Luther als Vorkämpfer?: Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800 9783412506544, 9783412505561

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Luther als Vorkämpfer?: Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800
 9783412506544, 9783412505561

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Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation Im Auftrag der »Historischen Kommission für Thüringen« herausgegeben von Werner Greiling und Uwe Schirmer in Verbindung mit Joachim Bauer, Enno Bünz, Ernst Koch, Armin Kohnle, Josef Pilvousek und Ulman Weiß Band 5

Werner Greiling, Holger Böning, Uwe Schirmer (Hg.)

Luther als Vorkämpfer? Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei Erfurt, der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, Bonn. Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Luther segnet die Eislebener Kinder, kolorierte Aquatintaradierung von Gustav Georg Endner, 1818 (Ausschnitt).

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Wissenschaftliche Redaktion und Satz: Dr. Alexander Krünes, Jena Korrektorat: Jörg Eipper-Kaiser, Graz Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-50556-1

Inhalt

Vorwort ............................................................................................................................. 7 Werner Greiling Reformation, Volksaufklärung und protestantische Erinnerungskultur in Thüringen ..................................................................................................................... 9 Holger Böning Reformation und Volksaufklärung – einige Gedanken zu Zusammenhängen und Unterschieden ......................................................................43 Julia Beez Lokale Reformationsjubiläen in Thüringen. Aspekte zur Einführung der Reformation und ihrer Erinnerung vor Ort ......................................................61 Johannes Roth Reformation – Tradition – Volksaufklärung. Zum Anteil der Volksaufklärer am Reformationsjubiläum in Thüringen 1817 ..............................91 Reinhart Siegert Das Lutherjubiläum von 1817 – Sprengstoff für die volksaufklärerische Ökumene? ................................................................................ 113 Alexander Krünes Verständigung oder Abgrenzung? Die Haltung thüringischer Volksaufklärer zum Katholizismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.......................................................................................................... 141 Jochen Krenz Luther als dämonischer Dunkelmann oder reformatorische Lichtgestalt? Das Luther-Bild in der gegenaufklärerischen und aufklärerischen oberdeutschen katholischen Kirchenpresse des ausgehenden 18. Jahrhunderts ................................................................................. 161 Thomas K. Kuhn Reformierte Aufklärung. Die Reformation bei Georg Joachim Zollikofer ..................................................................................................................... 183

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INHALT

Michael Maurer Johann Gottfried Herder und die Reformation .................................................... 209 Stefan Gerber Reformationsgeschichte in der Elementarbildung. Johann Gottfried Melos und das aufgeklärt-rationalistische Reformationsbild in Sachsen-Weimar-Eisenach um 1800 ....................................................................... 221 Hans-Werner Hahn Justus Friedrich Froriep (1745–1800): Theologieprofessor, Pfarrer und Volksaufklärer ..................................................................................................... 243 Guido Bee „Auch sollst du nicht mit Andersdenkenden darüber disputiren.“ Konfessionalität und religiöser Streit im Rheinländischen Hausfreund Johann Peter Hebels .................................................................................................. 259 Joachim Scholz „Inhaltsreich und herzerhebend“ – Martin Luther in der Volksschulpädagogik und preußischen Schulreform um 1800 .......................... 275 Felicitas Marwinski Thüringische Stadt-, Dorf- und Schulbibliotheken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihr Beitrag zum allgemeinen Bildungswesen im Dienste der Volksaufklärung .............................................................................. 293 Klaus-Dieter Herbst Die Rezeption der Reformation und eine neue Biographie Martin Luthers in den Schreibkalendern des 17. und 18. Jahrhunderts ......................... 315 Abbildungsnachweis .................................................................................................. 351 Ortsregister .................................................................................................................. 352 Personenregister ......................................................................................................... 355 Verzeichnis der Autoren ........................................................................................... 361

Vorwort VORWORT

Von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts trat in Deutschland eine Vielzahl von Aktivitäten zur Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts zutage, begleitet und ergänzt durch praktisch-gemeinnützige Bestrebungen. Getragen von Tausenden Gebildeten „vor Ort“, bestand ihr Ziel in der Popularisierung neuer Erkenntnisse aus allen Wissensgebieten zum alltäglichen Gebrauch und in der Vermittlung religiöser, moralischer, kultureller und politischer Vorstellungen. Dabei richtete man sich vor allem an die bildungsfernen Bevölkerungsschichten in Stadt und Land. Angestrebt wurde eine vernünftige Wirtschafts- und Lebensweise in einem Gemeinwesen, das man zunehmend als reformbedürftig erachtete. Vom Schrifttum dieser als „Volksaufklärung“ apostrophierten Bewegung sind weit mehr als 10.000 Titel bekannt – verfasst von mehreren tausend Autoren, unter denen sich zahlreiche Geistliche befanden. Angesichts des intensiven Engagements protestantischer Theologen verwundert es nicht, dass in den Texten der Volksaufklärung auch die Reformation und die Person Martin Luthers thematisiert wurden. Viele Volksaufklärer waren der Überzeugung, dass bereits mit der Reformation eine allgemeine Verbesserung der Lebenssituation des gemeinen Mannes eingetreten sei. Man zeigte sich davon überzeugt, dass Luther und seine Mitstreiter ähnlich wie zwei Jahrhunderte später die Aufklärer den Prinzipien der Vernunft gefolgt seien. Die Reformation habe die Grundlagen für die Aufklärung gelegt. Der entstehende Protestantismus hätte neue Denkprozesse eingeleitet und damit die Voraussetzungen für die gesellschaftliche Modernisierung geschaffen. Die Rezeption der Reformation durch die Volksaufklärung, die publizistische Instrumentalisierung des Wirkens der Reformatoren sowie zahlreiche Aspekte der Erinnerungskultur zur Reformation, die im Jahr des 300-jährigen Jubiläums des Thesenanschlags von 1517 einen Höhepunkt erlebte, bildeten die Schwerpunkte einer wissenschaftlichen Tagung, die vom 2. bis 4. Juli 2015 unter dem Titel „Luther als Vorkämpfer? Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800“ stattfand. Zahlreiche Historiker und Theologen, Kulturund Kirchenhistoriker, Erziehungswissenschaftler, Medienhistoriker, Germanisten, Volkskundler und interessierte Laien versammelten sich im Museum der Stadt Gera. Hier hatte der Theologe, Jurist und Schriftsteller Christoph Gottlieb Steinbeck (1766–1818), der neben Rudolph Zacharias Becker aus Gotha und Christian Gotthilf Salzmann aus Schnepfenthal zu den überregional bekannten Repräsentanten der Volksaufklärung in Thüringen zählte, seinen Wirkungsort. In Gera lebte mit Johann Ernst Daniel Bornschein (1774–1838) seit 1802 aber auch der Verfasser eines „Lesebuchs“, das unter dem Titel „Leben und

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VORWORT

Meinungen des seeligen Herrn D. Martin Luthers“ exakt den volksaufklärerischen Intentionen zur Popularisierung und Instrumentalisierung der Reformation entsprach und sich dezidiert an den Bürger und Landmann richtete. Der Tagungsort für das dreitägige Symposium, das vom Forschungsprojekt „Thüringen im Jahrhundert der Reformation“ an der Friedrich-SchillerUniversität Jena in Kooperation mit dem Institut „Deutsche Presseforschung“ der Universität Bremen durchgeführt wurde und Teil einer ganzen Serie wissenschaftlicher Konferenzen in der Reformationsdekade ist, war also gut und bewusst gewählt. Die 14 Vorträge fanden in den vier Sektionen „Einordnung, Synthese, Erinnerungskultur“, „Protagonisten“, „Bildung, Erziehung, Schrifttum“ sowie „Religion und Gesellschaft“ eine vorläufige Strukturierung und wurden allesamt intensiv diskutiert. Dabei erwies sich bei aller Konzentration auf das protestantische Deutschland nicht zuletzt die vergleichende Perspektive – auf verschiedene Konfessionen, Regionen und Personen – als fruchtbar. Nützlich und erhellend waren zudem der Blick auf den Aspekt der „volksaufklärerischen Ökumene“ sowie die Einbeziehung von katholischer Aufklärung und Gegenaufklärung. Ein deutlicher Schwerpunkt wurde auf Thüringen gelegt, das sehr deutlich als ein „doppeltes Kernland“ von Reformation und Volksaufklärung hervortrat. Weit über die Grenzen der Region und des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation hinaus wies hingegen der Abendvortrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Schilling (Berlin), der Luther und das Jahr 1517 in die weltgeschichtlichen Zusammenhänge stellte. Die Herausgeber danken all jenen, die an der Ausrichtung der Tagung und an der Finanzierung des Tagungsbandes beteiligt waren. Dies gilt für Herrn Matthias Wagner, den Leiter des Stadtmuseums Gera, der an der organisatorischen Vorbereitung mitwirkte und für drei Tage nicht nur den dortigen Vortragsraum, sondern das gesamte Haus zur Verfügung stellte. Dies gilt ebenso für den Freistaat Thüringen, die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und die Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, die zum Druckkostenzuschuss für den Tagungsband beitrugen. Und das gilt ebenso für Herrn Dr. Alexander Krünes, dem die gesamte Koordinierungstätigkeit vor und während der Tagung oblag und der die Redaktions- und Satzarbeiten für den Tagungsband ausführte. In bewährter Weise durften wir uns der Zusammenarbeit mit dem Böhlau Verlag Köln/Weimar/Wien erfreuen, wo das Projekt bei Herrn Johannes van Ooyen (Wien) in erfahrenen Händen lag. Und schließlich sei allen Referenten, die sich mit Verve auf die Fragestellungen der Tagung eingelassen und ihre Beiträge fristgerecht eingereicht haben, herzlich gedankt. Jena und Bremen, im Frühjahr 2016

Werner Greiling Holger Böning Uwe Schirmer

WERNER GREILING REFORMATION, VOLKSAUFKLÄRUNG UND ERINNERUNGSKULTUR

Reformation, Volksaufklärung und protestantische Erinnerungskultur in Thüringen So wie ein jeder Haus-Vater für das Wohl seiner Familie; jeder Pfarrer für die Wohlfarth seiner Gemeinde und jeder Fürst für den Flor seiner Unterthanen sorgt; so sorgte einst der seelige Mann Gottes D. Martin Luther für das Heil der Seele der ganzen Welt. Ihm haben wir die bessern Einsichten und Kenntniße von den Wahrheiten unserer Religion zu danken – er war es, der mit dem Aberglauben Krieg führte, und das finstere Reich des Papstes und seiner Verehrer mit ehernen Waffen angriff.1

Diese Aussage des Johann Ernst Daniel Bornschein (1774–1838) zeigt gleichsam programmatisch, wie sich volksnahe Publizisten im protestantischen Deutschland zur Reformation in Beziehung setzten und wie sie das Wirken von deren führendem Protagonisten interpretierten. Bornscheins Buch „Leben und Meinungen des seeligen Herrn D. Martin Luthers“ führt zu einem Schwerpunkt unserer Thematik, denn Bornschein war ein gebildeter Publizist und Schriftsteller, verstand sich selbst als Volkslehrer und meldete sich wie die meisten seiner Kollegen zu mehreren Themen zu Wort. Bornscheins Luther-Biographie mit dem Untertitel „Ein Lesebuch für den Bürger und Landmann“ erschien im gleichen Jahr wie seine Biographie Napoleon Bonapartes.2 Beide Bücher stehen in Bornscheins Œuvre neben praktischen Ratschlägen sowie sittlichen und moralischen Ermahnungen. Hierzu zählen Artikel wie „Ein paar Worte über die Lektüre des Bürgers und Landmanns und die Lesewuth junger Leute beyderlei Geschlechts“3 und „Ueber das Tabacksrauchen der Jugend. Ein herzlich wohlgemeintes Wort an Aeltern und Erzieher“.4 Stets ging es Bornschein um Erziehung, um lebenspraktische Ratschläge, um Appelle an die Vernunft und damit letztlich um Aufklärung. Diese Aufklärung richtete sich ausdrücklich auch an die bildungs- und bücherfernen Schichten und wollte Volksaufklärung sein. 1

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Ernst BORNSCHEIN, Leben und Meinungen des seeligen Herrn D. Martin Luthers. Ein Lesebuch für den Bürger und Landmann vom Verfasser des Lebens und der Thaten des General Bonaparte, Gera/Leipzig: Haller 1802, S. 11. – Frau Julia Beez, M.A. (Jena) sei für umfangreiche bibliographische Recherchen und für die redaktionelle Durchsicht des Beitrags herzlich gedankt. DERS., Leben und Thaten des General Bonaparte. Ein Lesebuch für den Bürger und Landmann, Gera/Leipzig: Haller 1802. Neue privilegirte Geraische Zeitung 3 (1802), 91. St., S. 723–727. Neue privilegirte Geraische Zeitung 4 (1803), 86. St., S. 683–687.

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Im vorliegenden Beitrag sollen das Reformationsgeschehen, seine Rezeption im Milieu der Volksaufklärer sowie die protestantische Jubiläumskultur in einigen grundsätzlichen Aspekten, aber auch mit einem territorialen Schwerpunkt auf dem Gebiet Thüringens und ganz ohne Anspruch auf Vollständigkeit zusammengeführt werden.

1. Dimensionen der Volksaufklärung in Thüringen Thüringen war nicht nur ein Kernraum der Reformation, sondern auch eine Kernregion der Volksaufklärung. „Volksaufklärung“ ist das Label für eine Vielzahl von Aktivitäten zur Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts, die von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zutage traten und durch praktisch-gemeinnützige Bestrebungen begleitet bzw. ergänzt wurden. Getragen von Tausenden Gebildeten „vor Ort“ bestand das Ziel der Volksaufklärung in der Popularisierung neuer Erkenntnisse aus allen Wissensgebieten zum alltäglichen Gebrauch und in der Vermittlung religiöser, moralischer, kultureller und politischer Vorstellungen. Dabei richtete man sich vor allem an die bildungsfernen Bevölkerungsschichten in Stadt und Land. Angestrebt wurde eine vernünftige Wirtschafts- und Lebensweise in einem Gemeinwesen, das man zunehmend als reformbedürftig erachtete. Die Volksaufklärung hat wohl nirgendwo sonst eine derart beeindruckende quantitative Dimension angenommen wie in Deutschland, ist aber auch in anderen europäischen Ländern nachweisbar, nicht zuletzt in Skandinavien, im Baltikum und in den Ländern der Habsburgermonarchie.5 Bevor Thüringen als Kernraum der Volksaufklärung akzentuiert wird, sollen die geographische Dimension der Region und die territorialpolitischen Entwicklungen knapp angedeutet werden. In der Ära der Volksaufklärung, im 18. und 19. Jahrhundert also, war Thüringen ein ebenso vielgestaltiges wie kleinräumiges Territorium.6 Dies gilt in besonderem Maße für das Gebiet der Fürsten von Reuß, das sich in Reuß älterer Linie und Reuß jüngerer Linie unterteilte. Hauptstadt des Fürstentums Reuß älterer Linie war Greiz, während sich die Residenzen der jüngeren Linie, welche sich nochmals verzweigte, in Lobenstein, Schleiz, Ebersdorf und Gera befanden. Deutlich größer als die Fürstentümer Reuß und politisch wie kulturell bedeutsamer waren die Herzogtümer der Ernestiner. Mit der Leipziger Teilung 5

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Vgl. Hanno SCHMITT/Holger BÖNING/Werner GREILING/Reinhart SIEGERT (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung, Bremen 2011, S. 13–18. Vgl. u. a. Hans PATZE/Walter SCHLESINGER (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 5, 1. Teil: Politische Geschichte der Neuzeit, 1. Teilbd., Köln/Wien 1982, 2. Teilbd., Köln/Wien 1984.

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war die gemeinsame Regierung des Stammhauses der Wettiner bereits 1485 beendet worden.7 In der Folge durchliefen die Territorien der Ernestiner einen steten Wandel ihrer politisch-territorialen Gliederung. Im 18. Jahrhundert existierten die ernestinischen Herzogtümer Sachsen-Gotha-Altenburg, SachsenWeimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Hildburghausen und SachsenCoburg-Saalfeld. Dazu kamen in Thüringen noch die beiden Fürstentümer Schwarzburg-Sondershausen und Schwarzburg-Rudolstadt, die sich jeweils in eine Unter- und eine Oberherrschaft teilten. Die größte Stadt Thüringens, Erfurt, gehörte einschließlich einiger Gebiete ihres Umlandes bis 1802 politisch und verwaltungsmäßig zu Kurmainz und gelangte danach, unterbrochen allerdings durch das Intermezzo der napoleonischen Ära von 1806 bis 1814, an das Königreich Preußen. Zwei freie Reichsstädte zählten im 18. Jahrhundert zu Thüringen, nämlich Mühlhausen und Nordhausen, die diesen Status mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 jedoch verloren. Und hinzu kam noch einiger thüringischer Territorialbesitz von Kursachsen und von Hessen-Kassel. Das Jahr 1826 setzte für die ernestinischen Staaten erneut eine Zäsur, weil durch den Tod Friedrichs IV., des kinderlosen Herzogs von Sachsen-Gotha-Altenburg, eine territoriale Neugliederung nötig geworden war. Nach längeren Verhandlungen kam am 12. November 1826 ein Teilungsvertrag zustande, der das Ende des Herzogtums SachsenGotha-Altenburg mit sich brachte.8 Sachsen-Gotha wurde, durch Abtretungen an Meiningen etwas verkleinert, dem in Coburg regierenden Haus in Form einer Personalunion zugeschlagen, die dem Gothaer Landesteil auch künftig eine weitgehende Selbständigkeit und der Stadt Gotha ihren Residenzcharakter bewahrte. Herzog Friedrich von Hildburghausen trat seine gesamten bisherigen Besitzungen ab und übernahm das Herzogtum Sachsen-Altenburg, das jedoch um das Amt Camburg und den angrenzenden nördlichen Teil des Amtes Eisenberg, die an Meiningen fielen, reduziert wurde. Das bisherige Fürstentum Hildburghausen kam zum größeren Teil und mit seiner Hauptstadt an Meiningen, das außerdem von Coburg die Landesportion Saalfeld und einige kleinere Gebietsstücke erhielt. Somit entstanden in größtenteils neuer Zusammensetzung die drei Herzogtümer Sachsen-Coburg und Gotha (ca. 151.400 Einwohner), Sachsen-Meiningen (129.200) und Sachsen-Altenburg (107.000). Bei Fortbestehen des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach und der reußischen und schwarzburgischen Fürstentümer war dies für fast 100 Jahre die letzte gravierende Veränderung auf der politischen Landkarte Thüringens. 7 8

Vgl. Werner GREILING/Gerhard MÜLLER/Uwe SCHIRMER/Helmut G. WALTHER (Hg.), Die Ernestiner. Politik, Kultur und gesellschaftlicher Wandel, Köln/Weimar/Wien 2016. Vgl. Hans TÜMMLER, Die Zeit Carl Augusts von Weimar 1775–1828, in: PATZE/SCHLESINGER (Hg.), Geschichte Thüringens (wie Anm. 6), 2. Teilbd., S. 615–779, hier S. 696 f.

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Die thüringischen Staaten verfügten über eine Fläche, die etwa ein Fünfzigstel des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation ausmachte. Nur um ein Geringfügiges höher war der prozentuale Bevölkerungsanteil – etwas mehr als eine halbe Million Menschen. Erfurt zählte um 1800 etwa 16.500 Einwohner, die Universitätsstadt Jena 4.500. Ehemals ein Kerngebiet der Reformation, war Thüringen überwiegend protestantisch und definierte sich im 18. und 19. Jahrhundert nicht politisch-dynastisch, sondern als historisch gewachsene geographische Region und als Kulturraum. Dabei führte die Kleinteiligkeit, die trotz eines im 19. Jahrhundert zunehmenden Mediatisierungsdrucks bis zum Ende der Fürstenherrschaft 1918 aufrechterhalten wurde, zu politischer Marginalität. Völlig zu Recht zählte man die thüringischen Staaten zu den Mindermächtigen im Alten Reich und im Deutschen Bund.9 Kleinteiligkeit und territoriale Vielfalt boten aber auch spezifische Chancen, nicht zuletzt auf dem Gebiet von Bildung, Kultur und Medien und damit für die Wirkungssphäre der Volksaufklärer. Im 18. Jahrhundert hatten in vielen thüringischen Städten Buchdruck und Buchhandel längst Fuß gefasst. Die Entstehung des Pressewesens war damit eng verbunden. Bereits 1674 wurden die „Privilegirten Jenaischen Zeitungen“ gegründet, denen 1691 die „Gothaische Privilegirte Zeitung“ folgte. Sie modifizierten mehrfach Titel und Erscheinungsbild, überdauerten jedoch das gesamte 18. Jahrhundert. Zu den frühesten Periodika in Thüringen zählten um 1700 mehrere Zeitschriften, die sich an ein gelehrtes, akademisch gebildetes Publikum richteten und die in den folgenden Jahrzehnten die Ausgangsbasis für eine rasch ansteigende Zeitschriftenproduktion von beachtlicher Dimension boten.10 Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zählten auch mehrere Journale dazu, die zu Sprachrohren der Volksaufklärung avancierten.11 An den gemeinen Mann gerichtete Periodika waren beispielsweise die wöchentlich erscheinende „Arnstädtische Zeitung“, die seit dem 15. Januar 1794 9

Vgl. Michael HUNDT, Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongreß, Mainz 1996. 10 Vgl. Werner GREILING, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2003. 11 Das konkurrenzlose Standardwerk zur Volksaufklärung sei hier lediglich summarisch erwähnt. Auf die dortigen Beiträge zu einzelnen, hier referierten Periodika wird nur ausnahmsweise verwiesen. Vgl. Holger BÖNING/Reinhart SIEGERT, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd. 1: Holger BÖNING, Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; Bd. 2: Reinhart SIEGERT/ Holger BÖNING, Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781–1800 und die Zäsur durch die Französische Revolution, Teilbde. 2.1. und 2.2., Stuttgart-Bad Cannstatt 2001; Bd. 3: Reinhart SIEGERT, Aufklärung im 19. Jahrhundert – „Überwindung“ oder Diffusion?, Teilbde. 3.1.– 3.4., Stuttgart-Bad Cannstatt 2016 (im Folgenden: BÖNING/SIEGERT, Volksaufklärung, Bd.).

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in Schwarzburg-Sondershausen herauskam, auch politische Nachrichten brachte und eine Abspaltung vom dortigen Intelligenzblatt darstellte. Die am 15. Juli 1800 gegründete „Neue privilegirte Geraische Zeitung“, hervorgegangen aus Christoph Gottlieb Steinbecks (1766–1818) „Aufrichtig-Deutscher VolksZeitung“, zielte ausdrücklich auf „eine freymüthige Darstellung der Geschichte des Tages“12 und vollzog allmählich den Übergang zum politischen Tagesblatt, ohne den Bezug zur Volksaufklärung aufzugeben. Und schließlich gehören zur Volksaufklärung in Thüringen auch publizistische Flaggschiffe wie Christian Gotthilf Salzmanns (1744–1811) „Der Bote aus Thüringen“, der 1787/88 gegründet und in Schnepfenthal bei Gotha verlegt wurde. Dieses höchst erfolgreiche Periodikum stand in der Tradition des in Erfurt erscheinenden Blattes „Das räsonnirende Dorfkonvent“13 von Johann Adam Christian Thon (1739–1809) und hatte seine volksaufklärerisch-gemeinnützigen Zielstellungen von Beginn an postuliert. Holger Böning betrachtet Salzmanns „Der Bote aus Thüringen“ als „das literarisch wohl ambitionierteste und – gemeinsam mit der „Zeitung für Städte, Flecken und Dörfer“ – langlebigste volksaufklärerische Periodikum des achtzehnten Jahrhunderts“.14 Diese Bewertung trifft sich mit jener des zeitgenössischen Beobachters Joachim von Schwarzkopf (1766–1806), der 1795 „Salzmann’s reichbeladenen Bote aus Thüringen“ ausdrücklich aus einer Masse gut gemeinter, aber eben nicht befriedigender Periodika für den „gemeinen Bürger und Landmann“ hervorhob.15 Als Indiz für die Dichte der Medienlandschaft Thüringen und ihren bedeutenden Beitrag zur Volksaufklärung sei schließlich auf die publizistischen Unternehmungen Rudolph Zacharias Beckers (1752–1822) verwiesen. Der Autor der spektakulär erfolgreichen Schrift „Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute“16 gab mehrere Periodika heraus, die allesamt volksaufklärerische Elemente enthielten. Dies trifft selbst auf die „Deutsche Zeitung“ seit 1784 zu, die ansonsten ein eindeutig politisches Profil hatte17 und sich 1796 zur 12 Vorerinnerung, in: Neue privilegirte Geraische Zeitung, 1. St. vom 15.07.1800, unpag. 13 Vgl. Das räsonirende Dorfkonvent, eine gemeinnützige ökonomisch-moralisch-politische Schrift für den Bürger und Landmann, Erfurt 1786–1788. 14 Holger BÖNING, Der Bote aus Thüringen, in: BÖNING/SIEGERT, Volksaufklärung, Bd. 2.1., Nr. 2534, Sp. 679. 15 Joachim von SCHWARZKOPF, Ueber Zeitungen. Ein Beytrag zur Staatswissenschaft, Frankfurt am Main: Varrentrapp und Wenner 1795, S. 122. 16 Vgl. Rudolph Zacharias BECKER, Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute, oder lehrreiche Freuden- und Trauer-Geschichte des Dorfs Mildheim. Für Junge und Alte beschrieben, Gotha: Becker 1788; Leipzig: Göschen 1788. 17 Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde oder Moralische Schilderungen der Menschen, Sitten und Staaten unsrer Zeit [ab Jg. 1788: ohne den Titelzusatz „für die Jugend …“, ab 1789: „Deutsche Zeitung oder Moralische Schilderungen der Menschen,

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„National=Zeitung der Teutschen“ wandelte.18 Und das gilt auch für Beckers überregionales Blatt „Der Reichs-Anzeiger“, der 1791 zunächst als „Der Anzeiger“ an die Öffentlichkeit getreten war und beträchtlich zum gemeinnützigen Engagement in Deutschland beitrug. Das Blatt wurde rasch berühmt und firmierte seit dem Ende des Alten Reiches 1806 als „Allgemeiner Anzeiger der Deutschen“.19 Durch Beckers Periodika und durch seine sonstigen literarischpublizistischen Aktivitäten avancierte Gotha zu einem „Hauptort volksaufklärerischer Literatur und Publizistik“20 in Deutschland. Zum Gründungszeitpunkt des „Reichs-Anzeigers“ war seit einem halben Jahrhundert in fast allen deutschen Regionen ein gemeinnützig-aufklärerisches Engagement der Gebildeten wirksam, das die Aufklärung zu einer praktischen Reformbewegung hatte werden lassen. Mit dem „Reichs-Anzeiger“ aus dem thüringischen Gotha stand nun aber ein über die territorialstaatlichen Grenzen hinausreichendes Medium der Kommunikation und Diskussion zur VerSitten und Staaten unsrer Zeit. Mit besonderer Rücksicht auf Deutschland“], (hg. von Rudolph Zacharias Becker), Bd. 1–[12] + „Schlußband“ [Register] o.O. [Gotha]: o.Verl. [Expedition der „Deutschen Zeitung“] [ab 1790 Ort und Verlag auf dem Titelblatt genannt] 1784–1795 [der „Schlußband“: o.J. (1796)]. 18 Vgl. National-Zeitung der Teutschen, hg. von Rudolph Zacharias Becker (ab 1822 Friedrich Gottlieb Becker), „Teutschland“ [d.i. Gotha: Becker], 1796–1811, 1814–1829 [von 1812– 1813 verboten]. [Vorher u.d.T.: Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, Gotha 1784 ff.; 1830 zusammengelegt mit dem „Allgemeinen Anzeiger“ und fortgeführt bis 1848 u.d.T. „Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen“. – Vgl. auch: Wolfgang MARTENS, „Laßt uns besser werden! Gleich wird's besser seyn!“ Oder Moral statt Revolution. Rudolph Zacharias Beckers „Deutsche Zeitung“ und die Französische Revolution, in: Holger BÖNING (Hg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, München u.a. 1992, S. 275–295; Reinhart SIEGERT, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem „Noth- und Hülfsbüchlein“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Sp. 565–1348. Siegert bezeichnet das Blatt dezidiert als Zeitschrift. 19 Kaiserlich privilegirter Reichs-Anzeiger [Bandtitel: Der Reichs-Anzeiger oder Allgemeines Intelligenz-Blatt zum Behuf der Justiz, der Polizey und der bürgerlichen Gewerbe im Teutschen Reiche, wie auch zur öffentlichen Unterhaltung der Leser über gemeinnützige Gegenstände aller Art. Mit Römisch-Kaiserl. allergnädigster Genehmigung und Freyheit.], hg. v. Rudolph Zacharias Becker, Jg. 1793, Bd. 2[!] – Jg. 1806, Bd. 2; je Jg. Bd. 1–2, wöchentlich 6 St. o.O. [Gotha]: o.Verl. [Becker: „Bey allen Post-Aemtern und Zeitungsexpeditionen posttäglich und in allen Buchhandlungen monatlich zu haben“] 1793 (01.07.) – 1806 (18.09.) [Vorher u.d.T.: Der Anzeiger, Gotha 1791–1793. Forts. u.d.T.: Allgemeiner Anzeiger der Deutschen, Gotha 1807–1829 (Stücktitel ab 19. Sept. 1806 bereits „Allgemeiner Anzeiger der Deutschen“)]. 20 Vgl. Holger BÖNING, Gotha als Hauptort volksaufklärerischer Literatur und Publizistik, in: Werner GREILING/Andreas KLINGER/Christoph KÖHLER (Hg.), Ernst II. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 325–344.

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fügung,21 das „für die Teutsche Nation das seyn sollte, was ein gutes IntelligenzBlatt für eine einzelne Stadt oder Provinz seyn“ würde.22 Basierend auf einem Verbund lokal und regional orientierter gemeinnützig-aufklärerischer Zeitschriften und Intelligenzblätter koordinierte die auf nationaler Ebene agierende Presse das aufklärerische Verbesserungswerk und gab so der für die deutsche Aufklärung charakteristischen Reformorientierung praktischen Ausdruck. Zugleich wurde dazu beigetragen, dass die gemeinnützig-patriotische Publizistik sich zu einer neuen Qualität entwickeln konnte.23 Bei seiner Gründung hatte sich „Der Reichs-Anzeiger“ im Übrigen ausdrücklich auf das bereits bestehende Netz lokaler und regionaler Intelligenzblätter berufen, die im geographischen Umfeld seines Erscheinungsortes besonders zahlreich waren und als Medium eines volksaufklärerischen Engagements dienten. In Thüringen entstanden seit der Mitte des 18. Jahrhunderts rund 20 längerfristig erscheinende wöchentliche Intelligenzblätter mit regionaler bzw. lokaler Ausrichtung, die sich ausdrücklich auch an die Unterschichten in Stadt und Land richteten.24 In ihrem jeweiligen Verbreitungsgebiet nahmen sie im 18. und frühen 19. Jahrhundert innerhalb des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens einen wichtigen Platz ein und erfüllten mehrere Funktionen gleichzeitig. Sie widmeten sich der politischen Berichterstattung und dienten zugleich der Aufklärung, wobei die Grenzen zwischen Nachrichten und Räsonnement oft fließend waren. In den 1790er Jahren wurde in einigen Blättern prononciert politisch diskutiert, vor allem in Bezug auf die Revolution in Frankreich. Intelligenzblätter erreichten breite, sozial differenzierte Kreise, und zwar weitgehend unabhängig von der individuellen Lesefähigkeit. Als 1811 in Sachsen-Weimar für die Gemeinden ein Zwangsabonnement des „Weimarischen Wochenblatts“ eingeführt wurde, verfügte die herzogliche Regierung ausdrücklich, „daß ein Schultheiß oder Vorsteher jeden Orts […] das Wochenblatt in einer Gemeindeversammlung deutlich vorlesen oder vorlesen lassen“ solle.25 Im 19. Jahrhundert wurden die meisten Intelligenzblätter dann in offiziöse Amts- oder gar offizielle Regierungsblätter umgewandelt, wodurch sich auch das Profil und die Wirkungsabsicht änderten. Aber selbst dann hatte die zuständige Obrigkeit zumindest verbal noch volksaufklärerische Intentionen im Blick, wenn man beispiels-

21 Vgl. ebd., S. 325 f. 22 Absicht und Inhalt des Reichs-Anzeigers. Jeweils den einzelnen Bänden vorgebunden, ebenfalls auf den Umschlagbroschuren der Einzelstücke. 23 Vgl. BÖNING, Gotha als Hauptort (wie Anm. 20), S. 327 f. 24 Vgl. Werner GREILING, „Publicitätsvehikel und Sittenspiegel“. Zur Programmatik thüringischer Intelligenzblätter. Eine Dokumentation, Weimar/Jena 2004. 25 Weimarisches Wochenblatt, Nr. 1 vom 02.01.1811, S. 1.

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weise – wie in Coburg geschehen – bei der Umwandlung „die Verbesserung dieses Wochenblattes […] und dessen mehrere Gemeinnützigkeit“26 forderte. Insgesamt ging die Erhebung zu offiziösen oder gar offiziellen Blättern, die in Thüringen bis etwa 1820 abgeschlossen war, meist aber doch mit einem Verlust an Selbständigkeit, Nachrichtensubstanz, kritischem Räsonnement und volksaufklärerischem Impetus einher. Dies bedeutete aber nicht, dass volksaufklärerische Periodika nunmehr aus der Medienlandschaft Thüringen verschwanden. Vielmehr kam es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu weiteren Neugründungen, zu denen unter anderen „Der Thüringer Volksfreund“ (1829– 1831), verlegt von Friedrich Johannes Frommann (1797–1886) in Jena und herausgegeben von Karl Herzog (1798–1857), sowie das von Carl Joseph Meyer (1796–1856) gegründete Periodikum „Der Volksfreund. Ein Blatt für Bürger in Stadt und Land“ (1832) gehörten. Der Fokus dieses halbwöchentlich erscheinenden Blattes lag bereits „allein auf einer politischen Aufklärung des ‚Volkes‘ “, und der Herausgeber forcierte „in erheblichem Maße eine politisierte Aufklärung im Sinne des Liberalismus“.27 Ein Jahrzehnt später widmete sich ein „Allgemeines Volksblatt der Deutschen. Dem Bürger und Landmann zur Belehrung und Unterhaltung“ (1844– 1846) den Zielen der Volksaufklärung, ähnlich wie der „Deutsche Stadt- und Landbote“.28 Ersteres Periodikum wurde von Carl von Pfaffenrath (1792– 1853), Kammerherr und Schlosshauptmann in Saalfeld, und dem Pfarrer Georg Heinrich Schwerdt (1810–1888) geführt. Schwerdt, der als Hauptredakteur angesehen werden kann, entstammte einem protestantischen Pfarrhaus, studierte in Jena und Leipzig Theologie und war neben seinen theologischen Ämtern bereits seit den 1830er Jahren auch schriftstellerisch tätig. Er durchlief eine für die Repräsentanten der Volksaufklärung typische Biographie und war vielfach um die geistige und moralische Verbesserung der Untertanen bemüht. Hierzu veranstaltete er Leseabende für die Angehörigen seiner Gemeinde, gründete 1838 eine Volksbibliothek und rief später sogar eine Fortbildungs- und Handwerkerschule ins Leben. Neben seinen publizistisch-volksaufklärerischen Interessen hegte er auch direkt politische Ambitionen. In seinem Wochenblatt warb Schwerdt 1846 beispielsweise für die Gründung eines „Vereins deutscher Volksfreunde zur Förderung der Volksbildung und Volkswohlfahrt“.29 Von 1865 bis 1869 saß er dann sogar im Landtag von Sachsen-Gotha. 26 Staatsarchiv Coburg, Staatsministerium, Nr. 1166, Schreiben vom 17.03.1802, Bl. 5. 27 Alexander KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (1815–1848), Köln/ Weimar/Wien 2013, S. 242. 28 Vgl. ebd., S. 101 u. 325–419. 29 Vgl. Heinrich SCHWERDT, Aufruf an die deutschen Volksfreunde, in: Allgemeines Volksblatt der Deutschen. Dem Bürger und Landmann zur Belehrung und Unterhaltung 3 (1846), Nr. 1, S. 1–4.

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Pfaffenraths und Schwerdts „Allgemeines Volksblatt der Deutschen“ stellte sich eindeutig in die volksaufklärerische Tradition und prägte auch ein entsprechendes Profil aus. Nachdem die Herausgeber ihr Blatt bereits wenige Wochen nach der Gründung „durch besondere Verhältnisse“30 vom ursprünglichen Verlagsort Arnstadt nach Saalfeld zu Johann Friedrich Wiedemann verlegten, wandten sie sich mit dieser Information an ihre Leser, erläuterten ihre Absicht, „auch in den niedern Hütten […] die Bildung und Wohlfahrt des lieben Volkes“ zu fördern, und baten „alle Volksgenossen und Volksfreunde auf das Angelegentlichste, unser gemeinnütziges Unternehmen gütigst zu unterstützen“.31 Zum Kreis thüringischer Volksaufklärer in der Mitte des 19. Jahrhunderts zählten aber auch Männer wie der Pädagoge, Publizist und Schulreformer Karl Ludwig Nonne (1785–1854), der in seinen Bestrebungen vom eigenen Fürsten, Herzog Bernhard II. Erich Freund von Sachsen-Meiningen nachhaltig unterstützt wurde,32 William Löbe (1815–1891) und der Landwirt und Autor Zacharias Kresse (1800–1876), die für ihre Reformvorschläge für die Landwirtschaft von Herzog Joseph von Sachsen-Altenburg sogar eine Geldzuwendung erhielten,33 sowie Theodor Wohlfahrt (1795–1879), der als Pfarrer in Kirchhasel den im „Volk“ noch bestehenden Aberglauben bekämpfte und selbiges zu einer rationalen Denkweise zu bewegen suchte.34 Und in einem weiteren Sinne kann man auch den Rentamtmann Karl Benjamin Preusker (1786–1871) hinzuzählen, der in der sächsischen Kleinstadt Großenhain die erste Volksbibliothek Deutschlands gegründet hatte und in den 1830er und 1840er Jahren mit zahlreichen populären Schriften, die sich vor allem mit Fragen der Volks- und Jugendbildung befassen, hervorgetreten ist.35 Insgesamt kann also kein Zweifel daran bestehen, „dass die Volksaufklärung im gesamten Thüringer Raum im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht an Intensität verlor“ und „dass die Produktion volksaufklärersicher Lektüre kontinuierlich angestiegen ist“.36 Jene Generation, die um die Wende zum 19. Jahrhundert geboren wurde und bis in dessen Mitte publizistisch aktiv war, brachte in Thüringen wiederum namhafte Protagonisten hervor, ohne allerdings auf absolute „Bestsellerautoren“ wie Becker und Salzmann verweisen zu können. Zugleich ist festzuhalten, dass der „Pakt“ zwischen den Volksaufklärern 30 31 32 33 34 35

Allgemeines Volksblatt der Deutschen, Nr. 7 vom 17.02.1844, S. 49. Ebd. Vgl. KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (wie Anm. 27), S. 146 f. Vgl. ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 159–166. Vgl. Felicitas MARWINSKI, Karl Benjamin Preusker (1786–1871). Chronologie seines Lebens und Wirkens. Mit einer Bibliographie seiner Schriften und der über ihn erschienenen Literatur, Großenhain 1986. 36 KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (wie Anm. 27), S. 539.

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und der Obrigkeit trotz Politisierung und Herausforderung durch die Französische Revolution eben doch noch nicht vollständig und überall aufgekündigt worden ist.37 Dies zeigen beispielhaft die Ehrungen für Nonne bzw. für Löbe und Kresse.

2. Die Reformation als Medienereignis und Medienrevolution Nach wie vor gilt die Reformation als ein wichtiges Ereignis der vormodernen deutschen Geschichte, mit dem Veränderungen in Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in Zusammenhang gebracht werden. Die Fülle der Publikationen und die Zahl der Deutungsangebote zu den Ursachen, zum Verlauf und zu den Wirkungen der Reformation sind überwältigend.38 Besonders die kurzund langfristigen „Folgen“ von Luthers Lehre und die daran anschließenden Entwicklungen haben unzählige Untersuchungen inspiriert, die sich sowohl der deutschen als auch der europäischen und weltgeschichtlichen Dimension widmen. Bei der Würdigung und Beurteilung Luthers und der Reformation ist „die besonders enge Verflechtung zwischen den historischen Zusammenhängen im engeren Sinne und deren realgeschichtliche oder imaginierte Wirkung zu berücksichtigen“, wobei hinsichtlich der längerfristigen Folgen allerdings zu beachten ist, „dass gerade die tiefgreifenden kulturellen und sozialen Grundsatzveränderungen eher von Luther ungewollt waren, ja häufig gegen seine ursprüngliche Absicht eintraten“.39 Die Entstehung der Reformation sowie ihre Ausbreitung und Verfestigung war untrennbar mit dem mitteldeutschen Raum und insbesondere mit dem Territorium Thüringens verbunden. Um das Jahr 1520 beanspruchten in den Grenzen des heutigen Freistaates zwölf reichsständische Herrschaftsträger bzw. Institutionen territoriale Autonomie. In Thüringen und im benachbarten Sachsen-Anhalt sowie mit Abstrichen auch in Hessen und Sachsen hat sich die 37 Reinhart Siegert meint hingegen, dass mit der Französischen Revolution der Pakt zwischen den Volksaufklärern und der Obrigkeit weitgehend aufgekündigt und die Protagonisten „durch fehlende Unterstützung oder sogar Repressalien vieler Staaten in Bedrängnis gebracht“ worden seien. Diese Beispiele gibt es in der Tat, aber eben auch jene positiven wie Herzog Bernhard II. Erich Freund von Sachsen-Meiningen und Herzog Joseph von Altenburg. Vgl. BÖNING/SIEGERT, Volksaufklärung, Bd. 2.1., S. XLI. 38 Vgl. u. a. Volker LEPPIN, Die Reformation, Darmstadt 2013; Thomas KAUFMANN, Geschichte der Reformation, Frankfurt am Main/Leipzig 2009; Matthias POHLIG (Hg.), Reformation, Stuttgart 2015. 39 Heinz SCHILLING, Martin Luther 1517/2017, in: DERS. (Hg.), Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme, Berlin/München/Boston 2014, S. VII–XVIII, hier S. XI.

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Reformation so rasch, erfolgreich und flächendeckend wie in keiner anderen europäischen Region ausgebreitet. Insofern ist Thüringen ein Kernland der Reformation, was auf die herausragende Rolle der ernestinischen Kurfürsten sowie auf die überregionale Strahlkraft der Städte Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen zurückzuführen ist. Für die Anfänge und Rezeption der evangelischen Bewegung, die Außenwahrnehmung, die irreversible Ausbreitung der Bewegung in Stadt und Land sowie für den Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens seitens verschiedener Herrschaftsträger – und keineswegs nur des ernestinischen Kurfürstentums – kann Thüringen geradezu den Anspruch auf Singularität und das Label der Pionierregion der lutherischen Reformation erheben.40 Und auch ihr führender Protagonist Martin Luther war aufs Engste mit dieser Region verbunden.41 Die Reformation gilt als erstes welthistorisches Ereignis, dessen Verlauf ohne die Technologie des Buchdrucks mit beweglichen Lettern und die damit produzierten Printmedien nicht denkbar gewesen wäre.42 Erst das Entstehen einer reformatorischen Öffentlichkeit und eine breite, über den Kreis der Reformatoren und ihrer Gegner hinausreichende Rezeption der neuen Lehre verliehen ihr seit 1517 jene Durchschlagskraft, die zur Veränderung der Kirche und der Gesellschaft führte. Zwar war die mündliche Vermittlung von Informationen, nicht zuletzt mittels der Predigt, nach wie vor von großer Bedeutung. Doch wurde diese zunehmend von gedruckten Medien ergänzt, die es möglich machten, auch über große Entfernungen hinweg zu kommunizieren, die „regionalen und lokalen Öffentlichkeiten des Mittelalters“43 gleichsam zu entgrenzen und die Kommunikation zudem zu beschleunigen. Die Menschen konnten zeitnah über das Geschehen informiert werden, wodurch sich das Lesepublikum eine Meinung bilden und sich eine öffentliche Meinung ausprägen konnte.44 Dabei war der reformatorischen Öffentlichkeit eine besondere Form von öffentlicher Struktur eigen, denn sie war „einerseits monothematisch auf die

40 Vgl. Werner GREILING/Uwe SCHIRMER, Thüringen im Jahrhundert der Reformation. Kulturell-religiöser Wandel zwischen dem Ende des 15. und Beginn des 17. Jahrhunderts – Konturen eines Forschungsvorhabens, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 67 (2013), S. 315–331, hier S. 315. 41 Vgl. Volker LEPPIN, Martin Luther und Thüringen, in: Werner GREILING/Uwe SCHIRMER/Ronny SCHWALBE (Hg.), Der Altar von Lucas Cranach d. Ä. und die Kirchenverhältnisse im Zeitalter der Reformation, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 43–57; Ulmann WEIß, Luther und Thüringen, Jena 2015. 42 Vgl. u. a. Andreas WÜRGLER, Medien in der Frühen Neuzeit, München 2009, S. 16. 43 Jürgen WILKE, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 38. 44 Vgl. KAUFMANN, Geschichte der Reformation (wie Anm. 38), S. 102.

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Reformation bzw. [den] Glauben limitiert, und sie war andererseits auf eine kurze Phase […] begrenzt“.45 Das Kommunikations- und Mediensystem, welches während des 16. Jahrhunderts existierte, war eine Grundbedingung für die Bildung der reformatorischen Öffentlichkeit, in welcher die Auseinandersetzung mit der reformatorischen Lehre innerhalb eines großen Publikums in einem öffentlichen Raum stattfand.46 Das Ziel der neuen Medien war dabei nicht in erster Linie Wissensvermittlung wie noch im Humanismus, sondern Meinungsbildung bzw. Beeinflussung der Öffentlichkeit. Das Volk sollte in das reformatorische Geschehen einbezogen werden.47 Für die neue Medientechnologie, den Buchdruck mit beweglichen Lettern, war die Reformation ein einzigartiger Praxistest, der mit Bravour bestanden wurde und ihre Ausbreitung enorm beschleunigte. Deshalb gilt die Reformation als eine „Medienrevolution“, in der „sich Wort, Schrift und Handeln zu einer Kraft [vereinigten], die der Wirklichkeit eine neue Gestalt gab und historisch wirksam wurde“.48 Zugleich kann man die Reformation auch als frühes Beispiel eines Medienbzw. eines Kommunikationsereignisses fassen,49 wurde das zunächst außermediale Geschehen doch intensiv, dicht und lang anhaltend in den neuen Medien thematisiert. Diese dienten seit 1518/19 zugleich dazu, die Reformation voranzutreiben. Die wichtigsten Mediengattungen am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren das Buch, die Flugschrift und das Flugblatt. Dabei waren Flugschrift und Flugblatt zwar keine Erfindungen der Reformationszeit,50 verdanken dieser aber ihren enormen Aufstieg. Die Flugschriften avancierten zum medialen Hauptträger des lutherischen Gedankenguts.51 Diese Kleindrucke hatten einen Umfang von mehreren Seiten, waren nicht gebunden und erschienen nichtperiodisch. Sehr vorteilhaft war die preisgünstige und 45 WÜRGLER, Medien in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 42), S. 21. 46 Rainer WOHLFEIL, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982, S. 123. 47 Vgl. ebd., S. 123 u. 126. 48 Hans-Jürgen GOERTZ, Deutschland 1500–1648. Eine zertrennte Welt, Paderborn 2004, S. 101. 49 Vgl. Berndt HAMM, Die Reformation als Medienereignis, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 11 (1996), S. 137–166. 50 Jutta KRAUß, „Laufzettelein, die sich selbst auf die Beine bringen“ – Die ersten Massenmedien, in: DIES. (Hg.), Beyssig sein ist nutz und not. Flugschriften zur Lutherzeit. Ein kurzweiliger Begleiter durch den „Blätterwald“ der Sonderausstellung vom 6. August bis zum 31. Oktober 2010 auf der Wartburg [Wartburgstiftung; hg. v. Jutta Krauß], Regensburg 2010, S. 7–24, hier S. 7. 51 Heike TALKENBERGER, Kommunikation und Öffentlichkeit in der Reformationszeit. Ein Forschungsreferat 1980–1991, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 6. Sonderheft: Forschungsreferate 3 (1994), S. 1–26, hier S. 2.

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rasche Produktion einer großen Anzahl von Exemplaren. In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts waren die Flugschriften in den meisten Fällen nicht umfangreicher als acht Seiten und meist im Quartformat gedruckt. In der Regel ziert das Titelblatt eine Illustration.52 Als Zentren des Flugschriftendrucks gelten Augsburg, Wittenberg, Nürnberg, Straßburg, Basel und Leipzig.53 Politische, religiöse, amtliche, naturkundliche und literarische Inhalte wurden aber auch als Flugblätter publiziert.54 Sie bestanden in der Regel nur aus einem Blatt, das beidseitig bedruckt war und meist eine Kombination aus Bild und Text enthielt. Dadurch eigneten sich diese „Einblattdrucke“ in besonderem Maße für kurze Botschaften mit propagandistischem bzw. agitatorischem Charakter.55 Zur quantitativen Dimension der Reformationspublizistik seien einige wenige Zahlen genannt. An Flugschriften erschienen zwischen 1501 und 1530 circa 10.000 Ausgaben.56 Geht man von einer durchschnittlichen Auflagenhöhe von 1.000 Exemplaren aus, so ergibt dies die enorme Gesamtmenge von zehn Millionen Exemplaren. Dies war bei einer geschätzten Einwohnerzahl des Reiches von zwölf Millionen etwa ein Exemplar pro Einwohner.57 Da man für die gesamte Frühe Neuzeit bei derartigen Druckschriften von einer Mehrfachlektüre ausgeht, die in jedem Fall im zweistelligen Bereich gelegen haben dürfte, ist der Rezeptionsumfang des reformatorischen Schrifttums enorm. Allein im Jahr 1524 mit einem besonders hohen Druckaufkommen erschienen etwa 2.400 Flugschriftendrucke in einer Gesamtauflage von circa 2,4 Millionen Exemplaren. Das waren mehr als 16 Prozent der Gesamtproduktion der drei Jahrzehnte zwischen 1501 und 1530. Für den Zeitraum von 1520 bis 1526 kann man von einem regelrechten Produktionsboom sprechen, während dessen fast Dreiviertel der Gesamtproduktion erschienen sind, also 11.000 Schriften bzw. elf Millionen Exemplare. Das durchschnittliche Produktionsvolumen dieser Jahre war etwa 52 Vgl. Hans-Joachim KÖHLER, Die Flugschriften. Versuch einer Präzisierung eines geläufigen Begriffs, in: Horst RABE/Hansgeorg MOLITOR/Hans-Christoph RUBLACK (Hg.), Festgabe für Ernst Walther Zeeden zum 60. Geburtstag, Münster 1976, S. 36–61, hier S. 50. 53 Vgl. HAMM, Die Reformation als Medienereignis (wie Anm. 49), S. 142. 54 Vgl. WILKE, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte (wie Anm. 43), S. 19. 55 WÜRGLER, Medien in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 42), S. 18. 56 Diese und die folgenden Zahlen basieren auf: Hans-Joachim KÖHLER: Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Volker PRESS/Dieter STIEVERMANN (Hg.), Martin Luther, Probleme seiner Zeit, Tübingen 1986, S. 244–281. 57 Jutta Krauß spricht zwischen 1520–1526 von ca. 11.000 Flugschriftdrucken, d. h. über 11 Mio. Exemplaren. Sie betont vor allem die Sprache: „Ab 1519 stieg innerhalb von drei Jahren die Produktion deutscher Publikationen um 700% und kehrte das bisherige Verhältnis von 28% deutschen gegenüber 72% lateinischen Schriften völlig um.“ KRAUß, „Laufzettelein, die sich selbst auf die Beine bringen“ (wie Anm. 50), S. 17 u. 22.

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viermal so hoch wie 1518/19.58 Nach dem Ende des Bauernkrieges ging die Flugschriftenproduktion wieder deutlich zurück, war jedoch in ihrem Durchschnittswert noch immer zwanzig Mal so hoch wie vor 1518. In den Jahren 1530 und 1546/47 zeigten sich dann erneut Ausschläge nach oben.59 Die Flugblattproduktion entfiel vor allem auf Nürnberg (32 Prozent) und Augsburg (27 Prozent). Zusammen mit Straßburg und Frankfurt am Main wurden allein in diesen Städten 72 Prozent aller bekannten Flugblätter gedruckt.60 Die Auflagenhöhe variierte dennoch stark. Luthers Thesen vom Ablass liefen schier in 14 Tagen durch ganz Deutschland […]. Sein erster deutscher Sermon von Ablaß und Gnade wurde zwischen 1518 und 1520 25 Mal gedruckt, die 4000er Auflage seiner am 18. August 1520 erschienenen Adelschrift war binnen fünf Tagen ausverkauft und brachte es auf 14 Nachdrucke, Von der Freiheit eines Christenmenschen erschien in 18 Auflagen.61

Hinsichtlich der Verfasserschaft ist im Bereich der Flugschriften Martin Luther der mit Abstand erfolgreichste Autor. Allein von 1518 bis 1525 erschienen von seinen deutschsprachigen Flugschriften 1465 (Nach) drucke. Das waren mehr als doppelt so viele, wie die nächsten zwanzig Plätze auf der Bestsellerliste gemeinsam aufweisen konnten, darunter Namen wie Andreas Karlstadt, Philipp Melanchthon, Huldrych Zwingli und Hans Sachs.62

Luthers Septembertestament (von 1522) erschien zunächst in einer Auflage von 5.000 Stück und erlebte in den Jahren von 1522 bis 1525 stolze 42 Neuauflagen. Die Anzahl der gedruckten Exemplare dürfte seine erfolgreichsten Flugschriften noch übertroffen haben. Von der Gesamtausgabe der Bibel in deutscher Übersetzung wurden zwischen 1534 und 1546 mehr als 100.000 Exemplare verkauft. Aus jeglichem Betrachtungswinkel kann man somit konstatieren, dass die Verschränkung von Buchdruck und Reformation außerordentlich intensiv war.

58 Vgl. WÜRGLER, Medien in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 42), S. 22. 59 KÖHLER, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit (wie Anm. 56), S. 249–251. Ebenso WÜRGLER, Medien in der Frühen Neuzeit, (wie Anm. 42), S. 23 f.: „Die gesamte Buchproduktion (also nicht nur die Neuerscheinungen) wuchs dabei von 1500 bis 1600 um das Zwanzigfache, während sich die Bevölkerung im Reich nur knapp verdoppelte auf 20 Millionen. Ob allerdings gleich viele Leute mehr Bücher kauften oder mehr Leute gleichviele Bücher, bleibt offen.“ 60 WÜRGLER, Medien in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 42), S. 18. 61 KRAUß, „Laufzettelein, die sich selbst auf die Beine bringen“ (wie Anm. 50), S. 21. Vgl. Johannes SCHWITALLA, Flugschrift, Tübingen 1999, S. 30 und dazu die Auflagenzahlen bei Thomas HOHENBERGER, Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521–22, Tübingen 1996, S. 25–31. 62 WÜRGLER, Medien in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 42), S. 20.

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Rund 98 Prozent der Flugschriften jener Zeit behandelten auch theologische Fragen, und zwar in der Mehrzahl aus protestantischer Perspektive.63 Die Verbreitung und letztendliche Etablierung bzw. Akzeptanz der Reformation erfolgte allerdings regional sehr unterschiedlich. Dies hing nicht zuletzt mit der Verfügbarkeit der genannten Medien und mit der Möglichkeit, sie vor Ort bzw. in der Region herzustellen, zusammen. Nach Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg 1450 in Mainz kann man zwar generell von einer vergleichsweise raschen Ausbreitung der neuen Technik sprechen. Dennoch vergingen bisweilen mehrere Jahrzehnte, bis sich zumindest in den größeren Städten Buchdrucker niedergelassen und eine Konzession erhalten hatten.64 Diese Entwicklung war 1517 noch keineswegs abgeschlossen, und in Thüringen war es allein die Stadt Erfurt, die um 1500 über die technischen Grundlagen zur Verbreitung der lutherischen Lehre in gedruckter Form verfügte.65 Dies hatte nicht zuletzt mit den Bedürfnissen der Universität und dem Wirken herausragender Gelehrter zu tun, die zur frühzeitigen Ansiedlung eines Buchdruckers geführt hatte. Als erster von ihnen gilt Wolfgang Schenck,66 der 1498 eine Werkstatt einrichtete und im Jahr darauf seine Arbeit als Buchdrucker aufnahm.67 Betrachtet man nun das in Erfurt gedruckte reformatorische Schrifttum, so gewinnt man den Eindruck, dass man der Reformation und Martin Luther bis 1519 zunächst nur ein geringes Interesse entgegenbrachte. Mit Luthers Teilnahme an der Leipziger Disputation veränderte sich dann die gesamte reformatorische Bewegung, wenngleich der Ausstoß an reformatorischen Publikationen noch immer recht gering blieb. Erst 1521 beschleunigte sich nicht nur die Dynamik der reformatorischen Bewegung, sondern – aufgrund des Wormser Reichstags und des anschließend erlassenen Edikts – auch die Erfurter Medienproduktion. Die Jahre 1522 bis 1524 wurden zum produktivsten Zeitraum in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, mit durchschnittlich mehr als 100 Titeln pro Jahr. Der Bauernkrieg brachte dann wieder einen erheblichen Rückgang der Medienproduktion in Erfurt mit sich. Insgesamt, und das verdeutlicht eine neue

63 Vgl. ebd. 64 Stefan FÜSSEL, Johannes Gutenberg, Hamburg 1999, S. 30. 65 Bernd MOELLER, Erfurts Bedeutung als Kommunikationszentrum der frühen Reformation, in: Erfurt. Geschichte und Gegenwart, hg. von Ulman WEIß, Weimar 1995, S. 275– 282, hier S. 276. 66 Vgl. Herbert KUNZE, Das Erfurter Kunsthandwerk, Erfurt 1929, S. 68. 67 Vgl. Ferdinand GELDNER, Die deutschen Inkunabeldrucker. Ein Handbuch der deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts nach Druckorten, Bd. 1: Das deutsche Sprachgebiet, Stuttgart 1968, S. 216.

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Arbeit über den Zeitraum zwischen 1499 und 1547 eindrucksvoll, kann Erfurt als ein frühes Zentrum der reformatorischen Medienproduktion gelten.68

3. Reformation und Volksaufklärung An Forschungsliteratur zur Wirkungsgeschichte und Rezeption der Reformation und ihres Protagonisten Martin Luther besteht kein Mangel. Die Betrachtung von „Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte“69 durch Heinrich Bornkamm zählt ebenso zu den Standardtiteln wie Ernst Walter Zeedens Zweibänder über „Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums“.70 Auch Wolfgang Brückners Handbuch zur Tradierung von Erzählstoffen mit dem Titel „Volkserzählung und Reformation“ tangiert die Rezeptionsgeschichte der Reformation.71 Und gelegentlich sind auch Spezialbereiche in den Blick genommen worden wie das Begriffspaar „Protestantismus und radikale Spätaufklärung“. Unter diesem Titel widmete sich Volker Mehnert der „Beurteilung Luthers und der Reformation durch aufgeklärte deutsche Schriftsteller zur Zeit der französischen Revolution“,72 in einer historischen Epoche also, die auch für die Volksaufklärung von großem Interesse ist. In der Fülle der Darstellungen zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Reformation73 findet sich jedoch keine größere Untersuchung, die deren Ver68 Vgl. Vivien STAWITZKE, Reformation und Buchdruck. Erfurt als frühes Medienzentrum (1499–1547), Jena 2016 (im Druck). 69 Heinrich BORNKAMM, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Heidelberg 1955. 70 Ernst Walter ZEEDEN, Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit, 2 Bde., Freiburg 1950. 71 Wolfgang BRÜCKNER (Hg.), Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, Berlin 1974. 72 Volker MEHNERT, Protestantismus und radikale Spätaufklärung. Die Beurteilung Luthers und der Reformation durch aufgeklärte deutsche Schriftsteller zur Zeit der französischen Revolution, Diss. Bremen 1982, München 1982. 73 Vgl. u. a. Werner CONZE, Zum Verhältnis des Luthertums zu den mitteleuropäischen Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert, in: Bernd MOELLER (Hg.), Luther in der Neuzeit. Wissenschaftliches Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte, Gütersloh 1983, S. 178–193; Jörg ECHTERNKAMP, „Religiöses Nationalgefühl“ oder „Frömmelei der Deutschtümler“? Religion, Nation und Politik im Frühnationalismus, in: Heinz-Gerhard HAUPT/Dieter LANGEWIESCHE (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 142–169; Manfred JACOBS, Die Entwicklung des deutschen Nationalgedankens von der Reformation bis zum deutschen Idealismus, in: Horst

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hältnis zur Reformation systematisch und in all seinen Facetten thematisiert. Hierzu liegen bislang lediglich wenige kleinere Studien vor, die aber dennoch deutlich machen, dass sich eine eingehende Betrachtung der Art und Weise, wie sich die Volksaufklärer zur Reformation in Beziehung setzten, wie sie diese rezipierten und wie sie sie für ihr Erziehungs- und Bildungsprogramm auch instrumentalisierten, durchaus lohnt und interessante Einsichten verspricht.74 Dabei lassen sich zwischen Reformation und Volksaufklärung zahlreiche Parallelen in struktureller Hinsicht erkennen. Zunächst einmal war die quantitative Dimension des publizistischen Engagements der Volksaufklärer ähnlich beträchtlich wie jenes der Reformation. Das einschlägige Biobibliographische Handbuch von Holger Böning und Reinhart Siegert weist für den Zeitraum bis 1780 immerhin 1.494 Eintragungen auf.75 In den zwei Jahrzehnten von 1781 bis 1800 kamen weitere 3.953 hinzu.76 Und im dritten Band, der das volksaufklärerische Schrifttum nach 1800 erfasst, sind für die Jahrzehnte bis 1860 insgesamt 5.172 Titel erfasst.77 Dabei blieben aus pragmatischen Gründen die Periodika sogar ausgeklammert, also all jene Zeitungen, Zeitschriften und Kalender, welche einen Volksaufklärer zum Herausgeber hatten.78 Für die Zeit nach 1860 ist

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ZILLEßEN (Hg.), Volk – Nation – Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 1970, S. 51–110; Walther KILLY, Luther in der trivialen Erzählung, in: MOELLER (Hg.), Luther in der Neuzeit (wie Anm. 73), S. 284–298; Joachim KRUSE, Luther-Illustrationen im frühen 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 194–226; Thomas K. KUHN, Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung, Tübingen 2003; Johann Baptist MÜLLER (Hg.), Luther und die Deutschen. Texte zur Geschichte und Wirkung, Stuttgart 1983; Reinhart SIEGERT, Volksaufklärung in den katholischen Ländern des deutschen Sprachraums. Mit dem Versuch einer konfessionsstatistischen Topographie, in: SCHMITT u.a. (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie (wie Anm. 5), S. 179– 220. Vgl. Alexander KRÜNES, Luther als Vorkämpfer der Aufklärung? Die Reformation als Bestandteil volksaufklärerischer Publizistik in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 65 (2011), S. 157–180; DERS., Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (wie Anm. 27); Werner GREILING, Volksaufklärung und Reformation. Die Luther-Biographie des Johann Ernst Daniel Bornschein, in: Jens BEGER (Hg.), Hessen und Thüringen. Festschrift für Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag, Jena 2013, S. 191–206. Vgl. BÖNING/SIEGERT, Volksaufklärung, Bd. 1. Vgl. ebd., Bd. 2.1. und 2.2. Vgl. ebd., Bd. 3.1.–3.4. Im Anhang 3 von BÖNING/SIEGERT, Volksaufklärung, Bd. 3.4. sind rund 800 „Zeitschriften des 19. Jahrhunderts“ und im Anhang 4 etwa 420 „Kalender des 19. Jahrhunderts“ aufgelistet, die zusätzlich die gewaltige Dimension des periodischen Schrifttums der Volksaufklärung erahnen lassen. Vergleichbares hierzu gab es während der Reformation noch nicht. Vgl. ebd., Sp. 3573–3664 und Sp. 3665–3706.

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das Schrifttum dann nicht mehr systematisch erfasst. Dennoch bietet Siegert allein für das ausgehende 19. Jahrhundert noch Hunderte „Fundstücke“.79 Es ist von einem publizistischen Gesamtaufkommen von weit mehr als 10.000 Titeln auszugehen, mit einer Vielfalt der Gattungen, mit zahlreichen ausgesprochen voluminösen Werken und mit einer Gesamtauflage in einem deutlich zweistelligen Millionenbereich. Verfasst wurde dieses Schrifttum von mehreren tausend Autoren, unter denen sich zahlreiche Geistliche befanden.80 Viele von ihnen stellten sich mit ihren volksaufklärerischen Bemühungen in eine publizistische Traditionslinie, die bis zur Reformation zurückreicht. In Anlehnung an die Reformatoren, die ihren Glauben und ihre Überzeugungen durch Flugblätter und Flugschriften öffentlichkeitswirksam kommunizierten, nutzten sie bewusst Bücher und Periodika als effiziente Medien einer breit angelegten Belehrung und Wissensvermittlung. Hinzu kamen noch Aktivitäten im Vereins- und Sozietätswesen sowie das Vorlesen in geselliger Runde. Aber auch Predigten und Kanzelreden kamen in volksaufklärerischer Absicht zum Einsatz. Von den 3.953 Publikationen, die die Bibliographie von Holger Böning und Reinhart Siegert zum volksaufklärerischen Schrifttum zwischen 1781 und 1800 enthält, führen immerhin 112 das Wort „Predigt“ bzw. „Predigen“ oder „Prediger“ im Titel, das sind knapp drei Prozent. Nach 1800 ging dieser Anteil sukzessive zurück, mit 36 von 1.758 Titeln (ca. zwei Prozent) zwischen 1801 und 1820 sowie lediglich zwölf von 1.340 Einträgen (0,9 Prozent) zwischen 1821 und 1840. Diese sinkende Tendenz hat auch damit zu tun, dass der Anteil der Geistlichen an der Volksaufklärung seit den 1820er und 1830er Jahren rückläufig war. Verfolgt man den quantitativen Anstieg der volksaufklärerischen Publizistik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insgesamt, dann wird ersichtlich, dass auch im Thüringer Raum die Dorfgeistlichen ihr volksaufklärerisches Engagement deutlich ausdehnten. Es waren viele Geistliche und davon wiederum 79 Vgl. ebd., Sp. 3145–3447. 80 Vgl. Luise Schorn-SCHÜTTE, Zwischen ‚Amt‘ und ‚Beruf‘: Der Prediger als Wächter, ‚Seelenhirt‘ oder Volkslehrer. Evangelische Geistlichkeit im Alten Reich und in der schweizerischen Eidgenossenschaft im 18. Jahrhundert, in: DIES./Walter SPARN (Hg.), Evangelische Pfarrer. Zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18. bis 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. 1–35; Reinhart SIEGERT, Pfarrer und Literatur im 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 169–184; DERS., Die „Volkslehrer“. Zur Trägerschicht aufklärerischer Privatinitiative und ihren Medien, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 1 (1999), S. 62–86; DERS., Theologie und Religion als Hintergrund für die „Leserevolution“ des 18. Jahrhunderts, in: Hans-Edwin FRIEDRICH/Wilhelm HAEFS/Christian SOBOTH (Hg.), Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontation – Kontroversen – Konkurrenzen, Berlin/New York 2011, S. 14–31.

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zahlreiche Landpfarrer, die die Volksaufklärung personell getragen und sich enorm für die Popularisierung rationaler Denk- und Lebensweisen eingesetzt haben. Diese wiederum sollten als Grundlage zur Verbesserung der ökonomischen Lebenssituation der ländlich-kleinstädtische Bevölkerung dienen, wofür mit Hilfe publizistischer Mittel intensiv geworben wurde. Das Plädoyer für rationale Lebensprinzipien schloss vielfach einen engagierten Kampf gegen den weit verbreiteten Aberglauben ein. Da sich jedoch auch in Thüringen der Bürger und Landmann nicht ohne Weiteres zur Annahme einer vernunftorientierten Lebensgestaltung bereit zeigte, setzten sich die entsprechenden Bemühungen der Volksaufklärer noch lange fort. Auch hier gab es kein „Auslaufen“ der Bewegung um 1800, sondern einen breiten Strom volksaufklärerischer Publizistik bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dass neben einer eindrucksvollen quantitativen Dimension auch herausragende Qualität zu konstatieren ist, wurde mit dem Verweis auf Namen wie Salzmann und Becker, Meyer und Nonne oder auch Pfaffenrath und Schwerdt eingangs bereits betont. Diese und einige weitere Namen hatten einen hervorragenden Klang und Vorbildcharakter weit über Thüringen hinaus. Thüringen war also nicht nur Kernland der Reformation, sondern auch ein Zentrum der Volksaufklärung. Sie stellte sich in die Tradition der Reformation und hat diese in Teilen auch instrumentalisiert. Unter den geistlichen Volksaufklärern befanden sich vor allem protestantische Theologen, doch machte die Bewegung im Süden und Westen Deutschlands auch vor katholischen Priestern keineswegs halt.81 Angesichts einer klaren evangelischen Mehrheit und angesichts deren intensiven Engagements verwundert es nicht, dass im Schrifttum der Volksaufklärung auch die Reformation und ihr führender Protagonist Martin Luther thematisiert wurden. Viele Volksaufklärer, deren theologische „Fraktion“ mehrheitlich dem theologischen Rationalismus zuzurechnen ist, waren der Überzeugung, dass bereits mit der Reformation eine allgemeine Verbesserung der Lebenssituation des gemeinen Mannes eingetreten sei. Man zeigte sich davon überzeugt, dass Luther und seine Mitstreiter, ähnlich wie seit dem frühen 18. Jahrhundert die Aufklärer, den Prinzipien der Vernunft gefolgt seien. Die Reformation habe die Grundlagen für die Aufklärung gelegt. Erst der entstehende Protestantismus hätte neue Denkprozesse eingeleitet und damit die Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Modernisierung geschaffen. Es wird also eine inhaltliche Parallelität zwischen Reformation und Aufklärung unterstellt, die den Volksaufklärern wiederum Legitimation für eine intensive Beschäftigung mit dem Geschehen im frühen 81 Vgl. die Beiträge von Reinhart SIEGERT und Jochen KRENZ in diesem Band sowie Jochen KRENZ, Konturen einer oberdeutschen kirchlichen Kommunikationslandschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Bremen 2012.

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16. Jahrhundert und mit der „Lichtgestalt“ Martin Luther bot, zentrale Inhalte der lutherischen Theologie wie die Fragen von Gnade und Rechtfertigung aber weitgehend ausblendeten.82 Dabei zog die von den Volksaufklärern verwendete Lichtmetapher eine Parallele zum „siècle des lumières“. Für die Taten des Reformators und für die Formierung der evangelischen Kirche wird immer wieder das Symbol des „Lichtes“ bemüht. Luther und die Reformation werden als Überwindung einer Epoche der Finsternis gepriesen, die von der katholischen Kirche verursacht worden sei. Volksaufklärerische Darstellungen zur Reformation und zum Wirken führender Reformatoren wie Luther, Melanchthon oder Bugenhagen benutzen Begriffe wie „Licht“, „Wahrheit“ und „Aufklärung“. Der vorreformatorischen katholischen Kirche hingegen werden Topoi wie „Finsternis“, „Nacht“, „Dunkelheit“, „Unwahrheit“ oder auch „Aberglauben“ zugewiesen. Diese Zuschreibungen sind im Œuvre des eingangs vorgestellten Johann Ernst Daniel Bornschein gut zu studieren, der neben der Lutherbiographie auch eine Geschichte der Reformation publizierte, die sich in volksaufklärerischer Manier dezidiert an den Bürger und Landmann richtete, nach dem Willen des Verfassers aber auch an Bürger- und Landschulen Verwendung finden sollte.83 Bornscheins 1802 erschienene Luther-Biographie ist mit einer Rahmenhandlung ausgestattet, welche sich des dialogischen Prinzips bedient und damit an den Katechismus anlehnt. Der Verfasser präsentiert Luthers Leben und Wirken in fünf Teilen. Strukturiert wird die Darstellung, indem der Verfasser einen Pastor Ehrlich an fünf aufeinanderfolgenden Sonntagen vom Reformator Luther berichten lässt und dabei jeweils eine Gesprächssituation konstruiert. Bornschein will all das mitteilen lassen, „was auf sein Leben und seinen Tod 82 Vgl. Axel LANGE, Reformation und Reformation. Eine theologisch-politische Diskussion im Umkreis des Wartburgfestes und des Reformationsjubiläums von 1817, in: Burghard DEDNER (Hg.), Das Wartburgfest und die oppositionelle Bewegung in Hessen, Marburg 1994, S. 215–230. 83 Vgl. Ernst BORNSCHEIN, Geschichte der Lutherschen Kirchenreformation, mit einer Einleitung über die Geschichte der christlichen Kirche und ihres allmähligen Verfalls durch die Päpste. Zunächst für den Bürger und Landmann, bes. aber als Lehr- und Lesebuch für Stadt- und Landschulen, Lobenstein: Illgen 1805 und DERS., Geschichte der Lutherschen Kirchenreformation. Mit einer Einleitung über die Geschichte der christlichen Kirche und ihres allmähligen Verfalls durch die Päpste, Eisenberg: Schöne 21817. Die sehr seltene Schrift ist in BÖNING/SIEGERT, Volksaufklärung nicht erfasst. Der Verfasser konnte die erste Auflage in der Präsenzbibliothek des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar und die zweite Auflage in der Landeskirchlichen Zentralbibliothek beim Evangelischen Oberkirchenrat in Stuttgart einsehen. – Vgl. Werner GREILING, Reformationsgeschichte(n) um 1800. Populäre Historiographie zwischen Volksaufklärung und Schulbuchproduktion, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 71 (2017) (in Vorbereitung).

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Bezug hat“.84 Dabei wird die Absicht, die Bornschein mit seinem Buch verbindet, in der Vorrede klar formuliert: „Luther, ein so hellerleuchteter Kopf seines Zeitalters und dessen muthvoller Geist alle Gefahren überwand, die man der Ausbreitung seiner bessern Lehre entgegenstellte, verdient allerdings, daß sein Andenken immer aufs neue in unser Herz gebracht werde.“85 Dabei wird auf die Nachwirkung des Reformators in Kirche und Gesellschaft sowie auf den Streit um seine Lehren ebenso eingegangen wie auf die verschiedenen Facetten seines Wesens. Zudem werden Charakterzüge und Verhaltensweisen hervorgehoben, die Bornschein den Lesern als nachahmenswert empfiehlt. Diese entsprachen zum Teil bereits dem Muster bürgerlicher Tugenden, dem sich die meisten Volksaufklärer verpflichtet wussten.86 Bornschein schreibt: „Auch in seinem häußlichen Leben zeigte sich Luther auf eine vortheilhafte Weise. Er ehrte und liebte seine Frau mit der größten Zärtlichkeit und keiner von allen seinen Schriftstellern erzählt in dieser Hinsicht das Gegentheil. So hing er auch an seinen Kindern mit unaussprechlicher Vaterhuld.“87 Und schließlich appelliert der Verfasser an seine Leser: „O! Laßt uns stets tugendhaft sein, wie Luther es war und kein Augenblick unseres Lebens wird uns reuen.“88 Neben derartigen Passagen, in denen Luther gleichsam als aufklärerisches Ideal präsentiert wird, zieht Bornschein die Verbindungslinien zwischen Reformation und Aufklärung mehrfach auch sehr direkt. Die Vorreformationszeit hingegen wird als ein Zeitalter der Finsternis beschrieben, wo man sich der reinen Aufklärung noch nicht in dem Maaße freuete, als jetzo, wo Finsterniß und Irrthümer aller Art das helle Licht des Verstandes verdunkelten, wo es also fast ein Wundes war, wenn ein Mann, wie Luther, unter Millionen empor trat, und das Reich der allgemeinen Finsterniß mit ehernen Waffen angriff. Er hatte nicht mit einzeln Männern, er hatte mit der ganzen Welt, die wider ihn war, zu kämpfen.89

84 BORNSCHEIN, Leben und Meinungen des seeligen Herrn D. Martin Luthers (wie Anm. 1), S. 133. 85 Ebd., S. 3. 86 Vgl. Hans-Werner HAHN/Dieter HEIN, Bürgerliche Werte um 1800. Zur Einführung, in: DIES. (Hg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 9–27; Werner GREILING, Bürgerlichkeit im ländlichen Milieu. Die politischen Pastoren Wilhelm Friedrich Schubert und Friedrich Wilhelm Schubert in Oppurg, in: Hans-Werner HAHN/Werner GREILING/Klaus RIES (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001, S. 135–163; Paul MÜNCH (Hg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden“, München 1984. 87 BORNSCHEIN, Leben und Meinungen des seeligen Herrn D. Martin Luthers (wie Anm. 1), S. 147. 88 Ebd., S. 151. 89 Ebd., S. 14 f.

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Als dunkel und rückständig werden insbesondere die römische Kirche und Papst Leo X. charakterisiert.90 Bornschein wollte mit seinem Luther-Buch gründlich und verständlich über die Ursachen, den Verlauf und die Wirkungen der Reformation sowie über ihren führenden Protagonisten informieren. Dabei versuchte er deutlich zu machen, dass die Ergebnisse der Reformation das Leben der Menschen bis in die damalige Gegenwart nachhaltig und gleichsam täglich prägten. Bornschein vermittelt allerdings ein geschöntes, geglättetes und außerordentlich idealisiertes Bild von der Reformation und ihrem führenden Protagonisten. Seine Sicht auf die Reformation ist von den Positionen eines theologischen Rationalismus geprägt, dessen führende Vertreter in seinem thüringischen Umfeld lebten und wirkten. Zu ihnen zählen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851), Professor der Theologie an der Universität Jena, aber auch die späteren Superintendenten von Gotha und Weimar Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848) und Johann Friedrich Röhr (1777–1848).91 Dabei erweiterten die theologischen Rationalisten – und Bornscheins Darstellungen zu Luther und zur Reformation sind hier zuzuordnen – die „volkspädagogischen Impulse der Neologie und des älteren theologischen Rationalismus […] in den politischen Raum“ hinein. In Fortführung der universalhistorischen Interpretation der Reformation in der Tradition der Aufklärer nahm man, wie es Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838) anlässlich der Säkularfeier mustergültig formulierte, „Die Aehnlichkeit des Kampfes um bürgerliche und politische Freiheit in unserem Zeitalter, mit dem Kampfe um die religiöse und kirchliche Freiheit im Zeitalter der Reformation“ in den Blick.92 Albrecht Beutel geht soweit, diese Impulse als einen „kräftigen Bundesgenossen“ für den „vormärzlichen Frühliberalismus“ und die „frühliberale Reformpolitik“93 zu bezeichnen. Dies mündete in vielen Fällen in einem gleichsam doppelten Engagement zur Reform von Kirche

90 Vgl. ebd., S. 35. 91 Rudolf HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte, Bd. 2, Weimar 1947, S. 328 f.; Albrecht BEUTEL/Udo STRÄTER/Markus WRIEDT (Hg.), Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 2010; Albrecht BEUTEL, Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006, S. 296–302. 92 Karl Heinrich Ludwig PÖLITZ, Die Aehnlichkeit der Kampfes um bürgerliche und politische Freiheit in unserem Zeitalter, mit dem Kampfe um die religiöse und kirchliche Freiheit im Zeitalter der Reformation, in: Friedrich KEYSER (Hg.), Reformations Almanach auf das Jahr 1819. Zweiter Jahrgang, Erfurt: Kesyer 1819, S. 123–156. Vgl. LANGE, Reformation und Reformation (wie Anm. 82), S. 218–221. 93 HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte (wie Anm. 91), S. 296.

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und Staat.94 Und es ist kein Zufall, dass sich zahlreiche protestantische Geistliche dann auch in der Revolution von 1848/49 intensiv engagierten. Bornschein hat seinen Lesern Martin Luther aber auch als menschliches Vorbild präsentiert und seine diesbezüglichen Intentionen mittels einer Ansprache des Erzählers zusammengefasst. So lässt er den Pastor Ehrlich am Ende der Lebensgeschichte Luthers ein Resümee ziehen, in dem betont wird, dass die Zuhörer tugendhaft, wahrheitsliebend und mit Gottvertrauen ihre irdischen Tage verbringen mögen: „Laßt uns auch so denken und handeln, wie unser großer Landsmann Luther handelte. Gewiß die Früchte davon werden die schönsten sein! Sie werden nicht nur für dieses Leben sondern auch für die Ewigkeit wirken.“95 Martin Luther taugte für Bornschein und seine volksaufklärerischen Brüder im Geiste und im Glauben also nicht nur als Vorkämpfer der Aufklärung, sondern auch als Vorbild und als Vermittler bürgerlicher Werte. Bornscheins Luther-Buch und zahlreiche ähnliche Schriften, die sich an den „Bürger und Landmann“ oder sogar an Kinder richteten, dienen durchaus als Beleg für die Thesen, dass „Luther und die Reformation bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem integralen Bestandteil“96 der Volksaufklärung avancierten und dass zahlreiche Protagonisten diese „als direkte Fortsetzung und Vollendung jener Reformation“ begriffen haben.97 Holger Böning betont dabei Parallelen zwischen Reformatoren und Volksaufklärern,98 die mit ihren Werken in beiden Fällen ausdrücklich allgemein zugänglich sein wollten und sich nicht selbstgenügsam an die Gelehrten und Gebildeten adressierten, die die Förderung von Bildung und Wissenschaften als gottgefälliges Werk ansahen und die dem Prinzip der „Publicität“ huldigten. Zur Wahrheitsfindung appellierten sie deshalb an die Öffentlichkeit. Wie oben bereits angedeutet, habe sich die Volksaufklärung dabei „mit tausenden Schriften und zahllosen Periodika […] als Fortsetzung der Medienrevolution“ begriffen,99 die mit der Reformation einherging. Und schließlich hätten sich die Aufklärer in ihren besten publizistischen Hervorbringungen „an den wichtigsten 94 Vgl. GREILING, Bürgerlichkeit im ländlichen Milieu (wie Anm. 86), S. 145–157; Friedrich Wilhelm SCHUBERT, Die Zeichen der Zeit. Gedanken über die Nothwendigkeit einer Reform der Kirche. Mit Berücksichtigung der freien Gemeinden, Neustadt an der Orla 1848. 95 BORNSCHEIN, Leben und Meinungen des seeligen Herrn D. Martin Luthers (wie Anm. 1), S. 151. 96 KRÜNES, Luther als Vorkämpfer der Aufklärung? (wie Anm. 74), S. 180. 97 Holger BÖNING, Reformation und Volksaufklärung – einige Gedanken zu Zusammenhängen und Unterschieden, in diesem Band, S. 43–59, hier S. 46. 98 Vgl. ebd., S. 54–57. 99 Ebd., S. 56.

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Merkmalen der lebendigen Luthersprache, an Anschaulichkeit und Bilderreichtum“100 orientiert. Neben den inhaltlichen Bezügen der Volksaufklärung zur Reformation, die hier dennoch nur angedeutet sind, und neben den strukturellen Entsprechungen seien allerdings auch deutliche Unterschiede nicht verschwiegen. Die Bildung der Bevölkerung und insbesondere ihre Lesefähigkeit waren um 1800 sehr viel anders als zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Während der Reformation geht man davon aus, dass etwa fünf Prozent der Menschen alphabetisiert waren. Für die Zeit um 1800 ist in der Forschung von einer „Demokratisierung des Lesens“101 bzw. von einer „Leserevolution“ 102 die Rede, und selbst die konservativen Schätzungen von Rudolf Schenda gehen von einem wesentlich höheren Anteil der lesefähigen Menschen in Deutschland aus. Rudolf Schenda meint, dass „in Mitteleuropa […] um 1800: 25%, um 1830: 40%, um 1870: 75% und um 1900: 90% der Bevölkerung über sechs Jahre als potentielle Leser in Frage“ kamen.103 Die tatsächlichen Werte sind gerade in Mitteldeutschland noch deutlich besser, und die Annahme von einem noch um 1800 weit verbreiteten „Analphabetentum“104 in Deutschland kann als widerlegt gelten.105 Dies bedeutet für den Vergleich mit der Situation 300 Jahre zuvor, dass es im 16. Jahrhundert in einem weitaus größeren Umfang gebildeter Multiplikatoren bedurfte, welche die Ideen der Reformation auch mündlich in die Breite trugen. Die orale, nichtliterale Kommunikation spielte eine sehr viel größere Rolle als in der Volksaufklärung, vor allem die Predigt. Man kann davon ausgehen, dass die Adressaten der Reformatoren in erster Linie männliche Erwachsene gewesen sind. Eine Publikation wie das „Reformationsbüchlein für Kinder“

100 Ebd., S. 56 f. 101 Alberto MARTINO, Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756–1914), Wiesbaden 1990, S. 7. 102 Rolf ENGELSING, Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel und Unterschichten, Göttingen ²1978, S. 139. 103 Rudolf SCHENDA, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, Frankfurt am Main 1970, S. 444 f. 104 Vgl. Rolf ENGELSING, Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart 1973. 105 Vgl. Reinhart SIEGERT, Zur Alphabetisierung in den deutschen Regionen am Ende des 18. Jahrhunderts. Methodische Überlegungen und inhaltliche Bausteine aus Quellenmaterial der Volksaufklärung, in: Hans Erich BÖDEKER/Ernst HINRICHS (Hg.), Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit, Tübingen 1999, S. 283–307. Vgl. auch Erich SCHÖN, Geschichte des Lesens, in: Bodo FRANZMANN u.a. (Hg.), Handbuch Lesen, München 1999, S. 1–85, hier S. 77.

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von Carl Ludwig Nonne, das 1817 erstmals erschienen ist,106 wäre in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nur schwer vorstellbar gewesen. Beträchtlich gewandelt hatten sich um 1800 auch die Infrastruktur und das Verkehrswesen. Kommunikation war schneller und direkter möglich. Und damit änderte sich auch das Verhältnis der Menschen zur Zeit und zum eigenen Lebensrhythmus. Es gab ein deutlich geschärftes Zeitbewusstsein im 18. Jahrhundert, wobei die allgemeine Verfügbarkeit von Uhren und die massenhafte Verbreitung von Kalendern ihr Übriges taten.107 Und schließlich verschoben sich seit 1800 die Anteile zwischen Stadt und Land zunehmend, mit einem enormen Bedeutungs- und Bevölkerungszuwachs der Städte. Diese Tendenz nahm im Laufe des 19. Jahrhunderts noch weiter an Fahrt auf und veränderte auch das Kommunikationsverhalten.

4. Reformationserinnerung und protestantische Jubiläumskultur in Thüringen Wenn man die Reformationserinnerung und die protestantische Jubiläumskultur im Jahrhundert der Volksaufklärung betrachtet, fällt in besonderem Maße das dreihundertste Jubiläumsjahr des vermeintlichen, bis in die Gegenwart hinein aber überaus symbolträchtigen „Thesenanschlags“ vom 31. Oktober 1517 ins Auge. In der Tat erlebten die erinnerungspolitischen Aktivitäten in jenem Jahr 1817 einen absoluten Höhepunkt.108 Neben Luthers Thesenanschlag waren Jubiläen und Feierlichkeiten in vielen Fällen aber auch auf die Einführung der Reformation vor Ort oder auf den Zeitpunkt des Übertritts der Landesherren zum Protestantismus bezogen. Als weiterer Referenzpunkt kann die Übergabe des Augsburger Bekenntnisses von 1530 ausgemacht werden. Im 19. Jahrhundert kamen Jubiläumsfeiern zum Geburts- und Todestag Martin Luthers 106 Carl Ludwig NONNE, Das Reformationsbüchlein. Eine Erzählung für Kinder, Hildburghausen: Kesselringsche Buchhandlung 1817. – Die Schrift erlebte in rascher Folge zahlreiche weitere Auflagen. 107 Vgl. Michael MAURER, Alltagsleben, in: Notker HAMMERSTEIN/Ulrich HERRMANN (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 33– 68, bes. S. 35–40. 108 Vgl. Christian SCHREIBER/Valentin Carl VEILLODTER/Wilhelm HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik der dritten Jubel-Feier der deutschen evangelischen Kirche. Im Jahre 1817. Nebst einigen Nachrichten von dieser Feier in auswärtigen Ländern, Bd. 1, Erfurt/Gotha: Hennings‘sche Buchhandlung 1819; Friedrich KEYSER (Hg.), Reformations Almanach für Luthers Verehrer auf das evangelische Jubeljahr 1817, Erster Jahrgang, Erfurt: Keyser 1818.

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(1483–1546) hinzu. Meist lagen den Feiern kirchliche und landesherrliche, später auch kommunale Initiativen zugrunde. Gemeinsam mit den Gründungsjubiläen von Universitäten gehört das Reformationsjubiläum zu den ältesten Jubiläumsfeiern überhaupt. Dabei zielte die Idee der kursächsischen Initiatoren des ersten Reformationsjubiläums von 1617 eigentlich auf eine Gedenkfeier im elitären Kreis ab. Allerdings ordnete Kurfürst Johann Georg I. an, dass das Jubiläum als Kirchenfeier in seinem Territorium verbindlich gefeiert werden solle und schrieb ihm somit, vor dem Hintergrund der politischen und konfessionellen Gemengelage kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, einen hohen symbolischen Stellenwert zu.109 Die Gestaltung des Jubiläums von 1617 und das Gedenken an die ConfessioAugustana von 1630 waren auf ein religiöses Lob- und Dankfest ausgerichtet, bei welchem der sonst für Jubiläen typische Zukunftshorizont noch vollkommen fehlte.110 Nach dem Dreißigjährigen Krieg änderte sich der Jubiläumsgedanke jedoch grundsätzlich, indem für die in Aussicht genommenen lutherischen Jubiläen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht nur historische Ereignisse der Reformationsgeschichte berücksichtigt wurden, sondern sich die Jubiläumskultur selbst zu einer Kette verdichtete. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die Reformationsjubiläen dann bereits zur Selbstverständlichkeit geworden, und so wurde 1717 nicht nur an die Reformation von 1517, sondern zugleich an das Reformationsjubiläum von 1617 erinnert. Neben einer weiteren Verdichtung der Jubiläumskette, die nun die Jahre 1717, 1730, das territoriale Reformationsjubiläum in Sachsen 1739 sowie das Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens 1755 umfasste, trat nun eine neue Ebene der Erinnerungskultur hinzu, die ihren Blick auch auf die Zukunft zu richten begann.111 In der Folge eines aufklärerischen Geschichtsverständnisses, das durch Fortschrittsdenken, ein positives Zeitbewusstsein und die Überzeugung von der Gestaltungsfähigkeit der Zukunft gekennzeichnet war, hatte es sich in den Reformationsjubiläen zu Beginn des 19. Jahrhunderts dann durchgesetzt, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prinzipiell aufeinander bezogen wurden und das Reformationsjubiläum „säkularisiert“ begangen wurde. Sowohl die Reformation als auch die feierliche Erinnerung daran galten nun109 Vgl. Wolfgang FLÜGEL, Zeitkonstrukte im Reformationsjubiläum, in: Winfried MÜLLER (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004, S. 77–99, hier S. 79–82; Johannes BURKHARDT, Reformations- und Lutherfeiern. Die Verbürgerlichung der reformatorischen Jubiläumskultur, in: Dieter DÜDING/Peter FRIEDEMANN/Paul MÜNCH (Hg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 212–236, hier S. 214. 110 Vgl. FLÜGEL, Zeitkonstrukte (wie Anm. 109), S. 85–88. 111 Vgl. ebd., S. 88–93.

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mehr als bedeutende Einschnitte für die persönliche, regionale und nationale Geschichte. Der hohe Symbolcharakter des Jubiläums blieb 1817 vor einem völlig anderen politischen und konfessionellen Rahmen erhalten und bekam zusätzlich eine emotionale Aufladung,112 wobei vier Jahre nach der Völkerschlacht bei Leipzig zudem eine intensive Politisierung der Reformationsfeiern zu beobachten war.113 Und obwohl sich unter dem Einfluss der Aufklärung einerseits deutliche Tendenzen zu einer säkularisierten und versöhnlichen reformatorischen Gedenkkultur erkennen ließen, zeigten sich beim Jubiläum der Confessio Augustana von 1830 auch schon deutliche Elemente eines „neuen Konfessionalismus“.114 Eine weitere neue Tendenz bei den Reformationsjubiläen zeigte sich in ihrer „Verbürgerlichung“.115 So lag die Anordnungskompetenz bis ins 19. Jahrhundert hinein zwar beim Landesherrn. Deutlich zu beobachten ist aber, dass die Initiative zur Durchführung und Gestaltung des Reformationsjubiläums, die im 17. Jahrhundert noch aus dem Kreis der Theologen und Gelehrten kam, seit dem 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert immer mehr Bürger und Privatleute einschloss. Auch wenn das Reformationsjubiläum „ein institutioneller Mechanismus“ war,116 so erhielt dessen Feier nun einen neuen Öffentlichkeitscharakter, der sich in der hohen Vereinnahmung durch die Bürger und das junge Vereinswesen bemerkbar machte. Die Feier selbst, die in der Frühen Neuzeit fast ausschließlich im kirchlichen Rahmen stattfand, wurde nunmehr auf den städtischen Raum ausgedehnt – „die obrigkeitliche Kirchenfeier wurde zur 112 Vgl. ebd., S. 95–98; BURKHARDT, Reformations- und Lutherfeiern (wie Anm. 109), S. 212 u. 230. Weiterführend vgl. auch Stefan GERBER, Konfession und Nation im „Ereignis Weimar-Jena“. Die Feiern zum 300. Reformationsjubiläum 1817, in: Johanna SÄNGER/Lars DEILE (Hg.), Spannungsreich und freudevoll. Jenaer Festkultur um 1800, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 74–110, Anm. 3; DERS., Zwischen Symbolzwang und „Schutzwehr des freien Protestantismus“. Das Confessio-Augustana-Jubiläum von 1830 in der theologisch-kirchenpolitischen Auseinandersetzung, in: Michael MAURER (Hg.), Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 195–216. 113 Vgl. GERBER, Konfession und Nation (wie Anm. 112), S. 77. 114 DERS., Symbolzwang (wie Anm. 112), S. 199. Vgl. auch Olaf BLASCHKE, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 26 (2000), S. 38–75; DERS. (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: Ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002. 115 Vgl. BURKHARDT, Reformations- und Lutherfeiern (wie Anm. 109) sowie grundlegend zu den Reformationsfeiern im 19. Jahrhundert: Dorothea WENDEBOURG, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 108 (2011), S. 270–335. 116 FLÜGEL, Zeitkonstrukte (wie Anm. 109), S. 98.

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Kommunalfeier“.117 Zugleich nahm die mediale Begleitung des Ereignisses zu, vor allem durch periodische Massenmedien. Dies erhöhte die Wirksamkeit der Jubiläen. Um die Wende zum 19. Jahrhundert waren es insbesondere die Volksaufklärer, welche sich der Popularisierung geschichtlichen Grundwissens widmeten und dabei auch dem bildungsfernen „Volk“ Phänomene wie die Reformation und ihren Protagonisten Martin Luther nahebrachten.118 Im Umfeld des 300-jährigen Jubiläums von 1817, aber auch im Zusammenhang mit den weiteren Referenzdaten der protestantischen Gedenkkultur – dem ersten evangelischen Gottesdienst, der ersten Visitation vor Ort oder dem offiziellen Übertritt des Landesherrn zum Luthertum – entfaltete sich im 19. Jahrhundert in den thüringischen Städten eine intensive Reformationserinnerung.119 Eine Sonderrolle nahm das Wartburgfest im Oktober 1817 ein, das allerdings nicht in erster Linie eine lokale oder territorialstaatliche, sondern eine „nationale“ Dimension besaß. Jenenser Studenten und zahlreiche Gäste erinnerten im Oktober 1817 auf der Wartburg bei Eisenach nicht nur an die Befreiungskriege und an die siegreiche Völkerschlacht bei Leipzig, sondern feierten auch den Auftakt der Reformation 300 Jahre zuvor. Man fand sich am Ort von Luthers Bibelübersetzung zusammen, wählte die Form einer Prozession, gab der Feier einen gottesdienstlichen Charakter, zelebrierte zwei weitere Festgottesdienste und ließ das Sakrament des Heiligen Abendmahls spenden. Selbst das Feuer, in dessen Flammen Druckwerke unterschiedlicher Couleur aufgingen, lässt sich als Anspielung auf die Verbrennung von Luthers Bannandrohungsbulle interpretieren. Es war dies ein Reformationsbezug in deutlich politischer Absicht. Der führende Burschenschafter Heinrich Riemann sagte in seiner Rede unter anderem: Wie ich mich nun aber wende zum Werke Luthers, und seine Größe und Erhabenheit mit dem Gedanken zu umfassen suche, da fliehen mich wieder die Worte, und ich möchte verstummen vor dem allmächtigen Geist, der so deutlich sich erkennen läßt in dem, was Luther that. Schon war einem Sturz des Papstthums durch manche edle Geistesthat der Weg gebahnt, noch leuchtete aus dem dunklen Anfang des 15. Jahrhunderts in das folgende das öfter wieder angefachte Feuer hinüber, in dem Hussens Geist verklärt ward. Langsam nur durfte sich das Größte und Schönste, was der Mensch besitzen kann, die Freiheit und Reinheit des Glaubens entwickeln; es mußte durch Feuer geläutert werden. Als aber die Zeit erfüllet war, da erweckte Gott aus den dunklen 117 Vgl. BURKHARDT, Reformations- und Lutherfeiern (wie Anm. 109), S. 220–223, bes. S. 220. 118 Vgl. beispielsweise GREILING, Volksaufklärung und Reformation (wie Anm. 74); Stefan LAUBE, Fest, Religion und Erinnerung. Konfessionelles Gedächtnis in Bayern von 1804 bis 1917, München 1999, S. 116–125. 119 Vgl. den Beitrag von Julia BEEZ in diesem Band.

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Mauern eines Augustiner=Klosters einen Mann, zu verkünden eine bessere Lehre, umzustürzen die römischen Wechslertische, die Welt zu befreien von den schmählichsten aller Fesseln, den Geistesfesseln.120

Insgesamt war im Oktober 1817 bei der Erinnerung an die Reformation auf der Wartburg der Freiheitsgedanke zentral: Luther habe als Held der Geistesfreiheit die Deutschen von geistigen Fesseln befreit,121 die Reformation stehe für geistige Freiheit. Und so könne das Wartburgfest als „Fest der Wiedergeburt der Geistesfreiheit“122 gedeutet werden. Diese Interpretation ging mit der Überzeugung einher, dass die Reformation die Aufklärung befördert habe.123 Diese Deutung, die auch viele Volksaufklärer teilten, wurde durch zahlreiche Licht/Dunkelheit-Vergleiche in den Reden auf der Wartburg unterstrichen.124 Das Wartburgfest brachte zwei Formen „nationaler Befreiung“ zusammen, nämlich die „religiöse Befreiung von den erstarrten Praktiken äußerer Kirchlichkeit, kurz von der ‚Fremdherrschaft des Papsttums‘ “, die man Luther zu verdanken habe, sowie die „bei Leipzig erfochtene Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft“,125 die politische Befreiung also. Diese Debatte wurde quasi auf nationaler Ebene geführt, doch dann auch auf die Region und auf den Grund und Boden des Festes selbst heruntergebrochen. Und dementsprechend wurde auf der Wartburg bei Eisenach das Großherzogtum Sachsen-WeimarEisenach als „freies Land“ gewürdigt, als freies Land zu Luthers Zeiten wie in der Gegenwart des Jahres 1817.126 Gewürdigt wurde in den Städten Thüringens allerdings, wie fast überall im protestantischen Deutschland, der 31. Oktober eines jeden Jahres als Reformationstag. Dies geschah meist mit einer besonderen Predigt am darauffolgenden Sonntag, während man an runden Jubiläen größeren Aufwand betrieb. Begonnen hatte die systematische Reformationserinnerung auch hier im Jahre 1617. 120 Rede im Minnesängersaale der Wartburg gehalten am 18. Oct. 1817 von Riemann, der Theologie Beflissenem, Ritter des eisernen Kreuzes, in: Hugo KÜHN, Das Wartburgfest am 18. Oktober 1817. Zeitgenössische Darstellungen, archivalische Akten und Urkunden, Weimar 1913, S. 56–63, hier S. 57 f. 121 Vgl. Eike WOLGAST, Wartburgfest 1817 und Hambacher Fest 1832 – Programmatik und Rhetorik, in: Wartburg Jahrbuch 10 (2001), S. 98–118, hier S. 100. 122 Klaus WESSEL, Das Wartburgfest der deutschen Burschenschaften am 18. Oktober 1817, Eisenach 1954, S. 17. 123 Vgl. GERBER, Konfession und Nation (wie Anm. 112), S. 92. 124 Vgl. ebd., S. 92 u. 107. 125 Klaus MALETTKE, Zur politischen Bedeutung des Wartburgfestes im Frühliberalismus, in: DERS. (Hg.), 175 Jahre Wartburgfest 18. Oktober 1817 – 18. Oktober 1992. Studien zur politischen Bedeutung und zum Zeithintergrund der Wartburgfeier (Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, 14), Heidelberg 1992, S. 9–30, hier S. 17. 126 WOLGAST, Wartburgfest 1817 und Hambacher Fest 1832 (wie Anm. 121), S. 100.

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Nicht nur der sächsische Kurfürst Johann Georg I., sondern auch zahlreiche weitere Fürsten in den lutherischen und reformierten Territorialstaaten ordneten landesweite Jubiläumsfeiern an, die nunmehr das zyklische Erinnern an vergangenes Geschehen etablierten. Die Initiative dazu war von der Wittenberger Universität ausgegangen und wurde von den Fürsten nicht zuletzt in der Absicht aufgegriffen, das in einer Krise befindliche Luthertum zu stabilisieren.127 Insgesamt ist das Geschehen zum 300-jährigen Jubiläum der Reformation für Thüringen gut dokumentiert. In Sachsen-Weimar-Eisenach hatte – wie in anderen thüringischen Territorialstaaten auch – ein obrigkeitlicher Impuls die Feiern gelenkt. Im konkreten Fall war es ein großherzogliches Reskript, das bereits am 27. Dezember 1816 die beiden Oberkonsistorien des Landes zu „gutachtlichen Vorschlägen hinsichtlich einer würdigen Feier des Jubiläums“ aufforderte.128 Diese Initiative zeigt, dass der Dreihundertjahrfeier auch hier neben der religiösen Dimension eine immense politische und gesellschaftliche Bedeutung zugeschrieben wurde. Dies wurde ein Dreivierteljahr später mit einem Edikt des Großherzogs Carl August, das genaue Anweisungen über die obligatorischen Bestandteile des dreitägigen Festes vom 31. Oktober bis 2. November 1817 enthielt, noch unterstrichen.129 Und so verwundert es nicht, dass die Aktivitäten zum Reformationsjubiläum allerorten nicht auf den kirchlichen Raum beschränkt blieben, sondern städtische bzw. staatliche Angelegenheiten waren. Man zelebrierte 1817 ein „religiös-politische[s] Fest“,130 mit „verabredeten“ und allgemein verständlichen, in symbolisch-repräsentative Formen gekleideten Handlungen, die letztlich auch politisches Handeln waren.131 Die „Allgemeine Chronik der dritten Jubel-Feier der deutschen evangelischen Kirche“ berichtet von den einzelnen Abläufen, von den Teilnehmern und den wichtigsten Elementen der Feierlichkeiten. Der vermeintliche Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517 war also Referenzdatum für eine thüringenweite Jubiläumswelle in religiös-politischer 127 Vgl. Wolfgang FLÜGEL, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830, Leipzig 2005, S. 25–50; Winfried MÜLLER, Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion, in: DERS. (Hg.), Das Historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004, S. 1–75, hier S. 26–28. 128 SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik (wie Anm. 108), S. 435. 129 Vgl. Edikt des Großherzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach vom 29.09.1817, in: ebd., S. 436–438. 130 GERBER, Konfession und Nation (wie Anm. 112), S. 77. 131 Vgl. Thomas MERGEL, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 28 (2002), S. 574–606.

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Dimension. Allerdings wartete man dann nach 1817 vor Ort nicht auf das nächste Zentenarium, sondern besann sich auch der Traditionen vor Ort und im Territorialstaat. Hierbei bot sich zum einen – wie oben gezeigt – die erste Visitation und damit die Einführung der Reformation vor Ort als Referenzdatum weiterer Jubiläumsfeierlichkeiten an. Dies ist unter anderem für Neustadt an der Orla erforscht und beschrieben. Das für die dortige Kirchenorganisation entscheidende Jahr war nicht 1517, sondern 1527. Erst zehn Jahre nach Luthers Thesenanschlag – und dies war in diesem Falle noch vergleichsweise früh – wurde die Reformation zum lokalen Ereignis.132 Die Visitationskommission weilte vom 16. bis 20. Juli in Neustadt an der Orla, und erst mit jenen Maßnahmen, die im Juli 1527 angeordnet und bald danach verwirklicht wurden, war die Reformation in Neustadt durchgeführt.133 In ähnlicher Weise wurde der Referenzpunkt der lokalen Einführung der Reformation, um nur wenige weitere Beispiele zu nennen, in Mühlhausen 1842 und in Sondershausen 1841 gefeiert.134 Entgegen der Vermutung, dass bei den lokalen Reformationsjubiläen und den darauf bezüglichen Feierlichkeiten in aller Regel die jeweils erste Visitation und damit die Einführung der Reformation vor Ort als Referenzdatum herangezogen wurde, spielte in Thüringen – ähnlich wie im albertinischen Sachsen135 – 132 Vgl. Wolfgang FLÜGEL, Die Einführung der Reformation als lokales Ereignis. Die städtischen Reformationsjubiläen in Kursachsen im 18. Jahrhundert, in: Ulrich ROSSEAUX/ Wolfgang FLÜGEL/Veit DAMM (Hg.), Zeitrhythmen und performative Akte in der städtischen Erinnerungskultur zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart, Dresden 2005, S. 35–50; DERS., Konfession und Jubiläum (wie Anm. 127). 133 Rudolf HERRMANN, Die Einführung der Reformation in Neustadt an der Orla. Nach einem Vortrage zum Reformationsjubiläum am 31. Oktober 1927, Neustadt an der Orla [1927], S. 3. 134 Vgl. den Beitrag von Julia BEEZ in diesem Band. 135 Für Sachsen, wo vielerorts der Herrschaftsantritt Heinrich des Frommen 1539 als Referenzdatum für die Einführung der Reformation herangezogen wird, vgl. beispielsweise Franz Otto STICHERT (Hg.), Jubelchronik der dritten kirchlichen Säcularfeier der Einführung der Reformation in Sachsen. Zur Erinnerung für das kommende Geschlecht auf das Jubeljahr 1939, Grimma: Verlagscomptoir 1841, der alle ihm bekannten lokalen Reformationsfeiern aus dem Jahr 1839 beschreibt. Thüringische Städte, die dem Herrschaftsgebiet des albertinischen Sachsen zugeordnet sind, legen ebenso das Jahr 1539 als Referenz für ihre Reformationsjubiläen fest, so z.B. Langensalza, Sangerhausen und Weißenfels. Vgl. dazu: Ulrich ROSSEAUX, Das Historische Jubiläum als kommunales Ereignis. Die Entstehung und Verbreitung städtischer Jubiläen in der Frühen Neuzeit, in: DERS./FLÜGEL/DAMM (Hg.), Zeitrhythmen und performative Akte (wie Anm. 132), S. 93–111; Gustav Heinrich HEYDENREICH, Kirchen- und Schul-Chronik der Stadt und Ephorie Weißenfels seit 1539 zur Erinnerung an die 300 jährige Jubelfeier der Einführung der Reformation in Weißenfels und Umgegend, Weißenfels: Kell 1840; Walther GERSS, Zur Einführung der Lutherischen Reformation im Amt Salza und

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meist der Übertritt der Landesherrschaft zur Reformation die zentrale Rolle. Das gilt vor allem für die hennebergischen Gebiete, deren Reformationsjubiläen sich auf das Bekenntnis Georg Ernsts zur Reformation am 25. Januar 1544 beziehen.136 Auch in den reußischen Gebieten, in denen zwar die Visitation von 1533 als Referenz angegeben wird, spielt die Landesherrschaft, die sich lange Zeit gegen die Einführung der Reformation zur Wehr setzte, eine Rolle.137 Dabei fällt zudem auf, dass im reußischen Territorium die lokalen bzw. regionalen Reformationsjubiläen nach bisherigem Erkenntnisstand erst im 20. Jahrhundert gefeiert wurden.138 Alles in allem gab es 1817 also das religiös-politische Fest mit Bezug auf den 31. Oktober 1517. Es gab ein Zusammengehen von Staat und Kirche bzw. von Fürsten und Kirche. Und es gab den Sonderstatus jener Feierlichkeiten, die burschenschaftlich organisierte Studenten und einige Professoren auf der Wartburg zelebrierten. Zu den konkreten Festabläufen vor Ort gibt es empirisch noch viel zu ermitteln. Hierzu zählt auch die Frage, ob sich die Tendenz einer zunehmenden Konzentration auf die Person Martin Luthers in den Reformationsjubiläen von 1817 und noch stärker von 1867 auch überall vor Ort bestätigt oder ob es hierbei in den verschiedenen Herrschaftsgebieten der Ernestiner, Schwarzburger und Reußen gegebenenfalls auch Unterschiede gab. Wenn man dies und einige weitere Aspekte der Rezeption betrachtet, kann man sich der Einschätzung anschließen, dass die Feiern „den konfessionellen Geist des 16. Jahrhunderts wieder emporgerufen“ und dabei „auch die Erinnerung an Luther“ erneuert haben.139 Und man kann Dorothea Wendebourg sicherlich grundsätz-

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Thamsbrück 1539–41. Festschrift zur 400-Jahr-Feier der Einführung der luth. Reformation im Amt Salza und Thamsbrück, Langensalza 1939. Vgl. beispielsweise Wilhelm GERMANN, D. Johann Forster der Hennebergische Reformator. Ein Mitarbeiter und Mitstreiter Luthers. Festschrift zum 350 jährigen Hennebergischen Reformationsjubiläum, in: Neue Beiträge zur Geschichte deutschen Altertums, hg. v. d. Henneb. Altertumsforschenden Verein in Meiningen, Wasungen 1894, S. 1–6 oder Johann Wilhelm GRÖTZSCH, Ehren-Gedächtniß der Hennebergischen Bergund Handels- Stadt Suhla, bey Gelegenheit des am 26. Januar als am Sonntage Septuages. 1744 Mit allergnädigster Erlaubniß gefeyerten Evangelisch-Lutherischen Reformations-Jubel-Festes. Nebst der an solchem Feste geführten Ordnung und in der Hauptkirche gehaltenen Predigt, wie auch dem celebrirten Jubilaeo Nuptiali aufgerichtet und ans Licht gestellet, Gotha: Reyher 1744. Vgl. Stefan MICHEL, Zur Reformation gezwungen? Die Lehre Luthers in und um Schleiz, Jena 2016 (im Druck). Vgl. Reinhold JAUERNIG, Die Einführung der Reformation in den Reußischen Landen. Festschrift zum Reformationsjubiläum 1933, Gotha 1933. Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4: Die religiösen Kräfte, Freiburg i. Breisgau 1937 (zit. nach dem unveränderten photomechanischen Nachdruck, München 1987), S. 362 u. 364.

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lich zustimmen, dass 1817 die gesamtprotestantische Jubiläumsperspektive nochmals zum Zuge kam, „bevor die Reformationsjubiläen mehr und mehr zu Dubletten der immer häufigeren Lutherzentennare wurden“.140 Aus der Perspektive der Volksaufklärung bleibt festzuhalten, dass sich zahlreiche ihrer Protagonisten, unter ihnen nicht wenige Theologen, sowohl an den Jubiläen der Reformation als auch an den Feiern für den Reformator beteiligten. In ihren Predigten und Publikationen dominierte die Tendenz, die Reformation als Sieg von Glaubensfreiheit und Vernunft und Luther „als Kämpfer gegen den Glaubenszwang und für die Geistesfreiheit“ zu interpretieren.141 Als im Schrifttum der Volksaufklärung noch ökonomisch-gemeinnützige Themen dominiert hatten, ließ sich in vielen Fällen die Konfession des Verfassers keineswegs ohne Weiteres erkennen. Das Jubiläum von 1817 aber wurde ganz eindeutig protestantisch gefeiert, und es stellt sich nun die Frage, ob die Rückbesinnung auf die Reformation und die protestantische Erinnerungskultur nicht nur die These vom 19. Jahrhundert als einem zweiten Konfessionellen Zeitalter stützt,142 sondern in der Binnenperspektive zugleich die „volksaufklärerische Ökumene“ zu sprengen drohte.143

140 WENDEBOURG, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 115), S. 280. 141 Vgl. LANGE, Reformation und Reformation (wie Anm. 82), S. 215–217. 142 Vgl. BLASCHKE, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter? (wie Anm. 114); DERS. (Hg.), Konfessionen im Konflikt (wie Anm. 114). 143 Vgl. den Beitrag von Reinhart SIEGERT in diesem Band.

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Reformation und Volksaufklärung – einige Gedanken zu Zusammenhängen und Unterschieden I. Einen Vorboten der Volksaufklärung nennt der kluge Karl Victor von Bonstetten 1799 die Reformation.1 Und tatsächlich: die populäre Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts ist zunächst ein protestantisches Projekt, Herzensanliegen zahlloser lutherischer Geistlicher, die sich als Autoren und Prediger, als Ratgeber und Gesprächspartner ihrer Gemeinden dem neuen Engagement verschreiben, aufklärerische Mentalität und aufklärerisches Denken zum Allgemeingut werden zu lassen.2 Verbindungs- und Traditionslinien zwischen den weltstürzenden Ereignissen des 16. Jahrhunderts und der großen Bürgerinitiative zu suchen, die das Licht der Aufklärung allen Menschen bringen wollte, liegt schon deshalb nahe, weil protestantische Pastoren unübersehbar deren Hauptträger waren. Auch wenn es eine katholische Volksaufklärung gab – und zwar stärker als oft angenommen3 –, ist die populäre Aufklärung in ihrem Wesen doch so sehr protestantisch, dass jener Fluch, den Gustav Friedrich Dinter in einer 1823 in Neustadt an der Orla erschienenen Volksschrift gegen diejenigen unter den Aufzuklärenden ausstößt, die seiner Vernunft Widerstände entgegensetzen, charakteristisch jedenfalls für

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Karl Viktor VON BONSTETTEN, Ueber Volkserziehung, in: DERS., Neue Schriften, Th. 1–4, Kopenhagen: Friedrich Brummer 1799–1801, hier Th. 1, S. 138–246, hier S. 144. Die Quellen zur Volksaufklärung sind dokumentiert bei Holger BÖNING/Reinhart SIEGERT, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, 3 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 2001, 2016. Unterteilt in: Bd. 1: Holger BÖNING, Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780; Bde. 2.1 u. 2.2: Reinhart SIEGERT/ Holger BÖNING, Die Volksaufklärung auf ihrem Höhepunkt 1781–1800. Mit Essays zum volksaufklärerischen Schrifttum der Mainzer Republik von Heinrich SCHEEL und dem der Helvetischen Republik von Holger BÖNING; Bde. 3.1, 3.2, 3.3 u. 3.4: Reinhart SIEGERT, Aufklärung im 19. Jahrhundert – „Überwindung“ oder Diffusion? Mit einer kritischen Sichtung des Genres ‚Dorfgeschichte‘ auf seinen volksaufklärerischen Gehalt hin von Holger BÖNING. Jochen KRENZ, Konturen einer oberdeutschen kirchlichen Kommunikationslandschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Bremen 2012.

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44 so manchen geistlichen Volksaufklärer ist:

Wenn ich irgendwo einen Minderverständigen fand, der sich dem Bessern widersetzte, so dachte ich: Du wärst gewiß katholisch geblieben, wenn du zu Luthers Zeiten gelebt hättest; hättest auch wohl hundert Jahre früher Holz zum Scheiterhaufen zur Verbrennung Hus’ in Konstanz beigetragen.4

Solch derbe Zurechtweisung darf sich in ihrem Ton auf den Reformator berufen. Antikatholizismus ist aber eine Ausnahme, wenn „Ueber den Einfluß der Reformation Luthers auf die Religion, die Politik und die Fortschritte der Aufklärung“ diskutiert wird.5 Auf der Tagesordnung steht das Nachdenken über die Bedeutung des Epochenereignisses seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, es endet, ohne dass im Kern wesentliche Veränderungen der Argumentation zu erkennen wären, auch hundert Jahre später noch nicht, wobei schon hier darauf hingewiesen sei, dass die Rückbesinnung auf die Bauernkriege und in diesem Kontext auf Luther und dessen Verhältnis zu Thomas Müntzer eine eigene Studie erfordert hätte.6

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[Gustav Friedrich DINTER], Religions-Geschichte für Volksschulen und ihre Lehrer; auch als Lesebuch für den gebildeten Bürger und Landmann zu gebrauchen, Neustadt [an der Orla] und Ziegenrück: Johann Karl Gottfried Wagner 1823 [2. Auflage: ebd. 1825; vgl. hierzu auch die anonyme Gegenschrift (Verf.: Johann Bernhard Joseph BUSSE) unter demselben Titel, Th. 1–3, Landshut: Joseph Thomann 1830, S. 261]. Ueber den Einfluß der Reformation Luthers auf die Religion, die Politik und die Fortschritte der Aufklärung; von Robelot. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen vermehrt von Dr. A[ndreas] RAESS und Dr. N[ikolaus] WEIS, Mainz: Florian Kupferberg 1823 [Franz. EA u.d.T.: De l’influence de la Reformation, Lyon (u.a.) 1822]. Diese Schrift begreift die Reformation als unnötig und als Unglück für die Christenheit. Siehe beispielsweise [Heinrich SCHWERDT], Die jetzigen Bauernunruhen und die Stimme Luthers in den Wirren unserer Zeit. Ein Wort der Verständigung und Beruhigung an alle[,] die es mit dem Volke gut meinen, insbesondere an den Bauernstand, Grimma: Verlags-Comptoir 1848. Dazu Alexander KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (1815–1848), Köln/Weimar/Wien 2013. Weiter: Christian STEIN, Die Geschichte der Deutschen Bauernkriege für das Volk erzählt, H. 1–6 [m.n.e.], Zerbst: Kummer 1849/1850. Hochinteressant ist die programmatische Vorrede: „In Deutschland sind bis jetzt noch sehr wenige Versuche gemacht worden, Geschichte für die große Masse des Volkes, d. h. für die arbeitenden Klassen der Gesellschaft zu schreiben. Wo sie gemacht worden sind, sind sie nicht gelungen, weil man die Geschichte der Mächtigen, weil man politische Geschichte geschrieben hat. Für das Volk muß man, um dasselbe für sie zu gewinnen, die Geschichte des Volkes selber schreiben, denn das Volk interessirt sich nur für sein eigenes Leben. Womit sich bisher die Geschichtschreiber ausschließlich beschäftigt haben, dafür interessirt sich das Volk nie auf die Dauer, und wenn noch so viele Versuche populärer Darstellung gemacht würden“ (S. V); Theodor OELCKERS, Populäre Geschichte des Deutschen Bauernkrieges im Jahre 1525, Leipzig: Gebr. Reichenbach 1843.

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„Die Reformation ist die Mutter der lesenden und schreibenden Völker“, behauptet 1843 der Autor einer Schrift, die sich mit der Volkserziehung auseinandersetzt. Und weiter: „Die Kirche hat sich zuerst des Volks in seinen geistigen Bedürfnissen angenommen, und wir verdanken insbesondere der Reformation, die jedem Christen die heilige Schrift zugänglich machen wollte, die Ausdehnung des Volksunterrichtes.“ Es ist die Reformation, deren „Geist das ganze Volk durchdrang […], die Buch und Feder in jede Hütte brachte“. „Jemand, der nicht lesen kann“, so wird als eine Folge der von der Reformation ausgehenden Entwicklung konstatiert, sei heute „in der bürgerlichen Gesellschaft wie ein Taubstummer“.7 Schon Luther habe 1530 in der „Predigt, daß man die Kinder zu Schule halten soll“ von der Obrigkeit verlangt, die Eltern notfalls auch zu zwingen, ihre Kinder zum Schulbesuch anzuhalten.8 Und noch einmal: „Die Kirche sorgte zuerst für Lesen und Schreiben und die Kenntnisse der christlichen Lehre und Geschichte. Diese Elemente bilden noch heute sammt dem Rechnen die wesentlichen Stücke des Volksunterrichts.“ Der Autor schließt die Frage an: „Ist es nöthig, daß es dabei sein Bewenden habe?“9

II. Nein, das ist nicht nötig, so lautet die Antwort schon der frühen Volksaufklärung, in der die Erinnerung an die Reformation ebenso gegenwärtig ist wie an Martin Luther als des Begründers der Volksbildung und des ersten volkssprachigen Publizistens, der sich mit seiner Wahrheit nicht mehr an eine akademische, innertheologische Öffentlichkeit, sondern an alle, ja, einzig und allein an das „Volk“ wandte, bemüht um Popularität in Sprache und Ausdruck, den „gemeinen Mann“ als Adressaten stets mitbedenkend.10 Heinz Schilling hat auf 7

Das Turnen und die deutsche Volkserziehung. Ein Entwurf, Frankfurt am Main: Heinrich Ludwig Brönner 1843, S. 4. Dass es sich um eine nationalistisch-antifranzösische Schrift handelt, die jede Trennung von Staat und Kirche ablehnt und selbst die geistliche Aufsicht über die Schule für unabdingbar hält, sei zumindest erwähnt, es spielt allerdings für die Feststellung, welch große Bedeutung die Reformation für alle Formen der Volksbildung hat, keine entscheidende Rolle. 8 Ebd., S. 5. 9 Ebd. 10 Siehe etwa: Der Glückselige und unglückselige Bauren-Stand, Nach seinem Ursprung, Wachsthum, Auffnehmen, und folgenden Abnehmen, Verderb[,] Tugenden und Lastern betrachtet; Wobey allenthalben gezeiget wird, Auff was Art und Weise einem jeden Lande durch Verbesserung Des Bauren-Standes Eine beständige Gold-Grube zubereitet werden könne. Auff Unkosten guter Freunde, auch Liebhaber des Feld- und Land-Lebens,

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eine Kritik des Erasmus von Rotterdam aufmerksam gemacht, mit der sich drei Jahrhunderte später auch die Volksaufklärer konfrontiert sehen: Luther mache alles öffentlich, monierte der Humanist, und lasse dadurch den niedrigsten Handwerker an Problemen teilhaben, die bislang Wissenschaftlern vorbehalten und von Eingeweihten wie Mysterien gehalten worden seien.11 Wenn hier die Reformation in Beziehung zur Volksaufklärung12 gesetzt wird, dann soll damit kein Versuch verbunden sein, die Ereignisse im 16. Jahrhundert zu charakterisieren, sondern es geht um den Blick, den die Volksaufklärer darauf hatten, um deren Versuche, die Reformation zur Legitimation ihres eigenen reformerischen Wirkens zu nutzen. Dies gilt nicht zuletzt für die Fälle, in denen Aufklärer die Reformation zu dem historischen Kampf für Geistesfreiheit stilisieren oder sich selbst der „Zeit einer beginnenden zweiten umfassenderen Reformation“ zugehörig wissen.13 Viele Aufklärer jedenfalls, dies lässt sich sagen, begreifen die Volksaufklärung als direkte Fortsetzung und Vollendung jener Reformation, durch die nicht nur das Niedere Schulwesen als Beginn aller Volksbildung entstand, sondern durch die auch die unlösbare Einheit von evangelischem Christentum und Bildung gestiftet wurde. Unter dem Jesus-Wort „Lasset die Kindlein zu mir Leipzig: „bey Joh. Philipp. Boetio, Auch im Durchgange des Rathauses zu bekommen.“ 1711 [vgl. Ausgabe Frankfurt o.J. (um 1705 oder 1711); Originalausgabe nicht später als 1711, Neuaufl. u. d. T.: Das edle Landleben, Braunschweig 1721]. Zum sich an das Volk wendenden Publizisten siehe Heinz SCHILLING, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 22013, S. 173 f. Vgl. außerdem: Alexander KRÜNES, Luther als Vorkämpfer der Aufklärung? Die Reformation als Bestandteil volksaufklärerischer Publizistik in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 65 (2011), S. 157–180. 11 SCHILLING, Martin Luther (wie Anm. 10), S. 174. 12 Siehe zur Volksaufklärung zuerst Reinhart SIEGERT, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem ‚Noth- und Hülfsbüchlein‘. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema, Frankfurt am Main 1978. Die Forschungsliteratur zur Volksaufklärung findet sich sodann in den folgenden drei Tagungsbänden: Holger BÖNING/Hanno SCHMITT/Reinhart SIEGERT (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Bremen 2007; Hanno SCHMITT/ Holger BÖNING/Werner GREILING/Reinhart SIEGERT (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung, Bremen 2011 sowie Reinhart SIEGERT in Zusammenarbeit mit Peter HOARE und Peter VODOSEK (Hg.), Volksbildung durch Lesestoffe im 18. und 19. Jahrhundert Voraussetzungen – Medien – Topographie. Educating the People through Reading Materials in the 18th and 19th Centuries. Principles – Media – Topography, Bremen 2012. 13 Ernst WISLICENUS, Darstellungen aus der deutschen Geschichte zur Belehrung über deutsche Volkszustände[,] wie sie gewesen und wie sie geworden. Eine Schrift für das deutsche Volk, Bd. 1–2, Leipzig: Otto Wigand 1846; 1847 [2. Aufl. von Bd. 2: ebd. 1861], hier Bd. 1, S. 206.

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kommen“ stand 1541 nicht nur die Neuauflage von Luthers „Predigt, dass man Kinder zu Schule halten solle“, sondern dieser Satz findet sich – eingemeißelt und noch heute zu lesen – an der Reckahn’schen volksaufklärerischen Musterschule Friedrich Eberhard von Rochows, jenes wahrhaft aufgeklärten Preußen – aufgeklärt nicht nur in Briefen mit europäischen Gelehrten und dem Mund, sondern mittels praktischer Taten. Der außergewöhnliche Gutsherr sah „in Schulverbesserungen allein“ den „Grund aller wahren Reformation“ gelegt.14 Von besonderer Bedeutung ist den Volksaufklärern das selbständige Bibellesen auch der Laien, das als Grundlage eigenen Urteilens und geistiger Emanzipation begriffen wird, ein Thema, das bis weit in das 19. Jahrhundert virulent bleibt. Es spielt mit mehreren eigenen Bibelübersetzungen in der katholischen Aufklärung eine große Rolle. Beim Lesen der Bibel übt der Gläubige im idealen Fall ein, was göttlicher Auftrag ist, nämlich selbst zu lesen, zu forschen und zu urteilen in einem nie abgeschlossenen Prozess der Wahrheitssuche. Hier sind die Reformatoren Vorbild. Friedrich Eberhard von Rochow fragt gegen eine orthodoxe Theologie, die sich auf den Reformator beruft, ob denn Luther mittels einer für immer geltenden Vorschrift den menschlichen Verstand hätte einzäumen wollen, um darauf hinzuweisen, der Mansfelder habe eigenes Erkunden und das Bessermachen nachdrücklich empfohlen, und, fügt von Rochow hinzu, „hätte er’s auch nicht getan, so versteht es sich von selbst, daß die Erforschung der Wahrheit bis an das Ende der Tage das Hauptgeschäft für den menschlichen Geist sein müsse“.15 Eine eigene Schrift verfasst der märkische Gutsherr, der er den Titel vom „Formieren und reformieren“ gibt. Die Reformatoren sind ihm diejenigen, die „alles gut, und das Gute besser haben“ wollen,16 dabei tritt er in allen seinen Werken für eine kritisch-undogmatische Aneignung der Reformation und Luthers ein. Das berühmte „Berlinische Journal für Aufklärung“, das für die deutsche Debatte dessen, was Aufklärung sei und welche Ziele sie anzustreben habe, zentral war, gibt ganz selbstverständlich die „Skizze einer Geschichte der Aufklärung in Teutschland, von der Reformation an bis auf Kant“, verfasst von Daniel Jenisch, dem Philosophen und lutherischen Theologen. „Der mensch14 Friedrich Eberhard VON ROCHOW, Berichtigungen. Erster Versuch, in: Friedrich Eberhard von Rochows sämtliche pädagogische Schriften, hg. von Fritz JONAS und Friedrich WIENECKE, Bd. 1–4, Berlin 1907–1910, hier Bd. 2, S. 255. 15 Ebd., S. 256. 16 Friedrich Eberhard VON ROCHOW, Formieren und reformieren, in: Friedrich Eberhard von Rochows sämtliche pädagogische Schriften (wie Anm. 14), Bd. 3, S. 177. Zu dem Monarchen, der gerne als Aufklärer auf dem Thron bezeichnet wird, siehe Holger BÖNING, 300 Jahre Friedrich II. Ein Literaturbericht zum Jubiläumsjahr 2012. Eingeschlossen einige Gedanken zum Verhältnis des großen Königs zu seinen kleinen Untertanen, zu Volksaufklärung und Volkstäuschung sowie zur Publizistik, Bremen 2013.

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liche Verstand“, so findet dieser Autor ein schönes Bild für das menschliche Bedürfnis nach Aufklärung wie für die in dieser wirkenden reformatorischen Tradition. Der menschliche Verstand gleicht in seiner geistigen Gefangenschaft der Unwissenheit und Unterdrückung, einem gefangenen schlummernden Löwen, dem nur das Geklirre seiner Ketten in’s Ohr tönen darf, um das in ihm gerechte Selbstgefühl des Edelmuths und des Stolzes rege zu machen. Er fährt auf, schüttelt die Mähne, reißt an den Ketten, stürmt gegen die umzäunende Mauer, und alles steht und staunt mit Zittern den Kampf der aufstrebenden Kräfte an. Und wenn Freyheit die oberste Bedingung der Entwickelung aller Geisteskräfte, und: Sapere aude der Losungsspruch aller Aufklärung ist: so wäre die Reformation gewiß der Zeitpunkt, wo der Ruf nach Freyheit, den die unterdrückte Menschheit bis dahin kaum zu stöhnen gewagt, und der ihr, wenn ich mich so ausdrücken darf, immer gleichsam wie auf den Lippen erstorben war, dem im Todesschlummer versunkenen menschlichen Geist mit aller seiner Kraft in’s Ohr tönte.17

Die Bezugnahme auf die Reformation ist schon in den ersten Anfängen der Volksaufklärung zu finden. Der Steuerbeamte Christian Gotthold Hoffman, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Sachsen auf die Suche nach außergewöhnlichen Persönlichkeiten in den niederen Ständen geht und dabei einen selbstdenkenden, Mathematik und Philosophie treibenden Bauern entdeckt, kann 1756 in seinem Loblied auf die Aufklärung nicht genug dem großen Dr. Luther danken: Denn da dieser unter andern, für das Heyl und Glückseeligkeit der menschlichen seele, guten Sachen, auch besonders die unvergleichliche Wohlthat, derer Schulen, die Freyheit zu philosophieren, und die Philosophie frey zu lehren, mächtig hergestellet: So hat sein Nachfolger, der Hersteller und Verbesserer der Welt=Weißheit, der andere sehr große Mann, Christian Thomasius, herfür brechen können, und nunmehro auch ein Bauer, folglich jedermann[,] die freye Erlaubniß, die weltweißen Bücher frey lesen und dadurch ein weltweiser Mensch werden zu dürffen.18

Ohne Luther kein Thomasius, ohne diese beiden kein gelehrter Bauer, der den Namen Johann Ludewig trägt, in Cossebaude bei Dresden ein kleines Gut bewirtschaftet und noch beim Mistfahren ein philosophisches Buch liest. Er wird 1756 der Öffentlichkeit in einer eigenen Monographie als Beispiel dafür 17 Daniel JENISCH, Skizze einer Geschichte der Aufklärung in Teutschland, von der Reformation an bis auf Kant, in: Berlinisches Journal für Aufklärung 1 (1788), 1. St., S. 71–95, 160–182, hier S. 74 f. 18 Johann LUDEWIG, Der Gelehrte Bauer. Mit D. Christian Gotthold Hoffmanns Vorbericht. Neudruck der ersten Ausgabe, Dresden 1756. Mit einem Nachwort von Holger Böning, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, Vorbericht, S. 67 f.*. Zitate nach der dortigen Neupaginierung des nicht paginierten Vorberichts. Siehe auch Holger BÖNING, Gelehrte Bauern in der deutschen Aufklärung, in: Buchhandelsgeschichte (1987), H. 1, S. B 1– B 24.

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vorgestellt, dass es, „wenn wir noch nicht genung kluge und weiße Leute haben, es nicht an Mitteln, sondern an Willen mangele“. Hauptsächlich aber, fährt Hoffmann fort, gebe der von ihm entdeckte Bauer „auch großen Anlaß, die unendliche Größe der unbeschreiblichen Wohlfahrt, einzusehen, welche die weise Vorsicht, des großen und unbegreiflichen GOttes, durch Dr. Luthern, und den Religions-Frieden unseren Seelen, und denen Wissenschafften geschencket“.19 Es ist nicht allein die Beschwörung der Reformation als Geburtsereignis des Selbstdenkens und freien Forschens in einem allgemeineren Sinne, die im 18. und 19. Jahrhundert zu finden ist, sondern besonders jene Aufklärer, die sich programmatisch an alle Teile der Bevölkerung richten wollen, sehen im Wirken Luthers die Wurzeln ihres eigenen Engagements. „Schon durch das Wesen der Reformation“, heißt es 1792 im Berliner „Journal für Gemeingeist“, war es zugleich bestimmt, „daß die bessern Einsichten, die sie der Menschheit verhieß, nicht im ausschließenden Besitz irgend einer Kaste bleiben, sondern Allen ohne Unterschied, nach dem Maße ihrer Fähigkeit und ihrer Neigung, zu Theil werden sollten“. Und mit den sich dem anschließenden Worten hört man, dass seit drei Jahren ein weiteres Epochenereignis das Publikum erregt: „Auch die Fortschritte der Staatskunst“, heißt es über das Reformationswerk, blieben daher nicht bloß in den Cabinetten, worin sie auch wohl schwerlich zu einer für die Menschheit wünschenswerthen Vollkommenheit möchten gediehen seyn; sondern gingen nach und nach in die Volkskenntnisse über. Der Streit zwischen der geistlichen und weltlichen Macht, und über ihre Befugniß zur Herrschaft, wurde nur durch den Zutritt des Volks zu der weltlichen Partei, für diese entschieden: man bemerkte daher in jenen Zeiten schon die Keime des großen Gedankens: daß das Volk keine bloße leblose Masse sei, deren Behandlung allein von der gnädigen oder ungnädigen Willkühr der Herrscher abhange.20

Entsprechend wird als „Wesen der Aufklärung“ bestimmt, dass die Kenntnisse, worüber sie sich erstreckt, nicht das ausschließliche Monopol einiger Wenigen sind, die nach eignem Belieben Gebrauch oder Mißbrauch davon machen können, sondern daß sie mehr oder weniger durch alle Klassen der Nation vertheilt, daß einem jeden, mehr oder weniger, die ersten Grundsätze davon geläufig oder wenigstens zugänglich sind.21

Genau dies ist der Kern der Volksaufklärung.

19 LUDEWIG, Der gelehrte Bauer (wie Anm. 18), Vorbericht, S. 678*. 20 Ueber politische Aufklärung, in: Journal für Gemeingeist 2 (1793), 6. St., S. 542 f. 21 Ebd., S. 507.

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III. Es mag der Prolegomena zum Verhältnis von Reformation und populärer Aufklärung zunächst einmal genug sein, ausreichend jedenfalls, um zu einigen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu kommen, die schon den Aufklärern bei einem vergleichenden Blick auf die reformatorische Bewegung im 16. und auf jene Bürgerinitiative im 18. Jahrhundert ins Auge sprangen. Wie Luther sich bewusst absetzte von einer rein innertheologischen Diskussion, so die Volksaufklärer von einer sich selbstgenügsam allein auf die Gelehrten und Gebildeten begrenzenden Aufklärung, die in ihren Augen diesen Ehrennamen nur verdient, wenn sie allgemein zugänglich wird. Wie die Reformation das Pfarrhaus zu einer originären bürgerlichen Institution des Protestantismus werden ließ,22 so propagierte die Volksaufklärung ein neues Selbstverständnis des Geistlichen als Volkslehrer, der nicht allein für das seelischgeistliche, sondern auch für das leibliche Wohl seiner Gemeinde Verantwortung trägt, eine Verantwortung, der er in praktischer Aufklärung gerecht zu werden hat. Wie Luther die christliche Lehre in seinem „Kleinen Katechismus“ in eine „kleine, schlichte, einfältige Form“ bringt, so entwickeln die Volksaufklärer mit einer Theorie der Popularität unterschiedlichste literarische und publizistische Formen, um das aktuelle Wissen und aufklärerisches Gedankengut zu allgemeinem Besitz werden zu lassen.23 Ziel Luthers wie der Volksaufklärer ist es – ausgedrückt fast wortgleich –, dass der gemeine Mann nicht einfach dahinlebe „wie das liebe Vieh und die unvernünftigen Säue“, sondern dass er teilhabe an Wissen und Diskussionen seiner Zeit.24 Wie sich Luther selbst auf die christliche Unterweisung von Jugendlichen und Erwachsenen konzentrierte, so nahmen die Aufklärer ihr reformatorisches Werk in die eigene Hand, zur Mentalitätsveränderung der Aufzuklärenden beizutragen und eine neue Aufgeschlossenheit für praktische Veränderungen und aufklärerisches Gedankengut zu schaffen. Wo die reformatorische Theologie 22 Dazu Hellmut ZSCHOCH, Reformatorische Existenz und konfessionelle Identität. Urbanus Rhegius als evangelischer Theologe in den Jahren 1520 bis 1530, Tübingen 1995, speziell S. 130. 23 Dazu Reinhart SIEGERT, Die „Volkslehrer“. Zur Trägerschicht aufklärerischer Privatinitiative und ihren Medien, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 2 (1999), S. 62–86. Beispielhaft für diese Art von Volkslehrern ist Johann Moritz Schwager. Zu ihm Frank STÜCKEMANN, Johann Moritz Schwager (1738–1804 ). Ein westfälischer Landpfarrer und Aufklärer ohne Misere, Bielefeld 2009. Vgl. außerdem: Holger BÖNING, Johann Moritz Schwager als Volkskundler und Volksaufklärer, in: Walter GÖDDEN/Peter HEßELMANN/ Frank STÜCKEMANN (Hg.), „Er war ein Licht in Westphalen“. Johann Moritz Schwager (1738–1804). Ein westfälischer Aufklärer, Bielefeld 2013, S. 53–78. 24 SCHILLING, Martin Luther (wie Anm. 10), S. 439.

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mit ihrer neuen Gnaden- und Heilstheologie eine evangelische Mentalität hervorbrachte, da wollten die Volksaufklärer auf die „Veredlung der Sinnesart“ – sprich Mentalität – „und des Geschmacks einwirken“, „Vorurtheilen und Aberglauben“ entgegen arbeiten, und „dagegen ächte Wirthschaftlichkeit befördern“ und „die wahre Lebensphilosophie“ mehr und mehr verbreiten.25 Dem Reformator wie den Aufklärern gilt die Förderung von Bildung und Wissenschaften als gottgefälliges Werk. Wo Luther forderte, tüchtigen Knaben auch mit Nutzung des Kirchenguts Bildung zu ermöglichen, da förderten viele Aufklärer talentierte und bildungshungrige Menschen, die sie in den unteren Ständen entdeckten. Auch in ihrer Auffassung, dass jeder in seinem Stande seine Pflichten zu erfüllen habe, waren die Aufklärer anfänglich Luther verpflichtet, der, wie Heinz Schilling betont hat, nicht nur hohe Barrieren gegen den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg des Einzelnen errichtet, sondern auch der Gesellschaft soziale Statik verordnet hat. Doch erweist sich gerade in dieser Frage mit der Entwicklung der Volksaufklärung, dass Bildung und Aufklärung gegen solche Grenzsetzungen eine eigene Dynamik entfalteten, denn hier gilt das Prinzip, dem 1804 – fast drei Jahrhunderte nach Luther – ein Kritiker der „Jenaischen Allgemeinen Literatur Zeitung“ in eine Frage verkleidet Ausdruck gegeben hat: „Hat aber einmal die freye Bildung des Menschen ihren Anfang genommen, wer will sie beschränken?“26 25 Neuer Haus- und Volksfreund zur Belehrung und Unterhaltung für den deutschen Bürger und Landmann, hg. von C[hristian] C[arl] ANDRÉ für 1823–1839 [und für Jg. 9–15 Johann Heinrich MEYER]. – 2. Titel: Nationalkalender für die deutschen Bundesstaaten auf das Jahr 1823–1839 für Katholiken, Protestanten, Griechen, Russen, Israeliten (nach dem Stuttgarter Meridian) zum Unterricht und Vergnügen für Geistliche und Weltliche, Lehrer, Beamte, Bürger und Landleute faßlich eingerichtet von Christian Carl ANDRÉ, Jg. 1–8 (1823–1830) und 9–15 (1833–1839), Stuttgart/Tübingen [seit 13 (1837) Stuttgart und Augsburg]: J. G. Cotta 1823–1830, 1833–1839, Zitat: Vorrede des ersten Jahrgangs (1823). 26 Die Frage wird gestellt in einer Rezension des Werkes: [Johann Christian] REIL, Pepinieren zum Unterricht ärztlicher Routiniers als Bedürfnisse des Staats nach seiner Lage wie sie ist, Halle: Curt 1804, in der JALZ 1 (1804), Nr. 268. Sie ist eine Reaktion auf den Vorschlag zur Ausbildung „eines ganz neuen Standes medicinischer Routiniers, die, nach ihren äußeren Verhältnissen, zu ihrer Sphäre sich etwa eben so verhalten müßten, wie der eigentliche gelehrte Arzt zu den höheren, gebildeten Ständen seiner Nation; in Rücksicht ihrer innern Tauglichkeit aber zur Ausübung des Heilgeschäftes, durch methodischen Unterricht in besonderen, vom Staate neu zu gründenden Schulen (Pepinieren), bis zu derjenigen Vollkommenheit gebracht würden, bey welcher die medicinische Routine als Kunstfertigkeit hervortreten […] kann“ (Sp. 267). Dabei will Reil, dass diese neuen handwerklichen „Volksärzte“ auch im sozialen Habitus nicht aus der von ihnen betreuten Schicht herausragen und ihre Bildung und Ausbildung zu diesem Zweck beschränkt bleiben sollten. Dazu merkt der Rezensent der JALZ an: „Kann, ohne allgemeine Veredelung des ganzen Menschen, jenes Gefühl seiner Pflicht und Bestimmung in ihm

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Eine weitere, dann stark politisierte Bezugnahme auf die Reformation erfolgt in der mit der Französischen Revolution intensivierten politischen Volksaufklärung. Nun ist mancher Aufklärer sich bewusst, dass was einst „als Reinigung der Kirchenlehre und Sitten aus der großen Revolution des sechszehnten Jahrhunderts hervorgieng“, nun an „Reinigung politischer Grundsätze und Sitten aus den itzigen Revolutionen“ hervorgehen müsse.27 Stärker allerdings als bei Luther ist in der Volksaufklärung die optimistische Überzeugung beheimatet, der Mensch könne kraft eingeborener Vernunft und mit dem ihm eigenen Vervollkommnungstrieb seine irdische Existenz selbsttätig gestalten.28 Die Unterscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Reich ist bei vielen geistlichen Vertretern der Volksaufklärung wohl weniger stringent als bei Luther, ebenso auch ein Verständnis des Erdendaseins als Durchgangsstadium, so sehr auch Luther dazu beigetragen hat, das Leben der Menschen auf das Diesseits zu richten. Die Überzeugung von der Erde als Jammertal und der himmlischen Heimat als des eigentlichen Ziels menschlichen Seins verliert an Bedeutung. Typischer für die Volksaufklärung ist die Überzeugung, einen „Himmel auf Erden“ schaffen zu können und zu wollen. „Man hat sich einen Himmel geträumt, der – niemals zu finden seyn wird“, schreibt 1797 Christian Gotthilf Salzmann, einen Himmel, wo wir, ohne Anstrengung, heilig und gerecht seyn, immer genießen, die Befriedigung aller unserer Wünsche erhalten werden. So handelt ein Thor, der unthätig ist, seinen Zustand zu verbessern, in der Hoffnung zu einer reichen Erbschaft, die ihm geweckt werden, das der Vf. in der Folge so schön schildert, und auf welches er, bey der Beschreibung des von den Routiniers zu leistenden Eides, so bedeutende Ansprüche gründet? Hat aber einmal die freye Bildung des Menschen ihren Anfang genommen, wer will sie beschränken?“ (Sp. 271). 27 [August HENNINGS], Doctor Martin Luther! Deutsche gesunde Vernunft, von einem Freunde der Fürsten und des Volks; und einem Feinde der Betrüger der Einen und der Verräther des Andern. „Zweyte mit Zusätzen und zwey Abhandlungen vermehrte Auflage“ o.O. [„Nicht in Berlin, auch leider! nicht in Braunschweig, eher noch in Wien“]: o.Verl. 1793 [Erstaufl. o.O. 1792], S. III f. Siehe dazu auch [Franz Josias VON HENDRICH], Ueber den Geist des Zeitalters und die Gewalt der öffentlichen Meynung, o.O. [Leipzig]: o.Verl. 1797. Es handelt sich um eine für die zeitgenössische Diskussion über die neuen Formen und Strukturen der Öffentlichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts bedeutsame Schrift, in der sich Kapitel finden wie „Wie entsteht die öffentliche Meinung?“, „Wie werden heutiges Tages Revolutionen möglich?“, „Es ist gefährlich die Aufklärung gewaltsam zu unterdrücken“, „Vergleichung der Reformation mit der französischen Revolution“, „Wodurch werden Revolutionen gehindert?“, „Aufklärung und Geistes-Freyheit müßten befördert werden“. Interessant sind Ausführungen über Bildung des Nationalcharakters durch Aufklärung und Geistesfreiheit. Aufklärung und Volksaufklärung, so das Fazit des Autors, schützen vor Revolutionen. 28 Dazu SCHILLING, Martin Luther (wie Anm. 10), S. 195 f.

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alles und mehr noch, ohne Mühe geben wird, was er sich itzo nur durch große Anstrengung verschaffen kann. Suchet, so werdet ihr finden! Glaubt nur fest, daß der Himmel auf Erden sey, und bemühet euch, in denselben zu kommen: so wird euer Suchen nicht umsonst seyn.29

In einem Lied von Rudolph Zacharias Becker – es findet sich in seinem Mildheimischen Liederbüchlein – wird dieser Gedanke in einem „Danklied, für die fortschreitende Aufklärung“30 wie folgt ausgedrückt: Die Erde ward ein Jammerthal Von Not und Plagen ohne Zahl. Nun wird es besser in der Welt: Vernunft und Wissenschaft erhält Den Sieg, vertreibt des Irrthums Nacht, Zerstört der Bosheit stolze Macht. Mit Mund und Herzen danken wir, O Gott, für diese Gnade dir!31

Ja, der Mensch wird, sich selbst und seine Umwelt vervollkommnend, zum Ebenbild Gottes: Wir sollten, seinem Vorbild gleich, Auf Erden bau’n ein Himmelreich, Darin, als Brüder, allgemein Durch Lieb’ und Weisheit glücklich seyn; Selbständig, frey, aus eignem Mut In allem tun, was recht und gut.32

Die schönste Definition dessen, was neu ist an der Volksaufklärung, hat 1795 Friedrich Eberhard von Rochow als Resultat einer kritischen Aneignung Luthers gefunden: Doch so lange unser Volks-Unterricht noch so organisirt ist, daß zahlreiche MenschenClassen sich einbilden müssen, der mit göttlicher Weisheit gebaute Leib sey nichts als eine

29 Christian Gotthilf SALZMANN, Der Himmel auf Erden, Schnepfenthal: Buchhandlung der Erziehungsanstalt 1797, S. 7 f. 30 Rudolph Zacharias BECKER, Mildheimisches Lieder-Buch von acht hundert lustigen und ernsthaften Gesängen über alle Dinge in der Welt und alle Umstände des menschlichen Lebens, die man besingen kann. Gesammelt für Freunde erlaubter Fröhlichkeit und ächter Tugend, die den Kopf nicht hängt, Gotha: Becker 1815 [verm. und verbesserte Auflage], Nr. 720. 31 DERS., Mildheimisches Lieder-Buch von 518 lustigen und ernsthaften Gesängen über alle Dinge in der Welt und alle Umstände des menschlichen Lebens, die man besingen kann. Gesammelt für Freunde erlaubter Fröhlichkeit und ächter Tugend, die den Kopf nicht hängt, Gotha: Becker 1799, Nr. 426. 32 DERS., Mildheimisches Lieder-Buch (wie Anm. 30), Nr. 720.

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verächtliche Hülle, keiner Ausbildung und Vorsorge werth – die Welt ein Jammerthal, und […] nur eine Herberge für kurze Zeit – das Leben selbst, unstreitig die größte aller Wohlthaten Gottes, weil ohne sie alle übrigen Wohlthaten nicht existiren könnten, nur ein elend und jämmerlich Ding, – so lange wird und kann auch National-Stupidität, deren Gefährtin gewöhnlich Armuth ist, kein Ende nehmen.33

IV. Zu einem weiteren Punkt, der den Pressehistoriker fasziniert. Luther wird Aufklärern und Volksaufklärern als der erste große volkssprachige Publizist zum bewunderten Vorbild.34 Heinz Schilling hat von dem überragenden publizistischen Talent und dem Gespür für die bestimmenden Kräfte seines Zeitalters gesprochen, das den Reformator ausgezeichnet habe.35 Wenn über die „Gewalt der öffentlichen Meinung“ oder über die Entstehung der Öffentlichkeit diskutiert wird, wenn gefragt wird, „Wie werden heutiges Tages Revolutionen möglich?“ oder behauptet wird, „Es ist gefährlich die Aufklärung gewaltsam zu unterdrücken“, dann liegt es stets nahe, sich auf Luther zu berufen und

33 Friedrich Eberhard VON ROCHOW, Ueber die Nothwendigkeit einer zweckmäßiger[e]n Einrichtung der nieder[e]n Stadt- und Landschulen […], in: Neue Deutsche Monatsschrift 3 (1795), September, S. 3–13, hier S. 6. 34 Zur Mediennutzung in der Reformation existiert eine recht breite Forschungsliteratur. Hier nur eine Auswahl wesentlicher Titel: Rainer WOHLFEIL, Reformatorische Öffentlichkeit, Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, in: Ludger GRENZMANN/Karl STACKMANN (Hg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformation, Stuttgart 1984, S. 41–54; Hans-Joachim KÖHLER (Hg.), Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, Stuttgart 1981, darin besonders wichtig: Robert W. SCRIBNER, Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen?, S. 65–76. Außerdem: DERS., Volkskultur und Volksreligion: Zur Rezeption evangelischer Ideen, in: Peter BLICKLE/Andreas LINDT/Alfred SCHINDLER (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich 1985, S. 151–161; Johannes BURKHARDT, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002; Marcus SANDL, Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation, Zürich 2011; Thomas KAUFMANN, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2012. Ebenfalls sehr aufschlussreich zur Forschungsdiskussion insgesamt und insbesondere zur Studie von Marcus Sandl siehe Silvia Serena TSCHOPP, (K)eine neue Mediengeschichte der Reformation. Zu Marcus Sandls Studie Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37 (2012), H. 2, S. 462–475. 35 SCHILLING, Martin Luther (wie Anm. 10), S. 620.

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Parallelen zur Reformation aufzuzeigen.36 Zur Wahrheitsfindung an die Öffentlichkeit zu appellieren, das imponiert noch gut zwei Jahrhunderte später nicht nur Johann Mattheson, Herausgeber der ersten Moralischen Wochenschrift in Deutschland und der ersten deutschen Musikzeitschrift, sondern nach ihm eine ganze Generation aufklärerischer Publizisten, denn Annäherung an die Wahrheit, so waren sie überzeugt, ist allein in Kritik und öffentlicher Debatte, in Rede und Gegenrede möglich.37 Als 1791 Friedrich Carl von Moser „Ueber Publicität“ nachdenkt, bezieht er sich angesichts der „unersättlichen Leselust aller Stände“ ausdrücklich auf den Reformator. Es sei längst vergeblich, den „Strohm der Publicität“ aufhalten zu wollen: Die Zeiten sind vorbey und es ist zu spät, das Licht verbauen zu wollen; je länger je mehr kommt es nur noch darauf an: ob diß Licht nur leuchten und erleuchten, oder zünden und verbrennen solle? Ob der Bürger und Bauer wißen dürfte, was er, von Gott- und Rechtswegen, wißen solle? davon kan keine Frage mehr seyn; sie wißen sich auf alle Fälle Rath zu schaffen und schaffen sich solchen würklich; sondern davon ist die Frage: ob den Hirten und Vätern der Völcker gleichgültig seyn könne und dürfe, daß diese das zu wißen erlaubte und berechtigte recht wißen.

Moser spricht unter Berufung auf das reformatorische Schrifttum von leicht faßliche[n] und durch Popularität und Herzlichkeit sich auszeichnenden kleinen Schriften, welche eigentlich zur Belehrung, Beruhigung und Zurechtweisung des gemeinen Manns geschrieben, unter das Volck in dem möglichst geringen Preis vertheilt und am besten an daßelbe verschenckt werden. Je kürzer, je einfacher und einfältiger sie sind, je beßer sind sie.

Und – ein weiterer Bezug auf den Reformator – billig sollten diese Volksschriften alle so geschrieben sein, „wie Luther zu seiner Zeit von den Predigern verlangte: daß sie Hans hinter der Thüre verstehe“.38

36 [HENDRICH], Ueber den Geist des Zeitalters und die Gewalt der öffentlichen Meynung (wie Anm. 27). 37 Zu Mattheson als einem der Begründer öffentlicher Kritik in der frühen deutschen Aufklärung siehe Holger BÖNING, Der Musiker und Komponist Johann Mattheson als Hamburger Publizist. Studie zu den Anfängen der Moralischen Wochenschriften und der deutschen Musikpublizistik. Zweite vollständig durchgesehene und stark erweiterte Auflage zum 250. Todestag Johann Matthesons, Bremen 2014 sowie DERS., Zur Musik geboren. Johann Mattheson. Sänger an der Hamburger Oper, Komponist, Kantor und Musikpublizist. Eine Biographie, Bremen 2014. 38 [Friedrich Carl VON MOSER], Publicität (geschrieben im Dec. 1791.), in: Neues Patriotisches Archiv für Deutschland 1 (1792), S. 519–527.

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Die Volksaufklärung begreift sich mit tausenden Schriften und zahllosen Periodika, die sie nutzt – Zeitungen, Zeitschriften, Kalender und Intelligenzblätter, Kolportageschriften und Flugblätter – als Fortsetzung der Medienrevolution, die mit der Reformation einherging.39 „Gute und zweckmäßige Schriften werden gewiß zur Verbreitung richtiger Ansichten recht viel beitragen“, so weiß man. Und weiter: „Von großer Wichtigkeit sind hier die sogenannten Volksschriften. Diese waren von jeher ein Hebel der öffentlichen Meinung. Was haben die Flugschriften zur Zeit der Reformation nicht gewirkt“. „Der gemeine Mann“, meint man, „hat auch schon mehr Zutrauen zu einer Sache, wenn er sie nur gedruckt sieht. Wenn eine solche Volksschrift greift, so ist sie ein ausgeschleuderter Feuerbrand, der allenthalben zündet.“40 Bemerkenswert, welche Auffassung 1832 eine Schrift der katholischen Volksaufklärung formuliert, die sich der Bedeutung der Reformation und deren Überzeugung, die Bibel sei die Volksschrift, bewusst ist: Bei der Austheilung von Schriften muß das Neue Testament die erste Stelle einnehmen. Jede Familie muß ein Exemplar davon besitzen. […] Soll dieses Buch der Bücher aber Nutzen schaffen und soll es kein vergrabener oder todter Schatz bleiben, so darf es der gemeine Mann nicht blos lesen, sondern der Pfarrer muß es ihm auch erklären – in Schule und Kirche, und es wird dann schon seine fruchtbare und lebensreiche Kraft entwickeln. Die Unbekanntschaft des katholischen Volkes mit der heiligen Schrift ist unverantwortlich.41

Und auch für die katholische Volksaufklärung gilt das sich anschließende Wort – es könnte von Luther stammen: Der Geistliche, welcher Reformen einführen will, muß sich durch Thätigkeit und Treue in seinem Amte auszeichnen. Die gute Sache erlangt schon einen großen Vorsprung, wenn es auch dem gemeinen Manne klar geworden, daß der Pfarrer nicht die Wolle, sondern die Schafe suche.42

Und noch dieses: In ihren besten Hervorbringungen unter den Aufklärungsschriften orientieren sich Autoren an den wichtigsten Merkmalen der lebendigen 39 Dazu hier noch die folgenden Literaturhinweise: Alexander HEINTZEL, Propaganda im Zeitalter der Reformation. Persuasive Kommunikation im 16. Jahrhundert, St. Augustin 1998; Wolfgang J. MOMMSEN (Hg.), Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Studien zur Sozialgeschichte der Reformation in England und Deutschland, Stuttgart 1979; Volker LEPPIN, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618, Gütersloh 1999. 40 Aufruf an die Deutschen zur Bildung eines National-Vereines zur Beförderung der ächtkirchlichen Aufklärung und einer gründlichen kirchlichen Reformation, Zweibrücken: G. Ritter 1832, S. 21 f. 41 Ebd., S. 22 f. 42 Ebd., S. 24 f.

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Luthersprache, an Anschaulichkeit und Bilderreichtum, wie Luther war ihnen bewusst, dass man sich an der mündlichen Sprache orientieren musste, wollte man den gemeinen Mann ansprechen, auch folgten sie dem Reformator in dessen Interesse an Sprichwörtern und Spruchweisheiten. Ausdrücklich auf die Reformation bezieht sich die Volksaufklärung auch bei ihren nicht immer glücklichen Bemühungen um aufgeklärtes Liedgut und neue Gesangbücher. Luther, weiß man, hatte das Gesangbuch als Bibel des gemeinen Mannes gewünscht. Kurz: In ihrer Suche nach geeigneten Medien der Volksaufklärung wissen sich deren Träger Luther und der Reformation verpflichtet. Nicht untypisch ist das Bewusstsein, zu Ende und weiterzuführen, was im 16. Jahrhundert begonnen wurde. „Die Reformation der itzigen Welt übertrift die Reformation Luthers unendlich weit“, tönt es 1795 in einer Debatte um die Reform der Volkskalender. Luthers Werk habe nur einen Gegenstand gehabt, „nemlich die Religion; aber jezt wird Alles, was Menschen und menschliche Dinge angeht, vom Hirtenstabe an bis auf den königlichen Scepter, von der Fibel an bis auf die Bibel verändert und in eine andere Form gegossen“.43

V. Nicht zuletzt, und dies zum Abschluss, unternehmen es Volksaufklärer, „Leben, Thaten und Meynungen D. Martin Luther’s“ in Lesebüchern „für den Bürger und Landmann“ zu popularisieren und ihn als „alten treuen Freund und Weltverbesserer aus dem deutschen Volke“ vorzustellen.44 Verbunden sind Biographien und geschichtliche Darstellungen mit einem neuen historischen Bewusstsein und der Überzeugung, dass die Geschichte „eine vortrefliche Lehrmeisterin“ ist. Oder mit anderen Worten: „Was eigne Erfahrung nicht lehrt, das kann fremde thun“.45 In einem in Gera erschienenen Werk ist es 1802 ein Pastor Ehrlich, der in der Rolle des Erzählers Luthers Leben an fünf Sonntagen erzählt und Fremd43 Etwas über die schlesischen Kalender, in: Schlesische Provinzialblätter 22 (1795), 9. St., S. 215–227, hier S. 215 f. 44 Adolph KRÜGER, Ein alter treuer Freund und Weltverbesserer aus dem deutschen Volke [Martin Luther], demselben freundlich in Erinnerung gebracht (Schillings-Bücher des Rauhen Hauses, 5 u. 6), Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses 1849. 45 [Joseph KURZ], Allgemeinfaßliche Geschichte der französischen Revolution. Für den gemeinen Mann erzählt von Gottlieb Wahrmuth, Bd. 1–3 [bzw. 1–5], Straubing: Schmid [Bd. 3: Straubing: Heigl] 1803/1805 [Fortsetzung u. d. T. „Neueste Zeitgeschichte seit dem Frieden von Lüneville“, Bd. 1–2, Straubing: Heigl 1807/1808 (siehe dort), auch gezählt als Bd. 4–5 der „Allgemeinfaßlichen Geschichte der franz. Revolution“], Vorwort zu Bd. 1, fol. 3r.

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wörter auf Nachfragen der Zuhörer erklärt.46 Als Johann Friedrich Wilhelm Tischer sich daran macht, „Luthers vornehmste Schicksale und Meinungen kurz und deutlich dem Volke lesbar“ vorzustellen, begründet er seine Arbeit damit, die bereits vorhandenen Werke seien „doch zu gelehrt und für das Volk unverständlich“.47 Der Autor ist überzeugt, dass die Lebensgeschichte des Reformators sich zu aufklärerischen Zwecken eignet, sie nicht zuletzt bei der Bekämpfung von Vorurteilen und Aberglauben oder bei der Dämpfung des Widerstandes gegen neue Gesangbücher nützlich sein könne: Luthers Ansehn ist unter dem Volke groß und unumstößlich. Erfährt es nun, was Luther von diesem und jenem Stücke dachte, wie er von vielen noch jetzt herrschenden Volksmeinungen und Vorurtheilen frey war, so glaube ich, muß das bleibenden und wichtigen Eindruck machen.48

Und als derselbe Autor „Dr. Martin Luthers Sittenbuch für den Bürger und Landmann“ herausgibt, urteilt selbst ein Rezensent der katholischen „Oberdeutschen Allgemeinen Literatur Zeitung“, ein Journal, das große Sympathie für die populäre Aufklärung zeigt, sehr positiv: Zur Rechtfertigung seines Unternehmens sagt der Verfasser in der Vorrede: ‚Luther behauptet immer noch einen vorzüglichen Rang unter seinen Glaubensgenossen, und seine

46 [Ernst BORNSCHEIN], Leben und Meinungen des seeligen Herrn D. Martin Luthers. Ein Lesebuch für den Bürger und Landmann vom Verfasser des Lebens und der Thaten des General[s] Bonaparte, Gera/Leipzig: Haller 1802. Zu Bornschein siehe Werner GREILING, Volksaufklärung und Reformation. Die Luther-Biographie des Johann Ernst Daniel Bornschein, in: Jens BEGER (Hg.), Hessen und Thüringen. Festschrift Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag, Jena 2013, S. 191–206. Siehe an weiteren Quellen: C. F. HEMPEL, Geschichte der Reformation für den protestantischen Bürger und Landmann, Leipzig: Friedrich Christian Dürr 1817 [2. Aufl. ebenfalls Leipzig 1817; 3. Aufl. 1834]; G[ottfried] GENTZEL (Hg.), Volksbuch. Luther’s Leben, Sterben und vollständige Geschichte der Reformation. Nebst noch gar Vielem, was zu wissen jetzt Jedem noth, von welcher Confession er sey. Mit zehn Bildnissen und Darstellungen der echten Handschrift Luther’s, 3. unveränd. Aufl. Berlin: Vereins-Buchhandlung 1846 [Erstaufl. und 2.–4. Aufl. Berlin 1846]; [ANONYM], Luther. Das Wissenswürdigste aus dem Leben und Wirken des Reformators, zur Belehrung der Landgemeinden, o.O.: o.Verl. o.J. [1817]; Philipp MARHEINEKE, Die Reformation, ihre Entstehung und Verbreitung in Deutschland. Dem deutschen Volk erzählt, Berlin: Carl J. Klemann 1846. 47 [Johann Friedrich Wilhelm TISCHER], Leben, Thaten und Meynungen D. Martin Luther’s. Ein Lesebuch für den Bürger und Landmann, Leipzig: Voß und Leo 1793 [2. Aufl. ebd. 1794; 3. Aufl. 1795; 4. Aufl. 1802; 5. Aufl. 1818; n.A. 1819; zusammen mit 9 weiteren Reformatorenbiographien im 19. Jahrhundert auch unter dem gemeinschaftlichen Titel: Lebensbeschreibungen berühmter Reformatoren; ein Lesebuch für den Bürger. – ND (angebl. „2. Aufl.“) Zofingen 1795], S. III f. 48 Ebd., S. IV.

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Reden gelten als Aussprüche eines weisen Mannes, dabey ist sein Vortrag so kraftvoll und kernhaft, so mit Beyspielen und Gleichnissen aus dem gemeinen Leben durchwebt, und eben darum so verständlich und deutlich, daß er gewiß seinen Zweck bey den Lesern nicht verfehlen kann.‘ Diesem Urtheile wird kein Unpartheyischer, der das Gute schätzt, wo er es findet, seinen Beyfall versagen.49

49 Schriften vermischten Inhalts, in: Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, 35. St. vom 23. März 1795, Sp. 567.

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Lokale Reformationsjubiläen in Thüringen Aspekte zur Einführung der Reformation und ihrer Erinnerung vor Ort

Die Chroniken trugen oft dazu bei, in vielen Städten den Gemeinsinn kräftig zu fördern, der nur in der Liebe zum Vaterlande, zum Heimathorte wurzeln kann, für diese Liebe aber ist die Kenntniß der vaterländischen Geschichte der sichergedeihliche Boden; diesen anzubauen, jene zu wecken, und die Anhänglichkeit an unser Land, unsre Stadt, unser theures hochverehrtes Fürstenhaus zu nähren, schwebte den Herausgebern als Hauptzweck ihrer Arbeit mit vor.1

Die Worte, mit denen Ludwig Bechstein (1801–1860) seine zweiteilige Chronik der Stadt Meiningen von 1834/35 einleitet, fassen die Motive einer neuen Fokussierung auf die regionale und lokale Geschichte mit populärem Anspruch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestens zusammen. Sie sind vor dem Hintergrund der Entstehung einer bürgerlichen Erinnerungskultur zu lesen, die sich in der Publizistik, in Denkmälern oder in Festen niederschlug. Besonders Jubiläen waren in Bechsteins Zeit ein willkommener Anlass, um Identität, auch in Bezug auf einen regionalen Rahmen, zu stiften. Dass die Konzentration auf lokale Ereignisse in der Jubiläumskultur kein Phänomen des 19. Jahrhunderts ist, sondern auf eine lange Tradition in der Frühen Neuzeit zurückgeht, hat die Forschung bereits aufgezeigt.2 Zu den frühesten Jubiläumstypen gehören die Reformationsjubiläen, die bereits im 17. Jahrhundert gefeiert wurden. Neben den großen Feiern, die sich auf den Thesenanschlag Luthers von 1517 und die Confessio Augustana von 1530 beziehen, haben sich mancherorts bereits zur selben Zeit lokale Reformationsjubiläen etabliert, die an die Einführung der neuen Lehre vor Ort erinnern. Dieser Abwandlung des städtischen Reformationsjubiläums wurde in der Forschung bisher weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet als den „klassischen“ Reformationsjubiläen. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammen1 2

Chronik der Stadt Meinigen von 1676 bis 1834, herausgegeben von dem Hennebergischen alterthumsforschenden Verein, Erster Theil, Meiningen: Keyßner 1834, S. IX f. Vgl. Ulrich ROSSEAUX, Das Historische Jubiläum als kommunales Ereignis. Die Entstehung und Verbreitung städtischer Jubiläen in der Frühen Neuzeit, in: DERS./Wolfgang FLÜGEL/Veit DAMM (Hg.), Zeitrhythmen und performative Akte in der städtischen Erinnerungs- und Repräsentationskultur zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart, Dresden 2005, S. 93–111 und besonders die Anmerkungen 1–12 mit weiteren Literaturhinweisen.

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hang die Arbeiten von Ulrich Rosseaux und Wolfgang Flügel, die sich mit der örtlichen Jubiläumskultur und insbesondere mit den lokalen Reformationsjubiläen in Sachsen beschäftigen.3 Für die Städte des heutigen Thüringens, das ebenfalls eines der Kernländer der Reformation ist, liegen allerdings kaum Beiträge zu dieser Thematik vor, was nicht zuletzt an den Besonderheiten der thüringischen Geschichte selbst liegen mag. Der Freistaat setzte sich bis ins 20. Jahrhundert hinein aus vielen unterschiedlichen und sehr kleinräumigen Territorien zusammen. Die Einführung der Reformation vor Ort war hier eine langwierige und vielschichtige, regional sehr unterschiedliche Angelegenheit, die in vielen Fällen nicht an einem konkreten Datum festgemacht werden kann. Der vorliegende Beitrag beruht auf grundlegenden Recherchen zu den Fragen, wann die Reformation in den Territorien des heutigen Thüringens eingeführt wurde und inwiefern hier lokale Reformationsjubiläen gefeiert wurden. Zunächst gilt es, einen Überblick über die Einführung der Reformation in einzelnen thüringischen Städten zu gewinnen. Die Auswahl dieser Städte wurde pragmatisch getroffen und richtet sich nach der über Bibliothekskataloge auffindbaren Sekundärliteratur. Im Fokus steht dabei die Suche nach möglichen Referenzdaten für spätere lokale Jubiläen; als Anhaltspunkte dafür dienen vor allem die ersten Visitationen.4 Jene auf diese Weise ermittelten Daten, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sind in einer Tabelle im Anhang verzeichnet. In einem weiteren Schritt sollen auf der Basis dieser Referenzdaten am Beispiel der albertinischen, reußischen und hennebergischen Territorien erste Beobachtungen angestellt werden, die gleichzeitig als Anregung für weitere Untersuchungen zur lokalen Reformationserinnerung in Thüringen zu verstehen sind. Für die Recherche der örtlichen Reformationsjubiläen wurde das Verfahren von Ulrich Rosseaux angewendet, der für eine Bestandsaufnahme frühneuzeitlicher städtischer Jubiläen systematisch den Karlsruher virtuellen Katalog (KVK) durchsuchte.5 Auch wenn dieser seit 2005 durch die fortschreitende Digitalisierung von Bibliotheks- und Archivbeständen eine enorme Erweiterung erfahren hat, stellte sich für die im ersten Teil des Beitrags ermittelte Datenbasis jedoch bald heraus, dass sich der weitaus größte Teil der die Jubiläen begleitenden Publizistik nicht auf diesem Wege auffinden ließ. Dies liegt daran, dass Schriften zur lokalen Erinnerungskultur weniger häufig als Monographien, sondern gerade im 18. und 19. Jahrhundert vielfach als Beiträge im periodischen Schrifttum erschienen sind, das inhaltlich über eine Katalogrecherche kaum zu 3 4 5

Vgl. Wolfgang FLÜGEL, Die Einführung der Reformation als lokales Ereignis. Die städtischen Reformationsjubiläen in Kursachsen im 18. Jahrhundert, in: ROSSEAUX/FLÜGEL/ DAMM, Zeitrhythmen und performative Akte (wie Anm. 2), S. 35–50. Literaturangaben beschränken sich in diesem ersten Teil auf Überblicksdarstellungen, um den Fußnotenapparat zu entlasten. Vgl. ROSSEAUX, Das Historische Jubiläum (wie Anm. 2), S. 96.

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erschließen ist.6 Weil eine Recherche in den Archiven und Bibliotheken vor Ort einen enormen zeitlichen und logistischen Aufwand bedeutet hätte, beschränken sich die Beobachtungen im zweiten Teil des Beitrags daher auf drei Fallbeispiele. Um die Rechercheergebnisse aus dem KVK nicht verfallen zu lassen, sind diese zusammen mit den Ergebnissen der jeweils intensiveren Recherchen vor Ort in einer Tabelle angehängt, die wiederum keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.7

1. Die Einführung der Reformation in Thüringen Die Reformation wird auch heute noch als entscheidender Umbruch in der deutschen Geschichte angesehen. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie auf kurze und lange Sicht Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur der folgenden Jahrhunderte prägte. Die neuere Forschung versucht aus guten Gründen vor allem den Prozesscharakter der Reformation hervorzuheben, die zwischen dem späten Mittelalter und dem Beginn des 17. Jahrhundert verortet werden kann.8 Für die Ermittlung von Referenzdaten im ersten Teil dieses Beitrages ist dennoch die Setzung von Zäsuren nötig.9 Für Thüringen bedeutet dies eine Fokussierung auf die Herrschaft der sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise, Johann der Beständige und Johann Friedrich der Großmütige, die hier 6

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Das beeindruckende, vor kurzem fertiggestellte Handbuch zur Volksaufklärung von Holger Böning und Reinhart Siegert mit seinen über 10.000 allein volksaufklärerischen Titeln aus einem Zeitraum von gut 150 Jahren gibt einen Eindruck davon, wie groß die Masse an potentiellen Quellen, auch oder gerade für die Untersuchung lokaler Erinnerungskultur ist. Vgl. Holger BÖNING/Reinhart SIEGERT, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, 3 Bde. m. mehreren Teilbänden, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990–2016. Es ist deutlich darauf hinzuweisen, dass die Archivrecherche vor Ort ein weitaus ergiebigeres Bild der publizistischen Beiträge zur lokalen Reformationserinnerung liefert, wie das Beispiel Meiningen in meiner Stichprobe gezeigt hat. Für Thüringen ist dabei besonders das Forschungsprojekt „Thüringen im Jahrhundert der Reformation“ zu erwähnen. Vgl. Werner GREILING/Uwe SCHIRMER, Thüringen im Jahrhundert der Reformation. Kulturell-religiöser und gesellschaftlicher Wandel zwischen Ende des 15. und Beginn des 17. Jahrhunderts – Konturen eines Forschungsvorhabens, in: Zeitschrift für thüringische Geschichte 67 (2013), S. 315–331. Am Beispiel Wittenbergs stellte Natalie Krentz wichtige Beobachtungen zu den lokalen Ereignissen bei der Einführung der Reformation vor Ort an, die zeitgenössisch identitätsund in ihrer Rezeption traditionsstiftend wurden, vgl. Natalie KRENTZ, Luther im lokalen Kontext. Zeitgenössische Durchsetzung und langfristige Traditionsbildung der Wittenberger Reformation, in: Heinz SCHILLING (Hg.), Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme, Berlin/Boston 2015, S. 109–131.

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die Bedingungen für die Ausbreitung der Reformation schufen und spätestens ab der Mitte der 1520er Jahre aktiv in die Einführung der Lehre in ihren Territorien eingriffen.10 Dabei zeigt der Blick auf einzelne thüringische Städte, dass auch hier die Einführung der Reformation ein langjähriger Prozess war, auf den örtliche Faktoren wie die städtischen Strukturen oder das Wohlwollen der Oberherren genauso einwirkten wie die Reichspolitik, durch welche lokale Maßnahmen oftmals terminlich aufgeschoben oder zurückgehalten wurden. In der „Mentalitätsbildung“ vor Ort gab überdies häufig die Personalpolitik den Ausschlag, denn vor allem den Predigern kommt eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der neuen Lehre zu.11 Solche reformatorischen Prediger traten in Thüringen bereits am Anfang der 1520er Jahre unter anderem in Altenburg, Nordhausen, Mühlhausen, Coburg, Weida und Neustadt an der Orla, wenig später in Weimar, Eisenach, Gotha, Jena, Saalfeld, Eisenberg und Arnstadt auf.12 Allein diese Aktivitäten sind allerdings noch kein hinreichender Referenzpunkt für die „Einführung“ der Reformation vor Ort. Die Umgestaltung der örtlichen Infrastruktur und Verwaltung, vor allem die Abschaffung katholischer Einrichtungen sowie die Säkularisation des alten Kirchenguts, dauerte meist noch Jahrzehnte an. Erste Schritte dazu wurden aber meist mit dem Bekenntnis der Herrschaft zur

10 Vgl. Uwe SCHIRMER, Die ernestinischen Kurfürsten bis zum Verlust der Kurwürde 1485– 1547, in: Frank-Lothar KROLL (Hg.), Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918, München 2004, S. 55–75. Vgl. im Folgenden grundlegend Rudolf HERRMANN, Die Kirchenvisitationen im Ernestinischen Thüringen vor 1528, in: Beiträge zur Thüringischen Kirchengeschichte 1 (1930), H. 2, S. 167–229; DERS., Thüringische Kirchengeschichte, Bd. 2, Jena 1937; Emil SEHLING, Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Erste Abteilung: Sachsen und Thüringen, nebst angrenzenden Gebieten, Erste Hälfte, Leipzig 1902; Carl August Hugo BURKHARDT, Geschichte der sächsischen Kirchen- und Schulvisitationen von 1524–1545, Leipzig 1879; Irmgard HÖß, Humanismus und Reformation, in: Hans PATZE/Walter SCHLESINGER (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 3: Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation, Köln/ Graz 1967, S. 1–145; Werner MÄGDEFRAU/Frank GRATZ, Die Anfänge der Reformation und die thüringischen Städte, Frankfurt a.M. 1996; Joachim EMIG/Volker LEPPIN/Uwe SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470–1520/30), Köln/Weimar/Wien 2013 und weiterführend Wolfgang ADAM/Siegrid WESTPHAL (Hg.), Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, 3 Bde., Berlin u.a. 2012. 11 Volker LEPPIN, Gottes Heil vor Ort. Stadt und Reformation in Thüringen, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER, Vor- und Frühreformation (wie Anm. 10), S. 1–18, hier S. 7. Vgl. Rudolf HERRMANN, Die Prediger im ausgehenden Mittelalter und ihre Bedeutung für die Einführung der Reformation im Ernestinischen Thüringen, in: Beiträge zur Thüringischen Kirchengeschichte 1 (1929), H. 1, S. 20–68. 12 Vgl. MÄGDEFRAU/GRATZ, Die Anfänge der Reformation (wie Anm. 10), S. 34.

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neuen Lehre und den frühen Visitationen unternommen, die im Folgenden betrachtet werden sollen.13 Ein bedeutender Einschnitt für die Einführung der Reformation vor Ort ist die sogenannte „Fürstenreformation“, in deren Folge die Etablierung der neuen Lehre „von oben“ durchgesetzt wurde.14 Nach dem Tod Friedrichs des Weisen und der Niederschlagung des Bauernkrieges sah sich der nun alleinherrschende Johann zu „tätige[m] Eingreifen in die kirchlichen Dinge“ gedrängt.15 In enger Absprache mit den Wittenberger Theologen wurden bald Visitationen geplant. Diese dienten nicht nur dazu, das inhaltliche Verständnis der Pfarrer von der neuen Lehre, sondern auch die infrastrukturellen Gegebenheiten vor Ort sowie die Grundhaltung der Gemeinde zu überprüfen. Damit sollten sie sowohl zu einem theologischen als auch zu einem wichtigen Instrument des landesherrlichen Kirchenregiments werden.16 Eine frühe Kirchenvisitation im Sinne der neuen Lehre wurde vom Prediger Jakob Strauß in einigen Gemeinden um Eisenach bereits im Januar 1525 durchgeführt.17 Als inhaltlicher Orientierungspunkt diente danach Luthers „Deutsche 13 Dabei markiert auch die erste Visitation eines Ortes, bei der oft erhebliche Mängel festgestellt wurden, nur den Beginn der Umstrukturierung des Kirchenwesens von „oben“. 14 Eine Problematisierung dieser Annahme bietet Uwe SCHIRMER, Die Ausbreitung und Einführung der Reformation im Ernestinischen Kursachsen (1517/19–1543), in: Matthias HERRMANN (Hg.), Johann Walter. Torgau und die evangelische Kirchenmusik, Altenburg 2013, S. 9–33, besonders S. 23–29. 15 HERRMANN, Prediger (wie Anm. 11), S. 20 f. Vgl. DERS., Thüringische Kirchengeschichte (wie Anm. 10), S. 5; Joachim BAUER, Reformation und ernestinischer Territorialstaat in Thüringen, in: Jürgen JOHN (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis ins 20. Jahrhundert, Weimar/Köln/Wien 1994, S. 37–73. 16 Zur Erschließung der Visitationsakten im mitteldeutschen Raum trug in jüngster Zeit das Projekt „Digitales Archiv der Reformation“ (DigiRef) bei, an dem unter anderem die Staatsarchive der Länder Hessen, Thüringen und Sachsen-Anhalt sowie die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena beteiligt waren. Auf dem vor kurzem freigeschalteten „Reformationsportal“ wurden zentrale Quellen zur mitteldeutschen Reformationsgeschichte mit einer wissenschaftlichen Kontextualisierung frei zugänglich online gestellt, darunter die jeweils ersten Visitationsprotokolle zahlreicher Städte und Dörfer der mitteldeutschen Kernlandschaften der Reformation. Das Portal bietet somit eine zentrale Anlaufstelle für Untersuchungen der Einführung der Reformation vor Ort und wurde auch für den ersten Teil dieses Aufsatzes und die angehängte Tabelle verwendet. DigiRef ist zugänglich unter der URL: www.reformationsportal.de [letzter Aufruf am 6.4.2016]. Die Visitationen standen überdies zuletzt auch im Fokus der aktuellen Forschung, vgl. u. a. Dagmar BLAHA/Christopher SPEHR (Hg.), Visitation vor Ort. Zum Quellenwert von Visitationsprotokollen, Leipzig 2016. 17 Vgl. Franziska LUTHER, Die Klöster und Kirchen Eisenachs (1500–1530). Prologe zur Reformation und wie die Geistlichkeit vermeynen die Zinse aus etzlichenn armenn zu kelterenn, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 10), S. 403– 435, hier S. 427–429; HERRMANN, Kirchenvisitationen (wie Anm. 10), S. 172–179. Vgl. im Folgenden Dagmar BLAHA, Die Entwicklungen der Visitationen als Mittel zur Durchsetzung der Kirchenreformation in Kursachsen, in: Werner GREILING/Gerhard

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Messe“, die er am 29. Oktober 1525 probeweise in der Wittenberger Stadtkirche abgehalten hatte und die Anfang 1526 im Druck erschien. Der Kurfürst befahl, dass man sich im ganzen Land nach ihr richten sollte. Erste Visitationen fanden dann im Januar 1526 im Amt Borna und Tenneberg statt, wobei dort zunächst nur die Pfarrer selbst und ihr Verständnis von Lehre und Gottesdienstordnung geprüft wurden. Der eng mit Luther und dem ernestinischen Herrscherhaus verbundene Friedrich Myconius, der an diesen Probevisitationen beteiligt war, empfahl aufgrund der mangelhaften Einführung der neuen Lehre die Durchführung weiterer Visitationen, die nach dem Speyrer Reichstag konkretisiert wurden. Im Juni 1527 wurde sodann eine Visitationsinstruktion erlassen, welche zukünftige Visitationen formell und inhaltlich regeln sollte.18 Eine weitere Visitationsreise fand zwischen dem 9. Juli und dem 13. August 1527 im kursächsischen Kreis, namentlich in Weida, Neustadt an der Orla, Pößneck, Saalfeld, Kahla, Jena, Eisenberg und Altenburg statt. Auf Bitten Melanchthons wurden diese Visitationen aber zunächst eingestellt, um drängende Fragen zu klären und weitere konkrete Anweisungen für künftige Visitationen festzulegen. Auch wenn diese Visitationen somit noch einen „vorläufigen Charakter“19 hatten, sind sie für die Frage nach lokalen Reformationsjubiläen zentral; so dienten sie beispielsweise im Fall Neustadts an der Orla als Referenzdatum für die Einführung der Reformation. Melanchthon erarbeitete auf den Grundlagen der Ergebnisse, die er als einziges theologisches Mitglied der Visitationskommission aufgezeichnet hatte, den „Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstenthum zu Sachsen“, der im März 1528 in Wittenberg gedruckt wurde. Mit der Visitationsinstruktion von 1527 und dem „Unterricht der Visitatoren“ von 1528 lagen die entscheidenden systematischen Grundlagen für die folgenden Visitationsreisen vor. War die Einführung der Reformation bis dahin eine örtlich begrenzte und vor allem personelle Angelegenheit, so wurde sie nun endgültig von landesherrlicher Seite flächendeckend übernommen.20 Nahezu das gesamte ernestinische Territorium wurde daraufhin in Bezirke eingeteilt, in denen 1528/29 eine erste und nach der Augsburger Protestation und dem Nürnberger Anstand 1533 eine zweite Visitationswelle stattfand, welche von der Einrichtung von Superintendenturen begleitet war.21

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MÜLLER/Uwe SCHIRMER/Helmut G. WALTHER (Hg.), Die Ernestiner. Politik, Kultur und gesellschaftlicher Wandel, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 123–144. Vgl. HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte (wie Anm. 10), S. 21–28. Ebd., S. 26. Vgl. HERRMANN, Prediger (wie Anm. 11), S. 21; SEHLING, Kirchenordnungen (wie Anm. 10), S. 36–40. Vgl. HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte (wie Anm. 10), S. 28–33.

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Zwar nahmen die ernestinischen Kurfürsten bei der Einführung der Reformation eine deutliche Führungsrolle ein, doch existierten neben ihnen noch etwa 13 weitere reichsständische Herrschaftsträger bzw. Institutionen auf dem Gebiet des heutigen Thüringens, die entgegen beständiger Mediatisierungsversuche der Wettiner territoriale Autonomie beanspruchten.22 Einige wesentliche Anmerkungen zur Einführung der Reformation abseits des ernestinischen Kursachsens müssen daher im Folgenden knapp skizziert werden.

2. Die Reformation vor Ort Für die Einführung der Reformation vor Ort sind besonders in Thüringen die jeweiligen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten genau zu überprüfen, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann.23 Dass besonders an den Wirkungsorten reformatorisch gesinnter Prediger die neue Lehre bereits lange vor der ersten Visitation praktiziert wurde, wurde bereits angedeutet. Zu erwähnen sind hier beispielsweise die Einflüsse Thomas Müntzers in Allstedt, Georg Spalatins in Altenburg, Balthasar Dürings in Coburg, Jakob Strauß’ in Eisenach, Nicolaus Kindts in Eisfeld, Johannes Langs in Erfurt, Friedrich Myconius’ in Gotha, Martin Reinharts in Jena, Heinrich Pfeiffers in Mühlhausen, Andreas Bodensteins (Karlstadts) in Orlamünde, Laurentius Süßes und Johann Spangenbergs in Nordhausen, Johannes Voits in Ronneburg, Caspar Aquilas in Saalfeld oder Johannes Graus in Weimar. Wann diese und noch zahlreiche weitere, namentlich unbekannte frühreformatorische Prediger jeweils genau auftraten, ist aufgrund der Quellenlage oft nur schwer nachzuvollziehen. Da genaue Daten hier meist nicht genannt werden können, sind die ersten reformatorischen Predigten als Zäsur ungeeignet. Grundsätzlich hing die Einführung der Reformation mit dem Übertritt des Landesherrn zur neuen Lehre zusammen und es sollen vor allem diejenigen Territorien außerhalb des Kurkreises betrachtet werden, die von den ersten Visitationen zwischen 1527 und 1529 nicht erfasst worden waren. 22 Uwe SCHIRMER, Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten. Eine Zusammenfassung, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 10), S. 437–459, hier S. 446 f. 23 Das Projekt „Thüringen im Jahrhundert der Reformation“ veranstaltete von 2013 bis 2017 eine Vortragsreihe, die sich auf die Einführung der Reformation vor Ort konzentrierte. Die Vorträge, die in verschiedenen thüringischen Städten stattfanden, werden in der Schriftenreihe „Beiträge zur Reformationsgeschichte in Thüringen“, hg. von Werner GREILING, Alexander KRÜNES und Uwe SCHIRMER, abgedruckt, auf die an dieser Stelle verwiesen sei. Vgl. auch SCHIRMER, Zusammenfassung (wie Anm. 22), S. 437–459, hier S. 446–454.

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In den schwarzburgischen Territorien führte die Einführung der neuen Lehre zu einem Konflikt zwischen Graf Günther XXXIX. und seinem Sohn Heinrich XXXII. Letzterer, der ab 1527 in Rudolstadt residierte, hatte sich spätestens 1525 zur Reformation bekannt, sein Vater verhinderte jedoch die Einführung der neuen Lehre in seinem Territorium. Nach dem Tod Günthers im Jahr 1531 führte Heinrich die Reformation in der späteren Schwarzburger Oberherrschaft ein. Er berief für Arnstadt und Rudolstadt Prediger, Superintendenten und Schulmeister und ordnete Visitationen an, die 1533 durchgeführt wurden.24 Der Vetter Heinrichs, der in Sondershausen residierende Günther XL., hing bis 1539 weiterhin der alten Lehre an. Nach dem Tod Heinrichs 1538 und des Sachsenherzogs Georgs des Bärtigen 1539, von dem Günther XL. belehnt gewesen war, begann er die neue Lehre auch in seinen Territorien, die um die bereits protestantischen Länder Heinrichs angewachsen waren, einzuführen, und bekannte sich schließlich 1541 öffentlich zur Reformation.25 Auch die reußischen Herren nahmen zunächst eine ablehnende Haltung gegenüber der neuen Lehre ein und verstanden es geschickt, die Einführung der Reformation in ihren Territorien hinauszuzögern, wofür sie sich bisweilen die Reichspolitik zunutze machten. So scheiterten die Versuche einer ersten Visitation im Jahr 1529 in ihrem Territorium. Als Johann Friedrich im Jahr 1532 Kurfürst wurde, setzte er sich allerdings energisch gegen die reußischen Herren durch. Er erließ eine neue Visitationsinstruktion und noch bevor im Dezember 1533 die zweite große Visitationswelle durch das Kurfürstentum Sachsen lief, wurden die Herrschaften Gera, Greiz und Schleiz im September 1533 – trotz erneuter zäher Verhandlungen und Verzögerungsversuche der reußischen Herren und der Protestation zu Schleiz – visitiert. Ein Jahr später erfolgte eine zweite Visitation. Die reußischen Herren hielten zunächst weiterhin an der alten Lehre fest, erst Ostern 1536 bekannten sich auch Heinrich XIV. und seine Frau zur Reformation.26 Eine interessante Ausnahme bietet Lobenstein, das von 24 Vgl. Martin SLADECZEK, Die frühe Reformation in Arnstadt im Spiegel der Kirchenrechnungen, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 10), S. 203–232, hier S. 222 u. 228; Friedrich APFELSTEDT, Die Einführung der Reformation Luthers in den Schwarzburgischen Landen mit Andeutungen christlicher Anfänge daselbst, Sondershausen: Eupel 1841, S. 36–38; Gustav EINICKE, Zwanzig Jahre Schwarzburgische Reformationsgeschichte, Teil 1: 1521–1531, Nordhausen 1904, S. 180–185 u. 377 f.; Teil 2: 1531–1541, Nordhausen 1909, S. 1–32; HÖß, Humanismus und Reformation (wie Anm. 10), S. 54 u. 100 f.; Stefan MICHEL, Die Sonderstellung der Reußen und Schwarzburger in der Reformation, in: Heimat Thüringen 17 (2010), H. 4, S. 40 f. 25 Vgl. APFELSTEDT, Einführung der Reformation (wie Anm. 24), S. VIII; EINICKE, Schwarzburgische Reformationsgeschichte, T. 2 (wie Anm. 24), S. 106–129. 26 Vgl. Reinhold JAUERNIG, Die Einführung der Reformation in den Reußischen Landen. Festschrift zum Reformationsjubiläum 1933, Gotha 1933, S. 79–125 u. 219; Helmuth WARMUTH, Die Einführung der Reformation in Greiz und Reinsdorf, in: Der Heimatbote. Beiträge aus dem Landkreis Greiz und Umgebung 47 (2001), H. 10, S. 3–8; Stefan

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der Visitation 1533 in den reußischen Landen, bei der Gera, Greiz und Schleiz visitiert wurden, unberührt blieb. Im Sommer 1543 machte der Superintendent von Plauen Kurfürst Johann Friedrich darauf aufmerksam, dass in Lobenstein immer noch der alte Glaube gepredigt und gelehrt werde. Am 22. Juli 1543 ordnete dieser dann eine Visitation an, die im September desselben Jahres stattfand.27 Einen weiteren Sonderfall machten die Gebiete im heutigen Thüringen aus, die zum albertinischen Territorium gehörten, namentlich Langensalza, Sangerhausen und Weißensee. Obwohl sich in Langensalza bereits in den 1520er Jahren frühreformatorische Bewegungen abzeichneten, verstand es Georg der Bärtige als vehementer Gegner der Reformation, die Einführung der neuen Lehre zu verhindern. Nach dem Tod Georgs 1539 trat sein Bruder Heinrich, der sich bereits 1536 zur lutherischen Lehre bekannt hatte, die Herrschaft an und führte die Reformation im albertinischen Sachsen ein. Im August 1539 wurden Langensalza, Weißensee und Sangerhausen visitiert.28 Noch später wurde die neue Lehre in der Grafschaft Henneberg-Schleusingen eingeführt. Graf Wilhelm IV. wehrte sich in seiner Regierungszeit erfolgreich gegen die Einführung der Reformation, und das, obwohl er von Territorien umgeben war, die längst evangelisch waren. Offenbar wirkten sich aber sowohl die Reichspolitik, als auch der Druck der Landstände und schließlich die anstehende Heirat seines Sohn Georg Ernsts mit Elisabeth von BraunschweigCalenberg auf seine Entscheidung aus, die Einführung der neuen Lehre zuzulassen. Im Alter von 65 Jahren übergab Wilhelm die Regierung an seinen Sohn Georg Ernst. Dieser berief Johann Forster zum Superintendenten, der die Einführung der Reformation in der Grafschaft übernehmen sollte. So wurde am Hof Georg Ernsts in Schleusingen zwar bereits 1543 evangelisch gepredigt, er selbst trat aber erst am 25. Januar 1544 öffentlich zur neuen Lehre über; sein MICHEL, Reformation und konfessionelles Zeitalter im Reußenand, in: 800 Jahre Christentum im Greizer Land. Einblicke in die reußische Kirchengeschichte, hg. von der Superintendentur Greiz, Greiz 2009, S. 33–38; Thomas FRANTZKE, Zwischen Kaiser und Kurfürst. Die Reformation in Gera und ihre Auswirkungen, in: Geraer Hefte 4 (2013), S. 38–61. 27 Vgl. JAUERNIG, Die Einführung der Reformation in den Reußischen Landen (wie Anm. 26), S. 187–190; MICHEL, Sonderstellung (wie Anm. 24), S. 40 f. 28 Vgl. Ernst KOCH, „Mit Gottes und der Landesfürsten Hülf“. Die Reformation in der Residenzstadt Gotha und ihrer Umgebung, Jena 2015, S. 22–24; Ulman WEIß, Die albertinische Amtsstadt Weißensee am Ende des Mittelalters, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER, Vor- und Frühreformation (wie Anm. 10), S. 251–271, hier S. 270; Hermann GUTBIER, Die Einführung der Reformation in Langensalza. Nachdruck aus der Heimatbeilage „Stadt und Land“ zum „Langensalzaer Tagblatt“, Jahrgang 1929, anläßlich des 450. Todestages von Martin Luther und des 60. Todestages von Hermann Gutbier durch den Verein Förderer des Heimatmuseums Bad Langensalza e.V. und den Verein Martkirche Sankt Bonifacii e.V., Bad Langensalza 1996, S. 1–9.

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Vater vollzog diesen Schritt 1548. Ende Juni 1544 erließ der Graf eine Visitationsinstruktion, sodass die ersten Visitationen in Schleusingen und Meiningen im September desselben Jahres stattfanden.29 Berthold XVI. von HennebergRömhild orientierte sich wahrscheinlich am Vorgehen seines Vetters Georg Ernst und führte die Reformation in seinem Territorium um 1545 ein.30 In Mühlhausen hatte sich die neue Lehre zwar schon zu Beginn der 1520er Jahre ausgebreitet, allerdings musste die Stadt infolge ihrer Rolle beim Bauernkrieg schwere Einschnitte hinnehmen. So verlor sie bis 1548 ihre Reichsfreiheit und wurde streng rekatholisiert. Erst im September 1542 fand wieder ein evangelischer Gottesdienst statt, es dauerte noch bis in die 1560er Jahre bis sich die Reformation hier endgültig durchsetzte.31 Die Reichsstadt Nordhausen gehörte ebenfalls zu den Städten, in denen sich die Reformation schon zu Beginn der 1520er Jahre verbreitete. Ein Mandat des Rates sorgte ab dem 26. September 1524 dafür, dass alle dem Evangelium widersprechenden Predigten verboten wurden. Der Bauernkrieg bedeutete jedoch auch für diese thüringische Reichsstadt eine Zäsur in ihrer Reformationsgeschichte. An die Speyrer Protestation schloss sich die Stadt später ebenso wenig an wie an den Schmalkaldischen Bund und auch die Augsburger Konfession unterzeichnete sie nicht. Die Einführung der Reformation war hier zwar nicht zu einem Abschluss gekommen; sie verlief allerdings in einem sehr langfristigen Prozess weiter, in dem letztlich kein bestimmtes Datum für die Einführung der neuen Lehre ausgemacht werden kann.32

29 Vgl. Karl ZEITEL, Die Reformation im Henneberger Land von den Anfängen bis zur Annahme der Augsburgischen Konfession durch Wilhelm von Henneberg nach zeitgenössischen Zeugnissen, Hildburghausen 1994, S. 75–87; Eckart HENNING, Die gefürstete Grafschaft Henneberg-Schleusingen im Zeitalter der Reformation, Köln/Wien 1981, S. 170–192; Paul KÖHLER, Die Einführung der Reformation in den Hennebergischen Landen, in: Aus zwölf Jahrhunderten. Einundzwanzig Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte, Berlin 1972, S. 119–130. 30 Vgl. ZEITEL, Die Reformation im Henneberger Land (wie Anm. 29), S. 133–137. 31 Vgl. Thomas T. MÜLLER, Ein ehrbarer Rat, entlaufene Mönche und streitbare Weiber. Zu den reformatorischen Bestrebungen in der Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen bis zum Jahr 1525, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 10), S. 142–153, hier S. 150–153; Martin SÜNDER, Die Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen in der Reformation, in: Heimat Thüringen 17 (2010), H. 4, S. 37–39; HÖß, Humanismus und Reformation (wie Anm. 10), S. 60–63 u. 108–117. 32 Vgl. Armin KOHNLE, Stadt und Reformation in Nordhausen. Eine Nachlese, in: EMIG/ LEPPIN/SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 10), S. 155–166, hier S. 165 f.; HÖß, Humanismus und Reformation (wie Anm. 10), S. 57–60 u. 103–108; SÜNDER, Die Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen (wie Anm. 31), S. 39; Ernst KOCH, Aspekte der Geschichte der Reformation in Nordhausen, in: Beiträge zur Geschichte aus Stadt und Kreis Nordhausen 37 (2012), S. 169–173; DERS., Geschichte der Reformation in der Reichsstadt Nordhausen am Harz, Nordhausen 2010.

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Zwei bemerkenswerte Konstellationen während der Einführung der Reformation ergaben sich in Schmalkalden und Erfurt. Die Herrschaft über die Stadt Schmalkalden teilten sich der Landgraf von Hessen und der Graf von Henneberg-Schleusingen. Aufgrund dieser Zweiteilung kam es zu Konflikten bei der Einführung der Reformation, die Philipp von Hessen befördern und Wilhelm IV. verhindern wollte. So setzte Philipp trotz massiver Proteste des Hennebergers einen evangelischen Pfarrer ein. Die Stadt war daher bis zur Einführung der Reformation in Henneberg-Schleusingen 1543/44 bikonfessionell, wobei es in der Zeit dieses Nebeneinanders offensichtlich nie zu größeren Unruhen kam.33 Die Stadt Erfurt gehörte zu den frühen Zentren der Reformation in Thüringen, zu deren Verbreitung neben den Humanisten die hier tätigen Buchdrucker beitrugen.34 Anfang der 1520er Jahre bildete sich hier eine evangelische Bewegung heraus, die der Erfurter Rat 1525 mit der Gründung des evangelischen „Ewigen Rats“ nutzen wollte, um sich von Kurmainz unabhängiger zu machen. Im Hammelburger Vertrag von 1530 wurde erstmals vertraglich eine politische Regelung der Religionsfrage festgehalten und der Stadt Erfurt garantiert, dass sowohl ein evangelischer als auch ein katholischer Gottesdienst bestehen bleiben durfte. Johannes Lang übernahm hier fortan die Führung der evangelischen Geistlichkeit. Auch diese Stadt blieb also in den nächsten Jahrzehnten bikonfessionell.35 Der hier skizzierte Überblick zeigt auf, dass sich die Einführung der Reformation vor Ort, besonders im kleinräumigen Thüringen, über eine große Zeitspanne erstreckte. Auch wenn man die politischen, kulturellen, gesellschaftlichsozialen und wirtschaftlichen Wandlungsprozesse, die bereits im späten Mittelalter einsetzten und den Boden für die neue Lehre bereiteten, außen vor lässt 33 Vgl. ZEITEL, Die Reformation im Henneberger Land (wie Anm. 29), S. 45–52; Johannes MÖTSCH, Die Grafen von Henneberg-Schleusingen und ihre Städte, in: EMIG/LEPPIN/ SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 10), S. 183–202, hier S. 193 f.; Peter HANDY/Karl-Heinz SCHMÖGER, Schmalkalden. Eine Stätte der Reformation, Ilmenau 2006; Kai LEHMANN, Am Scheideweg der Geschichte, in: Orte der Reformation, Journal 7: Schmalkalden, hg. von Jürgen RÖMER, Leipzig 2013, S. 22–26. 34 Vgl. Vivien STAWITZKE, Reformation und Buchdruck. Erfurt als frühes Medienzentrum (1499–1547), Jena 2016 (im Druck). 35 Vgl. Josef PILVOUSEK, Die konfessionellen Verhältnisse in Erfurt nach dem Hammelburger Vertrag von 1530, in: Heimat Thüringen 17 (2010), H. 4, S. 51 f.; DERS., Die Reformation in Erfurt im Bann der Thüringer Lutherforschung?, in: Historisches Jahrbuch 123 (2003), S. 339–355; Steffen RAßLOFF, Siegeszug des Evangeliums und „Tragen auf beiden Schultern“, in: Orte der Reformation, Journal 3: Erfurt, hg. von DERS./Volker LEPPIN/Thomas A. SEIDEL, Leipzig 2012, S. 36–42; HÖß, Humanismus und Reformation (wie Anm. 10), S. 63–66 u. 102 f.; Dieter STIEVERMANN, Bürgerschaft und Klerus in Erfurt zwischen 1450 und 1530, in: EMIG/LEPPIN/SCHIRMER (Hg.), Vor- und Frühreformation (wie Anm. 10), S. 71–98, hier S. 89–97.

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und sich auf die Fürstenreformation konzentriert, zeigt sich, dass zwischen und selbst innerhalb der Territorien völlig unterschiedliche Daten für die Einführung der Reformation auszumachen sind. Ein erster wichtiger Referenzpunkt ist der Zeitpunkt der ersten Visitation. Die frühesten evangelischen Kirchenvisitationen, die noch vorläufigen Charakter hatten, fanden im Januar 1525 in Gemeinden rund um Eisenach statt wohingegen die ersten Visitationen im nahe gelegenen Langensalza 1539 und in Meiningen erst im September 1544 durchgeführt wurden. Auch wenn das „Ausland“ in den thüringischen Territorien meist nicht weit entfernt war und zahlreiche Fälle bekannt sind, in denen die Einwohner eines Ortes, der einen katholischen Landesherren hatte, über die Landesgrenze hinweg zum evangelischen Gottesdienst ins Nachbardorf gingen, ist der zweite wichtige Referenzpunkt für die Einführung der Reformation das Bekenntnis des Landesherrn zur neuen Lehre. Trotz Fällen, in denen der Kurfürst Druck auf reichsmittelbare Stände ausübte, die eine abwartende oder ablehnende Haltung gegenüber der Reformation eingenommen hatten, trieben die meisten Landesväter, sicherlich auch aus einem Eigeninteresse an der Ausweitung ihres landesherrlichen Kirchenregiments heraus, die Einführung der neuen Lehre in ihren Territorien massiv voran. Dieses Engagement, so wird sich zeigen, wirkte sich auch auf die lokale Reformationserinnerung aus.

3. Lokale Reformationsjubiläen in albertinischen, reußischen und im hennebergischen Territorien Als eine der ältesten Formen von Jubiläumsfeiern überhaupt, fungierten Reformationsjubiläen in der Frühen Neuzeit vielfach noch als Gedenkfeiern, erfuhren im Übergang zum 19. Jahrhundert aber sowohl eine deutliche Säkularisierung als auch eine mitunter emotional aufgeladene Politisierung.36 Nicht zuletzt aufgrund des hohen Symbolcharakters des Reformationsjubiläums von 1817 ist in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eine Verdichtung von Erinnerungsfeiern zu beobachten, die nun auch einen neuen Öffentlichkeitscharakter erreicht hatten, sodass gewissermaßen ein „Jubiläumsenthusiasmus“37 zu 36 Vgl. dazu den Beitrag von Werner GREILING in diesem Band. 37 Ulrich ROSSEAUX, Städtische Jubiläumskultur zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Das Beispiel Annaberg in Sachsen (1696–1996), in: Winfried MÜLLER (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004, S. 349–367, hier S. 358. Weiterführend vgl. Wolfgang FLÜGEL, Zeitkonstrukte im Reformationsjubiläum, in: ebd., S. 77–99, hier S. 88–93; Johannes BURKHARDT, Reformations- und Lutherfeiern. Die Verbürgerlichung der reformatorischen Jubiläumskultur, in: Dieter DÜDING/Peter FRIEDEMANN/Paul MÜNCH

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konstatieren ist. Das örtliche Reformationsjubiläum war neben den beiden anderen Typen des Gründungs- und Schlachten- bzw. Belagerungsjubiläums das am häufigsten stattfindende städtische Jubiläum in der Frühen Neuzeit. Diese im Folgenden als „lokales Reformationsjubiläum“ bezeichnete Feier war eine „lokale Spielart der allgemeinen protestantischen Konfessionsjubiläen“38 und in ihrer Ausführung und Gestaltung grundsätzlich an die Reformationsfeiern des „17er“- und „30er“-Jubiläums angelehnt. Sie bezieht sich auf ein spezifisches regionales oder städtisches Ereignis bei der Einführung der Reformation, etwa den ersten evangelischen Gottesdienst, die erste Visitation des Ortes oder den öffentlichen Übertritt des Landesherrn zur neuen Lehre. Dabei wurde entweder das genaue Datum oder das Jahr des Referenzpunktes herangezogen. Im Gegensatz zu den großen Reformationsjubiläen wurden die lokalen Reformationsjubiläen auf dem Gebiet des heutigen Thüringens nur punktuell beschrieben.39 Zu erwähnen ist beispielsweise das Reformationsjubiläum von Neustadt an der Orla, bei dem das Jahr der ersten Visitation, 1527, als Referenzdatum für Feierlichkeiten herangezogen wurde.40 Wie eingangs bereits angedeutet, ist aufgrund der Vielzahl kleinräumiger Territorien eine flächendeckende Untersuchung der lokalen Reformationserinnerung in Thüringen auch in diesem Beitrag nicht zu leisten. Verwiesen werden muss daher noch einmal auf die im Anhang verzeichneten Ergebnisse der KVK-Recherche, die u. a. Hinweise auf Jubiläen in Mühlhausen 1842, in Meuselwitz und Tannroda 1925, in Arnstadt 1933 sowie in Sondershausen 1841 brachten und als Anregungen für weitere Untersuchungen gelten können.41

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(Hg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 212–236. ROSSEAUX, Das Historische Jubiläum (wie Anm. 2), S. 103. Einen Anknüpfungspunkt bieten hier die bereits zitierten Arbeiten von Wolfgang Flügel und Ulrich Rosseaux. Vgl. Werner GREILING, Luther und Legenden? Die Reformationszeit in der Erinnerungskultur von Neustadt an der Orla, in: DERS./Uwe SCHIRMER/Ronny SCHWALBE (Hg.), Der Altar von Lucas Cranach d. Ä. in Neustadt an der Orla und die Kirchenverhältnisse im Zeitalter der Reformation, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 13–42, hier S. 25–28. Vgl. Friedemann BEHR, Zum Gedenken an das 400. Jubiläum der Reformation im Mai 1933 in Arnstadt. Ein Beitrag aus dem Tagebuch von Margarethe Behr, in: Arnstädter Stadt-Echo. Stadt- und Heimatzeitschrift für Arnstadt und Umgebung 9 (2008), 97, S. 4; APFELSTEDT, Einführung der Reformation (wie Anm. 24); Festschrift zur 400-jährigen Reformations-Jubelfeier in Meuselwitz i. Thür. 1525–1925; Karl Friedrich AMEIS, Das dritte Reformations-Jubelfest der Stadt Mühlhausen in Thüringen am 14. September 1842. Festbeschreibung nebst Beilagen, Mühlhausen: Heinrichshofen 1843; Festfolge beim Tannrodaer Kirchfest: 7.–9. November 1925, Hundertjahrfeier der Kirche zu St. Michael, 400-jähriges Reformationsjubiläum des Ortes, Visitation der Kirchgemeinde, Bad Berka 1925.

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Als Beispiele für die Feier lokaler Reformationsjubiläen sollen im Folgenden die albertinischen Territorien im Fall Langensalzas sowie die reußischen und hennebergischen Gebiete herangezogen werden. Diese brachten nicht nur mehrfache Treffer bei der Recherche, sondern zeigen auch besonders gut die Vielseitigkeit der lokalen reformatorischen Jubiläumskultur auf. Anzumerken ist dabei grundsätzlich, dass gerade für das 18. und 19. Jahrhundert die periodischen (Massen-)Medien, besonders in der reichen Medienlandschaft Thüringens, als Quellen außerordentlich ergiebig sind. Auch wenn das Reformationsgedenken eine in der Regel vom Landesherrn verordnete institutionelle Angelegenheit war, wurde im Folgenden der Fokus auf die publizistische Vorbereitung und Begleitung des Jubiläums in Monographien und Festschriften sowie in lokalen Amtsblättern und Zeitungen gelegt. Dass diese, besonders zu Beginn des 19. Jahrhunderts so selbstverständlich genutzt wurden, ist vor allem ein Erfolg der Volksaufklärung, die einerseits inhaltlich über die Religionsgeschichte aufklärte, andererseits aber auch den Umgang mit weltlichen gedruckten Medien ganz wesentlich befördert hatte.42 So kann man durchaus betonen, dass noch 1744 ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, die „Christfürstl. Verordnung, wie das zweyte evangelische Reformationsjubiläum in denen Hennebergischen Landen […] gefeyert werden soll […] nach den Predigten“ zu verlesen.43 1844 wurde dieselbe Verordnung hingegen mit großer Selbstverständlichkeit in den Amts- und Intelligenzblättern sowie (volksaufklärerischen) Zeitungen gedruckt.44 Im albertinischen Sachsen kam die Idee, ein regionales Reformationsjubiläum zu begehen, im Frühjahr 1739 auf.45 Zwar gab es schon zuvor anderswo lokale Reformationsjubiläen, eine direkte Anlehnung an diese konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Das Jubiläum, das für die Pfingstfeiertage angedacht war, rekurriert auf die Einführung der Reformation nach dem Tod Georgs des Bärtigen durch Heinrich den Frommen, insbesondere aber auf den 42 Vgl. Werner GREILING, Volksaufklärung und Reformation. Die Lutherbiographie des Johann Ernst Daniel Bornschein, in: Jens BEGER (Hg.), Hessen und Thüringen. Festschrift für Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag, Jena 2013, S. 191–206; Alexander KRÜNES, Luther als Vorkämpfer der Aufklärung? Die Reformation als Bestandteil volksaufklärerischer Publizistik in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für thüringische Geschichte 65 (2011), S. 157–180. 43 Acta Historico-Ecclesiastica. Oder Gesammlete Nachrichten von den neuesten KirchenGeschichten, Bd. 8, 44. Theil, Weimar: Hoffmann 1744, S. 177. 44 Vgl. Herzogl. S. Meiningisches Regierungs- und Intelligenz-Blatt für das Herzogthum Hildburghausen und das Fürstenthum Saalfeld, 52. St. vom 30. Dezember 1843, S. 257; Herzoglich Sachsen-Meiningisches Regierungs- und Intelligenzblatt Nr. 52 vom 30. Dezember 1843, S. 325; Unterhaltendes und gemeinnützliches Volksblatt. Eine Zeitschrift für Stadt und Land, Nr. 2 vom 6. Januar 1844, S. 5. 45 Vgl. im Folgenden Wolfgang FLÜGEL, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830, Leipzig 2005, S. 172–178.

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von Luther gehaltenen Pfingstgottesdienst mit Abendmahl in der Leipziger Thomaskirche 1539. Das Bedürfnis, ein Reformationsjubiläum zu feiern, hatte hier einen konkreten politischen Hintergrund, denn seit August dem Starken wurde dieses Kernland der Reformation wieder von einem katholischen Landesherrn regiert. Augusts Sohn hatte gezielt die Stellung der katholischen Kirche in Sachsen gefördert, was von den Protestanten als bedrohlich, wenn nicht gar als Versuch der Rekatholisierung aufgefasst wurde. Die von Theologen angedachte dreitägige Feier des lokalen Reformationsjubiläums in Leipzig sollte durch seine Gewichtung eine hohe Symbolkraft entfalten.46 Anders als etwa in Sachsen-Meiningen bemühten sich die Behörden hier daher, das Jubiläum zu dezentralisieren und in seiner symbolischen Außenwirkung einzuschränken, sodass zunächst keine landesweite Anordnung der Feier erfolgte und deren Ablauf der Organisation der einzelnen Städte zugewiesen wurde. Zusätzlich wurden noch zahlreiche Verbote erlassen, um die Breitenwirkung des Jubiläums zu behindern und seine Symbolhaftigkeit abzuschwächen. Auch wenn die Verbote – gerade zur publizistischen Vorbereitung und Begleitung des Jubiläums – umgangen wurden, konnten nur in einer Handvoll Städten tatsächliche Jubiläumsfeiern nachgewiesen werden; darunter auch Sangerhausen, das ebenfalls zum Thüringer Kreis gehörte.47 Langensalza, das seit der Leipziger Teilung 1485 bis 1815 zum albertinischen Sachsen gehörte, bildete bei der Feier des Reformationsjubiläums 1739 eine Ausnahme, da dieses mit der Einweihung der neu erbauten Kirche am 15. März des Jahres zusammengelegt wurde, wofür keine landesherrliche Erlaubnis eingeholt wurde.48 Ein Jahrhundert später machte sich erneut eine starke Politisierung des Reformationsjubiläums in Dresden und Leipzig bemerkbar, wo es anlässlich des Confessio-Augustana-Jubiläums 1830 zu Unruhen und Ausschreitungen kam.49 Bei dem lokalen Reformationsgedenken zu Pfingsten 1839 setzte König Friedrich August II. nun auf Toleranz und Versöhnung, indem er sich als Garant der verfassungsmäßig gesicherten Denk- und Glaubensfreiheit stilisierte, was auf Akzeptanz in der Bevölkerung stieß. Wolfgang Flügel stellte fest, dass sich trotz der bereits 1830 deutlich gewordenen neuen theologischen Differenzen zwischen den Konfessionen in der Verbürgerlichung des Reformationsjubiläums auch eine Säkularisierung bemerkbar gemacht hatte. Mit Betonung der 46 47 48 49

Vgl. DERS., Die Einführung der Reformation als lokales Ereignis (wie Anm. 3). Vgl. FLÜGEL, Konfession und Jubiläum (wie Anm. 45), S. 178–185. Vgl. ebd., S. 182; Acta Historico-Ecclesiastica (wie Anm. 52), Bd. 3, 18. T., S. 931–934. Vgl. FLÜGEL, Konfession und Jubiläum (wie Anm. 45), S. 237–259. Zu den Hintergründen der theologisch-kirchenpolitischen Debatte vgl. Stefan GERBER, Zwischen Symbolzwang und „Schutzwehr des freien Protestantismus“. Das Confessio-Augustana-Jubiläum von 1830 in der theologisch-kirchenpolitischen Auseinandersetzung, in: Michael MAURER (Hg.), Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen, Köln/ Weimar/Wien 2010, S. 195–216.

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Geschichtlichkeit des reformatorischen Geschehens wurde nun auf seine kulturelle Bedeutung für die Nation, die Region und die Kommune hingewiesen, welche nicht nur als Fortschritt bis in die eigene Gegenwart betrachtet wurde, sondern auch eine Zukunftsperspektive eröffnete.50 Dieser aus der Aufklärung herrührende Fortschrittsgedanke wird auch in der publizistischen Begleitung des lokalen Reformationsjubiläums 1839 in Langensalza deutlich. So weist ein Artikel im „Langensalzaer Kreis-Blatt mit Beiträgen zur Belehrung und Unterhaltung“, das einen deutlich volksaufklärerischen Anspruch erhebt, auf die bevorstehende „Jubelfeier der Reformation in unserer Stadt“ hin. Man wolle nun „einige Rückerinnerungen an jene Zeit und einige, eigends unsern Ort in dieser Beziehung betreffenden Angaben […], als Vorbereitung zu den uns bevorstehenden festlichen Tagen“ beitragen. Interessanterweise wird dabei eine allgemeine Abhandlung zur Reformationsgeschichte nicht für nötig erachtet, da eine solche bereits „in den Nummern 24 bis 27 des Jahres 1830, als Vorbereitung zum damaligen Jubelfeste, ziemlich ausführlich mitgetheilt“ worden war. So „muß man die Kenntniß davon als zu verbreitet voraussetzen, als daß es jetzt nochmals angefürt zu werden brauchte.“ Der Beitrag setzt also beim Regentenwechsel von Herzog Georg zu Heinrich ein, nicht ohne zu betonen, dass Ersterer, „jener strenge Anhänger der alten Lehre […] nach allen Kräften und oft nicht ohne Grausamkeit den Fortschritten der Reformation entgegen gewirkt hatte“ und Letzterer als „eifriger Anhänger Luthers“ entgegen dem „Benehmen der Landesbewohner“ und den „Drohungen der katholischen Fürsten“ sofort die Reformation eingeführt habe.51 Es folgt ein knapper Abriss über die Einführung der Reformation vor Ort, in dem unter anderem auf die ersten evangelischen Pfarrer und deren Amtshandlungen nach der neuen Lehre eingegangen wird. Eine große Gewichtung wird anschließend auf den „Blick vorwärts“ gelegt, mit der Frage, was die Jubelfeier „uns innerlich werden kann und soll.“ Seit der Reformation sei trotz „mancher bedauerlichen Überspannung und Überfeinerung, die Erkenntniß der ewigen Wahrheiten inniger, […] der Begriff des wahren Christenthums klarer, das Thun der Christen aller Bekenntnisse humaner geworden“. Dies müsse die „feste Zuversicht“ wecken, dass sich „die unverfälschte Lehre Christi […] im Geiste und in der Wahrheit immer reiner entwickeln“ werde. Der Beitrag schließt mit der Feststellung, dass „dieser Fortgang geistiger Entwicklung wachsen wird für und für“ und der geradezu aufklärerischen Aufforderung, daß Alle, die es erkannt haben, was Noth thut, unbeschadet der christbrüderlichen Liebe zu allen Menschen, jeder an seiner Stelle, entweder mit kräftigem Worte, oder im ruhigen aber festen Beharren bei dem wahr Erkannten ohne Leidenschaft, aber mit den schärfs50 Vgl. FLÜGEL, Konfession und Jubiläum (wie Anm. 45), S. 261–263. 51 Langensalzaer Kreis-Blatt, Nr. 18 vom 4. Mai 1839, S. 138–140.

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ten Waffen des Geistes, stets und vor allem jedoch (durch eignes gutes Beispiel) schaffen möge, das durch Luther errungene Kleinod des reinen, freien Christen-Glaubens treu zu bewahren, damit das Endziel alles wahren Lebens: Heranwachsen zu immer größerer Vollkommenheit, zu immer größerer Reife für jenseitige Fortbildung, näher und näher rücke.52

Das Beispiel des albertinischen Sachsens zeigt, dass sich das lokale Reformationsjubiläum in der städtischen Erinnerungskultur fest etabliert hatte. Auch nachdem Langensalza 1815 unter preußische Herrschaft fiel, wurde das Reformationsjubiläum, das nun gewissermaßen auch an die ehemalige Zugehörigkeit zum albertinischen Sachsen erinnerte, im Jahr 1839 gefeiert. Auch wenn hier nicht direkt der Übertritt des Landesherren zur neuen Lehre – Heinrich hatte sich bereits 1536 zur Reformation bekannt –, sondern der erste lutherische Gottesdienst jubiliert wurde, zeigt sich, dass das landesherrliche Engagement ein zentraler Referenzpunkt für das lokale Gedenken war. Solch ein Referenzpunkt konnte bei der Suche nach lokalen Reformationsjubiläen in Thüringen nicht aufgefunden werden. Bei den recherchierten Fällen wurden als Referenzpunkte entweder die erste Visitation des Ortes bzw. der Herrschaft oder der Übertritt des Landesherrn zur neuen Lehre zugrunde gelegt. Dass die öffentliche Wahrnehmung des herrschaftlichen Engagements bei der Einführung der Reformation eine entscheidende Rolle für die lokale Erinnerung spielt, zeigen die Beispiele der reußischen und hennebergischen Territorien. Wie bereits beschrieben, hatten die reußischen Herren eine ablehnende Haltung gegenüber der Einführung der Reformation eingenommen und die vom Kurfürsten für das Jahr 1529 angedachten ersten Visitationen bis 1533 aufschieben können. Die Landesherren Heinrich XIII. (gest. 1535) und Heinrich XIV. hielten zudem weiterhin am katholischen Glauben fest, erst Ostern 1536 bekannten sich auch Heinrich XIV. und seine Frau zur Reformation. Erstaunlicherweise ließ sich hier publizistisch zunächst kein lokales Reformationsjubiläum recherchieren. Auch die Durchsicht der Jahrgänge 1833 und 1836 des „Gemeinnützigen Schleizer Wochenblatts“, der „Geraischen Zeitung“ oder des „Amts- und Nachrichtsblatts für das Fürstenthum Gera“ brachte keine diesbezüglichen Meldungen zum Vorschein. Möglicherweise trug die Teilung des Reußenlandes dazu bei, dass hier offensichtlich bis einschließlich des 19. Jahrhunderts keine lokalen Reformationsjubiläen gefeiert wurden. Wie in Neustadt an der Orla fand im reußischen Raum erst im 20. Jahrhundert ein solches Gedenken statt. Dabei bezog man sich ebenfalls auf das Jahr der ersten Visitation, 1533. Die Initiative zu dem Jubiläum, die publizistisch von

52 Langensalzaer Kreis-Blatt, Nr. 19 vom 11. Mai 1839, S. 145–147.

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einigen Festschriften begleitet wurde,53 scheint hier, ähnlich wie in Neustadt, von engagierten ortsansässigen Historikern ausgegangen zu sein. Es wäre zu überprüfen, ob die Aufarbeitung der Neustädter Reformationsgeschichte und das dortige lokale Reformationsgedenken eine direkte Vorbildfunktion für das reußische Gedenken einnahm. Besonders hervorzuheben jedenfalls ist das Engagement des Kirchenhistorikers Reinhold Jauernig und des Archivars Ernst Paul Kretschmer, die sich beide mehrfach um die Regional- und Landesgeschichte verdient gemacht haben.54 So weist Jauernig in der Einleitung zu seiner Festschrift, welche für die Thematik immer noch als Standardwerk gelten kann, darauf hin, dass es bis dahin nur wenige quellengesättigte Vorarbeiten zur reußischen Kirchengeschichte gegeben habe. Seine Schrift diene als „wissenschaftliche Vorbereitung des Reformationsjubiläums“, für die sich „in treuer Opferwilligkeit […] die kirchlich getrennten Gebiete des Reußenlandes zusammengeschlossen“ hätten. Die Erinnerung an die lokale Reformationsgeschichte, so der Kirchenrat im Jahr 1933, solle „die Liebe zu Gottes heiligem Wort und die Treue zu unserer lutherischen Kirche“ vertiefen. Sie solle zur Erkenntnis verhelfen, „daß wir das Erbe der Väter nur dann wirklich besitzen und wahren können, wenn wir die Kräfte, die aus der Offenbarung Gottes in Evangelium und Geschichte strömen, wieder wirken lassen in unserem zerrissenen – weil weithin gott- und geschichtslos gewordenen – Volke“.55 Ganz anders als im Falle von Neustadt und den reußischen Herrschaften, hatte sich in Sachsen-Meiningen eine reiche und lange Tradition lokaler Reformationserinnerung etabliert. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass die Linie Henneberg mit dem Tod Georg Ernsts 1583 ausgestorben war und nach langem Streit schließlich 1660 zwischen der kursächsischen Sekundogeniturlinie Sachsen-Zeitz und den ernestinischen Häusern Altenburg, Gotha und Weimar aufgeteilt wurde. Bei der Einführung der Reformation 1544 gehörten zur Grafschaft Henneberg-Schleusingen die Städte und Ämter Schleusingen, Ilmenau, Suhl, Themar, Maßfeld, Meiningen, Wasungen, Sand, Kaltennordheim, Fisch53 Vgl. R. Albin FRANCK, Wie das Reußenland evangelisch wurde! Festschrift zum 400 jährigen reußischen Reformationsjubiläum der ev. luth. Landeskirche Reuß, hg. v. d. reußischen Theologenkonferenz, Greiz [1933]; Heinrich MEYER, Wie das Reußenland evangelisch wurde. Festschrift f. d. Kirchenkreise Schleiz u. Lobenstein d. ehem. ev.-luth. Landeskirche Reuss j. L. zum 400jähr. Reformations-Jubiläum am 18. Juni 1933, Schleiz 1933. 54 Vgl. JAUERNIG, Die Einführung der Reformation in den Reußischen Landen (wie Anm. 26); Ernst Paul KRETSCHMER, Wie das Reußenland evangelisch wurde: mit besonderer Berücksichtigung des reußischen Unterlandes. Festschrift zur Feier des 400-jährigen Jubiläums der Einführung der Reformation in den ehemaligen Fürstentümern Reuß, Gera 1933. 55 JAUERNIG, Die Einführung der Reformation in den Reußischen Landen (wie Anm. 26), S. 16.

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berg, die Hälfte der Herrschaft Schmalkalden und des Gerichts von Benshausen sowie einige im Bistum Würzburg liegende Ortschaften.56 1680 entstand schließlich mit der Teilung des Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg das Fürstentum Sachsen-Meiningen, das zum großen Teil die ehemaligen hennebergischen Gebiete umfasste. Dazu gehörten u. a. die Ämter Meiningen, Salzungen und Wasungen. Durch das Aussterben der Linien Sachsen-Coburg 1699 und Sachsen-Römhild 1710 erhielt Sachsen-Meiningen weitere Territorien, darunter das Amt Neuhaus und das Gericht Sonneberg sowie zwei Drittel der Herrschaft Römhild; etwas später kam die Hälfte der Herrschaft Hildburghausen hinzu.57 Eine wesentliche Veränderung brachte dann noch einmal der Teilungsvertrag zu Hildburghausen von 1826, der Sachsen-Meiningen nun um das Kernland von Hildburghausen, das Fürstentum Saalfeld, die Grafschaft Camburg und die Herrschaft Kranichfeld erweiterte. Bei der Untersuchung der lokalen Reformationsjubiläen ist dies insofern von Bedeutung, als dass die Jubiläen wie bereits beschrieben vom Landesherrn angeordnet wurden. Es wäre daher für die Jahre 1644, 1744 und 1844 genau zu überprüfen, inwiefern sich die vielen Gebietsteilungen auf die Feier der lokalen Reformationsjubiläen ausgewirkt haben. Wie aufzuzeigen ist, stellte sich die Landesherrschaft Sachsen-Meiningens grundsätzlich in die Tradition der ehemaligen Henneberger Linie. So ordnete Bernhard II. 1844 an, „die dritte Säcularfeier der Einführung der Reformation im Hennebergischen in den Königlich Preußischen, den Großherzoglich S. Weimarischen und den Herzoglich S. Meiningischen Landestheilen der vormaligen Grafschaft Henneberg“ zu feiern. Von den Untertanen erwarte man eine „rechte, angemessene allgemeine Theilnahme an der gedachten hochwichtigen Feier“.58 Auch wenn einige der ehemaligen Henneberger Städte schon lange einem neuen Landesherren unterstellt waren, wurde das Reformationsjubiläum somit in allen Mutter- und Filialkirchen des unter preußischer Herrschaft stehenden Schleusingen, dem sachsen-weimar-eisenachischen Ilmenau und dem sachsen-meiningischen Wasungen, Themar und Meiningen gefeiert.59 Die lokalen Gedenkfeiern, denen naturgemäß auch ein identitätsstiftendes Element immanent war, überschritten im Fall dieser an die alten Territorial56 Vgl. J. G. SAUER, Die Verbreitung und Einführung der Kirchenreformation in der gefürsteten Grafschaft Henneberg, Schleusingen 1843, S. 147. 57 Vgl. Wolfgang HUSCHKE, Politische Geschichte von 1572 bis 1775, in: PATZE/SCHLESINGER (Hg.), Geschichte Thüringens (wie Anm. 10), Bd. 5: Politische Geschichte in der Neuzeit, T. 1, Teilbd. 1, Köln/Wien 1982, S. 1–603, hier S. 198, 233–235 u. 455–494. 58 Herzogl. S. Meiningisches Regierungs- und Intelligenz-Blatt für das Herzogthum Hildburghausen und das Fürstenthum Saalfeld, 52. St. vom 30. Dezember 1843, S. 257. 59 Ludwig BECHSTEIN, Aehrenlese auf dem Felde der Fränkisch-Hennebergischen Geschichte, in: Historisch-statistisches Taschenbuch für Thüringen und Franken 1 (1844), S. 307–373, hier S. 334.

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grenzen gebundenen regionalen Erinnerung, wie schon bereits 1744, die neuen Landesgrenzen. Das sachsen-meiningische Reformationsjubiläum rekurriert auf den 25. Januar 1544, den Tag Pauli Bekehrung, an dem sich Graf Georg Ernst öffentlich zur Reformation bekannte. In der Publizistik zu diesem Jubiläum in den Jahren 1744 und 1844 finden sich Hinweise darauf, dass es bereits 1644 gefeiert worden sei. Damit würde es nach der Definition von Ulrich Rosseaux zu den frühesten städtischen Jubiläen gehören.60 In diesem Zusammenhang muss aber auf die interessante Feststellung Wolfgang Flügels verwiesen werden, der für das Reformationsjubiläum in Sachsen 1739 ebenfalls den Hinweis fand, dass dieses schon 1639 gefeiert worden sei. Flügel konnte nachweisen, dass das letztere Jubiläum eine Fiktion des Autors war. Dies diente dazu, sich in eine Kontinuität zyklischer Jubiläumswiederholung zu stellen und somit Stabilität zu suggerieren. Das Jubiläum gedachte so nicht nur des historischen Ereignisses, sondern auch seiner selbst und stellte eine ununterbrochene kausale Beziehung der Jahre 1539, 1639 und 1739 her, welche die feierliche „Wahrhaftigkeit der lutherischen Glaubenswahrheiten“ untermauerte.61 Der Rückgriff auf die Jubiläumstradition selbst findet sich auch im Fall Sachsen-Meiningens. So ist hier die Rede von einem Ausschreiben des Meininger Konsistoriums von 1644, das den 25. Januar als „Dank- und Bethtag“ festlegte, welcher allerdings ausgesetzt wurde, „weil […] die damaligen Kriegszeiten solche Feyer an vielen Orten hinderten“. Die entsprechenden Verordnungen von 1644 werden auszugsweise mitabgedruckt.62 Obwohl die „Kaiserlichen“ Meiningen belagert hatten, sei das Jubiläum aber „in den übrigen Orten der Grafschaft gefeiert“ worden.63 Ob 1644 tatsächlich ein Jubiläum stattfand, konnte im Rahmen dieses Aufsatzes nicht überprüft werden. Die Publizistik zu den Jubiläen 1744 und 1844 stellte jedenfalls bewusst eine Kontinuität dazu und somit ein Jubiläum des Jubiläums her. So erließ für die sich zu dieser Zeit im Ernestinischen Gesamtbesitz befindenden hennebergischen Landesteile Herzog Ernst August von Sachsen-Weimar-Eisenach 1744 die „Christfürstl. Verordnung, wie das zweyte evangelische Reformationsjubiläum in denen 60 Vgl. ROSSEAUX, Das Historische Jubiläum (wie Anm. 2), S. 96–98. 61 FLÜGEL, Konfession und Jubiläum (wie Anm. 45), S. 190. 62 Acta Historico-Ecclesiastica (wie Anm. 43), S. 170–192, hier S. 175 f. Vgl. Herzogl. S. Meiningisches Regierungs- und Intelligenz-Blatt für das Herzogthum Hildburghausen und das Fürstenthum Saalfeld, 52. St. vom 30. Dezember 1843, S. 257; Ernst HEß, Reformationsbüchlein für die Jugend der alten Graffschaft Henneberg zum Andenken der dritten Jubelfeier der evangelischen Kirchenreformation im Hennebergischen den 25. und 26. Januar 1844 und der dritten Säcularfeier des Todes Dr. M. Luthers am 18. Februar 1846 zum Besten des Luther-Denkmals in Möhra, Schleusingen: Glaser 21846, S. 68. 63 Chronik der Stadt Meinigen (wie Anm. 1), S. 145.

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Hennebergischen Landen Weimar- und Eisenachischen Antheils“ gefeiert werden solle.64 Am 25. Januar 1744 fanden in Ilmenau, Ostheim und Kaltennordheim Festgottesdienste statt; einen Tag später folgten Feiern in Meiningen, Schleusingen, Suhl und weiteren hennebergischen Ortschaften.65 In Anlehnung an die Jubiläumstradition hatte man für die Predigt augenscheinlich die für das Jubiläum 1644 angedachten Texte verwendet.66 Eine Besonderheit des Henneberger Reformationsjubiläums ist der starke personale Bezug auf Georg Ernst; aber auch mit Graf Wilhelm, der die Einführung der Reformation ja lange verhindert hatte, geht die Publizistik ausgesprochen mild um. So wird betont, dass Letzterer bekennender Katholik gewesen sei, sich von seinem Sohn aber überzeugen ließ, „den Protestanten freie Ausübung ihrer Religion zu gestatten, so daß er […] darein willigte, einen evangelischen Prediger zu berufen, um das Kirchenwesen zu ordnen, wenn er gleich noch mit seinem Hofe der katholischen Kirche treu blieb“.67 Nach seinem Bekenntnis zum Protestantismus habe Wilhelm „dann aber auch mit gleicher Charakterfestigkeit und Glaubensfreudigkeit wie an der frühern, mit der Muttermilch eingesogenen, an der spät gewonnenen und ernst geprüften neuen Überzeugung“ gehangen.68 Bei dem Festgottesdienst zum Reformationsjubiläum von 1844 stand neben Luther und Georg Ernst auch ein Bild Wilhelms auf dem Altar.69 Anlässlich des dritten Henneberger Reformationsjubiläums fanden Festgottesdienste, Festzüge, musikalische Darbietungen, Festmähler und spezielle Veranstaltungen für Kinder- und Jugendliche an zwei Festtagen statt. Bemerkenswert ist wie im Falle des neustädtischen und reußischen Reformationsgedenkens in Meiningen das Engagement des eingangs zitierten Ludwig Bechstein, der in seiner Position als Staatsdiener nicht nur als Dichter und Volksaufklärer, sondern auch als Historiker tätig war.70 So gründete er 1832 den „Hennebergisch-altertumsforschenden Verein“, der damit einer der ältesten Geschichtsvereine Deutschlands ist, und widmete neben seinen zahlreichen anderen historischen Arbeiten auch dem lokalen Reformationsjubiläum gemeinsam mit Georg Brückner eine Schrift.71 Diese im Jahr 1844 gegründete 64 Acta Historico-Ecclesiastica (wie Anm. 43), S. 177. 65 Vgl. ebd., S. 177–190. 66 Eduard SCHAUBACH, Geschichte der kirchlichen Verhältnisse der Stadt Meiningen, in: Historisch-statistisches Taschenbuch für Thüringen und Franken 1 (1844), S. 3–96, hier S. 76. 67 Ebd., S. 20. 68 BECHSTEIN, Aehrenlese (wie Anm. 59), S. 317. 69 Ebd., S. 336. 70 Vgl. Alexander KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (1815–1848), Köln/Weimar/Wien 2013, S. 186–196. 71 Das Vorhaben schloss sich an ein bereits zuvor existierendes Zeitschriftenprojekt zur lokalen und regionalen Geschichte an, das im Umfeld des altertumsforschenden Vereins

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Zeitschrift, das „Historisch-statistische Taschenbuch“, war als „Erinnerungszeichen und Denkmal dieser Feier“ vorgesehen. Das „Taschenbuch“ beginnt mit einem Beitrag zur „Geschichte der kirchlichen Verhältnisse der Stadt Meiningen“ von Eduard Schaubach und endet mit einer Beschreibung des dritten hennebergischen Reformationsjubiläums und einer Übersicht der aus diesem Anlass erschienenen Schriften, Denkmünzen und Bilder.72 Die publizistische Vorbereitung und Begleitung des Jubiläums schlägt sich in historischen Monographien, Zeitungsberichten, Jugendliteratur, der gedruckten Predigt des Hofpredigers Constantin Ackermann, den besonders gedruckten kirchlichen Liedern der Feier sowie einer Neuauflage des Augsburger Glaubensbekenntnisses nieder.73 Zudem war neben einem Bildnis Luthers als „passendes und wohlfeiles Geschenk für die Jugend […] mit den Hauptereignissen seines Lebens“74 auch ein Bild Georg Ernsts, „des sich um die Förderung des Protestantismus, vorzüglich für unser Vaterland, unsterblich gemacht habenden Fürsten“ zu erhalten, welches, „um recht Viele in den Stand zu setzen, sich ein Andenken an denselben und die Feier des Reformationsjubiläums zu verschaffen […] zu dem geringen Preiß von drei Kreuzern“ verkauft wurde.75 Auch eine „Reformations-Jubiläums-Münze“, die auf dem Avers „das nach dem in Schleusingen befindlichen Denkmal geistreich erfaßte und treu wieder gegebene Brustbild des letzten Fürsten von Henneberg, Georg Ernst“ und auf dem Revers „das äußerst sauber ausgeführte Henneberg Schleusinger Wappen mit der Umschrift: Drittes Henneberg. Reformations-Jubilaeum. MDCCCXLIV“ zeigt, wurde in Gold, Silber und Bronze geprägt.76 Publizistisch wurde die Henneberger Reformation noch einmal am Ende des 19. Jahrhunderts zum 350. Jubiläum 1894 gewürdigt.77

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entstand. Vgl. Archiv für die Herzogl. S. Meiningischen Lande. Eine Zeitschrift, in Verbindung mit mehreren Geschichtsforschern und Freunden der Vaterlandskunde, hg. von G.C.F. EMMRICH/G.A. DEBERTSHÄUSER, Meiningen 1832–1838. Historisch-statistisches Taschenbuch für Thüringen und Franken 1 (1844), S. IV. Vgl. HEß, Reformationsbüchlein (wie Anm. 62); Predigt zur dritten Jubelfeier der Hennebergischen Reformation am 25. Januar 1844 in der Hofkirche zu Meiningen gehalten von D. C. Ackermann, Meiningen 1844; Herzoglich Sachsen-Meiningisches Regierungs- und Intelligenzblatt, Nr. 3 vom 20. Januar 1844, S. 19; Herzoglich Sachsen-Meiningisches Regierungs- und Intelligenzblatt, Nr. 2 vom 13. Januar 1844, S. 13. Herzoglich Sachsen-Meiningisches Regierungs- und Intelligenzblatt, Nr. 2 vom 13. Januar 1844, S. 12 f. Herzoglich Sachsen-Meiningisches Regierungs- und Intelligenzblatt, Nr. 4 vom 27. Januar 1844; Dorfzeitung, Nr. 5 vom 10. Januar 1844, S. 23. Herzoglich Sachsen-Meiningisches Regierungs- und Intelligenzblatt, Nr. 2 vom 13. Januar 1844, S. 12 f. Vgl. W. HÖHN, Kurze Geschichte der Kirchenreformation in der gefürsteten Grafschaft Henneberg, Halle 1894; Wilhelm GERMANN, D. Johann Forster, der Hennebergische

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Diese ausgesprochen breite Nutzung verschiedenster Medien verdeutlicht noch einmal den vorläufigen Befund zur hennebergischen Reformationserinnerung. Das lokale Ereignis des Bekenntnisses Georg Ernsts zur neuen Lehre nimmt hier wahrscheinlich schon seit dem 17. Jahrhundert eine zentrale Rolle ein. Ganz besonders interessant ist, dass sich an den lokalen Henneberger Reformationsjubiläen die Herausbildung einer regionalen Erinnerung unter wechselnden Landesherrschaften aufzeigen lässt, die bis heute Bestand hat. So wurde sowohl noch während der Auseinandersetzung um die endgültige Aufteilung des hennebergischen Territoriums im 18. Jahrhundert als auch unter der neuen Herrrschaft Sachsen-Meiningens im 19. Jahrhundert die Feier der lokalen Reformationsjubiläen obrigkeitlich angeordnet.

4. Zusammenfassung Die Einführung der Reformation vor Ort war ein langwieriger Prozess, der zwischen den ehemaligen Territorien des heutigen Thüringens und manchmal sogar innerhalb eines Territoriums selbst völlig unterschiedlich ablief. Bei der Benennung von Zäsuren für die Einführung der neuen Lehre stößt man besonders in Thüringen schnell an Grenzen, denn obwohl die Fürstenreformation mit dem wichtigen Instrument der Visitation erst in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre einsetzte, waren vielerorts bereits am Anfang der 1520er Jahre reformatorische Prediger aufgetreten. Es hat sich dennoch gezeigt, dass in der lokalen Erinnerungskultur als markante Referenzpunkte für die Einführung der Reformation vor Ort entweder die erste Visitation oder das öffentliche Bekenntnis des Landesherrn zur neuen Lehre herangezogen wurden. Die Traditionsbildung dieser Ereignisse in der früh einsetzenden lokalen Erinnerung muss ein Gegenstand weiterer Forschungen sein. Obwohl die Ernestiner eindeutig eine führende Rolle bei der Einführung der neuen Lehre einnahmen, ist es nicht nur im Hinblick auf die lokalen Jubiläen lohnenswert, sich mit den anderen reichsständischen Herrschaften Thüringens zu beschäftigen. Erste Recherchen sowie die Fallbeispiele aus den albertinischen, reußischen und hennebergischen Territorien zeigen, dass sich auch in Thüringen lokale Reformationsjubiläen etabliert haben. In einigen Fällen haben diese eine sehr lange Tradition; teilweise wurde eine lokale Reformationserinnerung aber erst im frühen 20. Jahrhundert begangen. Ortsansässige und in der Landesgeschichtsforschung engagierte Historiker haben dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Schon im 19. Jahrhundert fiel im Falle Meiningens die Verbindung der Reformator. Ein Mitarbeiter und Mitstreiter Luthers. Festschrift zum 350 jährigen Hennebergischen Reformationsjubiläum, Wasungen 1894.

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Reformationserinnerung zu den frühen Geschichtsvereinen auf. In diesem Zusammenhang wären weitere Untersuchungen zur Mitwirkung der frühen Geschichtsvereine und der Landesgeschichtsforschung sowie zur Vernetzung derselben im Hinblick auf die Gestaltung der lokalen Reformationsjubiläen und die diesbezüglichen Erinnerungstraditionen notwendig. Einen besonderen Standpunkt in der regionalen Erinnerung in Thüringen nimmt der Bezug zur Landesherrschaft während der Reformationszeit ein. Am Beispiel der lokalen Reformationsjubiläen lässt sich für die kleinräumigen und in der Frühen Neuzeit oft geteilten thüringischen Territorien beobachten, dass die historische regionale Identität auch unter einer neuen Landesherrschaft gelebt und gefeiert werden konnte. Die lokalen Reformationsjubiläen eignen sich überdies bestens als Beispiel für mediengeschichtliche Untersuchungen der Darstellung von Obrigkeit und Stadt, denn das lokale Reformationsjubiläum war mitunter Ausdruck einer Geschichtspolitik des Landesherrn, dessen monarchische Stellung gerade im 19. Jahrhundert gegenüber dem Bürgertum neu definiert werden musste.78 Das bevorstehende Reformationsjubiläum von 2017 hat bereits zahlreiche Projekte angestoßen, die dazu anregen, sich mit der Reformation vor Ort zu beschäftigen. Dieses Interesse sollte auch genutzt werden, um sich systematisch mit den lokalen Reformationsjubiläen auseinanderzusetzen, die besonders für die Erforschung von regionaler Identität im kleinräumigen Thüringen einen großen Erkenntnisgewinn versprechen. Das große Reformationsjubiläum von 2017 markiert in dieser Hinsicht keinesfalls einen Höhe-, sondern bestenfalls einen Anfangspunkt, auf den der Blick vom Großen auf das Kleine folgen sollte, denn auf lokaler Ebene stehen bald danach weitere Reformationsjubiläen an.

78 Vgl. Stefan GERBER, Monarch, Konstitution und Kommune. Monarchische Herrschaft und gesellschaftliche Partizipationsansprüche in den thüringischen Residenzstädten des 19. Jahrhunderts, in: Konrad SCHEURMANN/Jördis FRANKE (Hg.), Neu entdeckt: Thüringen – Land der Residenzen (1485–1918), 2. Thüringer Landesausstellung Schloss Sondershausen, 15. Mai – 3.Oktober 2004, Bd. 3: Essays, Mainz 2004, S. 445–460; DERS., Ernestinische Geschichtspolitik im 19. Jahrhundert, in: Werner GREILING/Gerhard MÜLLER/Uwe SCHIRMER/Helmut G. WALTHER (Hg.), Die Ernestiner. Politik, Kultur und gesellschaftlicher Wandel, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 377–396.

Anhang 1 Tabelle zur Einführung der Reformation vor Ort in Thüringen im Hinblick auf mögliche lokale Reformationsjubiläen Die hier aufgeführten Daten wurden aus der einschlägigen Sekundärliteratur zur Reformation in thüringischen Städten zusammengestellt und – sofern möglich – mit den Daten auf der Plattform „DigiRef“ abgeglichen (vgl. Anm. 10 und 16 im vorangestellten Beitrag). Es wurde entweder der Tag der Visitation oder der Zeitraum einer gesamten Visitationsreise durch die Ämter und Städte einer Herrschaft oder eines Kreises angegeben. Auf der genannten Onlineplattform finden sich neben Digitalisaten der Visitationsprotokolle auch Verweise auf die jeweiligen Visitationsinstruktionen und Visitatoren sowie weiterführende Literatur. Teilweise wurden auch Orte erfasst, die heute nicht mehr im Gebiet des Thüringer Freistaats liegen, historisch betrachtet aber der thüringischen Kleinstaatenwelt der Frühen Neuzeit zugerechnet werden können. Stadt

Erste Visitation

Allstedt Altenburg Apolda Arnstadt

17.03.–11.05.1533 15.09.1527 1528 23.05.–19.06.1533

Blankenburg Coburg

23.05.–19.06.1533 15.–16.01.1529

Creuzburg Eisenach

03.03.1533 18.12.1528–02.01.1529

Eisenberg Eisfeld Erfurt

13.08.1527 01.01.1529

Weitere mögliche Referenzdaten

Tod Günthers XXXIX. am 08.08.1531, danach Einführung der Reformation durch seinen Sohn Heinrich XXXII. Kirchenordnung Balthasar Dürings von 1524 Erste Visitationen von Jakob Strauß im Raum Eisenach im Januar 1525

Hammelburger Vertrag vom 04.03.1530

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03.–09.09.1533

Gotha Greiz Heldburg Hildburghausen Ilmenau

22.11.–18.12.1528 und 02.01.–05.01.1529 17.–20.09.1533 01.–13.12.1528 14.12.1528 27.09.–04.10.1544

Jena Kahla Kindelbrück

09.08.1527 29.07.1527 03.08.1539

Königsee Kranichfeld Langensalza

23.05.–19.06.1533 18.05.1529 03.08.1539

Lobenstein Magdala Meiningen

20.09.1543 1535 27.09.–04.10.1544

Mönchröden Mühlhausen

03.01.1529 1542

Neuhaus (am Rennweg) Neustadt an der Orla Neustadt bei Coburg Nordhausen

03.01.1529

Orlamünde Pößneck

Bekenntnis zur Reformation durch Heinrich XIV., Ostern 1536

Siehe Anm. zu Gera

Siehe Anm. zu Schleusingen

Siehe Anm. zu Langensalza

Einführung der Reformation im albertinischen Sachsen mit Herrschaftsantritt Heinrichs des Frommen. Als Datum der Einführung der Reformation gilt der Leipziger Pfingstgottesdienst vom 25.5.1539

Siehe Anm. zu Schleusingen Erster evangelischer Gottesdienst 1542

16.07.1527 03.01.1529 Ratsmandat vom 26. September 1524 13.08.1527 20.07.1527

LOKALE REFORMATIONSJUBILÄEN IN THÜRINGEN

Rodach Römhild

14.12.1528

Ronneburg Rudolstadt Saalfeld Schalkau Schleiz Schleusingen

16.–19.03.1529 26.–28.05.1533 21.07.1527 16.11.–25.12.1528 09.–16.09.1533 27.09.–04.10.1544

Schmalkalden

27.09.–04.10.1544

Schmölln Sondershausen

15.–21.09.1527

Sonneberg Stadtilm Stadtroda Suhl

03.01.1529 24.–25.05.1533 13.08.1527 27.09.–04.10.1544

Weida Weimar Weißensee

08.–09.07.1527 1528 03.08.1539

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Im Anschluss an die Einführung der Reformation in HennebergSchleusingen nach 1544, Berufung des evangelischen Pfarrers Adam Rüdiger 1545. Ansonsten siehe Anm. zu Schleusingen Siehe Anm. zu Arnstadt

Siehe Anm. zu Gera Bekenntnis zur neuen Lehre von Graf Georg Ernst am 25.01.1544 Im hessischen Teil der Herrschaft erfolgte bereits 1525 die Einsetzung des evangelischen Pfarrers Wolfgang Gräf, bis 1544 war die Stadt bikonfessionell. Siehe Anm. zu Schleusingen Bekenntnis zur neuen Lehre von Graf Günther XL. auf dem Regensburger Reichstag 1541

Siehe Anm. zu Schleusingen

Siehe Anm. zu Langensalza

Anhang 2 Bibliographie lokaler Reformationsschriften in Thüringen In nachstehender Bibliographie sind in chronologischer Reihenfolge alle diejenigen eigenständigen Druckschriften verzeichnet, die anlässlich eines lokalen thüringischen Reformationsjubiläums bis 1950 erschienen sind und mittels Onlinerecherchen in Bibliothekskatalogen aufgefunden und identifiziert werden konnten (Stand: Januar 2016). Johann Sebastian BRUNNER, Zum gesegneten Andencken des durch GOttes Gnade, den 25. Jan. 1744 zum andernmal gefeyerten hennebergischevangelischen Jubel-Festes, Wollte hiermit gegen Einen […] Stadt-Rath zu Jlmenau seine Ergebenheit bezeugen, Arnstadt: Schill 1744. Philipp Friedrich GEBHARD, Die rechte Jubel-Feier nebst andern die Stadt und das Amt Ilmenau angehende Kirchen- u. Schulsachen ertheilete bey Gelegenheit des den 25. Jan. 1744 feierlich begangenen zweiten hundertjährigen Reformations-Jubiläi […], Weimar: Hoffmann 1744. Johann Wilhelm GRÖTZSCH, Ehren-Gedächtniß der Hennebergischen Bergund Handels- Stadt Suhla, bey Gelegenheit des am 26. Januar als am Sonntage Septuages. 1744 Mit allergnädigster Erlaubniß gefeyerten EvangelischLutherischen Reformations-Jubel-Festes. Nebst der an solchem Feste geführten Ordnung und in der Hauptkirche gehaltenen Predigt, wie auch dem celebrirten Jubilaeo Nuptiali aufgerichtet und ans Licht gestellet, Gotha: Reyher 1744. Georg Ernst WALCH, Kurtzer Entwurff der Schleußungischen ReformationsGeschichte, womit den in dem Schleußungischen Gymnasio angestellten Actvm Dramaticvm den 27. Ian. 1744. als an dem zweyten Hennebergischen Ivbilaeo ansaget, und zugleich alle Patronen Beförderer und Gönner gehorsamst und ergebenst einlädet, Schleusingen: Göbel 1744. Hermann FROBENIUS, Predigt bei der dreihundertjährigen Reformation-Jubelfeier in der Stadt Langensalza: am ersten Pfingsttage des Jahres 1839 in der St. Bonifacius-Kirche gehalten, Langensalza [o.Verl.] 1839. Karl Friedrich GOESCHEL, Erinnerungen bei der dreihundertjährigen Reformations-Jubel-Feier in der Stadt Langensalza zum Pfingstfeste des Jahres 1839. Ein Sendschreiben aus der Ferne in die Heimath, Berlin: Besser 1839. Anton JUNGMANN, Abend-Spaziergang am 2ten Pfingsttage, bei der Reformations-Jubel-Feier der Stadt Langensalza: Eine Schilderung der Illumination […], Langensalza [o.Verl.] [1839].

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Gustav Heinrich HEYDENREICH, Kirchen- und Schul-Chronik der Stadt und Ephorie Weißenfels seit 1539 zur Erinnerung an die 300 jährige Jubelfeier der Einführung der Reformation in Weißenfels und Umgegend, Weißenfels: Kell 1840. Friedrich APFELSTEDT, Die Einführung der Reformation Luthers in den Schwarzburgischen Landen mit Andeutungen christlicher Anfänge daselbst. Nach den vorhandenen Quellen zusammengetragen und auf Veranlassung des bevorstehenden diesjährigen Jubelfestes, Sondershausen: Eupel 1841. Karl Friedrich AMEIS, Das dritte Reformations-Jubelfest der Stadt Mühlhausen in Thüringen am 14. September 1842. Festbeschreibung nebst Beilagen, Mühlhausen: Heinrichshofen 1843. J. G. SAUER, Die Verbreitung und Einführung der Kirchenreformation in der gefürsteten Graffschaft Henneberg, Schleusingen: Jungmann 1843. Ernst HEß, Kleine Festgabe für die Jugend zum Andenken der dritten Jubelfeier der evangelischen Kirchenreformation im Hennebergischen: den 25sten und 26sten Januar 1844, Schleusingen: Jungmann 1844. (Zweite Auflage: Reformationsbüchlein für die Jugend der alten Grafschaft Henneberg zum Andenken der dritten Jubelfeier der evangelischen Kirchenreformation im Hennebergischen den 25. und 26. Januar 1844 und der dritten Säcularfeier des Todes Dr. M. Luthers am 18. Februar 1846 […], Schleusingen: Glaser 1846) Ludwig BECHSTEIN/Georg BRÜCKNER (Hg.), Historisch-statistisches Taschenbuch für Thüringen und Franken, Meiningen: Keyßner 1844 [erster Jahrgang]. D. C. ACKERMANN, Predigt zur dritten Jubelfeier der Hennebergischen Reformation am 25. Januar 1844 in der Hofkirche zu Meiningen, Meiningen [o.Verl.] 1844. Friedrich August SCHMIDT, Dritte Jubelfeier der Hennebergischen Reformation den 25. und 26. Januar 1844 in der Diözes Ilmenau nebst Predigt und Chronik, Ilmenau: Trommsdorff 1844. Wilhelm GERMANN, D. Johann Forster der Hennebergische Reformator. Ein Mitarbeiter und Mitstreiter Luthers. Festschrift zum 350 jährigen Hennebergischen Reformationsjubiläum, Wasungen [Selbstverlag] 1894. W. HÖHN, Kurze Geschichte der Kirchenreformation in der gefürsteten Grafschaft Henneberg, Halle: Verein für Reformationsgeschichte 1894. C. KAHLE, Schulfeier am 25. Januar 1894 als am Jubeltage der Einführung der Reformation im Henneberger Lande vor 350 Jahren, Ilmenau: Reiter 1894.

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[o.V.] Festschrift zur 400-jährigen Reformations-Jubelfeier in Meuselwitz in Thür. 1525–1925 [Meuselwitz 1925]. [o.V.] Festfolge beim Tannrodaer Kirchfest: 7. – 9. November 1925; Hundertjahrfeier der Kirche zu St. Michael; 400-jähriges Reformationsjubiläum des Ortes. Visitation der Kirchgemeinde, Bad Berka 1925. Rudolf HERRMANN, Die Einführung der Reformation in Neustadt an der Orla. Nach einem Festvortrag zum Reformationsjubiläum am 31. Oktober 1927, Neustadt a. O. 1927. R. Albin FRANCK, Wie das Reußenland evangelisch wurde! Festschrift zum 400jährigen reußischen Reformationsjubiläum der ev. luth. Landeskirche Reuß, hg. v. d. reußischen Theologenkonferenz, Greiz 1933[?]. Reinhold JAUERNIG, Die Einführung der Reformation in den Reußischen Landen. Festschrift zum Reformationsjubiläum 1933, Gotha 1933. Ernst Paul KRETSCHMER, Wie das Reußenland evangelisch wurde: mit besonderer Berücksichtigung des reußischen Unterlandes. Festschrift zur Feier des 400-jährigen Jubiläums der Einführung der Reformation in den ehemaligen Fürstentümern Reuß, Gera 1933. Heinrich MEYER, Wie das Reußenland evangelisch wurde. Festschrift für die Kirchenkreise Schleiz u. Lobenstein d. ehem. ev.-luth. Landeskirche Reuss j. L. zum 400jähr. Reformations-Jubiläum am 18. Juni 1933, Schleiz 1933. Walther GERSS, Zur Einführung der Lutherischen Reformation im Amt Salza und Thamsbrück 1539-41. Festschrift zur 400-Jahr-Feier der Einführung der luth. Reformation im Amt Salza und Thamsbrück, [Langensalza] 1939.

JOHANNES ROTH REFORMATION – TRADITION – VOLKSAUFKLÄRUNG

Reformation – Tradition – Volksaufklärung Zum Anteil der Volksaufklärer am Reformationsjubiläum in Thüringen 1817*

Thüringen ist untrennbar mit der Reformation verbunden und kann zugleich als eine Kernregion der Volksaufklärung bezeichnet werden. Zahlreiche Zeitgenossen des frühen 19. Jahrhunderts waren sich dieses Umstandes bewusst. So stellten thüringische Volksaufklärer beide Bewegungen in einen Zusammenhang und artikulierten diese Ansicht auch in der Öffentlichkeit.1 Dies trat besonders deutlich während des Reformationsjubiläums von 1817 zutage. In der Tat lassen sich zwischen Reformation und Volksaufklärung durchaus strukturelle, personelle und inhaltliche Parallelen feststellen. Ob die Volksaufklärer diese Parallelen ausschließlich als „historische Analogien“ interpretierten oder die „Erfolgsrezepte“ der Reformation des 16. Jahrhunderts gezielt zum Vorbild nahmen und zur Durchsetzung der eigenen Ziele adaptierten, ist eine spannende Frage, die sich nur mittels umfangreicher empirischer Studien beantworten lässt. Dementsprechend kann dieser Aufsatz auch keine vollständige Antwort geben, sondern zunächst nur Denkanstöße liefern. Mit Blick auf die Reformationsfeierlichkeiten von 1817 soll im Folgenden in Ansätzen umrissen werden, wie sich in den thüringischen Kleinstaaten volksaufklärerische und reformatorische Ideen gegenseitig bedingt haben.

1. Strukturelle, personelle und inhaltliche Parallelen zwischen Volksaufklärung und Reformation Die Frage, ob der Thüringer Raum mit seinen um 1500 bestehenden spezifischen territorialpolitischen und kulturellen Rahmenbedingungen die Reformation überhaupt erst ermöglichte habe, stellte sich für die Volksaufklärer des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht. Den erfolgreichen Verlauf der Reformation schrieben sie in erster Linie dem Wirken und Durchsetzungs* 1

Für die kritische Überarbeitung des Manuskriptes danke ich Dr. Alexander Krünes und Julia Beez, M.A. (beide Jena). Siehe hierzu die Beiträge von Werner GREILING und Holger BÖNING in diesem Band.

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vermögen des reformatorischen Personals zu. Für sie waren es die großen Persönlichkeiten, angefangen bei Martin Luther und Philipp Melanchthon bis hin zu Kurfürst Friedrich dem Weisen und dessen Bruder Johann dem Beständigen, die die Reformation herbeigeführt und dauerhaft konsolidiert haben. Dass der thüringisch-mitteldeutsche Raum im Spätmittelalter in geistig-kultureller Hinsicht – vor allem im Bereich des Humanismus – eine regelrechte Blüte erfuhr,2 die wiederum fördernd auf die Entfaltung reformatorischer Strömungen einwirkte, fand meist nur am Rande Erwähnung. Rückblickend lässt sich festhalten, dass die politisch-territoriale Zersplitterung Thüringens während der gesamten Frühen Neuzeit, die positiv betrachtet auch als „territoriale Vielfalt“ bezeichnet werden kann,3 der Kulturentfaltung keinesfalls hinderlich war. Um auf Reichsebene wahrgenommen zu werden, gewissermaßen als Ausgleich fehlender machtpolitischer Stärke, förderten die thüringischen Fürsten in ihren Ländern und vor allem in ihren Residenzstädten Kunst und Kultur.4 Auch in Bezug auf den Buchdruck und das später daraus hervorgehende periodische Pressewesen sollte sich die territoriale Vielfalt des Thüringer Raumes als äußerst förderlich erweisen. Die Ballung zahlreicher Residenzen auf relativ kleinem Raum führte bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht nur zur Entstehung mehrerer privilegierter Hofbuchdruckereien, sondern ebenso zur Gründung etlicher Druckereien und Verlage in den „Landstädten“ des thüringisch-mitteldeutschen Raumes.5 In Verbindung mit den in Thüringen herrschenden günstigen politischen Verhältnissen hatte die hohe Verlagsdichte schließlich einen enormen Anteil an der Produktion sowie am Vertrieb einer

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Neben Erfurt war beispielsweise auch Gotha ein Zentrum des Humanismus in Thüringen. Vgl. hierzu u. a. Eckhard BERNSTEIN, Mutianus Rufus und sein humanistischer Freundeskreis in Gotha (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 2), Köln/Weimar/Wien 2014; Helmar JUNGHANS, Der mitteldeutsche Renaissancehumanismus. Nährboden der Frühen Neuzeit, Leipzig 2004; Gerlinde HUBERREBENICH/Walther LUDWIG (Hg.), Humanismus in Erfurt (Humanismusstudien, 1), Rudolstadt/Jena 2002. Vgl. Werner GREILING, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert (Veröffentlichung der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 6), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 154. Vgl. Jürgen JOHN, Kleinstaaten und Kultur oder: der thüringische Weg in die Moderne, in: DERS. (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1994, S. LIV. Vgl. hierzu grundlegend Werner GREILING/Siegfried SEIFERT (Hg.), Der entfesselte Markt. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004. Vgl. außerdem Alexander KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 39), Köln/Weimar/Wien 2013, S. 137.

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Vielzahl zunächst reformatorischer und später auch (volks-)aufklärerischer Schriften. Die Protagonisten der Reformation nutzten intensiv das gedruckte Wort – mit Flugschriften und Flugblättern – um ihre Ideen unter den verschiedenen sozialen Schichten zu verbreiten. Hinzu kam, dass die lutherische Lehre in den protestantischen Ländern durch den Gebrauch „zentraler“ religiöser Texte in der Bevölkerung verankert wurde. So besaß seit dem 16. Jahrhundert faktisch jeder Haushalt im protestantischen Deutschland mindestens den Lutherkatechismus, die Bibel in deutscher Sprache und ein Gesangbuch. An diese Schriftkultur anknüpfend, wähnten sich viele der im 18. und 19. Jahrhundert schriftstellerisch tätigen Volksaufklärer in einer bis zur Reformation zurückreichenden „publizistischen Traditionslinie“.6 Mit dem Argument, dass sich auch die Reformatoren vornehmlich des Buchdrucks bedient hätten, um ihre Ziele und Ideen öffentlich bekannt zu machen, nutzten die Volksaufklärer in großer Menge Bücher und Periodika, um ihre Ansichten und ihr Wissen ins „Volk“ zu tragen. Nicht selten waren es protestantische Geistliche, auch jene, die in den kleinen Gemeinden als Landpfarrer tätig waren, die sich neben mündlicher Artikulation der verschiedenen Printmedien bedienten, um ihr gemeinnütziges und volksaufklärerisches Gedankengut einem breiten Publikum zu vermitteln. In Anlehnung an den Katechismus und die volkstümlich-bilderreiche Sprache der Bibel versuchten sie ihre Schriften den Lesegewohnheiten der weniger gebildeten Bevölkerungsschichten anzupassen. Die Lesestoffe hatten oftmals nicht nur belehrenden, sondern auch unterhaltenden Charakter. Das Konzept der populären Wissensvermittlung hatte Erfolg und stieß in der Bevölkerung auf enorme Resonanz. Ein weiterer Zusammenhang zwischen der Volksaufklärung und der Reformation in Thüringen ist in der Genese der Bildungslandschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu sehen. Die Reformation, welche in Thüringen von den sächsischen Kurfürsten bereits seit Mitte der 1520er Jahren systematisch eingeführt und institutionell verankert wurde, hatte einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung des Bildungssektors. Die lutherische Lehre, die ohne einen Mittler zwischen Gott und den Menschen auskam, implizierte, dass der Gläubige die 6

Alexander KRÜNES, Luther als Vorkämpfer der Aufklärung? Die Reformation als Bestandteil volksaufklärerischer Publizistik in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für thüringische Geschichte 65 (2011), S. 157–180, hier S. 158 f.. Vgl. dazu auch Reinhart SIEGERT, Theologie und Religion als Hintergrund für die „Leserevolution“ des 18. Jahrhunderts, in: Hans-Edwin FRIEDRICH/Wilhelm HAEFS/Christian SOBOTH (Hg.), Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 41), Berlin/New York 2011, S. 14–31, bes. S. 19–26.

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Heilige Schrift eigenständig lesen musste. Luther selbst schuf mit seiner Bibelübersetzung ins Deutsche eine wesentliche Grundlage dafür. Der Reformator betonte in seiner Ratsherrenschrift von 1524 und in seiner „Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle“ von 1530 den Wert und die Notwendigkeit der kindlichen Schulbildung und legte die Zuständigkeit für den Ausbau des Schulund Bildungssystems gleichzeitig in die Verantwortung der Landesherren.7 Die Reformation war eine Bildungsbewegung, die in den folgenden Jahrzehnten von den thüringischen Landesherren in besonderer Weise aufgenommen und umgesetzt wurde. Einige von ihnen starteten im 17. Jahrhundert regelrechte Bildungsoffensiven – besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle Ernst I. von Sachsen-Gotha-Altenburg –, so dass gute 100 Jahre später in Thüringen eine flächendeckende Bildungsinfrastruktur vorherrschte und bei einem vergleichsweise großen Teil der Bevölkerung wenigstens elementare Lesefähigkeiten angenommen werden können. Eine weitere, wenn auch indirekte Folge der Reformation für die Bildungslandschaft in Thüringen war der ernestinische Verlust der Universität Wittenberg infolge der Niederlage im Schmalkaldischen Krieg. Die daraufhin gegründete Universität Jena hatte vor allem den Zweck, protestantische Theologen für das ernestinische Territorium auszubilden. Diese Gelehrten nahmen in den folgenden Jahrzehnten nicht nur Schlüsselpositionen in der höheren landeskirchlichen Ebene ein, sondern wurden auch flächendeckend als Pfarrer und Lehrer im höheren und niederen Bildungswesen eingesetzt. So bildeten sich in Thüringen regelrechte Pfarrerdynastien heraus, die bis ins 19. Jahrhundert reichten. Besonders im ländlichen Raum waren die Pfarrer auch am Ende des 18. Jahrhunderts oft noch die einzigen Personen einer Dorfgemeinschaft, die eine höhere Bildung erfahren hatten; ihnen kommt vor Ort eine Schlüsselrolle zu. Es überrascht daher nicht, dass die Pfarrer lange Zeit die wichtigste Trägergruppe der Volksaufklärung ausmachten. Die Motive für das volksaufklärerische Engagement der Geistlichen sind vielfältig.8 In erster Linie waren sie für das Seelenheil sowie für Fragen der 7

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Vgl. Martin LUTHER, An die Ratsherrn aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen. 1524, in: DERS, Schriften über Schulen und Unterricht, ausgewählt und kommentiert von Heinz ENDERMANN (Theologische Texte und Studien, 12), Hildesheim/Zürich/New York 2006, S. 1–48; Martin LUTHER, Eine Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle. 1530, in: ebd., S. 49–118. Vgl. dazu beispielsweise Andreas LEDL, Eine Theologie des lebenslangen Lernens. Studien zum pädagogischen Epochenwandel bei Luther (Texte zur Theorie und Geschichte der Bildung, 24), Münster 2006; Henning SCHLUß/Ralf KOERRENZ, Reformatorische Ausgangspunkte protestantischer Bildung. Orientierungen an Martin Luther, Jena 2011. Vgl. im Folgenden Götz WARNKE, Pfarrer als weltliche „Volkslehrer“. Motive und praktische Projekte, in: Holger BÖNING/Hanno SCHMITT/Reinhart SIEGERT (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhundert (Presse und

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Sittlichkeit und Moral in ihren Gemeinden zuständig. Überdies oblag ihnen die Aufsicht über Armenversorgung und Schulwesen. Im Zeitalter der Aufklärung, in der die Rolle des Pfarrers zunehmend hinterfragt wurde, stellten sie eine Verbindung von der Förderung materiellen Wohlstandes zur Verbesserung von Sitten und Moral mittels Religion her. Ein Nebeneffekt davon war, dass sich eine materielle Besserstellung ihrer Gemeinde auch auf ihr eigenes Einkommen auswirkte. Zudem besaßen die Pfarrer in Form von Gottesdiensten, Schulen und regelmäßigem, mithin engem persönlichen Kontakt zu den Gemeindemitgliedern zentrale Foren zur Verbreitung und Popularisierung aufklärerischen Wissens und Gedankenguts. Um die Grundbedürfnisse ihrer Gemeinden zu sichern und gleichzeitig eine Basis für eine neue Sittlichkeit im alltäglichen Umgang zu schaffen, zudem die Elementarbildung sowie nicht zuletzt ihr eigenes Ansehen vor Ort zu verbessern, übten sie sich zunehmend in der Vermittlung ertragssteigernder Methoden in Ackerbau, Obstzucht und Tierhaltung, verbreiteten hygienisches und medizinisches Wissen und warben für eine neue Sittlichkeit und Moral. Dafür nutzten die volksaufklärerischen Pfarrer neben ihrem eigenen vorbildlichen aktiven Handeln und dem persönlichen Kontakt zum Volk auch die Printmedien. Die Geistlichen stellten mehr als die Hälfte der Verfasser populäraufklärerischer und ökonomischer Schriften.9 Ihr Selbstverständnis schlug sich auch in der neuen literarischen Gattung der Dorfgeschichte nieder, in der die „musterhafte Entwicklung eines ökonomisch und sittlich verkommenen Dorfes zu einem vorbildlichen Gemeinwesen“ geschildert wurde, bei der ein meist idealisierter Dorfpfarrer die tragende Rolle spielte. Diesem gelang es dann in seiner väterlich beratenden Funktion, die Gemeinde wirtschaftlich aufzubauen und zu einer frommen Sittsamkeit zu erziehen.10 Ein wichtiges Motiv des volksaufklärerischen Engagements der Pfarrer war auch der Kampf gegen den Aberglauben. Dieser zielte vor dem Hintergrund des aufklärerischen Perfektibilitätsgedankens einerseits darauf ab, irdische Vorkommnisse wie Naturphänomene auf der Basis naturwissenschaftlicher Geschichte. Neue Beiträge, 27), Bremen 2007, S. 73–88; Thomas K. KUHN, Praktische Religion. Der vernünftige Dorfpfarrer als Volksaufklärer, in: ebd., S. 89–108; DERS., Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung (Beiträge zur Historischen Theologie, 122), Tübingen 2003, S. 153–192. 9 Ebd., S. 83. 10 Vgl. DERS., Volksaufklärung und Dorfgeschichten im späten 18. Jahrhundert. Johannes Toblers „Idee von einem christlichen Dorf“ (1766), in: Albrecht BEUTEL/Volker LEPPIN (Hg.), Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“ (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 14), Leipzig 2004, S. 93–105, Zitat S. 100.

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Erkenntnis zu erklären sowie auf sämtliche Möglichkeiten des aktiven menschlichen Gestaltens hinzuweisen und wandte sich andererseits gezielt gegen den Glauben an alle übernatürlichen Praktiken wie Zauberei und magische Rituale. Dieser Kampf gegen den Aberglauben war auch ein zentrales Anliegen der Reformation. Bereits von Luther gingen wichtige Impulse für die Bestimmung des Begriffes aus. So sind auch bei ihm schon mehrere Bedeutungsebenen von „Aberglauben“ vorhanden, die freilich auf theologischen Begründungen beruhen. Einerseits meint Luther, wenn er von „Aberglaube“ spricht, den „falschen“ Glauben, also den Glauben an die römisch-katholische Kirche und dort praktizierte Riten, wie zum Beispiel eine aus seiner Sicht übersteigerte Heiligenverehrung. Andererseits meint er aber auch den Glauben an einen „falschen“ oder gar keinen Gott und damit verbundene Praktiken wie „Zauberei“ oder heidnisches Brauchtum.11 Auch wenn die Volksaufklärer ihre Aberglaubenskritik auf die Basis der Vernunft stellten und diese damit neben einer Historisierung eine Verlagerung „vom Felde der Religionskritik auf das der Vernunftkritik“ erfahren hatte,12 griffen sie mitunter auf das an Luther angelehnte Argument zurück, dass die römisch-katholische Kirche und ihren Riten den Erhalt eines auf Übernatürlichkeit ausgerichteten, mitunter heidnischen Brauchtums beim Landvolk gefördert hätte.13 Allerdings sind seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch zahlreiche Vertreter der Volksaufklärung bekannt, die eine solche Argumentation mit dem Verweis auf religiöse Toleranz vermieden. Künftige Untersuchungen müssten also genauer klären, wann und in welchen Milieus diese Argumentation in der Volksaufklärung auftaucht und inwiefern sich solche, die Konfession betonende Muster eventuell von der Anfangs- über die Hochphase der Volksaufklärung bis zu der bereits im Vormärz auftauchenden neuen Konfessionalisierung hin veränderten.

11 Vgl. Anton LAUTERBACH, Anton Lauterbachs Tagebuch aufs Jahr 1538, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. Tischreden, Bd. 3, Weimar 1914, S. 630. Vgl. außerdem Michael PLATHOW, Vor Gott in der Welt. Luthers neues Wirklichkeitsverständnis (Theologie. Forschung und Wissenschaft, 45), Berlin 2014, S. 127. 12 Dieter HARMENING, ‚Aberglaube‘: Superstition – Ein Thema des Abendlandes zwischen Theologie, Wissenschaftsideologie und historischer Ethnologie, in DERS., Zauberei im Abendland. Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute. Skizzen zur Geschichte des Aberglaubens (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, 10), S. 114–141, hier S. 115. Vgl. auch Hartmut HELLER, Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts im Konflikt mit Volksfrömmigkeit und Aberglaube. Ein Pfarrer und Schulmann als Herausgeber des „Journals von und für Franken“ und des „Fränkischen Merkur“, in: Max LIEDTKE (Hg.), Religiöse Erziehung und Religionsunterricht (Schriftenreihe zum Bayerischen Schulmuseum Ichenhausen, 13), Bad Heilbrunn 1994, S. 195–205, bes. S. 195. 13 Vgl. KRÜNES, Luther als Vorkämpfer (wie Anm. 6), S. 159 f.

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Insgesamt lassen sich also drei strukturelle Parallelen zwischen der Reformation und der Volksaufklärung in Thüringen festhalten, die nicht zuletzt mit der vor allem im kulturellen Bereich verdichteten Entwicklung der kleinräumigen Territorien zusammenhängen. Eine wichtige Basis zur schnellen, günstigen und überregionalen Verbreitung neuen Gedankenguts war die Erfindung des modernen Buchdrucks, der in Thüringen bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts Fuß fasste. Ausgehend von Erfurt, das zu einem wichtigen Medienzentrum der Reformation avancierte, erfuhr die Medienlandschaft Thüringens bis ins 19. Jahrhundert hinein eine rasche Entwicklung und sorgte in Vielfalt, Vernetzung und Reichweite für ideale Rahmenbedingungen bei der Verbreitung volksaufklärerischen Gedankenguts. Sowohl in der Reformation als auch in der Volksaufklärung spielte die intensive Nutzung von Printmedien eine entscheidende Rolle. Daran anknüpfend ist eine weitere Parallele bei der Durchsetzung von Reformation und Volksaufklärung in der Bildungslandschaft Thüringens zu sehen. Der Anteil elementar gebildeter und lesefähiger Untertanen war im Vergleich zur Gesamtbevölkerung relativ hoch und erfüllte damit eine wesentliche Voraussetzung, die zur Verfügung gestellten Printmedien überhaupt rezipieren zu können. Und die dritte Parallele zwischen Volksaufklärung und Reformation liegt im Personal ihrer Trägerschicht, das in beiden Fällen für eine Verbreitung des neuen Gedankenguts vor Ort sorgte. Die volksaufklärerischen Pfarrer verbanden ihre traditionellen Zuständigkeitsbereiche mit der Popularisierung praktisch-aufklärerischen Gedankenguts zur Verbesserung der Lebensumstände ihrer Gemeinden. Auch wenn diese Parallelen kritisch hinterfragt werden können und sicherlich nicht in allen Aspekten Bestand haben, so kann grundsätzlich eine Ähnlichkeit der Reformation mit der Volksaufklärung festgestellt werden. Dies war auch den Volksaufklärern selbst bewusst, denn sie stellten sich in eine direkte Tradition mit der Reformation. In ihrer aufklärerischen Interpretation der Reformation hat Luther mit seiner „Kirchenverbesserung“ die Grundlage dafür geschaffen, dass Bildung und Erziehung in den protestantischen Territorien zu einer Angelegenheit geworden waren, die auch das Volk betraf. Der Reformator galt Ihnen als Held und Befreier, als Lichtbringer und erster Volksaufklärer.14 Das Reformationsjubiläum von 1817 war nicht nur für die Volksaufklärer ein willkommener äußerer Anlass, der Reformation einen hohen Symbolcharakter zuzuschreiben. Es ist grundsätzlich bemerkenswert, in welch hohem Maß sich das Ereignis in der zeitgenössischen Publizistik niederschlug. So zählte 14 Vgl. hierzu Werner GREILING, Volksaufklärung und Reformation. Die Lutherbiographie des Johann Ernst Daniel Bornschein, in: Jens BEGER (Hg.), Hessen und Thüringen. Festschrift für Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag (Schriften des Thüringischen Staatsarchivs Gotha, 5), Jena 2013, S. 191–206.

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beispielsweise Karl Friedrich Michahelles in seiner Bibliographie zur „Literatur der dritten Reformations=Säkularfeier“ von 1820 über 600 eigenständige Titel auf, die im Zuge des Reformationsjubiläums veröffentlicht worden sind.15 Über 100 dieser Schriften entstanden in Thüringen. Eingeschlossen sind dabei auch jene Festpredigten und Reden, die während der Feierlichkeiten gehalten und nachträglich gedruckt wurden. Ein nicht unerheblicher Teil stammte aus der Feder von Volksaufklärern, die dadurch ihrer Verbindung zur Reformation Ausdruck verliehen und Kontinuitätslinien herstellten. Welche Bezüge sie hervorhoben, soll im Folgenden an zwei Fallbeispielen verdeutlicht werden.

2. Fallbeispiel I: Karl Gottlieb Bretschneiders Predigten zur Reformationsfeier 1817 Im Vorfeld des Reformationsjubiläums von 1817 waren in den thüringischen Staaten selbstverständlich auch die Theologen in die Planung involviert und ihre Vorschläge fanden Eingang in den vom Landesherrn verordneten Ablauf der Feier. Eine Besonderheit des Reformationsjubiläums 1817 in Thüringen ist, dass zwischen den Oberhäuptern der einzelnen thüringischen Kleinstaaten im Vorfeld eine Absprache stattgefunden hat. Anscheinend wollte man hier auch landesübergreifend Einheitlichkeit symbolisieren. So heißt es in der „Allgemeinen Chronik der dritten Jubelfeier der deutschen evangelischen Kirche“: Bereits unterm 27sten December 1816 hatte des Großherzogs Königl. Hoheit (Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach) durch ein höchstes Rescript die beiden Ober= Consistorien des Landes zu ‚gutachtlichen Vorschlägen hinsichtlich einer würdigen Feier des Jubiläums‘ durch das Staats=Ministerium auffordern lassen, und diese Vorschläge erfolgten, nachdem die Sache reiflich erwogen und das Votum jedes einzelnen Mitgliedes der Collegien vernommen, auch mit den Königl. und Herzogl. Sächsischen, den Fürstlich Schwarzburgischen und anderen geistlichen Oberbehörden communiciert worden war.16

Daran anknüpfend ist in der Verordnung des Herzogs Günther Friedrich Carl für die Durchführung der Feierlichkeiten im Herzogtum Schwarzburg-Sondershausen zu lesen, dass „über die Art, wie diese Feier in unsern gesamten Fürst15 Vgl. Carl Friedrich MICHAHELLES, Literatur der dritten Reformations=Säkularfeier oder möglichst vollständiges literarisches Verzeichnis aller der Schriften welche in näherer oder entfernterer Beziehung auf das Jahr 1817 gefeierte dritte Reformations=Jubelfest erschienen sind, Nürnberg: Monath und Kutzler 1820. 16 Christian SCHREIBER/Valentin Carl VEILLODTER/Wilhelm HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik der dritten Jubel-Feier der deutschen evangelischen Kirche im Jahre 1817. Nebst einigen Nachrichten von dieser Feier in ausgewählten Ländern, Bd. 1, Gotha: Hennings’sche Buchhandlung 1819, S. 436.

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lichen Landen ausgeführt werden soll, in Conformität mit andern benachbarten Staaten“ gehandelt werden sollte.17 Einer der zentralen geistlichen Akteure im Jahr 1817 war Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848), Generalsuperintendent und Oberkonsistorialpräsident in Sachsen-Gotha-Altenburg.18 Bretschneider war ein zentraler Vertreter des nachkantischen Rationalismus und hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblichen Einfluss auf die Gesinnung der im Herzogtum (sowie im Thüringer Raum) wirkenden Pfarrer. Nach seinem Studium an der Universität Leipzig und der Tätigkeit als Hauslehrer schlug er eine kirchliche Laufbahn ein und wirkte zunächst als Oberpfarrer in Schneeberg und Superintendent in Annaberg, bevor er schließlich nach Gotha kam. Neben seinen Tätigkeiten im Konsistorium unterrichtete er zweimal wöchentlich Religion am Gothaer Gymnasium. Vor allem aber beschäftigte sich Bretschneider publizistisch mit drängenden Fragen seiner Zeit. Wichtige Positionen nahm er in Fragen zur Dogmengeschichte oder zum Symbolzwang ein; große Verdienste erwarb er sich unter anderem mit der Herausgabe der Werke und Briefe Melanchthons in der von ihm angestoßenen Edition des „Corpus Reformatorum“. Bretschneider ist kein idealtypischer Volksaufklärer, denn in seinen Publikationen findet sich kein Werk, das ausschließlich an das „einfache Volk“ adressiert ist. Vielmehr ist er als theoretischer Impulsgeber für die praktisch engagierten Theologen der Reformbewegung zu betrachten. So machte er sich weitreichende Gedanken zu einem politischen Protestantismus, der sich der volksaufklärerischen Bemühungen durchaus bewusst war. Auch dadurch, dass er selbst als Prediger tätig war, hatte Bretschneider die Bedürfnisse des Volkes im Blick. So beschäftigte er sich ausführlich mit Fragen zur Bildung und zum Schulwesen sowie der Anwendung von Sittlichkeit und Moral im Alltag. Auch wenn er nicht explizit für den „gemeinen Mann“ publizierte, beschäftigte er sich auf einer übergeordneten Ebene mit der Popularisierung religiöser Glaubenslehren. Für Karl Gottlieb Bretschneider war das Feiern des Reformationsjubiläums ein wichtiges Anliegen. Er schreibt in der „Nachricht von der Feier des Jubelfestes in Gotha“, dass die Bevölkerung des Herzogtums ihren protestantischen und sächsischen Wurzeln verpflichtet sei, dieses Fest zu feiern, da die ernestinischen Kleinstaaten des Thüringer Raumes „die Wiege der Reformation“ seien.19 17 Ebd., S. 501. 18 Vgl. Axel LANGE, Von der fortschreitenden Freiheit eines Christenmenschen. Glaube und moderne Welt bei Karl Gottlieb Bretschneider (Kontexte. Neue Beiträge zur Historischen und Systematischen Theologie, 15), Frankfurt am Main 1994, S. 9–33; Albrecht BEUTEL, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium, Göttingen 2009, S. 160–162. 19 SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik (wie Anm. 16), S. 481.

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Anlässlich der Säkularfeier brachte Bretschneider sogar eine Zitatensammlung Luthers heraus, die schon mit ihrem Titel „Luther an unsere Zeit“20 eine direkte Verbindung von der Reformation zur Aufklärung herstellt. Dabei stellt Bretschneider nicht nur Zitate zu theologischen Fragen, sondern auch zu Kirche und Staat sowie Kultur und Nation zusammen.21 Auch lässt er nicht aus zu betonen, dass viele Aussprüche Luthers „ohnerachtet das, was Luther hierüber sagt, nichts Neues und Unerhörtes ist […], und viele dieser Aussprüche für jede Zeit wichtig sind; so schienen sie mir doch vollkommen würdig und wichtig genug, um sie dem lesenden Publikum unsrer Zeit darzubiethen“.22 So finden sich in Bretschneiders Schrift Lutherzitate beispielsweise zu den Oberthemen „An Regenten und Obrigkeiten“, „An die Völker und Unterthanen“, „An die deutsche Nation“ oder „Ueber das Schul= und Erziehungswesen“. Dennoch ist dem Theologen die Problematik seines Unterfangens durchaus bewusst und so betont er mehrfach, dass die Aussprüche in verschiedenen Kontexten entstanden sind, distanziert sich per Fußnote vom Inhalt mancher Zitate und historisiert konsequent die Person Luthers und die Reformation. Eine wichtige Deutung Bretschneiders im Hinblick auf Luthers Schriftverständnis ist, dass bereits der Reformator die Grundlagen für eine kritisch-hermeneutische Bibelexegese gelegt habe. Überdies bemüht er sich vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Disputs zwischen Rationalismus und Supranaturalismus, den Konflikt zwischen Vernunft und Evangelium innerhalb der lutherischen Dogmatik aufzulösen. Insgesamt gelingt es ihm dadurch, „in Luthers Geist über Luther selbst hinauszuschreiten; es erschließt sich sogleich […] die bleibende Bedeutung der Reformation, die Begründung des Rechts, die Theologie im Fortschritt der Wissenschaften fortzubilden“.23 Die Linien, die Bretschneider von der Reformation bis in seine Zeit zieht, werden auch in seinen öffentlichen Auftritten im Zuge des Jubiläums selbst deutlich. Neben den Vorbereitungen zum Festprogramm, das er als Generalsuperintendent und Oberkonsistorialpräsident in umfangreichem Maße mitgestaltete, hielt der Theologe nämlich während der Feier auch zwei öffentliche Predigten in der Augustinerkirche in Gotha. Eine dieser Predigten, die „Predigt am dritten Tage des Reformations=Jubelfestes, den 2ten Nov. 1817“ soll nun näher betrachtet werden. Grundsätzlich benennt Bretschneider drei von der Reformation ausgehende Traditionslinien, an die anzuknüpfen sei. Zunächst geht er auf die „Vorzüge der 20 Karl Gottlieb BRETSCHNEIDER, Luther an unsere Zeit, oder Worte Luthers, welche von unserm Zeitalter besonders beherzigt zu werden verdienen. Aus dessen sämmtlichen Werken zusammengestellt, Erfurt: G. A. Keysers Buchhandlung 1817. 21 Vgl. LANGE, Freiheit (wie Anm. 18), S. 60. 22 BRETSCHNEIDER, Luther an unsere Zeit (wie Anm. 20), Vorrede, S. III. 23 Vgl. LANGE, Freiheit (wie Anm. 20), S. 60–66, Zitat S. 66.

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Reformation“ im Hinblick auf Bildung im Allgemeinen und die Etablierung von Volksschulen ein. Man habe nun überall „Schulen für das Volk, kaum entbehrt ihrer das unbedeutendste Dorf; [die] Kinder werden von Jugend an unterwiesen in der heiligen Schrift, vor Aberglauben bewahrt, in nützlichen Kenntnissen unterrichtet, und zu wahrer christlicher Tugend angehalten“.24 Diese Schulen seien eine wichtige Errungenschaft für die „evangelischen Völker“ und sollten dementsprechend wertgeschätzt, aber auch stetig verbessert werden, denn „noch sind diese Schulen nicht ganz, was sie seyn sollen; noch bedürfen sie mancher Verbesserungen, welche die veränderten Zeitumstände erfordern“.25 Optimierungsbedarf bestehe etwa bei der Besoldung der Landschullehrer. Der Ausbau des Elementar- und Landschulwesens war schon seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein zentrales Anliegen der Volksaufklärung und bekam vor allem durch den Philanthropismus wichtige Impulse.26 Trotz intensiver Bemühungen, Reformen im Schulwesen voranzutreiben, wurden viele Veränderungen, wie etwa die konsequent durchgesetzte Schulpflicht, erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durchgeführt. Die Missstände waren auch hier zu Bretschneiders Zeiten noch enorm. Gerade deshalb hebt er hervor, dass die Volksschulen als Ergebnis „der schönsten Früchte der Kirchenverbesserung“ durch den guten Willen der evangelischen Christen immer weiter verbessert werden müssten. Auch die „Anstalten zur Beförderung der Gelehrsamkeit“ finden bei Bretschneider Erwähnung, denn in unsrer Kirche sind den Wissenschaften keine Fesseln angelegt, sondern frei ist in dem unermeßlichen Felde des Wissens jede gelehrte Forschung. Diese Entbindung der Gelehrsamkeit von den Fesseln priesterlicher Aufsicht und Zwangs [… hat] den hohen Glanz der Wissenschaft, in welchem die evangelische Kirche jetzt strahlt, aufs wirksamste befördert.27

24 Karl Gottlieb BRETSCHNEIDER, Casualpredigten und Reden bei besondern Vorfällen und Veranlassungen in der Kirche und im Staate, Gotha: Beckersche Buchhandlung 1834, S. 130. 25 Ebd. 26 Vgl. Hanno SCHMITT, Die Philanthropine – Musterschulen der pädagogischen Aufklärung, in: Notker HAMMERSTEIN/Ulrich HERRMANN (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 262–277; Wolfgang NEUGEBAUER, Niedere Schulen und Realschulen in: ebd., S. 213–261; HANNO SCHMITT/Rebekka HORLACHER/Daniel TRÖHLER (Hg.), Pädagogische Volksaufklärung im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext: Rochow und Pestalozzi im Vergleich (Neue Pestalozzi-Studien, 10), Bern/Stuttgart/Wien 2007. 27 BRETSCHNEIDER, Casualpredigten (wie Anm. 24), S. 131.

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Bretschneider zielt dabei auf die Gründungen der Universitäten Wittenberg und Jena ab, Letztere als eine im Zeichen des Protestantismus stehende Neugründung, erwähnt aber auch das Engagement einzelner Landesherren im Bereich der höheren Bildung. Aus Bretschneiders Sicht habe die Reformation den Grundstein für den Ausbau des Bildungsanspruchs und Bildungssystems in den protestantischen Territorien des Reichs gelegt. Bildung wird hier als Wert benannt,28 das Streben nach Weisheit und vor allem ein freier wissenschaftlicher Austausch sind für Bretschneider ein Zeichen dafür, dass „die Völker wohl regiert, und Gesetze und Verfassungen wohlthätig verbessert“ würden.29 Dies liege vor allem an dem höheren Maß an Vernunft, welches Bretschneider der evangelischen Lehre und Praxis beimisst. Die Vernunft ist die zweite Traditionslinie, die Bretschneider von der Reformation zur Volksaufklärung zieht. Die lutherische verfüge im Vergleich zur katholischen Lehre über „verbesserte Gottesdienste“, in denen man auf „Handlungen und Gebräuche, an denen eine durch die heilige Schrift und durch Wissenschaft und Erfahrung erleuchtete Vernunft Anstoß nehmen könnte“, verzichtet. Die lutherische Gottesdienstpraxis sei „nicht darauf berechnet, einer schaulustigen, unwissenden Menge zur Unterhaltung zu dienen, oder nur Rührungen des Gemüths, die so leicht zur Schwärmerei und Aberglauben führen, hervorzubringen“. Der Gottesdienst in deutscher Sprache sowie die zwischen Gott und den Menschen fehlende Mittelsperson, rege zur „Erkenntniß des Wahren und Guten an“.30 Bemerkenswert ist, dass Bretschneider ausdrücklich betont, dass die lutherische Gottesdienstlehre keinen dogmatischen Charakter habe, sondern „nur einen für seine Zeiten berechneten Versuch der Verbesserung“ darstelle. Luther „stellte es ausdrücklich der Nachwelt anheim, nach Beschaffenheit der Umstände davon oder dazu zu thun, und zu ändern, wie es sich für dienlich erachten würde“.31 Diese aufklärerische Deutung schließt somit den Gedanken an eine gestaltbare und sich wandelnde Zukunft und einen damit einhergehenden gewissen Pragmatismus mit ein. Die dritte und für Bretschneider wichtigste Linie, die er von der Reformation zur Aufklärung zieht, liegt in der „vollkommnern christlichen Tugendlehre“. Die Voraussetzungen dafür seien in der evangelischen Lehre geschaffen, denn „wir haben das Wort Christi und der Apostel; jeder von uns kann und soll 28 Vgl. Michael MAURER, Bildung, in: Hans-Werner HAHN/Dieter HEIN (Hg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 227– 237. 29 BRETSCHNEIDER, Casualpredigten (wie Anm. 24), S. 132. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 134.

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es lesen; jeder kann und soll es erkennen, was der Wille Gottes an uns sey“. Evangelische Christen bräuchten keine „äußerlichen Werke der Andacht“, für sie gelten nur „reiner, Gottes Gesetzen mit Freuden gehorchender Wille, und die Reinigung des Herzens von jeder unlautern Begierde“, ihr Vorbild sei keine „zweifelhafte Heiligkeit“, sondern allein „Jesus Christi, dem wir ähnlich werden sollen“.32 In Bretschneiders Deutung ist die evangelische Lehre gegenüber anderen Religionen zudem viel toleranter, denn in der katholischen Kirche herrsche der „Lehrsatz, daß alle, die nicht zur Kirche gehören, des Teufels und für die Hölle bestimmt sind“.33 Besonders betont Bretschneider die im protestantischen Milieu schon lange bestehende These, dass einem Protestanten seine Bürgerpflichten und seine kirchlichen Pflichten „nicht leicht in Streit kommen; denn sein geistlicher Oberer ist nicht ein ausländischer Machthaber, sondern der Fürst seines Landes ist sein oberster Bischoff und der Regent seiner Kirche als einer äußerlichen Gesellschaft“. Für die Vermittlung christlicher Tugenden, Bretschneider spricht an einer Stelle von „evangelischen Tugenden“, – darunter fallen für ihn auch die Sekundär- und in seiner Zeit nun bürgerlichen Tugenden „Wohlwollen, Sanftmuth und Liebe, Keuschheit und Mäßigkeit, Ehrlichkeit und Treue, Redlichkeit und Biedersinn“34 –, sei die Kirche mit der „evangelischen Freiheit“ am besten geeignet.35 Den Bogen von der christlichen Tugendlehre in seine Zeit schlägt Bretschneider, indem er betont, je stärker der evangelische Christ sich vervollkommne, „desto ähnlicher [werde] seine Seele dem Bilde Jesus Christi, desto gewissenhafter erfülle er die Pflichten der Liebe gegen Jedermann, und des Gehorsams gegen Regent, Vaterland und bürgerliches Gesetz“.36 Letztlich sei es „die Stimme der Erfahrung, welche an den Früchten auf eine entscheidende Weise offenbart, von welcher Beschaffenheit der Baum sey, den man gepflanzt hat“. Von Bretschneiders Standpunkt aus gesehen, gibt es wohl kein zuverlässigeres Kennzeichen der Güte der Lehre und Einrichtungen einer Kirche als die Wirkungen, die daraus auf die Aufklärung des Verstandes, die Besserung der Sitten, die Beruhigung des Herzens und die Beförderung der bürgerlichen Wohlfahrt hervorgehen.37

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Ebd. Ebd., S. 135. Ebd., S. 136. Ebd., S. 138. Ebd., S. 137. Ebd., S. 139.

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3. Fallbeispiel II: Karl Ludwig Nonnes „Reformationsbüchlein“ Einen anderen Akzent als Bretschneider setzte in der Reformationserinnerung von 1817 der in Hildburghausen tätige Volksaufklärer Karl Ludwig Nonne (1785–1854).38 Nonne war nach seinem Theologiestudium an der Universität Jena, die ihm später im Zuge des Confessio-Augustana-Jubiläums von 1830 die Ehrendoktorwürde verlieh, zunächst Schulrat im Herzogtum SachsenMeiningen. Nach zwei Reisen zu Pestalozzi in die Schweiz gründete Nonne 1810 das Lehrerseminar in Hildburghausen, dessen Direktor er wurde. Neben seinem großen, von Herzog Bernhard II. Erich Freund gestützten Engagement in der Schulverbesserung war er Mitbegründer der weit überregional bekannten „Dorfzeitung“.39 1819 wurde er als Hofprediger angestellt und nach dem Anschluss Hildburghausens an Sachsen-Meiningen im Jahr 1826 zum Oberkonsistorialrat und Leiter des Schulwesens ernannt. 1847 wurde er Mitglied des Meininger Landtags und ein Jahr später Delegierter im Frankfurter Vorparlament. Im Zuge des Reformationsjubiläums von 1817 veröffentlichte Nonne sein „Reformationsbüchlein“ für Kinder, welches im Folgenden näher betrachtet werden soll. Zu bemerken ist grundsätzlich, dass für Nonne, anders als etwa für Bretschneider, ein volksaufklärerischer Anspruch in seinem Wirken und seinen Schriften stets im Vordergrund stand. Gezielt richtete er seine Werke an das „Volk“; vor allem die Kinder- und Jugendbildung nahm für ihn einen wichtigen Platz ein. So war sein „Reformationsbüchlein“, über die Maßen erfolgreich. Das Bändchen, das 1817 zum ersten Mal erschien, erlebte über einen Zeitraum von fast 80 Jahren immer wieder Neuauflagen (insgesamt 13 Stück), teilweise mit Ergänzungen oder Erweiterungen wie etwa in der Auflage von 1832, die auch den Dreißigjährigen Krieg und die Rolle Gustav Adolfs – Nonne war zudem Mitglied des 1832 in Leipzig ins Leben gerufenen Gustav-Adolf-Werks – als Unterstützer der evangelischen Sache thematisiert. Das Reformationsjubiläum jedenfalls war für Nonne ein Anlass, Kindern und Jugendlichen als vornehmlichen Adressaten einerseits die historischen Hintergründe und andererseits die 38 Zu Nonne vgl. Ernst KAISER, Dr. Ludwig Nonne der Schulreformator und „Pestalozzi Thüringens“, Weimar 1948; Horst BÜCHNER, Karl Ludwig Nonne und das südthüringische Schulwesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, [Hildburghausen 1985]; Hanspeter WULFF-WOESTEN, Wirken, solange es Tag ist! Dr. Ludwig Nonne – Leben und Werk des „Pestalozzi Thüringens“. Der Schulreformer, Kirchenratgeber, Freimaurer, Dorfzeitungsschreiber in seiner Zeit und Wirkung (Sonderveröffentlichungen des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins e.V., 25), Leipzig/Hildburghausen 2008. 39 Zur Bedeutung der „Dorfzeitung“ in der volksaufklärerischen Publizistik des Vormärz vgl. beispielsweise KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen (wie Anm. 5), S. 146–149 u. 303–307; WULFF-WOESTEN, Dr. Ludwig Nonne (wie Anm. 38), S. 257–268.

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Bedeutung der Reformation nahezubringen. Dabei erfuhr sein Vorhaben Unterstützung durch die Obrigkeit. In der Anordnung zur Säkularfeier im Herzogtum Sachsen-Hildburghausen wird die Verwendung von Nonnes „Reformationsbüchlein“ in Schulen verordnet; in § 3 heißt es: Zur Vorbereitung der Feier ist die Bedeutung des Festes an eben dem Tage in dem Nachmittagsgottesdienst und in den folgenden Betstunden aus der gedruckten Schrift: Warum feiern evangelische Christen ein Reformationsfest? In den Schulen aber aus der kleineren: Das Reformationsbüchlein betitelt, geschichtlich zu erläutern.40

So geht auch Nonne in der Vorrede seines Büchleins darauf ein, dass sein Werk „den hohen Sinn und die Bedeutung“ des Festes erläutern solle.41 Gleichzeitig wirft er einen Blick in Alltagspraxis und Zukunft, indem er darauf hinweist, dass das Buch auch über die Säkularfeier hinaus immer wieder zur Hand genommen werden könne und überdies als Erinnerung an das Jubiläum selbst dienen solle, dessen Feier man nur einmal im Leben miterlebe.42 Nonnes Anknüpfungspunkt zur Herstellung einer Traditionslinie von der Reformation zur Volksaufklärung einerseits und von der Bedeutung der evangelischen Lehre für seine Zeitgenossen andererseits liegt in der Person Luthers. Für viele geistliche Volksaufklärer des Vormärz war Luther als „Lichtbringer“ ein Vorbild für das Ideal des steten Strebens nach Verbesserung. Der Kult um seine Person nahm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu und kulminierte in Jubiläumsfeiern und Gedenken zu Luthers Todesjahr 1846.43 In seinem „Reformationsbüchlein“ beginnt Nonne daher mit der Kindheit Martin Luthers, der, wie hier gedeutet wird, aus bäuerlichen, einfachen Verhältnissen stammend eine Identifikationsfigur einerseits für das Volk, andererseits auch für die Volksaufklärung selbst sein soll. In seiner Schilderung der Herkunft Luthers bemüht Nonne den Vergleich zu Jesus Christus, der ebenso fernab der 40 SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik (wie Anm. 16), S. 494. 41 Die ersten beiden Auflagen des „Reformationsbüchleins“ erschienen 1817 bzw. 1818. Die dritte, erstmals erweiterte und überarbeitete Auflage wurde im Jahr 1832 veröffentlicht. Im Jahr 2008 erschien von dieser Fassung ein Nachdruck, aus dem im Folgenden zitiert wird. Ludwig NONNE, Das Reformationsbüchlein. Eine Erzählung für Kinder, Hildburghausen: Kesselringsche Buchhandlung 31832 [ND Hildburghausen 2008], Vorerinnerung an die Kinder beim Jubelfeste [ohne Seitenangabe]. 42 Vgl. hierzu den Beitrag von Julia BEEZ in diesem Band. 43 Vgl. Markus HEIN, Die Lutherrezeption in den Predigten und Ansprachen bei den Reformationsfeierlichkeiten in Sachsen im 19. Jahrhundert, in: Stefan LAUBE/Karl-Heinz FIX (Hg.), Lutherinszenierung und Reformationserinnerung (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, 2), Leipzig 2002, S. 145–161, hier bes. S. 155–158. Weiterführend zu den Reformations- und Lutherfesten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. außerdem Dorothea WENDEBOURG, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 108 (2011), S. 270–335.

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Heimat zur Welt kam.44 Mit dieser Parallele zu Jesus, die Nonne auch im weiteren Verlauf des Büchleins aufrecht erhält, verweist er bereits indirekt auf die besondere Tragweite im Wirken Martin Luthers und deutet, wie aufzuzeigen sein wird, gewissermaßen eine Traditionslinie von Jesus über Luther hin zur Aufklärung und dem Reformationsjubiläum an. Zunächst einmal dienen Luther und seine Familie aber als Vorbild für die Leser des „Reformationsbüchleins“. So werden Luthers Eltern als sehr fromm, sittsam, hart arbeitend und fleißig beschrieben.45 Ebenfalls wird betont, dass Luthers Vaters sich stets bemühte, seinem Sohn Bildung zukommen zu lassen; in Nonnes Darstellung ist Luther bei schlechtem Wetter sogar in die Schule getragen worden. Der Schule und den Bildungsstätten kommen überhaupt eine besondere Bedeutung in Nonnes Lutherbeschreibung zu. Dort hat Luther zunächst elementare Bildung erhalten, und da sein außergewöhnlicher Verstand bald von den Lehrern bemerkt worden war, empfahlen sie ihn für die weiterführende Schule. Die Beschreibung deckt sich mit den Forderungen der Volksaufklärer nach der Verbesserung und dem institutionellen Ausbau des elementaren Bildungswesens. Gleichzeitig regt Nonnes Darstellung seine Leser an, die Notwendigkeit elementarer Bildung einzusehen und deren Wert zu schätzen. So bietet Luther ein Beispiel dafür, dass auch große Männer der Geschichte zunächst diesen Bildungsweg einschlugen und auch hier schlummerndes Potential geweckt werden kann. Aufgrund der Armut der Eltern hätte Luther sich den Schulbesuch nicht leisten können, wenn er selbst nicht mit großem Fleiß seinen Lebensunterhalt besorgt hätte. Für wichtig erachtet Nonne daher, dass der spätere Reformator seinen Bildungsweg hätte abbrechen müssen, wenn ihn nicht „die Ehefrau des Conrad Cotta, eines wohlhabenden Bürgers und seines mütterlichen Oheims“, aufgenommen hätte. Sie sei aufgrund Luthers Gesangs, seiner Frömmigkeit und seines Fleißes wohlwollend auf ihn aufmerksam geworden.46 Nonne wusste um die Schwierigkeiten im Bildungsweg ärmerer Kinder. So deutet er einerseits am Beispiel von Luthers Schulzeit an, dass sich für Kinder und Jugendliche Fleiß, Anstrengung und gutes Benehmen lohnen und andererseits junge Talente aus ärmeren Verhältnissen oft auch Unterstützung durch wohlhabende Mitmenschen benötigen. Dies ist durchaus als doppelter Ansporn zu lesen: aus Sicht von Kindern und Jugendlichen zu Fleiß, aus Sicht der Erwachsenen zu ideeller und finanzieller Förderung junger Menschen. Es zeigt sich also bereits, dass Nonne, ähnlich wie Bretschneider, aber in einer sehr vereinfachten und populären Erzählweise auf die Bedeutung der Sekundärtugenden abzielt, die durch die Reformation zugenommen habe. Bretschneider hatte mittels eines 44 Vgl. NONNE, Reformationsbüchlein (wie Anm. 41), S. 1–3. 45 Vgl. ebd., S. 2 f. 46 Ebd., S. 4.

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mitunter theoretischen Anspruches aufzeigen wollen, dass die reformatorische Lehre in enger Zusammenarbeit mit der Landesherrschaft auch in langfristiger Hinsicht den Raum zur Entfaltung dieses „modernen“ Tugendbegriffes bereitet habe, dass sie Voraussetzung und Rahmen dafür war. Nonne hingegen verzichtet weitgehend auf die Reflexion dieser übergeordneten Linie und konzentriert sich überwiegend auf die Person Luthers und dessen Alltagsleben. Seine Darstellung zielt dabei auf die Schilderung sehr konkreter Situationen ab, deren Nachahmung intendiert wird. Diese Art der populärhistorischen Darstellung um 1800, der sich Volksaufklärer erst etwa seit der Jahrhundertwende bedienten, hob auf die Vermittlung von historischem Wissen ab, welches in einen engen Zusammenhang mit der zeitgenössischen Situation gebracht werden sollte, und steht mithin im „Topos der historia magistra vitae“.47 Im Falle der Darstellung Luthers kreiert Nonne den zeitgenössischen Anknüpfungspunkt in den für die Volksaufklärer äußerst wichtigen „Sekundärtugenden“.48 Auch in Nonnes weiterer Beschreibung von Luthers Lebensweg, so etwa seinem Theologiestudium in Erfurt, werden dessen Wissbegierde, seine Frömmigkeit und sein steter Fleiß in den Vordergrund gestellt. Luthers Streben nach Höherem durch den Erwerb von Wissen betont Nonne, indem er genau beschreibt, dass Luther im Kloster lieber die Heilige Schrift studierte als mit den anderen Mönchen nach Essbarem zu betteln. Mit der Zeit im Kloster verbindet Nonne das Erwachen von Luthers Gewissen, welches ihn plagte, da er fühlte, dass die im Kloster vermittelte Lehre nicht vollkommen sei.49 Das kritische Hinterfragen von Normen, eines der wichtigsten Charakteristika der Aufklärung, wird hier also schon für Luther angedeutet. Luthers Fleiß führte nach Nonne auch dazu, dass dieser nach Wittenberg berufen wurde, wo er aufgrund seines Verständnisses von der Bibel, auf welche er sich stets berief, als Lehrer und Prediger arbeitete. Während seiner Reise nach Rom sei Luther erschüttert über den Zustand der römisch-katholischen Kirche gewesen und predigte daher nach seiner Rückkehr „lauter noch und kräftiger als bisher […]: die reine Quelle des echten Christentums ist einzig die heilige Schrift“.50 Auch hier stellt Nonne wieder Luthers Widerspruch gegenüber offenbaren Missständen heraus. Ein weiterer zentraler Aspekt in Nonnes Lutherdarstellung ist die Betonung von Luthers Engagement im Ausbau des Schulwesens. Luther habe bemerkt, 47 Pauline PUJO, Geschichtsschreibung der Volksaufklärung im mediengeschichtlichen Kontext: Christoph Gottlieb Steinbecks Frey- und Gleichheitsbüchlein (1794), in: Das achtzehnte Jahrhundert 36 (2012), H. 1, S. 43–55, hier S. 44. Vgl. dazu auch GREILING, Volksaufklärung und Reformation (wie Anm. 14), S. 204. 48 Vgl. Heidrun ALZHEIMER-HALLER, Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780–1848, Berlin/New York 2004, S. 356 f. 49 NONNE, Das Reformationsbüchlein (wie Anm. 41), S. 8 f. 50 Ebd., S. 10–16, Zitat S. 14.

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dass Menschen ohne Schulen und Bildungseinrichtungen wie Tiere wären.51 Den Wert von Selbstbildung zu einem kritischen Bewusstsein, eine vernünftige Erziehung durch die Eltern, aber auch ein von landesherrlicher Seite institutionalisiertes Elementarschulwesen seien dem Reformator wichtig gewesen; der Schulbesuch sei Voraussetzung und Grundlage für jedwede Weiterbildung. Nonne betont, dass für Luther neben der Einrichtung von neuen Gottesdiensten, „die Sorge für bessere Schulen“ am wichtigsten war, „an denen es damals ganz fehlte“.52 Erst durch das Eingreifen des Reformators seien viele neue Schulen errichtet worden. In der Nachdrücklichkeit, mit der Nonne Luthers Engagement für die Errichtung von Schulen betont, konstruiert er möglicherweise auch eine Verbindung zu sich selbst. Ähnlich wie Luther versuchte auch Nonne ein pädagogisch-theologischer Reformator seines Umfeldes zu werden.53 In Bezug auf Luthers Thesenanschlag findet Nonne klare Worte. Luthers Fleiß, sein durch Studien erworbenes Wissen, sein kritisches Hinterfragen von Normen, sein Einsatz für die schwachen Glieder der Gesellschaft und letztlich sein Mut, auch vor dem Reichstag zu seinem Wort zu stehen, hätten zur Erkenntnis der wahren Lehre geführt. Stark werden die Missstände der spätmittelalterlichen katholischen Kirche hervorgehoben. Nonne betont besonders die Sittenlosigkeit ihrer Vorsteher, die Verwerflichkeit des Ablasshandels, die Prunksucht des Papstes und die „Dreistigkeit“ Tetzels.54 Die katholische Kirche wird bei Nonne besonders dunkel gezeichnet, Luthers Auftreten dagegen erscheint dem Leser wie eine Erleuchtung. Allein die „Macht der Wahrheit“ und die „Wahrheitsliebe“ Luthers seien der Grund gewesen, warum immer mehr Menschen der neuen Lehre folgten und sich schließlich auch Friedrich der Weise für den Geistlichen einsetzte.55 Dessen Rolle wird von Nonne immer wieder hervorgehoben. Er kennzeichnet ihn als einen milden, klugen und sittlichen Mann, also gewissermaßen als Musterbeispiel eines aufgeklärten Fürsten. Luthers „Schild“ gegen den Kirchenbann sei zwar nur die Bibel gewesen, aber Nonne betont auch, dass Luther ohne das Wohlwollen des Fürsten die Reformation nicht zu ihrem Erfolg hätte führen können.56 Die Demonstration dieser Gewissenhaftigkeit Luthers findet in Nonnes Büchlein stets im Beisein des Volkes statt. Die Volksnähe des Reformators und in diesem Sinne seine Bescheidenheit sind zentrale Anknüpfungspunkte.57 Gleichzeitig führt er Luther aber auch als Autorität vor, beispielsweise während 51 52 53 54 55 56 57

Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 52. Vgl. WULFF-WOESTEN, Dr. Ludwig Nonne (wie Anm. 38), S. 216–221. Vgl. NONNE, Reformationsbüchlein (wie Anm. 41), S. 16–21. Vgl. ebd., S. 21–25. Vgl. ebd., S. 25–30. Vgl. ebd., S. 38–40.

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der Ausschreitungen in Wittenberg Anfang der 1520er Jahre. So sei Luther aus seinem Versteck, der Wartburg, gekommen und „predigte acht Tage hintereinander, mit siegender überzeugender Beredsamkeit gegen die verirrten unter seinen eigenen Freunden, gegen die vorgefallenen Unordnungen, und vor der Gewalt seiner Rede schwieg der Sturm“.58 Die Gewaltfreiheit bei der Einführung der neuen Lehre sei eine wesentliche Eigenschaft Luthers, mithin wird er gar als Friedensstifter inszeniert, der eine gewaltsame Erhebung gegen die Obrigkeit rigoros ablehnte. Nonne beschließt seine Darstellung des Lebens Martin Luthers und der Verbreitung der Reformation, indem er seinen Lesern Dankbarkeit für die Errungenschaften der Reformation abverlangt und Luther als „Muster“ an „menschlichen Kräften, Weisheit, Redlichkeit, frommer Unverzagtheit und Ausdauer“ bezeichnet. Mit diesen Eigenschaften, so Nonne, sei es immer möglich, schwierige Lebenssituationen zu meistern.59 Neben den bereits erwähnten Sekundärtugenden rückt Nonne Luther bereits in die Nähe des Perfektibilitätsgedankens der Aufklärung, denn der Reformator habe mit seiner wahren Lehre und mithilfe seiner tugendhaften Lebensführung eine Besserung der Lebensumstände seiner Zeitgenossen intendiert; das Hinterfragen von bestehenden Normen nimmt dabei eine tragende Rolle ein. Nonnes „Reformationsbüchlein“ hat also einen Bildungs- und Erziehungsanspruch. Einerseits soll es seine Leser in Vorbereitung auf die Säkularfeier 1817 mit der Geschichte der Reformation vertraut machen, also auf populäre Weise historisch bilden. Andererseits wird dem Leser der Reformator Luther auf eine moralisierend-belehrende Weise als Person beschrieben, die mustergültige Tugenden vereint und nach dessen Exempel zu handeln sei. Die von Nonne mehrfach betonten Tugenden sind ein idealer Anknüpfungspunkt, der den christlichen mit dem bürgerlichen Wertehorizont in Einklang bringt und so die Aktualität der reformatorischen Lehre Nonnes Zeitgenossen deutlich machen soll.

4. Schlussbetrachtung: Das Reformationsjubiläum von 1817 als Möglichkeit der Verbreitung (volks-)aufklärerischer Inhalte Wie an Karl Gottlieb Bretschneider und Karl Ludwig Nonne gezeigt werden konnte, betrachteten aufklärerisch gesinnte Geistliche das Reformationsjubiläum von 1817 als eine ideale Gelegenheit, ihre Ansichten mittels Predigten, Reden und Schriften in die breite Öffentlichkeit zu tragen. In Thüringen weist 58 Vgl. ebd., S. 47. 59 Vgl. ebd., S. 70 f.

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das Jubiläum zu einem gewissen Grad „volksaufklärerische Elemente“ auf bzw. ist von der Volksaufklärungsbewegung – in erster Linie durch jene Pfarrer und Staatsdiener – die die Feierlichkeiten vor Ort mitgestalteten, leiteten oder durchführten, beeinflusst worden. Dabei wurde der Reformation nicht nur im historischen Sinne gedacht, sondern die Ereignisse des 16. Jahrhunderts zugleich in unmittelbaren Zusammenhang mit aktuellen religiösen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Themen des frühen 19. Jahrhunderts gesetzt. Geschickt wurden die Taten Martin Luthers bzw. die Auswirkungen der Reformation mit zeitgenössischen Fragen verknüpft. Welchen strukturellen und inhaltlichen Rahmen sollten Kirche und Religion in Zukunft annehmen? Welche Rolle sollten Protestantismus und Katholizismus in der sich stark verändernden Gesellschaft spielen? Dienten Reformatoren wie Martin Luther als Vorbild für Moral und Sittlichkeit? Konnte ihr Wirken als Anleitung zu staatsbürgerlichem Handeln verstanden werden? All diese Themen, die in einer Phase des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs direkt nach dem Ende der napoleonischen Ära zunehmend an Bedeutung gewannen, wurden nun in geballter Form mündlich und schriftlich erörtert.60 Im Zuge der Feierlichkeiten wurden in Thüringen zur Geschichte der Reformation und zur Person Martin Luthers etliche Reden gehalten und Publikationen verschiedenster Gattungen veröffentlicht. Zu den Schriften nach 1817 gehörten auch zahlreiche Beschreibungen der vor Ort stattgefundenen Feste, einschließlich der Reden und Predigten. Hinzu kam eine Vielzahl an Neuauflagen von Lutherschriften, die bereits im 16. Jahrhundert erschienen waren und den Lesern ein „authentisches“ Bild des Reformators vermitteln sollten. Daneben komponierten und schrieben einige Volksaufklärer Lieder und Gedichte,61 die während der Feierlichkeiten gesungen und später 60 Zur vielfältigen Vermischung religiös-kirchlicher und politisch-gesellschaftlicher Themen während der Reformationsjubiläums von 1817 in Thüringen, und hier insbesondere im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach vgl. grundlegend Stefan GERBER, Konfession und Nation im „Ereignis Weimar-Jena“. Die Feiern zum 300. Reformationsjubiläum 1817, in: Johanna SÄNGER/Lars DEILE (Hg.), Spannungsreich und freudevoll. Jenaer Festkultur um 1800, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 74–110. 61 Als ein Beispiel kann hier der Meininger Gymnasialdirektor Johann Konrad Ihling genannt werden, der um 1800 bereits einige volksaufklärerische Schriften publiziert hatte, wie beispielsweise „Über Geistererscheinungen. Ein Beitrag zur Erfahrungsseelkunde“ (1805), „Die Kunst, die Geister zu verstehen. Ein belehrendes und unterhaltendes Lehrbuch für den Bürger und Landmann“ (1807) oder „Eduard Tieftrunk oder Die Geheimnisse des Lebens“ (1805). Zum Reformationsjubiläum komponierte Ihling einige Stücke, die während der Festivitäten gesungen und später auch veröffentlicht wurden. In diesen Liedern finden sich mehrere (volks-)aufklärerische Einschläge, so etwa der Kampf gegen den Aberglauben. In Ihlings Stücken wurde Luther unter anderem als Zerstörer des Aberglaubens gefeiert. Vgl. SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik (wie Anm. 16), S. 343.

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zum Teil ebenfalls veröffentlicht wurden.62 Die Reden und Schriften waren dabei stets an einen großen Adressatenkreis gerichtet. Sie sprachen sowohl das einfache „Volk“, oftmals Kinder und Erwachsene gleichermaßen, als auch Gebildeten, wie etwa die vielerorts wirkenden Schullehrer, an. Grundsätzlich kann festhalten werden, dass das Lutherbild der während der Feierlichkeiten aktiven Volksaufklärer im Wesentlichen den Grundpositionen entsprach, die die Aufklärung im späten 18. Jahrhundert formuliert hatte.63 Das von Luther initiierte Reformationswerk habe das Fundament für die Denk- und Geistesfreiheit gelegt. Der entstehende Protestantismus förderte Vernunft und Sittlichkeit. Mit ihm seien bürgerliche Werte und Tugenden gestärkt worden, was sich wiederum positiv auf die Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft ausgewirkt habe. In diesem Sinne wurde Luther zum Vorbild eines gesitteten, aufgeklärten Bürgers stilisiert, dem es nachzueifern galt. Mit der Interpretation des Protestantismus als eine auf Fortschritt und Freiheit zielende Konfession ging tendenziell aber auch eine stärkere Abgrenzung zum Katholizismus einher. Allerdings ist ebenso zu betonen, dass die in der Spätaufklärung überwiegend irenischen, auf den religiösen Ausgleich bedachten Töne im Zuge des Reformationsjubiläums keineswegs verschwanden.64 Den thüringischen Volksaufklärern ging es in erster Linie darum, Luther und die Reformation als einen „besseren“ Gegenentwurf zur vermeintlich von Aberglaube und Unsittlichkeit geprägten spätmittelalterlichen Lebens- und Glaubenswelt zu zeichnen. Für sie markierte Luther den Beginn eines langen Aufklärungsprozesses, der noch nicht vollendet war und den es zwingend weiter zu bestreiten galt. Die politische Komponente des Reformationsjubiläums, die andernorts, wie etwa auf dem Wartburgfest in Eisenach oder in der Universitätsstadt Jena, in starkem Maße zum Ausdruck kam, spielte bei den Reformationsfeierlichkeiten in den kleineren Orten Thüringens nur eine geringe Rolle. Zwar schimmert in den Reden und Predigten hin und wieder heraus, dass einige Pfarrer und Staatsdiener durchaus Sympathien für die neuen liberalen Ideen hatten, doch lassen sich in den Äußerungen nur selten konkrete politische Zielsetzungen erkennen. Luther war für die Mehrheit der thüringischen Volksaufklärer im Jahr 1817

62 Für die Feierlichkeiten wurden überall in den thüringischen Staaten neue Lieder komponiert, oft sogar neue Gesangbücher konzipiert und herausgegeben. Vgl. hierzu MICHAHELLES, Literatur der dritten Reformations=Säkularfeier (wie Anm. 15), S. 25–27. 63 Zum Lutherbild der Aufklärung und den darauf aufbauenden, sich während des Reformationsjubiläums herausgebildeten inhaltlichen Unterschieden vgl. Lutz WINCKLER, Martin Luther als Bürger und Patriot. Das Reformationsjubiläum von 1817 und der politische Protestantismus des Wartburgfestes (Historische Studien, 408), Lübeck/Hamburg 1969. 64 Siehe hierzu auch den Beitrag von Alexander KRÜNES in diesem Band.

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noch kein deutscher Nationalheld,65 der als eine Art „Vorstufe“ auf dem Weg zur Bildung eines konstitutionellen, bürgerlichen Nationalstaates interpretiert wurde. Vielmehr verfolgten die thüringischen Volksaufklärer „klassische“ Ziele, deren Chance einer Realisierung durch die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit und die enge Zusammenarbeit mit den lokalen und staatlichen Obrigkeiten während des Reformationsjubiläums sprunghaft anstieg. Als etwa in allen thüringischen Staaten der zweite Tag der Reformationsfeierlichkeiten den Schulen und der Bildung gewidmet wurde,66 bemühten sich die (volks-)aufklärerisch gesinnten Akteure vor Ort, die Bildung und Erziehung der einfachen Bevölkerung durch Neugründungen oder Verbesserungen von Schulanstalten zu heben. So wurde beispielsweise in der Stadt Gera im Fürstentum Reuß am zweiten Tag der Reformationsfeier „mit herrschaftlicher Bewilligung […] eine Sonntagsschule eingerichtet“, an der vor allem „Lehrlinge, Handwerker und andere, welche wegen ihrer Armuth und nöthigen Broderwerbs, an den täglichen Schulunterrichte keinen Antheil nehmen können“, unterrichtet werden sollten.67 Zusammenfassend kann also konstatiert werden, dass die thüringischen Volksaufklärer das Reformationsjubiläum von 1817 dazu nutzten, die Vorstellung, die Aufklärung sei eine Folge der Reformation, nachhaltig in den Köpfen der einfachen Bevölkerung zu verankern. Daran anknüpfend versuchten sie Martin Luther zum Symbol der Aufklärung zu stilisieren. Luther sollte dem „gemeinem Mann“ Identifikationsfigur und Vorbild gleichermaßen sein. Die von ihm vorgelebten Werte und Tugenden, die nach Auffassung der (Volks-)Aufklärer vernünftig, sittlich und fortschrittsorientiert waren, sollte sich jeder Mensch zu eigen machen, um auf diese Weise das noch unvollendete Werk der Reformation zum Abschluss zu führen. Ein Leben nach dem Vorbild Luthers versprach „Licht“ und „Wahrheit“ bzw. die Überwindung von „Dunkelheit“ und „Aberglaube“. Von den positiven Effekten ihres Lutherbildes überzeugt, erhofften sich die Volksaufklärer, die aus Reformation und Aufklärung hervorgegangenen Errungenschaften und Ideale dauerhaft bewahren zu können.

65 Diese Entwicklung setzte erst im Laufe des Vormärzes ein. Vgl. hierzu KRÜNES, Luther als Vorkämpfer (wie Anm. 6), S. 172–175. 66 In vielen Predigten aber auch offiziellen Ankündigungen und Dekreten wurde der Reformation zugeschrieben, dass sie die Bildungssituation in den evangelischen Ländern seit dem Spätmittelalter erheblich verbessert hätte. Ein Beispiel hierfür findet sich in: Kirchliche Anordnung des Reformations=Jubel=Festes, abzulesen von den Canzeln am 21.sten Sonntage nach Trinitatis in Sachsen-Gotha-Altenburg, in: SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik (wie Anm. 30), S. 476. 67 Ebd., S. 343.

REINHART SIEGERT DAS LUTHERJUBILÄUM VON 1817

Das Lutherjubiläum von 1817 – Sprengstoff für die volksaufklärerische Ökumene? 1. 2. 3. 3.1

Ein Beispiel für aufklärerische Ökumene Voraussetzungen für die Rezeption des Lutherjubiläums bei den Katholiken Belege für die tatsächliche Rezeption: Das Luther-Jubiläum von 1817 ... … im Spiegel des „Archivs für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz“ (redigiert von Ignaz Heinrich v. Wessenberg) 3.2 … im Spiegel der „Jahrschrift für Theologie und Kirchenrecht der Katholiken“ (hg. und über weite Strecken verfasst von Benedikt Maria v. Werkmeister) 3.3. … im Spiegel des „Neuen Magazins für katholische Religionslehrer“ (hg. v. Franz Karl Felder) 3.4. … im Spiegel der „Litteraturzeitung für katholische Religionslehrer“ (hg. v. Franz Karl Felder) 4. Ein Blick auf einige parallele Untersuchungen 5. Zusammenfassung Dossier: Amtliches Nachspiel der Paderborner Reformationsfeier von 1817 (zusammengestellt von Fritz Achelpöhler)

1. Ein Beispiel für aufklärerische Ökumene Am 22. August 1808 starb in dem thüringischen Dorf Altenbergen bei Gotha der Holzhauer Nicolaus Brückner.1 Das Testament des einfachen Waldarbeiters enthielt eine Überraschung: er stiftete 20 Meißnische Gulden für einen Gedenkstein. Der sollte die Stelle dem Gedächtnis bewahren, an der die letzten Reste der ältesten Kirche Thüringens zu verschwinden drohten. Deren Ursprung wurde auf den heiligen Bonifatius (oder Winfried), also ins 7. Jh. nach Christus, zurückgeführt. Der Reinhardsbrunner Amtmann Carl Christian Friedrich Langheld, der das Legat verwalten sollte, war von diesem Geschichtsbewusstsein des armen Mannes „betroffen und gerührt“; er brachte durch eine Sammlung zusätzlich über 700 Rthl. für ein größeres Denkmal auf; der kunstsinnige Gothaer Herzog August selbst entwarf die Konzeption für seine Gestaltung. Am 1. September 1811 war es dann so weit: die Denkmalsenthüllung erfolgte in Anwesenheit der vier umliegenden Dörfer, aber auch der gesamten herzoglichen 1

Ausführliche biographische Angaben zu Nicolaus Brückner (* 16.05.1756 Altenbergen/ Altenberga bei Gotha, † 22.08.1808 ebd.) im Internet unter: www.Gemeinde-leinatal.de (letzter Zugriff: 14.06.2015).

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Familie, aller Amtsträger der Umgebung und der höchsten Geistlichkeit des Landes. Doch der geistliche Teil2 dieses Bonifatiusfestes wurde nicht von dem Gothaischen Generalsuperintendenten Löffler allein zelebriert. Er schreibt: Da die Stiftung jener Kirche in Zeiten fällt, als die abendländischen Christen noch nicht in die Kirchen getheilt waren, welche sie heutiges[!] Tages trennen, und da die Ausbreitung und Einführung des Christenthums in diesen Gegenden eine Begebenheit ist, der[er] sich alle erfreuen, welchen die christliche Religion gemein ist; so glaubten wir, daß an diesem Feste alle christliche[n] Einwohner des Landes, und also auch die Mitglieder der römisch-katholischen Kirche und unsere [S. 10] protestantischen Brüder[,] die Reformirten, Theil nehmen könnten. Wir luden daher den Prälaten Placidus Muth, Abt der ehemaligen Benedictiner-Abtey auf dem Petersberge zu Erfurt, da er vorzüglich die Angelegenheiten der […] römischen-katholischen Gemeinde in Gotha leitet, ein, an dieser Feyer Theil zu nehmen; und eine ähnliche Bitte ließen wir an den reformirten Prediger Diakonus Dr. Wittich in Schmalkalden […], welcher der Seelsorger der in Gotha wohnenden reformirten Glaubensgenossen ist […].3

Die beiden nahmen die Einladung an, und so zelebrierten drei aufgeklärte Vertreter der drei großen christlichen Konfessionen gemeinsam und gleichberechtigt die Gedenkfeier für den „Apostel der Deutschen“. Aus dem „Scherflein des armen Mannes“ war nicht nur ein zehn Meter hohes Monument4 geworden, sondern auch ein eindrucksvolles Symbol aufgeklärter Ökumene.5 Die Festschrift, die zu diesem Anlass erschien, steht in den meisten großen Bibliotheken

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Vierzehn Tage nach der kirchlichen Feier fand am 15.09.1811 ein ländliches Fest statt, geleitet von Amtmann Langheld und bezahlt von Herzog August (LÖFFLER, Bonifacius [wie Anm. 3], S. 87 mit Verweis auf Beschreibung in der „National-Zeitung der Deutschen“, Jg. 1811, St. 39, S. 720). Josias Friedrich Christian LÖFFLER, Bonifacius, oder Feyer des Andenkens an die erste christliche Kirche in Thüringen, bey Altenberga im Herzogthum Gotha. Nebst einer historischen Nachricht von seinem Leben. Herausgegeben von Dr. Josias Friedrich Christian Löffler, General-Superintendenten des Herzogthums Gotha. Gotha: Becker, 1812, S. 9 f. Baulich so eindrucksvoll, dass es heute zur touristischen Vermarktung der Region eingesetzt wird: „Wohnen am Kandelaber“ bei Ferienwohnungsanzeigen, zahlreiche Fotos des „Kandelabers Altenbergen“ im Internet. Zum Bonifatiusfest insgesamt siehe Marco KREUTZMANN, Apostel der Deutschen und der Thüringer oder Wegbereiter „römischer Herrschaft“? Der Missionar und Kirchenreformer Winfried-Bonifatius in der thüringischen Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 58 (2004), S. 123–160. Auch Kreutzmanns auf vorzüglicher (auch archivalischer) Quellengrundlage basierende Darstellung hinsichtlich Entstehungsgeschichte, Beteiligten und Wirkungsgeschichte betont den ökumenischen Aspekt. Aus ihr geht auch hervor, dass sowohl R. Z. Becker als auch Placidus Muth schon im Vorfeld (1809) an der Denkmalsvorbereitung beteiligt waren.

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Mitteleuropas.6 In ihr kann man aus der Rede des Katholiken Placidus Muth nachlesen: Wenn nun auch mir, theuerste, geliebte Freunde und Brüder, die ausgezeichnete Ehre und die wahrhaft hohe Freude werden sollte, an diesem seltenen schönen Feste so nahen mitwirkenden Antheil zu nehmen, so geschah es gewiß zur Ehre unseres Zeitalters und aus Achtung unserer gemeinschaftlichen Ueberzeugung, daß das Wesentliche der reinen Christus-Religion nicht in äußeren Formen und conventionellen Bekenntnissen, sondern vorerst im inneren Geiste reiner Gottes- und ungetheilter Menschenliebe, in der Weyhe unserer Herzen für ächten Wahrheits- und Tugendsinn, wie ihn Christus lehret und durch sein Beyspiel heiligte, in der Wachsamkeit unserer selbst auf die inneren Ansprüche unseres Gewissens für stete Vervollkommnung unserer geistigen Natur nach dem Urbilde des Ewigen gegründet sey. […, S. 51] Möge schon der gegenwärtige Standpunkt mancher besserer Einsichten, mancher reiferer Beurtheilung, den wir doch wohl auch der alles leitenden Vorsehung zu verdanken haben, nie wieder durch blendende Vorurtheile und unchristliche Partheysucht getrübt oder gar verdrängt werden!7

Der Benediktinerabt Placidus Muth war – wie auch Generalsuperintendent Löffler – persönlich befreundet mit Rudolph Zacharias Becker; als Bearbeiter des „Noth- und Hülfsbüchleins“ für katholische Leser stand er darüberhinaus in der ersten Reihe der Volksaufklärer. So überrascht es auch nicht, dass die Festschrift zu dieser denkwürdigen Bonifatius-Feier von Rudolph Zacharias Becker, dem Nestor der Volksaufklärung, in Gotha verlegt wurde.8 Und dass das Echo im „Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz“, der aufklärerischen katholischen Zeitschrift des Südwestens, ausgesprochen positiv lautete: Die hier beschriebene Feyer des Andenkens des Apostels der Deutschen […] ist auch dadurch merkwürdig, daß Geistliche von allen drey Konfessionen […] freundlich 6

7 8

Neben den großen Bibliotheken im deutschsprachigen Raum (incl. Schweiz) auch in der Dänischen, in der Niederländischen und in der Französischen Nationalbibliothek, in der British Library und der UB Cambridge und in US-amerikanischen Bibliotheken. LÖFFLER, Bonifacius (wie Anm. 3), S. 49 bzw. 51. Becker war durch einen dreisten Übergriff französischen Militärs am 30.11.1811 in seinem Haus in Gotha gefangengenommen und auf die Festung Magdeburg verschleppt worden, aus der er erst nach 17-monatiger Gefangenschaft durch einen „Gnadenakt“ Napoleons entlassen wurde. An der Bonifatius-Feier kann er nicht teilgenommen haben, da er sich zu diesem Zeitpunkt auf einer Reise in Wien befand, von der er erst Mitte Oktober nach Gotha zurückkehrte (Reinhart SIEGERT, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem ‚Noth- und Hülfsbüchlein‘; mit einer Bibliographie zum Gesamtthema, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens (AGB) 19 (1978), Sp. 565–1344, hier Sp. 854–864). Da Löfflers Vorwort auf den 27.12.1811 datiert ist, ist aber anzunehmen, dass die Verlagszusage vor Beckers Gefangennahme erteilt wurde; vgl. dazu auch KREUTZMANN, Apostel (wie Anm. 5), S. 140.

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zusammenwirkten, um die große himmlische Wohlthat des Christenthums in einem Licht darzustellen, in welchem aller Sekten- und Partheygeist verschwindet […].9

----Vier Jahre später verlegte Becker wieder ein Werk mit religiösem Bezug: „Dr. Martin Luthers Deutsche Schriften theils vollständig, theils in Auszügen. Ein Denkmahl der Dankbarkeit des deutschen Volkes im Jahr 1817 zur würdigen Feier des dritten Jubelfestes der protestantischen Kirchen herausgegeben von Friedrich Wilhelm Lomler, Hofdiaconus in Hildburghausen“ (Bd. 1–3, Gotha, in der Beckerschen Buchhandlung 1816/1817). Damit scheint der von unserer Tagung postulierte Zusammenhang zwischen Volksaufklärung und Luther-Feier geradezu in einem Buch symbolisiert. Das dreibändige Werk erschien – buchhändlerisch sinnvoll – im Jahr vor dem Reformations-Jubiläum, auf das das Titelblatt ausdrücklich abzielt; laut Vorwort sollte es Luther „in der möglichsten Mannichfaltigkeit“ präsentieren „und darum nicht blos dem Theologen und Moralisten, sondern auch dem Historiker, dem Sprachforscher, dem Psychologen, [S. VII] dem Philosophen überhaupt, und jedem denkenden Menschen zu genügen suchen“.10 Doch jetzt reagierte die an sich liberale und ökumenische „Literaturzeitung für katholische Religionslehrer“ toxisch; in Lomlers Luther-Ausgabe werde auch wüste Polemik Luthers wiederveröffentlicht: „Dadurch geschahen Rückschritte um drey Jahrhunderte, und die alte Sauce des Sektenhasses ward aufgewärmt. Soll und kann nun der Katholik dabey gleichgültig seyn, und – schweigen?“11 Die Frage zu stellen heißt, sie zu verneinen.

9

Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz, Jg. 1815, Bd. 1, S. 474. – Wessenberg hat die Schrift für seine Bibliothek gekauft; sie ist heute noch im Bestand der Wessenberg-Bibliothek in der UB Konstanz. 10 Friedrich Wilhelm LOMLER (Hg.), Dr. Martin Luthers Deutsche Schriften theils vollständig, theils in Auszügen. Ein Denkmahl der Dankbarkeit des deutschen Volkes im Jahr 1817 zur würdigen Feier des dritten Jubelfestes der protestantischen Kirchen, Bd. 1–3, Gotha: Becker 1816/1817, hier Bd. 1, 1816, S. VI f. – Becker gab zu diesem Anlass außerdem ein Holzschnittwerk heraus: Bildnisse der Urheber und Beförderer auch einiger Gegner der Religions- und Kirchenverbesserung im sechszehnten Jahrhundert nebst andern darauf Bezug habenden Bildern in gleichzeitigen Holzschnitten. Zum Andenken des dritten Jubelfestes der evangelisch lutherischen Kirche am 31sten October herausgegeben und mit Erläuterungen begleitet, Gotha: Becker, 1817; vgl. SIEGERT, Aufklärung und Volkslektüre (wie Anm. 8), Sp. 884. 11 Litteraturzeitung für katholische Religionslehrer 8 (1817), Bd. 2, S. 115.

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2. Voraussetzungen für die Rezeption des Lutherjubiläums bei den Katholiken Nun wäre es naiv, so zu tun, als wäre das Mitfeiern eines Luther-Jubiläums für Katholiken12 dasselbe wie das Mitfeiern der Christianisierung Deutschlands vor über 1000 Jahren. Bonifatius hatte eine gemeinsame Tradition begründet, Luther sie – zumindest auf absehbare Zeit – beendet. Die eigenen Reformziele des aufgeklärten Flügels der deutschen Katholiken um 1800 hatten mit Ablasshandel und dergleichen nichts mehr zu tun: kirchenpolitisch ging es v.a. um die Schaffung einer deutschen Nationalkirche, klerusintern um Aufhebung des Zwangszölibats, pastoraltheologisch um Förderung der religiösen und allgemeinen Volksbildung u. a. durch Liturgiereform, Bibellektüre der Laien und verbesserte Schulaufsicht. Verbindungslinien zu den Luther-Themen des Jubiläums gäbe es hier schon. Wenn wir einmal die wenig ergiebige zum Zölibat übergehen,13 so bleibt da die Vorbildrolle, die in den Jubiläumsfeiern Luther als Förderer der Volksbildung zugesprochen wurde: durch nationalsprachige Liturgie und Beteiligung der Gemeinde mittels Gemeindegesang, durch seine Forderung nach Verbesserung des Schulwesens, durch seine Aufforderung zur Bibellektüre, durch seine wirkungsmächtige und sprachformende Bibelübersetzung und nicht zuletzt durch den gewaltigen Alphabetisierungsschub, den sein kluger Einsatz der Buchdruckerpresse speziell für Flugblattliteratur dargestellt hatte.14 Nationalsprachige Liturgie und Beteiligung der Gemeinde durch Gemeindegesang – beides war den aufgeklärten Katholiken ein wesentliches Anliegen und mitten in der Umsetzung. Verbesserung des Schulwesens – das war eines der 12 Soeben wurde beim Evangelischen Kirchentag in Stuttgart angekündigt, man wolle überlegen, wie die katholische Kirche in die Luther-Feiern zum Jubiläum 2017 einbezogen werden könne. Vgl. vorbereitend Hartmut LEHMANN, Luthergedächtnis 1817 bis 2017 (Refo500 Academic Studies, 8), Göttingen 2012. 13 Und die absolute Untauglichkeit Luthers als Vorbild in der Kirchenpolitik des beginnenden 19. Jahrhunderts: die Nationalkirchen-Akteure um Wessenberg waren überzeugte Konziliaristen und nicht auf der Suche nach einem Ersatzpapst oder Einzelrebellen; WESSENBERGs großes wissenschaftliches Werk hatte denn auch das Thema „Die großen Kirchenversammlungen des 15ten und 16ten Jahrhunderts in Beziehung auf Kirchenverbesserung […]“ (4 Bde., Konstanz 1840). 14 Es ist ganz auffällig, wie sehr dieser Gesichtspunkt bei den Luther-Feiern von 1817 schon die Gutenberg-Feiern von 1840 vorwegnimmt. Das führt allerdings bis zu kulturellem Kolonialismus, wenn die Frakturschrift als „Schrift des Protestantismus“ bezeichnet wird (Matthias MIESES, Die Gesetze der Schriftgeschichte. Konfession und Schrift im Leben der Völker. Ein Versuch, Wien/Leipzig 1919, S. 214 ff., abgemildert S. 220) – damit nähme man dem katholischen „Volk“ bis ins 20. Jahrhundert sämtliche Lesestoffe.

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wichtigsten Anliegen des katholischen Reformklerus, der hier im Bereich des Elementarschulwesens mit Johann Ignaz Felbiger und Ferdinand Kindermann sogar zeitlich die Nase vorn hatte.15 Problematischer für Katholiken war das Bibelthema. Die Öffnung der Bibellektüre für Laien durch volkssprachliche Übersetzungen war eines der meisttraktierten Themen der katholischen Aufklärung, aber vermintes Gelände.16 Der jahrzehntelange Eiertanz um die Frage, welche der vielen widersprüchlichen Äußerungen der katholischen Tradition zur Zulässigkeit der Bibellektüre durch Laien ausschlaggebend sei, lähmte die Übersetzungstätigkeit und vor allem die Verbreitung. Mehrere Übersetzer hatten schon den Gordischen Knoten für durchhauen erklärt und mit ihrer Bibelübersetzung auch Belegstellen präsentiert, nach denen ihre Lektüre zulässig war. Und doch konnte Leander van Ess, der ab 1807 als Erster die organisatorische Glanzleistung vollbrachte, Hunderttausender-Auflagen seiner katholischen17 Übersetzung des Neuen Testaments billigst auf den Markt zu bringen, die Obstruktion durch die Amtskirche nur überwinden, indem er gemeinsame Sache mit der evangelikalen Englischen Bibelgesellschaft machte – eine merkwürdige Allianz.18 Zudem waren den katholischen Übersetzern durch die Festlegung der katholischen Kirche auf die lateinische Vulgata als maßgeblichen Bibeltext die Hände gebunden – und dabei war den aufgeklärten Köpfen selbstverständlich die Entwicklung der protestantischen Bibelkritik nicht unbekannt geblieben.19 Luthers Bibelübersetzung kam

15 Vgl. dazu z.B. Wolfgang NEUGEBAUER, Niedere Schulen und Realschulen in: Notker HAMMERSTEIN/Ulrich HERRMANN (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 237–244; zum Vorsprung der kath. Territorien in der Reform des niederen Schulwesens siehe insbes. S. 244. 16 Fridolin Huber, entschiedener Aufklärer und Freund Wessenbergs, wirft Luther geradezu vor, er habe mit seiner Bibelübersetzung für die Laien der katholischen Kirche ein Kuckucksei ins Nest gelegt (Fridolin HUBER, Ist das Lesen der ganzen Bibel dem gemeinen Volke nützlich? – Was läßt sich dafür – und was dagegen sagen? – Welch ein Surrogat wäre dafür passend?, in: Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz, Jg. 1815, Bd. 1, S. 153–187). 17 Ess bot sie ausdrücklich interkonfessionell an. Seine zahlreichen Rechtfertigungsschriften aber versuchen ausschließlich die katholischen Vorbehalte gegen Bibellektüre der Laien zu entkräften. 18 Dazu und zum ganzen Hintergrund überaus kenntnisreich Johannes ALTENBEREND, Leander van Eß (1772–1847). Bibelübersetzer und Bibelverbreiter zwischen katholischer Aufklärung und evangelikaler Erweckungsbewegung (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte, 41), Paderborn 2001 [zugl. Diss., Univ. Bielefeld 2000]. 19 Deren Gegenpolemik bezeichnete freilich die Luther-Bibel als die „Vulgata der Protestanten“. Vgl. hierzu den Beitrag von Jochen KRENZ in diesem Band; mit Angabe der

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schon aus diesem Grunde nicht als Vorbild in Frage – sie zu missachten, heißt aber, die Leistung der Luthersprache für die Entwicklung der gemeindeutschen (Schrift-)Sprache zu übergehen.20 – Bewunderung für einen Alphabetisierungsschub, der durch Verbreitung von Irrlehren erfolgte, war vollends kaum zu erwarten, zumal die Katholiken ihren Teil gelernt hatten: die katholische Volksliteratur des 19. Jhs. ist unüberschaubar; Aufklärung ist in ihr – wenn vorhanden – meist nicht so offensichtlich wie in protestantischen Texten. Wichtiger noch ist aber die Situation, in der sich die katholische Kirche zu diesem Zeitpunkt befand. Während die protestantischen Landeskirchen in napoleonischer Zeit die Schicksale der politischen Landesherren teilten, befand sich die katholische Kirche in Deutschland in der Schwebe oder besser: im freien Fall. Nach der Säkularisation war Karl Theodor von Dalberg der einzige verbliebene katholische Prälat mit eigenem Territorium. Die Gebiete, die sich als Zentren der katholischen Aufklärung hervorgetan hatten, vor allem Bamberg, Würzburg und an der Spitze Salzburg mit seiner Benediktiner-Universität,21 hatten das aus eigener Kraft dank beträchtlichen eigenen Staatsgebiets tun können.22 Dieser territoriale, finanzielle und institutionelle Rückhalt war jetzt verloren. Und mit ihm auch die katholischen Bildungszentren; ganze Landstriche boten nach dem Wegfall der vielen und oft guten Klosterschulen ein Jahrhundert lang begabten Landkindern keine höheren Bildungsmöglichkeiten mehr. Selbst das einzige bedeutende Rezensionsorgan des katholischen Südens, Quelle: Salzburger Literaturzeitung 3 (1802), H. 4, S. 20–23 in Rezension zu H. G. ZERRENNER, Schul-Bibel, Halle: Gebauer 1799. 20 Wobei die Vorbildlichkeit von Luthers Bibelsprache für das Bibelverständnis des „gemeinen Mannes“ um 1800 auch von protestantischen Aufklärern durchaus in Frage gestellt wurde, vgl. das in der [Salzburger] Literaturzeitung 1802 (wie Anm. 19) zitierte Vorwort Zerrenners und die Kritik des Rezensenten: „Er behielt […] noch im Jahre 1799 jene Sprache bey, wodurch die Bibel, nach seiner eigenen Ueberzeugung, für den gemeinen Mann zum verschlossenen Buche wird.“ 21 Zur Führungsrolle Salzburgs vgl. Notker HAMMERSTEIN, Universitäten, in: DERS./HERRMANN (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2 (wie Anm. 15), S. 393; dort auch die ältere Literatur zum Thema, insbes. Max BRAUBACH (1929/1969) und Robert HAAß (1952). Zur Rolle Würzburgs siehe insbes. Anton SCHINDLING, Die JuliusUniversität im Zeitalter der Aufklärung, in: Peter BAUMGART (Hg.), Vierhundert Jahre Universität Würzburg. Eine Festschrift (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg, 6), Neustadt/Aisch 1982, S. 77–128. 22 Eine Übersicht der aufklärungsfreundlichen Territorien mit Kartenskizzen von Hochstiften und Diözesen s. bei Reinhart SIEGERT, Zur Topographie der Aufklärung in Deutschland 1789. Methodische Überlegungen an Hand der zeitgenössischen Presse, in: Holger BÖNING (Hg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts (Deutsche Presseforschung, 28), München u.a. 1992, S. 47–89, hier Anhang B und E (S. 80 f. bzw. 82 f.).

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die „Oberdeutsche Allgemeine Litteratur-Zeitung“,23 ging ein. Zwar hatte auch im Habsburgerreich und in Bayern die katholische Aufklärung zeitweise beachtliche Leistungen hervorgebracht, insbesondere auf dem Gebiet der Volksbildung und der medizinischen Versorgung,24 doch in starker Abhängigkeit von der Aufklärungsaffinität des jeweiligen Herrschers.

Abb. 1: Die Verteilung der Konfessionen im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches 1803

23 Siehe dazu v.a. Karl O[tto] WAGNER, Die „Oberdeutsche allgemeine Litteratur-Zeitung“, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 48 (1908), S. 89–221; Dorette HILDEBRAND, Das kulturelle Leben Bayerns im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts im Spiegel von drei bayerischen Zeitschriften [u. a. OALZ] (Miscellanea Bavarica Monacensia, 36), München 1971; Reinhart SIEGERT, Selbsteinschätzung und Selbstbewußtsein der katholischen Aufklärung im Spiegel der „Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung“, in: Achim AURNHAMMER/Wilhelm KÜHLMANN (Hg.), Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800 (Rombach Wissenschaften [o. Nr.]), Freiburg im Breisgau 2002, S. 99–114. 24 Die rasche flächendeckende Durchsetzung der Pockenschutzimpfung 1801 ff. war weitgehend ihr Werk.

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1803 hatten beide weltliche katholische Großmächte es nicht verschmäht, sich die Territorien ihrer geistlichen Nachbarn einzuverleiben, und ihre Herrscher zeigten im 19. Jh. mehr die Tendenz, sich durch Konkordate mit dem (aufklärungsfeindlichen) Papst Machtzuwachs zu sichern als eine aufklärungsfreundliche Geistlichkeit gegen die ultramontane Reaktion zu unterstützen.

Abb. 2: Der Anteil der katholischen Bevölkerung in Deutschland 1925

Nach dem Hinausdrängen der Habsburgermonarchie aus dem ehemaligen Deutschen Reich waren die Katholiken dort also mit einem Drittel der Bevölkerung25 nicht nur in einer Minderheitenposition (siehe Karten), sondern auch ihrer geistigen Zentren und ihres wichtigsten Sprachrohrs beraubt. 25 Laetitia BOEHM, Katholizismus, Bildungs- und Hochschulwesen nach der Säkularisation, in: Anton RAUSCHER (Hg.), Katholizismus, Bildung und Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert (Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe B), Paderborn u.a. 1987, S. 9– 60, hier S. 24: „[…] im Gebiet des späteren deutschen Reiches (ohne Elsaß) wohnten 1822 16.193.000 Protestanten und 9.091.500 Katholiken; das entspricht einem Verhältnis von 63,09 % zu 35,42 %.“ Sie beruft sich dabei auf Hans MAIER (1973), bei dem zwar diese Zahlen, aber keine Quelle dafür zu finden sind.

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Die einzige Region, in der die katholische Aufklärung auch nach der Säkularisation und selbst nach dem Wiener Kongress noch blühte und vorherrschte, war der Südwesten. Hier hatte Karl Theodor von Dalberg als Verweser des großen Bistums Konstanz den jungen Ignaz Heinrich von Wessenberg berufen. Wessenberg brachte das Kunststück fertig, ohne eigene Machtmittel einen jungen Reformklerus auszubilden und auf sich einzuschwören, der über zwei Jahrzehnte lang das geistige Klima prägte, bis auch hier die weltlichen Herrscher durch Konkordate die katholische Aufklärung beerdigten. Ein harmloses „Mitfeiern“ des „Vorkämpfers“ Luther beim Jubiläum war also auch von aufgeklärten Katholiken nicht zu erwarten. Im renommierten protestantischen „Journal für Prediger“ steht denn auch zu Beginn des Jubiläumsjahres ein Artikel mit dem mahnenden Titel: „Bitte an die Lutheraner und lutherischen Prediger, bey der dießjährigen Feyer des Jubelfestes der Reformation, andere Religionsparteiyen zu achten“.26 Die Thesen dieses aufgeklärten protestantischen Zeitgenossen sind klar und eindrücklich: 1. Eben durch das Jubelfest der Reformation wird jene Zeit vergegenwärtigt, wo die verschiedenen Religionsparteien kämpfend und streitend gegen einander standen (S. 374); 2. Der Katholicismus wird insbesondere dann am empfindlichsten angegriffen, wenn man den Lutheranismus erhebt (S. 376); 3. Der Lutheraner wird, wenn von den Mißbräuchen des Papstthums die Rede ist, mit beleidigendem Mitleid auf die Katholiken niederblicken, indeß sich dieser durch die Herabwürdigung des Oberhauptes seiner Kirche tief gekränkt fühlt (S. 378); 4. Ist die Feier des Jubelfestes der Reformation nicht eine vorsichtige, dann wird sich die Annäherung, in der die verschiedenen Konfessionen mit einander begriffen sind, in eine größere Entfernung verwandeln (S. 381).

Sind diese Befürchtungen eingetreten? Ich habe mich auf die Suche nach Quellen gemacht. Unsere Volksaufklärungs-Datenbank,27 die sonst schier un26 Heinrich MÜLLER, Bitte an die Lutheraner und lutherischen Prediger, bei der diesjährigen Feier des Jubelfestes der Reformation andere Religionsparteien zu achten, in: Journal für Prediger 60 (1816) [H. 4: 1817], S. 369–407 [Auch separat Halle 1817]; der Verf. war „Prediger in Wolmirsleben bey Magdeburg“. – „Schonende“ Luther-Feiern wurden auch von den Regierungen in Württemberg und in Sachsen-Weimar-Eisenach angemahnt, vgl. MEDING, Jubel (wie Anm. 52) sowie die Beiträge von Johannes ROTH und Alexander KRÜNES in diesem Band. 27 Projektdatenbank zu Holger BÖNING/Reinhart SIEGERT, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd. 1–4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990–2016. Bisher erschienen: Bd. 1 (1990): Holger BÖNING, Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780; Bd. 2.1–2.2 (2001): Reinhart SIEGERT/Holger BÖNING, Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781–1800 und die Zäsur durch die Französische Revolution; Bd. 3.1–3.4 (2016): Reinhart SIEGERT, Aufklärung im 19. Jh. – „Überwindung“

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erschöpflich scheint, schweigt hierzu fast vollständig. Unter den aufgenommenen Volksschriften sind einige, die Luther zum Thema haben und von Autoren stammen, die sonst als Volksaufklärer ausgewiesen sind – aber das sind ausnahmslos Protestanten. Konfessionsvorbehalte werden in Volksschriften generell ausgeblendet; es sei denn, dass sie immanent sichtbar werden, etwa in der Mahnung, einer in evangelischem Umland angeschwemmten katholischen Wasserleiche ein christliches Begräbnis zuteil werden zu lassen. Eine interessante Ausnahme wenigstens sei hier erwähnt, weil sie schön mögliche Konflikte um typische Reformationsfest-Themen zeigt. In dem unterhaltsamen Volksbüchlein „Die glücklichen Bi[e]derleute auf dem Lande. Ein Historienbüchlein zu Nutz und Fromm[en] für alle, die es werden wollen“,28 das im südwestlichen Dreiländereck spielt, nimmt der offenbar katholische Erzähler Aloysius Dienste im Badischen und lernt dort das Bibelvorlesen des Hausvaters kennen; Aloysius ist zu dem Zeitpunkt trotz Schulbesuch noch Analphabet (S. 26 f.), will jetzt aber lesen lernen, um die Bibel lesen zu können. Nach seiner Rückkehr singt er bei einem Gewitter ein in Baden gelerntes protestantisches Lied und liest ein Kapitel aus dem ihm vom badischen Pfarrer geschenkten Neuen Testament; ein anwesender Pater sorgt für Verbrennung des „lutherischen“ Buches – Aloysius ist vor der Dorfbevölkerung zum „Ketzer“ gestempelt. Doch diese Thematisierung von Konfessionskonflikten ist – wie gesagt – in einer Volksschrift eine Ausnahme.29 Ich habe daher zunächst im Bereich der zeitgenössischen katholischen theologischen Zeitschriften und der katholischen Rezensionsorgane30 nach dem Niederschlag des Luther-Jubiläums von 1817 gesucht.31 Im Folgenden möchte ich einige Ergebnisse vorstellen.

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oder Diffusion?. Titel aus diesem Handbuch werden zur Entlastung des Anmerkungsapparats im Folgenden nachgewiesen mit (Teil-)Band- und laufender Nummer (z.B. VA 2.1/1735), wo sich weiterführende bibliographische und inhaltliche Beschreibung findet. Die glücklichen Bi[e]derleute auf dem Lande. Ein Historienbüchlein zu Nutz und Fromm[en] für alle, die es werden wollen, Leipzig: Joachim 1807 [auch Ausgaben Basel: Holdenecker 1807 und Reutlingen: Mäcken 1807] (VA 3.1/6343). Eine spätere Ausnahme zeigt die erneuerten Konfessionsfronten: Friedrich HOFFMANN, Jacob Marlot, 1845 (VA 3.3/8918); hier sind die „wieder begonnenen Kämpfe der Katholiken und Protestanten, so wie […] die Fortschritte der sogenannten Dunkelmänner“ benannt. Wie oben dargestellt, hatte das katholische Deutschland mit der „Oberdeutschen Allgemeinen Litteratur-Zeitung“ und der ebenfalls qualitativ guten „Salzburgischen Literaturzeitung“ im Umfeld der Säkularisation seine besten Rezensionsorgane verloren; ein direkter Ersatz dafür existiert nicht. Ich habe die unter 3.1 bis 3.4 befragten Zeitschriften gewählt, weil sie als „liberale“ katholische Zeitschriften differenzierte Stellungnahmen zum Reformationsjubiläum zumindest möglich scheinen ließen. In einem ultramontanen Kampfblatt wie „Der Katho-

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3. Belege für die tatsächliche Rezeption: Das Luther-Jubiläum von 1817 … 3.1 … im Spiegel des „Archivs für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz“ (redigiert von Ignaz Heinrich v. Wessenberg) Das „Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz“ ist die für die Volksaufklärung ergiebigste katholische Zeitschrift, die ich kenne. Der Befund dort ist kurz und klar: das Luther-Jubiläum kommt darin nicht vor – weder in Rezensionen noch in eigenen Textbeiträgen.

3.2 … im Spiegel der „Jahrschrift für Theologie und Kirchenrecht der Katholiken“ (hg. und über weite Strecken verfasst von Benedikt Maria v. Werkmeister) Derselbe Befund auch in der „Jahrschrift für Theologie und Kirchenrecht der Katholiken“, einem weiteren Flaggschiff des aufgeklärten Katholizismus.

3.3 … im Spiegel des „Neuen Magazins für katholische Religionslehrer“ (hg. von Franz Karl Felder) Das „Neue Magazin für katholische Religionslehrer“ wendet sich an „Religionslehrer“ nicht im Sinn von Schullehrern, die Religion unterrichten, sondern von Pfarramtspraktikern im Gegensatz zu Universitätstheologen; es ist herausgegeben von einem belesenen Landpfarrer und Lexikographen, Franz Karl Felder.32 Sein Frühjahrs-Heft 1817 bringt vorausschauend einen Artikel „Haben lik; eine Zeitschrift zur Belehrung und Warnung“ (Mainz 1821 ff.) hingegen ist nur Polemik und Kontroverstheologie zu finden – deren Erscheinen aber begann (bezeichnenderweise?) erst nach dem Reformationsjubiläum. Von „Repräsentativität“ kann hier höchstens für jeweils ein Lager gesprochen werden, wobei bei den beiden Zeitschriften für katholische „Religionslehrer“ der Redaktionswechsel 1818 zu beachten ist (vgl. Anm. 57). 32 Vgl. dazu v.a. Franz Karl FELDER/Franz Joseph WAITZENEGGER, Gelehrten-Lexikon der kath. Geistlichkeit Deutschlands und der Schweiz, Bd. 1, Landshut: Thomann 1817, S. 223–230 [Autobiographie mit Schriftenverz]; August HAGEN, Franz Karl Felder, 1766–1818, und seine Literaturzeitung für kath. Religionslehrer, in: Tübinger theol. Quartalschrift 128 (1948), S. 28–70, 161–200 u. 324–342.

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die Protestanten Ursache, ihr Reformationsfest mit Feyerlichkeit zu begehen? Nebst Erinnerungen an die Katholiken“. Dort heißt es: Was die Prediger und Schriftsteller der protestantischen Kirche für diesen Zeitpunkt mit neuem Fleiße bearbeiten werden, läßt sich […] sehr zuverlässig voraussagen. Alle, die die Reformation als ein heilbringendes Ereigniß anpreisen, werden den Urheber derselben aufs Neue als einen verdienstvollen Mann darstellen, der das Reich des Aberglaubens muthig angegriffen, und das Vaterland mit dem Lichte der Aufklärung beglücket hat. Sie werden die Vortheile seines Unternehmens mit den lebhaftesten Farben schildern; sie werden bey jedem [S. 177] Blicke auf die Katholiken mit Bedauern das Zurückbleiben derselben in besser[e]n Einsichten, die Abhängigkeit vom Papste, das Leben im Köhlerglauben, die Beschränkung der Gewissensfreyheit, die Unterdrückung der Vernunft u.s.w. in wiederholte Erwähnung bringen. Sie werden sich vielfältig rühmen, das reine Wort Gottes zu besitzen, und frey zu seyn von albernen Gebräuchen und Satzungen, die der Priester Stolz und Eigennutz eingeführet haben soll.33

Und er mahnt – offenbar an die Protestanten gerichtet –: Männer! Brüder! Wollet doch den Katholiken, die von der Reformation eine andere Ansicht haben als ihr, nicht alle Fertigkeit im Denken und alle Liebe zur Wahrheit absprechen. […, S. 178:] Vor Allem werdet ihr mit brüderlicher Liebe ersuchet, euer[e]n Eifer in den häufigen Tadelreden gegen die Katholiken zu mäßigen.34

Und er versucht Luthers Leistungen mit den leidvoll durchlebten Wirkungen der Französischen Revolution in Verbindung zu bringen: Enthaltet euch der übertriebenen Lobeserhebungen Luthers. Ihr wisset ja wohl […], daß er bey seinem Unternehmen von keinem Princip ausgegangen sey, wodurch er sich als d e n k e n d e r Reformator legitimiert hätte. […] Er begann sein Werk mit einer Revolution. Leider! kennen wir die Bedeutung dieses schauerlichen Wortes aus eigener Erfahrung. […, S. 181]. Wäre man auf dem Wege der sanften Belehrung nicht sicherer zum Ziele gekommen? Muß man von Luthers Reformirungsart nicht bekennen, sie sey schädlicher gewesen, als die Uebel, denen sie abzuhelfen bestimmt war; also die Arzney gefährlicher, als die Krankheit selbst?35

Anfang 1818 berichtet die Zeitschrift im Zusammenhang mit der Reformationsfeier auch von den protestantischen Kirchenunionen: Alle Zeitungen und öffentliche[n] Blätter sprechen dermal von nichts so sehr, als von der dritten Säkularfeyer der sogenannten Reformation in Deutschland, und von der Vereinigung der Lutheraner und Kalvinisten (oder wie sich sonst noch nannten, der

33 Neues Magazin für katholische Religionslehrer, Landshut 1817, Bd. 1, S. 174–198, Zitat: S. 174. 34 Ebd., S. 177 bzw. 178. – Diese Anrede an Protestanten in einem „Magazin für katholische Religionslehrer“ dürfte wenig Aussicht gehabt haben, von den Adressaten gehört zu werden. 35 Ebd., S. 180 f.

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evangelischen und reformirten?) zu einer und der nämlichen christlich-evangelischen Kirche.36

Die Kirchenunion zwischen lutherischer und reformierter Kirche wird von den Aufklärern an sich begrüßt als Ende fruchtloser dogmatischer Streitereien. Hier erscheint sie jedoch im Zusammenhang mit der als publizistischem Feldzug empfundenen Berichterstattung über das Reformationsjubiläum und als Erfolgsmeldung speziell aus dem protestantischen Vormachtstaat Preußen. Mit dem Triumphieren der Protestanten sehen sich gerade aufgeklärte und weltoffene Katholiken jetzt gewarnt vor zu viel Anpassung an den Zeitgeist und vor dem Äußern von Selbstkritik: Unser Zeitalter will den Ehrentitel: ‚ein humanes, liberales, tolerantes haben.‘ [Satzzeichen sic.] – Auch der Katholik gab sich Mühe, vielleicht mehr als seine andersdenkenden Glaubensgenossen, allen den Rang einer liberalen Denkart streitig zu machen. […]. Besonders jene Geistlichen sind am meisten zu tadeln – welche, um als helldenkende, aufgeklärte Männer zu passiren, gegen ihre eigene Kirche losziehen, und den an sich schon immer gern partheyisch urtheilenden Protestanten das Heft in die Hand geben […].37

In dieser bedrängten Lage mutiert also aufgeklärte Selbstkritik zur Nestbeschmutzung.

3.4 … im Spiegel der „Litteraturzeitung für katholische Religionslehrer“ (hg. von Franz Karl Felder) Parallel zum „Neuen Archiv für katholische Religionslehrer“ erschien eine „Litteraturzeitung für katholische Religionslehrer“, ebenfalls herausgegeben von Franz Karl Felder. Ihre z.T. sehr ausführlichen Rezensionen geben ein ganz gutes Stimmungsbild. Im Vorfeld der Jubiläumsfeiern äußert sie sich noch sehr maßvoll: Zur Feyer des heuerigen[!] Jubelfestes der Reformation Luthers griffen schon vorläufig desselben Freunde auch die Lebensgeschichte des Reformators auf. Allerdings war er ein seltener Mann, ausgezeichnet durch Thaten, welchen den mächtigen Anstoß zur noch immer dauernden Umwälzung des politischen sowohl, als des kirchlichen Systems in vielen Provinzen gaben. In dieser Hinsicht macht er eine stets merkwürdige Epoche, 36 Bey Gelegenheit der an manchen Orten Deutschlands schon unternommenen, und an andern noch zu unternehmenden Religionsvereinigung der Protestanten; d.i. der seitherigen Lutheraner und Kalvinisten, in: Neues Magazin für katholische Religionslehrer, Jg. 1818, Bd. 1, S. 135–166. 37 Ueber den unächten Geist der Toleranz bey katholischen Geistlichen, in: Neues Magazin für katholische Religionslehrer, Jg. 1820, Bd. 2, S. 229–236, Zitat: S. 229 u. 231.

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und verdient noch heut‘ zu Tage von der Geschichte mit scharfem Blicke gewürdigt zu werden.38

„Scharfem“ ist gesperrt gedruckt – man dürfe nicht nur seine Lichtseiten zeigen. Der Rezensent bestreitet ganz dezidiert Luthers Verdienste um Ausbreitung der Wissenschaften (S. 378) und um die Verbesserung der Kirchenmusik (S. 379: das „stete Singen des Volkes“ habe vielmehr zu deren Verfall geführt); die Ablassmissbräuche würden auch von den vernünftigen Katholiken damals und heute getadelt, so „daß Luther, wenn er bey der Rüge jener Mißbräuche wäre stehen geblieben, Beyfall verdient hätte“ (S. 384). Weiter im Vorfeld der Jubiläumsfeierlichkeiten schreibt der Rezensent von Lomlers Luther-Jubiläums-Ausgabe noch dezent: Das heuer treffende dritte Jubeljahr der Reformation Luthers setzte im protestantischen Deutschlande viele Köpfe, Federn und Pressen in Bewegung, um der christlichen Welt zu beweisen, welchen hohen Werth man auf die im sechszehnten Jahrhunderte begonnene Religionsneuerung lege, und wie dankbar man es anerkenne, schon dreyhundert Jahre die Früchte zu genießen […].39

Doch der Ton verschärft sich mit dem Herannahen des Jubiläumsdatums: So wenig er [der Rez.] den Juden ihren und unsern Moses, den Türken ihren Muhamed entreissen will, so gerne [fehlt: gönnt?] er den Protestanten ihren Dr. Martin Luther; und so mögen denn diese, von uns ganz ungestört, ihr neues Jubelfest mit allem, wie immer beliebigen, Pompe feyern. Nur sollte es nicht mit so feindlicher Stellung oder Tendenz gegen uns Katholiken geschehen, als sich schon in den Vorarbeiten hiezu überall kund thut.40

Und der Rezensent verweist auf die bereits zitierte „Bitte an die Lutheraner und lutherischen Prediger, bey der dießjährigen Feyer des Jubelfestes der Reformation, andere Religionsparteyen zu achten“41 aus dem protestantischen Lager. Doch diese wohlmeinenden Warnungen blieben vergeblich. Ab der Reformations-Feier vom 31.10.1817 mit ihren publizistischen Begleiterscheinungen ist das Klima zwischen den Katholiken und Protestanten endgültig vergiftet; die Rezensenten kommen ständig auf dieses Ereignis zurück und hadern sogar mit den toleranten katholischen Landesherren, die Protestanten in den letzten Jahren das Recht der freien Religionsausübung gewährt hatten.42

38 Litteraturzeitung für katholische Religionslehrer 8 (1817), Bd. 1, S. 376, in Rez. zu Anton Theodor EFFNER, Doktor Martin Luthers Lebensgeschichte, Augsburg: Engelbrecht 1816. 39 Ebd., 8 (1817), Bd. 2, S. 113. 40 Ebd., 8 (1817), Bd. 4, S. 12. 41 Ebd.; vgl. oben Anm. 26. 42 Ebd., 11 (1820), Bd. 3, S. 323 f.; 12 (1821), Bd. 3, S. 348.

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Dass diese Luther-Feiern ganz besonders dort schmerzten, wo katholische Gebiete zehn Jahre zuvor protestantischen Territorien einverleibt worden waren und die lutherische Minderheit jetzt auftrumpfte, ist verständlich. Auch dazu ein Beispiel.43 In Paderborn, „einer sonst ganz katholischen Stadt“, bis 1803 Sitz eines Fürstbischofs und reichsunmittelbar, seit der Säkularisation preußisch,44 veranstaltete der protestantische Prediger Günther die Feier. Glockenläuten und Böllerschüsse, rhetorisch gesteigertes Lutherlob und Schelte eines historischen Papstes wurden einem „protestantischen Prediger, dem eine solche schiefe Ansicht vielleicht von Jugend auf eingeprägt wurde, hingehen lassen“. Denn diese Rede blieb ja unter Protestanten.45 Dass er aber Tags darauf an die Schuljugend seiner Pfarre ein Büchlein „Dr. Martin Luther oder kleine Geschichte der Kirchenverbesserung. Ein Lesebuch für die Volksjugend“ verteilte, „erregte Entrüstung und Erbitterung bey dem katholischen Theile der Bürger zu Paderborn“ und machte „geraume Zeit hindurch den alleinigen Gegenstand der Tagesgespräche aus“, denn dieses Büchlein wurde weitergegeben, auch an Katholiken. Das „in einer Stadt, wo die große Mehrzahl der Katholiken ihre protestantischen Mitbrüder nicht nur duldete, [S. 176] sondern sie mit zuvorkommender Freundlichkeit aufnahm und mit Liebe behandelte.“ Der Berichterstatter schreibt aber auch: „Man muß es aber zur Ehre der Protestanten bekennen, das Viele unter ihnen gegen ihren Prediger sehr aufgebracht waren, und sein gehässiges Benehmen laut tadelten; ja einige sollen sogar dieses Lästerbuch gegen die Katholiken den Händen ihrer Kinder entrissen haben“, auch soll das Konsistorium „dem besagten Prediger einen herben Verweis über sein unbesonnenes Verfahren“ erteilt und mit Strafversetzung gedroht haben.46 Delikaterweise stammte das verteilte Büchlein von einem namhaften Volksaufklärer, Johann Christoph Fröbing,47 und es war nicht zum „Einheizen“ bei der 43 Weitere Berichte aus „einverleibten“ Gebieten s. MEDING, Jubel (wie Anm. 52) und WOLTER, Reformations-Jubiläum (wie Anm. 54). 44 Mit einem kurzen Intermezzo als Teil des napoleonischen Königreichs Westphalen (1807–1813). – Vgl. Jens MURKEN, „Die Präsenz der Kirche entscheidet sich an der Existenz der Gemeinde“. Die Entstehung der evangelischen Kirchengemeinde Paderborn nach 1802, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 98 (2003), S. 149–174. 45 Es gibt allerdings auch Beispiele dafür, dass 1817 auch Katholiken und vereinzelt Juden an protestantischen Reformationsfeiern teilnahmen, siehe MEDING, Jubel (wie Anm. 52), WOLTER, Reformations-Jubiläum (wie Anm. 54) und WENDEBOURG, Reformationsjubiläen (wie Anm. 55). 46 Der ganze Vorfall geschildert in Litteraturzeitung für katholische Religionslehrer 9 (1818), Bd. 2, S. 173–175. Der kritisierte Prediger war der reformierte Pfarrer Gottlieb Karl Wilhelm Günther (1763–1842). (Freundliche Mitteilung von Frank Stückemann, Meiningsen b. Soest.). Diese Zuweisung führte schließlich zu dem Dossier. 47 Johann Christoph FRÖBING, Luther oder kleine Geschichte der Kirchenverbeßerung. Ein Lesebuch für die Volksjugend, Hannover: Lamminger 1785 (2. Aufl. ebd. 1792, n. Aufl.

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Luther-Feier von 1817 geschrieben, sondern erstmals 1785 in seinem „Calender für’s Volk“ erschienen. Und das behauptete Missfallen erweist sich aus den Akten nicht als journalistisches Wunschdenken, sondern als Untertreibung: die mit ausgewiesenen Aufklärern (Johann Heinrich Scherr, Bernhard Christian Ludwig Natorp) besetzte Kirchenbehörde betrieb nicht nur die angedeutete Strafversetzung, sondern stellte sogar Strafantrag beim Oberlandesgericht Paderborn.48

4. Ein Blick auf einige parallele Untersuchungen Diese aus katholischen zeitgenössischen Quellen gewonnenen Aussagen können kaum mit parallelen Arbeiten verglichen werden – mir sind nur wenige Beiträge bekannt geworden, die bei den Lutherfeiern von 1817 den Machtkampf zwischen Reformern und Reformgegnern innerhalb der einzelnen Konfessionen mitbedenken. Da ist zunächst eine alte protestantische Arbeit, die klar Siegesgeschrei anstimmt. Christian Tischhausers „Geschichte der evangel. Kirche Deutschlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ aus dem „frommen Basel“ ist aus krass evangelikal-fundamentalistischer Sicht geschrieben. Hier ist das Jahr 1817 die gefeierte Epochenwende, in der das Bündnis von Thron und Altar die verhassten Rationalisten endlich in die Defensive gedrängt habe. Rettung vor den „Fluten des alles verwüstenden Unglaubens“ sei nicht in den kirchlichen Behörden, nicht in den theologischen Fakultäten der Hochschulen, die das Lehrwächteramt der Kirche hatten, zu finden [gewesen]; nein, diese waren sämtlich mit leichtem Herzen in die Bahn des Unglaubens eingetreten, – sondern die weltlichen Gewalten […] haben mancherorts dem alles Positive des Christentums unterwühlenden Zeitstrome Widerstand geleistet.49

1817, n. Aufl. 1839); die Erstausgabe war ein Separatdruck aus Fröbings „Calender fürs Volk“ aus dem Jahr 1785 (dort S. 289–376). Der bei der Tagung dazu angekündigte Vortrag entfiel leider. 48 Freundliche Auskunft von Fritz Achelpöhler (Bielefeld) und Jens Murken (Landeskirchl. Archiv Bielefeld) unter Berufung auf die Akten LkA EKvW, Bestand 0.0 (alt) Nr. 340 und 344. Die Strafversetzung erfolgte lediglich aus finanziellen Rücksichten erst mit Zeitverzögerung; der Strafantrag hingegen wurde von der Justiz nicht angenommen, da es den Straftatbestand der Volksverhetzung noch nicht gab. Zur disziplinar- und strafrechtlichen Nachbereitung dieser missglückten Lutherfeier siehe das im Anschluss abgedruckte Dossier von Fritz Achelpöhler. 49 Christian TISCHHAUSER, Geschichte der evangelischen Kirche Deutschlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Basel 1900, S. 268. Entsprechend ist Tischhausers Werk in

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Maßgeblich durch Anordnung der Lutherfeiern. Denn: „Der religiöse Aufschwung in den evangelischen Kirchen Deutschlands datiert nicht von den Befreiungskriegen, sondern von der dreihundertjährigen Reformationsfeier im Jahr 1817 her.“50 Mit „religiöser Aufschwung“ ist gemeint, dass die innerkirchliche Richtung um Claus Harms Oberwasser gewinnt. Meiner Fragestellung am nächsten kommt Andreas Lindts kleiner Beitrag: „Das Reformationsjubiläum 1817 und das Ende des ‚Tauwetters‘ zwischen Protestantismus und Katholizismus im frühen 19. Jh.“51 Lindts Generalthese lautet: Weniger hat ein entgleistes Lutherfest 1817 die zuvor ökumenische Atmosphäre konfessionell vergiftet, als dass es vielmehr instrumentalisiert worden ist im Kampf der bereits bei allen Konfessionen vorhandenen restaurativen und fortschrittlichen Lager, wobei die restaurativen schnell den Sieg davongetragen haben. Während Lindt seine These ohne viel eigenes Material glaubhaft macht, sind zwei andere Arbeiten ganz aus den Quellen geschrieben. Wichmann von Medings „Jubel ohne Glauben? Das Reformations-Jubiläum 1817 in Württemberg“52 wertet archivalische Rückmeldungen aus und kommt zu einem differenzierten Ergebnis. Das Jubiläum war in Württemberg nach genauen amtlichen Vorgaben und mit strikter Mahnung zur Behutsamkeit zu feiern. Das gelang tatsächlich, wo aufgeklärte Geistliche der verschiedenen Konfessionen ein ökumenisches Klima geschaffen hatten, wie das in einem Großteil der durch die Mediatisierung an Württemberg gefallenen und zuvor schon gemischtkonfessionellen Reichsstädte der Fall war. Wo das jedoch nicht der Fall war, wurden insbesondere die beiden zu verlesenden amtlichen Texte selbst von den Katholiken als eine Art konfessionelle Besitznahme durch den neuen protestantischen Landesherrn empfunden und abgelehnt. Zumal in ihnen die Katholiken von 1517 den aufgeklärten Protestanten von 1817 gegenübergestellt wurden, was immanent ihre Rückständigkeit postulierte. Die württembergischen Pietisten hingegen, die sich als „Separatisten“ von der lutherischen Amtskirche entfernt hatten, lehnten die befohlenen Feiern kurioserweise wegen ihres Pompes ab als Versuch, „man wolle die Leute catholisch machen“.53

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die beiden Hauptabschnitte 1800–1817 und 1817–1848 gegliedert. Ökumene ist bei ihm kein Thema. Ebd., S. 337. Andreas LINDT, Das Reformationsjubiläum 1817 und das Ende des „Tauwetters“ zwischen Protestantismus und Katholizismus im frühen 19. Jahrhundert, in: Bernd JASPERT/ Rudolf MOHR (Hg.), Traditio – Krisis – Renovatio aus theologischer Sicht. Festschrift Winfried Zeller, Marburg 1976, S. 347–356. Wichmann von MEDING, Jubel ohne Glauben? Das Reformations-Jubiläum 1817 in Württemberg, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 93 (1982), S. 119–160. Ebd., S. 137, vgl. S. 138.

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Auch Hans Wolter kommt in seiner Untersuchung „Das ReformationsJubiläum 1817 in der Freien Stadt Frankfurt am Main“ zu einem negativen Schluss: Trotz einiger Katholiken im Senat und der Burgerschaft begann die Freie Stadt (wie Nassau und Preußen) sich wieder als protestantisches Staatswesen zu empfinden. Die Jubiläumsfeier von 1817 hatte nämlich, wie ihre katholischen Kritiker befürchteten, allenthalben das seit der Aufklärung zurückgegangene konfessionalistische Bewußtsein wieder geweckt[,] und es sollte sich bekannterweise im Verlauf des Jahrhunderts in nicht erwarteter Intensität entwickeln und ihm religionspolitisch und kulturpolitisch das Gepräge geben.54

Dorothea Wendebourgs überaus material- und literaturreiche Überblicksarbeit „Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts“ führt die Rezeptionsbeobachtung bis 1917 weiter.55 Hartmut Lehmanns „Luthergedächtnis 1817 bis 2017“ schließlich aktualisiert das Thema bis hin zu der Frage, ob das Luther-Jubiläum 2017 nochmals konfessionspolitisch brisant sein könnte.56 Schließlich ist noch daran zu erinnern, dass auch die Reformierten 1819 ihr eigenes Jubiläum feierten. In der inzwischen vergifteten Atmosphäre verleitete dieses die von mir herangezogenen katholischen Zeitschriften zu noch weit wütenderen Ausfällen.57 54 Hans WOLTER (SJ), Das Reformations-Jubiläum 1817 in der Freien Stadt Frankfurt am Main, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 93 (1982), S. 161–176, Zitat: S. 176. 55 Dorothea WENDEBOURG, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 108 (2011), S. 270–335. Die Verf. versucht den Umschlagspunkt von ökumenischem Geist zum Neo-Konfessionalismus von 1817 weiter ins 19. Jahrhundert hinein zu verschieben und wendet sich insofern auch gegen Lindt (siehe Anm. 51), m. E. aber ohne überzeugende Argumente. Zu 1817 zitiert ihre Arbeit fast nur die Beispiele aus MEDING, Jubel (wie Anm. 52). 56 Hartmut LEHMANN, Luthergedächtnis 1817 bis 2017 (Refo500 Academic Studies, 8). Göttingen 2012, hier bes. S. 300. 57 Zum Beispiel: Züge aus der Reformationsgeschichte der Schweiz, in: Literaturzeitung für katholische Religionslehrer 10 (1819), Bd. 4, S. 316 f.; Beginn: „Zur nämlichen Zeit, wo der Protestantismus in Deutschland geschäftig ist, allen Unrath alter Zeit zusammenzukarren, um seine angeerbte Leidenschaft gegen den katholischen Lehrbegriff sowohl, als gegen die katholischen Mitbürger zu entschuldigen, zur nämlichen Zeit erhitzen sich auch die Zeloten und Partheygänger [S. 317] der reformirten Schweiz. Ein Säkularfest wird gefeyert, alles Volk beugt seine Kniee vor den beyden Götzen (Luther und Zwingli), die der Katholik mit Verachtung, das gebildete Publikum aber nur mit Abscheu betrachten kann.“ Vgl. auch ebd., Bd. 3, S. 337 f. Inzwischen war allerdings die Redaktion beider katholischer Zeitschriften nach dem Tod Franz Karl Felders (01.06.1818) in eher schon ultramontane Hände übergegangen (Magazin: Johann Georg Köberle; Literaturzeitung: Kaspar Anton v. Mastiaux). – Literatur zum Reformationsfest von 1819 bei WENDEBOURG, Reformationsjubiläen (wie Anm. 55).

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5. Zusammenfassung Die Lutherfeiern von 1817 werden sowohl von den katholischen Zeitgenossen als auch von der evangelikalen Tendenzhistorie als auch von der modernen überkonfessionellen Geschichtsschreibung58 als Einschnitt betrachtet. Mit ihnen endet im konfessionellen Bereich das Zeitalter der Aufklärung – nicht alle aufklärerischen Bestrebungen, aber doch die Zeit, in der aufklärerische Ökumene den Ton angab. Die aufgeklärten Köpfe konnten den entfesselten „Dämon des Konfessionalismus“59 nicht mehr bändigen.60 Das Umschlagen zum fundamentalistischen Militarismus wird auch aus den von mir herangezogenen Quellen deutlich. Es mutet wie ein Vermächtnis an, dass die abtretende aufklärerische Generation der Kirchenlenker in den Folgejahren in einigen Staaten wenigstens noch eine Union der beiden protestantischen Bekenntnisse zustandebrachten. Die Volksaufklärung wirkte weiter, wurde aber im religiösen Bereich rasch völlig vom Konfessionalismus überwuchert.61 In ihren Auswirkungen auf die Aufklärung62 liegen also das Reformations-Jubiläum von 1817 und die Karlsbader Beschlüsse von 1819 nicht nur zeitlich dicht beeinander.

58 Ich verweise hier besonders auf die vorzügliche Einleitung zu Olaf BLASCHKE, Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002. – Die Beiträge bei Blaschke nennen übrigens die Lutherfeiern vom 31.10.1817 und das Wartburgfest vom 18.10.1817 stets in einem Atemzug. Das im Nachgang des Wartburgfestes formulierte Programm enthielt allerdings den Satz: „Die Lehre von der Spaltung Teutschlands in das katholische und in das protestantische Teutschland ist irrig, falsch, unglückselig“ (Satz 6, Erstveröffentlichung bei Ferdinand HERBST, Ideale und Irrthümer des academischen Lebens, Stuttgart: J.B. Metzler 1823, S. 184–205, hier S. 191). 59 So Olaf Blaschke in Anlehnung an Friedrich Overbeck (BLASCHKE, Konfessionen [wie Anm. 58], S. 18). 60 Selbst der Meißnische Bauer Gottlieb Scheiblich fühlt sich nach den entgleisten Reformationsfeiern bemüßigt, publizistisch die Wellen wieder zu glätten (Gottlieb SCHEIBLICH, Die einzige Art, vernünftig zu denken, zu reden und zu schreiben, daß daran weder Christen, Juden, noch Heiden einen Anstoß oder Aergerniß nehmen können; Als ein Nachtrag zur dritten Reformations-Jubelfeier, geschrieben für die nieder[e]n Stände und herausgegeben von Gottlieb Scheiblich, Reichenbach bei Meißen: Selbstverlag des Verf. 1818 – VA 3.1/7056, vgl. dort insbes. S. XIII). 61 Die Wirkung von ZSCHOKKES rationalistischen und überkonfessionellen „Stunden der Andacht“ beginnt allerdings knapp vor dem Luther-Jubliäum und wirkt bis über die Jahrhundertmitte hinaus (VA 3.1/6545, s. Kommentar dort), obwohl die Amtskirchen inzwischen einen ganz anderen Kurs eingeschlagen hatten. Das Kirchen-„Volk“ ließ sich das Buch offenbar nicht so einfach nehmen. 62 Siehe dazu meine Einführung „Aufklärung im 19. Jh. – ‚Überwindung‘ oder Diffusion?“, in: VA 3.1 (wie Anm. 27), S. XXXI–LXXV.

Dossier:* Amtliches Nachspiel der Paderborner Reformationsfeier von 1817 (zusammengestellt von Fritz Achelpöhler) Unerwartet und mit Wucht getroffen fühlten sich Ludwig Freiherr v. Vincke und Ludwig Natorp, die Spitzen der preußischen Provinz Westfalen, als der Paderborner Generalvikar Richard Dammers1 am 16.11.1817 Beschwerde über ein Buch führte, welches angefüllt von den gröbsten Unwahrheiten, den lieblosesten Verdrehungen, unsittlichen und hämischen Ausfällen, und Beleidigungen der Catholiken seines gleichen nicht geben mag. (7)2

Eine Woche später traf der Bericht der Regierung aus Minden ein über unangenehme und ärgerliche Reibungen, welche ein unvorsichtiges und von wenig Pastoralklugheit zeugendes Benehmen des Evangelischen Predigers Günther daselbst, bei Gelegenheit der Reformations Jubelfeyer veranlaßt hat. (9)

Es ging um das Buch „Dr. Martin Luther oder kleine Geschichte der Kirchenverbesserung. Ein Lesebuch für die Volksjugend von J. C. Fröbing“.3 Anzeige und Bericht hatten ihren Ursprung in einem Vorfall, der, wie der Paderborner Kriminaldirektor Joseph Christoph Gehrken (1771–1845) als Zeitgenosse überlieferte, großes öffentliches Ärgernis verursachte: Die evangelische Gemeinde in Paderborn hat zur Reformationsfeier u.a. eine neue Auflage des hannoverschen Volkskalenders von Fröbing als Geschenk an die Kinder verteilt. Die darin gegebenen Geschichten, vorzüglich die Nutzanwendungen für die liebe Jugend, *

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Als ich den Vortrag in Gera hielt, hatte ich soeben erst den Hinweis auf den Paderborner Eklat in der „Litteraturzeitung für katholische Religionslehrer“ entdeckt und keine Ahnung vom Realitätsgehalt des dort Geschilderten. Ich wandte mich deshalb an Historiker „vor Ort“ – und erhielt umgehend Aufklärung über den Hintergrund. Der Bielefelder Historiker Fritz Achelpöhler war sogar so freundlich, aus den Akten des Landeskirchlichen Archivs der Evangelischen Kirche von Westfalen in Bielefeld (LkA EKvW 0.0 alt Nr. 324 und LkA EKvW 2.1 Nr. 4617) das folgende Dossier zusammenzustellen. Richard Dammers (1762–1845) war Jurist des letzten amtierenden Paderborner Bischofs, erster nichtadliger Canonikus, ab 1802 Generalvikar der Diözese Paderborn, von 1842– 1845 Bischof von Paderborn. Die Ziffern in Klammern geben die Blattnummer innerhalb der Akte LkA EKvW 0.0 alt Nr. 324 an. Jens Murke vom Landeskirchlichen Archiv der Ev. Kirche von Westfalen in Bielefeld danke ich herzlich für seinen fachlichen Rat. Johann Christoph FRÖBING, Luther oder kleine Geschichte der Kirchenverbeßerung. Ein Lesebuch für die Volksjugend, Hannover: Lamminger 1785 (2. Aufl. ebd. 1792, n. Aufl. 1817, n. Aufl. 1839). Die Erstausgabe war ein Separatdruck aus Fröbings „Calender fürs Volk“ aus dem Jahr 1785 (dort S. 289–376).

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und die hämische Erzählweise erweckten allgemeine Verachtung. Die ernsthafte Geistlichkeit läßt alles über sich ergehen und achtet nicht darauf, daß in jetziger Zeit kein Bürger in Deutschland deshalb, weil er mit seinen Kindern der katholischen Religion zugetan ist, für einen dummen Menschen gelten will.

Gehrken berichtet weiter, mehrere Personen des Oberlandesgerichts hätten erklärt, sie hätten wegen der Angriffe, die der evangelische Pfarrer Günther in seiner Festpredigt auf die katholische Kirche gemacht habe, ihren Vorsatz, an jenem Tage zum Abendmahl zu gehen, nicht ausgeführt, sondern sich ohne alle Erbauung aus der Kirche fortbegeben. Übrigens hätten die gerechten und weisen preußischen Oberbehörden das Unwürdige der Handlungsweise der Vorsteher der evangelischen Gemeinde gefühlt und gegen Günther eine fiskalische Untersuchung eingeleitet. Gehrken wandte sich an seinen „alten guten Freund und Landsmann“ Professor van Eß mit der Bitte, sich der Sache anzunehmen und für die möglichste Verbreitung „dieser Sottise“ durch die Zeitungen zu sorgen.4 In der Kirche war Günther „gleich Dr. Martin Luther gegen die päbstlichen Antichristen auf der Kanzel“ losgezogen.5 Das blieb unter Protestanten; die Verteilung des Buches hingegen mündete in einen Disziplinarfall. Der Skandal und seine Folgen sind auf den 37 Blättern der Akte LkA EKvW 0.0 (alt) Nr. 324 überliefert. Ludwig Freiherr v. Vincke (1774–1844) war Oberpräsident der 1816 neu gebildeten Provinz Westfalen in Münster mit dem Regierungsbezirk Minden im östlichen Teil; Ludwig Natorp (1774–1846) leitete das Konsistorium, die Aufsichtsbehörde für Schule und Kirche. Vincke und Natorp suchten bei größerer konfessioneller Vielfalt – die Bistümer Münster und Paderborn mit katholischer Bevölkerung waren preußisches Staatsgebiet geworden – den Neuanfang in der Verwaltung mit einer Erneuerung von Schule, Kirche und Staat zu verknüpfen. 4

5

W[ilhelm] RICHTER, Der Übergang des Hochstifts Paderborn an Preußen, in: Zeitschrift für Vaterländische Altertumskunde Westfalens 62 (1904), Abt. 2, S. 163–235; 63 (1905), Abt. 2, S. 1–62; 64 (1906), Abt. 2, S. 1–65; 65 (1907), Abt. 2, S. 1–112; hier Bd. 62 (1904), Abt. 2, S. 232, Anm. 1 unter Berufung auf A.P.A. Akte 48. – Diese Aufforderung an Ess, den Fall publik zu machen, scheint mir in unserem Zusammenhang ganz besonders interessant. Die fragliche Ausgabe von Fröbings Lutherbüchlein ist in Leander van Ess’ Bibliothek nachgewiesen (Internet 2015–10-09: Google-Recherche „Fröbing Kirchenverbeßerung“ (URL: https://www.yumpu.com/de/document/view/3894234/now-uniontheological-seminary-in-the-city-of-milton-mcc-gatch/119): Catalogue of the Books sold to New-York Theological Seminary […] by Professor Leander von Ess in 1838 edited by Milton McC Gatch; dort S. 118 unter lfd. Nr. 1551: „J.C. Fröbing, Dr. Mart. Luther, oder kleine Geschichte der Kirchenverbeßerung. Hannover. 1817“; er könnte also tatsächlich der Gewährsmann für den oben zitierten Bericht in der „Litteraturzeitung für katholische Religionslehrer“ gewesen sein. (RS) RICHTER, Übergang (wie Anm. 4), hier 65 (1907), Abt. 2, S. 52.

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Dabei konnten sie auf die Unterstützung durch eine große Mehrheit aus Beamten, Richtern, Lehrern und Pfarrern rechnen, im Regierungsbezirk Minden besonders auf den Ravensberger Superintendenten Johann Heinrich Scherr aus Bielefeld, der bevölkerungsreichsten Region im damaligen Westfalen. In Bielefeld hatte sich an das Reformationsfest die erste Ravensberger Synode aller protestantischen Pfarrer angeschlossen. Es sollte die Kirche eine „republikanische“, das hieß, eine von staatlicher Verwaltung unabhängige Verfassung erhalten. Die Kirche sei von der Gemeinde und ihren Mitgliedern aus zu entwickeln, zur Bildung der Presbyterien müsse „das freie Wahlrecht der Gemeinde als Grundsatz feststehen.“ Die Union der Lutheraner und Reformierten nahm die Synode durch die gemeinsame Abendmahlsfeier eigenständig vorweg.6 In dieser Situation wirkte die Paderborner Reformationsfeier wie eine Reise in die Vergangenheit. Vincke und Natorp entschlossen sich am 10.12.1817 zur Strafanzeige beim Oberlandesgericht Paderborn und teilten das dem Generalvikar und der Mindener Regierung mit (1). Vincke und Natorp führten aus, dass der Prediger Günther auf eine sehr unvorsichtige und strafbare Weise zu unangenehmen und aergerlichen Reibungen zwischen den katholischen und evangelischen Glaubensgenossen zu Paderborn Veranlassung gegeben hat. Wir finden uns dadurch bewogen, diesen Vorfall zur Kenntniß Eines Königlichen Oberlandesgerichts mit dem Ersuchen zu bringen, deshalb eine fiscalische Untersuchung gegen den Prediger Günther anzustellen und denselben in die gesetzliche Strafe zu nehmen. […] Vincke Natorp (6).

Die evangelische Gemeinde Paderborn distanzierte sich von ihrem Pfarrer. Am 11.12.1817 schrieb Bessel II, Justizcommissarius, in späteren Akten als Gemeindevorstand agierend (3–4): Es läßt sich nicht läugnen, daß die erste Schrift nachtheilig auf das Herz und den Verstand der Jugend wirken muß; es darf behauptet werden, daß sie von den Verständigen der evangelischen Gemeinde mit Mißbilligung aufgenommen ist, und es ist zu sagen, daß sie dem guten Verhältnisse zwischen der katholischen und der evangelischen Gemeinde nur nachtheilig seyn kann. […] Ein Hochlöbliches Konsistorium wird ohne Zweifel die dem Verhältnisse angemessenen Maaßregeln zu ergreifen wissen. Von der Schrift ist bemerkt, die Vertheilung derselben sey in der evangelischen Gemeinde geschehen. Diese hat aber daran soviel bekannt ist, keinen Theil gehabt.

6

Dazu Fritz ACHELPÖHLER, Presbyterial-synodal und republikanisch. Der Bielefelder Superintendent Johann Heinrich Scherr (1779 bis 1844) und die Reform von Kirche, Schule und Staat, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 105 (2009), S. 225– 288, hier v.a. S. 253.

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Die am 16.12. aus Münster abgegangene Anzeige beschied das Gericht umgehend am 24.12.1817 mit Ablehnung einer „fiskalischen“ (strafrechtlichen) Untersuchung: es fehle der Nachweis „der förmlichen Existenz eines Verbrechens und die Allegirung eines Straf Gesetzes für den vorzuladenden Denuncirten“ (5). In den Entscheidungsgründen (12–14) heißt es u. a., das Buch enthalte eine historische Darstellung von dem Zustand der Religion jener Zeit der Reformation, deren Inhalt blos Gegenstand der historischen Critik seyn kann, wenn der Verfasser die Thatsachen unrichtig dargestellt haben sollte. Eine Strafe kann wegen solcher Darstellung nicht statt finden, weil sich in solchen Fällen Unwissenheit von diesem Willen [13v] nicht unterscheiden läßt. […] Mit Seite 86 fängt erst das eigentliche Epanorthoticon7 an, und hier werden aus dem catholischen Lehrbegriffe einige unterscheidende Lehren ausgehoben, und mißbilliget, und zwar solche, die schon seit 300 Jahren in vielen Beispielen protestantischer Bücher mißbilliget worden sind, ohne daß man die Verfasser deshalb zur Untersuchung gezogen hat, wenn sie nemlich nicht unter der Herrschaft eines catholischen Fürsten standen.

Das Gericht begleitete seine Erwägungen mit Hinweisen auf Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts und stellte anheim, die Möglichkeit einer „correctionellen Zurechtweisung der ihm vorgesetzten gesetzlichen Behörde“ zu prüfen. Natorp wies am 07.01.1818 Günther zurecht, erhob den Vorwurf einer „kaum begreiflichen Unbekanntschaft mit der Literatur“ und ihn „als Geistlichen, doppelt entehrenden Leichtfertigkeit und Unbesonnenheit“ und schloss: Es ist unser ernstlicher Wille, daß unter den Gemeinden verschiedener Confession die bürgerliche Eintracht und die religiöse Toleranz auf alle Weise befördert und auf keine Weise gestört werden soll. Wir können daher nicht umhin, Ihnen Ihr unüberlegtes [15v] auf die obwaltenden Verhältnisse gar nicht berechnetes Benehmen aufs nachdrücklichste zu verweisen und, da Sie durch dasselbe das Vertrauen des dortigen Publicums nun in einem noch höhern Grade verscherzt haben, Ihnen anzudeuten, daß Sie bey sich ereignender Gelegenheit von Paderborn anderswohin versetzt werden sollen. […]. (15)

An die Regierung in Minden schrieb er: Wir haben […] nachdrücklichst verwiesen und fordern eine hochl. K[irchen] u[nd] S[chul] C[ommission] auf, die anliegende Strafverfügung durch seinen vorgesetzten Superintendenten Scherr zukommen zu [Bl. 16] lassen. Wir werden bey sich ereignender Gelegenheit darauf bedacht seyn, den Pred. Günther anderswohin zu versetzen, und es würde uns sehr angenehm seyn, wenn auch eine h[ohe] K[irchen] u[nd] S[chul] C[ommission] eine solche Versetzung zu bewirken mitbehülflich wäre. (15/16)

7

Verzeichnis der nach Ansicht des Verfassers durch die Reformation ausgelösten Verbesserungen.

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Und an den Generalvikar: […] nachdrücklichst verwiesen und zugleich angedeutet haben, daß er bey sich ereignender Gelegenheit von dort anderswohin versetzt werden soll. […]

Die erste freie Stelle bot sich in Brochterbeck, einem entlegenen Ort im „Tecklenburg-Lingenschen“ nahe dem Moor. In der Beratung mit dem Superintendenten Scherr ergab sich, dass Günther eine versprochene Gehaltsaufbesserung und eine Nachzahlung für in den Jahren 1806/07 bislang nicht vergütete Amtstätigkeit geltend machte. Günther schrieb am 10.09.1818 an das Consistorium: Da Sr. Hochwürden der Herr Superintendent Scherr mir schriftlich zu wissen gethan, daß man aus guten und weisen Absichten es höhern Ortes gern sähe, wenn ich meine jetzige Pfarre mit einer andern vertauschte und nur deshalb die noch vacante Stelle zu Brochterbeck vorgeschlagen hat, und ich auch gern und willig dem Wunsche und Willen meines Obern völlig genügen will und werde, wie dies für meine höchste Pflicht halte, so ersuche ich hiermit ganz gehorsamst Ein Hochwürdiges Consistorium um die oben genannte mir vorgeschlagene Stelle. Da ich aber durch diesen Umtausch über 200 rthl. an baaren Einkünften verliehren würde, welches – da ich die hiesige Pfarrstelle mit unsäglicher Mühe selbst gegründet und deshalb für meine 2 jährige gehaltlose Amtsverwaltung eine zugesicherte Remuneration noch zu erwarten [Bl. 18v] habe, auch laut Zeugniß aller Wahrheitsliebenden in meiner Gemeinde mein Amt treu und redlich verwaltet […], so kann ich auch nur diesen Umtausch dann eingehen, wenn ich mich dadurch in keine schlechtere Lage versetze […]. Meine 2te ganz gehorsamste Bitte wäre, daß das zum Theil vermoderte und eingefallene Pfarrhaus zu Brochterbeck vorher in einen guten bewohnbaren Zustand versetzt und – da nur 4 Zimmer unten auf dem Boden sind, die kaum für meine 9 Personen starke Familie […] hinreichen – daß über den Stuben am nördlichen Giebel ein Studirzimmer mit Schlafkammer angebracht […, Aufzählung weiterer baulicher Maßnahmen] werde […]. Zuletzt füge ich noch die ganz gehorsamste Bitte hinzu – da ich die Unkosten des Transports meiner Möbel und der Fuhre nicht herbei zu schaffen vermögend bin; […] daß mir deshalb eine Summe Geldes […] angewiesen werde […].“ (18–20).

Das Consistorium fasst die Vorbehalte Günthers am 25.09.1818 zusammen: Es ist in der Provinzial SchulCommission beschlossen, daß eine Vorstellung ans Ministerium geschehe, daß der Prediger Günther nach Brochterbeck versetzt wird, wozu er sich erklärt hat, unter 3 Bedingungen; 1) Fixes Gehalt von 500 rthlr; 2) Verbesserung des Pfarrhauses 3) Reise u. Transport Kosten Entschädigung v. 100 rthlr. Die Gründe für die Versetzung ergeben sich hauptsächlich aus den Schreiben des H. Scherr an die Regierung zu Minden. Die Forderungen des p. Günther sind an sich ganz billig; wären sie nicht zu erfüllen, so koennte wohl der p. Günther auf keine Weise nach

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Brochterbeck zu gehen gezwungen werden. Das Gesetz Allg. Landr. Theil II Tit. XI, § 531 scheint mir nicht dahin zu sprechen, da dem Günther nichts Strafwürdiges nachzuweisen seyn wird, u. blos seine innere Untauglichkeit für Paderborn die Sache ist.“ (21)

In einem Schreiben an das Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten vom 10.09.1818 urteilte das Consistorium: Der Prediger Günther zu Paderborn besitzt nicht die persönlichen Eigenschaften, […] sich auch bei den katholischen Eingesessenen Achtung zu verschaffen, unter beiderlei Glaubensgenossen ein gutes Vernehmen zu befördern, […]. Das Verlangen der gebildetern Mitglieder der evangelischen Gemeinde zu Paderborn ist daher so stark als gerecht, daß dieser Mann auf eine andere Pfarre versetzt […] wird. [Bedingungen Günthers für seine Einwilligung, Berechnung des staatlichen Zuschusses von 175 rthlr]. (32–34)

Trotzdem teilte das Ministerium am 08.10.1818 dem Consistorium mit, dass die Mittelbewilligung abgelehnt sei (Bl. 37). Daraufhin bot das Konsistorium Günther am 27.10.1818 die Übertragung der reformierten Predigerstelle in Vlotho an; er nahm an unter dem Vorbehalt, dass seine Einkünfte nicht wesentlich geschmälert würden. Nach einem Besuch in Paderborn schrieb Natorp am 04.11.1818 in seiner dienstlichen Beurteilung für Günther (Bl. 36): Auf meiner neulichen Reise habe ich die nähere persönliche Bekanntschaft des evangel. Pfarrers Günther gemacht u über seine Amtsverwaltung Erkundigungen eingezogen. Was ich über ihn von besonnenen Männern gehört u zum Theil selbst wahrgenommen habe, läuft dahin aus, daß der Pfarrer Günther ein überaus gutmüthiger u redlicher Mann ist, daß er nach seinen Einsichten u Kräften sein Amt treulich verwaltet, daß es ihm aber an aller Umsicht, an aller Lebensklugheit, an Geist u Kraft durchaus fehlt, so daß sein Thun u Treiben wenig fruchtet u sein confuses Predigen u Thun der Gemeinde nicht zur Erbauung, sondern vielmehr den Einsichtsvolleren zum Aergerniß gereicht. Er ist mit den gesetzlichen u verfassungsmäßigen Befugnissen seines Pfarramts durchaus nicht bekannt u thut daher einen Mißgriff nach dem andern. Die Gebildeteren in der Gemeinde schämen sich ihres unbeholfenen u linkischen Pfarrers. Mit seinem Predigen ist man unzufrieden. Daß sein Katechumenen[unterricht] wenig wirksam sey, läßt sich aus seinem confusen Wesen mit Sicherheit schließen. Er paßt nirgends weniger hin, als in eine Gemeinde, wie der zu Paderborn. Seine sittliche Aufführung ist übrigens unbescholten und da er dabey wohlwollend gesinnt ist, so wird milder über ihn geurtheilt als man sonst erwarten dürfte. Dieses geschieht auch von dem Gen. Vicarius Dammers u dem Domprediger Drücke, welche ihn schon von mehreren Mißgriffen freundschaftlich zurückgehalten haben.

Am 26.11.1818 stellte die Regierung in Minden an das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten in Berlin erneut einen Antrag auf Bewilligung einer Ausgleichszahlung für Günther. Zusätzlich zum Vorbericht vertiefte die Regierung Minden die in der Person liegenden Gründe und warf Günther „sehr häufige Versündigung an den Gesetzen der Pastoralklugheit“ vor. Sein „sehr tadelhaftes Benehmen bei vielen Gelegenheiten und

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besonders am Reformations Feste“ sei den „Katholiken höchst anstößig geworden“; er habe auch den Bedürfnissen seiner Gemeine „durch seine Kanzelvorträge, durch seinen Unterricht der Katechumenen und durch seine übrigen Amtsverrichtungen so wenig entsprochen, dadurch aber der guten Sache der dortigen evangelischen Cultur, so sehr geschadet“, „daß der Wunsch seiner Gemeine immer allgemeiner und lauter wurde, denselben je eher je lieber von sich entfernt zu sehen“. Es sei zu besorgen, „daß die Abneigung seiner Pfarrkinder gegen ihn immer größer und die dortige evangelische Kirche – während die katholischen überfüllt sind – bald und fast gar nicht mehr besucht werden wird“. „Wie sehr dadurch das Ansehn des Protestantismus daselbst gefährdet wird, dies bedarf wohl eben so wenig einer noch weitläuftigern Erörterung, als daß die Versetzung des p.[erge] Günther von Paderborn nach einem andern Ort je später je dringender wird.“ Die mit seiner Lage verbundenen Misslichkeiten „können ihn nicht bewegen, seine jetzige Stelle aufzugeben, und eine andre, aber minder einträgliche anzunehmen“ (LkA EKvW, Bestand 2.1, Nr. 4617, nicht paginiert). Der Minister bewilligte 50 rthlr. als persönliche Zulage am 19.04.1819; die Korrespondenzen und Verhandlungen über die Finanzierung einer Gesamtzulage von 150 rthlr. für Günther und eine Erhöhung der Einkünfte um 200 rthlr. für den künftigen Pfarrer in Paderborn dauerten länger als zwei Jahre. 13.05.1821

Amtseinführung des „feingebildeten“8 Georg Friedrich Baumann als Pfarrer und Nachfolger von Günther in Paderborn.

16.09.1821

Karl Wilhelm Günther wird in die Pfarrstelle der Evang.-reform. St.-Johannis-Kirchengemeinde zu Vlotho eingeführt.9 =====

Ironie des Schicksals: der Schlusssatz des inkriminierten Büchleins lautet: Ich würde mich daher von Herzen betrüben, wenn [S. 376] diese Erzählung euch gegen die Catholicken erbittert haben sollte; so wie ich mich im Gegentheil freuen werde, wenn ihr nun anfangt, jeden Catholischen als euren Bruder zu lieben, zu achten und zu schätzen.10

8 9

RICHTER, Übergang (wie Anm. 4), hier 64 (1906), Abt. 2, S. 52. Friedrich Wilhelm BAUKS, Die evangelischen Pfarrer in Westfalen von der Reformation bis 1945 (Beiträge zur Kirchengeschichte, 4), Bielefeld 1980, S. 171. 10 FRÖBING, Luther (wie Anm. 3), hier zitiert nach dem mir allein zugänglichen Erstdruck in „Calender fürs Volk“ aus dem Jahr 1785 (VA 2.1/1754), S. 375 f. (RS).

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REINHART SIEGERT

Anmerkung und Nachweis zu den Karten auf S. 120 u. 121: Karte 1 (Abb. 1): Die Verteilung der Konfessionen im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches 1803. Karte 2 (Abb. 2): Der Anteil der katholischen Bevölkerung in Deutschland 1925.

Die beiden Karten sollen lediglich veranschaulichen, wie sich das Kräfteverhältnis der Konfessionen im Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in den Jahren nach 1803 verschoben hat. Unter dem zur Verfügung stehenden schwarz-weißen Kartenmaterial wurde die Karte von 1925 wegen des besonders klaren Kartenbilds gewählt; die Konfessionsverhältnisse dürften sich seit dem Jubiläumsjahr 1817 nicht mehr entscheidend geändert haben, sicher nicht hin zu einem geringeren Anteil der Katholiken, so dass die Aussage im Vergleich der beiden Karten gewährleistet scheint. Die beiden Karten sind in annähernd dem gleichen Maßstab wiedergegeben. Die offensichtliche Verschiebung der Konfessionsverhältnisse wird noch verstärkt, wenn man berücksichtigt, dass gegenüber Abb. 1 nicht nur Österreich, Böhmen, Mähren und Österreichisch Schlesien als katholische Gebiete wegfallen, sondern auch (in Abb. 1 nicht mehr sichtbar) die zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörigen südlichen Habsburger-Territorien Tirol, Steiermark, Kärnten und Krain. Quellen: Abb. 1 (S. 120): Brockhaus’ Konversations-Lexikon, Bd. 5, Leipzig/Berlin/Wien 1898, nach S. 122; Abb. 2 (S. 121): mit freundlicher Erlaubnis der Kommission für Zeitgeschichte e.V., Bonn.

ALEXANDER KRÜNES VERSTÄNDIGUNG ODER ABGRENZUNG?

Verständigung oder Abgrenzung? Die Haltung thüringischer Volksaufklärer zum Katholizismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Fragt man nach der Bedeutung der Reformation des 16. Jahrhunderts für die protestantischen Volksaufklärer des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, dann fällt das Ergebnis recht deutlich aus. Die Reformation, angeführt von Martin Luther, sorgte für eine Überwindung bestehender religiöser sowie gesellschaftlicher Missstände, was nach Auffassung der meisten protestantischen Volksaufklärer wiederum den Grundstein für das später einsetzende, in ihren Augen als unzweifelhaft fortschrittlich anzusehende Zeitalter der Aufklärung bildete.1 So schrieb etwa im Jahr 1790 Johann Ludwig Ewald in der Schrift „Ueber Volksaufklärung; ihre Gränzen und Vortheile“ ganz selbstverständlich: „Unstreitig ist die meiste Aufklärung da, wo Christenthum herrscht; und […] unstreitig ist im Ganzen genommen mehr Aufklärung in protestantischen; als in katholischen Ländern.“2 Um die besondere Leistung der Reformation hervorzuheben, merkte Ewald außerdem an: Die protestantischen Fürsten waren die kleinsten, aber die mächtigsten, weil sie die aufgeklärtesten waren; die katholischen größer, doch weniger mächtig, weil ihnen Aufklärung fehlte. Nie ist wohl Aufklärung in neueren Zeiten schneller gewachsen, als in dem Zeitraum von 1525 bis 1560; und nie war mehr Thätigkeit sichtbar; nie wuchs Mut und Volksglück schneller, als eben in der Zeit.3

Die Mehrheit der thüringischen Volksaufklärer, allen voran die vielerorts wirkenden protestantischen Pfarrer,4 vertraten denselben Standpunkt wie Ewald und artikulierten diesen offensiv in mündlicher wie schriftlicher Form. Sich der aufklärerischen Lichtmetapher bedienend, charakterisierten sie die vorreforma1

2 3 4

Zum Verhältnis zwischen Reformation und Volksaufklärung siehe grundlegend die Beiträge von Werner GREILING und Holger BÖNING in diesem Band. Johann Ludwig EWALD, Ueber Volksaufklärung; ihre Gränzen und Vortheile. Eine Provinzialschrift, Berlin: Johann Friedrich Unger 1790, S. 47. Ebd., S. 49. Zur personellen Zusammensetzung der im Thüringer Raum wirkenden Volksaufklärer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Alexander KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (1815–1848) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 39), Köln/Weimar/Wien 2013, S. 109–255.

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torische Zeit als eine Epoche der Dunkelheit, die von Aberglauben, Unwissenheit und Glaubenszwang gekennzeichnet gewesen sei. Ihrer Meinung nach beendete die Reformation die von der katholischen Kirche bewusst aufrecht gehaltene Finsternis, die einzig dem Machterhalt des katholischen Klerus diente. Befreit von den Fesseln der katholischen Kirche, konnte sich in den Ländern der Reformation das religiöse und gesellschaftliche Leben im positiven Sinne entfalten und zu Wahrheit, Vernunft, Glaubensfreiheit, Denk- und Geistesfreiheit, Gelehrsamkeit und bürgerlicher Wohlfahrt führen – allesamt Schlagwörter, die man in der volksaufklärerischen Publizistik Thüringens des späten 18. und 19. Jahrhunderts stets im Zusammenhang mit der Reformation und den Reformatoren wie Luther, Melanchthon, Spalatin oder Bugenhagen liest. Diese Argumentation barg natürlich, ungeachtet der Tatsache, dass sie der historischen Vergangenheit nicht gerecht wurde, eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Entstehung gesellschaftlicher Konflikte in der Gegenwart. Wer eine so offene Position gegen die vorreformatorische katholische Kirche bezog, der musste sich auch zwangsläufig der Frage stellen, welche Haltung die nachreformatorische katholische Kirche einnahm bzw. welche Ziele der Katholizismus im Allgemeinen verfolgte. Spätestens mit den groß angelegten, staatlich verordneten und umfänglich finanzierten Feierlichkeiten zum 300-jährigen Reformationsjubiläum im Jahr 18175 wurde auch in Thüringen eine intensivere Auseinandersetzung mit dem bestehenden Katholizismus bzw. den bestehenden Strukturen der katholischen Kirche unumgänglich. Dass die Reformationsfeierlichkeiten von 1817 eine ideale Plattform darstellten, Meinungen jeglicher Art zum zeitgenössischen Katholizismus öffentlichkeitswirksam zu verbreiten, lag dabei auf der Hand. Auch die thüringischen Fürsten waren sich dieses Umstandes bewusst. Um potentielle Konflikte während der Feierlichkeiten geringzuhalten und der Gefahr einer zu starken Polemik gegen Katholiken vorzubeugen, versuchte man, diese durch gemeinsam abgestimmte Verordnungen

5

Zu den Reformationsfeierlichkeiten von 1817 im protestantischen Deutschland siehe Wichmann VON MEDING Kirchenverbesserung – die deutschen Reformationspredigten des Jahres 1817, Bielefeld 1986; Rainer FUHRMANN, Das Reformationsjubiläum 1817. Martin Luther und die Reformation im Urteil der protestantischen Festpredigt des Jahres 1817, Diss. Tübingen 1973. Zu den Beschreibungen der Feierlichkeiten aus zeitgenössischer Sicht siehe v. a. Christian SCHREIBER/Valentin Carl VEILLODTER/Wilhelm HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik der dritten Jubel=Feier der deutschen evangelischen Kirche. Im Jahre 1817. Nebst einigen Nachrichten von dieser Feier in auswärtigen Ländern, Bd. 1: Welcher die Beschreibungen der kirchlichen Feierlichkeiten nebst einer Sammlung von Miscellen enthält. Mit Fünf Kupfern; Bd. 2, Abt. 1: Welcher die JubelPredigten enthält, Erfurt/Gotha: Hennings’sche Buchhandlung. Vgl. außerdem die Beiträge von Julia BEEZ, Werner GREILING und Johannes ROTH in diesem Band.

VERSTÄNDIGUNG ODER ABGRENZUNG?

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bereits im Vorfeld im Keim zu ersticken.6 So wurde von staatlicher Seite an die Geistlichen und Gemeindeobrigkeiten die Order erlassen, man möge sich in gebührender Weise an die Reformation erinnern, ohne „sich dabei vielleicht anstößiger Bemerkungen über nicht evangelische Christen zu bedienen, da dieß dem Zwecke dieser Feierlichkeit entgegen seyn würde“. Vielmehr sollen die Feiern „eine gleichzeitige passende Veranlassung [geben], die Achtung und Liebe aller Nebenmenschen, ohne Unterschied der Religion und des Glaubensbekenntnisses zu empfehlen“.7 Im Großen und Ganzen wurde den obrigkeitlichen Anordnungen während der Reformationsfeierlichkeiten in allen thüringischen Staaten Folge geleistet. Mit öffentlicher Kritik an den Zuständen der gegenwärtigen katholischen Kirche hielt man sich dezent zurück. Im Gegenteil, in den Predigten und Reden, die uns heute noch schriftlich überliefert sind,8 finden sich immer wieder Töne der Verständigung und des Zusammenhalts. Als Beispiel sei hier die Predigt von Johann Friedrich Schneegaß genannt. Als Pfarrer der im Herzogtum SachsenGotha-Altenburg liegenden Dörfer Altenbergen, Latterfeld, Engelsbach und Finsterberga rief er seinen Gemeindemitgliedern am zweiten Tag des Jubelfestes zu, dass wir Lutheraner nicht auf die Reformirten stolz herabsehen und die Catholiken etwa gar verachten oder hassen dürfen. Nein wir sind alle Christen, alle eines Vaters Kinder. […] Seyd, so oft Ihr von jenen Partheien höret, der Ermunterung irgend eines Apostels eingedenk: Habt unter einander Liebe. Alle sind unsre Mitchristen, alle unsere Brüder.9

Allgemein lässt sich festhalten, dass die Reformationsfeierlichkeiten von 1817 sowohl von den staatlichen als auch kirchlichen Vertretern nicht dazu instrumentalisiert wurden, die Gegensätze zwischen Protestanten und Katholiken hervorzuheben. Zwar wurden die Taten Luthers und die Errungenschaften des 6

7 8 9

Die fürstlichen bzw. staatlichen Anordnungen zum Ablauf der dreitägigen Reformationsfeierlichkeiten in den einzelnen thüringischen Staaten sind zum Teil wiedergegeben in: SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik der dritten Jubel=Feier (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 299–309 (Erfurt), S. 342–351 (reußische Fürstentümer), S. 435– 498 (ernestinische Fürstentümer) u. S. 499–510 (schwarzburgische Fürstentümer). Im Kapitel „II. Feier des Säcular-Festes; 22) Königreich Preußen“ (S. 273–342) werden auch die Feierlichkeiten in einigen anderen thüringischen Städte beschrieben, die im Jahr 1817 in der preußischen Provinz Sachsen lagen (z.B. Schleusingen, Sömmerda, Suhl oder Weißensee). Ebd., S. 501. Die Anordnung stammt von Fürst Günther Friedrich Carl von Schwarzburg-Sondershausen. Die Reden und Predigten finden sich ebenfalls in der von Schreiber, Veillodter und Hennings herausgegebenen „Allgemeinen Chronik der dritten Jubel=Feier“ (siehe Anm. 4). SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik der dritten Jubel=Feier (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 485.

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Protestantismus in allen Reden in mannigfaltiger Art und Weise gepriesen, doch geht es fehl daraus zu interpretieren, dass diese Äußerungen bewusst dem Zweck dienten, einen Keil zwischen die Konfessionen zu treiben. Vielmehr findet sich regelmäßig der Hinweis, dass die freie Ausübung der Religion in allen deutschen Staaten zu den größten Errungenschaften der neuesten Zeit gehöre.10 Die in Thüringen lebenden Katholiken wurden demnach von den Feierlichkeiten nicht ausgeschlossen; zum Teil wurden sie – zusammen mit den Reformierten11 – sogar zu den Feiern eingeladen. Da in den thüringischen Staaten die Bevölkerung fast ausschließlich dem protestantischen Glauben angehörte, hatten diese Einladungen allerdings einen eher symbolischen Charakter. Einzig Erfurt besaß aufgrund seiner jahrhundertelangen Zugehörigkeit zu Kurmainz Anfang des 19. Jahrhunderts eine gemischtkonfessionelle Bevölkerung.12 Ob und wenn ja, in welchem Maße die katholischen Bevölkerungsteile der Stadt an den Reformationsfeierlichkeiten teilgenommen haben, lässt sich nicht sagen. Aus Berichten ist aber zumindest bekannt, dass während der Festivitäten im Erfurter Augustinerkloster,13 in welchem Luther von 1505 bis 1512 als Mönch lebte, auch „andere Religionsbekenner“ anwesend waren.14 Diese Form des religiösen Miteinanders war im Erfurter Raum keine ungewöhnliche Praxis und hatte sich bis Ende des 18. Jahrhunderts – gefördert durch die Aufklärung – im Alltag zu einer gewissen Selbstverständlichkeit ent10 Diese Aussagen bezogen sich auf den seit 1815 in der Deutschen Bundesakte festgeschriebenen Grundsatz (Artikel XVI), dass die drei großen christlichen Konfessionen (Katholiken, Lutheraner, Reformierte) in allen Ländern des Deutschen Bundes frei ausgeübt werden durften. Vgl. Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815, in: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, hg. von Ernst Rudolf HUBER, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, Stuttgart 31978, S. 89. 11 Hin und wieder wurde während der Feierlichkeiten auch der Wunsch formuliert, die Lutheraner und Reformierten mögen sich wieder zu einer einzigen protestantischen Kirche vereinigen. Vgl. hierzu auch das Vorwort in SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik der dritten Jubel=Feier (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 29. 12 Um 1800 waren zwei Drittel der Erfurter Stadtbevölkerung evanglischer und ein Drittel katholischer Religionszugehörigkeit. Vgl. Jakob DOMINIKUS, Erfurt und das Erfurtische Gebiet. Nach geographischen, physischen, statistischen, politischen und geschichtlichen Verhältnissen, Erster Theil, Gotha: Carl Wilhelm Ettinger, S. 139. Zur Geschichte der Stadt Erfurt von der Reformation bis zum Wiener Kongress vgl. außerdem Willibald GUTSCHE (Hg.), Geschichte der Stadt Erfurt, Weimar 21989, S. 103–215. 13 Das Kloster wurde im Zuge der Reformation im Jahr 1559 säkularisiert. Teile der Anlage wurden vom Erfurter Magistrat bis ins 19. Jahrhundert als evangelisches Ratsgymnasium (gymnasium evangelicum) genutzt. Vgl. hierzu Lothar SCHMELZ/Michael LUDSCHEIDT (Hg.), Luthers Erfurter Kloster. Das Augustinerkloster im Spannungsfeld von monastischer Tradition und protestantischem Geist, Erfurt 2005. 14 SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik der dritten Jubel=Feier (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 302.

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wickelt.15 Prinzipiell forderten die thüringischen (Volks-)Aufklärer des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts religiöse Toleranz. Eine Bevormundung oder Sonderbehandlung Andersgläubiger werteten sie nicht nur als intolerant, sondern auch als gesellschaftsschädigend. Wollte man den Sinn für Gemeinnützigkeit in der Gesellschaft schärfen, so galt es das Miteinander der Konfessionen zu stärken, anstatt durch bewusstes Hervorheben der Konfessionsunterschiede das Gegenteil zu bewirken. Davon überzeugt, dass eine Verständigung zwischen den Religionen sowohl in geistig-kultureller als auch in gesellschaftlichökonomischer Hinsicht positive Folgen hätte,16 plädierten die (Volks-)Aufklärer dafür, den Ausgleich zwischen den (christlichen) Konfessionen weiter zu fördern.17 Exemplarisch für das Wirken eines „Brückenbauers“ zwischen Katholiken und Protestanten sei an dieser Stelle Carl Friedrich Langheld (1751–1823) ange15 Zur Entfaltung der Aufklärung in Erfurt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Michael LUDSCHEIDT (Hg.), Aufklärung in der Dalbergzeit. Literatur, Medien und Diskurse in Erfurt im späten 18. Jahrhundert, Erfurt 2006. 16 In Einleitung der „Allgemeinen Chronik der drittten Jubel=Feier“ wird die freie Religionsausübung und das Miteinander der Konfessionen ebenfalls als vorteilhaft beschrieben: „Die deutsche Bundesacte hatte die Gleichheit der Rechte für die Confessionen in Deutschland ausgesprochen; […] freie Religionsausübung wurde in Folge solcher Verfassung da, wo sie noch nicht vorhanden war, rechtlich zu erkannt, Kirchen wurden hier dieser dort jener Parthei, die solche noch nicht hatten, eingeräumt; Staatsdiener wurden an Orte, die nicht ihrer Confession waren, versetzt, und solche Gleichheit der Rechte und Vermischung der Partheigenossen konnte ihres wohltätigen Einflusses auf die Bewirkung eines friedlichen Geistes nicht verfehlen.“ (SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik der dritten Jubel=Feier [wie Anm. 5], Bd. 1, S. XV.) 17 Seit Mitte des 18. Jahrhunderts gab es innerhalb der Aufklärung verschiedene Strömungen, die die Werte des Christentums überkonfessionell auslegten und die konfessionelle Spaltung in Deutschland zu überwinden suchten. Deren Vorstellungen einer Reunion zwischen Katholischen und Protestanten blieben bis ins frühe 19. Jahrhundert bestehen und wurden in der Folgezeit von anderen religiösen und gesellschaftlichen Bewegungen, so auch von den Vertretern der Aufklärungstheologie, die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts in den thüringischen Staaten etablierte und im 19. Jahrhundert in den theologischen Liberalismus überging, in verschiedener Form rezipiert und verarbeitet. Zu den bekanntesten Vertretern gehörten auf katholischer Seite der Trierer Weihbischof Johann Nikolaus von Hontheim und auf protestantischer Seite der braunschweigische Hofprediger Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Vgl. hierzu Christopher SPEHR, Aufklärung und Ökumene. Reunionsversuche zwischen Katholiken und Protestanten im deutschsprachigen Raum des späteren 18. Jahrhunderts (Beiträge zur historischen Theologie, 132), Tübingen 2005. Zu den religiösen und kirchlichen Entwicklungen in Thüringen im 18. und 19. Jahrhundert vgl. außerdem Erich BEYREUTHER, Die Kirche in der Neuzeit, in: Hans PATZE/Walter SCHLESINGER (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 4: Kirche und Kultur in der Neuzeit (Mitteldeutsche Forschungen, 48/V), Köln/Wien 1972, S. 25–45, hier bes. S. 32–37.

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führt.18 Langheld stammte aus Großenbehringen bei Gotha. Seine Eltern gehörten konfessionell dem reformierten Lager an, ließen ihren Sohn aber lutherisch erziehen. Seine frühe schulische Ausbildung erhielt Langheld in der Schule der evangelisch-lutherischen Gemeinde von Großenbehringen. Gefördert wurde er dabei in besondere Weise vom örtlichen Pfarrer Christoph Salomon Heyer sowie dem Pfarrer der Nachbargemeinde Wolfsbehringen, Friedrich Christian Gerlach, dem späteren Superintendenten der Ephorie Wangenheim. Aufgrund seiner guten Vorbildung war es Langheld möglich, von 1766 bis 1770 das Gymnasium in Gotha zu besuchen. Nach seinem Abgang studierte er zunächst Theologie, später Jura an den Universitäten Jena und Göttingen. 1775 erhielt er einen Posten als „Amtsadvocat“ im Herzogtum Gotha. Ab 1799 wurde er zum Amtmann von Reinhardsbrunn befördert. Während seiner Zeit im Staatsdienst stand Langheld fortwährend in engem Kontakten mit protestantischen wie katholischen Geistlichen. Seine beruflichen Verpflichtungen führten ihn unter anderen auch mit den zwei Erfurter Benediktineräbten Günther Bassing und Placidus Muth zusammen, mit denen er zeitlebens eine tiefe Freundschaft pflegte. Im Zuge der Testamentsvollstreckung von Nikolaus Brückner, einem Waldarbeiter aus Altenbergen, gelangte Langheld 1799 in den Besitz von 20 Gulden, die er gewinnbringend verzinsen sollte, um mit dem Geld einen Gedenkstein für die Reinhardsbrunner Johanniskapelle, die vielleicht älteste Kirche Thüringens, anzuschaffen. Beeindruckt von dem Streben des Holzhauers, das kulturelle Erbe der Region für die Nachwelt zu lebendig zu halten, setzte sich Langfeld fortan für eine historische Aufklärung der bäuerlichen Aufklärung ein.19 Um die Johanniskapelle als regionalen Erinnerungsort stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken, verfolgte er bald den Plan, anstatt eines Gedenksteines ein größeres Denkmal zu Ehren des christlichen Missionars Bonifatius zu errichten.20 Zu diesem Zweck sammelte er Spenden durch Aufrufe in Zeitungen 18 Zu Langheld vgl. Johann Adolph JACOBI, Carl Christian Friedrich Langheld, in: Neuer Nekrolog der Deutschen, hg. von Friedrich August SCHMIDT, Erster Jahrgang 1823, Zweites Heft, Ilmenau 1824, S. 595–612. Zum Wirken Langhelds unter dem Blickwinkel einer „volksaufklärerischen Ökumene“ siehe den Beitrag von Reinhart SIEGERT in diesem Band, hier bes. S. 113–116. 19 Als Mitglied der „Thüringischen Landwirtschaftsgesellschaft zu Langensalza“ setzte sich Langheld ebenso für die ökonomisch-landwirtschaftliche Aufklärung der Bauern in seinem Amtsbereich ein. 20 Zur Errichtung des Bonifatius-Denkmals in Altenbergen siehe vor allem die Ausführungen von Marko KREUTZMANN, Apostel der Deutschen und der Thüringer oder Wegbereiter „römischer Herrschaft“? Der Missionar und Kirchenreformer Winfried-Bonifatius in der thüringischen Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 58 (2004), S. 123–160. Auf Basis umfangreicher Quellen-

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und Zeitschriften21 sowie durch öffentliche Auftritte. Aus dem anfänglichen Stiftungskapital von 20 Gulden wurden im Laufe der Jahre knapp 1.000 Reichstaler, so dass 1811 schließlich der Grundstein zu dem Denkmal, dem sog. Kandelaber, gesetzt werden konnte.

Der Kandelaber bei Altenbergen (Lithographie von Carl Müller, 1841) recherchen ordnet Kreutzmann das Bonifatius-Denkmal in die thüringische Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts ein und fragt danach, inwieweit die intensive BonifatiusVerehrung im Thüringer Raum die von Olaf Blaschke aufgestellte These des „Zweiten Konfessionellen Zeitalters“ bestätigt oder widerlegt. Zur Frage, ob das 19. Jahrhundert als ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“ charakterisiert werden kann vgl. ferner Olaf BLASCHKE, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38–75; Carsten KRETSCHMANN/Henning PAHL, Ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 369–392. 21 Publizistische Unterstützung erhielt Langheld dabei vor allem vom Gothaer Volksaufklärer Rudolf Zacharias Becker, der in seinem „Allgemeinen Anzeiger der Deutschen“ für das Denkmal warb. Vgl. KREUTZMANN, Apostel der Deutschen (wie Anm. 20), S. 130.

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Sowohl die Grundsteinlegung als auch die Denkmaleinweihung wurden als großes Fest zelebriert, an dem protestantische, reformierte und katholische Geistliche teilnahmen und allesamt Reden hielten.22 Langheld selbst trug auf dem Fest zwei Vorträge vor, in denen er nicht nur betonte, dass es die Pflicht des Volkes sei, das historische Erbe einer Region zu erhalten, sondern das ein solches Denkmal zugleich auch als ein Symbol für die Verständigung verschiedener Konfession verstanden werden kann. Dass solche Überlegungen, mittels Festen und Denkmälern Gemeinsamkeit zu stiften, keine Ausnahme waren, zeigt dabei ein Blick in die Hildburghäuser „Dorfzeitung“ oder den „Allgemeinen Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen“, beides Leitmedien der thüringischen Volksaufklärung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.23 So finden sich dort bis Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder Aufrufe, dass sich Protestanten und Katholiken gemeinsam, etwa auf den regelmäßig stattfindenden Erfurter Domfesten,24 ihrer Vergangenheit und ihres kulturellen Erbes erinnern sollen. Aus den hier geschilderten Verständigungsbemühungen nun allgemein abzuleiten, dass das Verhältnis zwischen Protestanten und Katholiken in Thüringen im frühen 19. Jahrhundert völlig spannungsfrei gewesen sei, entspricht bei genauer Betrachtung der Quellen nicht den Tatsachen und wäre eine Fehlinterpretation. Wie in anderen Regionen des Deutschen Bundes setzte nach 1815 auch in Thüringen infolge tiefgreifender gesellschaftlicher, ökonomischer und staatlicher Wandlungsprozesse eine „Renaissance des Religiösen“ ein.25 Diese 22 Vgl. hierzu ausführlich Josias Friedrich Christian LÖFFLER (Hg.), Bonifacius, oder Feyer des Andenkens an die erste christliche Kirche in Thüringen, bey Altenberga im Herzogthum Gotha, Gotha: Becker’sche Buchhandlung 1812. Ein kurzer Bericht der Einweihungsfeier findet sich außerdem in: SCHREIBER/VEILLODTER/HENNINGS (Hg.), Allgemeine Chronik der dritten Jubel=Feier (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 6–10. 23 Vgl. KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen (wie Anm. 4), S. 297–309. 24 Wie die Reinhardsbrunner Johanniskapelle galt auch der Erfurter Dom als christliches Denkmal, das es, mit Blick auf die eigene Geschichte und Religion, für die Nachwelt zu erhalten galt. In mehreren Artikeln im Allgemeinen Anzeiger wurde die Bevölkerung dazu aufgerufen, das historische und religiöse Erbe alter Kirchen, allen voran den Erfurter Dom, gemeinsam und konfessionsübergreifend zu bewahren. So heißt es beispielsweise: „Diese Denkmähler der Vorzeit müssen in uns alle Ehrfurcht erwecken, wenn wir deren Hallen betreten, und uns den Segnungen der Religion hingeben.“ (Allerhand. An die Bewohner Arnstadts, in: Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen, Nr. 161 vom 17. Juni 1830, Sp. 2164–2166, hier Sp. 2164. Vgl. hierzu außerdem: Bauwesen. Ueber Nichtvollendung des inneren Ausbaues der Domkirche zu Erfurt, in: ebd., Nr. 275 vom 8. Oktober 1832, Sp. 3589–3594; Baukunst. Der Dom zu Erfurt, in: ebd., Nr. 9 vom 10. Januar 1834, Sp. 117 f.) 25 Hans Werner HAHN/Helmut BERDING, Reformen, Restauration und Revolution 1806– 1848/49 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 14), Stuttgart 2010, S. 394.

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verstärkte Hinwendung zur Religion erwies sich bald als ein Hemmnis beim Abbau konfessioneller Gegensätze.26 Anstatt den religiös-konfessionellen Ausgleich zu suchen, grenzten sich Teile der Gesellschaft nun vermehrt von anderen Glaubensrichtungen ab und artikulierten, angeführt von den jeweiligen Befürwortern dieser Stoßrichtung aus dem protestantischen und katholischem Bildungsbürgertum, zugleich eine gesteigerte Hochschätzung der eigenen Konfession. So gab es auch in Thüringen während des Reformationsjubiläums von 1817– trotz der fürstlichen Anordnungen zur Zurückhaltung – ebenso die Stimmen, die sich in besonderer Weise gegen die katholische Kirche richteten, wobei nicht nur die vorreformatorischen Zustände, sondern vor allem die aktuelle Entwicklung der römischen Kurie scharf angeprangert wurde. Prominentester Vertreter aus der Reihe dieser Kritiker war Karl Gottlieb Bretschneider,27 der von 1816 bis 1848 das Amt des Gothaer Generalsuperintendenten ausübte. Dieser hielt am ersten Tag der Reformationsfeierlichkeiten in der Kirche des ehemaligen Augustinerklosters in Gotha eine Predigt, die durchaus die Funktion einer zentralen Hauptpredigt für das gesamte Herzogtum erfüllte und deren Inhalt als programmatische Kernaussage der sachsengothaischen Landeskirche betrachtet werden kann.28 Die Predigt war in zwei 26 Zur Entwicklung der religiösen Strömungen und kirchlichen Strukturen in Deutschland nach 1815 vgl. Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1994, S. 403–451; HAHN/BERDING, Reform (wie Anm. 25), S. 393–413. 27 Zur Biographie Bretschneiders vgl. Heinz-Horst SCHREY, Bretschneider, Karl Gottlieb, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 603; Axel LANGE, Von der fortschreitenden Freiheit eines Christenmenschen. Glaube und moderne Welt bei Karl Gottlieb Bretschneider (Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, 15), Frankfurt am Main u.a. 1994, S. 9–33. 28 Zum Reformationsjubiläum von 1817 in Sachsen-Gotha-Altenburg vgl. auch Georg WITZMANN, Die Reformationsjubelfeiern im Herzogtum Gotha in den Jahren 1617, 1717 und 1817, in: Mitteilungen der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung (1917/18), S. 1–30, hier bes. S. 16–25. Nach Witzmann standen die Reformationsfeierlichkeiten im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg sowie die Predigten, die anlässlich dieses Ereignisses gehalten wurden, ganz Sinne der Aufklärung und des Rationalismus. Allerdings unterscheidet er bei den geistlichen Festrednern zwischen einer „älteren“ und einer „jüngeren“ Generation. In den Reden der älteren Generation erkennt Witzmann ein größeres Bedürfnis zum konfessionellen Ausgleich. Als Beispiel nennt er Johann Adolph Jacobi, Oberpfarrer und Superintendent in Waltershausen, dem er „die zarteste Rücksichtnahme auf die Katholiken“ attestiert, „die soweit geht, daß in den Predigten sogar der Name Luther vermieden wird“ (S. 20). Die jüngere Generation sieht Witzmann hingegen von diesem Grundsatz langsam abweichend. Als Beispiel führt er Bretschneider an, der „das Gefühl [hatte], daß die römische Kirche in ihren Grundsätzen und Forderungen sich nicht geändert habe“ (S. 21). Zur Bretschneiders Reformationsverständnis siehe auch den Beitrag von Johannes ROTH in diesem Band, hier bes. S. 98–103.

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Teile untergliedert, wobei der erste Teil die Errungenschaften der Reformation und die Vorteile der evangelischen Kirche gegenüber der katholische Kirche hervorhob, während der zweite Teil dem Schutz der evangelischen Kirche vor äußeren Feinden gewidmet war. Dass eine Gefahr durch die katholische Kirche drohe, dessen war sich Bretschneider sicher. In seiner Predigt mahnte er deshalb eindringlich, „für die äußere Sicherheit und Unabhängigkeit unserer Kirche [zu] sorgen“. Ebenso führte er aus, weshalb es seiner Meinung nach notwendig sei, sich vor den jüngsten negativen Entwicklungen innerhalb der katholischen Kirche in Acht zu nehmen: Die evangelische Kirche ist auch etwas Sichtbares, eine durch Grundsätze, Gesetze und Verfassung vereinigte äußerliche Gemeinde, eine öffentlich anerkannte Religionsgesellschaft mit bestimmten Rechten. Mit ihr und in ihr besteht der Grundsatz der Glaubensfreiheit; […] sie gebraucht, sie beschützt die Glaubensfreiheit, und gewährt sie allen ihren Mitgliedern. Je größer aber der Werth dieser Freiheit ist, desto wichtiger muß es seyn, die evangelische Kirche […] und ihre Unabhängigkeit von äußerlicher Macht zu sichern. Diese Fürsorge für die äußerliche Freiheit unsrer Kirche ist deßwegen auch jetzt nach dreihundert Jahren nicht überflüssig, da es unsrer Kirche und der ihr bestehenden Glaubensfreiheit immer noch nicht an äußerlichen Feinden fehlt. Zwar hat der Geist einer bessern Zeit, den die Reformation so kräftig anregte, auch seinen wohlthätigen Einfluß auf katholische Fürsten und Völker geäußert, sie der Glaubensfreiheit geneigt gemacht […]. Dieses müssen wir mit Dank und Freude erkennen, solchen Gesinnungen mit brüderlicher Gegenliebe und mit Vertrauen entgegen kommen. Aber noch dauern jene Grundsätze des Glaubenszwangs, wenigstens der öffentlichen Lehre fort; noch ist die Priestermacht, welche einst die Welt in so harte Fesseln schlug, vorhanden, wirksam und mächtig; noch hat sie die evangelische Kirche als Kirche öffentlich anerkannt; […] noch hat sie sich ihrer vermeintlichen Rechte über uns vorbehalten, noch es nicht an Versuchen fehlen lassen, ihre vorige Gewalt über evangelische Völker wiederzuerlangen; noch wird die evangelische Kirche vom Oberhaupte jener Priestergewalt jährlich feierlich verdammt, und nur jetzt hat man denjenigen geistlichen Orden, dessen besondre Bestimmung es ist, an der Auflösung der evangelischen Kirche und der Zerstörung der Glaubensfreiheit zu arbeiten, den Orden der Jesuiten wiederhergestellt; nur jetzt den Versuch gemacht, jene schrecklichen Glaubensgerichte, die Inquisition wieder einzuführen. So wenig aber auch bei der jetzigen politischen Lage der Welt und dem Stande der Wissenschaften und der Cultur von jenen Versuchen für die äußerliche Sicherheit der evangelischen Kirche zu fürchten seyn mag; so erinnern sie uns doch daran, diese Versuche, daß unsre Widersacher mit uns noch nicht versöhnt sind, daß sie noch nicht schlafen, daß also auch unsre Fürsorge für die Erhaltung der äußerlichen Freiheit unsrer Kirche, mit welcher die Freiheit des Glaubens so innig verbunden ist, noch nicht überflüssig geworden ist.29

29 Karl Gottfried BRETSCHNEIDER, Casualpredigten und Reden bei besonderen Vorfällen und Veranlassungen in der Kirche und im Staate während einer siebenundzwanzigsten Amtsführung gehalten, Gotha: Beckersche Buchhandlung 1834, S. 122–124.

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Bretschneider unterstellte also der katholischen Kirche, in dem er etwa auf die Wiederherstellung des Jesuitenordens verwies, eine rückwärtsgerichtete Entwicklung, die offensichtlich gegen die evangelische Kirche gerichtet sei und der demnach von protestantischer Seite unbedingt entgegengewirkt werden müsse – eine Grundposition, an der Bretschneider bis zu seinem Tode 1848 konstant festhielt. Derselben Ansicht wie Bretschneider war auch Johann Friedrich Röhr,30 der von 1820 bis 1848 Generalsuperintendent und Oberhofprediger in Weimar war. Wie Bretschneider war auch Röhr ein entschiedener Verfechter des theologischen Rationalismus,31 der den Protestantismus vor allem als eine christliche Vernunftreligion auffasste.32 Beide Männer trugen ihre Positionen in umfangreichem Maße – durch zahlreiche Predigten und Publikationen – in die Öffentlichkeit. Stellung wurde dabei nicht nur gegen den vermeintlich immer konservativer ausgerichteten Katholizismus bezogen, sondern auch gegen andere religiöse Strömungen wie den Mystizismus und gegen protestantische Reformbewegungen wie den Pietismus oder die Erweckungsbewegung. Während der Katholizismus in der Regel mit dem Begriff des „Aberglaubens“ oder des „Unglaubens“ versehen wurde, fielen die vermeintlich irrational ausgerichteten

30 Zur Biographie Röhrs vgl. Gustav FRANK, Röhr, Johann Friedrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 30, Leipzig 1890, S. 92–94; Susanne SEIBERT, Röhr, Johann Friedrich, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 8, Herzberg 1994, Sp. 509– 512. Zur Röhrs ablehnender Haltung gegenüber der römisch-katholischen Kirche siehe vor allem dessen kompakt zusammengefasste Argumentation im Nachwort der in mehreren Auflagen zum Druck gebrachten „Predigt am Reformations-Feste 1838“. Johann Friedrich RÖHR, Predigt am Reformations-Feste 1838 in der Haupt- und Stadtkirche zu Weimar gehalten. Mit einem Nachwort, Weimar: Wilhelm Hoffmann 91839, S. 17–20. 31 Vgl. Erhardt HANSCHE, Johann Friedrich Röhr (1777–1848) und der theologische Rationalismus, Berlin 42011; DERS., D. Johann Friedrich Röhr. Ein Streiter für evangelische Wahrheit und einen vernunftgemäßen, tätigen Glauben; eine Würdigung zum 150. Todestag, Berlin 31999 [verkürzte Fassung der 4. Aufl. von 2011], S. 5–37. Seine Vorstellungen zum populären Rationalismus hatte Röhr im Jahr 1813 anonym in einer Programmschrift festgehalten. Vgl. hierzu Johann Friedrich RÖHR, Briefe über den Rationalismus, hg. und eingeleitet von Wolfgang Erich MÜLLER (Wissen und Kritik. Texte und Beiträge zur Methodologie des historischen und theologischen Denkens seit der Aufklärung, 8), Waltrop 1997. Zum Religions- und Theologieverständnis Bretschneiders vgl. außerdem Manfred BAUMMOTTE, Liberaler Spätrationalismus. Karl Gottlieb Bretschneider, in: Friedrich Wilhelm GRAF (Hg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1: Aufklärung, Idealismus, Vormärz, Gütersloh 1990, S. 202–232; LANGE, Von der fortschreitenden Freiheit (wie Anm. 27). 32 Zu den Positionen des theologischen Rationalismus vgl. Falk WAGNER, Rationalismus II. Theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28, Berlin/New York 1997, S. 170– 178.

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protestantischen Bewegungen aber eher unter den Begriff der „Schwärmerei“.33 Nicht selten war die Polemik gegen den Mystizismus und den Pietismus sogar schärfer als gegen den Katholizismus. Mit ihren Schriften, Reden und Predigten avancierten Bretschneider und Röhr in der Vormärzzeit schließlich zu den beiden wichtigsten Wortführern des theologischen Rationalismus im Thüringer Raum. Ihr Einfluss auf die Gesinnung bzw. Religionsauffassung der in Thüringen wirkenden Pfarrer war dementsprechend hoch. Viele Pfarrer, auch jene, die sich in der Volksaufklärung engagierten, nahmen die Haltung der beiden Generalsuperintendenten an und plädierten ebenfalls für einen auf der Vernunft basierenden Protestantismus. Anderen Glaubensrichtungen, die diesem Prinzip nicht folgen wollten, unterstellte man oftmals eine aufklärungsfeindliche Tendenz. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Katholizismus bzw. der Institution der römisch-katholischen Kirche blieb aber bis in die 1830er Jahre eher die Ausnahme. Während für Bretschneider und Röhr schon das Reformationsjahr 1817 in gewisser Weise den Auftakt der breit angelegten öffentlichen Kritik an der katholischen Kirche darstellt, folgte man zumindest in der volksaufklärerischer Publizistik diesem Trend noch nicht. Erst als sich der ultramontane Katholizismus in den 1820er und 1830er Jahren unter Papst Leo XII. und Papst Gregor XVI. immer stärker ausbreitete und feste politische und gesellschaftliche Konturen annahm,34 wurden nun auch in der volksaufklärerischen Publizistik die Stimmen gegen die katholische Kirche immer lauter. Auch Dorfpfarrer, die schriftstellerisch produktiv waren, wie zum Beispiel Heinrich Schwerdt aus Neukirchen bei Eisenach oder Theodor Wohlfarth aus Kirchhasel bei Rudolstadt, prangerten in Einzelschriften sowie in Zeitschriften- und Zeitungsartikeln den Katholizismus an.35

33 Der Begriff der „Schwärmerei“ etablierte sich als Kampfbegriff für vermeintlich irrationale und unvernünftige Religionsvorstellungen bereits im späten 18. Jahrhundert. Zur Diffamierung jener Religionsmodelle, die ihrer Meinung nach auf unvernünftigen Prinzipien beruhten, verwendeten die Vertreter des theologischen Rationalismus den Schwärmereibegriff bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Zur Entstehung des Gegensatzes von Rationalismus und Schwärmerei vgl. grundlegend Anne CONRAD, Rationalismus und Schwärmerei. Studien zur Religiosität und Sinndeutung in der Spätaufklärung (Religionsgeschichtliche Studien, 1), Hamburg 2008. 34 Zur Entwicklung des politischen Katholizismus von 1815 bis 1848 im Deutschen Bund vgl. Karl Egon LÖNNE, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1986, S. 51–85. 35 Vgl. hierzu Alexander KRÜNES, Luther als Vorkämpfer der Aufklärung? Die Reformation als Bestandteil volksaufklärerischer Publizistik in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 65 (2011), S. 157–180.

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Dabei ist allerdings festzuhalten, dass sich die Kritik in erster Linie gegen die katholische Amtskirche bzw. die als zunehmend reaktionär wahrgenommene Kirchenpolitik der römischen Kurie gerichtet hat. Am Katholizismus selbst, also an der praktischen Ausübung der katholischen Religion, wurde kaum Kritik geübt. Während etwa im 16. Jahrhundert die Auslegung des Abendmahls zu den zentralen Streitpunkten zwischen Katholiken und Protestanten gehörte, findet sich im 19. Jahrhundert diesbezüglich nichts. Eine generelle Kritik an der religiösen Ausrichtung des Katholizismus – in Verbindung mit dem Wort „Aberglauben“ – wurde streng genommen nur an der immer noch bestehenden Praktik der Wallfahrten und der damit oftmals verbundenen Reliquienverehrung geäußert. Ebenso muss konstatiert werden, dass die thüringischen Volksaufklärer, und sei es nur in einem Nebensatz, stets zur Verständigung zwischen Protestanten und Katholiken aufgerufen haben. Die grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit katholischen Mitbürgern, vor allem jenen, die sich den Idealen der Aufklärung verpflichtet fühlten, wurde nur selten in Frage gestellt. Vielleicht gerade als Reaktion auf den Ultramontanismus finden sich in den volksaufklärerischen Blättern Thüringens bis in die 1830er Jahre hinein viele kleinere Artikel, in welchen, basierend auf realen Ereignissen in ganz Deutschland, die Zusammenarbeit von Katholiken und Protestanten besonders gewürdigt wurde.36 Die Vorbildwirkung aufklärerisch denkender katholischer Pfarrer für protestantische Gläubige wurde in der Publizistik ebenso bis in die 1830er Jahre hinein immer wieder hervorgehoben. 36 So würdigte zum Beispiel in einem Artikel in der Dorfzeitung (Ein Zeugnis, das beide Theile ehrt, in: Dorfzeitung, Nr. 7 vom 20. Januar 1827, S. 25) ein protestantischer Pfarrer aus Sachsen-Meiningen den im bayerischen Bundorf verstorbenen katholischen Pfarrer Valentin Fries in überschwänglichen Tönen. Für ihn war Fries „ausgezeichnet durch Gabe des Geistes und Gemüths, durch Wissenschaft und würdigen [Lebens] Wandel, […] ohne Vorurtheil und Leidenschaft; wohlwollend schlug sein Herz für Alle, […] er war der wohlmeinendste Rathgeber, war in vielen Stunden geistiger Ermattung mein Trost, in allen Fällen mein redlicher theilnehmender Freund“. Der Artikel endet mit dem Satz: „Ich segne das Ende des Ehrwürdigen, […] ich sehe ihm mit Dank und Liebe nach und freue mich der Hoffnung, ihm […] auch droben wieder zu sehen.“ Zum Teil wurden auch katholische Pfarrer aus Regionen in Deutschland gewürdigt, die nicht unmittelbar an Thüringen grenzten. In einem Beitrag (Welthändel, in: Dorfzeitung, Nr. 239 vom 2. Dezember 1835, S. 953) wurde zum Beipsiel das Verhalten der protestantischen Gemeinde Wimpfen im Großherzogtum Baden gegenüber ihrem katholischen Pfarrer names Grimm besonders gelobt. Als dieser nach Mainz abberufen wurde, schenkten ihm als Beweis der Freundschaft und als Anerkennung für dessen Arbeit „die beiden protestantischen Pfarrer, der protestantische Bürgermeister und die sämmtlichen protestantischen Beamten des Ortes“ einen silbernen Leuchter als Symbol ihrer „brüderlichen Vereinigung“.

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Dass die Kritik der thüringischen Volksaufklärer am Katholizismus bis in die frühen 1840er Jahre relativ moderat war, zeigt ein Blick in deren monographischen Darstellungen. Untersucht man jene Bücher, die von der Reformation oder den Reformatoren handeln, und die nicht nur an die Gebildeten, sondern auch an das Volk und/oder die Jugend adressiert waren, wie zum Beispiel Ludwig Nonnes „Reformationsbüchlein“,37 und von den Verfassern zum Teil auch als Lehrbücher anempfohlen wurden, dann findet man nur selten Textstellen, die einen direkten Konfrontationskurs zum Katholizismus einschlagen. Exemplarisch sei hier das 50-seitige Büchlein „Die Einführung der Reformation Luthers in den Schwarzburgischen Landen“ genannt, das von Friedrich Apfelstedt, einem Hauslehrer in der Kleinstadt Ebeleben im Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen, im Jahr 1841 anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Einführung der Reformation im Fürstentum Schwarzburg für „alle Bewohner des Landes“ verfasst wurde. Apfelstedt, der in den 1830er Jahren Theologie in Jena studiert hatte, zeichnet an mehreren Stellen ein düsteres Bild der vorreformatorischen Zustände, die durch die Reformation, insbesondere durch das Handeln Martin Luthers, überwunden werden konnten. So heißt es an einer Stelle: Wenn gleich das Joch des Irrthums und des Aberglaubens wie mit eiserner Gewalt die Geister des Menschen beherrschte, wenn gleich tausendfache Mißbräuche alles durch die Lehre Jesu gestiftete Gute spurlos zu vernichten drohten und eine tiefe, finstere Nacht wie für ewige Zeiten auf das Menschengeschlecht gelagert zu haben schien, so konnte dennoch die ehr= und habsüchtige, gewissenlose katholische Priesterschaft trotz Bann und Fluch es nicht verhindern, daß die Idee der Wahrheit in so manchem Herzen auftauchte und fortlebte, ja gerade das geflissentliche Unterdrücken der gesunden Geisteskraft, die blutige Verfolgung derer, die Wahrheit und Klarheit zu verbreiten suchten, weckte allmählig immer Mehrere aus ihrem Schlummer und entzündete in ihren Herzen mächtige Funken, so daß es nur einer lebendigen Anregung, eines anfachenden, die einzelnen Funken zu einer Flamme vereinigenden Geistes bedurfte, um allenthalben die Feuer der Geistesfreiheit auflodern zu sehen. Und dieser Geist erschien in dem schlichten, aber mit Feuereifer beseelten Martin Luther, […] der, obwohl er nichts weniger als einen Bruch mit dem Papste und der katholischen Kirche beabsichtigte, dennoch der Held wurde, welcher der deutschen Kirche Wahrheit und Freiheit erkämpfte, indem er das Joch der Priesterdespotie zerbrach.38

37 Vgl. Ludwig NONNE, Das Reformationsbüchlein. Eine Erzählung für Kinder, Hildburghausen: Kesselring 1817; 21818. Eine dritte, erweiterte Auflage des Buches erschien 1832, kurz nach dem 300-jährigen Jubiläum der Augsburger Konfession. Siehe hierzu auch den Beitrag von Johannes ROTH (hier bes. Kap. 3) in diesem Band. 38 Friedrich APFELSTEDT, Die Einführung der Reformation Luthers in den schwarzburgischen Landen mit Andeutungen christlicher Anfänge daselbst, Sondershausen 1841, S. 26.

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Für Apfelstedt war also das unter der Herrschaft der Päpste errichtete und vom katholischen Klerus am Leben gehaltene despotische System die Wurzel allen Übels. Eine Stelle, dass dieses Übel auch der gegenwärtigen katholischen Kirche noch innewohne, findet sich in dem Büchlein aber nirgends. Auch im Schlusswort merkte Apfelstedt nur an, dass die Geistesfreiheit mit allen Mitteln zu beschützen sei und sich jeder Mensch ihrer bedienen solle – konkret von ihm auf folgende Formel heruntergebrochen: Forschen – Prüfen – Verbessern.39 Auf Polemik gegen die zeitgenössische Politik des Vatikans verzichtete er. Mit Blick auf den Pietismus und den Mystizismus warnte er auf den letzten drei Seiten einzig vor den immer zahlreicher werdenden „Frömmlern“ und „Schwärmern“. Auch in den größeren universell ausgerichteten volksaufklärerischen Einzelschriften, die nach 1830 in Thüringen erschienen sind und deren inhaltliche und stilistische Ausrichtung in der Tradition von Rudolf Zacharias Beckers „Nothund Hülfsbüchlein“ stand, wurde komplett auf Polemik gegen die katholische Kirche verzichtet. In fast allen Werken finden sich nur Hinweise, die die besondere Bedeutung der Religion für die sittlich-moralische Erziehung des Menschen hervorheben. Selbst Verweise auf Luther oder die Reformation wurden sehr spärlich verwendet. In dem von Friedrich Johannes Frommann im Jahr 1832 in Jena herausgegebenen Buch „Conrad Berger, der ehrenwerthe Landmann. Ein unterhaltsames und belehrendes Lesebuch für die lieben Landleute“ heißt es zum Beispiel nur: Religion ist das Edelste für den Menschen. Ohne sie verliert er Halt und Richtung; mit ihr kommt er glücklich durch Luft und Leid. An ihr soll er sich aufrichten von der Erde zum Himmel. Ein Mensch ohne Religion […] ist doch ein armer, verlassener Mensch, den ein Lufthauch unglücklich machen kann.40

Die Frage nach der „richtigen“ Konfession wurde nicht thematisiert.41 39 Ebd., S. 47. 40 Conrad Berger, der ehrenwerthe Landmann. Ein unterhaltsames und belehrendes Lesebuch für die lieben Landleute, Jena: Friedrich Frommann 1832, S. 87. Bei der Schrift handelt es sich um eine fortlaufende moralische Erzählung über die Erlebnisse des fiktiven Bauern Konrad Berger, die zunächst über 38 Ausgaben hinweg in dem von Friedrich Johannes Frommann herausgegeben Wochenblatt „Thüringer Volksfreund“ (3. Jg., 1831) veröffentlicht wurde. Sie war ganz im Stil von Beckers „Noth= und Hülfsbüchlein“ gehalten und diente vor allem der Vermittlung bürgerlicher Werte sowie der sittlich-moralischen Erziehung des Landmannes. Ebenso wurden aktuelle Rechtsfragen thematisiert, die unmittelbaren Einfluss auf die Lebensgestaltung der einfachen Landbevölkerung hatten. Im Jahr 1832 verlegte Frommann die Erzählung in erweiterter Form auch als Einzelschrift. 41 Meist wurde nur allgemein formuliert, dass die christliche Religion das Fundament für Sittlichkeit und Moral sei. In diesem Zusammenhang wurden die Leser, so auch in der

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Im Großen und Ganzen erfolgte also in der volksaufklärerischen Literatur und Publizistik Thüringens bis in die 1840er Jahre keine pauschale Kritik am Katholizismus. Eine bewusste Grenzziehung zwischen Katholiken und Protestanten ist für die Mehrheit der thüringischen Volksaufklärer nicht nachweisbar. Wenn öffentliche Kritik am gegenwärtigen Katholizismus geübt würde, dann äußerte die überwiegende Mehrheit der thüringischen Volksaufklärer dies bis zur Mitte der 1840er Jahre fast ausschließlich in den periodisch erscheinenden Wochenblättern. Auf Konfrontationskurs wurde dabei nur zu jenen Katholiken gegangen, die konservative und reaktionäre Positionen vertraten – dann zum Teil aber auch mit deutlichem Nachdruck. Solange am Prinzip des „vernünftigen Glaubens“ festgehalten wurde, stand bis in die 1840er Jahre hinein der Ausgleich mit den Katholiken im Vordergrund. Dies änderte sich allerdings schlagartig in den Jahren 1844/45. Nachdem Johannes Ronge für seinen Protest an der Wallfahrt zur Reliquie des „Heiligen Rockes“ im Trierer Dom vom Papst exkommuniziert wurde,42 betrachten die thüringischen Volksaufklärer die katholische Kirche als reaktionäres Bollwerk. Auf breiter publizistischer Ebene wurde dem katholischen Klerus nun unterstellt, er würde gezielt den laufenden religiösen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozess blockieren. Ebenso wurde behauptet, dass die meisten katholischen Organisationen vom Vatikan gesteuerte Marionetten seien, einzig dem Ziel verpflichtet, längst abgeschaffte, tradierte Glaubensvorstellungen wieder in die Gesellschaft zu tragen. Der Argumentationslinie von Bretschneider und Röhr folgend – Bretschneider hatte 1844 passenderweise in seinem Werk „Die deutsche Reformation der Kirche, nach ihrem Wesen und ihrem Werthe“ seinen antikatholischen Standpunkt noch einmal auf das Ausführlichste dargelegt43 –, wurde die römisch-katholische Kirche einer antiliberalen, intoleranten Erzählung über Konrad Berger (ebd., S. 91 f.), stets zur Lektüre der Bibel aufgerufen. Ob mit solchen Aussagen auch eine indirekte Kritik am bestehenden Bibelleseverbot für katholische Laien geübt wurde, lässt sich nicht beantworten, ist aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen, zumal dem „gemeinen Mann“ seit Beginn des 19. Jahrhunderts das Bibellesen auch von katholischer Seite immer offener zugestanden wurde. Vgl. hierzu Ines WEBER, Bibellesen im Katholizismus zwischen 1800 und 1830. Katholische Aufklärung als „Ent-Entmündigung“ (J. Wertheimer), in: Andreas MERKT/Günther WASSILOWSKY/Georg WURST (Hg.), Reformen in der Kirche. Historische Perspektiven (Questiones Disputatae, 260), Freiburg im Breisgau 2014, S. 186–205. 42 Zur Trierer Wallfahrt vgl. grundlegend Wolfgang SCHIEDER, Religion und Revolution. Die Trierer Wallfahrt von 1844, Vierow bei Greifswald 1996. 43 Vgl. Karl Gottlieb BRETSCHNEIDER, Die deutsche Reformation der Kirche, nach ihrem Wesen und ihrem Werthe historisch dargestellt, Leipzig: Reclam 1844. Im Vorwort wird die Stoßrichtung des Buches bereits deutlich: „Daß es nicht überflüssig sei für unsere Zeit, das Wesen, den Werth und die Verdienste der großen Kirchenverbesserung, welche vor 300 Jahren durch Luther in Deutschland entstand, in helles Licht zu setzen, darüber

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und gegenaufklärerischen Politik beschuldigt. Den deutschen Katholiken wurde geraten, sich von der päpstlichen Autorität loszusagen und eine eigenständige katholische Kirche zu gründen. Wer diesem Aufruf nicht folgen wollte, dem bezichtigte man zumindest indirekt ein Anhänger des ultramontanen Lagers zu sein. Das „Allgemeine Volksblatt der Deutschen“, ein kleines volksaufklärerisches Blatt, das von 1844 bis 1846 von Heinrich Schwerdt und Carl von Paffenrath in der im Herzogtum Sachsen-Meiningen gelegenen Stadt Saalfeld herausgegeben wurde, brachte die Meinung der meisten thüringischen Volksaufklärer mit folgendem Satz treffend auf den Punkt: „Hie und da im deutschen Vaterlande giebt es noch redliche und aufgeklärte katholische Priester, welche das Gute wollen und vollbringen, das Böse aber von Herzen verabscheuen; doch zu viele sind es nicht.“44 Als schließlich der katholische Priester Johannes Ronge die Bewegung des „Deutschkatholizismus“ ins Leben rief,45 sahen sich viele thüringische Volksaufklärer bestätigt. So wurde dann auch der Besuch Ronges in Weimar im November 1845 überschwänglich gefeiert.46 Sowohl in Einzelschriften als auch kann kein Zweifel, obwalten. Sehen wir doch, wie man jetzt alte und neue Anklagen gegen die Reformation vorbringt, und ihr allen Werth abzusprechen, ja sie als das Nachtheiligste darzustellen sucht, was sich seit drei Jahrhunderten ereignet habe. Hat man ihr doch sogar Schuld gegeben, sie habe den revolutionären Geist in Europa geweckt, die Ehrfurcht vor dem Heiligen erschüttert, die wohlthätige Macht der Hierarchie gebrochen, die Einheit Deutschlands zerrissen, die Auctoritäten geschwächt, die Ehrfurcht vor den Thronen untergraben, den Geist des Kritisirens und Zweifelns geweckt, Secten gestiftet, und auch in politischen Dingen den Geist der Ungebundenheit und Widersetzlichkeit aufgeregt. Ist es doch den wiederhergestellten Jesuiten, denen, die im geistlichen Ornate, und denen, die im bürgerlichen Frackrock erscheinen, gelungen, solche Anschuldigungen der Reformation besonders unter den hohen Ständen zu verbreiten, und fehlt es doch endlich nicht an Protestanten, welche es fast bedauern, daß es eine Reformation gegeben habe, und meinen, es sei doch am Ende besser, wenn sich alles wieder dem heiligen Stuhle zu Rom unterwürfe, indem dann nur desto mehr Einheit, desto weniger Meinungskrieg, desto größere Leichtigkeit zu regieren, desto willigere Folgsamkeit des Volks und desto größere Sicherheit der Throne vorhanden sein würde.“ (ebd., S. III f.). Bezüglich der gegenwärtigen katholischen Kirche weist Bretschneider zwei Seiten später auch darauf hin, dass „nun gezeigt werden [muss], daß Geist und Grundsätze der Papstmonarchie seit der Reformation sich nicht im Geringsten geändert haben, sondern ganz dieselben geblieben und bei jeder Gelegenheit geltend gemacht worden sind“ (ebd., S. V). 44 Bemerkungen eines deutschen toleranten Patrioten, in: Allgemeines Volksblatt der Deutschen, Nr. 26 vom 29. Oktober 1844, S. 205. 45 Zum Deutschlandkatholizismus vgl. Friedrich Wilhelm GRAF, Die Politisierung des religiösen Bewußtseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz: Das Beispiel des Deutschkatholizismus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978. 46 Der Besuch Ronges in Weimar wurde in Berichtform in mehreren Schriften festgehalten. Vgl. u. a. Franz SCHUSELKA, Ronge in Weimar den 14., 15. und 16. November 1845.

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in Zeitungen und Wochenblättern wurde Ronge als „zweiter Luther“ und als „Reformator des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet. Vor allem aber wurde das Treffen zwischen Ronge und Röhr in Weimar als erster Schritt einer zwingend notwendig zu realisierenden deutschen Nationalkirche interpretiert, in der alle deutschen Protestanten und Katholiken unter einem Dach vereinigt werden sollten. Die Abspaltung der deutschen Katholiken von Rom galt Vielen nun als unausweichlich, wollte man die gegenaufklärerische Politik der römischen Kurie dauerhaft unterbinden.47 Dabei macht die Forderung nach einer deutschen Nationalkirche zugleich deutlich, wie stark die Debatte um den „richtigen“ Katholizismus in der Mitte der 1840er Jahre auf einmal politisch aufgeladen war. Es ging nicht mehr allein um den Erhalt der sogenannten Denk- und Glaubensfreiheit und die Zurückdrängung des Aberglaubens, sondern fast noch stärker um die Verteidigung bestimmter Rechte, die sich das Bürgertum im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts erkämpft hatte. Unter Benutzung des Begriffs der „bürgerlichen Freiheit“ wurde der römisch-katholischen Kirche unter anderem unterstellt, sie wolle die Religions- und Meinungsfreiheit zerstören, die Mischehen verbieten, die alte Ständegesellschaft restaurieren, die Leibeigenschaft wieder einführen und die Verfassungsentwicklung seit 1815 rückgängig machen. Eine regelrechte Paranoia entwickelte man dabei gegen den Orden der Jesuiten. Als päpstliche Geheimorganisation diffamiert, unterstellte man den Jesuiten, sie würden sich wie der „Wolf im Schafspelz“48 in die Fürstenhäuser und Staatsregierungen Gedächtnißblätter, Weimar: Hoffmann 1845; Friedrich Traugott KRAUSE, Frommes Andenken an Johannes Ronge in Weimar. Eine Nachmittagsbetrachtung gehalten am 26. Sonntage nach Trinitatis in der Haupt- und Stadt-Kirche zu Weimar, Weimar: Hoffmann 1845. 47 Neben Karl Gottlieb Bretschneider (Für die Deutsch-Katholiken. Ein Votum, Jena: Friedrich Frommann, 1845) und Johann Friedrich Röhr (Die gute Sache des DeutschKatholicismus. Ein Zeugniß für dieselbe, Weimar: Hoffmann 1846) publizierten auch andere thüringische Pfarrer ihren Standpunkt zum Deutschkatholizismus und plädierten für die Gründung einer deutschen Nationalkirche. Theodor Wohlfarth, Pfarrer des bei Rudolstadt gelegenen Dorfes Kirchhasel, bereitete die Thematik, dabei in den wesentlichen Punkten Bretschneider und Röhr folgend, im umfangreichen Maße auch für die breite Öffentlichkeit auf. Vgl. Johann Friedrich Theodor WOHLFARTH, Das katholische Deutschland frei von Rom! Oder: Was ist nach den neuesten Vorfällen zu hoffen für ein einiges christliches Deutschland, Weimar: Voigt 1845. Vgl. außerdem KRÜNES, Luther als Vorkämpfer (wie Anm. 35), S. 172–175. 48 Um den vermeintlich antiliberalen und gegenaufklärerischen Charakter des Jesuitenordens zu beschreiben, griff man in der volksaufklärerischen Publizistik häufig auf die Bezeichnung „Wolf im Schafspelz“ zurück. Im „Allgemeinen Volksblatt der Deutschen“ (Nr. 40, 1846, S. 315) heißt es beispielsweise, dass jeder Jesuit „ein Mensch [ist], dessen Gesicht das Gegentheil dessen sagt was er denkt, der hinterlistig, verschlagen und ver-

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schleichen, um dort von innen heraus die Errungenschaften der Aufklärung und des Liberalismus wieder zu beseitigen. Relativ oberflächlich und unreflektiert wurde das gegenwärtige System der römisch-katholischen Kirche als „Finsternis“ und „Despotismus“ oder einfach nur als „dunkles Mittelalter“ umschrieben. Trotz dieser nun offensiv geäußerten Abgrenzung gegenüber der katholischen Kirche fehlte es dennoch nicht gänzlich an Aussöhnungsversuchen, wenngleich zu konstatieren ist, dass die Verständigung fast nur noch mit den deutschen Katholiken gesucht wurde und weniger mit der römischen Kurie. Selbst ein verbissener Kritiker wie Bretschneider meinte: Die katholischen Laien wissen es auch recht gut, daß es den Protestanten ein Ernst ist, kirchlichen Frieden zu erhalten, und daß den Katholiken in allen protestantischen Ländern gleiche Rechte eingeräumt worden sind. […] Sie werden daher gewiß geneigt sein, uns die Hand zum Frieden zu reichen […]. Sie sind auch in politischen Dingen so wohl unterrichtet, daß sie es einsehen, der Protestantismus habe seinen politischen Mittelpunkt in Deutschland, und nicht in Italien. […] Katholiken und Protestanten wollen ferner nicht ein römisches, sondern ein deutsches Reich, und sie begreifen es wohl, daß es nicht die Einheit der Confession ist, was ihnen noththut, sondern die gleiche Gerechtigkeit der beiden Confessionen gegen einander, die gegenseitige Achtung und Verträglichkeit.49

Dieses Zitat zeigt noch einmal deutlich, dass ein völliger Bruch mit den Katholiken zu keiner Zeit beabsichtigt war. Es ging, um ein abschließendes Fazit zu ziehen, seit 1815 vielmehr darum, der zunehmend konservativen Ausrichtung der römisch-katholischen Kirche entgegenzuwirken, und hier vor allem der immer stärker hervortretenden päpstlichen Autorität mit ihrem Absolutheitsanspruch. Da die Diskussionen um konfessionelle und religiöse Vorstellungen im Laufe der Vormärzzeit zunehmend auch an politische Vorstellungen geknüpft wurden, verhärteten sich allmählich die Fronten zwischen den beiden Glaubensrichtungen. Fest der Auffassung folgend, die Errungenschaften der Aufklärung wären in Gefahr, sank die Bereitschaft der in der Volksaufklärung engagierten thüringischen Pfarrer in den 1830er und 40er Jahren, die religiösen Positionen der katholischen Gegenseite zu tolerieren. Zugleich macht sich nach messen ist, der leise wie eine Katze zu schleichen weiß, aber einmal eingeschlichen den Herrn spielt, kurz – ein Jesuit ist der leibhaftige Wolf im Schafspelz“. Unter den Aufklärern war das Misstrauen gegenüber dem Jesuitenorden bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark ausgeprägt. In liberalen Kreisen wurde der Orden im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert schließlich zum Sinnbild einer offensichtlichen ultrakonservativen Haltung des päpstlichen Stuhles. Vgl. hierzu Christine VOGEL, Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758–1773). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung, Mainz 2006, S. 312– 324; Peter HARTMANN, Die Jesuiten, München 2001, S. 82 f. u. 95. 49 BRETSCHNEIDER, Die deutsche Reformation (wie Anm. 43), S. 217.

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1830 ein stärkeres Interesse bemerkbar – in gewisser Weise auch als Reaktion auf den Anstieg der katholisch-konservativen Volksblätter im süddeutschen Sprachraum –,50 die eigenen religiösen Überzeugungen nachhaltig in der Gesellschaft zu verankern. Dass die Tür für den katholischen Klerus und jene katholischen Mitbürger, die den Ideen der Aufklärung aufgeschlossen gegenüberstanden, stets offen gehalten wurde, konnte hoffentlich gezeigt werden. Als schließlich der Deutschkatholizismus mit seiner nicht zu verleugnenden Affinität zum protestantischen Rationalismus im Grunde die Haltung der thüringischen Volksaufklärer übernahm, muss dies umso mehr als Chance wahrgenommen worden sein, den eigenen Zielen durch die Gründung einer deutschen Nationalkirche ein Stück näher zu kommen. Daher muss es auch nicht verwundern, dass dieser Weg von 1845 bis zur Revolution von 1848 massiv propagiert wurde. Welche langfristigen Auswirkungen diese Form der religiösen Volksaufklärung auf die Bevölkerung der thüringischen Staaten hatte, ist indes schwer abzuschätzen. Ob es im Thüringer Raum zur Herausbildung einer speziell auf die Konfession bezogenen protestantischen Identität gekommen ist und die Abgrenzung zu anderen religiösen Strömungen an Intensität zugenommen hat, lässt sich derzeit noch nicht beantworten, sondern bedarf noch weiterer Untersuchungen.

50 Vgl. Bernhard SCHNEIDER, Katholiken auf die Barrikaden? Europäische Revolutionen und die deutsche katholische Presse 1815–1848, Paderborn 1998, S. 52–54.

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Luther als dämonischer Dunkelmann oder reformatorische Lichtgestalt? Das Luther-Bild in der gegenaufklärerischen und aufklärerischen oberdeutschen katholischen Kirchenpresse des ausgehenden 18. Jahrhunderts

1. Licht aus Baiern „Endlich, endlich wird es gehen! Geduld, Geduld! Die Finsterniss wird nicht ewig über das Licht siegen; im Frieden wird es heller strahlen, und aufs Neue aus Baiern sich in andere deutsche Provinzen verbreiten.“1 Mit diesem hymnischen Lob – ein wenig auch pro domo (nova) sua – verkündete die (ursprünglich) Salzburger „Oberdeutsche Allgemeine Litteraturzeitung“ (OALZ) ihre Sicht auf ihre neue Wahlheimat München. Dort erschien die OALZ seit 1800, als die Gefahr einer gewaltsamen Auflösung ihres vorherigen Erscheinungsorts in einem geistlichen Territorium, dem Erzbistum Salzburg, immer unmittelbarer gekommen schien. Bezeichnend ist, dass diese Einschätzung in einem Beitrag zu lesen war, der sich mit neuen aufklärerischen katholischen Gesangbüchern befasste, „deren Inhalt meistens auf lutherischem Grund und Boden erwachsen“2 war, was die OALZ freudig begrüßte, da so gleichsam die besten Gedanken aus beiden Konfessionen in praktische Anwendung kämen und die Katholiken auf diese Weise ebenso sinnvolle wie notwendige Anstöße zur Weiterentwicklung ihrer eigenen Gesänge erhielten. Das Augsburger „Journal der Religion, Wahrheit und Litteratur“ (JRWL) dagegen postulierte angesichts eines ähnlichen „Neue[n] Gebethbuch[s] für aufgeklärte katholische Christen“ nur ein Jahr später, dass angesichts solcher Entwicklungen demnächst vermutlich ein neuer Bittruf in der Allerheiligenlitanei zu erwarten sei: „[Heilige] Luther, und Kalvin, bittet für uns: alle Heilige und selige Gottes im Pariser Pantheon, bittet für uns!“3 Angesichts des besprochenen aufklärerischen Werks monierten die Augsburger, dass der Autor neben manchem 1 2 3

OALZ 13/2 (1800), XCI. Stück, 02.08.1800, Sp. 216–217. Ebd., Sp. 215. JRWL 5 (1801), 10. Heft (Oktober/Weinmonat), S. 598–640, hier S. 609.

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Guten das meiste „aus protestantischen Vorgängern“ genommen habe, wohingegen für die Augsburger Publizisten klar war, dass „ein katholisches Gebethbuch […] eine durchaus reine Waide darstellen“ müsse.4 Diese Zitate verdeutlichen die Spannbreite der Einschätzungen damaliger katholischer Theologen hinsichtlich der Legitimität einer theologisch-wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit den anderen Konfessionen. Die eingangs zitierten Worte der OALZ weisen darauf hin, dass die damaligen Aufklärer ihre – in ihren Augen – wohltätigen Reformgedanken als durchaus umstritten wahrnahmen, zugleich aber mit einer großen Portion Zuversicht auf das neue Jahrhundert schauten. Daneben ist zu erkennen, dass die katholischen Aufklärer keinerlei Berührungsängste hatten in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Theologen der anderen Konfessionen. Zusätzlich lässt sich dem OALZ-Zitat eine gehörige Portion Selbstvertrauen entnehmen, nämlich dass die gesamtdeutsche Aufklärungsbewegung auch vom katholischen Süden profitieren könne. Diese Sichtweise scheint überraschend angesichts des in der Forschung über Jahre gepflegten historiographischen Topos vom ‚Rückstand‘ des katholischen Reichsteils – und insbesondere der geistlichen Territorien – zum protestantischen Norden.5 Diese Einschätzung ist mittlerweile allerdings selbst zum Objekt der Historiographie geworden6 und hat sich als durchaus interessegeleitetes Klischee erwiesen.7 Das einleitende Zitat der aus einem geistlichen Territorium abstammenden OALZ macht dagegen deutlich, dass anstatt von einem rivalisierenden Gegeneinander von einer prinzipiellen Offenheit der aufklärerischen Vertreter beider Konfessionen für die jeweils andere Konfession auszugehen ist, zugespitzt formuliert könnte man angesichts dessen geradezu von einer reichsweiten „Ökumene der Aufklärer“ im ausgehenden 18. Jahrhundert sprechen.8 4 5

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Ebd., S. 598 f. Vgl. bspw. die eher kritische Bewertung bei Heinz DUCHHARDT, Die geistlichen Staaten und die Aufklärung, in: Kurt ANDERMANN (Hg.), Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches. Versuch einer Bilanz, Epfendorf 2004, S. 55–66, die der Autor allerdings nicht als Verdikt, sondern wertneutral als Befund verstand. Vgl. Sabine HOLTZ, Die geistlichen Staaten im Spiegel der Historiographie. Kontinuität und Wandel in ihrer Beurteilung, in: ANDERMANN (Hg.), Die geistlichen Staaten (wie Anm. 5), S. 31–53. Kurt ANDERMANN, Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches, in: Historische Zeitschrift 271 (2000), S. 593–619. Für die Diskussion um das nicht unumstrittene Forschungsschlagwort der „ökumenischen Aufklärung“ (Carsten ZELLE) vgl. mit Verweis auf weitere Literatur Jochen KRENZ, Konturen einer oberdeutschen kirchlichen Kommunikationslandschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 66), Bremen 2012, hier S. 30. Zum Phänomen der allmählichen Annäherung der Konfessionen im Alten Reich vgl. bspw. Harm KLUETING (Hg.), Irenik und Antikonfessionalismus im 17. und 18. Jahrhundert, Hildesheim u.a. 2003.

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Die Einwände der Augsburger Zeitschrift belegen dagegen, dass diese aufklärerisch-irenische Einstellung nicht unwidersprochen blieb. Neben dem spöttischen Ton gegenüber den Reformatoren Luther und Calvin zeigt sich auch ein polemischer Zug gegenüber der, im Pariser Pantheon verkörperten, Französischen Revolution. Die Verquickung der Gegnerschaft zu Luther und zur Französischen Revolution an dieser Textstelle ist kein Zufall, denn gerade die Ereignisse im Gefolge von 1789 trugen zu einer ganz wesentlichen Verschärfung der Debatten zwischen aufklärerischen und gegenaufklärerischen Theologen bei, die auch auf die Einschätzung der anderen Konfessionen enorme Auswirkungen hatte. Die beiden Zitate machen zugleich aber auch deutlich, dass die katholische Theologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende um 1800 kein monolithisches Gebilde darstellte, sondern sich als ein Feld erweist, auf dem ganz unterschiedliche, aber jeweils völlig legitime katholische theologische Ansätze und Strömungen miteinander um die Durchsetzung ihrer jeweiligen Sichtweise rangen. Ehe diese im Einzelnen skizziert werden können, müssen die Konturen des Untersuchungsgebietes und -korpus wenigstens umrisshaft verdeutlicht werden (2). Dem schließt sich ein kurzer Blick ins revolutionsbewegte Nachbarland Frankreich an, da die dortigen – auch kirchenpolitischen – Geschehnisse den Kampf zwischen theologischen Aufklärern und Gegenaufklärern im Alten Reich sozusagen „zum Überkochen“ brachten (3). Vor diesem geographischen wie historischen Hintergrund wird dann das unterschiedliche Luther-Verständnis katholischer Theologen vorgestellt, wie es sich in den von journalistisch tätigen Theologen publizierten Fachzeitschriften des ausgehenden 18. Jahrhunderts präsentiert hat (4).

2. Eine Vermessung der oberdeutschen Aufklärungslandschaft Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verfügte am Ende des 18. Jahrhunderts über eine der am stärksten differenzierten Presselandschaften Europas.9 Im Gegensatz zur älteren Presseforschung, die dem katholisch-süddeutschen Reichsteil sozusagen qua konfessioneller Zugehörigkeit eine grundsätzliche Abneigung gegenüber dem aufklärerischen Unternehmen Publizistik

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Vgl. für eine Übersicht mit weiteren Literaturhinweisen KRENZ, Konturen (wie Anm. 8), S. 56–64.

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unterstellte,10 ist von der jüngeren Forschung herausgearbeitet worden, dass das (katholische) Oberdeutschland selbstredend mit zahlreichen, auch von protestantischen Blättern wahrgenommenen und als bedeutsam eingeschätzten Periodika am journalistischen Aufschwung im Alten Reich mitwirkte.11 Auch die sogenannte Katholische Aufklärung hat in den letzten Jahrzehnten eine ganz entschiedene Würdigung erfahren.12 Die Forschung arbeitet inzwischen wesentlich stärker heraus, dass es nicht eine alleingültige Form der Aufklärung gab, sondern zutreffender ist, von einer Mehrzahl bzw. sogar „Vielzahl von […] ‚Aufklärungen‘ “ zu sprechen.13 Das theologische Meinungsspektrum reichte im oberdeutschen Teil des Alten Reichs von „extremen“ (bewusst in Anführungszeichen!) Aufklärern josephinischer Prägung wie z. B. in Freiburg oder Wien über die für die reichskirchliche Katholische Aufklärung repräsentativen Zeitschriften in Salzburg, Würzburg oder Mainz bis hin zu den radikalen Gegenaufklärern des (Ex-)Jesuitenkollegs St. Salvator in Augsburg bzw. nochmals Mainz. Mit dieser Nennung sind die wichtigsten theologischen Strömungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts angesprochen.14 10 Vgl. z.B. Joachim KIRCHNER, Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme, Teil 1: Von den Anfängen bis zum Zeitalter der Romantik, Wiesbaden 21958. 11 Vgl. hierzu KRENZ, Konturen (wie Anm. 8); daneben z.B. Reinhart SIEGERT, Selbsteinschätzung und Selbstbewußtsein der katholischen Aufklärung im Spiegel der „Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung“, in: Achim AURNHAMMER/Wilhelm KÜHLMANN (Hg.), Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800, Freiburg 2002, S. 99–114 oder Holger BÖNING: Vom Wert der Quellen für die Rekonstruktion historischer und publizistischer Produktion, in: Thomas RATHMANN/ Nikolaus WEGMANN (Hg.), „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, Berlin 2004, S. 167–179. 12 Vgl. KRENZ, Konturen (Anm. 8), S. 15–28 u. 28–30. 13 Dieses Fazit jüngst bei Sascha WEBER, Katholische Aufklärung? Reformpolitik in Kurmainz unter Kurfürst-Erzbischof Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim (1763– 1774), Mainz 2013, S. 17 f. 14 Die diese Strömungen repräsentierenden Periodika werden mit folgenden Kürzeln zitiert [in Klammern: Erscheinungsort und Ausrichtung: A = aufklärerisch; GA = gegenaufklärerisch; für weiterführende Informationen vgl. KRENZ, Konturen (wie Anm. 8)]: ALKD Auserlesene Litteratur des katholischen Deutschlands (Banz, A) AUN Acten, Urkunden und Nachrichten zur neuesten Kirchengeschichte (Eisenach/Weimar, GA, lutherisch-orthodox) JRWL Journal der Religion, Wahrheit und Litteratur (Augsburg, GA) KüK Kritik über gewisse Kritiker, Rezensenten, und Brochürenmacher (Augsburg, GA) MainzMon Mainzer Monat(h)schrift von geistlichen Sachen (Mainz, A) NBRKG Neueste Beyträge zur Religionslehre und Kirchengeschichte (Wien, A) NTA Neue Theologische Annalen (Rinteln/Marburg, A, reformiert) NWGA Neue Würzburger gelehrte Anzeigen (Würzburg, A)

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3. Die Französische Revolution als Brandbeschleuniger theologischer Debatten „ ‚Im Anfang war die Revolution‘ – so müßte man eine Kirchengeschichte […] [des 19. Jahrhunderts] überschreiben. Denn die Frage nach dem Verhältnis der katholischen Kirche zur Revolution durchzieht das Jahrhundert wie ein roter Faden.“15 Mit der Revolution wurde in Frankreich nicht nur politisch das Modell des Ancien Régime abgelöst, auch das überkommene Verhältnis von Staat und Kirche trat in eine neue Phase, mehr noch – es wurde grundlegend in Frage gestellt. Sämtliche theoretisch vorstellbaren Grundmodelle der Beziehung zwischen Staat und Kirche wurden in diesen wenigen Jahren (1789–1801) in Frankreich erprobt bzw. umgesetzt: Von der einheitlichen, mit dem Staat eng verwobenen Staatsreligion des „königlich-französischen“ Gallikanismus kam es nach der Errichtung einer „revolutionierten“ konstitutionellen französischen Kirche mit Bischofs- und Priesterwahlen zum kirchenfeindlichen Furor der Terreur sowie zur Trennung von Kirche und Staat (1794/1795), bis dann in einer Art „Rolle rückwärts“ unter dem Druck Napoleons mit dem Konkordat von 1801 eine noch immer sehr staatskirchlich geprägte „Kompromiss“-Lösung erzielt wurde, die erst eine gewisse Stabilisierung der äußerst wechselhaften revolutionären Ansätze erwirkte. Die Ereignisse im Nachbarland übten einen enormen (und auch langfristig spürbaren) Einfluss auf das Alte Reich aus,16 ließen sie doch den schon länger schwelenden Gegensatz zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung in einen offenen Streit ausbrechen, der sämtliche Debatten überlagerte bzw. mit zusätzOALZ PredMag

Oberdeutsche Allgemeine Litteraturzeitung (Salzburg; A) Magazin für Prediger zur Beförderung des praktischen Christenthumes und der populären Aufklärung (Würzburg, A) RelJourn Religions Journal (Mainz, GA) RintAnn Annalen der neuesten Theologischen Litteratur und Kirchengeschichte (Rinteln, A, reformiert) SalzbLit (Salzburger) Literaturzeitung vom Jahre … (Salzburg, A) WGA Wirzburger Gelehrte Anzeigen (Würzburg, A) WWA Würzburger wöchentliche Anzeigen von gelehrten und anderen gemeinnützigen Gegenständen (Würzburg, A) 15 Hubert WOLF, Der „Syllabus Errorum“ (1864). Oder: Sind katholische Kirche und Moderne unvereinbar?, in: Manfred WEITLAUFF (Hg.), Kirche im 19. Jahrhundert, Regensburg 1998, S. 115–139, hier S. 121. 16 Vgl. z.B. Klaus SCHATZ, Ekklesiologie und politische Theologie in der Französischen Revolution, in: Stimmen der Zeit. Zeitschrift für christliche Kultur 207 (1989), H. 7, S. 445–459; Karl HAUSBERGER, Reichskirche Staatskirche „Papstkirche“. Der Weg der deutschen Kirche im 19. Jahrhundert, Regensburg 2008 oder die Beiträge des Sammelbandes von Manfred WEITLAUFF (Hg.), Kirche im 19. Jahrhundert (wie Anm. 15).

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licher Schärfe versah.17 Unter diesen Vorzeichen standen nun auch alle Meinungsäußerungen über die andere Konfession.

4. Das Luther-Bild in der oberdeutschen katholischen Kirchenpresse des ausgehenden 18. Jahrhunderts 4.1. Die protestantische Wahrnehmung des Katholizismus als Hintergrund der katholischen Äußerungen Die protestantische Wahrnehmung des Katholizismus im ausgehenden 18. Jahrhundert oszillierte zwischen dem prinzipiellen Zugeständnis, dass der katholische Glaube sich mit dem Vernunftgebrauch vertrage,18 und dem mehr als einmal vorgetragenen Vorwurf, dass der römische Katholizismus freies Denken behindere.19 Die Grenze des protestantischen Verständnisses wurde dabei insbesondere durch die Rolle des Papstes bzw. allgemeiner gesagt der katholischen Hierarchie markiert. Trotz eines im Grunde irenischen Weltbildes pflegten die protestantischen Schriftsteller stereotypartig doch ihre Überzeugung herauszustellen, dass man der katholischen Seite einige Schritte voraus sei.20 Diese 17 Vgl. Jochen KRENZ, Druckerschwärze statt Schwarzpulver. Wie die Gegenaufklärung die Katholische Aufklärung nach 1789 mundtot machte. Die Perzeption der kirchenpolitischen Vorgänge der Französischen Revolution in der oberdeutschen theologischen Publizistik des Alten Reichs (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 101), Bremen 2016. 18 Vgl. exemplarisch NTA 3 (1800), 47. Stück [ohne Datum], S. 965–968, hier S. 966 über die Fortsetzung der katholischen „Brentano-Bibel“ [zu deren Rolle im aufklärerischen Diskurs mit weiteren Hinweisen vgl. KRENZ, Konturen (wie Anm. 8), S. 118–120]: „Die freye Uebersetzung sowohl als die freymüthigen Anmerkungen sind ein schöner und erfreulicher Beweis von dem liberalen Geiste, der sich gar wohl mit dem (ächten) Geiste der katholischen Kirche verträgt, welche nichts weniger, als darauf angelegt ist, den Vernunftgebrauch, und die Ausübung der natürlichen Gewissensrechte gänzlich zu unterdrücken.“ 19 Im Kontext der Konversion des ehedem protestantischen Grafen Friedrich Leopold Graf von Stolberg-Stolberg [1750–1819; vgl. hierzu Gerhard SAUDER, Stolberg, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg im Breisgau 32000, S. 1016 f.] zum Katholizismus urteilte die gleiche Zeitschrift NTA 4 (1801), 44. Stück [ohne Datum], S. 830: „Wo keine freye, nichts als Moralität und moralisches Menschenwohl achtende, Prüfung in Religionsangelegenheiten herrscht, da ist kein Protestantismus mehr; da fügt man sich der römischen inquisitorischen Kirchenpolicey, nimmt die Vernunft unter den Glauben an menschliche Auctorität gefangen und sinkt bis zum Gebetabkugeln herab.“ 20 Vgl. bspw. AUN 3 (1791/93), 2. Stück, 1791, S. 106: „Sind nicht eben deswegen, wie klar am Tage liegt, die protestantischen Landleute aufgeklärter und mehr unterrichtet, als ihre katholischen Mitbürger?“

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spezifisch protestantische Wahrnehmung der Schwesterkirche verstellte teilweise die Sicht darauf, dass sowohl evangelische wie katholische Volksaufklärer so manches Mal ihre liebe Not hatten, ihre an die Praktiken der Volksfrömmigkeit gewohnten „Schäflein“ von den „Segnungen“ der aufklärerischen Reinigung des tradierten Brauchtums zu überzeugen.21

4.2. Das irenische Ringen der Aufklärer um eine gerechte Beurteilung der katholischen Welt Angesichts solcher Diskrepanzen, die für Katholiken in den protestantischen Blättern – und dies nicht nur in Fragen der Volksfrömmigkeit, sondern auch im Bereich der Wissenschaft22 – auffällig wurden, vertraten die aufklärerischen Blätter selbstbewusst die Haltung, dass die protestantischen Vorurteile aufs Ganze gesehen nicht zuträfen.23 Selbst wenn in manchen Beiträgen zu spüren war, dass man in Einzeldisziplinen manchmal das Gefühl hatte, dem protestantischen Deutschland noch „mit großen Schritten“ nacheilen zu müssen,24 rügte die OALZ fehlerhafte protestantische Darstellungen des Katholizismus25 und forderte vehement, Aufklärer beider Konfessionen wie Gegenaufklärer beider Seiten miteinander zu vergleichen,26 anstatt den Katholizismus allein durch die gegenaufklärerische Ausprägung desselben zu definieren.27 21 Vgl. RintAnn 2 (1790), 16. Woche, S. 255 f., die Meldung aus Sachsen über die 1789 unterlassene Aufstellung eines „Christkindchens“ auf dem Altar der Kirche in Penig. Der neue Superintendent fand so viel Widerspruch, dass er die Puppe am Neujahrstage letztlich doch aufstellen musste; oder den Bericht über die mühsame Einführung eines neuen Nürnbergischen Gesangbuchs, in: RintAnn 4 (1792), 26. Woche, S. 413–415. 22 Vgl. für die Bibelexegese z.B. SalzbLit 3 (1802), Heft 4, April, S. 20–23, hier S. 21 in der Rezension von Heinrich Gottlieb ZERRENNER, Schul-Bibel, oder die heilige Schrift alten und neuen Testaments für Lehrer und Kinder in Bürger- und Landschulen; auch für andere verständige Bibelfreunde brauchbar, Halle: Gebauer 1799: „Die Protestanten haben eben keine Ursache, den katholischen Exegeten die Vulgata als eine philologische Concordienformel vorzuwerfen. Auch sie haben eine Vulgata, und werden von den Fesseln derselben vielleicht noch schwerer gedrückt, als die Katholiken von denen der ihrigen. Diese Vulgata ist Luther’s Bibel-Uebersetzung. Um einzusehen, daß diese ein wahres Joch für den größern Theil der Protestanten sey, darf man nur Zerrenner’s Vorrede lesen.“ 23 OALZ 5/1 (1792), XII. Stück, 27.01.1792, S. 183. 24 OALZ 4/2 (1791), XCIX. Stück, 22.08.1791, S. 362–365, hier S. 363 (Zitat). 25 Vgl. OALZ 7/2 (1794), LXXXVI. Stück, 21.07.1794, S. 137–144 oder OALZ 12/1 (1799), IV. Stück, 09.01.1799, S. 51: „Was doch gewisse Protestanten von den Lehren der Katholiken für widersinnige Begriffe haben!“ 26 Vgl. OALZ 4/2 (1791), XC. Stück, 01.08.1791, S. 212–220, hier die redaktionelle Anmerkung auf S. 214: „Man hat schon oft von lutherischer Seite gesagt, und geschrieben –

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Was ansonsten „ökumenische Fragen“, d. h. im damaligen Kontext vor allem die Frage der viel diskutierten und von aufklärerischer Seite viel gerühmten28 Toleranz anbelangte, so forderte diese die OALZ nach beiden Richtungen ein29 und vertrat eine wahrhaft irenische Haltung. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit protestantischen Gelehrten war für die OALZ demzufolge eine Selbstverständlichkeit. Auch in Würzburg30 und Banz kritisierte man die weiter bestehenden Vorurteile über Katholiken: „Man weiß, wie sehr gewisse Herrn die Katholiken zu den [sic!] dümmsten elendesten Hornviehe auf Gottes Erdboden herabzuse[t]zen die Gnade haben: ein Katholik hat simpliciter keine Freyheit zu denken: nur sie allein sitzen auf dem Dreyfuß und sind unfehlbare Orakelsprecher.“31 Dem ab und an in protestantischen Publikationen zu konstatierenden protestantischen Stolz, den besseren Teil erwählt zu haben, wurde von den katholischen Aufklärern also mit dem – durchaus angebrachten – Selbstbewusstsein begegnet, in der Umsetzung der Aufklärung eigene, genuin katholische Erfolge vorweisen zu können.

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Katholizismus [sic!] führe zur Intoleranz: es kann seyn, wenn man orthodoxe Bigotterie darunter versteht. Dann aber fragen wir: worin ist bigotter Katholizismus von bigottem Protestantismus verschieden? […] Nie hat sich die O.A.L.Z. eine ähnliche Unart gegen Protestanten erlaubt, nie wird sie sich dergleichen erlauben. Mögen wir immerhin in Lehrvorstellungen und Glaubensmeinungen verschieden seyn, so laßt uns doch darin einig bleiben, uns wechselseitig mit Bruderliebe zu umfaßen.“ Vgl. hierfür OALZ 5/1 (1792), XII. Stück, 27.01.1792, S. 177–184, hier S. 179: „Auch unter uns Katholiken finden sich diese zwey Parteyen von blinden System-Nachbethern, und von denkenden Selbstprüfern; auch bei uns ist die letztere neuer, und kleiner. Von beyden Seiten hätten die entsprechenden Parteyen gegeneinander gestellt werden sollen“. Vgl. z.B. die zustimmende Rezension zur dritten Auflage von Lessings „Nathan der Weise“ in OALZ 5/1 (1792), XI. Stück, 25.01.1792, S. 175 f. oder NWGA 4 (1802), Nr. 46–47, 03.07.1802, S. 374 über die Glaubensfreiheit als „Kleinod […] unter den allgemeinen Menschheitsrechten“. Vgl. z.B. OALZ 4/1 (1791), XLVI. Stück, 18.04.1791, S. 732–734. Vgl. z.B. aus den späten 1790er Jahren WWA 2 (1798), Nr. 22–23, 16.02.1798, S. 169– 179. ALKD 1 (1788), 1. Stück, S. 32.

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4.3. Das aufklärerische Luther-Lob des „historisch berechtigt agierenden“ Reformators und die gegenaufklärerische Erwiderung Trotz diesem demonstrativ vorgetragenen oberdeutschen Selbstbewusstsein angesichts der in manchen protestantischen Blättern propagierten niederdeutschen Definitionsgewalt über das vermeintlich einzig wahre Wesen der Aufklärung standen Luthers Verdienste für die katholischen Aufklärer außer Frage. Für sie war unbestritten, dass Luther für das Zustandekommen der Einsicht in die Notwendigkeit einer Reformation der verkommenen spätmittelalterlichen Kirche wesentliche Impulse gegeben hatte, die in jedem Fall auch der „alten“ Kirche gut getan hatten. So zeigte sich das Würzburger Prediger Magazin davon überzeugt, dass die Reformation manchen Dingen „Schwung und gute Wendung [gab]; daß der Forschungsgeist und die neue Bearbeitung der Wissenschaften unter beyden Partheyen rege wurden, wodurch der Verstand nicht wenig gewann“.32 Diese Einstellung kann durchaus als allgemeine Überzeugung der Katholischen Aufklärung bezeichnet werden. Eine solche Sichtweise war für die Gegenaufklärung Augsburger Schlags allerdings völlig inakzeptabel: Die Formulierung der OALZ, Luthers Fehler seien geringer anzusehen als das Gute, das er bewirkt habe, konterten die Augsburger mit der Erwiderung, dies zähle ebenso viel wie das Argument, „der Türk, wenn er durch seinen Einfall in die Christenlande machet, daß diese tapfere Soldaten zeugen. Das war gewiß nicht seine Absicht“.33 Die Katholischen Aufklärer wussten um diesen Widerstand gegen eine Rehabilitierung des „Erzketzers“ Luther und sahen sich sogar dazu gezwungen, bei ihren eigenen Reformvorhaben auf allfällige Luthers Person betreffende Animositäten des Kirchenvolks Rücksicht zu nehmen. Ein Mainzer Beitrag sprach sich nicht generell gegen aufklärerische Reformen aus, sondern befürchtete lediglich, „daß zu viele geschehen, und zu gähling [jählings] aufeinander gefolget“ seien, was nicht ohne Auswirkungen auf die Aufnahmekapazität des frommen Volkes bleibe: Kömmt nun auch die geschwinde Einführung eines neuen Katechismus hinzu, welches bei dem gemeinen Volke […] doch so viel sagen muß, als eine neue Lehre oder einen neuen Glauben einführen (und es wird dies ganz sicher gesagt werden, besonders da Luther und Calvin als Irrlehrer ohne Zweifel nicht mehr darin genennt werden) so will ich zwar eine

32 PredMag 1 (1789), H. 1, S. 10. 33 KüK 7 (1793), Nr. 12–13, 18./25.03.1793, S. 113–120 u. 121–124, hier S. 121.

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noch weit größere Gährung nicht prophetisch vorhersagen; wohl aber fürchte ich diese nicht ohne Grund.34

Die Textbelege zeigen, dass die Aufklärer bei Teilen des katholischen Volks eine traditionell überkommene Abwehrhaltung bezüglich der Person Luthers zu konstatieren hatten. Als noch relevanter erwies sich allerdings nicht nur deren Existenz, sondern dass solche unterschwelligen Abwehrreflexe anscheinend ganz gezielt abgerufen werden konnten. Dies nämlich machten sich die Gegenaufklärer ganz bewusst zunutze.

4.4 Der Name Luther als gegenaufklärerisches „Gütesiegel“ für „echtes Häretikertum“ Eine Zusammenarbeit der Kirchen im Geist der Aufklärung oder ein Wahrnehmen des Guten der anderen Konfessionen lehnten die Gegenaufklärer nämlich rigoros ab. Um auch nur den Ansatz zu solchen aufklärerischen Initiativen im Keim zu ersticken, klagten die Augsburger laut darüber, wenn – wie im Falle einer Würzburger Rezension – protestantische Werke vermeintlich „mit so überspanntem Lobe erhoben [worden seien], daß [die KüK es] nicht fassen k[onnte], wie so etwas in einer Fürstbischöflichen Residenzstadt passiren möge“. Der Würzburger Verfasser wurde gefragt, ob er glaube, „es walte bey uns Katholiken eine so große Armuth im theologischen Fache ob, daß er sich erdreustet, uns in die Schule der Protestanten zu schicken“.35 Insbesondere dann, wenn man sich auf gegenaufklärerischer Seite mit den eigentlichen Sachargumenten nicht mehr auseinandersetzen wollte, bot es sich an, die „Luther-Keule“ herauszuholen und auf den angegriffenen Aufklärer einzuschlagen: Liebes Publikum! du wirst […] nicht mit einem gelehrten Journale, sondern mit einer puren Schmäh- und Lästerschrift bedient, die voll von Lügen, und Kalumnien steckt: und seitdem Luthers Feder krank, und schwach ward, hat man schwerlich so was Bissiges, und Gallsüchtiges in der Welt gesehen, und gelesen.36

34 MainzMon 5 (1789), 1. Heft, Januar 1789, S. 59–64, hier S. 60 f. in „Vorläufige[n] Gedanken eines Landpfarrers bei Gelegenheit des Auffoderungsschreibens eines hochw. erzbis. gnäd. Generalvicariats zu Mainz zur Verfertigung eines neuen Katechismus.“ 35 KüK 7 (1793), Nr. 25, 25.06.1793, S. 248 über das XVIII. Stück der WGA 8 (1793) vom 01.05.1793. 36 Vgl. die Rezension von NBRKG 2 (1791), Heft 1, Anfang März, in KüK 7 (1793), Nr. 9/Beylage zu Nr. 10 u. 11 vom 25.02. u. 04./11.03.1793, S. 81–88, 97–103 u. 105–110, hier S. 81.

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Der Name Luther konvertierte so geradezu zum universal einsetzbaren gegenaufklärerischen „Gütesiegel“ für „echtes Häretikertum“.

4.5. Die gegenaufklärerische Sicht der Reformation als Wurzel alles Bösen Die von Luther – in gegenaufklärerischen Augen – „verschuldete“ Reformation geriet für die Gegenaufklärer immer mehr zur Wurzel alles Bösen auf der Welt. Bereits das eigentliche Reformationsgeschehen erklärten die Gegenaufklärer nicht wie die Aufklärer mit den damaligen Missständen der spätmittelalterlichen Kirche, sondern auf eine für ihre Klientel vermutlich wesentlich eingängigere Weise. Das Hauptlaster des Stolzes ließ sich in ihren Augen allemal auf Luther und dessen „verderbliches“ Tun anwenden, denn diesen habe nur der Gedanke an seinen eigenen Nachruhm bewegt: „Dieß Glück, du weißt es, hat schon einst einen Luther, einen Calvin und Zwingli, als sie die katholische Kirche reformierten, so berühmt gemacht. Ein Religionsreformator ist allemal kein geringes Thier.“37 Luthers ernsthafte Reformanliegen wurden so zum verdammenswerten ruhmsüchtigen Egotrip. Solche Pauschalurteile hatten für die Gegenaufklärer daneben den großen Vorteil, dass sie sich je nach Aktualitätslage beliebig – und ohne in größere intellektuelle Beweisnot zu geraten – wieder aufwärmen ließen: Angesichts der revolutionären Kirchenreformen in Frankreich publizierte das Mainzer „Religions Journal“ zur Unterstützung seines publizistischen Kampfes gegen die konstitutionelle Kirche beispielsweise neben den Berichten über die französische Situation eine „Historische Nachricht von dem grossen Schisma und Trennung der griechischen Kirche von der Lateinischen“.38 Damit war natürlich das Ziel verbunden, das französische Geschehen als schismatisch zu kennzeichnen. Der Herausgeber Goldhagen postulierte dabei lauthals und ohne Zögern: Alle Schismen oder Kirchentrennungen sind bisher entstanden, entweder aus der unordentlichsten Liebe der Wohllust, oder aus der äussersten Ehrsucht; und sind all ihren Wachstum der unerhörtesten Gewaltthätigkeit, oder der feigesten Willfährigkeit, oder

37 Placidus SARTORE, Die Constitutionelle Kirche sammt den neufränkischen Staatsverfassungen und Eidesformeln in und außer Frankreich oder Unterrichte in Fragen und Antworten über die einzig wahre Kirche Jesu; als ein sicheres Verwahrungsmittel wider die Spaltung, den Unglauben, und Abfall jetziger Zeiten für Hirten und Volk, Augsburg: Doll 1800, S. 518. 38 RelJourn 16 (1791), 4. Stück, Juli/August, S. 383–392.

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auch der ausgezeichne[t]sten Treulosigkeit schuldig. Ein genauer, getreuer, historischer Bericht von geschehenen Dingen wird einen jeden Leser nur zu viel davon überzeugen.39

Diese „historische“ Erkenntnis stützte er mit einem im Anschluss daran folgenden „Bericht von der Kirchentrennung in Engelland (Traurige Begebenheiten unter König Heinrich dem VIII. wegen diesem Schisma)“,40 was die These der Gegenaufklärer zu untermauern schien, dass auch Reformatoren wie Luther alles Mögliche (und vor allem Lüsternes!), nur nicht das Heil der Kirche im Sinn gehabt hätten. Selten waren im gegenaufklärerischen Lager bedächtigere Stimmen zu vernehmen wie die Benedikt Stattlers,41 der Luther beinahe wie ein Aufklärer konzedierte, berechtigten Reformwünschen nachgekommen und dann allerdings zu weit gegangen zu sein42 – für solche und ähnliche Aussagen wurde Stattler gegen Lebensende allerdings von seinen vorherigen Bundesgenossen heftig bekämpft, in Rom angezeigt und 1796 von der Kurie sogar verurteilt. Statt solcher nuancierter Einsichten zogen die Gegenaufklärer ohne jede Schamesröte lieber – historisch betrachtet selbstverständlich weder Luthers aufrichtiges Ringen noch die Komplexität des Geschehens auch nur ansatzweise treffende – Verdikte über Luthers sündhaften Stolz und die verdorbenen Lüste und Laster der Reformatoren heran, um den reformatorischen Aufbruch des 16. Jahrhunderts für das Publikum des 18. Jahrhunderts im Geiste des 17. Jahrhunderts zu erklären.

39 Ebd, S. 384. 40 RelJourn 16 (1791), 5. Stück, September/Oktober, S. 525–533. 41 Für den mit aufklärerisch-wissenschaftlichen Methoden arbeitenden Gegenaufklärer Benedikt Stattler (1728–1797) vgl. Philipp SCHÄFER, Stattler, in: Lexikon für Theologie Kirche, Bd. 9, Freiburg im Breisgau 32000, S. 935 oder zuletzt Hubert WOLF, „Ich hoffe, ich werde meinen Prozess bei Gott besser ausfechten, als auf Erden.“ Eine Hinführung zu den Möglichkeiten der Grundlagenforschung zum 18. Jahrhundert am Beispiel des „Falles Stattler“, in: DERS. (Hg.), Buchzensur im Zeitalter der Aufklärung, Paderborn 2011, S. 17–41. 42 Vgl. exemplarisch [Benedikt STATTLER], Unverschämte Heucheley der Revolutionsbischöfe in Frankreich, in der von ihnen verfaßten, von einem deutschen Uebersetzer B.S. ho[c]h empfohlenen und zu Salzburg Ao. 1792. verlegten Harmonie der wahren Grundsätze der Kirche, der Moral, und der Vernunft mit der bürgerlichen Verfassung des Klerus von Frankreich, enthüllet von einem redlichen Verehrer der Kirche und des Staats, Straßburg/Basel [: Lindauer] 1792, S. 161–163, hier S. 161 f.: „Auch dem Martin Luther nahmen es die klügeren Katholiken nicht übel, da er auch ziemlich laut nur von Reforme der Kirche schrie. Nur die Dogmen hätte er unbetastet lassen, und alles in gute Ordnung nach seinem Range und Einsicht einleiten helfen sollen. Wer immer reformiren will, so bald er sich eine ihm nicht zukommende Gewalt anmasset, wird Aufwiegler, anstatt Reformator.“

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4.6. Die Verquickung von Tagespolitik und Luther-Schelte im Angesicht der Französischen Revolution Zu erneuter Aktualität kamen diese Stereotypen angesichts der Ereignisse der Französischen Revolution, die gerade mit ihren kirchenpolitischen Reformen das Welt- und noch mehr Kirchenbild der Gegenaufklärer ins Wanken brachte. Angesichts dieser geradezu tödlich wirkenden Bedrohung aus dem Nachbarland gab es für die deutsche Gegenaufklärung nichts mehr zu verhandeln. Nur zu begierig wurden die aus Rom eintreffenden Luther-Parallelen43 aufgegriffen. Ebenso bot man Klagen der französischen Gegner der revolutionären Neuordnung Raum, die ihrerseits ihren politisch motivierten Widerstand zwecks größerer Überzeugungskraft mit lautem Jammern über die Gefährdung der Religion „anreicherten“44 und die französischen Reformen mit dem Handeln des „Erzketzers“ Luther45 gleichsetzten: „Die Reformation, die man geltend machen will, ist die Reformation eines Luthers, Kalvins, Zwinglius, das ist, man beabsichtiget nur den Zerfall und Untergang.“46 Damit war der Ton für die Beurteilung der Revolution vorgegeben. Es nimmt daher nicht Wunder, dass die französischen Geschehnisse durch die Aufklärer und Gegenaufklärer konträr eingeschätzt wurden. Bei allem Bedauern über die Opfer47 zollte z. B. die OALZ doch der neu errungenen Freiheit 43 Die OALZ 5/1 (1792), LXI. Stück, 21.05.1792, S. 969 f., hier S. 969, fasste in ihrer mit aufklärerischem Spott überzogenen Rezension über die „Weitere Erklärung Sr. päpstlichen Heiligkeit Pius VI. an alle Erzbischöfe und Bischöfe, sämmtliche Geistlichkeit und das Volk in Frankreich in Betreff der bürgerlichen Einrichtung der Geistlichkeit. Bruchsal, 1792“ die päpstliche Haltung zusammen: „Der heil. Vater erzählt darin seine Freude und sein Herzeleid über das verschiedene Betragen der französischen Geistlichen in Rücksicht auf den Eifer, mit dem sie der neuen Constitution, und besonders der bürgerlichen Einrichtung der Clerisey entweder entgegen streben, oder anhängen. Die Letzteren machen ihm unendlich mehr Kummer, als ihm die Ersteren Freude verschaffen. Sie werden den Ketzern und Abtrinnigen [sic!], z.B. einem Photius, Luther, Petrus Paulus Vergarius etc. verglichen, und als solche erklärt.“ 44 Vgl. KRENZ, Druckerschwärze (wie Anm. 17), S. 68–70. 45 Vgl. [Jean François Marie MARABAIL], Meine Schutzschrift, in: Augustin BARRUEL, Vollständige Sammlung der Schriften, die [ab Bd. 2: welche] seit der Eröffnung der Reichsstände Frankreichs in Rücksicht auf den Klerus, und dessen bürgerliche Verfassung erschienen sind. Von Abt Barruel, Verfasser des geistlichen Journals. Aus dem Französischen übersetzet von einem Barfüßer-Karmeliter bayrischer Provinz, [Bd. 1–10], Kempten: Hochfürstliche Buchhandlung 1795–1797, in Bd. 8 (1797), S. 257–298, hier S. 259: „Christliche Gesetzgeber, derer [sic!] Absichten gut sind, nehmen nicht den Gang und die Mittel, derer sich ein Mahomet, ein Luther bedienet hat!“ 46 [MARABAIL], Schutzschrift (wie Anm. 45), S. 295. 47 OALZ 3/2 (1790), CXLI. Stück, 26.11.1790, S. 1017–1019.

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ein deutliches Lob.48 Auch nahm man auf aufklärerischer Seite die vorrevolutionären Missstände als Auslöser der Revolution selbstverständlich wahr und erklärte damit auch deren Ausgleiten in die Terreur.49 Bei den Gegenaufklärern dagegen herrschte von Anfang an eine apokalyptische Sicht auf die Ereignisse vor: „Höret mich an, ich will euch von den Geheimnißen der Hölle Nachricht geben.“50 Darunter (bzw. darüber) ging es nicht. In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass das (diabolische) Geschehen der Revolution von den Gegenaufklärern zusätzlich mit dem (sozusagen gleichermaßen satanischen) Ereignis der Reformation engstens verquickt wurde – beides wurde im Grunde als gleich zerstörerisch angesehen: „Die Reformation von Deutschland, und die Revolution von Frankreich, zwo leibliche Schwestern“.51 Der Luther-Vergleich wurde so systematisch zum geradezu typischen revolutionsinduzierten Abwehrtopos der Gegenaufklärung ausgebaut, der der neu entstandenen konstitutionellen Kirche Frankreichs die gleiche Glaubensferne wie den Kirchen der Reformation attestierte: Er [gemeint war ein konstitutioneller elsässischer Priester] spricht in dem priesterlichen Chorgewande, und auf einer bischöflichen Kanzel, wie man sonst in ungläubigen Zirkeln, in frechen Gesellschaften, oder auf philosophischen Rednerbühnen zu sprechen pflegt. Wir glauben nicht, daß seit Luthers Reformation ärgerlicher auf einer christlichen Kanzel deklamirt ward, als es Herr Schwind damals gethan hat.52

Während aus heutiger Sicht klar ist, dass den Protestanten selbstverständlich keine „Schuld“ an der Revolution zuzuweisen ist,53 entzündete sich an dieser Frage in den 1790er Jahren eine heftige Polemik.54 Selbst in aufklärerischen Blättern konnte man – dort selbstverständlich aber ohne jeden negativen Bei48 OALZ 3/2 (1790), CLIII. Stück, 24.12.1790, S. 1204: „[…] daß die heutige freye Nation der vorigen sklavischen, und vom Despotismus niedergebeugten so wenig mehr ähnlich sieht, als die Raupe dem Schmetterling.“ 49 Vgl. für die unterschiedlichen Erklärungsansätze der Revolutionsereignisse die Zusammenfassung in Kapitel 9.3.2 (bzw. die Darstellung insgesamt) bei KRENZ, Druckerschwärze (wie Anm. 17), S. 552–560. 50 RelJourn 16 (1791), 6. Stück, November/Dezember, S. 648–656, hier S. 648. 51 So der Titel des Beitrags in JRWL 3 (1799), 3. Heft, März, S. 181–191. 52 [ANONYM], Schilderung der neufränkischen Apostel in Straßburg, Eulogius Schneider, Johann Jakob Kämmerer, Thaddäus Anton Dereser, und Karl Franz Schwind, [Augsburg: Doll] 1792, S. 71. 53 Vgl. Marc LIENHARD, Freiheit in der Sicht Luthers und der Französischen Revolution, in: Lutherjahrbuch 62 (1995), S. 152–166, hier S. 157 („Von einem direkten Einfluß Luthers auf die Revolution kann natürlich nicht die Rede sein. Die französischen Revolutionäre hatten Rousseau und nicht Luther gelesen.“). 54 Vgl. Friedrich Wilhelm GRAF, Der deutsche Protestantismus und die Revolution der Katholiken, in: Pastoraltheologie 78 (1989), S. 292–308.

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geschmack – Schilderungen finden, welche die Protestanten als die „eifrigsten Anhänger der Revolution“ kennzeichneten.55 Die gegenaufklärerischen Blätter zeichneten dagegen, natürlich mit vorwurfsvollem Unterton, die Protestanten geradezu als eigentliche Verursacher56 – und wenn schon nicht dies, so doch als schamlose Profiteure – der Revolution.57

4.7. Luthers Name als Totschlagargument zur Bestreitung der aufklärerischen Katholizität Die „rhetorische Strategie“ der Gegenaufklärer bestand zunehmend darin, gezielt und systematisch die Evozierung von bei Katholiken anscheinend vorausgesetzten reflexartigen Abwehrreaktionen zu provozieren. Ganz offensichtlich wird dieses Ziel angesichts eines beinahe omnipräsenten Antiprotestantismustopos der Gegenaufklärer. Indem man die von den Katholischen Aufklärern befürworteten Reformmaßnahmen mit den Vorgängen der Reformation des 16. Jahrhunderts gleichsetzte, wurden die Aufklärer zu Befürwortern dieser „Teufeleien“ und bekamen so ihre Katholizität abgesprochen. Im Falle des Salzburger OALZ-Herausgebers Lorenz Hübner geschah dies explizit unter Verweis darauf, dass gerade die Protestanten, „als sehr erfahrne Giftschätzer“,58 dessen publizistische Produkte lobten. Aufklärerische Publikationen waren – in den Augen der katholischen Gegenaufklärer – von einer solchen Beschaffenheit, dass sie ebenso gut in protestantischen Städten hätten erscheinen können.59 Offensichtlich wird hierbei, dass alleine die Erwähnung des „Horrorbegriffs“ protestantisch im Zusammenhang mit aufklärerischen theologischen Ideen als ausreichend eingeschätzt wurde, um unzweifelhaft katholische Positionen ohne

55 OALZ 7/2 (1794), CXIV. Stück, 24.09.1794, S. 609–612, hier S. 611. 56 Vgl. bspw. KüK 10 (1796), Nr. 11–13, 14./21./28.03.1796, S. 110–112, 113–120 u. 121– 126, hier S. 123 als Erwiderung auf das Argument eines (aufklärerischen) protestantischen Predigers, der (katholische) Aberglaube habe den religiösen Umsturz in Frankreich bewirkt: „Oder litten etwa die vielen Protestanten, welche im Nationalkonvente, und bey den Jakobinern überall oben an gesessen sind, so sehr am Aberglauben?“ 57 Vgl. KüK 5 (1791), Nr. 52, 26.12.1791, S. 509–512 und KüK 6 (1792), Nr. 1 und Beylage zu Nr. 1, 02.01.1792, S. 4–8 u. 9–11 die Polemik gegen die „lutherische“ Revolution. 58 JRWL 4 (1800), 2. Heft, Februar, S. 125. 59 Vgl. als Klage über die Salzburger OALZ und die Würzburger WGA KüK 9 (1795), Nr. 37, 14.09.1795, S. 361–367, hier 361: „Wenn man ihre Blätter durchli[e]st: sollte man glaubrn [sic!], die Verfasser derselben wären in irgend einer protestantischen Stadt zu hause; und daß sie Priester seyn sollen, ließe sich lediglich nicht denken, wenn nicht die Thatsache dafür stünde.“

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jede weitere inhaltliche Befassung abzuqualifizieren, ja im Sinne einer Warnung vor „konfessionell kontaminiertem Gefahrgut“ zu diskreditieren.

4.8. Luther als Gaststar der Gegenaufklärung – auf der Schaubühne als polemischer Anstalt „Es ist ein vortrefflicher Gedanke, Wahrheiten, welche vorzüglich unter den großen Haufen verbreitet werden sollen, in jene Form zu giessen, in der sie überall leichteren Eingang finden.“60 – Mit diesen überschwänglichen Worten begrüßte die OALZ 1790 ein anonym61 erschienenes „Lustspiel in fünf Aufzügen“ namens „Der Zölibat ist aufgehoben“.62 Die OALZ sah die Gedanken der Volksaufklärung sowie ihr aufklärerisches Hoffen in jenem angezeigten Werk musterhaft verwirklicht. In diesem – vermutlich kaum vor dem großen Haufen aufgeführten63 – Drama gelang es einem aufklärerischen Pfarrer mit dem sprechenden Namen Volksstern, sich dank der Erlaubnis seines Fürsten, des Herrschers von Veritheim (veritas!), gegen die Machinationen des zuständigen Fürstbischofs von Stambul (!) und dessen exjesuitischer Berater zu wehren und seine Geliebte Julie zu heiraten. Der gegenaufklärerische Antipode wurde als Karikatur eines bigotten Heuchlers dargestellt, der sich lieber beim Wein vergnügte anstatt einem sterbenden Wandergesellen beizustehen. Die Pointe dieser Nebenhandlung war, dass der wandernde Jüngling als ein aufgeschlossener Protestant gezeichnet wurde, der sogar vor dem ausgesetzten katholischen Allerheiligsten niedergekniet hatte. Da er sich dabei jedoch nicht wie vorgeschrieben an die Brust schlug, ließ ihn der gegenaufklärerische Ortspfarrer durch Knechte verprügeln, welche keine halbe Sache machten und ihn bis auf den Tod verwundeten. Da der örtliche Gegenaufklärer sich weigerte, dem Sterbenden beizustehen, war es an dem herbeigerufenen Pfarrer des Nachbarortes, Volksstern, den jungen Unglücklichen mit den Sterbesakramenten zu 60 OALZ 3/1 (1790), LXXI. Stück, 14.06.1790, S. 1132–1136, hier S. 1132 [Rubrik: Schöne Wissenschaften]. 61 Zum mutmaßlichen Verfasser des aufklärerischen Theaterstücks, dem Speyerischen Kaplan August Jakob Bohl (1762–1808) vgl. Gerhard STEINER, Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater, Stuttgart 1973, S. 6 f. u. 11 f. 62 [August Jakob BOHL], Der Zölibat ist aufgehoben. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Zur Unterstützung meiner Mutter, Elisabetha Louisa Hauthin, Speyer: Hauth 1790. 63 STEINER, Jakobinerschauspiel (wie Anm. 61), S. 24 überlieferte lediglich eine Aufführung zum „Nationalfest der Eheleute“ 1798 im französisch besetzten Aachen. Das Drama dürfte demnach eher als parodistisches Lesedrama in aufklärerischen Kreisen zirkuliert haben; für die im weiteren Verlauf noch zu nennenden gegenaufklärerischen Pendants dürfte dieselbe Vermutung zutreffen.

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versehen. Im Zuge dieser – damalige ökumenische Animositäten zuspitzenden – Schilderung war es dem aufklärerischen Verfasser, einem katholischen Kleriker, sogar möglich, den aufklärerischen Priester das verkünden zu lassen, was man sich auf wissenschaftlicher Ebene noch nicht direkt zu fordern traute: Pfarrer Volksstern nämlich schilderte, dass er angesichts des Dahinscheidenden „gar keine Rücksicht auf unsere verschiedene[n] Meinungen [nahm], und […] ihm, als einem guten Christen unser – Abendmahl [reichte,] welches für rechtschaffene Christen von Jesus eingesezt ist, ohne Rücksicht auf Meinungen“.64 Dieses demonstrativ aufklärerische Wedeln mit dem roten Tuch der „ökumenischen“ Abendmahlsgemeinschaft in Verbindung mit der – horribile dictu – Abschaffung des Zölibats erregte binnen Kurzem das Schnauben der gegenaufklärerischen Orthodoxie. Mit gleich zwei Dramen beantwortete die gegenaufklärerische Seite 1791 diese publizistische Provokation.65 Selbstredend wurde in beiden Dramen dem schändlichen Treiben der Aufklärer umgehend ein Ende gemacht, und dies nicht ohne das gläubige Volk als Kronzeugen gegen die Machenschaften der Aufklärer in Stellung zu bringen, denn Bauern äußerten als Urteil über deren Wirken das Verdikt, „wie gelehrter, desto verkehrter“,66 und der „Schulz“ des gegenaufklärerischen Dorfes vermutete über den aufklärerischen „Pfarrer[, er sei] der zweyte Luther, der die Schrift nach seinem Gutachten auslegen will. Er wird weit kommen“.67 Der Rekurs auf den Topos des sündhaften Stolzes ist offensichtlich. Die gegenaufklärerische Schilderung ist insofern wohl als zuverlässig zu bezeichnen, als der verächtliche Duktus des gegenaufklärerischen Dorfbürgermeisters ziemlich genau veranschaulichen dürfte, in welchem Tonfall auf lokaler Ebene über die jeweils andere Konfession mancherorts wohl gesprochen worden ist. Doch damit gaben die Gegenaufklärer sich noch nicht zufrieden. Der im aufklärerischen Theaterstück geschilderte Fall der Gabe der Eucharistie für den sterbenden Protestanten wurde auch in der gegenaufklärerischen Replik aufgegriffen, indem ein fingierter Setzer eine Anmerkung hinzusetzte, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: „Wo bleibt hier das bekannte nolite dare 64 [BOHL], Zölibat (wie Anm. 62), S. 39, 1. Akt, 7. Auftritt. 65 [Meinrad WIDMANN], Der Zölibat ist noch nicht aufgehoben. Ein Trauerspiel, oder tragisches Strafgericht in 3 Aufzügen. Zur Unterstützung meiner Schwester Parthenia Modesta Willgutinn, Parthenopel 1791 und ANONYM/[vermutl. ebenfalls Meinrad WIDMANN], Noch einmal: Der Zölibat ist nicht aufgehoben. Ein historisches Trauerspiel in fünf Aufzügen. Mit Erlaubniß der Preßfreyheit, Freystadt, im Veritheimischen, o.O.: o.Verl. 1791. 66 [ANONYM/vermutl. WIDMANN], Noch einmal (wie Anm. 65), S. 118, 3. Akt, 2. Auftritt. 67 Ebd., S. 117 f., 3. Akt, 2. Auftritt.

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Sanctum Canibus; und wiederum: nolite margatitas [sic!] proiicere ante porcos?“68 Unter Berufung auf Jesu Worte in Mt 7,6 wurden die Protestanten hier Hunden und Schweinen gleichgestellt – damit hatte die Gegenaufklärung deutlich gemacht, was sie von einem „ökumenischen Abendmahl“ hielt. Der Zölibats-Handlungsstrang wurde durch einen verächtlichen Vergleich der den Pfarrer Volksstern heiratenden Julie mit „Luthers Bore“69 abgeschlossen, ehe ein – im Drama vermutlich als „akademischer Ausgleich“ eingeführter – Gerichtspräsident scheinbar objektiv argumentieren durfte, „wie wenig Zutrauen die Protestanten zu ihren Pfarrherrn und die griechischen Schismatiker zu ihren vereh[e]lichten Poppen [sic!] haben“,70 um auch diese ‚lüsterne‘ Seite des Luthertums nochmals negativ zu besetzen. Gekrönt wurde das Drama in dieser Hinsicht durch den Auftritt des Fürstbischofs Gardiner (Gardien = Wächter), der mit höchster Autorität erklärte: „Mir selbst, als ich in meiner Jugend England durchreiste, erzählte man dort, daß die Pordells und öffentlichen Oerter in London grossen Theils mit Töchtern der reformirten Pfarrherrn besetzt und versehen sind. Und ich kann mir noch heute nicht begreiflich machen, in welchen Stücken solche geistliche Sprößlinge dem Publikum zur Erbauung dienen können.“71 Die abschließenden genannten Textstellen machen deutlich, dass die Gegenaufklärer eben solche sexuell konnotierten Topoi gerade in den 1790er Jahren ganz bewusst nutzten, um das Luthertum verächtlich machen zu können. Einer wachsamen Obrigkeit gaben die Autoren des gegenaufklärerischen tragischen Strafgerichts noch folgende Anregung – und damit ihre eigentliche Intention – zum Besten: „Höchstderselbe […] sieht es nur gar zu gut ein, daß auf eine Religionsrevolution nur die gräßlichste Staatsrevolution, und das Verderben der Regenten und Unterthanen erfolgen könne.“72 Wenn unter Verweis auf die Schrecken der revolutionären französischen Vorgänge sowohl das „Ketzertum“ der Protestanten wie die „Sittenlosigkeit“ der Aufklärer bei den Fürsten inkriminiert werden konnten, dann hatten die Gegenaufklärer ihre Ziele, nämlich die Ausweitung des eigenen Einflusses, die Denunziation der lutherischen „Häretiker“ und die Elimination der aufklärerischen katholischen Entwürfe, erreicht.

68 69 70 71 72

Ebd., S. 29, 1. Aufzug, 6. Auftritt. Ebd., S. 74, 2. Aufzug, 3. Auftritt. Ebd., S. 75, 2. Aufzug, 3. Auftritt. Ebd., S. 78, 2. Aufzug, 3. Auftritt. Ebd., S. 16, 1. Aufzug, 4. Auftritt.

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5.

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Ein Fazit zur Luther-Rezeption in der gegenaufklärerischen und aufklärerischen katholisch-theologischen Publizistik um 1800

In der Zusammenschau lässt sich erkennen, dass sich die Wahrnehmung Luthers bzw. der protestantischen Kirchen in beiden katholischen Lagern diametral unterschied. Auch wenn man zunächst den Eindruck haben könnte, dass die akademisch ausgerichteten Journale der Aufklärer nicht direkt als Vergleichsobjekte zu den polternden Publikationen der Gegenaufklärer passen, so ist festzuhalten, dass im Endergebnis die durch die aufklärerischen katholischen Organe propagierte Volksaufklärung im Laufe der Zeit ihren Einfluss nicht mehr geltend machen konnte und im 19. Jahrhundert durch einen im 18. Jahrhundert zeitweilig schier unvorstellbar scheinenden Siegeszug einer gegenaufklärerischen Theologie ultramontaner Ausrichtung abgelöst wurde. Dazu trugen neben den politischen Umwälzungen gerade auch die – unter Berufung auf die Französische Revolution erfolgten – theologischen Debatten um 1800 ihren gehörigen Teil bei.73 Und diese Debatten wurden eben durch diese auf den ersten Blick so disparat wirkenden Periodika bestritten, die selten zwar in eine „wirkliche“ Diskussion eintraten, aber doch ständig aufeinander bezogen blieben. Infolge dieser sozusagen „unerhörten“ Debatten verloren die Aufklärer allerdings ihre – am Ende nur noch elitär begrenzte und kaum mehr auf die Masse ausstrahlende – Diskursfähigkeit, während die auf eine destruktive Wirkung abzielende und teilweise recht perfide gestaltete gegenaufklärerische Herangehensweise an Kontroversen auf die Leserschaft einen großen Eindruck machte. Die gegenaufklärerischen Simplifizierungen siegten über das aufklärerische Beharren auf der Vornahme von Differenzierungen, da deren Ansatz gerade im Umgang mit der Französischen Revolution und insbesondere der Terreur von der breiten Masse als empathiearm und zu abgehoben wahrgenommen wurde. „So ging die mediale Meinungsführerschaft verloren.“74 Dazu trug auch die unterschiedliche Darstellung Luthers ihren Teil bei, da diese von den Gegenaufklärern im Zuge des Revolutionsjahrzehnts zunehmend instrumentalisiert wurde. Mit Blick auf die katholische Haltung gegenüber Luther und dem Protestantismus ist zu konstatieren, dass die katholische Aufklärung sich im Bewusstsein 73 Vgl. für eine zusammenfassende Schau der Debatten des Revolutionsjahrzehnts und deren mentalitätsgeschichtliche theologische Fernwirkungen KRENZ, Druckerschwärze statt Schwarzpulver (wie Anm. 17), S. 549–568. 74 Bernhard SCHNEIDER, Katholische Aufklärung als Kommunikationsgeschehen. Überlegungen zur Entwicklung und Bedeutung der aufklärerischen Presse im frühen 19. Jahrhundert, in: Albrecht BEUTEL/Volker LEPPIN (Hg.), Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen ‚Umformung des Christlichen‘, Leipzig 2004, S. 215–227, hier S. 226.

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JOCHEN KRENZ

der von ihr im oberdeutschen Raum erzielten Errungenschaften einerseits gegenüber ungerechtfertigten Angriffen bzw. stereotypartig geäußerten Vorurteilen der evangelischen Publizistik über den vermeintlich unzureichenden Stand der Aufklärung im katholischen Bereich vehement abzugrenzen suchte. Andererseits war es für die katholischen Aufklärer gerade deshalb auch möglich, eine positive Sicht auf Luther und die Reformation zu vertreten. Für die Aufklärer war es eine Selbstverständlichkeit, im wissenschaftlichen Bereich mit protestantischen Fachvertretern zusammenzuarbeiten oder zu postulieren, dass die himmelschreiende Reformunfähigkeit der spätmittelalterlichen römischen Kirche auch dank Luther aufgebrochen wurde. Als Analogie zur Gegenwart sahen sie Luther so durchaus als Modell, dem in der eigenen Lage, der Bedrängnis durch eine sich im ausgehenden 18. Jahrhundert gleichfalls Reformen verweigernden römischen Kirche, durchaus zu folgen sein durfte, indem man in Zusammenarbeit mit den und unter dem Schutz der staatlichen Autoritäten kirchliche Reformen anging. Auf der Gegenseite wurde Luther dagegen als Feindbild eines blindwütigen Reformators, der durch seine (sündhafte!) Maßlosigkeit nur zerstörerisch wirkte, wahrgenommen. Der solcherart diskreditierte Name Luther ließ sich in der Folge spielend als Mittel zur Abqualifizierung der Aufklärer und deren Reformbestrebungen nutzen. Zusätzlich verschärft wurde die Betrachtung Luthers bzw. der reformierten Kirchen, indem man Luthers Wirken in (einer selbstredend nur konstruierten) Analogie zu den Geschehnissen in Frankreich zu einer schreckenerregenden Parallele zu den französischen Ereignissen aufbauschte und damit zu einer sozusagen „doppelten Verstärkung“ der Polemik gegen die aufklärerischen Gegner ausholen konnte: Unter Berufung auf die französischen Ereignisse und den vermeintlich im Hintergrund als Stammvater allen Aufruhrs agierenden Luther (nebst seiner zeitgenössischen lasterhaften häretischen Anhänger) schafften es die Gegenaufklärer, ihre aufklärerischen Widersacher Zug um Zug ins Abseits zu drängen. Abschließend muss somit hervorgehoben werden, dass es weniger die Differenzen zwischen Katholiken und Protestanten waren, welche die Diskurse und allfällige Animositäten prägten, sondern die (katholischen) innerkonfessionellen Differenzen. Der Gegensatz zwischen katholischen Aufklärern und Gegenaufklärern bildet das entscheidende Moment in der Wahrnehmung bzw. Darstellung des jeweiligen Lutherbildes. Tatsächlich nämlich standen sich die Aufklärer beider Konfessionen jeweils näher als Aufklärer und Gegenaufklärer im gleichen konfessionellen Lager, die sich – vor allem, aber nicht nur im katholischen Feld – erbittert bekämpften. Letztlich führte das – auch und gerade dank des publizistischen Dialogs von vorwiegend aufklärerischen Vertretern der Kirchen – auf beiden Seiten vorhandene Bewusstsein um die gegenseitige geistig-gedankliche Nähe der

LUTHER ALS DUNKELMANN ODER LICHTGESTALT?

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theologischen Aufklärer aller Konfessionen trotz des an manchen Stellen noch wahrnehmbaren Spotts über die katholische Nachbarkonfession dazu, dass die Feindbilder aus dem 16. und 17. Jahrhundert im Zeitalter der Aufklärung gründlich revidiert werden konnten, bevor im 19. Jahrhundert unter anderen Vorzeichen, aber nicht ohne das (publizistisch) tätige Wirken der Gegenaufklärer, neue Verhärtungen die Oberhand gewannen.75

75 Vgl. hierfür z.B. Olaf BLASCHKE, Der ‚Dämon des Konfessionalismus‘. Einführende Überlegungen, in: DERS. (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, S. 13–69; zur Diskussion um dessen Thesen vgl. Carsten KRETSCHMANN/Henning PAHL, Ein „Zweites konfessionelles Zeitalter“? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 369–392; in diesem Band vgl. zudem den Beitrag von Reinhart SIEGERT über das Lutherjubiläum von 1817 als Sprengstoff für die volksaufklärerische Ökumene.

T H O M A S K. K U H N REFORMIERTE AUFKLÄRUNG

Reformierte Aufklärung Die Reformation bei Georg Joachim Zollikofer

1. Einführung Auch im 18. Jahrhundert dürfte nur wenigen Predigern die Ehre widerfahren sein, lobend in einem Städteführer Erwähnung zu finden. In dem 1785 in Kopenhagen anonym erschienenen landeskundlichen Band „Freie Bemerkungen über Berlin, Leipzig, Prag“1 des Leipziger und späteren Kopenhagener Buchhändlers Karl Heinrich Krögen (gest. 1788),2 der beispielsweise Kaffeegärten, der französischen Kolonie sowie öffentlichen Bordellen in Berlin Aufmerksamkeit schenkt, aber auch über das Opernhaus, über Erziehung, Frauenzimmer und Antiquare in Leipzig berichtet und Lebensarten und Fressereien in Prag beschreibt, erwähnt der Autor auch den aus der Schweiz stammenden deutsch- und französischsprachigen reformierten Leipziger Prediger Georg Joachim Zollikofer (1730–1788), der am 13. August 1758 seine erste Predigt in Leipzig gehalten hatte. In der zwischen „Autores“ und „Apotheken“ stehenden Rubrik „Prediger“ heißt es zunächst kritisch-ironisch gegen die Leipziger Kanzelredner gerichtet: Strafpredigten mit donnernder Stimme habe ich fast allzeit von ihnen gehört, deren Schluß ungefähr also lautet: ‚Tod und die ewige Verdammnis wird über euch kommen, wenn ihr nicht ablaßt von euren Sünden; der Zorn des Allmächtigen wird nicht ausbleiben, und seine Rache wird auch verfolgen ewiglich. Amen.‘ Wenn die guten Leute den Weg zum menschlichen Herzen besser verstünden, so würden sie nicht mit solchen fürchterlichen Drohungen die Herzen der Zuhörer von sich entfernen.3

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Karl Heinrich KRÖGEN, Freye Bemerkungen über Berlin, Leipzig und Prag, Original und Kopie, Kopenhagen: o.Verl. 1785. Ich verwende im Folgenden den Nachdruck: Karl Heinrich KRÖGEN, Freie Bemerkungen über Berlin, Leipzig, Prag, Leipzig u.a. 1986. Zum Autor sowie zum Band und seiner Entstehung siehe ebd., S. 169. Siehe dazu Johann G. MEUSEL, Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Siebenter Band, Leipzig: Fleischer 1808, S. 371. Dieses Zitat und die folgenden zur Beschreibung der Prediger bei KRÖGEN, Freie Bemerkungen über Berlin, Leipzig, Prag (wie Anm. 1), S. 97 f.

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Nach diesem allgemeinen Tadel charakterisierte Krögen mit spitzer Feder schließlich jene Leipziger Prediger, die er für besprechungswürdig erachtete.4 Zunächst wandte er sich dem Leipziger Theologieprofessor Johann Friedrich Burscher (1732–1805),5 einem Vertreter der lutherischen Orthodoxie, zu, dem er „eine große Fertigkeit im Schreien und Agieren auf der Kanzel“ bescheinigte. Zudem teile er seine literarischen und historischen Kenntnisse „ohne Ordnung und Auswahl in dem geschmacklosesten Vortrage“ mit. Immerhin sei er ein frommer Mann und besitze wenig Stolz; „er besucht täglich die Promenade und lebt recht nach der Gesundheit.“ Auch bei Carl Christian Degenkolb (1718– 1797),6 seit 1764 Pfarrer an der Thomaskirche und seit 1775 an St. Nikolai, nahm Krögen kein Blatt vor den Mund, wenn er schreibt: „Degenkolb hat viele Anhänger beim Pöbel, bekümmert sich um alle Stadtneuigkeiten, die er auch mit in seinen Predigten erwähnet; und mietet seine Dienstmädchen alle selbst, wobei er gemeiniglich auf Schönheit sieht.“ Pfarrer Christian Gottlob Eichler (1711–1785),7 er war seit 1755 an St. Nikolai, hingegen habe öfter das 4

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Ein Namensverzeichnis der 1775 in Leipzig tätigen Pfarrer bietet das: Journal für Prediger 5 (1774), 3. Stück, S. 363–368. Nach diesem Verzeichnis waren Anfang 1775 14 lutherische ordinierte Prediger sowie 24 „Nicht ordinirte Prediger und Kandidati Ministerii, welche jedoch vom Konsistorio allhier examinirt und konfirmirt sind“. Schließlich nennt das „Journal“ auch die beiden reformierten Prediger (S. 368). Siehe auch Erdmann Hannibal ALBRECHT, Sächsische evangelisch-lutherische Kirchen- und Predigergeschichte von ihrem Ursprunge an bis auf gegenwärtige Zeiten, Bd. 1, Leipzig: Schödel 1799. Vgl. Heinrich DÖRING, Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt, Bd. 1, Neustadt an der Orla: Wagner 1831, S. 211–215. Einen knappen Lebenslauf bis ins Jahr 1785 bietet das Leipziger gelehrte Tagebuch. Auf das Jahr 1785, Leipzig: Kummer o.J., S. 90 f.; das Todesdatum nennt Johann Daniel SCHULZE, Abriß einer Geschichte der Leipziger Universität im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts nebst Rückblicken auf die früheren Zeiten. Aus handschriftlichen und gedruckten Nachrichten verfaßt. Nebst einer vorausgeschickten Abhandlung über die Frage: Hat Sachsen an Denk=Freiheit gewonnen? von Karl Adolph Cäsar, Leipzig: Hinrichs 21810, S. 359. Siehe ferner Friedrich August WEIZ, Das gelehrte Sachsen. Oder Verzeichniß derer in den Churfürstl. Sächs. und incorporirten Ländern jetztlebenden Schriftsteller und ihrer Schriften, Leipzig: Schneider 1780, S. 42; Karl Friedrich BAHRDT, Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1787. Zweytes Quinquennium, ausgefertiget im Jahr 1787 (Kirchen und Ketzer-Almanach. Zweytes Quinquennium, 2), Gibeon: Lauge o.J., S. 47. Vollständiges Verzeichniß derer Prediger in Leipzig, welche seit der Reformation des sel. Lutheri, nämlich: von dem 1539 bis zu dem ietzigen 1748 Jahre zum Predigt-Amte beruffen worden. Nebst einigen historischen Anmerkungen wie dieselben in ihren Aemtern und Würden gestiegen, wohin sie sonst beruffen worden, und wenn sie gestorben sind, ingleichen welche gegenwärtig ihren Ämtern noch vorstehen, Leipzig: Pouillard 1748, S. 3, 11 u. 22. Das Todesdatum nennt Johann Georg MEUSEL, Erster Nachtrag zu der

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„Podagra“ – die Fußgicht – und lese auf der Kanzel sitzend Postillen vor, welche die Zuhörer in einen „sanften Schlaf“ wiegten. Den Bierausschank musste er aufgeben, weil sich einige Schankwirte beim Rat beschwert hatten, er würde ihnen ihren Verdienst schmälern. Bezüglich des kränklichen Pfarrers Gottlieb Heinrich Ide (1735–1803),8 seit 1773 Oberkatechet und Pfarrer an der Petrikirche, der zu den besten Leipziger Predigern zähle, hebt der Verfasser den „vernunftmäßigen Inhalt und guten Vortrag in seinen Predigten“ hervor. Bei Generalsuperintendent Johann Gottfried Körner (1726–1785)9 schränke der dicke Bauch die Häufigkeit des Predigens ein. Er liebe das Landleben und habe sich „ohnlängst einen Garten gekauft, den er superintendentenmäßig verschönert hat“. Bei Prediger und Professor Samuel Friedrich Nathanael Morus (1736–1792),10 der allerdings noch zu wenig bekannt sei in Leipzig, finde man als Einzigem eine „gesunde Exegese“ und einen „liebenswürdigen sanften Charakter“. Nach diesen lutherischen Predigern nimmt Krögen abschließend Zollikofer in den Blick und stellt ihm im Vergleich mit seinen Amtsbrüdern ein vorzügliches Zeugnis aus, indem er schreibt: Zollikofer, Prediger der reformierten Gemeinde. Man findet bei ihm alles vereinigt, was zu einem guten Prediger gehören muß. Er ist ein aufgeklärter Philosoph und Exeget und ein philosophisch und exegetisch aufgeklärter Dogmatiker. Dabei besitzt er Geschmack und Beredsamkeit, sein Charakter ist edel und rechtschaffen und sein Lebenswandel ein Muster der Tugend.11

Als Zollikofer drei Jahre nach Erscheinen von Krögens Buch am 22. Januar 1788 im recht frühen Alter von 58 Jahren verstarb, fand sein Tod breite Aufmerksamkeit und zahlreiche Autoren formulierten überaus wohlwollende Würdigungen.12 So vergoss beispielsweise der Feldprediger im westfälischen

Vierten Ausgabe des Gelehrten Teutschlandes, Lemgo: Meyersche Buchhandlung 1786, S. 144. 8 Vgl. ALBRECHT, Sächsische evangelisch-lutherische Kirchen- und Predigergeschichte (wie Anm. 4), S. 261 f. Das Todesdatum nennt Georg Christoph HAMBERGER/Johann Georg MEUSEL, Das Gelehrte Teutschland Oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schrifftsteller, Eilfter Band, Lemgo: Meyersche Buchhandlung 51805, S. 396 f. 9 Vgl. ALBRECHT, Sächsische evangelisch-lutherische Kirchen- und Predigergeschichte (wie Anm. 4), S. 103 f. 10 Eine Biographie bietet Samuel Friedrich Nathanael MORUS/Gottlieb Benjamin REICHEL, D. S. F. N. Morus, gewesenen ordentlichen Professors der Theologie zu Leipzig Kleine Schriften theologischen und philologischen Inhalts. Aus dem Lateinischen. Nebst dessen Leben, Bd. 1, Leipzig: Köhler 1794, S. XIII–LX. 11 KRÖGEN, Freie Bemerkungen über Berlin, Leipzig, Prag (wie Anm. 1), S. 98. 12 So beispielsweise Karl Heinrich HEYDENREICH/Christian Victor KINDERVATER, Todtenfeier Zollikofers, o.O.: o.Verl. 1788.

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Hamm, Carl Georg Christian Barth (1765–1795),13 der sich selbst als einer der „wärmsten Verehrer“ Zollikofers bezeichnete, eine – so der Titel seines Nachrufs – „Thräne der Wehmut“.14 Der Leipziger Schriftsteller Georg Karl Claudius (1757–1815) setzte Zollikofer ein – wie der Untertitel seiner Schrift lautet – „Denkmal für seine Freunde und Verehrer“.15 Diese wie andere Nekrologe16 lassen das hohe Ansehen des Predigers in der Messestadt Leipzig und weit darüber hinaus erkennen. Jenseits solcher Denkschriften unterstrich etwa der aus der Grafschaft Mark stammende reformierte Prediger Johann Heinrich Hasenkamp (1750–1814) in seinen „Christlichen Schriften“ Zollikofers herausragende Stellung.17 Auch Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) zollte Zollikofer in seiner zwischen 1808 und 1831 entstandenen Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ hohen Respekt. Er hatte ihn während seiner Leipziger Studienzeit in den Jahren 1765 bis 1768 kennengelernt und stellte ihn in eine Reihe mit den beiden Aufklärern Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) und Johann Joachim Spalding

13 Vgl. Johann G. MEUSEL, Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Erster Band, Leipzig: Fleischer 1802, S. 184. 14 Carl Georg Christian BARTH, Eine Thräne der Wehmut und des Andenkens auf Zollikofers Aschenkrug geweint, Leipzig: Sommer 1788. 15 Georg Carl CLAUDIUS, Zollikofer. Ein Denkmal für seine Freunde und Verehrer, Leipzig: Beygang in Commission 1788. 16 Beispielsweise von Zollikofers reformiertem Amtskollegen Jean DUMAS, Gedächtnißrede auf George Joachim Zollikofer evangelischer Prediger bei der reformirten Gemeinde zu Leipzig gehalten den 3. Febr. 1788, aus dem Französischen übersetzt, Leipzig 1788: Weidmann; sowie Christian Gottlob SPRANGER, Gedächtnißrede auf das Ableben Zollikofers, Leipzig: Dyk 1788; Einige Worte zum Nachdenken bey der Urne des großen Zollikofers, o.O.: o.Verl. 1788; ferner den Sammelband HEYDENREICH/KINDERVATER, Todtenfeier Zollikofers (wie Anm. 12). 17 „In Leipzig hörte ich den Zollikofer zweimal predigen. Er übertraf nach meinem Dünken alle Redner, welche ich in Holland und Deutschland gehört hatte. Es war in der Ostermesse, wo sein Auditorium vorzüglich glänzend, und die Kirche mit Menschen ganz angefüllt war. Doch herrschte eine so allgemeine feierliche Stille, als fürchtete jeder, daß ein Wort verloren gehen möchte. […] Nie bis dahin hatte mich ein Prediger die ganze Predigt durch in einer sich so gleichen ununterbrochenen Aufmerksamkeit auf seinen Vortrag erhalten, als Zollikofer. […] Im Umgange fand ich ihn ohne alle Anmaßung und sehr natürlich lieblich. Auf meine Frage: Wie viele Zeit er der Ausarbeitung einer Predigt widme? antwortete er: Ich fange des Montags an, und bin am Donnerstage, auch wol erst am Freitage fertig. […] Der Mann schien mir einen größeren Wert zu haben als alle Waren auf der Messe zusamt den Handelsleuten.“ Johann Heinrich HASENKAMP, Christliche Schriften, Bd. 1, hg. von Christoph Hermann Gottfried HASENKAMP, Münster: Aschendorff 1816, S. 125–127.

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(1714–1804).18 Alle diese wertschätzenden Zeugnisse verbindet, dass sie den aus der Schweiz stammenden Prediger nicht nur als herausragenden Vertreter der Aufklärung, sondern zudem seine ausgeprägte Menschlichkeit würdigen. Sie spiegeln darüber hinaus den Ruf Zollikofers, ein begnadeter Prediger zu sein, wider, den er sich in den knapp 30 Jahren seines Leipziger Wirkens rasch erworben hatte. Seine gottesdienstlichen Predigten waren in Leipzig, das mit seinen zahlreichen gelehrten Gesellschaften19 zu den Zentren der Aufklärung zählte,20 Höhepunkte im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt. Nicht nur die Mitglieder der reformierten Gemeinde, sondern auch viele interessierte Lutheraner und vor allem Studierende versammelten sich häufig so zahlreich, dass die Gemeindeleitung immerhin abschließbare Plätze einführte.21 Ebenso fand die Veröffentlichung seiner Predigten breitere Aufmerksamkeit.22 18 „Näher aber lag denen, welche sich mit deutscher Literatur und schönen Wissenschaften abgaben, die Bemühung solcher Männer, die, wie Jerusalem, Zollikoffer, Spalding, in Predigten und Abhandlungen, durch einen guten und reinen Styl, der Religion und der ihr so nah verwandten Sittenlehre, auch bei Personen von einem gewissen Sinn und Geschmack, Beifall und Anhänglichkeit zu erwerben suchten. Eine gefällige Schreibart fing an durchaus nötig zu werden, und weil eine solche vor allen Dingen faßlich sein muß, so standen von vielen Seiten Schriftsteller auf, welche von ihren Studien, ihrem Metier klar, deutlich, eindringlich, und sowohl für die Kenner als für die Menge zu schreiben unternahmen.“ Johann Wolfgang von GOETHE, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: DERS., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 14, hg. von Dieter BORCHMEYER u.a., Frankfurt am Main 1986, S. 302 f. Auch das „Journal für Prediger“ nennt Zollikofer und Spalding nebeneinander, die sich „durch die einfache und doch so wohlthuende Sprache der Wahrheit, die sich überall auf die genaueste Kenntniß des Menschenherzens und der Welt gründet, und durchaus auf den Einfluß des Religiösen, den es auf das Gemüth, die Welt und den Umgang äußern soll, dringt“. Johann August NEBE, Geschichte und Geist des Journals für Prediger in seinen ersten funfzig Bänden. Ein Versuch, in: Journal für Prediger 51 (1806), 1. Stück, S. 1–66, hier S. 9. 19 Vgl. Detlef DÖRING/Kurt NOWAK (Hg.), Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1665–1820) (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Philologisch-Historische Klasse, 76,2/5/6), Stuttgart 2000–2002. 20 Siehe dazu u. a. Günter MÜHLPFORDT, Halle-Leipziger Aufklärung. Kernstück der Mitteldeutschen Aufklärung (Mitteldeutsche Aufklärung, 1), Halle (Saale) 2011; Wolfgang MARTENS (Hg.), Zentren der Aufklärung III: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 17), Heidelberg 1990. 21 Die abschließbaren Plätze wurden bis 1804 beibehalten; siehe dazu Katharina MIDDELL, Die französisch-reformierte Gemeinde in Leipzig, in: Enno BÜNZ/Armin KOHNLE (Hg.), Das religiöse Leipzig. Stadt und Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig, 6), Leipzig 2013, S. 219–236, hier S. 231. 22 Anne CONRAD, Rationalismus und Schwärmerei. Studien zur Religiosität und Sinndeutung in der Spätaufklärung (Religionsgeschichtliche Studien, 1), Hamburg 2008, S. 73.

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Zollikofers Erfolg als Prediger löste auch Neid und Missgunst bei seinen lutherischen Amtsbrüdern aus, die häufig durchaus argwöhnisch die Entwicklungen in der reformierten Gemeinde verfolgten.23 Trotz seiner breit belegten Wertschätzung und Bedeutung geriet Zollikofer nach der Jahrhundertwende rasch in Vergessenheit und verschwand wie viele andere aufgeklärte Theologen auch bis in die jüngste Zeit hinein aus dem Blick kirchengeschichtlicher Erinnerung.24 Dafür dürften vornehmlich zwei Gründe ausschlaggebend sein: Zum einen fand die Aufklärung lange Zeit in der deutschsprachigen Kirchengeschichtsforschung keine besondere Aufmerksamkeit. Von nicht zu unterschätzendem Einfluss dürfte hier die Dialektische Theologie mit ihrer aufklärungskritischen Haltung gewesen sein. In einem der einflussreichsten theologischen Nachschlagewerke, der zwischen 1977 und 2004 erschienenen 36-bändigen Theologischen Realenzyklopädie, bringt der Pietismus-Forscher Martin Schmidt (1909–1982) diese negative Bewertung der Aufklärung mit der These auf den Punkt, die Aufklärung sei nicht aus der „eigenen Dynamik der christlichen Botschaft und Geschichte hervorgegangen, sondern von außen an sie herangekommen“.25 Zum anderen ist die Quellenlage zu berücksichtigen. Ein wesentlicher Grund für die defizitäre Zollikofer-Forschung dürfte darin bestehen, dass von Zollikofer erstens kein Nachlass überliefert ist und er zweitens kein monographisches Werk von Rang publiziert hat, sondern von ihm 23 In Reihen der Lutheraner sah man das Anwachsen der Reformierten und ihre vermehrte öffentliche Präsenz als Konkurrenz und formulierte deshalb gegenüber der Obrigkeit die Sorge, dass „viele, in Religions Sachen ungeübte Leute und Einwohner, unsern Lutherisch Evangelischen Gottes-Dienst verabsäumen, und in jene Versammlung gezogen werden“. Paul WEINMEISTER, Beiträge zur Geschichte der evangelisch-reformierten Gemeinde zu Leipzig 1700–1900. Mit Titelbild und 20 Abbildungen meist nach Gemälden aus dem Besitze der Gemeinde, Leipzig 1900, S. 45. 24 Immerhin erschien vor wenigen Jahren Sebastian SCHAAR/Christian SCHMELZER (Hg.), „Gedanke ohne Empfindung ist selten wirksam“. Georg Joachim Zollikofer – Prediger der Spätaufklärung (Edition und Dokumentation, 3), Magdeburg 2009. Einen wichtigen Beitrag bietet: Katharina MIDDELL, „… immer unter der Herrschaft der Vernunft“. Der Prediger Georg Joachim Zollikofer als Aufklärer, in: Peter SCHÖTTLER/Patrice VEIT/ Michael WERNER (Hg.), Plurales Deutschland – Allemagne Plurielle. Festschrift für Étienne François, Göttingen 1999, S. 179–191; siehe auch Thomas K. KUHN, Natur – Toleranz – Utopie. Reformierter Protestantismus im Zeitalter der Aufklärung, in: DERS./Hans-Georg ULRICHS (Hg.), Reformierter Protestantismus vor den Herausforderungen der Neuzeit. Vorträge der sechsten Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus, 11), Wuppertal 2008, S. 65–90, hier v.a. S. 72–81. In Leipzig, wo es immerhin eine Zollikoferstraße gibt, besteht seit 2009 zudem die Zollikofer-Stiftung der Evangelisch-reformierten Gemeinde in Leipzig. 25 Vgl. Martin SCHMIDT, Aufklärung II: Theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 4, Berlin/New York 1979, S. 594–608, hier S. 606.

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vornehmlich zahlreiche Predigtbände überliefert sind.26 Allerdings wurden mehrere seiner Werke ins Englische, Dänische, Niederländische und Französische übersetzt.27 In seinen gedruckten Predigten wird Zollikofer als ein Theologe erkennbar, der sich – wie zahlreiche andere Amtsbrüder – intensiv als Multiplikator für die Popularisierung aufgeklärten Denkens und Handelns engagierte und Aufklärung primär als eine zentrale theologische und religionstheoretische Aufgabe ansah. Insofern kann er durchaus als „Volksaufklärer“ bezeichnet werden, wenn man diesen Begriff nicht ausschließlich für die Aufklärer der ländlichen Bevölkerung verwendet, sondern einen breiteren Adressatenkreis in den Blick nimmt und mit Volksaufklärung primär einen breit angelegten Rationalisierungs- und Popularisierungsprozess bezeichnet, der in theoretischer wie praktischer Hinsicht auf einen umfassenden Mentalitätswandel zielte.28 Oder anders ausgedrückt: Es war das auf konkrete Lebenswelten bezogene kritische Aufbrechen von Unfreiheit, religiösem Fanatismus und allgegenwärtiger Unmündigkeit, was Aufklärung wie Volksaufklärung ausmachte. Beide Bewegungen konnten sich allerdings in den differenten kulturellen Feldern inhaltlich wie medial unterschiedlich artikulieren.29 In diesen vielschichtigen Prozessen, die sich auch auf den theologischen und frömmigkeitspraktischen Ebenen vollzogen, brachte sich Zollikofer mit einer gleichermaßen grundlegenden wie überzeugenden religiösen Neuformulierung des Christentums in sozialer wie politischer Perspektive ein. Dabei zeichnet er sich inhaltlich keineswegs durch eine besondere geistige Originalität aus, sondern zeigte vielmehr rhetorisches Geschick sowie die ausgeprägte Gabe, seine Zuhörer in den Bann zu ziehen.30 Er verstand es anscheinend vorzüglich, 26 Siehe zu seinen Schriften Karl GOEDEKE, Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung, Bd. IV/1: Vom siebenjährigen bis zum Weltkriege, Sechstes Buch, 1. Abteilung, Teil I, Dresden 31916, S. 281–284. 27 Vgl. ebd., S. 283 f. 28 Siehe dazu Thomas K. KUHN, Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung (Beiträge zur historischen Theologie, 122), Tübingen 2003, S. 79–223. 29 Siehe dazu Steffen MARTUS, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Berlin 2015. 30 So empfahl beispielsweise der Schweizer Arzt und königlich großbritannische Hofrat in Hannover Johann Georg Zimmermann (1728–1795) in seinem wichtigen Hauptwerk „Über die Einsamkeit“ (1784/85) Zollikofers Predigten trotz ihres Umfanges für jederman und schrieb: „O mein Zollikofer, auf dem Lande und in dem häuslichen Leben habe ich gefühlet, was du von deiner Kanzel in Leipzig, nicht mit hölzerner und viereckter Theologie, sondern in der wahren Sprache des Herzens sagtest“. Johann Georg ZIMMERMANN, Ueber die Einsamkeit, Vierter Theil, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1785, S. 36 f. Deshalb zitierte er wohl auch mehrfach aus Zollikofers Predigten. Denn so schreibt er: „Es sind die Worte eines öffentlichen Lehrers meiner Religion und meiner

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seine Ansprachen medial geschickt und damit erfolgreich zu inszenieren. Wie andere theologische Spätaufklärer auch, ging er religionstheoretisch zum einen von einer selektiven Elementarisierung und Reduktion der tradierten Glaubensbestände aus. Zum anderen ordnete er die Rationalität jeglicher religiöser Theorie und Praxis vor.31 Von dieser hier nur kurz skizzierten Basis aus propagierte er nachdrücklich und in immer wieder neuen Anläufen religiöse Toleranz und die Abkehr vom sogenannten „Aberglauben“32 sowie von religiöser Schwärmerei.33 Das bei Zollikofer überaus breit ausgeführte Verständnis von Toleranz und Aufklärung basiert auf der Vorstellung einer natürlichen Theologie. Damit einher geht die Relativierung spezifischer religiöser Lehren der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, ihrer Theologien und Frömmigkeitsformen. Für sein Toleranzverständnis charakteristisch ist folgende zentrale religionstheologische Aussage: Gott hat die Glückseligkeit des zukünftigen Lebens, an keine Religion, an keine Art ihn zu erkennen und zu verehren, an keine besondere Lehren und Meynungen schlechterdings gebunden, sondern theilet sie jedem Menschen mit, in so weit er derselben fähig ist.

Theologie, aber nicht einer Religion die herrschen will, nicht einer Theologie die von dem Herzen abprellt. Es sind Worte aus seiner unvergleichlichen Predigt über häusliche Glückseligkeit, die, wie alle Predigten von Zollikofer, alle Menschen lesen sollten“ (ebd., S. 92 f.). Zimmermann kann auch erklären, dass Zollikofers Predigten von „Menschen von allen Religionen mit gleicher innigster Erbauung“ gelesen werden“ würden; Johann Georg ZIMMERMANN, Ueber die Einsamkeit, Erster Theil, Troppau: o. Verl. 1785, S. 148. Siehe dazu auch Markus ZENKER, Therapie im literarischen Text. Johann Georg Zimmermanns Werk „Über die Einsamkeit“ in seiner Zeit (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 32), Berlin 2007, S. 225. 31 Exemplarisch ausgeführt in Georg Joachim ZOLLIKOFER, Das Wesentliche des Christenthums, in: DERS., Evang. reformirten Predigers in Leipzig, Predigten, nach seinem Tode herausgegeben, Dritter Band, enthaltend auserlesene Predigten vermischten Inhalts. Dritter Theil, Leipzig: Weidmann 1788, S. 134–146 oder Georg Joachim ZOLLIKOFER, Der Werth der Religion überhaupt, in: DERS., Predigten über die Würde des Menschen, und den Werth der vornehmsten Dinge, die zur menschlichen Glückseligkeit gehören, oder dazu gerechnet werden, Erster Band, Leipzig: Weidmann 1795, S. 329–354. 32 Siehe zum Beispiel Georg Joachim ZOLLIKOFER, Grundsätze zur Verwahrung vor dem Aberglauben, in: DERS., Warnung vor einigen herrschenden Fehlern unsers Zeitalters, wie auch vor dem Mißbrauche der reinern Religionserkenntniß, in Predigten, Frankfurt u.a. o.Verl. 1788, S. 126–137. 33 So beispielsweise in Georg Joachim ZOLLIKOFER, Die Schwärmerey in Rücksicht auf Religionsbegriffe insbesondere, in: DERS., Warnung vor einigen herrschenden Fehlern unsers Zeitalters (wie Anm. 32), S. 82–93.

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[…] Keine Religion, am wenigsten eine besondere Confession unter den Christen, kann und darf sich also die alleinseligmachende nennen.34

Als gemeinsame Basis der in Frage kommenden Religionen nennt Zollikofer entsprechend einem weitverbreiteten aufklärerischen Religionsverständnis den Glauben an einen Gott, an die Unsterblichkeit und die künftige Vergeltung sowie das Ansehen von Pflicht und Tugend.35 Dieses Religionsverständnis provoziert wenigstens zwei Fragen: Zum einen ist es die Frage nach den Gründen, warum der Mensch sich für eine christliche Existenz entscheiden soll. Diese grundlegende Frage beantwortet Zollikofer wenig präzise und überzeugend mit dem Verweis auf die großen Vorzüge des Christentums, das die deutlichsten und umfassendsten Mittel der göttlichen Offenbarung biete.36 Von der ersten Frage ausgehend ist ferner der Vorteil einer Zugehörigkeit zum Protestantismus zu begründen. Welche Vorzüge besitzt denn der protestantische Christ gegenüber den „Römischgesinneten“?37 Diese Begründung legt Zollikofer breiter dar, und sie führt uns unmittelbar hinein in das Thema dieses Tagungsbandes „Luther als Vorkämpfer? Reformation, Volksaufklärung um 1800“ im Allgemeinen und zu dem meines Beitrags im Speziellen. Im Folgenden geht es um die Zusammenhänge von Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur im Kontext von Zollikofers religionstheoretischem Konzept. Als Quellen liegen meiner Untersuchung ausschließlich gedruckte Predigten zugrunde, zu denen später noch einige Anmerkungen folgen. Bevor ich mich allerdings damit beschäftigen werde, verorte ich Zollikofer biographisch in einigen groben Strichen und zeige vor allem seine breiten Kontakte und Tätigkeitsfelder auf.

34 Georg Joachim ZOLLIKOFER, Einige Grundsätze der Toleranz, in: DERS., Evang. reformirten Predigers in Leipzig, Predigten, nach seinem Tode herausgegeben. Zweyter Band, enthaltend christliche Fest- und Communion-Predigten, Leipzig: Weidmann 1788, S. 133–145, hier S. 143. 35 Siehe dazu exemplarisch ZOLLIKOFER, Das Wesentliche des Christenthums (wie Anm. 31). 36 ZOLLIKOFER, Der Werth der Religion überhaupt (wie Anm. 31), S. 337. 37 ZOLLIKOFER, Einige Grundsätze der Toleranz (wie Anm. 34), S. 144.

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2. Georg Joachim Zollikofer in Leipzig38 Mit der Berufung des erst achtundzwanzigjährigen Schweizer Theologen Georg Joachim Zollikofer holte sich die Leipziger Gemeinde nicht nur ihren ersten deutschsprachigen Prediger in ihr Bethaus, sondern zugleich auch einen Pfarrer, der durch die kirchlichen wie politischen Verhältnisse seiner eidgenössischen Heimat geprägt worden war und nun im katholisch regierten Sachsen und im evangelisch dominierten Leipzig die zweite Pfarrstelle der seit 1701 erlaubten reformierten Gemeinde besetzte. Das rasche Wachstum der Gemeinde, die zunächst vor allem aus hugenottischen Kaufmannsfamilien bestanden hatte, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 auch nach Leipzig gekommen waren,39 ließ in den späten 1750er Jahren den Wunsch nach einem zweiten Prediger laut werden. Da die Vertreter des Luthertums immer wieder das reformierte aufblühende Gemeindeleben zu beeinträchtigen versuchten, gestaltete sich das konfessionelle Nebeneinander durchaus spannungsvoll40 und fand auch literarischen Niederschlag. Der Leipziger Weggefährte Zollikofers, der bedeutende aufgeklärte Schriftsteller und Pädagoge Christian Felix Weiße (1726–1804) nämlich, der als Begründer der deutschen Kinder- und Jugendliteratur gilt, nahm diese konfessionspolitischen Debatten in seinem 1774 fertiggestellten und 1780 veröffentlichten Trauerspiel „Der Fanatismus, oder: Jean

38 Eine monographische Darstellung von Zollikofers Leben liegt nicht vor. Biographische Hinweise geben: Christian GARVE, Ueber den Charakter Zollikofers an Herrn Creyssteuer-Einnehmer Weiße in Leipzig, Leipzig: Weidmann 1788; Heinrich DÖRING, Die deutschen Kanzelredner des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Nach ihrem Leben und Wirken, Neustadt an der Orla: Wagner 1830, S. 586–594; P. MEHLHORN, Georg Joachim Zollikofer, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 21, Leipzig 1908, S. 711–715; MIDDELL, „… immer unter der Herrschaft der Vernunft“ – Der Prediger Georg Joachim Zollikofer als Aufklärer (wie Anm. 24); DIES., „… die größere Aufklärung gehöret also zu den Absichten Gottes“. Der Prediger Georg Joachim Zollikofer (1730–1788) und die Aufklärung in Leipzig, in: Hans-Jürgen SIEVERS (Hg.), In der Mitte der Stadt. Die evangelisch-reformierte Kirche zu Leipzig von der Einwanderung der Hugenotten bis zur friedlichen Revolution, Leipzig 2000, S. 44–59; sowie die entsprechenden Artikel in biographischen und theologischen Nachschlagewerken. Siehe auch die zeitgenössische Darstellung: Helvetiens Berühmte Männer in Bildnissen von Heinrich Pfenniger, Mahler, nebst kurzen biographischen Nachrichten von Leonhard Meister, Zweyte Auflage besorgt von J. E. Fäsi, Zweyter Band, Zürich: Pfenninger 1799, S. 241–245. 39 Vgl. Katharina MIDDELL, Hugenotten in Leipzig. Streifzüge durch Alltag und Kultur, Leipzig 1998. 40 Siehe dazu WEINMEISTER, Beiträge zur Geschichte der evangelisch-reformierten Gemeinde zu Leipzig 1700–1900 (wie Anm. 23), S. 29 f.

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Calas“ auf. Ferner unterstützte er Zollikofer beispielweise bei dessen Gesangbuch41 und sprach kritisch vom „lutherischen Pabstthum“.42 Der am 5. August 1730 in St. Gallen geborene Zollikofer stammte aus dem Haus des aufgeklärten und theologisch gebildeten Juristen David Anton Zollikofer, der auch religiöse Erbauungsliteratur verfasste, und seiner Frau Anna Elisabeth Högger. Nach der Schulausbildung in seiner Heimatstadt und dem Studium der Theologie, u. a. in Utrecht, war er vier Jahre in Frankfurt am Main Hauslehrer, übernahm seit 1754 in der Schweiz, im rheinhessischen Monsheim sowie in der hessischen Hugenottenstadt Neu-Isenburg jeweils für kurze Zeit Pfarrstellen, bevor ihn 1758 der Ruf nach Leipzig erreichte. Dort etablierte er sich rasch und begeisterte weite Teile der aufklärungsfreundlichen Bürgerschaft. Neben seinen pfarramtlichen Aufgaben im engeren Sinn übersetzte er auch englische wie französische Aufklärungsliteratur, gab 1766 das eben erwähnte Gesangbuch heraus,43 das vor allem unter den Lutheranern Widerstand provozierte,44 und pflegte ein recht breites kommunikatives Netzwerk. Am Messestandort Leipzig kam er nicht nur mit Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) in Kontakt, sondern auch mit zahlreichen anderen Literaten und Gelehrten und verkehrte in gelehrten Gesellschaften – wie beispielsweise in der von Johann Christoph Gottsched (1700–1766) gegründeten Deutschen Gesellschaft –, in denen die Konfession keine Rolle spielte. Darüber hinaus hatte er vielzählige Kontakte zu Gelehrten und Literaten im In- und Ausland. Ein engeres Verhältnis pflegte er etwa mit dem elf Jahre jüngeren Zürcher Theologen Johann Caspar Lavater (1741–1801), für den er auch Texte redigierte wie beispielsweise die seit 1775 in Leipzig und Winterthur erschienenen und berühmt gewordenen „Physiognomischen Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und

41 Georg Joachim ZOLLIKOFER (Hg.), Neues Gesangbuch, oder Sammlung der besten geistlichen Lieder und Gesänge, zum Gebrauche bey dem öffentlichen Gottesdienste, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1766. Siehe zu den Konflikten, die durch das Gesangbuch mit den Lutheranern entstanden Katrin LÖFFLER, Aufklärung und Konfessionspolitik. Weißes Trauerspiel „Der Fanatismus, oder: Jean Calas“, in: Katrin LÖFFLER/Ludwig STOCKINGER (Hg.), Christian Felix Weiße und die Leipziger Aufklärung [Kolloquium in der Universitätsbibliothek zu Leipzig vom Institut für Germanistik der Universität Leipzig aus Anlass des 200. Todestages am 16. Dezember 2004], Hildesheim 2006, S. 95– 127, hier 109 f. 42 Vgl. ebd., S. 112. 43 Vgl. WEINMEISTER, Beiträge zur Geschichte der evangelisch-reformierten Gemeinde zu Leipzig 1700–1900 (wie Anm. 23), S. 38. 44 Vgl. MIDDELL, Die französisch-reformierte Gemeinde in Leipzig (wie Anm. 21), hier S. 231 f.

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Menschenliebe“.45 Das Verhältnis der beiden umtriebigen Pfarrer war bei allen unübersehbaren theologischen Differenzen von hoher Wertschätzung geprägt.46 Auch für Johannes Tobler (1732–1808), seinerzeit ebenfalls in Zürich als Pfarrer am Fraumünster sowie als Volksaufklärer tätig,47 arbeitete er intensiv als Redaktor an der Herausgabe von Toblers 1774 erschienener Neuauflage der „Erbauungsschriften“.48 Im selben Jahr klagte Zollikofer angesichts der Fülle an Arbeit gegenüber seinem langjährigen Breslauer Korrespondenzpartner, dem seinerzeit überaus populären Christian Garve (1742–1798):49 „Es ist sonderbar

45 Lavaters „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“ erschienen 1775–1778 in vier Bänden und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. 46 Zur Zeit, als Zollikofer mit der Edition von Lavaters Tagebuch beschäftigt war, schrieb er an Garve: „Ich schätze Lavatern sehr hoch, ich verehre seinen geschäftigen Eifer für das, was er für wahr und gut hält, ich setze ihn in allen Stücken weit über mich, aber in Religionsmeinungen gehen wir zu weit von einander ab, als daß wir gemeinschaftliche an einem Buche arbeiten könnten.“ Siehe dazu Christian GARVE/Georg Joachim ZOLLIKOFER, Briefwechsel zwischen Christian Garve und Georg Joachim Zollikofer, nebst einigen Briefen des erstern an andere Freunde, Breslau: Korn 1804, S. 90 f. Lavaters Tagebuch erschien 1771 in Leipzig bei Weidmanns Erben und Reich unter dem Titel „Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst“. 47 KUHN, Religion und neuzeitliche Gesellschaft (wie Anm. 28), S. 195 f.; Romy GÜNTHART, Johannes Tobler, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 12, Basel 2013, S. 406. 48 Da ihm Toblers Sprachstil als verbesserungswürdig erschien, gab ihm diese Überarbeitung viel zu tun. Es handelt sich um Johannes TOBLER, Erbauungsschriften, Güstrow: Auf Kosten der Ascetischen Gesellschaft 1774. Diese Schriften waren zunächst in Zürich 1767 erschienen, dann 1774 in Güstrow in zweiter und verbesserter Auflage. 1776 erschien eine dreibändige Ausgabe in Zürich unter dem Titel „Sämtliche Erbauungsschriften“. An Garve schrieb Zollikofer: „Herr Tobler in Zürich treibt mich an, mein ehemaliges, ohne genugsame Ueberlegung gegebenes, Versprechen zu erfüllen, und seine Schriften zu corrigiren, und, wo es nöthig ist, zu verdeutschen, und die Verleger, die einem Nachdrucke entgegensehen, treiben mich noch stärker zur Beschleunigung dieser Arbeit. Ich finde aber weit mehr Schwierigkeiten dabey, als ich mir erst vorgestellt hatte. Außer den vielen Idiotismen ist Toblers Schreibart überhaupt etwas verwickelt, seine Wortfügungen sind hart, und ich muß oft halbe Seiten ganz umgießen. Und doch sind seine Schriften wirklich gemeinnützig, und werden es, wenn ich mit meinen Verbesserungen zu Stande komme, vielleicht noch mehr werden.“ GARVE/ZOLLIKOFER, Briefwechsel zwischen Christian Garve und Georg Joachim Zollikofer, nebst einigen Briefen des erstern an andere Freunde (wie Anm. 46), S. 129. 49 Claus ALTMAYER, Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, 36), St. Ingbert 1992.

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genug, daß ich immer der guten ehrlichen Schweizer Dollmetscher und Corrector sein muß.“50 Der gedruckt vorliegende Briefwechsel zwischen Garve und Zollikofer51 sowie die Charakterisierung Zollikofers52 aus der Feder Garves sind wichtige Quellen, um die weiteren Lebensumstände Zollikofers ein wenig zu erhellen. Ohne darauf nun allerdings im Einzelnen eingehen zu können, sei nur auf einige wenige Aspekte hingewiesen, die für unsere Thematik von Belang sind: Bei der Auswahl der Gegenstände, die Zollikofer in den Predigten thematisierte, war er durchaus innovativ.53 Er rezipierte zudem breit die literarischen Debatten, gab unter anderem auch Lavaters „Geheimes Tagebuch“54 heraus, setzte sich intensiv und wohlwollend mit Johann Bernhard Basedow (1724– 1790) auseinander und zählte auch zu jenen, die im Mai 1776 u. a. mit Joachim Heinrich Campe (1746–1818), Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805), Friedrich Nicolai (1733–1811), Friedrich Gabriel Resewitz (1729–1806) und Friedrich Gedike (1754–1803) in Dessau bei der öffentlichen „Untersuchung des Dessauer Philanthropins dabei waren.55 Diese Tage unter Vertretern aller 50 GARVE/ZOLLIKOFER, Briefwechsel zwischen Christian Garve und Georg Joachim Zollikofer, nebst einigen Briefen des erstern an andere Freunde (wie Anm. 46), S. 129. 51 Ebd.. Siehe auch den Nachdruck: Christian GARVE, Gesammelte Werke, Vierte Abteilung: Briefsammlungen, Bd. 16/1: Briefwechsel zwischen Christian Garve und Georg Joachim Zollikofer, nebst einigen Briefen des erstern an andere Freunde, hg. von Kurt WÖLFEL, Hildesheim/Zürich/New York 1999 [= Breslau: Korn 1804]. 52 GARVE, Ueber den Charakter Zollikofers an Herrn Creyssteuer-Einnehmer Weiße in Leipzig (wie Anm. 38). Garve brachte Zollikofer auch hohe Wertschätzung entgegen und erklärte: „Es ist mir nicht leicht gelungen, an einem Manne, den Fortschritt der Vollkommenheit, in seinem Denken und in seinen Arbeiten, so wahrzunehmen, als bey Zollikofern.“ (ebd., S. 8). 53 Ebd., S. 12: „Wenige Prediger haben vor ihm es gewagt, so specielle Verhältnisse, Pflichten, Fehler, Gewohnheiten, Vergnügungen des häuslichen und gesellschaftlichen Lebens auf die Canzel zu bringen: noch wenigere haben sie zugleich mit der Würde, mit der Fruchtbarkeit an wichtigen Belehrungen, mit einer so natürlichen Beziehung auf Religion zu behandeln gewußt als Zollikofer.“ 54 Nachdem Zollikofer eine Abschrift des Tagebuchs von Lavater erhalten hatte, gab Zollikofer 1771 einige Stücke daraus anonym heraus unter dem Titel: Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner selbst, Leipzig: Weidmann 1771, vgl. oben Anm. 46. Siehe dazu Ulrich JOOST, Tagebücher? Verstreute Beobachtungen zu Textsorte, Technik und Funktion. Ulrich Bräker, Georg Christoph Lichtenberg und einige ihrer Zeitgenossen, in: Alfred MESSERLI/Adolf MUSCHG (Hg.), Schreibsucht. Autobiographische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735–1798) (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 44), Göttingen 2004, S. 49–71, hier S. 69. 55 Siehe dazu den Bericht in: Philanthropisches Archiv, 2. Stück, Dessau 1776; siehe dazu Hanno SCHMITT, Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn 2007, S. 166.

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Konfessionen wertete Zollikofer als die „angenehmsten“ seines Lebens. Seiner Begeisterung über diesen Aufenthalt verlieh er schließlich in einem öffentlichen Brief an Lavater Ausdruck, der in der Zeitschrift „Ephemeriden der Menschheit“ des Basler Aufklärers und Geschichtsphilosophen Isaak Iselin (1728–1782) erschien.56 Dass Zollikofer darüber hinaus mit dem Dessauer Institut in Verbindung stand, zeigt die Tatsache, dass er dort als Kurator im Gespräch gewesen war. Er lehnte dieses Angebot ebenso ab wie der auch angefragte Iselin, so dass schließlich Joachim Heinrich Campe die Aufgabe übernahm.57 Auch den beiden Anfragen aus Lippe, die ihm das Amt eines Generalsuperintendenten in Detmold in Aussicht gestellt hatten, erteilte er eine Absage und hielt seiner Gemeinde die Treue.58 Diese Anfragen beispielsweise lassen vermuten, dass Zollikofer auch außerhalb seiner Wirkungsstätte Hochachtung genoss. Der Leipziger Prediger, der anscheinend mit einer schwächeren körperlichen Konstitution ausgestattet war und immer wieder über Krankheit klagte, war ein überaus belesener, weit vernetzter und kommunikativer Theologe, dessen religiöse Toleranz deutlich über das seinerzeit verbreitete Maß hinausgehen konnte. Aus einer konfessionellen Minderheitenposition heraus entwickelte er den Wunsch einer protestantischen Union, erkannte aber, dass die Zeit dafür weder politisch noch kirchlich reif war. Immerhin legte er exemplarische theologische Überlegungen vor, um die konfessionellen Verwerfungen zu überwinden. Wie weit er dabei gehen konnte, zeigt eine kurze Notiz nach einem beglückenden Treffen mit einem katholischen Pater aus Prag, einem Piaristen, in der er erklärt: „[…] habe ich einen recht würdigen katholischen Geistlichen gefunden. […] Er ist von allem Sekteneifer und Parteygeiste frey […] Mit ihm würde ich der Messe beywohnen, und er würde mit mir das Abendmahl halten.“59

56 In Georg Joachim ZOLLIKOFER, Schreiben Herrn Prediger Zollikofers an Herrn Pfarrer Lavater, in: Ephemeriden der Menschheit (1776), 5. Stück, S. 202–208 u. 203 f. erklärt Zollikofer: „Basedows Philanthropin ist eine vortreffliche und in ihrer Art die einzige Erziehungsanstalt, und wird, wenn sie das Publicum hinlänglich unterstützet, eine der fruchtbarsten Quellen der menschlichen Weisheit, Rechtschaffenheit und Glückseligkeit werden.“ Das vorangehende Zitat findet sich bei GARVE/ZOLLIKOFER, Briefwechsel zwischen Christian Garve und Georg Joachim Zollikofer, nebst einigen Briefen des erstern an andere Freunde (wie Anm. 46), S. 218. 57 Ebd., S. 220 u. 224. 58 Siehe dazu die Meldung im Journal für Prediger 11 (1781), 4. Stück, S. 438. 59 GARVE/ZOLLIKOFER, Briefwechsel zwischen Christian Garve und Georg Joachim Zollikofer, nebst einigen Briefen des erstern an andere Freunde (wie Anm. 46), S. 162 f.

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3. Zollikofer und die Reformation Nach seinem eben erwähnten Besuch in Dessau berichtete Zollikofer geradezu enthusiastisch von Basedows „Privatgottesdienst“. Diesen auf einer natürlichen Religion basierenden philanthropischen Schüler-Gottesdienst, der sich konfessions- und partiell auch religionsübergreifend gestaltete,60 scheinen auch andere dort anwesende Geistliche neben Zollikofer gewürdigt zu haben.61 Insofern haben wir es bei Zollikofer nicht mit einer singulären religionstheoretischen Position zu tun, sondern vielmehr mit einer zumindest unter theologischen Aufklärern verbreiteten Ansicht. Wie aber verhält sich diese nun zur Reformation? Diese Frage erörtere ich im Folgenden anhand einer Durchsicht von Predigten Zollikofers.62 Seit 1769 veröffentlichte Zollikofer seine Predigten in dem bekannten Leipziger Verlagshaus „Weidmann Erben und Reich“,63 das auch Gellert und Christoph Martin Wieland (1733–1813) verlegte. Zu Zollikofers Lebzeiten erschienen weitere fünf Bände, bevor postum in den Jahren 1788/89 weitere sieben Bände von dem Lutheraner Christian Friedrich von Blanckenburg (1744–1796) herausgegeben wurden.64 Viele Predigtbände 60 In dem Bericht über die Untersuchung heißt es: „Solche ganz allgemeine Schulerbauungen, die höchst nützlich sind, hat man bisher nicht gehabt oder nicht gebraucht. Und an denen der beyden ersten Tage hätten sogar Kinder der Juden und der Mahomedaner ohne Anstoß der Ihrigen Theil nehmen können, am dritten Tage aber, sowohl ein catholisches, als protestantisches Kind, und sowohl die aus der Böhmisch-Mährischen Brüdergemeine, als andre aus der Schule des Britischen Fosters.“ [Johann Bernhard BASEDOW], Geschehene Untersuchung der philanthropischen Sache, am 13.14.15. May 1776. von vielen kundigen, und größtentheils aus der Fremde zu diesem Endzweck hergereisten Weltbürgern, in: Philanthropisches Archiv, Dessau 1776, Zweytes Stück, S. 5–34, hier S. 7. 61 Basedow jedenfalls berichtet, dass diese Gottesdienste „sehr gebilligt“ wurden, „und von den bey Hofe versammelten Geistlichen hernach sehr entscheidend und nachdrücklich“. Ebd., S. 7. 62 Für diesen Beitrag habe ich neben den ausdrücklich am Reformationsfest gehaltenen Predigten auch eine Vielzahl weiterer angesehen, ohne aber jede einzelne Rede im Detail analysiert zu haben. Die meisten dieser Predigten sind nicht präzise zu datieren. 63 Zum ersten Band der Predigten erschien eine umfangreiche und überaus positive Rezension in: [ANONYM], Predigten von G. J. Zollikofer, Prediger der evangelischreformirten Gemeinde zu Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich. 1769, in: Journal für Prediger 1 (1770), 1. Stück, S. 48–59. 64 Diese Auswahl soll noch von Zollikofer bestimmt worden sein. So jedenfalls notiert es Blanckenburg im „Vorbericht“ des ersten Bandes. Siehe dazu Georg Joachim ZOLLIKOFER, Predigten nach seinem Tode herausgegeben. Erster Band, enthaltend christliche Fest- und Passions-Predigten, Leipzig: Weidmann 1788, unpag. Zu den Predigten werden jeweils Lieder aus dem Gesangbuch von Zollikofer angegeben, vgl. ZOLLIKOFER, Neues

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erfuhren mehrere Auflagen, teilweise erfolgten Übersetzungen, von einer breiten Kenntnisnahme der Predigten ist deshalb auszugehen. In welcher Weise Zollikofer seine Predigten für den Druck bearbeitet hat, ist nicht überliefert. Da er seine Predigten aber gründlich vorbereitete und schriftlich niederlegte, sind sie für den Druck vermutlich nur geringfügig überarbeitet worden. In den Briefen an Garve erfahren wir nämlich, dass Zollikofer die Predigten zunächst „aufsetzte“, um sie anschließend auswendig zu lernen – eine Tätigkeit, die ihn als „schülerhafte Arbeit“ manchmal durchaus belastete.65 Sein Selbstverständnis als Prediger basierte auf der Annahme, dass für die allermeisten Menschen die Pfarrer diejenigen Lehrer seien, die auch die allgemeine Erkenntnis befördern könnten.66 Breitere Auskunft über sein Amtsverständnis bietet seine Predigt „Das christliche Lehramt“, die er über Epheser 4,11 „Er hat etliche zu Hirten und Lehrern gemacht“ gehalten hatte.67 Hier wird theologisch zunächst ein dezidiert reformiertes Verständnis des Predigeramtes ersichtlich. Nicht „Götzenpriester und herrschsüchtige Führer des Volks“ sollen die Pfarrer sein, die „durch alle Feyerlichkeiten der Religion und des Gottesdienstes weder Weisheit noch Tugend beförderten, aber wohl den Aberglauben und das Laster begünstigten“.68 Aber sie seien auch keine Priester, die als „Mittelsperson zwischen Gott und den Menschen“69 handelten. Somit könne der Pfarrer beispielsweise auch nicht von Schuld freisprechen oder dem Taufwasser oder den Elementen des Abendmahls eine neue Qualität zufügen. Sein Verständnis grenzt Zollikofer von einem explizit als „Ueberbleibsel der schwachen jüdischen Denkungsart“70 bezeichneten Verständnis von Opfer und Priester ab. Damit einher geht allerdings auch Kritik am römischkatholischen Verständnis, ohne dass dieses aber namentlich benannt würde.

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Gesangbuch, oder Sammlung der besten geistlichen Lieder und Gesänge (wie Anm. 41). Blanckenburg stammte aus einem alten pommerschen Adelsgeschlecht und beschäftigte sich mit Literaturgeschichte. Nach seinem Abschied vom Militär 1776 ließ er sich in Leipzig 1778 als freier Schriftsteller nieder und pflegte mit Zollikofer und Christian Felix Weiße engeren Umgang. GARVE/ZOLLIKOFER, Briefwechsel zwischen Christian Garve und Georg Joachim Zollikofer, nebst einigen Briefen des erstern an andere Freunde (wie Anm. 46), S. 128 u. 147. Georg Joachim ZOLLIKOFER, Einige Betrachtungen über das Uebel in der Welt; Nebst einer Warnung vor den Sünden der Unkeuschheit; und andern Predigten, Reutlingen: Grözinger 31793, Vorrede, o.S. Georg Joachim ZOLLIKOFER, Das christliche Lehramt, in: DERS., Predigten über die Würde des Menschen, und den Werth der vornehmsten Dinge, die zur menschlichen Glückseligkeit gehören, oder dazu gerechnet werden. Zweyter Band, Leipzig: Weidmann 1795, S. 459–492. Ebd., S. 463 f. Ebd., S. 466. Ebd., S. 467.

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Sein rationalistisches Amtsverständnis zielt auf einen Prediger, der nicht allein in religiösen Kontexten, sondern sozusagen umfassender als Lebensbegleiter fungiert. Der Prediger „soll ein Lehrer der Religion und der gemeinnützigen Weisheit seyn“71 oder mit anderen Worten „ein Lehrer des Volkes oder der Gemeinde“.72 Um seinem Auftrag73 gerecht werden zu können, muss er auf die „Bücher- oder Schulsprache“ verzichten zugunsten der „Sprache des gemeinen Lebens, die unter wohlerzogenen, gesitteten Menschen üblich ist“.74 Die ihm zufallenden Aufgaben lassen ihn als Volksaufklärer erscheinen, der für eine vernünftige Durchdringung von Religion und Lebenswelt zu sorgen hat. Gegen die auch schon von den Zeitgenossen erhobenen Vorwürfe, anstatt Religion philosophische und moralische Predigten zu halten,75 wirft Zollikofer erstens ein, dass die Vernunft „auch Geschenk und Offenbarung Gottes“ sei.76 Zweitens sei der Prediger „für die meisten Menschen der einzige öffentliche Lehrer der gemeinnützigen Weisheit“, durch den sie zu weiteren Erkenntnissen und zu einem Wandel ihrer Einsichten geführt werden können.77 Diesem utilitaristisch geprägten Amtsverständnis des Predigers als Volksaufklärer, das von dem Versuch getragen ist, selbstkritisch Transparenz zu schaffen, entspricht Zollikofers homiletisches Konzept, das ganz im Sinne von Johann Joachim Spalding auf die „Nutzbarkeit“ zielte.78 Nicholas Saul spricht in diesem Zusammenhang in seinem Buch „Prediger aus der neuen romantischen Clique. Zur Interaktion von Romantik und Homiletik um 1800“ zutreffend davon, dass sich die Predigt „vor dem Richterstuhl der Vernunft und Öffentlichkeit rechtfertigen“ müsse. Das bedeutet ferner – so Saul – „Akkomodation der Lehre an die Vernunft und der 71 Ebd., S. 479 f. 72 Ebd., S. 479. 73 Durch den Prediger sollen die Menschen, „die keinen andern Unterricht haben, zum vernünftigen Nachdenken, zum bessern Gebrauche ihrer Geisteskräfte, zu größerer Aufmerksamkeit auf moralische, unsichtbare, entferntere Dinge angeführt; durch seine Vermittlung sollen alle herrschende Vorurtheile und Irrthümer, die einen schädlichen Einfluß in das Verhalten und die Gemüthsruhe der Menschen haben, bestritten, die gemeinnützigsten philosophischen Kenntnisse immer weiter verbreitet, und nach und nach der Masse von Wahrheiten, die jedermann erkennet und annimmt, einverleibt werden“ (ebd., S. 484 f.). 74 Ebd., S. 485. 75 In der pastoraltheologischen Zeitschrift „Journal für Prediger“ beispielsweise finden sich zahlreiche Beiträge zur Frage nach den angemessenen Gegenständen auf der Kanzel. 76 ZOLLIKOFER, Das christliche Lehramt (wie Anm. 67), S. 484. 77 Ebd., S. 484 f. 78 Siehe dazu Johann Joachim SPALDING, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, Berlin: Voß 1772; DERS., Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (Kritische Ausgabe. Johann Joachim Spalding, I/3), hg. von Tobias JERSAK, Tübingen 2002.

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Praxis an die Popularphilosophie“ oder anders ausgedrückt eine „Kolonisierung der Predigt durch Aufklärung und Popularphilosophie“.79 Die erste überlieferte Predigt hatte Zollikofer am Reformationsfest 1768,80 die zweite, unter Bezugnahme auf die vorrangehende, zwei Jahre später gehalten.81 Beide erinnerungskulturellen Beiträge tragen den wenig aussagekräftigen Titel „Von den Grundsätzen der Reformation“. Acht Jahre später hielt er die Predigt „Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen“.82 Im zweiten Band der postum veröffentlichten Predigten, der „christliche Fest- und Communion-Predigten“ enthält, finden sich unter der Rubrik „Am Reformationsfeste“ drei Predigten.83 Anders als bei den ersten beiden Predigten ist hier erstens eine Datierung noch nicht möglich, zweitens zeigt die Wahl ihrer Themen schon an, welches Verständnis der Reformation evident wird, wenn von der „christlichen Verträglichkeit“ oder über „Einige Grundsätze der Toleranz“ sowie von einer „Untersuchung über den Gebrauch der Vortheile der Reformation“ die Rede ist.84 Anhand von drei Perspektiven beleuchte ich im Folgenden Zollikofers Verständnis der Reformation. Dabei geht es zunächst um die Frage nach der Reformation als historischem Ereignis. Danach stelle ich die kritische Auseinandersetzung Zollikofers mit der Reformation dar, bevor schließlich die Zusammenhänge von Aufklärung und Reformation thematisiert werden.

79 Vgl. Nicholas SAUL, „Prediger aus der neuen romantischen Clique“. Zur Interaktion von Romantik und Homiletik um 1800, Würzburg 1999, S. 18. 80 Georg Joachim ZOLLIKOFER, Von den Grundsätzen der Reformation. Gehalten am Chursächsischen jährlichen Reformationsfeste, den 31. Oct 1768, in: DERS., Predigten, Erster Band, Reutlingen: Grözinger 31791, S. 262–278. 81 Georg Joachim ZOLLIKOFER, Von den Grundsätzen der Reformation. Gehalten an dem jährlichen Chursächsischen Reformationsfeste, den 31. Oct. 1770. Zweyte Predigt, in: DERS., Predigten, Zweyter Band, Reutlingen: Grözinger 31791, S. 96–116. 82 Georg Joachim ZOLLIKOFER, Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen, in: DERS., Einige Betrachtungen über das Uebel in der Welt (wie Anm. 66), S. 131–146. 83 Georg Joachim ZOLLIKOFER, Von der christlichen Verträglichkeit, in: DERS., Evang. reformirten Predigers in Leipzig, Predigten, nach seinem Tode herausgegeben. Zweyter Band, enthaltend christliche Fest- und Communion-Predigten (wie Anm. 34), S. 119–132; DERS., Einige Grundsätze der Toleranz, in: ebd., S. 133–145; DERS., Untersuchung über den Gebrauch der Vortheile der Reformation, in: ebd., S. 146–161. 84 William Tooke (1744–1820) besorgte eine englischsprachige Edition von Zollikofers Reformationspredigten: George J. ZOLLIKOFER, Seven sermons on the Reformation. Translatet from the German by Rev. W. Tooke, Boston: Wells 1809. Zahlreiche weitere Predigten erschienen als englische Übersetzungen seit 1804. Sie waren zum Teil auch im Besitz des hannoverischen Königs Ernst August; siehe dazu Katalog der Privat-Bibliothek Seiner Majestät des Königs von Hannover, Hannover: Schlüter 1858, S. 13.

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3.1. Die Reformation als geschichtliches Ereignis Außerhalb der gerade genannten Reformationspredigten kommt die Reformation in den anderen Predigten allenfalls implizit ins Spiel. Zollikofer verzichtet nämlich in seinen Predigten – und das scheint eines seiner primären homiletischen Prinzipien zu sein – auf historische Bezüge und Exempla. Auch in den Reformationspredigten nimmt die Reformation als historisches Ereignis nur eine untergeordnete Rolle ein. Denn Zollikofer erwähnt dort bloß die Tatsache der vor etwa 250 Jahren erfolgten Reformation, verzichtet aber auf die Nennung weiterer geschichtlicher Fakten. Diese Zurückhaltung gilt auch für die Reformatoren: Es werden allein – und nur selten – die Namen Luther und „Zwingel“85 genannt, noch seltener Melanchthon86 und Calvin.87 Ansonsten finden andere Reformatoren nur summarisch Erwähnung. Auch wenn der aus der Ostschweiz stammende Zollikofer theologisch, wie nicht nur in seinem Abendmahlsverständnis erkennbar wird, Zwinglianer und kein Calvinist war, erstaunt der überaus zurückhaltende Bezug auf Calvin einerseits ein wenig. Dieser Befund zeigt aber andererseits die Bedeutung Zwinglis in Zollikofers Ostschweizer Heimat. Das bedeutet aber auch, dass Zollikofer primär die Reformatoren der ersten Generation in den Blick nahm: nämlich Luther, Zwingli und andere „würdige Männer“,88 die sich der Reformation, verstanden als „Glaubens- und Kirchenverbesserung“,89 zugewandt hatten. Schon diese wenigen Beobachtungen zeigen erstens, wie wenig Zollikofers Reformationsverständnis historisch grundiert ist. Bei ihm findet sich vielmehr eine enthistorisierte wie entpersonalisierte Sicht der Reformation. Für den Leipziger Prediger, der nicht an reformationsgeschichtlicher Hagiographie interessiert war und diese vielmehr ablehnte, besaß die Reformation als historisches Faktum in seinen Predigten keinen wesentlichen heuristischen Wert. Für ihn zählten zweitens vielmehr die von der Reformation angestoßenen emanzipatorischen Prozesse. Auch die Reformation verortet Zollikofer in seinem optimistischen Geschichtsbild, das von dem Gedanken eines fortschreitenden Erkenntnisgewinns getragen ist. Somit kommt Zollikofer drittens schließlich nicht umhin, die Reformation samt ihren Protagonisten aus einer historisch gegebenen Distanz einer sachlichen Kritik zu unterziehen. Reformationserinnerung dient 85 ZOLLIKOFER, Von den Grundsätzen der Reformation (wie Anm. 80), S. 277, DERS., Von den Grundsätzen der Reformation (wie Anm. 81), S. 100. 86 Ebd., S. 114, betont er die Differenzen zwischen Luther und Melanchthon. Siehe auch ZOLLIKOFER, Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen (wie Anm. 82), S. 134. 87 Ebd., S. 134, nennt er mit Luther, Zwingli und Melanchthon zusammen „Kalvin“. 88 Ebd., S. 132. 89 ZOLLIKOFER, Von den Grundsätzen der Reformation (wie Anm. 81), S. 98.

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demnach protestantischer Selbstkritik: zum einen mit Blick auf die Segnungen und zum anderen auf die Grenzen der Reformationen.

3.2. Die Reformation in der Kritik In der am Reformationsfest 1776 gehaltenen Predigt „Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen“90 geht es Zollikofer darum, die wahren Verdienste der Reformation zu benennen. Um dieses Ziel zu erreichen, nimmt er lutherische wie reformierte Entwicklungen gleichermaßen in den Blick91 und setzt im ersten Teil mit einer „Entmythologisierung“ der Reformation und ihrer Protagonisten ein, wobei er zunächst zeigt, worin die Vorteile der Reformation nicht bestehen. Daran schließt sich eine Vermessung ihrer positiven Leistungen an. Seine Kritik an der Reformation, die er als „ungemeinschäzbare göttliche Wohlthat“92 beschreibt, zielt aus der Perspektive des aufgeklärten 18. Jahrhunderts auf deren zeitgeschichtlich und situativ bedingte Lehren. Die Reformatoren werden folglich, ohne dass dieses Faktum weiter ausgeführt würde, als Menschen des 16. Jahrhunderts aufgefasst, denen einerseits bestimmte, aber eben beschränkte Möglichkeiten der Erkenntnis zur Verfügung gestanden hatten. Gegen eine ahistorische und hagiographische Sicht der Reformatoren, wie sie häufig im Zusammenhang protestantischer Identitätsbildung zu erkennen ist, setzt er eine historisch relativierende Perspektive. Es geht ihm darum, präzise die Leistungen von Reformatoren und Reformation zu bestimmen, um sie von falschen Zuschreibungen zu befreien.93 Für ihn steht allerdings außer Frage, dass es sich bei der Reformation um ein gleichermaßen notwendiges wie herausragendes Ereignis mit epochaler Bedeutung handelt, das in alle Lebensbereiche hinein wirken sollte.94 Der geistesgeschichtliche Hintergrund dieser Deutung dürfte in der Annahme einer sich stufenweise entwickelnden Erkenntnis zu suchen sein, wie sie wirkungsvoll und einflussreich von Johann Salomo Semler (1725–1791) unter

90 ZOLLIKOFER, Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen (wie Anm. 82). Diese Predigt richtete Zollikofer vor allem an jene, die schon begonnen hatten, über die Lehren des Christentums selbständig nachzudenken (S. 132). 91 „Wenn ich von dem, was die Reformatoren geleistet oder nicht geleistet haben, rede, so rede ich nicht von Einer sondern von beyden protestantischen Kirchen; so rede ich ohne Unterschied von Luthern und von Zwingli, von Melanchthon und von Kalvin, von den schweizerischen und von den sächsischen Reformatoren.“ Ebd., S. 134. 92 ZOLLIKOFER, Von den Grundsätzen der Reformation (wie Anm. 80), S. 263. 93 ZOLLIKOFER, Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen (wie Anm. 82), S. 133. 94 Ebd.

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dem Begriff „Akkomodationstheorie“95 entwickelt worden war. Da sich die Reformation andererseits als geradezu revolutionärer Prozess verwirklichte, konnte sie ihre Lehren nicht systematisch, sondern meist nur situativ agierend entwickeln. Folglich unterblieben häufig die präzise begriffliche Durchdringung sowie die umfassende Behandlung aller zentralen theologischen Probleme. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Zollikofer legt zwar einerseits auf detaillierte historische Fakten keinen Wert, verortet aber dennoch die Reformation als historisches Ereignis. Die Wahrnehmung der historischen Distanz zwischen ihr und der Gegenwart erfordert und ermöglicht gleichermaßen eine kritische Auseinandersetzung mit der Reformation als einem Kind ihrer Zeit. Diese Sicht Zollikofers schafft insofern keinen Widerspruch, als die Reformation für ihn kein abgeschlossenes Werk darstellt,96 sondern den Anfang eines zukunftsoffenen teleologischen Prozesses. Zollikofer vertritt somit kein statisches, sich primär auf das historische Ereignis im engeren Sinne beziehendes Reformationsverständnis, sondern eine historisch relativierende und genetisch-prozesshafte Ansicht. Strukturell vergleichbar mit der pietistischen Vorstellung einer Vollendung der Reformation der Lehre durch eine Reformation des Lebens ist auch für Zollikofer die Reformation ein fragmentarisches unabgeschlossenes Ereignis, das im Sinne des aufklärerischen Perfektibilitätsgedankens zu einer begrifflichen wie inhaltlichen, aber auch zu einer lebenspraktischen Optimierung drängt. Reformation ist in diesem Sinn ein prozesseröffnendes Geschehen, das unter den jeweils verbesserten Erkenntnismöglichkeiten immer wieder neu zu bedenken ist. Denn zentrale theologisch-dogmatische Begriffe und Lehren beispielsweise hatten damals im 16. Jahrhundert aus unterschiedlichen Gründen nicht hinreichend bearbeitet werden können.97 Inzwischen ermöglichten die nun zur Verfügung stehenden besseren Hilfsmittel eine reformatorische Weiterarbeit. Dass diese Entwicklungen der Lehre auch auf Irrwege kommen und die eigentlichen Ideen der Reformation korrumpieren können, vor allem dann, wenn der Mensch seine begrenzten Erkenntnismöglichkeiten zu überschreiten versucht, gesteht Zollikofer freilich immer wieder ein. Worin bestehen nun aber die Vorteile der Reformation?

95 Siehe dazu Gottfried HORNIG, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther (Forschungen zur systematischen Theologie und Religionsphilosophie, 8), Göttingen 1961, S. 211–236. 96 ZOLLIKOFER, Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen (wie Anm. 82), S. 134. 97 Ebd., S. 136.

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3.3. Reformation als Aufklärung Dieses prozessual-teleologische Verständnis der Reformation führte zu einer Relativierung der beispielsweise in der zeitgenössischen lutherischen Orthodoxie vertretenen normativen Ansprüche der reformatorischen Lehren wie der Bekenntnisschriften.98 Mit Verweis auf die historische Relativität und die begrifflich-theologische Unvollkommenheit reformatorischer Lehren lehnt es Zollikofer ab, aus ihnen normative dogmatische Ansprüche zu generieren. Deutlich kritisiert er im Sinne der reformierten Sicht auf die Bekenntnisse eine theologisch normative Fixierung auf die Confessio Augustana, der er – wie auch anderen reformatorischen Bekenntnisschriften – allein zeitaktuelle apologetische wie affirmative Funktionen zuweist, ihr aber eine zeitlose normative LehrAutorität abspricht.99 Über dem Bekenntnis stehen für ihn unumstößlich Vernunft und Bibel: Daran müsse das Bekenntnis gemessen werden. In diesem Zusammenhang wendet er sich auch – kaum überraschend – gegen die orthodoxe Lehre von der Verbalinspiration. Gegen jegliche Wahrheitsansprüche theologischer Tradition setzt Zollikofer die kritische Überprüfung durch Schrift und Vernunft.100 Die Reformation, die sich auf den Ebenen des Glaubens und der Theologie einerseits und andererseits auf jenen kirchlicher Institution und Frömmigkeit vollzog,101 ist somit für ihn die Befreiung von normativer religiöser Bevormundung und der Beginn eines emanzipatorischen Prozesses, der selbst schließlich in eine Relativierung und Historisierung der Reformation in der Aufklärung mündet. Inzwischen kenne man beispielsweise das geringe Gewicht der „sogenannten protestantischen Unterscheidungslehren der protestantischen Kirche“.102 Darüber hinaus befreie die Reformation den Menschen zum Selbstdenken,103 sein von Gott gegebenes Menschsein als vernunftbegabtes Wesen104 zu vervollkommnen und zu verwirklichen.105 Der Mensch ist für Zollikofer 98 99

100 101 102 103 104 105

Ebd., S. 144 f. ZOLLIKOFER, Von den Grundsätzen der Reformation (wie Anm. 81), S. 102. Zum Verständnis der Bekenntnisse in der reformierten Tradition siehe Thomas K. KUHN, Reformiert bekennen. Der Heidelberger Katechismus, in: DERS. (Hg.), Bekennen, Bekenntnis, Bekenntnisse. Interdiziplinäre Zugänge (Greifswalder Theologische Forschungen, 22), Leipzig 2014, S. 145–170, hier S. 151. ZOLLIKOFER, Von den Grundsätzen der Reformation (wie Anm. 80), S. 272–274. ZOLLIKOFER, Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen (wie Anm. 82), S. 132. ZOLLIKOFER, Von der christlichen Verträglichkeit (wie Anm. 83), S. 132. ZOLLIKOFER, Von den Grundsätzen der Reformation (wie Anm. 80), S. 269. So auch in ZOLLIKOFER, Grundsätze zur Verwahrung vor dem Aberglauben (wie Anm. 32). ZOLLIKOFER, Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen (wie Anm. 82), S. 131.

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deswegen durchaus in der Lage, die nützlichen und notwendigen Wahrheiten und seine Weltbestimmtheit zu erkennen, aber diese Erkenntnis bleibt immer nur eine unvollkommene. Für den Menschen haben weiterhin Geheimnisse Bestand. Übertritt der Mensch seine von Gott gegebenen Erkenntnismöglichkeiten, komme er eben – wie gerade schon erwähnt – auf „Abwege und Irrwege“.106 Damit wehrt Zollikofer einerseits den Gedanken eines grenzenlosen Vertrauens in die Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis ab und bewahrt andererseits einen Raum unergründlicher göttlicher Geheimnisse. Andererseits kommt der Mensch für Zollikofer auch dann auf Abwege, wenn in religiöser Hinsicht die sinnliche Einbildungskraft über die Vernunft herrsche und zur religiösen Schwärmerei führe.107 Neben dem eben geschilderten prozessualen Verständnis der in die Aufklärung mündenden Reformation ist bei Zollikofer der Begriff der Freiheit semantisch von zentraler Bedeutung.108 Historisch gesehen nennt er die Befreiung von religiöser Bevormundung und Entmündigung sowie die Befreiung von Bigotterie und übersteigerter religiöser Sinnlichkeit, wie sie sich in den zahlreichen wie überflüssigen Zeremonien und religiöser Schwärmerei zeige. Zollikofer subsumiert die in diesen Kontext gehörenden Phänomene unter dem Begriff des „Aberglaubens“, den die Reformation vermindert, aber keineswegs vollständig ausgelöscht habe.109 Von diesen Überlegungen ausgehend kritisiert Zollikofer zeitgenössische Formen religiöser Schwärmerei und des Aberglaubens und fordert, dass der religiösen Empfindung die Erkenntnis vorausgehen müsse.110 Als weiteren Vorteil der Reformation benennt Zollikofer die Einschränkung menschlicher Gewalten und die Befreiung von Hierarchien in religiösen Belangen sowie die Eröffnung der Möglichkeit zu freiem und ungehindertem Gebrauch der Bibel.111 Zudem relativiert er in Abgrenzung zum katholischen Sakramentsverständnis die Bedeutung des Abendmahls und der christlichen

106 ZOLLIKOFER, Die Schwärmerey in Rücksicht auf Religionsbegriffe insbesondere (wie Anm. 33), S. 82 f. 107 Siehe dazu die Ausführungen in ebd. 108 ZOLLIKOFER, Untersuchung über den Gebrauch der Vortheile der Reformation (wie Anm. 83), S. 147–159. 109 ZOLLIKOFER, Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen (wie Anm. 82), S. 140 f. 110 ZOLLIKOFER, Die Schwärmerey in Rücksicht auf Religionsbegriffe insbesondere (wie Anm. 33), S. 86. 111 ZOLLIKOFER, Worinnen die Vortheile der Reformation bestehen (wie Anm. 82), S. 142–144.

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Zeremonien insgesamt112 und erklärt ein geschäftiges und wohltätiges Leben zum besten Gottesdienst.113 Auf der Basis dieses als reformatorisch deklarierten Freiheitsbegriffes114 entwickelte Zollikofer jenseits der zeitgenössischen kontroverstheologischen Debatten sein Konzept religiöser Toleranz. Dabei unterlässt er es aber – und darin erweist sich ein idealisiertes Bild der Reformation – beispielsweise auf die durch die reformatorische Bewegung marginalisierten oder auch verfolgten religiösen Gruppen wie die Täufer einzugehen.115 Die Reformation stilisiert er vielmehr als Ursprung frühneuzeitlicher Religionsfreiheit, die ihren vorläufigen Höhepunkt im ausgehenden 18. Jahrhundert erreicht hat. Als letztes Ziel und bleibende Aufgabe steht ihm die Vereinigung der Konfessionen vor Augen. Grundlegend für Zollikofers Religionstheorie ist die in der Aufklärungstheologie verbreitete Reduktion der essentiellen Glaubensartikel. Zudem vertritt er im Gegensatz zu einem offenbarungstheologischen oder pneumatologischen Ansatz ein eher konstruktivistisches Religionsverständnis, das die Partikularität und Kontextualität religiöser Vorstellungen wie theologischer Lehren betont. Seine Ausführungen scheinen auch hier an Semlers Überlegungen anzuknüpfen,

112 Georg Joachim ZOLLIKOFER, Warnung vor dem Mißbrauche der Wahrheit, 1. in Rücksicht auf die Lehre vom heiligen Abendmahle, in: DERS., Warnung vor einigen herrschenden Fehlern unsers Zeitalters, wie auch vor dem Mißbrauche der reinern Religionserkenntniß, in Predigten (wie Anm. 32), S. 138–158, hier S. 150–153; sowie ZOLLIKOFER, Von den Grundsätzen der Reformation (wie Anm. 81), S. 110. 113 Georg Joachim ZOLLIKOFER, Fortsetzung. Warnung vor dem Mißbrauche der Wahrheit. 2. in Rücksicht auf den Vorzug der moralischen Pflichten vor gottesdienstlichen Gebräuchen und Uebungen; 3. in Rücksicht auf die Unschädlichkeit des unverschuldeten Irrthums in Religionssachen; 4. in Rücksicht auf die gelinden und billigen Urtheile über die zukünftigen Schicksale der Menschen, die nicht Christen sind, in: DERS., Warnung vor einigen herrschenden Fehlern unsers Zeitalters, wie auch vor dem Mißbrauche der reinern Religionserkenntniß, in Predigten (wie Anm. 32), S. 159–175, hier S. 161 f. 114 „Freyheit ist unstreitig das edelste Kleinod, das wir dem Christenthume zu verdanken haben.“ Freiheit wird hier vornehmlich verstanden als Freiheit von religiösen Zwängen. Georg Joachim ZOLLIKOFER, Fortsetzung. Warnung vor dem Mißbrauche der Wahrheit, […] 15. in Rücksicht auf den Werth und den Gebrauch der christlichen Freyheit, in: DERS., Warnung vor einigen herrschenden Fehlern unsers Zeitalters, wie auch vor dem Mißbrauche der reinern Religionserkenntniß, in Predigten (wie Anm. 32), S. 207– 218, hier S. 217 f. 115 Siehe beispielsweise ZOLLIKOFER, Von den Grundsätzen der Reformation (wie Anm. 81), hier S. 109.

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wie er sie in seinem „Versuch einer freiern theologischen Lehrart“116 dargelegt hat, und die unter dem Begriff der „Lokaltheorie“ subsumiert werden.117 Religion an sich ist für Zollikofer ein sich pluriform ausgestaltendes Phänomen. Denn Religion bietet nicht nur ein individualisiertes Sinn- und Deutungssystem, sondern ist darüber hinaus immer auch – wie es die moderne Religionsgeographie zeigen kann118 – beeinflusst von geographischen wie klimatischen Bedingungen.119 Von hier aus entwarf Zollikofer insbesondere anlässlich des Reformationsfestes im Umfeld einer lutherischen Majorität seine Konzepte religiöser Toleranz respektive religiöser Verträglichkeit.

4. Fazit Abschließend fasse ich zusammen und formuliere drei Thesen. 1. Die Aufklärung verortet Zollikofer als Fortsetzung und weitreichende Realisierung eines durch die Reformation initiierten freiheitlichen Emanzipationsprozesses. Dabei spielt die Reformation weniger als historisches Ereignis eine Rolle, sondern wird vielmehr zu einem im Sinne aufklärerischer Konzepte stilisierten Quellort neuzeitlicher Freiheit. Sie dient insofern in zweifacher Hinsicht der Legitimierung der Aufklärung: Zum einen in historischer Perspektive, weil mit der Reformation der Gedanke der Freiheit respektive der Befreiung generiert worden sei. Die Aufklärung nimmt also ein zentrales reformatorisches Anliegen auf. Zum anderen bedarf die in spezifischen historischen Kontexten sich vollziehende und noch auf einer weniger entwickelten Stufe der Geistesgeschichte stehende Reformation einer theoretischen wie praktischen Vervollkommnung. Dieser geschichtlich überkommenen Aufgabe stellt sich die Aufklärung; diese reformatorische Vervollkommnung bedeutet: aufklären. 2. Diese Aufklärung zielt bei Zollikofer auf das von ihm propagierte konfessionspolitische Modell einer „christlichen Verträglichkeit“.120 Dabei geht es

116 Johann Salomo SEMLER, Versuch einer freiern theologischen Lehrart, zur Bestätigung und Erläuterung seines lateinischen Buchs, Halle: Hemmerde 1777. 117 Siehe dazu Martin LAUBE, Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs (Beiträge zur historischen Theologie, 139), Tübingen 2006, S. 249 f. 118 Manfred BÜTTNER, Grundfragen der Religionsgeographie. Mit Fallstudien zum Pilgertourismus (Geographia religionum, 1), Berlin 1985; ferner Reinhard HENKEL, Religionsgeographie, in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. 3, Göttingen 31992, S. 1551– 1553. 119 ZOLLIKOFER, Von der christlichen Verträglichkeit (wie Anm. 83), S. 123 f. 120 Ebd.

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nicht vorrangig um eine unionistisch perspektivierte Nivellierung konfessioneller Differenzen, nicht um die Gleichförmigkeit von Begriffen und Meinungen, sondern um die elementare Einigkeit des Geistes. In Entsprechung zur Vielgestaltigkeit menschlicher Existenz setzt Zollikofer ein hohes Maß religiöser Ausdifferenzierung voraus. Die damit einhergehenden Unterscheidungslehren besitzen allerdings bloß einen relativen Wert. Er vertritt somit kein normatives Religionsverständnis, sondern vielmehr ein existential anthropologisches und nimmt dabei auch gewissermaßen religionsgeographisch die Bedeutung der jeweiligen Lebenswelten (z. B. Klima und Geographie) für die Ausgestaltung religiöser Ausprägungen in den Blick. 3. Die solchermaßen erklärbaren historischen Ambivalenzen der reformatorischen Bewegungen sowie die binnenprotestantischen Ausdifferenzierungen spielen keine wesentliche Rolle. Reformation im Sinne Zollikofers führt vielmehr zur Relativierung bekenntnisspezifischer Lehren und schließlich zu einem hierarchisch strukturierten religionstheoretischen Konzept, das zwar im Christentum – ohne einen Ausschließlichkeits- oder Absolutheitsanspruch zu formulieren – ein in besonderer Weise geeignetes Mittel zur Erlangung der Glückseligkeit erkennt, anderen Religionen aber diese Möglichkeit ebenfalls zuspricht. Dieses Konzept der religiösen Toleranz,121 das er immer wieder an die Idee reformatorischer Freiheit zurückbindet, stellt den Versuch dar, der nicht erst im späten 18. Jahrhundert unverkennbar anwachsenden religiösen Gleichgültigkeit als einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung zu begegnen. Allerdings geht es dabei weder bei Zollikofer noch bei anderen religiösen Aufklärern um ein binnenkirchliches Problem, sondern ihr Engagement zielte darauf, mittels einer rationalistisch und utilitaristisch fundierten Religionsreform für einen Mentalitätswandel und einen gesellschaftlichen wie ökonomischen Fortschritt zu sorgen. Für eine beschränkte Zeit fand dieses Konzept durchaus Anklang. Aber spätestens im Zuge des sich rasch etablierenden Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts hatte es seine Plausibilität eingebüßt und diente dort nunmehr bestenfalls der Ausbildung eines theologischen Feindbildes.

121 ZOLLIKOFER, Einige Grundsätze der Toleranz (wie Anm. 34).

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Johann Gottfried Herder und die Reformation Die Reformation bedeutete für Protestanten immer schon einen für ihre Identität wichtigen Geschehenszusammenhang, aber mehr noch: eine Epoche von weltgeschichtlicher Bedeutung. Dieser Epochencharakter erhielt ein neues Profil, als sich im Laufe des 18. Jahrhunderts das historische Denken verbreitete und schließlich mit der Französischen Revolution von 1789 das Bewusstsein für geschichtliche Zäsuren allgemein geworden war. Vom neuen Verständnis für „Epoche“ und Zeitgenossenschaft fiel auch ein Licht zurück auf die Konzeptionalisierung der Reformation als eines Beginns der Moderne: Entweder betonte man die Kontinuität von Reformation und Revolution, eventuell als erste und zweite Phase einer menschheitlichen Entwicklung, oder auch (in Analogie zum Verhältnis des Alten Testamentes zum Neuen Testament) als Ankündigung und Erfüllung. Dabei konnte unterschieden werden nach inhaltlichen Anhaltspunkten, welche die Reformation mit der Revolution verbanden (Freiheit), oder nach formalen Kriterien, namentlich dem Bruch der Traditionen, welche beiden Ereigniskomplexen gemeinsam waren. In beiden Fällen beeinflußte die Deutung der aktuellen Ereignisse im Gefolge von 1789 den Rückblick auf 1517 und die Folgen. Novalis deutete die Französische Revolution bereits 1799 als „eine zweite Reformation, eine umfassendere und eigentümlichere“; sie „mußte das Land zuerst treffen, das am meisten modernisirt war, und am längsten aus Mangel an Freiheit in asthenischem Zustande gelegen hatte“: Frankreich. Aus dem Antagonismus von Gelehrtenstand und absolutistischem Staat erklärt Novalis jene Revolution, die er in diesem Zusammenhang „Auferstehung“ und „Regeneration“ nennt: „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven erhebt sie ihr Haupt als neue Weltstifterin empor.“1 Mit Recht nannten sich die Insurgenten Protestanten, denn sie protestirten feyerlich gegen jede Anmaßung einer unbequemen und unrechtmäßig scheinenden Gewalt über das Gewissen. Sie nahmen ihr stillschweigend abgegebenes Recht auf Religions-Untersuchung, Bestimmung und Wahl, als vakant wieder einstweilen an sich zurück. Sie stellten auch eine Menge richtiger Grundsätze auf, führten eine Menge löblicher Dinge ein, und

1

NOVALIS, Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment [1799]. Zit. nach NOVALIS, Werke in einem Band, hg. von Hans-Joachim MÄHL und Richard SAMUEL, München/Wien 1981, S. 526–544, hier S. 536 f.

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schafften eine Menge verderblicher Satzungen ab; aber sie vergaßen das nothwendige Resultat des Prozesses; trennten das Untrennbare, theilten die untheilbare Kirche und rissen sich frevelnd aus dem allgemeinen christlichen Verein, durch welchen und in welchem allein die ächte, dauernde Wiedergeburt möglich war […]. Unglücklicher Weise hatten sich die Fürsten in diese Spaltung gemischt, und viele benutzten diese Streitigkeiten zur Befestigung und Erweiterung ihrer landesherrlichen Gewalt und Einkünfte. Sie waren froh[,] jenes hohen Einflusses überhoben zu seyn[,] und nahmen die neuen Consistorien nun unter ihre landesväterliche Beschützung und Leitung. Sie waren eifrigst besorgt[,] die gänzliche Vereinigung der protestantischen Kirchen zu hindern, und so wurde die Religion irreligiöser Weise in Staats-Gränzen eingeschlossen, und damit der Grund zur allmähligen Untergrabung des religiösen cosmopolitische[n] Interesse[s] gelegt. So verlor die Religion ihren großen politischen friedestiftenden Einfluß, ihre eigenthümliche Rolle des vereinigenden, individualisierenden Prinzips der Christenheit. Der Religionsfriede ward nach ganz fehlerhaften und religionswidrigen Grundsätzen abgeschlossen, und durch die Fortsetzung des sogenannten Protestantismus etwas durchaus Widersprechendes – eine Revolutions-Regierung permanent erklärt.2

Wir sehen hier sehr deutlich, wie die Erfahrungen von 1789 auf 1517 und die Folgen übertragen wurden. Als positive Seiten der Reformation erschienen dem herrnhutisch erzogenen Lutheraner mit katholisierenden Tendenzen die Geistesfreiheit, die Zurückweisung der Anmaßung des Glaubenszwanges, aber die negativen Seiten schienen bei Weitem zu überwiegen, wo die Glaubensspaltung betont wurde und die Politisierung durch die Beteiligung der Fürsten. Novalis Rede wurde im Jenaer Kreis als Provokation begriffen und selbst von seinen geistesakrobatischen und experimentierlustigen Freunden, den Brüdern Schlegel und Schelling, als unannehmbare Zumutung aufgefaßt. Es ging im Kern darum, die Reformation neu zu denken, ihre Bedeutung für ein nachrevolutionäres, romantisches Bewusstsein neu zu justieren. Das führt uns insofern zu Herder, als dieser gleichzeitig in unmittelbarer Nähe in Weimar über dieselben Fragen nachdachte und als lutherischer Kirchenmann und anfänglicher Anhänger der Französischen Revolution3 über beider Verhältnis nachzudenken gezwungen war. Gleichermaßen kritisch wie Novalis sah er die politische Komponente der in den Territorialfürstentümern gefangenen evangelischen Landeskirchen. Gleichermaßen positiv deutete er das Potential der Freiheit, das in der Reformation aufschien, wo jeder Einzelne auf seine Verantwortung und sein Gewissen verwiesen wurde. Die Reformation wurde für Herder, wie Ernst Walter Zeeden formuliert hat, zum „Typus der

2 3

Ebd., S. 530–532. Vgl. Günter ARNOLD, Die Widerspiegelung der Französischen Revolution in Herders Korrespondenz, in: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik 3 (1981), S. 41–89.

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Revolution“.4 Weniger ablehnend als Novalis sah er den Zusammenhang von Religion und Philologie: Was für Novalis verhängnisvoll schien, der absolute Schriftbezug einer Buchreligion,5 erschien dem Philologen Herder einfach selbstverständlich; nur der scholastische Umgang mit Religion, die Verwissenschaftlichung im lateinischen Mittelalter, forderte seine Kritik heraus. Wenn sich Novalis schließlich an der Kanonisierung Luthers als eines neuen Heiligen stieß,6 sah Herder in seinem Persönlichkeits- und Geniebewusstsein darin weniger eine Gefahr als vielmehr einen Anreiz zur Nachahmung. In der Tat fällt auf, dass sich Herder immer wieder als neuer Reformator betrachtete, schon im Reisejournal von 1769,7 später auch im Verhältnis zu seiner Frau, die ihn bereitwillig als charismatische Führungsfigur in der Rolle Luthers zu sehen liebte („Du bist Luther“, schrieb sie ihm, seine eigenen Erwägungen aufnehmend).8 Den Gipfelpunkt dieser Genieauffassung des Reformators finden wir bei Goethe, der im Zusammenhang des Reformationsjubiläums von 1817 sein Unverständnis für das theologische Anliegen der Reformation mit Ergriffenheit angesichts der Persönlichkeit des Reformators zu verbinden suchte: „Unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache [der Reformation] nichts interessant als Luthers Charakter […]. Alles übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt.“9 Auch Herders Auseinandersetzung mit dem Komplex „Reformation“ beruht zu einem beträchtlichen Teil auf dem Geniekult um Luther und seiner Identifikation mit Martin Luther; die übrigen Reformatoren und die außerpersönlichen Zusammenhänge treten in den Hintergrund. Herder las und studierte Luther weit mehr und intensiver als seine Zeitgenossen, wozu ihn wohl Johann Georg Hamann ermuntert haben mag, der sich seit seiner Londoner Bekehrung in beständiger Auseinandersetzung mit den

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8

9

Ernst Walter ZEEDEN, Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums, 2 Bde., Freiburg i. Breisgau 1950–52, hier Bd. 1, S. 332. NOVALIS, Die Christenheit oder Europa (wie Anm. 1), S. 531 f. Novalis: Luther „wurde zum Rang eines Evangelisten erhoben“ (ebd.). Johann Gottfried HERDER, Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Johann Gottfried HERDER, Werke in zehn Bänden, Frankfurt am Main 1985–2000 (im Folgenden: FA); hier FA, Bd. 9/2, S. 28, 66 u. 74. Caroline Flachsland an Johann Gottfried Herder, etwa 18. Dezember 1772: „Du bist Luther, das habe ich mir immer gesagt, und es freut mich, daß Dus fühlst, wenn Dus gleich nicht gestehen wilst.“ (Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs, hg. von Hans SCHAUER, Bd. 2, Weimar 1928, S. 307 f.). GOETHE, Brief an Karl Ludwig von Knebel vom 22. August 1817, in: Johann Wolfgang von GOETHE, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Briefe der Jahre 1814– 1832, hg. von Ernst BEUTLER, Zürich/Stuttgart 1965, S. 241.

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Schriften Luthers befand.10 Herder selbst besaß zahlreiche Schriften Luthers, er kommentierte Luther, beurteilte seine Übersetzungen und suchte sie zu übertreffen; er arbeitete (wörtlich) unter seinem Bild und sah ihn als Vorbild an.11 Während er Luthers Schritt in die Ehe und die Gründung einer Familie und damit letztlich die Stiftung der sozialen Institution des lutherischen Pfarrhauses mit dem Prediger als Bürger guthieß und nachvollzog,12 wurde ihm die Verknüpfung von geistlichem Amt und weltlicher Einbindung in einen Fürstenstaat aufgrund seiner eigenen Erfahrung immer problematischer. Schon in Bückeburg war er als Kirchenmann mit seinem Landesherrn in Konflikt geraten über Fragen der Anstellung von Pfarrern, die er nicht billigen konnte;13 in Weimar sah er sich beständig in der Lage, gegen weltliche Einmischung seine geistliche Würde behaupten zu müssen.14 Grundsätzlich hatte er sich früh schon gegen die preußisch-aufgeklärten Zusammenhänge und Spaldings Konzept des Predigers als Volkslehrer ausgesprochen.15 Die Möglichkeiten, die sich für ihn aus seiner gesellschaftlichen Spitzenstellung in einem Subsystem des Fürstenstaates ergaben, suchte er zu nutzen, wobei er sich freilich an den Grenzen wundrieb. Als junger Mann in Riga hatte er vor allem die positiven Möglichkeiten eines 10 Vgl. Heinrich BORNKAMM, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Göttingen 21970, S. 22. 11 Näheres dazu findet man bei Günter ARNOLD, Luther im Schaffen Herders, in: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik 9 (1986), S. 225–274; hier v. a. S. 227–234. 12 Vgl. Herders Brief an Caroline Flachsland vom 12. Dezember 1772, in: Johann Gottfried HERDER, Briefe, hg. von Wilhelm DOBBEK und Günter ARNOLD, 17 Bde., Weimar 1984–2014 (im Folgenden: DA), hier DA, Bd. 2, S. 278. 13 Nur ein Fall (freilich der eklatanteste) sei kurz angedeutet. Ein Mann namens Stock wollte unbedingt eine Predigerstelle in Schaumburg-Lippe haben. Herder hielt ihn für unfähig, und tatsächlich war er mehrfach bei Examina schon gescheitert. Dieser Stock nun hatte Beziehungen und ließ diese spielen. Insbesondere bot er der Rentkammer ein zinsgünstiges Darlehen. In den damaligen Verhältnissen konnte er damit rechnen, dass man seinem Begehren gnädig entgegenkam. Pfarrstellen waren ohnehin gering angesehen, also warum sollte Stock nicht Pfarrer werden können? Für Herder, den Dienstvorgesetzten, war dies gänzlich undenkbar und empörend; für ihn war das schlimmste „Simonie“, d. h. Kauf eines geistlichen Amtes. Er bestellte den Kandidaten zur Prüfung: doch dieser erschien nicht. Herder ließ nicht locker im Bewusstsein seines Rechts. Aber der Graf saß am längeren Hebel und empfand dies nicht als Gewissensfall. Er tat, was Politiker auch heute noch gerne tun: er setzte eine Untersuchungskommission ein, verzichtete schließlich, doch das Verhältnis war fortan vergiftet. (Näheres dazu: Michael ZAREMBA, Johann Gottfried Herder. Prediger der Humanität. Eine Biographie, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 148 f.) 14 Vgl. Martin KEßLER, Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern. Das Amt des Generalsuperintendenten von Sachsen-Weimar, 2 Bde., Berlin/New York 2007. 15 Vgl. HERDER, An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter (1773) (FA, Bd. 9/1, S. 67–138).

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Reformators gesehen: Als lernbegieriger Jüngling von geringer Herkunft konnte er innerhalb der Kirche aufsteigen, um in Staat und Gesellschaft Reformen zu bewirken.16 In der Weimarer Zeit erschien ihm sein Land als eine „erbärmliche Apanage der Reformation zwischen den Gebürgen“.17 Er litt an den Begrenzungen, welchen die lutherischen Landeskirchen in Staaten wie Sachsen-Weimar unterworfen waren, schon gar dann, wenn der Fürst, das nominelle Oberhaupt, sich weit vom Christentum entfernt hatte. Allerdings erklärt sich aus dieser Konfliktlage auch Herders spezifische Entwicklung als neuzeitlicher Theologe, der das Erbe der Reformation mit den Anforderungen der Aufklärung zu vermitteln suchte, sein „Humanitätschristentum“18 bzw. seine „Humanisierung der lutherschen Theologie“.19 Im späten 18. Jahrhundert erreichte man die fortgeschrittenen Gläubigen im mittleren Deutschland nur dann noch mit einer religiösen Botschaft, wenn man das lutherische Christentum in den Horizont der zeitgenössischen Philosophie rückte und es in eine zeitgemäße Sprache zu übersetzen verstand.20 Herder und die Reformation ist also ein komplexes Thema, bei dem nur eines unverrückbar feststeht: die unbedingte Vorbildlichkeit der Persönlichkeit Martin Luthers. Herder zweifelte an wesentlichen Stücken seiner Theologie (an der Erbsündenlehre, an Luthers und Kants Überzeugung von der fundamentalen Schlechtigkeit des Menschen), aber nie am Reformator selbst. Die Kulturentwicklung im Anschluss an die Heilige Schrift war sein Lebenselixier, ob es nun um ein neues Verständnis des „Hohen Liedes“ als (weltliche, erotische) „Lieder der Liebe“ ging21 oder um die Schöpfungsgeschichte als „Älteste Urkunde des Menschengeschlechtes“.22 Vom Reformator des 16. Jahrhunderts unterschied sich der Reformer des 18. Jahrhunderts freilich nicht zuletzt auch dadurch, dass er seinen geistigen Horizont nach Asien hin erweitert hatte und die Schriften anderer Weltreligionen rezipierte – ebenso wie die neuere 16 Vgl. dazu den Brief an Immanuel Kant vom November 1968: „[…] u. da ich aus keiner andern Ursache mein geistliches Amt angenommen, als weil ich wuste, u. es täglich aus der Erfahrung mehr lerne, daß sich nach unsrer Lage der bürgerlichen Verfassung von hieraus am besten Cultur und Menschenverstand unter den ehrwürdigen Theil der Menschen bringen laße, den wir Volk nennen: so ist diese Menschliche Philosophie auch meine liebste Beschäftigung“ (DA, Bd. 1, S. 120). 17 Brief an Johann Georg Hamann vom 20. März 1778 (DA, Bd. 4, S. 60). 18 ARNOLD, Luther im Schaffen Herders (wie Anm. 11), S. 227. 19 ZEEDEN, Martin Luther und die Reformation (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 366. 20 Zur Deutung Herders als Übersetzer für seine Zeitgenossen vgl. Eilert HERMS, Herder, Johann Gottfried (1744–1803), in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 15, Berlin/New York 1986, S. 70–95. 21 HERDER, Lieder der Liebe (1778) (FA, Bd. 3, S. 431–521). 22 HERDER, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1776) (FA, Bd. 5, S. 179–659).

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Philosophie, insbesondere die pantheistischen Erweiterungen bei Spinoza, Leibniz und Lessing. Die scharfen Abgrenzungen, die Luther seinerzeit gegenüber Türken, Juden und Papisten formuliert hatte, wurden von Herder und seinen Zeitgenossen zurechtgerückt und im milden Lichte der Aufklärung und Toleranz gesehen.23 Wie aber steht es mit der Geschichtskonzeption, der Reformation als dem Beginn der Neuzeit, dem Zusammenhang von Reformation und Revolution? In seiner frühen Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774) wird die Reformation zu einem der Leitbeispiele der Diskontinuität der Geschichte, des großen Bruches. Wir würden uns vielleicht einen ruhigen Fortgang der Geschichte wünschen, aber der „Gang Gottes in der Natur“ verläuft nicht so. Die biblische Analogie des Samenkornes soll uns dazu verhelfen, einzusehen: Der Grund jeder Reformation war allemal ein solches kleines Samenkorn, fiel still in die Erde, kaum der Rede wert: die Menschen hattens schon lange, besahens und achtetens nicht – aber nun sollen dadurch Neigungen, Sitten, eine Welt von Gewohnheiten geändert, neugeschaffen werden – ist das ohne Revolution; ohne Leidenschaft und Bewegung möglich? Was Luther sagte, hatte man lange gewußt, aber jetzt sagte es Luther!24

Das Auftreten Luthers wird zum Muster einer Revolution – verstanden nicht im marxistischen Sinne, sondern als Eingreifen Gottes in die Geschichte.25 Ein besonderer Akzent in Herders Reformationsrezeption liegt auf der kulturgeschichtlichen Sichtweise: Luther als Erneuerer der deutschen Sprache. Insbesondere durch seine Bibelübersetzung erwarb sich Luther Verdienste um die Entwicklung der deutschen Sprache. Dabei beruft sich Herder gerne auch auf Lessing und Klopstock, deren eigene Bedeutung in eben diesem Felde liegt, die aber beide auch schon auf Luther als ihren Ahnherrn verwiesen hatten. Herder schließt sich hier an, und er schraubt seinen Preis des Sprachreformators in höchste Höhen. Er rühmt nicht nur die Bibelübersetzung, sondern auch den Liederdichter, den Prediger, den Volksredner, den Kommentator (vor allem des Psalters). Für Herder lag Luthers Verdienst im Umgang mit der deutschen Sprache nicht zuletzt im Sprechen, in volkstümlicher mündlicher Rede, in gesundem Menschenverstand. Der sprechende Luther wird gegen die schreibende Scholastik in Stellung gebracht, gegen eine nur an Wissenschaft, Logik 23 In der „Adrastea“ distanziert sich Herder von Luthers zu harten Urteilen über die Juden (FA, Bd. 10, S. 628). 24 HERDER, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) (FA, Bd. 4, S. 59). 25 Zum Geschichtsverständnis des jungen Herder vgl. Michael MAURER, Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder in ihrem Verhältnis zur Aufklärung, in: Gerhard SAUDER (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744–1803, Hamburg 1987, S. 141–155.

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und System orientierte Sprache. In dieser Hinsicht erscheint ihm dann Christian Thomasius als ein zweiter Luther.26 Es fällt auf, dass sich diese Sichtweise bei Herder schon im Frühwerk zu erkennen gibt („Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente“, „Von Deutscher Art und Kunst“, „Über Thomas Abbts Schriften“) und sich durch die Jahrzehnte seines Schaffens durchhält. Im Spätwerk besinnt er sich noch einmal prononciert auf Luther als Spracherneuerer (vor allem in den „Briefen zu Beförderung der Humanität“ und „Adrastea“). Überhaupt zeigt sich Herder außerordentlich geschichtskundig und durchdrungen von einem historischen Bewusstsein. Wo es aber darum geht, die Entwicklung der deutschen Sprache und Literatur nachzuzeichnen, steht Luther oft genug am Anfang, obwohl sich Herder auch in mittelalterlicher Literatur auskennt wie kein zweiter seiner Zeitgenossen.27 Aber die Position Luthers und auch anderer Reformatoren sowie einiger Zeitgenossen (gewürdigt wird vor allem Ulrich von Hutten!)28 gewinnt auch deshalb eine besondere Bedeutung, weil die deutsche Sprache in der Folgezeit durch die Gelehrtensprache Latein und die Hof- und Adelssprache Französisch überlagert und in ihrer Entwicklung beschädigt wurde.29 Die Literatur der Reformationszeit bekommt auch deshalb klassischen Rang zugesprochen, weil sie noch vor der Entfaltung des barocken Schwulstes und vor der absolutistischen Sprachmengerei geltende Muster setzen konnte. Diese kulturgeschichtliche Bedeutung der Reformationszeit, bei der auch die Entfaltung des Gutenberg’schen Buchdrucks und die von Luther und Melanchthon betriebene Förderung der Schulen mitbedacht werden,30 bestärkt Herder in der Einsicht, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine klassische Epoche zu sehen, deren Bedeutung nicht allein in der theologischen Entwicklung zu erkennen ist. Zu Luthers Zeiten sei die deutsche Sprache ein erhabenes gotisches Gebäude gewesen,31 das in seinem späteren neumodischen Umbau Charakter und Festigkeit verloren habe.

26 HERDER, Adrastea (FA, Bd. 10, S. 431). 27 Vgl. Heinz STOLPE, Die Auffassung des jungen Herder vom Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung, Weimar 1955. 28 HERDER, Hutten (1776) (FA, Bd. 2, S. 609–629). 29 HERDER, Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, III.2. (FA, Bd. 1, S. 383 u.ö.); DERS., Briefe zu Beförderung der Humanität, 9. Sammlung, Brief 111 (FA, Bd. 7, S. 597– 605). 30 HERDER, Briefe das Studium der Theologie betreffend, 45. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 545). 31 HERDER, Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, III.2 (FA, Bd. 1, S. 385). Vgl. auch HERDER, Adrastea V.9.7. (FA, Bd. 10, S. 763 f.).

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In Deutschland hat Luther in diesem Gesichtspunkt unendlich Verdienst. Er ists, der die deutsche Sprache, einen schlafenden Riesen, aufgewecket, und losgebunden: er ists, der die scholastische Wortkrämerei, wie jene Wechslertische, verschüttet: er hat durch seine Reformation eine ganze Nation zum Denken und Gefühl erhoben.32

Herder ist textkundig genug, um die neueren Übersetzungen des 18. Jahrhunderts, die Wertheimer Bibel und die neologische von Christian Tobias Damm, weit unter diejenige Luthers herabzusetzen.33 Die Sprachmeister der eigenen Zeit werden von Herder geradezu verachtet; ein Rückgriff auf Luther wird empfohlen. Er schließt sich explizit Klopstocks Urteil an, der geschrieben hatte: „Auch in der Sprache haben wir von Luthern noch lange nicht so viel gelernet, als wir lernen könnten und sollten“.34 In seiner Schrift „An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter“ (1774) charakterisiert er sie als „treue Herzenssprache Luthers“35 und in den „Briefen, das Studium der Theologie betreffend“ (1780/81) spricht er von „unserm Herz-erquickenden Luther“.36 Luther habe in der „Sprache des gesunden Verstandes“ gepredigt und eine „reine, feste, allverständliche Sprache“ gepflegt.37 In seinen Predigten zeige Luther „freie Herzenssprache und reiche biblische Analyse“.38 In „Vom Geist der ebräischen Poesie“ (1782/83) preist er die „herzliche Einfalt Luthers“ (als Psalmenübersetzer);39 er heißt ihn „großer Meister unsrer Sprache“40 und „mächtiger Luther“: „Luthers Liedersprache und Bibel-Übersetzung hat mehr auf die Bildung unsrer Sprache gewirkt, als ähnliche Werke bei anderen Nationen“.41 Schon in „Von deutscher Art und Kunst“ (1773) wird Luther als Liederdichter gewürdigt.42 In den „Briefen, das Studium der Theologie betreffend“ werden auch Luthers Übersetzungen von Kirchenliedern gelobt und überhaupt Luthers Hochschätzung der Musik als „zweite Theologie“ zustimmend weitergegeben.43 Vor allem die Übersetzung des „Hohen Liedes“, um die sich Herder besonders bemüht hatte und die er als „Lieder der Liebe“ separat veröffentlicht 32 HERDER, Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, III.2 (FA, Bd. 1, S. 381). 33 Ebd., S. 382. 34 HERDER, Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. Erste Sammlung. 2. Ausgabe I.6 (FA, Bd. 1, S. 582). 35 HERDER, An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter XIII. (FA, Bd. 9/1, S. 127). 36 HERDER, Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 22. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 357). 37 Ebd., 29. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 418 f. u. 421). 38 Ebd., 41. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 514). 39 HERDER, Über den Geist der ebräischen Poesie I, 2. Gespräch (FA, Bd. 5, S. 703). 40 Ebd., II, VIII. (FA, Bd. 5, S. 1178). 41 Ebd., IX. (FA, Bd. 5, S. 1216). 42 HERDER, Von deutscher Art und Kunst (FA, Bd. 2, S. 490–492). 43 HERDER, Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 46. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 552 f. u. 554).

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hat,44 hebt Luthers Leistung hervor: „Held der Bibelübersetzung und (Trotz aller verfehlten Stellen) insonderheit auch in diesem Buch“.45 Herder hat sein biblisches Studium unter stetem Rekurs auf Luthers Übersetzung, seinen Kommentar und seine Vorreden getrieben. Dementsprechend empfiehlt er ihn den Theologiestudenten bei jeder Gelegenheit und zitiert auch ausgewählte Sätze und ganze Passagen aus Luthers Schriften bei vielen Gelegenheiten.46 Herder hat eine gewisse Tendenz, Luther auch als Gewährsmann für seine eigenen Anschauungen in Anspruch zu nehmen, ob es nun um die Genesis-Exegese geht,47 um die Ablehnung allegorischer Tändeleien48 oder um die Unterscheidung von Lehrmeinungen und Religion.49 Auch sieht er in Luther einen großen Pädagogen und wichtigen Anreger der Schulen und des Unterrichts.50 Zwar erscheint der Wittenberger Reformator dominant im Zentrum von Herders Reformationsbild, doch steht Luther im Kontext seiner Mitstreiter. Er war der entscheidende Mann am Beginn der Neuzeit, aber er stand nicht allein. Herder empfiehlt eine ganze Reihe von Biographien der Männer des Reformationszeitalters, und dabei kommen dann nicht nur die anderen Reformatoren zum Zuge, sondern auch die Humanisten und Künstler.51 Er spricht allgemein konzeptionalisierend von einem „Jahrhundert der Reformation“,52 dem er epochale Qualität zumisst, und preist Luther, Melanchthon und Zwingli: „Sie handelten, sie veranstalteten mehr, als sie schrieben: sie schrieben mehr, als wir zu lesen vermögen“.53 Von der Reformation ging eine Erneuerung in Gottes Wort, aber auch im guten Geschmack aus.54 Elemente der Renaissance ergänzen hier die theologischen Errungenschaften; ein kulturgeschichtliches Epochenverständnis verbindet Humanismus und Reformation zu einem einheitlichen Ganzen.

44 Johann Gottfried HERDER, Lieder der Liebe. Die ältesten und schönsten aus Morgenlande, Leipzig: Weygand 1778 (FA, Bd. 3, S. 431–521). 45 HERDER, Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 11. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 247). 46 Zum Beispiel: ebd., 34. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 460–463), 40. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 504 f. u. 512 f.). 47 HERDER, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts II.4. (FA, Bd. 5, S. 496–547). 48 Ebd. (FA, Bd. 5, S. 566). 49 HERDER, Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen VI.24. (FA, Bd. 9/1, S. 843). 50 HERDER, Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 48. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 545). 51 Ebd., 48. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 569). 52 Ebd., 23. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 356). 53 Ebd., 50. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 601). 54 Ebd., 40. Brief (FA, Bd. 9/1, S. 507).

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Mag man also auch in theologischen Fragen eine gewisse Entwicklung vom jungen zum späten Herder voraussetzen (mithin auch eine Änderung der Einschätzung Luthers und der Reformation?),55 bleibt doch als Konstante die geniekulturelle Hochschätzung der Persönlichkeit Martin Luthers. Das Festhalten an dieser identitätsrelevanten Konstante führt insofern einen Wandel mit sich, als Luther nun in den nachrevolutionären Kontexten erneut virulent werden kann, so dass etwa die Dialogpartner in der „Adreastea“ darüber nachdenken können, wieweit die Reformation eine deutsche Tat war und Martin Luthers Auftreten eine „Deutsche Religion“ bewirkt haben könnte. Hier wird freilich sogleich das beschränkende Landeskirchentum eingewandt und durch den Hinweis auf die Parallele der anglikanischen Kirche die Begrenztheit einer solchen Auffassung angedeutet.56 Was bleibt? Luther war ein patriotischer großer Mann. Als Lehrer der Deutschen Nation, ja als Mitreformator des ganzen jetzt aufgeklärten Europa ist er längst anerkannt; auch Völker, die seine Religionssätze nicht annehmen, genießen seiner Reformation Früchte. Er griff den geistlichen Despotismus, der alles freie gesunde Denken aufhebt und untergräbt, als ein wahrer Herkules an, und gab ganzen Völkern, und zwar zuerst in den schwersten, den geistlichen Dingen den Gebrauch der Vernunft wieder. Die Macht seiner Sprache und seines biedern Geistes vereinte sich mit Wissenschaften, die von und mit ihm auflebten, vergesellschaftete sich mit dem Bemühen der besten Köpfe in allen Ständen, die zum Teil sehr verschieden von ihm dachten; so bildete sich zuerst ein populares literarisches Publikum in Deutschland und in den angrenzenden Ländern. Jetzt las was sonst nie gelesen hatte; es lernte lesen, was sonst nicht lesen konnte. Schulen und Akademien wurden gestiftet, Deutsche geistliche Lieder gesungen, und in Deutscher Sprache häufiger als sonst gepredigt. Das Volk bekam die Bibel, wenigstens den Katechismus in die Hände; zahlreiche Sekten der Wiedertäufer und andrer Irrlehrer entstanden, deren viele, jede auf ihre Weise, zu gelehrter oder popularer Erörterung streitiger Materien, als auch zu Übung des Verstandes, zu Politur der Sprachen und des Geschmacks beitrug.57

So die Würdigung in den „Briefen zu Beförderung der Humanität“ (2. Sammlung 1793), in denen Herder den Ertrag seines Lebenswerkes unter Berücksichtigung der großen Krise der Neuzeit einzubringen suchte. Wenig später, in seiner Schrift „Von der Gabe der Sprachen am ersten christlichen Pfingstfest“ (1794), hob Herder anlaßgemäß die spiritualistische Komponente hervor: 55 Überblick: Martin KEßLER, Herder’s Theology, in: Hans ADLER/Wulf KOEPKE (Hg.), A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder, Rochester/New York 2009, S. 247–275. 56 HERDER, Adrastea IV. Band, 1. Stück (FA, Bd. 10, S. 613–615). 57 HERDER, Briefe zu Beförderung der Humanität, 2. Sammlung, 18. Brief (FA, Bd. 7, S. 95).

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Der wiedergebrachten Gabe der Sprachen mußte die Reformation bald nachfolgen; und so unvollständig sie blieb, so richtig war ihr Principium, Protestantismus gegen alle Knechtschaft der Unwissenheit und des Aberglaubens. Geist ist das Wesen des Luthertums, wie Geist das Wesen des Christentums ist; freie Ueberzeugung, Prüfung, und Selbstbestimmung; ohne diesen Geist der Freiheit ist oder wird alles Leichnam.58

Damit haben wir also jene Klammer von Reformation und Revolution erreicht: Die Aufklärung versteht sich als Fortführung eines Weges der Freiheit des Denkens, der mit der Reformation Martin Luthers zuerst beschritten wurde. Hegel hat dies später in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ (1837) zugespitzt: „Dies ist der wesentliche Inhalt der Reformation; der Mensch ist durch sich selbst bestimmt frei zu sein“.59 Doch braucht man nicht auf Hegel auszugreifen; schon Herder hat aus dem Gang der Geschichte das Formalprinzip destilliert: „Die Rechte, die Luther hatte, haben wir alle; lasset uns dieselben so aufrichtig, vest und groß wie Er üben“.60

58 HERDER, Christliche Schriften. 1. Von der Gabe der Sprachen am ersten christlichen Pfingstfest, 7., in: HERDERS Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard SUPHAN, 33 Bde., Berlin 1877–1913 [Reprint: Hildesheim/Zürich/New York 1994], hier: Bd. 19, S. 51. 59 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Sämtliche Werke, Bd. 11: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 51971, S. 519 f. – Zu Hegels Lutherdeutung vgl. BORNKAMM, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte (wie Anm. 10), S. 34–36 bzw. 225–237. 60 HERDER, Christliche Schriften. 1. Von der Gabe der Sprachen (wie Anm 58), S. 51.

STEFAN GERBER REFORMATIONSGESCHICHTE IN DER ELEMENTARBILDUNG

Reformationsgeschichte in der Elementarbildung. Johann Gottfried Melos und das aufgeklärt-rationalistische Reformationsbild in Sachsen-Weimar-Eisenach um 1800.

Johann Gottfried Melos kann mit seinem reformationsgeschichtlichen Lehrbuch von 1817, das bis 1820 in schneller Folge vier Auflagen erlebte und im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll,1 gewiss nur mit Abstrichen als „Volksaufklärer“ charakterisiert werden. Er war es, insofern er, wie gezeigt werden soll, in Theologie, Pädagogik, Welt- und Menschenbild ganz von den Postulaten der Aufklärungsbewegung und der Neologie durchdrungen war, und vor allem insofern er Zeit seines Lebens erkennbar aus dem Elan des „pädagogischen Jahrhunderts“2 heraus handelte und publizierte: Die Einzelnen durch Bildung zur menschlichen Verbesserung zu führen, sie zu „Menschen“ im Sinne des Zeitalters der Vernunft zu erziehen, in dem sich auch Melos explizit wähnte, war zweifelsohne die ideelle Motivation seines Tuns als Lehrer und Publizist. 1819 schrieb er, es sei „unstreitig ein großer Vorzug unserer Zeit“, dass Viele sich bemühten, „in die Schulen des Volkes gemeinnützige Kenntnisse zu bringen, Kenntnisse, die man zeither entweder nicht, oder doch mangelhaft gefunden hat.“ Schließlich könne es keinem Gebildeten gleichgültig sein, „ob das Volk vernünftig werde, oder nicht.“3 Das galt ihm gerade für den Bereich, der in seinen Augen Kern der Lebensgestaltung war und blieb: die Religion. Programmatisch eröffnete Melos seine „Beschreibung des jüdischen Landes zur Zeit Jesu“ für die Bürgerund Volksschulen im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, die 1822 im 1

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Vgl. Johann Gottfried MELOS, Kurze Geschichte der Reformation für Bürger- und Volksschulen, 1., 2. u. 3. Aufl., Weimar: Hoffmann 1817; DERS., Geschichte der Reformation für Bürger- und Volksschulen, 4. verbesserte u. vermehrte Aufl., Weimar: Hoffmann 1820. Zu dieser Bezeichnung für das 18. Jahrhundert, die wahrscheinlich auf das Umfeld des Dessauer Philanthropins und Joachim Heinrich Campe zurückgeht, vgl. knapp: HeinzElmar TENORTH, Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, Weinheim/München 42008, S. 78 f. Im Kontext der Volksaufklärung: Ulrich HERMANN (Hg.), „Das pädagogische Jahrhundert“. Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland, Weinheim/Basel 1981. Johann Gottfried MELOS, Naturlehre für Bürger- und Volksschulen, 4. verbesserte Aufl., Rudolstadt: F. S. Hof- Buch und Kunsthandlung 1832, [S. III].

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STEFAN GERBER

Verlag des Weimarer Landes-Industrie-Comptoirs erschien,4 mit der Sentenz: „Der Geist unseres Zeitalters ist zu einem ernsten, würdigen Leben erwacht.“5 In einem solchen Zeitalter vernünftiger menschlicher und intellektueller Bildung, so formulierte er im Anschluss daran einmal mehr sein aufklärungstheologisches Credo, müsse auch das Verständnis der Heiligen Schrift auf einer im aufgeklärten Sinne „vernünftigen“ Grundlage stehen, denn, so Melos, die Schrift sei nun einmal „vor mehreren tausend Jahren und in einem fremden Erdtheile geschrieben“, woraus folge, „daß viele Stellen nach den Sitten und Gebräuchen jener alten Zeit erklärt werden müssen, einer Zeit, deren Sitten und Gebräuche von unsern gegenwärtigen gar sehr verschieden sind.“6 Schon das bloße Unternehmen einer biblischen Realienkunde, wie Melos sie hier für die sachsen-weimarische Elementarbildung vorlegte, war ein aufklärungstheologisches Signal: Die Offenbarung in ihre geographische, kulturelle, politische und religiöse Umwelt zu stellen, wie Melos es in diesem Lehrbuch tat, hieß – das war der Neologie am Beginn einer Bewegung, die in die historisch-kritische Exegese der liberalen Theologie münden sollte, voll bewusst – sie zu historisieren. Wenn Melos dann hervorhob, dass „bei den großen Fortschritten des Bibelstudiums von Seiten der Gelehrten auch der Ungelehrte nicht zurückbleiben“ dürfe; dass sein Lehrbuch dementsprechend ein „Hülfsbuch für den Ungelehrten, und namentlich bestimmt für den Landschullehrer“ sei, um seinen Zöglingen „manche sonst dunkele Stellen der Bibel verstehen“ zu lehren;7 und wenn er schließlich betonte, sich nicht nur auf die neutestamentliche Landeskunde des Weimarer Generalsuperintendenten Johann Friedrich Röhr,8 sondern auch auf die

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Vgl. Johann Gottfried MELOS, Beschreibung des jüdischen Landes zur Zeit Jesu, in geographischer, bürgerlicher, religiöser, häuslicher und gelehrter Hinsicht, für Bürger- und Volksschulen, Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1822. – Zum Verlag vgl. Katharina MIDDELL, „Die Bertuchs müssen doch in dieser Welt überall Glück haben“. Der Verleger Friedrich Justin Bertuch und sein Landes-Industrie-Comptoir um 1800, Leipzig 2002; DIES., „Dann wird es wiederum ein Popanz für Otto …“. Das Weimarer LandesIndustrie-Comptoir als Familienbetrieb (1800–1830). Mit einem Anhang ungedruckter Dokumente, Leipzig 2006. Auch Wiebke VON HÄFEN, Ludwig Friedrich von Froriep (1779–1847). Ein Weimarer Verleger zwischen Ämtern, Geschäften und Politik, Köln/ Weimar/Wien 2007, besonders S. 147–235. MELOS, Beschreibung des jüdischen Landes (wie Anm. 4), S. V. Ebd., S. VI. Ebd. Vgl. Johann Friedrich RÖHR, Palästina oder historisch-geographische Beschreibung des jüdischen Landes zur Zeit Jesu zur Beförderung einer anschaulichen Kenntniß der evangelischen Geschichte für Religionslehrer und gebildete christliche Bibelleser, 3. vermehrte u. verbesserte Aufl., Zeitz: Webel 1821. Zu Röhr vgl. knapp: Susanne SIEBERT, Röhr, Johann Friedrich, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 8, Herzberg

REFORMATIONSGESCHICHTE IN DER ELEMENTARBILDUNG

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„Biblische Archäologie“ des Prämonstratensers Johann Jahn,9 „eines unserer aufgeklärtesten römisch-katholischen“ Schriftsteller zu stützen,10 deutet sich mit dieser dezidiert pädagogischen Ausrichtung und den irenischen Bezügen auf den katholischen Spätaufklärer Jahn11 tatsächlich so etwas wie ein volksaufklärerisches Profil an. Allerdings hat Melos sich nie direkt an den „Landmann“ gewandt, sondern – im Rahmen seiner amtlichen Stellung in Weimar, auf die noch zurückzukommen sein wird – stets auf die Vermittlungsebene, auf die Multiplikatoren gezielt: Auf die angehenden Landschullehrer des Großherzogtums. Sie wollte Melos zu einer aufgeklärten Elite für die Landbevölkerung heranbilden. Dieses Anliegen, wie so viele Volksaufklärer, in der Publizistik mit Ratschlägen zur materiellen Lebensführung oder zu Landwirtschaft und Gewerbe zu verbinden, wäre Melos nicht eingefallen. Sein Anliegen fußte auf der Überzeugung, dass es möglich und notwendig sei, den Schülern der weimarischen Landschulen das, was er ganz unumwunden den „Fortschritt“ der Wissenschaft nannte,12 in einer für sie erfassbaren Präsentationsform zu vermitteln und damit zugleich ihrer „sittlichen“ Erziehung zu dienen. Zu Beginn seiner 1818 publizierten „Mustersammlung zu Declamationsübungen für die Jugend“ – wo aufgeklärte Literaten und Pädagogen wie Magnus Gottfried Lichtwer, Christian Fürchtegott Gellert oder Gottlieb Konrad Pfeffel den Schwerpunkt bildeten, aber auch „Erweckte“ wie Friedrich Adolf Krummacher Aufnahme fanden – schrieb Melos kennzeichnend, er habe nur Texte ausgewählt, die geeignet seien, „gute Gesinnungen und fromme Gefühle zu wecken, zu beleben und zu stärken“ (worauf „des Lehrers ganzes Bestreben“ gerichtet sein müsse) und zugleich „auch der noch wenig gebildeten Jugend verständlich“ seien.13 Seiner „Naturlehre für Bürger- und Volksschulen“, die zuerst 1819 erschien und bis 1843 sechs Auflagen erlebte,14 bescheinigte der

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21994, Sp. 509–512. Auch: Erhardt HANSCHE, Johann Friedrich Röhr (1777–1848) und der theologische Rationalismus, Berlin 42011. Vgl. Johann JAHN, Biblische Archäologie, 3 Bde., Wien: Carl Ferdinand Beck 1797–1805. Zu Jahn, der aufgrund seiner aufklärungstheologisch geprägten Exegese des Alten Testaments 1805 seinen Lehrstuhl in Wien verlor vgl. u. a. Elisabeth BIRNBAUM, Das Judithbuch im Wien des 17. und 18. Jahrhunderts. Exegese – Predigt – Musik – Theater – Bildende Kunst, Frankfurt am Main 2009, S. 97–99. MELOS, Beschreibung des jüdischen Landes (wie Anm. 4), S. VII. Zum Gesamtzusammenhang vgl. jetzt die Beiträge in: Rainer BENDEL/Norbert SPANNENBERGER (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus. Rezeptionsformen in Ostmittel- und Südosteuropa, Köln/Weimar/Wien 2015. MELOS, Beschreibung des jüdischen Landes (wie Anm. 4), S. VI. Johann Gottfried MELOS, Mustersammlung zu Declamationsübungen für die Jugend, Leipzig: C. H. F. Hartmann 1818, S. III f. Vgl. Johann Gottfried MELOS, Naturlehre für Bürger- und Volksschulen, mit Hinweisung auf biblische Stellen, Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1819; DERS., Naturlehre

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Verleger in bezeichnender Diktion, sie verbinde naturwissenschaftliche Unterweisung mit der „religiösen Bildung des Volks“, lenke sie „den Blick des Lesers“ doch „immer auf das Höhere und Göttliche in der Natur […] mit steter Bekämpfung des verderblichen Aberglaubens.“15 In der Tat war – hier zeigte sich Melos, wie wir auch beim Blick auf die Reformationsgeschichte sehen werden, dezidiert „aufklärerisch“ – „Aberglaube“ ein zentraler Negativbegriff seiner Religions- und Moralpädagogik. Ihn durch Wissenserwerb und „vernünftige“ Welterklärung zu bekämpfen, musste in seinen Augen nicht nur eine der bedeutendsten Aufgaben des Volks- und Bürgerschullehrers sein, sondern war unverkennbar ein innerster Beweggrund seines eigenen publizistischen Wirkens: Er habe, so schrieb er zu Beginn seiner bereits erwähnten „Naturlehre“ von 1819, nur den Wunsch, „daß wenigstens die künftige Generation, wo möglich, gegen den schädlichen Betrug des Aberglaubens sicher gestellt seyn, und daß es mit der sittlichen und religiösen Fortbildung des Menschengeschlechts immer besser werden möge.“16 Denn dass diese „Aufklärung“ nur gelingen könne, wenn ihre Grundlage ein „geläutertes“ – und das hieß: protestantisches und neologisch geprägtes – Christentum sei, stand für Melos, wie für weite Teile der deutschen Aufklärungsbewegung außer Frage. An der Kirchlichkeit, an kirchlich gefasster und durch eine zeitgemäß theologisch gebildete Geistlichkeit vermittelter Religiosität durfte es, gerade um der „Aufklärung“ willen, keine Abstriche geben – das war Melos’ Maxime bis in die schulische Alltagspraxis hinein. So begründete er in einem Seminarbericht einen Nachlass an Schulgeld (der eine direkte Schmälerung seines eigenen Einkommens bedeutete) damit, der Vater des Jungen habe angegeben, „daß er sein Kind dieses Jahr nicht konfirmieren lassen könne, wenn ich auf Bezahlung dringen wollte. Das sei ferne! Ich müsste ein Barbar sein, wenn ich solche Gründe nicht ehren wollte.“17 Wenn man Melos bei diesen ambivalenten Befunden unter die „Volksaufklärer“ einreihen will, so kann er wohl vor allem für den Wandel der Volksaufklärungsbewegung stehen, den die Forschung sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts anbahnen und nach der Jahrhundertwende mit wachsender Deutlichkeit vollziehen sieht: Den Wandel von einer auf die Reform des ländlichen oder kleingewerblichen Wirtschaftens und Lebens konzentrierten Bewegung zu für Bürger- und Volksschulen sowie die untern Classen der Gymnasien. Durchgesehen und besonders in Hinsicht auf die physikalischen und astronomischen Elementarkenntnisse berichtigt und vermehrt von Dr. E[rnst] F[erdinand] August, 6. Aufl., Leipzig: Heinrich Franke 1843. 15 Christian Daniel BECK, Allgemeines Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1822, 3. Bd., Leipzig: Carl Cnobloch 1822, S. 101. 16 MELOS, Naturlehre (wie Anm. 14), [1832], S. VI. 17 So zit. in: Hermann RANITZSCH, Das Grossherzogliche Lehrerseminar zu Weimar in dem ersten Jahrhundert seines Bestehens. Eine Gedenkschrift, Weimar 1888, S. 38, Anm. 3.

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einem auf umfassende Erziehung und Bildung des „Landmannes“ ausgerichteten Projekt: Rationale Welterfassung und das aus ihr hervorgehende Wissen der aufgeklärten Bildungseliten sollte – in entsprechend aufbereiteter Form – nun auch der Orientierungspunkt für den Ungebildeten werden. Melos’ bereits zitierte charakteristische Formulierung von 1822, der „Ungelehrte“ dürfe im gegenwärtigen Zeitalter hinter dem „Gelehrten“ nicht mehr zurückbleiben, war geradezu ein Programmwort für diese Erweiterung des volksaufklärerischen Anliegens am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts.18 Woher kam diese dezidierte Hinwendung Melos’ zur Elementarbildung? Hier ist zunächst auf den lebensgeschichtlichen Hintergrund seiner intellektuellen Entwicklung zu verweisen. Johann Gottfried Mehlhose, der 1770 im damals noch kursächsischen Großenmonra bei Kölleda geboren wurde, das 1815 zu Preußen kam, stammte nicht aus bildungsbürgerlichen Verhältnissen, sondern war unter eben jenen „Landleuten“, jenem „Volk“ aufgewachsen, das die Volksaufklärer als ihre Zielgruppe betrachteten.19 Erst als Lehrer und Publizist in Weimar änderte Mehlhose seinen als unschön und lächerlich empfundenen Familiennamen in das bildungsbürgerliche, Anklänge an das Griechische bietende „Melos“.20 Seine Eltern – „einfache, ehrliche Landleute“21 – führten eine mittlere bäuerliche Wirtschaft, waren nicht unbemittelt und offenbar so weit von der Bildungsbewegung der Zeit berührt, dass sie den Weg des Sohnes über die Großenmonraer Dorfschule und die Stadtschule im sachsen-weimarischen Buttstädt auf das Gymnasium in der Residenzstadt Weimar zuließen und stützten. Dort erlangte Melos ein Stipendium der Herzogin Luise, der Ehefrau Carl Augusts, das ihm das Studium der Theologie und Philologie an den Universitäten Jena und Leipzig ermöglichte; hierher vor allem rührt die rationalistisch-neologische theologische Prägung Melos’. Nach Weimar zurückgekehrt 18 Vgl. dazu aus der vielfältigen Literatur prononciert zusammenfassend die Beiträge in: Holger BÖNING/Hanno SCHMITT/Reinhart SIEGERT (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und des 19. Jahrhunderts, Bremen 2007; in europäischer Perspektive: Hanno SCHMITT/Holger BÖNING/Werner GREILING/Reinhart SIEGERT (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung, Bremen 2011. Zu Thüringen: Alexander KRÜNES, Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (1815–1848), Köln/Weimar/Wien 2013, besonders S. 57–87. 19 Für biographische Angaben zu Melos ist man vor allem auf die zeitgenössische Biographik angewiesen. Vgl. v. a. Johann Gottfried Melos, in: Neuer Nekrolog der Deutschen 6 (1828), 2. Teil, Ilmenau: Bernh[ard] Fr[iedrich] Voigt 1830, S. 900–902; Karl GRÄBNER, Die Großherzogliche Haupt- und Residenz-Stadt Weimar, nach ihrer Geschichte und ihren gegenwärtigen gesammten Verhältnissen dargestellt. Ein Handbuch für Einheimische und Fremde, Weimar: Bernhard Friedrich Voigt 21836, S. 179 f. 20 Vgl. z. B. Heinrich HAXEL, Vier Stammbücher der Familie Freiligrath, Detmold 1976, S. 13. 21 GRÄBNER, Die Großherzogliche Haupt- und Residenz-Stadt (wie Anm. 19), S. 179.

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avancierte er 1798 zum Kollaborator an dem Gymnasium,22 das er vier Jahre zuvor als Schüler verlassen hatte und knüpfte die Beziehungen, die wesentlich für die Förderung seines weiteren Weges im sachsen-weimarischen Schuldienst werden sollten: Melos gab Hausunterricht in den Familien des weimarischen Generalsuperintendenten Johann Gottfried Herder und des Gymnasialdirektors Karl August Böttiger, der bis 1804 in Weimar lebte. Besonders Böttiger sollte ein Förderer für Melos werden;23 1805 versuchte Böttiger – inzwischen in Dresden – Melos als Nachfolger des Pädagogen Gustav Friedrich Dinter in der Direktion des Lehrerseminars in der Dresdner Friedrichstadt in die sächsische Hauptstadt zu vermitteln. Die Beziehung zwischen Melos und Böttiger war eng – davon zeugt nicht zuletzt die Vielzahl der Briefe, die Melos an Böttiger richtete, und die in der bisherigen Böttiger-Forschung noch keine weitere Aufmerksamkeit gefunden haben.24 Sie zeigen Melos in der Rolle eines regen Informanten Böttigers, der Hofereignisse, Entwicklungen in der weimarischen Verwaltung und Kirche, aber auch Gerüchte und Klatsch weitergibt. Im Herbst 1817 z. B. sticht ein umfänglicher Bericht über das Wartburgfest heraus, dessen Informationen Melos aus den Aussagen seines ehemaligen Schülers Christian Wilhelm Schumann zusammengetragen hatte, die bei der Wartburgfeier zugegen

22 Vgl. zu Melos’ Anstellungsverhältnissen z. B. die Hinweise in: Martin KEßLER, Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern. Das Amt des Generalsuperintendenten von Sachsen-Weimar, 2 Teile, Berlin/New York 2007, hier Tl. 1, S. 208. Vgl. auch RANITZSCH, Das Grossherzogliche Lehrerseminar (wie Anm. 17), S. 16–18, 25 f. u. 29. 23 Zu Böttiger vgl. v. a. Julia A. SCHMIDT-FUNKE, Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006; René STERNKE (Hg.), Böttiger-Lektüren. Die Antike als Schlüssel zur Moderne. Mit Karl August Böttigers antiquarisch-erotischen Papieren im Anhang, Berlin 2012. Vgl. außerdem: Bernhard MAURACH, Karl August Böttiger als Berichterstatter der Goethezeit, Diss. phil., Washington 1971; Ernst Friedrich SONDERMANN, Karl August Böttiger. Literarischer Journalist der Goethezeit in Weimar, Bonn 1983. – Böttigers umfänglicher Briefwechsel, dem auch die im Beitrag zitierten Briefe von Melos entstammen und der zentral für die Rekonstruktion seines umfänglichen Beziehungsnetzes ist, ist z. T. veröffentlicht; vgl. v. a. Klaus GERLACH/René STERNKE (Hg.), Ausgewählte Briefwechsel aus dem Nachlass von Karl August Böttiger, Bd. 1: Karl August Böttiger, Briefwechsel mit Auguste Duvau. Mit einem Anhang der Briefe August Duvaus an Karl Ludwig von Knebel, Berlin 2004; Bd. 2: Karl August Böttiger, Briefwechsel mit Christian Gottlieb Heyne, Berlin/New York 2015. – Böttigers Erinnerungen an die Weimarer „Szene“: Karl August Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, hg. von Klaus GERLACH und René STERNKE, Berlin 1998. 24 Vgl. Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (im Folgenden: SLUB Dresden), Nachlass Carl August Böttiger, Mscr. Dresd. h. 37, 4°, Bd. 126. Für diesen Beitrag wurden nur die Briefe des Jahres 1817 gesichtet; vgl. SLUB Dresden, Mscr. Dresd. h. 37, 4°, Bd. 126, Nr. 64–73 u. 75–78.

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gewesen war.25 Melos gehörte also zum weitgespannten bildungsbürgerlichen Beziehungsnetzwerk, das Böttiger um sich herum schuf und nutzte. Auch Melos selbst war seit dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts fest in diese Schicht eingebunden und vor allem in Weimar (trotz anfänglicher Skepsis Herders ihm gegenüber)26 eine angesehene Persönlichkeit. Seine Tochter Ida lernte in Unkel am Rhein, wo sie als Erzieherin arbeitete, Ferdinand Freiligrath kennen, heiratete den Dichter 1841 und die Stammbücher Idas, ihrer Mutter und einer anderen Tochter der Familie Melos dokumentieren viele Freundschaften und Begegnungen innerhalb der Jena-Weimarer Kreise und im gesamten deutschen Bildungsbürgertum.27 In Weimar gehörten Johann Peter Eckermann, Kanzler Friedrich von Müller, die Malerin Louise Seidler und der Prinzenerzieher und Gelehrte Frédéric Soret zu den näheren Bekannten und häufigen Besuchern der Familie Melos.28 Die Einträge vieler junger Engländer in diesen Stammbüchern verweisen auf ein weiteres wichtiges Tätigkeitsfeld von Melos in Weimar: Er unterhielt ein, auf Aufforderung von Großherzog Carl August gegründetes,29 Pensionat für junge Engländer, die während ihrer Deutschlandaufenthalte Weimar besuchten und verband dies mit einem „Institut“ zum Erlernen der deutschen Sprache, in dem Eckermann unterrichtete.30 Melos’ Haus wurde damit zu einem der Mittelpunkte der England-Rezeption und der Anglophilie im „klassischen“ Weimar.31 1804 richtete Melos zudem gemeinsam mit seiner Frau Ulrica 25 Vgl. Brief von Johann Gottfried Melos an Karl August Böttiger, Weimar, 23. Oktober 1817, in: SLUB Dresden, Mscr. Dresd. h. 37, 4°, Bd. 126, Nr. 78. – Christian Wilhelm Schumann (1790–1854), 1810 Hofadvokat in Weimar, 1815 Regierungsassesor, 1817 Regierungsrat, zuletzt Geheimer Regierungsrat; Sohn von Johann Christoph Wilhelm Schumann (1762–1827), der Landschaftssyndikus und zuletzt Kriminialrat in Weimar war. Vgl. Manfred KOLTES/Ulrike BISCHOF/Sabine SCHÄFER, Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, Bd. 7: 1816–1817, Teil 2: Register, Weimar 2004, S. 139. Vgl. auch Großherzoglich Sachsen-Weimar-Eisenachisches Hof- und Staatshandbuch auf das Jahr 1819, Weimar: Friedrich Albrecht [1819], S. 48. 26 Vgl. KEßLER, Herder (wie Anm. 22), S. 211 f. 27 Vgl. HAXEL, Vier Stammbücher (wie Anm. 20). Die Stammbücher von Ulrica Justine Wilhelmine Melos (1780–1866), der Ehefrau von Johann Gottfried Melos sowie seiner Töchter Ida (Ehefrau Freiligraths) und Marie befinden sich in: Lippische Landesbibliothek Detmold, FrS 323, FrS 324, FrS 325. 28 Vgl. dazu Wilhelm BUCHNER, Ferdinand Freiligrath. Ein Dichterleben in Briefen, 2 Bde., Lahr 1881–1882, hier Bd. 1, S. 364. 29 Ebd. 30 Vgl. u. a. Heinrich Hubert HOUBEN, J. P. Eckermann. Sein Leben für Goethe, 2 Bde., Leipzig 1925–1928, hier Bd. 1, S. 320 f. 31 Vgl. Almut OTTO/Thomas SCHMIDT, „Ilm-Athen“ oder „Deutsches Babel“? Der Salon der Ottilie von Goethe zwischen Weltläufigkeit und Provinzialisierung, in: Roberto SIMANOWSKI/Horst TURK/Thomas SCHMIDT (Hg.), Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons, Göttingen 1999, S. 161–189, hier S. 185 f.;

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Justine Wilhelmine, die zugleich die Leitung des Instituts übernahm und es auch nach Melos’ Tod noch weiterführte, eine Erziehungsanstalt für Töchter „höherer Stände“ in Weimar ein. Hier waren unter anderem Ottilie von Pogwisch, die 1817 August von Goethe heiraten sollte, und ihre Schwester Ulrike Schülerinnen.32 Zugleich zeigen die Briefe an Böttiger – wir werden im Blick auf Melos’ reformationsgeschichtliches Lehrbuch darauf zurückkommen – das Bemühen des Weimarer Pädagogen, Böttigers Prestige und seine weitreichenden Verbindungen zur Verbreitung seiner eigenen Publizistik und zur Werbung zu nutzen. Seit 1805 bekleidete Melos eine außerordentliche, seit 1806 eine ordentliche Professur am Weimarer Gymnasium.33 Zunehmend, ab 1820 dann als erster ausschließlich für das Seminar wirkender Lehrer, wandte er seine Aufmerksamkeit in den folgenden beiden Jahrzehnten aber der Elementarbildung, bzw. der Ausbildung der Landschullehrer zu, die in einem 1788 durch Herder begründeten Landschullehrer-Seminar in Weimar erfolgte.34 Diese Tätigkeit Melos’ im Landschullehrer-Seminar war neben der Einführung in die schulische Praxis, die durch Unterricht der Seminaristen an Weimarer Schulen erfolgte, vor allem auf die Ausbildung der Fähigkeit zur gelungenen „didaktischen Reduktion“, zur Aufbereitung zeitgemäßen Wissens für die Elementarbildung gerichtet. Dass solche Wissensvermittlung zugleich Moraldidaxe war, die Inhalte nicht nur des religiösen, sondern auch des historischen, philologischen und naturkundlichen Unterrichts der „sittlichen“ Vervollkommnung der Schüler dienen mussten, war – wie bereits angedeutet – im Horizont der Prägung Melos’ durch aufgeklärte Theologie und Pädagogik selbstverständlich. Ein zentrales Mittel dazu waren für Melos die Lehr- und Lesebücher, die er den Landschullehrern zur Gestaltung ihrer Unterweisung in diesem Sinne an die Hand geben wollte. Nach dem weimarischen Lehrbuch zur Reformationsgeschichte, das 1817 den Auftakt bildete und das nachfolgend eingehender betrachtet wird, entstanden in den wenigen Antoni Eduard ODYNIEC, Besuch in Weimar. Goethes achtzigster Geburtstag. Briefberichte eines jungen polnischen Dichters, übertr. von F. Th. BRATRANEK, neu hg. von Max MELL, Wien/Linz/Zürich 1949, S. 92 f. 32 Vgl. BUCHNER, Ferdinand Freiligrath (wie Anm. 28), S. 364, HAXEL, Vier Stammbücher (wie Anm. 20), S. 13. Kolportagehaft zur Familie Melos in Weimar auch das Buch Carl Alfred KELLERMANN, Braut- und Ehejahre einer Weimaranerin aus Ilm-Athens klassischen Tagen, Weimar 1906. Es stellt Ida Melos (-Freiligrath) in den Mittelpunkt, gibt aber S. 5–8 auch einige Informationen zu Johann Gottfried Melos. 33 Vgl. dazu neben KEßLER, Herder (wie Anm. 22), S. 208 auch den zeitgenössischen Bericht: Aus Weimar, in: Der Freimüthige oder Ernst und Scherz, Nr. 74, 1806, S. 295 f., hier S. 295. 34 Ausführlich ist der Prozess der Errichtung geschildert in: KEßLER, Herder (wie Anm. 22), S. 423–456. Vgl. auch RANITZSCH, Das Grossherzogliche Lehrerseminar (wie Anm. 17).

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verbleibenden Jahren bis zu Melos’ frühem und überraschenden Tod im Februar 1828 in Weimar35 schnell eine ganze Reihe von Land- und Bürgerschullehrbüchern,36 die – wie die zitierten zur biblischen Realienkunde, zur Naturlehre und zu Deklamationsübungen – bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts viele Auflagen erlebten; sie waren also durchaus auch Verlags- und Buchhandelserfolge.37 Zugespitzt kann man sagen, dass Melos’ unmittelbare Fernwirkung aus der Periode des „Ereignisses Weimar-Jena“ um 1800 noch bis in Weimars sogenanntes „Silbernes Zeitalter“ um 1900 reichte – einmal mehr ein Verweis, das die rezeptiven und personellen Verbindungen zwischen beiden Perioden noch immer einen eingehenderen Blick wert sind: Erbgroßherzogin Maria Pawlowna, die Melos’ Talent zur didaktischen Reduktion registriert hatte, forderte ihn auf, ein Lesebuch zur sächsischen und sachsen-weimarischen Geschichte für ihren Sohn, den künftigen Erbgroßherzog und Großherzog Carl Alexander zu verfassen, das in der Folge auch an den weimarischen Schulen verwendet werden könne.38 Zum 6. Geburtstag Carl Alexanders legte Melos das Buch vor, das im Folgejahr auch im Druck erschien und mit dem Melos sich, ganz seinem Vermittlungskonzept folgend, zum Ziel setzte, entscheidende Begebenheiten der sächsischen Geschichte – natürlich mit einem Schwerpunkt auf der ernestinischen Dynastie – „einfach und klar“ zu erzählen.39 Ein Teil der historischen Bildung Carl Alexanders, zumindest was die Landes- und Hausgeschichte angeht, ist so wohl entscheidend durch Melos vermittelt worden. 35 Als Ursache gibt BUCHNER, Ferdinand Freiligrath (wie Anm. 28), S. 364 „Nervenfieber“ an. In Walter GRÖLL/Günther HAGEN (Bearb.), Johann Peter Eckermann. Leben und Werk. Zum 200. Geburtstag am 21.9.1992, Winsen (Luhe) 1992, wird auf S. 102 vermerkt, Melos sei an Typhus gestorben. 36 Vgl. neben den in Anm. 3, 4, 13 und 14 bereits zitierten Werken (genannt wird die Erstauflage): Johann Gottfried MELOS, Biblische Geschichte des alten und neuen Testaments für Bürger- und Volksschulen, Weimar: Fr[iedrich] Albrecht 1820; DERS., Lehren des Trostes und der Warnung. Eine Reihe von Erzählungen aus älterer und neuerer Zeit zur Belehrung und zur Unterhaltung, Frankfurt am Main: Jäger 1823; DERS., Der Geist des Christenthums. Ein Handbuch beim Religionsvortrage für Lehrer in Schulen, so wie für alle diejenigen Christen, welche ihren Glauben fest und unerschütterlich begründen wollen, Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1824; DERS., Lesebuch, aus der sächsischen Geschichte. Für die deutsche und insbesondere sächsische Jugend. Mit zwei Tafeln Abbildungen und einer Charte, Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1825. 37 So hat Katharina Middell erhoben, dass von den 1815–1831 in der Verlagsrubrik „Geographie und Geschichte“ beim Weimarer Landes-Industrie-Comptoir erschienen 27 Werken zehn einen Gewinn einbrachten. Melos‘ „Beschreibung des jüdischen Landes zur Zeit Jesu“ (wie Anm. 4) gehörte mit einem Gewinn von 26 Talern dazu. Vgl. MIDDELL, „Dann wird es wiederum ein Popanz für Otto …“ (wie Anm. 4), S. 192, Anm. 179. 38 MELOS, Lesebuch aus der sächsischen Geschichte (wie Anm. 36), S. [V] u. XI. 39 Ebd., S. XI.

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Natürlich verband Melos in diesem Lesebuch die Geschichte der Ernestiner, deren Herausstellung als eine der ersten Dynastien des Reiches der rote Faden des Lehrbuches ist, eng mit der Reformation, die hier ganz in den Spuren seiner schon seit 1817 entfalteten Reformationsdeutung, als „religiöse Aufklärung“ firmierte, „welche noch fort und fort den Verstand der Menschen erleuchtet“.40 Mit dieser aufgeklärten Reformationsinterpretation konnte Melos eine dynastische Panegyrik ohne Schwierigkeiten verbinden, die unter den Ernestinern von Johann dem Beständigen, über Johann Friedrich den Großmütigen bis hin zu Bernhard von Weimar die „heldenmüthigen Kämpfer für Glaubensfreiheit, für Wahrheit und Recht“ ausmachte.41 Auf dem Feld des ernestinischen Fürstenlobes, das einen Bogen vom „klassischen“ Weimar zurück zur besonderen Sorge des weimarischen Herzogshauses für Religion, Wissenschaft und Kunst seit der von den Ernestinern wesentlich vorangetriebenen Reformation konstruierte, hatte er sich schon in seiner ersten Veröffentlichung, einer Rede beim Jubiläum des Weimarer Gymnasiums 1816, versucht.42 Von dieser „religiösen Aufklärung“ unter der Ägide anachronistisch als „aufgeklärt“ imaginierter Landesväter und Fürsten – auch darin präsentierte Melos eine Reformationsdeutung, die nicht zuletzt durch ihn zum Grundtenor des sachsen-weimarischen Reformationsgedenkens von 1817 werden sollte – waren Auflehnung und religiöser Aufruhr scharf abzutrennen. Sie mussten als Abirrungen von der menschlichen Vernunft gelten. Die Reformation sei keineswegs eine „Revolution“, sondern ein Reformwerk gewesen, das es vor allen Übereilungen und unvernünftigen Radikalismen derer zu bewahren gelte, die aus dem Licht der Vernunft in die Dunkelheit eines neuen religiösen Schwärmertums zurückgefallen seien.43 So lehrten der Bauernkrieg und das Wirken Thomas Müntzers, dessen „Gehirn bis zur Raserei“ verwirrt gewesen sei,44 dass auch „die gerechteste Sache schlimm ablaufen kann, wenn man ungerechte Mittel wählt, sie durchzufechten und zu verfechten“ – „eine Lehre“, wie Melos mit Blick auf Sachsen-Weimar-Eisenach und den Deutschen Bund des Jahres 1825 hinzufügte, „die man den jungen 40 Ebd., S. 149. 41 Ebd., S. [VII]. 42 Vgl. Johann Gottfried MELOS, Wuerde der verklaerte Geist Wilhelm Ernst’s uns Beifall zuwinken, wenn er heute nach hundert Jahren uns erschiene? Rede den 30. October 1816 am Tage der Secularfeier des Wilhelm-Ernestinischen Gymnasiums im großen Hoersaale desselben gehalten, Weimar: Albrecht 1816. 43 Vgl. zum Revolutionsvorwurf gegenüber der Reformation, besonders mit Blick auf publizistische Auseinandersetzungen im mitteldeutschen Raum: Stefan GERBER, „Die Mutter aller Revolutionen“. Katholische Reformationsrezeptionen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Werner GREILING/Armin KOHNLE/Uwe SCHIRMER (Hg.), Negative Implikationen der Reformation, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 401–422. 44 MELOS, Lesebuch aus der sächsischen Geschichte (wie Anm. 36), S. 161.

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aufbrausenden Staatsbürgern nicht oft und dringend genug an das Herz legen“ könne. „Volksaufstand“, das zeige der Bauernkrieg, sei eine „verderbliche und gefährliche Sache“, ganz so – und hier zog der Aufklärungstheologe Melos eine ebenso paradoxe wie aufschlussreiche Verbindungslinie zwischen der „radikalen Reformation“ und erweckt-neupietistischen Tendenzen seiner Gegenwart – wie die „Religionsschwärmerei“, so „daß wir daher mißtrauisch gegen alle seyn müssen, die sich auch in unseren Tagen göttlicher Offenbarungen und übernatürlicher Kräfte rühmen und das Volk irre leiten“.45 Mit diesen Interpretationen des Reformationsgeschehens griff Melos 1824/25 auf die Linien zurück, die er 1817 in seiner „Geschichte der Reformation für Bürger- und Volksschulen“ entwickelt hatte. Die Bedeutung dieses Lehrbuchs, die es aus der Reihe der anderen Publikationen Melos’ für Volksund Bürgerschulen heraushebt, liegt vor allem darin, dass es sich um einen Staatsauftrag und ein zunächst vor allem durch den Staat verbreitetes Werk handelte. Melos hat die Genese des Buches in einem Brief an Böttiger vom 5. Mai 1817 detailliert beschrieben. Das Weimarer Oberkonsistorium sei an ihn mit dem Anliegen herangetreten, dass es zur Vorbereitung des 300. Reformationsjubiläums, das auch im Großherzogtum als staatliche Jubelfeier begangen werden sollte,46 eines Leitfadens zur Unterweisung in der Reformationsgeschichte an den Landschulen bedürfe, wo der historische Hergang der Reformation bisher kaum Gegenstand des Unterrichts gewesen sei. Melos erstellte sein Manuskript in enger Kooperation mit der obersten weimarischen Kirchenbehörde, der Text lag allen Mitgliedern des Oberkonsistoriums vor, und wurde, wie Melos Böttiger stolz mitteilte, in einer ersten beträchtlichen Auflage von 2.000 Stück gedruckt.47 Das Eisenacher Oberkonsistorium ordnete im Juni 1817

45 Ebd., S. 169. 46 Vgl. dazu Stefan GERBER, Konfession und Nation im „Ereignis Weimar-Jena“. Die Feiern zum 300. Reformationsjubiläum 1817, in: Lars DEILE/Johanna SÄNGER (Hg.), Spannungsreich und freudevoll. Jenaer Festkultur um 1800, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 74–110. – Zur Ergänzung vgl. auch die Anordnung des Weimarer Oberkonsistoriums an alle Pfarrer vom Februar 1817 zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums „von den in den Kirchen ihrer Pfarrörter befindlichen Gemälden und anderen Denkmalen, die auf irgend eine Weise eine Beziehung auf den großen Reformator darbieten, die diesfalligen Notizen genau und möglichst vollständig an das Großherzogl. Oberconsistorium baldigst einzusenden, auch etwaigen denkwürdige Nachrichten, welche über den Anfang der Reformation ihres Orts und über die ersten evangelischen Prediger und Schullehrer in demselben, Licht geben, aus den Kirchenbüchern, Ortschroniken, und sonst, fleißig auszuziehen und mit anher vorzulegen.“ Weimarisches Wochenblatt, Nr. 15, 21. Februar 1817, S. 1. 47 Vgl. Brief von Johann Gottfried Melos an Karl August Böttiger, Weimar, 5. Mai 1817, in: SLUB Dresden, Mscr. Dresd. h. 37, 4°, Bd. 126, Nr. 72.

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an, dass „jede Schule“ ein Exemplar des Buches erhalten sollte, welche als ein Inventarium-Stück bei derselben verbleibt und wovon die erforderlichen Exemplare binnen 14 Tagen zu vier gGr48 für’s Stück in hiesiger OberconsistorialCanzley von den Diöcesanen und Pfarrern gegen die aus den Kirchen-Aerarien zu leistende Zahlung abholen zu lassen sind.49

Die Reformationsgeschichte von Melos war also eine „Zwangsanschaffung“ für die Pfarreien – auch für den Verleger, den Buchhändler Johann Wilhelm Hoffmann in Weimar,50 eine komfortable Situation. Neben den staatlichen Kirchenbehörden sorgten auch andere Herrschaftsträger für die Verbreitung von Melos’ Buch in Sachsen-Weimar-Eisenach: Die Freiherren von Riedesel zum Beispiel, Gerichtsherrn und Pfarrpatrone in Neuenhof bei Eisenach, schenkten der dortigen Schule 1817 26 Exemplare des Werkes „zur Vertheilung unter fleißige Schulkinder“.51 Zugleich war Melos um einen Absatz auf dem gesamtdeutschen Markt besorgt, der im Jubiläumsjahr 1817 eine Nachfrage nach reformationsgeschichtlichen Darstellungen erwarten ließ: Er bat Böttiger, den Absatz des Werkes durch Erwähnung „in irgendeinem öffentlichen Blatte“ auch außerhalb Sachsen-Weimar-Eisenachs zu fördern und äußerte – auch dies als Bitte an Böttiger aufzufassen, fördernd tätig zu werden – die Hoffnung, dass seine Reformationsgeschichte auch Eingang in die Elementarbildung des Königsreichs Sachsen finden werde.52 Blättert man Melos’ Lehrbuch in seinen vier Auflagen bis 1820 durch, so wird schnell deutlich, dass ein charakteristischer Text aufgeklärter Reformationsdeutung und damit auch Reformationsaktualisierung entstanden war, mit der sich der sachsen-weimarische Staat offiziell identifizierte. Johann Gottfried 48 gGr = „Gute Groschen“, seit Ende des 16. Jahrhunderts im Umlauf befindliche Münzen im Wert von 1/24 Reichstaler. 49 Verordnung des Oberkonsistoriums Eisenach, 26. Juni 1817, in: Großherzogl. S. Weimar-Eisenachisches Regierungs-Blatt, Nr. 13, 4. August 1817, S. 86. Zu dieser Anordnung vgl. auch: Johann August NEBE, Die Feier des dritten evangelischen Jubelfestes im Jahre 1817 in Eisenach und auf der Wartburg. Beschreibung, Gebete, Lieder und Reden, Eisenach: Johann Friedrich Bärecke 1818, S. 1. 50 Zu Hoffmann vgl. Werner GREILING, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/ Weimar/Wien 2003, S. 138, Fritz FINK, Johann Wilhelm Hoffmann. Der Buchhändler des klassischen Weimar, in: DERS., Nebenfiguren des klassischen Weimar, Weimar 1935, S. 119–138. 51 Bekanntmachung des Oberkonsistoriums Eisenach, 1. August 1827, in: Großherzogl. S Weimar-Eisenachisches Regierungs-Blatt, Nr. 14, 18. September 1827, S. 75–82, hier S. 77. 52 Brief von Johann Gottfried Melos an Karl August Böttiger, Weimar, 5. Mai 1817, in: SLUB Dresden, Mscr. Dresd. h. 37, 4°, Bd. 126, Nr. 72.

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Melos vergaß selbstverständlich nicht, selbst Großherzog Carl August für seine Reformationsinterpretation in Anspruch zu nehmen, indem er ihn in der Zueignung zum „erhabensten Freunde des Lichts und der Wahrheit und all dessen“ erklärte, „was die heranwachsende Menschheit vor Aberglauben, Unglauben, Irrthum und Unwissenheit sichern kann“.53 Die rationalistischneologische Prägung der weimarischen Landeskirche war überdeutlich und sollte sich dadurch verstärken, das wenige Jahre nach dem Reformationsjubiläum, 1820, der bekannte Spätrationalist Johann Friedrich Röhr an die Spitze des Oberkonsistoriums, also zum geistlichen Leiter der Landeskirche, berufen wurde. Für Johann Gottfried Melos war bei all dem das Moment der Vermittlung auf der Ebene der Bürger- und Landschulen zentral. An Reformationsgeschichten, so schrieb er einleitend, fehle es nicht, „aber es gebricht zur Zeit an einer zweckmäßigen Anleitung für Lehrer in Bürger- und Landschulen“. Für diesen Zweck dürfe die Bearbeitung der Reformationsgeschichte „weder eine weitläufige Ausführung, noch auch ein trockner Abriß seyn“.54 Ob Melos diese Reduktion und Verständlichkeit gelungen war, konnte aufgrund der staatlichen Verteilung des Buches am Verkaufs- und Auflagenerfolg zumindest innerhalb Sachsen-Weimar-Eisenachs nicht gemessen werden. Rezensenten wie der Jenaer spätrationalistische Theologe Friedrich August Klein, der das Buch in seiner Zeitschrift „Für Christenthum und Gottesgelahrtheit“ inhaltlich zustimmend besprach, bezweifelten es: Das Buch sei „schon zu weitläufig für die gemeinen Leute, welche nicht gern viel lesen“.55 Auch war Melos’ Schrift, die den Vorteil der Distribution durch die Kirchenbehörden hatte, auf dem thüringischen Markt im Segment der „gemeinverständlichen“, volkspädagogisch motivierten Reformationsgeschichten nicht ohne Konkurrenz: Der rege Volksschulschriftsteller Carl Friedrich Hempel z. B., Pfarrer in Stünzhain im Herzogtum SachsenAltenburg, publizierte 1817 seine „Geschichte der Reformation für den protestantischen Bürger und Landmann“, die sich an den selben Leserkreis richtete und bis 1834 immerhin drei Auflagen erlebte.56 53 MELOS, Geschichte der Reformation (wie Anm. 1), [S. 3]. 54 Ebd., [S. 5] (Vorrede zur ersten Auflage). 55 [Friedrich August KLEIN], Rezension zu: Johann Gottfried Melos, Kurze Geschichte der Reformation für Bürger- und Volksschulen, Weimar 1817, in: Für Christenthum und Gottesgelahrtheit. Eine Oppositionsschrift zu Anfange des vierten Jahrhunderts der evangelisch-protestantischen Kirche in Quartalheften herausgegeben 1 (1817), S. 180 f., hier S. 180. (Die Zeitschrift erschien bei Friedrich Mauke in Jena). 56 Vgl. C[arl] F[riedrich] HEMPEL, Geschichte der Reformation für den protestantischen Bürger und Landmann mit einer Uebersicht der Geschichte der christlichen Kirche von ihrem Ursprunge bis auf unsere Zeiten als Vorbereitung zu der 300jährigen Jubelfeyer den 31. October 1817, Leipzig: Christian Friedrich Dürr 1817.

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Unmissverständlich machte Melos die Perspektive und Zielrichtung seiner Reformationsgeschichte klar: Es gelte, so schrieb er einleitend, „die Jugend […] von den Wohlthaten zu überzeugen, die uns durch die Urheber der Kirchenverbesserung zu Theil geworden sind“.57 Dass es angesichts einer solchen Zielsetzung schwierig war, den neologischen Anspruch von Irenik und Duldsamkeit aufrecht zu erhalten – ein Problem das für die Aufklärungstheologie und dann die liberale Theologie auch bei den anderen reformationsgeschichtlichen Jubiläen des 19. Jahrhunderts bestand, die keine konfessionellen Jubiläen sein sollten, es aber de facto eben doch stets waren – zeigt Melos’ gewunden formulierter Blick auf das Verhältnis von Reformationsdeutung und konfessionell Anderen in der Vorrede zur zweiten Auflage des Lehrbuchs: Dass es die Landschüler „würdig“ auf das Reformationsjubiläum vorbereiten solle, bedeute, „sie in ihrem Verhalten gegen Andersdenkende in der Religion, bescheiden, billig und duldsam“ zu machen. Diese Duldsamkeit konnte sich aber nur aus dem Bewusstsein religiöser Superiorität speisen: „Mögen sie sich, ihrer richtigen Einsichten wegen, vor Andern glücklich schätzen, und der reinen Lehre sich freuen, die ihnen durch die Reformation zu Theil geworden ist.“58 Schließlich, so die Vorrede zur vierten Auflage, sei das Geschehen der Reformation eine der „großen Begebenheiten der Weltgeschichte, in denen ein höherer Geist sich dem Menschengeschlechte, zu seiner fortschreitenden Veredelung, kund gethan hat“.59 Um diesen „höheren Geist“ in der Reformation sichtbar zu machen, griff Melos, durchaus nicht originell, auf die bereitstehenden Topoi von Neologie und Aufklärungshistorie zurück. Ausgangspunkt war das längst zur protestantischen Meisterzählung geronnene Zerrbild der spätmittelalterlichen Kirche, in der das Christentum „durch eine Menge nach und nach hinzugekommener menschliche[r] Zusätze so verunstaltet“ gewesen sei, dass „Aberglaube“, und „Unwissenheit in Dingen der Religion“, „Dummheit“, „Verfolgungsgeist, Unverschämtheit, Niederträchtigkeit, Geiz“ um sich griffen „und die guten Sitten verfielen“. „An wirklicher Besserung der Menschen“ so meinte Melos zu wissen, sei „der Geistlichkeit nichts gelegen“ gewesen.60 Wie die meisten protestantischen Reformationshistoriker des 18. und 19. Jahrhunderts, hob auch Melos ausdrücklich darauf ab, dass die „Kirchen- und Religionsverbesserung“ – das war die Definition von „Reformation“, die er gleich im ersten Satz des Lehrbuches gab61 – keine neue Lehre und Kirche geschaffen habe, sondern eine 57 58 59 60 61

MELOS, Geschichte der Reformation (wie Anm. 1), [S. 5] (Vorrede zur ersten Auflage). Ebd., [S. 7 f.]. Ebd., [S. 9]. Ebd., S. 16 u. 18. Ebd., [S. 15].

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„Reinigung und Wiederherstellung der ursprünglich christlichen Lehre“ und eine „Abschaffung von Irrlehren und Mißbräuchen“ gewesen sei.62 Dieses Insistieren auf der Urkirchlichkeit der aus der Reformation hervorgegangen Kirchentümer, war – obwohl es auf den ersten Blick wie eine Anknüpfung an das mittelalterliche Beharren auf der Unmöglichkeit religiöser Neuschöpfungen anmutete, das nur „Reformatio“, „Restitutio“, „Renovatio“ für möglich erklärt hatte – fundamental auch für die aufgeklärte Reformationsdeutung: Über 1500 Jahre Kirchengeschichte, die zur beständigen Entfernung von der imaginären „Stunde null“ stilisiert wurden, galt es den Bogen von der apostolischen Zeit an das Ende des in aufklärungshistorischer Perspektive in allem „finsteren“ Mittelalters zu schlagen. Dessen Ausklang musste dann den Tiefpunkt markieren, ein, wie Melos schrieb, „allgemeines Verderben der Menschen“,63 an dem mit dem reformatorischen Aufbruch der neue Aufstieg von Religion und Kirche, und damit die neuzeitliche Kultur überhaupt ihren Anfang nahmen. Mit dieser teleologischen Erzählung verband sich zugleich eine weitreichende Aktualisierung, die viele aufgeklärte Reformationsgeschichten kennzeichnete: Wenn Reformation die Wiederaufnahme des „urchristlichen“ Impulses war, konnte sie nicht nur ein historisches Geschehen sein, sondern blieb dauernde Aufgabe: Zwar, so hatte z. B. der Wittenberger Geschichtsprofessor und Kirchenhistoriker Johann Matthias Schroeckh schon 1768 im ersten Band seiner „Christlichen Kirchengeschichte“ geschrieben, habe die Reformation „gewissermaaßen eine Erneuerung des ersten Christentums, und der alten Kircheneinrichtung“ erreicht, sei dabei aber „doch mehr in der Mitte zwischen der ursprünglichen Einfalt der Kirche, und zwischen ihrer schwülstigen Gestalt […] stehen geblieben“. Menschliche Unzulänglichkeiten der Reformatoren, vor allem aber die Unmöglichkeit, „die Christen des sechzehnten Jahrhunderts ganz nach dem Vorbilde des ersten umzuschmelzen“, hätten einer solchen grundlegenden Erneuerung im Wege gestanden.64 Die Vollendung der Reformation bleibe daher der aufgeklärten Gegenwart aufgegeben, die dadurch die ursprüngliche Intention der Reformatoren erfülle und vollende. Diese Grundgedanken führte Melos durch die chronologische und geraffte, mit der Erläuterung von Namen und Fremdwörtern auf die Rezeptionsmöglichkeiten der Landschüler abgestellten Darstellung des Reformationsgeschehens hindurch, die sich vor allem an Luthers Lebenslauf orientierte, folgerichtig mit dem Tod des Reformators endete und natürlich auch dem Part der 62 Ebd. 63 Ebd., S. 18. 64 So zit. in: Dirk FLEISCHER, Urchristentum, Reformation und Aufklärung. Zum Selbstverständnis des Wittenberger Historikers Johann Matthias Schroeckh, in: Albrecht BEUTEL/ Volker LEPPIN/Udo STRÄTER (Hg.), Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit, Leipzig 2006, S. 269–281, hier S. 281, Anm. 72.

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ernestinischen Kurfürsten gebührenden Raum gab. Bei einer abschließenden Charakteristik des Reformators fehlte „Luther der Deutsche“, den dann das weitere 19. Jahrhundert so extensiv ausbauen sollte,65 nicht: Mit „Kraft und Geradheit, Biederkeit, Treue und Redlichkeit im höchsten Grad“, so Melos, hätten sich auch in Luther „die herrlichen Grundzüge der deutschen volksthümlichen Denk- und Gemüthsart“ gezeigt.66 Vielfältige zeitgenössische Aussagen über Charakterzüge Luthers, die der aufgeklärten Heroisierung des spätmittelalterlichen Menschen Luther widersprachen, seit dem Konfessionalisierungszeitalter fester Bestandteil des katholischen Lutherbildes wurden und auch im 18. und 19. Jahrhundert ein beliebtes Sujet konfessioneller Polemik waren,67 fing Melos geradezu dialektisch auf: „Selbst seine Fehler waren nothwendig, um der großen Sache, die er unternahm, den Sieg zu verschaffen.“68 Das entscheidende Kapitel in der Reformationsgeschichte von Johann Gottfried Melos als eines belehrend-erziehenden Leitfadens für Volksschulen bildet der Abschnitt „Was haben wir durch die Reformation gewonnen?“ Hier finden sich alle zu erwartenden, in der populären protestantischen Reformationsgeschichte des 19. Jahrhunderts konventionellen Verweise auf Veränderungen in Theologie und Kirchenordnung, auf eine angeblich größere Arbeitsamkeit durch die Abschaffung überflüssiger Feiertage oder die, wie er meinte, „zweckmäßiger[e] und belehrender[e]“ Einrichtung des Gottesdienstes.69 Melos war es in diesen Passagen nicht um differenzierte Bewertungen, sondern um eine Eindeutigkeit zu tun, die den Katholizismus für das „Volk“ ausschließlich zur Negativfolie für die Reformation machte, und deshalb – so widersprüchlich die Argumentation auch immer war – an keiner von Katholiken jemals geübten religiösen Praxis ein gutes Haar lassen konnte. Das Fasten etwa, obgleich von Luther selbst als „feine äußerliche Zucht“ geschätzt,70 sei zwar gut für die 65 Vgl. zusammenfassend u. a.: Lutz WINCKLER, Martin Luther als Bürger und Patriot. Das Reformationsjubiläum von 1817 und der politische Protestantismus des Wartburgfestes, Lübeck 1969; Hartmut LEHMANN, „Er ist wir selber: der ewige Deutsche.“ Zur langanhaltenden Wirkung der Lutherdeutung von Heinrich von Treitschke, in: DERS., Luthergedächtnis 1817–2017, Göttingen 2012, S. 126–137. (Zuerst 2000). 66 MELOS, Geschichte der Reformation (wie Anm. 1), S. 112. 67 Vgl. dazu u. a. Gottfried MARON, Das katholische Lutherbild im Wandel, in: DERS., Die ganze Christenheit auf Erden. Martin Luther und seine ökumenische Bedeutung, hg. von Gerhard MÜLLER und Gottfried SEEBAß, Göttingen 1993, S. 136–141; Jos E. VERCRUYSSE, Luther in der römisch-katholischen Theologie und Kirche, in: Lutherjahrbuch 63 (1996), S. 103–128. 68 MELOS, Geschichte der Reformation (wie Anm. 1), S. 118. 69 Ebd., S. 145. 70 „Ain feine eusserliche zucht“. Martin LUTHER, Der kleine Catechismus für die gemeine Pfarrherr und Prediger, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 30, 1. Abt., Weimar 1910, S. 239–345, hier S. 261.

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„morgenländischen Völker“, die sich „dadurch geistig und leiblich gestärkt“ fühlten, bekomme aber „dem Nordländer, der überhaupt ein stärkerer Esser als der Bewohner der heißen Länder ist, schlecht“.71 Im Kern ging es Melos neben solchen konfessionellen Abgrenzungen um den volksschuldidaktisch aufbereiteten Brückenschlag von einer reformationsgeschichtlich grundgelegten Kontroverstheologie zur politisch-moralischen Zeitdeutung. Dabei kam es ihm zunächst auf die Feststellung an, die „Völker“ seien durch die Reformation „wieder zum Bewusstsein ihrer Menschenwürde gelangt“72 – wobei Melos für diesen anthropologisch-ethisch-juristischen Begriff ein aufklärungsphilosophisches Grundverständnis voraussetzte, das den Reformatoren fremd gewesen wäre.73 Indem die Reformation für den Einzelnen den Grundsatz „Forsche, prüfe, und behalte nach deiner Ueberzeugung das Gute“ aufgestellt hat, habe sie ihre Anhänger für immer „vor jeder Sclaverei des Geistes gesichert“.74 Dadurch hätten auch die protestantischen Staaten eine neue Festigkeit gewonnen; willig sei das Volk stets „den Fahnen ihrer Fürsten“ gefolgt, „wenn es darauf ankam, Gewissensfreiheit und die Freiheit des Vaterlandes gegen jede eigenmächtige Anmaßung eines Andern zu schützen und zu retten“.75 Vor dem Hintergrund des als „reformatorisch“ postulierten Rechtes auf angeblich autonome Prüfung von Glaubensinhalten und Meinungen, das es unmöglich mache, „daß über gewisse Dinge gar nicht gedacht werden dürfe“76 und angesichts einer nach 1815 im Zuge der Politisierung der Konfessionen in Gang gekommenen Diskussion um revolutionäre Potenziale in Reformation und Protestantismus,77 war es Melos wichtig, jegliche Verbindung der Reformationsbewegung und der reformatorischen Theologie mit politischem Aufruhr zurückzuweisen: „Nie“, so betonte er, habe der Geist des Protestantismus je eine Staatsumwälzung gefördert oder herbeigeführt, und nie ist in evangelischen Staaten ein solches Unglück zu befürchten; denn die Tugenden, welche von evangelischen Lehrern in Kirchen und Schulen gepredigt und gelehrt werden, sind: Gottesfurcht, Arbeitsamkeit, Vaterlandsliebe, Mäßigung, Muth, Demuth und Geduld.78

71 MELOS, Geschichte der Reformation (wie Anm. 1), S. 140. 72 Ebd., S. 129. 73 Vgl. z. B. Paul TIEDEMANN, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung, 3. überarbeitete Aufl., Berlin 2012, S. 157–182. 74 MELOS, Geschichte der Reformation (wie Anm. 1), S. 130. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 129. 77 Vgl. für die thüringische und mitteldeutsche Diskussion darüber: GERBER, „Die Mutter aller Revolutionen“ (wie Anm. 43). 78 MELOS, Geschichte der Reformation (wie Anm. 1), S. 130 f.

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Diese Stabilität protestantischer Staaten liege auch darin begründet, dass die Fürsten mit der Reformation wieder in den Besitz „ihrer wesentlichen Rechte und ihrer Macht“ gelangt seien, die zuvor durch kirchliche Machtansprüche geschmälert gewesen seien.79 Das im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in die Diskussion geratende landesherrliche Kirchenregiment konnte so in einen weitausgreifenden Zusammenhang von Fortschritt und Verbesserung eingereiht werden: Ohne Reformation, so die Botschaft, kein säkularer Staat. Im persönlichen Bereich habe die Zurückweisung des Glaubens an die Rechtfertigung durch gute Werke zu einer „Sittenverbesserung“ geführt: „Das ganze Betragen der Menschen gegen und unter einander“, so behauptete Melos, „ist durch die Reformation ungemein gemildert worden“.80 Das Streben nach Wissen und Bildung, um „nicht durch Unwissenheit sich lächerlich zu machen“,81 habe nach der Reformation – die hier einmal mehr bereits als die Initialzündung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts erscheint – zu einer Zivilisierung der Menschen geführt – ja Melos zögerte nicht zu behaupten, Luther habe seine Anhänger zu „Sanftmuth und Verträglichkeit in Religionsmeinungen“ angehalten.82 Solche Toleranz – eine konfessionell-polemische Spitze war auch schon 1817 vor dem vollen Einsetzten des neuen Konfessionalismus Teil der aufgeklärten Reformationsdeutung – gehe nur der, so Melos, „einzigen unverträglichen und verfolgenden“ Kirche, der katholische Kirche, bis in die Gegenwart ab, weshalb er am Ende seines Lehrbuches noch mit einem Kapitel über die andauernde Verfolgung des Protestantismus aufwartete.83 Den Kontrast dazu bilde, so Melos, die Duldsamkeit der Protestanten gegenüber der katholischen Kirche – eine fast bizarr anmutende Behauptung, die in ihrer konfessionellen Beschränkung des Wahrnehmungs- und Urteilshorizontes deutlich macht, dass – obgleich Melos seine Argumentation als irenisch begriff – nach 1815, besonders nach dem Reformationsjubiläum von 1817, ein neuer Konfessionalismus zunehmend an Boden gewann. Als Fazit seines reformationsgeschichtlichen Leitfadens war sich Johann Gottfried Melos sicher: „Die Reformation hat überall Denkfreiheit und Aufklärung befördert und verbreitet, hauptsächlich in protestantischen Ländern.“84 Schon zeitgenössisch gab es gegen derartige neologische Reduktionen des Reformationsgeschehens durchaus Widerspruch von theologisch „positiver“ Seite. So setzte sich 1830 – nun schon vor dem Hintergrund der Auseinander79 80 81 82 83 84

Ebd., S. 127. Ebd., S. 142. Ebd. Ebd., S. 143. Ebd., S. 149–153. Ebd., S. 147.

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setzungen um das Jubiläum der Augsburgischen Konfession85 – der mecklenburgische Pfarrer und Theologe Friedrich Giesebrecht kritisch mit Melos’ reformationsgeschichtlichem Lehrbuch auseinander.86 Besonders Melos’ Feststellung, die Reformation sei ein „beständiges Fortschreiten zum Bessern“, und seine charakteristisch aufklärungstheologische Behauptung, Luther habe die Religion „auf die einzige lautere Quelle, […] auf die heilige Schrift und die Vernunft“ zurückgeführt,87 erregten den Widerspruch Giesebrechts. Der theologisch mit August Tholuck und August Neander verbundene Geistliche kritisierte – aus einer antirationalistisch-erweckten Perspektive wohl vor allem die gesellschaftlichen Folgen einer solchen Reformationsauffassung antizipierend –, die Reformatoren hätten keineswegs „der neueren Sicht von fortschreitender Entwickelung angehangen“, die in der Dogmatik alles prüfe und sich dann eine „Veränderung und Verwerfung“ von Lehren erlaube. Für sie sei das christliche Lehrgebäude „etwas durchaus Feststehendes und Unwandelbares“ gewesen, das sie nur in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherstellen wollten. Gegen den Luther von Melos „untergeschobenen“ Vernunftglauben – gegen den Kern des „aufgeklärten“ Luther also – hielt Giesebrecht fest, dass der Reformator menschliche Vernunft und daraus abgeleitete menschliche Aktivität geradezu als ein „Hindernis“ des befreiten Christusglaubens verstanden habe.88 Die schnellen Neuauflagen des reformationsgeschichtlichen Lehrbuchs von 1817, das sich tatsächlich, wie von Melos gewünscht, über Sachsen-WeimarEisenach hinaus ausbreitete, zeigen, solcher Kritik ungeachtet, dass die aufklärungstheologische Reformationsdeutung, die der Weimarer Seminardirektor in Verbindung mit einer einfachen, lehrhaften Sprache und klaren Botschaften präsentierte, zumindest den Nerv seiner unmittelbaren Zielgruppe, der Landund Bürgerschullehrer, traf, die Melos zu Vermittlern gelehrten Wissens und geistiger Eigenständigkeit ausbilden wollte – ein Anliegen, das sicher als „volksaufklärerisch“ bezeichnet werden kann und damit auch Melos’ Reformationsdeutung von 1817 in diesen Rahmen einfügt. Dabei stand Melos, wie so vielen Neologen und Aufklärungshistorikern, das Telos solcher Autonomie außer Frage: Ihr geistiger Einsatz konnte nur zur Zustimmung zu den aufgeklärten 85 Für den mitteldeutschen Raum vgl. Stefan GERBER, Symbolzwang und „Schutzwehr des freien Protestantismus“. Das Confessio-Augustana-Jubiläum von 1830 in der theologisch-kirchenpolitischen Auseinandersetzung, in: Michael MAURER (Hg.), Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 195–216. 86 Zu Giesebrecht vgl. W[ilhelm] v[on] GIESEBRECHT, Giesebrecht, Friedrich Gustav Theodor, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 9, Leipzig 1879, S. 162. 87 Friedrich GIESEBRECHT, Berichtigung einiger Behauptungen der Schrift: Geschichte der Reformation für Bürger- und Volksschulen von Melos, Stettin: o.Verl. 1830, S. 5. 88 Ebd. Siehe dazu auch GERBER, Konfession und Nation (wie Anm. 46), S. 93.

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Postulaten führen; geschah das nicht, hatten Lehrer oder Schüler einen falschen Weg beschritten, der von dem postulierten Recht auf „freie Prüfung“ nicht gedeckt war. In der Betonung selbständiger Forschung und Prüfung für die geistige Individualität gerade in einem Lehrbuch für Landschulen zeichnete sich somit bereits deutlich einer der „blinden Flecken“ der Erben der Aufklärung im 19. Jahrhundert, des theologischen und politischen Liberalismus ab: Die Exklusion alles nicht „Liberalen“ aus dem Bereich der hegemonial durch diese liberal-bildungsbürgerlichen Eliten definierten „Vernunft“. Und auch die Nachwirkungen der neologisch-aufklärungshistorischen Geschichtskonstruktion, die eine direkte Kontinuität von der Reformation zu Rechtsstaat und moderner Massendemokratie behaupten, sind – für manchen wohl überraschend – im Vorfeld des 500. Reformationsjubiläums 2017 wieder deutlich spürbar: Ohne kritisches Bewusstsein für diese teleologisch-apologetischen und aus heutiger Perspektive in weiten Teilen ahistorischen Projektionen schließt der „Grundlagentext“ der EKD zum Reformationsjubiläum direkt an die Geschichtsbilder des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts an, wenn er im Blick auf Luthers Auftreten vor dem Wormser Reichstag postuliert, es sei angezeigt, „im Rahmen eines Reformationsjubiläums öffentlichkeitswirksam Verbindungslinien zwischen einem starken Auftritt des sechzehnten Jahrhunderts und zentralen Werten im einundzwanzigsten Jahrhundert zu ziehen“, denn: „die moderne Verfassungsgestalt des demokratischen Rechtsstaates“ entspreche „Luthers grundsätzlicher theologischer Überzeugung“.89 Die Bundesrepublik von 2017 also, ist unmittelbar zu Luther; alle anderen Formen deutscher Staatlichkeit vor 1949 haben dagegen nichts mit ihm und seinen Vorstellungen von Obrigkeit, Autorität und Herrschaft zu tun. Seine rhetorisch immer mehr entgrenzte fanatische Antiromanitas – so muss man implizit verstehen – war dann eine notwendige Distanzierung von der römisch-südeuropäischen Mischung aus Autoritarismus und Schlendrian und hat nichts mit dem im 20. Jahrhundert bis zu biologistischen Alteritätsvisionen gesteigerten Antikatholizismus zu tun, der die „aufgeklärten“, „liberalen“ Gesellschaften Nord-, Mittel- und Westeuropas so tief durchtränkt hat.90 Sogar das alte Theorem, nur in protestantischen Ländern habe der moderne Staat evolutionär-friedlich entstehen können, während in katholischen Ländern gewaltsame, mit hohen politisch-sozialen Folgekosten verbundene Revolutionsbewegungen dazu nötig gewesen seien, wird in 89 Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 42015, S. 102. Vgl. auch Bernward SCHMIDT, Reformation, Revolution, Freiheit. Zu einem „missing link“ in der Reformationsdeutung, in: Stimmen der Zeit 234 (2016), S. 3–14, hier S. 4. 90 Vgl. dazu Manuel BORUTTA, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010.

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einer Handreichung der EKD zum Jubiläum wieder aufgewärmt.91 Sind solche neokonfessionalistischen Perspektiven Ausdruck dafür, dass der Zurüstung des deutschen Protestantismus für sein Jubiläum ungeachtet prominenter ökumenischer Rhetorik „auch ein antikatholisches Moment inhärent“ ist, wie der Aachener Kirchenhistoriker Bernward Schmidt festhält?92 Das unlösbare Dilemma, dass allein die bloße Idee eines „Reformationsjubiläums“, das sich an dem Datum „1517“ orientiert, notwendig Konfessionalität in den Mittelpunkt rückt und auch durch religionssoziologisch-demokratiegeschichtliche Kontinuitätsthesen oder synkretistische „Gastfreundschafts“-Appelle nicht vom historischen Ballast des Konfessionalismus „befreit“ werden kann, spricht dafür. Will ein in der Frage von Bekenntnis und Bekennen theologisch und kirchenpolitisch äußerst diversifizierter, auch zunehmend wieder polarisierter Protestantismus über solche Narrative kirchen- und lagerübergreifende Identitätssicherung betreiben, und als „Ahnherr“ der Demokratie zugleich seine gesellschaftlichpolitische Relevanz jenseits schwindender Kirchenmitgliederzahlen absichern? Oder überinterpretiert man den Sachverhalt mit solchen Vermutungen, und hat es einfach mit dem Indiz einer auch bei den Kirchenleitungen zurückgehenden kirchen- und theologiegeschichtlichen Sensibilität zu tun? Der Weg zurück zum neologisch-aufklärungshistorischen Reformationsbild des frühen 19. Jahrhunderts jedenfalls, ist sicherlich kein Weg in die Zukunft.

91 Vgl. Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017, hg. von der Geschäftsstelle der EKD in Wittenberg/Geschäftsstelle „Luther 2017“ der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Wittenberg [2001], These 16. Vgl. auch SCHMIDT, Reformation (wie Anm. 89) S. 11. 92 Ebd.

H A N S -W E R N E R H A H N JUSTUS FRIEDRICH FRORIEP

Justus Friedrich Froriep (1745–1800): Theologieprofessor, Pfarrer und Volksaufklärer Als der neue Superintendent Justus Friedrich Froriep an Trinitatis 1784 in Bückeburg seine Antrittspredigt „Von der Größe Jesu aus der Einsetzung des evangelischen Lehramts“ hielt, ging er dabei ausführlich auf die Pflichten der Lehrer der christlichen Religion ein. Im Unterschied zu den Aposteln seien die gegenwärtigen Lehrer weder unmittelbar von Gott zur Verwaltung des Predigtamtes berufen, noch würden ihnen heutigen Tags die außerordentlichen Gaben des Heiligen Geistes mitgeteilt. Da ihre Einsetzung durch Menschen erfolge und dies manchmal auch nicht in der gehörigen christlichen Ordnung geschehe, müsse sich jeder Geistliche immer wieder seiner eigentlichen Aufgaben bewusst werden. Geistliche hatten den Menschen die Glaubenswahrheiten und die daraus resultierenden Lebenspflichten vorzutragen. Lutherische Pfarrer sollten zum einen die Sakramente verwalten und die Lehre von der Begnadigung bußfertiger Sünder vor Gott einschärfen. „Diese Lehre“, so Froriep, sei „die Grundwahrheit der gestifteten und wiederhergestellten evangelischen Religion. Mit dieser Lehre steht und fällt das ganze Gebäude des Christentums und der Reformation.“1 Zum anderen hatte der lutherische Geistliche für Froriep die Pflicht, „den Verstand der Menschen in den wichtigsten Dingen aufzuklären und das Herz derselben zur Tugend“ zu bilden.2 „Wohl ihnen“, so führte er weiter aus, „wenn sie die eigentliche Absicht ihres Amtes, die Aufklärung, die Besserung, die Beglückung der Menschen nie aus den Augen verlieren“.3 Justus Friedrich Froriep war ein streitbarer Theologe, der mehrere Karrierebrüche und Ortswechsel erlebte. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie er in all seinen Tätigkeitsfeldern als Mann der Aufklärung agierte und warum und mit welchen Mitteln er am Ende seines Lebens neue Wege in Richtung Volksaufklärung einschlug. Justus Friedrich Froriep wurde am 1. Juni 1745 in Lübeck geboren. Er besuchte dort das Gymnasium und studierte anschließend zunächst in Göttingen und dann in Leipzig Theologie. 1767 erwarb Froriep in Leipzig den Magistergrad der Philosophie, ein Jahr später den Baccalaureus in der 1

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Just Friedrich FRORIEP, Zwey Predigten. Beym Antritt seiner Aemter in der Grafschaft Schaumburg-Lippe und bey der Geburt des Erbgrafen Georg Wilhelm, Gotha: Ettingersche Buchhandlung 1785, S. 23. Ebd., S. 20. Ebd., S. 26.

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Theologie. 1769 wurde er zum außerordentlichen Professor an der philosophischen Fakultät berufen. Zugleich war er seit 1768 als Prediger an der Leipziger Universitätskirche tätig. Zwei Jahre später berief ihn Kurfürst Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim zum ordentlichen Professor der Theologie und der morgenländischen Sprachen an die Universität Erfurt.4 Diese Berufung stand in engem Zusammenhang mit den Bemühungen um die Reformierung der Universität Erfurt und war nicht zuletzt dem Urteil von Christoph Martin Wieland zu verdanken. Wieland pries den jungen Theologen gegenüber der Mainzer Regierung als einen „Mann von ausnehmendem Genie, von unverdrossener Arbeitsamkeit“ an, der der Wissenschaft neue Wege ebnen werde.5 Er erwähnte seine vorzüglichen Kenntnisse der orientalischen Sprachen und seine erfolgreiche Leipziger Tätigkeit. Wieland blieb der Familie Froriep auch später eng verbunden. Seit 1772 bekleidete Froriep auch das Pfarramt an der Erfurter Kaufmannskirche.6 Froriep unterhielt bald enge Kontakte zum Mainzer Statthalter Carl Theodor von Dalberg, dessen der Aufklärung verpflichtete Politik in Erfurt zu einem Aufschwung des geistig-kulturellen Lebens führte. Frorieps Sohn Ludwig Friedrich, der spätere Schwiegersohn und Nachfolger des Weimarer Unternehmers Friedrich Justin Bertuch, bezeichnet in seinen Lebenserinnerungen Dalberg als großen Gönner und Freund der Familie. Der Statthalter habe auch die Mutter Amalie Froriep sehr geschätzt, die ihre aufklärerischen Überzeugungen in einem Roman festhielt, in dem die Wahrhaftigkeit bürgerlicher Lebensführung der moralischen Verkommenheit des Adels entgegengestellt 4

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Zur Biographie vgl. Constantin BEYER, Neue Chronik von Erfurt oder Erzählung alles dessen, was sich vom Jahr 1736 bis zum Jahr 1815 in Erfurt Denkwürdiges ereignete. Reprint der Ausgabe Erfurt: Keyser 1821, Bad Langensalza 2002, S. 190–195; Martin BAUER, Evangelische Theologen in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert. Beiträge zur Personen- und Familiengeschichte Thüringens, Neustadt an der Aisch 1992, S. 156; Gustav Moritz REDSLOB, Justus Friedrich Froriep, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 8, Leipzig 1878, S. 146. Zur Familie Froriep vgl. ferner Wiebke VON HÄFEN, Ludwig Friedrich von Froriep (1779–1847). Ein Weimarer Verleger zwischen Ämtern, Geschäften und Politik, Köln/Weimar/Wien 2007; Hans-Werner HAHN, Zwischen Erfurt, Wetzlar und Weimar. Justus Friedrich und Ludwig Friedrich Froriep: Bürgerliche Netzwerke, Leitideen und politisch-soziale Praxis zwischen 1770 und 1847, in: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins 41 (2003), S. 57–78. Wielands Briefwechsel. Briefe der Erfurter Dozentenjahre (25. Mai 1769–17. September 1772), bearb. von Annerose SCHNEIDER und Peter-Volker SPRINGBORN, Berlin 1979, S. 338. Hierzu v. a. Andreas LINDNER, Gezähmte Aufklärung – Just Friedrich Frorieps Geistliche Reden über die wichtigsten Lehren der christlichen Religion, in: Michael LUDSCHEIDT (Hg.), Aufklärung in der Dalbergzeit. Literatur, Medien und Diskurse in Erfurt im späten 19. Jahrhundert, Erfurt 2006, S. 45–59.

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wurde.7 Die Frorieps waren also Teil jenes aufstrebenden und aufgeklärten Bildungsbürgertums, das gemeinsam mit reformbereiten Teilen des Adels die deutschen Verhältnisse im Sinne der Aufklärung umgestalten wollte. Dass ein solches Programm nicht nur in Teilen des Adels, sondern gerade auch in den Kreisen des alten Stadtbürgertums noch auf vielfältige Widerstände stoßen musste, hat Justus Friedrich Froriep in Erfurt rasch erfahren müssen. Schon nach einem Jahrzehnt war seine dortige Laufbahn zu Ende. Als Theologe und Orientalist an der Erfurter Universität erfreute er sich zwar eines großen Ansehens, gerade auch bei seinen Studenten. Auch seine Predigten stießen in der Bevölkerung offenbar auf großen Zuspruch. Ein späterer Besucher eines von Froriep gestalteten Gottesdienstes schrieb: „Wenige Kirchen habe ich besucht, wo der Prediger mit so stiller und ununterbrochener Andacht angehöret wird. Auch ist das Äußere des Gottesdienstes weit feyerlicher, stimmet das Herz des Zuhörers mehr zur Andacht.“8 Wenn hier somit vor allem die in den Augen der Aufklärer ja als überholt geltenden äußerlichen Formen des Gottesdienst als besonderes Merkmal der Froriep’schen Predigt herausgestellt werden, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass Froriep sich als Mann der Aufklärung verstand und ihren Prinzipien mit aller Macht Geltung verschaffen wollte. Schon daraus ergaben sich Konflikte mit dem Evangelischen Ministerium in Erfurt. Aber darüber hinaus war Froriep offenbar auch ein sehr streitsüchtiger und rechthaberischer Mensch, der sich von Anfang an „durchaus nicht in die Schranken der Subordination“ dieser Behörde fügen wollte.9 So weigerte sich Froriep als gewählter Diakon an der Kaufmannskirche ein vom Evangelischen Ministerium verlangtes theologisches Examen abzulegen, weil er ja bereits in Leipzig gepredigt hatte und 1772 auch von der theologischen Fakultät in Helmstedt die Doktorwürde erhalten hatte. In den folgenden Jahren kamen weitere Konfliktfälle hinzu, weil Froriep sich auch in anderen Fragen nicht an Weisungen und Entscheidungen des Evangelischen Ministeriums hielt. Sein Sohn Ludwig Friedrich schreibt in seinen Erinnerungen, dass sich die Amtsverhältnisse des Vaters in Erfurt nach und nach sehr unangenehm gestaltet hätten. Anfang der 1780er Jahre seien die Konflikte eskaliert, weil Froriep zwei Juden getauft habe, ohne dass er beim Konsistorium die dafür notwendige Erlaubnis erhalten hatte. Dies habe die „Mißhelligkeiten so gesteigert, daß mein Vater endlich veranlaßt wurde, seine Dimißion einzureichen“.10 7

Lebenserinnerungen Ludwig Friedrich von Frorieps, in: Goethe- und Schillerarchiv Weimar, Bestand 06, Nachlass Bertuch/3121. Diese Quelle wurde mir dankenswerter Weise von Frau Wiebke von Häfen zur Verfügung gestellt. 8 Briefe eines Reisenden über Westphalen, in: Westphälisches Magazin 2 (1786), H. 5, S. 32 f. 9 BEYER, Neue Chronik (wie Anm. 4), S. 192. 10 Lebenserinnerungen Friedrich Ludwig von Frorieps (wie Anm. 7).

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Zu diesen Misshelligkeiten trugen aber auch die theologischen Positionen bei, die Froriep vertrat und die unter den konservativen Lutheranern in Erfurt auf Ablehnung stießen. Die Analyse der gedruckten Predigten aus Frorieps Leipziger und Erfurter Tätigkeit11 hat zwar gezeigt, dass er „an den wesentlichen Lehrstücken der lutherischen dogmatischen Tradition“ festhielt und sie nicht wie die Neologie um Johannes Joachim Spalding „dem aufklärerischen Denken“ preisgab. Andererseits öffnete sich Froriep aber bewusst der Aufklärung, „indem er mit der Vernunft einen ihrer Zentralbegriffe aufnimmt und in seinem Sinne zu besetzen versucht“.12 Dies führte ihn zu Vorschlägen über ein gemeinschaftliches theologisches Studium der Katholiken und Lutheraner, die aus heutiger ökumenischer Sicht geradezu modern erscheinen, bei zeitgenössischen Vertretern der lutherischen Orthodoxie aber auf entschiedene Ablehnung stoßen mussten. Froriep hatte im Herbst 1782 auf wenigen Seiten versucht, die von Dalberg aufgeworfene Frage nach neuen Grundsätzen für das Theologiestudium an der Universität Erfurt aus der Sicht eines Lutheraners zu beantworten. Die Schrift wurde zunächst nicht gedruckt. Dennoch schwirrten rasch Gerüchte über ihren Inhalt durch die Stadt Erfurt, und in öffentlichen Blättern wurde der Eindruck vermittelt, dass – so Froriep – er „zu gleicher Zeit Professor der katholischen Theologie in Mainz und evangelischer Pfarrer in Erfurt“ sei.13 Nach seinem Weggang aus Erfurt entschloss sich Froriep, seine Antworten auf Dalbergs Fragen mit einem längeren Anhang zu veröffentlichen. Froriep vertrat in dieser Schrift die Ansicht, dass katholische und lutherische Theologiestudenten auf vielen Feldern wie den Sprachen, der Philosophie oder den antiken Autoren, ja selbst in Teilen der Theologie problemlos gemeinsam unterrichtet werden könnten. Aber auch beim notwendig bleibenden besonderen Unterricht sollte jede Seite die Verteidigung der eigenen Wahrheiten mit einer toleranten und friedfertigen Gesinnung verbinden und nie einer anzustrebenden „künftigen Religionsvereinigung“ entgegenarbeiten. Im weiteren Verlauf hob Froriep zwar hervor, dass man als Lutheraner sehr viel von Katholiken lernen könne, verwies aber in diesem Zusammenhang vor allem auf Vertreter des französischen Gallikanismus, denen die deutschen Katholiken weniger auf die Spur gekommen seien als „wir Lutheraner“.14 Froriep verortete sich in seiner Schrift als „moderaten evangelischen Theologen“, der „zwar seine Religion verteidige, 11 Just Friedrich FRORIEP, Geistliche Reden über die wichtigsten Lehren der christlichen Religion, 2 Bde., Erfurt: [Keyser] 1774/75. 12 So LINDNER, Gezähmte Aufklärung (wie Anm. 6), S. 58 f. 13 Just Friedrich FRORIEP, Über das gemeinschaftliche theologische Studium der Katholiken und Lutheraner. An Seine Excellenz den Herrn Statthalter Baron von Dalberg in Erfurt, Gotha: Ettingersche Buchhandlung 1783, S. 20. Vgl. zu den Hintergründen auch LINDNER, Gezähmte Aufklärung (wie Anm. 6), S, 56–59. 14 FRORIEP, Über das Studium (wie Anm. 13), S. 13 f.

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aber übrigens den Verdiensten der Katholiken alle mögliche Gerechtigkeit widerfahren“ lasse, und mit ihnen selbst im bürgerlichen Leben auf vertrauliche Weise umgehe.15 In seinen Ausführungen über eine Beibehaltung des Papstamtes berief er sich zum einen auf den „friedfertigen Melanchthon“, der dies in den Schmalkaldischen Artikeln an die Bedingung geknüpft habe, „wenn der Papst beim Evangelium bleibt“.16 Zum anderen bezeichnete er das Papstamt als „Superintendens Generalissimus“ und betonte die Bedeutung, die freien Konzilien für den Kirchenfrieden zukomme.17 Mit all dem gab er sich als Sympathisant des Gallikanismus zu erkennen und hob damit vor allem seine enge Verbundenheit mit den religionspolitischen Zielen Karl Theodor von Dalbergs hervor, wie sie dieser in seinen 1777 erschienen Betrachtungen über das Universum festgehalten habe.18 Froriep stieß mit seinen Ausführungen und seinem Verhalten nicht nur in Erfurt selbst auf heftige Kritik. Auch Johann Gottfried Herder, der 1771 den jungen Froriep noch als „unwissenden Schreier“ bezeichnet hatte,19 sich später aber sehr positiv zu seinen Fähigkeiten als Theologe geäußert hatte, nahm die Streitigkeiten unter den Erfurter Lutheranern zum Anlass Frorieps Bewerbung um die Stelle des Generalsuperintendenten in Eisenach zu blockieren. Herder kritisierte 1782 in einem Brief an Johann Georg Hamann, dass Froriep mit seinem „unruhigen und recht lästerlich dummen Betragen“ gegen seine rechtmäßige Obrigkeit verstoßen und durch sein Verhalten der katholischen Seite in die Hände gespielt habe.20 Frorieps Querelen mit dem Erfurter Stadtrat und dem Evangelischen Ministerium wurden schließlich so heftig, dass ihm sein Gönner Dalberg den persönlichen Rat gab, die Stadt Erfurt zu verlassen, dem Froriep auch nachkam. Am 2. November 1783 hielt er seine Abschiedspredigt in Erfurt. Nachdem in Erfurter Zeitungen eine von Froriep nicht autorisierte und offenbar fehlerhafte Zusammenfassung dieser Predigt gedruckt worden war, gab er eine eigene Fassung in Druck. Er verzichtete in der Abschiedspredigt zwar darauf, die genauen Gründe der Amtsniederlegung zu benennen, schob aber den lutherischen Ratsherren der Stadt schon dadurch die Schuld an der eingetretenen Zerrüttung zu, 15 16 17 18

Ebd., S. 22. Ebd., S. 26. Ebd., S. 9. Betrachtungen über das Universum, Erfurt, bey Johann Friedrich Weber 1777, in: HansBernd SPIES (Hg.), Carl von Dalberg. Ausgewählte Schriften, Aschaffenburg 1997, S. 77– 152. 19 Johann Gottfried HERDER, Briefe, Bd. 2: Mai 1771-April 1773, bearbeitet von Wilhelm DOBREK und Günter ARNOLD, Weimar 1977, S. 53. 20 Johann Gottfried HERDER, Briefe, Bd. 9: Nachträge und Ergänzungen, bearbeitet von Günter ARNOLD, Weimar 1988, S. 317.

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indem er darauf verwies, dass er in diesem Jahrhundert bereits der fünfte evangelische Theologe der Stadt sei, der wegen Verdrießlichkeiten mit den Ratsherren und dem Evangelischen Ministerium das Amt habe aufgeben müssen. In seiner Abschiedspredigt „Von der Hochachtung gegen das Christentum“ beschwor Froriep das Leitbild des wahren, standhaften Verehrers der christlichen Religion, der sich wie einst Jesus der Unwissenheit, dem Aberglauben, der Heuchelei, den Irrtümern und Lastern widersetzen müsse:21 Wo das Christentum einmal Wurzeln geschlagen und redliche Anhänger bekommen hat, wo es in seiner ursprünglichen Lauterkeit erkannt, auf eine vernünftige Weise ausgebreitet und seiner Würde gemäß verehret wird, da ist der Weg in das Reich der Wahrheit überhaupt gebahnet, da hat der Mensch mannigfaltige Veranlaßungen, seine Geisteskräfte anzuwenden, seine Fähigkeiten zu entwickeln, den Verstand mit nützlichen Kenntnissen, das Herz mit edlen Trieben zu bereichern, und die Seele immer vollkommener zu machen.22

In Erfurt, so konnte man zwischen den Zeilen lesen, hatten Frorieps Gegner dazu beigetragen, dass dieser Zustand noch nicht erreicht war. Anhänger Frorieps unterstrichen diese Position durch die Veröffentlichung einer Schrift „Denkmahl der Liebe und Dankbarkeit unserm Theuresten Lehrer“, in dem Frorieps Wirken in Form einer Ode nach Klopstocks Muster gewürdigt und er als das Opfer finsterer Machenschaften dargestellt wurde.23 Froriep betonte in seiner Abschiedspredigt noch einmal den engen Zusammenhang, der zwischen einer „recht verstandenen und nach Würden geschätzten“ christlichen Religion und der Aufklärung bestehe. Christliche Religion habe der Aufklärung bisher nicht geschadet: „sie ist ihr vielmehr beförderlich gewesen, hat sie veranlasset, begünstiget und vergrößert“.24 Deshalb sollte eine recht verstandene christliche Religion nach Froriep auch weiterhin die Aufklärung und die bürgerlichen Tugenden fördern, so dem gesellschaftlichen Leben Ruhe und Sicherheit geben sowie zu öffentlicher Wohlfahrt und häuslichem Glück beitragen. In diesem Sinne wollte der aus Erfurt verdrängte Theologe auch zukünftig wirken. Justus Friedrich Froriep zog mit seiner Familie 1783 zunächst nach Gotha, wo er die Unterstützung durch die Herzogin Luise Dorothea genoss, freilich unter recht bescheidenen materiellen Verhältnissen leben musste. Nachdem Anfang 1784 Frorieps Ehefrau in Gotha verstorben war, ging Froriep mit 21 Just Friedrich FRORIEP, Von der Hochachtung gegen das Christenthum. Eine Predigt am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1783 bey Niederlegung seines Pfarramts in der Kaufmannskirche zu Erfurt, Gotha: Ettingersche Buchhandlung 1783, S. 12. 22 Ebd., S. 17. 23 LINDNER, Gezähmte Aufklärung (wie Anm. 6), S. 58. 24 FRORIEP, Von der Hochachtung (wie Anm. 21), S. 18.

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seinem gerade fünf Jahre alten Sohn nach Bückeburg. In der Residenzstadt der Grafschaft Schaumburg-Lippe übernahm er nun die Stelle eines Konsistorialrats, Superintendenten und Scholarchen und zugleich das Amt des Oberpfarrers an der evangelisch-lutherischen Stadtkirche in Bückeburg. Die neue Aufgabe war von Anfang an nicht einfach. Dem reformierten Herrscherhaus stand eine mehrheitlich lutherische Bevölkerung gegenüber. Und mit dem Grafen Philipp Ernst regierte seit 1777 ein Landesherr, der seine Regierungsmaßnahmen mit der Zustimmung einer aufklärerisch gesinnten literarischen Öffentlichkeit begründete, dabei aber auf zunehmenden Widerstand der städtischen und bäuerlichen Bevölkerung stieß.25 Froriep begann seine Bückeburger Tätigkeit dennoch mit optimistischen Erwartungen. Er stellte sich zunächst hinter die Politik des Landesherrn. In seiner Antrittspredigt lobte er Philipp Ernst als einen Regenten, dessen ausgebreiteten Kenntnisse, dessen Scharfsinn und Tätigkeit die Bewunderung aller Unparteiischen hervorrufe und dem es ein „wahrer Ernst“ sei, „sein Land glücklich zu machen“.26 Das Glück, von einem solchen Landesherren berufen zu werden, müsse man um so höher schätzen, je seltener noch immer die Regenten seien, die den Namen eines weisen Regenten wirklich verdienen. Er verglich den Grafen mit Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim, also jenem die Aufklärung befördernden Mainzer Erzbischof, der Froriep auf die Professur nach Erfurt berufen hatte. Froriep setzte zu diesem Zeitpunkt somit noch ganz auf den aufgeklärten Regenten, der wie ein Vater das noch weitgehend unmündige Volk belehren musste. Dies unterstrich er auch noch einmal in einer Predigt, die er 1785 anlässlich der Geburt des Erbgrafen Georg Wilhelm hielt. Froriep nahm hier aber zugleich auch die Untertanen des Fürsten in die Pflicht, indem er sie darauf verwies, gegenüber den eigenen Kindern die gleichen Erziehungsprinzipien zu verfolgen, wie er sie gegenüber der Fürstenfamilie angesprochen hatte. Sie sollten eine Erziehung erhalten, „wie sie vernünftigen Geschöpfen und redlichen Bekennern des Christenthums angemeßen ist“. Aus ihnen sollte ein Volk entstehen, dem Religion und Tugend heilig ist, „das wilde Zerstreuungen eben so sehr haßet, als ein mürrisches Wesen, und dem Aberglauben eben so sehr fliehet, als jedes leichtsinnige Betragen, ein Volk das rechtschaffen, mäßig, arbeitsam ist“.27 Dass die Bevölkerung gegenüber einer solchen Aufklärungspolitik von oben aber teilweise mit massivem Widerstand reagierte, musste in den 1780er Jahren aber nicht nur Fürst Philipp Ernst erkennen. Auch Froriep selbst scheiterte in Bückeburg mit der Einführung einer neuen Agende und eines neuen Gesang25 Margarete BRUCKHAUS, Bückeburg. Kleinstadt und Residenz vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des Alten Reiches, Rinteln 1991, S. 213 ff. 26 FRORIEP, Zwey Predigten (wie Anm. 1), S. 33. 27 Ebd., S. 61.

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buches, weil die Mehrheit der lutherischen Bürgerschaft an den überkommenen Formen des Gottesdienstes festhalten wollte.28 Deutlich mehr Unterstützung erfuhr Froriep dagegen, als er sich an die Spitze einer Bewegung stellte, welche die überkommenen Rechte der lutherischen Konfession gegen das reformierte Herrscherhaus zu verteidigen suchte. Froriep wollte gemeinsam mit führenden Vertretern der Kirche und Teilen der Bürgerschaft die 1787 eingetretene Situation einer vormundschaftlichen Regierung für den gerade dreijährigen Grafen Georg Wilhelm29 nutzen, um die lutherische Landeskirche mehr oder weniger aus dem Sumepiskopat des reformierten Herrscherhauses zu emanzipieren. Er begann eine heftige Auseinandersetzung mit der Landesherrschaft, die ihm am Ende auch in Bückeburg das Amt kosten sollte. In seiner Erfurter Abschiedspredigt hatte Froriep die Notwendigkeit betont, den „Geist der Duldung, der Liebe, der Vertragsamkeit gegen andere Religionsverwandte“ zu fördern.30 In Bückeburg verteidigte er die vermeintlichen Ansprüche der Lutheraner aber in einer Weise, die diesem Postulat eigentlich nicht mehr gerecht wurde. Seit Längerem hatte es in der kleinen Residenzstadt immer wieder Streitigkeiten zwischen den lutherischen Stadtbürgern und den meist reformierten Angehörigen des Hofes gegeben, die zahlreiche Exemtionen von städtischen Abgaben und Pflichten beanspruchten. Der Konflikt zwischen den beiden Konfessionen entzündete sich an vergleichsweise harmlosen Abgaben und der Verteilung von Gebühren, eskalierte aber rasch zum Grundsatzstreit. Die Lutheraner forderten von den Reformierten die Abtretung der Stolgebühren, griffen damit aber, wie kein geringerer als der Göttinger Jurist Pütter im März 1790 schrieb, die episkopalen Rechte der Landesherrschaft offen an.31 Froriep sah sich danach veranlasst, einen über 300 Seiten langen „Anti-Pütter“ zu veröffentlichen. Auf der einen Seite beklagte Froriep, dass man „zu einer Zeit, wo alles von Aufklärung, Toleranz, Bruderliebe voll ist, wo jeder das Ansehen haben will, als sey er ein wahrer Kosmopolite, ein Erzfeind aller Religionszänkerey“, noch solche Konflikte führen 28 Hans-Walter KRUMWIEDE, Kirchengeschichte, in: Hans PATZE (Hg.), Geschichte Niedersachsens. Bd. 3,2: Kirche und Kultur von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Hildesheim 1983, S. 212. 29 Vgl. Stefan MEYER, Georg Wilhelm Fürst zu Schaumburg-Lippe (1784–1860). Absolutistischer Monarch und Großunternehmer an der Schwelle zum Industriezeitalter, Bielefeld 2007. 30 FRORIEP, Von der Hochachtung (wie Anm. 21), S. 22. 31 Zum Konflikt vgl. den ausführlichen Bericht über die Vorgänge in den von August Ludwig Schlözer herausgegeben Stats-Anzeigen: Kurze Actenmäßige Nachricht über des ConsistorialRats und Superintendenten Froriep zu Bückeburg, des Pastor Rauschenbusch daselbst, und des ConsistorialRats und Pastor Meier zu Vehlen, erkannte und vollzogene DienstEntsetzung und Landesräumung, in: Stats-Anzeigen 17 (1792), H. 67, S. 294–305.

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müsse.32 Auf der anderen Seite attackierte er die Reformierten in ungewöhnlich harter Weise. So bestritt er deren Anspruch, den Namen Augsburgische Religionsverwandte führen zu dürfen, warf ihnen vor, dasselbe im Grunde aus der Welt schaffen zu wollen und in ihren Auseinandersetzungen mit der lutherischen Lehre „auch nicht ganz ohne Gewaltthätigkeiten vorgegangen zu sein“.33 Wer die Geschichte des Luthertums kenne, dem seien – so Froriep – die heftigen Angriffe und Ausdrücke bekannt, „die sich viele Reformirte gegen dieses schöne, so sanfte Bekenntnis erlaubet haben, der weiß auch, wie sie würklich darauf bedacht gewesen sind, dasselbe aus der Welt zu schaffen oder auf diese oder andere Weise zu Grabe zu tragen“.34 Froriep setzte sich über viele Seiten mit der Geschichte und den Bestimmungen des Westfälischen Friedens auseinander, um seine Positionen zu begründen. Er wollte verhindern, dass die Lutheraner in Schaumburg-Lippe „über kurz oder lang Opfer eines uneingeschränkten Reformationsrechts“35 der Landesherrschaft werden konnten, das allerdings in diesem Falle von der vormundschaftlichen Regierung des Landes gar nicht beansprucht worden war. Froriep führte aber zur Rechtfertigung seiner Position nicht nur das Reichsrecht an, sondern berief sich zum einen auf sein Gewissen, das ihm gar keine andere Wahl als die entschiedene Verteidigung des Rechts erlaube.36 Zum anderen verwies er aber auch auf die jetzige aufgeklärte Denkungsart und die Menschenrechte und nahm dabei in seinen Attacken gegen die Herrschaft auch indirekt Bezug auf die Entwicklungen in Frankreich. „Jedes unbeschränkte Recht“, so mahnte er gegenüber der Landesherrschaft, „ist in den Händen eines Menschen, wären sie auch die weisesten, die gütigsten, immer eine gefährliche Sache; sie selbst sind nicht vor den Anfällen einer üblen Laune gesichert noch können sie für ihre Nachfolger, denen sie dieses Recht hinterlassen, einstehen.“37 Die Schrift über die Religionsverwirrungen zwischen Lutheranern und Reformierten ließ den Streit in Bückeburg so eskalieren, dass Froriep seiner Ämter enthoben und gemeinsam mit seinen wichtigsten Mitstreitern schließlich in Haft genommen wurde. Ein Mandat des Reichskammergerichts, das die Freilassung der Inhaftierten anordnete und um Ausgleich bemüht war, konnte den Konflikt ebenso wenig beenden wie ein Urteilsspruch der Juristischen Fakultät in Rostock. Froriep blieb unbeirrt auf seinem Standpunkt, beharrte auf der 32 Just Friedrich FRORIEP, Über die Religionsirrungen zwischen den Lutheranern und Reformirten in der Grafschaft Schaumburg, Lippischen Antheils. Zur Widerlegung des Herrn Pütter, Frankfurt/Leipzig: o.Verl. 1790, S. 3. 33 Ebd., S. 10. 34 Ebd., S. 16. 35 Ebd., S. 217. 36 Ebd., Einleitung S. XIII. 37 Ebd., S. 218 f.

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Rückkehr in seine Ämter und lehnte ein Pensionsangebot von 200 Talern jährlich ab. Am Ende wurde er des Landes verwiesen und zog mit seiner in Bückeburg neu gegründeten Familie nach Wetzlar. In der Stadt des Reichskammergerichts übernahm Froriep zunächst kein neues Amt, sondern hielt sich hier als Privatmann auf. Wer ihm den Weg nach Wetzlar gebahnt hat und wovon er zunächst seinen Lebensunterhalt bestritten hat, bleibt unklar. Dass Froriep aber in Wetzlar wohl frühzeitig über einflussreiche Gönner verfügt haben dürfte, kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass er am 12. August 1792 in Wetzlar die Festpredigt zur Feier der Kaiserkrönung Franz II. halten durfte. Diese Predigt gibt einen guten Einblick in Frorieps Verständnis von der Verbreitung des aufklärerischen Gedankenguts. Trotz der eigenen schlechten Erfahrungen mit vermeintlicher fürstlicher Willkür hielt Froriep auch hier am Ideal des aufgeklärten Monarchen fest. In der Französischen Revolution sah er kein Vorbild, sprach von den „Greuel der Bosheit und Ungerechtigkeit“, die „ein benachbartes Königreich in die äußerste Verwirrung und in ein unabsehliches Elend hineinstürzen“.38 Zugleich aber mahnte Froriep, dass man weiter an den Zielen der Aufklärung festhalten müsse und dass Sicherungen gegen Despotie und Willkür der beste Schutz vor französischen Zuständen sei. „Festbestimmte Gesetze, Ordnungen, Verträge, Gewohnheiten“ seien „das sicherste Band der bürgerlichen Gesellschaft“ und sollten weder von Regenten noch vom Volk einseitig, nach bloßer Willkür, durch Machtansprüche oder durch Handlungen vernichtet werden.39 Froriep mahnte: Wenn Regenten nach bloßer Leidenschaft und Willkühr handeln, und aus Vätern des Volks in seine Unterdrücker, in Tyrannen ausarten, wenn Unterthanen gleichfalls nach bloßem Eigensinne verfahren, ihren Oberhäuptern den schuldigen Gehorsam entziehn, und aus gutdenkenden Bürgern des Staats sich in Empörer verwandeln, dann wird das allgemeine Beste verfehlt, der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft wird vereitelt, die Bande lösen sich nach und nach auf, es entsteht eine gänzliche Unordnung und […] das fürchterlichste, ein unabsehliches Elend ist die Folge von allem.40

Nur wenn Volk und Regent die Gesetze achteten, könne eine gute Ordnung befördert, die Freiheit erhalten, das Eigentum gesichert und das allgemeine Beste erreicht werden. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation bot aus der Sicht Frorieps hierfür gute Wege und Mittel. Das eine war die Reichsverfassung selbst mit ihren Institutionen, wie vor allem das von Froriep gepriesene und in seinem 38 Justus Friedrich FRORIEP, Predigt bey der Feyer der Kaiserkrönung Ihro Majestät Franz des Zweyten in der Kaiserlichen freyen Reichsstadt Wetzlar am 12. August 1792, Frankfurt am Main: Fleischer 1792, S. 29. 39 Ebd., S. 25. 40 Ebd., S. 13.

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Streitfalle auch angerufene Reichskammergericht, das durch seine Rechtsprechung Zustände wie in Frankreich verhindert habe. Das andere waren befähigte und im Geiste der Aufklärung regierende Monarchen. Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Menschenliebe und Weisheit waren für Froriep die vornehmsten Eigenschaften des Monarchen. Er sollte die Religion ehren, ohne allerdings die Gewissensfreiheit seiner Untertanen zu verletzen, nach dem Gesetz und ohne Nebenabsichten regieren, das Glück der Untertanen durch Reformen mehren und den Frieden als Garant des Glücks der Menschen bewahren.41 Froriep lobte in diesem Zusammenhang ausdrücklich den 1790 verstorbenen Joseph II., dessen gute Absichten von vielen Untertanen noch missverstanden worden seien. Josephs Politik habe auch sein nur kurz regierender Bruder Leopold fortgesetzt. Vom neuen Kaiser, Franz II., erwartete Froriep nun, dass er sich „als wahrer Sohn Leopolds, als der treue Nachfolger seiner Gesinnungen und Handlungen“ zeige.42 Gerade die angespannte außenpolitische Lage, die mit der Kriegserklärung Frankreichs im Frühjahr 1792 gegenüber Österreich entstanden war, verlangte nach Ansicht Frorieps, dass der neue Kaiser auf den Bahnen von Vater und Onkel weiter schritt. Das aufklärerische Programm, dem sich Froriep verpflichtet fühlte, war somit durch die Revolution in Frankreich nicht obsolet geworden. Es sollte in Deutschland durch das Zusammenwirken von Monarch und Volk weitergeführt werden. Froriep warnte in diesem Zusammenhang aber vor einem zu schnellen Vorgehen, das die Menschen überforderte. Er betonte vielmehr, daß die Aufklärung, Besserung, Beglückung der Menschen nicht das Werk eines Augenblicks oder weniger Tage sey, daß sie Zeit, Überlegung, wiederholte liebreiche Bemühungen erfordere, und nicht durch gewaltsame Mitteln und auf einmal, sondern durch gelinde Mittel und stufenweise geschehen müsse: so wie die reifen Früchte in dem Garten der Natur von ihrer Hand und nach ihrer Leitung gewartet und gepfleget einen unendlichen Vorzug vor allen, auch den schönsten Früchten der Treibhäuser behaupten.43

Hier deutete sich jenes volksaufklärerische Konzept an, dem sich Froriep nun in seinen letzten Lebensjahren in Wetzlar zu widmen versuchte. Der neue Kaiser Franz II. beschritt einen ganz anderen Weg, als dies Froriep 1792 erhofft hatte. Franz II. wurde zum Exponenten eines strikt konservativen Kurses. Diese starre Verteidigung der alten politischen und sozialen Ordnung sorgte im Umfeld des Reichskammergerichts für große Unzufriedenheit. In Wetzlar hatte sich seit den 1770er Jahren eine von den Mitgliedern des Reichskammergerichts getragene Aufklärungsgesellschaft herausgebildet, zu der auch

41 Ebd., S. 14 ff. 42 Ebd., S. 22. 43 Ebd., S. 25 f.

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Froriep sehr schnell Zugang fand.44 Mitte der 1790er Jahre schrieb ein junger, sich als Neufranke bezeichnender Besucher, dass man im Reich nur wenige Orte finde, wo die politischen Debatten so frei seien wie in Wetzlar.45 Innerhalb der Aufklärungsgesellschaft zeichneten sich in den 1790er Jahren zwei Tendenzen ab. Einige jüngere Gebildete begannen sich zu radikalisieren und Konzepte zu verfolgen, die zum Umfeld des deutschen Jakobinismus zu zählen sind. Der andere, größere Teil der Aufklärer setzte weiterhin auf evolutionäre Wege, war aber nun sehr viel stärker bestrebt, die Gesellschaft – und das hieß in Wetzlar vor allem das städtische Bürgertum – in Reformüberlegungen und -aktivitäten einzubeziehen.46 Dieser Weg in die Volksaufklärung lässt sich gerade bei Froriep sehr gut verfolgen. Gewiss war er schon in Erfurt und Bückeburg bemüht, Unterstützung aus der Bürgerschaft zu erhalten, hatte aber im Streit um Judentaufen und Gesangbuch auch die Erfahrung machen müssen, wie viel Beharrungspotential in den stadtbürgerlichen Gesellschaft noch vorhanden war. Während er in früheren Zeiten durchaus die Meinung erkennen ließ, dass man Menschen nötigenfalls auch zu ihrem Glück zwingen müsse, versuchte Froriep nun aufgrund vielfältiger Erfahrungen mit der Vermittlung aufklärerischer Ideen und Praktiken, die Gesellschaft stärker in Reformbestrebungen einzubeziehen. 1796 ließ er sich von der lutherischen Gemeinde zum dritten Wetzlarer Stadtpfarrer wählen. Dies war nach den verlorenen Stellungen in Erfurt und Bückeburg zweifellos ein Abstieg, aber Froriep gewann durch dieses neues Amt eine gute Ausgangsposition für die Verwirklichung seiner volksaufklärerischen Ziele. Froriep übte das neue Amt bis zu seinem Tode Anfang 1800 aus und trat mit bemerkenswerten Predigten und Reforminitiativen hervor. Sie zeigen, wie fest er zum einen dem aufklärerischen und kosmopolitischen Gedankengut verhaftet war und wie er sich zum anderen nun stärker volksaufklärerischen Konzepten öffnete. Dies hing möglicherweise auch mit wachsenden Sympathien für die in Frankreich inzwischen geschaffene neue bürgerliche Ordnung zusammen. Als der Bruder von Kaiser Franz, Erzherzog Karl, im Juni 1796 vor Wetzlar die französische Rheinarmee besiegt hatte, hielt Froriep am folgenden Sonntag eine Predigt zum Thema „Von der Barmherzigkeit gegen den Nächsten zur Zeit der allgemeinen Trübsale“. Er ermahnte die Gemeinde, Barmherzigkeit gegenüber 44 Vgl. hierzu Hans-Werner HAHN, Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689–1870, München 1991, S. 167–177; Monika NEUGEBAUER-WÖLK, Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten, Wetzlar 1993. 45 Johann Nikolaus BECKER, Fragmente aus dem Tagebuche eines reisenden Neu-Franken, hg. nach der Erstausgabe 1796 von Wolfgang GRIEP, Bremen 1985, S. 35. 46 Vgl. Hans-Werner HAHN, Die Stadt Wetzlar im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1803, in: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins 34 (1989), S. 85–143, hier S. 123 ff.

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dem Nächsten zu üben, gleich welchen Standes, Alters, Geschlechts, Volksoder Religionszugehörigkeit er sei. Der edle Menschenfreund, der den Prinzipien der Vernunft, seinem Gewissen und einem wahren Christentum folge, müsse selbst jenen in Not geratenen Menschen helfen, die er zuvor als Fremde, Feinde und Verfolger angesehen habe. Deshalb rief er dazu auf, auch den entwaffneten, gefangenen und verwundeten Feind nach dem Ausgang der Schlacht nicht mehr als Feind zu betrachten sei, sondern als Bruder, als Gegenstand des Mitleidens und der Menschenliebe. Er schloss seine Predigt mit den Worten, dass man Gott am besten dadurch für die Errettung der Stadt danken könne, wenn man das Vorbild seiner Liebe nachahme und sich mit allen Kräften darum bemühe, „das Elend der Menschheit zu mindern und ihr Glück zu erhöhen“.47 Ein Jahr später kamen diese kosmopolitischen Ideale Frorieps in einer Rede zum Ausdruck, die er anlässlich der Vermählung einer Ratsherrentochter mit einem französischen Offizier hielt. Wetzlar war 1797 für mehrere Monate Hauptquartier der französischen Rheinarmee. Froriep pries die deutschfranzösische Ehe zum einen als Beleg für das neue Ideal der Liebesheirat, nach dem die Ehe auf der Zuneigung der Partner und nicht auf Status- und Vermögensdenken gegründet sein müsse. Zum anderen wertete er sie als Beweis für den „weltbürgerlichen Sinn“ des Christentums, das nationalen Vorurteilen entgegenarbeite und am besten geeignet sei, Franzosen und Deutsche wieder in einen Zustand des Friedens zu führen.48 Zur gleichen Zeit hatte Froriep damit begonnen, in der Stadt des Reichskammergerichts eine bildungspolitische Reformoffensive zu starten. Zunächst einmal erteilte er kostenlose, aus Geldern der Freimaurerloge finanzierte Philosophiekurse für das gebildete Publikum. Darüber hinaus – und das war das Wichtigere – gehörte er 1799 zu den Gründern einer „Gemeinnützigen Gesellschaft“, deren erste Aufgabe die Reform des Wetzlarer Schulwesens war. Die Initiatoren kamen aus den gebildeten Kreisen, sie wollten sich aber nicht wie bei der Freimaurerei und anderen Geselligkeitszirkeln auf eine adlig-bürgerliche Aufklärungselite beschränken, sondern auch die meist handwerklich tätigen Stadtbürger einbeziehen. Die somit ständeübergreifend angelegte Gesellschaft zählte Ende 1799 bereits 173 Mitglieder, darunter zahlreiche Kaufleute und Handwerker.49 Froriep nutzte seine Stellung als lutherischer Stadtpfarrer, um für 47 Just Friedrich FRORIEP, Von der Barmherzigkeit gegen den Nächsten zur Zeit der allgemeinen Trübsale. Eine Predigt am vierten Trinitatis 1796 als am Sonntage nach dem erfochtenen Siege der Deutschen bey Wetzlar, Wetzlar: o.Verl. 1796, S. 28. 48 Just Friedrich FRORIEP, Rede bei der ehelichen Verbindung des Herrn J. A. Blaize Hauptmanns in französischen Diensten mit der Demoiselle B. Büssern Tochter des Herrn Raths-Schöffen Johannes Büssers am 30. August 1797, Wetzlar: o.Verl. 1797, S. 3 ff. 49 Ausführlich hierzu HAHN, Altständisches Bürgertum (wie Anm. 44), S. 197–214.

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die Ziele der Gesellschaft zu werben. So machte er in einer Predigt am Palmsonntag des Jahres 1799 die Gottesdienstbesucher auf die „Gemeinnützige Gesellschaft“ aufmerksam. Jeder Bewohner, so mahnte er, habe die Pflicht, die neuen Initiativen zu unterstützen, denn „Unterricht und Erziehung der Jugend sey die Seele des Staates“ und nichts sei wichtiger, „als dass wir aus allen Kräften für die beste Erziehung unserer Kinder sorgen, dafür sorgen, dass sie brauchbare Glieder der menschlichen Gesellschaft werden“. Sein Leitspruch lautete: „Durch eine weise Erziehung wird der brauchbare Mann in jedem Stande am sichersten gebildet.“50 Der weise Erzieher sollte seine Zöglinge auf der Grundlage der Religion zu würdigen Bürgern mit Sinn für Wahrheit, Tugend, Mäßigkeit, Gottesliebe und Vaterlandsliebe heranbilden. Die Initiatoren der Schulreform hoben hervor, dass das städtische Gemeinwesen nur dann für die Zukunft gerüstet sei, wenn seine Bewohner vom Geist eines neuen Zeitalters beseelt würden. Die Sozialisation des Stadtbürgers sollte daher nicht mehr nur vom Herkommen bestimmt sein. Als zentrales Leitmotiv galt künftig der über ein Mindestmaß an Allgemeinbildung verfügende und erst dadurch zu tugendhaftem Handeln befähigte Bürger. Die Schulkommission, der auch Froriep angehörte, begründete die Notwendigkeit einer „vollkommnern Bildung der untern Volksklassen“ gerade auch mit der Verfassung der eigenen Stadt, nach welcher der Bürger zu Berathschlagungen über die wichtigsten Angelegenheiten gezogen wird, ja, selbst obrigkeitliche Aemter zu bekleiden bestimmt ist, und nach welcher mithin für ihn eine sorgfältigere Jugendbildung unumgänglich nothwendig wird, wenn seine Rathschläge in der Zunftstube und seine obrigkeitlichen Beschlüsse am Rathstische das Gepräge ruhiger Weißheit und des Seegens für seine Vaterstadt an sich tragen sollen.51

Dieser zeitgemäßen umfassenden Bildung sollte daher durch die Reform des höheren und des Elementarschulwesens Bahn gebrochen werden. Mit ihrem Ansatz wollten die Reformer auch die Gräben zwischen Gebildeten und dem Rest der städtischen Gesellschaft überwinden. Man plädierte öffentlich dafür, die „unrichtige Entgegensetzung der Bürger- und der gelehrten Schule“ zu beseitigen, denn jede Lehranstalt müsse eine Bürgerschule sein, „so ferne sie den Zweck hat, den künftigen Bürger, er sey Gelehrter oder Nicht-Gelehrter, zur Betreibung des von ihm gewählten Berufes geschickt zu machen. Hier gibt 50 Justus Friedrich FRORIEP, Predigt Entwurf für den Palmsonntag 1799 in der Hauptkirche zu Wetzlar Morgens 7 Uhr zur Empfehlung des Städtischen Schul- und ErziehungsWesens, Wetzlar 1799. Die Schrift befindet sich in: Historisches Archiv der Stadt Wetzlar, Wetzlarer Drucke. 51 Historisches Archiv der Stadt Wetzlar, Ältere Akten VIII, 12: Bericht der Wetzlarer Schulkommission vom 25. Februar 1800.

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es nirgends einen Rang“.52 Bildung sollte von ihren Inhalten, Prinzipien und sozialen Dimensionen her eine allgemeine sein. Deshalb legte man auch großen Wert auf die Reform der Elementarschule. Es sollte im Grunde ein System geschaffen werden, das nach unten offen war und auch den befähigten Kindern aus jenen Schichten, denen die bildungsbürgerliche Welt noch fremd war, den Aufstieg durch Bildung ermöglichen konnte. Die Bildungsreformen konnten am Ende nicht ganz so umgesetzt werden, wie es geplant war. Zum einen reichten die Mittel der Stadt allein nicht aus. Zum anderen gab es Widerstände aus einigen Zünften, die nicht nur die Kosten kritisierten, sondern auch ein auf zu viel Allgemeinbildung ausgerichtetes Konzept. Ein Teil der Zünfte strengte einen Prozess am Reichshofrat in Wien an und bemängelte, „dass der Unterricht, welcher nach der neuen Einrichtung ertheilt wird, für die Kinder der mittlern und letztern Bürgerklassen ganz entbehrlich sey, oder denselben wenig, oder gar nichts nütze.“53 Zugleich kritisierte die Bürgeropposition, dass das Bibellesen im neuen Schulsystem zu wenig berücksichtigt sei. Trotz aller Widerstände und Anlaufschwierigkeiten war die Schulreform, an der Froriep bis zu seinem Tode so engagiert mitgearbeitet hatte, ein wichtiger Schritt zu einem modernen städtischen Schulwesen. Zudem zeigte die Teilnahme vieler Stadtbürger an der Gemeinnützigen Gesellschaft, dass der von Froriep maßgeblich mitgetragene Ansatz einer stärkeren Einbeziehung der Betroffenen nicht erfolglos geblieben war.54 Im Hinblick auf das aufklärerische Wirken Frorieps bleibt festzuhalten, dass er ein fest im Luthertum verankerter Theologe war, der in seinen frühen Predigten mehrfach Bezug auf die Reformation und auch auf ihre Bedeutung für die Aufklärung nahm. Während er in seinen frühen Jahren noch ganz auf eine von Herrschern und gebildeten Eliten gesteuerte Aufklärung setzte und in vielen Predigten das Ideal des aufgeklärten Monarchen beschwor, öffnete er sich in den letzten Jahren seines Wirkens zunehmend der Volksaufklärung. Dies hing mit seinen persönlichen Erfahrungen mit einer vor allem von oben verordneten Aufklärung zusammen, war aber auch auf die neue politische und gesellschaftliche Situation zurückzuführen, die durch den Ausbruch der Französischen Revolution und ihre Folgen entstanden war. Leider finden sich aber in den reichlich vorhandenen Quellen von Frorieps volksaufklärerischen Aktivitäten keine Hinweise auf die unmittelbare publizistische Instrumentalisierung der 52 Nachricht für das Publikum von den bisherigen Verhandlungen der Wetzlarischen gemeinnützigen Gesellschaft, Erstes Stück, Wetzlar: o.Verl. 1799, S. 38. 53 Obrigkeitlich befohlener Abdruck des von der Schulkommission erstatteten Berichts über die von einem Theil der Wetzlarischen Bürgerschaft angefochtenen neuen Schulanstalten, Wetzlar: o.Verl. 1800, S. 17. 54 Ausführlich zur Mitgliederstruktur der Gemeinnützigen Gesellschaft und den Folgen der Schulreform HAHN, Altständisches Bürgertum (wie Anm. 44), S. 197–214.

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Reformation oder des Wirkens der Reformatoren. So nahm Froriep etwa bei seinem Werben um die Unterstützung der lutherischen Stadtbürger für die Wetzlarer Schulreform nur auf Jesus Bezug, dessen Jugendjahre gezeigt hätten, wie sehr sich die Eltern um seine Erziehung und Bildung gekümmert hätten, nicht aber auf Bildungspostulate der Reformatoren.55 Die Gründe für diesen Befund könnten in der „aufklärerischen Ökumene“ gelegen haben, der sich Froriep trotz seines Streites mit den Reformierten verpflichtet fühlte und für die er sich gerade an seinen gemischtkonfessionellen Wirkungsorten Erfurt und Wetzlar ganz im Sinne seines Förderers Dalberg besonders einsetzte.

55 FRORIEP, Predigt Entwurf für den Palmsonntag (wie Anm. 50).

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„Auch sollst du nicht mit Andersdenkenden darüber disputiren.“ Konfessionalität und religiöser Streit im Rheinländischen Hausfreund Johann Peter Hebels

Dass Johann Peter Hebels Kalenderschriftstellerei im engeren Kontext der Volksaufklärung steht, wird heute nicht mehr in Frage gestellt.1 Der „Badische Landkalender“, den Hebel zum „Rheinländischen Hausfreund“ umgestaltete, war schon vor dem Beginn seiner Kalenderredaktion stark durch volksaufklärerische Zielsetzungen geprägt.2 Hebel hat diese Zielsetzungen geteilt, wählte allerdings ganz andere und vielfach völlig neue Vermittlungsformen, die seine Kalendertexte in vielerlei Hinsicht zu einem Höhepunkt der literarischen Volksaufklärung machen.3 Auch die christliche Prägung von Hebels Texten steht außer Frage: Wie viele andere Volksaufklärer auch war Hebel ein protestantischer Geistlicher, dessen Werk maßgeblich durch den sprachlichen Einfluss von Luthers Bibelübersetzung geprägt wurde, was sich an einer Vielzahl von Wendungen und Zitaten aufzeigen ließe. Dabei wird schnell sichtbar, dass zwischen dem volksaufklärerischen Anliegen und der mit biblischen Bezügen operierenden Darstellungsart keine Differenz besteht: Frömmigkeit und aufklärerischer Erkenntnisdrang 1

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Vgl. besonders Guido BEE, Aufklärerische Prägung und gegenaufklärerische Nutzung. Vermeintliche Neuentdeckungen und alte Defizite der Hebel-Forschung, in: Richard FABER/Brunhilde WEHINGER (Hg.), Aufklärung in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2010, S. 197–213; DERS., Johann Peter Hebels Rheinländischer Hausfreund als Kalender der Aufklärung, in: York-Gotthard MIX (Hg.), Der Kalender als Fibel des Alltagswissens, Tübingen 2005, S. 175–187; Reinhart SIEGERT, Johann Peter Hebel als Genie der Popularität, in: Carl PIETZCKER/Günther SCHNITZLER (Hg.), Johann Peter Hebel. Unvergängliches aus dem Wiesental, Freiburg im Breisgau 1996, S. 47–100; Annegret VÖLPEL, Der Literarisierungsprozess der Volksaufklärung des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Dargestellt anhand der Volksschriften von Schlosser, Rochow, Becker, Salzmann und Hebel, Frankfurt am Main 1996. Vgl. Friedrich VOIT, Vom „Landkalender“ zum „Rheinländischen Hausfreund“ Johann Peter Hebels. Das südwestdeutsche Kalenderwesen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1994, S. 54–60. Vgl. Guido BEE, Aufklärung und narrative Form. Studien zu den Kalendertexten Johann Peter Hebels, Münster u.a. 1997.

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ergänzen sich, am deutlichsten in den regelmäßig im Kalender anzutreffenden „Betrachtungen über das Weltgebäude“, wo – unter Einfluss der Physikotheologie – immer wieder die Beobachtung naturwissenschaftlicher Phänomene in die Begeisterung über die Vollkommenheit der Schöpfung übergeht. 4 Angesichts dieser unzweifelhaft vorhandenen tiefen Prägung durch lutherische Sprache und Frömmigkeit ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass explizit konfessionell ausgerichtete Bezüge in Hebels Kalender nur selten zu finden sind. Hebel spart den Bereich des Konfessionellen in seinem Kalender weitgehend aus. Einen wichtigen Hinweis auf ein mögliches Motiv für die Zurückhaltung in diesem Bereich liefern die von Hebel erstellten amtlichen Schreiben. In einem der Gutachten, die seiner Kalenderredaktion vorausgehen, nimmt er kritisch zum vollen Namen des Landkalenders Stellung: Hinter dem Titel: Curfürstlich badischer gnädigst privilegirter Landkalender für die badische Marggravschaft luherischen Antheils sucht außer dem marggrävischen Unterthan und Lutheraner niemand etwas als die treuherzige Warnung: Kaufe mich nicht, dich gehe ich nichts an.5

Hebel zeigt hier deutlich an, dass ihm eine auf Lutheraner beschränkte Leserschaft nicht genügte; die von ihm forcierte Umbenennung des Kalenders zum „Rheinländischen Hausfreund“ diente u. a. auch einer Überwindung der konfessionellen Beschränkung und einer Erweiterung der Zielgruppe der Publikation auf nichtlutherische Leser. Einige Jahre später hielt Hebel mit einigem Stolz fest, „daß der Hausfreund aus den ihm als markgrävlich badischen Landcalender lutherischen Antheils ausgewiesenen Gränzen selber frey und glücklich hinausgeschritten“ sei und „auch im catholischen Antheil der Markgravschaft“ gelesen werde“ und damit „aus dem Charakter eines in seinem bestimmten Bezirk sich verliehrenden Landcalenders in den Charakter iedes andern schriftstellerischen Verlagsartikels und einer lukrativen Unternehmung übergegangen“6 sei.

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Vgl. Johann Anselm STEIGER, Bibel-Sprache, Welt und Jüngster Tag bei Johann Peter Hebel. Erziehung zum Glauben zwischen Überlieferung und Aufklärung, Göttingen 1994. Vgl. hierzu auch BEE, Aufklärung und narrative Form (wie Anm. 3), S. 338–348. Johann Peter HEBEL, Unabgefordertes Gutachten über eine vortheilhaftere Einrichtung des Calenders. Generallandesarchiv Karlsruhe 234/812, Bl. 30–33. Zitiert nach VOIT, Vom „Landkalender“ (wie Anm. 2), S. 151–156, hier S. 154. Johann Peter HEBEL, Brief an Theodor Friedrich Volz vom 8.12.1809, in: DERS., Briefe, hg. und erläutert von Wilhelm ZENTNER, Bd. 1: Briefe der Jahre 1784–1809, Karlsruhe 1957, S. 453.

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Hebel verband mit dem Kalender von Anfang an also auch kommerzielle Interessen, die allerdings nicht ihm selbst, sondern dem Karlsruher Gymnasium illustre als Nutznießer zugutekommen sollten. Hierfür war die Ausweitung der Leserschaft eine wichtige Voraussetzung.7 Eine lautstarke konfessionelle Propaganda wäre mit einer solchen Konzeption auf keinen Fall zu vereinbaren gewesen. Allerdings ließe sich denken, dass – insbesondere bei einem Autor von Hebels erzählerischem Raffinement – trotz der Notwendigkeit eines Verzichts auf die explizite Propagierung der Glaubensinhalte einer bestimmten Konfession sich vielleicht Anzeichen für eine subtil entwickelte implizite konfessionalistische Ausrichtung des Kalenders finden ließen, die gewissermaßen „zwischen den Zeilen“ entwickelt worden wäre. Dafür aber liefert auch eine sehr kritische Durchsicht des Kalenders keinerlei Anhaltspunkte. Die folgenden Ausführungen sind darauf ausgerichtet, das Verhältnis von Aufklärung und Konfessionszugehörigkeit, das die wenigen diesbezüglich aussagekräftigen Kalendertexte erkennen lassen, genauer zu bestimmen, wobei drei Textgruppen Beachtung finden sollen: zunächst Kalenderbeiträge, in denen die Angehörigen bestimmter Konfessionen erwähnt werden, dann Texte mit expliziten Bezugnahmen auf Martin Luther, schließlich drei Geschichten, in denen das Problemfeld der konfessionellen Trennung bzw. die Spekulation über Glaubenswahrheit eine besondere Rolle spielt.8 Wie zu Beginn bereits erwähnt, werden konfessionelle Aspekte nur in sehr wenigen von Hebels Kalendertexten angesprochen. Hier ist zunächst ein Beitrag der Reihe „Nützliche Lehren“ zu nennen. Unter diesem Titel setzt sich Hebel in der Frühzeit seiner Kalenderarbeit immer wieder mit dem Wahrheitsgehalt von Sprichwörtern auseinander.9 So illustriert er im „Rheinländischen Hausfreund“ auf 1811 den Sinn des Sprichworts „Gott grüßt manchen der ihm nicht dankt“ u. a. durch das folgende Beispiel: „Oder du gehst an einem offnen Grab vorbey, 7

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Zur Zusammensetzung von Hebels Leserschaft und Hebels Bemühungen um eine Ausweitung seines Rezipientenkreises vgl. auch Ludwig ROHNER, Hebel und seine Leser, Lörrach 1982. Hebels Texte werden nach der folgenden Ausgabe zitiert: Johann Peter HEBEL, Erzählungen und Aufsätze (Sämtliche Schriften 2/3), hg. von Adrian BRAUNBEHRENS und Peter PFAFF, unter Mitwirkung von Bernhard OSWALD, Karlsruhe 1990. Für diese Ausgabe wird folgendes Kürzel verwendet: HEBEL, Erzählungen. Der entsprechende Jahrgang des „Badischen Landkalenders“ bzw. des „Rheinländischen Hausfreunds“ (= RH) wird in Klammern angefügt. Zum Sprichwortgebrauch in Hebels Texten vgl. Wolfgang MIEDER, Das Sprichwort in der deutschen Prosaliteratur des 19. Jahrhunderts, München 1976, S. 17–34; BEE, Aufklärung und narrative Form (wie Anm. 3), S. 160–172.

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und es schauert dich, so denkt er [Gott] just nicht daran, daß du lutherisch oder reformirt bist, und sagt: Gelobt sey Jesus Christ!“10 Das Zitat akzentuiert die Belanglosigkeit der konfessionellen Identität, die angesichts existenzieller Erschütterungen zu einer zu vernachlässigenden Größe wird und – das wird hier mit überraschender Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht – auch keine göttliche Beachtung erfährt. In dem historiographischen Artikel „Fortsetzung der vaterländischen Geschichte“ im Kalender auf das Jahr 1819 schildert der Erzähler die Entwicklung des Christentums am Rhein. Diese wird positiv als bis in die unmittelbare Gegenwart anhaltender Wachstumsprozess von großer Breitenwirkung beurteilt. Der Chronist resümiert: Ey, wohin jetzt das Auge sich wenden mag, erblickt es in fetten Gemarkungen untereinander schöne lutherische und katholische Ortschaften, mit ihren Kirchen und Schulhäusern, und mit gottesfürchtigen Pfarrherrn und verständigen Schulmeistern, darin. Die stattlichen Kirchthürme schauen einander in der Sonntagsfrühe freudig an, daß jetzt ihr Ehrentag sey, und grüßen sich mit paritätischer Eintracht und Liebe in ihrer prachtvollen Glockensprache.11

Das Nebeneinander verschiedener Konfessionen wird hier in seiner geschichtlichen Gewordenheit anerkannt, aber zugleich in seiner Bedeutung relativiert, denn im Mittelpunkt steht die enge Verbindung von religiöser und zivilisatorischer Entwicklung, die sich im Nebeneinander von Institutionen der Kirche und solchen des Bildungswesens äußert. Durch die Schilderung der einträchtigen Verständigung der anthropomorph gezeichneten Kirchtürme setzt der Text zugleich geradezu einen ökumenischen Akzent. Akzentuiert wird: Wo es Schulhäuser gibt und verständige Schulmeister unterrichten, da walten auch gottesfürchtige Pfarrer in stattlichen Kirchen ihres Amtes und umgekehrt. Dieser Aspekt wird in den Vordergrund gestellt, demgegenüber ist die konfessionelle Zugehörigkeit bedeutungslos. Das für den deutschen Protestantismus äußerst bedeutsame Reformationsjubiläum von 1817 findet auch im „Rheinländischen Hausfreund“ Erwähnung – allerdings retrospektiv in dem Text „Merkwürdiges Alter“ im Kalender auf 1819, der folgendermaßen beginnt: „Der geneigte evangelische Leser wird sich noch mit Freude erinnern, daß er im Jahr 1817. das 3te Reformationsfest erlebt und begangen hat.“12 Die im „Rheinländischen Hausfreund“ übliche Wendung „Der geneigte Leser“ wird hier durch den Zusatz „evangelisch“ erweitert, da dem Erzähler

10 HEBEL, Erzählungen, S. 257 (RH 1811). 11 HEBEL, Erzählungen, S. 563 (RH 1819). 12 Ebd., S. 553 (RH 1819).

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bewusst ist, dass hier nicht die Gesamtleserschaft, sondern nur ein Teil – der protestantische – angesprochen ist. Im Folgenden setzt Hebel ein bis in die unmittelbare Gegenwart beliebtes journalistisches Mittel ein, insofern er das Ereignis aus der Perspektive einer Zeitzeugin schildert: In Frankfurt aber am Main lebte damals noch eine Frau, deren Taufschein vom Jahr 1707. aus den Tagen Kaiser Josephs des ersten lautet. Diese Frau hat also das nämliche Fest schon zum 2tenmal erlebt, und kann sich noch erinnern, daß sie das Erstemal im J. 1717 als ein 10jähriges Mägdlein von ihrer Mutter in die St. Peterskirche sey geführt worden. Sie sagt aber, es sey unterdessen Vieles anders geworden, auch mit ihr.13

Das Gedenken an die Reformation rückt hier in den Hintergrund; stattdessen lenkt der Erzähler das Interesse des Lesers auf andere Aspekte: das außergewöhnliche Alter der Person als Faszinosum an sich, die allgemeine Vergänglichkeit und die Gleichgewichtung eines scheinbar unbedeutenden persönlichen Lebensschicksals mit dem Gesamtverlauf der Geschichte, wie sie auch in Hebels berühmter Erzählung „Unverhoftes Wiedersehen“ – ebenfalls anhand einer Greisin – behandelt wird.14 Wenn der Erzähler dann noch resümiert, es sei „ein merkwürdiges Ereigniß, wer ein Dank- und Ehrenfest, das alle hundert Jahre nur Einmal kommt, in seinen Tagen zweymal begehen kann, einmal in der Morgenröthe des aufgehenden Lebens, und das anderemal an seinem späten Abend“,15 wird eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass das Reformationsjubiläum als zeitlicher Hintergrund des Beschriebenen im Grunde gegen jedes andere Zentenarium ausgetauscht werden kann; thematisiert wird ausschließlich eine bestimmte zeitliche Ausdehnung. Folgerichtig schließt der Kalenderbeitrag mit einer mathematischen Betrachtung: „Ein Anderer könnte hundert Jahr alt werden, weniger einen Tag, und wär nicht im Stand, ein einziges Reformations-Fest zu erleben.“16 Der Kalenderleser sieht sich – wie bei vielen Textbeiträgen des „Rheinländischen Hausfreunds“ – am Ende zum Rechnen und Reflektieren aufgefordert, aber nicht über ein herausragendes kirchen- und konfessionsgeschichtliches Ereignis, sondern über das Verhältnis von Lebensalter und allgemeiner Chronistik.17

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Ebd. HEBEL, Erzählungen, S. 281–284 (RH 1811). HEBEL, Erzählungen, S. 553 (RH 1819). Ebd. Zur Bedeutung dieses Themenkomplexes siehe auch Guido BEE, Überlebenskünstler. Nachrichten vom Alter in Johann Peter Hebels „Rheinländischem Hausfreund“ und in der Gegenwartspresse, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 3 (2001), S. 118–131.

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Die erwähnten Texte zeigen deutlich, dass Hebel eine konfessionelle Verengung vermeiden und eine breite Leserschaft ansprechen will. Nur vereinzelt wird erkennbar, dass er dennoch davon ausgeht, dass der überwiegende Teil seiner Leser zu den lutherischen Christen zählt – etwa dadurch, dass er überhaupt ein Thema wie das Reformationsjubiläum behandelt oder in Gegenüberstellungen wie „lutherisch oder reformirt“ bzw. „lutherische und katholische Leser“ das Adjektiv „lutherisch“ an erster Stelle erscheint. Aber diese Hinweise sind so diskreter Natur, dass man allenfalls von einem leichten Zugeständnis an die Stammleserschaft der ehemals sehr viel deutlicher auf lutherische Leser ausgerichteten Publikation sprechen, daraus aber keine Wertung ableiten kann. Welche Rolle spielt nun Martin Luther selbst in den Kalendertexten? Die Stellen, an denen er erwähnt wird, sind überschaubar. Im Text „Ein Kriegsschiff“ aus dem Jahr 1809 unternimmt der Erzähler ein Gedankenexperiment, um dem Leser einen ungeheuren Arbeits- und Zeitaufwand zu verdeutlichen.18 Er spielt durch, wie lange es dauern würde, wenn eine einzige Person ein Kriegsschiff bauen müsste: „Wenn er angefangen hätte im Jahr 1333, als noch keine Türken in Europa waren, und man fast noch 200 Jahre lang nichts vom Doktor Luther wußte, und hätte seitdem Tag für Tag daran gearbeitet, und lebte noch, so wäre er noch nicht fertig.“19 Im „Rheinländischen Hausfreund“ auf 1814 wird in den „Weltbegebenheiten“, der als fester Bestandteil des Kalenders begegnenden Chronik der politischen Ereignisse des vergangenen Jahres, festgehalten, dass die Franzosen aus vielen Teilen Deutschlands vertrieben worden seien; dabei erwähnt wird auch „Wittenberg, wo Doktor Martin Luther gelebt und gelehrt hat“.20 Im zuerst genannten Text markiert die Erwähnung Luthers einen historischen, im zweiten einen geographischen Referenzpunkt. Hebel geht offensichtlich davon aus, dass seine Leser über Luthers Wirkungszeit und -ort ungefähre Vorstellungen haben, und nutzt dieses Wissen, um zeitliche und örtliche Ausdehnungen in anderen Themenzusammenhängen zu veranschaulichen. Mehrfach wird im Kalender auf Äußerungen Luthers Bezug genommen. So entwirft der Erzähler in seinen astronomischen „Betrachtungen über das Weltgebäude“ im „Rheinländischen Hausfreund“ auf 1812 die Vorstellung, dass auch die Sonne möglicherweise „ein fester, mit mildem Licht umflossener Weltkörper sey, und daß auf ihr Jahr aus, Jahr ein wunderschöne Pfingstblumen blühen und duften und statt der Menschen fromme Engel dort wohnen“ und dort 18 HEBEL, Erzählungen, S. 151 f. (RH 1809). 19 Ebd., S. 152. 20 Fortsetzung der Weltbegebenheiten, in: HEBEL, Erzählungen, S. 463–467 (RH 1814), hier S. 466.

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„wie im neuen Jerusalem keine Nacht und kein Winter, sondern Tag, und zwar ein ewiger freudenvoller Sabath und hoher Feyertag“ sei. Hierzu bemerkt der Erzähler: „Schon Doktor Luther hat einmal so etwas verlauten lassen […].“21 Die Unkenntnis über die Beschaffenheit des Universums außerhalb der Erde wird hier nicht als Bedrohung erfahren, sondern nährt einen Heilsoptimismus, der hier geradezu utopische Ausmaße annimmt, insofern Hebel davon ausgeht, dass ein dem Paradies bzw. dem neuen Jerusalem entsprechender Ort bereits jetzt existieren könnte. Als Gewährsperson hierfür wird Luther herangezogen.22 In einem weiteren Beitrag der bereits erwähnten Artikelreihe „Nützliche Lehren“ veranschaulicht Hebel den Wahrheitsgehalt des Sprichworts „Ein Narr fragt viel, worauf kein Weiser antwortet“ mit einem einprägsamen Beispiel: Von dem Doktor Luther verlangte einst jemand zu wissen, was wohl Gott vor Erschaffung der Welt die lange, lange Ewigkeit hindurch gethan habe. Dem erwiderte der fromme und witzige Mann: in einem Birkenwald sey der liebe Gott gesessen, und habe zur Bestrafung für solche Leute, die unnütze Fragen thun, Ruthen geschnitten.23

Möglicherweise nimmt Hebel hier Bezug auf eine von Luthers Tischreden, in denen sich dieser kritisch zu kosmologischen Spekulationen äußert: „Da einer fragte: Wo Gott gewesen wär, ehe der Himmel geschaffen ward? […], sprach Doktor Martinus: ‚Er hat den müßigen fürwitzigen Flattergeistern die Hölle gebauet.‘ “24 In der entsprechenden Tischrede ist das herangezogene Bild nur ein ironischer Einwurf, bevor der entsprechende Diskurs fortgesetzt wird. Bei Hebel wird die Replik zugespitzt und eindeutig auf das Verhalten des Fragers bezogen, der erfährt, dass er für sein Verhalten eigentlich Prügel beziehen müsste, und dadurch zum Schweigen gebracht wird. Der an vielen anderen Stellen eher geförderte Erkenntnisdrang wird hier in seine Grenzen verwiesen. Die metaphysische Spekulation erscheint als unnützer Aufwand, der auf Abwege führt. In den Kontext sprichwörtlicher Rede gehört eine weitere Erwähnung Luthers zu Beginn der Geschichte „Der listige Kaufherr“.25 Hier bekundet der Hausfreund zu Beginn seine Freude darüber, nun erzählen zu können, „wie einmal ein großer Spitzbube auch hinter das Licht geführt worden ist; denn die 21 HEBEL, Erzählungen, S. 299 (RH 1812). 22 Der Text Luthers, auf den sich Hebel hier bezieht, ist bis heute von der Hebel-Forschung nicht ermittelt worden. 23 HEBEL, Erzählungen, S. 58 (Badischer Landkalender 1807). 24 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. Tischreden, Bd. 4, Weimar 1916, Nr. 5010, S. 611; Hinweis von Winfried Theiss in: Johann Peter HEBEL, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Winfried THEISS, Stuttgart 1981, S. 318. 25 HEBEL, Erzählungen, S. 273 f. (RH 1811).

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Wölfe beißen bisweilen auch ein gescheites Hündlein, sagt Doktor Luther“.26 Hebel verwendet hier eine Sentenz aus Luthers Sprichwortsammlung, wandelt das Sprichwort aber in charakteristischer Weise ab. Das Originalzitat lautet: „Die beschiede hündlin fressen die wolff gerne.“27 Nach Luther fressen die Wölfe also besonders gern die gescheiten Hündlein. Das, was Luther als Regel beschreibt (dass Gescheitheit, hier möglicherweise im Sinne von Vorwitz, in besonderer Weise dazu qualifiziert, Opfer der Mächtigen zu sein), wird bei Hebel zur Ausnahme, d. h. Gescheitheit ist im Regelfall doch erfolgversprechend, erweist sich aber nicht in allen Fällen als siegreich. Der antiintellektuelle Charakter des Sprichworts wird dadurch bis zu einem gewissen Grade entschärft. Bei allen Bezugnahmen Hebels auf Luther wird die volkstümliche Wendung „der Doktor Luther“ bzw. „der Doktor Martin Luther“ gebraucht – es wird also der akademische Titel verwendet, aber ohne ein vorangestelltes distanzierendes „Herr“. Bei keiner der genannten Stellen spielen Luthers Theologie oder der Kern von dessen reformatorischem Wirken eine Rolle. In Hebels Kalendertexten erscheint Luther in erster Linie als frommer und verständiger Mensch; es ist die Verbindung von tiefer Religiosität und Lebensklugheit, die seine Bedeutung als Gewährsperson ausmacht. Dementsprechend ist seine Rolle hier die eines Vermittlers von Lebensweisheit, von in pointierten Sätzen konzentriert dargebotener Erfahrung. In dieser Rolle ist aber Luther bei Hebel nicht allein – auch andere Persönlichkeiten werden im „Rheinländischen Hausfreund“ als

26 Ebd., S. 273. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass die vorangestellte Sentenz zu der Geschichte selbst in keinerlei Beziehung steht. Erzählt wird, wie die Besatzung eines Seeräuberschiffs mit einem einfachen Trick übertölpelt und am Kapern eines Schiffs gehindert wird. Dass hier ein „gescheites Hündlein“ von Wölfen gebissen, d. h. ein besonders kluger Gegenspieler überwunden wird, geht aus der Erzählung selbst nicht hervor. Diese wird vom Hausfreund-Erzähler zu Beginn launig dem Adjunkt zugeschrieben, d. h. jener literarischen Figur des Kalenders, hinter der sich der mit Hebel befreundete Diplomat Christoph Friedrich Karl von Kölle verbarg. Hebel hat sie nicht – wie den überwiegenden Teil seiner Kalenderbeiträge bis 1811 – in das „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds“ aufgenommen. Dies sowie einige literarische Merkmale der Erzählung, etwa die Banalität des Handlungsaufbaus sowie einige Elemente, die im Hinblick auf den Stil von Hebels Kalendergeschichten ungewöhnlich sind (z. B. der Gebrauch der 1. Person Singular), sprechen in der Tat dafür, dass sie nicht von Hebel stammt. Dennoch ist die redaktionelle Bearbeitung der Geschichte offensichtlich durch Hebel selbst erfolgt. Insbesondere der Einleitungsteil, aus dem das Luther-Zitat stammt, ist im Hinblick auf Stil und Redegestus eindeutig Hebel zuzuschreiben. 27 Martin LUTHER, Sprichwörtersammlung, Nr. 60, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 51, Weimar 1914, S. 647. Zu dem Sprichwort vgl. auch den entsprechenden Eintrag im: Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi = Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, Bd. 6: Heilig – Kerker, Berlin 1998, S. 276.

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Gewährspersonen für weise Lehren und Entscheidungen herangezogen, darunter auch der Prophet Mohammed und einmal sogar ein Papst.28 Allerdings fällt auf, dass die wenigen Stellen, an denen Hebel sich explizit auf Äußerungen Luthers bezieht, eine antiintellektuelle Stoßrichtung haben. Ist Luther in Hebels Kalendertexten also nicht nur kein Vorkämpfer der Aufklärung, sind es möglicherweise gerade die Grenzen des aufklärerischen Denkens, für die der Reformator bei Hebel steht? Diesen Punkt sollte man nicht überakzentuieren, dazu ist die Anzahl der Belege zu gering. Allerdings wird sich noch zeigen, dass in Hebels Kalendertexten Glaube und freie Spekulation über dogmatische Inhalte durchaus in einem spannungsreichen Verständnis zueinander stehen. Auffällig ist, wie ungenau die Luther-Zitate in Hebels Texten sind. Ein Grund dafür liegt möglicherweise in der großen Popularität des Reformators, die dessen Lehren gewissermaßen frei verfügbar macht und es dem einzelnen ermöglicht, sie sich auch ohne Überprüfung des Wortlauts an der Quelle in freier Form zu eigen zu machen. Alle bisher behandelten Kalenderbeiträge, in denen Luther eine Rolle spielte, waren nichtfiktionale Texte. Luther findet allerdings auch in einer Kalendergeschichte, der Erzählung „Die Bekehrung“, Erwähnung, die hier – auch wegen der in ihr enthaltenen Stellungnahme zur Bedeutung von Konfessionalität – etwas näher betrachtet werden soll.29 Das Thema dieser Geschichte sind Konversionen und ihre Auswirkungen auf menschliche Beziehungen. „Zwey Brüder im Westphälinger Land lebten miteinander in Frieden und Liebe“, heißt es zu Beginn, „bis einmal der jüngere lutherisch blieb, und der ältere katholisch wurde.“30 Zu Beginn wird hier wieder eine leichte, kaum wahrnehmbare stärkere Berücksichtigung der lutherischen Stammleser des Kalenders erkennbar, insofern das Luthertum hier als Ursprungskonfession gewählt wird, so dass implizit 28 Vgl. zu Mohammed die Kalendergeschichten „Das gute Werk“ (HEBEL, Erzählungen, S. 364 f. [RH 1813], „Mahomed“ (HEBEL, Erzählungen, S. 578 f. [RH 1819]). In „Brodlose Kunst“ (HEBEL, Erzählungen, S. 113 f. [RH 1808]) wird ein „Tagdieb“ (ebd., S. 114) durch einen Papst an der Nase herumgeführt. Hebel lenkt die Sympathie des Lesers auf die Seite des Papstes, erlaubt sich aber eine kleine antikatholische Spitze, wenn er darauf hinweist, dass der Papst „sonst ein großer Freund von seltsamen Künsten war“ (ebd.). 29 HEBEL, Erzählungen, S. 261 f. (RH 1811). Vgl. zu diesem Text auch Michael STOLLEIS, Der menschenfreundliche Ton. Zwei Dutzend Geschichten von Johann Peter Hebel mit kleinem Kommentar, Frankfurt am Main/Leipzig 2003, S. 64–67; DERS., Fromme Ratschläge und Bekehrungsversuche. Zu den „bleibenden Werten“ bei Johann Peter Hebel, Lörrach 2008, S. 7–10. 30 HEBEL, Erzählungen, S. 261 (RH 1811).

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gefolgert werden kann: Wären alle Beteiligten lutherisch geblieben, hätten sich keine Probleme ergeben. Die Geschichte berichtet weiter, dass die Brüder, nun durch unterschiedliche Konfessionen voneinander getrennt, sich „alles Herzeleid“31 antaten. Der ältere Bruder wird deshalb vom Vater als Ladendiener in die Fremde geschickt. Jahrelang gibt es keinen Kontakt, bis der ältere dem jüngeren Bruder in einem Brief seine Sorge darüber zum Ausdruck bringt, „daß wir nicht Einen Glauben haben, und nicht in den nemlichen Himmel kommen sollen, vielleicht in gar keinen. Kannst du mich wieder lutherisch machen, wohl und gut, kann ich dich katholisch machen, desto besser“.32 Durch die hier implizit im Schreiben des Bruders enthaltene Vorstellung, dass es möglicherweise mehrere nach Konfession getrennte Himmel gäbe, gibt der Erzähler einen deutlichen Hinweis auf die merkwürdigen Phantasien, die aus fehlgeleiteten religiösen Spekulationen entstehen. Es kommt zu einem gemeinsamen Treffen der Brüder in Neuwied, das mit Beschimpfungen beginnt: Schalt der lutherische: ‚der Pabst ist der Antichrist,‘ schalt der katholische: ‚Luther ist der Widerchrist.‘ Berief sich der katholische auf den heiligen Augustin, sagte der lutherische: ‚Ich hab nichts gegen ihn, er mag ein gelehrter Herr gewesen seyn, aber beim ersten Pfingstfest zu Jerusalem war er nicht dabey.‘33

Mit der Personalisierung des Konfessionsstreits in der Konfrontation von Papst und Luther wird hier auf ein seit der Frühzeit der Reformation geläufiges Schema zurückgegriffen. Allerdings begnügen die Brüder sich nicht mit der Beschimpfung der zentralen religiösen Autorität der Gegenseite, sondern rekurrieren in der Diskussion über die Bedeutung Augustins auch auf die unterschiedlichen Offenbarungslehren der Konfessionen. Dabei beruft sich der Katholik auf die normative Bedeutung der patristischen Tradition, während der Protestant mit dem Verweis auf das erste Pfingstfest implizit auf der Bibel als einziger Offenbarungsquelle beharrt. Im Verlauf des Beisammenseins entspannt sich jedoch die Lage, und es sind die „weichen Faktoren“, die schließlich zur Anerkennung der Konfession des anderen führen. Der lutherische Bruder entdeckt seine Vorliebe für den als Fastenspeise gereichten Stockfisch, und der katholische Bruder ist von der musikalischen Qualität der lutherischen Vesper, insbesondere den Sangeskünsten des Schulmeisters, angetan. Die dogmatischen Grundaussagen der Konfessionen wirken trennend, deren sinnlich wahrnehmbare religiöse Praxis dagegen verbindend.

31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd.

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Die Brüder sind uneins über ihren weiteren Weg und beschließen, auf ein Gottesurteil zu warten. Dann aber sind beide zunächst gezwungen, ihren Alltag fortzusetzen; es vollzieht sich eine räumliche Trennung, ohne dass es vorher zu einer Einigung gekommen wäre. Sechs Wochen später offeriert der jüngere dem älteren Bruder, dass ihn dessen Gründe überzeugt hätten und er nun auch katholisch geworden sei. Der aber antwortet ihm: „Du Kind des Zorns und der Ungnade, willst du denn mit Gewalt in die Verdammniß rennen, daß du die seligmachende Religion verläugnest? Gestrigs Tags bin ich wieder lutherisch worden.“34 Hebel verdeutlicht hier durch die Emphase in der Anrede, dass der mit der eigenen Konfession verbundene Superioritätsanspruch sich bei der erneuten Konversion des älteren Bruders erhöht und bereits einen fundamentalistischen Charakter angenommen hat, so dass der Erzähler resümiert, dass „nachher wieder wie vorher“ war, „höchstens ein wenig schlimmer“.35 Wie viele andere von Hebels Kalendergeschichten enthält auch diese am Schluss eine moralische Nutzanwendung, die hier allerdings unerwartet lang und deutlich ausfällt: Merke: du sollst nicht über die Religion grübeln und düfteln, damit du nicht deines Glaubens Kraft verlierst. Auch sollst du nicht mit Andersdenkenden darüber disputiren, am wenigsten mit solchen, die es eben so wenig verstehen als du, noch weniger mit Gelehrten, denn die besiegen dich durch ihre Gelehrsamkeit und Kunst, nicht durch deine Überzeugung. Sondern du sollst deines Glaubens leben, und was gerade ist, nicht krumm machen. Es sey denn, daß dich dein Gewissen selber treibt zu schanschieren.36

Die Art und Weise, in der der Erzähler hier auf den Adressaten einzuwirken sucht, ist für Hebels Kalendergeschichten ungewöhnlich: Das dreimalige „Du sollst“ hebt die normative Verbindlichkeit außergewöhnlich stark, ja in einer geradezu an den Dekalog gemahnenden Weise hervor. Der Adressat, den der Erzähler sonst in der Figur des „geneigten Lesers“ höflich-distanziert anspricht, wird hier ungewohnt deutlich auf seine eigene Inferiorität verwiesen. Die Formulierung „eben so wenig verstehen als du“ führt ihm sein Unwissen, der Hinweis auf die Gelehrten seine leichte Beeinflussbarkeit vor Augen. Die intellektuelle Spekulation auf Glaubensinhalte wird als Betätigung gesehen, die die Auflösung der konfessionellen Identität forciert, weshalb sie ebenso wie die intersubjektive Verständigung über Glaubensinhalte ausdrücklich untersagt wird. Als Regulativ dient eine religiöse Toleranz, die jedes Überlegenheitsgebaren einer Konfession verwirft und eine Konversion nur dort zulässt, wo sie sich nicht intellektueller Spekulation, sondern der Gewissensentscheidung des

34 Ebd., S. 262. 35 Ebd. 36 Ebd.

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Einzelnen verdankt. Dem aufklärerischen Räsonnement, das von Hebel sonst überall gefördert wird, werden im Bereich der religiösen Spekulation seine Grenzen aufgezeigt.37 Ein ähnlicher Rigorismus im Umgang mit religiösen Fragestellungen findet sich auch in der Kalendergeschichte „Gutes Wort, böse That“:38 In Hertingen stellt ein Bauer dem örtlichen Schulmeister bei einer zufälligen Begegnung auf dem Acker eine Frage: „Ists noch euer Ernst, Schulmeister, was ihr gestern den Kindern zergliedert habt: So dich Jemand schlägt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar?“39 Als der Schulmeister dies bestätigt, wird er vom Bauern geohrfeigt. Er hält seinem Gegenüber daraufhin allerdings keinesfalls im Sinne von Mt 5,39 die andere Wange hin, sondern gibt ihm seinerseits zwei Ohrfeigen und begründet dies ebenfalls mit einem Bibelzitat, nämlich Lk 6,38: „Mit welcherley Maas ihr messet, wird euch wieder gemessen werden. Ein voll gerüttelt und überflüßig Maaß wird man in euern Schoß geben.“40 In der Folge entwickelt sich eine handfeste Prügelei. Das Geschehen wird aus der Ferne von einem Edelmann beobachtet, der seinen Diener darum bittet, die Konfrontation aus der Nähe genauer zu verfolgen. Dieser kann am Ende mit einer beruhigenden Mitteilung aufwarten: „Es hat nichts zu bedeuten, gnädiger Herr; sie legen einand er nur die heilige Schrift aus.“41 Wie bei vielen anderen von Hebels Kalendergeschichten handelt es sich auch hier um die Bearbeitung einer bereits vorliegenden Erzählung, nämlich eines Schwanks aus dem „Vade Mecum für lustige Leute“, aus dem Hebel sich gern bediente.42 Im „Vade Mecum“-Text sind die Protagonisten allerdings nicht ein Bauer und ein Schulmeister, sondern ein Kandidat der Theologie und ein nicht näher bezeichneter junger Mann, der den Kandidaten provoziert. Der Erzähler lenkt die Sympathien des Lesers eindeutig auf die Seite des Theologen, der sich verbal und physisch zu wehren weiß. Dieser ist es, der, nachdem er sich für die ihm verabreichte Ohrfeige gerächt hat, am Ende die Pointe beisteuert:

37 Vgl. BEE, Aufklärung und narrative Form (wie Anm. 3), S. 183. 38 HEBEL, Erzählungen, S. 216 (RH 1810). Genauere Betrachtungen zu diesem Text sind in der Forschungsliteratur zu Hebels Kalendertexten selten. Eine ausführliche werkimmanente Interpretation bietet Lothar WITTMANN, Johann Peter Hebels Spiegel der Welt. Interpretationen zu 53 Kalendergeschichten, Frankfurt am Main u.a. 1969, S. 240–244. 39 HEBEL, Erzählungen, S. 216 (RH 1810). 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Vade Mecum für lustige Leute, enthaltend eine Sammlung angenehmer Scherze, witziger Einfälle und spaßhafter kurzer Historien aus den besten Schriftstellern zusammengetragen, Teil 6, Berlin: o.Verl. 1772, Nr. 11, S. 7 f.

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„Seid unsernthalben nur unbekümmert […], wir erklären uns bloß ein paar Sprüche aus der Bibel.“43 Bereits im „Badischen Landkalender“ auf 1805 erschien eine nur unwesentliche Bearbeitung dieses Textes mit nur einer entscheidenden Änderung: Die Figur des Kandidaten wurde nun durch einen Schulmeister ersetzt.44 Dieses Merkmal übernahm Hebel für seine eigene Bearbeitung des Stoffes. Strukturell handelt es sich beim Text der Vorlage um ein auch in Hebels Kalendergeschichten vielfach variiertes Schema, bei dem eine Provokation mit einem witzigen Einfall nach dem Motto „Auch gut gegeben“ pariert wird: Jemand, der herausgefordert wird, demonstriert in seiner Entgegnung seine Schlagfertigkeit, in dieser recht gewalttätigen Erzählung sogar im doppelten Sinne. Von besonderem Interesse ist nun, dass Hebels Bearbeitung dieses Stoffs von diesem Schema, das in der Vorlage sehr deutlich realisiert ist, abweicht. Anders als der Kandidat bzw. der Schulmeister in der Landkalender-Version ist der Schulmeister in Hebels Text nicht Herr der Situation; die witzige Deutung des brutalen Geschehens als eine Form der Exegese wird nicht ihm, sondern dem zur Beobachtung eingesetzten Diener in den Mund gelegt. Außerdem erweitert Hebel die schwankhafte Konfrontation nicht nur um eine moralische Deutung des Geschehens, sondern ergänzt die Erzählung auch um eine Darstellung von dessen Folgen: Merke: man muß die heilige Schrift nicht auslegen, wenn mans nicht versteht, am allerwenigsten so. Denn der Edelmann ließ den Bauern noch selbige Nacht in den Thurn sperren auf 6 Tage, und dem Herrn Schulmeister, der mehr Verstand und Respect vor der Bibel hätte haben sollen, gab er, als die Winterschule ein Ende hatte, den Abschied.45

Durch diesen Schluss bekommt die Geschichte eine völlig andere Akzentuierung. Der Schwank wird in einen volksaufklärerischen Kontext integriert und Teil einer Lehrerzählung. Zugleich dringt sozialer Realismus in die Erzählung ein, werden die Konflikte und Machtverhältnisse innerhalb des von Hebel als Handlungsort gewählten ländlichen Raumes sichtbar. Man begegnet dem in volksaufklärerischen Texten häufig anzutreffenden Personal: Bauer, Schulmeister, Landadliger und Diener treten auf. Auffällig ist dabei die negative Zeichnung von Bauer und Schulmeister: Der Bauer erscheint streitsüchtig, dem Schulmeister wird Unverstand und mangelnder Respekt vor der Bibel attestiert. Die einzig unangefochtene Autorität ist der örtliche Feudalherr, der am Ende 43 Ebd., S. 8. 44 Kurfürstlich-Badischer Land-Kalender von 1805, Bogen D, Sp. 4, abgedruckt in: Johann Peter HEBEL, Kalendergeschichten. Mit Quellen, Doppelbearbeitungen und 9 Originalillustrationen aus dem „Rheinischen Hausfreund“ und dem „Rheinländischen Hausfreund“, ausgewählt von Lothar WITTMANN, Frankfurt am Main u.a. 1968, S. 76. 45 HEBEL, Erzählungen, S. 216 (RH 1810).

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für Gerechtigkeit sorgt, indem er die beiden Kontrahenten für ihre Maßlosigkeit im Umgang mit der Bibel bestraft. War der „Vade Mecum“-Text ironisch „Versuch in der exegetischen Theologie“ überschrieben, lautet die Überschrift im Hausfreund „Gutes Wort, böse That“. Der der Erzählung vorangestellte Parallelismus enthält bereits eine eindeutige Wertung: Die Würde der Bibel als Offenbarungsgrundlage wird ihrer missbräuchlichen Aneignung in der Praxis gegenübergestellt. Am Ende wird deutlich, dass Hebel nicht nur die Instrumentalisierung der Bibel für eigene egoistische Absichten geißelt. Das im „Merke“ enthaltene Verdikt geht weit darüber hinaus, insofern hier grundsätzlich vor einer eigenmächtigen Aneignung der Bibel durch unprofessionelle Ausleger gewarnt wird. Man hat diese Schlusswendung gelegentlich als ironischen Zusatz gedeutet.46 Gerade im Hinblick auf die ebenfalls sehr ausführliche Kommentierung am Ende von „Die Bekehrung“ spricht jedoch einiges dafür, dass der appellative Gestus am Schluss des Textes durchaus ernst gemeint ist. Hebels Kalendertexte, die sonst zum Selbstdenken und Überprüfen bestehender Konventionen anleiten, unternehmen deutliche Grenzziehungen, wenn es um Religionssachen geht. Hier wird vor dem selbständig vollzogenen Reflektieren auf Glaubensinhalte eindeutig gewarnt. Alle bisher erwähnten Textbeispiele dokumentieren, welche Vorsicht Hebel im Hinblick auf die Behandlung religiöser, insbesondere auf konfessionelle Aspekte bezogener Fragen an den Tag legte. Dennoch war es schließlich ein interkonfessioneller Streit, der ihn dazu brachte, seine Kalenderarbeit einzustellen – im Zusammenhang mit seiner Erzählung „Der fromme Rath“.47 Diese findet sich im „Rheinländischen Hausfreund“ aus das Jahr 1815, wo sie schon dadurch einer der hervorgehobenen Texte des Kalenderjahrgangs ist, dass sie durch eine Bildbeigabe ergänzt wird. Sie erzählt von einem jungen Katholiken, der auf einer Brücke von beiden Seiten je eine Prozession auf sich zukommen sieht, die von einem Priester mit einer Monstranz angeführt wird. Der junge Mann gerät in Verlegenheit, vor welcher Monstranz er niederknien und welcher er den Rücken zukehren soll, worauf ihn einer der Pater anlächelt und auf den Himmel zeigt. Der Erzähler erläutert den Vorgang: „Nemlich von dem dort oben soll er niederknieen und ihn anbeten. Das weiß der Hausfreund zu loben und hochzuachten, obwohl er

46 Vgl. Richard FABER, Vorwort, in: DERS. (Hg.), Lebendige Tradition und antizipierte Moderne. Über Johann Peter Hebel, Würzburg 2004, S. 7–17, hier S. 8. 47 HEBEL, Erzählungen, S. 498 f. (RH 1815).

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noch nie einen Rosenkranz gebetet hat, sonst schrieb er den lutherischen Kalender nicht.“48 Der katholischen Prägung von Protagonist und Handlungselementen begegnet der Erzähler mit großem Respekt, ja geradezu mit Ehrerbietung. Das Niederknien vor der Monstranz wird als Demutsgeste positiv hervorgehoben, die Frömmigkeit des jungen Mannes wird ebenso gewürdigt wie die Freundlichkeit des Priesters, der den jungen Mann „wie ein Engel“49 anlächelt. Hebel, der eine konfessionelle Prägung des Kalenders zu überwinden suchte, bezeichnet seinen „Rheinländischen Hausfreund“ hier als lutherischen Kalender – wohl, um explizit seine Wertschätzung für die Vertreter der anderen Konfession zu signalisieren und die tolerante wie irenische Haltung des Kalenders hervorzuheben. Das allerdings mit wenig Erfolg: Die Veröffentlichung der Erzählung im Kalender auf 1815 führte zu Protesten des Generalvikars des Bistums Konstanz, des Direktors der Kirchenbehörde und des päpstlichen Nuntius in Luzern. Die Folge war ein Vertriebsverbot des Kalenderjahrgangs. Die ganzen Vorgänge verärgerten Hebel so sehr, dass er beschloss, seine Kalenderarbeit einzustellen.50 Offensichtlich sahen Hebels Kritiker in der Geschichte eine Verächtlichmachung oder zumindest eine Relativierung katholischer Glaubensinhalte. Tatsächlich verrät die empfohlene unmittelbare Hinwendung des Gläubigen zu Gott ein dezidiert protestantisches Heilsverständnis, das auf die Heilsmittlerschaft durch Priester und den Ritus verzichtet. Und bei näherem Hinsehen kann man die ehrerbietige Schilderung des zwischen zwei Prozessionen gefangenen Jünglings auch als Ironisierung katholischer Kultpraxis ansehen. Dass sich die Erzählerfigur des Kalenders, der Rheinländische Hausfreund, hier als lutherisch zu erkennen gibt, ist möglicherweise deplatziert, ist doch 1815 längst erreicht, was Hebel anstrebte: dass der Kalender auch von Vertretern anderer Konfessionen gelesen wird, woraus sich allerdings besondere Rücksichten ergaben, zumal sich zeitgleich das Erstarken der katholischen Restauration vollzog.

48 Ebd., S. 498. 49 Ebd. 50 Eine umfassende Darstellung der Hintergründe bietet der folgende stupende Beitrag: Michael STOLLEIS, Der fromme Rat, in: DERS., Brotlose Kunst. Vier Studien zu Johann Peter Hebel, Stuttgart 2006, S. 87–95. Stolleis’ brillanter Analyse der Erzählung und ihrer Rezeption ist kaum etwas hinzuzufügen, weshalb sich die Ausführungen zu diesem Text hier bewusst in einem engen Rahmen halten. Zum Aufbau der Erzählung vgl. außerdem Uli DÄSTER, Hebels frommer Rat, in: Badische Heimat 65 (1985), S. 205–211.

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Vom Ende seiner Kalenderarbeit her betrachtet, hatte Hebel gute Gründe, konfessionellen Aspekten im „Rheinländischen Hausfreund“ nur wenig Raum zu lassen – von seiner eigenen toleranten und konfessionsverbindenden Haltung ganz abgesehen. Bei religiösen Gegenständen verstanden einige seiner Leser und Zensoren keinen Spaß. Das Beispiel Hebel kann somit gut als Kontrastfolie zu der im Zentrum dieses Tagungsbandes stehenden engen Verknüpfung von Volksaufklärung und protestantischer Gedenkkultur in Thüringen dienen. Während dort ein enger Zusammenhang von Reformation und Volksaufklärung offensiv zum Ausdruck gebracht werden konnte, stieß in Baden selbst ein so vorsichtig vorgetragener, auf Ausgleich bedachter und durch und durch irenischer Kurs, wie ihn Hebel einschlug, schnell an seine Grenzen.

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„Inhaltsreich und herzerhebend“ – Martin Luther in der Volksschulpädagogik und preußischen Schulreform um 1800 1. Einleitung Seit vor zwanzig Jahren der Tübinger Religionswissenschaftler Friedrich Schweitzer den konjunkturellen Abstieg Martin Luthers aus der pädagogischen Historiographie diagnostiziert hat, sind mehrere Anläufe zur kritischen Neubestimmung der von Martin Luther und der Reformation ausgehenden bildungs- und schulgeschichtlichen Impulse unternommen worden. Die vornehmlich ideengeschichtlichen Annäherungen hinterlassen den Eindruck, dass trotz der bewussten Abkehr von emphatischen bildungshistorischen Lutherbildern der Vergangenheit Luther heute mehr denn je als Pionier in der Formulierung zentraler Aspekte modernen pädagogischen Denkens erscheint, der mit seinen Aussagen herkömmliche schulgeschichtliche Periodisierungen in Frage stellt.1 „Vieles, was gemeinhin erst in späterer Zeit erwartet wird, findet sich hier [bei Luther, JS] in Form erster, aber doch zukunftsweisender Perspektiven für

1

Friedrich SCHWEITZER, Luther und die Geschichte der Bildung. Pflichtgemäße Reminiszenz oder notwendige Erinnerung?, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 3 (1996), S. 9–23; Henning SCHLUß, Martin Luther und die Pädagogik – Versuch einer Re-konstruktion[!], in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 76 (2000), S. 321–353. Henning Schluß folgert, entweder sei durch Luther „das Aufscheinen der Moderne im Bereich der Pädagogik um mindestens zweihundert Jahre nach vorn“ zu datieren oder man müsse „den Begriff, der anscheinend so trennscharf modernes von vormodernem scheidet, selbst […] hinterfragen“ (ebd., S. 323). DERS., Reformation und Bildung – Ein Beitrag zur Dekonstruktion des protestantischen Bildungsmythos in der Auseinandersetzung mit der Ratsherrenschrift Martin Luthers, in: Ralf KOERRENZ/Henning SCHLUß, Reformatorische Ausgangspunkte protestantischer Bildung. Orientierungen an Martin Luther, Jena 2011, S. 7–30. Siegrid Westphal weist nach, dass Luther „zum ersten Mal ausdrücklich die Mädchenausbildung miteinbezogen habe“ und dass dies die erste verbürgte Forderung nach eigenen Mädchenschulen sei. Nach Westphal ging Luther in diesem Punkt sogar weiter als die Humanisten (Siegrid WESTPHAL, Reformatorische Bildungskonzepte für Mädchen und Frauen – Theorie und Praxis, in: Elke KLEINAU/ Claudia OPITZ (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt am Main/New York 1996, S. 135–151, hier S. 138 f.).

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Schule und Bildung.“2 Nicht nur habe Luther bereits ein Verständnis von Kindheit als eigener Lebensphase besessen, kindliche Eigenarten und insbesondere das Kinderspiel wertgeschätzt. Hervorgehoben wird auch der von Luther erkannte Eigenwert von Bildung und sein tendenziell demokratisches Allgemeinbildungsdenken, das Standesschranken überschritt, beide Geschlechter einschloss und dem bereits eine „Theorie der Bildsamkeit“3 inhärent gewesen sei. Mit seinen Vorschlägen zur Gestaltung der Katechismusprüfungen und der Klassen- bzw. Haufenübergänge in der Schule habe Luther das schulische Leistungsprinzip zur Geltung gebracht, wohingegen Luthers Schulkritik, insbesondere dort, wo er sie durch Beschreibungen der eigenen Schulerfahrung illustrierte, bereits an die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts erinnere. Luthers berühmte Schrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ von 1524 wird als früher Appell an kommunale öffentliche Schulträgerschaft gedeutet4 und schließlich käme Luther, indem er neben geistlichen auch weltliche Dimensionen anerkannt (Zwei-Reiche-Lehre) und „Erziehung der weltlichen Vernunft unterstellt“ habe,5 ein Verdienst für die Entwicklung der Pädagogik als Wissenschaft zu. Man kann sagen, dass anders als vor einhundert Jahren, als es vorkam, dass „Luthers Verhältnis zur modernen Schule“ noch ganz und gar negativ bestimmt wurde,6 Luther heute modern gedacht wird. Doch wenn die bildungshistorische Lutherforschung aus den Passungen zum modernen pädagogischen Denken Verbindungslinien in die Gegenwart zieht, wirft das auch Fragen auf und provoziert Kritik. Mindestens ist fraglich, ob es zulässig ist, moderne Terminologien wie die des Leistungsprinzips bereits auf das ausgehende Mittelalter zu beziehen,7 oder ausgewählte Gedanken und 2 3 4 5 6

7

SCHWEITZER, Luther und die Geschichte der Bildung (wie Anm. 1), S. 10 f. SCHLUß, Reformation und Bildung (wie Anm. 1), S. 19. Vgl. ebd., v.a. S. 7–10. SCHWEITZER, Luther und die Geschichte der Bildung (wie Anm. 1), S. 12. Vgl. Hartmann GRISAR, Luther (u. Luthertum), in: Ernst M. ROLOFF (Hg.), Lexikon der Pädagogik, Bd. 3: Kommentar bis Pragmatismus, Freiburg im Breisgau 1914, Sp. 495– 507, hier 506–508. Auch Koerrenz – dessen Beitrag freilich den explizit protestantischen Aspekt der reformatorischen Bildungstradition besonders fokussiert – legt den Schluss nahe, dass um 1900 andere Gesichtspunkte die Lutherrezeption lenkten. Luther war vor allem als die „sittlich-religiöse Persönlichkeit“ und in der Diskussion „um die Repräsentanz von Religion im öffentlichen Raum Schule“ Gegenstand der Aufmerksamkeit von Reformpädagog_innen (vgl. Ralf KOERRENZ, Reformation – Protestantismus – Bildung. Martin Luther als Referenzpunkt protestantischer Bildungstradition, in: DERS./Henning SCHLUß, Reformatorische Ausgangspunkte protestantischer Bildung (wie Anm. 1), S. 31– 67, direkte Zitate S. 36 u. 48.) Von der Fürsprache, die Luther den tüchtigen der geschickten Schülerinnen und Schülern zuteil werden ließ, bis zum Leistungsparadigma der modernen Schule war es noch ein

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Bemerkungen des Reformators, mögen sie aus heutiger Sicht auch noch so bemerkenswert erscheinen, bereits als eine konsistente pädagogische Theorie zu bezeichnen. Kurz: Bis zur Klärung der historischen Bedeutung Luthers für die Entstehung der modernen Schulorganisation dürften noch weitere Untersuchungen erforderlich sein. Dabei kann von Interesse sein, ob und inwiefern Luthers pädagogische Ideen in späteren Phasen der Schulgeschichte anregend waren, von wem sie aufgegriffen wurden und auf welche Weise sie etwa Schulreformprozesse angeregt haben. Unter diesem rezeptionsgeschichtlichen Blickwinkel wird im folgenden Beitrag ein Ausschnitt fokussiert und danach gefragt, was Schulmänner des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts – am Ausklang also eines in praktischer und theoretischer Hinsicht äußerst produktiven „pädagogischen“ Jahrhunderts – noch an Luther interessierte, warum sie sich auf ihn beriefen und was sie sich von Rückbezügen auf die Reformation versprachen. Hierbei wird ein damals neu entstehendes innovationsfreudiges Milieu in der für die Pädagogik wie für andere gesellschaftliche Felder als „Sattelzeit“ moderner Verhältnisse geltenden geschichtlichen Phase in Deutschland in den Blick genommen. Im Wesentlichen stütze ich mich dabei auf Quellen und Schriften aus dem Umfeld des westfälischen Geistlichen und Pädagogen Bernhard Christoph Ludwig Natorp (1774 –1846), der zwischen 1809 und 1816 als Oberkonsistorial- und Schulrat dem Elementarschulwesen der Kurmark Brandenburg vorstand. Bevor im Folgenden einige milieuspezifische Voraussetzungen geklärt werden, dass preußische Schulmänner zu Beginn des 19. Jahrhunderts sich u. a. auf Martin Luther als Vorbild der anstehenden Volksschulreformen beriefen, gibt der nächste Abschnitt einen kurzen Überblick über den Beginn der Auseinandersetzung mit Luther unter pädagogischen Gesichtspunkten im 18. Jahrhundert.

sehr weiter Weg. Den Terminus „Leistung“ hat Luther in seinen pädagogischen Schriften nicht benutzt. Er fand erst relativ spät, nicht vor den 1930er Jahren, Eingang in die wissenschaftliche Diskussion, wie schon Ludwig Furck vor über 50 Jahren bemerkte (vgl. Carl-Ludwig FURCK, Das pädagogische Problem der Leistung in der Schule, Weinheim 1961, Fußnote 34). Die Etablierung des Leistungsdispositivs war voraussetzungsreich, gebunden an den soziokulturellen Wandel im 19. Jahrhundert (vgl. Nina VERHEIEN, Unter Druck. Die Entstehung individuellen Leistungsstrebens, in: Merkur: Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 66 (2012), S. 382–390) und begleitet von der sich herausbildenden Eigenlogik des Erziehungssystems (vgl. Joachim SCHOLZ/Sabine REH, Auseinandersetzungen um die Organisation von Schulklassen. Verschiedenheit der Individuen, Leistungsprinzip und die moderne Schule um 1800, in: Carola GROPPE/Gerhard KLUCHERT (Hg.), Bildung und Differenz. Historische Analysen zu einem aktuellen Problem, Wiesbaden 2016, S. 93–113).

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2. Der pädagogische Luther Warum und wie hat sich die Pädagogik bzw. haben sich Pädagogen im 18. Jahrhundert noch auf Luther bezogen? Welche Motive konnte es inmitten einer an pädagogischen Konzepten reichen Periode gegeben haben, sich mit ihm auseinanderzusetzen? Man muss voranstellen, dass Martin Luther in den 300 Jahren, die seit der Reformation vergangen waren, im preußischen Volksschulwesen nicht vergessen war. Sein „Kleiner Katechismus“ war vielmehr das wichtigste Lehrbuch im Elementarschulwesen, wenn auch nicht mehr alternativlos und unkritisiert. Der Bunzlauer Oberlehrer Wilhelm Henning (1783–1868) schrieb 1818: Bekanntlich haben in der neueren Zeit viele Lehrer in Kirchen und Schulen behauptet, Luthers kleiner Katechismus sei für die Volksschulen unserer Zeit kein brauchbares Lehrbuch mehr, denn er enthalte manche alte, durch die Fortschritte des Wissens in neuern Zeiten längst als unhaltbar dargestellte Lehren, und dagegen vermisse man darin andere sehr wichtige, besonders Sittenlehren; ferner, die Sprache sei veraltet und jetzt nicht mehr allgemein verständlich, auch sage die Form den gegenwärtigen Bedürfnissen nicht recht zu, wir seien im Denken und Erkennen weiter als Luthers Zeitgenossen, auch unsere Jugend stehe schon auf einem andern Standpunkt des geistigen Lebens als die Jugend zu Luthers Zeit – kurz, der kleine Luthersche Katechismus genüge nicht mehr, man müsse jetzt ein anderes Religions-Lehrbuch in die Volksschulen einführen.8

Henning zählte sich selbst nicht zur Partei derer, die Luther für unzeitgemäß hielten. Im Gegenteil, er ließ seinen Beitrag über den Religionsunterricht nach Luthers Katechismus in der Aussage gipfeln: „Wer Luthers Kleinen Katechismus aus unsern Volksschulen verdrängen will, ohne einen erweislich bessern an dessen Stelle einzuführen, vergeht sich an Kirche, Schule und Vaterland.“9 Henning war nun auf der anderen Seite auch kein Anhänger des Althergebrachten, sondern vielmehr tief involviert in die Modernisierungsbewegung des Volksschulwesens seiner Zeit. Er hatte in Halle Theologie und Pädagogik studiert, als Eleve einige Jahre bei Pestalozzi in der Schweiz verbracht und sollte kurze Zeit später die Leitung des Kösliner Lehrerseminars übernehmen. Seine mit historischen, theologischen und pädagogischen Argumenten geführte Auseinandersetzung mit dem Luther’schen Katechismus und dessen vermeintlich fortschrittlichen Gegnern lässt sich als Teil damaliger Diskussionen um Reflektion und Klärung der Voraussetzungen guten Schulunterrichts und der 8

9

Wilhelm HENNING, Über Dr. Martin Luthers kleinen Katechismus und über den Religionsunterricht nach demselben in den Volksschulen, in: Christian Wilhelm HARNISCH (Hg.), Der Schulrat an der Oder, überarbeitet und neu hg. von Julius PLATH, Leipzig 1900 [Erstausgabe 1818], S. 239–247, hier S. 239. Ebd.

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methodischen Ausgestaltung einzelner Fächer im Volksschulwesen (hier des Religionsunterrichtes) zuordnen und verstehen. Dass jemand wie er Veranlassung fand, sich in einem pädagogischen Journal gründlich mit Martin Luther auseinanderzusetzen, ist zwar nicht erstaunlich – es handelte sich schließlich um ein wichtiges Schulbuch in einem wichtigen Unterrichtsbereich –, aber der energische und eindeutig positive Bezug durch einen Vertreter der neuen Pädagogik bleibt wenigstens bemerkenswert. Henning stand mit seiner Auffassung auch keineswegs allein. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stößt man nur vereinzelt bereits auf Arbeiten über Luthers Leben, die dessen Gedanken über das Schulwesen und die Kindererziehung mitthematisierten, doch handelt es sich nicht um solche Werke, die ausdrücklich an die Schulwelt gerichtet waren.10 Das leistete erst die 1792 erschienene Schrift Friedrich Gedikes „Luthers Pädagogik oder Gedanken über Erziehung und Schulwesen aus Luthers Schriften gesammlet[!]“.11 Gedike bot seinen Lesern darin ein reiches Zitatensammelsurium, dem er einen 56 Seiten langen Einführungstext voranstellte. Luther wird hier mehr als eindeutig und sogar so überpointiert als Aufklärer beschrieben, dass man meint, „Kants Aufruf zur Mündigkeit bereits bei Luther zu hören“.12 Christoph Lüth hat nachgewiesen, dass Gedike Luther nicht zufällig in dieser Form stilisierte. Der unter Wöllners Ägide wegen seines offen artikulierten Vernunftglaubens in Bedrängnis geratene Gedike nutzte Luther vielmehr „als Vorwand, um seine deistische 10 Vgl. exemplarisch Johann Friedrich Wilhelm FiSCHER, Luthers Leben und Thaten für den Bürger und Landmann beschrieben, Leipzig: Voß und Compagnie 1802 (darin das 27. Kapitel „Sein [Luthers, JS] Urtheil über Gesangbücher, Begräbnisörter und dann auch Kinderzucht“, S. 201–207). Frühere Titel sind Johann Adolph LIEBNER, Reformationsgeschichte für die Jugend, Gera: Beckmann 1785 und ähnlich Johann Christoph FRÖBING, Luther oder Kleine Reformationsgeschichte. Ein Lesebuch für die Jugend niederer Stände, Leipzig: Weidmann 21792. Fröbing adressiert ausdrücklich Kinder und Jugendliche der lutherischen Kirche in religionspädagogischer Absicht. Sie sollen „begreifen, wer der Luther war, nach dem sie sich nennen und [er, JS] will ihnen auch traurige Begebenheiten nicht verschweigen, um aber am Ende zu beweisen: Gott macht alles wohl“. Hierfür holt er zunächst sehr weit aus, gibt eine kleine Religionsgeschichte seit der Geburt Jesu und beschreibt dann ausführlich Luthers Leben von Kindheit an. – Für diese (z.T. wortwörtlich aus einer E-Mail vom 02.02.2016 übernommenen) Hinweise auf Fröbings Schrift, deren Erstauflage schon 1785 in Hannover unter dem Titel „Luther, oder kleine Geschichte der Kirchenverbeßerung. Ein Lesebuch für die Volksjugend“ erschienen war, sich aber nicht ermitteln ließ, danke ich Julia Steiner. 11 Friedrich GEDIKE, Luthers Pädagogik oder Gedanken über Erziehung und Schulwesen aus Luther Schriften gesammlet, Berlin: Unger 1792. 12 Christoph LÜTH, Die Bedeutung von Religion für Erziehung und Bildung bei Friedrich Gedike, in: Frank TOSCH (Hg.), Friedrich Gedike (1754–1803) und das moderne Gymnasium. Historische Zugänge und aktuelle Perspektiven, Berlin 2007, S. 97–113, hier S. 103.

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Position in einer unverfänglichen Maske öffentlich […] darzustellen“.13 Alle diesen Zwecken zuwiderlaufenden Werkinhalte, etwa die in Luthers Theologie zentrale Offenbarungsreligion oder die irrationalen Elemente seines Glaubens, habe der Autor fast vollständig ausgespart. Gedikes Schrift über Luther macht deutlich, dass jede Zeit ihr eigenes Lutherbild zeichnet,14 sie jedoch bloß auf ihre apologetische Funktion zu reduzieren, griffe zu kurz. Für die Rezeption Luthers durch die Pädagogik des ausgehenden 18. Jahrhunderts und danach galt Gedikes Buch als bedeutsam, weil es „[e]inige der kernhaftesten, bey weitem nicht alle“ der „hellen Einsichten“ Luthers als pädagogische Lektüre bündelte und das typische Charakterbild Luthers als eines Mannes von gesundem Verstand, „der sich vom Hergebrachten oft so wenig blenden ließ“, für eine pädagogische Leserschaft prägnant ausformulierte.15 August Hermann Niemeyer bündelt in seiner kurzen Einschätzung, was längerfristig den gleichsam revolutionären Nimbus Luthers in der Pädagogik auszeichnete. Über diese Projektion wurde dazu eingeladen, sich auf Luther an den Stellen zu besinnen, wo es auf den Wandel festgefahrener Verhältnisse ankam. Und kaum irgendwo war der Verdruss über unerträglich gewordene Zustände größer als im Schulwesen, insbesondere im Elementarschulwesen. Eine permanente Schulkritik befeuerte die pädagogische Reformströmung, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beträchtlich an Schwung gewonnen hatte. Die Aufklärungspädagogik hatte also bei Luther nicht nur die pädagogisch fruchtbaren Werkinhalte aufgetan, insbesondere diejenigen für den Religionsunterricht, sondern brachte über die kämpferische Charakterisierung Luthers auch ein reformstrategisch verwendbares Rezeptionsmotiv in Anschlag.

3. Evangelische Schulmänner Gedike und Henning waren unmittelbar keine Zeitgenossen, aber doch beide als Schulmänner typisch für ihre Zeit. So führt ein Weg zum besseren Verständnis der pädagogischen Lutherrezeption in die biografischen Kontexte dieser damals hochrelevanten Trägergruppe des Erneuerungsprozesses im Schulwesen. Man weiß heute, dass der historische Wandel der Schule in der entscheidenden Phase 13 Ebd. 14 Vgl. etwa Ralf Koerrenz’ Rekonstruktion des vielgestaltigen Referenzrahmens „Martin Luther“ in der reformpädagogischen Diskussion um 1900. Ralf KOERRENZ, Reformation – Protestantismus – Bildung (wie Anm. 6), S. 35–48. 15 August Hermann NIEMEYER, Ueberblick der allgemeinen Geschichte des Erziehungsund Schulwesens. Bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts, in: DERS., Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts, 3. Teil: Nachträge und Zusätze, Halle: Selbstverlag o.J. [1806], S. 411 f.

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ihrer Institutionalisierung in der Form eines Schulsystems weit weniger von den Interventionen der oberen Landesstellen, der Ministerien oder gar der Bildungsphilosophen beeinflusst wurde, als von nachgeordneten Instanzen einer „zweiten Reihe reformbeteiligter Kräfte“ (Jeismann) durchgesetzt worden ist.16 Um zu verstehen, wie der gesamtgesellschaftliche Prozesses der Systembildung und Professionalisierung von Erziehung konkret aufgegleist wurde, ist es unverzichtbar, sich mit den biografischen Hintergründen, Wirkungsorten sowie der Expertise und den Reformstrategien dieser „Schulmänner, Volkslehrer und Unterrichtsbeamten“ (Tenorth) zu beschäftigen. Um 1800 bildeten sie einen Personenkreis, der sich auf verschiedenen Ebenen des sich neu formierenden pädagogischen Feldes einfand. Besonders mit den Verwaltungsinitiativen, die in der Folge politischer Krisensituationen realisiert wurden, gerieten zur damaligen Zeit Angehörige eines pädagogisch inspirierten Milieus aus ihrem zuvor in der Regel theologischen Wirkungsfeld in einen neu entstehenden Bereich mit zunehmend exklusiver Zuständigkeit im Schulwesen. In Preußen lässt sich diese Tendenz für die Zeit der französischen Fremdherrschaft und der damals eingeleiteten großen Reformen besonders gut feststellen. Zu den Schulmännern, die zugleich über pädagogische Expertise verfügten und als Schulverwaltungsbeamte in die Schuldeputationen der reorganisierten Provinzregierungen einzogen, um hier größeren Einfluss auf die Ausgestaltung des Schulwesens zu erhalten, gehörten Männer wie Karl Christoph Gottlieb Zerrenner (1780–1851), Ernst Bernhardt (1782–1831), Gustav Friedrich Dinter (1760–1831), Ludwig Natorp oder Wilhelm Türk (beide 1774 –1846).17 Alle diese hier exemplarisch genannten Personen hatten ihre Laufbahnen als Geistliche begonnen, so dass beim Ausbau der staatlichen preußischen Schulverwaltung solche Akteure eine maßgebliche Rolle spielten, die ihren biografischen Hintergrund in evangelischen Pfarrhäusern hatten. Betrachtet man nun mit Ludwig Natorp den Werdegang eines dieser preußischen Volksschulreformer genauer, fällt schnell seine enge Bindung an Martin Luther auf. Natorp stammte aus einer westfälischen Pfarrersfamilie, die vor ihm

16 Zur bildungspolitischen Position der Schulmänner zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Karl-Ernst JEISMANN, Ludwig Natorps Beitrag zur Bildungsreform 1804–1840, in: Hanno SCHMITT/Frank TOSCH (Hg.), Erziehungsreform und Gesellschaftsinitiative in Preußen 1798–1840, Berlin 1999, S. 11–27. Zur allgemeinen Charakterisierung vgl. Heinz-Elmar TENORTH, Schulmänner, Volkslehrer und Unterrichtsbeamte: Friedrich Adolph Diesterweg, Friedrich Wilhelm Dörpfeld, Friedrich Dittes, in: DERS. (Hg.), Klassiker der Pädagogik, Bd. 1: Von Erasmus bis Helene Lange, München 2003, S. 224 f. 17 Zerrenner war Schulrat in Magdeburg und der preußischen Provinz Sachsen, Bernhardt in Pommern, Dinter in Königsberg und Ostpreußen, Natorp und Türk nacheinander in der Kurmark Brandenburg.

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bereits eine längere „Reihe lutherischer Theologen“ hervorgebracht hatte.18 Er hatte von 1792 bis 1794 zu einer Zeit an der Universität Halle studiert, als dort der Pietismus Francke’scher und Spener’scher Prägung, der einmal gründungsleitend gewesen war, an Einfluss verloren hatte. Natorps Biograf bemerkt, dass gerade zur Zeit von Ludwigs Aufenthalt in Halle die „argwöhnische Abschließung gegen die Heiterkeit des Lebens“ bei Vielen auf Ablehnung stieß. Aus der Übersättigung mit süßlicher Selbstpeinigung heraus dachte nun das jüngere Geschlecht an den fröhlichen Geist Martin Luthers. Die Ausgeburten der Heuchelei, die der Pietismus vergeblich von seinen Rockschößen abzuschütteln sucht, widerten die Studenten an, namentlich wo sie, wie in Halle, die freisinnige Philosophie eines Wolff [!; gemeint ist August Friedrich Wolf] hörten.19

Ein ganz unmittelbares Zeugnis persönlicher Erinnerungspraxis hat sich in Natorps tagebuchähnlich geführtem, von ihm so genannten „Immerwährenden Kalender“ erhalten. In diesem fortlaufend bis fast zuletzt weiterbefüllten Taschenkalender des Jahres 1805 vermerkte Natorp persönliche Ereignisse ebenso wie Gedenktage, politische Daten und historische Anekdoten, insbesondere solche aus der Geschichte der Pädagogik.20 Zwischen Einträgen über Schlachten, über unternommene Reisen und eigene Bekanntschaften lassen sich aus den Kalendereinträgen auch Rückschlüsse auf die berufsbiografischen Prägungen Natorps vor allem durch die Pädagogik des 18. Jahrhunderts ziehen, doch einige Personeneinträge betreffen auch die Zeit davor. Unter ihnen nimmt eine Vielzahl von Ereignissen aus dem Leben Martin Luthers, an die Natorp sich erinnern wollte, den größten Raum ein. Alle wichtigen Lebensstationen Luthers kommen vor: Geburt und Taufe, Immatrikulation an der Universität,

18 Vgl. Oskar NATORP, B. Chr. Ludwig Natorp. Doktor der Theologie, Oberkonsistorialrat und Vice-Generalsuperintendent zu Münster. Ein Lebens- und Zeitbild aus der Geschichte des Niederganges und der Wiederaufrichtung Preußens in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, Essen 1894, S. 9. 19 Ebd., S. 33. 20 Natorps Kalender befindet sich heute im Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin (im Folgenden: DIPF/BBF/Archiv) im Bestand: Bernhard Christoph Ludwig Natorp, Lebensdokumente, Schreib-Kalender ca. 1805–1844. Eine frühe Beschreibung der Quelle bei Balster, der schreibt, „daß kein wichtiger Moment seines Lebens ihm [Natorp, JS] nach Tag und Datum, sowie in seinen Einzelheiten entging. Denn er führte ein Tagebuch, das er seinen immerwährenden Kalender nannte. Es war in Monate rubrizirt, und er trug in diese Rubriken mit den verschiedenen, ihn selbst betreffenden Ereignissen das Jahr und den Tag ein. ,Mir gewährt es immer einen hohen Genuß‘, sagte er oft, ,diesen immerwährenden durchzublättern und mich der Vergangenheit dankbar gegen Gott zu erfreuen.‘ “ (BALSTER, B. C. L. Natorp, Oberkonsistorialrath ec., in seinem Leben und Wirken, namentlich als Schulmann, Essen: Bädeker 1848, S. 12).

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die erste Predigt, die Hochzeit mit Katharina von Bora, der Thesenanschlag und Daten über sein Lebensende inklusive der gehaltenen Leichenpredigt u.v.m.

Abb. 1: Ausschnitt aus Natorps „Immerwährendem Kalender“ mit Einträgen zu Luthers Leben

In Natorps persönlichem Umfeld findet man weitere Hinweise, dass sich am Beginn des 19. Jahrhunderts ein Erinnern in pädagogischer Absicht auf Luther bezog. So gehörte der auch oben erwähnte pommersche Schulrat Ernst Bernhardt zu Ludwig Natorps engstem Freundeskreis. Bernhardt war zeitweise Natorps Hausgenosse in Potsdam,21 eines von Natorps Werken, die mehrfach aufgelegte „Kleine Schulbibliothek“, ist in ihrer fünften Auflage von 1820 ihm gewidmet. Über Bernhardt selbst ist wenig bekannt. Er war, wie man es aus den wenigen auffindbaren biografischen Notizen erfährt, ebenfalls ein „thätiger Schulmann“ in der Volksschulverwaltung und -lehrerbildung.22 Zum 300. Reformationsjubiläum legte Bernhardt den Band „Aus Luther’s Leben und Schriften“ vor, den er im Untertitel als ein „deutsches Volksbuch“ bezeichnete. Wie

21 Vgl. DIPF/BBF/Archiv, Natorp 8: Brief Natorps an seine Eltern vom 2. Februar 1814. 22 Vgl. v.a. HARNISCH (Hg.), Der Schulrat an der Oder (wie Anm. 8), S. 74.

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viele der älteren Publikationen orientiert sich die Darstellung an Luthers Lebensweg, dem in erzählendem, anekdotischen Stil gefolgt wird, doch ist das Buch besonders für die Hand des Lehrers und den Einsatz im Religionsunterricht der Volksschule bestimmt.23 Man kann die schulisch-pädagogische Zwecksetzung bereits an den Kapitelüberschriften ablesen – neun von 58 Abschnitten, in die die Biografie unterteilt ist, beziehen sich ganz explizit auf Luther als Pädagogen: 40. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51.

Luther hat die Musik lieb gehabt und den Gesang in Kirchen und Schulen gebessert. Wie Luther mit seinen Kindern umgehet. Wie er sein Söhnlein Hänschen ziehet. Luther weint am Grabe seines Töchterleins, und sagt ein schönes Gleichniß vom Tode, und von den Gottesäckern. Was Luther von der Kinderzucht gelehrt. Wie er insonderheit will, daß die Knaben sollen gezogen werden. Was er von den Schulen und Schulmeistern gesagt hat. Wie ernstlich er ermahnet und bittet, daß man die Kinder soll zur Schule halten. Wie es Luther in Kinderschulen will gehalten haben.24

Am Ende druckt Bernhardt in volksaufklärerischer Manier eine Zusammenfassung von Luthers Lebensweg in Reimform, „um damit“, wie er schreibt, „dem Gedächtnis der Schulkinder zu Hilfe zu kommen“.25 Die Art und Weise, in der Luther in der Volksschulreform des frühen 19. Jahrhunderts eingesetzt wurde, soll im nächsten Abschnitt am Natorp’schen Beispiel noch etwas genauer betrachtet werden.

23 Das Buch wurde in der zeitgenössischen Reformliteratur begeistert aufgenommen. Wilhelm Harnisch bemerkt, dass es „für evangelische Schulvorsteher und Schullehrer gleich anziehend ist. Jeder wird […] gewiß gestehen, daß Luther ein feiner Erzieher war, und daß wir auch in dieser Hinsicht von ihm lernen können“ (HARNISCH, Der Schulrat an der Oder, [wie Anm. 8]). Ludwig Natorps mehrfach aufgelegtes Bücherverzeichnis für Elementarschullehrer, die „Kleine Schulbibliothek“, hebt die Bernhardtsche Schrift ebenfalls hervor. Sie sei „vortrefflich bearbeitet und verdient allgemein verbreitet und in allen evangelischen Schulen von der Jugend gelesen zu werden“ (Bernhard Christoph Ludwig NATORP, Kleine Schulbibliothek. Ein literarischer Wegweiser für Lehrer an Volksschulen, Essen: Bädeker 51820, S. 69). 24 Ernst BERNHARDT, Aus Luther’s Leben und Schriften. Ein deutsches Volksbuch für das dritte Jubelfest der evangelischen Kirche, Berlin: Reimer 1817, die betreffenden Abschnitte auf den Seiten 119–161. 25 Ebd., S. 226.

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Abb. 2: Ernst Bernhardts Buch „Aus Luther’s Leben und Schriften“, Titelblatt und Lutherporträt

4. Luther als Identifikationsfigur in der Lehrerbildung Die in die Biografien der evangelischen Schulmänner hineinreichende Tradition und die Entdeckung eines pädagogischen Luther schufen eine Identifikationsfigur und einen positiven Referenzpunkt für die Volksschulerneuerung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dabei machte die Lutherrezeption durch Schulmänner beim bloßen Gedenken nicht halt, doch blieb sie im großen Kontext möglicher Bezüge26 eher unauffällig und tendenziell rückbesinnend als zukunftsweisend. So sind es erneut die Praktiken des persönlichen Erinnerns, die Natorp beschreibt und als Anknüpfungspunkt wählt, um Luther auch in die Lehrerbildung einzubringen. Im ersten Band seines wohl bekanntesten Werks, dem von ihm herausgegebenen, tatsächlich aber auch selbst verfassten dreibändigen 26 Unmittelbar nach der Jahrhundertwende waren es vor allem die methodischen Ansätze der Engländer Johannes Bell und Joseph Lancester sowie die Pädagogik Johann Heinrich Pestalozzis, auf die die Reformer bei der Ausgestaltung des neu zu organisierenden preußischen Volksschulwesens vorrangig setzten. Natorp, ein Schüler Niemeyers, war in die Debatten um die beste Unterrichtsmethode involviert. Er nahm eine eklektizistische Haltung ein, indem er sich vor allem darum bemühte, die pädagogische Tradition des Philanthropismus wachzuhalten und sie mit den neu aufgekommenen Ideen zu vereinen (vgl. Joachim SCHOLZ, Die Lehrer leuchten wie die hellen Sterne. Landschulreform und Elementarlehrerbildung in Brandenburg-Preußen, Bremen 2011).

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„Briefwechsel einiger Schullehrer und Schulfreunde“ (1811–1816), einer in den Weiterbildungskursen für Schullehrer zirkulierenden, für diese auch bestimmte Publikation, stößt man im Brief eines fiktiven Schullehrers Schneider auf die Beschreibung eines „Schulmeisteralmanachs“, in dem man nichts anderes als die idealisierte Beschreibung von Natorps „Immerwährendem Kalender“ wiedererkennt.27 Der Schulmeisteralmanach wird hier als ein Instrument zur eigenen Bildung und beruflichen Selbstvergewisserung des Lehrers vorgestellt: „Er ist für mich eine Nachweise und zum Theil auch ein Repertorium des Wichtigsten, was ich über meine Amtsangelegenheiten gedacht, gehört, gelesen und erfahren habe.“28 Detailliert wird in die Praxis der Handhabung des Kalenders eingeführt, beispielreich wird beschrieben, wie der Almanach durch erweiterte Zusammenstellung von Büchernotizen und Nachrichten, Auszügen aus Lebensgeschichten etc., die der Lehrer bei seiner Lektüre aufnimmt, allmählich einen Kanon selbst angereicherten pädagogischen Wissens abbildet und so zu einem „Schatz von Gedanken, Kenntnissen, Erfahrungen und Nachrichten“ wird.29 Dabei geht Natorp hier noch über das reale Vorbild hinaus, wenn er beschreibt, wie von einzelnen Daten oder erwähnten Autoren nummerierte Verweise zu längeren Textstellen im Anhang des Almanachs führen. Viele Volksschulpädagogen werden mit ihren Hauptverdiensten genannt; warum der in der publizierten Version des Kalenders exemplarisch wiedergegebene Anhang ausgerechnet Werkpassagen Martin Luthers enthält, wird nicht erklärt. Doch nicht weniger als sechs Lutherbiografien und Schriften Luthers selbst will Lehrer Schneider (Natorp) für die entsprechenden Passagen seines Schullehreralmanaches zu Rate gezogen haben. Er schreibt: Luthers Schriften sind meine Lieblingslectüre; ich lese an jedem Sonntage darin. Es stehen darin so viele lehrreiche, erweckliche und kräftige Stellen, welche sich auf das Schulwesen und auf die Behandlung der Jugend beziehen, daß man daraus einen vollständigen Schullehrer-Katechismus zusammensetzen und eine wahre Schulmeister-Schule bilden könnte.30

Im erwähnten Anhang des Briefes sind auf immerhin drei Seiten elf kurze, inhaltlich unzusammenhängende Lutherzitate wiedergegeben. Es geht in diesen Auszügen in jeweils wenigen Sätzen um den Wert des Singens, des Geschichtenerzählens sowie der Lektüre der Bibel. Darüber hinaus enthält die Zusammenstellung eine kurze, von Luther für seinen Sohn verfasste moralische Ge27 Bernhard Christoph Ludwig NATORP, Briefwechsel einiger Schullehrer und Schulfreunde, Bd. 1, Duisburg/Essen: Bädeker & Kürzel 1811, S. 240–262. 28 Ebd., S. 261. 29 Ebd., S. 246. 30 Ebd., S. 255 f.

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schichte, wie Menschen der Einzug ins Paradies gelingen kann. Diese, aber auch eine andere Passage vermittelt ein positives Kindbild, das mit einem Lob der Natürlichkeit des Kindes und der Ermahnung, dass Kinder nicht „sehr“ geschlagen werden sollen, an entsprechende Formulierungen der Aufklärungspädagogik erinnert. Weitere Zitate informieren den Lehrer, dass schon Luther die weitreichende Bedeutung der Erziehung als auch der Schulen erkannt und die Verantwortung der Obrigkeit für deren Unterhaltung und für die Erziehung überhaupt angemahnt hatte. In der Tat finden sich basale, aber wesentliche Prämissen der preußischen Schulreform an der Schwelle des 19. Jahrhunderts knapp und einprägsam in diesen Ausschnitten wieder. Das zeigen besonders diejenigen Passagen, aus denen ersichtlich wird, dass eine zentrale Botschaft Natorps und der Schulmännerpädagogik, dass nämlich der Wert eines guten Lehrers nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, von Luther bereits artikuliert worden war: „Und, wenn ich vom Predigtamt und anderen Sachen ablassen könnte oder müßte, so wollte ich kein Amt lieber haben, denn Schulmeister oder Knabenlehrer seyn. Denn ich weiß, daß dies Werk nächst dem Predigtamt das allernützlichst, größt und beste ist.“31 Mit überzeugendem Duktus vermitteln diese Worte eine Botschaft, mit der Natorps Verständnis von der Bedeutung des Lehrerberufes haargenau übereinstimmte.32 Die anklingende symbolische Gleichstellung von Predigeramt und dem Beruf des Schullehrers war charakteristisch für die maßgeblich von Geistlichen getragene Volksschulreform in Brandenburg, die Natorp zwischen 1809 und 1816 anleitete. Sie äußerte sich damals als kollegiales Arbeitsbündnis in lokalen Schulreformen ebenso, wie sie als Motiv die reformbegleitende Literatur durchzog. In den Schullehrerlesezirkeln und -konferenzen beispielsweise zählte ein Vergleich des Berufs von Prediger und Lehrer zu den Aufsatzthemen, die Lehrer am häufigsten zu bearbeiten hatten. Verbindende Werte zwischen beiden Berufen zu betonen, schuf die Möglichkeit, den gesellschaftlich tief gestellten Nebenberuf des Schulmeisters zu heben, wo es weiter nichts kostete. Den höheren Lohn herauszustellen, den sowohl der Pfarrer als auch der Lehrer für ihre ebenso wichtige wie entbehrungsreiche Tätigkeit ernteten, war hierbei das Entscheidende. Mit Luther ließ sich 31 Ebd., S. 264. Das Originalzitat in: Martin LUTHER, Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle [1530], in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 30, Teil II, Weimar 1967, S. 526. 32 Man findet wiederum biografische Hinweise darauf, dass Natorp in dieser Überzeugung gelebt hat. Balster berichtet, wie Natorp 1795 seine erste Pfarrstelle für eine schlechter bezahlte Anstellung als Lehrer ausgeschlagen hatte (BALSTER, B. C. L. Natorp [wie Anm. 20], S. 5). Seine Wertschätzung für den Lehrberuf drückte er in einem Brief an einen Freund damals aus: „Ich werde es nie bedauern, sondern mit Dank erkennen, daß das Schicksal mich in diesen Stand der Prüfung und Bildung gewiesen hat“ (ebd., S. 6).

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dieses Denken belegen und sogar zeigen, dass solche Vergleiche für den Lehrerberuf recht vorteilhaft ausgehen konnten. Dabei gewährleisteten gerade die populäre Sprache und die anekdotische Überlieferung die Eignung Luthers für die Reform der Lehrerbildung. Wenn sich auch, gemessen am hochgespannten Anspruch, ein vollständiges Lehrbuch für Schulmeister aus Luthers Einsichten zusammenstellen zu können, in Natorps „Briefwechsel“ nur eher schlichte Kernbotschaften finden, aus denen sich auf den ersten Blick nicht viel mehr ergibt als der Hinweis, dass ein gebildeter Volksschullehrer mit Luthers Leben und mit einigen seiner pädagogischen Aussagen und Überzeugungen vertraut sein sollte, führten gerade diese ihrem Inhalt nach doch in diejenige Gebiete der damaligen Volksschulreform, die praktisch und vorrangig zu bearbeiten waren. Tatsächlich ging es – wie sich aus vielen Quellen rekonstruieren lässt – bei der Reorganisation des Schulwesens nach 1806 um gewissenhafte Schulorganisation, die Durchsetzung der Schulpflicht, um die Aus- und Weiterbildung des Lehrerstandes und seine Subsistenzsicherung, von der abgeleitet man sich besseren Unterricht und nicht zuletzt auch einen besseren Umgang der Lehrer mit den ihnen anvertrauten Kindern versprach. Das alles klang bereits bei Luther an und beim Versuch, Minimalkriterien einer guten Praxis unter den Schulmeistern zu verbreiten und vor allem auch zu plausibilisieren, ließ sich daran anknüpfen. Zeitgenössische Konzepte und Vorstellungen reichten freilich bereits wesentlich weiter als das, was man bei Luther lesen konnte. In der Volksschulpädagogik zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich das Nachdenken und Erproben verschiedener Methoden auf einen nach Lehrgegenständen ausdifferenzierten, mehrstufigen Unterricht ausgedehnt, eine vertiefte Reflexion war auf die Voraussetzungen eines besseren Schulehaltens gerichtet. Es ging um die richtige Schulung der Aufmerksamkeit, um Praktiken pädagogischer Beobachtung, der Nutzbarmachung des kindlichen Ehrtriebes und die allmähliche Anbahnung einer schulischen Leistungsordnung, es ging schließlich um die Adressierung des Lehrers über sein spezifisches professionelles Wissen und Können usw.33 33 Vgl. aus den neueren kulturhistorischen Ansätzen in der Bildungsgeschichte etwa Sabine REH/Kathrin BERDELMANN/Jörg DINKELACKER (Hg.), Aufmerksamkeit. Geschichte – Theorie – Empirie, Wiesbaden 2015; Sabine REH/Kathrin BERDELMANN/Joachim SCHOLZ, Der Ehrtrieb und unterrichtliche Honorierungspraktiken im Schulwesen um 1800. Die Entstehung des Leistungsdispositivs, in: Alfred SCHÄFER/Christiane THOMPSON (Hg.), Leistung, Paderborn 2015, S. 37–60. – Feinanalysen des innovativen Potentials philanthropischer Schulreformen finden sich in den Arbeiten von Hanno SCHMITT, vgl. z.B. Der sanfte Modernisierer Friedrich Eberhard von Rochow: Eine Neuinterpretation, in: DERS./Frank TOSCH (Hg.), Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow 1734–1805 im Aufbruch Preußens, Berlin 2001, S. 11–34. Unter der älteren Literatur noch immer Achim LESCHINSKY/Peter Martin ROEDER, Schule im historischen Prozeß.

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An Natorps Bezugnahme auf Luther im Briefwechsel – und dort auch im Vergleich mit anderen Briefen und deren Inhalten – wird dagegen deutlich, dass Luthers pädagogische Vorstellungen eher zur diffusen und unsystematischen, emotionalen Ansprache der Lehrer dienten. In der Volksschulreform war diese Funktion jedoch nicht zu unterschätzen. Sie war gewissermaßen vorgesehen und wurde ausgefüllt durch ästhetische Angebote etwa im musischen Bereich, einem wichtigen Bestandteil der Lehrerzusammenkünfte, oder aber in der gezielten Präsentation würdiger Vorbilder für die eigenen guten Absichten und Ziele. In der (oft aus der Feder engagierter Prediger stammenden) reformbegleitenden pädagogischen Publizistik entstand im Zuge dessen auch eine hagiographische Geschichte der Pädagogik, in der Luther eine prominente Stelle besetzt hielt. Der Prediger und Schulinspektor Heinrich Reinhold Hein (1762– 1838) aus Wriezen im Oderbruch34 legte im Kontext der von ihm geleiteten Schullehrergesellschaft eine solche frühe Bildungsgeschichte vor, in der eine Periodisierung der bisherigen Entwicklung des Schul- und Erziehungswesens vorgenommen wird. Die sechs Abschnitte schildern die Zeit „Von der Einführung des Christenthums bis Carl dem Großen“ – „Von Carl dem Großen bis zur Reformation durch Luther“ – „Von Luther bis Franke“ – „Von Franke bis Basedow“ – „Von Basedow bis v. Rochow“ – „Von v. Rochow bis Pestalozzi und bis auf unsere Zeiten“.35 Auch Heins Ausführungen adressieren Lehrer und sind auf die Volksschulpädagogik ausgerichtet. Wieder fallen sofort Parallelen ins Auge, die der Autor zwischen der lutherischen Reformation und der eigenen Schulreformperiode zieht. Bis zur Reformation wird die Schulgeschichte als reine Anhäufung von Defiziten beschrieben,36 dann seien mit Luther und Melanchthon, die Hein als Zum Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Entwicklung, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983. 34 Hein gehörte zum Netzwerk der im Volksschulwesen und seiner Reform in besonderem Maße involvierten Prediger der Kurmark, das, unterstützt und koordiniert von der Regierung in Potsdam, bis in die 1820er Jahre hinein bemerkenswerte Aktivitäten in der frühen organisierten Lehrerbildung entfaltete. Eine Spur der Verbindung Natorps zu Hein ist just in der in Abb. 1 wiedergegebenen Seite aus Natorps Kalender (15. Juni) dokumentiert: „1813 war der H. Schulinsp. Hein aus Wrietzen bey mir in Freyenwalde zum Besuche“ (DIPF/BBF/Archiv, Bernhard Christoph Ludwig Natorp, Lebensdokumente, Schreib-Kalender ca. 1805–1844). 35 Reinhold HEIN, Angelegenheiten des Volksschulwesens für Volksschullehrer, Leipzig: Göschen 1821, S. 48 f. 36 „Für die Knaben geschah, [vor der Reformation, JS] wenig genug, für die Mädchen gar nichts. Selten stand neben der Dorfkirche eine schlechte Schule, deren Lehrer mehr Diener der Kirche und des Pfarrers war […] und den Unterricht gänzlich als Nebensache besorgte. Wenn’s hochkam, so richtete er seine Jugend zum Herbeten der 10 Gebote und der Kirchengebete […] ab“ (ebd., S. 69 f.).

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die „eigentliche[n] Stifter eines bessern Schulwesens“ bezeichnet, zwei „Schulhelden“ aufgetreten und hätten ein besseres Ideal aufgezeigt, das noch immer gelte und das nunmehr zu verwirklichen sei.37 In einer vom Fortschrittsdenken getragenen Darstellung erscheinen die beiden Reformatoren als solche, die in ihrer Zeit noch nicht Herren der Lage waren, den Zuständen an den Mönchsschulen zum Beispiel noch nicht wirksam genug entgegen treten konnten und das zum Teil auch nicht wollten. Trotz seiner Bewunderung sieht Hein in einigen Punkten doch auch Differenzen zur Reformationspädagogik. So sei durch sie der Stock noch nicht aus den Schulstuben verbannt worden, „die Methode blieb unbehülflich und die Schulzucht finster und strenge“.38

5. Fazit Lassen sich die vornehmlich exemplarischen Betrachtungen zu einem verallgemeinernden Schluss zusammenführen? Im betrachteten Zeitraum erhielt der Ausbau eines modernen Volksschulwesens erwiesenermaßen wichtige Impulse, die sich endlich auch in Organisation und Profession des Erziehungswesens zeigten und in der Praxis niederschlugen. Die Grundlagen dieser Impulse sind vielfältig und in den letzten Jahrzehnten vor allem aus sozialgeschichtlicher Perspektive rekonstruiert worden. Der ideengeschichtliche Hintergrund wurde dadurch zurecht relativiert, denn er war nur einer von vielen diese Prozesse tragenden Faktoren. Dennoch verdient auch er Berücksichtigung. Das dies jenseits hagiografischer Motive erfolgen muss, die aufgrund ihrer Funktion in der Lehrerbildung der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte der Pädagogik lange Zeit entgegenstanden, versteht sich heute von selbst. Noch immer aber überdecken alte Deutungskonjunkturen, vor allem der im 19. Jahrhundert diskursmächtige Pestalozzikult (die preußische Volksschulreform firmierte zeitweise als „Pestalozzi-Schulreform“) ältere wirkmächtige Einflüsse. Das betrifft etwa das Fortwirken von Philanthropismus und Volksaufklärung im Prozess der Schulmodernisierung oder die progressiven Einflüsse der kirchlichen Schulaufsicht, die lange Zeit nur als ein Bestandteil der preußischen „Schule der Untertanen“39 bewertet worden ist. Schulmänner aus der Geistlichkeit besetzten aber gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen Schlüsselpositionen im

37 Ebd., S. 73 f. 38 Ebd., S. 74. 39 Folkert MEYER, Schule der Untertanen. Lehrer und Politik in Preußen 1848–1900, Hamburg 1976.

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praxisnahen Bereich der provinziellen und lokalen Schulverwaltungsbehörden und brachten eigene Erfahrungen ein.40 Schon vor dem Hintergrund der persönlichen und berufsbiografischen Prägung dieser Schulmänner nimmt es nicht wunder, dass Martin Luther von ihnen gewürdigt und in den eigenen schulreformerischen Rahmen integriert wurde. Der Einfluss Luthers auf die ideelle Ausstattung der Schulreformen sollte nicht übersehen, aber ebenfalls nicht überschätzt werden. So man sich auf Martin Luther berief, tat man es auf eine sehr innige Weise im Modus der Erinnerung und nicht ohne Bedeutungszuschreibungen für die gegenwärtige und künftige Richtung der Schulreform. Festzuhalten ist, dass die Volksschulpädagogen um 1800 – eindeutiger als 100 Jahre später die Reformpädagog_innen – Luther als Modernisierer lasen. Unter den Protagonisten der Sattelzeit galt Luther in erster Linie als ein Mann des Fortschritts im Bereich des Schulwesens. Damals bildete sich eine spezifische historische Lesart der Rolle Luthers in der Schulgeschichte heraus. Die herangezogenen Beispiele zeigen, dass Kenner seines Werkes sich dabei auf eine Vielzahl adaptionswürdiger Stellen insbesondere auch für die laufende Reform der Volksschule berufen konnten. Schulpolitische Akteure wie Natorp erkannten zudem Luthers Eignung zur populären Vermittlung zentraler Forderungen in der Lehrerbildung. Und was bedeuten diese Einblicke in Hinsicht auf die eingangs referierten Tendenzen der neueren Lutherrezeption? Kann, muss man vielleicht sogar in Luther den Pionier einer neu zu schreibenden Pädagogik der Moderne sehen? Ganz so wird das aufgrund der Verschiedenheit der Kontexte und Luthers eigenen Uneindeutigkeiten wohl nie behauptet werden dürfen. Selbst die Vorstellung von Luther als „Menschen des Übergangs“, der nur zuweilen „hinter die von ihm selbst formulierten pädagogischen Maßstäbe zurück[fällt]“,41 geht wohl zu weit, denn plausibel wird ja der „Rückfall“ hinter den Luther, der „eigentlich“ schon modern gewesen sei, erst aus der nachträglichen Betrachtung. Dennoch hat diese rückwärtige Deutung Luthers als Erneuerer, als Vorbild und Ideengeber für Schulverbesserungen Gründe, die bereits vor 300 Jahren erkannt worden sind. Nicht zufällig wohl zu einer Zeit, als die Konstellation der schulischen Verhältnisse sich drastisch zu verändern begann.

40 Vgl. Joachim SCHOLZ, Beiträge der geistlichen Schulaufsicht zur Professionalisierung der preußischen Elementarschullehrer im frühen 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 21 (2016), S. 155–174. 41 SCHLUß, Reformation und Bildung (wie Anm. 1), S. 27.

FELICITAS MARWINSKI THÜRINGISCHE STADT-, DORF- UND SCHULBIBLIOTHEKEN

Thüringische Stadt-, Dorf- und Schulbibliotheken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihr Beitrag zum allgemeinen Bildungswesen im Dienste der Volksaufklärung Der „Aufbruch in die Neuzeit“ setzte mit den drucktechnischen Erfindungen des Mainzer Bürgers Johann Gensfleisch zum Gutenberg ein, die den Buchdruck revolutionierten. Die sich rasch in ganz Europa verbreitende Buchdruckerkunst bewirkte eine Entfaltung des geistig-kulturellen Lebens mit neuartigen Institutionen und Verhaltensweisen. Flexibel auf die Zeitumstände reagierend, erschloss sich das Buchdruckereigewerbe seit Anfang des 16. Jahrhunderts neue Tätigkeitsfelder, eilig hergestellte, in gehefteter Form verbreitete Druckschriften von geringem Umfang standen bei den Lesern in besonderer Gunst. Mit Hilfe dieser „Flugschriften“, die zu aktuellen Tagesfragen spontan Stellung nahmen, erlangte Martin Luther als Autor eine bis dahin kaum vorstellbare Publizität und Popularität. Durch die kostengünstig hergestellten Drucke wurden neue Käuferund Leserschichten mit Zeitproblemen konfrontiert, die im Rahmen der zeitgenössischen Polemik zur Stellungnahme herausforderten, speziell in religiösen Fragen kam es zu harten Auseinandersetzungen, die eine Polarisierung der Meinungen bezweckten und auch zur Folge hatten. Aus Anlass des 300-jährigen Reformationsjubiläums brachte der Gothaer Verleger, Buchhändler und Publizist Rudolf Zacharias Becker (1752–1822) einen „Bildband“ heraus, dessen Porträts den Betrachter in das Reformationszeitalter versetzen sollten. Sie waren von den Originalholzstöcken aus dem 16. Jahrhundert, die er besaß, abgedruckt worden. Der Folioband1 enthält die

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Die Angaben zu den genannten Bibliotheken beruhen auf dem: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland (im Folgenden: HHB), hg. von Friedhilde KRAUSE, [Thüringenbände] bearb. von Felicitas MARWINSKI, Bd. 19 (A–G), 20 (H–R) und 21 (S–Z), Hildesheim u.a. 1998–1999. – Wenn nicht anders vermerkt, ist die Bearbeiterin zugleich Textautorin. Der Aufsatz vereinigt die Ergebnisse von Einzeluntersuchungen zur Geschichte des Volksbibliothekswesens anhand ausgewählter Beispiele. Rudolph Zacharias BECKER, Bildnisse der Urheber und Beförderer, auch einiger Gegner, der Religions- und Kirchenverbesserung im sechzehnten Jahrhundert. Nebst andern darauf Bezug habenden Bildern in gleichzeitigen Holzschnitten. Zum Andenken des 3. Jubelfestes der evangelisch lutherischen Kirche am 31ten October 1817, hg. und mit

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Bildnisse der Urheber und Beförderer, aber auch – die Objektivität wahrend – einiger Gegner der Religions- und Kirchenverbesserung. Als ein „Denkmal der Dankbarkeit des deutschen Volkes“ kamen in der Becker’schen Buchhandlung außerdem von 1816 bis 1817 „Dr. Martin Luther’s deutsche Schriften, theils vollständig, theils in Auszügen“, bearbeitet von dem Hildburghäuser Hofdiakon Friedrich Wilhelm Lomler (1774–1845), in drei Bänden heraus, in der Absicht, den „Segen der Aufklärung“ für die Lebenden zu erneuern und die Verdienste des Reformators wieder in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Luthers Bedeutung für das Schul- und Bildungswesen, aber auch für Bildungsanstalten wie die (Volks-)Bibliotheken, war schon damals aus der Rückschau deutlich erkennbar.

1. Zur Entstehung von Kirchen- und Stadtbibliotheken Die schrittweise Einführung der Reformation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bedeutete für das thüringische Bibliothekswesen einen fundamentalen Wandel in Aufgabenstellung und Wirkungsweise, wobei der Anstoß von dem Reformator ausging. Das Streben nach Aufklärung zur Erweiterung des Wissenshorizontes war eines von Luthers Wesensmerkmalen. Mediengewandt verbreitete er in Wort und Schrift seine reformtheoretischen Denkansätze in der Hoffnung, dass sie sich verwirklichen ließen und den gesellschaftlichen Alltag verändern halfen. In dem Sendschreiben „An die Radherrn aller stedte deutsches lands, das sie Christliche schulen aufrichten vnd halten sollen“ (Wittenberg 1524)2 hat Luther sein Bibliothekskonzept, das sich von nachhaltiger Wirkung erweisen sollte, dargelegt.3 Er äußerte unumwunden, dass auch für die Bibliotheken die Klosterzeit vorüber und ein Neuanfang geboten sei. Mit Vehemenz lehnte er die „unnützen Mönch(s)bücher“ ab, an ihrer Stelle wollte er „rechtschaffene Bücher“ für eine in der Entwicklung begriffene „andere [zukünftige] Welt“ angeschafft wissen. Im Rahmen einer neuzeitlich orientierten Bibliothek verstand er darunter an erster Stelle die Heilige Schrift (auch in deutscher Sprache) und die dazugehörigen exegetischen Schriften, dann Bücher, die zum Erlernen der Sprachen dienten (Latein, Griechisch, Hebräisch)

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3

Erläuterungen begleitet, Gotha: Becker’sche Buchhandlung [Sept.] 21817. – Die Druckstöcke mit den Porträts stammten aus der Sammlung von Hans Albrecht von Derschau. Martin LUTHER, An die Radherrn aller stedte deutsches lands: das sie Christliche schulen auffrichten vnd hallten sollen, Wittenberg: [Lukas Cranach und Christian Döring] 1524 (VD 16 L 3800). Vgl. Uwe CZUBATYNSKI, Armaria Ecclesiae. Studien zur Geschichte des kirchlichen Bibliothekwesens, Neustadt an der Aisch 1998, S. 45–68 [Die Reformationszeit] u. 69–80 [Der Neubeginn].

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und Poeten und Oratores – „seien es Heiden oder Christen“ – zum Erlernen der Grammatik. Weiterhin sollten, allerdings in strenger Auswahl, Bücher von den sieben Freien Künsten (Grammatik, Arithmetik, Geometrie/Musik, Astronomie, Dialektik, Rhetorik), zum Recht und zur Arzneikunde vorhanden sein. Chroniken und Historienbücher hielt Luther für besonders wichtig, um den „Weltlauf“ zu erkennen und regieren zu können. Ihm war aufgefallen, dass im Allgemeinen über Deutschland nur wenig bekannt sei, weil niemand es beschrieben habe – so suchte er sich den eigenartigen Sachverhalt zu erklären – und wenn doch, niemand die Bücher aufbewahrt oder überliefert hätte. Er zog daraus die Schlussfolgerung, dass man „Fleiß und Kosten“ nicht scheuen solle, um „gute Librareyen oder Bücherhäuser“, sonderlich in großen Städten, „die solches wohl vermögen“, zu errichten. In ihnen sollten die (neu erschienenen) guten Bücher aufbewahrt und gesammelt werden, „damit wir etwas behalten auf das Zukünftige von diesen „gülden[en] Jahren“, die eine „reiche Ernte“ zu bieten versprachen. Dass Luther die Bedeutung von Bibliotheken zur Durchsetzung der reformatorischen Bestrebungen frühzeitig erkannte und ihre Funktionen seinen Zwecken dienstbar machte, ist aus den Bestandsgeschichten abzulesen. Die reichsstädtische Ratsbibliothek in Mühlhausen4 wurde um 1560/70 durch den Superintendenten Magister Johann Petreius (um 1518–1574) begründet, der sich nach Luthers Vorgabe von den unnützen Mönchsbüchern befreite, indem er sie an Buchbinder oder Krämer verkaufte. Die Büchersammlung war schon vor 1574 einem größeren Personenkreis zugänglich, mit ihr beginnt in der Stadt die Geschichte des öffentlichen Bibliothekwesens, das im 19. Jahrhundert ein Geflecht von allgemeinbildenden Leseinstituten aufzuweisen hat, darunter die 1859 gegründete Volksbibliothek für Handwerker und Fabrikarbeiter zur Belehrung, Unterhaltung und Beförderung sittlicher und patriotischer Gesinnungen. Als Überlieferer und Kulturträger keineswegs nur religiösen Schrifttums sind in diesem Zusammenhang an erster Stelle die Kirchenbibliotheken anzuführen, die im 16. Jahrhundert in vielen Orten Thüringens in der unmittelbaren Nachfolge von Klosterbibliotheken entstanden, sich aber auch durchaus eigenständig zu entwickeln vermochten. Bis in die Jetztzeit haben zum Beispiel die Kirchenbibliotheken in Römhild (entstanden um 1450)5 und in Schmalkalden (gegründet um 1489)6 Schriftgut aus der Lutherzeit als originale Zeitzeugen überliefert. 4 5 6

Vgl. Mühlhausen 2, Bibliothek im Stadtarchiv, in: HHB, Bd. 20, S. 251–266 (gemeinsam mit Beate KAYSER). Vgl. Römhild 2, Bibliothek in der Stiftskirche, in: ebd., S. 295–299. Vgl. Schmalkalden 2, Bibliotheken in der Stadtkirche St. Georg, in: HHB, Bd. 21, S. 41– 45 (gemeinsam mit Susanne DAUSEL).

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Seit Mitte des 16. Jahrhunderts kamen in Thüringen unter anderen hinzu (in chronologischer Reihenfolge):7 Nordhausen (*1552), Pößneck (*1555), Sondershausen (*um 1558), Hildburghausen (*um 1561), Rudolstadt (*1574), Arnstadt (*1583), Saalfeld (*1594), Eisenach (*1596) und Schleiz (*1597). Nicht alle Gründungen haben die Zeiten überdauert, die Ältere Frankenhäuser Kirchenbibliothek wurde zum Beispiel bei dem verheerenden Stadtbrand am 17. September 1689 ein Raub der Flammen. Die theoretischen Vorgaben Luthers wurden gewissermaßen als „Leitlinien“ für den im Umbruch begriffenen Bestandsaufbau aufgefasst. Das Zitat von den „güldenen Jahren“ findet sich auch auf dem Titelblatt des Stifterbandes der Erfurter Ministerialbibliothek8 vom 22. Februar 1648: „Kurtzer Historischer Bericht Von dem Anfange und fortsetzung der Bibliothec Des Evangelischen Ministerii und Predig[t]amts in Erfurt“. Die Anregung zur Bibliotheksgründung zu Ende des Dreißigjährigen Krieges war von Sebastian Schröter (1593–1650), Pastor an der Michaeliskirche und Mathematik-Professor am Ratsgymnasium, ausgegangen. Die historische Bibliothek (mit Lutherzelle und zeitgenössischen Büchern) überliefert heute Wissenswertes zur frühen Kirchengeschichte, zu Luther und zur Reformation, speziell aus der Zeit nach der Säkularisierung des Klosters. Die genannten Bibliotheksgründungen unterschieden sich hauptsächlich darin, inwieweit sie öffentlich zugänglich waren (Tendenz zur Stadtbibliothek) und welcher Art ihre Neuzugänge waren (Tendenz zur Gelehrten- bzw. Fachbibliothek). Doch war es von der (spät)mittelalterlichen Klosterbibliothek bis hin zur Bürger- bzw. Volksbibliothek des 19. Jahrhunderts noch ein weiter Weg, der eng mit der Entfaltung des allgemeinen Bildungswesens verknüpft war. Im Verlauf der Jahrhunderte gestaltete sich der Prozess einer durch die Bibliotheken vermittelten kontinuierlichen Volksaufklärung von Ort zu Ort unterschiedlich, wie Einblicke in das Bibliothekswesen von Sondershausen und Gera verdeutlichen.

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Vgl. die Einträge zu den Orten in: HHB, Bd. 19–21. Vgl. Erfurt 5, Bibliothek des Evangelischen Ministeriums zu Erfurt mit Bibliothek des Martinsstiftes, in: HHB, Bd. 19, S. 206–213 (gemeinsam mit Wilhelm VELTEN u.a.). Das Augustinerkloster als Erinnerungsort ist heute wieder eine Stätte der Bildung und Begegnung.

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2. Frühe Bibliotheksgründungen in Sondershausen und Arnstadt In Sondershausen führte Graf Günther XL. von Schwarzburg (1499–1552) erst 1530 die Reformation ein, seine Gemahlin, die Gräfin Elisabeth von IsenburgBüdingen (1507–1572), förderte das Schulwesen, indem die Stadt- und Landschule 1559 ein neues Gebäude erhielt und die Mädchenschule in das alte Gebäude der Knabenschule wechseln konnte. Gleichzeitig gründete die fromme Gräfin mit Luthers Werken die dortige Kirchenbibliothek,9 in die auch – allem Anschein nach ohne Vorbehalt – eine große Anzahl von Inkunabeln (hauptsächlich juristische Werke, die sehr wahrscheinlich aus der Jechaburger Stiftsbibliothek stammten) Eingang fanden.10 Die gewichtigen Folianten können heute noch in der St. Trinitatis-Kirche besichtigt werden. 1812 eröffnete der im weitesten Sinne um Volksaufklärung bemühte Thüringer Verleger Bernhard Friedrich Voigt (1787–1859) in der Stadt Sondershausen eine Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung, die durch eine leistungsfähige Leihbibliothek ergänzt wurde. Das Leseinstitut bestand unter wechselnden Besitzern Jahrzehnte hindurch und erlangte durch die ihm angeschlossenen Lesezirkel eine beachtliche Breitenwirkung, so dass sich eine Stadtbibliothek zunächst erübrigte. 1822 siedelte Voigt mit dem Verlagsunternehmen nach Ilmenau über, 1834 kam er nach Weimar, wo er 1842 eine „Ausgewählte Volks-, Dorf- und Wanderbibliothek, bestehend in 230 verschiedenen gemeinnützigen Schriften“ aus seinem Verlag kostengünstig anbot. Es handelte sich ausschließlich um praxisorientierte, von bewährten Volksschriftstellern erarbeitete Werke. Sein „alter Freund“, der Großenhainer Rentamtmann Karl Preusker (1786– 1871) steuerte einige praktische Ratschläge zu deren „zweckmäßigen Anschaffung, Benutzung, Verwaltung und Vermehrung“ bei.11 Zum Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen gehörte als Oberherrschaft das Arnstädter Territorium. Als die Mönche des 1246 gegründeten Barfüßerklosters im Zuge der Reformation 1538 die Stadt verließen, nahmen sie (entgegen der Absprache) ihre Bücher mit. Um dieses Defizit auszugleichen, vermachte Leo Packmor (gest. 1583), oldenburgischer Drost auf Delmenhorst, den es im Gefolge des Grafen Günther XLI. (1529–1583), gen. Bellicosus, nach Arnstadt verschlagen hatte, 1583 der Schule (im ehem. Kloster) und der Oberkirche ein 9

Vgl. Sondershausen 2, Bibliothek in der Stadtkirche St. Trinitatis, in: HHB, Bd. 21, S. 67– 71. 10 Felicitas MARWINSKI/Konrad MARWINSKI/Klaus STOLLBERG, 450 Jahre Kirchenbibliothek Sondershausen. Geschichte der Sammlungen und Katalog, Jena 2008. 11 Im Jahr darauf erschien: Karl PREUSKER, Die Dorf-Bibliothek, Leipzig: Hinrichs 1843, die ebenfalls empfehlenswerte „Volks-Literatur“ aller Fachgebiete für Landleute, Pfarrer, Schullehrer, Gutsherrschaften, Behörden und Vereine nachwies.

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Legat von 6000 Meißn. Gulden, dessen Zinsen mit zur Gründung einer öffentlichen Büchersammlung für Kirchen- und Schulbediente verwendet werden sollten.12 Gräfin Katharina (1543–1624), Witwe des Grafen und als geborene Gräfin von Nassau-Dillenburg eine Schwester Wilhelms von Oranien (1533– 1584) – die Schwiegertochter der Sondershäuser Gräfin Elisabeth – stiftete 1593 neben anderen seltenen Werken eine achtbändige repräsentative polyglotte Bibel in Folio, erschienen von 1569 bis 1572 in Antwerpen bei Plantin, in die Bibliothek. Das beeindruckende Werk wurde 2010 in der Tapisserie-Ausstellung des Arnstädter Schlossmuseums als Leihgabe der Kirchenbibliothek zum ersten Mal im öffentlichen Raum den Besuchern präsentiert. Besondere Erwähnung verdient die Sammlung von 1011 Lutherdrucken, die der Superintendent Johann Christoph Olearius (1668–1747) Mitte des 18. Jahrhunderts der „Stadt- bzw. Kirchen-Bibliothek“ vermachte.13 Jeder Bürger, selbst Schüler, konnten zu jener Zeit Bücher entleihen. Die Zweckbestimmung dieser öffentlichen Bibliothek sahen die Stifter in der „Förderung der Wissenschaften in den Schwarzburgischen Landen“. In Arnstadt entstand übrigens erst 1876 eine Volksbibliothek.

3. Bildungsbestrebungen im reußischen Gera Zum Vergleich mit Schwarzburg-Sondershausen ein Blick ins Reußenland, auf das Territorium Gera/Reuß jüngerer Linie. Schon 1457 wird für Gera eine (Trivial-)schule erwähnt, die Reformation wurde 1533/34 durch die beiden Kirchenvisitationen in den Herrschaften Gera und Greiz eingeführt.14 Im Jahr 1595 übernahm Heinrich, gen. Posthumus, Reuß jüngerer Linie (1572–1635), Herr von Plauen und Herr zu Greiz, Kranichfeld, Gera, Schleiz und Lobenstein, die Regentschaft und begann sogleich, das Bildungswesen zu reformieren. Ein neues Schulgebäude wurde erbaut, zu dem der Landesherr 4.000 Taler beisteuerte. Die laufende Unterhaltung des Gymnasiums legte er wohlbedacht auf

12 Felicitas MARWINSKI, Die Bibliothek in der Arnstädter Oberkirche, in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 139 (1995), S. 78–80; DIES., Die Bücherstiftungen Gräfin Katharinas in die Arnstädter Oberkirche, in: Günther XLI., Graf von Schwarzburg, Flämische Tapisserien des 16. Jahrhunderts [Schlossmuseum Arnstadt, Ausstellungskatalog], Jena 2010, S. 110–113 (8 Abb.). 13 Die beiden oben erwähnten Lutherdrucke befinden sich auch darunter. 14 Vgl. Reinhold JAUERNIG, Die Einführung der Reformation in den Reußischen Landen. Festschrift zum Reformationsjubiläum 1933 (Beiträge zur Thüringischen Kirchengeschichte, 2), Gotha 1933; Joachim BAUER, Martin Luther und die Reformation in Ostthüringen, in: Werner GREILING (Hg.), Neustadt an der Orla, vom Ursprung und Werden einer Stadt (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, 1), Rudolstadt/Jena 32004, S. 79–122.

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die Schultern der sämtlichen Einwohner, indem er im Territorium eine Tranksteuer erhob. Die Land(es)schule wurde am 6. Mai 1608 eröffnet, ihre spätere Bezeichnung lautete „Gymnasium Rutheneum“. Der „Stifftungs-Brief über die gemeinschafftliche Landschule allhier zu Gera“ ist vom 12. März 1608 datiert.15 Gleichzeitig wurde unter Heranziehung der städtischen Kirchenbibliothek der Aufbau einer „nützlichen“ Bibliothek in Angriff genommen, die die „Verbreitung und Fortpflanzung des reinen Evangeliums“ zum Zweck hatte und sich auf die „unverfälschte Augsburgischen Konfession von 1530“ gründete, denn „Calvinisterey und Schwärmerei“ lehnte Posthumus ab. Bei dem Stadtbrand am 20. März 1686 wurde die Bibliothek zur Betroffenheit aller so stark beschädigt, dass ein Neubeginn erforderlich war. 1699 vollzog sich im Reußischen ein in der thüringischen Bibliotheksgeschichte bemerkenswerter Vorgang. Aus einem vom 6. Juni datierten Patent16 geht hervor, dass die fünf gemeinsam regierenden Grafen Reuß17 beschlossen hatten, „so wohl zu der Kirchen Nutzen, als der hiesigen Land-Schulen und (den literarischen Wissenschaften) zum Besten“ eine gemeinsame Bibliothek zu Gera aufzurichten, die ihren Standort in der Stadtkirche haben sollte. Um die „gemeinnützige Intention“ zu verwirklichen, war ein „sorgfältiger Bibliothecarius“ verordnet worden, der die Kataloge betreute und damit den „publiquen Gebrauch“ garantierte. Er war für die Anschaffung „rarer, jedoch nützlicher Bücher“ zuständig. An jede Person „geist- oder weltlichen Standes“, die in den reußischen Landen Funktionen erlangte, wurde das Ansinnen herangetragen, freiwillig zur Vermehrung dieser „nützlichen Bibliothec“ beizutragen und damit „ein löbliches und dem gemeinen Wesen zuträgliches Werk zu verrichten“. Die bildungsgeschichtliche Bedeutung von Schule und Bibliothek wurde von den Nachkommen anerkannt. 1715 stellten drei „hoffnungsvolle Musensöhne“ (Gymnasiasten) in ihren Lob- und Dankreden im Sprachstil der Zeit fest, dass „Der Unsterbliche Ruhm Hoher Regenten, So Durch Stifftung und Erhaltung öffentlicher Schulen erlanget und fortgepflantzet wurde“, den „Regierenden Hoch-Gräfl. Reuß-P[lauenschen] Herrschafften Jüngerer Linie Zu hohen 15 Stadtarchiv Gera, III/B 5 10 209: Copia des Stifftungs-Briefes über die gemeinschafftliche Landschule allhier zu Gera. 16 Stadtarchciv Gera, Sammlung reußischer Gesetze, Bd. 5: Verordnung zur Errichtung einer Bibliothek in der Stadtkirche zu Gera, „so wohl zu der Kirchen Nutzen, als der hiesigen Land-Schulen und sonst rei literariae zum besten“ (S. 61). 17 Beteiligt waren Heinrich III. zu Reuß Lobenstein j.L. (1648–1710, reg. 1678 bis 1710) / Heinrich VIII. zu Reuß Hirschberg j.L. (1652–1711, reg. 1678 bis 1711) / Heinrich X. zu Reuß Ebersdorf j.L. (1662–1711, reg. 1683 bis 1711) / Heinrich XI. zu Reuß Schleiz j.L. (1669–1726, reg. 1692 bis 1726) / Heinrich XVIII. zu Reuß Gera j.L. (1677–1735, reg. 1695 bis 1735).

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Ehren“ gereiche.18 Bei dem furchtbaren Stadtbrand am 18. September 1780 wurde die ansehnliche Gymnasialbibliothek „bis auf das letzte Blatt“ zerstört. Doch wagte man 1781/84 unverzagt einen Neubeginn. Gewissermaßen als Ersatz für die zerstörte Gymnasialbibliothek versorgte von Ronneburg aus die Schumann’sche Leihbibliothek die Stadt portofrei mit „dem Besten“ an neuesten Schriften. Sie zählte 1798 etwa 3000 Bände und enthielt viele wissenschaftliche Werke, „die man für gewöhnlich“ in Leihbibliotheken sonst nicht antraf.19 Ihr Besitzer, August Schumann (1773–1826), der Vater des Komponisten Robert Schumann, siedelte später nach Zwickau über, wo er sich als Verleger von kostengünstigen Taschenbuchreihen deutscher und ausländischer Klassiker einen Namen machte.20 Schumann hatte in der seit 1797 „in einem Umkreis von etlichen Meilen“ agierenden Köstritzer Lesegesellschaft eine ernst zu nehmende Konkurrenz. Sie vereinigte 150 bis 200 Mitglieder „aus allen Ständen“ und bot gute Journale, Almanache, Reisebeschreibungen und Bücher allgemeinbildenden Charakters an.21

4. Gründung einer Schul- und Erziehungsbibliothek in Gera 1804 begann ein neuer Abschnitt in der Geraer Schul- und Bildungsgeschichte. Als der aus Schneeberg in Sachsen stammende Johann Zacharias Herrmann Hahn (1768–1826) sein Amt als Superintendent, Pastor primarius und Konsistorialassessor antrat, nahm er sogleich längst fällige Reformen in Angriff.22 Er übte deutliche Kritik an dem Bildungsstand und geringen Einkommen der Schullehrer, auch forderte er (wie ehedem Luther) die Eltern auf, ihre Kinder regelmäßig zum Unterricht zu schicken. Kinder, die zum Broterwerb in den Fabriken arbeiten mussten, suchte Hahn ebenfalls in den Schulunterricht zu integrieren. Aus Anlass des 200-jährigen Bestehens des Gymnasiums Rutheneum verfasste er 1808 eine kleine Schrift,23 in der er eine gemeinnützige, mit auserlesenen Büchern ausgestattete Schul- und Erziehungs-Bibliothek vorstellte (221 Nummern). Sie verstand sich als eine Leih- und Lese-Bibliothek für Eltern, Kinder, Lehrer, Erzieher und das Volk. Nach Hahns Vision sollte jede Stadt 18 19 20 21 22

Der Text wurde 1715 in „Gera, mit Wertherischen Schrifften“ gedruckt. Aufrichtig-deutsche Volkszeitung, 45. St., 12. Juni 1798, Sp. 714 f. Felicitas MARWINSKI, Bücher „en miniature“ aus Zwickau, Köln 2011. National-Zeitung der Deutschen, 33. St., 15. August 1799, Sp. 709. Felicitas MARWINSKI, Bibliotheken im Bildungsprogramm des Geraer Superintendenten Johann Zacharias Herrmann Hahn, in: Jahrbuch des Museums Reichenfels-Hohenleuben 59 (2014), S. 5–48 [mit Lit.-Verz.]. 23 Johann Zacharias Herrmann HAHN, Wort und That, ein Beytrag zur Secularfeyer des Gymnasii zu Gera, Gera: Selbstverlag 1808.

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und jede Landgemeinde eine eigene Bibliothek besitzen. Sich selbst und die neue, Geistesbildung befördernde Anstalt sah er in der Traditionslinie von Heinrich Posthumus. Unter den zur Lektüre ausgewählten Autoren befanden sich: -

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Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811), Reformpädagoge, Begründer der Schnepfenthaler Erziehungsanstalt (1784); ein der Volksaufklärung verpflichteter Schriftsteller Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), Pädagoge, Philanthrop, Schulund Sozialreformer; setzte sich in der Schweiz für die Hebung der ärmeren Volksklassen durch Unterricht und Erziehung ein und forderte „Volkserziehung durch Bibliotheken“ August Hermann Niemeyer (1754–1828), Theologe, Pädagoge und geistlicher Liederdichter; Vertreter des Rationalismus in Halle Gustav Friedrich Dinter (1760–1831), sächs. Pfarrer, Katechet und Pädagoge, seit 1814 Schulrat in Königsberg/Preußen; erwarb Verdienste um die Volksschule Johann Christian Dolz (1769–1843), Lehrer an der Leipziger Freischule in fast 50-jähriger Amtsführung

Durch Hahn kam es 1811 in Gera zur Gründung eines Schullehrer-Seminars, 1817 errichtete er eine Sonntagsschule, auch wurde der Grund zu einer SynodalBibliothek gelegt (die heute nicht mehr auffindbar ist) und eine Abendschule gemeinsam mit den Fabrikherren eingeweiht. Die von Hahn begründeten Bildungsanstalten erwiesen sich zu ihrer Zeit als notwendige Bestandteile des Geraer Schulwesens und bewährten sich viele Jahre hindurch. Aus Anlass des 300-jährigen Reformationsjubiläums erhielt er am 31. Oktober 1817 zusammen mit anderen um die Volksbildung verdienten Thüringer Superintendenten und Hofpredigern die Ehrendoktorwürde der Universität Jena. Aus dem gleichen Anlass wurde in der Fürstl. Landesschule das Thema „In wie fern der Schulmann mit Luthern Ähnlichkeit haben könne und solle“ erörtert und im Rathaussaal „Luther als Muster für den studierenden Jüngling“ vorgestellt.24 Erst 1874 wurde in Gera durch die Freimaurerloge Archimedes zum ewigen Bunde eine Volksbibliothek ins Leben gerufen.

24 Das Jubelfest der evangelischen Kirchenverbesserung (Nachtrag zu Gera), in: NationalZeitung der Deutschen, 51 St., 17. Dezember 1817, Sp. 1005–1014.

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5. Herausbildung von Gymnasialbibliotheken in Thüringen Wendet man sich den Nachwirkungen zu, die den gesellschaftsverändernden Prozess der Reformation im ideellen wie im realen Leben begleiteten, so erweist sich das Schul- und Bildungswesen als aussagekräftig, weil es bis in die Gegenwart zugleich auch das „Experimentierfeld“ war, in dem theoretische Normative praktisch angewendet und überprüft werden konnten, besonders wenn es darum ging, für die nachkommenden Generationen akzeptable Lösungen für eine zeitgemäße Ausbildungs- und Lebensgestaltung zu finden. Luther, der in Mansfeld, Magdeburg und Eisenach zur Schule ging und in Erfurt studierte, fühlte sich nicht zuletzt durch eigene Erfahrungen bewogen, das Schulwesen seiner Zeit kritisch ins Visier zu nehmen. Das Ergebnis seiner Eindrücke und Überlegungen legte er in der Flugschrift „Eine Predigt, das man kinder zur Schulen halten solle“ (Wittenberg 1530)25 nieder, womit er sich sowohl an Eltern und Erzieher als auch an Pfarramtsträger, Lehrer, Leser, Kaplane, Küster und Schulmeister wandte. Es sei ein „gutes Werk“, wenn Kinder zum Schulbesuch angehalten würden, tüchtige Knaben, „sonderlich arme(r) Leute Kinder“, solle man zur Schule gehen lassen, dazu ständen nämlich Kirchengüter, Stipendien und Stiftungen bereit. Je nach Begabung könne man ein „hochgelehrter Doktor und Magister“ oder auch bloß ein „gemeiner Pfarrherr“ werden. Man könne aber auch ein Handwerk erlernen und Bürger sein. Die Zeiten hätten sich gewandelt, stellte er fest, jetzt könne man in drei Jahren mehr lernen, „denn vorhin jnn zwentzigen“. Um das „weltliche Reich“ zusammenzuhalten, brauche man Juristen, denn Weisheit und Vernunft sollten regieren. Es habe nie bessere Zeiten zum Studieren gegeben als gerade jetzt, um (für die Anforderungen seiner Gegenwart) „geharnischt und gerüstet“ zu sein. Die Väter sollten ihre Söhne studieren lassen, damit sie sich in der Ständegesellschaft „durch die Feder“ emporschwingen könnten. Jede Arbeit sei anerkennenswert, andere Stände (er führt die Schreiber an, deren Handwerkszeug die „liebe Feder“ sei) sollten nicht verachtet werden. Gute Schulen wären sowohl für das Fortkommen eines jeden Einzelnen als auch für das Wohl des gesamten Landes ein notwendiges Erfordernis.26 Mit wenigen, aber schlagkräftigen Argumenten erreichte Martin Luther, dass die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Verbesserung des Schul- und Bildungswesens gelenkt wurde. Das Modell der Trivialschule, einer dreiklassigen 25 Martin LUTHER, Eine Predigt, das man kinder zur Schulen halten solle, Wittemberg[!]: Nickel Schirlentz 1530 (VD 16 L 5689). 26 Vgl. auch das Luther-Zitat „Wenn die Schulen zunehmen, dann stehet’s wohl im Land“, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. Tischreden, Bd. 5, Weimar 1919, Nr. 5557, S. 239 f., Zitat auf S. 240.

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Lateinschule, wurde von Luthers Freund Philipp Melanchthon (1497–1560) entwickelt, der als „Praeceptor Germaniae“ in die Geschichte einging. Für Thüringen gilt, dass es durchaus möglich war, aus einem der vielen Dörfer oder einer Kleinstadt kommend, über eine weiterführende Schuleinrichtung die Befähigung zum Universitätsbesuch zu erlangen und ein Theologiestudium als Voraussetzung zur Lehrtätigkeit an einem Gymnasium zu absolvieren. Die späteren Gymnasien – der Schultyp war häufigen Veränderungen unterworfen und in der Regel mit einer Bibliothek verbunden – gingen aus den ehemaligen Klosterschulen, aber auch aus Stadt- oder Lateinschulen hervor. Schulbuchbestände veralteten jedoch immer rasch, weil die Lehrbuchinhalte aktualisiert werden mussten. Mit der Reformation entstanden im 16. Jahrhundert (in chronologischer Abfolge) in Erfurt, Nordhausen, Gotha,27 Weimar, Saalfeld, Arnstadt, Ilfeld, Schleiz, Roßleben, Eisenberg, Eisfeld, Mühlhausen, Schleusingen und Eisenach zahlreiche in diese Richtung tendierende Ausbildungsstätten, die in der Regel von prägendem Einfluss auf die örtliche Kulturentwicklung waren. 1548 wurde in Jena eine Hohe Schule (Gymnasium Academicum) errichtet, die von Anfang an als Universität konzipiert war und konfessionell in Luthers Theologie wurzelte. Aus der Offizin von Christian Rödinger (1504–1557) ging von 1555 bis 1558 die Jenaer Lutherausgabe hervor, die noch heute in den Kirchenbibliotheken im historischen Grundbestand anzutreffen ist. Als persönlicher Besitz von Johann Friedrich I., des Großmütigen (1503–1554), gelangte die Wittenberger Bibliotheca Electoralis 1557 nach Weimar und von dort 1549 nach Jena, wo sie bald als Universitätsbibliothek neue Funktionen wahrzunehmen hatte. Grundsätze, wie kritische Literaturauswahl nach qualitativen Gesichtspunkten, Universalität und Objektivität, kamen hierbei zum Tragen. Im Zuge der Aufklärung öffnete sie Ende des 18. Jahrhunderts ihre Pforten auch für das lern- und bildungsbeflissene städtische Lesepublikum.

6. Beckers Mildheimer Dorfbibliothek Im Zusammenhang mit der Entwicklung von Dorf- und Gemeinde-Bibliotheken nimmt Rudolph Zacharias Becker als Volksaufklärer eine besondere Stellung ein. Er hatte Theologie und vorzüglich die Schulwissenschaften studiert, aber den Zeitpunkt zur Erlangung eines öffentlichen Amtes in diesem Fach versäumt. Der freimütige Inhalt einer von der Berliner Akademie der Wissen27 Vgl. Ernst KOCH, „Mit Gottes und der Landesfürsten Hülf“. Die Reformation in der Residenzstadt Gotha und ihrer Umgebung (Beiträge zur Reformationsgeschichte in Thüringen, 1), Jena 2015, S. 67–70 [Das Schulwesen].

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schaften 1780 gekrönten Preisschrift zu der Frage „Ist es nützlich, das Volk zu täuschen?“ hatte zur Folge, dass er in dem mainzischen Erfurt nicht Fuß fassen konnte.28 Daraufhin beschloss er, das Territorium zu wechseln und nach Gotha zu gehen, wo er als Schriftsteller die „Verbreitung gemeinnützlicher Wahrheiten aus der großen Masse des Wissens unter denjenigen Ständen, welche keine Profession vom eigentlichen Studiren“ hatten, zu befördern.29 Sein Bildungsideal verpflichtete ihn, das „thätige Streben, immer besser zu werden und alles besser zu machen in der Seele des Lesers zu erwecken und zu unterhalten, dabey nützliche Kenntnisse jeder Art zu verbreiten, schädliche Vorurtheile, Thorheiten und Mißbräuche aufzudecken und zu bekämpfen“.30 Die Zeitumstände waren damals für Becker günstig: Es war die Epoche von Friedrichs II. weisen Alter und Joseph II. Jugendfeuer […] Aufklärung des Volks, Denk- und Preßfreyheit tönten überall als Losungswörter […] Die Idee von gleichen Rechten und Ansprüchen aller Klassen der Staatsbürger auf Geistesbildung und bürgerliches Wohlseyn gingen aus der Bücherwelt allmählich in das wirkliche Leben über.31

Diesem Zweck diente auch das von Becker verfasste „Noth- und HülfsBüchlein oder lehrreiche Freuden- und Trauergeschichte des Dorfes Mildheim“, das 1788 in Gotha erschien und sich zum absoluten Bestseller seines Verlagsunternehmens entwickeln sollte.32 Das dort vorgestellte Reformprogramm schloss auch ein fiktives Bibliotheksmodell, die „Mildheimer Bibliothek“, mit ein, deren aufklärerische Grundtendenz sich über 40 Jahre hindurch bewährte.33 Geworben wurde u. a. für gute Volksschriften, die der Erbauung, Belehrung und Unterhaltung dienten, und für Autoren, die sich ganz im Sinne ihres Lesepublikums um eine allgemeinverständliche und realistische Darstellungsweise 28 Rudolph Zacharias BECKER, Jubelfeyer der National-Zeitung der Deutschen, in: National-Zeitung der Deutschen, 51. St., 21. Dezember 1809, Sp. 1011. 29 Ebd. 30 Ebd., Sp. 1012. 31 Ebd., Sp. 1013 f. Zum Vorgang vgl. Holger BÖNING/Reinhart SIEGERT, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd. 1–2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990–2001. 32 Vgl. Reinhart SIEGERT, Aufklärung und Volkslektüre, exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem Noth- und Hülfs-Büchlein, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Lfg. 3–6, Sp. 565–1348; vgl. auch Alexander KRÜNES, Volksaufklärung in Thüringen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 61 (2007), S. 215–228. 33 Felicitas MARWINSKI, Die Mildheimische Schul- und Gemeindebibliothek (1798), ein in die Zukunft weisendes innovatives Bibliotheksmodell, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 62 (2008), S. 127–160.

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bemühten, wie z. B. Zerrenners „Deutscher Schulfreund“, der schul- und erziehungspraktische Fragen behandelte, die „50 Fabeln für Kinder“ von dem Ichtershäuser Superintendenten Wilhelm Hey, Pestalozzis „Lienhard und Gertrud“ und Zschokkes „Goldmacherdorf“. Die von Becker modellierte Mildheimer Bibliothek besaß eine Doppelfunktion – sie war sowohl Dorf- und GemeindeBibliothek als auch Schul-Bibliothek und konnte von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen benutzt werden. Die im Text empfohlenen Schriften waren über die Buchhandlung einzeln oder en bloc zu beziehen, sie transportierten aktuelles, volksaufklärerisches Bildungsgut bis in das kleinste Dorf.

7. Schriften zum 300-jährigen Jubiläum der Reformation 1817 Im Vorfeld des Reformationsjubiläums kamen 1817 zahlreiche Schriften auf den Markt, die sich mit Luther und der Reformation befassten. Alle Beteiligten waren auf der Suche nach dem „richtigen Weg“ zur Vermittlung des aktuellen Schrifttums und machten sich Gedanken, wie sie neue Leser erreichen konnten: „Ich lasse gegenwärtig eine sehr zweckmäßige Schrift: Luther’s Leben und Wirken, zum völligen Verständniß des dießjährigen Jubelfestes der Reformation u. s. w., vom Prediger Müller in Wollmirsleben, welche Heinrichshofen in Magdeburg für 8 gl. verkauft, in meiner Dorfschule lesen“, fragte 1817 „Ein Prediger aus der Provinz Sachsen“ im „Allgemeinen Anzeiger“ an.34 „Viele Bauern haben es selbst gekauft. Sonntags, nach geendigtem Nachmittagsgottesdienst, hält der Schullehrer in seiner Wohnung auch den Erwachsenen darüber Vorlesungen.“ Er beabsichtigte, nächstens auch selbst sonntags über die Reformations-Geschichte in der Kirche zu katechisieren und wollte wissen, wie seine Amtsbrüder ihre Gemeinden auf „das schon langsam herannahende Jubelfest der Reformation“ vorbereiteten, erhielt aber von den Mitlesern des „Anzeigers“ keine Antwort. Schriftsteller und Buchhändler verfolgten das Anliegen, Erwachsene und Kinder über die historische Bedeutung der Reformation aufzuklären. Mehrfach wurde betont, dass ein großer Teil des Volkes nur über eine „unvollkommene Kenntnis“ verfüge, was der Reformator „getan und bezweckt“ habe. Über Luther und sein Leben informierte denn auch ein kleines, unscheinbares, aber preiswertes Bändchen, „Das Reformationsbüchlein, eine Erzählung für Kinder“,35 von Carl Ludwig Nonne (1785–1854), das großen Anklang fand. Es enthält in schlichten Worten die Lebensbeschreibung des Reformators, dessen 34 Allgemeiner Anzeiger der Deutschen, Nr. 216, 15. August 1817, Sp. 2418. 35 Carl Ludwig NONNE, Das Reformationsbüchlein, eine Erzählung für Kinder, Hildburghausen: Kesselring 1817 [2. Aufl. 1818; 3., verm. u. verb. Aufl. 1832].

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Eltern aus Möhra stammten, einem kleinen Dorf im Herzogtum SachsenMeiningen, das dem Autor gut bekannt war. – Als Redakteur der 1818 gegründeten „Dorfzeitung“ und als „Dorfzeitungsschreiber“ weist Nonne Gemeinsamkeiten mit R. Z. Becker auf. In Erfurt hatte der Verleger Friedrich Keyser Interesse für das Jubiläumsereignis von 1817 zu wecken gesucht, indem er einen kleinformatigen Almanach herausgab, aus dem zusammen mit den weiteren Folgen ein Archiv und ein Bildersaal zur Reformationsgeschichte erwachsen sollten. Die einzelnen Beiträge waren unter dem kritisch wertenden Gesichtspunkt der Geschichte der Religions- und Kirchenverbesserung zusammengestellt worden. Den „Reformations-Almanach für Luthers Verehrer auf das evangelische Jubeljahr 1817“ hatte Keyser dem Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach ehrfurchtsvoll zugeeignet, der ihn im Gegenzug mit der Sachsen-Weimarischen Verdienstmedaille auszeichnete. In Keysers Buchhandlung erschien zur gleichen Zeit „Luther an unsere Zeit oder Worte Luthers, welche von unserm Zeitalter besonders beherzigt zu werden verdienen“, zusammengestellt von Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848), Generalsuperintendent und Oberkonsistorialrat zu Gotha. Das Reformationsgeschehen wurde in Wort und Bild vielseitig popularisiert und von zahlreichen Autoren und bildenden Künstlern aufgegriffen. Von dem Geraer Buchhändler und Redakteur Johann Ernst Daniel Bornschein (1774– 1838) kam, nachdem die erste Auflage (Lobenstein: Illgen, 1805) den Beifall des Lesepublikums gefunden hatte, im September 1817 die „Geschichte der luther’schen Kirchenreformation“ zum zweiten Mal in der Schöne’schen Buchhandlung in Eisenberg heraus, die er als „Lesebuch für den lieben Bürger und Landmann“, aber auch als Leitfaden für den Unterricht gedacht hatte, weil man oft noch nicht so recht wisse, „was es mit dem Reformationsfeste eigentlich für eine Bewandniß“ habe. Bereits 1795 hatte Bornschein, den Zeitgenossen eher als Verfasser von Theaterstücken und Räuberromanen bekannt, anonym ein solches „Lesebuch“ zu „Leben, Thaten und Meinungen Martin Luthers“ gestaltet (3., verb. Aufl., Leipzig: Voß).36 Lehrbuchcharakter hatte auch die „Geschichte der Reformation für Bürger- und Landschulen“ (2., verm. Aufl., Weimar: [Hoffmann] 1817) des Weimarer Gymnasialprofessors Johann Gottfried Melos (1780–1828),37 der 1825 als erster hauptamtlicher Lehrer an dem dortigen neuerbauten Lehrerseminar angestellt wurde. 36 Zu Autor und Werk vgl. Werner GREILING, Volksaufklärung und Reformation – die Luther-Biographie des Johann Ernst Daniel Bornschein, in: Jens BEGER (Hg.), Hessen und Thüringen. Festschrift für Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag (Schriften des Thüringischen Staatsarchivs Gotha, 5), Jena 2013, S. 191–206. 37 Siehe hierzu auch den Beitrag von Stefan GERBER in diesem Band.

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Kritische Stimmen wurden laut, wenn sich zum Beispiel Gottlieb Jakob Planck (1751–1833) „Ueber den gegenwärtigen Zustand und die Bedürfnisse unserer protestantischen Kirche“ (Erfurt: Keyser 1817) äußerte, Ludwig Pflaum (1774–1824) „Die dringendsten Zeitbedürfnisse der protestantischen Kirche vor allen protestantischen Fürsten Teutschlands in tiefster Ehrfurcht ausgesprochen“ (Nürnberg: [Riegel & Wießner] 1817) formulierte oder der Diakon und Garnisonsprediger Friedrich August Klein (1793–1823) den Beitrag „Auch ein Vorschlag zur Feyer des dritten Jubelfestes der Reformation“ veröffentlichte.38 Sowohl die Persönlichkeit des Reformators als auch die Inhalte von Luthers Texten erfuhren eine Neubewertung, wodurch der Erinnerungskultur eine veränderte Richtung gegeben wurde.

8. Feier des Reformationsjubiläums 1817 in Sachsen-Weimar-Eisenach Im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach nahm Großherzog Carl August (1757–1828) zum Reformationsgeschehen Stellung, wie aus einem „Patent wegen der Feyer des Reformations-Jubilaeo“ vom 23. September 1817 hervorgeht.39 Er erinnerte daran, dass sich „Die glorwürdigen Ahnherrn […] erlauchten Andenkens“, die Kurfürsten zu Sachsen, Ernestinischer Linie, in ihrer Regierungszeit „mit aufopfernder Willenskraft für das, vom D. Martin Luther begonnene, von ihm und seinen Freunden fortgeführte Werk der Reformation“ eingesetzt und „verewigt“ hätten. Er führte Friedrich III., genannt der Weise, an, dessen Wittenberger Bibliotheca Electoralis mit ihren über 2000 Drucken den Grundstock für die spätere Jenaer Universitätsbibliothek bildete, dessen Bruder, Johann den Beständigen, der 1530 die Augsburgische Konfession dem Kaiser Karl V. übergab, und Johann Friedrich den Großmütigen, der die Schlacht bei Mühlberg/Elbe am 24. April 1547 verlor und auf die Kurwürde verzichten musste. In Anbetracht „solcher Vorbilder“, die der Reformation „Schutz und Förderung“ gewährten, seien auch die „nachfolgenden Fürsten Weimarischen Stammes treue Anhänger und Verteidiger“ der Bewegung ge-

38 Allgemeiner Anzeiger der Deutschen, Nr. 236, 4. September 1817, Sp. 2657–2659 [dat.: Jena, den 9. Aug. 1817]. 39 Einblattdruck: Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, Sign.: 245558-A.; Faltblatt: Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, Sign.: 19 C 11283, St. 19. Zur Durchführung vgl. Johann August NEBE, Gutachten über die würdige Feier des dritten evangelischen Jubelfestes, nebst Aussichten und Wünschen für das neue Jahrhundert der evangelischen Kirche, Eisenach: Bärecke 1817.

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wesen. Noch jetzt würden im Land „bedeutsame Erinnerungen an jene große Vergangenheit“40 dafür sprechen. In dem Patent wurden der 31. Oktober und 1. und 2. November 1817 als die Tage für ein „großes und allgemeines Reformationsjubelfest feierlichst“ bestimmt, Höhepunkt war das „zweckmäßige Examen über die Reformation der versammelten Schuljugend“. In Eisenach wurde am Sonntag „auf und bei der Wartburg, an diesem Orte großer Erinnerungen“, besonders gefeiert. Gemeinden, Seelsorger und höhere Stände sollten mit „neuen Vorsätzen“ und „lebendigem Glauben“ erfüllt und zum „Festhalten an der erkannten evangelischen Wahrheit“ ermutigt werden. Angeregt durch die Rückbesinnung des Landesherrn kam Johann Samuel Gottlob Schwabe (1746–1836) aus Niederroßla, seit 1786 Konrektor am Weimarer Wilhelm-Ernst-Gymnasium, auf die Idee, Denkmäler und Reliquien, die sich auf Martin Luther bezogen, zu erfassen und einen geschichtlichen Überblick zur Reformation zu geben. Es gelang ihm, die dem Großherzog Carl August gewidmete Publikation41 gerade noch rechtzeitig zu veröffentlichen. Er hatte die Arbeit aus Patriotismus unternommen und war um die „Vergegenwärtigung vergangener Zeiten“ bemüht. Martin Luther stellte er als ein „Muster der Frömmigkeit, des Fleißes und der Arbeitsamkeit“ dar. Das Bändchen enthält viele, bis dahin „wenig oder gar nicht bekannte Nachrichten und Tatsachen“ und erfüllte deshalb auch in vorbildlicher Weise seinen Zweck, „über die Reformationszeit ein helleres Licht verbreiten“. Übrigens hatte Carl August bereits im März 1817 eine Verordnung zur Verbesserung des Landschulwesens und der Schullehrerstellen erlassen.42 Die Lehrer sollten jährlich nicht unter 100 Taler bekommen, die aus den Gemeinde- und Kirchenärarien zu zahlen waren. Damit erfüllte er eine der bildungspolitischen Grundforderungen jener Zeit, nämlich das „Emporheben des Schullehrerstandes aus Armut und Verachtung“.

40 Vgl. Rudolf HERRMANN, Die Reformation in Kirche und Schule des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach (Die Reformation und ihre Wirkung in Ernestinischen Landen, 2), Leipzig 1917. 41 Johann Gottlob Samuel SCHWABE, Historische Nachricht von den zahlreichen im Großherzogthum Sachsen-Weimar befindlichen Monimenten (!) und Reliquien D. Martin Luther’s, Weimar: Hoffmann 1817 (dat.: Weimar, den 20. Aug. 1817). Vgl. hierzu: NationalZeitung der Deutschen, 10. St., 17. März 1817, Sp. 189 f. u. 256. St., 24. September 1817, Sp. 2885. 42 National-Zeitung der Deutschen, 12. St., 19. März 1817, Sp. 222.

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9. Neugründungen von Leseinstituten in Stadt und Land In den Städten wie auf dem Land lag die Volksaufklärung jener Jahre hauptsächlich in den Händen von Pfarrern und Gymnasiallehrern bzw. Schullehrern, denen engagierte „Volksbildungsfreunde“ zur Seite traten. Seit den 1830er Jahren standen in Thüringen die Dorf- und Gemeinde-Bibliotheken im Mittelpunkt des Interesses. Prinzipiell in Zielstellung und Literaturauswahl übereinstimmend‚ unterschieden sich doch die Leseinstitute untereinander ganz wesentlich in Organisationsform und Trägerschaft. Die bemerkenswerteste Gründung unter den volksaufklärerischen Bibliotheken war die Dorf- bzw. Gemeindebibliothek im sachsen-gothaischen Neukirchen bei Eisenach.43 Der dortige Pfarrsubstitut Heinrich Schwerdt (1810–1888) hatte sie 1838 mit 14 durch ihn gestifteten Büchern begonnen,44 1840 gab er ihr den Namen „Gutenbergs-Bibliothek“.45 Schwerdt, der die Gründungsphase sorgfältig dokumentiert hat, wurde später als Volksschriftsteller, Pädagoge und Politiker (Landtagsabgeordneter) bekannt. Die Dorfbibliothek wurde laufend ergänzt und von den Einwohnern fleißig benutzt, als Wanderbibliothek versorgte sie auch die umliegenden Ortschaften. 1853 wurde sie organisatorisch mit der Amtsbezirksbibliothek Nazza verbunden, später war sie Bestandteil des regionalen Volksbüchereinetzes. Die heutige Bibliothek im Pfarrhaus Neukirchen überliefert neben Bibeln, Gesangbüchern und Erbauungsschriften vorrangig Werke zu den Sachgebieten Geschichte, Pädagogik, Philosophie, Politik, Sprache und Literatur. Die Gemeindebibliothek Ichtershausen (Sachsen-Gotha) verdankte ihre Entstehung dem Fabeldichter und Superintendenten Wilhelm Hey (1789–1854), der sie 1840, einer Anregung in Preuskers Werbeschrift „Gutenberg und Franklin“ folgend, begründete. Auf das 400-jährige Gutenberg-Jubiläum berief sich auch Rektor Heinrich Gottlieb Göll (gest. 1879), der 1842 in Schleiz eine Volkslesebibliothek betreute, die für das gesamte Fürstentum Schleiz ä. L. zuständig war. In Pößneck46 (Fürstentum Saalfeld) wurde 1843 zur Errichtung einer bis dahin 43 Vgl. Neukirchen, Bibliothek im Pfarrhaus, in: HHB, Bd. 20, S. 270–274 (gemeinsam mit Antje VOGT); Felicitas MARWINSKI/Konrad MARWINSKI, Heinrich Schwerdt und die Volksbibliotheken im Herzogtum Sachsen-Gotha, in: Ulman WEIß (Hg.), Buchwesen im Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Helmut Claus zum 75. Geburtstag, Epfendorf/Neckar 2008, S. 431–457. 44 Titelliste in: ebd., S. 435 f. 45 Zur Namensgebung vgl. Karl PREUSKER, Gutenberg und Franklin, Leipzig: Weinedel 1840. Franklin hatte 1732 die erste öffentliche Volksbibliothek auf Subskriptionsbasis in Philadelphia eröffnet. 46 Aufruf an Volksfreunde, in: Neustädter Kreisbote, Nr. 6, 21. Januar 1843, S. 23 f. Initiator war Ludwig Franz von Breitenbauch im Namen des Direktoriums der von ihm 1824

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fehlenden Volksbibliothek aufgerufen mit der Absicht, um die Aufklärung zu fördern, „d. h. sie von Stufe zu Stufe und mit Vermeidung von Sprüngen zu heben und stets auf den Schultern der Moral weiter tragen zu lassen“. Die Bibliothek sollte für alle Volksklassen zugänglich sein, für Bürger- und Bauersleute, Handwerker, Tagelöhner und Dienstboten aus der Stadt und auf dem Land. Sie konnten an den Markttagen donnerstags und samstags ihre Lesebedürfnisse auf „dienliche, wohlfeile und bequeme Weise“ befriedigen. In Apfelstädt47 (SachsenGotha) begründete 1841 Pfarrer Friedrich Kuntz (1792–1864) zusätzlich zur älteren Kirchenbibliothek für die etwa 700 Einwohner des Dorfes eine LeseBibliothek, die 1887 auf 1560 Bände angewachsen war. Unabhängig von Schwerdt schuf Pfarrer Johann Christian Ferdinand Rasch (1802–1884) mit Sitz in Thal bei Gotha 1844 eine Amtsbezirks-Bibliothek, die für 11 Ortschaften zuständig war.48 Er wollte die „Leselust lenken und leiten“ und dadurch die Leser von den Leihbibliotheken fernhalten. Es entwickelte sich ein leistungsfähiges Bibliotheksnetz mit Unterbibliotheken (Ortsbibliotheken), das nach zehnjährigem Bestehen 42.000 Entleihungen aufzuweisen hatte. Mit Unterstützung der Großherzogin Maria Pawlowna wurde von 1830 an ein Netz von Frauenvereinen aufgebaut, die durch eine „wandernde Volksbibliothek“ untereinander verbunden waren und eine „Geist und Herz bildende Lektüre“ vermittelten. Im Winter lasen Pfarrer und Schullehrer in der Schulstube den Gemeindegliedern vor und erläuterten die Texte.49 Die Bücher wurden unter den Landbewohnern zur Benutzung so verteilt, dass sie partienweise zwischen den 14 Ephorien des „diesseitigen Landbereichs“ unter Aufsicht des Oberkonsistoriums zirkulierten.50

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begründeten Landwirtschaftlichen Gesellschaft zu Ranis. Auch abgedr. im Pößnecker Wochenblatt vom 4. Februar 1843, vgl. Hans Walter ENKELMANN, Aufruf zur Gründung einer Volks-Bibliothek aus dem Jahre 1843, in: Pößnecker Heimatblätter 15 (2009), Sonderheft, S. 26–28. Vgl. Apfelstädt, Kirchgemeinde-Bibliothek, in: HHB, Bd. 19, S. 91–94; Felicitas MARWINSKI, Volksbildung und Literaturvermittlung im Sachsen-Gothaischen. Aus der Bibliotheksgeschichte der Gemeinde Apfelstädt, in: Werner GREILING/Franziska SCHULZ (Hg.), Vom Autor zum Publikum. Kommunikation und Ideenzirkulation um 1800 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 49), Bremen 2010, S. 297–318. Felicitas MARWINSKI/Konrad MARWINSKI, Die Volksbibliothek zu Thal im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens (1844 bis 1853), in: Hanno SCHMITT/Holger BÖNING/Werner GREILING/Reinhart SIEGERT (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 58), Bremen 2011, S. 359–390. Karl Benjamin PREUSKER, Ueber öffentliche, Vereins- und Privat-Bibliotheken, H. 2, Leipzig: Hinrichs 1840, S. 94. C[=Karl] G[ünther] SCHMID [Blankenhain, im Weimarischen], Die Wanderbibliothek des Großherzogthums Sachsen-Weimar-Eisenach, Kr. Weimar und Neustadt, in: Allgemeiner

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Motiviert durch das Weimarer Beispiel rief Karl Günther Schmid, seit 1834 Archidiakonus in der zum Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach gehörigen Kleinstadt Blankenhain, eine Büchersammlung für „Jung und Alt“ ins Leben, die er aus eigenen Mitteln finanzierte, jedoch der Stadt als Eigentum zusicherte.51 Sie wurde durch den Leseverein für Blankenhain und Umgebung gefördert, dessen Vorsitz Schmid inne hatte, von dem auch die „Grundgesetze“52 stammten. Die Mitglieder, „Freunde des Guten und des Menschenglücks“, erledigten „aus Liebe zur Sache“ das Notwendige, im Alltag waren sie als Aktuar, Rendant, Schuhmachermeister, Kaufmann und Horndrehermeister tätig. Anfangs bestand die Bibliothek „fast nur aus Jugendschriften“, doch nahm sie an Bänden zu und wurde gegen eine geringe Lesegebühr „fortwährend von Angehörigen jedes Standes und Alters in der Stadt und auf dem Lande (in einem Umkreis von zwei Stunden) benutzt“. Die Wahl der Bücher stand jedem frei (§ 6 der Grundgesetze). Nach Schmids Aussage entwickelte sie sich zu einer „wahren Stadt-, Dorf-, Jugend- und -Wander-Bibliothek“.53 Schmid ging auch der Frage nach, welche Art von „geistiger Nahrung“ die Bibliotheken als Vermittler zwischen Autor und Lesepublikum für das Volk zu verbreiten hätten: „Alles liest“, führte er aus, „was am Meisten und am Liebsten? – Werke, die eine augenblickliche Unterhaltung gewähren; Zeitungen, Journale, Gedichte und besonders Romane sind die Schooßkinder des jetzt lebenden Geschlechts. Die niedern Stände begehren Ritter-, Kloster-, Geister-, Entführungs- und Verführungsgeschichten. Von Nord und Süd, von Ost und West“ werde diese Klage bestätigt.54 Man müsse statt der schlechten gute Schriften verbreiten, aber von welcher Beschaffenheit sollten diese sein? Und auf welchem Wege könnten sie Eingang in die Volksleseanstalten finden? Als erstes müssten die Schriften einfach nach Inhalt und Form sein. Eine gute Jugendschrift sei auch eine gute Volksschrift, das Nützliche müsse dem Angenehmen „beigemischt“ sein. Dann sollten sie praktisch sein, „also aus dem Leben genommen und auf’s Leben zielend“. Er habe in seinem Leseinstitut „genug ökonomische Schriften und sehe und erfahre, daß sie eben so gut, wie die übrigen gelesen werden“. Das entscheidende Merkmal für die Bücherauswahl war für ihn jedoch, dass die Schriften „von religiösem (also auch moralischem)

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Anzeiger und National-Zeitung der Deutschen, Nr. 221, 16. August 1842, Sp. 2889–2894; Nr. 222, 17. August 1842, Sp. 2905–2911 u. Nr. 224, 19. August 1842, Sp. 2940–2947. Hier und im Folgenden nach K[arl] G[ünther] SCHMID, Über Leseanstalten, als Beförderungsmittel des Volkswohles. Zugleich enthaltend eine Darstellung schon bestehender, derartiger Institute, und begründete Angabe der für sie geeignetsten Schriften, Jena: Frommann 1842. Ebd., S. 34–36 (§ 14). Ebd., S. 27. Ebd., S. 7 f.

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Geiste durchdrungen“ waren. Deshalb blieben vom Bestand „alle Werke rein theologischen, juristischen, philosophischen und politischen Inhalts ausgeschlossen“ (§ 1 der Grundgesetze). Schmid führt in seiner Titelliste55 beispielhaft 43 Werke auf, die diesen Voraussetzungen „nach beglaubigter und erfahrener Brauchbarkeit“ entsprachen und eigentlich in keiner Jugend- und Volksleseanstalt fehlen durften: -

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Biographien, z. B. das „Lutherbüchlein von Gustav Pfizer mit Kupfern“ (Luther’s Leben), die Selbstbiographie des Kolberger Patrioten Joachim Nettelbeck und „Benjamin Franklin’s Leben und Schriften“,56 bearbeitet von August Daniel von Binzer. Moralische Schriften, wie die „Beyspiele des Guten“ von Tobias Heinrich Lotter, mit der Vorrede von Johann Ludwig Ewald, und „Moral in Beispielen“ von Heinrich Balthasar Wagnitz. Geschichtliche Werke von Autoren wie Hermann Friedrich Theodor Kohlrausch („Die teutschen Freiheits-Kriege von 1813, 1814 und 1815“) und Wolfgang Menzel („Geschichte der Deutschen bis auf die neuesten Tage“) oder ein populäres „Historisches Bilderbuch, enthaltend Vaterlandsgeschichte“ von Friedrich August Zahn. Reisebeschreibungen, darunter die von Gottfried Wilhelm Becker bearbeiteten „Fahrten und Abenteuer des Kapitäns John Ross auf seinen Entdeckungsreisen nach den Gegenden des Nordpols“ oder Theodor Friedrich Maximilian Richters „Reisen zu Wasser und zu Lande“. Gewerbekunde, wie Emil Ferdinand Vogels „Geschichte der denkwürdigsten Erfindungen von der ältesten bis auf die neueste Zeit“ und die „Ausführliche Volks-Gewerbslehre“ von Johann Heinrich Moritz von Poppe. Schriften zur Bildung und Unterhaltung, von denen Erzählungen, Sagen und Märchen einen wesentlichen Anteil an der bereitgestellten Lektüre hatten.

Unter den Jugendschriftstellern schätzte der Archidiakon besonders den Augsburger Geistlichen und Schulbeamten Christoph von Schmid (1768–1854): „Diesen Erzähler hat noch keiner übertroffen. Seine Natürlichkeit, Gediegenheit in Inhalt und Form, Anspruchslosigkeit und Einfachheit“ seien einfach

55 Ebd., S. 15–21. Vgl. auch Kreisarchiv Apolda, 2444, Stadtrats-Akten betr. die Errichtung einer Bürger-Bibliothek durch Hrn. Archidiakonus Schmid hier, Blankenhain 1848: Erstes Verzeichnis der zur Büchersammlung der Bürger Blankenhains gehörigen Werke (Druck, kl.-8°, 4 Seiten, [1836]); [Katalog der] Bürgerbibliothek zu Blankenhain (handschriftl.), 263 Einträge, [1848]). 56 Die Autobiographie des „lebensweisen Buchdruckers, Schriftstellers und Mitbefreiers Nordamerika’s“ durfte nach Karl Preusker „auch in der kleinsten Bibliothek nicht fehlen“ (Bürgerhalle, H. 3, Meißen 1850, S. 67).

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unvergleichlich.57 Er war das Vorbild für Gustav Nieritz (1795–1876), der mit seinen Jugendschriften ebenfalls einen erzieherischen und bildenden Zweck verfolgte. Das „Buch der schönsten Geschichten und Sagen, für alt und jung wieder erzählt“ (Stuttgart: Liesching 1836–1837) von Gustav Schwab (Nr. 42) und Adolf Bubes meisterhafte „Deutsche Sagen und sagenhafte Anklänge“ (4. Aufl., Jena: Mauke 1842) fanden zahlreiche Leser. Von den in einem Lesezirkel vereinigten Zeitschriften wurden die gediegenen „Jugendblätter, Monatsschrift zur Förderung wahrer Bildung“ (Stuttgart: Steinkopf, ab Jg. 3, 1838), dringend zur Lektüre empfohlen. Schmid war der Überzeugung, „das durch den Gebrauch dieser Schriften für Bildung, namentlich Befestigung sittlicher Grundsätze in Stadt und Umgegend Manches geschehen“ sei, besonders für Kinder habe sich die Lesebibliothek als nützlich erwiesen.58 Es war sein innigster Wunsch, dass die Bürgerbibliothek immerfort unterhalten und nutzbringend sein möge. Als er 1848 zum Pfarrer nach Sprötau bei Sömmerda berufen wurde, gelang es ihm, den Blankenhainer Stadtrat dahingehend zu bewegen, das Leseinstitut als „Bürger-Bibliothek“ zu übernehmen.59 Die Bücher wurden aus dem Diakonat in die Wohnung von Rektor Gehring gebracht, der sie am 1. Januar 1850 wieder eröffnete.60

10. Ausklang Sowohl im Bibliotheks- als auch im Schul- und Bildungswesen Thüringens sind kulturgeschichtlich interessante Entwicklungslinien festzustellen, die sich mittelst der in den Bibliotheken aufbewahrten und bibliographisch erschlossenen Buchbestände bis in den „Zeitenumbruch“ der Reformation zurück verfolgen lassen, und der Zeitgeist wird lebendig, wenn man das Beispiel des angesehenen Saalfelder Bürgermeisters und Unternehmers Jacob Kelz (gest. 1555) als Beleg für Luthers unmittelbare Nachwirkung heranzieht. Zwar selbst des Lesens und Schreibens unkundig, ließ dieser am 15. Januar 1555 ein Testament 57 Ebd., S. 18. Schmid hatte die zerlesenen Exemplare mehrmals binden lassen müssen. 58 Kreisarchiv Apolda, 2444: Schreiben Schmids vom 30. Okt. 1848 an den Stadtrat von Blankenhain. 59 Nach einigem Zögern entschloss sich der Stadtrat am 18. Juli 1849 endgültig zur Übernahme. 60 Zur weiteren Entwicklung vgl. Sieglinde HÖRIG, Stadtbibliothek Blankenhain, Bildungseinrichtung für alle (1837 bis 1945), in: Wir in Blankenhain, Blankenhainer Jahrbücher (2010) S. 72–74, erg. S. 75 f. durch Annette BEYER für die Jahre 1945 bis 2008. Die nach SCHMID (Leseanstalten [wie Anm. 51], S. 26) bereits 1835 gegründete Bürgerbibliothek dürfte weiterhin bestanden haben, da 1879 der Gemeinderat beschloss, „die bestehende Volksbibliothek an die Schule abzugeben“.

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aufsetzen, in dem unter anderem 500 Gulden zur Aufbesserung der Kirchenund Schuldienerbesoldung und 200 weitere zum Bücherkauf für arme Schüler, die studieren wollten, ausgesetzt waren, auch an einen Schulfonds war gedacht.61 Die Nutzung der großzügigen „Lieberey-Stifftvng“ ist in den Akten mit Zeiten der Unterbrechung bis 1835 nachweisbar. Bis heute haben sich Bücher aus der Frühzeit der Saalfelder Gymnasialbibliothek erhalten, die das Stadtmuseum im ehemaligen Franziskanerkloster aufbewahrt. Schriftsteller, Verlagswesen und Buchhandel förderten das Streben nach Information und Aufklärung, die als herrschende Geistesrichtung nicht zuletzt den Wunsch nach Verbesserungen im Schul- und Erziehungswesen weckte. Pädagogen wurden zum Handeln motiviert und durch einsichtige Regenten unterstützt.62 Erinnert sei an Wolfgang Ratke (1571–1635) und den Hofprediger Johannes Kromeyer (1576–1642) in Weimar, an den Rektor und Schulbuchautor Andreas Reyher (1601–1673) in Gotha, die Professoren Erhard Weigel (1625–1699; „Tugendschule“) und Joachim Georg Darjes (1715–1791; „Rosenschule“) in Jena und an die Begründer bürgerlicher Erziehungsanstalten Christian Gottlieb Salzmann in Schnepfenthal und Friedrich Fröbel (1782– 1852) in Keilhau. Es war vor allem die Generation der 1770er Jahre, die sich richtungsweisend im Bildungswesen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts artikulierte und öffentlich zugängliche Leseinstitute forderte. Die im Ergebnis zu beobachtende Vielfalt wurde im Revolutionsjahr 1848/49 im Rahmen der „Volksbildungsfrage“ kanalisiert, indem seitens der Verantwortlichen neue Strukturen entwickelt wurden. Die Gründung von Volksbibliotheken und ihre Unterstützung aus Staatsmitteln wurde – ähnlich wie Luther es gesehen hatte – als eine der „Hauptforderungen der Jetztzeit“ anerkannt und damit ein neues Kapitel in der Bibliotheksgeschichte aufgeschlagen.

61 Felicitas MARWINSKI, Bücherschätze im Saalfelder Stadtmuseum, in: Saalfelder Weihnachtsbüchlein 96 (1999), S. 12–21, hier S. 15 f.; vgl. auch: Saalfeld 2, Bibliothek im Thüringer Heimatmuseum, in: HHB, Bd. 21, S. 17–22. 62 Georg WITZMANN, Die Reformation und ihre Wirkungen […] in der Volksschule des Herzogtums Gotha, in: Gustav SCHOLZ (Hg.), Die Reformation und ihre Wirkung in den Ernestinischen Landen, Bd. 1: Die Reformation und ihre Wirkungen in der Landeskirche des Herzogtums Gotha, Leipzig 1917, S. 73–104, hier S. 98.

K L A U S -D I E T E R H E R B S T DIE REZEPTION DER REFORMATION

Die Rezeption der Reformation und eine neue Biographie Martin Luthers in den Schreibkalendern des 17. und 18. Jahrhunderts Bereits im Jahr 2007 äußerte sich Matthias Pohlig über Luther bzw. die Reformation und ihre Rezeption in Kalendern. Er analysierte dazu die Heiligen- oder Kirchenkalender sowie die universalhistorischen Geschichtskalender des 16. Jahrhunderts, weil diese „einen privilegierten Zugang zu einem unterhalb der gelehrten Universal- und Kirchengeschichte liegenden, ‚populäreren‘ Geschichtsbewußtsein gestatten“.1 Die von Pohlig herangezogenen Kalender sind grundlegend zu unterscheiden von den Jahreskalendern, die jedes Jahr im Herbst mit Gültigkeit für das Folgejahr erschienen und, wenn sie in Buchform gedruckt und gebunden wurden, stets als „Schreibkalender“ betitelt wurden. Auf diese Jahres- bzw. Schreibkalender mit ihren ersten Teilen, den Kalendarien, und den zweiten Teilen, den Prognostiken, beziehen sich die folgenden Ausführungen, die das Medienspektrum für die Erinnerungskultur um ein Detail ergänzen. Quellenbasis dafür ist die 2006 wiederentdeckte Kalendersammlung des Stadtarchivs Altenburg mit rund 3.700 Jahreskalendern in Quart für die Jahre 1644 bis 1861.2 In dieser Sammlung befindet sich auch das älteste überlieferte Exemplar eines Luther-Kalenders (für 1697), d. h. eines Schreibkalenders mit einer Biographie über Martin Luther. Bevor darauf eingegangen wird, soll mit knappen Bemerkungen über die Kalender allgemein und ihre Wirkung in der Frühaufklärung zum lutherischen Jahreskalender hingeführt werden.

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Matthias POHLIG, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617, Tübingen 2007, bes. S. 418–461 („VI. Lutherische Geschichtskalender zwischen Humanismus und Hagiographie“), hier S. 418. Vgl. Klaus-Dieter HERBST, Der Kalenderschatz im Stadtarchiv Altenburg, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 9 (2007), S. 211–239.

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KLAUS-DIETER HERBST

1. Der Schreibkalender im Kontext der Frühaufklärung Der hier betrachtete Kalendertyp ‚Schreibkalender‘ stellt die genuine Verbindung zwischen den am Himmel sichtbaren kosmischen Vorgängen (Astronomie) und der von Menschen erwarteten Zukunft, die in der Gegenwart gestaltet wird und nach Ablauf eines Kalenderjahres dann zur Geschichte mutiert, her. Die Verbindungsbrücke ist die Astrologie. Nach den handgeschriebenen Kalendern des Mittelalters folgten mit Beginn des Buchdrucks der großformatige Wandkalender als Einblattdruck und der kleine Bauernkalender als Blockbuch. Von besonderer Bedeutung für die Erforschung der geistigen Verfasstheit eines Volkes – und nicht nur der universitär gebildeten Gelehrten und der Führungseliten – erweist sich heute der sogenannte Schreibkalender, der in unterschiedlichen Formaten hergestellt wurde (von 4° bis 32°).3 Vor allem der seit ca. 1540 gedruckte Schreibkalender im Quartformat liefert den heutigen Forschern ein Quellenmaterial, das es ermöglicht, die Ausbreitung neuer Gedanken von den anfangs immer gelehrten Kalenderschreibern hinein in die breite Masse der Bevölkerung zu studieren, und das vom Ende des 16. bis ans Ende des 18. Jahrhunderts, besonders aber seit den 1660er Jahren, als sich erste Spuren der frühen Aufklärung in den Schreibkalendern niederschlugen.4 Durch diese massenhafte Verbreitung wurde die Möglichkeit, dass ein neuer Gedanke bei einem Menschen auf einen fruchtbaren Boden fiel und dieser Mensch sich zur Generierung eines weiteren neuen Gedankens aufschwang, um ein Vielfaches erhöht. Seit den 1660er Jahren tauchten in den Schreibkalendern zum Beispiel folgende neue Gedanken auf: • Es sei besser sich selbst zu informieren und danach selbst zu urteilen, als dem astrologischen Prognostikum zu glauben. • Es sei besser vernünftig zu erwägen, anstatt blind alten Autoritäten zu folgen. • Man soll eigene Erfahrungen durch Beobachten sammeln. • Man soll ohne Vorurteil eine Sache beurteilen. • Wunder in der Natur können auf natürliche Weise erklärt werden. • Texte in der Muttersprache helfen, Ängste bei Naturvorgängen abzubauen. 3

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Zum Forschungsstand siehe jetzt Klaus-Dieter HERBST, Von Astronomie bis Volksaufklärung. Neue Forschungen und Perspektiven, in: DERS. (Hg.), Astronomie – Literatur – Volksaufklärung. Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 67; Acta Calendariographica – Forschungsberichte, 5), Bremen/Jena 2012, S. 15–44. Vgl. Klaus-Dieter HERBST, Die Schreibkalender im Kontext der Frühaufklärung (Acta Calendariographica – Forschungsberichte, 2), Jena 2010.

DIE REZEPTION DER REFORMATION

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• Jeder Mensch habe das Recht, seine Meinung frei zu äußern. • Der Gewissenszwang ist eine Last und sollte überwunden werden. • Die Geschichte bezeugt, dass der Mensch die Zukunft gestalten könne. Dazu seien drei Beispiele skizziert. Darauf, dass es klüger sei, sich über die politische Entwicklung, also über das, was die Menschen hinsichtlich Krieg und Frieden künftig erwarten könnten, selbst zu informieren und selbst zu urteilen als in die Kalenderprognostik mit dem entsprechenden Kapitel „Von Krieg und Frieden“ zu schauen, verwies der Astronom Gottfried Kirch (1639–1710). In seinem Christen-, Juden- und Türken-Kalender für 1671 leitete er die ihm lästigen – aber vom Verleger aus verkaufsstrategischem Grund geforderten – Mutmaßungen zu Krieg und Frieden mit folgenden Worten ein: Wer gerne wissen wil ob Krieg zubefürchten/ oder Friede zuhoffen/ der mag sehen ob er der hohen Häupter Gedancken könne erfahren/ oder so ihm dieses nicht müglich/ mag er sich erkundigen was in der Welt hin und wider geschicht/ und vernünfftig erwegen/ was auf eine und andere Begebenheit erfolgen möchte. Aus dem Gestirn kans kein Kalendermacher ersehen/ er mag sich auch so klugschätzen als er wil […].5

Es ist nicht schwer, diesen 1671 öffentlich und in einem Massenmedium ausgesprochenen Zusammenhang zwischen dem ersten Schritt, „sich [zu] erkundigen“, d. h. auch in Zeitungen zu lesen – wozu Kirch in einem anderen Kalender direkt aufforderte –, und dem daran anschließenden Schritt, die politische Entwicklung selbst „vernünfftig [zu] erwegen“, auch als Indiz für das Erwachen einer räsonierenden Öffentlichkeit zu werten. Die nur drei Jahre später durch den Nürnberger Verleger Wolf Eberhard Felsecker (1626–1680) publizierte erste politische Zeitschrift trug dieser Entwicklung Rechnung.6 In einem Kalender für 1698 lieferte Kirch, der auch die Kalenderreihen des Pfarrers Christoph Richter (1618–1680) nach dessen Tod unter dessen Namen fortführte, ein anderes Beispiel für einen neuen, frühaufklärerischen Gedanken. Wiederum in dem Kapitel, in dem es um Krieg und Frieden des künftigen Jahres geht, brachte der Pietist Kirch seine Sehnsucht nach Frieden und „Liebe in 5

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Gottfried KIRCH, Alt und Neu Zeitzisches JahrBuch [zweites Titelblatt: Alt und Neu Jahr=Buch; das ist der später so benannte Christen-, Juden und Türken-Kalender], Jg. 1671, Zeitz: Druck Marcus Hasse, Verlag Johann Schumann, zweiter Teil, S. C1a. Dieser Schreibkalender ist jetzt als Reprint verfügbar in der Reihe „Acta Calendariographica – Kalenderreihen“ (Bd. 1.5, Jena 2014). Vgl. Klaus-Dieter HERBST, Das Pressemedium Zeitung in den großen Schreibkalendern, in: Volker BAUER/Holger BÖNING (Hg.), Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 54), Bremen 2011, S. 87–114. Vgl. Johannes WEBER, Götter-Both Mercurius. Die Urgeschichte der politischen Zeitschrift in Deutschland, Bremen 1994.

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KLAUS-DIETER HERBST

aller Menschen Hertzen“ zum Ausdruck. Keiner solle den anderen anfeinden und verfolgen, „daß so wohl weltlicher/ als auch geistlicher Friede seyn möge!“ In diesem Zusammenhang klagte er schließlich: O welch eine Last ist hergegen auch der Gewissens=Zwang/da eines über des Andern Gewissen herrschen will/ daß er gläuben soll/ so oder so/ wie es dieser haben will nach seinem Kopffe/ da doch jener ein anders in seinem Hertzen aus Gottes Wort überzeuget ist/ welches viele gepreste Hertzen erfahren müssen.7

Unzweifelhaft brach sich auch hier, in einem Schreibkalender, der Toleranzgedanke hinsichtlich der Freiheit des Gewissens eine Bahn in das Denken der Menschen. Ein weiterer neuer Gedanke war, dass man durch einen Blick in die Geschichte erkennen könne, dass die Zustände im Kleinen wie im Großen nicht von den astralen Influenzen beinflusst, sondern ganz allein von Menschen verursacht und entsprechend auch von Menschen verändert werden können. Dabei änderte der Blick in die Geschichte seine Bedeutung: er war nicht mehr die gesuchte Bestätigung der von Gott vorgegebenen unabänderlichen Ordnung in der Welt, sondern er war jetzt der motivierende Verweis auf die Möglichkeit des aktiven Gestaltens der Zukunft in der Gegenwart.8 Diese Änderung des Blicks in die Geschichte erfolgte seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Als ein Beispiel sei ein Kalender für 1666 herangezogen, in dem geklagt wurde, dass „offtermalen umb einer geringen nichtswerthen Ursach willen ein grosser Krieg entstehen könne/ den hernach viel tausend Menschen mit der Haut bezahlen müssen“.9 Als Beleg wurde von dem Kalenderautor neben anderen Beispielen „unser teutscher Krieg[,] der über die 30. Jahr gewähret“, angeführt, denn es „hätte dieser Hader zwischen der Obrigkeit und Unterthanen/ viel auff ein andere Weise können also bald vertragen werden/ und demnach nicht von nöhten gehabt/ daß es allererst über 30. Jahr hernach mit grossen Hertzenleid hat geschehen müssen“.10 Der Dreißigjährige Krieg wurde hier – rund zwanzig Jahre nach dessen Ende – nicht als unumgängliche Strafe Gottes interpretiert, sondern als ein von Menschen verursachtes Unheil, das auch hätte vermieden werden können, wenn die dafür verantwortlich gewesenen Herrscher und Beteiligten anders gehandelt hätten. 7

Christoph RICHTER [der Verfasser war aber Gottfried KIRCH], Jahres=Zeiger/ Oder Alter und Neuer Schreib=Calender, Jg. 1698, Leipzig: Druck und Verlag Johann Köhler, zweiter Teil, S. B2a. 8 Achim LANDWEHR, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2014, S. 314 u. 331. 9 Martin HORKY, Alter vnd Newer Schreib=Calender, Jg. 1666, Nürnberg: Druck und Verlag Christoph Endter, zweiter Teil, S. C2a. 10 Ebd., S. C2b.

DIE REZEPTION DER REFORMATION

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2. Die Reformation als erinnerungswürdiges Ereignis in den Schreibkalendern des 17. Jahrhunderts Neben den historischen Rückblenden auf militärische Auseinandersetzungen findet man in den großen Schreibkalendern seit dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts auch die Würdigung von in die Geschichte eingegangenen Einzelpersonen, vor allem von Kaisern, Königen und Fürsten, aber auch von Gelehrten wie z. B. Astronomen. Nach und nach geriet ebenfalls die Reformation als ein erinnerungswürdiges historisches Ereignis in das Blickfeld der Kalenderautoren. Sie begannen, das Jahr 1517 bzw. das erste lutherische Jubel-Jahr 161711 in die jedem Schreibkalender beigegebene Übersicht zu den wichtigen Ereignissen seit der Erschaffung der Welt aufzunehmen. Einen Eintrag dieser Art enthält z. B. der Schreibkalender für 1647 von Philomusus Adelsheim, das ist ein Anagramm des thüringischen Pfarrers Abraham Seidel (1600–1664). Nach Seidel war das Jahr 1647 „Von Anfang Lutheri Lehr [das] 130. [Jahr]“.12 Als Beispiel mit dem Hinweis auf das erste Jubel-Jahr 1617 sei auf den Leipziger Schreibkalender von Johann Philipp Hahn (ca. 1638–?), Jurist und Astronom in Dresden, verwiesen. Im Kalender für 1674 waren „Vom Ersten Lutherischen JubelJahr 57“ Jahre vergangen.13 Auch an anderen Stellen in einem Jahreskalender wurde an Martin Luther und die Reformation erinnert, so bei den in das Kalendarium seit 1560 eingeschobenen Historien. Rudolph Buchbach (?–1647), Arzt und Astronom in Dresden, notierte 1644 in seinem „SchreibCalender […] auff jeden Tag“ am 31. Oktober: „Das erste Jubelfest die Evangelischen drey Tage aneinander hochfeyerlich begangen/ 1617“,14 und am 10. November heißt es: „Herr Dr. Martin Luther Gottes auserwehlter Rüstzeug zu Eißleben gebohren/ 1483. Eberus. Darvon dieser Tag den Nahmen“.15

11 Vgl. Dorothea WENDEBOURG, Vergangene Reformationsjubiläen. Ein Rückblick im Vorfeld von 2017, in: Heinz SCHILLING (Hg.), Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme (Schriften des Historischen Kollegs – Kolloquien, 92), Berlin/München/Boston 2014, S. 261–281. 12 Philomusus ADELSHEIM [d. i. Abraham SEIDEL], Alt= vnd Newer SchreibCalender, Jg. 1647, Arnstadt: Druck [Peter Schmidt], Erfurt: Verlag Johann Birckner, Kalendarium, S. A2a. 13 Johann Philipp HAHN, Alter und Neuer Leipziger Schreibe= Lehr= und Historien= Calender, Jg. 1674, Leipzig: Verlag Christoph Klinger, Kalendarium, S. A2a. 14 Rudolph BUCHBACH, Alter vnd Newer Schreib Calender/ Darinnen auff jeden Tag eine beschehene denckwürdige Historia, Jg. 1644, Leipzig: Druck und Verlag Friedrich Lanckischs Erben, Kalendarium, S. F1a. 15 Ebd., S. G1a. Buchbach nannte hier seine Quelle, das „Calendarium Historicum“ von Paul Eber.

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KLAUS-DIETER HERBST

Abb. 1: Titelseite des „Geistlich. Lehr= Stands= Kalender[s]“ für 1697 von David Brehme mit einem Porträt Martin Luthers

Am Ende des 17. Jahrhunderts erschien in Zwickau eine Kalenderreihe, die erstmals den durch eine Textspalte gegebenen Raum für eine historische Abhandlung über die Anfänge der Reformation nutzte (Abb. 1).16 Überliefert sind 16 David BREHME, Geistlich. Lehr= Stands= Kalender, Jg. 1697, Zwickau: Druck und Verlag Christian Bittorf.

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zwei Exemplare für 1697.17 Diese Kalenderreihe stand unter dem Schutz eines kurfürstlich-sächsischen Privilegiums und muss zwei, drei oder sogar vier Jahre vorher eingesetzt haben. Verfasst wurde sie von dem Magister David Brehme („SS. Theol. Studios.“), vermutlich der Pfarrer David Brehme (1630–1703) in Obergebra, einem Dorf unweit von Bleicherode in Nordthüringen.18 Das Titelkupfer mit dem Porträt Martin Luthers zeigt die Schwerter Kursachsens auf dem Außendeckel eines vor Luther liegenden Buches. Dieses auch später beibehaltene Detail ist bemerkenswert, denn im Gültigkeitsjahr des Kalenders für 1697 wechselte der sächsische Kurfürst Friedrich August I. (1670–1733) zum katholischen Glauben, um sich als August II. zum König von Polen wählen zu lassen. Dennoch ließ er das Privilegium für einen Kalender, der Luther würdigte und das Werk der Reformation darstellte, unangetastet. In dem überlieferten Jahrgang wird zunächst Bezug genommen auf den vorherigen Jahrgang, in dem die Lebensbeschreibung bis zur Entführung Luthers auf die Wartburg bei Eisenach gelangte. Im Kalender für 1697 folgt dann die Beschreibung von Luthers Aktivitäten auf der Wartburg (Schreiben von Briefen, Lesen in der hebräischen und griechischen Bibel, Verfassen von Schriften) und dessen Ankunft in Wittenberg, um dem Treiben von Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, Einhalt zu gebieten. Hier findet man die einzige Stelle mit einem Hinweis auf eine verwendete Quelle: „wie die nachdencklichen Worte bey dem Chytraeo in der Sachsen Chronica im I. Theil fol. 364. & 365. ferner lauten“.19 Demnach hatte Luther in Wittenberg gepredigt, daß man die reformation nicht auff solche Arth und Weise [wie Karlstadt – K.-D.H.] anfangen müsse/ sondern man müste sich vielmehr bemühen/ daß man die Bilder erstlich aus den Gemüthern der Zuhörer brächte/ wenn das geschehen wäre/ würden sie nicht mehr Schaden oder Aergernüß geben.20

Der Text im Kalender für 1697 fährt fort mit der Erzählung über den von den Kurfürsten 1522 in Nürnberg ohne den Kaiser abgehaltenen Reichstag, auf dem die Kurfürsten „100. Gravamina wieder den Römischen Hoff“ formulierten,21 17 Im Stadtarchiv Altenburg und im Archiv der evang.-lutherischen Kirche in Schmölln. Vgl. Klaus-Dieter HERBST, Verzeichnis der Schreibkalender des 17. Jahrhunderts (Acta Calendariographica – Forschungsberichte, 1), Jena 2008, S. 73. Das Altenburger Exemplar ist online verfügbar unter der URL: http://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_ jpjournal_00000213 (letzter Zugriff: 27.10.2015). 18 Artikel „Brehme, David“ in: Klaus-Dieter HERBST, Biobibliographisches Handbuch der Kalendermacher von 1550 bis 1750 [bis März 2017 laufendes DFG-Projekt]. In der Online-Datenbank einsehbar unter der URL: http://www.presseforschung.uni-bremen.de/ dokuwiki/doku.php?id=brehme_david (letzter Zugriff: 27.10.2015). 19 BREHME, Kalender (wie Anm. 16), Kalendarium, S. C3a. 20 Ebd., S. C4a. 21 Ebd., S. D1a.

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KLAUS-DIETER HERBST

worauf der Papst zu allmählich vorzunehmenden Veränderungen bereit gewesen sein soll, was wiederum die Kardinäle erzürnte. Ein weiteres Schreiben, in dem die Kurfürsten den Papst aufforderten, er solle in Deutschland ein „Concilium“ einrichten, um friedlich die Religionsstreitigkeiten beizulegen,22 führte wiederum zu Protesten von Papst und Kaiser. Die Lebensbeschreibung im Kalender für 1697 endet schließlich mit der Feststellung, Luther beförderte den Lauff des Evangelii zu Wittenberg mit vielen schönen Büchern/ mit Zwinglio und Carlstadio; hingegen hinderte der Teuffel dasselbe gar sehr/ durch die auffrührerischen Bauern und die Münsterischen Wiedertäuffer/ welche verursachten/ daß viel Hertzen an Evangelio geärgert/ und unsere Lehre verlästert wurde/ als welche Ursache zu solchen Zerrüttungen gegeben.23

3. Die Reihe des Luther-Kalenders ab 1725 und ihre Quellen der Luther-Biographie Überliefert sind für die Jahre ab 1725 einige Kalender24 mit gleicher Thematik und gleichem Titelbild wie beim Luther-Kalender für 1697, aber ohne Angabe eines Verfassers. Druck und Verlag waren vom Vater Christian Bittorf (gest. 1720) auf den Sohn Christian Benjamin Bittorf (gest. nach 1740) übergegangen, jedoch mit den neuen Verlagsorten Leipzig und Pegau. Auf dem Titelblatt wird jetzt angekündigt (1697 noch nicht), dass über die kalendarischen Belange hinausgehend „Leben und Geschichte des seel. Hrn. D. Lutheri, sammt den Erfolg des heilsamen Werckes der Reformation vorgetragen wird“ (Abb. 2).25 22 Ebd., S. D3a. 23 Ebd., S. D4a. 24 Im Stadtarchiv Altenburg die Jahrgänge 1725, 1727, 1729, 1732, 1739, 1745, 1748, 1755, 1756, 1758, 1769, 1779, 1781, 1799; andernorts wurden bisher nur die Jahrgänge 1729 in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden (Biogr. erud. D. 1614,051) und 1736, 1771, 1779, 1781 in der Universitätsbibliothek Leipzig (Hist. H. W. 162 und 164-K) ermittelt. 25 [ANONYM], Historischer Geschichts=Calender, Jg. 1725, Leipzig/Pegau: Druck und Verlag Christian Benjamin Bittorf, Titelseite. Vgl. Klaus-Dieter HERBST, Kommentiertes Verzeichnis der Schreibkalender für 1701 bis 1750 im Stadtarchiv Altenburg (Acta Calendariographica – Forschungsberichte, 3), Jena 2011, S. 70 u. 155. Die Titelgebung wechselte noch dreimal geringfügig, mindestens ab 1732 in „Verbesserter Geschichts=Calender, […] In welchem das Leben und Geschichte des sel. Herrn D. Lutheri, samt den Erfolg des heilsamen Werckes der Reformation vorgetragen wird“, mindestens ab 1755 in „D. Martin Luthers Historischer Geschichts=Calender“ und spätestens 1799 in „Historischer Calender, […] enthaltend die merkwürdigsten Lebensumstände des großen Reformators D. Martin Luthers“.

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Spätestens mit dem Jahrgang 1729 (vielleicht schon 1728) wechselte diese Reihe in den Verlag von Johann David Friderici (gest. 1729) bzw. dessen Erben in Leipzig und Zwickau (zweifelsfrei bis 1736). Vermutlich ab Jahrgang 1737 (zweifelsfrei ab 1739) erschien sie in Leipzig und Zwickau bei Johann Friedrich Höfer (gest. 1767) bzw. dessen Erben, erst die Witwe und ab Jahrgang 1776 (bis 1800) der Sohn Friedrich Gottlob Höfer, der nur noch Zwickau als Druck- und Verlagsort angab.

Abb. 2: „Historischer Geschichts=Calender“ für 1725, Titelseite mit einem Porträt Martin Luthers

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Die jetzt anonym erschienene Kalenderreihe lief mindestens bis 1800. Die überlieferten Exemplare lassen erkennen, dass nach einigen Jahren das Thema „Luther und der Anfang der Reformation“ wieder von vorn behandelt wurde, ohne dass es anfangs zu vollkommen wortgleichen Wiederholungen kam. Der erste Zyklus umfasst die Jahrgänge von 1725 (Luthers Geburt) bis 1733 (Luthers Tod). Ab 1734 begann die Lebensbeschreibung Luthers wieder von vorn, wobei der Text aus dem Kalender für 1725 nicht einfach übernommen wurde. Luthers Biographie wurde jetzt gerafft, denn der Text im Kalender für 1725 endet mit Luthers Reise nach Rom (1510), aber der ebenfalls mit Luthers Geburt beginnende Text im Kalender für 1734 endet sieben Jahre später mit Luthers Thesenanschlag in Wittenberg. Spätestens ab dem überlieferten Exemplar für 1739 wurde eine deutlich größere Type gewählt, was noch einmal mit einer Reduzierung der vermittelten Details aus Luthers Leben einherging (in den Exemplaren zum Ende des 18. Jahrhunderts hin wurde die Type wieder verkleinert). Parallelen in den behandelten Zeiträumen gibt es bei den überlieferten Kalendern für 1725/1734/1748 (jeweils Beginn mit Luthers Geburt, Reichweite aber unterschiedlich bis 1510 bzw. 1517) und 1729/1745/1755+1756 (Zeitraum von 1518 bis 1522). Der Kalender für 1732 behandelt (wie der für 1697 und 1769) die Ereignisse von 1522 (Luthers Einschreiten gegen Karlstadt) bis 1525 (Schriften gegen die Bauern). Der späte Jahrgang 1779 beschreibt die Jahre 1523 (die ersten Prediger verheiraten sich) bis 1527 (Krankheit Luthers). Im Jahrgang 1758 folgen die Jahre 1525 (Schriften wider Karlstadt, von den Bildern, der Messe und dem heiligen Abendmahl) bis 1527 (Luthers Krankheit). Biographisch am weitesten reichen der Kalender für 1739, der die Jahre von 1529 (Reichstag in Speyer) bis 1536 (Beschluss der „Formula Concordiä, vom heiligen Abendmahl“) umfasst, und der Kalender für 1781 mit dem Zeitraum von 1531 (Tod von Luthers Mutter) bis 1544 (Luthers Glaubensbekenntnis vom Abendmahl). In dem vermutlich letzten überlieferten Jahrgang 1799 wird Luthers Leben in den Jahren 1524 bis 1529 (Reichstag in Speyer) beschrieben. Am Schluss wird des Reformators große Bescheidenheit hervorgehoben. Offenbar folgte 1800 noch ein Jahrgang, denn im Kalender für 1799 heißt es am Ende „(Wird fortgesetzt.)“. Kein Exemplar ist überliefert für den Schluss der Biographie, der z. B. in dem Kalender für 1733 enthalten gewesen sein muss. Nicht klar ist, ob zwischen der ersten Abfolge von Kalendern mit der LutherBiographie (mit dem einzigen überlieferten Jahrgang 1697) und der 1725 wieder einsetzenden Abfolge noch weitere Kalender mit einer Luther-Biographie erschienen sind.

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Abb. 3: „Historischer Calender“ für 1799, Titelseite mit einem sehr verkleinerten Bildnis Luthers

In den ersten Jahrgängen deutet der Text mit den präzisen Quellenangaben darauf hin, dass der unbekannte Verfasser wiederum – wie zuvor David Brehme – ein Studierter gewesen sein muss. Auch dieses Beispiel der Lebensbeschreibung Luthers passt in die Vorstellung, nach der gebildete Kalenderautoren mittels ihrer Jahreskalender mit den Text- und Bildbeigaben dazu beigetragen haben, Wissen an die Kalendernutzer zu vermitteln, in diesem Fall historisches Wissen.

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Vor allem im 17. Jahrhundert, aber auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts war mit den gegebenen Quellenverweisen das Anliegen der Kalenderautoren verbunden, zu dokumentieren, dass sie den Kalender mit dem Anspruch auf Wahrheit verfasst haben. Und dass die Quellenangaben fast immer auch ausreichen, um die entsprechenden Stellen wiederzufinden, kann exemplarisch anhand der Luther-Kalender bestätigt werden (siehe die nachfolgende Tabelle). Der Verfasser des Kalendertextes in den hier zu behandelnden LutherKalendern blieb in der Regel dicht an dem Text der von ihm angegebenen Quelle. Zur Demonstration dessen sei die Passage angeführt, in der beschrieben wird, dass Herzog Georg zu Sachsen ein Kolloquium mit Luther in Leipzig wider Johann Tetzel durchführen wollte und Tetzel daraufhin ausgerufen haben soll: „Hoc faxit diabolus! Das walte oder hohle der Teufel! vid. Luth. lib. I. Ep. 104.“26 Diesen im Kalender wiedergegebenen Ausruf findet man am genannten Ort in Luthers Brief an Johannes Lang vom 13. April 1519. Luther schrieb: „Fertur Tetzellum: cum audisset processuram disputationem dixisse: Das walt der Teufel!“27 An anderen Stellen zitierte der Autor ebenfalls aus Luthers Briefen, ohne dass er die genaue Seite oder Briefnummer hinzufügte. Zum Beispiel wurden im Kalender für 1729 nacheinander Briefe aus dem Jahr 1521 an Georg Spalatin, Lucas Cranach, Nicolaus von Amsdorff, erneut Spalatin, Philipp Melanchthon und Nicolaus Gerbel herangezogen.28 Bemerkenswert ist ferner, dass der Verfasser mitunter zwei Quellen parallel zitierte, z. B. im Zusammenhang mit der Entführung Luthers auf die Wartburg. Nach deren Schilderung folgt die Ergänzung: „Es meldet Cyriacus Spangenberg, dass sonst etliche auf ihn abgerichtet gewesen, ihm auf der Heimreise bey Halle, oder sonst unterwegens aufzuheben. Matthesius erzehlet dieses also: […].“29

26 [ANONYM], Historischer Geschichts=Calender, Jg. 1727, Leipzig/Pegau: Druck und Verlag Christian Benjamin Bittorf, Kalendarium, S. D3a. 27 Martin LUTHER, Epistolarvm Reverendi Patris Domini D. Martini Lutheri, Tomus primus, continens scripta viri Dei, ab anno millesimo quingentesimo septimo, vsque ad annum vicesimum secundum. A Iohanne Avrifabro, aulae Vinariensis concionatore collectus, Jena: Druck Christian Rhode 1556, fol. 161r–163v (Brief Nr. 104), Luther an Johannes Lang, Wittenberg „4. post Iudica“ [13. April] 1519, hier fol. 162v. Vgl. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel, Bd. 1, Weimar 1930, Nr. 167, S. 369, Z. 47 f. 28 [ANONYM], Historischer Geschichts=Calender, Jg. 1729, Leipzig/Zwickau: Druck und Verlag Johann David Friderici, Kalendarium, S. B3a (Spalatin), C3a (Cranach und von Amsdorff), C4a (Spalatin und Melanchthon), D1a und D2a (Gerbel). 29 [ANONYM], Historischer Geschichts=Calender, Jg. 1729, Leipzig/Zwickau: Druck und Verlag Johann David Friderici, Kalendarium, S. C2a.

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Tabelle: Nachweis der in den Kalendern explizit genannten Quellen für die Luther-Biographie Jahrgang

Quelle im Kalender

1697

„bey dem Chytraeo in der Sachsen Chronica im I. Theil fol. 364. & 365.“ (C3a)

1727

„Paulus Langius in Chron. Citio.“ (B2a)

1727

„v. Tob. Schmid. Chron. Zwicc. Anno 1656. edit. p. 300.“ (C3a)

1727

„beym Goldasio Tom. 2. Recess.“ (C3a)

1727

„v. Tom. V. Jenens. fol. qv.“ (D1a)

1727

„Vid. Molleri Chron. Freyberg. P. II. p. 153. 170.“ (D1a)

Quelle im Original mit Fundstelle im Text und Nachweis des benutzten Exemplars David Chytraeus: Newe Sachssen Chronica Vom Jahr Christi 1500. Biß auffs XCVII. Jahr […], Erster Theil, Leipzig 1597, hier S. 364 f. Ex. ThULB Jena, 2 Sax. II, 14. Pavli Langii […], Chronicon Citezense, […] in: Illvstrivm Vetervm Scriptorvm, Qvi Rervm A Germanis […], Bd. 1, Frankfurt/M. 1613, S. 755–907, hier S. 897. Ex. ThULB Jena, 2 Germ. III, 6:a. Tobias Schmidt: Chronica Cygnea, Oder Beschreibung Der […] Stadt Zwickau […], Zwickau 1656, hier S. 380 [sic]. Ex. ThULB Jena, 4 Sax. IV, 30:1. Melchior Goldast Haiminsfeld: Collectio Constitutionum Imperialium, […] Sacri Imperii GermanoRomani Recessus […], 3 Teile, Frankfurt/M. 1673, hier Teil 2, S. 119. Ex. ThULB Jena, 4 MS 1320. Martin Luther: Der Fünffte Teil aller Bücher vnd Schrifften des thewren, seligen Mans Doct. Mart. Lutheri […], Jena 1557. (Die Angabe im Kalender „fol. qv“ konnte nicht verifiziert werden.) Ex. ThULB Jena, 2 Op. theol. V, 10e:5. Andreas Möller: Theatrum Freibergense Chronicum, Beschreibung der […] BergHauptStadt Freyberg […], 2 Bde., Freiberg 1653, hier Bd. 2, S. 153, 170. Ex. ThULB Jena, 4 Sax. IV, 8.

KLAUS-DIETER HERBST

328 1727

„vid. Luth. lib. I. Ep. 104.“ (D3a)

1727

„Lutheri anhero, aus seinem im Jahr 1528. zu Wittenberg heraus gegebenen und gedruckten Bekänntnisse vom Abendmahl Christi“ (D3a)

1729

„1. Tom. seiner Episteln“ (B1a)

1729

„Matthesius erzehlet“ (B3a, C2a)

1729

„Es meldet Cyriacus Spangenberg“ (C2a)

1732

„Petrus Gnadalius in seiner Historia seditionis Rusticorum“ (D2a)

Martin Luther: Epistolarvm Reverendi Patris Domini D. Martini Lutheri, Tomus primus, […] A Iohanne Aurifabro […], Jena 1556, hier fol. 162r–163v. Ex. ThULB Jena, 4 Op. theol. V, 18a:1. Martin Luther: Vom abendmal Christi/ Bekendnis, Wittenberg 1528. (Der im Kalender zitierte Satz konnte in Luthers Schrift nicht gefunden werden.) Ex. ThULB Jena, 8 MS 24223(1). Martin Luther: Epistolarvm Reverendi Patris Domini D. Martini Lutheri, Tomus primus, […] A Iohanne Aurifabro […], Jena 1556, hier fol. 53r. Ex. ThULB Jena, 4 Op. theol. V, 18a:1. Johannes Mathesius: Historien/ Von des […] Doctoris Martini Luthers/ anfang/ lehr/ leben/ vnd sterben/ […], Nürnberg 1567 (1. Ausgabe 1566), hier fol. 24v, 29v. Ex. ThULB Jena, 8 MS 30980(1). Cyriacus Spangenberg: Theander Lutherus. Von […] Martin Luthers Geistlicher Haushaltung […]. Ein vnd Zwantzig Predigten, Ursel [1589], hier fol. 121v. Ex. HAB Wolfenbüttel, Alv: Dm 224. Petrus Gnodalius: Seditio Repentina Vvlgi, Praecipve Rvsticorvm, anno M. D. XXV. […], Basel 1570, hier S. 9–13. Ex. ThULB Jena, 8 Germ. III, 85.

DIE REZEPTION DER REFORMATION

329

4. Eine neue Luther-Biographie Die in den vergangenen Jahren intensivierte Forschung zu den Schreibkalendern in Quart förderte mehrere Beispiele zutage, in denen ein Kalendermacher für seine Textbeigaben einen eigenständigen Text verfasste, der bis dahin nirgendwo gedruckt war.30 Auch die hier vorgestellten Luther-Kalender gehören dazu, allerdings nur die Exemplare bis 1729. Eine Sichtung der vor dem Erscheinen dieser Luther-Kalender bereits vorgelegenen Luther-Biographien ergab keine Übereinstimmung, ein bloßes Abschreiben von einem bereits gedruckten Werk kann für die überlieferten Kalender der Jahre 1697, 1725, 1727 und 1729 ausgeschlossen werden. Für die Kalender danach ergab die Analyse ein differenziertes Bild.31 Im Kalender für 1732 erscheinen ganze Passagen, die fast wörtlich aus dem 1697 erstmals gedruckten „Curieuse[n] Geschichts=Calender“32 von Gottfried Hoffmann (ca. 1660–nach 1735)33 übernommen worden sind, ohne dass dieses gekennzeichnet wurde. Dieser Kalender ist kein Schreib- bzw. Jahreskalender, sondern ein Buch (in Oktav) mit kalendarisch notierter Chronik des 30 Das in der Literaturwissenschaft bekannteste Beispiel liefern der in Nürnberg gedruckte „Europäische Wundergeschichten Calender“ des Simplicius Simplicissimus (Jg. 1670) und der in Molsheim gedruckte „Schreib=Kalender“ des jungen ehelich geborenen Simplicissimus (Jg. 1675), deren Verfasser Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen war. Andere Texte mit gelehrtem Inhalt findet man in zahlreichen Kalendern, die z. B. im Kalenderportal der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena unter dem Schlagwort „Gelehrter Text“ aufgelistet sind, online unter der URL: http://zs.thulb.unijena.de/receive/jportal_jpjournal_00000213#keywordIndex (letzter Zugriff: 27.10.2015). 31 Wann genau der Übergang erfolgte, kann nicht entschieden werden, weil die Kalender für 1730 und 1731 nicht überliefert sind. 32 Gottfried HOFFMANN, Curieuser Geschichts=Calender/ Des Hocherleuchteten und von Gott zur Verbesserung der Christlichen Kirchen auserwehlten Mannes D. Martini Lutheri, Darinnen Sein geführtes Gottesfürchtiges Leben und seeliges Absterben/ wie auch seine um der Evangelischen Wahrheit willen erlittene viele Verfolgungen und andere sonderbahre Zufälle nebst verschiedenen zur Erläuterung Der Kirchen=Historie Des vorigen Jahr=Hunderts dienliche Merckwürdigkeiten enthalten/ und auf eine besondere neue Art vorgestellet worden, Leipzig: Druck und Verlag Friedrich Groschuff 1697. (Ex. ThULB Jena, 8 Hist. un. III, 30 [8].) 21697 („Zum andern mahl gedruckt/ und an vielen Orten vermehret und verbessert.“), 31698, 41700, 51717 („Bey dem zweyten Jubel-Jahr neu praesentiret“), 61718, 71733. 33 Dieser aus Hirschberg in Schlesien stammende Gottfried Hoffmann ist nicht zu verwechseln mit dem aus Plagwitz bei Löwenberg in Schlesien stammenden gleichnamigen Gottfried Hoffmann (1658–1712). Siehe den Artikel „Hoffmann, Gottfried“ in: KlausDieter HERBST, Biobibliographisches Handbuch der Kalendermacher von 1550 bis 1750 [bis März 2017 laufendes DFG-Projekt]. In der Online-Datenbank einsehbar unter der URL: http://www.presseforschung.uni-bremen.de/dokuwiki/doku.php?id=hoffmann_ gottfried (letzter Zugriff: 28.10.2015).

330

KLAUS-DIETER HERBST

Lebens von Luther. Allerdings enthält der Jahreskalender für 1732 nicht ausschließlich Textpassagen aus dem Hoffmann’schen Buch, sondern es wurden zusätzliche Texte aus anderen Quellen eingebaut, zum Beispiel nach den auf den Blättern für August und September 1732 geschilderten Einzelheiten über Luthers Frau Katharina von Bora und über Luthers Aktivitäten zu Beginn des Jahres 1525 mit Bezug auf den Aufstand der Bauern.34 Der Verfasser des Jahreskalenders flocht hier ein: „Damit aber der geneigte Leser wissen möchte, was es mit diesen Auffruhr, oder so genannten Bauern=Kriege vor eine Bewanntniß gehabt, so hat man vor nöthig geachtet demselben hievon bey dieser Gelegenheit eine umständliche Nachricht zu communiciren.“35 Anschließend berichtete er auf der genannten Quellenbasis (Petrus Gnodalius) über den Bauernkrieg. Einen solchen Quellenwechsel mit Nachweis gibt es in den späteren Luther-Kalendern nicht mehr. Stattdessen folgen die Texte vornehmlich in Auszügen der Hoffmann’schen Chronik. Die Folge ist, dass in späteren Jahrgängen36 wortgenaue Wiederholungen anzutreffen sind, z. B. in den Exemplaren für 1745, in dem die Lebensbeschreibung mit Luthers Ankunft in Worms endet („Solchem nach langete er, den 16. April des jetzt bemeldten 1521sten Jahres, zu Worms an“, Novemberblatt), und für 1756, in dem sie mit denselben Worten beginnt („Solchemnach langete er den 16. April des itzt bemeldten 1521sten Jahrs zu Worms an“, Januarblatt).37 Unstrittig ist, dass bei den Kalendern bis 1729 der jeweilige Kalendermacher (namentlich bekannt ist nur David Brehme, Verfasser des Kalenders für 1697) aus älteren Büchern, die bis in das 16. Jahrhundert zurückreichen, schöpfte und teilweise zitierte, wobei er manchmal die Quelle angab (vgl. oben die Tabelle). Es überrascht nicht, dass sich unter diesen älteren Quellen auch die erste vollständige Luther-Biographie, geschrieben von Luthers Zeitgenossen Johannes Mathesius und erstmals gedruckt 1566, befindet, denn dieser „begründete“ mit der Biographie „das populäre Lutherbild der evangelischen Kirche“ und „viele Generationen von Popularschriftstellern und Geistlichen“ gewannen daraus ihr Bild über Luther.38 34 HOFFMANN, Geschichts=Calender (wie Anm. 32), S. 53–55 (1697), in der Ausgabe von 1700 auf S. 56–58. 35 [ANONYM], Verbesserter Geschichts=Calender, Jg. 1732, Leipzig/Zwickau: Druck und Verlag Johann David Friderici Erben, Kalendarium, S. D1a. 36 Wann genau der Übergang erfolgte, kann nicht entschieden werden, weil die Kalender 1733 bis 1735 nicht überliefert sind. 37 Vgl. HOFFMANN, Geschichts=Calender (wie Anm. 32), S. 44 (1697) mit dem Datum 16. April 1621 und Luthers Ankunft in Worms. 38 Eike WOLGAST, Biographie als Autoritätsstiftung: Die ersten evangelischen Lutherbiographien, in: Walter BERSCHIN (Hg.), Biographie zwischen Renaissance und Barock, Heidelberg 1993, S. 41–72, hier S. 66. Vgl. Thomas BROCKMANN, Vorbild, Lehrer, Prophet

DIE REZEPTION DER REFORMATION

331

Nach der maßgebenden Arbeit von Mathesius aus dem Jahr 1566, der 1575 lateinisch und ein Jahr später deutsch gedruckten Luther-Biographie von Nicolaus Selnecker (1530–1592) sowie den 1589 gesammelt gedruckten LutherPredigten Cyriacus Spangenbergs (1528–1604) erschien bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nur ein grundlegend neues, großes und Quellen angebendes Werk mit Elementen einer Luther-Biographie,39 der von Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) verfasste und 1692 erstmals gedruckte „Commentarius Historicus Et Apologeticus De Lutheranismo“.40 Es kann nicht entschieden werden, ob David Brehme dieses Werk bereits kannte. Dessen einziger überlieferter Kalenderjahrgang 1697 gibt darauf keinen Hinweis. Wahrscheinlich kannte aber derjenige Kalenderautor, der die Kalender ab 1725 verfasste, diesen Kommentar, denn an einer Stelle des Kommentars werden gleich zwei Quellen genannt, die auch im Kalender für 1727 erwähnt werden. Seckendorff, der das Luthertum gegen den französischen Jesuiten Louis Maimbourg (1610–1686) verteidigte, schrieb in der „Additio I“ über Tetzel: […] memorabili exemplo ex Chronico Fribergensi D. Andr. Molleri probatur. Scribit enim part. II. p. 153. Anno 1507. die Jovis post Esto Mihi Joh. Tezelius Pirnensis Monachus Dominicarum & Doctor Theologiae, prima vice Fribergam venit, et intra biduum duo florenorum millia indulgentiarum causa in urbe lucratus est. Si verum esset, quod Augustiniani Dominicanis nundinationem hanc inviderint, jam decennio ante Lutheri disputationem ansam habuissent querelas suas instituendi. Ex eodem vero Molleri Chronico Part. II. p. 170. notandum est, Tezelium paulo post, quam Lutherus theses suas Wittenbergae publicasset, denuo Fribergam vernisse, sed non solum parum effecisse, sed & in discrimen venisse amittendae, quam corraserat, pecuniae, fossoribus metallicis vim ei intentantibus; itaque sine mora discessisse. Aliud ejus factum improbum & nequissimum narratur in Chronico Zviccaviensi M. Tob. Schmidii anno 1656. editio p. 380 cuius testem allegat Georg. Strigenitium in Jon. proph. f. 142. Tezelius cum Zviccaviae, […].41

der letzten Zeit. Luthermemoria und Lutherrezeption 1546–1617, in: Historisches Jahrbuch [der Görres-Gesellschaft] 129 (2009), S. 35–64, hier S. 36. 39 Vgl. die Übersicht zu den Luther-Biographien bei Ernst Walter ZEEDEN, Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit, 2 Bde., Freiburg 1952, hier Bd. 2, bes. S. 141–251. 40 Veit Ludwig VON SECKENDORF[F], Commentarius Historicus Et Apologeticus De Lutheranismo, Sive De Reformatione Religionis ductu D. Martini Lutheri in magna Germaniae parte aliisque regionibus, & speciatim in Saxonia recepta & stabilita: In Quo Ex Ludovoci Maimburgii Jesuitae Historia Lutheranismi Anno M DC LXXX Parisiis Gallice edita Libri Tres ab anno 1517. ad annum 1546. Latine versi exhibentur, corriguntur, et ex Manuscriptis aliisque rarioribus libris plurimis supplentur; Simul & aliorum quorundam Scriptorum errores aut calumniae examinantur. […], Frankfurt am Main/Leipzig: Druck und Verlag Johann Friedrich Gleditsch 1692. (Ex. ThULB Jena, 2 Bud. Hist. eccl. 85.) 41 Ebd., S. 25 [Kursivschreibung im Original].

332

KLAUS-DIETER HERBST

Im Kalender für 1727 werden ebenfalls die Freiberger Chronik von Andreas Möller (1598–1660) mit den Seitenzahlen 153 und 170 im zweiten Band sowie die Zwickauer Chronik von Tobias Schmidt (17. Jh.) mit der Seitenzahl 300, was offensichtlich ein Druckfehler ist und 380 lauten sollte, genannt. Offenbar orientierte sich der Kalenderautor an dem Seckendorff’schen Kommentar, ohne diesen jedoch wortgenau zu übersetzen, und verwendete stattdessen die Inhalte an verschiedenen Stellen seines eigenen Textes, so die erste Freiberger Begebenheit aus dem Jahr 1507 auf S. B4a im Kalender für 1727: Dieser geistliche Cramer [Tetzel] war in seinem Handel sehr eifrig, und machte den Anfang, wie bekannt 1517. [sic] zu Freyberg woselbst er Dienstags [sic] nach Esto mihi anlangete, und binnen zwey Tagen 2000. Gülden lösete.

Bei Seckendorff lautet diese Stelle (S. 25): […] memorabili exemplo ex Chronico Fribergensi D. Andr. Molleri probatur. Scribit enim part. II. p. 153. Anno 1507. die Jovis post Esto Mihi Joh. Tezelius Pirnensis Monachus Dominicarum & Doctor Theologiae, prima vice Fribergam venit, et intra biduum duo florenorum millia indulgentiarum causa in urbe lucratus est.

Denkbar ist auch, dass sich der Kalenderautor direkt auf die von Seckendorff genannte Quelle stützte. Möller schrieb 1653 im Bd. 2, S. 153: Den 18. Februar. [1507] war Donnerstags nach Fastnachten/ ist Johann Tetzel von Pirn/ ein Predigermönch und Doctor der heiligen Schrifft/ mit seinem Ablaßkrame zum erstenmahl nach Freybergk kommen/ und hat innerhalb zwey Tagen 2000. Gülden in der Stadt gelöset.

Die zweite Notiz aus Möllers Buch (S. 170) ließ Seckendorff unmittelbar folgen, der Kalenderautor fügte diese Stelle erst fünf Kalenderblätter weiter (S. D1a) hinzu: Durch solche Disputation nun gab Lutherus Herr Tetzeln einen gewaltigen Stoß in seiner Handlung: Denn als er wieder nach Freyberg kam, fand er die betrogenen Gemüther dermassen verändert, daß, wolte er Geld und Leben vor den Berg=Leuten sicher behalten, er schleunigst das Thor suchen muste. Vid. Molleri Chron. Freyberg. P. II. p. 153. 170.

Bei Seckendorff lautet diese Stelle (S. 25): Ex eodem vero Molleri Chronico Part. II. p. 170. notandum est, Tezelium paulo post, quam Lutherus theses suas Wittenbergae publicasset, denuo Fribergam vernisse, sed non solum parum effecisse, sed & in discrimen venisse amittendae, quam corraserat, pecuniae, fossoribus metallicis vim ei intentantibus; itaque sine mora discessisse.

Bei Möller heißt es auf S. 170 nach der Erwähnung von Luthers Thesenanschlag in Wittenberg:

DIE REZEPTION DER REFORMATION

333

Drumb als Johann Tetzel kurtz drauff mit seinen Indulgentzbrieffen wieder nach Freybergk kommen/ vermeinende abermals/ wie Anno 1507. einen reichen marckt zu halten/ hat es ihm so wol als zuvor nicht glücken wollen/ also gar/ daß nicht allein wenig Personen seiner geachtet/ sondern auch die Bergleute ihn zu beschimpffen sich unterstanden/ und verlauten lassen/ das gesamlete Ablaßgeld ihm gar abzunehmen; deßwegen er bald fortgewandert/ und sich aus diesem Kreise ins Magdeburgische/ und hernach nach Franckfurt an der Oder/ letztlich nach Leipzig gewendet […].

Die in Zwickau spielende Episode, die Seckendorff in der zitierten Passage als dritte angab, setzte der Kalenderautor zwischen die beiden Freiberger Szenen, im Kalender für 1727 auf S. C2a beginnend: Als er [Tetzel] einst zu Zwickau beym Küster gerne schmausen wolte, und dieser Wirth gleichwohl kein Geld hatte, muste er alsobald in den Calender sehen, ob auf den morgenden Tag der Nahme eines Heiligen stünde. Es fand sich aber daselbst der Heydnische Nahme Juvenalis. Nichts desto weniger muste der Küster einlauten, und die Leute zur Kirchen fodern, welche sich dann häuffig einstelleten. Tetzel redete demnach das Volck unter andern also an: Lieben Zuhörer, ich muß euch heute etwas verkündigen, so euch bey Verlust eurer Seeligkeit zu wissen nöthig ist. Ihr wisset, was wir vorlängst vor eine Menge Heiligen angeruffen haben. Allein diese sind nun veraltet, und überdrüßig uns zu hören und zu helffen. Heute begehen wir das Gedächtniß Juvenalis, welcher uns biß [S. C3a] hieher wenig bekannt gewesen; Aber seyd versichert, so wir diesen neuen Heiligen anflehen, und ihn opffern werden, so wird er uns aufs schleunichste mit Hülffe beseligen. Er ist einer von den heiligen Märtyrern gewesen, und hat sein unschuldiges Blut vergossen. Wo ihr nun von Hertzen bey Gott seiner Unschuld geniesen wollet, so erzeiget heute, ihm zu Ehren, eure Freygebigkeit. Die Vornehmen sollen denen andern mit guten Exempeln vorgehen, und jeder erlege sein Opffer reichlich. Als nun genug Geld beysammen war, stieg er von der Cantzel, und sagte dem Küster ins Ohr: Es ist gnug geopffert, nun wollen wir weidlich davor schmausen, v. Tob. Schmid. Chron. Zwicc. Anno 1656. edit. p. 300.

Bei Seckendorff (S. 25): Aliud ejus factum improbum & nequissimum narratur in Chronico Zviccaviensi M. Tob. Schmidii anno 1656. editio p. 380 cuius testem allegat Georg. Strigenitium in Jon. proph. f. 142. Tezelius cum Zviccaviae, […].

Bei Schmidt (S. 380): Jedoch daß ich noch zuvor ein leichtfertiges Stücklein/ welches Johan Tetzel hier zu Zwickau begangen/ daraus man der Pfaffen Boßheit/ und der armen verblendeten Leute im Papstthum Einfalt/ erkennen kan/ erzehle: Als Tetzel (es sind Wort Strigenitii in Jonam Conc. 30. fol. 143.) zu Zwickau ist Prediger gewesen/ ehe er des Pabstes Ablas=Krämer worden ist/ hat er auff eine Zeit seinen Küster angeredet: Ob er ihn nicht wolle einmal zu Gaste bitten/ und da sich der Küster entschuldiget/ er sey zu arm darzu/ vermöge es nicht/ habe Tetzel gesagt: Gelt wollen wir bald bekommen/ siehe in die Laß=Taffel/ was morgen für ein Heiliger seyn wird. Der Küster thut es/ und saget/ ich finde Juvenalis, aber es ist ein unbekander Heiliger. Darauff spricht Tetzel: Wir wollen ihn bald bekand machen/ Morgen läute zur Metten/ zur Predigt/ und zur Messe/ wie an

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KLAUS-DIETER HERBST

einem grossen Feyertage/ und lasse die Hochmesse über dem Altar/ mitten in der Kirchen/ dem Predigstul über halten. Der Küster folget: wie das Volck andern Tages solches Läuten höret/ kompt es häuffig in die Kirche. Wie nun die Hochmesse halbe aus ist/ tritt Tetzel auff/ und predigt also: O liebes Volck/ heute sol ich euch was sagen/ wenn ichs euch verhielte/ so wer es geschehen umb eure Seligkeit: Ihr wisset/ daß wir die und die Heiligen haben lang angeruffen/ aber sie sind nunmehr alt worden/ und sind fast müde worden/ uns zu hören/ und zu helffen. Heute habt ihr das Gedächtniß Ju[S. 381] venalis, und wiewol er bißher/ unbekand gewesen/ so lassets euch doch lieb seyn. Denn weils ein neuer Heiliger ist/ den wir zuvor nicht gekand haben/ so wird er desto unverdrossener seyn/ sich unser anzunehmen. Es ist aber Juvenalis ein Heiliger Märtyrer gewesen/ welches Blut unschuldig ist vergossen worden.

Aufgrund dieser Textvergleiche wird gefolgert, dass der Kalenderautor Seckendorffs Kommentar kannte, sich stellenweise daran orientierte, die ihm wichtig erscheinenden Inhalte aber mit denen aus anderen Quellen mischte und schließlich mit eigenen Worten einen neuen Text erzeugte. Dieser Befund für die Kalender der Fortsetzungsfolge von 1725 bis 1733 hat auch nach einem Vergleich mit der 1697 zum ersten Mal gedruckten, streng chronologisch vorgehenden und keine Quellen nennenden Luther-Biographie42 von Gottfried Hoffmann (jedoch m. E. für 1730 bis 1733) sowie mit der 1717 erschienenen Luther-Biographie43 von Wilhelm Ernst Tentzel (1659–1707) Bestand. Da es sich also in den hier behandelten Schreibkalendern um einen neuen Text mit einer Luther-Biographie handelt, der erstmals in den 1690er Jahren gedruckt wurde und dann in einer neuen Fassung ab 1725 innerhalb von neun Jahren als Fortsetzungstext in den Kalendern erschien, werden die heute bekannten Textbausteine aus den Kalendern für 1725, 1727, 1729 und 1732 im Anhang wiedergegeben.44 Damit wird den bereits bekannten Luther-Biographien eine weitere, 42 HOFFMANN, Geschichts=Calender (wie Anm. 32). 43 Wilhelm Ernst TENTZEL, Historischer Bericht vom Anfang und ersten Fortgang der Reformation Lvtheri, Zur Erläuterung des Hn. v. Seckendorff Historii des Lutherthums/ mit grossem Fleiß erstattet/ und nunmehro in diesem andern Evangelischen Jubel=Jahr, Nebst einer besondern Vorrede/ auch nützlichen/ noch niemahls publicirten Uhrkunden/ und nöthigen Registern mitgetheilet von D. Ernst Salomon Cyprian, Consistorial- und Kirchen=Rath zu Gotha, Gotha: Druck und Verlag Johann Andreas Reyher 1717. (Ex. ThULB Jena, 8 Hist. eccl. IV, 15 [2].) Tentzel beschrieb hier Luthers Leben nur bis zum Jahr 1518. 44 Der Text des Jahrgangs 1697 ist online einsehbar (siehe Anm. 17). Die biographisch weiterreichenden Texte in den überlieferten Kalendern für 1758 (Zeitraum 1525 bis 1527), 1799 (Zeitraum 1524 bis 1529), 1739 (Zeitraum 1529 bis 1536) und 1781 (Zeitraum 1531 bis 1544) werden nicht erneut gedruckt, weil sie nicht exakt dem Text in der ersten Fortsetzungsfolge ab 1725 entsprechen und sich sehr stark an den chronologischen Abriss in Hoffmanns „Geschichts=Calender“ (wie Anm. 32) anlehnen, teilweise mit wörtlichen Übernahmen.

DIE REZEPTION DER REFORMATION

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populäre Luther-Biographie aus dem Ende des 17. bzw. Anfang des 18. Jahrhunderts fragmentarisch hinzugefügt.

5. Das Luther-Bild in den Kalendern 1725 bis 1729 Gleich zu Beginn der Lebensbeschreibung wird Martin Luther als der „theure Rüstzeug Gottes“ vorgestellt,45 der sich schon als Kind bzw. junger Mann erstens durch fleißiges Lernen in den Schulen in Magdeburg und Eisenach sowie in der Erfurter Universität und zweitens durch herzliches Beten auszeichnete. Er wird als wissbegierig und entschlusskräftig charakterisiert, der sich nicht scheute, entgegen dem Wunsch seiner Eltern „Ende des 1505ten Jahres seine studia zu verändern“ und „in das Augustiner Kloster zu Erfurt zu gehen“.46 Den Anfeindungen durch seine Klosterbrüder entgegnete er mit umso tieferer Frömmigkeit, mit Lesen der lateinischen Bibel in der Klosterbibliothek und „mit Fasten und Beten“, wodurch er sich „kasteyete und abmergelte“.47 Nach erhaltenem Trost durch Johannes von Staupitz, Luthers Beichtvater, und Wechsel in den Orden zu Wittenberg bzw. an die dort neugegründete Universität wurde Luther bereits 1508 als künftiger Reformator gepriesen, der „alle Doctores irre machen, und eine neue Lehre aufbringen, und die gantze Römische Kirche reformiren“ wird.48 Diese Entwicklung wurde schließlich 1517 eingeschlagen, als Luther sich dem Ablasshandel Tetzels widersetzte, „am Allerheiligen Abend, wie oben schon gemeldet worden, 95. Theses wider den Ablaß und Fege=Feuer an die Thüre der Schloß=Kirchen zu Wittenberg anschlug, und also das heilsame Reformations=Werck anfienge“.49 Luther wird hier als der große Mann gezeichnet, der allein die Reformation anstieß, der in der Sache hart blieb, einem Gegner aber auch Milde entgegenbringen konnte, wie dem kranken Tetzel, dem er 1519 „einen sonderlichen Trost=Brief“ schrieb.50 Bei seinem Auftritt auf dem Reichstag in Worms wird er als unerschrockener Kämpfer beschrieben, der nicht wider „seyn Gewissen [handeln könne], weil er versichert, daß, was er gelehret, Gottes Wort gemäß wäre“.51 Ausführlich schilderte der Kalenderautor 45 [ANONYM], Historischer Geschichts=Calender, Jg. 1725, Leipzig/Pegau: Druck und Verlag Christian Benjamin Bittorf, Kalendarium, S. B1a. 46 Ebd., S. C2a. 47 Ebd., S. C4a. 48 Ebd., S. D2a. 49 [ANONYM], Historischer Geschichts=Calender (wie Anm. 45), Jg. 1727, Kalendarium, S. C4a. 50 Ebd., S. D3a. 51 [ANONYM], Historischer Geschichts=Calender, Jg. 1729, Leipzig/Zwickau: Druck und Verlag Johann David Friderici, Kalendarium, S. B4a. Diese Szene wurde „im deutschen

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KLAUS-DIETER HERBST

schließlich, dass sich Luther nur ungern auf der Wartburg bei Eisenach versteckte, denn dieser wünschte lieber „öffentlich vor Gottes Wort zu streiten“.52 Als einen Mann, dessen Gehorsam auch gegenüber dem Kurfürsten zu Sachsen Grenzen hatte, wird Luther dargestellt, als er „ohne des Chur=Fürsten Vorwissen“ die Wartburg verließ und sich nach Wittenberg begab, um dem Treiben von Karlstadt Einhalt zu gebieten.53 Die Skizzierung des Luther-Bildes in den drei überlieferten Kalendern für 1725, 1727 und 1729 kommt ohne terminologische Überhöhung der Person Luthers aus, wie sie Ende des 16. Jahrhunderts z. B. in den Formulierungen „Wundermann“, „heiliger Gottesmann“, „Martyrer“, „Apostel“, „Evangelist“ und „Prophet“ üblich war,54 obwohl der Kalenderautor auch die damals gängige Literatur aus dem 16. Jahrhundert (Mathesius, Spangenberg) als Quellen verwendete. Hier schlägt sich eine Versachlichung in der Darstellung Luthers Lebens nieder, bei der sich der Kalenderautor in erster Linie an den äußeren Lebensumständen Luthers und den allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen (Klosterleben, Ablasshandel, Reichtstage) orientierte. Anstatt durch heilsgeschichtlich konnotierte Begriffe wird Luther durch tugendhafte Eigenschaften charakterisiert (lern- und wissbegierig; willens und fähig, eigene Entscheidungen auch gegen höhere Autoritäten wie Eltern, Kurfürst, Kaiser, Papst zu treffen; nicht davor zurückschreckend, Streit öffentlich zu führen und die Konsequenzen geduldig zu ertragen), die ein hohes Maß an Selbstbewusstsein des einzelnen Individuums voraussetzen. Der einzelne Mensch wird hier mit gesellschaftsverändernder Kraft ausgestattet. Ein Blick auf andere die Reformation tragende Figuren oder gar auf kritikwürdige Eigenschaften Luthers blieb dem Kalenderautor bzw. diesem Luther-Biographen aber verschlossen.

6. Die Luther-Kalender unter dem Blickwinkel der Aufklärung Die hier vorgestellte und quellengestützte populäre Darstellung des Lebens Martin Luthers bzw. des Anfangs der Reformation bietet über diesen thematischen Bezug hinaus einen weiteren Ansatzpunkt für eine Analyse. Achtet man zum Beispiel auf die genaue Wortwahl, dann erscheinen einige Passagen wie geschaffen für eine frühe aufklärerische Intention des Verfassers. Im Kalender protestantischen kollektiven Gedächtnis zur Widerstandsszene schlechthin“. Volker LEPPIN, Martin Luther. Vom Mönch zum Feind des Papstes, Darmstadt 22015, S. 61. 52 [ANONYM], Historischer Geschichts=Calender (wie Anm. 51), Jg. 1729, Kalendarium S. D1a. 53 Ebd., S. D3a. 54 BROCKMANN, Luthermemoria (wie Anm. 38), S. 45 f.

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für 1732 wird unter anderem geschrieben, dass Luther von einigen Bischöfen und Herzogen angegriffen wurde. Daraufhin beklagte sich Luther, „daß er von nichts als von Evangelio und von Christo redete, seine Wiedersacher aber mit nichts antworteten, als mit den Kirchen=Lehrern, alten Gewohnheiten und Menschen=Satzungen“.55 Das ist eine fast wörtliche Übernahme aus der Hoffmann’schen Chronik von 1697,56 kann also nicht als eigenständige Formulierung des Kalenderautors gelten. Ob Hoffmann diesen Satz selbst formuliert oder aus einer anderen Quelle übernommen hat, kann nicht entschieden werden. Ungeachtet dessen tritt in diesen Worten deutlich die Haltung hervor, dass das bloße Verweisen auf alte Autoritäten und auf alte Gewohnheiten nicht mehr ausreicht, um im Widerstreit verschiedener Meinungen zu bestehen. Und durch das Zitieren des bereits 1697 im Hoffmann’schen Buch Gedruckten in einem jetzt (1732) viel verbreiteteren Schreibkalender erhielten weit mehr Menschen die Möglichkeit, jene Passage zu lesen. Die darin enthaltene Kritik an alten Autoritäten und Gewohnheiten könnte ein Leser dieses Kalenders auch auf andere Bereiche seines Lebens und der Gesellschaft übertragen haben. Und schon würde der winzige aufklärerische Funke allmählich zu einer kleinen Flamme und diese zu einem lodernden Feuer anwachsen können. In diesem Sinne – so lautet meine These – haben die Schreibkalender in der zweiten Hälfte des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts zur Ausprägung eines neuen, aufgeklärten Bewusstseins der Menschen beigetragen.57

7. Resümee Die vorgestellten Jahreskalender verdeutlichen am Beispiel der Lebensbeschreibung Martin Luthers, dass Kalenderautoren bereits seit dem späten 17. Jahrhundert populäre Geschichtsschreibung betrieben, diese womöglich sogar maßgeblich befördert haben. Sie trugen damit zweifelsohne zur Ausbildung eines allgemeinen Geschichtsbewusstseins in der Bevölkerung bei. Indem man die Erinnerung an Luther bzw. dessen Taten stetig wachhielt, dürfte zugleich bei einigen Menschen die Erkenntnis verstärkt worden sein, dass die gegebenen gesellschaftlichen Zustände nicht unumstößlich sind, sondern unter bestimmten 55 [ANONYM], Verbesserter Geschichts=Calender, Jg. 1732, Leipzig/Zwickau: Druck und Verlag Johann David Friderici Erben, Kalendarium, S. C1a. 56 HOFFMANN, Geschichts=Calender (wie Anm. 32), S. 51 (1697) bzw. 53 (1700). 57 Deutlich markantere Beispiele für die Verbreitung früher aufklärerischer Gedanken durch die Schreibkalender liefern z. B. jene von Andreas Concius (1628–1682), Christian Grüneberg (ca. 1639–1701), Johann Christoph Sturm (1635–1703), Ulrich Junius (1670– 1726), Georg Albrecht Hamberger (1662–1716) sowie die oben genannten Gottfried Kirch und Christoph Richter, vgl. HERBST, Schreibkalender (wie Anm. 4).

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Voraussetzungen auch verändert werden können. Die in diesem Beitrag vorgestellten Beispiele aus Schreibkalendern untermauern die von Matthias Pohlig vorgetragene, aber auf andere Kalendertypen zielende These, „daß die kalendarische Erinnerung tatsächlich ein, wenn nicht der wirkungsmächtigste Strang der Luther-Memoria gewesen sein dürfte“.58 Will man ein annähernd vollständiges Bild von der Vermittlung historischen Wissens über die Reformation in der deutschen Bevölkerung erhalten, dann sind also nicht nur die populären Bücher wie z. B. die Luther-Biographien heranzuziehen,59 sondern es sind auch die mit vielfach höheren Auflagenzahlen vertriebenen Jahreskalender in Quart zu beachten.

58 POHLIG, Gelehrsamkeit (wie Anm. 1), S. 460. 59 Vgl. z. B. Werner GREILING, Volksaufklärung und Reformation. Die Luther-Biographie des Johann Ernst Daniel Bornschein, in: Jens BEGER (Hg.), Hessen und Thüringen. Festschrift für Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag, Jena 2013, S. 191–206; Alexander KRÜNES, Luther als Vorkämpfer der Aufklärung? Die Reformation als Bestandteil volksaufklärerischer Publizistik in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 65 (2011), S. 157–180.

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Anhang: Die Luther-Biographie in den Kalendern 1725, 1727, 1729, 1732 Die Texte in den Kalendern werden in der Regel buchstabengetreu und gemäß den Kalenderblättern monatsweise wiedergegeben. Durch Fettdruck sind die Stellen hervorgehoben, die vom Kalenderautor angegebene Quellenverweise darstellen und auf die im Aufsatz eingegangen wird. Der Text wird hier nicht kommentiert und auch nicht korrigiert, falls ein historisches Detail nicht dem aktuellen Kenntnisstand entspricht.60 [Kalender für 1725, S. B1a: Januar] Historische=Beschreibung. Von den Leben, Lehre und Bekenntniß des Glaubens, merckwürdigen Geschichten wie auch seeligen Sterben Herrn D. Martin Luthers. Wenn wir demnach entschlossen, in diesen Lutherischen Geschichts=Calender die gantze Historie des seel. Lutheri umständiglich nach und nach, vorzutragen, als werden wir ietzo bey dem Anfange desselben auch zugleich den Anfang machen, von seiner Geburth. Es ist aber dieser theure Rüstzeug Gottes gebohren am 10. Tage des Monaths Novembr. im Jahr Christi 1483. War gleich der Tag vor Martini, und den darauf folgenden 11. Novembr. in der St. Peters Kirchen zu Eißleben, in der Graffschafft Mannsfeld gelegen im Nahmen der hochheiligen Dreyfaltigkeit christlich [S. B2a: Februar] getaufft, und zum Gedächtniß seines Tauf=Tages Martinus genennet worden. Sein lieber Vater ist gewesen/ Hanß Luther, ein armer Bergmann, der sich von einem nahe bey Schmalkalden gelegenen Dorffe More genannt nach Eißleben gewendet; seine Mutter aber Margaretha, eine gebohrne Lindemannin, aus nur gedachten Eißleben bürtig. Diese seine geliebtesten Eltern thaten nach ihren wenigen Vermögen so viel sie konten, und hielten diesen ihren Knaben, so bald er nur ein wenig fehig, mit hertzlichem Gebethe fleißig zur Schulen, wie er denn auch seine zehen Geboth, Kinder=Glauben, Vater Unser, neben dem Donat und Grammatic, auch unterschiedenen Christlichen Gesängen, fleißig und schläunig gelernet. Denn ob wohl die Warheit damahls unter dem Antichrist ziemlich verdunckelt war, so hatte doch Gott den heil. Catechismum, in Schulen wunderbarlich, neben der hochwürdigen Kinder=Tauffe, in denen Pfarr=Kirchen erhalten. [S. B3a: März] Alß dieser unser Martin Luther nun das 14. Jahr seines Alters erreichet, hat ihn sein Vater durch Herrn Johann Reinecken nach Magdeburg in die Schule, als welche zur selben Zeit vor andern weit berühmt war, bringen lassen, allwo er wie manches ehrlichen Mannes=Kind nach Brod gienge, und sein panem propter Deum schrie. Da er nun ein Jahr daselbst mit nicht geringen Progressen seiner Studien zugebracht, hat er sich von dar, auf Befehl seiner lieben Eltern, nach Eisenach, allwo er seiner Mutter Freundschafft hatte, gewendet, und auch da sein Brod eine Zeitlang vor den Thüren ersungen, biß endlich eine andächtige Matrone, um seines angenehmen Singens, und hertzlichen Gebeths willen in der Kirchen eine sehnliche Zuneigung zu diesem Knaben trug, und an ihrem Tisch nahm, allwo er auch an die 4. Jahre geblieben, fleißig studirete, die Grammaticam, und Rhetoricam wohl begriffe, und es seinen Mitschülern im Rechen und Schreiben weit zu= [S. B4a: April] vor thate. Als er nun von seinen Praeceptoribus vor düchtig gehalten wurde ad altiora zu schreiten, wurde er von seinen lieben Eltern Anno 1501. auf die damahls berühmte hohe Schule zu Erfurt gesendet, und daselbst von dem Seegen ihres löblichen Bergguts erhalten. Auf dieser Universität fieng nun dieser junge Student an seine alte Logicam und andere freye Künste, so gut man sie der Zeit 60 Hierzu vergleiche man z. B. Volker LEPPIN, Die Reformation, Darmstadt 2013.

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fürgab, mit grossem Ernst und sondern Fleiß zu studiren, und auf Einrathen seiner Verwandten das studium juris zu prosequiren. Sein Studiren fieng er alle Morgen mit hertzlichem Gebethe und Kirchengehen an, denn diß war sein gemeines Sprichwort? Fleisig gebethet, ist über die Helffte studirt. Er verschlieff und versäumete darneben keine Lection, fragte gerne seine Praeceptores, und besprach sich mit Ehrerbietigkeit mit ihnen, repetirte offtmahls mit seinen Gesellen, und wenn man nicht öffentlich lase, hielt er sich auf in der Universität Bibliothec. Auf [S. C1a: Mai] eine Zeit, da er die Bücher nach einander besahe, damit er die guten möchte kennen lernen, kam er über die lateinische Bibel, die er zuvor Zeit seines Lebens nie gesehen, und vermerckete mit großen Verwundern daß vielmehr Text, Episteln und Evangelien drinnen wären, als man in den gemeinen Postillen und in der Kirchen auf Cantzeln pflegete aus zulesen. Da er im alten Testament sich umsahe, gerieth er über Samuelis und seiner Mutter Anne Historien, die durchlaß er eilends mit großer Lust und Freude, und weil ihm diß alles etwas neues war, fieng er an von Grund seines Hertzens zu wünschen, Gott wolle ihm doch einstens auch ein solches Buch bescheren. Welcher Wunsch und Seuffzer ihm auch reichlich ist wahr worden. Anno 1505. und also im 22. Jahres seines Alters, ward Lutherus Magister Philosophiae zu Erfurt, und erklärete daselbst des Aristotelis Bücher, Physicam, Ethicam, und andere Stücke der Philosophiae. Ob er nun wohl [S. C2a: Juni] auf Einrathen seiner Eltern und Anverwanden, vorhatte jura zu studiren, so entschloß er sich demnach am Ende des 1505ten Jahres seine studia zu verändern und da ihm zuvor ein großes Wetter und greulicher Donnerschlag hart erschrecket, er auch eine Gelübde gethan, in das Augustiner Kloster zu Erfurt zu gehen, Gott allda zu dienen, und ihn mit Meßhalten zu versöhnen, um die ewige Seligkeit mit Klösterlicher Heiligkeit zu erwerben, wie denn solches eigentlich der frömmsten Kloster=Leute Lehre und Gedancken waren; Ward er demnach mit den grösten Unwillen seines Vaters ein Augustiner Münch zu Erfurt. Ehe er aber im Kloster Profeß thate, gab ihm das Convent, auf seine Bitte, eine lateinische Bibel, die durchlaß er mit höchsten Ernst und Gebete, und lernete viel davon auswendig. Doch hielten ihm die Kloster=Leute anfangs sehr strenge, immaßen er Custos und Kirchner seyn und die unflätigen Gemächer aussaubern muste, wie sie ihme denn auch ein= [S. C3a: Juli] nen bettels Münch zugaben, und sprachen unverholen: Cum sacro per civitatem, mit betteln und nicht mit studiren, dienet und reichert man die Klöster. Wiewohl sich seiner endlich die löbliche Universität, als eines Mitgliedes und promovirten Magistri annahm, und bey dem Convent verbothe, daß man ihm der unflätigen Beschwerung überheben muste. Da er nun Profeß that und die Kappen anzog, auch folgends im Jahr 1507. gar Priester war, immasen ihn der Weih=Bischoff den Kelch in die Hand gab und folgender gestalt anredete: accipe potestatem sacrificandi pro vivis & mortuis. Nimm hin die Macht zu opffern vor die Lebendigen und die Todten, haben ihne seine Brüder die Bibel wieder genommen und ihme ihre Sophisterey und Schul=Lehrer unter die Hände gegeben, die er ex coeca obedientia fleißig durchlaße, doch wo ihm Zeit und Raum gelassen wurde, steckte er sich stets in des Klosters Bibliothec, und hielte sich getreulich zu [S. C4a: August] seiner lieben Bibel, laße aber darneben als ein frommer Münch mit tieffster Andacht seine Meße. Weil er aber Tag und Nacht im Kloster studirete und betete, und sich darneben mit Fasten und Beten kasteyete und abmergelte, war er stets betrübt und traurig, und als sein Meßhalten ihm keinen Trost geben wolte, schickte ihm Gott einen alten Bruder zu im Kloster, zum Beicht=Vater, welcher ihn hertzlich tröstete, und auf die gnädige Vergebung der Sünden im Symbolo Apostolorum, wieße, auch aus St. Bernhards Predigt lehrete, er müste für sich selber auch glauben, daß ihm der barmhertzige Gott und Vater, durch das einige Opffer und Blut seines gehorsamen Sohnes, Vergebung aller Sünden erworben, und durch den Heil. Geist in der Apostolischen Kirchen, durchs Wort der absolution verkündigen ließ. Diß war unserm Luthero ein lebendiger und kräfftiger Trost in seinem Hertzen, dessen er sich nachgehends zum öfftern und besonders wenn er [S. D1a: September] den Vers sang: O beata culpa, quae talem mernisti redemptorem, tröstlich erinnerte, auch seines Beicht=Vaters mit großen Ehren erwehnete, und ihm hertzlich danckete.

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Kurtz für dieser Zeit, ließ der Hochlöbl. Churfürst zu Sachßen Fridericus M. oder der Weise genandt, die Universität, auf anhalten seines Herrn Brudern, des Bischoffs zu Magdeburg, zu Wittenberg aufrichten durch D. Martin Wellerstadt, und D. Johann Staupitzen, welcher dißmahl über 40. Augustiner Klöster in Meißen und Thüringen, Vicarius oder Superintendens war. Und weil dieser Staupitz neben andern Befehl hatte, sich nach gelehrten Leuten um zusehen, und gen Wittenberg zu befördern, an diesen Manne aber eine sonderliche Geschickligkeit und ernstliche Frömmigkeit verspührete, brachte er diesem Fratrem Martinum Anno 1508. ins Kloster gen Wittenberg da die Universität daselbst schon 6. Jahr zuvor aufkommen war. [S. D2a: Oktober] Daselbst nun legte sich unser Frater Martinus auf die Heilige Schrifft, und fieng an in der hohen Schule wider die Sophisterey so dieser Zeit allenthalben im schwange gieng zu disputiren, und nach den rechten und gewissen Grunde unserer Seeligkeit zu fragen, und hielte der Propheten und Apostel=Schrifft, die aus Gottes Munde ist herfür gebracht, weit höher, gründlicher und gewißer, denn alle Sophisterey und Schul=Theologie, als worüber sich schon zu der Zeit viele Leute gar höchlich verwunderten. D. Wellerstadt, welcher dißmahls Lux mundi, oder ein Hochangesehener D. in der Juristerey und Klösterlichen Sphisterey war, kunte diese Mönchs argumenta und Solutiones auch über seinem Tische nicht vergessen, und sprach zum öfftern: Der Mönch wird alle Doctores irre machen, und eine neue Lehre aufbringen, und die gantze Römische Kirche reformiren, denn er leget sich auf der Propheten und A= [S. D3a: November] postel=Schrifft, und stehet auf Christi Wort, das kan keiner weder mit Philosophey noch Sophisterey, Scotisterey, Albertisterey, Thomisterey, und dem gantzen Tardaret umstossen und wiederfechten. Im Jahr 1510. wurde er von seinem Convent in Klösterlichen Geschäfften gen Rom gesendet, allwo er den allerheiligsten Vater Pabst zu sehen bekam, und seine göldene Religion, sammt ruchlose Curtesanen und Hof=Gesinde gewahr ward, welches ihme hernachmahls stärckete, als er so ernstlich wider die Römische Greuel und Abgötterey schriebe, immaßen er sich an seinem Tische öffters vernehmen ließ, er wolte nicht tausend Gülden dafür nehmen, daß er Rom gesehen hätte. Da er nun seine Freunde allda aus dem Fegefeuer mit seinem Meß=Opffer erlösen wolte, wie solches damahls iedermann glaubete, und aber sehr andächtig und langsam seine Meße hielte, so gar daß neben ihm auf einem Altar sieben Meßen verrich= [S. D4a: Dezember] tet wurden, ehe er einmahl fertig ward, schryen die Römischen Meß=Knecht: passa, passa, fort, fort, schicke unser Frauen ihren Sohn bald wieder heim. Anderer lächerlichen und seltsamen Begebenheiten anietzo zu geschweigen; Doch Lutherus hielte sich nicht allzu lange in Rom auf, sondern eilete wiederum nach Wittenberg in sein Kloster; In welches ihn auch Gott glücklich wieder verhalffe, allwo er fleißig fortfuhre mit studiren so wohl als disputiren. Künfftig (geliebts Gott) die Fortsetzung. [Kalender für 1727, S. B1a: Januar] Fortsetzung/ Der Historischen Beschreibung von dem Leben, Lehre und Bekänntniß des Glaubens, wie auch Reformation und anderer merckwürdigen Geschichten des seligen Herrn D. Martin Luthers. Bey dem Schluße vorigen Jahres haben wir vernommen, daß Lutherum, das heilsame Werck der Reformation vorzunehmen, veranlasset habe, der schändliche Ablaß=Kram des Tetzels. Damit nun ehe und bevor wir den weitern Erfolg der Reformation selbsten vortragen, der geneigte Leser wissen möge, was es mit diesem Ablaß=Krame des Tetzels vor eine Bewandniß gehabt, und was zu denselben Anlaß gegeben, so haben wir vor gut befunden, dißmahl davon einige umständliche Nachricht denselben mit zutheilen. Es verhält sich aber die Sache also: Damahls regierete in der Römischen Kirchen Pabst Leo X. Welcher den Päbstlichen Schatz gantz erschöpffet hatte, und deßwegen auf Mittel bedacht war, wie der

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Päbstlichen Cammer wiederum [S. B2a: Februar] mit Gelde möchte geholffen werden. Er hielte deßwegen auch mit dem Cardinal Laurentino Puccio öffters Rath; und dieser riethe nachgehends: Es müsten Ihre Päbstliche Heiligkeit in der gantzen Christenheit, und sonderlich in Teutschland, den Ablaß predigen lassen. Welcher Meynung denn auch Albrecht, Marggraf zu Brandenburg und Ertz=Bischoff zu Maintz, beypflichtete. Denn obgleich dieser Ertz=Bischoff zu Magdeburg Administrator war zu Halberstadt, auch hernach Ertz=Bischoff und Churfürst zu Maintz wurde, so konte er doch, wegen seiner prächtigen Hoffhaltung, nicht so viel Geld aufbringen, daß er wegen der letztern Würde das Pallium vom Pabste hätte lösen können, dahero ihn Paulus Langius in Chron. Citio. immer Monstrum Tripes nennet. In dieser Armuth schlug er dem Pabste diese schändlichen Mittel zur Zahlung vor, daß, so er ihn erlauben wolte, Ablaß der Sünden in Teutschland zu verkauffen, er ihm nicht allein das Pallium reichlich bezahlen, sondern auch die Helffte des Einkommens von diesem Ablaß=Crame in [S. B3a: März] die Päbstliche Cammern lieffern wolte. Wolte nun der Pabst bezahlet seyn, so muste er solches geschehen lassen, und als ihm noch über dieses so angenehme Hoffnung zu grossem Gewinnst gemacht wurde, so wurden die Päbstlichen Gewalt=Briefe um so viel desto hurtiger ihm und andern ausgefertiget. Uberdiß war auch Pabst Leo seiner Schwester Magdalenen eine grosse Summa Geldes schuldig, und diese Post solte von den Ablaß=Geldern bezahlet werden; Dahero trug dieses Geld=gierige Weib sothane Commission Arcimboldo, einem Bischoffe auf. Dieser Mann erwählete lauter solche Leute hierzu, denen vor Geld ihre Seelen feil waren, und obgleich damahls in Sachsen der Ausruff des Ablasses jederzeit denen Augustinern gebührete, so trauete doch Arcimbolidus diesem Orden so wenig, daß er solches Amt den Dominicanern auftrug, welche sich bey dieser neuen Function so eifrig erwiesen, daß sie mit allzugrosser Ausstreichung ihrer Waare, groß Aergerniß anrichteten, da inzwischen die Commissarien dasjenige, was sich die armen Bauren [S. B4a: April] am Maule vor ihre Sünde abgesparet, schändlich durch die Gurgel jagten. Unter diesen Dominicanern nun war auch Johann Tetzel, von Pirna gebürtig, ein Mensch der ein übles und schändliches Leben geführet, wie vorm Jahre bereits gemeldet worden. Dieser geistliche Cramer war in seinem Handel sehr eifrig, und machte den Anfang, wie bekannt 1517. [sic; muß heißen: 1507] zu Freyberg, woselbst er Dienstags nach Esto mihi anlangete, und binnen zwey Tagen 2000. Gülden lösete. Wo er mit seinem Ablaß=Crame den Einzug hielte, da ließ er die Päbstliche Bulle mit solcher Pracht vor sich hertragen, als ob Gott selbst eingezogen käme. Was sein rothes und mit dem Päbstlichen Wappen beziertes Creutze vor Würckung gehabt, ists bereits auch schon gemeldet worden; Doch weiln er auch seinen Ablaß, auch vor die zukünfftigen Sünden, die ein Mensch noch begehen würde, ausgab, so hat er manchen Betrug damit nur ein Stücke Geld zu schneiden, vorgenommen. Wie er dann einstens einen reichen Bauer in der Schweitz, vor gnugsames dargelegtes Geld, wegen eines Todt= [S. C1a: Mai] schlags absolvirte, auch ihm, als er berichtete, daß er noch einen Feind hätte, den er gerne ermordten wolte, erlaubete, solches zu bewerckstelligen, da er ihm nur ein Stücke Geld gab. Wiewohl ihm doch ein gewisser von Adel, des Geschlechts von Schencke zu Magdeburg (andere wollen sagen, es sey zu Leipzig geschehen,) gar artig betroge. Dieser erlangte von Tetzeln vor ein Stück Geld einen Ablaß=Brief, die grosse Sünde, so er noch im Sinne hätte, zu vollbringen. Als nun Tetzel mit etliche 1000. Gülden Ablaß=Geldes von Magdeburg nach Braunschweig reisete, wartete ihm der von Schencke, unweit Helmstädt, in einem Walde auf den Dienst, ertappete ihn auch, und nahm ihn alles sein Geld. Tetzel klagete über Gewalt; der von Schencke aber zeigte ihm den von ihm an sich gelöseten Ablaß=Zettel, und sagte: Entweder mein Verfahren hat nichts zu bedeuten, oder eure Waare ist Betrug. Also verlohr Tetzel sein Geld, und ward beschimpffet. Zu Annaberg kunte Monsieur Tetzel die Leute, mit [S. C2a: Juni] Versprechung reicher Außbeute derer Silber=Gruben, meisterlich um ihr Geld bringen, und führete stets diese schöne Regul im Munde: Alles, was mit des Pabstes Wissen geschehe, könne kein Gewissen beschweren. Als er einst zu Zwickau beym Küster gerne schmausen wolte, und dieser Wirth gleichwohl kein Geld hatte, muste er alsobald in

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den Calender sehen, ob auf den morgenden Tag der Nahme eines Heiligen stünde. Es fand sich aber daselbst der Heydnische Nahme Juvenalis. Nichts desto weniger muste der Küster einlauten, und die Leute zur Kirchen fodern, welche sich dann häuffig einstelleten. Tetzel redete demnach das Volck unter andern also an: Lieben Zuhörer, ich muß euch heute etwas verkündigen, so euch bey Verlust eurer Seeligkeit zu wissen nöthig ist. Ihr wisset, was wir vorlängst vor eine Menge Heiligen angeruffen haben. Allein diese sind nun veraltet, und überdrüßig uns zu hören und zu helffen. Heute begehen wir das Gedächtniß Juvenalis, welcher uns biß [S. C3a: Juli] hieher wenig bekannt gewesen; Aber seyd versichert, so wir diesen neuen Heiligen anflehen, und ihn opffern werden, so wird er uns aufs schleunichste mit Hülffe beseligen. Er ist einer von den heiligen Märtyrern gewesen, und hat sein unschuldiges Blut vergossen. Wo ihr nun von Hertzen bey Gott seiner Unschuld geniesen wollet, so erzeiget heute, ihm zu Ehren, eure Freygebigkeit. Die Vornehmen sollen denen andern mit guten Exempeln vorgehen, und jeder erlege sein Opffer reichlich. Als nun genug Geld beysammen war, stieg er von der Cantzel, und sagte dem Küster ins Ohr: Es ist gnug geopffert, nun wollen wir weidlich davor schmausen, v. Tob. Schmid. Chron. Zwicc. Anno 1656. edit. p. 300. Wider solchen verdammlichen Sünden=Wucher setzte sich der glorwürdige Käyser Maximilianus, nebst den Reichs=Ständen, aufs äusserste, massen diese 1510. hundert Gravamina über die unmäßigen Auflagen des Römischen Hofes aufsetzten, wie solche beym Goldasio Tom 2. [S. C4a: August] Recess. zu finden. Eben damals war zu Meissen Bischoff Johannes von Saalhausen, dessen löblicher Eifer diese Sünden=Jubilierer aus dem Stiffte jagte, und die Einfalt des Volckes bestraffte: daß sie ihr Geld so häuffig in einen Kasten legten, dazu sie doch keinen Schlüssel hätten. Zu gleicher Zeit lehrete zu Rostock ein Priester und berühmter Theologus, Nahmens Nicolaus Kuß, öffentlich wider das Pabstthum und den Ablaß. Da aber dessen ungeachtet die Ablaß=Krämerey immer fortgesetzet wurde, und der unverschämte Tetzel Anno 1517. seinen Kram auch zu Wittenberg auslegte, rüstete Gott den seel. Herrn Lutherum aus, daß er am Allerheiligen Abend, wie oben schon gemeldet worden, 95. Theses wider den Ablaß und Fege=Feuer an die Thüre der Schloß=Kirchen zu Wittenberg anschlug, und also das heilsame Reformations=Werck anfienge. Als Albertus Crantius von diesem Vornehmen hörete, ruffte er aus: Mi frater Martine, abi in Cellam tuam, & dic, miserere [S. D1a: September] mei Dominus: O mein lieber Bruder Martin, gehe in deine Celle, und bete, ein Herre erbarme dich mein! Der Prior und Suprior seines Augustiner=Ordens zu Wittenberg, geriethen dieses Beginnen wegen in Furcht, und redeten Luthero zu: Er solte ihren Orden nicht beschimpffen, indem sich die Dominicaner schon über dessen Unfall freueten, denen aber Lutherus antwortete: Ist das Werck nicht mit Gott angefangen, so wird es bald zu Grunde gehen: Wo aber anders so überlaßt es Gott! v. Tom. V. Jenens. fol. qv. Durch solche Disputation nun gab Lutherus Herr Tetzeln einen gewaltigen Stoß in seiner Handlung: Denn als er wieder nach Freyberg kam, fand er die betrogenen Gemüther dermassen verändert, daß, wolte er Geld und Leben vor den Berg=Leuten sicher behalten, er schleunigst das Thor suchen muste. Vid. Molleri Chron. Freyberg. P. II. p. 153. 170. Dem Pabste selbst war bey dieser Streitigkeit nicht wohl zu muthe, deswegen schickte er seinen Cämme= [S. D2a: Oktober] rer Carlen von Miltitz, in Sachsen, um, wo möglich, alles wieder in vorigen Stand zu setzen. Dieser kam Anno 1518. in Meissen an, und citirte Tetzeln, welcher sich damahls zu Leipzig im Pauliner=Kloster befand, zu sich nach Altenburg, um von seinen Verrichtungen Rede und Antwort zu geben. Allein Tetzel entschuldigte sein Aussenbleiben durch einen Brief damit, weil Luther jedermann wieder ihn erreget, daß er also nicht sicher reisen könte. Hierauf unterredet sich der Herr von Miltitz mit Luthero, und reisete in Person nach Leipzig, allwo er Tetzeln, wegen seines übeln Handels, einen Verweiß gab. Dieses zog sich Tetzel dergestalt zu Gemüthe, daß, nachdem auch das böse Gewissen aufwachte, er bald in eine verzweiffelte Leibes= und Gemüths=Kranckheit verfiel. Denn als er von dem Colloqvio, so Hertzog George zu Sachsen mit Luthero zu Leipzig beliebete, auf seinem Siech=Bette benachrichtiget wurde, verrieth er seine Verbitterung hiemit: Hoc faxit diabolus!

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Das walte oder [S. D3a: November] hohle der Teufel! vid. Luth. lib. I. Ep. 104. Dessen ungeachtet schloß doch der Herr Lutherus den krancken Tetzel in sein Gebeth, und schrieb einen sonderlichen Trost=Brief an ihm, darinnen er ihn ernstlich zur Busse ermahnete. Allein es fassete keinen Trost, sondern Tetzel nahm in Verzweifflung 1519. seinen Abschied aus der Welt und ward im Paulino zu Leipzig begraben. Woselbst sein Monument noch ietzo zu sehen ist. Auf künfftiges Jahr, geliebts Gott! soll die Fortsetzung dieser Materie in richtiger Ordnung folgen; Jetzo aber setzen wir zur Erfüllung des übrigen Platzes nur noch folgende Worte des seligen Vaters Lutheri anhero, aus seinem im Jahr 1528. zu Wittenberg heraus gegebenen und gedruckten Bekänntnisse vom Abendmahl Christi. Welche also lauten: „Der Ablaß, so die Päbstliche Kirche hat und giebt, ist eine lästerliche Trügerey, nicht allein darum, daß sie über die ge= [S. D4a: Dezember] meine Vergebung, so in aller Christenheit durch das Evangelium und Sacrament gegeben wird, eine sonderliche Erdicht und Anricht, und damit die gemeine Vergebung schändet und vernichtiget, sondern daß sie auch die Gnugthuung für die Sünde, stellet, und gründet auf Menschen=Werck und der Heiligen Verdienst, so doch allein Christus für uns gnug thun kan und gethan hat. ENDE. [Kalender für 1729, S. B1a: Januar] Weitere Fortsetzung von der Beschreibung des Lebens D. Martini Lutheri. Nachdem durch Hertzog Friedrichs des Chur=Fürsten zu Sachsen Vorbitte es endlich dahin bracht worden, daß Lutherus in Deutschland möchte verhöret werden, darum er auch selbst sehr bath, wie in 1. Tom. seiner Episteln zusehen, ist ihm Augspurg, da eben Käyser Maximilianus ein Reichs=Tag hielte, benennet, dahin er auch Anno 1518. im Monat Octobr. ohne Käyserliche Majestät Geleit zu Fuße, und in einer geborgten Kutten, die D. Wenceslai Lincken war, gereiset, mit Verschreibung des Chur=Fürsten an gute Freunde. Da er im Kloster blieben, biß er Käyserl. Majest. Geleit erhalten. Thomas Cajetanus, ein Cardinal und Päbstlicher Legat, ließ ihm von sich, da ihme denn in Beyseyn des Nuntii Apostolici, und Urbani Oratoris, von Cajetano zugemuthet worden, er solte wieder ruffen, daß er des Pabsts Ablaß angefochten, und gelehrt: Man könne der heil. Sacrament nicht ohne Glauben geniesen, welches er nicht wollen thun, er wäre den eines Irrthums überwiesen. Da auch unter andern der Cardinal sagte: Der Pabst habe aller Dinge [S. B2a: Februar] Macht und Gewalt, hat Lutherus darauf geantwortet: Salva Scriptura: ohne Schaden der Schrifft. Welches der Cardinal hönisch verlachet, und gesagt: Salva Scriptura: ohne Schaden der Schrifft. Der Pabst, wüste das nicht, ist auch über das Concilium. Nachdem Lutherus erfahren, daß zu Cöllen, Löven, und andern Orten, seine Bücher öffentlich verbrannt worden, ist Anno 1520. den 10. December durch eine öffentliche angeschlagene Schrifft die Jugend zusammen gefodert, und ihr angedeutet worden, daß um 9. Uhr früh die Päbstliche Decretalen, würden verbrennet werden. Da denn von dem Elster=Thor hinter dem Hospital, ein Magister die Brand=Städte angerichtet, Holtz zusammen gelegt, und angezündet, und hat Lutherus die Antichristlichen Decretalen, neben der Bulla Leonis X. die neulich wieder ihn waren ausgegangen, und andern Büchern, die im 1. Theil seiner Schrifft benennet werden, ins Feuer geworffen, mit diesen Worten: Weil du den Heiligen des Herrn so betrübet hast, so betrübe und verzehre dich das ewige Feuer. Es hielte Käyserl. Majest. Carolus V. im Jahr Christi 1521. zu Worms seinen ersten Reichs=Tag dahin ward Lutherus bescheiden, und mit Käyserlichen Majest. offenen Geleite durch Caspar Sturm, den Käyserlichen Ehrenhold, von Wittenberg abgehohlet und beglei= [S. B3a: März] tet. Da er nun auf dem Wege war, waren schon etliche Tage zuvor, ehe er nach Worms kommen, seine Bücher allda öffentlich angeschlagen, und verdammet, daher ihm seine Freunde zu Oppenheim in der Herberge, da er solches am ersten erfuhr, wiederrathen, er möcht nicht nach Worms sich begeben, weilen wieder das gegebene Geleite sich der An-

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fang so übel anließe, da sprach er mit grosser Freudigkeit: Wolan, weil ich erfodert und beruffen bin, so hab ich bey mir gewiß beschlossen, hinein zuziehen, in Nahmen des Herrn Jesu Christi, wenn ich gleich wüste, daß so viel Teuffel darinnen wären, als Ziegel auf allen Dächern sind. Matthesius erzehlet also: D. Luther wurde verwarnet, man besorge sich, es möchte ihm des Geleite, als einen verdammten Ketzer, nicht gehalten werden, darauf hat er an Spalatinum geschrieben, er sey citirt, darum wolte er sich stellen, und solten zu Worms so viel Teuffel seyn, als Ziegel auf Dächern liegen. Spalatino hat Lutherus mündlich lassen entbiethen, wenn so viel Teuffel zu Worms wären, als Ziegel auf den Dächern, so wolte er doch hinein, denn er wäre unerschrocken, und fürchtete sich nicht. Zugeschrieben hat er ihm also aus Franckfurth: Wir seyn nunmehro, mein lieber Spalatine, gen Worms kommen, ob schon der Satan mir zur Hindernüß vielerley Unpäßlichkeit in den Weg [S. B4a: April] geleget hat, denn den gantzen Weg von Eisenach biß hieher bin ich unbaß gewesen, und auch noch anietzo, und zwar auf mancherley mir unbekante Weise. Aber ich höre auch daß des Käysers Caroli Mandat mir zum Schrecken sey heraus gegeben worden/ Christus aber lebet; derohalben wollen wir hinein in Worms zu Trutz allen Höllischen Pforten und Herrschern der Lufft. Da er auch in Versammlung Käyserlicher Majest. der Chur=Fürsten und andere Ständte, ernstlich war ermahnet, zu wiederruffen; Entschuldigte er sich, er könte solches wieder seyn Gewissen, weil er versichert, daß, was er gelehret, Gottes Wort gemäß wäre, nicht thun, und sprach: Hier stehe ich, ich kan nicht anders, Gott helffe mir, Amen. Friedrich von Thün, Hertzog Friedrich Chur=Fürsten zu Sachsen vertrauter Rath, ist von Chur=Fürsten zu Sachsen auf dem Reichs=Tag zu Worms darzu verordnet gewesen, neben andern, auf D. Luthern mit Achtung zu haben, daß derselbige nicht etwan übereilet würde: Wie er denn auch mit Fleiß gethan, und ihm treulich beygewohnet. Als er itzt in die Versammlung hinein gehen sollen, hat Georg von Freundsberg, ein ta[p]fferer, und freudiger Ritter, Lutherum mit der Hand auf die Achsel geklopfft, und gesagt Münchlein, Münchlein, du gehest itzt einen Gang, einen solchen Standt zu thun, der=[S. C1a: Mai] gleichen ich und mancher Oberster, auch in unser aller ersten Schlacht=Ordnung nicht gethan haben; Bist du auf rechter Meynung, und deiner Sachen gewiß, so fahre in Gottes Nahmen fort, und sey nur getrost, Gott wird dich nicht verlassen. Cochläus ist aber auch von seinen eigenen Leuten aus gelachet worden, daß er zu D. Luthern kommen, und ihm eine Disputation angebothen hat, doch daß er zuvor das Geleit aufsagen solte. Lutherus, der von Pabst verbannet, und vom Käyser in die Acht erkläret war, fuhr von Worms, in Willens, sich wieder nach Wittenberg zu begeben, ward aber auf Anordnung Hertzog Friedrichs des Churfürsten zu Sachsen, zwischen den Schloß Altenstein und Walterhausen, von zweyen vertrauten Edelleuten dem von Steinburg, und Hauptmann Prelops, unterm Schein, als ob es Feinde gethan, aufgefangen, auf ein Pferd gesetzt und auf das Hauß Warburg über Eysenach geführt, da er sich über ein halb Jahr heimlich gehalten; Diesen Ort nennet er in vielen Schreiben, und alldar verfertigten Schrifften, Pathmuca, wie auch Regionem Aviam. Herr Niclas von Amsdorff ist bey Luthero auf den Wagen gesessen, dem es als einer verschwiegenen Person vertrauet gewesen, daß man D. Luthern unterwegens in Güte also in Verwahrung würde nehmen, wie=[S. C2a: Juni] wohl er nicht gewust, durch welche Person es würde geschehen, oder wohin man ihn würde führen. Es meldet Cyriacus Spangenberg, daß sonst etliche auf ihn abgerichtet gewesen, ihm auf der Heimreise bey Halle, oder sonst unterwegens aufzuheben. Matthesius erzehlet dieses also: da Luther des Käysers Herold von Oppenheim von sich gelassen, und aufs Land=Grafen Geleite durch Hessen am Hartz friedlich ankam, und von dannen durch einen Wald nach Waltershausen zu reisen hatte, schaffte er etliche Mitgefährten, die ihn durch den Wald begleiteten, von sich, die andern schickte er vor hin, die Herberge zu bestellen, indes kommt er nicht fern von Altenstein in einen hohlen Weg, da sprangen ihn zween Edelleute, der von Steinburg, und Hauptmann Prelops, mit zweyen Knechten an, und als einer von Fuhrmann Bescheid bekommt,

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heissen sie still halten, und griffen D. Luthern mit vorgestellter Ungestümmigkeit an, und zogen ihn aus seinen Wagen, der eine Knecht pläuet den Fuhrmann, und treibet ihn fort, so Herrn Amsdorff fortführet, biß sie den Gefangenen einen Gegner umgeben, und auf ein Pferd helffen, den sie etliche Stunden im Walde den Reuter=Steig fuhren, biß die Nacht sie überfället, sie binden auch einen auf ein Pferd, damit sie einen Gefangenen mit sich brächten. Also kommen sie fast zu Mitternacht ins Schloß Warten= [S. C3a: Juli] burg bey Eysenach, ungefährlich in der Creutz Wochen, da hält man den Gefangenen wohl und ehrlich, daß sich auch der Kellner drüber wundert. Allda bleibt D. Luther in seinen Gemach, wie der gefangene Sanct Paulus zu Rom in seinen Zimmer. Und ob er wohl lieber zu Wittenberg gewesen, und seines Lehr=Amts abgewartet, und auf glüenden Kohlen liegen wollen, Gott und seinen Wort zu Ehren und Bestätigung, wie er an gute Freunde bald hernach schreibet, so hielt er doch eine Zeitlang im Gehorsam aus, damit er seinen lieben Chur=Fürsten keine grössere Gefahr über sein Land und Leute brächte. Daß aber Lutherus um solche Vergebung muste gewust haben, erscheinet aus den Worten, die er aus Franckfurth am Mayn Sonntags Cantate, Anno 1521. an Lucas Cranichen geschrieben: Ich segne und befehle euch Gott, ich lasse mich einthun, und verbergen, weiß selbst noch nicht wo, und wiewohl ich hätte lieber von Tyrannen, sonderlich von des wütenden Hertzogs zu Sachsen, Händen den Tod erbitten, muß ich doch guter Leute Rath nicht verachten, biß zu seiner Zeit. Lutherus meldet in seinen Schreiben, an L. Nicolaum Amsdorffium, wie es ihm ergangen; Ich bin eben den Tag, da ich von dir weggenommen worden, als ein neuer Reuter, von der langen Reise gantz matt und müde, fast um 11. Uhr in Fin= [S. C4a: August] stern, zur Nacht=Herberge kommen. Nun bin ich hier müßig, wie ein Freyer unter den Gefangenen. Und an Spalatinum: Nachdem wir von dem Eisenachischen Fuß=Volck, so uns entgegen kam, aufgenommen worden, seynd wir zu Abends nach Eisenach kommen, des Morgens frühe seynd alle meine Gefährten nebst dem Hieronymo weggereiset: Ich, nach dem ich so fort reise zu meiner Freundschafft über den Wald, denn sie nimmt fast dar herum das Land ein, und von ihnen Abschied genommen, da wir nach Walters=Hausen zu wolten, bin hinder dem Schloß Altenstein gefangen worden, Amsdorf wuste zwar solches wol, daß ich würde irgend gefangenwerden, aber den Ort, da ich verwahret würde, wuste er nicht. Mein Bruder, welcher die Reuter bey Zeiten sahe, hat sich von den Wagen weggemacht, und ist ohne Abschied darvon gegangen, und wie man sagt, soll er des Abends zu Fusse nach Waltershausen kommen seyn. Also hat man hier meine Kleider mir ausgezogen, und habe einen Reuters=Habit müssen anziehen. Ich lasse mir lange Haare und einen großen Bart wachsen, daß du mich schwerlich würdest kennen, weil ich mich selber schon längst nicht mehr gekennet. Daß aber Lutherus wieder seinen Willen sich verbergen müssen, erhellet aus seinen Schreiben, an Philippum, da er spricht: Bittet ihr nicht [S. D1a: September] vor mich, daß dieser Abtritt, welchen ich ungern genommen habe, etwas grössers würcke zur Gottes Ehre? Ich besorgte mich, ich möchte dafür angesehen werden, als wolte ich den Streit verlassen, und war doch kein Mittel noch Weg, dadurch ich hätte können, denen die wolten und darz riethen, wiederstehen. Ich wünsche nichts mehr, als daß ich möge meinen wütenden und tobenden Feinden entgegen gehen, und meinen Halß darbiethen. Und an Johann Agricolam Ißlebium: Ich bin ein wunderlicher Gefangener, der ich mit und wider meinen Willen, hier sitze mit Willen, weil es der Herr so haben will; Wider meinen Willen, weil ich lieber wünsche öffentlich vor Gottes Wort zu streiten. Aber ich bin es noch nicht würdig gewesen. Wie auch an Nicolaum Gerbelium, JCtum: Ich bin entwichen, und habe meinen Freunden, die es gerathen, gefolget, theils mit Unwillen, theils ungewiß, ob es Gott gefällig. Ich meinete zwar, ich würde meinen Halß öffentlich meinen Feinden müssen hergeben; Aber es hat denen ein anders Gefallen, auf welcher Rath etliche Reuter verordnet worden, welche sich stellen solten, als wolten sie mir nachtrachten, die haben mich auf der Reise gefangen genommen und an einen sichern Ort, da ich wohl tractiret wurde, gebracht.

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An diesem Orte laß er vornehmlich die Ebräische und Griechische Bibel, arbeitete an der Postill über die [S. D2a: Oktober] Evangelia und Episteln; schrieb viel Briefe an vertraute Freunde, verfertigte ein Buch wieder Ambrosium Catarinum, darin er bewiese, der Pabst wäre der rechte Antichrist, und nannte es: Offenbahrung des Antichrists. Legte aus den 68. Psalm. und das Magnificat. Schrieb von der Beichte, u. ob der Pabst hätte zugebiethen. Ließ auch ausgehen das Buch wieder Latomum von Löver, und von den Klöster=Gelübden. Und hatte eben innerliche Anfechtungen, auch äuserliche vom Satan, durch allerhand Spugnüß und Gerumpel, seine Plage, wie er darüber also klagt in den Schreiben an Gerbilium: Haltet nur vor gewiß, daß ich mehr als tausend Teufeln übergeben seyn muß, in dieser müßigen Einsamkeit. Denn es ist viel leichter wieder den lebhafftigen Teuffel, das ist wider die Menschen, als wieder die geistlichen Bösewichter unter dem Himmel zu streiten. Ich falle zwar offt, aber die rechte Hand des Allerhöchsten erhält mich, deßwegen ich auch Verlangen trage, wieder öffentlich auszugehen: Aber ich mag nicht, wo mich nicht mein Herr und Gott darzu wird beruffen. In Lutheri Abwesenheit war die heimliche Messe erstlich im Kloster, hernach in der Pfarr, und endlich in der Schloß=Kirchen zu Wittenberg, abgeschaffet. Es unterfieng sich aber D. Andreas Bodenstein, sonst Carlstadt genannt aus eigenen Frevel, die Bilder mit eigener Hand, [S. D3a: November] durch eine Axt, zu stürmen, und neben den Pöbel aus der Kirchen zu werffen. Worzu auch halff Gabriel Didymus, der sich aber bald besserte und seinen Irrthum erkannte. Genannter Carlstadt richtete eine solche ärgerliche Freyheit auf, daß die Leute das Abendmahl selber, ohne vorhergehende Beichte unwürdiglich vom Altar nahmen, und darnach troziglich Eyer und Fleisch frassen. Er warff die, durch erworbene Ehren=Titul von sich, wolte nicht mehr Doctor, sondern Nachbar Andreas genennt seyn, gieng in einen Filß=Hute, und grauen Rocke, verließ seinen rechtmäßigen Beruff nach Wittenberg, und vertrieb den ordentlichen Pfarrer zu Orlamünda. Und dieser hat den Streit von Abendmahl erregt, auch den heimlichen Propheten und Wiedertäuffern zu ihren Schwarm grossen Anlaß gegeben. Er ersonne auch wunderliche Wörter in seiner neuen Lehre, als: Die Entgröbung, die Studierung, die Verwunderung, die ausgestreckte Luft, die lange Weise, die Besprengung und dergleichen. Daher D. Lutherus bewogen ward, ohne des Chur=Fürstens Vorwissen sich von Wartburg nach Wittenberg zubegeben. Weil aber sonst Lutherus mit ihm als einen Collegen, freundlich umgangen, klaget ers Spalatino, daß es ihm ergehe mit Carlstadten, wie es Christo ergangen mit Juda: Dieser theil des Creutzes mangelt noch, und der rechte Zustand [S. D4a: Dezember] des Worts, daß den Gesalbten mit Füssen tritt, der sein Brod aß. Aber der Herr Christus, welcher auch über den Satan herrschet, lebet noch. Und auf des Königs zu Engelland Läster=Schrifft Ich hatte bißher schier allerley versucht, und erlitten, aber mein Absalon, mein liebes Kind, das hatte seinen Vater David noch nicht verjagt, und geschändet: Mein Judas, der die Jünger Christi gescheucht, und seinen Herrn verrieth, der hatte das seine noch nicht gethan an mir, das ist nun auch im Werck, Gott sey gelobt, und seine Gnade müsse es walten. Wunder hatte michs, warum mir die Vers im Psalter so gar nicht schmecken wollen, da er spricht: der meines Brods aß, tratt mich mit Füssen, Ps. 41. v. 10. Und aber! du warest mein Gesell, mein Pfleger, mein Freund, die wir freundlich mit einander waren in geheim, wir wandelten in Hauß Gottes zu hauffen. Ps. 55, 14. 15. Wie faule Weide schmeckten sie mir zur Zeit: aber ich meine, ich habe Köche krieget, die sie mir gewürtzt, und zu Gallreden gesetzt haben, daß sie mir schmecken müßen: Aber das sollen die allerguldesten Freunde seyn, heist das des Menschen Haußgenossen werden keine Feinde seyn? Matth. 10, 36. Warum verstunde ichs zuvor nicht? sind das die Säu und Hunde, die sich umkehren und zerreissen uns, wenn wir Heiligthum und Perlen ihnen fürwerffen; Herr Gott, wer wuste es? Da lieber Juncker Luther, lerne ein andermahl, was da heist, hütet euch für Menschen; bist du ein Doctor, und wilt den Teuffel fast wohl kennen, und weist das noch nicht.

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[Kalender für 1732, S. B1a: Januar] Fortsetzung Der Beschreibung Des Lebens D. M. Luthers, Und dessen ergangenen Heilsamen Reformation=Werckes. Wir haben mit den Schlusse vorigen Jahres unsern seligen Glaubens=Vater D. Lutherum auf der Wartenburg, in seinen ihme angewiesenen Zimmer, gelassen; Nunmehro aber wollen wir vernehmen, was ihme daselbst begegnet, und wie er damals seine Zeit, dieser gantzen zehen Monate über zugebracht. Anfänglich fiehle dieser theure Rüstzeug Gottes in eine gar gefährliche Kranckheit, welche sonder Zweiffel von der ausgestandenen Incommodité auf seiner beschwerlichen Reisse von Worms mochte hergerühret haben; Doch aber stärckete ihm der HERR, dessen Werck er führete, wiederum gar balde, daß er zu seiner vollkommenen Gesund [S. B2a: Februar] heit gelangete. Wie wohl er dennoch immerzu viele Satanische Versuchungen muste dabey ausstehen. Hier fande er nun Gelegenheit viel Gutes zu stifften und zu schreiben. Dannenhero lase er nicht nur fleißig die Ebräische und Griechische Bibel, sondern verteutschete auch das gantze neue Testament, wurde auch mit Ubersetzung des Psalters fertig, und fieng an zu arbeiten an seiner Postill über die Evangelia und Episteln, wie auch an andern Büchern. Inzwischen bliebe seine gerechte Sache zu Rom ein wenig in Ruhe, weil eben zu Ende deß 1521. Jahres Pabst Leo der Zehnde, Todes verblichen. Währender Zeit fielen seiner Lehre Erfurt, Hamburg, Halberstadt, Goßlar und andere grosse Städte bey. Als aber 1522. die Anabaptisten, und sonderlich Andreas Carlstadt zu Wittenberg sehr unruhig waren, als welcher mit vielen Studenten in die daßige Schloß=Kirche gieng, und daselbst mit grossen Wüten der Heil. Bilder und Statuen, nebst den Altären übern Hauffen warffen. So verließ Lutherus, nach dem zu vorhero die Wittenbergische [S. B3a: März] Gemeinde an ihm nach Wartenburg geschrieben, diesen seinen Pathmum, und kam den 7. Martii jetztgedachten Jahres nach Wittenberg, entschuldigte sich schrifftlich gegen den Chur=Fürsten von Sachßen, daß er ohne sein Vorwissen aus seiner Gefangenschafft gegangen wäre, lehrete also daselbst sehr eifferig wieder Carlstädten, welcher aber immer ärger ward. Da er aber sahe, daß er wieder Lutherum nichts auszurichten vermochte, begab er sich auf ein nahe bey Wittenberg gelegenes Dorff, und trieb daselbst Bauer=Arbeit, und wolte nicht mehr Doctor, sondern nur Nachtbar Andreas heissen. Wie sehr sich Wittenberg über seine Ankunfft müsse erfreuet haben, ist leichtlich zu erachten, zumahl da er nach dieser seiner Wiederkunfft von dem Sonntage Invocavit an biß auf Reminiscere, alle Tage eine Predigt gehalten, und das Pabstthum darinnen wiederleget. Eben in diesem Jahre, wurde er samt seinen Schrifften von dem Bischoffe zu Naumburg, Freisingen, Brandenburg, Hertzog Georg von Sachßen, Hertzog [S. B4a: April] Heinrichen von Braunschweig, und vielen anderen verdammet. So schrieb auch Heinrich der Achte, König von Engelland, wieder ihn von den sieben Sacramenten, zu Behauptung der Päbstlichen Gewalt, und wiederstritte vornehmlich sein Buch de captivitate Babilonica, weswegen von der Zeit an die Könige von Engelland Defensores fidei genennet wurden. Auch wiederlegete er nach seiner Wiederkunfft in Wittenberg die Wiedertäuffer, Marcum Stubnerum und Martinum Cellarium so nachdrücklich, daß sie sich noch desselbigen Tages aus der Stadt begaben. Noch in eben diesem Jahre gab er unter andern Büchern der heiligen Schrifft zu erst heraus den Evangelisten Matthäum, hernach den Evangelisten Marcum, und die Epistel an die Römer in teutscher Sprache; Und den 21. Sept. dieses Jahres brachte er die Ubersetzung des neuen Testaments zu Ende, nahme hierauff das alte Testament vor die Hand, und kam biß ins dritte Buch Mosis. Er verantwortete sich auch schrifftlich wieder obgedachten [S. C1a: Mai] Heinrich den achten König in Engelland, und beklagte sich, daß er von nichts als von Evangelio und von Christo redete, seine Wiedersacher aber mit nichts antworteten, als mit den Kirchen= Lehrern, alten Gewohnheiten und Menschen=Satzungen.

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Hier kam auch sein auf dem Schlosse zu Wartenburg übersetztes neues Testament, zum erstenmal in den Druck. Stritte mit Nicolao Storcken, Thoma Müntzern und andern neuen Propheten, fieng an, das Evangelium in Fürstenthum Anhalt zu predigen, und ordnete die Ceremonien an bey der Tauffe und heiligem Abendmahls, und drunge auf die Reformation der Geistlichen Güter, auch kurtz vor dem Schlusse dieses 1522ten Jahres hielte er die letzte Päbstliche Messe. Anno 1523. brachte er die Ubersetzung derer 5. Bücher Mosis zu Ende, und übergab sie zum öffentlichen Druck, auch verteutschete er die Historien=Bücher im Alten Testamente. Er schrieb auch ein Buch von der Würde und dem Amte der Weltlichen Obrigkeit, wel= [S. C2a: Juni] ches Buch denn sonderlich Chur=Fürst Friedrich sehr hoch und werth hielte. Hernach so wurde in diesem Jahre zu Nürnberg ein Fürsten=Tag gehalten, wobey sich der Päbstliche Nuncius Franciscus Cheregatus im Nahmen Pabst Hadrianus des sechstens gewaltig beschwerete, daß man Lutherum nicht bestraffete, oder gar aus dem Lande verjagete. Dergleichen schrifftliche Vorstellungen nicht nur durch eine Päbstliche Bulle geschahen, sondern auch von Chur=Fürst Friedrich Heinrichen den achten König in Engelland und Ludwig König in Böhmen und Ungarn, ergangen waren. Worauf der Chur=Fürst antwortete: Man müste Doctor Luthern erstlich vor einem Concilio verhören, und ihn hernach, wenn er schuldig wäre, verdammen. Inzwischen wurde auf diesem Fürsten=Tage zu Nürnberg, daß wann der [wider] ihn ergangene Wormische Edict, in Abwesenheit des Käysers von den Ständen aufgehoben, und dargegen beschlossen, daß des ehestens [S. C3a: Juli] ein Concilium in Teutschland solte angestellet werden. Und obschon des neu=erwählten Pabsts Hadriani des sechsten Legate, nemlich nur erwehnter Franciscus Cheregatus, wie auch des folgenden Pabstes Clementus des achten Legate, Laurentius Campegius, sehr darwieder war, auch der Käyser Carl der fünffte. Diesen Reichs=Schluß, darüber er sich sehr entrüstete, durch seinen Abgesandten zu hintertreiben suchte, so blieb es dennoch vor dieses mahl darbey. Mittlerweile aber hätte sich seine Lehre hin und wieder ausgebreitet, und die Evangelischen Lehrer und Prediger, fiengen nach seiner Lehre an zu Heyrathen, unter welchen Bartholomaeus Feldkirchius, Probst zu Kemberg der erste war, welchen die Straßburgischen Prediger sodann nachfolgeten. Er gab auch eine Formul wegen der Messe und das heiligen Abendmahls heraus, darinnen er den Canonem, welcher des Abendmahl des Herrn in ein Opfer vor die Lebendigen und Toden verkehret, gäntzlich abschaffete, und war dieses die erste Veränd= [S. C4a: August] derung der Päbstlichen Kirchen=Gebräuche. Auch setzete er die absonderliche Beichte, welche Carlstadt abgeschaffet hatte, wiederum ein. Und es gienge seine künfftige Ehe=Frau Catharina von Bohren, nebst acht andern Nonnen Cisternicenser[sic]-Ordens aus dem bey Grimma gelegenen Kloster Nimpschen, und wurde durch Leonhard Kippen, einen Torgauischen Burger, nach Wittenberg gebracht. Eben in diesem Jahre den 1. Julii, wurden wegen seines Glaubens=Bekänntnisses Henricus und Johannes, zwey Augustiner=Mönche, unter der Inquisition Jacob Hogstratens, eines Dominicanerns, öffentlich verbrannt; Da sie denn vor ihrem Tode das Te Deum laudeamus gesungen und gesaget: Die glüenden Kohlen schienen ihnen liebliche Rosen zu seyn. Anno 1524. ist eben so viel sonderliches nicht passiret, ausser daß er im Anfange dieses Jahres das Buch Hiobs übersetzet, und angefangen unterschiedene teutsche Lieder zu verfertigen. Auch kam der gantze Psalm in teutscher Sprache indeß heraus, und [S. D1a: September] den 9. Octobr. legete er die Münchs=Kutte gäntzlich ab. Hingegen war das 1525te Jahr um so viel merckwürdiger. Immassen er denn nicht nur im Anfange dieses Jahres wieder Andream Carlstadten von den Bildern, der Messe und dem heiligen Abendmahle schriebe, sondern auch die Bauren in Francken und andern Orten, welche Thomas Müntzer, der erstlich zu Zwickau, hernach zu Altstädt Prediger war, aufgewiegelt

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hatte, ehe sie zum Waffen griffen, giengen sie von Auffruhr ab, untersuchete ihre Glaubens=Articul, und zeigete, daß die meisten derselben wieder die heilige Schrifft wären. Er erinnerte auch die Fürsten und Edelleute, daß sie den Aufruhr der Bauren, vermöge ihres Obrigkeitlichen Amtes, stillen möchten. Damit aber der geneigte Leser wissen möchte, was es mit diesen Auffruhr, oder so genannten Bauern=Kriege vor eine Bewanntniß gehabt, so hat man vor nöthig geachtet demselben hievon bey dieser Gelegenheit eine umständliche Nachricht zu communiciren. [S. D2a: Oktober] Es ist bekannt, daß die Herren Papisten den Ursprung dieses Aufruhres dem Herrn Luthero wollen Schuld geben; Allein es hat Petrus Gnadalius in seiner Historia seditionis Rusticorum angemercket, daß Catholische die Urheber desselben, und zwar des Abts von Kempten Unterthanen unstreitig gewesen seyn. Uberdieß, so waren ja schon 13. Jahr vor Lutheri Reformation die Bauren durch den Pfaffen=Geitz zu der so genannten Gesellschafft von Bundschuh gebracht worden. Es nahm aber nun dieser Aufruhr seinen Anfang im Algöw, im Fürstenthum Würtemberg am Schwartzwalde, und im Schwaben; das Verspiel aber machten die Bauren am Rhein, im Elsaß, im Stifft Saltzburg, Francken und Thüringen. Die Haupt=Ursache, waren die geistlichen Prälaten und andere Herren, welche sie theils biß auffs Blut aussaugeten, theils ihnen auch das Evangelium mit tyrannischer Verfolgung verweigerten. Diesem setzten die muthwilli= [S. D3a: November] gen Bauren nachfolgende 12. Puncte auff, und begehreten deren Anfoderung mit Gewalt, darauff sie sich auch verschworen hatten: 1) Daß die Gemeinde Macht haben solle, einen Priester zu wehlen, ein und ab zusetzen, und nicht erst Bischöffe und Pfaffen darum fragen dürffte. 2) Daß sie niemanden hinfort den Zehenden geben dürfften, als ihrem Priester, so viel er brauchte, das übrige aber den Armen. 3) Wolten sie der Leibeigenschafft gantz entlediget seyn. 4) Das Wild, Vogel, und Fische ins gemein haben. 5) Desgleichen die Holtzungen, so nicht erblich verkaufft wären, daß ein jeder desselben so viel nehmen dürffte, als er zum Brennen und Brauen bedurffte. 6) Begehrten sie Linderung der Dienste, daß sie damit nicht mehr, als ihre Vor=Eltern beschweret würden. 7) Forderten sie Christliche [S. D4a: Dezember] Milderung der Lehn und Dienste auf ihren Gütern. 8) Auch dergleichen Erlassung an Zinsen und Gülden. 9) Solten die Obrigkeiten eine bessere Ordnung in Straffen, als bißher geschehen, halten, und nicht nach Gunst richten. 10) Was gemeine Güter gewesen, und eigen gemacht worden, solte in vorigen Stand gesetzet werden. 11) Die Toden=Ceremonien, wie sie von Wittwen und Waisen nach ihrer Männer und Eltern Tote gehalten worden, solten gäntzlich abgeschaffet werden. 12) So ein oder der andere Artickel Gottes Wort nicht gemäß, oder gar zu wieder wäre, wolten sie gerne davon abstehen, aber doch keiner neuen Artickel, sich dabey begeben haben. Künfftig geliebtes GOTT ein mehrers hieran.

Abbildungsnachweis Beitrag Reinhart Siegert Abb. 1: Brockhaus’ Konversations-Lexikon. In sechzehn Bänden, Bd. 5: Deutsche Legion – Elektrodiagnostik, Leipzig/Berlin/Wien 141898, S. 122 (Ausschnitt); Abb. 2: Kommission für Zeitgeschichte e.V., Bonn. Beitrag Alexander Krünes Abb. 1: Lithographie von Carl Müller; abgedruckt in: Saxonia. Museum für sächsische Vaterlandskunde 5 (1841), Nr. 20, S. 105. Beitrag Joachim Scholz Abb. 1–2: Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Beitrag Klaus-Dieter Herbst Abb. 1–3: Sammlung Klaus-Dieter Herbst (Jena).

Ortsregister Das Register enthält alle im Text- und Fußnotenteil aufgeführten Orte. Geographische Landschaftsbezeichnungen sowie territoriale Bestandteile in Herrschaftstiteln wurden nicht aufgenommen. Ortsnennungen, die lediglich bibliographischen Angaben zugehören, wurden ebenfalls nicht erfasst. Allstedt 67, 85 Altenbergen b. Gotha 113 f., 143, 146 f. Altenburg 64, 66 f., 85, 315, 343 Annaberg 72, 99, 342 Antwerpen 298 Apfelstädt 310 Apolda 85 Arnstadt 17, 64, 68, 73, 85, 88, 296– 298, 303 Augsburg 21 f., 161 f., 164, 169 f., 312 Bamberg 119 Banz 168 Basel 21, 129 Benshausen 79 Berlin 52, 138, 183, 303 Bielefeld 135 Blankenburg 85 Blankenhain 311, 313 Bleicherode 321 Borna 66 Bremen 8 Bückeburg 212, 243, 249–252, 254 Bunzlau 278 Camburg 11, 79 Coburg 11, 16, 64, 67, 85 Cossebaude 48 Creuzburg 85 Dessau 195–197, 221 Detmold 196 Dresden 48, 75, 226, 319

Ebeleben 154 Ebersdorf 10 Eisenach 36 f., 64 f., 67, 72, 85, 111, 152, 231 f., 247, 296, 302 f., 308 f., 321, 335 f., 339, 345 f. Eisenberg 11, 64, 66, 85, 303, 306 Eisfeld 67, 85, 303 Eisleben 319, 339 Engelsbach 143 Erfurt 11–13, 19, 23 f., 67, 71, 85, 92, 97, 107, 114, 144–146, 148, 244– 250, 254, 258, 296, 302–304, 306, 335, 339 f., 348 Finsterberga 143 Fischberg 78 f. Frankenhausen 296 Frankfurt am Main 22, 104, 131, 193, 263 Freiberg 332 f. Freiburg 164 Freienwalde 289 Gera 7 f., 10, 57, 68 f., 86, 112, 133, 296, 298–301, 306 Göttingen 146, 243 Gotha 7, 11, 13 f., 30, 64 f., 78, 86, 92, 99 f., 113–115, 146 f., 149, 248, 293, 303 f., 306, 310, 314 Greiz 10, 68 f., 86, 298 Großenbehringen 146 Großenhain 17, 297 Großenmonra 225 Güstrow 194 Hamm 186

ORTSREGISTER

Hannover 189, 279 Heldburg 86 Helmstedt 245 Hildburghausen 79, 86, 104, 116, 296 Hirschberg 329 Ichtershausen 309 Ilfeld 303 Ilmenau 78 f., 81, 86, 297 Jechaburg 297 Jena 8, 12, 16, 30, 64, 66 f., 86, 94, 102, 104, 111, 146, 154 f., 210, 225, 229, 233, 301, 303, 307, 314 Jerusalem 265, 268 Kahla 66, 86 Kaltennordheim 78, 81 Karlsruhe 261 Keilhau 314 Kirchhasel 17, 152 Kindelbrück 68 Kölleda 225 Königsberg 281, 301 Königsee 86 Köslin 278 Köstritz 300 Konstanz 44, 122, 273 Kopenhagen 183 Kranichfeld 79, 86, 298 Langensalza 39, 69, 72, 74–77, 86, 146 Latterfeld 143 Leipzig 16, 21, 35–37, 75, 86, 99, 104, 183–189, 192–194, 196–198, 201, 225, 243–246, 301, 319, 322 f., 326, 333, 342–344 Lobenstein 10, 68 f., 86, 298 London 178, 211 Luzern 273 Magdala 86

353 Magdeburg 115, 122, 281, 302, 305, 333, 335, 339, 341 f. Mainz 23, 153, 164, 169, 171, 244, 246, 249, 293 Mansfeld 47, 302 Meiningen 61, 63, 70, 72, 78–83, 86 Meuselwitz 73 Mildheim 53, 303–305 Minden 133–138 Mönchröden 86 Monsheim 193 Mühlberg/Elbe 307 Mühlhausen 11, 19, 39, 64, 67, 70, 73, 86, 295, 303 München 161 Münster 134, 136, 322 Nazza 309 Neuenhof 232 Neuhaus 79, 86 Neu-Isenburg 193 Neukirchen 152, 309 Neustadt an der Orla 39, 41, 64, 66, 73, 77 f., 81, 86 Neustadt bei Coburg 86 Niederroßla 308 Nordhausen 11, 19, 64, 67, 70, 86, 296, 303 Nürnberg 21 f., 317, 321, 329, 349 Obergebra 321 Oldenburg 297 Orlamünde 67, 86 Ostheim 81 Paderborn 128 f., 133–136, 138 f. Pegau 322 Penig 167 Philadelphia 309 Pirna 342 Plauen 69 Pößneck 66, 86, 296, 309 Potsdam 283, 289 Prag 183, 196

ORTSREGISTER

354 Ranis 310 Ravensberg 135 Reckahn 47 Reinhardsbrunn 113, 146, 148 Rodach 87 Römhild 70, 79, 87, 295 Rom 107, 157 f., 172 f., 324, 341, 346, 348 Ronneburg 67, 87, 300 Roßleben 303 Rostock 251, 343 Rudolstadt 68, 87, 152, 296 Saalfeld 11, 16 f., 64, 66 f., 79, 87, 157, 296, 303, 309, 313 f. Salzburg 119, 161, 164, 175 Sand 78 Sangerhausen 39, 69, 75 Schalkau 87 Schleiz 10, 68 f., 87, 296, 298, 303, 309 Schleusingen 69 f., 78 f., 81 f., 87, 143, 303 Schmalkalden 71, 79, 87, 114, 295, 339 Schmölln 87 Schneeberg 99, 300 Schnepfenthal 7, 13, 301, 314 Sömmerda 143, 313 Sondershausen 39, 68, 73, 87, 296 f. Sonneberg 79, 87 Speyer 176, 324 Sprötau 313 Stadtilm 87 Stadtroda 87 Straßburg 21 f., 349 Stünzhain 233 Suhl 78, 81, 87 Tannroda 73

Tenneberg 66 Thal 310 Themar 78 f. Trier 145, 156 Tübingen 274 Unkel am Rhein 227 Utrecht 193 Vlotho 138 f. Waltershausen 149, 345 f. Wangenheim 146 Wasungen 78 f. Weida 64, 66, 87 Weimar 30, 64, 67, 78, 87, 151, 157 f., 210, 212 f., 222 f., 225–233, 239, 244, 297, 303, 306, 308, 311, 314 Weißenfels 39 Weißensee 69, 87, 143 Wetzlar 252–255, 258 Wien 53, 115, 164, 223, 257 Winterthur 193 Wittenberg 21, 38, 63, 75 f., 94, 102, 107, 109, 217, 235, 264, 303, 307, 321 f., 324, 331 f., 335 f., 341, 343–349 Wriezen 289 Wolfsbehringen 146 Wolmirsleben 122 Worms 23, 240, 330, 335, 344 f., 348 Würzburg 79, 119, 164, 168–170, 175 Zürich 194 Zwickau 300, 320, 323, 332 f., 342, 349

Personenregister Das Register verzeichnet die Namen aller im Textteil erwähnten Personen, mit Ausnahme des fast durchgängig präsenten Namens von Martin Luther. Alle im Fußnotenteil erwähnten historischen Persönlichkeiten wurden ebenfalls erfasst. Jedoch ist darauf verzichtet worden, die Namen jener Personen aufzunehmen, auf die im Fußnotenteil nur im Kontext der Forschungsdiskussion rekurriert wird. Ebenso wurden alle Personennamen, die lediglich in bibliographischen Angaben erscheinen, nicht verzeichnet. Ackermann, Constantin 82 Albrecht, Markgraf von Brandenburg 342 Amsdorff, Nicolaus von 326, 345 f. Apfelstedt, Friedrich 154 f. Aquila, Caspar 67 August, Herzog von Sachsen-GothaAltenburg 113 f. August II., König von Polen-Litauen 75, 321 August III., König von Polen 75 Barth, Carl Georg Christian 186 Basedow, Johann Bernhard 195, 197, 289 Bassing, Günther 146 Baumann, Georg Friedrich 139 Bechstein, Ludwig 61, 81 Becker, Gottfried Wilhelm 312 Becker, Rudolph Zacharias 7, 13 f., 17, 27, 53, 114–116, 155, 293 f., 303–306 Bell, Johannes 285 Bernhard, Herzog von SachsenWeimar 230 Bernhard II. Erich Freund, Herzog von Sachsen-Meiningen 17 f., 79, 104 Bernhardt, Ernst 281, 283–285 Berthold XVI., Graf von HennebergRömhild 70 Bertuch, Friedrich Justin 244 Bessel, Carl Friedrich 135

Binzer, August Daniel von 312 Bittorf, Christian 322 Bittorf, Christian Benjamin 322 Blanckenburg, Christian Friedrich von 197 f. Bodenstein, Andreas 22, 67, 321, 324, 336, 347 f. Böttiger, Karl August 226–228, 231 f., 322 Bohl, August Jakob 176 Bonifatius 113, 117, 146 Bonstetten, Karl Victor von 43 Bora, Katharina von 178, 283, 330, 349 Bornschein, Johann Ernst Daniel 7, 9, 28–31, 58, 306 Brehme, David 320 f., 325, 330 f. Breitenbauch, Ludwig Franz von 309 Bretschneider, Karl Gottlieb 30, 98– 104, 106, 109, 149–152, 156–159, 206 Brückner, Georg 81 Brückner, Nicolaus 113, 146 Brückner, Wolfgang 24 Bube, Adolf 113 Buchbach, Rudolph 119 Bugenhagen, Johannes 28, 142 Burscher, Johann Friedrich 184 Calvin, Johannes 161, 163, 169, 171, 173, 201 f. Campe, Joachim Heinrich 195 f., 221, 349

356 Carl Alexander, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 229 Carl August, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 38, 98, 225, 227, 233, 306–308 Cheregatus, Franciscus 349 Chytraeus, David 327 Claudius, Georg Karl 186 Clemens VII., Papst 349 Cochläus, Johannes 345 Concius, Andreas 337 Cotta, Conrad 106 Cotta, Ursula 106 Cranach, Lucas 294, 326 Dalberg, Carl Theodor von 119, 122, 244, 246 f., 258 Damm, Christian Tobias 216 Dammers, Richard 133, 138 Darjes, Joachim Georg 314 Degenkolb, Carl Christian 184 Derschau, Hans Albrecht von 294 Dinter, Gustav Friedrich 43, 226, 281, 301 Döring, Christian 294 Dolz, Johann Christian 301 Düring, Balthasar 67, 85 Eckermann, Johann Peter 227 Eichler, Christian Gottlob 184 Elisabeth, Gräfin von IsenburgBüdingen 297 f. Elisabeth, Prinzessin von Braunschweig-Calenberg 69 Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim, Kurfürst von Mainz 244, 249 Erasmus von Rotterdam 46 Ernst I., Herzog von Sachsen-GothaAltenburg 94 Ernst August I., Herzog von SachsenWeimar-Eisenach 80 Ernst August I., König von Hannover 200 Eß, Leander van 118, 134

PERSONENREGISTER

Ewald, Johann Ludwig 141, 312 Felbiger, Johann Ignaz 118 Felder, Franz Karl 124, 126, 131 Feldkirch, Bartholomäus 249 Felsecker, Wolf Eberhard 317 Forster, Johann 69 Fran[c]ke, August Hermann 289 Franklin, Benjamin 309, 312 Franz II., dt. Kaiser 252–254 Freiligrath, Ferdinand 227 Freiligrath, Ida 227 f. Freundsberg, Georg von 345 Friderici, Johann David 323 Friedrich, Herzog von SachsenHildburghausen 11 Friedrich II., Herzog von SachsenGotha-Altenburg 344 f., 349 Friedrich II. (genannt der Große), König von Preußen 304 Friedrich III. (genannt der Weise), Kurfürst von Sachsen 63, 65, 92, 108, 307 Friedrich IV. (genannt der Kinderlose), Herzog von Sachsen-GothaAltenburg 11 Friedrich August I. (genannt der Starke), Kurfürst von Sachsen 321 Friedrich August II., König von Sachsen 75 Friedrich Leopold, Graf zu StolbergStolberg 166 Fries, Valentin 153 Fröbel, Friedrich 314 Fröbing, Johann Christoph 128 f., 133 f., 279 Frommann, Friedrich Johannes 16, 155 Froriep, Amalie 244, 248 Froriep, Justus Friedrich 241, 244–258 Froriep, Ludwig Friedrich 244 Garve, Christian 194 f., 198 Gedike, Friedrich 195, 279 f. Gehring 313

PERSONENREGISTER

Gehrken, Joseph Christoph 133 f. Gellert, Christian Fürchtegott 193, 197, 223 Georg (genannt der Bärtige), Herzog von Sachsen 68, 74, 76, 326, 343, 348 Georg Ernst, Graf von HennebergSchleusingen 40, 69 f., 78, 80–83, 87 Georg Wilhelm, Erbgraf von Schaumburg-Lippe 249 f. Gerbel, Nicolaus 326, 346 Gerlach, Friedrich Christian 146 Giesebrecht, Friedrich Gustav Theodor 239 Gnodalius, Petrus 328, 330 Göll, Heinrich Gottlieb 309 Goethe, August von 228 Goethe, Johann Wolfgang von 186, 211 Goldhagen, Johann Eustachius 171 Gottsched, Johann Christoph 193 Gräf, Wolfgang 87 Grau, Johannes 67 Gregor XVI., Papst 152 Grimmelshausen, Johann Jakob Christoffel von 329 Grüneberg, Christian 337 Günther, Karl Wilhelm 128, 133–139 Günther XXXIX., Graf von Schwarzburg-Blankenburg 68, 85 Günther XL., Graf von SchwarzburgSondershausen 68, 87, 297 Günter XLI. (genannt Bellicosus), Graf von Schwarzburg-Arnstadt 297 Günther Friedrich Carl I., Fürst von Schwarzburg-Sondershausen 98, 143 Gustav II. Adolf, König von Schweden 104 Gutenberg, Johannes 23, 215, 293, 309 Hadrian VI., Papst 349 Hahn, Johann Philipp 319 Hahn, Johann Zacharias Herrmann 300 f.

357 Hamann, Johann Georg 211, 247 Hamberger, Georg Albrecht 337 Hardenberg, Georg Friedrich Philipp von 209–211 Harms, Claus 130 Hasenkamp, Johann Heinrich 186 Harnisch, Wilhelm 284 Hebel, Johann Peter 258, 260 f., 263– 267, 269–274 Hein, Heinrich Reinhold 289 f. Heinrich (genannt der Fromme), Herzog von Sachsen 69, 74, 76 f., 86 Heinrich (genannt Posthumus), Herr zu Gera 298, 301 Heinrich III., Graf von Plauen, Reuß zu Lobenstein 299 Heinrich VIII., Graf zu Reuß-Hirschberg 299 Heinrich VIII., König von England 172, 348 f. Heinrich X., Graf und Herr zu ReußEbersdorf 299 Heinrich XI., Graf zu Reuß-Schleiz 299 Heinrich XIII., Fürst zu Reuß j. L. 77 Heinrich XIV., Fürst zu Reuß j. L. 68, 77, 86 Heinrich XVIII., Graf von Reuß-Gera 299 Heinrich XXXII., Prinz Reuß zu Köstritz 68, 85 Heinrichshofen, Wilhelm von 305 Hempel, Carl Friedrich 233 Henning, Wilhelm 278–280 Herder, Johann Gottfried 209–219, 226–228, 247 Herzog, Karl 16 Hey, Wilhelm 305, 309 Heyer, Christoph Salomon 146 Höfer, Friedrich Gottlob 323 Höfer, Johann Friedrich 323 Högger, Anna Elisabeth 193 Hoffmann, Christian Gotthold 48 f. Hoffmann, Gottfried 329, 334, 337 Hoffmann, Johann Wilhelm 232

358 Hogstraten, Jacob 349 Hontheim, Johann Nikolaus von 145 Huber, Fridolin 118 Hübner, Lorenz 175 Hus, Jan 44 Hutten, Ulrich von 215 Ide, Gottlieb Heinrich 185 Ihling, Johann Konrad 110 Iselin, Isaak 196 Jacobi, Johann Adolph 149 Jahn, Johann 223 Jenisch, Daniel 47 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 145, 186 f. Johann (genannt der Beständige), Kurfürst von Sachsen 63, 65, 320 Johann Friedrich I. (genannt der Großmütige), Kurfürst von Sachsen 63, 68 f., 230, 303, 307 Johann Georg I., Kurfürst von Sachsen 34, 38 Joseph, Herzog von Sachsen-Altenburg 17 f. Joseph II., dt. Kaiser 253, 263, 304 Junius, Ulrich 337 Kant, Immanuel 212, 279 Karl, Erzherzog von Österreich 254 Karl (genannt der Große), Kaiser des fränkischen Reichs 289 Karl V., röm.-dt. Kaiser 307, 349 Karlstadt → Bodenstein, Andreas Katharina, Gräfin von NassauDillenburg 298 Kelz, Jacob 313 Keyser, Friedrich 306 Kindermann, Ferdinand 118 Kindt, Nicolaus 67 Kippen, Leonhard 249 Kirch, Gottfried 317, 337 Klein, Friedrich August 233, 307 Klopstock, Friedrich Gottlieb 214, 216, 248

PERSONENREGISTER

Köberle, Johann Georg 131 Kölle, Christoph Friedrich Karl von 266 Körner, Johann Gottfried 185 Kohlrausch, Hermann Friedrich Theodor 312 Kresse, Zacharias 17 f. Krögen, Karl Heinrich 183–185 Kromeyer, Johannes 314 Krummacher, Friedrich Adolf 223 Kuntz, Friedrich 310 Kuß, Nicolaus 343 Lancester, Joseph 385 Lang, Johannes 67, 71, 326 Langheld, Carl Christian Friedrich 113 f. 145–148 Langius, Paulus 327, 342 Lavater, Johann Casper 193–196 Leibniz, Gottfried Wilhelm 214 Leo X., Papst 30, 341 f., 344, 348 Leo XII., Papst 152 Leopold II., Erzherzog von Österreich; Großherzog der Toskana 253 Lessing, Gotthold Ephraim 214 Lichtwer, Magnus Gottfried 223 Löbe, William 170f. Löffler, Josias Friedich Christian 114 f. Lomler, Friedrich Wilhelm 116, 127, 294 Lotter, Tobias Heinrich 312 Ludewig, Johann 48 Luise, Großherzogin von SachsenWeimar-Eisenach 225 Luise Dorothea, Herzogin von SachsenGotha-Altenburg 248 Luther, Hans 106, 306, 335, 339 f. Luther, Margaretha 106, 306, 335, 339 f. Maimbourg, Louis 331 Maria Pawlowna Romanowa, Großherzogin von SachsenWeimar-Eisenach 229, 310 Mastiaux, Kasper Anton von 131

PERSONENREGISTER

Mathesius, Johannes 328, 330 f., 336 Mattheson, Johann 55 Mecum, Friedrich 66 f. Mehlhose → Melos, Johann Gottfried Melanchthon, Philipp 22, 28, 66, 92, 99, 142, 201 f., 215, 217, 247, 289, 303, 326 Melos, Johann Gottfried 221–239, 306 Melos, Ulrica Justine Wilhelmine 227 f. Menzel, Wolfgang 212 Meyer, Carl Joseph 16, 27 Michahelles, Karl Friedrich 68 Miltitz, Carl von 343 Möller, Andreas 327, 331 f., 343 Morus, Samuel Friedrich Nathanael 185 Moser, Friedrich Carl von 55 Müller, Carl 147 Müller, Friedrich von 227 Müntzer, Thomas 44, 67, 230, 349 Muth, Placidus 114 f., 146 Myconius → Mecum, Friedrich Napoleon I., Kaiser von Frankreich 9, 115, 165 Natorp, Bernhard Christian Ludwig 129, 133–136, 138, 277, 281–289, 291 Neander, August 239 Nettelbeck, Joachim 312 Nicolai, Friedrich 195 Niemeyer, August Hermann 280, 285, 301 Nieritz, Gustav 313 Nonne, Karl Ludwig 17 f., 27, 33, 104–109, 154, 305 f. Novalis → Hardenberg, Georg Philipp Friedrich von Olearius, Johann Christoph 298 Packmor, Leo 297 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 30

359 Pestalozzi, Johann Heinrich 104, 278, 285, 289 f., 301, 305 Petreius, Johann 295 Pfaffenrath, Carl von 16 f., 27 Pfeffel, Gottlieb Konrad 223 Pfeiffer, Heinrich 67 Pfizer, Gustav 312 Pflaum, Ludwig 307 Philipp I., Landgraf von Hessen 71 Philipp II., Graf zu Schaumburg-Lippe 249 Pius VI., Papst 173 Planck, Gottlieb Jakob 307 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 30 Pogwisch, Ottilie von 228 Pogwisch, Ulrike von 228 Poppe, Johann Heinrich Moritz von 312 Preusker, Karl Benjamin 17, 297, 309, 312 Puccio, Laurentino 342 Pütter, Johann Stephan 250 Rasch, Johann Christian Ferdinand 310 Ratke, Wolfgang 314 Reil, Johann Christian 51 Reinecken, Johann 339 Resewitz, Friedrich Gabriel 195 Reyher, Andreas 314 Rödinger, Christian 303 Richter, Christoph 317, 337 Richter, Theodor Friedrich Maximilian 312 Riemann, Heinrich 36 Rochow, Friedrich Eberhard von 47, 53, 195, 289 Röhr, Johann Friedrich 30, 151 f., 156, 188, 222, 233 Ronge, Johannes 156–158 Sachs, Hans 22 Salzmann, Christian Gotthilf 7, 13, 17, 27, 52, 301, 314 Schaubach, Eduard 82

PERSONENREGISTER

360 Scheiblich, Gottlieb 132 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 210 Schenck, Wolfgang 23 Scherr, Johann Heinrich 129, 135–137 Schlegel, Friedrich von 210 Schmid, Christoph von 312 Schmid, Karl Günther 311–313 Schmidt, Bernward 241 Schmidt, Martin 188 Schmidt, Tobias 327, 331–333, 343 Schneegaß, Johann Friedrich 143 Schroeckh, Johann Matthias 235 Schröter, Sebastian 296 Schumann, August 300 Schumann, Christian Wilhelm 226 f. Schumann, Johann Christoph Wilhelm 227 Schumann, Robert 300 Schwab, Gustav 313 Schwabe, Johann Samuel Gottlob 308 Schwarzkopf, Joachim von 13 Schwerdt, Georg Heinrich 16 f., 27, 152, 157, 309 f. Schwind, Karl Franz 174 Seckendorff, Veit Ludwig von 331– 334 Seidel, Abraham 319 Seidler, Louise 227 Selnecker, Nicolaus 331 Semler, Johann Salomo 202, 206 Soret, Frédéric 227 Spalatin, Georg 67, 142, 326, 345–347 Spalding, Johann Joachim 186 f., 199, 212, 246 Spangenberg, Cyriakus 326, 328, 331, 336, 345 Spangenberg, Johann 67 Spinoza, Baruch de 214 Stattler, Benedikt 172 Steinbeck, Christoph Gottlieb 7, 13 Stock 212 Strauß, Jakob 65, 67, 85 Sturm, Caspar 344 Sturm, Johann Christoph 337

Süß, Laurentius 67 Tentzel, Wilhelm Ernst 334 Tetzel, Johann 108, 326, 331–335, 341-344 Tholuck, August 239 Thomasius, Christian 48, 215 Thon, Johann Adam Christian 13 Thün, Friedrich von 345 Tischer, Johann Friedrich Wilhelm 58 Tobler, Johannes 195 Tooke, Wilhelm 200 Türk, Wilhelm 281 Vincke, Ludwig Freiherr von 133–135 Vogel, Emil Ferdinand 312 Voigt, Bernhard Friedrich 297 Voit, Johannes 67 Wagnitz, Heinrich Balthasar 312 Weigel, Erhard 314 Weiße, Christian Felix 192, 198 Werkmeister, Benedikt Maria von 124 Wessenberg, Ignaz Heinrich von 116– 118, 122, 124 Wiedemann, Johann Friedrich 17 Wieland, Christoph Martin 197, 244 Wilhelm von Nassau-Dillenburg, Fürst von Oranien 298 Wilhelm IV., Graf von HennebergSchleusingen 69, 71, 81 Witzmann, Georg 149 Wohlfahrt, Theodor 17 Wolf, August Friedrich 282 Zahn, Friedrich August 312 Zerrenner, Karl Christoph Gottlieb 119, 167, 281, 305 Zimmermann, Johann Georg 189 f. Zollikofer, David Anton 193 Zollikofer, Georg Joachim 183, 185– 208 Zschokke, Heinrich 305 Zwingli, Huldrych 22, 131, 171, 173, 201 f., 217, 322

Verzeichnis der Autoren Guido BEE, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Nationalbibliothek, Standort Frankfurt am Main Julia BEEZ, M.A. Stipendiatin der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, assoziierte Mitarbeiterin am Projekt „Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt in der Revolution von 1848/49“ an der Katholischen Universität Eichstätt Holger BÖNING, Prof. Dr. Professor für Geschichte der deutschen Presse und neueren Literatur am Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen Stefan GERBER, PD Dr. Leiter der Forschungsstelle für Neuere Regionalgeschichte Thüringens am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Werner GREILING, Prof. Dr. Professor für Geschichte der Neuzeit am Historischen Institut der FriedrichSchiller-Universität Jena Hans-Werner HAHN, Prof. Dr. Emeritierter Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Klaus-Dieter HERBST, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen und Bearbeiter des DFG-Projektes „Biobibliographisches Handbuch der Kalendermacher von 1550 bis 1750“

Jochen KRENZ, Dr. Studienrat für Deutsch, Geschichte und Katholische Religion am FriedrichDessauer-Gymnasium Aschaffenburg Alexander KRÜNES, Dr. Wissenschaftlicher Koordinator des Forschungsprojekts „Thüringen im Jahrhundert der Reformation“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

362

AUTORENVERZEICHNIS

Thomas K. KUHN, Prof. Dr. Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald Felicitas MARWINSKI, Dr. Diplombibliothekarin und Diplomkulturwissenschaftlerin, Weimar Michael MAURER, Prof. Dr. Professor für Kulturgeschichte am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena Johannes ROTH Referendar für die Fächer Geschichte und Deutsch am Ernst-Abbe-Gymnasium Eisenach Joachim SCHOLZ, Dr. Leiter des Forschungsbereiches der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung Berlin Reinhart SIEGERT, Prof. Dr. Professor für Neuere Deutsche Literatur am Deutschen Seminar der AlbertLudwigs-Universität Freiburg, im Ruhestand

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZU THÜRINGEN IM ZEITALTER DER REFORMATION HERAUSGEGEBEN VON WERNER GREILING UND UWE SCHIRMER BD. 1

BD. 4

JOACHIM EMIG, VOLKER LEPPIN,

WERNER GREILING, ARMIN KOHNLE,

UWE SCHIRMER (HG.)

UWE SCHIRMER (HG.)

VOR- UND FRÜHREFORMATION

NEGATIVE IMPLIKATIONEN DER

IN THÜRINGISCHEN STÄDTEN

REFORMATION?

(1470–1525/30)

GESELLSCHAFTLICHE TRANSFORMA-

2013. XII, 482 S. 16 S/W-ABB. GB.

TIONSPROZESSE 1470–1620

ISBN 978-3-412-20921-6

2015. 438 S. 27 S/W- UND 7 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-50153-2

BD. 2 ECKHARD BERNSTEIN

BD. 5

MUTIANUS RUFUS UND SEIN

WERNER GREILING, HOLGER BÖNING,

HUMANISTISCHER FREUNDESKREIS

UWE SCHIRMER (HG.)

IN GOTHA

LUTHER ALS VORKÄMPFER?

2014. 429 S. GB. | ISBN 978-3-412-22342-7

REFORMATION, VOLKSAUFKLÄRUNG UND ERINNERUNGSKULTUR UM 1800

BD. 3

2016. 362 S. 8 S/W-ABB. GB.

WERNER GREILING, UWE SCHIRMER,

ISBN 978-3-412-50556-1

RONNY SCHWALBE (HG.) DER ALTAR VON LUCAS CRANACH D.Ä. IN NEUSTADT AN DER ORLA UND DIE KIRCHENVERHÄLTNISSE IM ZEITALTER DER REFORMATION 2014. 527 S. 93 S/W- UND 63 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-22341-0

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

VERÖFFENTLICHUNGEN DER HISTORISCHEN KOMMISSION FÜR THÜRINGEN KLEINE REIHE HERAUSGEGEBEN VON WERNER GREILING

EINE AUSWAHL

BD. 47 | OLIVER HEYN DAS MILITÄR DES FÜRSTENTUMS

BD. 42 | MANFRED STRAUBE

SACHSEN-HILDBURGHAUSEN

GELEITWESEN UND WARENVERKEHR

1680–1806

IM THÜRINGISCH-SÄCHSISCHEN RAUM

2015. 488 S. 10 S/W-ABB. 20 TAB. UND

ZU BEGINN DER FRÜHEN NEUZEIT

24 GRAFIKEN. GB.

2015. 1095 S. ZAHLR. TAB. UND 2 KT. GB.

ISBN 978-3-412-50154-9

ISBN 978-3-412-22343-4 BD. 48 | HANS-WERNER HAHN, BD. 43 | HORST SCHRÖPFER

DIRK OSCHMANN (HG.)

SCHACK HERMANN EWALD (1745–1822)

GUSTAV FREYTAG (1816–1895)

EIN KANTIANER IN DER THÜRINGISCHEN

LITERAT – PUBLIZIST – HISTORIKER

RESIDENZSTADT GOTHA

2016. 295 S. GB. | ISBN 978-3-412-50368-0

2015. 435 S. GB. ISBN 978-3-412-22346-5

BD. 49 | SANDRA SALOMO DIE ÖKONOMIE DES KNAPPEN GELDES

BD. 44 | JÜRGEN JOHN

STUDENTISCHE SCHULDEN IN JENA

DER THÜRINGER LANDES- UND

1770–1830

MINISTERPRÄSIDENT RUDOLF PAUL

2016. 438 S. 24 TABELLEN UND 13 DIA-

1945 BIS 1947

GRAMME. GB. | ISBN 978-3-412-50371-0

DARSTELLUNG UND EDITION 2016. CA. 512 S. CA. 50 S/W-ABB. MIT CDROM. GB. | ISBN 978-3-412-10995-0

BD. 50 | WERNER GREILING, GERHARD MÜLLER, UWE SCHIRMER (HG.) DIE ERNESTINER

BD. 45 | ULRIKE LÖTZSCH

POLITIK, KULTUR UND GESELLSCHAFT-

JOACHIM GEORG DARJES (1714–1791)

LICHER WANDEL

DER KAMERALIST ALS SCHUL- UND

2016. 512 S. 7 S/W- UND 31 FARB. ABB.

GESELLSCHAFTSREFORMER

GB. | ISBN 978-3-412-50402-1

2016. 372 S. GB. | ISBN 978-3-412-50149-5

TR806

BD. 51 | MATTHIAS EIFLER BD. 46 | MAREN GOLTZ, WERNER

DIE BIBLIOTHEK DES ERFURTER

GREILING, JOHANNES MÖTSCH (HG.)

PETERSKLOSTERS IM SPÄTEN

HERZOG GEORG II. VON SACHSEN-

MITTELALTER

MEININGEN (1826–1914)

BUCHKULTUR UND LITERATURREZEP-

KULTUR ALS BEHAUPTUNGS-

TION IM KONTEXT DER BURSFELDER

STRATEGIE?

KLOSTERREFORM

2015. 550 S. 72 S/W- UND 19 FARB. ABB.

2017. CA. 1200 S. 104 S/W- UND 104 FARB.

AUF 17 TAF. GB. | ISBN 978-3-412-50151-8

ABB. 2 BDE. GB. | ISBN 978-3-412-50558-5

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SIEGRID WESTPHAL, HANS-WERNER HAHN, GEORG SCHMIDT (HG.)

DIE WELT DER ERNESTINER EIN LESEBUCH

Sie sind die Ahnherren der Queen, von Juan Carlos I. von Spanien und Beatrix der Niederlande. Die Ernestiner gehörten zu den bedeutendsten Fürstengeschlechtern in Europa und beeinflussten das politische, höfische und kulturelle Leben vom Spätmittelalter bis ins 18. und 19. Jahrhundert. Das Lesebuch führt in die Welt der Ernestiner ein und regt an, über die Rolle dieser Dynastie in der deutschen und europäischen Geschichte nachzudenken. Die Ernestiner haben Deutschland und Europa nicht mit Kriegen, sondern nachhaltig mit kulturellen Initiativen geprägt. Trotz des Verlustes der Kurwürde in der Mitte des 16. Jahrhunderts verstanden sie es, sich als eine führende protestantische Dynastie zu behaupten. Sie sind Ahnherren der Reformation, Schirmherren der »Klassik« in Weimar und Jena und stellten etliche europäische Monarchen des 19. Jahrhunderts. Ihre mehr als 500jährige Geschichte zeigt, dass eine mindermächtige und weitverzweigte Dynastie unter dem Schutz von Kaiser und Reich ausgesprochen erfolgreich sein konnte. 2016. 389 S. 7 S/W-ABB. BR. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-50522-6

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DETLEF METZ

DAS PROTESTANTISCHE DRAMA EVANGELISCHES GEISTLICHES THEATER IN DER REFORMATIONSZEIT UND IM KONFESSIONELLEN ZEITALTER

Dass es im Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts ein geistliches Drama und Theater gab, ist bisher kaum bekannt. Zahlreiche Autoren verarbeiteten darin meist biblische Stoffe oder setzten das Leben Luthers in Szene. In seiner Studie stellt Detlef Metz Dramen und Dramenautoren aus der Reformationszeit und der konfessionellen Zeit vor und analysiert die Haltung Luthers, Melanchthons, Bucers, Calvins und anderer Theologen zu dieser Praxis. Das protestantische Drama sollte mitwirken, die Bibel sowie die protestantische Rechtfertigungslehre in allen Bevölkerungsschichten nachhaltig bekannt zu machen und zu Gottesdienst und privater Frömmigkeit hinführen. Ein Vergleich mit der Konkurrenz des Jesuitentheaters rundet die Darstellung ab. 2013. 906 S. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-21032-8

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AthinA Lexutt

Die RefoRmAtion ein eReignis mAcht epoche

Mit Martin Luther nahm im frühen 16. Jahrhundert eine theologische Be­ wegung ihren Anfang, die schließlich die christliche Kirche in ihren Grund­ festen erschüttern sollte und das geistige und gesellschaftspolitische Gefüge Europas grundlegend veränderte. In diese Zeit des Umbruchs, die gekenn­ zeichnet ist durch zahlreiche Spannungen auf mehreren Ebenen – politische Kämpfe, theologische Debatten, wirtschaftliche Probleme, existenzielle Unsicherheiten, ins Wanken geratende Weltbilder – führt uns Athina Lexutt in ihrem Buch. Die Autorin legt ein besonderes Augenmerk auf die Verquickung von theologischen und politischen Momenten, um von dort aus begreifbar zu machen, was die Reformation gleich in einem doppelten Sinne zu einer Epo­ che macht. 2009. 226 S. Mit einigen S/w-Abb. gb. Mit SU. 155 x 230 MM. iSbn 978-3-412-20304-7

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