakonat geschaffen“ (Fassung vom 05.02.2004). Die grundsätzliche Gleichberechtigung von pastoralem und diakonischem Dienst bedeutet jedoch nicht, dass es bereits eine gleichermaßen stark verankerte Erwartungsstruktur in den Gemeinden gibt. So sind die mit dem Diakonenamt verbundenen Tätigkeitsfelder und Erwartungen insgesamt deutlich heterogener als beim über längere Zeiträume gewachsenen und etablierteren pastoralen Amt. 11 Vgl. N. Luhmann (Anm. 9), 437: „Die Orientierung des Erwartens am Enttäuschungsfall bedeutet die Orientierung an einer Differenz. Die Differenz geht vom Enttäuschungsfalle aus, sie besteht also nicht in der Frage, ob die Erwartung enttäuscht wird oder nicht. Das Unsichere, die Enttäuschung, wird vielmehr so behandelt, als ob es sicher wäre, und die Frage ist dann: ob man in diesem Falle die Erwartung aufgeben oder ändern würde oder nicht. Lernen oder Nichtlernen, das ist die Frage. Lernbereite Erwartungen werden als Kognitionen stilisiert. Man ist bereit, sie zu ändern, wenn die Realität andere, unerwartete Seiten zeigt … Dagegen werden lernunwillige Erwartungen als Normen stilisiert. Sie werden auch im Enttäuschungsfalle kontrafaktisch festgehalten.“

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nen müssen wie ein baptistischer Pastor, der einen Säugling taufen würde. Die Konsequenzen mögen jeweils unterschiedliche sein, aber sowohl das katholische Eucharistieverständnis wie die baptistische Taufpraxis sind normative Erwartungsstrukturen, die mit dem jeweiligen Amtsverständnis verknüpft sind und deren Enttäuschung nicht einfach nur zur Kenntnis genommen wird. Demgegenüber geschieht genau dies bei kognitiven Erwartungsstrukturen. Man erwartet vielleicht ein bestimmtes Verhalten von einem Pastor oder einer Pastorin, z.B. dass sie einfühlsame Zuhörer sind und lebendig predigen können, aber mitunter bleibt nur zu konstatieren, dass die kontrafaktische Aufrechterhaltung dieser Erwartungen wenig realitätsnah wäre. Während es zum normativ stabilisierten Bild vom Amt eines Geistlichen gehört, ein Seelsorger und Prediger zu sein, müssen personenbezogene Erwartungen kognitiv ausgelegt werden. Eine Gemeinde lernt schnell, welche Erwartungen sie an die persönlichen Begabungen eines konkreten Geistlichen haben kann und welche nicht. Auch solche kognitiven Erwartungen prägen Kommunikationsprozesse, denn auch sie geben eine Normalität vor. Wenn man weiß, was einen in der Seelsorge und bei der Predigt erwartet, kann man ja auch häufiger Gastprediger einladen, Seelsorgekreise einrichten, Ehrenamtliche fördern oder den Pastor stärker für Lehr- oder Verwaltungsaufgaben einsetzen, wenn dort seine Begabungen größer sind. Je stärker allerdings die Erwartungen an das Amt gebunden sind, je stärker die Erwartungen also normativ aufgeladen sind wie z.B. die Erwartung, dass der Pastor das Abendmahl, die Beerdigung, die Trauung, die Taufe durchführen soll, desto schwerer fällt es einer Gemeinschaft, diese Erwartungen aufzugeben. Das Amt ist gleichsam die übergemeindlich fixierte, normativ abgesicherte Erwartungsstruktur des pastoralen oder diakonischen Dienstes. Sie stabilisiert Erwartungen 223

an die Arbeit eines Geistlichen, die überpersonell gelten. Der Amtsträger ist zur Ausübung bestimmter Vorgänge befugt, teilweise sind sie ihm sogar vorbehalten, ganz unabhängig davon, wie sehr der Einzelne sich persönlich von seinem Begabungsprofil, seiner Erfahrung oder seiner Vorbildung für den Vollzug eignet und wie sehr er sich in der Ausübung seines Dienstes bewährt. Solange er das Amt eines Geistlichen bekleidet, darf er z.B. eine kirchliche Trauung durchführen und bescheinigen, unabhängig davon, ob er in der Lage ist, diesen Ritus einfühlsam und zur Freude des Brautpaares zu gestalten. Als Geistlicher darf er vor Gericht die Aussage verweigern oder ein Gemeindemitglied im Gefängnis besuchen, was ihm ohne die teilweise sogar rechtlich normativ abgesicherten Erwartungsstrukturen seines Amtes nicht ohne Weiteres möglich wäre. Dabei entfaltet das Amt als normativ abgesicherte Erwartungsstruktur sowohl innerhalb wie außerhalb der Gemeinde kommunikative Folgewirkungen. Das Vorhandensein eines Pastors oder einer Pastorin bündelt Kommunikationsstrukturen, macht eine Gemeinde von außen identifizierbar und über den oder die Amtsträger ansprechbar. Das Amt eröffnet Gesprächsmöglichkeiten in ökumenischen Gremien, öffnet Türen in der Verwaltung oder in politischen Zusammenhängen, weil einer Person in ihrer Funktion als Amtsträger eine andere Bedeutung zugeschrieben wird, als der Person an sich. Der Pastor einer Ortsgemeinde wird zum Neujahrsempfang seiner Stadt eingeladen, weil er als Amtsträger seiner Kirchengemeinde kommen soll, nicht als Privatperson.

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3. Die unverbindliche Verbindlichkeit von Erwartungsstrukturen im Kongregationalismus Die zentrale Stärke des kongregationalistischen Modells kann man in der grundsätzlichen Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit dieser Kirche in Glaubens- und Organisationsfragen sehen. Es gibt keine, die gesamte Glaubensgemeinschaft auf Dauer bindenden Entscheidungen, keine festgeschriebenen Traditionen, auf die sich die Gemeinschaft für alle Zeiten festlegen könnte.12 In kongregationalistischen Kirchen und Gemeindebünden besitzen alle Erwartungsstrukturen nur eine unverbindliche Verbindlichkeit und selbst diese nur so lange, wie nichts anderes beschlossen wird. Denn im Kongregationalismus prägen zwei konkurrierende Prinzipien die übergemeindlichen Erwartungsstrukturen konstitutiv: das Prinzip Freiheit und Freiwilligkeit auf der einen und das Prinzip Einheit und Einmütigkeit auf der anderen Seite.13  12 So besitzt zum Beispiel das Glaubensbekenntnis des Bundes Evan-

gelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R. eine Präambel, in der ausdrücklich festgestellt wird: „Dieses Glaubensbekenntnis ist Ausdruck und Zeugnis der Übereinstimmung der Gemeinden im Glauben. Es kann also nicht selbst Gegenstand des Glaubens oder bindendes Glaubensgesetz sein. Als zusammenfassende Auslegung der Heiligen Schrift wird es durch diese begründet und begrenzt. Es setzt das Apostolische Glaubensbekenntnis als gemeinsames Bekenntnis der Christenheit voraus und bleibt offen für die künftige Bekundung der Wahrheit“ (BEFG, Rechenschaft vom Glauben [Stand 26.05.1995], 1). Dementsprechend wurde der Text dieses Bekenntnisses vom Bundesrat des BEFG auch nur „entgegengenommen und den Gemeinden zum Gebrauch empfohlen“ (ebd., 16), wobei für den zuletzt überarbeiteten Taufartikel ausdrücklich ergänzt wurde: „bis weiterreichende gemeinsame Erkenntnisse gewonnen sind“ (ebd.). 13 Ich wende im Folgenden einen Gedanken auf das Amtsverständnis im Kongregationalismus an, den ich erstmals im Jahre 2001 angesichts der schwelenden Streitigkeiten im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Freikirchliche Theologie und Publizistik vorgetra-

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Das Prinzip Freiheit und Freiwilligkeit verlangt, dass der übergemeindliche Zusammenschluss der Gemeinden diese nicht zwingen kann, sich nach den Vorgaben des Gemeindeverbundes zu richten. Was für alle Gemeinden grundsätzlich gilt, gilt deshalb noch lange nicht konkret in jeder einzelnen Ortsgemeinde.14 Das Prinzip Einheit und Einmütigkeit hingegen verlangt, dass das Abweichen von einer offiziell gültigen Regelung nicht einfach kommentarlos hingenommen wird, sondern auf Bundesebene in seiner Bedeutung für alle Gemeinden diskutiert und nach gemeinsamen Lösungen gesucht wird.  gen habe. Vgl. R. Dziewas, Warum Baptisten immer streiten müssen, in: ZThG 7 (2002) 9-15. Ich habe die Wirkungsweise beider Prinzipien in grundsätzlicher Weise für Erwartungsstrukturen im Kongregationalismus ausgeführt: R. Dziewas, Verbindlichkeit im Kongregationalismus, in: J.Ev. Hafner / M. Hailer (Hg.), Binnendifferenzierung und Verbindlichkeit in den Konfessionen. Ökumenische Studien, Frankfurt a.M. 2009 (im Druck). 14 Mit der Autonomie der Ortsgemeinde steht das Prinzip Freiheit und Freiwilligkeit jeder Form von Kirchenhierarchie und zentraler Leitung entgegen. Sogar die innerkirchlichen Finanzstrukturen beruhen zumeist auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. So beschließt z.B. der Bundesrat, die Delegiertenversammlung der EvangelischFreikirchlichen Gemeinden in Deutschland einen Haushalt für den Gemeindebund, der voraussetzt, dass jede Gemeinde für jedes Mitglied eine bestimmte Summe für die übergemeindliche Arbeit zur Verfügung stellt. Diese Summe aber kann der Bundesrat als höchstes Entscheidungsgremium der Kirche nicht verbindlich festsetzen, da eine solche Entscheidung die Ortsgemeinden binden würde. Die festgelegte Summe wird den Gemeinden daher nur „zur Zahlung empfohlen“ mit der Konsequenz, dass die Geschäftsführung des Bundes sie nicht einziehen kann, sondern darum werben muss, dass auch wirklich alle Gemeinden ihren Beitrag an den Bund bezahlen. Im Ergebnis kommt meist die angepeilte Summe in etwa zusammen, auch wenn manche Gemeinden nichts, andere weniger, dritte dafür mehr geben, als vom Bundesrat beschlossen und manche Einzelspender das ausgleichen, was einzelne Gemeinden nicht zu geben bereit sind.

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Das Prinzip Freiheit und Freiwilligkeit ist ein ständiger Motor für Veränderungsprozesse. Neue Entwicklungen kommen zumeist von der Basis des Gemeindelebens und wirken dann verändernd auf die Bundesgemeinschaft. Es gibt keine Hierarchie, die derartige Veränderungen grundsätzlich einschränken oder aufhalten könnte, allenfalls können Entwicklungen gebremst und die Kompromissfindung moderiert werden. Letztlich aber entscheidet jede Gemeinde vor Ort, was bei ihr als verbindlich gilt. Im Gegenzug zwingt das Prinzip von Einheit und Einmütigkeit die Gemeinden immer wieder dazu, in Streitfragen nach gemeinsam tragfähigen Kompromissen und Regeln zu suchen, die zwar Ausnahmen zulassen, die Vielfalt aber nicht in Beliebigkeit verwandeln. Das Wechselspiel beider Prinzipien führt zu einer ständigen, aber langsam verlaufenden Veränderung dessen, was gerade im Allgemeinen als gültig angesehen wird, und dem, was in den einzelnen Gemeinden konkret gelebt wird. In diesem Spannungsverhältnis von Freiheit und Einheit steht auch das Amtsverständnis in kongregationalistischen Gemeindebünden, wie sich an meiner Freikirche, dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, zeigen lässt. Es gibt gemeinsame normativ festgeschriebene Normalitäten, die man in den Dienstordnungen des Bundes, den Musterdienstverträgen oder der Schiedsordnung nachlesen kann.15 Es gibt zudem Gremien für den Umgang mit Konfliktfällen und solche, die die Vermittlung von Pastoren oder Diakonen in konkrete Ge 15 Von den 28 Ordnungen und ordnungsähnlichen Texten, die das

Handbuch des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland enthält, regeln immerhin 15 Ordnungen schwerpunktmäßig dienstrechtliche Belange hauptamtlicher Mitarbeiter, ohne dass in irgendeiner Weise kontrollierbar wäre, inwieweit die einzelnen Ortsgemeinden dieses Regelwerk anwenden bzw. sich an die dort festgelegten Normen halten.

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meindedienste vorschlagen können. Aber niemand kann die einzelnen Gemeinden bei der Berufung von hauptamtlichen Mitarbeitern oder bei der Beendigung von Dienstverhältnissen zwingen, irgendeine dieser Ordnungen und Institutionen zu berücksichtigen. Es gibt daneben kognitive, nicht normativ verankerte Normalitäten, wie die Erwartung, dass Pastorenstellen nicht einfach ausgeschrieben werden und dass nicht mit mehreren Pastoren gleichzeitig über Dienstmodalitäten verhandelt wird. Aber dennoch können Gemeinden so verfahren, ohne dass sie jemand daran hindern könnte. Allenfalls kann über eine Gemeinde, die sich nicht an derartige informell gültige Regeln hält, kritisch auf Bundesebene kommuniziert werden. Das kongregationalistische Prinzip der Freiheit der Ortsgemeinde führt zudem dazu, dass sich die grundlegenden normativen wie kognitiven Erwartungsstrukturen des pastoralen Dienstes ebenso wie alle anderen übergemeindlichen Strukturen in einem ständigen Veränderungsprozess befinden. Theorie und Praxis des Pastorenamtes sind nicht statisch, sondern wandelbar. Wenn sich die Praxis in einzelnen Gemeinden ändert und eine solche Verhaltensänderung für den Gemeindebund nach und nach zur Normalität wird, wird sich dies irgendwann auch in den Ordnungen und Institutionen des Gemeindebundes niederschlagen. Ein eindrückliches Beispiel für derartige Veränderungsprozesse ist die Entwicklung des pastoralen Dienstes der Frauen im deutschen Baptismus:16 In den Anfängen des Baptismus galt es als biblisch begründete Selbstverständlichkeit, mithin als normative Erwartungsstruktur, dass der Verkündigungsdienst nur Männern vorbehalten war.  16 Vgl. zum Folgenden vor allem den Erfahrungsbericht von Chr.

Geisser, in: W. Haubeck / W. Heinrich (Hg.), Pastorinnen. Aspekte zu einem aktuellen Thema, Witten 2008.

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Dann ließen im letzten Jahrhundert einzelne Gemeinden auch Frauen predigen, weil sie entdeckten, dass auch weibliche Mitglieder die Gabe der Verkündigung und der Lehre haben können. Dies war zunächst die dem Prinzip Freiheit und Autonomie geschuldete Ausnahme von der Regel. Dann stellte sich aber die Frage, ob für Frauen mit der Gabe der Verkündigung nicht auch eine entsprechende Ausbildung zugänglich sein müsste. Dies wurde nun eine auf Ebene der Bundesgemeinschaft heiß diskutierte Frage, denn die Pastorenausbildung war eine übergemeindlich verantwortete und finanzierte Aufgabe. Man bestätigte am Ende eines langen Diskussionsprozesses, dass nur Männer Pastoren werden können, gestattete aber in Ausnahmefällen die Ausbildung von Frauen am Theologischen Seminar des Bundes, allerdings verbunden mit dem Beschluss, damit nicht „den Dienst einer ‚Pastorin’ einzuführen“.17 Nachdem es dann aber erst einmal ausgebildete Theologinnen im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) gab, gab es auch Gemeinden, die diese, zum Teil gemeinsam mit ihren Ehemännern, in eine hauptamtliche Tätigkeit übernahmen. Damit gab es zwar offi 17 BEFG, Bundesratsprotokoll 1974, 8. Man ahnte also offenbar be-

reits, worauf die Sache hinauslaufen würde, aber nur mit einer solchen Kompromissformel konnte beiden Grundprinzipien des Kongregationalismus Rechnung getragen und eine weitgehend einmütige Entscheidung auf übergemeindlicher Ebene erreicht werden. Bereits fünf Jahre zuvor hatte die Bundesratstagung des Bundes der DDR einen ähnlich öffnenden Beschluss für die theologische Ausbildung von Frauen gefasst: „Der Bundesrat gewährt der Bundesleitung die Freiheit, junge Männer und junge Mädchen in das Predigerseminar aufzunehmen, die sich zum Dienst in unseren Gemeinden berufen wissen, auch wenn noch nicht abgesehen werden kann, ob der Dienst einmal vollzeitlich getan werden kann“ (zitiert nach A. Pohl [Hg.], Die Ernte ist groß. 25 Jahre Theologisches Seminar des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR in Buckow [Märk. Schweiz] 1959-1984, Berlin 1983, 80).

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ziell immer noch keine Pastorinnen des BEFG, wohl aber einzelne Gemeinden im BEFG, die hauptamtliche Mitarbeiterinnen im pastoralen Dienst hatten. Die Folge war, dass man eine neue Klärung auf Bundesebene suchte und sie in der offiziellen Einführung des Amtes der theologischen Mitarbeiterin fand18 – ein allerdings nur kurzfristig lebendes Konstrukt, da die Gemeinden ihre theologischen Mitarbeiterinnen selbstverständlich bald als Pastorinnen bezeichneten. Als der Dienst von Frauen dann zunehmend zur Normalität wurde, fand sich auch nach langer Diskussion auf Bundesebene schließlich eine Mehrheit für die Berufsbezeichnung „Pastorin“,19 sodass schließlich nur noch die „Ordnung für Pastoren und theologische Mitarbeiterinnen“ in „Ordnung für Pastoren und Pastorinnen“ umbenannt werden musste, um den letzten Schritt dahin zu tun, dass heute im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland sowohl Pastoren als auch Pastorinnen gleichberechtigt ihren Dienst tun können, ohne dass deshalb heute schon alle Gemeinden bereit wären, eine Pastorin zu berufen. Es kann im Kongregationalismus eben keine allgemein und auf Dauer gültigen innerkirchlichen Strukturen geben. Immer wieder führt die Freiheit des Einzelnen zusammen mit der Autonomie der Ortsgemeinde zu Ausnahmen von den als verbindlich geltenden Regeln. Bei Bewährung dieser Ausnahmen führt dies über langwierige Diskussionsprozesse und Kompromisse zu einer schrittweisen Veränderung dessen, was als verbindlich gilt. Kongregationalistisch verfasste Gemeindebünde sind somit sich evolutionär entwickelnde Konfessionen, deren Veränderungen von der Basis ausgehen. Hingegen  18 Vgl. BEFG, Bundesratsprotokoll 1981, 8. 19 Vgl. R. Schwarz, Die Pastorin ist möglich, in: Die Gemeinde

(24/1992) 2.

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besteht aufgrund des Fehlens einer Kirchenhierarchie und eines verbindlichen Lehramtes kaum eine Chance, die Gesamtorganisation einer kongregationalistischen Freikirche zielgerichtet von den Leitungsebenen her zu verändern. Angesichts des bisher Ausgeführten dürfte deutlich sein, dass auch zu den Dimensionen des Amtsverständnisses im Kongregationalismus nur typische, keine allgemeingültigen Aussagen möglich sind. Was normalerweise für das Verhältnis von Pastor und Diakon zur Gemeinde gilt bzw. das Verhältnis der Gemeinde zum Gemeindebund oder das Verhältnis zwischen Amtsträger und Bundesgemeinschaft bestimmt, kann in einer konkreten Ortsgemeinde auch ganz anders aussehen, als es in der Bundesgemeinschaft üblich ist. Deshalb werde ich im Folgenden am Beispiel des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden das geistliche Amt in der für kongregationalistische Konfessionen typischen Dreiecksbeziehung zwischen Ortsgemeinde und Gemeindebund aus verschiedenen Perspektiven in den Blick nehmen.

4. Die theologische Verortung des Amtes im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden Die „Rechenschaft vom Glauben“ (RvG) behandelt das Amt nur indirekt. Die Worte Pastor und Diakon oder ähnliche Begrifflichkeiten begegnen hier nicht, obwohl Gemeinden im BEFG im Normalfall Pastorinnen oder Pastoren haben und viele Gemeinden in ihren diakonischen Aufgabenfeldern und Werken Diakoninnen und Diakone beschäftigen. Unter der Überschrift „Geistesgaben, Dienste und Ordnungen“ findet sich jedoch ein Passus, der auf den pastoralen und diakonischen Dienst abzielt, auch wenn die Amtsbezeichnungen nicht aus231

drücklich genannt werden: „Die christliche Gemeinde beruft geeignete Männer und Frauen, deren besondere Begabung durch den Heiligen Geist und Berufung durch Gott sie erkennt, in spezielle Dienste und bildet sie dazu aus. Insbesondere ordnet sie die Dienste der Verkündigung, Unterweisung, Seelsorge, Diakonie und Leitung. Geistesgaben und Ämter dienen in gleicher Weise der Sammlung und Sendung der Gemeinde Jesu Christi.“20 Da die Aufgabe des Ordnens der Dienste und die Verpflichtung zur Ausbildung im BEFG vor allem auf der Ebene des Gemeindebundes verwirklicht werden, wirkt der sich unmittelbar anschließende Satz der RvG wie eine bewusste Einschränkung der Bedeutung übergemeindlicher Strukturen: „Jede Ortsgemeinde versteht sich als Manifestation des einen Leibes Christi und ordnet ihr Leben und ihren Dienst selbst.“21 Hier wird im Rahmen der nicht weiter entfalteten Aussagen zu den Ämtern in der Gemeinde aus kongregationalistischem Verständnis der Weg hin zu einer zentral geordneten Amtskirche bewusst verbaut. Die Autonomie der Ortsgemeinde gilt auch für den pastoralen und diakonischen Dienst, mag der Gemeindebund ruhig die Ordnungen und die Ausbildungsstrukturen für diese Dienste zur Verfügung stellen. Allerdings wird das, was in der RvG steht, die Bundesgemeinschaft auch nicht daran hindern, andere Wege zu gehen, wenn dies als sinnvoll erscheint, denn die RvG ist kein zentrales Bekenntnis, dessen Inhalte die Gemeinden oder der Bund der Gemeinden verpflichtend zu beachten hätten. Es beschreibt vielmehr, was in den Gemeinden geglaubt wird, es normiert nicht, was geglaubt und gelebt werden soll.  20 BEFG, Rechenschaft vom Glauben (Anm. 12), 10. 21 Ebd.

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Insgesamt ist die Amtstheologie des deutschen Baptismus von vielen Vorbehalten gegen das Amt geprägt, und so wird das spezielle Amt des Geistlichen zumeist in ein stark betontes Verständnis des Priestertums aller Glaubenden eingezeichnet. So beginnt die Präambel der Pastorenordnung in ihrer aktuell gültigen Fassung vom 24.11.2006 mit dem Satz: „Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden weiß sich der biblischen Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Glaubenden in besonderer Weise verpflichtet.“22 Und es wird ausdrücklich darauf hingewiesen: „Alle geordneten Dienste geschehen im Rahmen des allgemeinen Priestertums.“23 Schaut man angesichts dieser theologischen Verortung in die das geistliche Amt regelnden Ordnungen und Satzungen des BEFG und deren Umsetzung in der Praxis, dann lässt sich das Verhältnis zwischen Bund, Ortsgemeinde und Amtsträger in rechtlicher, soziologischer und psychologischer Perspektive analysieren. Dabei zeigt sich, dass das Dreiecksverhältnis in rechtlicher Hinsicht durch vielfältige Unklarheiten, in soziologischer durch vielfältige Konfliktpotenziale und in der psychologischen Dimension von vielen ambivalenten Gefühlen geprägt ist.

5. Die rechtliche Dimension des Amtes im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden Die derzeitige rechtliche Dimension des pastoralen und diakonischen Amtes ist durch viele Unklarheiten ge 22 BEFG, Ordnung für Pastorinnen und Pastoren des Bundes Evange-

lisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland und ihre Dienstgeber. Vom Präsidium des Bundes beschlossen am 24.11.2006, S. 3 Präambel. 23 Ebd.

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kennzeichnet. Die Grundkonstellation sieht ein Anstellungs- bzw. Dienstverhältnis zwischen Dienstnehmer und Gemeinde vor, das durch ein Treueverhältnis des Amtsträgers zum Bund ergänzt wird. Das Verhältnis von Bund und Gemeinden kann unterschiedlich bestimmt werden, je nachdem, ob die betreffenden Gemeinden eigene Rechtspersönlichkeiten sind, weil sie als eingetragener Verein oder als eigenständige Körperschaft firmieren oder ob sie an den Körperschaftsrechten des BEFG partizipieren.24 Inwieweit sich diese unterschiedlichen Rechtsformen auf das konkrete Anstellungsverhältnis eines Pastors oder Diakons zur Gemeinde auswirken und wie in den verschiedenen Fällen jeweils das Treueverhältnis zum Bund arbeitsrechtlich zu bewerten ist, ist rechtlich bisher nicht eindeutig geklärt. Insgesamt bewegen sich Pastorinnen und Pastoren ebenso wie die Diakoninnen und Diakone im BEFG in einem rechtlichen Doppelverhältnis, das ihnen Dienstpflichten sowohl gegenüber dem Bund als auch gegenüber der berufenden Gemeinde abverlangt. Dabei ist das Dienstverhältnis zur Gemeinde in Anlehnung an ein privatrechtliches Anstellungsverhältnis gestaltet, während das Verhältnis zum Bund als wechselseitiges beamtenähnliches Treueverhältnis konstruiert ist. Die sich aus dieser Doppelkonstruktion ergebenden rechtlichen Unklarheiten wirken sich dahingehend auf den Dienst aus, dass viele der konkreten Aufgaben und Anforderungen sich aus dem Dienstverhältnis gegenüber der Ortsgemeinde ergeben, während sich viele der für das geistliche Amt in seiner Kontinuität ergebenden Fragen über den Bund und seine Rechtsgestalt als Körperschaft des öffentlichen  24 Vgl. zur rechtlichen Problematik H. Bauknecht, Das Recht der

Baptisten in Deutschland. Die Strukturen des Bundes EvangelischFreikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R., zum Zeitpunkt der Verfassungsreform 2005, Kassel 2006.

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Rechts geregelt sind. So vollzieht der Bund die Ordination, verleiht die sich daraus ergebenden Rechte, unterstützt die Vermittlung in zukünftige Dienste, beschließt die Aufnahme in die Pastoren- bzw. Diakonenlisten des BEFG und gewährt damit die Möglichkeit, sich in der Ruhegeldordnung des Bundes für das Alter abzusichern.

1. Die rechtliche Dimension zeigt viele Unklarheiten, je nach dem, wie man die Rechtsgestalt der Gemeinden deutet, die nicht als e.V. oder eigene Körperschaft organisiert sind. Bund Dienstgeber? (Treueverhältnis?)

Körperschaft d.ö.R. eigene Rechtsgestalt?

Dienstnehmer? (Treueverhältnis?)

Dienstgeber? (Anstellungsverhältnis?)

Pastor(in)

Gemeinde Dienstnehmer? (Anstellungsverhältnis?)

Abb. 1:

Die rechtliche Dimension des Amtes im Kongregationalismus

Eine Folge dieser doppeltgestaltigen rechtlichen Konstruktion ist eine unklare Loyalitätspflicht der Amtsträgerinnen und Amtsträger gegenüber Gemeinde und Gemeindebund für die Situationen, in denen die Ortsgemeinde und der Bund Unterschiedliches von ihnen erwarten. Und derartige Loyalitätskonflikte sind angesichts der kongregationalistischen Struktur des BEFG und der Autonomie der Ortsgemeinden im Bund vorprogram235

miert. Wenn z.B. eine Gemeinde neue Mitgliedschaftsregeln einführt, indem sie die Mitgliedschaft von nicht gläubig Getauften ermöglicht, während der Bund um seiner konfessionellen Identität willen eine solche Öffnung der Mitgliedschaft mehrheitlich ablehnt, kann der Bund aus seinem Treueverhältnis vom Pastor erwarten, dass er gegenüber der Gemeinde die konfessionelle Identität des Bundes hochhält, während die Gemeinde aus dem Dienstverhältnis heraus den Pastor dazu beauftragen kann, gegenüber dem Bund die Vorstellungen der Gemeinde von einer veränderten Mitgliedschaftsregel zu vertreten. Da solche konkurrierenden Ansprüche meist nicht rechtlich erstritten werden, bleibt es zumeist dem Geistlichen selbst überlassen, welche dieser Erwartungen er befriedigen und welche er enttäuschen will.

6. Die soziologische Dimension des Amtes im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden So wie die rechtliche Dimension im Dreiecksverhältnis von Amtsträger, Gemeinde und Gemeindebund unklar ist, sind auch die Erwartungen der drei beteiligten Größen in der konkreten Ausgestaltung des Dienstes sehr vielschichtig und konfliktbehaftet. Dies gilt insbesondere für den pastoralen Dienst, da dieser im Gegensatz zum Dienst des Diakons und der Diakonin stärker durch normative Erwartungsstrukturen geprägt ist und sich das Dreiecksverhältnis zu Bund und Ortsgemeinde im pastoralen Amt stärker auswirkt als in dem stark auf die Herausforderungen der Ortsgemeinde zugeschnittenen diakonischen Dienst. Schaut man auf die in den Ordnungen vorgesehenen und die im Gemeindealltag gelebten Vollzüge des pastoralen Dienstes, so fällt auf, dass viele dieser Erwartungen zu konfliktträchtigen Kons236

tellationen führen können, denn nicht alle Erwartungen sind miteinander kompatibel.

2. Die soziologische Dimension zeigt viele Konfliktpotentiale, je nach dem, wie die Erwartungsstrukturen der einzelnen Gemeinden gestaltet sind. Bund vermittelt, verwaltet, berät, empfiehlt, versichert, berät, vertritt, verwaltet, ordnet, kontrolliert, regelt, unterstützt bildet fort, ordiniert, begleitet seelsorgerlich bezahlt, kritisiert, gelobt Treue, vertritt, fördert, fordert, fördert, lobt, unterstützt ermöglicht, begleitet, beaufsichtigt, beruft, kann Dienst beenden Pastor(in)

entscheidet mit, zahlt, fragt, nimmt in Anspruch, orientiert sich

Gemeinde

leistet, dient, versorgt, leitet, regelt, entwickelt, organisiert, vertritt, stimmt sich ab, lehrt, unterrichtet, begleitet seelsorgerlich, schweigt, kann Dienst beenden

Abb. 2:

Die soziologische Dimension des Amtes im Kongregationalismus

Die mit Tätigkeitsworten in der Abbildung dargestellten Vollzüge des pastoralen Dienstes im Dreiecksverhältnis von Pastor, Bund und Ortsgemeinde sind mit konkreten wechselseitigen Erwartungen verbunden. Während der Bund vom Pastor erwartet, dass er sich gemäß den im Bund geltenden Ordnungen und Regeln verhält und er von den Erwartungen abweichendes Verhalten gegenüber dem Pastor auch sanktionieren kann, indem er ihn im Extremfall aus der Liste der Pastorinnen und Pastoren streicht oder die fehlende Vermittlungsfähigkeit in einen Gemeindedienst feststellt, kann er gegenüber der Gemeinde nicht durchsetzen, dass diese sich regelkonform 237

verhält. Die Gemeinde wiederum hat, da sie als Dienstgeberin die Geistlichen bezahlt und die Ausübung ihres Dienstes kontrolliert, unmittelbare Sanktionsmechanismen zur Durchsetzung ihrer Erwartungen an den Pastor oder die Pastorin, während sich der Pastor diesen nur durch die Beendigung seines Dienstes in dieser Gemeinde entziehen kann. Welchen Erwartungen der Pastor im Konfliktfall nachkommen will, bleibt ihm überlassen, und die Konsequenzen wird auch er letztlich zu tragen haben. Durch die kongregationalistische Struktur der erwarteten, aber nicht normativ abgesicherten Loyalität der Gemeinde zum Bund steht der pastorale Dienst unter der ständigen Gefahr konträrer Erwartungen vonseiten des Bundes und der Gemeinde, für die und in der er seinen Dienst versieht. Dabei muss der Pastor nicht nur seine Ortsgemeinde, sondern auch seine Konfession vertreten. Dies kann dazu führen, dass er in der Öffentlichkeit, z.B. im ökumenischen Gespräch vor Ort, gezwungen sein kann, unterschiedliche theologische Positionen und praktische Vollzüge gleichzeitig zu vertreten, wie das Beispiel der Verbindung von Glaubenstaufe und Mitgliedschaft deutlich macht. Wenn die Gemeinde vor Ort Gläubige aus anderen Kirchen auch dann aufnimmt, wenn sie nicht in religionsmündigem Alter getauft wurden, der Gemeindebund dies aber eigentlich ablehnt, wird das ökumenische Gespräch mit Vertretern anderer Konfessionen für den Geistlichen vor Ort zum theologischen Balanceakt, einmal ganz abgesehen von der Frage, welche Position er persönlich in diesem Konflikt einnimmt.

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7. Die psychologische Dimension des Amtes im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden Die Unklarheiten der rechtlichen Dimension und die konfliktträchtige Erwartungskonstellation der soziologischen Dimension des Amtes zeigen sich auch, wenn man das Dreiecksverhältnis von Gemeinde, Bund und Amtsträger auf seine psychologischen Implikationen befragt. Wo rechtliche Konstruktionen unklar sind und konträre Erwartungen zeitgleich Gültigkeit verlangen, sind aus psychologischer Perspektive ambivalente Gefühle und dissonante Kognitionen bis hin zu DoubleBind-Konstellationen zu erwarten.25 Das Dreiecksverhältnis von Amtsträger, Ortsgemeinde und Gemeindebund löst aufgrund seiner widerstreitenden Erwartungen zunächst einmal ambivalente Gefühle aus. Vor allem in der engen Beziehung zwischen dem Pastor oder Diakon und seiner Gemeinde bewirken die gleichzeitig gültigen konträren Erwartungen eine Double-Bindähnliche Beziehung. Aufgrund der starken Einbindung des Amtsverständnisses in das Priestertum aller Glaubenden wird den hauptamtlichen Geistlichen eine Sonderstellung innerhalb der Gemeinde abgesprochen, die ihnen durch die konkreten dienstlichen Erwartungen gerade angetragen wird. Sie sollen zum einen die Gemeinde leiten und organisieren, die Gemeindeglieder im Glauben stärken und die Gemeinde nach außen re 25 Dass sich mit dieser psychologischen Kategorie das Pastor-Ge-

meinde-Verhältnis grundsätzlich beschreiben lässt, legt Walter Rebells Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Apostel Paulus und seinen Gemeinden nahe, denn dieser fordert seine Gemeinden zu größtmöglicher Selbstständigkeit bei gleichzeitiger Anerkennung seiner bleibenden Autorität auf. Vgl. W. Rebell, Gehorsam und Unabhängigkeit. Eine sozialpsychologische Studie zu Paulus, München 1986, 111ff.

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präsentieren, die Geschwister ermahnen und lehren und sie zugleich seelsorgerlich begleiten, also Erwartungen erfüllen, die nur aus einer Position der Stärke heraus erfüllbar sind, zugleich sollen sie sich auch als Hauptamtliche in den Kreis der ehrenamtlichen Mitarbeiter und Verantwortungsträger einordnen, ja sich als Angestellte der Gemeinde sogar ihnen unterordnen und ihre Vorstellungen von Gemeindearbeit umsetzen. Hier trägt die niedrige theologische Bedeutung des Amtes im Kongregationalismus viel dazu bei, diese ungesunde Doppelbindung zu stabilisieren. Da auch der Bund aufgrund der Autonomie der Ortsgemeinde nicht in diese Beziehung hineinwirken kann, es sei denn, die Gemeinde verlangt dies von ihm, ist auch die Beziehung des Amtsträgers zum Bund von ambivalenten Gefühlen geprägt. Der Pastor oder Diakon weiß um die seinen Dienst ordnenden und unterstützenden Aufgaben des Bundes, erlebt den Gemeindebund aber in Konfliktsituationen mit der Gemeinde eher als hilflosen Helfer. Und wenn der Bund machtvoll in derartige Konfliktsituationen eingreifen möchte, kann dieses Eingreifen sich eigentlich nur gegen den Amtsträger richten, denn nur ihm gegenüber besitzt der Bund eigene Sanktionsmechanismen. Insofern ist von der emotionalen Dynamik her zu erwarten, dass für die enge Doppelbindung zwischen einem Geistlichen und seiner Ortsgemeinde die dritte Größe im Beziehungsdreieck relativ irrelevant bleiben wird. Allenfalls kann der Bund über Beratungsangebote und Mediatoren helfen, Konflikte zwischen Gemeinden und ihren Hauptamtlichen zu einem den Spielregeln innergemeindlicher Kommunikation entsprechenden Ende zu bringen.

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3. Die psychologische Dimension ist geprägt von vielen ambivalenten Gefühlen, da viele Erwartungsstrukturen als gebrochen oder unklar empfunden werden. will helfen und unterstützen, fühlt sich aber als fern und dazu nicht in der Lage

Bund fühlt sich für die Gemeinden verantwortlich und zugleich von ihnen im Stich gelassen

fühlt sich unsicher, ob Bund Hilfe oder Problem ist Pastor(in) /Diakon(in)

Abb. 3:

fühlt sich autonom und doch abhängig und unselbstständig

fühlt sich als Arbeitgeber und dennoch bevormundet Gemeinde

fühlt sich abhängig und soll zugleich leiten und Vorbild sein

Die psychologische Dimension des Amtes im Kongregationalismus

8. Fazit Angesichts der Unklarheiten in der rechtlichen Dimension und der widersprüchlichen Erwartungsstrukturen, die das Dreiecksverhältnis von Gemeindebund, Gemeinde und Amtsträger in der soziologischen Dimension prägen und die sich in den psychologischen Ambivalenzerfahrungen widerspiegeln, besitzt das Amt als übergemeindliche, normativ abgesicherte und theologisch begründete Erwartungsstruktur des geistlichen Dienstes eine stabilisierende Funktion. Dies gilt auch, wenn sich das Amtsverständnis wandeln kann und sich die mit dem pastoralen oder diakonischen Amt verbundenen

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Erwartungen weiterentwickeln, denn das jeweils aktuell gültige Amtsverständnis wirkt übergemeindlich verbindend und unabhängig von den einzelnen Amtsträgern in alle unterschiedlichen Gemeindesituationen hinein.

4. Das Amt besitzt als übergemeindliche, normativ abgesicherte und theologisch begründete Erwartungsstruktur des pastoralen Dienstes eine stabilisierende Funktion. Bund ordiniert und ordnet die bildet Geistliche Amtsstrukturen, aus und vermittelt verleiht Rechte sie, stärkt die konfessionelle nutzen die Identität Vermittlung von Geistlichen repräsentieren den berufen in konkrete Bund als Geistliche Dienste und Aufgaben Pastor(in) Gemeinde /Diakon(in) versorgen ihre Gemeinde und repräsentieren sie als Geistliche

Abb. 4:

Die Amtsstruktur im Kongregationalismus

Das Pastorsein des Pastors ist in seinem Amt begründet und hat damit eine Basis außerhalb des konkreten Dienstes in der Ortsgemeinde. Er bleibt, zumindest solange er grundsätzlich in einen Dienst vermittelbar ist, auch Pastor des Bundes, wenn er nicht mehr in einem Dienstverhältnis zu einer Ortsgemeinde steht. Für die Gemeinden wie für den Pastor selbst sind die mit dem Amt verbundenen Erwartungen eine relativ stabile Orientierungsgröße bei der konkreten Ausgestaltung des Dienstverhältnisses vor Ort. Spricht eine Gemeinde ihrem Pastor Aufgaben ab, die typischerweise zu seinem Amt gehören, ist dies sowohl in der Binnenkommunika242

tion der Gemeinde und des Gemeindebundes als auch gegenüber der Öffentlichkeit zumindest begründungsbedürftig, lehnt ein Pastor diese Tätigkeiten für sich selbst ab, stellt er sein Pastorsein infrage. Ähnliches gilt für die Diakoninnen und Diakone, auch wenn hier die Erwartungsstrukturen deutlich flexibler sind und sich stärker an den örtlichen Gegebenheiten ausrichten können. Dass angesichts der übergemeindlich wirksamen stabilisierenden Funktion des Amtes kongregationalistische Gemeindebünde sehr zurückhaltend in der Ausformulierung einer Theologie des Amtes sind, ist von ihrem kongregationalistischen Erbe her nur zu verständlich.26 Ein theologisch beim Gemeindebund verankertes geistliches Amt, das losgelöst von der in den konkreten Dienst berufenden Gemeinden konstituiert wäre, würde die Autonomie der Ortsgemeinden offen infrage stellen. Hauptamtliche Mitarbeiter, deren Loyalität zuallererst dem Bund und nicht ihrer anstellenden Gemeinde gelten würde, gäben dem Gemeindebund eine direkte Einwirkungsmöglichkeit auf die Gestaltung des Gemeindelebens in den einzelnen Ortsgemeinden. Ein solcher Gemeindebund würde stärker als Freikirche denn als Gemeindebewegung wahrgenommen. Die innerkonfessionellen Machtstrukturen würden sich zugunsten des Gemeindebundes und zulasten der Ortsgemeinden verschieben. Deshalb werden die Vertreter der Gemeinden auch zukünftig wachsam darauf achten, dass es nicht zu einer Stärkung der Amtstheologie im Bund EvangelischFreikirchlicher Gemeinden in Deutschland kommen wird. Ihre starke Position gegenüber dem Bund werden  26 So verwundert es nicht, dass die einzige ausgeführte Pastoraltheo-

logie des deutschen Baptismus mittlerweile 100 Jahre alt geworden ist, ohne eine Nachfolgerin gefunden zu haben. Vgl. J.G. Fetzer, Pastoral-Theologie, Kassel 1908.

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die Gemeinden aufgrund ihres kongregationalistischen Selbstverständnisses als autonome Ortsgemeinden selbstbewusst verteidigen, ganz gleich mit welchen biblischen Begründungen und soziologischen Analysen man ihnen eine Stärkung des Amtes schmackhaft machen würde. Ein konsequenter Verzicht auf eine Begründung des Amtes aus dem übergemeindlichen Ganzen nähme den Gemeinden allerdings einen Konflikt reduzierenden Mechanismus, der gerade angesichts der beschriebenen problematischen Dreieckskonstruktion als durchaus hilfreich erlebt wird. Die derzeitige Konstruktion der Dreiecksbeziehung sichert eine Basisübereinstimmung hinsichtlich der Aufgaben und Kompetenzen der Amtsträger, ohne dabei die Gemeinden konkret festzulegen. Da allerdings die innerkonfessionelle Binnendifferenzierung zunimmt und es immer weniger die Identität stärkende Gemeinsamkeiten zwischen den Gemeinden gibt, könnte sich das Amt als übergemeindliche normativ stabilisierte Erwartungsstruktur gleichsam unbemerkt zukünftig eine zentralere Funktion im Kongregationalismus erarbeiten. Je überzeugender die vom Gemeindebund ausgebildeten Amtsträger die mit dem Amt verbundenen Erwartungen ausfüllen, desto mehr wird sich das Amt als unverzichtbare Größe auch in einer kongregationalistischen Konfession durchsetzen. In evolutionär sich entwickelnden Konfessionen gehört der Struktur die Zukunft, die sich als positiv bewährt. Inwieweit dies für das Amt des Pastors oder Diakons zutrifft, wird im Kongregationalismus wesentlich davon abhängen, wie diejenigen dieses Amt ausfüllen, die als Pastorinnen oder Pastoren oder als Diakoninnen und Diakone ihren Dienst in den Ortsgemeinden tun.

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ZUSAMMENFASSUNG In kongregationalistischen Gemeindebünden, die dem Gemeindebund keine die einzelnen Ortsgemeinden bindende Entscheidungskompetenz zugestehen, stellt das Amt dennoch eine übergemeindliche, normativ abgesicherte und theologisch begründete Erwartungsstruktur dar. Diese ist aber nur von eingeschränkter Verbindlichkeit für die konkrete Ausgestaltung pastoraler und diakonischer Dienste in der Ortsgemeinde. Das Verhältnis von Pastor/Diakon, Ortsgemeinde und Gemeindebund kann daher im konkreten Einzelfall von rechtlichen Unklarheiten, widerstreitenden Erwartungen und ambivalenten Gefühlen geprägt sein. Daher kann dem Amt im Kongregationalismus nur in begrenztem Maße eine die Identitiät fördernde und stabilisierende Funktion zukommen.

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Kirche und Gemeinde im ökumenischen Dialog mit den Freikirchen Tim Lindfeld

Die Aufgabe des anstehenden Referates erfordert in mehrfacher Hinsicht Eingrenzung. Weil sich die ökumenischen Kontakte zwischen Freikirchen und katholischer Kirche in Vergangenheit und Gegenwart auf verschiedensten Ebenen vollzogen haben, ist es kaum möglich, die vielen Gedanken, die zu unserem Thema im weiteren und im engeren Zusammenhang schon erwogen wurden, erschöpfend zu sammeln. So ist in jedem Fall eine Auswahl der Referenzen zu treffen, auf die wir uns für unser Thema beziehen können. Dabei kommt erschwerend der sehr unterschiedliche Charakter der freikirchlich-katholischen Kontakte hinzu. Mehr oder weniger offiziellen Status haben eigentlich nur die internationalen Gespräche zwischen dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen und solchen christlichen Weltbünden oder Gemeinschaften, deren ekklesiales Selbstverständnis sich als dasjenige einer „Freikirche“ bestimmen lässt. Diese Identifikation setzt freilich eine bestimmte konfessionskundliche Kriteriologie voraus. Das Problem der Referenznahme bei den internationalen Dialogen potenziert sich im Blick auf die Anschlussfähigkeit an unseren Kreis dadurch, dass nicht alle der in der VEF vertretenen Kirchen oder Gemeindebünde in einem internationalen Bund zusammengeschlossen sind, der mit der katholischen Kirche in einem offiziellen Kontakt steht. Ich werde daher im Folgenden so vorgehen, dass ich zunächst die Frage nach einer freikirchlichen Ekklesiologie von Klaus-Peter Voß aufnehme, der einen Entwurf 247

auf der Basis der Präambel der Vereinigung Evangelischer Freikirchen vorgenommen hat.1 Vor diesem Hintergrund sollen die Ergebnisse der internationalen Gesprächsebene in den Blick genommen werden, die ich den drei Bänden der „Dokumente wachsender Übereinstimmung“ entnehme. Dabei versuche ich den Ansatzpunkt für eine theologische Differenzierung zu finden, die es mir erlaubt, in Bezug auf das katholische Kirchenverständnis relevante Linien der Konvergenz oder Divergenz aufzuzeigen. So will ich auf den Unterschied der konfessionskundlichen Frage nach den Merkmalen freikirchlicher Identität gegenüber der ökumenischen Reflexion über die Kirche in den bilateralen Gesprächen aufmerksam machen. Dieses Vorgehen ermöglicht mir schließlich einen konfessionskundlich gesehen relativ freien, dafür aber systematisch zentrierten Aufgriff der internationalen Gespräche. Ich hoffe, deren Ansätze auf diesem Weg in unseren Austausch einbeziehen zu können.

1. Die Frage nach einer freikirchlichen Ekklesiologie und ihre ökumenische Problematik Wie der Name der VEF zu erkennen gibt, sehen sich Freikirchen hierzulande vorwiegend als aus der Tradition der Reformation hervorgegangene ekklesiale Gemeinschaften. Unabhängig davon, ob die Bezeichnung „Kirche“ oder „Gemeinde“ bzw. entsprechende Derivate in der Selbstdeklaration der Freikirchen im Vordergrund stehen, kann eine Präferenz für das Gemeindeleben vor Ort in liturgischer, struktureller und diakonischer Hin 1 Vgl. K.-P. Voß, Gibt es eine freikirchliche Ekklesiologie? Eine Spu-

rensuche anhand der Präambel der Vereinigung Evangelischer Freikirche, in: ThGespr 30 (2006) 91-104.

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sicht allgemein als maßgeblich für freikirchliches Selbstverständnis gelten. Neben diesen sehr grundsätzlichen Bestimmungen lassen sich freilich weitere Kennzeichen des ekklesialen Typos „Freikirche“ benennen.2 Unter diesen treten auch solche hervor, die zwar die unterschiedlichen Freikirchen mehr oder weniger als solche kennzeichnen, aber in ihrer theologischen Dignität und ekklesiologischen Signifikanz in der Ökumene (auch von den Freikirchen selbst) nicht unbedingt als primäre Merkmale für die Wirklichkeit der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche gesehen werden. Elemente wie die Autonomie der Gemeindeordnung, besondere Formen der Kirchenzucht und der Mission oder die Ablehnung der Kirchensteuer sind weniger allgemeine Kennzeichen des Kircheseins als besondere Akzentsetzungen, die eine typologische Einordnung der verschiedenen christlichen Gemeinschaften unter den konfessionskundlichen Typ „Freikirche“ ermöglichen. Die Fokussierung solcher Elemente ergibt eine gewisse Schwierigkeit dadurch, dass die von anderen Kirchen und Gemeinschaften in der Christenheit ekklesiologisch als zentral erachteten Themen Taufe, Eucharistie und Amt bereits innerhalb des Freikirchenspektrums die ganze Breite der verschiedensten Positionen (und Negationen) in Lehre und Praxis umfassen. Konkret wird dies dokumentiert durch die Bandbreite der freikirchlichen Stellungnahmen zur multilateralen Konvergenzerklärung, die in Lima 1982 präsentiert wurde.3 Somit steht  2 Eine konfessionskundliche Darstellung „Allgemeine[r] Kennzei-

chen der Freikirchen“ bietet E. Geldbach, Freikirchen – Erbe, Gestalt und Wirkung, Göttingen 22005 (BenshH 70), 34-123. 3 Vgl. im Hinblick auf die Taufe J. Oeldemann, Ökumenische Konvergenz im Taufverständnis? Das Lima-Papier über die Taufe und seine Bewertung von freikirchlicher und katholischer Seite, in: W. Klaiber / W. Thönissen (Hg.), Glaube und Taufe in freikirch-

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fest, dass nicht unerhebliche Elemente ekklesiologischer Divergenz durch die konfessionskundliche Typologie überlagert werden. Diese Begrenztheit einer „typisch“ freikirchlichen Ekklesiologie muss deutlich gesehen werden. Man wird theologisch für entsprechende Beschreibungsversuche weniger eine präzise dogmatische als vielmehr eine deskriptiv-heuristische Bedeutung zur Geltung bringen. Dabei stellt sich die Frage, wie weit das konfessionelle Interpretament trägt oder ob nicht die ekklesiologische Fragestellung gerade diese Lesart transzendieren muss. Aus katholischer Sicht stellt sich angesichts der kirchenund theologiehistorischen Selbstverortung der Freikirchen in der evangelischen Christenheit die Frage nach einer damit verbundenen konfessionellen Abgrenzung, insofern die Freikirchen damit in eine bestimmte Konfessionsfamilie eingeordnet werden. Das könnte sich vorderhand negativ auf die freikirchlich-katholische Verhältnisbestimmung auswirken, ohne dass eine kritische Prüfung der augenscheinlichen Differenzen auf ihre dogmatische Bedeutung überhaupt erst aufgenommen worden wäre. Die angesprochene Abgrenzung ist jedenfalls greifbar, wenn die konfessionelle Identifikation der Freikirchen mit folgenden Worten zum ekklesiologischen Prinzip erhoben wird: „Die kirchenkritischen Implikationen der reformatorischen Worttheologie und Rechtfertigungslehre, die sich auf die römisch-katholische Kirchenlehre und ihre ‚sakramentalen Überhöhungstendenzen’ beziehen, werden von den Freikirchen im Grundsatz geteilt.“4 Offensichtlich wird die konfessionelle Identifikation hier einerseits durch den Gegensatz von „evangelisch“ und  licher und römisch-katholischer Sicht, Paderborn-Stuttgart 2005, 191-214, bes. 199ff. 4 K.-P. Voß (Anm. 1), 94f.

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„katholisch“ getragen, während auf der anderen Seite mit den Worten Wilfried Härles „die ekklesiale Realität des evangelischen Christentums“ durch die beiden „Modelle (Volkskirche und Freikirche)“ beschrieben wird.5 Gilt dies als ekklesiologischer Grundkonsens auf evangelischer Seite, dann ist seine Reichweite zugleich durch den konfessionellen Gegensatz zur katholischen Kirche begrenzt. Die weiteren konfessionskundlichen Spezifizierungen des Typos „Freikirche“ treten dann als innerevangelische Differenzierungen hervor, die als besondere Akzentuierungen des konfessionellen Grundkonsenses ausgeführt werden. Nicht nur für den katholischen Leser stellt sich damit die Frage: Führt das freikirchlich-katholische Verhältnis vor das altbekannte „konfessionelle Dilemma“, das Gerhard Ebeling konstatiert hat?6 Es besteht meines Erachtens berechtigter Zweifel darüber, ob die Frage der Ekklesiologie überhaupt spezifisch konfessionell und zugleich ökumenisch adäquat im Sinne einer hinreichenden Darstellung der Kirche als theologaler Wirklichkeit beantwortet werden kann. Wenn man hingegen das Vorzeichen eines konfessionellen Gegensatzes nicht schon im Vorfeld ins Spiel bringt, dann ist keineswegs ausgeschlossen, dass die zum freikirchlichen Prinzip erklärte „Grundrelation von Wort und Glaube“ mit ihren „pneumatologischen, personalen und responsorischen Dimensionen“ nicht auch auf katholischer Seite „Bezugspunkt ekklesiologischer Kriteriologie und kirchlicher Gestaltwerdung“ sein kann.7 Die dogmatische Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche „Lumen gentium“ hat in ihrem  5 Zitat ebd., 95. 6 G. Ebeling, Wort und Glaube, Bd. 4. Theologie in den Gegensät-

zen des Lebens, Tübingen 1995, 517. 7 K.-P. Voß (Anm. 1), 97.

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Versuch, das Mysterium der Kirche in Worte zu fassen, jedenfalls auch das herauszustellen versucht, was nach den Worten von Klaus-Peter Voß freikirchliche Überzeugung ist: dass die Kirche „kein Zusammenschluss religiöser Individuen [ist], sondern Gestaltwerdung der in Christus begründeten und durch ihn geschaffenen communio“.8

2. „Communio“ bzw. „Koinonia“ als Ansatzpunkt des ökumenischen Gesprächs über die Kirche Mir scheint, dass die Entscheidung über die Möglichkeit eines transkonfessionellen Zugangs zur theologischen Frage nach der Kirche im ökumenischen Dialog längst eine positive Beantwortung gefunden hat, auch wenn dies unseren gewohnten konfessionellen Differenzierungen nicht entspricht. Die Ekklesiologie muss, auch wenn sie durch konfessionell verschiedene Lehrbildungen immer schon spezifische Gestaltungen erfahren hat, im ökumenischen Bemühen um die Wiederherstellung der Einheit der Christen als eine offene Frage aufgegriffen werden. Der ökumenische Dialog stellt einen gemeinsamen Lernprozess dar. Erst im Durchgang durch den Dialog kann die Frage einer ökumenischen Klärung entgegengeführt werden. Ebendies dürfte die Einsicht sein, die im sogenannten „Nairobi-Bericht“ von 1985 über die vierte Runde des methodistisch-katholischen Dialogs so formuliert wurde: „Wenn wir über eine wiedervereinigte Kirche nachdenken, können wir nicht erwarten, dass wir in einer Zeit der Trennung eine Ekklesiologie finden, die völlig zufriedenstellend ist. Wir ha 8 Ebd., 98. Zur Communio-Ekklesiologie des II. Vaticanums vgl.

J. Drumm, Art. Communio, in: LOeK, 240-242 und die dort angegebene weiterführende Literatur.

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ben mit unseren Überlegungen für eine gemeinsame Ekklesiologie begonnen, und dieses Bemühen hilft uns dabei, den ekklesialen oder kirchlichen Charakter der jeweils anderen Seite in rechter Weise zu erkennen. Dieses Bemühen wird uns ebenso helfen, die gegenwärtige Situation der Trennung zu überwinden.“9 Wo liegt dafür der gemeinsame Ansatzpunkt? Die Antwort ergibt sich, wenn gemeinsam auf die Heilige Schrift und die Tradition der ungeteilten Kirche zurückgegriffen wird. Dass die Anknüpfung an das biblische und altkirchliche Koinonia-Verständnis aber nicht erst durch den ökumenischen Dialog an die theologische Frage nach der Kirche herangetragen wird, sondern immer schon in den ekklesiologischen Klärungsversuchen zugegen ist, zeigt die bereits erwähnte Tatsache, dass sowohl freikirchlicher- als auch katholischerseits der Communio-Begriff als grundlegend für die Ekklesiologie angesehen wird. In den katholisch-freikirchlichen Gesprächen nimmt er daher, wie kaum ein anderer Grundsatz, weiten Raum ein. Als eine besondere Prägung der Koinonia-Ekklesiologie in diesem Kontext darf vielleicht die starke Betonung der pneumatologischen Dimension bezeichnet werden, ohne dass dies ein exklusives Kennzeichen des freikirchlich-katholischen Dialogs wäre.10 Innerhalb der pneumatologischen Konstitution und der trinitarischen Grundlegung (Koinonia als Gemeinschaft mit dem dreieinen Gott)11 ist selbstverständlich die Christologie theologisches Fundament der Ekklesiologie. Aus katholischer Sicht ist die hypostatische Union von  9 DwÜ 2, 513. 10 So heißt es beispielsweise im Dokument „Aufforderung zum

Christuszeugnis in der heutigen Welt“ aus der ersten Runde des baptistisch-katholischen Dialogs (1984-1988): „Die Koinonia, die das Herzstück der Kirche ausmacht, ist das Ergebnis der mannigfaltigen Tätigkeit des Geistes“, in: DwÜ 2, 381. 11 Vgl. DwÜ 2, 604f.

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göttlicher und menschlicher Natur in der Person Christi das maßgebliche Analogon für die Realität der Kirche, verstanden als „komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Das Inkarnationsmysterium offenbart, dass menschliche Realität als „Heilsorgan“ (ebd.) für das Erlösungswerk Gottes dienen kann. Diese Wahrheit erschließt das Prinzip der Verbindung von Soteriologie und Ekklesiologie, sodass die Heilsuniversalität Christi die Heilsuniversalität der Kirche begründet.12 Dies schließt die ebenso universale Sendung der Kirche zu allen Menschen ein, denen das Evangelium Jesu Christi verkündet und bezeugt werden soll. Die Kirche ist in diesem Sinne als Volk Gottes universale Heilsgemeinschaft, die aus Gottes Initiative hervorgeht, in seinem Heilswirken fortbesteht und der ewigen Vollendung entgegengeht. Das Dokument „Die Kirche als Gemeinschaft in Christus“ aus der zweiten Dialogrunde der Jahre 1983-1992 mit den Disciples of Christ erklärt dementsprechend: „Indem Gott die Menschen aus der Vereinzelung und in die Gemeinschaft (koinonia) führt, schafft er eine neue Schöpfung – eine Menschheit, die jetzt geschaffen ist als Kinder Gottes, ein Volk, das von sich weiß, dass es die Vergebung der Sünden empfangen und das Alte abgelegt und Neues angelegt hat, auch wenn sie die ausstehende Vollendung noch erwarten (Röm 8,18-25).“13 Erweist der Koinonia-Begriff so seine ökumenische Anschlussfähigkeit, so kann das Problem unterschiedlicher Verständnisse dieses Grundbegriffs nicht geleugnet werden. Dem Koinonia-Grundsatz widmeten sich, mit Aus 12 Ebendies zu betonen war die Hauptaussageabsicht der ökume-

nisch so umstrittenen Erklärung der römischen Glaubenskongregation „Dominus Iesus“ über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, 6. August 2000. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2000 (VApS 148). 13 DwÜ 3, 296.

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nahme des Gesprächs zwischen Evangelikalen und Katholiken, sämtliche Dialogreihen, die die katholische Kirche auf Weltebene bislang geführt hat, mehr oder weniger ausführlich.14 Als biblischer Schlüsseltext wird neben den bekannten paulinischen Stellen – darunter besonders 1 Kor 10,16ff. – die Einleitung des Ersten Johannesbriefes genannt (1 Joh 1,3).15 Die Aussage wird sowohl als Hinweis auf die Apostolizität der kirchlichen Koinonia wie auch auf den letztlich trinitarischen Ursprung der Gemeinschaft und ihre pneumatologische Konstitution verstanden.16 „Folglich“, so heißt es im Dialog mit den Disciples of Christ weiter, „bezieht sich Gemeinschaft zuerst auf die Gemeinschaft mit Gott und dann erst auf die Gemeinschaft untereinander“.17 Dies ist freilich nicht als ein prinzipielles Differenz-, sondern als ein Bedingungsverhältnis zu verstehen, das in der Kirche konkrete Gestalt und Wirklichkeit gewinnt. Katholischerseits definiert LG 1, dass die Kirche „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ ist. Es ist also festzuhalten, dass die Koinonia sowohl in vertikale als auch in horizontale Relationen eingespannt ist. In diesem Zusammenhang ist allerdings auf die bekannte Tatsache einzugehen, dass hinsichtlich des Sakramentsbegriffs in der Ökumene kein übereinstimmender Sprachgebrauch herrscht. Insbesondere ist die Anwendung auf dem Gebiet der Ekklesiologie umstritten. Wie  14 Baptistisch/katholisch [B-RK], in: DwÜ 2, 380f.; Disciples/katho-

lisch [D-RK], in: DwÜ 3, 296ff.; methodistisch/katholisch [M-RK], in: DwÜ 2, 510; DwÜ 3, 449; 465; DwÜ 3, 499-505; DwÜ 3, 511-513; Pfingstler/katholisch [P-RK], in: DwÜ 2, 601-620. 15 Vgl. z.B. DwÜ 2, 380 [B-RK]; DwÜ 2, 599 [P-RK]; DwÜ 3, 296 [D-RK]; DwÜ 3, 456 [M-RK]. 16 Vgl. DwÜ 2, 604f. [P-RK]. 17 DwÜ 3, 296.

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in der vorweg angeführten Grundlegung evangelischfreikirchlicher Ekklesiologie gesehen, steht man einem sakramentalen Kirchenkonzept mitunter sehr kritisch gegenüber. Das hindert aber keineswegs, dass die von katholischer Seite favorisierte theologische Qualifikation der Kirche als sakramentale Wirklichkeit Ansatzpunkt ökumenischer Konvergenz sein kann, sofern im analogen Sinne von der Sakramentalität der Kirche oder auch des Amtes die Rede ist. Denn es kann sehr wohl sein, dass die faktische Divergenz in der Wortwahl eher eine Frage gewachsener Konventionen ist, hinter der sich ein Konsens in der Sache verbirgt. Diese Überzeugung wurde z.B. im methodistisch-katholischen Dialog vertreten. Dort heißt es: „Methodisten würden das Wort ‚Zeichen’ dem Wort ‚Sakrament’ vorziehen, aber die Bedeutung ist in jedem Fall dieselbe, weil die Kirche dem Auftrag ihres Gründers gehorcht, allen Völkern das Evangelium von der Erlösung zu predigen, die sie empfangen hat.“18 Ich füge abkürzend hinzu, dass sämtliche Kontroversen über die Fragen der Ausübung und der Strukturen der wesentlichen Sendung und („sakramentalen“) Funktion der kirchlichen Koinonia nur auf der Basis dieses grundlegenden Konsenses einer ökumenischen Klärung und Einigung entgegengeführt werden können. Das Ziel einer solchen Klärung der ekklesiologischen Frage liegt freilich mit Blick auf die verschiedenen bilateralen Gespräche in mehr oder weniger weiter Ferne und ist jedenfalls bis dato nicht absehbar.19  18 Ebd., 465. 19 Entsprechend unterschiedlich sind die konkreten Zielsetzungen in

den bilateralen Beziehungen. Während z.B. die Fortsetzung des Dialogs mit den Baptisten und den Pfingstlern vor allem das gegenseitige Verständnis befördern soll, um die „Kooperation“ in vielen Bereichen zu fördern (DwÜ 2, 390 [B-RK]) bzw. das „Band der Gemeinschaft (koinonia) zwischen getrennten Kirchen“ durch gemeinsames Zeugnis aufzuzeigen (DwÜ 3, 633 [P-RK]), ist für

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3. Kirche und Gemeinde – Koinonia als lokale und universale Realität Gemäß 1 Kor 10,16ff. ergibt sich vom neutestamentlichen Sprachgebrauch her wie auch vom liturgischen Sitz im Leben des Koinonia-Begriffs, dass die ekklesiale Gemeinschaft immer schon eine soziale Gestalt hat, die ihren Grund in der personalen Teilhabe an Christus findet. Da beide Aspekte nicht unabhängig voneinander sind, kann zwischen der Christusteilhabe des einzelnen Gläubigen und der Gemeinschaft der Gläubigen nicht getrennt werden, ohne in eine theologische Sackgasse zu steuern. Maßgabe ist die Präsenz Christi in der Kirche. Die gottesdienstliche Gemeinschaft steht unter der Verheißung von Mt 18,20, deren Text nach Aussage von Klaus-Peter Voß „als Schlüsselsatz freikirchlicher Kirchentheologie gelten kann“.20 Mit derselben Schriftaussage hat auch das Zweite Vatikanische Konzil die christliche Versammlung ohne Umschweife als Ort der Gegenwart Christi bestimmt.21 Insofern ist die im Gottesdienst vereinte Ortsgemeinde sowohl auf freikirchlicher als auch auf katholischer Seite keineswegs exklusives, aber indispensables Element, aus dem die universale Koinonia der Kirche auferbaut wird durch den Heiligen Geist. Die ekklesiale Wirklichkeit kann freilich nicht auf dieses grundlegende Element beschränkt werden, da sonst ein aktualistisch verkürztes Kirchenverständnis die Folge wäre.  den Dialog mit den Methodisten ganz dezidiert als Ziel „die volle kirchliche Gemeinschaft“ erklärt worden (DwÜ 3, 500), das spätestens seit dem „Nairobibericht“ von 1985 „als Ziel voller Gemeinschaft in Glauben, Sendung und sakramentalem Leben“ näher beschrieben ist (DwÜ 2, 512). 20 K.-P. Voß (Anm. 1), 100. 21 Vgl. SC 7.

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Weil die Gegenwart Christi sich auf die vollkommenste Weise in der Feier der Eucharistie verwirklicht, hat Papst Johannes Paul II. in seiner letzten Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“ aus dem Jahre 2003 dem Auferbautwerden der Kirche aus der eucharistischen Versammlung seine ganze Aufmerksamkeit zugewandt.22 Meinem Eindruck nach hat kaum ein zweites Dialogdokument aus dem für uns infrage kommenden Spektrum so intensive Aufmerksamkeit und Ausführlichkeit auf die eucharistische Dimension der Koinonia verwendet wie das bereits zitierte Dokument aus dem Dialog mit den Disciples of Christ. Das liegt gewiss an der Tatsache, dass hier zwei Partner zusammentrafen, für die auf dezidierte Weise der innere Zusammenhang von Gottesdienst- und Kirchengemeinschaft den theologischen Ansatzpunkt bildet. Denn die Disciples of Christ glauben, „dass die Kirche gleichzeitig Ortskirche (die Gemeinde der Gläubigen, die sich im Namen Christi versammeln und die Macht von Gottes Liebe an jedem Ort der Erde bezeugen) und Universalkirche (die Verbundenheit aller Christen und christlichen Gemeinschaften an allen Orten und zu allen Zeiten in der Koinonia des Volkes Gottes) ist“.23 Hier besteht eine grundlegende Konvergenz, die jenseits der theologischen und praktischen Konsequenzen liegt, die sich aus der teils divergenten Bestimmung weiterer Aspekte ergeben, welche nach den verschiedenen Auffassungen zum näheren oder weiteren Kontext der Liturgiegemeinschaft gehören (z.B. Fragen des Amtes). Und da in diesem Umfeld auch noch Fragen der Bedeutung von Tradition und Lehre ausstehen, wird ausdrücklich  22 Johannes Paul II., Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“ über die

Eucharistie in ihrer Beziehung zur Kirche, 17. April 2003. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 22003 (VApS 159), bes. Nr. 21-25. 23 Th.F. Stransky, Art. Disciples of Christ, in: LOeK, 264.

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„eine bedeutsame Differenz, die noch genauer untersucht werden muss“, gesehen.24 Nichtsdestoweniger können Disciples und Katholiken ein grundlegend gemeinsames Anliegen entdecken, wenn sie im Sinne des anamnetischen Charakters der eucharistischen Koinonia glauben, dass sie durch Gemeinschaft in Gebet und Gottesdienst gemäß Apg 2,42 Kontinuität mit der apostolischen Gemeinde üben. Darum heißt es in besagtem Dialogdokument: „Sowohl Disciples als auch römische Katholiken haben eine gemeinsame Intention: in einer solchen Weise zu leben und zu lehren, dass die Kirche, wenn der Herr wiederkommt, in der Bezeugung des Glaubens der Apostel vorgefunden werden kann. Sowohl Disciples als auch römische Katholiken glauben, dass sie dadurch, dass sie das Gedenken an das, was die Apostel lehrten, bewahren und es von neuem für die Gegenwart verkünden und leben, die Kontinuität mit dem apostolischen Zeugnis aufrechterhalten, indem sie eine lebendige Tradition schaffen, die ‚auf dem Fundament der Apostel und Propheten gebaut ist; der Schlussstein ist Christus Jesus selbst’ (Eph 2,20).“25 Man kann nun freilich nicht über die Höchstform der Teilhabe in der Koinonia und ihr innerstes geistliches Leben nachdenken, ohne sich ebenso grundlegend darüber Rechenschaft zu leisten, wie und wodurch überhaupt erst der Zugang zu dieser Koinonia erschlossen wird. Nicht nur für Katholiken ist aufgrund ihrer „sakramentalen“ Denkform klar, dass in diesem Zusammenhang über die Taufe zu reden ist, die ja neben dem Herrenmahl eine ausdrückliche neutestamentliche Verheißung und durch die Evangelien bezeugte Einsetzung vom Herrn hat. Zugleich aber kommt damit ein gerade für das freikirchlich-katholische Beziehungsgefüge kon 24 DwÜ 3, 299. 25 Ebd., 297.

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troverser Gesichtspunkt ins Spiel. Wenn man nicht vorab der katholischen Position einen haltlosen Sakramentalismus unterstellt, dann ist theologisch zweifelsfrei klar, dass in diesem Kontext der Zusammenhang von Glaube und Taufe auf dem Programm steht. Über die diesbezüglichen Divergenzen brauche ich an dieser Stelle nicht zu informieren. Dass die Differenzen in der Taufpraxis aber nicht ohne weitere Verständigungsmöglichkeiten auf der Basis einer gemeinsamen Erschließung grundlegender Elemente der Tauftheologie sind, hat eine der vorherigen Runden unserer Gespräche gezeigt.26 Das wohl wichtigste Interpretament eines gemeinsamen Zugangs zu diesem komplexen Thema wurde darin gefunden, dass die Frage der Eingliederung eines Einzelnen in die Kirche nicht auf einen einzelnen Akt (der Gemeinde oder der individuellen Person) beschränkt, sondern im Zusammenhang eines umfassenden Initiationsgeschehens gesehen wurde.27 Glaube und Taufe verbinden den einzelnen Gläubigen wie auch die liturgische Versammlung mit der Gesamtheit der universalen Glaubensgemeinschaft. Dies gilt unabhängig von der historischen und sozialen Tatsache, dass die Eingliederung immer in einer konkreten christlichen Denomination erfolgt. Dabei geht es niemals um bloße Mitgliedschaft, sondern um die Eingliederung in die Kirche als Leib Christi. Die pneumatologisch und sakramental verstandene Initiation bezieht sich, ganz analog zu den oben zitierten Sätzen aus dem Dialog mit den Disciples of Christ über die Wirklichkeit der eucha 26 Siehe dazu die Beiträge in: W. Klaiber / W. Thönissen (Anm. 3),

besonders R. Gebauer, Konvergenzen und Divergenzen im Taufverständnis. Erträge und Perspektiven, 225-239. 27 Vgl. ebd. besonders die Beiträge von P. Lüning, Taufe als Initiation. Umkehr, Bekenntnis, Wiedergeburt, Eingliederung, 29-47, und A. Heinze, Glaube und Taufe als Initiation. Exegetische Anmerkungen aus baptistischer Sicht, 49-70.

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ristischen Koinonia, auf die von Gott her eröffnete Wirklichkeit, der der Gläubige teilhaftig wird. Wie auch immer die Akzentuierungen innerhalb des Zusammenhanges von Glaube und Taufe zwischen den Denominationen im Dialog verschieden sein mögen, so bleibt doch die gemeinsame Überzeugung, dass der Glaube ohne die Taufe ebenso wie die Taufe ohne den Glauben unvollständig ist. Somit sind beide für die kirchliche Realität konstitutiv. Leider wurde auf diesen Komplex in der ersten und bislang einzigen Runde des baptistischkatholischen Dialogs nicht wirklich eingegangen. Man hat das Thema aufgrund der festgestellten Divergenzen lediglich als Problem angesprochen, dessen Ursachen man allerdings auf einer anderen Ebene vermutete, sodass die von mir anvisierte Gemeinsamkeit keineswegs ausgeschlossen wurde. Man stellte fest: „Der Kern des Problems, den man in diesem Zusammenhang ansprechen muss, scheint das Wesen des Glaubens und das Wesen der Sakramente (die von den meisten Baptisten ‚Ordnungen’ genannt werden) zu sein; dadurch werden eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die Baptisten und Katholiken gemeinsam angehen müssen.“28 Es wäre in jedem Fall bedauerlich, wenn es beim Aufwerfen von Fragen bliebe. Es darf daher erwartungsvoll auf die neue Runde des baptistisch-katholischen Dialogs geschaut werden, die im Jahr 2006 eingeläutet worden ist.29 Das dynamisch-prozedurale Interpretament der Initiation ist unterdessen auch in den internationalen freikirchlich-katholischen Gesprächen aufgegriffen worden und zwar selbst dort, wo es nicht ausdrücklich benannt wurde. Im Dialog mit den Pfingstlern trat die Bedeutung der Taufe im Zusammenhang mit der Sendung der apostoli 28 DwÜ 2, 388. 29 Dies erwähnt E. Geldbach, Der baptistisch/römisch-katholische

Dialog, in: Freikirchenforschung 16 (2007) 153.

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schen Koinonia hervor, da nach Mt 28,19 beide zusammengehören. Auf dieser Basis wurde festgestellt, „dass die Taufe von Christus eingesetzt worden ist“ und dass durch die Praxis des Taufens in der Koinonia deren apostolische Kontinuität zum Ausdruck kommt. Gemeinsam wurde festgestellt: „In Übereinstimmung mit diesem Auftrag des Herrn tauften die Jünger jene, die der Gemeinschaft der Gläubigen hinzugefügt wurden (vgl. Apg 2,41).“30 Hinsichtlich der trinitarischen Taufformel wies man darauf hin, dass die meisten Pfingstler die antitrinitarische Position der sogenannten „Oneness“- oder „Jesus Name“-Pfingstler ablehnten.31 Trotz der Divergenz hinsichtlich der Kindertaufe erklärt dasselbe Dokument über den Zusammenhang von Glaube und Taufe: „Pfingstler und römisch-katholische Christen stimmen darin überein, dass der Glaube der Taufe vorausgeht und eine Vorbedingung der Taufe ist (vgl. Mk 16,16) und dass der Glaube notwendig ist für die Echtheit der Taufe. Sie bejahen auch, dass der Glaube der gläubigen Gemeinde, ihr Gebet und ihre Belehrung den Glauben des Taufkandidaten nähren.“32 In diesem Zusammenhang ist ohne jeden Zweifel übereinstimmend klargestellt worden, „dass der Glaube zum Heil notwendig ist“.33 Allerdings stellt sich dem kritischen Leser der zitierten Passage die Frage, ob das Konstitutionsverhältnis zwischen Glaube und Taufe nicht äquivok ausgesagt wird. Dieser Eindruck wird obendrein durch die folgende Erklärung verstärkt: „Die Pfingstler lehnen die römischkatholische Lehre von der Taufe als einem konstitutiven Mittel des Heils, das durch Christi Leben, Tod und Auf 30 DwÜ 2, 607. 31 Ebd., 604. 32 Ebd., 607. 33 Ebd., 609.

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erstehung vollbracht wurde, ab.“34 Eine weitere, in diesem Kontext möglicherweise virulente Problematik ergibt sich durch die Frage der Geisttaufe, die für Pfingstler charakteristisch ist und in der ersten Dialogrunde behandelt wurde. Der am Dialog beteiligte Pater Kilian McDonnell OSB hatte in monografischen Beiträgen die These vertreten, dass die Geisttaufe im Verständnis der Kirchenväter integraler Bestandteil der Initiation sei und damit auch nach katholischem Verständnis zu diesem sakramentalen Geschehen gerechnet werden könne.35 Dies wurde aber von dem Jesuitenpater Norbert Baumert bestritten, sodass die Divergenz in der theologischen Interpretation hier schon durch die Reihe der katholischen Dialogpartner ging. Des Weiteren sprachen einige Pfingstler von der Taufe als „Sakrament“ oder „Mittel der Gnade“, andere aber lehnten dies ab.36 Leider muss durch die genannten Unklarheiten die behauptete Übereinstimmung zwischen Pfingstlern und Katholiken mit einem Fragezeichen versehen werden. Allerdings wird die gemeinsame Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass der persönliche Glaube des Einzelnen nicht isoliert ist vom Glauben der Koinonia. Und dies gilt sowohl in inhaltlicher und formaler als  34 Ebd. 35 Vgl. die Darstellung von H. Gasper (ders. / G. Bially, Der pfingst-

kirchlich/römisch-katholische Dialog, in: Freikirchenforschung 16 [2007] 185f.). Einen auf den ersten Blick vergleichbaren, aber doch systematisch anders gelagerten Gedanken verfolgte bereits Johann Adam Möhler in seiner „Symbolik“ von 1832, als er die Lehre der sogenannten „Wiedertäufer“ des 16. Jahrhunderts gegen die Polemik der Reformatoren in ihrer positiven Bedeutung darzustellen versuchte. Möhler entdeckte dabei Übereinstimmung zwischen der hier als Glaubenstaufe verstandenen „Geisttaufe“ mit der katholischen Lehre von der Rechtfertigung durch Glaube und Taufe. Vgl. dazu die Ausführungen in meinem Beitrag: Ungeahnte Nähe? Freikirchen und katholische Kirche aus der Sicht Johann Adam Möhlers, in: Cath(M) 61 (2007) 305-321, hier 317f. 36 DwÜ 2, 607-609.

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auch in praktischer Hinsicht, was freilich weiter zu entfalten wäre. Insofern steht weitergehender Anknüpfung ein Gesprächsfaden zur Verfügung, der durch die Verständigung in anderen Fragebereichen sowie weiteren theologischen Begriffsklärungen an Tragfähigkeit gewinnen könnte. Zudem ist im freikirchlich-katholischen Dialogkomplex, trotz aller Divergenzen im Einzelnen, insgesamt deutlich herausgestellt worden, dass das Paradigma der Tauftheologie auch auf katholischer Seite im Sinne der Rechtfertigung des Sünders als Umkehr und Bekenntnis des Glaubens das neue Leben der Person in der Gemeinschaft der Heiligen ist. Das Moment der Tilgung der Erbsünde gibt die katholische Lehre also keineswegs hinreichend wieder.37 Die wohl weitreichendste freikirchlich-katholische Konvergenz hinsichtlich des Zusammenhangs von Kirche und Sakramenten und damit auch von Taufe und Eucharistie für die Koinonia hat der methodistisch-katholische Dialog zutage gefördert. Auch wenn es im „NairobiBericht“ noch heißt, dass man „weiterhin bestehende Unterschiede im Blick auf die Wirksamkeit der Taufe, insbesondere der Säuglingstaufe, zu prüfen und zu lösen“ habe, wird doch die wesentlich sakramentale Konstitution der Koinonia weitgehend konvergent bestimmt: „Der personale als auch der soziale Aspekt des christlichen Lebens ist in den beiden Sakramenten enthalten,  37 Vgl. dazu W. Thönissen, Tauftheologie und Taufpraxis. Theologi-

sche Begründung und pastorale Bedeutung der Erwachsenen- und der Kindertaufe, in: W. Klaiber / W. Thönissen (Anm. 3), 113-134. Man könnte als Beleg für die theologische Unabweisbarkeit einer Differenzierung der ekklesiologischen von der Erbsündenfrage auch auf die jüngsten Klärungen der Internationalen Theologenkommission im Blick auf die Heilshoffnung für ungetauft verstorbene Kinder verweisen: Internationale Theologische Kommission, Die Hoffnung auf Rettung für ungetauft sterbende Kinder, 19. April 2007. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2008 (ADBK 224).

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die Methodisten und Katholiken als grundlegend ansehen. Die Taufe nimmt den einzelnen in die koinonia der Kirche auf. In der Eucharistie ist Christus für den Gläubigen wahrhaft gegenwärtig (vgl. Dublin-Bericht 1976, Nr. 54). Auf diese Weise ist er eingebunden in die koinonia mit dem Herrn und mit anderen, die miteinander das sakramentale Mahl teilen.“38 Der analoge Sakramentsbegriff der katholischen Theologie wird von den Methodisten weitgehend akzeptiert, wie die folgende Aussage zu erkennen gibt: „Obwohl Methodisten die Bezeichnung ‚Sakrament’ nur für die Riten gebrauchen, für die die Evangelien ausdrücklich die Einsetzung durch Christus berichten, bestreiten sie dabei den sakramentalen Charakter anderer Riten nicht.“39 Die Akzeptanz des analogen Sakramentsbegriffs geht sogar so weit, dass nach Auskunft desselben Dokumentes die durch das Zweite Vatikanische Konzil vertretene universale Perspektive auf die Kirche als „veluti sacramentum“ (LG 1) auch „viele Methodisten als hilfreich“ empfinden.40 Diese zusammenstimmende Auffassung verdankt sich meines Erachtens einer im Dokument „Die Apostolische Tradition“ von 1991 ausdrücklich festgestellten Konvergenz der dogmatischen Formalprinzipien auf katholischer und methodistischer Seite. Man entdeckte sie zwischen dem vom Zweiten Vatikanischen Konzil im Ökumenismusdekret herausgestellten Prinzip der „Hierarchie der Wahrheiten“ (UR 11) und der von John Wesleys Anhängern vertretenen „Analogie des Glaubens“.41 Beides sagt den prinzipiellen Zusammenhang aller Glaubensartikel der kirchlichen Lehre aus und eröffnet zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit zu theolo 38 DwÜ 2, 511. 39 Ebd. 40 Ebd., 510. 41 DwÜ 3, 442.

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gischer Differenzierung und Gewichtung. Das Zentrum bildet dabei die in Christus offenbare Liebe Gottes, von der sich alle Glaubensaussagen herleiten müssen. Mit dieser theologischen Fundamentalkonvergenz ist offensichtlich die entscheidende formale Bedingung gegeben, die die weitreichenden sachlichen Konvergenzen ermöglicht. Deswegen konnte der methodistisch-katholische Dialog über die basalen Übereinstimmungen in vielfältigen Fragen sehr weit hinausgehen und in viele Detailfragen fortschreiten, die in den anderen freikirchlich-katholischen Dialogen entweder noch gar nicht oder allenfalls als Divergenzpunkte in den Blick genommen wurden. Obwohl uns für unsere Fragestellungen vorwiegend die Ekklesiologie interessiert, möchte ich es an dieser Stelle nicht versäumen, dass die Methodisten die bis dato einzige Kirchengemeinschaft des Typos „Freikirche“ vertreten, die mit der katholischen Kirche einen offiziell rezipierten differenzierten Konsens in einer zentralen soteriologischen Lehrformulierung erklärt hat. Der Methodistische Weltbund hat bei seiner Vollversammlung in Seoul 2006 die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen Lutheranern und Katholiken bestätigt und sich zu eigen gemacht. Da sowohl Methodisten als auch Katholiken von dem untrennbaren Zusammenhang aller Glaubensartikel ausgehen, ist damit zwar noch kein Konsens in der Lehre von der Kirche erreicht, aber man hat mit der in der GER erfolgten theologischen Differenzierung der soteriologischen von der ekklesiologischen Fragestellung zugleich auch die Verpflichtung zur noch ausstehenden Klärung der Letzteren angenommen, die im Text der GER ausdrücklich festgehalten wird.42  42 Vgl. die viel diskutierte Fußnote 9 zu GER 5 (DwÜ 3, 420) sowie

GER 43 (DwÜ 3, 430). Die „Methodistische Stellungnahme“ und die „Offizielle gemeinsame Bestätigung“ sind veröffentlicht in:

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Der methodistisch-katholische Dialog hat unterdessen die ekklesiologischen Aspekte schon vielfach weitergeführt. Bereits im „Nairobi-Bericht“ von 1985 dachte man sehr konkret über „Mögliche Formen der Einheit der Kirche“ im Sinne der Wiedervereinigung von Methodisten und Katholiken nach.43 Auch hier wurde der Koinonia-Begriff als vielversprechendste Konzeption angesehen und von seiner die personal-soziale ebenso wie die personal-sakramentale Dimension umfassenden Bedeutung her verstanden. Man hörte hier den Zusammenklang der im Englischsprachigen geschiedenen Worte „community“ und „communion“. Die Koinonia sei „eine sichtbare und unsichtbare Gemeinschaft, die ihren Ausdruck findet in Glaube und Kirchenverfassung, in Gebet und Sakrament, in Sendung und Dienst“.44 Auch im Dialog mit den Pfingstlern wurde im Dokument „Perspektiven der Koinonia“ ausdrücklich festgehalten, „dass die Kirche sowohl eine sichtbare als auch eine unsichtbare Wirklichkeit ist“ und man vergaß nicht, die Mahnung hinzuzufügen, die Unterscheidung dieser beiden Dimensionen solle „nicht dazu benutzt werden, um die Trennung zwischen Christen zu rechtfertigen und zu verstärken“.45 Ich denke, dass damit eine klare Absage an jede Form konfessionalistischer Umdeutung der ökumenischen Aufgabe ausgesprochen worden ist. Und ich meine, dass diese Absage auch dann noch gilt, wenn eine einhellige Vorstellung von Kirchengemeinschaft in der Ökumene noch nicht erreicht worden ist. Während der Überlegungen über die Möglichkeit einer Wiedervereinigung zwischen Methodisten und Katholi podium 44 (9/2006) 1-3 sowie in KNA-ÖKI 32 Dokumentation Nr. 9, 08.08.2006, 1-4. 43 So die Überschrift des Abschnitts IV des Dokumentes (DwÜ 2, 513ff.). 44 DwÜ 2, 513. 45 Ebd., 606.

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ken, die der „Nairobi-Bericht“ dokumentiert, ging man von einem „Modell organischer Einheit in der koinonia des einen Leibes Christi“ aus, einer Einheit, die verschiedene „typoi“ des Kircheseins zu umfassen vermag.46 Dies bedeute, „dass in der einen Kirche, in der grundsätzliche Übereinstimmung in Glaube, Lehre und der für die Mission wesentlichen Struktur besteht, Raum ist für verschiedene ‚kirchliche Traditionen’, von der jede gekennzeichnet ist durch eine besondere Art der Theologie, des Gottesdienstes, der Spiritualität und der Ordnung“.47 Man sah unter dieser ekklesiologischen Maßgabe eine kirchenhistorische Analogie zwischen der von John Wesley angestoßenen Bewegung und den verschiedenen Ordens- und geistlichen Gemeinschaften, die in der Kirche in der Weise der Gefolgschaft charismatischer Gründerpersönlichkeiten hervorgebracht wurden. Die „relative Selbstständigkeit“ dieser Gemeinschaften in rechtlicher, spiritueller und missionarischer Hinsicht wurde als Konkretisierung des vorgestellten Modells von der Einheit der Kirche angeführt. Neben diesen Konkretisierungsversuch trat ein „dritter Gedankengang“, der durch den Begriff „Schwesterkirchen“ angeregt worden war.48 Obwohl dieser Begriff ursprünglich dazu gedient habe, die geografische Differenzierung der universalen Kirche zum Ausdruck zu bringen, „z.B. Kirche von Rom, Kirche von Konstantinopel“, weise der Terminus in ökumenischer Hinsicht „auf die Möglichkeit hin, eine Wiedervereinigung getrennter Traditionen als eine Versöhnung in der Familie ins Auge zu fassen“.49  46 Ebd., 513. 47 Ebd. 48 Ebd., 514. 49 Ebd. Ob und inwiefern das bereits erwähnte Schreiben „Dominus

Iesus“ der römischen Glaubenskongregation oder auch die dem hier angewandeten Begriff der „Schwesterkirchen“ gewidmete Erklärung vom 30. Juni 2000 derselben Kurialbehörde Maßstäbe

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Solche Überlegungen sind in ihrer konkreten Zielsetzung wohl nur dann sinnvoll nachzuvollziehen, wenn man sich tatsächlich in dem Grundsatz einig ist, dass die Kirche nicht nur in ihrer lokalen Lebenswirklichkeit auf der Ebene der Gemeinde, sondern auch in ihrer universalen Dimension unsichtbare und sichtbare Realität ist. Wo man diesen Grundsatz teilt, kann man auf dem Wege des theologischen Diskurses gemeinsam ausloten, welche verbindlichen Strukturen für die Dialogpartner infrage kommen, damit sie wieder zur vollen Gemeinschaft miteinander gelangen. Unstrittig war dabei für Methodisten und Katholiken auch die Überzeugung, „dass die Kirche immer eines gottgegebenen Amtes bedurfte“.50 Hinsichtlich des dreifachen Amtes des Bischofs, Priesters und Diakons stellte man fest, dass sich aus den historischen Quellen zwar nicht mit letzter Klarheit erheben lässt, ob dieses dreigegliederte besondere Dienstamt in der Kirche bereits zur Zeit der Abfassung der neutestamentlichen Texte bestand.51 Man machte sich allerdings die allgemeine Forschungsansicht zu eigen, „dass es im 2. und 3. Jahrhundert allgemein eingeführt wurde und dass es eindeutig in derselben nachneutestamentlichen Periode allgemeine Geltung erlangte, in der der Kanon der Schrift festgelegt und die klassischen Glaubensbekenntnisse formuliert wurden“. Doch während Einigkeit darüber herrschte, dass man die geschichtliche Entwicklung als Geschehen „unter der Führung des Heiligen Geistes“ ansah, blieb Übereinstimmung über die Frage nach der Unveränderlichkeit dieser Gestalt des Amtes  setzt, die diese Interpretation in irgendeiner Weise einschränken, verlangt eigene Klärung. Die angesprochene Erklärung ist nachzulesen in: „Schwesterkirchen“. Eine Note der Glaubenskongregation, in: KNA-ÖKI 38 Dokumentation Nr. 4, 12.09.2000, 1-3. 50 DwÜ 2, 514. 51 Ebd., 515.

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aus. Die in gewisser Weise pragmatische Sichtweise der Methodisten wollte nicht ausschließen, dass auch „andere Formen der Aufsicht und der Leitung“ besonders in Zeiten von Krisen oder geschichtlichen Brüchen anzuerkennen seien. In derselben Sichtweise stellte man aber auch fest, dass die Mehrzahl der Methodisten das Amt des Bischofs bereits akzeptierte oder wenigstens bereit war, „es um der Einheit willen anzunehmen“.52 Auch wenn damit eine Divergenz zur katholischen Auffassung bestehen bleibt, nach der das Amt des Bischofs in apostolischer Sukzession iure divino zur Verfassung der Kirche gehört,53 so ist doch keineswegs einem irenischen Pragmatismus gehuldigt worden. Im Dokument „Die Apostolische Tradition“ ist ausdrücklich der theologische Grundsatz bekräftigt worden: „Koinonia und episkopé schließen einander ein.“54 Und weil zentrales Anliegen für die Ausübung des Amtes der Aufsicht und der Leitung sein müsse, „die Einheit in der Wahrheit zu bewahren“, darum sei „das Lehren der wichtigste Teil der Aufgabe der episkopé“.55 Damit stimmte man nicht nur im theologischen Grundsatz, sondern auch in dessen praktischer Zielsetzung fundamental überein. Von daher gesehen ist die gemeinsame theologische Argumentation zwischen Methodisten und Katholiken trotz aller Differenzen offenbar zweifach eingewurzelt, nämlich in dem für die Entfaltung und Auslegung der Glaubenslehre maßgeblichen Formalprinzip der Glaubensanalogie einerseits und der der göttlichen Konstitution und Zielsetzung der christlichen Gemeinschaft entsprechenden Maßgabe der Verbindlichkeit und Einheit in der notwendigen Lehre und Ordnung der Kirche an 52 Ebd. 53 Vgl. LG 23; can. 375 § 1 CIC/1983. 54 DwÜ 3, 465. 55 Ebd.

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dererseits. Auf dieser Basis hat sich die internationale Dialogkommission der ekklesiologischen Frage als ökumenische Aufgabe mit dem Ziel der vollen Einheit zugewandt und dabei keine Ebene der zu überwindenden Differenzen ausgelassen. Da der Dialogprozess auch hier noch offen ist, möchte ich meine Darstellung mit einem Zitat aus dem „Nairobi-Bericht“ schließen, das meines Erachtens die von mir herauskristallisierten Elemente in ihrer Hinordnung auf das anvisierte ökumenische Ziel bis hin zur Frage des Primates des Bischofs von Rom kompiliert zum Ausdruck bringt: „49. Alle Ortskirchen bedürfen eines Leitungsamtes. In der Entwicklung der frühen Kirche führte das dazu, dass solche Leitung durch den Bischof ausgeübt wurde, der ein Zentrum der Einheit war. Schließlich wurden die Kirchen in Provinzen, Regionen und Patriarchate zusammengefasst, in denen ein Erzbischof, ein Primas oder ein Patriarch in ähnlicher Weise eine einigende Rolle im Dienst an der koinonia ausübte. 50. Analog erhebt sich die Frage, ob die gesamte Kirche einen Leiter braucht, der eine ähnlich einigende Rolle im Dienst an der weltweiten koinonia ausübt. 51. In Anbetracht dieses Zusammenhangs muss man sich dann dem Anspruch stellen, dass der Römische Stuhl bereits solch ein Amt der universalen Einheit ausübt.“56

Rückschau und Ausblick Im Unterschied zu den Gesprächen zwischen VEF und Möhler-Institut, die wir seit einigen Jahren führen, sind die internationalen Gespräche zwischen Freikirchen und katholischer Kirche konsequent als bilaterale Gespräche  56 DwÜ 2, 519.

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geführt worden. Im Hinblick auf die Vergleichbarkeit der verschiedenen Ergebnisse und ihre Anwendbarkeit für unsere Gesprächsreihe ergibt sich daraus die Schwierigkeit einer Gemengelage von unterschiedlichen ekklesiologischen Akzentsetzungen, die theologisch nicht auf einen eindeutigen Nenner zu bringen sind. Manche Lehrfragen, die das katholische Kirchenverständnis mit sich bringt, stellen in dem einen bilateralen Kontext, in dem sie eine schwerwiegende Divergenz aufzeigen, ein scheinbar unüberwindbares Hindernis, im Gespräch mit einem anderen Partner dagegen überhaupt kein Problem dar. Um bei dieser Bandbreite der ekklesiologischen Unterschiede im Spektrum der Freikirchen noch die Gemeinsamkeiten der Freikirchen festhalten zu können, ist der Versuch, eine typologische Identifikation anhand von bestimmten Merkmalen zusammenzustellen, hilfreich. Man muss sich allerdings sehr davor hüten, dadurch ein Interpretationsmuster zu veranschlagen, das unter der nicht hinterfragten Voraussetzung konfessioneller Grundgegensätze Konvergenzmöglichkeiten verstellt. Ich meine, dass der Blick in die internationalen Dialoge zeigt, wie vordergründige Gegensätze sich relativieren, sobald das gemeinsame theologische Fragen nur „tief“ genug ansetzt. Es ist kein Zufall, dass beispielsweise das grundlegende Thema der Koinonia im pfingstkirchlich-katholischen Gespräch ausführlicher behandelt wurde, als im Gespräch mit den Methodisten. Während man im methodistisch-katholischen Dialog bereits in den theologischen Grundlagen auf ein hohes Maß an Gemeinsamkeit stieß, musste man sich im pfingstlerisch-katholischen Gespräch offenbar mit größeren Verständigungsschwierigkeiten auseinandersetzen. Das schließt aber keineswegs aus, dass dabei wichtige Übereinstimmungen gefunden wurden. Aus meiner Sicht bestätigt dies, dass die ökumenische Verständigung umso mehr gewinnt, je theologisch tiefgründiger und 272

„sachlicher“ man ansetzt und sich nicht bei offenkundigen Differenzen in den konfessionellen Prägungen aufhält, die auf den historischen Trennungen beruhen. So ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass unter der Führung des Heiligen Geistes, der die Kirche zusammenfügt und der die ökumenische Bewegung trägt, auf der Basis der freigelegten Fundamente die Ungleichheit der ekklesiologischen Akzentsetzungen und Fragestellungen miteinander in ein konstruktives Verhältnis gebracht werden kann. Das gemeinsame Zeugnis für den einen Herrn und seine Kirche dürfte durch die weiterzuführende theologische Verständigung an Klarheit gewinnen. In jedem Fall ist der Abbau der Verständigungsschwierigkeiten und die Überwindung der Lehrdifferenzen zwischen den getrennten christlichen Gemeinschaften nur auf dem Wege des Dialoges zu erreichen, in dem die Partner sich „par cum pari“ (UR 9) miteinander einem der Wahrheit verpflichteten Diskurs aussetzen.

ZUSAMMENFASSUNG Der Beitrag untersucht die internationalen Dialoge zwischen Freikirchen und katholischer Kirche nach Ansätzen zur Behandlung der ekklesiologischen Fragestellung. Als Grundproblem stellt sich die konfessionell bestimmte Typologisierung der Ekklesiologie heraus, da die Definition der evangelischen Freikirchen die Abgrenzung zur römisch-katholischen Kirche impliziert. Demgegenüber setzten die Dialoge bei einem ekklesialen Grundbegriff im Sinne des biblisch-patristischen Koinoniaverständnisses an. Allen Divergenzen im Einzelnen zum Trotz ist im Ganzen ein gewisser Konsens darin auszumachen, dass nach freikirchlicher wie katholischer Überzeugung „Kirche und Gemeinde“ theologisch eine einzige, Zeit und Ort überschreitende ekklesiale Realität der Christusteilhabe bedeuten. 273

Baptistische Ekklesiologie und Ökumene Eine (selbst-)kritische Ortsbestimmung Kim Strübind „Die Kirche befriedigt nicht Erwartungen, sie verwaltet Geheimnisse.“ Carlo Maria Kardinal Martini

1. Einige Besonderheiten des deutschen Baptismus Ich habe meine Ausführungen über „baptistische Ekklesiologie und Ökumene“ in drei Abschnitte unterteilt. Beginnen möchte ich meine baptistische Introspektive mit Anmerkungen zur Besonderheit des deutschen Baptismus, gefolgt von einigen ekklesiologischen Beobachtungen. Dabei kommt es mir nicht auf Vollständigkeit an – für die in diesem Rahmen keine Zeit ist – sondern auf Charakteristisches. Daran schließen sich einige Gedanken zur Frage der „inneren“ und „äußeren“ Ökumene im Baptismus an, die ich mit florilegischen Thesen abschließe. Ich möchte mit drei heuristischen Vorbemerkungen beginnen. Was ich Ihnen versuche darzulegen, nenne ich eine „realistische Ekklesiologie“. Ich wähle damit eine Darstellungsweise, die sich von der üblichen dogmatischen Theoriegestalt ekklesiologischer Konzepte unterscheidet, wie sie sich etwa in unserer „Rechenschaft vom Glauben“ findet, einer Art theologischer Programmschrift des deutschen Baptismus.1 Nicht dass die in theo 1 Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Hg.), Rechenschaft

vom Glauben, Kassel 2004 [= RvG]; die RvG kann auch im Inter-

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logischen Statements oder dogmatischen Basistexten genannten Dinge falsch wären. Aber es handelt sich dabei doch um die Konstruktion von Sollwahrheiten, die im Unterschied zu anderen Kirchen keine normative Potenz für die Gemeinden und ihre Theologie(n) besitzen. Für eine Darstellung des Baptismus in Deutschland eigenen sich solche dogmatischen Konstrukte daher nur bedingt, sind sie doch innerhalb meiner kirchlichen Tradition weit weniger präsent als gedacht und werden innerhalb des Baptismus in nur geringem Maße wahrgenommen, rezipiert oder gar ratifiziert. Texte wie die erwähnte „Rechenschaft vom Glauben“ sind weniger für die eigene Glaubensgemeinschaft als vielmehr für ökumenische Verständigungen – primär unter Theologinnen und Theologen – verfasst, die eine Normgestalt des Baptismus suggerieren, die es nicht gibt.2 An dieser Stelle besteht eine wesentliche Differenz zur Verbindlichkeit normativer theologischer Texte in anderen Kirchen, was für ökumenische Dialoge mit Baptistinnen und Baptisten stets beachtet werden sollte. Es macht daher keinen Sinn, eine dogmatische Ideallinie des deutschen Baptismus zu entwerfen, solange solche Ideale keine allgemeine Verbindlichkeit besitzen und bestenfalls Empfehlungen an die Gemeinden darstellen. Meine Ihnen hier vorgestellte realistische Ekklesiologie geht dagegen vom „Istzustand“ des deutschen Baptismus aus, wie ich ihn ganz praktisch als Gemeindemitglied, als Pastor und ehemaliges Kirchenleitungsmitglied sowie als Wissenschaftler mit soziologischer Distanz durchaus kritisch wahrnehme. Es ist eine wesentlich andere Form eines ekklesiologischen Selbstverständnisses, das auf sei net abgerufen werden: http://www.baptisten.org/pdf/werwirsind/id -7-pdf.pdf. 2 Gleichwohl ist dieser Text eine brauchbare Gesprächsgrundlage, solange man ihr nicht die Dignität einer „Bekenntnisschrift“ zugesteht, die die RvG nicht ist oder sein kann.

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ne Weise ebenso faszinierend wie gewiss auch kritikwürdig ist. Eine zweite Vorbemerkung ist insofern wichtig, als der Baptismus auf nationaler wie auf internationaler Ebene ein pluriformes und oft schwer zu greifendes religiöses Phänomen darstellt. Der deutsche Baptismus besitzt zudem einige kontingente Spezifika, die sich wiederum nur schwer auf andere baptistische Kirchen bzw. Unionen übertragen lassen. So fehlt im deutschen Baptismus etwa das im angloamerikanischen Baptismus tief verankerte Bewusstsein, das eine „Freikirche“ als kritisches Gegenüber und prophetisches Korrektiv zur Gesellschaft versteht.3 Die Trennung von Kirche und Staat wird etwa im englischen und amerikanischen Baptismus keineswegs im Sinne einer wechselseitigen Nichteinmischung und einer ontologischen Diastase verstanden, wie dies für den deutschen Baptismus weitgehend zu beobachten ist. Ganz im Gegenteil: In den Ursprungsländern des Baptismus gibt die Trennung von Kirche und Staat der Kirche gerade die Möglichkeit, sich im Namen des Evangeliums frei in gesellschaftliche Belange einzumischen.4 Der deutsche Baptismus hat dagegen zwar fromme Männer und Frauen, aber keinen Martin Luther King hervorgebracht – auch keinen im Kleinformat. Dies liegt an der fast vollständigen Absorption baptistischer Tradi 3 Vgl. E. Geldbach, Freikirchen – Erbe, Gestalt und Wirkung, Göt-

tingen 22005 (BenshH 70). 4 Vgl. A. Strübind, Trennung von Staat und Kirche? Bewährung und

Scheitern eines freikirchlichen Prinzips, in: ZThG 4 (1999) 261288; dies., Die Macht der Gewaltlosigkeit. Martin Luther King und die „Black Church“ als Trägerin der Bürgerrechtsbewegung, in: KZG 17 (2004) 500-518; dies., „Widerstandsrecht“ als elementares Thema in den freikirchlichen Traditionen, in: M. Leiner u.a. (Hg.), Gott mehr gehorchen als den Menschen. Christliche Wurzeln, Zeitgeschichte und Gegenwart des Widerstands, Göttingen 2005, 137-168.

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tionen durch den Neupietismus und die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Jene frommen Männer und Frauen, die den Baptismus im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland gegen alle gesellschaftlichen und politischen Widerstände etablierten, deuteten gesellschaftliche Gerechtigkeitsdefizite apokalyptisch und damit als Zeichen der erhofften Wiederkunft Christi. Abgesehen von einem beachtlichen diakonischen Engagement war der „Zeitgeist“ stets Anlass für den Rückzug aus einer dem Untergang geweihten Gesellschaft der Ungläubigen.5 So etwas wie eine baptistische „Sozialenzyklika“ wird man daher in unserer ganz auf die missionarische Seelenrettung ausgerichteten Kirche – leider – vergeblich suchen. Ein Drittes: Der „Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland“ (kurz BEFG) trägt einen für eine Baptistenkirche reichlich ungewöhnlichen Namen. Er verdankt sich einer Kirchenunion zwischen den Baptisten- und den „offenen“ Brüdergemeinden in der NS-Zeit und ersetzte die ursprüngliche Benennung „Bund der Baptistengemeinden“. Der Zusammenschluss erfolgte, um einem möglichen Verbot durch die Nazis entgegenzuwirken, von dem vor allem die darbystischen Brüdergemeinden betroffen waren.6 Damit ist die weitere auffällige Besonderheit des deutschen Baptismus benannt. Der BEFG ist eigentlich keine Kirche, sondern eine Art „Freikirchenunion“, in der die Baptisten mit 90 % der Mitglieder freilich in der überwiegenden Mehrheit sind. Das Spezifikum dieses Zusammenschlusses besteht darin, dass sich im BEFG 1942  5 Vgl. A. Strübind, Die unfreie Freikirche. Der Bund der Baptisten-

gemeinden im „Dritten Reich“, Wuppertal-Kassel 21995 (TVGMS 399), 45ff. 6 Vgl. ebd., 285ff.; A. Liese, Verboten – geduldet – verfolgt. Die nationalsozialistische Religionspolitik gegenüber der Brüderbewegung, Wiedenest 2001.

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zwei unterschiedliche und einander eigentlich fremde freikirchliche Traditionen aus seinerzeit rein pragmatischen Gründen zusammengeschlossen haben, die man bis zur schnell einsetzenden Ernüchterung zunächst versuchte, spirituell zu verklären.7 Wie wenig wirkliche „Koinonia“ realiter erreicht wurde, belegen allein schon die je eigenen und voneinander ganz unabhängigen Parallelstrukturen.8 Man kennt sich mittlerweile und geht sich, um Schmerzen zu vermeiden, gerne aus dem Weg.9 Daran ändert auch die unglaubwürdige Beschwörung der angeblich engen Verbundenheit beider Traditionen nichts. Die Ehe zwischen „Baptisten“ und „Brüdern“ wurde nicht im Himmel, sondern vor dem Standesamt für Körperschaftsrechte geschlossen.10 Und wie  7 Vgl. A. Strübind (Anm. 5), 290-292. 8 So besitzt jede der beiden Teilkirchen eine eigene Geschäftsstelle

und eine eigene Ausbildungsstätte (Elstal und Wiedenest); man unterhält getrennte Missionswerke und veranstaltet getrennte Jahrestagungen und sogar getrennte Listen der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! 9 Dies betrifft insbesondere das „Bibelverständnis“, das in Brüdergemeinden meistens einen fundamentalistischen Zuschnitt hat. Im Unterschied zum Baptismus wird in Brüdergemeinden i.d.R. nicht nur die interkonfessionelle Ökumene, sondern auch jede Vorstellung eines ordinierten kirchlichen Amts – und erst recht die Frauenordination – abgelehnt (eine Ausnahme bildet das gelegentlich anzutreffende hauptamtliche Diakonat). 10 Die seitens des Staates verliehenen Körperschaftsrechte dürften der einzige reale Grund dafür sein, dass es diese häufig als „Zweckbündnis“ bezeichnete freikirchliche Union überhaupt (noch) gibt. Vertreter von Brüdergemeinden betonen immer wieder, dass der BEFG für sie wesentlich nur eine Arbeitsgemeinschaft zur Vertretung gemeinsamer Interessen darstellt. Als Mitglied des BEFG und damit einer Körperschaft des öffentlichen Rechts genießen Brüdergemeinden nicht nur steuerliche und juristische Privilegien, sondern sind auch eher vor Sektenvorwürfen geschützt. Das ist – aus brüderischer Sicht – der Hauptzweck der Union mit den Baptistengemeinden. Welche absurden Züge dieser Zusammenschluss annehmen kann, zeigt die vor einigen Jahren erfolgte Bestrebung, innerhalb des BEFG eigene Körperschaftsrechte für die Brüder-

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in mancher alten Ehe hält uns dieser Kitt leidlich beieinander – „living apart together“! Auch wenn es einige beachtliche Gemeinsamkeiten gibt, so unterscheiden sich die Ekklesiologien beider Gruppierungen nicht unerheblich voneinander, besonders was das Gemeindeund Amtsverständnis, das Verständnis von Taufe11 und Abendmahl, das Wesen der Kirche insgesamt sowie ihre Ökumenizität betrifft.12 Ich konzentriere mich nachfolgend auf die baptistische Seite, weil das Thema Ökumene13 im darbystischen Brüdertum ein ganz eigenes Thema wäre.

 gemeinden zu erlangen, was sicherlich der Anfang vom Ende dieser „Koalition der Unwilligen“ gewesen wäre. Diese Forderung nach separaten Körperschaftsrechten innerhalb einer Körperschaft ist – abgesehen von der theologischen Absurdität (Mk 3,24!) – an den nachvollziehbaren juristischen Bedenken des Staates gescheitert. Es ist angesichts dieser desolaten innerkirchlichen Strukturen ausgesprochen fraglich, ob der BEFG nach heutiger Rechtsauffassung überhaupt die juristischen Voraussetzungen für die Verleihung von Körperschaftsrechten mitbrächte. Allein die juristische Bestandsgarantie nach dem Zweiten Weltkrieg sorgt für den Erhalt des Status quo. 11 Brüdergemeinden vertreten keineswegs das rigoristische baptistische Taufverständnis. Vgl. A. Liese, Taufverständnisse in der Brüderbewegung, in: ZThG 12 (2007) 272-286. Es gehört zu den Verschrobenheiten und inneren Widersprüchen des BEFG, dass eine breite innerkirchliche Strömung das baptistische Taufverständnis mit seinem unseligen Konnex von Taufe und Gemeindemitgliedschaft nicht teilt. Die kontrovers diskutierte „offene Mitgliedschaft“ ist – nicht nur, aber auch – durch die Praxis der Brüdergemeinden bereits seit 1942 eine innerkirchliche Realität! 12 Die Kennzeichen fasst A. Liese (Anm. 6), 95-120, zusammen (dort weitere Literatur). 13 Dem Begriff „Ökumene“ begegnen Vertreter der Brüdergemeinden mit aufrichtigem Misstrauen und halten diese weitgehend für eine apokalyptische Erscheinung(!). Der Sache nach vertritt die Brüderbewegung durchaus eine ganz eigene, nicht-institutionelle Deutung der Einheit aller Christen. Vgl. A. Liese, Taufverständnisse (Anm. 11).

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2. Was heißt „evangelisch-freikirchlich“? Eine realistische Ekklesiologie des baptistischen Gemeindeverständnisses14 „Evangelisch-freikirchlich“ ist das Prädikat von Gemeinschaften, die ihrer Sozialgestalt nach christliche Protestbewegungen des 19. Jahrhunderts darstellen. Sie verdanken ihre Existenz dem – aus ihrer Sicht – faktischen Versagen der traditionellen und gesellschaftlich angepassten Konfessionskirchen des 19. Jahrhunderts, auszusagen und darzustellen, was die Kirche Jesu Christi nach den für sie maßgeblichen Normen ist. Freikirchen sind – bei aller ökumenischer Partnerschaft – zunächst einmal vom Typus her Kontrastkirchen.15 Das Attribut „evangelisch-freikirchlich“ verweist einerseits auf die bereits in anderen Beiträgen dieses Symposions genannten Zusammenhänge mit den reformatorischen Grundeinsichten zur Soteriologie und Anthropologie. Es markiert zugleich aber ein ekklesiologisches Differenzmerkmal, das auf eine Verschiedenheit gegenüber anderen Kirchen hinweisen soll. Allerdings wird damit keineswegs der (etwa für Sekten charakteristische) Anspruch erhoben, die allein wahre Kirche zu sein. Hier ist der Baptismus hinsichtlich der eigenen Ansprüche stets bescheiden gewesen. Evangelisch-freikirchliche Christinnen und Christen wollen zunächst nur eine dem  14 Diese Thesen wurden im Rahmen mehrerer Gemeindeseminare

im Bundesgebiet vorgetragen. Sie knüpfen an schriftliche Ausführungen zur baptistischen Ekklesiologie an, vgl. K. Strübind, „Fides quaerens ecclesiam“ – Glaube sucht Gemeinschaft. Neutestamentliche Anstöße für eine ekklesiologische Besinnung, in: ThGespr 21 (1997) 2-26; ders., Hat der Baptismus in Deutschland Zukunft? Eine teilnahmsvolle Polemik, in: ZThG 4 (1999) 34-60. 15 Manche freikirchlichen Gemeinschaften verstehen sich auch als „Gegenkirchen“, was allerdings im ökumenisch eher aufgeschlossenen Baptismus nicht der Fall ist.

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Neuen Testament entsprechende Sozialgestalt des christlichen Glaubens realisieren, die die Defizite der Konfessionskirchen zu vermeiden versucht. Die maßgebliche Norm und zentrale Instanz des Baptismus ist nach eigenem Bekunden die Bibel, besonders das Neue Testament. Dies führt den Baptismus allerdings in ein von ihm oft unterschätztes Dilemma: Denn die Gründung einer eigenen Kirche oder christlichen Sondergemeinschaft ist gerade nach dem Neuen Testament in höchstem Maße problematisch, ja unzulässig.16 Der BEFG wurde kirchengeschichtlich aus einem konfessionellen Notstand geboren und kann, da das Neue Testament an der „una sancta ecclesia“ keinerlei Zweifel lässt, nur ein Provisorium bis zur Wiederherstellung geordneter kirchlicher Zustände darstellen, die der Einheit des Leibes Christi Rechnung trägt.17 Auch der für Baptistinnen und Baptisten maßgebliche Zentralgedanke paulinischer Ekklesiologie von der Gemeinde als dem „Leib Christi“ ist mit einer ontologisch verstandenen konfessionellen Verfassung der Gemeinde und der Trennung von Glaube und (einzig durch die „Gläubigentaufe“ mediierte) Mitgliedschaft unvereinbar.18  16 Vgl. K. Strübind, Baptistische Nebelschwaden. Die schwierige Su-

che nach einem Selbstverständnis für den Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, in: ZThG 6 (2001) 28-39. 17 Eine Freikirche ohne ein solches ökumenisches Fernziel würde ein Provisorium verewigen und sich damit selbst ad absurdum führen. Die Einheit der Gemeinde Jesu Christi ist nach dem Neuen Testament konstitutiv (vgl. 1 Kor 1-3; 12; Eph 2; Joh 17 u.a.). 18 Paulus entwickelt diesen Gedanken erstmalig in 1 Kor 12-14 und widerspricht damit dem Versuch einer frühen konfessionellen Aufspaltung, die sich in Korinth anbahnte (vgl. 1,10-3,23 u.ö.). Die Einheit des Leibes kann geradezu als der Zentralgedanke des 1 Kor verstanden werden, dessen Gefährdung sich auch in den ethischen, sakramentalen und gottesdienstlichen Partien dieses Briefes nachweisen lässt. Zur Problematik von Taufe und Gemeindemitgliedschaft im Baptismus vgl. den Tagungsband der ZThG 12 (2007) 149-286.

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Da der Baptismus historisch nicht am Anfang des Christentums steht, kann das theologische Fernziel einer sich auf das Neue Testament berufenden religiösen Gemeinschaft wie der unseren nur sein, als Sondergemeinschaft eines Tages überflüssig zu werden, sobald die essenziellen Desiderate (wie etwa eine dem Neuen Testament entsprechende Taufpraxis und Ekklesiologie) erfüllt sind. Im kollektiven Gedächtnis des Baptismus hat sich eine Restspur dieser Skepsis hinsichtlich der Tragfähigkeit und Legitimität der eigenen Gemeinschaft erhalten, die sich gelegentlich Luft verschafft. Bei aller Abgrenzung und Ablehnung des Staatskirchentums preußischer Prägung ist der Baptismus jedenfalls von Anfang an durch ein ökumenisches Grundanliegen geprägt, das im 19. Jh. allerdings zunächst unilateral formuliert wurde und innerhalb der etablierten Kirchen auf wenig Gegenliebe und auf umso stärkere Ablehnung und Verfolgung stieß.19 Die Freiheit der baptistischen Freikirche besteht vor allem im freien Gehorsam gegen ihren Herrn Jesus Christus, der zugleich die Einheit aller Christen garantiert und manifestiert. Das ist ein axiomatischer baptistischer Grundsatz und Ausgangspunkt für alle Formen gelebter baptistischer Ökumenizität. Bei aller Verdunkelung dieses ökumenischen Leitgedankens durch konfessionelle Verfestigungen muss sich eine ausschließlich auf das Neue Testament als normativer Instanz berufende Kirche diesen Grundsatz immer wieder in Erinnerung rufen.  19 Eine solche Erwartung folgt schon aus dem geringen Alter dieser

vergleichsweise jungen freikirchlichen Gemeinschaft, die andernfalls von einer absurden Nichtexistenz der christlichen Kirche über 18 Jahrhunderte hinweg ausgehen oder einen historisch problematischen „Kryptobaptismus“ in der Kirchengeschichte behaupten müsste. Solche Ansichten werden zwar gelegentlich durch populistische Äußerungen vertreten, spielen aber theologisch keine Rolle und können hier vernachlässigt werden.

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Das könnte manchmal durchaus etwas deutlicher erfolgen. Wie lässt sich das konfessionelle Profil des deutschen Baptismus beschreiben? Hier möchte ich einmal zugespitzt formulieren: Der Baptismus ist seinem Wesen nach keine Konfessionskirche, sondern eine religiös erfahrungsbezogene und dabei sehr pluriforme neupietistische Laienbewegung mit einer Latenz zur theologischen und liturgischen Verwahrlosung. Ursächlich dafür ist ein populäres vulgärlutherisches Verständnis des „allgemeinen Priestertums“, das man exegetisch aus Ex 19,6 mit seinen traditionsgeschichtlichen Ableitungen in 1 Petr 2,9 und Offb 1,6 verankert sieht. Aus solchen Bibelstellen wird gerne die Selbstlegitimation einer Laienkirche abgeleitet, die in allen Fragen – eben auch denen der Theologie – eine allgemeine Mündigkeit postuliert.20 Für unsere ökumenischen Gesprächspartner zeigt sich der Baptismus als ein zunächst verwirrendes Sammelbecken von höchst unterschiedlichen Vorstellungen und  20 Freilich haben die genannten Bibelstellen mit dem, was Baptisten

mit dem „allgemeinen Priestertum“ verbinden, nichts zu tun. Geht es doch bei dem von Gott berufenen „Volk von Priestern“ (Ex 19,6) nicht um die durch den Geist gewährte Gleichberechtigung aller durch deren Erhebung in einen allgemeinen Priesterstand, sondern (im Alten Testament) zunächst um die Begründung der nachexilischen Tempelgemeinde mit ihrem hierarchischen Priestertum und im Neuen Testament um das Verständnis des christlichen Existenz als priesterlichem Gottesdienst (m.E. stellt Röm 12,1-3 ein Interpretament dieser Adaption kultischer Theologie dar: Das „allgemeine Priestertum“ ist die Aufforderung, das eigene Leben als Gottesdienst zu verstehen und hat keinen antihierarchischen Unterton). Eine Laienkirche, die aufgrund einer postulierten pneumatischen Unmittelbarkeit keine Belehrung durch theologische und kultische Spezialisten braucht, ist an keiner der genannten Bibelstellen avisiert und widerspricht auch sonst durchgängig der Differenzierung, Spezialisierung und damit in gewisser Weise auch Professionalisierung von Ämtern und Diensten, die bereits im Neuen Testament nachweisbar sind.

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gemeindlichen Lebensformen. Was der Baptismus „eigentlich“ ist, lässt sich auf Anhieb nicht so leicht aussagen. Die Pluriformität der in unserer Freikirche zusammengeschlossenen Gemeinden ist auch für Baptisten oft nur schwer verständlich (und bisweilen ebenso schwer erträglich). Andererseits offenbart der Baptismus mit dieser Definitionsschwierigkeit zugleich sein – wenn auch oft naives und leider zu wenig reflektiertes – ökumenisches Wesen. Er belegt faktisch, dass die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Glaubensweg nicht notwendigerweise auf einem der kirchlichen Einheit vorausgehenden Lehrkonsens beruhen muss, was so oft die Grundannahme ökumenischer Gespräche darstellt. Die grundsätzliche Akzeptanz gelebter und gestalteter Glaubensvielfalt stellt ein Pfund an Erfahrungen dar, mit dem des Baptismus durchaus wuchern kann. Kennzeichnend für Baptisten ist daher eine breite Koexistenz unterschiedlicher christlicher Überzeugungen, deren Vielfalt dem neutestamentlichen Bild der ersten Christenheit durchaus Rechnung trägt. Grundlage ist der reformatorische Grundkonsens (solus Christus, sola gratia, sola fide, solo verbo), der allerdings hinter der Tiefe und Konsequenz lutherischen Rechtfertigungs- und Gnadenlehre zurückbleibt. Das liegt an den neupietistischen Wurzeln des deutschen Baptismus, die Luthers Rechtfertigungslehre ausschließlich in einer laienhaftbürgerlichen Vulgärform rezipierte. Baptistische Überzeugungen werden durch kein „Lehramt“, formulierte Bekenntnisse oder kirchliche Verlautbarungen normativ vorgegeben, sondern in der und mit der Ortsgemeinde entwickelt. Baptistische Bekenntnisse wie die Rechenschaft vom Glauben haben daher eine deskriptive und keine präskriptive Funktion (s.o.). Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden ist am ehesten als rechtlich definierbarer Dachverband von Gemeinden zu beschreiben, auch wenn die Vertreterin285

nen und Vertreter unserer kirchenleitenden Organe dies gerne anders sähen. De facto sind Bundesgeschäftsführung und Präsidium gegenüber den Gemeinden und kirchlichen Werken juristisch in einer ziemlich schwachen und machtlosen Position. Als wichtigste Aufgabe verbleibt den kirchenleitenden Organen die Außenvertretung und das Ordinationsrecht. Darüber hinaus treten sie als Verwalter bzw. Träger gemeinsamer Bundeseinrichtungen wie dem Theologischen Seminar oder dem Gemeindejugendwerk in Erscheinung. Als normgebende sowie als identitätsstiftende Instanzen für die Gemeinden scheiden die kirchenleitenden Organe aufgrund der Autonomie der Ortsgemeinden dagegen weitgehend aus, auch wenn die Kirchenverfassung dem Präsidium eine nicht näher definierte geistliche Richtlinienkompetenz zugesteht. Bei einem Gremium, das aus zwölf Personen besteht, von denen derzeit nur drei Theologen sind, ist hinsichtlich einer ekklesiologischen Richtlinienkompetenz durchaus Skepsis angebracht. Sowohl der amtierende Präsident als auch die amtierende Generalsekretärin sind keine ausgebildeten Theologen, was aber andererseits nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Abgesehen von einigen Privilegrechten, die ausschließlich den kirchenleitenden Organen vorbehalten sind, verfügen die Gemeinden über einen nahezu souveränen autonomen Status. Die auf Max Weber zurückgehende Bezeichnung „regulierte Anarchie“ trifft das Binnenverhältnis zwischen Bund und Gemeinden m.E. ganz treffend. Baptistengemeinden finanzieren sich selbst einschließlich ihrer hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sie auch eigenständig wählen und im Krisenfall kündigen (was in jüngster Zeit häufiger vorkommt). Die Gemeinden kompensieren das durchaus bejahte Defizit an institutionalisierter ekklesiologischer Konnektivität, indem sie bemüht sind, theologische und soziale Verbindlichkeit durch innergemeindliche Kon286

sensbildung zu generieren. Bei der Traditionsbildung und -entwicklung spielen die Ortspastorinnen und -pastoren eine wichtige und oft prägende Rolle. Kennzeichnend für Baptistinnen und Baptisten sind daher weniger konkrete gemeinsame Überzeugungen, sondern vielmehr eine gemeinsame Gesinnung. Diese Gesinnung gründet in der Gewissheit, dass Zeit und Welt sowie das Geschick jeder individuellen Existenz von Jesus Christus unmittelbar bestimmt werden und durch das Verhältnis zu ihm – heilvoll oder unheilvoll – betroffen sind. Die Vorstellung von der Herrschaft Jesu Christi als dem in die Glaubensentscheidung rufenden Retter und Richter der Welt ist damit das einigende Band des Baptismus und die Triebfeder eines tiefen missionarischen Bewusstseins. Da im Bereich des Baptismus allein der ganzen Heiligen Schrift normative Bedeutung zukommt,21 herrscht insgesamt in Lehrfragen ein milder Biblizismus vor, der allerdings immer mehr an Boden verliert. Denn zu den problematischen Entwicklungen im Baptismus zählt eine zunehmende Entfremdung von seiner maßgeblichen Norm. Trotz entsprechender identitätssichernder Behauptungen sind Baptistengemeinden längst keine „Bibelbewegung“ mehr.22 Die Bibelkenntnis – und mit ihr  21 Auf diese Weise, d.h. im Blick auf ein Schriftprinzip (sola scrip-

tura), deuten evangelisch-freikirchliche Christen meist das Attribut „evangelisch“. 22 Auch wenn sie ihre Entstehung einer solchen verdanken. Entgegen offizieller Behauptungen lässt sich deutlich belegen, dass das Interesse an biblischen Texten mehr und mehr hinter andere christliche Lebensäußerungen zurücktritt. Dies belegt u.a. das nachlassende Bibelwissen und der abnehmende Besuch von Bibelstunden, Bibelwochen und -seminaren, die im Gegensatz zu gewachsenen Wünschen nach persönlicher Gemeinschaft und Geborgenheit, Konzentration auf missionarische und soziale Aktivitäten steht. Die „weichen“ sozialen Komponenten besitzen im Gemeinde-

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die spirituelle Kompetenz – hat in innerhalb einer Generation stark abgenommen, wenn auch nicht so dramatisch wie in den großen Bekenntniskirchen. Biblische Paradigmen spielen in der konkreten Gemeindekybernetik keine ausschlaggebende Rolle mehr, mit Ausnahme von fundamentalistischen Strömungen, die es auch im Baptismus gibt. Die traditionellen Bibelstunden sind bereits mangels Interesses weitgehend abgeschafft und – zumindest partiell – durch Hauskreise ersetzt worden, die eher einen therapeutisch-seelsorgerlichen Charakter haben und Bibeltexte „ganz untheologisch“ subjektiv adaptieren. Das führt manchmal zu ausgesprochen seltsamen und ungewollten Traditionsbildungen und Ideologisierungen.23  leben de facto einen weit höheren Stellenwert als theologische Überzeugungen. 23 Pastorinnen und Pastoren stehen oft vor dem Dilemma, für die in der Ausbildung erworbene theologische Kompetenz in den Gemeinden gar keinen Bedarf und keine Abnehmer vorzufinden, während sie für die kybernetischen, moderativen und therapeutischen Aufgaben sowie als Koordinatoren eines religiösen Subsystems oft schlecht vorbereitet in den Dienst gehen. Dabei sind es gerade die Fertigkeiten einer kybernetischen Moderation (neben der Kasualverwaltung), die die Gemeinden von ihren Pastorinnen und Pastoren zunehmend erwarten. In baptistischen Gottesdiensten halten immer mehr liturgiefremde Elemente Einzug, z.B. spaßhafte und unterhaltende Elemente, die weniger erbaulichen und fast ausschließlich „missionarischen“ Gesichtspunkten folgen (oder zumindest dem, was man für missionarisch hält). Gästegottesdienste ähneln immer mehr kundenorientierten Marketingveranstaltungen. Für die Entscheidungen und Verhaltensweisen von Gemeinden und ihren Organen spielen Bibeltexte jedenfalls kaum noch eine kritische und bestenfalls eine affirmative Rolle. Sie werden entweder durch religiöse Erfahrungen ersetzt, die einen beachtlichen normativen Anspruch haben (v.a. in charismatischen Kreisen). Oder sie folgen den überall anzutreffenden psychosozialen Gegebenheiten eines Vereinswesens, die anderen sozialen Systemen sehr ähnlich sind (etwa wenn es um die Verwaltung von Macht oder um Regelverstöße geht). Hier geht es dann meist sehr weltlich zu. Es ist insgesamt berechtigt, von einer anhaltenden in-

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Die gemeinsamen religiösen Überzeugungen konzentrieren sich vor allem auf das Verständnis der Gemeinde und dabei besonders auf Fragen der Bekehrung und des Taufzeitpunkts24 (von einem gemeinsamen Taufverständnis kann allerdings keine Rede sein. Der Baptismus ist wahrscheinlich die einzige Kirche von Rang, die kein schlüssiges und einheitliches Taufverständnis aufweist!).25 Wichtige Sachfragen stellen die durch Satzungen geregelte Gemeindemitgliedschaft, eine allgemeine Missionspflicht und die „Heiligung“ des persönlichen Lebens dar, die aufgrund einer optimistischen und letztlich unreformatorischen Anthropologie ethizistisch gedeutet wird. Dagegen tritt die Christologie zurück26 oder wird banalisiert: „Welch ein Freund ist unser Jesus“.27 Mission 

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neren Krise des deutschen Baptismus zu sprechen, in der eine starke Verunsicherung hinsichtlich des eigenen Profils zu beobachten ist. Grund dafür ist die unbewältigte Gegenwart, die sich kulturell als „Postmoderne“ zeigt und der man von baptistischer Seite mit den fragwürdig gewordenen Konzepten und Traditionen des 19. Jahrhunderts ziemlich hilflos gegenübersteht. Der Taufzeitpunkt ist innerhalb der evangelisch-freikirchlichen Gemeinden sehr stark, das Taufverständnis dagegen eher gering profiliert. Die Taufe spielt nach dem Taufakt (manchmal auch während des Taufaktes, wenn ihr Charakter als Heilzusage nicht erkannt wird) in den Baptistengemeinden keine theologisch bedeutsame Rolle. In der Regel wird sie zum „Gehorsamsschritt“ marginalisiert, durch den der Täufling seinen Glauben demonstriert und durch den er als Mitglied in die Gemeinde aufgenommen wird. Vgl. A. Pohl / K. Strübind, „Also Exegese“ oder: „Was man nicht versteht, das soll man auch nicht praktizieren“. Ein Briefwechsel zwischen Adolf Pohl und Kim Strübind zum Taufverständnis im Neuen Testament, in: ZThG 1 (1996) 145-209. Vgl. die Beiträge in ZThG 12 (2007) 149ff. Als Beispiel sei auf die amtliche Stellungnahme der Bundesleitung an den Bundesrat 1994 im Berichtsheft 1994, 34-37 verwiesen. Typisch baptistisch (und im Unterschied zum Neuen Testament) werden ekklesiologische Probleme unter weitgehender Aussparung der Christologie thematisiert. So der Titel eines populären Liedes aus dem baptistischen Gesangbuch (Feiern und Loben 77). Das urchristliche Bekenntnis „Jesus

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wird meist als persönliche Evangelisation verstanden, die dann als erfolgreich und abgeschlossen gilt, wenn sich Menschen zur Mitgliedschaft in einer Ortsgemeinde entscheiden. Dokumentiert wird das Ziel der Mission vor allem durch die Taufe, die gerne als Initiation des Glaubens gefeiert wird, oft aber auch nur ein gemeindliches Aufnahmeritual darstellt. Auch wenn Baptisten es nicht gerne wahrhaben wollen oder im Prinzip ablehnen, legt ihre Taufpraxis doch immer wieder das Verständnis einer Konversionstaufe nahe. Von vielen Konvertiten wird das auch so empfunden: „Ich muss mich taufen lassen, um Mitglied in einer Baptistengemeinde zu werden.“ Schuld daran ist der theologisch fragwürdige Konnex von „Gläubigentaufe“ und „Gemeindemitgliedschaft“, der voller theologischer Aporien und innerer Widersprüche ist, was jedoch den meisten Baptisten entweder nicht bewusst ist oder als irrelevant betrachtet wird. Mit dem Hinweis, dass es (die eigene Taufpraxis) „so in der Bibel steht“, hören viele einfach auf, sich über ihr Tun weitere Rechenschaft abzulegen. Auch wird die Widersprüchlichkeit, die sich aus der überall praktizierten ökumenischen Abendmahlspraxis mit vermeintlich Nicht-Getauften (Kindergetauften) ergibt, gedankenlos in Kauf genommen. Eine Reflexion der baptistischen „offenen“ Abendmahlspraxis auf das baptistische Taufverständnis und den hier so offenkundigen Widerspruch findet nicht statt.28 Das baptistische Gemeinde- und Kirchenverständnis leitet sich vor allem von der Vorstellung ab, dass das gläubige Individuum zugleich ein soziales Wesen ist, das  Christus ist der Herr“ wird zwar gemeinsam akzeptiert, jedoch sehr verschieden interpretiert. 28 Vgl. W. Kerner, Gläubigentaufe und Säuglingstaufe. Eine systematisch-theologische Besinnung auf dem Weg zu einer wechselseitigen Taufanerkennung, in: ZThG 12 (2007) 225-240, hier 237-240.

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folglich auf ein komplementäres Miteinander von Gleichgesinnten angewiesen ist. Gemeinde konstituiert sich nach baptistischer – und allgemein nach kongregationalistischer – Vorstellung weniger vom erhöhten Herrn bzw. dem vorgegebenen weltumspannenden Christusleib her (wie in Eph oder in 1 Kor 12), sondern gründet in der frommen Gesinnung jeweils Einzelner und ihrer sozialen Bedürfnisse nach Geselligkeit. Etwas salopp formuliert: Das baptistische Gemeindeverständnis ist „Schleiermacher fürs Volk“ und erweist sich damit erneut als Nebengewächs des Neuprotestantismus. Die Orientierung des Gemeindelebens an den religiös-geselligen Bedürfnissen der Mitglieder, die auf Mitbestimmung und Beteiligung aller an der – theoretisch – egalitären Verwaltung der Macht beruhen, machen andererseits die Attraktivität unserer Gemeinden gegenüber den meist als unpersönlich empfundenen Großkirchen und der institutionellen Schwerfälligkeit der „Amtskirchen“ aus. Die Schwäche des baptistischen Gemeindeverständnisses liegt vor allem in einem ausgeprägt profanen Verständnis der (Orts-)Gemeinde. Diese wird kaum ernsthaft als reale „Manifestation des Leibes Christi“, sondern häufig von ihrer sekundären Vereinsgestalt her gedeutet und damit theologisch unterschätzt. Die Gemeinde ist nach dem Neuen Testament aber kein Profanum, dem man einzig aufgrund eigenen Wollens angehört und das man bei Bedarf – etwa im Zusammenhang von Konflikten oder bei einem besseren Veranstaltungsangebot – austauscht. Ein Konfessionswechsel wird nicht als substanzieller spiritueller Verlust empfunden, weder von denjenigen, die eine Gemeinde verlassen noch von denen, die in ihr verbleiben.29 Aufgrund der kongregatio 29 Vgl. dazu Th. Niedballa, Der Baptismus als Familien-System ohne

Beziehungen, in: ZThG 3 (1998) 30-52.

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nalistischen Profanisierung der Gemeinde, einem typischen Laienphänomen, können Gemeinden im Falle des Verlustes an hinreichend vorhandenen gemeinsamen Vorstellungen zerfallen oder sich spalten, was recht häufig vorkommt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das im Baptismus geradezu axiomatische (und dem Neuen Testament ganz und gar unbekannte) Autonomieverständnis der Ortsgemeinde das größte Hindernis auf dem Weg zur Entwicklung eines gemeinsamen freikirchlichen Bewusstseins ist. Es bewahrt die Gemeinden andererseits jedoch zugleich vor kirchenleitenden Machtansprüchen und ekklesiogenen Hierarchisierungen, die in den Großkirchen häufig zu Verbitterungen gegenüber den „Amtskirchen“ führen. Die Stärke baptistischer und anderer freikirchlicher Gemeinden liegt in der unkomplizierten und offenen Unmittelbarkeit von Beziehungen sowie den flachen, basisdemokratischen Regulativen. In einer Baptistengemeinde können alle über alles reden und über Vieles auch mitentscheiden. Baptistengemeinden bieten dem Einzelnen meist ein großes Maß an geistlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Sie bilden ein kirchliches Korrelat zu einem pluralistischen und liberalen Staat und einer „offenen Gesellschaft“ (Karl Popper), die einer postmodernen Religiosität gegenüber durchaus offen wäre. Sie sind allerdings auch auf offene Gesellschaften und ihr Toleranzpotenzial angewiesen und erweisen sich aufgrund ihrer schwachen institutionellen und gesellschaftlichen Verankerung unter diktatorischen Systemen oft als anfällig für Erpressungen und nachgiebig gegenüber dem Anpassungsdruck repressiver Regime.30 Dezentral verfasste Freikirchen wie der Baptis 30 Vgl. A. Strübind (Anm. 5), 314-321. In vergleichbarer Weise hat

der Baptismus auch in der zweiten deutschen Diktatur unter dem Regime der SED dem Anpassungsdruck auf der Leitungsebene nicht

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mus beinhalten andererseits ein großes Potenzial an Identifikationsmöglichkeiten, das eine attraktive Form einer zeitgemäßen Glaubensgemeinschaft darstellen kann.

3. Innere und äußere Ökumene im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland Innerhalb des BEFG lassen sich unterschiedliche ökumenische Ansätze feststellen. Für den Baptismus ist die Ökumene ein doppeltes Problem: Da ist zum Einen die innere ökumenische Frage. So möchte ich die Binnendifferenzierung der eigenen, oft unübersichtlichen Vielfalt nennen, die es dem Baptismus so schwer macht, eine erkennbare und beschreibbare Identität auszuweisen. Die gemeinsame Identität muss immer erst entdeckt und identifiziert werden, um benennbar zu sein, ohne andere Christinnen und Christen durch normierende Regulative dadurch auszugrenzen. Darin sehe ich eine wichtige theologische Herausforderung. Daneben ist Ökumene auch ein äußeres Problem, sofern damit die Beziehungen zu anderen Kirchen in den Blick geraten. Erfreulicherweise nehmen viele Vertreterinnen und Vertreter einzelner Baptistengemeinden sowie der Kirchenleitung mit Interesse und Engagement an  standgehalten und sich durch problematische Kompromisse an die gesellschaftlichen Verhältnisse vielfach angepasst. Vgl. A. Strübind, Kennwort: „Herbert aus Halle“. Ein Forschungsbericht über die Verbindungen zwischen Baptisten und dem Ministerium für Staatssicherheit in der DDR, in: ZThG 2 (1997) 164-201; dies., Dienst am Volk. Das Diakoniewerk Tabea und das Dritte Reich, in: ZThG 5 (2000) 66-98 (auch erschienen in: Diakoniewerk Tabea e.V. [Hg.], 100 Jahre Tabea: „Dienen ist Leben“, Hamburg 1999, 92-121).

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den Formen und Foren des zwischenkirchlichen Austauschs teil und gestalten diesen auch aktiv mit.31 Wie lässt sich solche Vielfalt der „inneren“ und „äußeren“ Ökumene leben? Zunächst einmal belegt die Tatsache der Existenz von lebendigen und aktiven baptistischen Gemeinden, dass ein solches Kirchenmodell, das auf mit Machtbefugnissen ausgestattete überörtliche Instanzen und Institutionen verzichtet, lebens- und zeugnisfähig ist. Das ist auch von jenen Kirchen, die ein einheitliches dogmatisches Selbstverständnis für unabdingbar halten, zunächst einmal wahrzunehmen. Baptistinnen und Baptisten haben ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Ökumene und können sich am Glauben anderer Kirchen und Gemeinden und einer sich aus dem Glauben an Jesus Christus speisenden verbindlichen Lebenspraxis freuen. Die Frage einer institutionellen Kirchengemeinschaft ist für den Baptismus, im Unterschied zu anderen Kirchen, nie das beherrschende ökumenische Problem gewesen. Da alle kirchlichen Institutionen vorläufig und widerrufbar sind, können Bap 31 Der BEFG gehört u.a. zu den Gründungsmitgliedern der Arbeits-

gemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, hat die Charta Oecumenica ratifiziert und ist u.a. in Form von Lehrgesprächen, durch die Erteilung von kirchlichem Religionsunterricht und mittels diakonischer Vernetzungen mit anderen kirchlichen Einrichtungen ökumenisch engagiert. Entsprechend ihrer basisorientierten Kirchenstruktur werden ökumenische Kontakte durch jede einzelne Baptistengemeinde bestimmt und verantwortet. Allgemeine Stellungnahmen regionaler oder nationaler Leitungsgremien zur Ökumene haben dagegen nur den Rang einer „Empfehlung“ für die Gemeinden, die selbst darüber entscheiden, was sie sich davon zu eigen machen. Hieraus ergibt sich ein spezifisches Problem für freikirchliche Delegierte, sofern sie im Namen der Bundesgemeinschaft zu bestimmten Themen Stellung nehmen sollen. Diese Verlegenheit ist auch in ökumenisch besetzten Gremien und bei zwischenkirchlichen Lehrgesprächen ein Problem. Es ist aufgrund des ständigen Vorbehalts einer Ratifizierung durch die Mitglieder der Gemeinden oft schwer zu sagen, welche Position „die“ Baptisten in Einzelfragen vertreten.

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tisten eine ökumenische Kirchengemeinschaft auch bei gravierenden Erkenntnisunterschieden jederzeit dort feststellen, wo Jesus Christus im Glauben bekannt und die Heilige Schrift als gemeinsame Grundlage für Glauben und Lebenspraxis anerkannt wird. Ausgangspunkt ist dabei, dass die Einheit der Kirche kein Werk menschlicher Erkenntnis, sondern Werk des Wortes Gottes ist (ecclesia creatura verbi). Kirchliche Einheit ist daher für meine Kirche nicht von einem zuvor festgestellten gemeinsamen „Bekenntnisstand“ abhängig. Das Grundbekenntnis, dass Jesus Christus, wie ihn die Heilige Schrift bezeugt, der eine Herr über alles und alle ist, wird als hinreichend für ökumenische Partnerschaften betrachtet. Baptisten vertrauen unbewusst dem altkirchlichen Grundsatz von der „coincidentia oppositorum“, also der eschatologischen Komplexität irdischer Gegensätze. Kirchengemeinschaft ist nach baptistischem Verständnis daher auch in ihrer widersprüchlichen Gestalt getrennter Kirchen feststellbar und lässt sich, etwa in Form ökumenischer Gottesdienste und einer offenen Abendmahlspraxis, liturgisch inszenieren und darstellen. Den Primat einer einzelnen Kirche können Baptisten dagegen weder erkennen noch halten sie einen solchen für notwendig oder sinnvoll. Die ekklesiologische Grundlage für das Ökumeneverständnis der Baptisten findet sich in der „Rechenschaft vom Glauben“ (1977), Art. 7 (Der eine Leib Christi und die getrennten Kirchen): „Der eine Geist schenkt viele Gaben, die sich in den Ortsgemeinden, aber auch in den voneinander getrennten Kirchen in gegenseitig bereichernder Vielfalt auswirken können. Jesus Christus baut seine Gemeinde in den verschiedenen Kirchen und Gemeinschaften. Doch kann es trotz der Verschiedenheiten und trotz Irrtum und Schuld auf allen Seiten nicht der Wille Gottes sein, dass konfessionelle Schranken die sichtbare Gemeinschaft aller Glaubenden und damit ihr 295

glaubwürdiges Zeugnis vor aller Welt verhindern. Deshalb beten wir mit den Christen der ganzen Erde um Erneuerung aller Gemeinden und Kirchen, dass mehr gegenseitige Anerkennung möglich werde und Gott uns zu der Einheit führe, die er will. Schon heute ist es nicht nur Aufgabe einzelner Christen aus verschiedenen Kirchen, sondern dieser Kirchen selbst, aus der Trennung heraus mögliche Schritte aufeinander hin zu tun, vorhandene Vorurteile abzubauen und Einwände gewissenhaft zu formulieren und zu vertreten, voneinander zu lernen, füreinander zu beten und gemeinsam Christus zu verherrlichen in Zeugnis und Dienst.“

4. Thesen für eine baptistischökumenische Ortsbestimmung 1. Die Ökumenizität der Christenheit, die sich in der Koexistenz unterschiedlicher Kirchen und Freikirchen niederschlägt, ist für Baptisten notwendiger Ausdruck des Beziehungsreichtums Gottes. Bestehende Unterschiede zwischen verfassten Kirchen werden grundsätzlich positiv (als Komplementarität des Unterschiedlichen) gewürdigt. 2. Weil die Einheit aller an Christus Glaubenden durch den Herrn der Gemeinde ontologisch jeder institutionellen Gestalt der Kirche vorgegeben ist – die Christenheit bildet ja gemeinsam der Leib Christi (possessiver Genitiv!) – muss die Einheit der Christen nicht erst hergestellt, sondern kann nur entdeckt werden. 3. Die konnektive theologische Potenz des Leibes Christi ist in der Einheit der Herrschaft Jesu Christi begründet, die in der Einheit seines Leibes ihre Entsprechung hat. 4. Anthropologisch zeigt sich die Einheit bei aller ekklesiogener Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit im 296

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gemeinsamen Glauben aller Christinnen und Christen an Jesus Christus, wie ihn die Heilige Schrift bezeugt. Baptistische Bekenntnistexte haben keine konfessionell-abgrenzende, sondern eine sozial verbindende Funktion. Sie beschreiben, was bei aller Unterschiedlichkeit an Gemeinsamkeiten entdeckt wurde, artikulieren das mit anderen Christen gemeinsam Sagbare (homo-logia) und laden dazu ein. Dazu dienen alle Formen des ökumenischen Austauschs und der Verständigungsbemühungen mit den Schwesterkirchen, die auch bei stark divergierenden Ansichten Anspruch auf einen respektvollen Umgang haben. Die gelegentlich anzutreffende hybride Vorstellung, Baptistengemeinden seien im Unterschied zu anderen Kirchen „Gemeinden nach dem Neuen Testament“,32 hält einer näheren Betrachtung nicht stand und erweist sich als anachronistische Gründungslegende. Das größte Hindernis für eine ökumenische Vertiefung der Beziehungen zu unseren Schwesterkirchen ist das vielfach ungeklärte und widersprüchliche baptistische Taufverständnis sowie das Insistieren auf einer von der Kindertaufe zu unterscheidenden „Gläubigentaufe“ im Falle eines Konfessionswechsels. Analog zur „galatischen Gesetzlichkeit“ wird hier der korrekte Vollzug eines religiösen Initiationsritus zum Kriterium einer „vollen“ Kirchenmitgliedschaft gemacht. Dies ist ein Verstoß gegen den Primat des Glaubens als Kriterium der Gliedschaft am Leib Christi. Der Baptismus desavouiert mit einer solchen Praxis die anderweitig so überzeugend gelebte Einheit des Leibes Christi, die im Abendmahl liturgisch mit Christinnen und Christen aller Konfessionen gefeiert wird,

 32 Vgl. K. Strübind (Anm. 14).

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und führt diese – und letztlich sich selbst – ad absurdum.

ZUSAMMENFASSUNG Auf der Grundlage einer „realistischen Ekklesiologie“, die den Besonderheiten freikirchlichen Selbstverständnisses Rechnung trägt, beschreibt der Beitrag das theologische Selbstverständnis des deutschen Baptismus und setzt sich aus dem Blickwinkel einer Introspektive kritisch mit dessen Grundlagen auseinander. Die im Baptismus praktizierte kongregationalistische Ekklesiologie ist einerseits Ausdruck einer innerkirchlichen ökumenischen Vielfalt, die sich gegenüber dogmatischen Zwängen als weitgehend resistent erweist, erschwert jedoch andererseits die Identifikation konkreter und allgemein verbindlicher theologischer Überzeugungen. Eine Stärke des Baptismus ist der unproblematische Brückenschlag von der „inneren“ zu der „äußeren Ökumene“, wobei die oft wenig reflektierte und ekklesiologisch widersprüchliche baptistische Taufpraxis einer Klärung bzw. Revision bedarf, um vor sich selbst und im ökumenischen Gespräch bestehen zu können.

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Versuch einer Zusammenfassung aus freikirchlicher Sicht Jürgen Stolze

Im Folgenden stelle ich mich der schwierigen Aufgabe, eine kurze Zusammenfassung der vielfältigen Impulse aus den Beiträgen dieses Symposiums zu erstellen. Also werde ich mich zum einen damit bescheiden, auf die Beiträge der römisch-katholischen Teilnehmer aus freikirchlicher, näherhin methodistischer Perspektive zurückzublicken. Weiter können aus den vielen anregenden Gedanken nur einige wenige herausgegriffen und beleuchtet werden. Diese Auswahl schließlich halte ich sehr persönlich; ich werde die Punkte stichwortartig nennen, die mir in der Hinsicht wichtig erscheinen, weil sie meines Ermessens das Potenzial in sich tragen, das weitere Gespräch zwischen den Kirchen zu befruchten. 1. Die neutestamentliche Grundlegung durch Rainer Dillmann war dergestalt, dass ich sie als Freikirchlicher teilen konnte. Es ist interessant, dass die verschiedenen kirchlichen Traditionen sich auf dasselbe neutestamentliche Zeugnis berufen können und dann doch ganz unterschiedliche ekklesiologische Entwürfe und Begründungen ihres Kircheseins daraus entwickeln. Ökumenisch von Bedeutung scheint mir, dass die unterschiedlichen Kirchen sich in der christologischen Begründung vereinen. Die Gründung im Ostergeschehen ist es, die den Kirchen gemeinsam ist. Nach meiner Ansicht ist diese Tatsache ein offenes Tor, durch das der Weg des ökumenischen Gesprächs weiterführen kann. Das neutestamentliche Zeugnis von der Kirche ist zwar ökumenisch vielfach bedacht worden, doch stellt sich die Fra299

ge, ob der Weg schon weit genug gegangen ist. Für den Dialog der Kirche könnte es weiterführend sein, den hermeneutischen Umgang mit der biblischen Botschaft näher zu untersuchen. Denn hier wäre meines Ermessens die Begründung dafür zu suchen, dass auf dem einen und gleichen neutestamentlichen Fundament ganz unterschiedliche ekklesiologische Gebäude entstanden sind. Eine Bemerkung von Rainer Dillmann greife ich auf: „Wo Christus ist, da ist Kirche. Der Umkehrschluss gilt aber nicht.“ Dies, von Rainer Dillmann im Blick auf die römisch-katholische Kirche formuliert, gilt auch für die Freikirchen. In der Selbstwahrnehmung und -darstellung hat es in der Geschichte der Freikirchen – zumindest in Deutschland – oftmals eine Überschätzung des eigenen Kircheseins gegeben. Zumeist in der Abgrenzung gegenüber den sogenannten Großkirchen waren Freikirchliche zuweilen der Meinung, nur wo sie seien, sei auch Christus. So haben sich auch die Freikirchen – durchaus selbstkritisch – der Frage zu stellen, wie und inwieweit die jeweils sichtbare Kirche bzw. Gemeinde Anteil an dem Leib Christi hat. 2. Die Darstellung des Wandels des katholischen Kirchenbildes bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil von Burkhard Neumann hat mich wahrnehmen lassen, dass ekklesiologische Konzeptionen immer vorläufig bleiben und viel mehr von den historischen Gegebenheiten bedingt sind, als es sich die Theologen bewusst sind. Wiederum wird die Notwendigkeit erkennbar, sich der hermeneutischen Methodik bewusst zu werden, die zur Ausbildung einer Ekklesiologie führt. Zudem stellt sich die Frage, wie groß die Kenntnis der historischen Kirchenbilder und Selbstverständnisse der römisch-katholischen Kirche in den verschiedenen Freikirchen ist. Die Freikirchen haben Rechenschaft darüber 300

zu geben, welches Bild der römisch-katholischen Schwesterkirche sie als ihr Gegenüber sehen. In der Vergangenheit, so scheint mir, haben Vertreter der Freikirchen zuweilen ein Bild von der römisch-katholischen Kirche gehabt, das aus einer längst vergangenen Zeit entsprang oder gar zu einem Zerrbild verändert wurde. Insofern scheint es mir wichtig zu sein, dass unter den Freikirchen genauer wahrgenommen werden sollte, wie sich das Selbstbild und -verständnis der Schwesterkirche gewandelt hat. Nur so kann das Gespräch über das Verhältnis zueinander fruchtbar weitergeführt werden. Konkret ist zu fragen, wie diese Thematik in der theologischen Ausbildung sinnvoll verankert werden kann. 3. Sehr anregend war die Interpretation der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“ (Lumen gentium), die Wolfgang Thönissen vorgetragen hat. Nur einen Gedanken aus den vielfältigen Anregungen möchte ich hier herausgreifen, und zwar den der Aneignung. Die wahre Kirche ist ein Mysterium. Die verschiedenen, irdischen Kirchen eignen sich das Mysterium an. Die Aneignung mag in unterschiedlicher Weise geschehen und verschieden weit gediehen sein. Der Begriff der Aneignung eröffnet meines Ermessens einige ökumenische Möglichkeiten. Mir ist diese Begrifflichkeit deswegen sympathisch, weil sie weniger imperial erscheint als manch andere Wortwahl. Grundsätzlich wird festgestellt, dass die historischen Kirchen an der Aneignung des Mysteriums Anteil haben. Dies entlastet den ökumenischen Dialog von der Frage, die manchmal zum gegenseitigen Vorwurf wird, ob der Partner überhaupt als Kirche anzusehen und zu bezeichnen ist. Nach meinem Eindruck haben gerade die Freikirchen sich in der Vergangenheit oft nicht ernst genommen gefühlt. Lange mussten sie sich im deutschsprachigen Raum gegen den Vorwurf des Sektierertums zur Wehr setzen. Ist die Bezeichnung als 301

„Sekte“ aus dem heutigen zwischenkirchlichen Gespräch weitgehend verschwunden, ist doch das Gefühl, nicht als „vollwertige“ Kirche wahrgenommen zu werden, noch vielerorts zu spüren. In dieser Hinsicht scheint mir der Begriff der Aneignung hilfreich, weil er zu einer atmosphärischen Verbesserung führen kann, indem sich die Gesprächspartner auf Augenhöhe begegnen können. Gleichwohl enthebt der Begriff der Aneignung den ökumenischen Dialog nicht von der Aufgabe, die wichtigen inhaltlichen Fragen zu bearbeiten: Wie sind die unterschiedlichen Formen der Aneignung aus der jeweiligen Perspektive zu beurteilen? Welche Form der Aneignung ist dem Mysterium der wahren Kirche angemessen? Wie ist der Prozess der Aneignung zu beschreiben und wann kann er als abgeschlossen gelten? Diese Fragen bleiben auch mit einer veränderten Begrifflichkeit offen. 4. Der Vortrag von Michael Hardt über aktuelle Entwicklungen betreffs der Theologie der Gemeinde in der römisch-katholischen Kirche hat uns in einen dynamischen Prozess der Neubesinnung mit hineingenommen. Diese Neubesinnung geschieht aufgrund einer „Notsituation“ und lässt auf ganz ähnliche Entwicklungen schauen, die die verschiedenen Freikirchen ebenfalls bewegen. Zwei Stichworte möchte ich in diesem Zusammenhang aufgreifen. Die Neubeschreibung des Laienapostolats, die Betonung der verantwortlichen Mitarbeit von Laien in der Gemeinde, betrifft eine Thematik, in der die Freikirchen einen Schwerpunkt in ihrer Ekklesiologie sehen. Das reformatorische Erbe des Priestertums aller Gläubigen haben die Freikirchen auf ihre Fahnen geschrieben. Von Anfang an hat die verantwortliche Mitarbeit von Männern und (!) Frauen freikirchliches Selbstverständnis und das Leben in den Gemeinden stark geprägt. Dieses Erbe

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ist allen Freikirchen gemein, wenn sie auch aus sehr unterschiedlichen Traditionen entstammen. Darum könnte für beide Seiten der Austausch über die Erfahrungen mit dem Laienapostolat von Interesse sein. Die römisch-katholische Kirche könnte Anteil an dem reichen Erfahrungsschatz der Freikirchen gewinnen. In gleicher Weise trüge die Anteilnahme an den aktuellen Erfahrungen der römisch-katholischen Kirche die Möglichkeit für die Freikirchen in sich, neue Impulse und Wege der Mitwirkung von Laien zu bekommen und Korrekturmöglichkeiten zu erkennen. Ein zweiter Aspekt in den Überlegungen Hardts hat mich als Gemeindepastor besonders berührt, der Prozess der Strukturveränderungen. Dass Gemeinden zusammengelegt werden und zu einer neuen Einheit zusammenwachsen, dass Standorte, Kapellen und Kirchen nicht mehr mit gemeindlichem Leben gefüllt werden können und aufgegeben werden müssen, dies sind Entwicklungen, die die römisch-katholische Kirche mit anderen Kirchen in Deutschland teilt. Im Bereich der evangelischen Landeskirchen sind ähnliche Prozesse und Strukturveränderungen wahrzunehmen. Manche Freikirchen – darunter die Evangelisch-methodistische Kirche – sind ebenfalls zur Neustrukturierung ihrer Arbeit und zur Reorganisation des Gemeindelebens gezwungen. Ich frage mich, ob der Austausch von Erfahrungen nicht auf allen Ebenen (Gemeinde, lokale und regionale Institutionen, Kirchenleitungen) eine wichtige Hilfe sein könnte. Gerade auf der Ebene der Ortsgemeinde könnte der Austausch über die aktuellen Situationen und Erfahrungen dazu führen, dass sich die verschiedenen kirchlichen Traditionen den Herausforderungen gemeinsam stellen. 5. Der Beitrag von Tim Lindfeld hat nachdrücklich daran erinnert, dass die Kirchen auf Weltebene auf eine jahr303

zehntelange Tradition von ökumenischen Dialogen zurückblicken können. Die Dialoge haben viele wichtige Erkenntnisse und Dokumente hervorgebracht. Leider sind diese meist nur einem kleinen Kreis bekannt und vertraut. Dies mag im deutschsprachigen Raum damit zu tun haben, dass die Freikirchen, die an den verschiedenen Dialogen beteiligt sind, klein und nicht an allen Orten anzutreffen sind. Gleichwohl bleibt die wichtige Aufgabe bestehen, die bisherigen Ergebnisse der weltweiten Dialoge zu rezipieren. In der Beschäftigung mit den Ergebnissen sehe ich ein Potenzial, das das Miteinander der Kirchen auf der Ebene der Ortsgemeinde erneuern und vertiefen kann. Eine Schwierigkeit besteht zudem darin, dass die VEF hier nicht der geeignete Gesprächspartner ist. In der VEF arbeiten Kirchen sehr unterschiedlicher Traditionen zusammen. Gerade in den ekklesiologischen Konzeptionen liegen dabei die größten Unterschiede zwischen den Kirchen. Zwar verstehen sich die in der VEF miteinander arbeitenden Kirchen alle als in der Tradition der Reformation stehend, aber die Übereinstimmungen im Bereich der Ekklesiologie sind doch eher gering. Es gibt eine gemeinsame Grundlage der Mitglieder der VEF, die darin besteht, dass sie Christus als das Haupt der Kirche bekennen, die Kirche bzw. die Gemeinde als Gemeinschaft der Gläubigen verstehen und ein persönliches Bekenntnis der Kirchenglieder zu Christus erwarten. Verbunden sind die Kirchen zudem darin, dass sie auf einer strikten organisatorischen Trennung von Kirche und Staat bestehen.1 Die Übereinstimmungen im Bereich der Christologie und Soteriologie scheinen mir

 1 Vgl. Satzung für die Vereinigung Evangelischer Freikirchen e.V.,

§ 1.

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eher die Grundlage der VEF zu beschreiben als die im Bereich der Ekklesiologie.2 Abschließend möchte ich kurz eine Perspektive für die Fortführung der Gespräche zwischen dem Johann-AdamMöhler-Institut und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen darstellen. Dass diese Fachtagung, die nun schon zum vierten Mal stattgefunden hat, fortgeführt werden sollte, scheint mir unzweifelhaft. Zwischen den Vertretern beider Institutionen ist eine solide Arbeitsgrundlage und ein schon vertrauter Umgang erreicht worden, der eine weitere Zusammenarbeit in diesem Rahmen meines Ermessens nahezu verlangt. Mit der diesjährigen Tagung ist ein Stand erreicht, der die Bearbeitung der notae ecclesiae in verschiedenen ekklesiologischen Konzeptionen ermöglicht und sinnvoll macht. Das nächste Symposion könnte daher den Titel tragen: „Die Apostolizität und Katholizität der Kirche aus römisch-katholischer und freikirchlicher Sicht“.

 2 Leider kann ich in diesem Zusammenhang nicht auf die Beiträge

von Klaus Peter Voß eingehen, in denen er versucht, Grundlinien einer freikirchlichen Ekklesiologie zu entwickeln. Auf sie sei hier aber besonders verwiesen: K.P. Voß, Gibt es eine freikirchliche Ekklesiologie? Eine Spurensuche anhand der Präambel der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, in: ders., Ökumene und freikirchliches Profil. Beiträge zum zwischenkirchlichen Gespräch, Berlin 2008 (Freikirchliche Beiträge zur Theologie 14), 25-42; und ders., Die Vereinigung Evangelischer Freikirchen auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft? Perspektivische Anmerkungen zur neuen Präambel der VEF, in: ebd., 43-62.

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Versuch einer Zusammenfassung aus katholischer Sicht Wolfgang Thönissen

Die im Rahmen unseres Symposions gehaltenen Vorträge und die dabei geführten Gespräche haben folgende gemeinsame Perspektiven und Fragen aufgetan, die ich hier thesenartig präsentiere: 1. Aus neutestamentlicher Sicht gibt es das eine KirchenVerständnis nicht. Die Bibel kennt verschiedene Bilder, die je unterschiedliche Aspekte des Kirche-Seins der frühen christlichen Gemeinden präsentieren. Diese Bilder bringen in knappen und prägnanten Beschreibungen die komplexe Situation der frühen Christenheit reflexiv zum Ausdruck. In diesen Bildern zeigen sich freilich bereits normative Grundzüge für das Verstehen von Kirche, ohne dass diese selbst verabsolutiert werden dürften. Wenn auch die eine biblische Ekklesiologie fehlt, darf die Frage nach der maßgebenden Norm der Bibel nicht unterdrückt werden. 2. Es ist keine Frage, dass jede ekklesiologische Verständigung auf die biblischen Texte im Ganzen zurückgreift. Selbst die Frage nach einer normierenden oder orientierenden biblischen Leitidee ist aber nicht unabhängig vom historischen Kontext des Fragenden. Die aus heutiger Sicht unseres Kirche-Seins durchgeführte Relecture der biblischen Texte führt zu der Einsicht, dass bestimmte grundlegende Aspekte des biblischen Verständnisses in den Gemeinden unserer Zeit nicht oder nicht mehr oder überhaupt nicht wahrgenommen werden. Mehr noch schieben sich Fragen in den Vordergrund, die in 307

den biblischen Texten selbst keine Rolle gespielt haben, aber unser eigenes Selbstverständnis beherrschen. Hier sind insbesondere die Aspekte zu nennen: die Autonomie der Gemeinde, die Gewissensfreiheit des Einzelnen, alles Prädikate, die das Neue Testament nicht kennt. Offenbar wird hier die Bibel unter bestimmten Voraussetzungen – selektiv – wahrgenommen und verstanden. 3. Jede Ekklesiologie hat mit dem Umstand zu tun, dass sie eine Reflexion auf den jeweils geltenden Zustand des Kirche-Seins leistet, sei es deskriptiv oder präskriptiv. Es ist offenkundig, dass die Wirklichkeit unserer Gemeinden stärker unter den Gegebenheiten des heutigen gesellschaftlichen Lebens steht als bisher wahrgenommen. Einflüsse der säkularen Gesellschaft schieben sich mit Macht in den Vordergrund unserer Selbstwahrnehmung. Das betrifft die Differenz von Pfarrei und Gemeinde, die Mitgliedschaft in zwei verschiedenen Gemeinden, die globale Konnexialität der Gemeinden, die Verhältnisbestimmung von Ortsgemeinde und Amtsträger. So entstehen Fragen, die uns in unserer gemeinsamen Reflexion über das Kirchenverständnis begegnet sind: Geben die Eckdaten unseres Gemeindeverständnisses die sich in der Bibel aussprechenden Grundzüge wieder oder verdecken sie diese? Wie stark sind biblische Perspektiven im Leben unserer Gemeinden wirksam? Oder herrscht in unseren Gemeinden die normative Kraft des Faktischen? Wie stark wird unser Verständnis von Gemeinde durch das profane Einverständnis mitbestimmt? 4. Theologisch betrachtet gehen wir von der gemeinsamen ökumenischen Perspektive aus, dass die Gemeinde aus der Feier des Herrenmahles lebt. Es ist deutlich geworden, wie stark das paulinische Verständnis der Herrenmahl feiernden Gemeinde unsere theologischen Anfragen bestimmt. Die Gemeinde geht aus der Verkündi308

gung des Todes und der Auferstehung Jesu Christi hervor. Das Abendmahl zeigt sich als zentrale Manifestation des von Gott gewollten Ineinanders der Gläubigen. In Christus ist die Gemeinschaft der Kirche begründet und sie findet in der Gemeinde ihren adäquaten Ausdruck. Gemeinschaft entsteht deshalb durch Teilhabe an Jesus Christus. Christsein ist exklusiv nur in der Existenz der Gemeinschaft der Christen zu haben. Diese ökumenische Grundeinsicht leitet auch unsere gemeinsamen biblischen Entdeckungen. 5. Das uns miteinander Verbindende ist der Glaube an Jesus Christus. Der Glaube realisiert sich in der Taufe und in der Feier des Abendmahls, worin die Gemeinschaft untereinander zum Ausdruck kommt. Wir sind eins in Jesus Christus und bilden seinen Leib, doch in der Realität sind wir oft weit voneinander entfernt oder gar geschieden voneinander. Wie stehen diese theologische Erkenntnis und die reale Situation unserer Gemeinden zueinander? Haben wir in unserem Miteinander das Christsein als Gemeinschaft nicht von anderen Gesichtspunkten abhängig gemacht, die wir voraussetzen und ohne deren Anerkennung eine ökumenische Gemeinschaft nicht zu haben ist? Wird die Taufe, als Einlass in die Gemeinschaft mit Jesus Christus, an Zusatzbedingungen geknüpft, die wir höher werten als die Taufe selbst? 6. Zu welcher ökumenischen Einsicht sind wir in unseren Gesprächen geführt worden? Wir erkennen unser Christsein heute fast ausschließlich in einer ökumenischen Pluralität des Christseins. Wir haben uns daran gewöhnt, Christsein im Status der Anerkennung des jeweiligen Anders-Seins der anderen zu verstehen. Ist diese Pluralität des Christseins unaufhebbar? Oder stellt die Pluralität des Christseins nicht eher eine zu überwin309

dende Not-Wendigkeit dar? Besteht der Anspruch auf ökumenische Gemeinschaft nicht gerade in der Herausforderung, dass die Verkündigung des Evangeliums uns zur Einheit der Gemeinde ruft? Ist die von Christus ausgehende Gabe der Einheit nicht selbst die entscheidende Norm, die uns herausfordert? Stellen wir daher unsere Instanzen höher als die in Christus gegebene Norm, um des Glaubens willen einig zu sein? Vielleicht müssen wir uns für die Zukunft von der Leitlinie bestimmen lassen: wo immer nur selbige Identität herrscht, geschieht nichts, wo sich alles ändert, geschieht letztlich eben auch nichts. Bei aller Diskontinuität und Pluralität unseres Christseins ist die in Christus verwirklichte Gemeinschaft bereits Realität. Von dieser Gewissheit müssen sich Christen in Zukunft wieder viel stärker leiten lassen.

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Lukas 9,57-62 Morgenandacht am 28. Februar 2008 Jürgen Stolze

Liebe Geschwister, dieser Text entwirft ein Bild, das ich mir eigentlich sehr wünsche. Jesus, seine Jüngerinnen und Jünger im Gefolge, ist unterwegs. Ein langer Weg liegt vor ihnen. Bei Lukas endet er in Kapitel 19 in Jerusalem – dem Ziel dieser langen Reise. Es ist die Konzeption des Lukas in seinem Evangelium, dass Jesus mit seinen Nachfolgern auf dem Weg ist. Auf diesem Weg gibt es einiges zu erleben. Lukas schreibt hier aber nicht nur einen Reisebericht. Dieses Auf-demWeg-Sein wird zum Bild, zur Metapher für das christliche Leben in dieser Welt. Es ist ein Unterwegssein zum Ziel.

1. Auf diesem Weg begegnet Jesus verschiedenen Menschen, die aus sich selber heraus bereit sind, sich ihm anzuschließen, oder aber die einer Berufung vonseiten Jesu nicht abgeneigt sind. Mit diesen potenziellen Jüngern, Kandidaten, neuen Mitgliedern der Gemeinschaft ist Jesus in diesem Text im Gespräch. Zugleich ist es aber auch ein Text, der die gestandenen und alteingesessenen Nachfolger über die Bedeutung der Nachfolge und ihrer Voraussetzung anspricht. Wenn ich diesen Text höre, steigen nun doch einige Gefühle des Zweifels, ja auch des Ärgers in mir auf. Was 311

Jesus sagt, ist erschreckend, unerträglich, ja empörend. Ich habe hin und wieder das Bedürfnis, mein Haupt zur Ruhe zu legen, mich ins wärmende Nest zu flüchten und mich in meinen Bau zu verkriechen. Ich habe nicht nur das Bedürfnis, ja, zuweilen ist es sogar notwendig, wenn ich den täglichen Belastungen weiterhin standhalten will. Ich brauche die Ruhe in einem schützenden Raum, ich brauche die Besinnung und die Stille, die mich durchatmen, ausspannen und zu neuen Kräften kommen lässt. Ich habe doch das Recht, bei den Toten zu wachen. Von ihnen Abschied zu nehmen, ihr Andenken zu bewahren. Und es ist doch sogar die Pflicht, mit den Trauernden zu trauern, ihren Schmerz und ihr Leid zu teilen. Ich habe doch die Verantwortung gegenüber meiner Familie, meiner Frau und den Kindern, gegenüber Eltern, Freundinnen und Freunden. Es ist doch schlichtweg notwendig zurückzusehen, die Geschichte und Tradition zu hören und ernst zu nehmen, um aus ihr für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen.

2. All das will Jesus nicht, so scheint es zumindest auf den ersten Blick. All diesen normalen menschlichen und sogar notwendigen Wünschen gibt Jesus hier eine schroffe Abwehr. Der Schlüssel zum Verständnis des Textes liegt m.E. am Anfang und in der Situation begründet. Da sind drei Kandidaten, die ausgesprochen oder unausgesprochen den Willen haben, Jesus nachzufolgen, sich mit ihm auf den Weg zu begeben. Es ist ihr Wunsch, mit Jesus in einer neuen Gemeinschaft zu leben.

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Das ist schon eine ganze Menge. Die meisten von uns würden sich wohl freuen, wenn sie drei solche Kandidaten für die Mitgliedschaft in der Kirche hätten. Aber der Wille allein genügt noch nicht. Aus zwei Gründen: 1. Der Wille muss den Wunsch noch zur Erfüllung bringen. Der gute Wille allein, so viel er an sich schon bedeutet, ist noch nicht die Nachfolge selbst. Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung, so sagt der Volksmund. Aber es ist der erste Schritt zur Besserung, noch nicht der Besserung. 2. Jesus macht deutlich, was der Wunsch nach der neuen Gemeinschaft mit seinen Anforderungen und Verheißungen bedeutet. Jesus lässt seine potenziellen – wie auch seine alteingesessenen – Nachfolger nicht im Unklaren über die Konsequenzen des Weges mit ihm.

3. Hier ist es, wo die Bilder Jesu zu sprechen beginnen. Sie gelten zögernden Anwärtern mit guten Absichten. In ihrer Härte und Schroffheit sind sie darum auch Zeichen der Liebe. „Wenn du mit mir aufbrechen willst, dann ...“ so lautet die Überschrift über die drei Antworten an die Jünger: 1. „Wenn du mit mir aufbrechen willst, dann ...“ musst du dich auf eine gereifte christliche Existenz einstellen, die zwar immer noch Schutz und Ruhepunkte erwartet, aber diese nicht mehr in den Kategorien dieser Welt sieht. Es ist eine Existenz, die bereit ist, das, was mir jetzt Schutz und Sicherheit gibt, hinterfragen zu lassen. 2. „Wenn du mit mir aufbrechen willst, dann ...“ ist es ein Glaubensleben, das einen intellektuellen und existenziellen Bruch verlangt. Es ist ein Bruch mit der Vergangenheit, den Vorfahren, der Tradition. Um das Bild 313

des Lukas zu verwenden. Das Unterwegssein mit Jesus führt nicht nur um das eigene Haus, endet nicht an der Grenze des Dorfes, an der Grenze des Gewohnten und Geliebten. 3. „Wenn du mit mir aufbrechen willst, dann ...“ lässt du dich auf eine Nachfolge ein, die das ganze soziale Netz in seiner bisherigen Form hinter sich lässt. eine Nachfolge, in der es keinen Zwiespalt mehr zwischen der Zukunft Gottes in seinem Reich und der vertrauten Vergangenheit gibt. Alle drei Punkte machen eines deutlich. Es ist ein radikaler Bruch mit dem Alten. Ein völlig Neues beginnt, „eine neue Schöpfung“, wie Paulus es formuliert. Die um Christi willen getroffene Entscheidung zum Abbruch, zum Verzicht, ohne Hintertür und Rückhalt, ist aber keine Dummheit oder Masochismus. Denn das Ziel – so das Versprechen Jesu – das Ziel, das Reich Gottes, erwartet uns nicht erst am Ende unserer Furchen, sondern wird schon im Abbruch deutlich. Wenn wir Jünger Jesu werden oder sind oder andere dazu berufen, bleiben wir in dieser Welt. Das christliche Leben ist nicht abseits von ihr, aus ihr herausgenommen oder gegen die Welt gerichtet. In der Gemeinschaft mit Jesus definieren sich unsere Beziehungen neu – wozu der Text indirekt hilft. Sie lassen sich neu aus christlicher Sicht bestimmen: die zu den Eltern, zur sozialen, familiären und persönlichen Vergangenheit. Das Netz der Beziehungen, in denen wir weiter leben, ist nicht mehr von unbewussten Faktoren bestimmt oder sogar determiniert, von beengender Vererbung oder sozialen Notwendigkeiten. Vielmehr wird es zu einem Boden, auf dem sich unsere Freiheit, unsere Liebe und Verantwortung entfalten können und sollen. Amen.

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„Licht der Welt“ Biblische Besinnung zu Mt 5,14-16 Johannes Oeldemann

„Ihr seid das Licht der Welt“ – eine anspruchsvolle Aussage steht da, gemeinsam mit dem Bildwort vom „Salz der Erde“, im 5. Kapitel des Matthäus-Evangeliums. Die beiden Bildworte bilden einen Angelpunkt der Bergpredigt, der zwischen den Seligpreisungen und den Aussagen zur Erfüllung des Gesetzes steht. „Ihr seid das Licht der Welt“ – das ist nicht eine bloße Aussage, das ist ein Zuspruch, der den Jüngern verdeutlicht, dass sie in der Nachfolge Jesu eine neue Qualität gewinnen. Und es ist zugleich ein Anspruch, denn „euer Licht soll vor den Menschen leuchten“ – nicht, damit sie die guten Werke der Jünger sehen und sie deshalb preisen, sondern damit der „Vater im Himmel“ gepriesen wird, der den Jüngern diese neue Qualität verliehen und sie damit zu den guten Werken befähigt hat. Es ist dies die einzige Stelle in der ganzen synoptischen Tradition, an der von „guten Werken“ die Rede ist. Eine Werkgerechtigkeit ist dabei nicht im Blick. Die guten Werke wachsen vielmehr aus der neuen Qualität als „Licht der Welt“, die die Jünger in der Nachfolge Jesu gewonnen haben, und führen zum Lobpreis des himmlischen Vaters, der dies ermöglicht. „Ihr seid das Licht der Welt“ – in der Spannung zwischen dem Zuspruch, den dieses Jesuswort enthält, und dem Anspruch, der daraus an uns erwächst, leben wir bis heute. Wenn wir auf die biblische Botschaft in ihrer Gesamtheit schauen, ergibt sich noch eine andere Spannung: 315

Im Johannes-Evangelium finden wir unter den berühmten „Ego-eimi-Sprüchen“ auch die Aussage: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12). Wer ist denn nun das „Licht der Welt“: er oder ihr, Christus oder die Menschen, die sich Christen nennen? Diese Frage könnte ein dem Christentum entfremdeter Zeitgenosse an uns richten. Und was wäre unsere Antwort darauf? Vermutlich würden wir unser Licht „unter den Scheffel stellen“ und auf Christus verweisen. Bescheiden, demütig, sich selbst nicht in den Vordergrund drängend. Aber entspricht das der biblischen Botschaft, die wir soeben vernommen haben? Sollen wir nicht unser Licht auf den Leuchter stellen, statt es zu verbergen? Wie gehen wir heute mit dem Anspruch um, unser Licht vor den Menschen leuchten zu lassen? Der Zuspruch „Ihr seid das Licht der Welt“ fordert uns heraus zum missionarischen Zeugnis. „Lebt als Kinder des Lichts!“ – appelliert der Epheserbrief an uns. Und er erläutert sogleich: „Das Licht bringt lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit hervor“ (Eph 5,9). Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit – diese drei Begriffe umschreiben, was es heißt, „Licht der Welt“ zu sein. Es sind Eigenschaften, die wir als Christen in erster Linie Gott bzw. Christus als dem Sohn Gottes zuschreiben. Unser „Lichtsein“ soll das göttliche Licht widerspiegeln. Und so mündet der genannte Abschnitt aus dem Epheserbrief denn auch in ein Zitat aus der urchristlichen Taufliturgie: „Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein“ (Eph 5,14). „Christus wird dein Licht sein“ – weil uns dies zugesagt ist, deshalb können wir „Licht der Welt“ sein. In der Taufe haben wir „Christus angezogen“ (vgl. Gal 3,27). „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“, wie der Apostel Paulus schreibt (Gal 2,20). Darin liegt der 316

tiefste Grund dafür, dass wir „Licht der Welt“ sein können: weil Christus das Licht der Welt ist, das in uns und durch uns sichtbar werden soll. Und dieses „Licht der Welt“ sind wir nicht als einzelne Gläubige, als unabhängige Monaden, sondern in der Gemeinschaft derjenigen, die an Christus glauben. Hier kommt nun auch die Kirche bzw. die Gemeinde der Christgläubigen ins Spiel. Sie ist so etwas wie der Spiegel, der das „Licht der Welt“ reflektiert. Nicht die Kirche selbst ist das „Licht der Welt“, sondern diejenigen, die in ihr das Licht Christi zum Leuchten bringen. Diese biblische Grundüberzeugung spiegelt sich auch in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils wider, auf die wir als katholische Theologen uns immer wieder beziehen, wenn wir im ökumenischen Dialog über unser Verständnis von Kirche sprechen. „Lumen gentium“ lauten die beiden Anfangsworte und damit der lateinische Kurztitel dieser Kirchenkonstitution. Das „Lumen gentium“, von dem die Konstitution spricht, ist allerdings nicht die Kirche, sondern Christus: „Christus ist das Licht der Völker“, lautet der programmatische Anfangssatz der Kirchenkonstitution. Nur wenn es uns gelingt, in unserer Verkündigung und in unserem Leben immer wieder Christus als das „Lumen gentium“ aufleuchten zu lassen, werden wir zum „Licht der Welt“, von dem das Matthäus-Evangelium spricht. „Ihr seid das Licht der Welt“ – in diesen Worten kommt der Eigenstand der Christen zum Ausdruck, der uns durch die Taufe geschenkt ist. „Ich bin das Licht der Welt“ – dieses Wort erinnert uns daran, dass unser Lichtsein nicht mehr ist als das Transparentwerden für Christus. In diesem Spannungsverhältnis leben wir Christen und lebt die Kirche auf ihrem irdischen Pilgerweg. 317

Die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden wird vor allem durch diejenigen ihrer Glieder, die in ihrem Leben und Handeln für das Licht Christi transparent werden, zum „Licht der Welt“ – einem Licht, das nicht auf sich selbst, sondern auf Christus verweist. „Das Licht Christi scheint auf alle“ – so lautete das Motto der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung, die im September 2007 im rumänischen Sibiu stattfand. Dieses Motto ist ein Zitat aus der orthodoxen Liturgie. Möge der Leitgedanke dieser Ökumenischen Versammlung uns immer wieder neu anspornen, das Licht Christi in dieser unserer Welt zum Leuchten zu bringen. Darum wollen wir Gott bitten mit den Gebetsworten, die am Schluss der „Botschaft“ von Sibiu an die Christen in Europa stehen: „O Christus, du wahres Licht, das jeden Menschen, der in diese Welt hineingeboren wird, erleuchtet und heiligt, leuchte uns mit dem Licht deiner Gegenwart, dass wir darin das unnahbare Licht erblicken und leite unsere Schritte, damit wir deine Gebote einhalten. Errette uns und führe uns in dein ewiges Reich. Denn du bist unser Schöpfer, Fürsorger und Spender alles Guten. Unsere Hoffnung liegt in dir, und dir erweisen wir Ehre, jetzt und in Ewigkeit. Amen.“

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Autorenspiegel Dr. Johannes Demandt Pastor der Freien evangelischen Gemeinde Düsseldorf Dr. Rainer Dillmann Professor für Biblische Theologie an der Katholischen Fachhochschule NW, Abt. Paderborn (seit 2007 im Ruhestand) Dr. Ralf Dziewas Professor für Diakonik am Theologischen Seminar Elstal (FH) des Bundes EvangelischFreikirchlicher Gemeinden in Deutschland und Corporate Identity Beauftragter der Immanuel Diakonie Group Niels Gärtner Pfarrer der Herrnhuter Brüdergemeine Ordinariatsrat Msgr. Dr. Michael Hardt Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut Dr. André Heinze Professor für Neues Testament am Theologischen Seminar Elstal (FH) des Bundes EvangelischFreikirchlicher Gemeinden in Deutschland Dr. Tim Lindfeld Regionalreferent des Katholischen Bildungswerks im Oberbergischen Kreis

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Dr. Michael Nausner Professor für Systematische Theologie am Theologischen Seminar der Evangelisch-methodistischen Kirche in Reutlingen (FH) Dr. Burkhard Neumann Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut Dr. Johannes Oeldemann Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut Jürgen Stolze Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche in Magdeburg und Genthin, Beauftragter für Ökumenische Beziehung der Zentralkonferenz in Deutschland Dr. Kim Strübind Professor für Altes Testament und Hebräisch an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik Dr. Wolfgang Thönissen Professor der Ökumenischen Theologie an der Theologischen Fakultät Paderborn, Leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts

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Abkürzungen ADBK AGP BEFG BenshH BFeG BHTh BiKi BSLK BU BZ Cath(M) CCL CGG CIC CMe CSEL DH

DtBis

Arbeitshilfen. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland Bensheimer Hefte Bund Freier evangelischer Gemeinden Beiträge zur historischen Theologie Bibel und Kirche Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche Biblische Untersuchungen Biblische Zeitschrift Catholica. Vierteljahresschrift für ökumenische Theologie. Münster Corpus Christianorum seu nova Patrum collectio series Latina Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft Codex Iuris Canonici Christliche Meister Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum H. Denzinger, Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Übers. u. hg. v. P. Hünermann, Freiburg i.Br. 402005 Die deutschen Bischöfe

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DwÜ

Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene. 3 Bde., Paderborn-Frankfurt a.M. 1983-2003 EKK Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament 3 EKL Evangelisches Kirchenlexikon, 3. Auflage, Göttingen 1986-1997 ELThG Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde EmK Evangelisch-methodistische Kirche EWNT Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament FC Fontes christiani FRLANT Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments GER Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre GNT Grundrisse zum Neuen Testament HDG Handbuch der Dogmengeschichte HerKorr Herder-Korrespondenz HNT Handbuch zum Neuen Testament HPTh Handbuch der Pastoraltheologie HThG Handbuch theologischer Grundbegriffe HThK Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament HThK.S Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament – Supplementband HThK Vat.II Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 1-5. Hg. v. P. Hünermann u. B.J. Hilberath, Freiburg i.Br. 2004-2006 HWP Historisches Wörterbuch der Philosophie IThS Innsbrucker theologische Studien JAC Jahrbuch für Antike und Christentum 322

KKD KKSMI KKTS KNA-ÖKI KZG LG LOeK

LThK2 LThK3 LThK.E

MdKI MySal NEB NTA ÖTBK PG PL QD RGG4 RNT SBS SC

Kleine katholische Dogmatik Konfessionskundliche Schriften des Johann-Adam-Möhler-Instituts Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien KNA – Ökumenische Information Kirchliche Zeitgeschichte Lumen gentium. Dogmatische Konstitution über die Kirche Lexikon der Ökumene und Konfessionskunde. Hg. v. W. Thönissen u.a., Freiburg i.Br. 2007 Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Auflage, Freiburg i.Br. 1957-1967 Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Freiburg i.Br. 1993-2001 LThK2. Das Zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare, Freiburg i.Br. 1966-1968 Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Mysterium Salutis Neue Echter Bibel Neutestamentliche Abhandlungen Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament Patrologia Graeca Patrologia Latina Quaestiones disputatae Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Tübingen 1998-2005 Regensburger Neues Testament Stuttgarter Bibelstudien Sacrosanctum Concilium. Konstitution über die heilige Liturgie

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Schol. SNTU StANT Sth StZ TB ThFPr ThGespr ThHK ThWNT TRE TVGMS TzT.D UR VApS VEF WUNT ZThG

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Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie. Freiburg i.Br. Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt Studien zum Alten und Neuen Testament Summa theologiae Stimmen der Zeit Theologische Bücherei Theologie für die Praxis Theologisches Gespräch Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Theologische Realenzyklopädie TVG-Monographien und Studienbücher Texte zur Theologie. Dogmatik Unitatis redintegratio. Dekret über den Ökumenismus Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Vereinigung Evangelischer Freikirchen Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zeitschrift für Theologie und Gemeinde