Logiken des Erzählens: Kohärenz und Kognition in früher mittelhochdeutscher Epik 311059191X, 9783110591910, 9783110593105, 9783110592122, 2020942467

Erzählungen bedürfen einer in irgendeiner Weise plausiblen Verknüpfung ihrer einzelnen Bestandteile, um als zusammenhäng

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Logiken des Erzählens: Kohärenz und Kognition in früher mittelhochdeutscher Epik
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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. Einleitung: Erzählerische Ordnung oder Die Sehnsucht nach Zusammenhang
2. Narration und Kognition
3. Narrationis contextus: Erzähllogik und narrative Kohärenz in der mittelalterlichen Dichtungstheorie
4. Kohärenz und Konnektivität
5. Logiken der Handlungsdarstellung
6. Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume
7. Narrative Transgressionen
8. Ergebnisse
Abkürzungen
Bibliographie
Register

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Christian Schneider Logiken des Erzählens

Hermaea

Germanistische Forschungen Neue Folge Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller

Band 148

Christian Schneider

Logiken des Erzählens Kohärenz und Kognition in früher mittelhochdeutscher Epik

ISBN 978-3-11-059191-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-059310-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059212-2 ISSN 0440-7164 Library of Congress Control Number: 2020942467 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Ein „historisch-hermeneutischer Problembegriff“ – als solcher wird der Kohärenzbegriff in der Einleitung zu einem 2019 erschienenen Sammelband zu literarischer Kohärenz in mittelalterlicher Lyrik bezeichnet. Diese Bezeichnung trifft sicherlich zu. So elementar der durch ihn beschriebene Sachverhalt für unseren Umgang (nicht nur) mit Texten ist, so schwierig ist der Begriff in den Griff zu bekommen. Denn ‚Kohärenz‘ stellt letztlich eine textpragmatische Kategorie dar; sie ist etwas, das literarischen Texten nicht als substantielle Qualität innewohnt, und das heißt, ihre Wahrnehmung ist in hohem Maße variabel – individuell, historisch, kulturell. Eben darum stellen ihre Bestimmung und Bewertung eine Herausforderung dar. Mein Buch nimmt diese Herausforderung auf, ohne für sich in Anspruch nehmen zu können, alle Fragen, die die Kohärenz und – mit ihr verbunden – die Erzähllogik mittelalterlicher Literatur betreffen, zu fassen oder zu beantworten. Im Vordergrund stehen solche Phänomene fragwürdiger und darum erklärungsbedürftiger (In-)Kohärenz, die mir am volkssprachigen Erzählen des früheren Mittelalters besonders signifikant erscheinen. Ausgangspunkt des Buchs war der Wunsch nach Verstehen: den mancherlei Merkwürdigkeiten und, mitunter, Ungereimtheiten, mit denen mittelhochdeutsche Erzähltexte heutige Leserinnen und Leser überraschen, nachzugehen und einen Beitrag zu ihrem besseren Verständnis zu leisten. Dass dabei gelegentlich andere Gewichtungen vor- und Perspektiven eingenommen hätten werden können, ist mir bewusst. Für die Möglichkeit, dieses Buch zu schreiben, habe ich vielfältig zu danken. Seit meinen ersten Überlegungen und Skizzen dazu haben sich diachrone Erzählforschung, historische Narratologie und Cognitive Literary Studies zu fest etablierten und intensiv bestellten Forschungsfeldern entwickelt. Den in diesem Zusammenhang entstandenen Arbeiten verdanke ich, ebenso wie früheren, zahlreiche Anregungen; ohne Vollständigkeit behaupten zu wollen, habe ich mich bemüht, sie bis zum Frühjahr 2020 zu berücksichtigen. Finanziell gefördert wurde die Arbeit an dem Projekt in den Jahren 2012/2013 durch ein Postdoctoral Fellowship der VolkswagenStiftung an der Washington University in St. Louis, der Universität, die ein Jahr später meine akademische Heimat wurde. Dass das Projekt schließlich fertiggestellt werden konnte, verdanke ich einem viermonatigen Forschungsaufenthalt am Freiburg Institute for Advanced Studies im Herbstsemester 2016, unterstützt durch ein Marie S. Curie FRIAS COFUND Fellowship der Universität Freiburg und der Europäischen Union. Danken möchte ich aber auch und vor allem den vielen Menschen, Kolleginnen, Kollegen und Freunden, diesseits und jenseits des Atlantiks, mit denen https://doi.org/10.1515/9783110593105-001

VI

Vorwort

ich immer wieder über mein Projekt sprechen konnte und die mich über die Jahre mit Rat und Zuspruch begleitet und im Größeren wie im Kleineren unterstützt haben: Gerhild Scholz Williams, stellvertretend für die Kolleginnen und Kollegen am Department of Germanic Languages and Literatures der Washington University; Ludger Lieb und Fritz Peter Knapp, die das Projekt auch aus der Ferne wohlwollend förderten; die Neuphilologische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, von der die Arbeit im Sommersemester 2018 als Habilitationsschrift angenommen wurde; Christine Lubkoll und Stephan Müller, die die Aufnahme des Bandes in die ‚Hermaea‘-Reihe befürworteten; Jacob Klingner, der Freund und ehemalige Heidelberger Assistentenkollege, dem ich so gerne noch das fertige Buch gezeigt hätte, sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei ‚seinem‘ Verlag, De Gruyter, die mit Geduld und Umsicht die Drucklegung des Manuskripts betreuten: Elisabeth Kempf, Robert Forke, Antonia Mittelbach und Laura Burlon. Gedankt sei auch, und nicht zuletzt, Jutta Deimel und dem Zettelmeier’schen Haus in Oberwinter, das den abschließenden Arbeiten an der Habilitationsfassung ein Dach gewährte. Den größten Dank freilich schulde ich meiner Familie, Judith von Essen, Sophie und Jacob. Sie geben meinem Leben jenen Sinnzusammenhang, ohne den alles andere nichts wäre. St. Louis, im September 2020

Christian Schneider

Inhalt  . . . . .  . . . . . .  . .

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Einleitung: Erzählerische Ordnung oder Die Sehnsucht nach Zusammenhang 1 10 Was sind Erzähllogiken? Das Auge des Betrachters 12 Inkohärenzen in mittelalterlichem Erzählen: Eine Typologie Vom Umgang mit Fehlern, Leerstellen und Widersprüchen Zum Vorgehen 33

16 26

41 Narration und Kognition Erzählung als Struktur: Platon und Aristoteles 42 Morphologie: Goethe, Humboldt und die frühe deutsche 46 Kompositionstheorie 53 Vom organologischen zum semiotischen Modell Motivationale Beziehungen und Bedeutungsbeziehungen 57 Muster, Modelle, Frames und Scripts: Der kognitive Umgang mit 59 Inkohärenzen Erzähllogiken als Ausdruck kognitiver Strukturen 71 Narrationis contextus: Erzähllogik und narrative Kohärenz in der mittelalterlichen Dichtungstheorie 75 77 Die Lehre von den ordines narrandi Wahrscheinlichkeit als strukturales Prinzip des Erzählens: Matthäus von Vendôme, Galfred von Vinsauf und Johannes von Garlandia 88 Die Begehrensstruktur des verisimile 100 107 Lateinische Theorie und volkssprachige Literaturpraxis Kohärenz und Konnektivität 112 Episodizität oder Narrative Progression im Zeichen kleiner 115 Einheiten Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses 120 151 Metanarrative Formeln Unvermittelte Übergänge und harte Fügungen 162

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Inhalt

.

Logiken der Handlungsdarstellung 189 Prototypisches und funktionales Erzählen: Rolandslied, Münchner Oswald, Herzog Ernst 208 Der Vorrang der bezeichenunge: Orendel, König Rother, Rolandslied 236 250 Logik der Motivierung

 . . . .

Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume 265 Amorphe Räume Bühnenraum und Raumdeixis 280 Erzählte Raumwahrnehmung 293 Raumdarstellung und virtuelle Mündlichkeit

 . . .

Narrative Transgressionen 304 309 Unscharfe Grenzen: Figuren und Figurenwissen Ebenenüberschreitung durch die Erzählperformanz 325 335 Vom Ende her: Finalität als Denkfigur



Ergebnisse

.

Abkürzungen

345

353

Bibliographie 355 Quellen 355 Forschungsliteratur Register

360

386 386 Autoren- und Werkregister Register der Forschungsliteratur 390 392 Sachregister

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1 Einleitung: Erzählerische Ordnung oder Die Sehnsucht nach Zusammenhang Und als einer jener scheinbar abseitigen und abstrakten Gedanken, die in seinem Leben oft so unmittelbare Bedeutung gewannen, fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: ‚Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!‘ Robert Musil, ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘¹

Erzählen heißt ordnen. Wer erzählt, gibt den Teilen seiner Erzählung eine bestimmte Ordnung. Das gilt sowohl für die Worte, die Sätze, die Abschnitte, also die kleineren und größeren Einheiten der Erzählung, als auch für das, was ihre Aussagegehalte sind. Es betrifft das ‚Wie‘ des Erzählens ebenso wie das ‚Wovon‘. Es gilt also für das Erzählen an sich wie für das Erzählte. Erzählen und Erzähltes, Darstellung und Dargestelltes werden in der Erzähltheorie systematisch als zwei Ebenen von Erzählung oder auch als zwei Möglichkeiten, auf Erzählung zu blicken, voneinander unterschieden.² Schon die mittelalterliche Dichtungstheorie wusste, dass in der Praxis das eine nicht ohne das andere gegeben sein kann. Ihre aus der antiken Rhetorik übernommene Unterscheidung zwischen ordo naturalis und ordo artificialis – eine Unterscheidung, die die Rhetorik sowohl auf die Gestaltung der dispositio als auch auf diejenige kleinerer Redeeinheiten wie argumentatio und narratio angewandt wissen wollte – beruht auf der Einsicht, dass bei der epischen oder dramatischen Darstellung das Dargestellte einer bestimmten Anordnung unterworfen wird. Unmittelbar nachvollziehen lässt sich die ordnende Kraft von Narration, wenn man sich die Erfahrung vergegenwärtigt, die man beim alltäglichen Erzählen eines Erlebnisses oder einer Begebenheit macht. Oft stellt man dabei fest, dass in der erzählenden Versprachlichung die Dinge einen Zusammenhang annehmen, den sie vor ihrer sprachlichen Äußerung – ob mündlich oder schriftlich – so nicht hatten. Oder man denke an die Erfahrung, die sich bei dem Versuch machen lässt, Trauminhalte wiederzugeben, die häufig durch eine besondere

 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hrsg. von Adolf Frisé. 2 Bde. Reinbek b. H. 1978, S. 650.  Die Terminologie zur Beschreibung dieser grundsätzlichen Unterscheidung ist sehr uneinheitlich. Eine Zusammenstellung der einflussreichsten Begriffsbildungen bieten Matías Martínez/ Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 5. Aufl. München 2003, S. 26. https://doi.org/10.1515/9783110593105-002

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Einleitung: Erzählerische Ordnung

Bildlichkeit und besondere Verknüpfungen ausgewiesen sind.³ Die Schwierigkeit, die es bereiten kann, einen Traum zu erzählen – ‚richtig‘ zu erzählen, so, wie wir ihn geträumt zu haben meinen –, ist die Schwierigkeit, die aus der Zumutung einer Ordnung an den Gegenstand entsteht, die ihm in seiner vorsprachlichen Form nicht oder nur bedingt zukommt. Zwar wissen wir dank der Einsichten der Kognitionsforschung und der narrativen Psychologie heute, dass schon vorsprachliches Erleben sich narrativer Muster bedient und dass wir alle Erfahrung, indem wir sie machen, mittels narrativer Strukturen machen. Diese relative Nähe von Erlebens- oder Erfahrensstruktur einerseits und narrativer Struktur andererseits erlaubt es auch, Erfahrung in Erzählung umzusetzen, und dabei spielt es keine Rolle, ob das Erzählte als Erzählung im literarischen Sinne zu bezeichnen ist – für das alltägliche Erzählen von Erfahrenem, Erlebtem oder Geträumtem gilt dasselbe. Dennoch sind solche erzählungshaften Muster, derer sich menschliche Erfahrung bedient, von denjenigen verbalisierter Erzählungen qualitativ unterschieden. Daher werden sie auch als ‚prä-‘ oder ‚protonarrativ‘ bezeichnet.⁴ Sie weisen Kennzeichen narrativer Ordnung auf, ohne schon Erzählung und ordnendes Erzählen im vollen Sinne zu sein. Erzählen heißt ordnen. Das festzustellen heißt auch, dass es kein Erzählen gibt, welches seine Bestandteile nicht in irgendeiner Weise anordnen würde. „Erzählerische Ordnung“ (Robert Musil) stellt sich nolens volens ein. Die Ursache dafür liegt in der spezifischen Zeitlichkeit von Erzählung und ihrer sich daraus ergebenden sequentiellen Grundstruktur.⁵ Erzählen kann immer nur in der Form eines zeitlichen Verlaufs stattfinden, immer nur in einem Nacheinander, nie in einem Nebeneinander oder Zugleich. Ein Wort, ein Satz, ein Geschehnis folgt in Erzählungen dem anderen und kann vom Hörer oder Leser auch nur so – in einem Nacheinander – aufgenommen werden. Auch dort, wo von gleichzeitig Stattfindendem die Rede ist, kann dies erzählerisch nicht simultan wiedergegeben werden, sondern muss die Gleichzeitigkeit durch besondere erzähltechnische Verfahren eigens kenntlich gemacht werden. Insofern ist Erzählung immer eindimensional. Ihr Grundprinzip ist das der Reihenfolge.

 Das lässt sich, bis zu einem gewissen Grad, verallgemeinern: Bewusstseinsinhalte sind nie rein sprachlich-linear.  Zur Begrifflichkeit siehe Donald E. Polkinghorne: Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein. Beziehungen und Perspektiven. In: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Hrsg. von Jürgen Straub. Frankfurt a. M. 1998 (stw 1402), S. 12– 45, hier S. 21– 23.  Siehe dazu vor allem Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. 3 Bde. 2. Aufl. München 2007 (Übergänge 18,1– 3).

Einleitung: Erzählerische Ordnung

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Die besondere Zeitlichkeit von Erzählung, ihre Eindimensionalität und Sequentialität unterscheiden sie von anderen medialen Formen wie etwa der bildlichen Darstellung. Auf diesen Unterschied zwischen der „Poesie“ und den „bildenden Künsten“ hat Lessing in seinem berühmten ‚Laokoon‘-Essay von 1766 aufmerksam gemacht.⁶ Das bedeutet nicht, dass Erzählungen nicht Effekte zeitigen können, die ihre Sequentialität transzendieren. Solche Effekte werden in der Literaturwissenschaft unter dem metaphorischen Schlagwort eines ‚spatialen Erzählens‘ erörtert.⁷ Sie tilgen aber die Sequentialität von Erzählung nicht, sondern können sie allenfalls momenthaft überspielen und vergessen lassen. Insofern Sequentialität ein Grundprinzip verbalen Erzählens darstellt, eignet sie sich auch als Ausgangspunkt für eine Definition von Erzählung: In den Worten Meir Sternbergs ist Erzählung „a sequential representation of a sequence of events.“⁸ Mit dieser Formulierung sind zugleich die beiden anfangs angesprochenen Aspekte von Erzählung im Hinblick auf das Prinzip der Sequentialität aufgenommen: die Chronologie der Ereignisse, die in einer Erzählung erzählt werden, und die Chronologie des Erzählprozesses, dem wir, als Hörer oder Leser, folgen – Schritt für Schritt. Wie aber geschieht dieses schrittweise Verfolgen, dieses Abschreiten des Erzählverlaufs? Oder, besser gefragt, was geschieht dabei? Die Ordnung, die allem Erzählen aufgrund seiner Sequentialität notwendig eignet, ist dem Hörer oder Leser ja in jedem Fall vorgegeben. Für sie ist der Urheber des Erzähltextes verantwortlich, der Autor oder, bei mittelalterlichen Texten, vielleicht auch der Redaktor oder der Schreiber eines Manuskripts. Was die Hörer oder Leser aber mit

 So formuliert Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Lessing, Werke und Briefe. Bd. 5,2: Werke 1766 – 1769. Hrsg. von Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1990 (BdK 57), S. 9 – 321, hier S. 116, Z. 24– 30, bündig: „Gegenstände, die neben einander oder deren Teile neben einander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie“; ebenso S. 130, Z. 9 f.: „Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers.“  Grundlegend dazu Joseph Frank: Spatial Form in Modern Literature. An Essay in Three Parts. In: The Sewanee Review 53 (1945), S. 221– 240, 433 – 456, 643 – 653; in Bezug auf einen vorneuzeitlichen Text, nämlich die ‚Confessiones‘ des Augustinus, Jonas Grethlein: Zeit, Erzählung und Raum in Augustins ‚Confessiones‘. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. von Florian Kragl/Christian Schneider. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 13), S. 45 – 69.  Zitiert nach Emma Kafalenos: Narrative Causalities. Columbus, OH 2006 (Theory and Interpretation of Narrative), S. 2; vgl. Meir Sternberg: How Narrativity Makes a Difference. In: Narrative 9 (2001), S. 115 – 122, hier S. 116.

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Einleitung: Erzählerische Ordnung

der „erzählerischen Ordnung“ beginnen, steht nicht mehr in der Macht ihres Schöpfers. Gut studieren lässt sich das an der folgenden, in den Forschungen der Kognitiven Poetik (cognitive poetics) immer wieder zitierten Satzsequenz, die Raymond W. Gibbs 1994 in seinem Buch ‚The Poetics of Mind‘ vorgestellt hat: He wanted to be king. He was tired of waiting. He thought arsenic would work well.⁹

Gibbs führt diese kurze Passage aus drei parallel gebauten Hauptsätzen als ‚Erzählung‘ oder ‚Geschichte‘, englisch tale, ein. Über den Erzählungscharakter der Passage lässt sich streiten. Ist das wirklich schon eine Erzählung oder nicht vielmehr die Schrumpfform eines Gedankenberichts? Die Antwort wird davon abhängen, welchen Begriff von und welche Mindestanforderungen an Erzählung man zugrunde legt. Wenn man für Erzählung, etwa im Sinne der Definition Sternbergs, die Darstellung eines oder mehrerer Ereignisse verlangt, das heißt – mit Peter Hühn – die Darstellung eines Geschehens, einer Handlung oder einer intentionalen Zustandsveränderung, dann wird man berechtigte Zweifel haben, in dieser dreifachen Satzfolge bereits eine Erzählung zu erkennen.¹⁰ Aber genau an dieser Stelle wird die Passage interessant. Harald Haferland hat sie in einer Studie über Figurenpsychologie in sprachlichen Erzählungen folgendermaßen analysiert: Man könne darin drei unverbundene Aussagen sehen, „1. dass XY König werden wollte, 2. dass er das Warten satt hatte (man fragt sich, worauf) und 3. dass er Arsen für am besten geeignet hielt (man fragt sich dann, wofür).“¹¹ In dieser

 Raymond W. Gibbs: The Poetics of Mind. Figurative Thought, Language, and Understanding. Cambridge/New York 1994, S. 330; Arbeiten aus dem Bereich der Kognitiven Poetik, die darauf Bezug nehmen, z. B. Kent E. Williams/Richard E. Reynolds: The Acquisition of Cognitive Simulation Models. A Knowledge-Based Training Approach. In: Knowledge-Based Simulation. Methodology and Application. Hrsg. von Paul A. Fishwick/Richard B. Modjeski. New York u. a. 1991 (Advances in Simulation 4), S. 200 – 222, hier S. 210; Abdul Gabbar Mohammed Al-Sharafi: Textual Metonymy. A Semiotic Approach. Basingstoke/New York 2004, S. 177; Jeannette Littlemore: Metonymy. Hidden Shortcuts in Language, Thought, and Communication. Cambridge 2015, S. 75 f.  Zum Ereignis als Zustandsveränderung siehe Peter Hühn: Event and Eventfulness. In: Handbook of Narratology. 2. Aufl. Hrsg. von Peter Hühn u. a. Bd. 1. Berlin/Boston 2014, S. 159 – 178; dazu auch Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin/New York 2009 (Narratologia 22), S. 122 f., 198; Martínez/Scheffel 2003, S. 108 f.  Harald Haferland: Psychologie und Psychologisierung: Thesen zur Konstitution und Rezeption von Figuren. Mit einem Blick auf ihre historische Differenz. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar

Einleitung: Erzählerische Ordnung

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Weise unverbunden nebeneinandergestellt, handelt es sich bei den drei Aussagen um eine mentale Zustandsbeschreibung, bestenfalls um einen narrativen Ausgangszustand, aber nicht um die Schilderung einer Zustandsveränderung. Es fehlten zur Erzählung also Ereignis und Ereignishaftigkeit. Man könne aber, so Haferland weiter, die drei Aussagen auch kombinieren, und wenn man sich fragt: worauf hat hier jemand das Warten satt? wofür hält er Arsen für am besten geeignet?, dann macht man auch bereits genau dies. Kombinieren ließen sie sich etwa in dem Sinne, dass hier ein Königssohn den Vater vergiften will, um endlich selbst die Herrschaft zu übernehmen. Schon lange von dem Wunsch beseelt, auf den Thron zu gelangen (Satz 1), und des Wartens müde (Satz 2), entschließt er sich, den Vater zu vergiften und sich zu diesem Zweck einer Arsenverbindung zu bedienen (Satz 3). Die dritte Aussage („He thought arsenic would work well“) kann dann als Ergebnis eines Gedankenprozesses verstanden werden, der durch die in der zweiten Proposition ausgesagte Erfahrung langen Wartens in Gang gesetzt wurde. In diesem Fall läge eine Zustandsveränderung vor, jedenfalls im Seelenleben des Königssohnes, die die drei Sätze als eine kurze Erzählung lesbar machen würde. Durch Zusatzannahmen, die jede Leserin und jeder Leser bei der Kombination der drei, zunächst unverbundenen, Aussagen vornimmt, kann sich dann so etwas wie eine Geschichte ergeben. Und indem es erst die Leser sind, die aus der Satzsequenz eine Geschichte spinnen, lässt sich sagen, dass nicht nur die so entstehende Geschichte das Ergebnis einer Interpolation ist, sondern dass die Annahme, hier handele es sich um eine Erzählung, selbst bereits eine Interpolation darstellt – jedoch eine solche, die, wie Gibbs und Haferland wohl zu Recht unterstellen, Leser regelmäßig vornehmen werden: Wenn Lesern die einzelnen Propositionen wie in dem Gibbs’schen Beispiel als Bestandteile eines Textes vorgestellt werden, dann werden sie sie in der Regel nicht unverbunden nebeneinander stehen lassen, sondern in irgendeiner Weise miteinander zu verknüpfen versuchen, um der Sequenz einen Sinn zuschreiben zu können. Dass hier ein Königssohn den Vater vergiften will, um danach selbst die Herrschaft zu übernehmen, ist dabei nur eine mögliche Sinnkombination von mehreren.¹² Andere lassen sich danebenstellen. Zum Beispiel: Ein Königssohn wartet schon so lange vergeblich darauf, König zu werden, dass er in seiner Verzweiflung beschließt, sich selbst mit Arsen das Leben zu nehmen. Noch einmal anders ließe sich die Geschichte ausdenken, wenn man annimmt, bei dem

2011. Hrsg. von Florian Kragl/Christian Schneider. Heidelberg 2013a (Studien zur historischen Poetik 13), S. 91– 117, hier S. 109.  Vgl. Haferland 2013a, S. 109.

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Einleitung: Erzählerische Ordnung

Protagonisten handele es sich nicht um den Sohn des Königs, sondern um eine andere Person, die sich zum König berufen fühlt und, ungeduldig geworden, den derzeitigen Amtsinhaber aus dem Weg räumen möchte. Denn dass der Protagonist der Sohn des Königs ist, auch das wird nicht eigentlich gesagt. Die kurze Passage lässt sich deshalb auf so verschiedene Weisen verstehen, weil sie hinsichtlich der Fragen, worauf hier jemand wartet, wofür Arsen als geeignetes Mittel erscheint und wer dieser jemand überhaupt ist, nicht ausformuliert ist.Wer will, kann von ‚Lücken‘ sprechen. Indem der Leser sich die genannten Fragen beantwortet, muss er Annahmen machen, Motivationen unterstellen und Bezüge konstruieren, die der Text selbst nicht sprachlich expliziert. Dazu bedarf es einer kognitiven Anstrengung des Lesers. Die von ihm hergestellten Bezüge werden sich dabei aus verschiedenen Quellen speisen: den rudimentären Informationen, die der Text selbst an die Hand gibt; dem narrativen Wissen des Lesers, das heißt seinem allgemeinen Wissen über Erzähltexte und seinem besonderen im Hinblick auf Texte dieser Art (z. B.Vater- oder Königsmordgeschichten); seinem Weltwissen sowie seiner persönlichen psychischen Disposition, seinen Wünschen und Erwartungen. Gibbs’ Geschichte von dem Mann, der König werden wollte, ist auf der Textoberfläche so unvollständig, dass ihre Unbestimmtheiten besonders deutlich hervortreten. Grundsätzlich jedoch weist jeder Erzähltext Lücken auf: Ungesagtes, das Leser zu ergänzen gewohnt und genötigt sind, um die einzelnen Elemente jener narrativen Ordnung, die ein Erzähltext darstellt, in einen Zusammenhang zu bringen und zueinander ins Verhältnis zu setzen. Darauf hat am nachdrücklichsten die rezeptionsästhetische Literaturinterpretation aufmerksam gemacht. Die Beobachtungen, die sich mit Gibbs und Haferland an der kurzen Königsmörder-Geschichte machen lassen, zeigen, dass es sich dabei um ein intuitives Bedürfnis handelt, eine Sehnsucht nach Zusammenhang und Kohärenz, die sich dort, wo sie nicht befriedigt wird oder auf Schwierigkeiten stößt, ihrer selbst bewusst wird.¹³ Vieles spricht dafür, dass dieses Bedürfnis eine anthropologische

 Ähnlich spricht Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz 1970 (Konstanzer Universitätsreden 28), S. 29, von einem „Gruppierungsbedürfnis […], das wir im Verlauf der Lektüre unentwegt zur Geltung bringen“; und an derselben Stelle: „Wenn der Roman das Zusammenspiel seiner Blickpunkte verweigert, zwingt er den Leser zu seiner eigenen Konsistenzbildung. Der Leser wird immer wieder versucht sein, die vielen Facetten zu ordnen.“ Vgl. auch Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca, NY/London 1978, S. 45 f., und Meir Sternberg: The Poetics of Biblical Narrative. Ideological Literature and the Drama of Reading. Bloomington, IN 1985 (Indiana Literary Biblical Series), S. 201, der sogar von „pressures of coherence“ spricht.

Einleitung: Erzählerische Ordnung

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Universalie (nicht nur) im Umgang mit narrativen Texten darstellt.¹⁴ Was freilich variiert – und zwar, wie das Beispiel vor Augen führt, nicht erst aus einer diachronen, historischen Perspektive, sondern schon synchron –, ist das Sinnergebnis jener kognitiven Anstrengung. Dass Rezipienten in aller Regel die einzelnen Bestandteile eines narrativen Textes als in irgendeiner Weise kohärent zu verarbeiten versuchen, bedeutet nicht, dass man in Kohärenz ein Definiens von Erzählung sehen muss. Ansätze in dieser Richtung hat es in der Geschichte der Poetologie allerdings durchaus gegeben. Aristoteles etwa erklärte in seiner klassisch gewordenen Handlungslehre zum Hauptmerkmal einer epischen oder dramatischen Handlung, dass sie Anfang, Mitte und Ende habe. Ein Anfang sei, so heißt es in der ‚Poetik‘, „was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht“; Mitte sei, „was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht“; ein Ende sei, „was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt.“¹⁵ Die Handlungsbestimmung in der aristotelischen Poetik zielt auf den sachlichen Zusammenhang eines Ereignisverlaufs. Entsprechend heißt „Handlung“ bei dem griechischen Philosophen, neben „Fabel“ oder „Mythos“, auch „Knüpfung“. Auch die ‚Ars Poetica‘ des Horaz – und mit und nach ihr die gesamte lateinische Poetik des Mittelalters – geht von einem solchen, auf den Zusammenhang abstellenden Begriff von Handlungsdarstellung aus, wenn Horaz vom Schriftsteller fordert, er solle nur erdichten, was in sich übereinstimme, auf dass nicht dem Anfang die

 Als ein nicht auf die Rezeption von Texten beschränktes, sondern universales anthropologisches Bedürfnis hat dies etwa Wilhelm von Humboldt in seinem Essay über Goethes ‚Hermann und Dorothea‘ beschrieben: „Wohin der Mensch nur immer seine Blicke richten mag, da sucht er den Begriff eines gegenseitigen Zusammenhanges, einer innern Organisation geltend zu machen. Ueberall den Zufall zu verbannen, zu verhindern, dass in dem Gebiete des Beobachtens und Denkens er nicht zu herrschen scheine, im Gebiete des Handelns nicht herrsche, ist das Streben der Vernunft. Dadurch allein schon bewährt er, dass er sich mit Recht einer höheren Abkunft rühmt, als die übrigen Geschöpfe, dass er in ein besseres Land, als das der Wirklichkeit, dass er in das Land der Ideen gehört“ (Wilhelm von Humboldt: Über Göthes Herrmann und Dorothea. In: Humboldt, Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner/Klaus Giel. Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken. Stuttgart 1961, S. 125 – 356, hier S. 139 f.).  Ich zitiere die ‚Poetik‘ mit Kapitel- und Absatzangabe nach der Ausgabe: Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982 (RUB 7828), hier Kap. 7, Abs. 2.

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Einleitung: Erzählerische Ordnung

Mitte und der Mitte der Schluss widerstreite (primo ne medium, medio ne discrepet imum, V. 152).¹⁶ Dennoch ist die gegenwärtige Erzähltheorie zurückhaltend, Erzählung oder Narrativität anhand von Kohärenz zu definieren. Diese Zurückhaltung hat damit zu tun, dass die ursprünglich aus der Textlinguistik stammende Kategorie der Kohärenz in der Literaturwissenschaft bislang kein scharfes Profil gewonnen hat. Sie wird meist etwas ungenau für eine gewisse Geschlossenheit von Texten verwendet, eine Geschlossenheit, die sich aus dem Zusammenhang von Handlung, Wirklichkeitskonzepten und Beschreibung speist.¹⁷ Hinzu kommt, dass gerade ein Erzählen, das sich der modern-realistischen Erzähltradition nicht verpflichtet fühlt, narrative Kohärenz oft vermissen lässt oder mit ihr spielt. Man denke nur an einige Beispiele des Nouveau Roman. Solches Spielen setzt freilich das Bestehen entsprechender Kohärenzerwartungen seitens der Leser voraus; ohne sie hätte es gar keinen Gegenstand. Es demonstriert damit ex negativo, worauf hinzuweisen es mir hier ankommt: das Bedürfnis der Rezipienten nach Zusammenhang zwischen den Elementen eines Erzähltextes und auf die kognitiven Anstrengungen, die sie im Rezeptionsprozess unternehmen, diesen Zusammenhang herzustellen. Leser oder Hörer unternehmen solche Anstrengungen immer dann, wenn bestimmte Merkmale nahelegen, dass eine Folge kommunikativer Äußerungen – seien es sprachliche oder visuelle (z. B. im Film) – als zusammengehörig zu betrachten ist und damit zugleich als abgegrenzt von anderen Äußerungen, die nicht mehr Bestandteil der Sequenz sind. Die textlinguistische Forschung hat dafür verschiedene Merkmale namhaft gemacht: einerseits unterschiedliche Formen der sprachlich-grammatischen und inhaltlich-thematischen Rekurrenz, also der Wiederholung, des Rückverweisens, des Ersetzens, die verknüpfend wirken; andererseits pragmatische Bedingungen, die den situationellen Kontext betreffen, in den die Rezeption eines Erzähltextes eingebunden ist. Zu Letzteren gehört die materiell-physische Erscheinungsweise des Erzählten. Durch sie ist dem Rezipienten oft schon nahegelegt, welche Ausdruckselemente als miteinander verknüpft und von anderen abgegrenzt wahrzunehmen sind: durch einen Buchdeckel zum Beispiel oder innerhalb eines Buches durch Titel, Seitenumbruch oder eine prächtige Initiale; durch die Ankündigung eines Vortragskünstlers, nun werde er eine Geschichte erzählen; oder auch durch den roten Vorhang, der den Raum einer Bühne oder die Sicht auf eine Leinwand öffnet und eben auch wieder schließt. Nur hinsichtlich dessen, was solchermaßen als distinkte oder diskrete

 Die ‚Ars Poetica‘ zitiert nach Horaz: Ars Poetica. In: Horaz, Opera. Hrsg. von David R. Shackleton Bailey. 3. Aufl. Stuttgart 1995 (BT), S. 310 – 329; vgl. auch V. 119 f.  So Elisabeth Stuck: Kohärenz. In: RLW 2 (2000), S. 280 – 282, hier S. 281.

Einleitung: Erzählerische Ordnung

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Folge kommunikativer Äußerungen wahrnehmbar ist, wird der Leser, Hörer oder Zuschauer das Bedürfnis nach Zusammenhang geltend machen. Wenn sich dabei allerdings kein irgendwie sinnvoller Zusammenhang ausmachen lässt, weder auf der Ebene der Darstellung noch des Dargestellten, wird er den narrativen Charakter des Dargebotenen vermutlich in Frage stellen. Was aber sind die Kriterien für einen sinnvollen Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen einer erzählerischen Ordnung? Wenn der Rezipient aufgrund der Informationen, die er dem Text entnimmt, sowie aufgrund des sprachlichen und kulturellen Wissens, das er an den Text heranträgt, beziehungsstiftend wirkt: welche Vorstellungen von Zusammenhang und Folgerichtigkeit liegen dieser Verstehensleistung dann – als vorgängige kognitive Konzepte – zugrunde? Welches Beziehungswissen ist Bestandteil des vom Rezipienten von Fall zu Fall angewendeten kulturellen Wissens? Oder einfacher gefragt: Was setzen Leser, Hörer oder Zuschauer zueinander in Bezug, und wie tun sie dies? Hier ist Verschiedenes denkbar. Der Bezug, den Ulrich, die Hauptperson aus Robert Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘, im Eingangszitat die „einfache Ordnung“ des „primitiv Epische[n]“ nennt – jenes „Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!“ –, ist der temporale, angezeigt durch die Konjunktion ‚als‘. Der temporale Bezug mag einen kausalen einflüstern: post hoc, ergo propter hoc, auch wenn es sich dabei gemäß der formalen Logik um einen Trugschluss handelt. Kausallogische Bezüge, die die Ursache A für eine Wirkung B benennen, werden wir in Erzählungen besonders erwarten. Aber was heißt kausal? Als Begriff lässt sich Kausalität zwar eindeutig bestimmen, nämlich als Bezeichnung eines Ursache-Wirkung-Verhältnisses. Aber was für welche Wirkungen als ursächlich angesehen werden kann, ist so klar schon nicht mehr. Ernst Cassirer hat in seiner ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ für das mythische Denken Kausalitätskriterien geltend gemacht, die sich von einem empirisch-rationalen Kausalitätsbegriff himmelweit unterscheiden.¹⁸ Es lassen sich in der Geschichte des menschlichen Geistes durchaus verschiedene Vorstellungen von Kausalität beobachten, und man darf annehmen, dass dementsprechend in den literarischen

 Siehe in Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Tl. 2: Das mythische Denken. 2. Aufl. Darmstadt 1953, besonders den ersten Abschnitt (‚Der Mythos als Denkform‘), S. 39 – 90. Hier, S. 61, schreibt Cassirer: „Während die Denkform der empirischen Kausalität daher wesentlich darauf gerichtet ist, eine eindeutige Beziehung zwischen bestimmten ‚Ursachen‘ und bestimmten ‚Wirkungen‘ herzustellen, stehen dem mythischen Denken auch dort, wo es die Ursprungsfrage als solche stellt, die ‚Ursachen‘ selbst noch in völlig freier Auswahl zu Gebote. Hier kann noch alles aus allem werden, weil alles mit allem sich zeitlich oder räumlich berühren kann“ (Hervorheb. im Original).

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und nichtliterarischen Erzählungen, die Menschen zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen ersonnen haben, verschiedene Konzepte von Kausalität wirksam sind. Die textlinguistische Forschung zu Fragen der Textkohärenz, die – teilweise darauf aufbauende – literaturwissenschaftliche Text- und Erzähltheorie, aber auch die psychologischen und psychoanalytischen Forschungen zur Funktionsweise des Bewusstseins und zur Wahrnehmung und Verarbeitung kognitiver Inhalte haben weitere Formen der Verknüpfung zwischen gedanklichen Inhalten beschrieben. Ein besonders anschauliches Beispiel sind die verschiedenen Formen assoziativer Verknüpfung, derer sich Träume bedienen.¹⁹ Es sind Verknüpfungen, die geläufigen Kausalitätsbegriffen oft genug spotten, ohne im Geringsten zufällig oder gar sinnlos zu sein. All diese Formen der Verknüpfung können theoretisch auch in Erzählungen, literarischen wie nichtliterarischen, mündlichen wie schriftlichen, vorkommen.

1.1 Was sind Erzähllogiken? Solche Beziehungen zwischen den verschiedenen Elementen eines Erzähltextes, Beziehungen, die durch die Zeitlichkeit und Sequentialität allen Erzählens bedingt sind und die dem Leser oder Hörer – indem er sie nachvollzieht oder herstellt – die Wahrnehmung eines semantisch-thematischen Zusammenhangs im Erzählten ermöglichen, nenne ich ‚Logiken des Erzählens‘. Der Begriff bezeichnet die Formen und Regeln des Denkens, Wahrnehmens und In-Beziehung-Setzens, die hinter der besonderen erzählerischen Ordnung stehen, die jedem narrativen Text eignet. Als narrative Strukturen bestimmen Erzähllogiken das semantischthematische Verhältnis der einzelnen Textelemente zueinander. Als deskriptiver Begriff beschreiben sie dieses Verhältnis und helfen zu verstehen, ob und, wenn ja, in welcher Weise ein narrativer Diskurs als stimmig und sinnhaft erfahren werden kann, und zwar sowohl im Hinblick auf die histoire- wie auf die discoursEbene. Wenn man die Erzähllogik eines Textes kennt, kann man seine generische oder spezifische Gestalt ebenso wie seine Sinnmöglichkeiten besser verstehen. Eine sequentielle Ereignisschilderung, die einer irgendwie logischen, und das heißt: sinnhaften Verknüpfung ihrer Elemente ganz entbehrt, wird in der Regel

 Siehe dazu etwa in Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. 20. Aufl. Frankfurt a. M. 2016 (stw 7), die Stichworte ‚Assoziation‘ (S. 75 – 77), ‚Latenter Inhalt‘ (S. 277 f.), ‚Verdichtung‘ (S. 580 – 582), ‚Verschiebung‘ (S. 603 – 606).

Was sind Erzähllogiken?

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nicht als eine solche wahrgenommen werden. Die Frage nach Erzähllogiken muss der Erzähltheorie daher am Herzen liegen. Erzähllogiken als ‚Regeln‘ zu bezeichnen verweist auf den konventionalisierten Charakter jener Verknüpfungsstrukturen, die hinter einer erzählerischen Ordnung stehen. Es geht, mit anderen Worten, um die Beschreibung wiederkehrender und wiederholbarer, eingeübter Verknüpfungsverfahren, die bei der Produktion und Rezeption narrativer Texte zur Anwendung kommen. Als Formen und Regeln des Denkens, Wahrnehmens und In-Beziehung-Setzens basieren Erzähllogiken auf kognitiven Mustern, die den Textproduzenten und -rezipienten – den Autoren und ihren Lesern oder Hörern – bewusst, viel häufiger aber unbewusst vertraut sind. Sie wenden diese kognitiven Muster beim Verfassen und Auffassen von Erzähltexten an, um jene Beziehungen zwischen den Elementen des Erzählten herzustellen, die ein Verstehen überhaupt erst ermöglichen; die es überhaupt erst ermöglichen, Texten einen Sinn abzugewinnen. Umgekehrt werden die Leser oder Hörer die ihnen für den pragmatischen Umgang mit Erzähltexten vertrauten Verknüpfungsstrukturen aber auch erwarten. Die Konventionalität narrativer Verknüpfungsstrukturen erlaubt es, sie wissenschaftlich zu beschreiben. Es sind Strukturen, die – wenn sie wirklich Erzähllogiken sind – nicht nur in einem Text, sondern in einer ganzen Reihe von Texten zu entdecken sein müssen. Allerdings: Man darf von Erzähltexten, besonders von solchen, die wir ‚literarisch‘ zu nennen gewohnt sind, nicht erwarten, dass sie sich durchweg regelkonform verhalten. Es ist eine Grundannahme dieser Untersuchung, dass die Logiken, denen wir in literarischen Erzählungen begegnen, von denen nichtliterarischen, also zum Beispiel alltagskonversationellen Erzählens zwar nicht grundsätzlich und kategorial verschieden sind, aber doch graduell.²⁰ Alltagserzählung fühlt sich in der Regel der Darstellung von nichtimaginativer, empirischer Wirklichkeit verpflichtet. Literarisches Erzählen hingegen hat diesen Anspruch nicht oder nur bedingt. Ich formuliere das bewusst vorsichtig, weil klar ist, dass es im Hinblick auf den Faktizitätsanspruch literarischen Erzählens Unterschiede gibt, vor allem historische, die nach Differenzierung verlangen. Nimmt man die Formulierung zu Einleitungszwecken aber einmal hin, so kann man sagen: Literarisches Erzählen ist dem Wirklichkeitsanspruch alltagskonversationellen Erzählens graduell enthoben. Insofern muss man damit rechnen, dass in ihm andere Denkformen erprobt, oder vielmehr: dass die Formen anders erprobt werden als in alltagsrealistischem Erzählen und dass mit ihnen spielerisch umgegangen wird. Wenn im Folgenden von Kognition die Rede ist, so zielt das dementsprechend stets auf narrative Kognition in literarischem Erzählen. ‚Narrative Kogni-

 Vgl. Konrad Ehlich: Alltagserzählung. In: RLW 1 (1997), S. 49 – 53.

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tion‘ meint dabei nicht die Rolle, die narrative Strukturen im menschlichen Denken und Problemlösen spielen können – im Unterschied zu anderen diskursiven Strukturen, insbesondere argumentativen. Im Fluchtpunkt eines solchen Begriffsverständnisses steht die Frage nach den „Weisen, wie Menschen ihre Welten erzeugen und mit den Perspektiven anderer vermitteln“, ausgehend von der Annahme, „dass wir (auch) in Geschichten denken.“²¹ Demgegenüber verwende ich den Begriff der narrativen Kognition zur Bezeichnung jener Modi der Wahrnehmung und bewusstseinsmäßigen Verarbeitung, die in einer je bestimmten Zeit und unter den je für sie geltenden medialen, pragmatischen und epistemologischen Rahmenbedingungen bei der Rezeption von Erzähltexten zur Anwendung kommen.

1.2 Das Auge des Betrachters Ob ein narrativer Text stimmig erzählt ist, das liegt letztlich im Auge des Betrachters, sei es eines mittelalterlichen oder eines neuzeitlichen. Es ist schließlich der Hörer, Leser oder – etwa bei einem Film – der Zuschauer, der sich anstrengen muss, die einzelnen Elemente des narrativen Diskurses in ein Verhältnis zueinander zu setzen, das ihm die Wahrnehmung eines semantisch-thematischen Zusammenhangs ermöglicht. Nicht nur Erzählen, auch Rezipieren heißt ordnen. Auf die Rolle des Rezipienten und die wechselseitigen Beziehungen zwischen Text und Leser oder Zuhörer hat vor allem die rezeptionsästhetische Schule der Literatur- und Kunstinterpretation aufmerksam gemacht.²² Ihre Verfechter wandten sich gegen ein Textverständnis, wie es sowohl der angloamerikanische New Criticism als auch der französische Strukturalismus pflegten. Während der Text hier als mehr oder weniger autonomes Objekt behandelt wurde, ging und geht die Rezeptionsästhetik von einer virtuellen Dimension des geschriebenen

 Das ist der Begriff narrativer Kognition, den etwa Michael Richter: Das narrative Urteil. Erzählerische Problemverhandlungen von Hiob bis Kant. Berlin/New York 2008 (Narratologia 13), S. 11– 60, zugrunde legt; die Zitate hier, S. 22 und 42 (Hervorheb. im Original).  Dabei hat schon vor der sogenannten Konstanzer Schule, mit der die Rezeptionsästhetik in der Regel in Verbindung gebracht wird (Manfred Fuhrmann, Wolfgang Iser, Hans Robert Jauß, Wolfgang Preisendanz), die Prager Schule eine solche begründet. Sie hat dabei einen Mittelweg zwischen einer textimmanenten Zugangsweise auf der einen und einem pragmatischen Determinismus auf der anderen Seite zu finden versucht. Am deutlichsten wird dieser Mittelweg in Jan Mukařovskýs Kritik am Konzept des ‚Verstehens‘; dazu Lubomír Doležel: Occidental Poetics. Tradition and Progress. Lincoln/London 1990, S. 158 – 161. Siehe auch ebd., S. 169 f., Felix Vodičkas semiotisches Konzept der Rezeption in Abgrenzung zu einer an Ingarden angelehnten Phänomenologie.

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Textes aus, einem ungeschriebenen Text, den der Rezipient im Vorgang der Rezeption herstellen muss – und herstellt. Diese Virtualität lässt das Lesen, Hören oder Schauen als einen dynamischen Prozess erscheinen und gibt dem Rezipienten ein gewisses Maß an Freiheit, denn in dieser Sicht wird der ästhetische Gehalt eines Kunstwerks je und je erst im Vorgang der Rezeption hervorgebracht. In einer prägnanten Formulierung Wolfang Isers: „A text can only come to life when it is read, and if it is to be examined, it must therefore be studied through the eyes of the reader.“²³ Philosophisch beeinflusst sind dieser wie die meisten rezipientenorientierten Ansätze von der Phänomenologie, insbesondere Roman Ingardens Anwendung der Husserl’schen Literaturtheorie. Ingarden verdankt die rezeptionsästhetische Kunstbetrachtung die Unterscheidung zwischen autonomen und heteronomen Objekten. Während autonome Objekte nur immanente Eigenschaften haben, sind heteronome gekennzeichnet durch eine Kombination inwendiger Eigenschaften und solcher, die ihnen durch Bewusstsein zugeschrieben werden. Daher gelangen heteronome Objekte ohne die Partizipation von Bewusstsein und die Aktivierung einer Subjekt-Objekt-Beziehung nicht zu voller Existenz. Insofern Literatur wie Kunst überhaupt zur Kategorie solcher Objekte gehört, bedarf sie der ‚Konkretisierung‘ und ‚Realisierung‘ durch den Leser oder, allgemeiner, den Rezipienten. Genau um dieser Realisierungsbedürftigkeit willen weise ich auf die phänomenologische Literaturtheorie Ingardens und die rezeptionsästhetische Kunstbetrachtung hin. Ich schließe an ihre grundlegende Erkenntnis an, dass jeder Erzähltext auf die konstruktive Mitwirkung seines Rezipienten angewiesen ist, der im Prozess der Rezeption die Elemente des Textes in sinnvoller Weise aufeinander abzustimmen versucht. Wolfgang Iser hat in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung von 1969 die Interaktion von Text und Leser an der spezifischen Unbestimmtheit von Literatur festgemacht. Er meinte damit, dass jeder literarische Text „Leerstellen“ aufweise, die den Rezipienten aufforderten, sich im Lesevorgang an der Bedeutungserzeugung zu beteiligen. Bedeutungen seien „das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt.“²⁴ Die Vorstellung textueller Leerstellen erläuterte Iser bekanntlich unter Heranziehung von Ingardens Begriff der „schematisierten Ansichten“. Jeder literarische Text bestehe aus einer Vielzahl von Ansichten, die den Gegenstand vor dem

 Wolfgang Iser: Indeterminacy and the Reader’s Response in Prose Fiction. In: Aspects of Narrative. Selected Papers from the English Institute. Hrsg. von J. Hillis Miller. New York/London 1971, S. 1– 45, hier S. 2 f.  Iser 1970, S. 7.

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Auge des Betrachters schrittweise entwickelten, und zwar nicht in einer zufälligen, sondern in einer repräsentativen Weise: Die Beziehungen, die zwischen solchen übereinander gelagerten Ansichten bestehen, werden in der Regel vom Text nicht ausformuliert, obgleich die Art, in der sie sich zueinander verhalten, für die Intention des Textes wichtig ist. Mit anderen Worten: Zwischen den „schematisierten Ansichten“ entsteht eine Leerstelle, die sich durch die Bestimmtheit der aneinander stoßenden Ansichten ergibt. Solche Leerstellen eröffnen dann einen Auslegungsspielraum für die Art, in der man die in den Ansichten vorgestellten Aspekte aufeinander beziehen kann. Sie sind durch den Text selbst überhaupt nicht zu beseitigen. Im Gegenteil, je mehr ein Text seinen Darstellungsraster verfeinert, und das heißt, je mannigfacher die „schematisierten Ansichten“ sind, die den Gegenstand des Textes hervorbringen, desto mehr nehmen die Leerstellen zu.²⁵

Dreierlei scheint mir an dieser Beschreibung wesentlich. Erstens: Leerstellen haben mit Beziehungen und Beziehungsmöglichkeiten zu tun, das heißt damit, wie die einzelnen Elemente eines Textes und das in ihnen Dargestellte – „die in den Ansichten vorgestellten Aspekte“ – zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Zweitens: Leerstellen sind vom Text her nicht oder nur sehr bedingt aufzufüllen. Und drittens: Leerstellen sind konstitutiv für narrative Texte. Es gibt keinen Text, der nicht über Leerstellen verfügte, und paradoxerweise nehmen sie mit zunehmender Darstellungsgenauigkeit sogar zu. „Ja selbst in der einfachsten Geschichte“, sagt Iser an anderer Stelle, „gibt es bereits den Konsistenzbruch aus dem schlichten Grunde, weil kein Geschehen vollständig erzählt werden kann.“²⁶

 Iser 1970, S. 15.  Wolfgang Iser: Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. von Rainer Warning. München 1975 (Uni-Taschenbücher 303), S. 253 – 276, hier S. 258. Wenn ich Iser hier zitiere, dann nicht in der Absicht, mir die rezeptionsästhetische Leerstellentheorie von A bis Z zu eigen zu machen. Auf die Gefahr dieser Theorie, den Aspekt der Rezeption bei der Konstituierung des Textsinns einseitig zu verabsolutieren, ist oft genug hingewiesen worden. Jedoch hat Iser mit der Rede von den auszufüllenden Leerstellen eine Metapher gefunden, die den Aspekt der strukturellen Vorgabe des Textes und den Aspekt der durch sie angeregten Mitwirkung des Rezipienten auf anschauliche Weise verbindet. Als solche scheint sie mir für das Verständnis jenes komplexen Vorgangs, den die Erzeugung von Textsinn darstellt, immer noch von Wert; vgl. auch Joachim Heinzle: Traditionelles Erzählen. Zur Poetik des ‚Nibelungenliedes‘. Mit einem Exkurs über „Leerstellen“ und „Löcher“. In: Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Festschrift für Fritz Peter Knapp zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Thordis Hennings u. a. Berlin/New York 2009, S. 59 – 76, hier S. 76. Zu Forschungsgeschichte und Kritik der Rezeptionsästhetik siehe den zitierten gleichnamigen Sammelband von Warning sowie Tilmann Köppe/Simone Winko: Rezeptionsästhetik. In: Köppe/Winko, Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2013, S. 85 – 96.

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Leerstellen entstehen nicht etwa nur dort, wo Handlungsstränge, die gleichzeitig ablaufen, aber nur nacheinander erzählt werden können, einen „Schnitt“ hinterlassen.²⁷ Sie ergeben sich überall, wo in einem Text eine Sinnverbindung zwischen zwei oder mehr Elementen nicht (eindeutig) hergestellt oder unklar ist. Insofern geht der Leerstellenbegriff auch über das hinaus, was in der englischsprachigen Erzähltheorie mit der Unterscheidung zwischen gaps und blanks beschrieben wird.²⁸ Ich verstehe ihn als Bezeichnung für alle Formen der Unbestimmtheit, die sich aus den Beziehungen narrativer Elemente zueinander ergeben, von den Satzkorrelaten bis hin zur Korrelation von Ereignissen oder ganzen Ereignissequenzen. So verstanden kann der Begriff nicht nur zur Beschreibung tatsächlicher oder vermeintlicher logischer Widersprüche dienen: etwa in dem Beispiel aus dem ‚Pfaffen Amis‘ des Strickers, wo ein Maurer im Gewande eines Bischofs wiederholt als „glatzköpfig“ (kalwe, V. 1405, 1433, 1468) bezeichnet wird, um einige Zeit später von einem erzürnten Seidenhändler heftig an den Haaren gerissen werden zu können.²⁹ Auch für komplexere Unstimmigkeiten in mittelalterlichen Erzähltexten lässt sich der Begriff in diesem Sinne in Anspruch nehmen: Unbestimmtheiten, die nicht so sehr sachliche Widersprüche darstellen als vielmehr die handlungslogische Kohärenz eines Textes grundsätzlich herausfordern. Und zwar nicht nur in Texten, für die ein geringerer Grad an kohärenzlogischer Durchformung erwartbar ist – wie etwa für das aus der Mündlichkeit kommende, heldenepische Erzählen –, sondern auch in stärker buchliterarisch geprägten. Ich nenne nur ein Beispiel aus der ‚Gregorius‘-Bearbeitung Hartmanns von Aue: Als der junge Gregorius von der Insel und aus dem Kloster fortgehen will, wo er als Findelkind seine Kindheits- und Jugendjahre

 Iser 1970, S. 15.  Vgl. z. B. Sternberg 1985, S. 235 – 241, der gaps definiert als „a lack of information about the world – an event, motive, causal link, character trait, plot structure, law of probability – contrived by a temporal displacement“ (S. 235 f.). Die Unterscheidung zwischen gaps und blanks koppelt Sternberg an das Relevanzkriterium: gaps sind relevante Informationslücken („relevancies“), blanks irrelevante („irrelevancies“). Hinsichtlich der gaps unterscheidet Sternberg weiter zwischen zeitweiligen und dauerhaften Lücken (temporary vs. permanent gapping). Temporary gaps entstehen aus der künstlichen Störung der natürlichen Ordnung einer Sequenz; sie werden später, retrospektiv, gefüllt; dauerhafte Lücken bleiben.  Der Stricker: Der Pfaffe Amis. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Heidelberger Handschrift cpg 341 hrsg., übers. und komm. von Michael Schilling. Stuttgart 1994 (RUB 658): Mit zorn er [der Seidenhändler, C. S.] do dar gienc. / Bi dem har er in [den Maurer, C. S.] gevienc. / Er warf in zorniclichen nider. / Do sprach er anders niht wider / wan: „Ez ist war! Ez ist war!“ / Do er im hut unde har / abgesluck und gebrach, / do rief er alles unde sprach: / „Ez ist war! Ez ist war!“ (V. 1693 – 1701; vgl. auch V. 1747).

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verbracht hat, tut er dies im Gespräch mit dem Abt ausdrücklich, um seine Herkunft zu erfahren: ich engeruowe niemer mê, so sagt Gregorius, und wil iemer varnde sîn, mir entuo noch gotes gnâde schîn von wanne ich sî oder wer. (V. 1802– 1805)³⁰ Ich werde nicht eher ruhen / und immer rastlos sein, / bis mir Gottes Gnade offenbart, / woher und wer ich bin.

Die elfenbeinerne Schreibtafel, die seine Mutter ihm seinerzeit mit in das Holzfässchen aufs Meer gegeben und die der Abt ihm zu Beginn ihres Gesprächs gezeigt hatte, hält ja zwar die adelige und auch die inzestuöse Herkunft des Kindes fest, aber weder Namen noch Land der Eltern. Doch als sein Schiff kurze Zeit später von den Winden nach Aquitanien getrieben worden ist und der Protagonist, ohne es zu wissen, das Land seiner Mutter betreten hat, ist von der Frage nach der Herkunft keine Rede mehr. Gregorius sucht nicht mehr zu erfahren, woher er stammt und wer er ist, und damit erscheint die primäre Motivation für seinen Aufbruch in die Welt unversehens aufgegeben. Wie Rezipienten solche Irritationsstellen im Rezeptionsvorgang bewältigen, um das Erzählte als kohärent prozessieren zu können, ist nicht kontingent, sondern folgt jenen historisch spezifischen Formen und Regeln des Wahrnehmens, Referenzierens und Plausibilisierens, die ich ‚Erzähllogiken‘ nenne.

1.3 Inkohärenzen in mittelalterlichem Erzählen: Eine Typologie Von solchen kulturell eingeübten und weitgehend konventionalisierten Logiken gehen Autoren aus, wenn sie eine erzählerische Ordnung schaffen. Und ebenso tun das Leser oder Hörer, wenn sie eine Erzählung rezipieren. Als kognitive Konventionen bestimmen Erzähllogiken maßgeblich, wie mit den Elementen einer Erzählung umgegangen wird, das heißt, sie spielen – textpragmatisch formuliert – für das Handeln an und mit dem Text eine zentrale Rolle.³¹ Erzähllogiken sind diachron und wohl auch kulturell variabel. Aber auch schon synchron, innerhalb eines bestimmten Zeitraums, muss mit unterschied-

 Die zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hrsg. und übers. von Volker Mertens. Frankfurt a. M. 2004 (BdK 189), S. 9 – 227 (Text), 779 – 877 (Kommentar). Neuhochdeutsche Übersetzungen mittelhochdeutscher Zitate stammen von mir.  Grundlegend: Karlheinz Stierle: Text als Handlung. Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft. Neue, veränd. und erw. Aufl. München/Paderborn 2012.

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lichen Geltungen und Geltungsansprüchen gerechnet werden. Ein Text wie Hartmanns ‚Iwein‘ einerseits und das ‚Nibelungenlied‘ andererseits, wiewohl beide in der uns vorliegenden Gestalt vermutlich im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts entstanden, lassen sehr unterschiedliche Maßstäbe von narrativer Kohärenz erkennen. Für das ‚Nibelungenlied‘ hat das vor allem die Forschung zu den Eingriffen der Redaktion *C gegenüber der Fassung *AB, erschließbar aus der Hohenems-Münchner Handschrift A und der St. Galler Handschrift B, gezeigt.³² Unter anderem griff der C-Redaktor dort ein, wo für ihn in der *AB-Version eine Frage ungeklärt, ein Handlungsmotiv undeutlich war oder wo ihm ein Verbindungsglied fehlte.³³ Dabei zeichnet sich in C gegenüber AB insgesamt eine „Tendenz zu linearer Kohärenz“ und „weiträumig-syntagmatischer Verknüpfung“ ab, die Anpassung an „eine[n] neuen Anspruch auf kausale Motivation“, wie er den Erzählstil des in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts neu entstehenden höfischen Roman kennzeichnet.³⁴ Wenn die *AB-Version sich diesem „Modernisierungsdruck“³⁵ zu entziehen scheint, dann muss das nicht bedeuten, dass der in den Handschriften A und B überlieferte Text im 13. Jahrhundert eine geringere Bedeutung besaß.³⁶ Es ist durchaus denkbar, dass gerade

 Die mit Asteriskus (*) versehenen Buchstaben bezeichnen, wie in der Nibelungenphilologie üblich, eine nur erschlossene Fassung des ‚Nibelungenlieds‘, die nicht unmittelbar erhalten ist. Die A-Handschrift: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 34, 2. Hälfte 13. Jh.; die BHandschrift: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Ms. 857, Mitte 13. Jh. Hauptvertreter der *C-Fassung ist die Hohenems-Donaueschinger (auch Laßberg’sche) Handschrift C: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 63, 1. Hälfte 13. Jh. Zu den Eingriffen von C gegenüber der Fassung *AB siehe etwa Werner Hoffmann: Die Fassung *C des ‚Nibelungenliedes‘ und die ‚Klage‘. In: Festschrift Gottfried Weber. Zu seinem 70. Geburtstag überreicht von Frankfurter Kollegen und Schülern. Hrsg. von Heinz Otto Burger/Klaus von See. Bad Homburg u. a. 1967 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 1), S. 109 – 143; Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 55 – 102.  Daneben stehen Eingriffe, die die Bewertung von Figuren und Ereignissen betreffen; vgl. JanDirk Müller: Das Nibelungenlied. 3. neu bearb. und erw. Aufl. Berlin 2009 (Klassiker-Lektüren 5), S. 53.  Müller 1998, bes. S. 55 – 102, die Zitate S. 91 und 94; zum Vergleich mit dem höfischen Roman S. 134. Müller weist auch darauf hin, dass die „Normalisierungsversuche“ in C – im Sinne der Umstellung auf einen anderen Erzählstil und Motivationstyp – häufig neue Unstimmigkeiten hervorrufen, weil sie oft nur punktuell und ohne Rücksicht auf die Strophenumgebung vorgenommen wurden (ebd., S. 94, mit einem Beispiel).  Joachim Heinzle: Die Handschriften des ‚Nibelungenliedes‘ und die Entwicklung des Textes. In: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Hrsg. von Joachim Heinzle/Klaus Klein/Ute Obhof. Wiesbaden 2003, S. 191– 212, hier S. 201.  Wenn man nur die fragmentarische Überlieferung zugrunde legt, scheint freilich im 13. Jahrhundert die *C-Fassung zu dominieren. Doch muss das nicht zugleich auch Dominanz des in C überlieferten Textes bedeuten: „Es ist durchaus denkbar“, so Peter Göhler: Daz was ein not vor

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das ‚Unmoderne‘ dieser Version für die Zeitgenossen einen besonderen Reiz darstellte. Es wären dann zwar die in der *AB-Gruppe bezeugten Kohärenzstandards nach Maßgabe der Zeit um 1200 nicht mehr State of the Art gewesen, aber als ‚alte‘ Kohärenzregeln könnten sie weiter geschätzt und von einem Text dieser Art auch erwartet – und deshalb bewahrt – worden sein. Eine kohärenzlogische Inkonsequenz, wie sie in der vieldiskutierten Ortliep-Strophe 1912 der *B-Fassung vorliegt und wie sie Chrétien oder Hartmann wohl vermieden hätten (auch C vermeidet sie bezeichnenderweise),³⁷ kann insofern auch um 1200 ihre volle Richtigkeit haben. Das heißt, es dürfte auch im Hinblick auf Erzähllogiken und die ihnen entsprechenden Kohärenzerwartungen eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen geben. Texte können nicht nur bestimmte erzähllogische Standards planmäßig unterlaufen – und damit ex negativo ihre Geltung doch bestätigen; sie können auch, aus einem quasi antiquarischen Interesse, aktualisieren, was im Grunde schon nicht mehr gilt bzw. nur in einem bestimmten gattungspragmatischen Rahmen noch gelten kann. In jedem Fall darf man annehmen, dass bei erfolgreichen Erzähltexten – und wenn breite Überlieferung ein Kriterium für Erfolg ist, dann war das ‚Nibelungenlied‘ in seiner Zeit ohne Frage ein erfolgreicher Text – die zeitgenössischen Rezipienten mit dem narrativen Arrangement, das der Text ihnen bot, etwas ‚anfangen‘ können mussten. Und das dürfte universal gelten: Rezipienten müssen mit dem Arrangement der Elemente, aus denen ein Erzähltext besteht, etwas ‚anfangen‘ können, um an ihm ästhetisches Genügen oder sogar Vergnügen zu finden; andernfalls würde der Text nicht gefallen und schnell vergessen. Wenn aber wir Heutigen uns mit den uns vertrauten erzähllogischen Konventionen vorneuzeitlichem Erzählen aussetzen; wenn wir mittelalterliche Erzähltexte lesen oder, sehr viel seltener, hören, dann werden wir immer wieder befremdet – befremdet im Hinblick auf das logische Verhältnis einzelner Erzählelemente zueinander, das uns eben oft so gar nicht logisch erscheint. Das ist eine ganz naive Rezeptionserfahrung, die jeder machen kann, der sich einmal ein aller not. Der Platz des ‚Nibelungenliedes‘ im literarischen Ensemble um 1200. Überlegungen zur literaturgeschichtlichen Stellung des ‚Nibelungenliedes‘. In: Das Nibelungenlied und die Europäische Heldendichtung. 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Alfred Ebenbauer/Johannes Keller. Wien 2006 (Philologica Germanica 26), S. 121– 146, hier S. 139 f., „dass andere, uns nicht bekannte Handschriften im 13. Jahrhundert eine überragende Bedeutung für das literarische Leben oder/und für die Textentwicklung besessen haben.“ Vgl. auch Müller 2009, S. 53.  Weiter unten, S. 22, dazu ausführlicher. Der in *AB handlungslogisch inkonsistente Strophenbeginn Do der strit niht anders chvnde sin erhaben (B 1909 [1912]) erscheint in C ersetzt durch Do die fvrsten gesezzen warn vber al (1963); vgl. Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B und C nebst Lesarten der übrigen Handschriften. Hrsg. von Michael S. Batts. Tübingen 1971, S. 582 f.

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mittelhochdeutsches Erzählwerk des 12. Jahrhunderts zu Gemüte geführt hat. Es ist das Befremden, das sich einstellt, wenn wir uns mittelalterlicher Literatur so nähern, wie es Hans Robert Jauß in seinem dreischrittigen Verstehensmodell als ersten Schritt vorgeführt hat: über jene „erste hermeneutische Brücke“, die in der unmittelbaren oder präreflexiven Leseerfahrung bestehe, die implizit freilich, so Jauß, immer schon ein „Erproben der Lesbarkeit“ einschließe.³⁸ Solches Erproben der Lesbarkeit, das den Zugang zu mittelalterlicher Literatur über die vermittelnde Leistung des ästhetischen Vergnügens oder auch Missvergnügens sucht, stößt bei mittelalterlichen Erzähltexten – wie bei anderen Beispielen vorneuzeitlichen epischen Erzählens auch – schnell auf Hindernisse, die das Vergnügen an ihnen beeinträchtigen können. Einiges nennt Jauß selbst: den Vorrang der Konvention über den Ausdruck, die Unpersönlichkeit des Stils, den Traditionalismus der Epik, die Vermischung des Poetischen mit dem Didaktischen, die oft schwer entschlüsselbare Symbolik.³⁹ Ebenso weisen mittelalterliche Erzählungen im Hinblick auf ihre Logik Phänomene auf, die bei heutigen Lesern Befremden hervorrufen. Wir können über sie hinweglesen und uns durch sie nicht weiter stören lassen. Manchmal werden wir sie zwar wahrnehmen, aber im Lesen den uns vertrauten erzähllogischen Konventionen so zu adaptieren suchen, dass sich das Störende in irgendeiner Weise narrativ integrieren lässt – ein Vorgang, der oft unbewusst abläuft und dem Bedürfnis nach narrativem Zusammenhang geschuldet ist. Auch werden einzelne Phänomene subjektiv unterschiedlich wahrgenommen: Was dem einen auffällt, ist dem andern vielleicht gar nicht auffällig, und eine Formulierung wie diejenige von James A. Schultz, der 1989, mit ironischem Seitenhieb auf das Faible von Poststrukturalismus und Dekonstruktion für Diskontinuitäten und Aporien, bemerkte, „[t]he MHG [Middle High German, C. S.] narratives ought to be a post-structuralist’s dream. They are so full of inconsistencies that, at best, they seem just barely coherent“, wird mancher als zu pointiert und drastisch empfinden.⁴⁰ Doch auch wenn die Wahrnehmung von Inkohärenz graduell variiert und an subjektiv unterschiedliche Erwartungen

 Hans Robert Jauß: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. In: Jauß, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956– 1976. München 1977, S. 9 – 47, hier S. 10.  Jauß 1977, S. 11 f.  James A. Schultz: The Coherence of Middle High German Narrative. In: Medieval German Literature. Proceedings from the 23rd International Congress on Medieval Studies, Kalamazoo, Michigan, May 5 – 8, 1988. Hrsg. von Albrecht Classen. Göppingen 1989 (GAG 507), S. 75 – 86, hier S. 76.

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von Kohärenz gebunden bleibt,⁴¹ dürfte es in der Forschung einen intersubjektiven Konsens geben, dass mittelalterliche Erzähltexte im Ganzen neuzeitlichschriftsprachliche Kohärenzanforderungen oftmals frustrieren. Dieser Befund ist Anlass und Ausgangspunkt dieses Buchs. Doch welcher Art sind die Inkonsistenzen der Texte genauer, und wie lassen sie sich erzähltheoretisch angemessen beschreiben? Wenn ich im Folgenden eine Typologie zu erstellen versuche, dann zielt diese nicht auf ein Verzeichnis der Konfigurationen insgesamt, durch die in einem Text Unbestimmtheit entstehen kann, sondern nur solcher, die geeignet sind, bei heutigen Lesern mittelhochdeutscher Erzähltexte den befremdenden Eindruck von Inkohärenz hervorzurufen.⁴² In diesem Sinne soll die Typologie ein Instrument zur Kategorisierung von Inkohärenz in mittelalterlichem Erzählen an die Hand geben und auf diese Weise ermitteln helfen, auf welchen Ebenen Erzähllogik analysiert werden muss. Ich schlage vor, vier Typen narrativer Inkohärenz in mittelhochdeutschen Erzähltexten zu unterscheiden: 1) existentielle oder ontologische Inkohärenz; 2) motivationale Inkohärenz; 3) perspektivische Inkohärenz; 4) diskursive oder illokutionäre Inkohärenz. Existentielle oder ontologische Inkohärenz: Sie umfasst Unbestimmtheiten und Inkongruenzen auf der Ebene der erzählten Welt, und zwar im Hinblick auf den ontischen, seinsmäßigen Status des Dargestellten. Mit der erzählten Welt ist die Gesamtheit dessen gemeint, was der Rezipient als das ‚Was‘ eines narrativen Textes konstruiert. Die Handlung im Sinne der „Gesamtheit der handlungsfunktionalen Elemente der dargestellten Welt“ ist ein Teil davon.⁴³ Verständnisschwierigkeiten ergeben sich hier aus der Inkongruenz einer Information A zu einer Information B – jeweils entweder explizit mitgeteilt oder implizit ausgedrückt – in Bezug auf die seinsmäßige Beschaffenheit der erzählten Welt. Das können sein: logische Widersprüche, Abweichungen von dem, was im Rahmen

 Vgl. Christian Kiening/Susanne Köbele: Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs ‚Titurel‘. In: PBB 120 (1998), S. 234– 265, hier S. 238 f.  Vergleichbar formuliert Iser 1970, S. 19: „An diesem Punkt stellt sich nun die Aufgabe, die wir im Rahmen dieser Diskussion nur benennen, nicht aber lösen können. Es käme zunächst einmal darauf an, das Repertoire von Strukturen sichtbar zu machen, durch das im Text Unbestimmtheit entsteht; ferner gälte es, elementare Aktivitäten beschreibbar zu machen, die der Leser bei der Lektüre zwar nicht bewußt wahrnimmt, die sich aber dennoch vollziehen.“  Martínez/Scheffel 2003, S. 23 f., 123 f.

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der erzählten Welt seinsmöglich ist (d. h., es geht um Möglichkeit gemessen an den durch den Text selbst oder seine Gattungszugehörigkeit gesetzten Standards). Beispiele für existentielle bzw. ontologische Inkohärenz sind: Egeris/Gergers und Beringer, zwei christliche Helden des ‚Rolandslieds‘, die in der Schlacht von Ronceval zu Tode kommen (V. 5334 bzw. 5337), etwa dreihundert Verse weiter aber wieder als kämpfend dargestellt werden (V. 5915 bzw. 5922), und zwar ohne dass sich dies als wunderbare Auferstehung von den Toten deuten ließe;⁴⁴ ebenso der schon erwähnte, einmal glatzköpfige, dann wiederum behaarte Maurer-Bischof aus dem ‚Pfaffen Amis‘. Hierher gehören aber auch einander ausschließende chronologische Zusammenhänge, wie sie sich beispielsweise aus den Angaben zur Arnive-Clinschor-Geschichte in Wolframs ‚Parzival‘ ergeben: Einerseits muss Clinschor seine Verstümmelung während seiner Zauberausbildung im Orient erhalten haben (656,25 – 658,6);⁴⁵ andererseits wird anlässlich des Turniers von Kanvoleis erzählt, Arnive sei von einem Zauberer, bei dem es sich nur um Clinschor handeln kann, vor drei Jahren entführt worden, wohl aus Liebe, aber dann kann Clinschor zu diesem Zeitpunkt nicht schon verstümmelt sein (66,1– 8).⁴⁶ Motivationale Inkohärenz: Bei ihr verstoßen Dinge nicht gegen die existentiellen oder ontologischen Möglichkeitsbedingungen einer erzählten Welt (d. h., sie sind gemessen daran, was in der dargestellten Welt der Fall sein kann, nicht an sich unmöglich). Jedoch hat der Rezipient den Eindruck, dass gegen Wahrscheinlichkeitsbedingungen verstoßen wird. Es handelt sich um Abweichungen von sequentiellen Plausibilitätserwartungen – von der Erwartung also, dass das Dargestellte „nicht nur (chronologisch) aufeinander, sondern auch nach einer Regel oder Gesetzmäßigkeit auseinander“ folgt.⁴⁷ Die Erzähltheorie verwendet dafür wahlweise die Begriffe ‚Motivation‘ oder ‚Motivierung‘ und versteht darunter „den Inbegriff der Beweggründe für das in einem erzählenden oder dra-

 Versangaben und Zitate aus Konrads ‚Rolandslied‘ hier und im Weiteren nach der Ausgabe: Pfaffe Konrad: Das Rolandslied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. und komm. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1993 (RUB 2745).  Die verwendete Edition: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin/New York 1998.  Siehe zur Stelle, mit einem Lösungsvorschlag, Uta Störmer-Caysa: Ein Schatten aus möglichen Vergangenheiten. Effekte konfligierender und widersprüchlicher Begründungen in Wolframs ‚Parzival‘. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. von Florian Kragl/Christian Schneider. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 13), S. 71– 89, hier S. 80 – 84.  Martínez/Scheffel 2003, S. 109 (Hervorheb. im Original).

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matischen Text dargestellte Geschehen.“⁴⁸ Motivationale Inkohärenz entsteht, wenn ein Text die Erwartung eines Begründungs- oder Erklärungszusammenhangs zwischen zwei narrativen Elementen – zum Beispiel zwei Ereignissen – erzeugt oder einen solchen Zusammenhang herstellt, ohne dass dieser für den Rezipienten, zumindest für den heutigen, ohne Weiteres nachvollziehbar wäre. Von motivationaler Inkohärenz lässt sich sprechen, wenn der kausale Konnex zwischen zwei oder mehreren dargestellten Ereignissen unbestimmt oder unklar ist;⁴⁹ bei einander ausschließenden Mehrfachmotivationen, wie der schon erwähnten Strophe 1912 der sogenannten Vulgatfassung des ‚Nibelungenlieds‘, die mit dem Eingangsvers Do der strit niht anders chvnde sin erhaben – Kriemhilt lässt ihren Sohn, den Etzel-Spross Ortliep, zu Tische tragen, Hagen schlägt ihm den Kopf ab – die Ursache für den Ausbruch der Kampfhandlungen anzugeben behauptet (und dabei alternative Causae explizit ausschließt), während diese durch den vorausgehenden Überfall der Hiunen auf den Tross der Burgonden tatsächlich längst in Gang gebracht sind.⁵⁰ Auch widersprüchliche Doppelungen wie die zweite Erkennungsszene in der ‚Kudrun‘ sind Fälle motivationaler Inkohärenz: Nachdem in der 25. Aventiure Ortwin, Kudruns Bruder, und Herwig, ihr Gatte, sich Kudrun und Hildeburg bereits ausführlich zu erkennen gegeben haben (Str. 1234– 1251), kommt es in der 28. Aventiure, die die Eroberung der Normannenburg durch Kudruns Befreier schildert, zu einer zweiten Begegnung zwischen Kudrun und Herwig. Dabei stellen die beiden einander jedoch so vor, als hätte die erste Erkennungsszene am Strand gar nicht stattgefunden, ja, als seien sie sich überhaupt noch nie zuvor begegnet (Str. 1483 – 1487).⁵¹

 Martínez/Scheffel 2003, S. 110. Dabei lege ich einen weiten Begriff von Motivierung zugrunde; zu einem engeren, rein psychologisch bestimmten siehe Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Hrsg. von Karl Eimermacher. Frankfurt a. M. 1975 (stw 131), S. 75, der unter Motivierung „die verschiedenen Beweggründe als auch die Absichten der Gestalten […], die sie zu bestimmten Handlungen veranlassen“, versteht.  Auf solche Inkohärenzen und, daraus sich ergebend, das Problem der Kausalität in mittelalterlichen Erzähltexten, insbesondere der Heldenepik gegenüber dem arturischen Roman, bezieht sich auch die ältere Studie von Karen J. Campbell: Some Types of Incoherence in Middle High German Epic. In: PBB 109 (1987), S. 350 – 374.  Zitiert nach der Handschrift B in der Ausgabe von Batts 1971, dort Str. 1909; vgl. zur Stelle auch Müller 1998, S. 75 – 79.  Nachzulesen in der Ausgabe: Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Karl Stackmann. Tübingen 2000 (ATB 115). Die Passage wurde in der Forschung wiederholt als unstimmig empfunden, so etwa von Karl Stackmann: Einleitung. In: Kudrun. Hrsg. von Karl Bartsch. 5. Aufl. überarb. und neu eingel. von Karl Stackmann. Wiesbaden 1965 (Deutsche Klassiker des Mittelalters), S.VII–CIV, hier S. XVI, und Theodor Nolte: Wiedergefundene Schwester und befreite

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Desgleichen fallen in diese Kategorie unwahrscheinliche, aber für den Handlungsfortgang relevante raumzeitliche Zusammenhänge (wenn z. B. Figuren auf etwas reagieren, worauf sie aufgrund räumlicher und/oder zeitlicher Entfernung eigentlich nicht reagieren können) sowie Widersprüchlichkeiten in der Darstellung von Figurenpsychologie (psychische Zustände, Absichten, Beweggründe) und Figurenhandeln. Perspektivische Inkohärenz: Die beiden ersten Kategorien umfassen erzähllogische Irritationsphänomene, die vor allem die Ebene des Dargestellten, also das ‚Was‘ der Erzählung betreffen. Demgegenüber sind perspektivische Inkohärenzen solche, bei denen Unstimmigkeiten – in Bezug auf die dargestellte Welt, ihre Logik, ihre Normen oder ihre Ästhetik – sich aus der Überschneidung verschiedener Ebenen eines Erzähltextes ergeben, die die klassische Erzähltheorie säuberlich zu trennen versucht.⁵² An mittelalterlichen Erzähltexten ist in dieser Hinsicht besonders die häufige Verwischung der Grenzen zwischen Handlungsebene (histoire, story) und Darstellungsebene (discours, narration) auffällig. Gérard Genette hat für solche Grenzüberschreitungen den Begriff der ‚Metalepse‘ gebräuchlich gemacht.⁵³ Natürlich geht in Erzählungen alles Erzählte (d. h. die Geschichte, die erzählte Welt) auf eine Erzählerstimme oder, allgemeiner ausgedrückt, eine narrative Äußerungsinstanz zurück. Jedoch meine ich mit perspektivischen Inkohärenzen nicht divergente Handlungsbewertungen, wie sie sich aus dem Gegenüber von erzählender und kommentierender Erzählerstimme ergeben können.⁵⁴ Gemeint sind vielmehr Fälle wie die, in denen eine Figur auf der Ebene der Diegese auf Erzähleräußerungen reagiert oder auf ein Wissen Bezug nimmt, das zwar der Erzähler, der (reale oder implizite) Rezipient oder eine andere Figur, aber nicht sie selbst haben kann. Der Beispiele dafür sind in der mittelhochdeutschen Epik Legion. Das folgende entnehme ich dem ‚König Rother‘, und zwar der Stelle, an der die Köni-

Braut. Kudrunepos und Balladen. Stuttgart 1988 (Helfant-Studien 4), S. 65 f. Eine mögliche Deutung habe ich in Christian Schneider: Die Latenz des Epos. Narrative Kohärenz und Kryptotext in der ‚Kudrun‘. In: Mittelalterliche Heldenepik – Literatur der Leidenschaften. 11. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Florian Kragl/Johannes Keller. Wien 2011 (Philologica Germanica 33), S. 161– 186, bes. S. 175 f., vorgeschlagen.  Vgl. Tamar Yacobi: Authorial Rhetoric, Narrational (Un)Reliability, Divergent Readings. Tolstoy’s ‚Kreutzer Sonata‘. In: A Companion to Narrative Theory. Hrsg. von James Phelan/Peter J. Rabinowitz. Malden, MA/Oxford 2005 (Blackwell Companions to Literature and Culture 33), S. 108 – 123, hier S. 111.  Siehe Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998 (Uni-Taschenbücher 8083), S. 166 – 169.  Ein wohlbekanntes Beispiel dafür ist der ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg; vgl. dazu etwa Tomas Tomasek: Gottfried von Straßburg. Stuttgart 2007 (RUB 17665), S. 172– 174.

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ginmutter (nicht Konstantin, der König!) ihre Tochter Rother offiziell zur Frau gibt. Sie sagt in diesem Zusammenhang, an Berchter von Meran, Rothers alten, getreuen Ratgeber, gewandt: din zucht is hute wole scin, sit der koninc Constantin mit deme live intgat, so vile he dir leydes getan hat! (V. 4703 – 4706)⁵⁵ Deine höfische Art zeigt sich heute sehr deutlich, / da König Konstantin / mit dem Leben davonkommt, / obwohl er dir so viel Leid angetan hat!

Damit nimmt sie Bezug auf V. 4459 – 4481, wo Berchter Rother geraten hat, Konstantin zu verschonen. Von diesem Rat kann die Königinmutter jedoch eigentlich nicht wissen und noch weniger, dass Berchter es war, der ihn gab.Wenn sie diesen also nun für seine vorbildliche höfische Art, seine zucht, preist, da Konstantin mit dem Leben davongekommen sei, so fragt man sich, wie sie auf diese Information Bezug nehmen kann. Logisch kann sie es eigentlich nicht. Diskursive oder illokutionäre Inkohärenz:⁵⁶ Als solche bezeichne ich schließlich die Vielzahl vermeintlicher oder tatsächlicher Inkohärenzen auf der mikrostrukturellen Ebene mittelalterlicher Erzähltexte. Ich denke dabei vor allem an die Gestaltung der Aufeinanderfolge von Sätzen oder (kleineren oder größeren) Satzeinheiten. Dort, wo einzelne Sätze oder ganze Abschnitte raumzeitlich aufeinanderfolgen, und zwar sowohl auf dem Pergament oder Papier als auch beim Lesen oder Hören, lässt diese Aufeinanderfolge Übergänge erwarten. Oft vermissen wir aber aus heutiger Sicht an solchen Stellen in den Texten Übergänge – sei es durch Formen der Wiederaufnahme oder andere Mittel –,⁵⁷ oder wir empfinden die vorhandenen Übergänge als unbefriedigend. Im einen wie im anderen Fall stellt sich die Frage, wie die Texte den Sprung von einem Satz oder Abschnitt zum nächsten bewältigen und welche Möglichkeiten der Kohärenzbildung sich daraus für ihre Rezipienten ergeben. Während Inkohärenzen des ersten und zweiten Typs die Ebene des Dargestellten betreffen, die dritte Kategorie die Ebene der Darstellung ebenso wie die  Die zitierte Ausgabe: König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein. Hrsg. von Ingrid Bennewitz unter Mitarbeit von Beatrix Koll/Ruth Weichselbaumer. Stuttgart 2000 (RUB 18047).  Zur Begrifflichkeit vgl. Marie-Laure Ryan: Stacks, Frames and Boundaries, or Narrative as Computer Language. In: Poetics Today 11 (1990), S. 873 – 899, hier S. 874 f., mit der Unterscheidung zwischen „ontological“ und „illocutionary boundaries“.  Näheres dazu beispielsweise bei Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 6. Aufl. Berlin 2005 (Grundlagen der Germanistik 29), S. 27– 44.

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des Dargestellten, beziehen sich diskursive oder illokutionäre Inkohärenzen ausschließlich auf die Ebene der Darstellung oder des Erzählens – was nicht heißt, dass der Umgang der Rezipienten mit Inkohärenzen diesen Typs keine Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Gesamtzusammenhangs des Erzählten, auch im Hinblick auf die Handlung, hätte. Diese Kategorisierung erhebt nicht den Anspruch, völlig trennscharf zu sein. Überschneidungen sind vor allem zwischen den ersten beiden Kategorien denkbar, und es mag durchaus Phänomene geben, die sich sowohl der einen als auch der anderen Kategorie zuweisen lassen. Jedoch leistet sie zweierlei: Zum einen hilft sie, verschiedene Typen erzähllogisch befremdlicher Textphänomene sachlich und begrifflich zu unterscheiden. Zum anderen lässt sich mit ihrer Hilfe genauer angeben, an welchen Stellen innerhalb mittelalterlicher Erzähltexte erzähllogische Fragen relevant werden und wo ihre Untersuchung daher ansetzen muss. Gemeinsam haben alle vier Typen der Inkohärenz, dass sie auf die Frage zurückführen, was in einer Erzählung wie womit verknüpft wird. Oder, aus der Sicht des Rezipienten gefragt: Was können Hörer oder Leser wie womit in Zusammenhang bringen? Wie man die Frage auch stellt, immer richtet sie sich auf die Regeln, nach denen Rezipienten zwischen den einzelnen Elementen eines Erzähltextes – bewusst oder unbewusst – einen Zusammenhang herstellen. Ich nenne sie Kohärenzregeln. Davon systematisch zu unterscheiden sind Kohärenzgewohnheiten. ⁵⁸ Denn etwas kann vom Standpunkt der Kohärenzregeln aus einem mittelalterlichen Rezipienten – wie dem neuzeitlichen Leser – logisch durchaus widersprüchlich erschienen sein, ohne dass es ihn – anders als uns – im gegebenen Erzählkontext gestört haben muss. Entweder hat er den Widerspruch nicht bemerkt, vielleicht weil er die Erzählung über einen längeren Zeitraum allabendlich in bekömmlichen Portionen vor dem Kamin gehört und, was vorgestern erzählt wurde, heute nicht mehr in allen Einzelheiten im Gedächtnis hat (vor allem, wenn der Widerspruch Nebensächliches betraf);⁵⁹ oder, selbst wenn er

 Vgl. dazu auch Sonja Glauch: Epilog. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. von Florian Kragl/Christian Schneider. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 13), S. 303 – 308, hier S. 305 f.  Dass die Vorstellung einer – angesichts ihrer Länge sicher portionsweisen – Rezeption der großepischen Erzählliteratur vor dem heimischen Kamin kein modernes Mittelalteridyll ist, deutet u. a. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1991 (BdK 69), an, wenn er davon spricht, die Geschichte ins eigene Haus ans Feuer einzuladen: swer werdekeit wil minnen, / der lat dise âventiure / in sînem hûse ze viure (5,4– 6).

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den Widerspruch bemerkte, empfand er ihn vielleicht nicht als störend. Während Kohärenzregeln angeben, wie Kohärenz in Erzählungen hergestellt werden kann, geben Kohärenzgewohnheiten also an, welche Reichweite die Anwendung von Kohärenzregeln und dementsprechende Erwartungen haben. Dabei dürften – das Bild des häuslichen Kaminfeuers deutet es an – die situativen und medialen Umstände der Rezeption volkssprachiger Erzählliteratur im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Simple Erzählfehler etwa, wie die beiden christlichen Kämpfer des ‚Rolandslieds‘, die, schon gefallen, später noch einmal in den Kampf eingreifen, werden bei intermittierender Rezeption im Hören, wo nicht noch einmal zurückgeblättert werden kann, vermutlich weniger auffällig gewesen sein als bei Leserezeption am Stück, ohne dass sie deswegen schon historisch andere Kohärenzregeln abbilden würden.

1.4 Vom Umgang mit Fehlern, Leerstellen und Widersprüchen Sowohl für Kohärenzregeln als auch für Kohärenzgewohnheiten stellt sich die Frage nach ihrer synchronen Variabilität und ihrer diachronen, das heißt historisch-kulturellen Wandelbarkeit. Dass es historische Verläufe in der Realisierung und Wertung von Kohärenz bei Erzähltexten gibt, liegt auf der Hand.⁶⁰ Doch wie lassen sie sich beschreiben? Grundsätzlich, so scheint es, gibt es zwei Möglichkeiten, mit den Inkohärenzen und Widersprüchen mittelalterlicher Erzähltexte umzugehen (und zwar wissenschaftlich umzugehen, also in einer Weise, die die naiv-vorreflexive Leseerfahrung übersteigt). Erstens: Wir können sie als ‚Fehler‘, ‚Störungen‘, ‚Brüche‘ oder ‚Löcher‘ verbuchen. Zweitens: Wir können sie zunächst einmal nur als ‚anders‘ zur Kenntnis nehmen und zum Anlass einer Frage machen.⁶¹ Den ersten Weg ist vor allem die ältere Forschung gegangen. Ihre Einlassungen können das Unverständnis und Missvergnügen kaum verhehlen, das

 Vgl. Stuck 2000, S. 281; Susanne Köbele u. a.: Einleitung. In: Lyrische Kohärenz im Mittelalter. Spielräume – Kriterien – Modellbildung. Hrsg. von Susanne Köbele u. a. Heidelberg 2019 (GRMBeiheft 94), S. 9 – 22, hier S. 9, die „die historische Variabilität von Kohärenzkriterien“ als eine der Schwierigkeiten in der Identifikation, Begründung und Bewertung literarischer Kohärenz bezeichnen und Kohärenz aus diesem und anderen Gründen als „historisch-hermeneutische[n] Problembegriff“ (S. 22; alle Hervorheb. im Original) beschreiben.  Eine dritte Möglichkeit bestünde darin, sie schlicht zu ignorieren. Doch erscheint das, wissenschaftlich gesehen, kein wirklich gangbarer Weg, erst recht nicht dort, wo die erzähllogischen Befremdlichkeiten so gravierend sind, dass man kaum ohne Weiteres zur hermeneutischen Tagesordnung übergehen kann.

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narrative Inkohärenzen wie die oben angeführten ihr bereiteten. So schrieb, um nur ein Beispiel zu geben, Friedrich Panzer 1901 zur sogenannten ersten Erkennungsszene des ‚Kudrun‘-Epos: Herwig will die Erkannte [Kudrun, C. S.] natürlich sofort mitnehmen, Ortwin aber widersetzt sich dem aufs entschiedenste 1255 ff. Der Dichter hat seine liebe Noth, dies aller Vernunft ins Gesicht schlagende Verhalten Ortwins zu rechtfertigen. Angeblich will er (1256.4) diejenige nicht stehlen, die man ihm mit sturme genommen hat; aber haben die Normannen sie denn weniger gestohlen, als sie die Jungfrau in Abwesenheit des Vaters und seines Heeres raubten? Dann fällt ihm etwas anderes ein, vermuthlich weil er selbst die Schwäche seines ersten Argumentes empfindet: aus Rücksicht auf ihr Gefolge muss Gudrun noch in der Gewalt des Feindes bleiben: dîne schœne meide genesent deste baz 1259.2 – warum und wieso vermögen wir freilich so wenig einzusehen wie Gudrun.⁶²

Wie seinerzeit Panzer wird heute aus verschiedenen Gründen niemand mehr argumentieren. Die Forschung ist vorsichtig geworden, an mittelalterliche Texte und die in ihnen dargestellte Welt die Rationalitäts- und Kohärenzmaßstäbe einer ganz anderen Zeit anzulegen (und diese, wie Panzer, auch noch den Figuren in den Texten selbst zu unterstellen). Sie bemüht sich um einen Zugang, der der narrativen Faktur der Texte historisch angemessen ist, und diesen zweiten Weg wird auch meine Untersuchung einschlagen.⁶³ Methodologisch bedeutet das, Phänomene in mittelalterlichen Texten, die für unser Empfinden die erzählerische Ordnung stören, nicht mit einer Begrifflichkeit zu belegen, die, wie es bei der Rede von ‚Löchern‘ oder ‚Brüchen‘ der Fall ist, die Vorstellungen eines mottenbefallenen Pullovers oder einer schlecht tapezierten Zimmerwand hervorrufen. Stattdessen sollen sie zunächst einmal nur als in erstaunlicher oder befremdender Weise ‚anders‘ wahrgenommen und jedes Korruptionsvokabular, so nahe uns seine Verwendung mitunter sein mag, möglichst vermieden werden. Darin weiß sich die Untersuchung dem Jauß’schen Alteri-

 Friedrich Panzer: Hilde – Gudrun. Eine sagen- und literargeschichtliche Untersuchung. Halle a. S. 1901, S. 382 f.  Heuristisch verfestigt, im Sinne einer eigenen Forschungsrichtung, hat er sich inzwischen in dem Ruf nach einer historischen Narratologie, den, anknüpfend an erste Initiativen von Ansgar Nünning: Towards a Cultural and Historical Narratology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects. In: Anglistentag 1999 Mainz. Proceedings. Hrsg. von Bernhard Reitz/Sigrid Rieuwerts. Trier 2000 (Proceedings of the Conference of the German Association of University Teachers of English 21), S. 345 – 373, und Monika Fludernik: The Diachronization of Narratology. Dedicated to F. K. Stanzel on His 80th Birthday. In: Narrative 11 (2003a), S. 331– 348, Eva von Contzen 2014 in ihrem „Manifest“ zu einer mediävistischen Erzähltheorie mit allem Nachdruck vorgetragen hat; siehe Eva von Contzen: Why We Need a Medieval Narratology. A Manifesto. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 3.2 (2014), S. 1– 21.

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tätsbegriff und der ihm zugrunde liegenden Hermeneutik verpflichtet:⁶⁴ Sie will die Merkwürdigkeiten in der narrativen Logik mittelalterlichen Erzählens so behandeln, dass sie, indem sie Erstaunen oder Befremden hervorrufen, nicht die Unzulänglichkeit, sondern zunächst einmal die Andersheit einer in mancherlei Hinsicht immer noch vertrauten, in anderer Hinsicht aber doch schon fremden Text- und Erzählwelt bewusst machen. Das verlangt eine Verstehensanstrengung, die sich der unvermeidlichen geschichtlichen Ortsgebundenheit unseres Blicks auf vormodernes Erzählen bewusst ist und sich in diesem Bewusstsein darum bemüht, das Befremdende dieses Erzählens nicht ohne Weiteres dem Eigenen einzuverleiben, sondern es als ‚anders‘ gelten zu lassen. Die Einsicht kann dabei durchaus sein, dass manche Phänomene wirklich, das heißt auch gemessen an zeitgenössischen Erwartungen an erzählerische Ordnung, nicht anders denn als ‚Brüche‘, ‚Widersprüche‘ oder ‚Fehler‘ bezeichnet werden können. Um das zu beurteilen, muss aber erst einmal klar sein, welche Kohärenzerwartungen an mittelalterliche Erzähltexte legitimerweise herangetragen werden dürfen und, vor allem, welcher Art die Formen und Regeln der Verknüpfung sind, denen die Ordnung der Elemente in diesem Erzählen folgt. Dabei sind wirkliche oder vermeintliche Fehler im Gewebe mittelalterlicher Erzählungen – Phänomene also, die in irgendeiner Weise modern-realistische Erwartungen an logisches Erzählen irritieren – sowohl der Ausgangs- als auch der Schwerpunkt der Fragestellung. Das soll jedoch nicht vergessen machen, dass neben Alteritäts- selbstverständlich Identitäts- und Kontinuitätsphänomene stehen. Ebenso wenig soll es darüber hinwegtäuschen, dass die Texte ‚blinde‘ Stellen enthalten können, das heißt Stellen, die zwar nicht wir als Inkohärenzen oder Unstimmigkeiten wahrnehmen, die zeitgenössische Erwartungen an Stimmigkeit oder Widerspruchsfreiheit aber durchaus verletzt haben könnten. Ein Beispiel dafür ist, möglicherweise, der Schluss von Hartmanns von Aue legendenhafter Verserzählung ‚Der arme Heinrich‘: Dass der adelige Protagonist mit der Meierstochter ein Mädchen niederen Standes zur Frau nimmt, stellt nach heutigen Maßstäben kein Problem dar, wird vom Publikum um 1200 aber sehr wahrscheinlich als ein logischer Bruch empfunden worden sein, den der Text auch kaum bewältigt: nû ist si vrî als ich dâ bin (V. 1497), heißt es in einer Figurenrede Heinrichs zwar, aber das ist eine Aussage, „mit der er sich sozial gesehen in die Tasche lügt“.⁶⁵ Der logische Bruch wird auch durch die rechtsübliche Einholung  Siehe dazu auch Peter Strohschneider: Alterität. In: RLW 1 (1997a), S. 58 f., der in diesem Zusammenhang von einer „Rezeptionseinstellung der ‚Befremdung‘“ (S. 59) spricht.  Matthias Meyer: Wenn Gattungsmischung scheitert. Oder: Warum finden manche Geschichten kein adäquates Ende? In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. von Florian Kragl/Christian

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der Zustimmung der Sippe (V. 1509 – 1511) nicht wirklich geheilt, und dass schon zeitgenössische oder zeitnahe Rezipienten mit der von Heinrich behaupteten ständischen Freiheit des Mädchens qua Gesinnungsgleichheit ihre Schwierigkeiten gehabt haben könnten, dafür ist – abgesehen von der gesteigerten Legendenhaftigkeit eines solchen moniage – der vom weltlichen Schluss der AHandschrift abweichende Schluss der B-Fassung ein Indiz: Die Ehe wird in B nicht vollzogen, sondern Heinrich und das Mädchen beenden ihre Tage im Kloster.⁶⁶ Mit anderen Worten: Erzähllogische Alterität kann auch im vermeintlich Vertrauten gegeben sein, wenn Textphänomene neuzeitlichen Kohärenz- und Stimmigkeitserwartungen zu entsprechen scheinen, für das damalige Publikum aber (vermutlich) eine empfindliche Kohärenzstörung darstellten. Wenn es um solche tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Identitäts- und Kontinuitätsphänomene im Folgenden weniger gehen wird, dann nur deshalb, weil es besonders die Befremdlichkeiten mittelhochdeutschen epischen Erzählens sind, die in heutiger Sicht erklärungsbedürftig erscheinen. Sie nicht a priori als Störungen zu verstehen, heißt, damit zu rechnen, dass Erzähllogiken historischem Wandel unterliegen. Es bedeutet, ihre diachron beschränkte Geltung zu gewärtigen, ohne umgekehrt dem hermeneutischen Mutwillen nachzugeben, der von vornherein und überall Wandel erkennen will, wo tatsächlich gar keiner ist. Und es heißt die Frage stellen, ob die Merkwürdigkeiten in der narrativen Logik mittelalterlichen Erzählens auf universale kognitive Konzepte hindeuten, die für das Denken des vorneuzeitlichen Menschen kennzeichnend sind,⁶⁷ oder ob sie nur – oder vielmehr – auf historisch besondere Formen des narrativen Denkens und Wahrnehmens aufmerksam machen. Ebenso wie die Rede von den ‚Merkwürdigkeiten‘ setzt diese Frage einen Ansatz voraus, der dem Auge des Betrachters eine besondere Bedeutung zuspricht. Nur: Wie lässt sich dieses Rezipientenauge für eine historisch und kulturell von der Gegenwart entfernte Zeit wie das Mittelalter rekonstruieren? Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Zum einen kann man nach zeitgenössischen oder zeitnahen Rezeptionszeugnissen suchen. Am vielversprechendsten erschei-

Schneider. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 13), S. 243 – 259, hier S. 247; zitiert: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. von Hermann Paul. 16., neu bearb. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner. Tübingen 1996 (ATB 3).  Siehe zum Ganzen Meyer 2013, bes. S. 243 – 251; dazu auch Andreas Hammer/Norbert Kössinger: Die drei Erzählschlüsse des ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue. In: ZfdA 141 (2012), S. 141– 163.  In diesem Sinne etwa Harald Haferland: Verschiebung, Verdichtung, Vertretung. Kultur und Kognition im Mittelalter. In: IASL 33 (2008), S. 52– 101, und ders.: Kontiguität. Die Unterscheidung vormodernen und modernen Denkens. In: ABG 51 (2009), S. 61– 104.

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nen dafür Texte, die in mehreren, aber prinzipiell als gleichwertig anzusehenden Fassungen überliefert sind. Hier kann aus einem genauen Vergleich divergierender Erzählvarianten – wo greift die eine Fassung gegenüber der anderen ein, wo werden Ummotivierungen vorgenommen, Lücken gefüllt, Widersprüche geglättet? – auf unterschiedliche Auffassungen der Bearbeiter von der narrativen Kohärenz ein und derselben Texttradition geschlossen werden. Die Bearbeiter können in diesem Fall als Rezipienten einer vorgängigen Text- und Erzählüberlieferung betrachtet werden. Beispiele dafür sind die volkssprachige Alexandertradition, die sich – nicht nur im Deutschen – als variierende Bearbeitung ein und derselben lateinischen Vorlagen (Walter von Châtillon, ‚Historia de preliis‘) darstellt, die verschiedenen Fassungen des ‚Nibelungenlieds‘ oder auch ein Text wie der Karlsroman des Strickers, der auf seine Vorlage, das ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad, immer wieder glättend Bezug nimmt. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch Erzählerkommentare, in denen ein Erzähler erklärt, warum er so und nicht anders erzählt, oder in denen er kritisch auf logische Unstimmigkeiten in seiner Vorlage hinweist. In all diesen Fällen haben wir es mit realen Rezipienten zu tun. Erzähltexte haben aber nicht nur reale, sie haben auch virtuelle Rezipienten. Und während man Erstere einem Text nur wünschen kann, ist der virtuelle oder implizite Rezipient jedem Text von ihm selbst her gegeben. Mit dem Begriff des ‚impliziten Rezipienten‘ passe ich eine Größe den Rezeptionsbedingungen mittelalterlicher Literatur an, die die Welt der Text-, Literatur- und Erzähltheorie ebenfalls seit den Kindertagen der Rezeptionsästhetik bevölkert: den impliziten Leser. Ich führe ihn ein, weil er die zweite Möglichkeit begreiflich zu machen hilft, aus einer Perspektive, die die Rolle des Rezipienten miteinbezieht, sinnvolle Aussagen über historische Textlogiken zu treffen. Dabei sehe ich keine Notwendigkeit, die beiden Entwürfe, die sich in der Erzähltheorie in der Frage, wer oder was der ‚Leser‘ (oder auch ‚Rezipient‘) ist, mitunter scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, gegeneinander auszuspielen: auf der einen Seite das Konzept eines wirklichen Lesers, sei er nun ein spezifisches Individuum oder die kollektive Leserschaft eines bestimmten Zeitabschnitts; auf der anderen Seite das Konzept des Lesers als eines theoretischen Konstrukts, impliziert oder codiert im Text.⁶⁸

 Das Angebot reicht im Einzelnen vom actual reader (van Dijk, Jauß), dem super-reader (Riffaterre), dem informed reader (Fish), dem model reader (Eco), dem ‚impliziten Leser‘ (Booth, Iser, Chatman, Perry – er hat wohl die meisten Anhänger) bis hin zum encoded reader (Brooke-Rose), um nur die wichtigsten Vorschläge zu nennen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die diesen Konzepten zugrunde liegen, würde über die Zwecke dieser Untersuchung hinausgehen; siehe zum Ganzen Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction. Contemporary Poetics. 2. Aufl. London/New York 2002 (New Accents), S. 119 f., sowie,

Vom Umgang mit Fehlern, Leerstellen und Widersprüchen

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Meines Erachtens schließen sich diese beiden Leser- oder Rezipientenkonzepte nicht aus. Der reale Leser stellt eine konkrete Aktualisierung des impliziten dar. Wer aber ist der implizite Leser? Er ist jener Leser, der in der Struktur jedes Textes immer schon mitgedacht ist.⁶⁹ Er meint „den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens“.⁷⁰ Vorgezeichnet ist er durch die Art, in der die einzelnen Elemente eines Textes angeordnet sind, das heißt durch ihre Konfiguration und die dadurch bedingten Unbestimmtheitsstellen, auf die der Rezipient reagiert, wenn er die Erzählung als eine irgendwie konsistente Welt zu (re‐)konstruieren versucht. Der implizite Rezipient ist also der Agent jener virtuellen Dimension des Textes, die sich aus seinen Leer- und Irritationsstellen speist. Er ist ein theoretisches Konstrukt. Als solches steht er für jenen Prozess einer kohärenten Integration der Textinformationen, zu dem der Text selbst einlädt.⁷¹ Wenn dieser Vorgang im Text vorgezeichnet ist, dann bedeutet das zugleich, dass der Text ihn bis zu einem gewissen Grade determiniert. Denn mit narrativen Ordnungen hat es eine doppelte Bewandtnis: Sie schaffen Leerstellen – jene Klüfte zwischen den Textkorrelaten, die sich aus der Sicht einer literaturwissenschaftlichen Pragmatik in die ebenso schlichte wie verwickelte Frage fassen lassen, wie man eigentlich von einem Satz zum nächsten kommt. Aber die Art der Konfiguration der Elemente in Erzähltexten instruiert auch, wie die Leerstellen zu füllen, wie das Unbestimmte zu bestimmen ist. Die Wahrnehmungs- und Denkformen, vermittels derer sich im Akt der Rezeption sinnvolle Beziehungen zwischen den Textelementen herstellen lassen, werden durch die narrative Konfiguration mitbedingt. Das bewahrt die im Rezeptionsvorgang sich einstellende Bedeutung zugleich vor Beliebigkeit. Nicht jede Interpretation ist möglich.⁷²

systematisierend, Marcus Willand: Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven. Berlin/Boston 2014 (Narratologia 41).  Iser 1970, S. 33.  Im Unterschied zu einer Typologie möglicher Leser; vgl. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972 (Uni-Taschenbücher 163), S. 8 f.  Vgl. Menakhem Perry: Literary Dynamics. How the Order of a Text Creates its Meanings [With an Analysis of Faulkner’s ‚A Rose for Emily‘]. In: Poetics Today 1 (1979), S. 35 – 64, 311– 361, hier S. 43: „I am referring to a ‚maximal‘ concretization of the text that can be justified from the text itself, while also taking into account the norms (social, linguistic, literary, etc.) relevant for its period, and the possible intentions of the author. What I term as the reader is therefore a metonymic characterization of the text“ (Hervorheb. im Original).  Vgl. Andreas Kablitz: Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur. Freiburg i. Br. u. a. 2013 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 190), S. 200, mit dem Hinweis, dass der in hohem Maße implizite Charakter der Bedeutung von Literatur (im Unterschied zu nichtliterarischen Texten)

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Einleitung: Erzählerische Ordnung

Die auf diese Weise in den Text eingeschriebene Rezipientenrolle kann selbstverständlich historisch und kulturell unterschiedlich realisiert werden. Das hat sowohl mit überindividuellen Konsistenzerwartungen und entsprechenden, kollektiv verfestigten Weisen, auf Leerstellen zu reagieren, zu tun als auch mit der individuellen psychischen Befindlichkeit des jeweiligen Rezipienten, also mit seinen Einstellungen, Werten, Wünschen, Ängsten und so fort. Freilich lässt sich dieser Faktor, eben weil er so individuell ist, nur auf der Grundlage des Textes kaum in Rechnung stellen, schon gar nicht für die Hörer oder Leser einer so vergangenen Epoche wie derjenigen des Mittelalters. Insoweit die Beziehungsmöglichkeiten zwischen den Textelementen aber nicht in die Freiheit des Rezipienten gestellt, sondern vom Text aufgerufen und angeleitet sind, lassen sie sich auch von ihm her darstellen, und zwar anhand rekurrenter, immer wiederkehrender Konfigurationen. Wenn man die Logik durchsichtig machen kann, die jeweils hinter diesen Konfigurationen steht, wird sich schärfer abzeichnen, welche Beziehungen zeitgenössische Rezipienten zwischen den Elementen, Aspekten und Informationen eines Textes herstellen konnten und vermutlich hergestellt haben. Auch wenn andere ‚Les-‘ oder Verstehensarten dann immer noch möglich und ebenso wenig auszuschließen wie zu beweisen sind, sollte sich deutlicher als bisher erkennen lassen, welche von diesen als historisch angemessen betrachtet werden dürfen. Dazu sind die Normen und Bedingungen in Rechnung zu stellen, die für die Texte in ihrer Zeit galten: Bedingungen literarischer, poetologischer und, vor allem, medial-pragmatischer Art. Gerade Ansätze, die erzähllogische Befremdlichkeiten des mittelhochdeutschen Erzählens mit anthropologischen Alteritäten zu erklären versuchen, neigen dazu, seine poetologischen, textgenetischen, medialen und sonstigen kulturellen Kontexte zu vernachlässigen. Das Konzept des ‚impliziten Rezipienten‘, wie ich es verstehe, lässt sich denn auch nicht ohne Weiteres durch die Rede von „textual strategies“ ersetzen, wie etwa Lubomír Doležel es in seiner Kritik an der Vorstellung eines impliziten Lesers vorschlägt.⁷³ Es geht zwar von Textverhältnissen aus, aber nicht in Textstrategien auf, wenn es

dem Rezipienten „eine besondere Aufgabe“ übertrage; daraus folge aber nicht, ihm „die Bedeutungsproduktion des literarischen Textes schlechthin zu übertragen und sich damit eines Unterscheidungskriteriums zur Bewertung der Angemessenheit von Bedeutungen zu begeben.“ Die Validität der Deutung bemesse sich nach „ihrer Kohärenzleistung für den Text“ (ebd.; Hervorheb. im Original).  Warum nicht schlicht und einfach von „textual strategies“ sprechen, fragt Lubomír Doležel: Eco and His Model Reader. In: Poetics Today 1 (1980), S. 181– 188, hier S. 182, in seiner Stellungnahme zu Umberto Ecos Variante der Figur des ‚impliziten Lesers‘ – dem model reader – und hält Letzteren mehr oder weniger für überflüssig.

Zum Vorgehen

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Erstere systematisch auf die genannten Kontexte zu beziehen sucht. Überdies hilft das Konzept, diejenigen Stellen in den Blick zu bekommen, an denen unweigerlich der Rezipient ins Spiel kommt, weil es Unbestimmtheitsstellen sind und damit Stellen, an denen sich Fragen der Erzähllogik mit besonderem Nachdruck stellen. Wer den impliziten Rezipienten dann immer noch für einen erzähltheoretischen Taschenspielertrick hält, möge mir zugutehalten, dass das Konzept der Konsistenz des diesem Buch zugrunde liegenden Ansatzes dient: So wie logisch befremdliche Phänomene in mittelalterlichen Erzählungen auffällig, erstaunlich oder befremdend erst in den Augen des neuzeitlichen Betrachters sind und solchermaßen die Textkonstitutionsleistungen des Lesers ganz unmittelbar spürbar machen, sollte auch eine Untersuchung vorneuzeitlicher Erzähllogiken diese Augen des Rezipienten im Blick behalten, wenn sie denn historisch angemessen sein will.

1.5 Zum Vorgehen Wollte man das Anliegen dieser Untersuchung demgemäß auf den Punkt bringen, so ließe es sich, in zwei Fragen gefasst, so formulieren: 1. Wo, das heißt: an welchen Stellen haben mittelalterliche Rezipienten das eingangs dargestellte Bedürfnis nach Zusammenhang, nach narrativer Kohärenz und erzähllogischer Stimmigkeit, (vermutlich) geltend gemacht? 2. Wie haben mittelalterliche Rezipienten Erzähltexte dem Bedürfnis nach Zusammenhang (vermutlich) anverwandelt? Das heißt: Welche Maßstäbe und Bedingungen für die Herstellung von Kohärenz galten? Welche kognitiven Muster kamen dabei zum Einsatz? Diese Fragen stellen bedeutet nicht, immer und überall von einem Zwang zu Kohärenz – „pressures of coherence“ in den Worten Meir Sternbergs – auszugehen.⁷⁴ Es ist durchaus möglich, dass an manchen Stellen, an denen eine heutige Leserschaft Verknüpftheit vermisst, das damalige Publikum keineswegs irritiert war, und zwar nicht deshalb nicht, weil es andere Kohärenzmaßstäbe zugrunde gelegt hätte, sondern weil Verknüpftheit schlicht irrelevant war. Anders gesagt: Gerade wenn man annimmt, dass Kohärenz zwar ein wichtiges, aber nicht das einzige Merkmal von Erzählung ist, muss man damit rechnen, dass neben den Grad der logischen Verknüpftheit der Textelemente untereinander andere, wie-

 Sternberg 1985, S. 201.

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Einleitung: Erzählerische Ordnung

derum historisch wandelbare Faktoren treten – oder sie sogar überlagern – können, die für die Wahrnehmung eines Textes als mehr oder weniger geschlossene Erzählung mindestens ebenso bedeutsam sind.⁷⁵ Im einen wie im anderen Fall jedoch geht es um die bewusstseinsmäßige Prozessierung narrativer Propositionen, darum also, welche Operationen bei der mentalen Verarbeitung von Erzählinhalten zur Anwendung kommen. Das Interesse an historischen Erzähllogiken ist insofern eines an historischen Formen der Kognition, und es fragt sich nur, welche Texte sich für ein solches Untersuchungsinteresse eignen. Ausgewählt habe ich mittelhochdeutsche Erzähltexte, die eher weniger als mehr durchgeformt und die eher früher als später entstanden sind. Beide Auswahlkriterien bedürfen der Begründung. Ästhetisch weniger durchgestaltete Texte scheinen mir reizvoll, weil sie im Hinblick auf ihre narrative Kohärenz größere Herausforderungen stellen als die stärker durchgeformten. Es geht aber nicht nur um den Reiz der Herausforderung, vor die die Texte stellen. Mir scheint auch, dass ästhetisch anspruchslosere Texte eher die Regel als den Ausnahmefall darstellen, und daraus folgt für die Zwecke dieser Untersuchung: An ihnen lassen sich bestimmte Grundkonfigurationen der erzähllogischen Konstitution mittelalterlichen volkssprachigen Erzählens besser zeigen als an den sehr raffiniert gemachten Texten. Das bedeutet konkret: Ich habe, von gelegentlichen Seitenblicken abgesehen, diejenigen Texte, die gemeinhin als die Klassiker des mittelhochdeutschen Erzählens gelten, beiseitegelassen: Um das Erzählen eines Veldeke, Hartmann,Wolfram oder Gottfried geht es in diesem Buch nicht (oder nur am Rande). Dass sich über solche Urteile – die letztlich subjektiv-ästhetischer Natur, also Geschmacksurteile sind – streiten lässt, ist klar; Konsens aber wohl auch, dass es sich bei den genannten Autoren um Ausnahmeerscheinungen handelt, die bereits von den Zeitgenossen als solche betrachtet wurden.⁷⁶ Texte, um die es hingegen gehen wird, sind die diesen Autoren und ihrer Epoche vorausliegenden der Zeit des frühen höfischen Erzählens in der Volkssprache. Diese ist bekanntlich im Wesentlichen durch zwei Typen epischer Dichtung gekennzeichnet: zum einen durch die aus mündlich-illiterater Tradition hervorgehende, anonyme Abenteuer-, Brautwerbungs- und Heldenepik (z. B. ‚König

 Siehe dazu besonders den zweiten Abschnitt (‚Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses‘) in Kap. 4.  Als Beleg dafür mag man den berühmten Literaturexkurs, die sogenannte Dichterschau, in Gottfrieds ‚Tristan‘ ansehen: Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 1: Text. Hrsg. von Karl Marold. Unveränderter fünfter Abdruck nach dem dritten, mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen Apparat besorgt und mit einem erweiterten Nachwort vers. von Werner Schröder. Berlin/New York 2004, V. 4553 – 4972.

Zum Vorgehen

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Rother‘, ‚Herzog Ernst‘, ‚Graf Rudolf‘); zum anderen durch Buchepik: eine Epik, die stärker historisch oder legendarisch verankert ist und deren Verfasser in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts damit anfangen, sich als Kleriker mit ihrem Namen vorzustellen (Priester Alber, Priester Wernher, Pfaffe Konrad, Pfaffe Lambrecht etc.). In den Mittelpunkt rücken damit Vertreter dessen, was man lange als die frühhöfische, ‚spielmännische‘ Epik bezeichnet hat, sowie prominente Texte der frühmittelhochdeutschen Geschichtsepik, wie das deutsche ‚Rolandslied‘ oder auch der Alexanderroman, ebenso wie frühe Formen episch-chronikalischen Erzählens, wie es die ‚Kaiserchronik‘ repräsentiert. Dabei bin ich mir bewusst, dass einige dieser Texte – gerade diejenigen aus der ‚spielmännischen‘ Tradition, aber auch etwa der ‚Herzog Ernst‘ – im Hinblick auf ihre Datierung und Überlieferung nicht unerhebliche Probleme aufwerfen; diese sind, soweit es mir notwendig erschien, an Ort und Stelle berücksichtigt. Mit diesen Texten ist zugleich eine zeitliche Eingrenzung vorgenommen: Das Gros der Texte entstammt der Zeit zwischen etwa 1150 und 1190. Das ist nicht vorrangig eine Folge der Fokussierung auf die nichtklassische mittelhochdeutsche Erzählliteratur (ästhetisch weniger anspruchsvolle und durchgestaltete Texte gibt es schließlich auch in klassischer Zeit und später zur Genüge).⁷⁷ Es ist vielmehr Folge einer bewussten Entscheidung für frühere im Gegensatz zu späteren Texten. Im Zentrum des Interesses stehen Erzähltexte, die vor dem liegen, was Sonja Glauch „an der Schwelle zur Literatur“ genannt hat:⁷⁸ Erzählwerke also, von denen wir annehmen können, dass sie – bei grundsätzlich buchschriftlicher Konzeption – doch noch relativ am Anfang des Übergangs von mündlicher zu schriftlicher Literaturtradition und, vor allem, -rezeption stehen.⁷⁹ An ihnen lässt sich deutlicher als an den späteren Texten demonstrieren, was die These dieses Buchs ist: dass nämlich die narrative Logik des Erzählens, das am Anfang der buchepischen Großform(en) in deutscher Sprache steht, fundamental geprägt ist von den kognitiven Rahmenbedingungen, die für die vokalaurale Präsentation und Rezeption dieser Literatur galten. Damit ist nicht auf von Fall zu Fall vorausliegende orale Traditionen eines Werkes gezielt, es geht also nicht um mündliche Genese, ebenso wenig wie sich die Untersuchung auf eine ‚gespielte‘ (oder ‚fingierte‘) Mündlichkeit in den Texten richtet. Ich zeige vielmehr, wie die vermutete, grundsätzlich performative Präsentation der Texte, wie Vor-

 Beispiele aus nachklassischer Zeit wären etwa Texte wie ‚Die gute Frau‘ oder ‚Mai und Beaflor‘.  So der Titel der Studie von Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1).  Zum Literarisierungsprozess der volkssprachigen Dichtung vor 1200 siehe Glauch 2009, S. 14– 20.

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lesen und, gegebenenfalls, theatralisches Untermalen, wie das Hören und auch das Sehen in der Vortragssituation die kognitiven Rahmen schafft, ohne die die Logik dieses Erzählens nicht verstanden oder angemessen gewürdigt werden kann. Indem ich in der Analyse dieser Logik medial-pragmatische Vorgaben systematisch zu berücksichtigen versuche, verhält meine Herangehensweise sich – bei deutlichen Überschneidungen im Textcorpus – gewissermaßen umgekehrt zu einer solchen, wie sie Jan-Dirk Müller in seiner Beschreibung des von ihm so genannten „epischen Erzählens“ in der volkssprachigen deutschen Literatur des Mittelalters wählt.⁸⁰ Als ‚episch‘ bezeichnet er eine „Erzählform“ (wahlweise auch einen „Erzähltypus“ oder ein „Erzählregister“), die zunächst als „Subschicht“, in „Spuren“ die gesamte frühe volkssprachige Schriftlichkeit kennzeichne, bevor sie sich seit dem späten 12. Jahrhundert in der heroischen Buchepik gattungshaft verdichte.⁸¹ Die Merkmale dieser Erzählform betreffen insbesondere die Gestaltung von Erzählinstanz, Perspektive und Fokalisierung, Raum, Zeit und narrativer Progression. ‚Episch‘ im Sinne Müllers ist ein frühes volkssprachiges Erzählen, in welchem die Erzählinstanz als Stimme verbindlicher Tradition, eines kollektiven ‚Man weiß‘, fungiert, das grundsätzlich a-perspektivisch angelegt ist (eben weil es nur die, wenn auch gegebenenfalls auf mehrere Erzählerstimmen verteilte, eine Stimme und Wahrheitsinstanz der Tradition gibt), das die räumlichen Verhältnisse der erzählten Welt als einen selbstverständlich zuhandenen, von der Origo des jeweiligen Sprechers aus entworfenen, ‚raumlosen‘ Raum entwirft, Zeit nicht als Ablauf, sondern als Ko-Präsenz von Vergangenheit und Gegenwart denkt und narrative Verknüpfung weniger linear-progressiv denn über thematische Wiederholung und Intensivierung bewerkstelligt.⁸² So definiert, weist ‚episches Erzählen‘ also immer schon ein funktional-thematisches Substrat auf: Es ist Ausweis der Stimme der Tradition, „Sprachrohr einer ‚Kunde‘, die ‚man‘ sich erzählt“, dient der Sicherung von memoria, ist Ausdruck dessen, was einmal war und immer noch gilt oder ferner gelten sollte.⁸³ Fragen der Medialität und Pragmatik der Texte will Müller dabei bewusst ausblenden, unter anderem, um auf diese Weise die „poetische Leistung“ der Erzählverfahren früher volkssprachiger Schriftlichkeit deutlicher zum Vorschein kommen zu lassen.⁸⁴ Demgegenüber sollen im Folgenden die – zum Teil ganz ähnlich beobachteten – Phänomene von

 Jan-Dirk Müller: ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit. Berlin 2017 (Phil. Stud.u.Qu. 259).  Müller 2017, S. 9, 34, 62 u. ö.  Müller 2017, bes. S. 64 f., 200 – 203, 253 f., 295 f., 359 f.  Müller 2017, S. 64, 181, 295.  Siehe Müller 2017, S. 33 und 351.

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einem solchen funktional-thematischen Substrat zunächst einmal freigehalten werden. Dafür spricht meines Erachtens vor allem, dass einige von ihnen, etwa was den Umgang mit temporalen Markern, die Raumbehandlung, die Überschneidung von Erzähler- und Figurenwissen betrifft, sich nicht selten auch in Texten finden, die sich nicht dem Corpus ‚epischen Erzählens‘ (im Sinne Müllers) einverleiben und auch nicht ohne Weiteres als buchschriftliche Stilzitate eines solchen Erzählens deuten lassen. Wohl aber scheint es mir einen Zusammenhang zwischen der medial-pragmatischen Bedingtheit der Phänomene und ihrer poetischen Leistung – ihrem funktional-thematischen Substrat – zu geben, dergestalt, dass sie sich wechselseitig bedingen und zumindest teilweise aufeinander angewiesen sind. Die medial-pragmatischen Vorgaben des frühen volkssprachigen Erzählens im Mittelalter, also seine Performativität und Aufführungshaftigkeit, ebenso wie die spätestens seit dem 12. Jahrhundert auftretende Spaltung zwischen dominant schriftlicher Produktion und dominant mündlicher Rezeption der Texte sind lange bekannt. In der Regel werden sie als etwas selbstverständlich Gegebenes und Gewusstes behandelt. Doch scheinen sie mir systematisch für die Analyse der narrativen Logik der volkssprachigen Epik vor und um 1200 – über die Diskussion um die Hereinnahme fingierter mündlicher Performanz in die Buchliterarität hinaus – kaum je berücksichtigt worden zu sein.⁸⁵ Dabei prägen, wie zu zeigen sein wird, die Rahmenbedingungen, die durch die mündliche Kommunikationssituation für die mentale Prozessierung narrativer Inhalte gegeben sind, die Art der Präsentation dieser Inhalte, und das heißt: die Verfasstheit der Texte ganz entscheidend und bis in ihre Grundstrukturen hinein. Die vokal-aurale Kognitionslandschaft der frühen weltlichen Erzähldichtung in deutscher Sprache, einer Literatur ‚vor der Literatur‘, kann daher dazu beitragen, grundlegende Differenzen zwischen mittelalterlichen und neuzeitlichen Erzähllogiken zu erklären. Das bedeutet freilich zugleich, dass der Kognitionsbegriff, wie er hier verwendet wird, weniger auf etwaige Unterschiede und Veränderungen in der anthropologischen

 Siehe zu dieser Diskussion und der damit zusammenhängenden Debatte um die Fiktionalität des mittelalterlichen Romans etwa Rainer Warning: Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich/ Wolfgang Iser. München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 183 – 206; Klaus Ridder: Fiktionalität und Medialität. Der höfische Roman zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Poetica 34 (2002), S. 29 – 40. Systematisch für die Analyse der Erzählinstanzen in der Epik am Ende des 12. und in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts nutzt, in Abgrenzung zur Autor/ErzählerUnterscheidung der modernen Narratologie, die oral-auditive Konstellation volkssprachigen Erzählens Seraina Plotke: Die Stimme des Erzählens. Mittelalterliche Buchkultur und moderne Narratologie. Göttingen 2017.

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Disposition des mittelalterlichen gegenüber dem neuzeitlichen Menschen gemünzt ist (auch wenn solche Differenzen in der Forschung immer wieder erwogen wurden), sondern dass von Kognition im Sinne ‚narrativer Kognition‘ die Rede ist – oder anders gesagt: dass von den Bedingungen die Rede ist, die für die bewusstseinsmäßige Verarbeitung von Erzähltem galten, Erzähltem, das vorgelesen und vorgeführt, vielleicht durch das Herumzeigen von Bildern untermalt, das gehört und geschaut wurde. Das folgende Kapitel wird den Zusammenhang zwischen Narration und Kognition, um den es in diesem Buch geht, systematisch aufrollen. Es geht zurück in die Geschichte der Auffassung von Erzählung als einer Struktur, die jeder Rede von narrativer Kohärenz vorausliegt, und stellt – ausgehend von der jüngeren Forschung im Bereich der sogenannten cognitive narrative studies – dar, wie sich die mentale Verarbeitung narrativer Informationen beschreiben lässt, wenn man, wie hier, einen rezipientenorientierten Standpunkt zugrunde legt. Inwieweit, und unter welchen Voraussetzungen, lassen sich narrative Konfigurationen als Ausdruck kognitiver Strukturen lesen? Gerade wenn man dazu tendiert, das, was an der Logik mittelalterlicher volkssprachiger Erzählwerke ‚anders‘ ist, nicht als Ausdruck einer anthropologischen Alterität zu behandeln, sondern auf eine andersgerichtete narrative Kognition zurückzuführen, muss man untersuchen, wie denn das Mittelalter selbst über Fragen der Erzähllogik und der narrativen Kohärenz nachgedacht hat. Dem gilt das dritte Kapitel, indem es anhand der mittelalterlichen Poetologie und Literaturtheorie nach historischen Auffassungen von der konsistenten Gestaltung eines Plots und, mit Blick auf das antik-mittelalterliche verisimile-Konzept, der Plausibilität einer epischen Darstellung fragt. Das vierte und das fünfte Kapitel nehmen dann die Kohärenz vor- und frühhöfischer Erzähltexte aus zwei unterschiedlichen Perspektiven bzw. mit je unterschiedlicher Brennweite in den Blick. Ausgehend von der aus der Textlinguistik stammenden Unterscheidung zwischen grammatisch-syntaktischer Kohärenz (bzw. Kohäsion) und inhaltlich-thematischer Kohärenz gilt Kapitel 4 der mikrostrukturellen Ebene der Texte: Wie gelangen die Erzählungen von einer narrativen Einheit zur nächsten? Wie werden Erzählübergänge bewerkstelligt, und wie lassen sich die vielfach zu beobachtenden Unvermitteltheiten, die Sprünge und harten Fügungen in der narrativen Progression, die wir häufig als Inkohärenzen wahrnehmen, verstehen? Kapitel 5 stellt die Kohärenzfrage makrostrukturell. Hier geht es darum, wie Kohärenz inhaltlich-thematisch hergestellt wird, oder genauer: welche Kohärenzstandards und entsprechenden kognitiven Rahmen in dieser Hinsicht für die Texte anzusetzen sind. Das Kapitel stellt die Kategorien ‚Schema‘, ‚Szene‘ und ‚(figurative) Bedeutung‘ als Gravitationszentren für die Organisation von Ko-

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härenz in mittelalterlichem Erzählen vor und beschreibt, wie narrativer Zusammenhalt von kleinen Einheiten aus entfaltet wird: der Funktionalität eines Erzählelements oder seiner bezeichenunge in einem bestimmten Handlungszusammenhang oder auch der Orientierung an prototypischen Mustern. Dass die Ausrichtung an partikularen Strukturen immer wieder Spannungen im Verhältnis zum übergeordneten Erzählzusammenhang hervorruft, führt im letzten Abschnitt des Kapitels zur Frage nach der Logik der Motivierung in den Texten. Im sechsten Kapitel kehren einige Formen sprunghaft-abrupten Erzählens aus Kapitel 4 wieder, doch nun im Hinblick auf die Reziprozität von Raumdarstellung und Raumwahrnehmung. Auch in der Gestaltung räumlicher Gegebenheiten und Strukturen kann mittelalterliches Erzählen, wie man oft festgestellt hat, von heutigen Erzählgewohnheiten stark abweichen. Das betrifft insbesondere die mangelnde Wirklichkeitsförmigkeit in der Darstellung räumlicher Verhältnisse, die mangelnde Binnenkonsistenz räumlicher Arrangements und die, oftmals fehlende, Darstellung von Bewegung. Das Kapitel untersucht, wie die Raumgestaltung im vor- oder frühhöfischen epischen Erzählen durchsichtig ist auf wahrnehmungsräumliche Voraussetzungen, die sich am ehesten vor dem Hintergrund des performativen Akts und der darin gegebenen Situation medialer Unmittelbarkeit erklären. Dabei haben wir es immer wieder mit Grenzüberschreitungen zu tun: mit einer wechselseitigen Durchlässigkeit verschiedener Aspekte, Ebenen und Kategorien von Erzählung, die nicht in der Weise voneinander geschieden zu sein scheinen, wie es die moderne Erzähltheorie vorsieht und heutige Leser es in der Regel erwarten. Dieser potentiellen Transgressivität mittelalterlichen Erzählens – auch sie häufig eine Ursache für den Eindruck narrativer Inkohärenz – geht das letzte Kapitel nach. Im Vordergrund stehen die Kategorie der Figur und die Bedingungen der Informationsvergabe im Verhältnis von Kommunikationsinstanz, Figur und Rezipient. Die in diesem Kapitel behandelten Phänomene werden dabei einerseits auf die medial-pragmatischen Rahmenbedingungen der Texte bezogen, andererseits auf eine historisch spezifische Logik der Finalität, die das Ergebnishafte und das Prozessuale in den Texten spannungsvoll miteinander verknüpft. Wenn mediale und pragmatische Aspekte in den folgenden Kapiteln immer wieder hervorgehoben werden, dann nicht in der Absicht, all das, was uns an mittelalterlichem Erzählen schwierig, in erzähllogischer Hinsicht problematisch, unplausibel oder inkohärent erscheint, vor diesem Hintergrund zu erklären. Weder erklärt die Vortragsperformanz alles, noch ist sie einseitig konstitutiv für die textuelle Verfasstheit des Erzählens, um das es hier geht. Spuren des Vokal-auralVisuellen stehen immer neben solchen ausgeprägter Schriftlichkeit und Literarisierung und mischen sich mit ihnen. Doch handelt dieses Buch vorrangig von

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jenen Spuren einer uns fernen Erzähllogik, die uns gerade darum irritieren und die wir darum wieder lesen lernen müssen, weil uns die ihnen zugrunde liegende Prämisse so wenig vertraut mehr ist: Texte nämlich, wie es der anonyme Verfasser der ‚Rabenschlacht‘ in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ausdrückt, zu ‚sehen‘, indem wir sie ‚hören‘.⁸⁶

 So die imperativische Bitte um Aufmerksamkeit zu Beginn von Str. 103, zitiert nach: Rabenschlacht. Textgeschichtliche Ausgabe. Hrsg. von Elisabeth Lienert/Dorit Wolter. Tübingen 2005 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 2): Welt ir nu gerne schowen, / so hoeret vil bereit (Str. 103,1 f.).

2 Narration und Kognition Rezipienten setzen, bewusst oder unbewusst, die narrativen Informationen, die in einem Text vermittelt werden, in Beziehung zueinander, um das Erzählte als einen kohärenten, sinnbildenden Zusammenhang wahrnehmen zu können. Wie diese Beziehungen beschaffen sind und nach welchen Regeln oder Prämissen sie hergestellt werden, das ist, wie in der Einleitung angedeutet, nicht unabhängig von vorgängigen kognitiven Dispositionen: Handlungsschemata, Deutungsmustern und Wissensbeständen, Erwartungen und Wünschen – kollektiven wie individuellen –, die durch die Erzählung selbst ebenso wie durch die Situation, in der sie rezipiert wird, aufgerufen werden. ‚Vorgängig‘ bedeutet dabei nicht unbedingt ‚außerliterarisch‘, aber dem konkreten Text vorausliegend, das heißt: schon vor seinem Vortrag oder seiner Lektüre vorhanden und an ihn herangetragen. Es handelt sich um ein zum Teil vorreflexives Wissen um Prinzipien und regelhafte Formen, die gewissermaßen Anweisungen darüber enthalten, wie Textelemente aufeinander zu beziehen, Lücken zu füllen, mit Leerstellen in Erzähltexten umzugehen ist. Wenn solche grundlegenden kognitiven Dispositionen bei der Produktion und Rezeption eines Erzähltextes, genauer: bei der Verknüpfung seiner einzelnen Elemente wirksam werden, dann stellen sich die Bereiche ‚Erzählung‘ und ‚Kognition‘ als eng miteinander verbunden dar. Die Erzählforschung hat dieser Verbindung seit dem sogenannten cognitive turn mehr und mehr Aufmerksamkeit geschenkt.¹ Aber im Grunde reichen ihre Prämissen viel weiter zurück, als es die Rede von der ‚kognitiven Wende‘ der Narratologie vermuten lässt. In diesem Kapitel soll der Zusammenhang zwischen Narration und Kognition, der für die Frage nicht nur nach historischen Erzähllogiken grundlegend ist, näher beschreiben werden. Dazu muss als Erstes die Voraussetzung jeder Rede von einer kohärenten, logischen, sinnvollen Verknüpfung der Elemente eines narrativen Textes erläutert werden, nämlich die Auffassung von Erzählung als einer Struktur.

 Vgl. Manfred Jahn: Frames, Preferences, and the Reading of Third-Person Narratives. Towards a Cognitive Narratology. In: Poetics Today 18 (1997), S. 441– 468; Monika Fludernik: Histories of Narrative Theory (II): From Structuralism to the Present. In: A Companion to Narrative Theory. Hrsg. von James Phelan/Peter J. Rabinowitz. Malden, MA/Oxford 2005 (Blackwell Companions to Literature and Culture 33), S. 36 – 59, hier S. 48; Bruno Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie: Kognitive und ‚Natürliche‘ Narratologie. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning/Vera Nünning. Trier 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), S. 219 – 242. https://doi.org/10.1515/9783110593105-003

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2.1 Erzählung als Struktur: Platon und Aristoteles Erzähltexte als Struktur zu verstehen, bedeutet, sie als Gefüge zu betrachten, die aus wechselseitig voneinander abhängigen oder aufeinander bezogenen Teilen bestehen. Denn nichts anderes meint der Begriff ‚Struktur‘ in seiner vulgärsprachlichen Bedeutung: Gefüge, Bau, Aufbau, Anordnung der Teile eines Ganzen zueinander. ‚Struktur‘ ist sinnvoll nur als Teil eines Begriffssystems zu verwenden, das zugleich die Begriffe ‚Element‘ und die Beziehung zwischen diesen Elementen, ihre ‚Relation‘, mitdenkt.² Die Auffassung von Erzähltexten als Struktur ist uns selbstverständlich geworden. Wir sprechen von Erzähltexten nicht nur als Gefügen, sondern ebenso geläufig als Kompositionen, als Fakturen, als Arrangements, als Bauten und dementsprechend auch von „Bauformen des Erzählens“³ – alles Begriffe und Metaphern, die die Vorstellung transportieren, Texte seien aus einzelnen Teilen nach bestimmten Regeln oder Formen zu einem Ganzen zusammengesetzt. Die strukturale Auffassung von Erzählung – und ‚struktural‘ darf dabei keinesfalls mit ‚strukturalistisch‘ verwechselt werden – hat in der abendländischen Poetik eine lange Tradition. Sie reicht weit vor den Strukturalismus des 20. Jahrhunderts zurück, in welchem sie sich sozusagen terminologisch verfestigt hat. In den Jahrhunderten zwischen den Anfängen der Poetik in der Antike und dem modernen Strukturalismus wurde der strukturale Aspekt literarischer Texte, und zwar als Ganze ebenso wie in ihren Teilen, allerdings sehr unterschiedlich konzipiert. Wenn ich die Tradition im Folgenden in ihren wesentlichen Stationen nachvollziehe, dann nicht nur, um die epistemologischen Voraussetzungen der Frage nach Erzähllogiken zu klären, sondern auch, um zu verdeutlichen, was die ‚Teile‘ oder ‚Elemente‘ eines Erzähltextes sind (bzw. wie sie verstanden werden können), zwischen denen Hörer oder Leser im Rezeptionsakt Beziehungen herstellen. Am Anfang der Tradition steht Platon. Im ‚Phaidros‘ lässt er Sokrates über die Kunst der Rede sagen, dass jede Rede wie ein lebendes Wesen sein müsse, mit einem eigenen Körper, einem Kopf und Füßen. Sie müsse Anfang, Mitte und Ende haben, die zueinander und zum Ganzen in einem passenden Verhältnis stünden: Aber das jedenfalls, glaub’ ich, würdest du sagen, daß jeder Text komponiert sein muß wie ein Lebewesen, mit einer Art eigenem Körper, so daß weder Kopf noch Füße fehlen, er

 Vgl. Michael Titzmann: Struktur. In: RLW 3 (2003), S. 532– 535, hier S. 532.  So der Titel der bekannten Studie von Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. 8. Aufl. Stuttgart 1989 (Metzler Studienausgabe).

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vielmehr eine Mitte hat und Extremitäten, die so verfaßt sind, daß sie zueinander und zum Ganzen passen. (264c)⁴

Charakteristisch ist die organologische Auffassung des rhetorischen Diskurses. Im Vergleich mit einem Lebewesen wird er als ein körperhaftes Ganzes begriffen, dessen Teile oder ‚Glieder‘ in doppelter Weise funktional aufeinander bezogen sein müssen: sowohl im Verhältnis zueinander als auch im Verhältnis zum übergeordneten Ganzen der Rede. Platons organologische Metapher ist ein früher Beleg für die Vorstellung von Literatur als Struktur. Man kann mit Recht sagen, dass diese Vorstellung für die abendländische Poetik grundlegend geworden ist.⁵ Dafür allerdings ist weniger Platon als dessen Schüler Aristoteles verantwortlich, der die Gedanken seines Lehrers aufgriff und in seiner ‚Poetik‘ systematisierte und weiterentwickelte. Am deutlichsten wird das strukturale Literaturverständnis der aristotelischen Poetik in dessen Modell der Tragödie, genauer in der Analyse, welcher der griechische Philosoph in diesem Zusammenhang die tragische Handlung unterzieht. Aristoteles entwirft dieses Modell im sechsten Kapitel der ‚Poetik‘. Sechs Bestandteile, sagt er hier, müsse die Tragödie haben:⁶ „Jede Tragödie [enthält] notwendigerweise sechs Teile, die sie so oder so beschaffen sein lassen. Diese Teile sind: Mythos, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik“ (Kap. 6, Abs. 3).⁷ Daran anschließend wendet er sich einer differenzierenden Erörterung jeder dieser sechs Komponenten zu.⁸ Den wichtigsten Be-

 Zitiert nach Platon: Phaidros. Übersetzung und Kommentar von Ernst Heitsch. Göttingen 1993, S. 50 f.  So die These von Doležel 1990; siehe dort bes. S. 6.  Ein eigenes Beschreibungsinstrumentarium für die Epik entwickelte der griechische Philosoph bekanntlich nicht. Die Komponenten epischen Darstellens sind für Aristoteles in der Diskussion der Tragödie mitbeschrieben, da er das Epische als ein Derivat des Tragischen ansieht: „Daher vermag, wer eine gute von einer schlechten Tragödie unterscheiden kann, dasselbe auch bei den Epen“ (Kap. 5, Abs. 3); vgl. auch Kap. 23, Abs. 1: „Was die erzählende und nur in Versen nachahmende Dichtung angeht, so ist folgendes klar: man muß die Fabeln wie in den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen bewirken kann.“  Diese sechs Komponenten sind sorgfältig zu unterscheiden von den formalen Teilen der Tragödie, die Aristoteles im zwölften Kapitel der ‚Poetik‘ erläutert: Prolog, Episode, Exodos und Chorpartie.  Eine förmliche Diskussion von Inszenierung (opsis) und Melodik (melopoiia) fehlt allerdings in der ‚Poetik‘. Ob der uns erhaltene Text in dieser Hinsicht unvollständig ist oder ob dieser Umstand sich anders erklären lässt, ist umstritten; siehe dazu Stephen Halliwell: Aristotle’s Poetics. Chapel Hill, NC 1986, S. 33.

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standteil der Tragödie erkennt er in der Handlung (mythos); sie ist „das Fundament und gewissermaßen die Seele“ (Kap. 6, Abs. 9), „der erste und wichtigste Teil der Tragödie“ (Kap. 7, Abs. 1). Der Erörterung der Handlung und ihrer Struktur⁹ gelten dann die Kapitel 7 und 8 der ‚Poetik‘. Darin legt Aristoteles seine Vorstellung von der Zusammengesetztheit der tragischen Handlung aus verschiedenen Teilen und deren Verknüpfung dar, und er tut dies, indem er beides – die Teile und ihre Verknüpfung – auf das für die aristotelische Poetik zentrale Konzept der Einheit des dichterischen Werks bezieht. Die eigentliche strukturale Auffassung der Dichtung bei Aristoteles zeigt sich meines Erachtens in diesem Konzept (und nicht in seinem generellen analytisch-‚zergliedernden‘ Verfahren).¹⁰ Der Rahmen, in dem Aristoteles das Konzept ausarbeitet, ist die Darstellung (mimêsis) menschlicher Handlungen, die die ‚Poetik‘ als ein Kennzeichen aller Dichtung annimmt. Das Konzept der Einheit hat mehrere Aspekte: Ganzheit, innere Geschlossenheit, angemessener Umfang.¹¹ In allen diesen Aspekten ist die Vorstellung poetischer Einheit, die Aristoteles auf die Mimesis menschlicher Handlungen anwendet, auf die grundlegende Idee der ‚Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit‘ bezogen, das heißt auf eine bestimmte Art der Kausalverbindung zwischen den Bestandteilen einer dargestellten Handlung.¹² Für die ‚Ganzheit‘ der

 Aristoteles verwendet in diesem Zusammenhang auch den Ausdruck sustasis tôn pragmatôn, die „Struktur der Handlung“; vgl. Halliwell 1986, S. 97.  Ich würde in diesem Punkt Doležel 1990, S. 17– 25, widersprechen, der lediglich die stratifikatorische oder hierarchische Modellierung der poetologischen Kategorien als solche zum Ausgangspunkt seines Arguments macht – also Aristoteles’ Unterscheidung der sechs Bestandteile der Tragödie: mythos (‚Handlung‘), êthê (‚Charaktere‘), lexis (‚Rede, Sprache‘), diánoia (‚Gedanke, Absicht‘), opsis (‚Schau, Szenerie‘) und melopoiia (‚Gesang, Musik‘). Diese sind meines Erachtens vor allem als analytische Kategorien zu verstehen, die auf die technê der Dichtung oder Dichtung als technê gerichtet sind, d. h. als vernunftgemäß schöpferische Tätigkeit, deren Verfahren definiert und begründet werden können. Der Begriff der technê ist mit ‚Handwerk‘, ‚Kunst‘, ‚Technik‘ nur grob und unzureichend wiedergegeben; zu diesem Konzept bei Aristoteles Halliwell 1986, S. 42– 62 und 84 („a rational productive activity whose methods can be both defined and justified“).  Siehe vor allem Kap. 7 und 8 der ‚Poetik‘.  In der ‚Poetik‘ gründet Aristoteles die Kategorien der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit auf seine Analyse der Handlungsstruktur der Tragödie. Aber es ist wichtig zu betonen, dass sie alle Aspekte der Handlungsdarstellung betreffen, so u. a. auch den dreifachen Effekt der Handlung aus peripeteia, anagnorisis und pathos: „Peripetie und Wiedererkennung müssen sich aus der Zusammensetzung der Fabel selbst ergeben, d. h. sie müssen mit Notwendigkeit oder nach der Wahrscheinlichkeit aus den früheren Ereignissen hervorgehen. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob ein Ereignis infolge eines anderen eintritt oder nur nach einem anderen“ (Kap. 10, Abs. 2).

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dargestellten Handlung betrifft das insbesondere das Verhältnis der Teile ‚Anfang‘, ‚Mitte‘ und ‚Ende‘; die Formel wurde in der Einleitung schon zitiert. Im siebten Kapitel der ‚Poetik‘ führt Aristoteles nicht nur das Anfang-MitteEnde-Schema in seine Dichtungstheorie ein, sondern sagt daran anschließend: Ferner ist das Schöne bei einem Lebewesen und bei jedem Gegenstand, der aus etwas zusammengesetzt ist, nicht nur dadurch bedingt, daß die Teile in bestimmter Weise angeordnet sind; es muß vielmehr auch eine bestimmte Größe haben. Das Schöne beruht nämlich auf der Größe und der Anordnung. (Kap. 7, Abs. 3)

Diese Aussage hat man immer wieder so verstanden, die aristotelischen Prinzipien der Ordnung und Schönheit seien biologisch inspiriert und dem Verständnis lebender Organismen mit ihren einzelnen Gliedern abgeschaut.¹³ Dabei sind weder das Anfang-Mitte-Ende-Schema noch die Gleichsetzung der Dichtung in ihrer strukturalen Beschaffenheit mit einer lebenden Form typisch aristotelisch. Beides findet sich bereits in Platons Bemerkungen über Einheit im ‚Phaidros‘.Was aber als spezifisch aristotelisch betrachtet werden kann, ist die Begründung poetischer Kohärenz im Hinblick auf Vollständigkeit, Ganzheit und angemessene Größe aus dem Prinzip wahrscheinlicher und/oder notwendiger Verbindungen zwischen den Teilen der dargestellten Handlung, die Aristoteles im siebten und achten Kapitel der ‚Poetik‘ entwickelt. Es sei an dieser Stelle nur angedeutet, dass Aristoteles’ Vorstellung von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit zwei Aspekte hat: einen objektiven, der darauf abstellt, was kausallogisch tatsächlich der Fall sein kann, und einen subjektiven, in dem Wahrscheinlichkeit davon abhängt, was Menschen anzunehmen und zu glauben bereit sind.¹⁴ Aus diesem Grund ist die Wahrnehmung poetischer Einheit bei Aristoteles nicht allein aus der inneren Beziehung zwischen den Bestandteilen der dargestellten Handlung gegeben, sondern beruht unweigerlich auf ihrer kognitiven Erfahrung seitens des Rezipienten. Aristoteles ist sich also des engen Zusammenhangs zwischen poetischer Darstellung und Kognition im Hinblick auf die Wahrnehmung von Kohärenz durchaus bewusst (auch wenn er grundsätzlich davon ausgeht, dass das, was objektiv notwendig und/oder wahrscheinlich ist, auch subjektiv so wahrgenommen wird).¹⁵

 Halliwell 1986, S. 97 f., zufolge ein Missverständnis: Ordnung und Schönheit seien bei Aristoteles universale Standards, die für alles gälten, was aus Teilen bestehend gedacht werde; der Fall der lebenden Wesen sei dafür nur ein Beispiel.  Ausführlicher dazu das folgende Kapitel, bes. Abschnitt 3.3.  Vgl. Halliwell 1986, S. 98 und 105; siehe auch Kap. 7, Abs. 3 und 4 der ‚Poetik‘ in der Übersetzung von Halliwell: „So just as with our bodies and with animals beauty requires magnitude,

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Die Analogie zwischen poetischen Strukturen und den Strukturen natürlicher Lebewesen, die sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles zum Vorschein kommt, steht am Beginn einer lang anhaltenden Verschwisterung der Poetik mit dem organologischen Modell. Sie begründete ein Natürlichkeitsdenken in Bezug auf die Komposition literarischer Texte, das sich in der poetologischen Diskussion nicht nur der Antike, sondern auch des Mittelalters im Notwendigkeits- bzw. Wahrscheinlichkeitspostulat niedergeschlagen hat. Damit ist noch nicht ausgemacht, wie ‚Wahrscheinlichkeit‘ und ‚Notwendigkeit‘ je und je bestimmt wurden (was verschiedene Zeiten also als ‚möglich‘ oder ‚wahrscheinlich‘ betrachtet haben). Jedoch kann man festhalten, dass mit diesem Prinzip eine Form der Verknüpfung privilegiert wird, die auf kausale Beziehungen zwischen den Teilen einer Dichtung abhebt. Unter ‚Teilen‘ versteht Aristoteles dabei primär Dinge, die auf der Ebene des Dargestellten liegen: die einzelnen Handlungen und Geschehnisse, die durch ihre Aufeinanderfolge hervorgebrachten Peripetien und Wiedererkennungen (Kap. 10 – 11) sowie die Charaktere (Kap. 15); auf sie bezieht sich das aristotelische Konzept der Einheit mit der grundlegenden Idee von ‚Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit‘. Selbst das Kriterium der angemessenen Größe, die zur richtigen Anordnung hinzukommen muss, damit das Dargestellte schön sei – ein Kriterium, das wir der Darstellungsebene zuweisen würden (dem ‚Wie‘ des Erzählten) –, wird in Kapitel 7 der ‚Poetik‘ rein handlungsbezogen formuliert.¹⁶

2.2 Morphologie: Goethe, Humboldt und die frühe deutsche Kompositionstheorie Das organologische Modell, das durch Aristoteles seine wirkmächtigste Ausarbeitung erhalten hatte, wurde, wie Lubomír Doležel gezeigt hat, im Grunde erst

but magnitude that allows coherent perception, likewise plots require length, but length that can be coherently remembered. […] To state the definition plainly: the size which permits a transformation to occur, in a probable or necessary sequence of events, from adversity to prosperity or prosperity to adversity, is a sufficient limit of magnitude“ (Aristoteles: Poetics. Hrsg. und übers. von Stephen Halliwell. Cambridge, MA/London 1995 [Loeb Classical Library 199], S. 55/57; Hervorheb. von mir).  Siehe Kap. 7, Abs. 4 der ‚Poetik‘: „Für die Begrenzung, die der Natur der Sache folgt, gilt, daß eine Handlung, was ihre Größe betrifft, desto schöner ist, je größer sie ist, vorausgesetzt, daß sie faßlich bleibt. Um eine allgemeine Regel aufzustellen: die Größe, die erforderlich ist, mit Hilfe der nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit aufeinander folgenden Ereignisse einen Umschlag vom Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück herbeizuführen, diese Größe hat die richtige Begrenzung.“

Morphologie: Goethe, Humboldt und die frühe deutsche Kompositionstheorie

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durch das semiotische Modell abgelöst.¹⁷ Das semiotische Modell hat die strukturale Poetik des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt. Als eine Brücke zwischen der aristotelischen Vergangenheit der strukturalen Dichtungsauffassung und ihren Erscheinungsformen im 20. Jahrhundert kann dabei die morphologische Poetik angesehen werden. Sie verdankte wichtige Anregungen Goethes Arbeiten zur Morphologie. Aber Goethe selbst hat, auch wenn das gelegentlich behauptet wurde,¹⁸ nie eigentlich eine Übertragung seiner naturwissenschaftlich ausgerichteten Morphologie auf die Dichtkunst unternommen, jedenfalls keine systematische. Eine solche findet sich erst bei Wilhelm von Humboldt, der seine Dichtungstheorie in zwei Aufsätzen über Goethes Epos ‚Hermann und Dorothea‘ entwarf. Beide erschienen 1799 unter dem Titel ‚Ästhetische Versuche‘. Den zweiten Essay, der die Hauptgedanken des ersten in kürzerer Form wiederholt, verfasste Humboldt auf Französisch für Germaine de Staël. In beiden Schriften will Humboldt die dichterische Einbildungskraft und das Wesen der Dichtkunst ergründen. Dazu geht er von drei zentralen Eigenschaften aus, über die eine vollendete Dichtung verfüge: Idealität, Totalität und Objektivität. Für Humboldts strukturales Dichtungsverständnis ist vor allem der Begriff der Totalität interessant. ‚Totalität‘ meint, dass das dichterische Werk eine Welt als einen „geschlossene[n] Kreis“ zur Darstellung bringt, und Humboldt will das Wort ‚Welt‘ in diesem Zusammenhang ausdrücklich nicht als Metapher verstanden wissen.¹⁹ Totalität könne die Dichtung in zweierlei Hinsicht erreichen: zum einen im Hinblick auf die dargestellten Gegenstände („den Kreis der Objecte“), zum anderen im Hinblick auf ihre ästhetische Wirkung („den Kreis der Empfindungen“, die die Objekte hervorbringen).²⁰ Dieser Vorstellung von der Geschlossenheit und Ganzheitlichkeit des Kunstwerks entspricht, dass das Kunstwerk als „ein lebendiges Ganzes“ entworfen wird; „es hat eine eigne innere Kraft, ein Lebensprincip, durch welches es eine bestimmte Wirkung äussert.“²¹ Indem Humboldt die organologische Metapher vom „lebendige[n] Ganzen“ gebraucht, schließt er an die Grundannahme der Goethe’schen Morphologie an, wonach eine organische Struktur ein sich selbst genügendes und abgeschlossenes Gebilde sei, das aus der Wechselwirkung zwischen allen seinen Teilen besteht. Auch Goethe verwendet in diesem Zusam-

 Doležel 1990.  So etwa von Horst Oppel: Morphologische Literaturwissenschaft. Goethes Ansicht und Methode. Mainz 1947.  Siehe Humboldt 1961, S. 145; zum Ganzen bes. S. 138 – 161.  Humboldt 1961, S. 145 f.  Humboldt 1961, S. 247.

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menhang den Welt-Begriff und bezieht ihn auf das Lebewesen als einer „kleine[n] Welt“: Wir denken uns also das abgeschlossene Tier als eine kleine Welt, die um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist. So ist auch jedes Geschöpf Zweck seiner selbst, und weil alle seine Teile in der unmittelbarsten Wechselwirkung stehen, ein Verhältnis gegen einander haben und dadurch den Kreis des Lebens immer erneuern, so ist auch jedes Tier als physiologisch vollkommen anzusehen.²²

Das Verhältnis zwischen den einzelnen Teilen einer dichterischen Produktion ist nun aber keines der schlichten Folgerichtigkeit – die für Humboldt bloße Logik wäre –, sondern die Teile müssen sich als in verschiedener Hinsicht auf das Ganze der dargestellten Welt bezogen erweisen; nur dann kann von „innere[r] Einheit“ als einer „wesentliche[n] Bedingung jeder künstlerischen Produktion“ die Rede sein. Exemplarisch deutlich wird das in den französischen ‚Essais aesthétiques‘ für Madame de Staël: [L]es différentes parties ne doivent point s’annoncer comme des élemens isolés qui constituent un entier, mais comme autant de côtés différens par lesquels l’ensemble même se présente. Partout où cette unité vraiment poétique vient à manquer, quelque sévere que soit la composition d’un poème, quelque forte que soit la logique avec laquelle son auteur en a lié les différentes parties, on découvrira toujours que c’est l’ouvrage de l’esprit et de l’art, et non point de l’imagination et du génie. Die einzelnen Teile eines Werkes dürfen nicht als gesonderte Elemente hervortreten, aus denen sich das Ganze zusammensetzt, sondern als die verschiedenen Seiten, wodurch das Ganze selbst sich darstellt. Fehlt es an dieser wahrhaft dichterischen Einheit – und die Komposition eines Werkes mag noch so streng durchgeführt, die Logik, mit welcher der Autor die einzelnen Teile verknüpft hat, noch so folgerichtig sein – so wird man stets nur ein Werk des bloßen Kunstverstandes und nicht der Einbildungskraft und des Genies vor sich haben.²³

 Johann Wolfgang Goethe: Entwürfe zu einem osteologischen Typus 1795 – 1796. In: Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. 1, Bd. 24: Schriften zur Morphologie. Hrsg. von Dorothea Kuhn. Frankfurt a. M. 1987 (BdK 27), S. 225 – 281, hier S. 234. Siehe auch die ‚Studie nach Spinoza‘ von 1785, in der Goethe erklärt: „In jedem lebendigen Wesen sind das was wir Teile nennen dergestalt unzertrennlich vom Ganzen daß sie nur in und mit demselben begriffen werden können und es können weder die Teile zum Maß des Ganzen noch das Ganze zum Maß der Teile angewendet werden […]“ (Johann Wolfgang Goethe: Studie nach Spinoza. In: Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. 1, Bd. 25: Schriften zur allgemeinen Naturlehre, Geologie und Mineralogie. Hrsg. von Wolf von Engelhardt/Manfred Wenzel. Frankfurt a. M. 1989 [BdK 40], S. 14– 17, hier S. 15).  Zweisprachig ediert in Kurt Müller-Vollmer: Poesie und Einbildungskraft. Zur Dichtungstheorie Wilhelm von Humboldts. Mit der zweisprachigen Ausgabe eines Aufsatzes Humboldts für Frau von Staël. Stuttgart 1967, S. 120 – 232, hier S. 124 f.; vgl. auch S. 171: „In dieser enggeknüpften

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Humboldt unterscheidet also zwei Formen der Beziehung zwischen den Teilen einer Dichtung. Man würde sich wünschen, er hätte diese beiden Beziehungsformen genauer bestimmt. Aber offenbar unterscheidet er eine Logik der Folgerichtigkeit, das heißt der sequentiellen, kausalen Verknüpfung von einer Logik allseitiger Verknüpftheit, die jedenfalls nicht rein linearkausal gedacht ist (im Zusammenhang mit Goethes Technik der Figurenschilderung spricht Humboldt auch davon, dass die „einzelne Schilderung mit allem zusammenhängt und durch alles bestimmt wird“).²⁴ Etwas fasslicher wird diese Logik allseitiger Verknüpftheit, wenn man sie zusammen mit Humboldts Begriff von der Idealität des Kunstwerks sieht. Genau genommen hat er zwei Begriffe des Idealischen. ‚Idealisch‘ nennt er zum einen das Überführen eines Gegenstands aus dem Reich der Wirklichkeit in das Reich der Phantasie durch die Einbildungskraft des Künstlers. Zum anderen – und darüber hinaus – bedeutet ‚Idealisieren‘ die alle Wirklichkeit übersteigende Gestaltung der reinen „Natur“ der wirklichen Dinge.²⁵ Sie erreicht der Dichter dadurch, dass er seinen Gegenstand in einer Weise organisiert, die auf alles Kontingente – das nach Humboldt das Vorrecht des Wirklichen ist –²⁶ verzichtet und alle seine Aspekte sowohl in Bezug zueinander als auch zum Ganzen setzt: Denn er [der Dichter, C. S.] tilgt nun jeden Zug in ihm [dem Gegenstand, C. S.] aus, der nur in Zufälligkeiten seinen Grund hat, macht jeden von dem andern und das Ganze nur von sich selbst abhängig; und die Einheit, die dadurch in ihm herrschend wird, ist dennoch keine Einheit des Begriffs, sondern durchaus nur eine Einheit der Form.²⁷

Humboldts Abgrenzung einer Logik der Folgerichtigkeit von einer nichtadditiven, ganzheitlichen Verknüpfung der einzelnen Teile eines Werks (und nur diese ist für und sich gegenseitig bedingenden Einheit, die wir in jedem Kunstwerk antreffen, ist das Sein eines jeden Gegenstandes von dem jedes anderen abhängig. Ja, diese Begriffe von Mittel und Zweck vertauschen sich, da sie unterschiedslos auf jeden Bestandteil anwendbar sind; die Teile machen das Ganze aus, und alle Einzelheiten sind vollkommen auf das Ganze bezogen.“  Humboldt 1961, S. 170.  Die beiden Begriffe des Idealischen bei Humboldt 1961, S. 138 – 143; siehe auch Müller-Vollmer 1967, S. 45 f., der Humboldts Begriff der „Natur“ mit ‚Wesenhaftigkeit‘ umschreibt.  Vgl. Humboldt 1961, S. 139: „Mit dem Begriff des Wirklichen unzertrennbar verbunden ist es, dass jede Erscheinung einzeln und für sich da steht, dass keine als Grund oder Folge von der anderen abhängt. Denn nicht allein, dass eine solche Abhängigkeit niemals wirklich angeschaut, immer nur durch Schlüsse eingesehen werden kann, macht auch der Begriff des Wirklichen selbst das Aufsuchen derselben überflüssig. Die Erscheinung ist da: diess ist genug, jeden Zweifel zurückzuweisen; wozu braucht sie sich noch durch ihre Ursache oder ihre Wirkung zu rechtfertigen?“  Humboldt 1961, S. 140.

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ihn wahrhaft künstlerisch) führt, rückblickend betrachtet, auf die kompositionstheoretischen Ansätze des frühen 20. Jahrhunderts und über diese wiederum auf den Formalismus hin. Gemeinsam ist beiden die morphologische Ausgangsbasis, die Forderung nach Geschlossenheit und Ganzheit des literarischen Kunstwerks, aber auch der makrostrukturelle Blick auf den ‚Organismus‘ des dichterischen Werks. Wichtig für das Verständnis von Erzählung als Struktur und dann für die Frage nach Erzähllogiken ist vor allem, wie die kompositionstheoretischen Ansätze die Relationen zwischen den Einzelteilen eines Erzähltextes fokussieren, denn das unterscheidet sie grundlegend von der aristotelischen Tradition – und hatte eine Nachwirkung, die, um nur von der germanistischen Mediävistik zu sprechen, bis hin zu den letztlich kompositionstheoretischen Strukturanalysen Hugo Kuhns und Walter Haugs reichte. Als folgenreich sollte sich insbesondere eine begriffliche Unterscheidung erweisen, die in den kompositionstheoretischen Arbeiten vom Anfang des 20. Jahrhunderts getroffen wird, nämlich die zwischen Komposition und Disposition.²⁸ Sie wird als Erstes, soweit ich sehe, 1912 von dem klassischen Philologen Otmar Schissel von Fleschenberg in seiner Einleitung zu einer neubegründeten Buchreihe namens ‚Rhetorische Forschungen‘ eingeführt. Schissels Einführung versteht sich als programmatisches Plädoyer für eine „kunstwissenschaftlich“ verfahrende Rhetorik.²⁹ Unter Komposition versteht er „künstlerische gliederung“, unter Disposition „logische gliederung“.³⁰ Letztere meint bei Schissel – in einer Verengung des dispositio-Begriffs der klassischen Rhetorik – den Aufbau des einzelnen Textes gemäß einer bestimmten Gattung, so dass nach der Disposition seine gattungsschematische Zugehörigkeit sich bemisst.³¹ Komposition als „rhetorische[s] kunstmittel“ hingegen wird von ihm so definiert:

 Zur Übernahme des Begriffspaars in der russischen Kompositionstheorie, insbesondere bei Michail Petrovskij, siehe Matthias Aumüller: Die russische Kompositionstheorie. In: Slavische Erzähltheorie. Russische und tschechische Ansätze. Hrsg. von Wolf Schmid. Berlin/New York 2009 (Narratologia 21), S. 91– 140, hier S. 105 f.; außerdem Matthias Aumüller/Hans-Harald Müller: Russischer Formalismus, deutscher Geist, österreichische Kompositionstheorie. Zur Klärung literaturtheoretischer Einflußbeziehungen. In: Scientia Poetica 16 (2012), S. 97– 122.  Otmar Schissel von Fleschenberg: Novellenkränze Lukians. Halle a. S. 1912 (Rhetorische Forschungen 1), S. V u. ö.; zu Schissels Rhetorikkonzept auch Hans-Harald Müller: Frühe Neuzeit avant la lettre. Rhetorik als Epochenkonzept bei Otmar Schissel von Fleschenberg. In: Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Wolfgang Adam. Hrsg. von Jan Standke. Heidelberg 2014 (Beihefte zum Euph. 85), S. 297– 306.  Schissel 1912, S.VI; die – ebenfalls programmatische – Kleinschreibung stammt von Schissel.  Vgl. Schissel 1912, S. VII: „der aufbau durch disposition kennzeichnet eine ganze rhetorische gattung, nicht bloss éin kunstwerk. […] Die künstlerische leistung auf dem gebiete der disposition ist in der einpassung des einzelfalles in ein gattungsschema, d. i. in eine innere form zu erblicken,

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Die komposition oder künstlerische gliederung eines rhetorischen produktes löst das natürliche nacheinander seiner teile in mündlicher oder schriftlicher fixierung in ein künstliches nebeneinander auf. Denn nur in der scheinbaren koexistenz der teile eines rhetorischen kunstwerkes liegt die möglichkeit einer inneren form desselben. Sie besteht also in einer relation der einzelnen stoffteile zueinander. An und für sich besitzt der stoff für die komposition keine bedeutung. Er dient nur zum körperlichen substrate, zum träger des vom sophisten in seinem werke jeweils dargestellten architektonischen prinzipes, wie der steigerung, konzentrizität, variation, der symmetrie, des parallelismus, kontrastes, da äussere wahrnehmbarkeit eine notwendige bedingung für jedes kunstschöne werk darstellt.³²

Unter „komposition“ werden also künstlich-künstlerisch hergestellte Beziehungsverhältnisse zwischen den Handlungsteilen verstanden, die nicht auf Kausalität beruhen, sondern auf abstrakten logischen Figuren (Steigerung, Konzentrizität, Variation etc.) und die daher auch vom Stoff bis zu einem gewissen Grade unabhängig sind. Parallelismus, Kontrast und Symmetrie hatte bereits Schissels Lehrer Bernhard Seuffert in einem mehrteiligen Beitrag für die ‚Germanisch-Romanische Monatsschrift‘ von 1909/1911 an Beispielen von Gustav Freytag, Gottfried Keller, Goethe und Schiller als Grundprinzipien der Komposition zu erweisen versucht.³³ Mit dem Begriff der Komposition und den damit verbundenen Darstellungstechniken wird die Einheit des literarischen Kunstwerks nicht auf der Ebene der kausalen und/oder temporalen Verknüpfung seiner einzelnen Teile, also auf der motivationalen Ebene, sondern auf der Ebene von Bedeutungsrelationen begründet. Demgemäß gilt das Interesse der Kompositionstheorie wie im Übrigen auch des Formalismus vor allem der Makrostruktur der Texte; Textteile sind für die Kompositionstheorie größere Wortgruppen, die sich inhaltsbedingt zu besonders abgegrenzten Segmenten zusammenfassen lassen (z. B. Episoden).³⁴ Ihre Korrelation ergibt sich jedoch erst unter der Voraussetzung, dass der Rezipient einen semantischen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen vermag. Dieser beruht im Fall der von Schissel und Seuffert hervorgehobenen Techniken auf der Wahrnehmung formaler und inhaltlicher Ähnlichkeiten oder Entsprechungen

die das symbol der höheren ordnung bedeutet, unter die das beispiel logisch gehört“ (Hervorheb. im Original).  Schissel 1912, S. VI (Hervorheb. im Original).  Bernhard Seuffert: Beobachtungen über dichterische Komposition. In: GRM 1 (1909), S. 599 – 617. 3 (1911), S. 569 – 584, 617– 632. Die terminologischen Anregungen Seufferts hat Schissel in einer Studie zu E.T. A. Hoffmanns ‚Elixieren des Teufels‘ weiterverfolgt; siehe Otmar Schissel von Fleschenberg: Novellenkomposition in E.T. A. Hoffmanns Elixieren des Teufels. Ein prinzipieller Versuch. Halle a. S. 1910.  Vgl. Aumüller 2009, S. 97.

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Narration und Kognition

zwischen den Textsegmenten, das heißt auf der (Re‐)Konstruktion von Analogie (die, wie beim Kontrast, auch eine solche unter negativen Vorzeichen, eine invertierte Analogie also, sein kann). Erst unter dieser Bedingung erscheint der literarische Text dann als kompositorische Einheit. Die frühen Kompositionstheoretiker denken die Struktur des literarischen Kunstwerks äußerst formalistisch und schematisch, wie schon die wiederkehrende Metapher von der „Architektonik“ des Textes zeigt, die zur OrganismusMetapher hinzutritt;³⁵ der literarische Text ist ein ‚Bau‘. Zugleich zeigen sie aber bereits ein Gespür für den Blick des Rezipienten. Nicht nur bedarf das „architektonische[] prinzip[]“ der „äussere[n] wahrnehmbarkeit“, wie Schissel sagt. Bemerkenswert ist auch die Beschreibung seines ästhetischen Effekts, der letztlich ein kognitiver ist. Schissel spricht davon, dass die Komposition das „natürliche nacheinander“ der Teile eines mündlichen oder schriftlichen Textes in ein „künstliches nebeneinander“ überführt. Die nur sukzessiv wahrnehmbare Anordnung der Textteile wird im nachwirkenden Eindruck als Nacheinander aufgehoben und zum Nebeneinander, zur „scheinbaren koexistenz“. Das hatte Schissel von Seuffert, der 1911 seine ‚Beobachtungen über dichterische Komposition‘ in Abgrenzung von Lessing folgendermaßen schließt: Alle Sprachkunstwerke bedienen sich der Vorbereitungen, Rückweisungen; sollen sie wahrgenommen werden, so muß ihre Sukzession zur Koexistenz werden. Sind Symmetrien, sind Parallelen vom Dichter gebildet, so können sie nur als koexistente wirken, obwohl sie sukzessive zur Erscheinung gelangen. Die psychologische Unterscheidung, welche Bewertung das Erinnerungsbild neben dem neuen Eindruck beansprucht, dünkt mich nicht allzu wichtig. Nicht nur Bilderzyklen, alle größeren Werke der bildenden Künste können nicht gleichzeitig mit einem Blicke erfaßt werden. Ebenso werden Dichtungen für den Aufnehmenden nur dann ein Ganzes, wenn er ihre Glieder koexistent setzt.³⁶

Seufferts und Schissels Bemerkungen können ohne Weiteres als früheste Beobachtungen dessen gelten, was die Forschung seit T. S. Eliot und Joseph Frank unter den Begriffen der Simultaneität, Spatialität oder spatial form in literarischen Werken diskutiert.³⁷

 So etwa Seuffert 1911, S. 632; Schissel 1912, S. VI.  Seuffert 1911, S. 632.  Vgl. Thomas S. Eliot: Tradition and the Individual Talent. In: The Egoist 6.4 (1919), S. 54 f. 6.5, S. 72 f.; Frank 1945.

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2.3 Vom organologischen zum semiotischen Modell Das organisch-morphologische Modell hat auch den Russischen Formalismus, der seinerseits wiederum den französischen Strukturalismus beeinflusste, noch stark geprägt – am offensichtlichsten in der vielleicht bekanntesten Arbeit, die aus dem Formalismus hervorgegangen ist: Vladimir Propps ‚Morphologie des Märchens‘.³⁸ Währenddessen bereitete sich durch die strukturale Sprachwissenschaft Saussure’scher Prägung eine neue Konzeption der Struktur von Erzählung vor, die dann die moderne Narratologie maßgeblich bestimmen sollte. Sie gab auch den Anstoß für die Ablösung des organologischen durch das semiotische Modell, die man mit Fug und Recht als einen ‚Paradigmenwechsel‘ im Kuhn’schen Sinne des Begriffs bezeichnen kann. Die Geschichte dieses Paradigmenwechsels ist bekannt und muss hier nicht noch einmal ausführlich dargestellt werden. Kurz gesagt, bestand er darin, Sprache (im Sinne von la langue) im Unterschied zur traditionellen Sprachgeschichte als ein System von Zeichen zu verstehen, nach dessen Regeln Äußerungen (la parole) hervorgebracht werden. Sprache wurde nun nicht mehr, wie etwa im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, organisch, sondern semiotisch konzipiert; sie wurde als Einheit von Form und Bedeutung aufgefasst und die Untersuchung von Sprachform, wie Phonologie oder Grammatik, gebunden an die Untersuchung von Sprachbedeutung, also Semantik. Die strukturale Linguistik hat damit ein Verstehensmodell geliefert, das in der strukturalen Poetik des 20. Jahrhunderts auf literarische Texte übertragen wurde. Allerdings muss man hinzufügen, dass sie mit ihrer Kritik am organologischen Modell nicht auch die Grundsätze der Strukturalisierung, die sie der organischen Morphologie verdankte, in Frage stellte. Die strukturale Auffassung erzählender Texte bleibt im semiotischen Modell erhalten. Sie wird nun nur anders, nämlich entschieden zeichen- und bedeutungsorientiert entwickelt, das heißt im Hinblick auf die Frage, was und auf welche Weise literarische Texte bedeuten. Die Frage des „Bedeutungsaufbaus“ (Miroslav Červenka) in Erzähltexten hatte in Ansätzen bereits die Kompositionstheorie beschäftigt, und sie hatte schon dort entscheidend mit Fragen der Erzähllogik, das heißt dem ‚Wie‘ der Verknüpfung von Textsegmenten zu tun.³⁹ Das Neue der Ansätze der strukturalen Poetik bestand jedoch darin, poetische Strukturen nach dem Vorbild sprachlicher Strukturen zu

 Propp 1975; kein Zufall im Übrigen, dass Propp mehreren Kapiteln seines Buchs Zitate aus Goethes morphologischen Schriften vorangestellt hat.  Vgl. Miroslav Červenka: Der Bedeutungsaufbau des literarischen Werks. Hrsg. von Frank Boldt/Wolf-Dieter Stempel. München 1978 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 36).

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beschreiben und poetische Strukturen als sprachliche zu modellieren.⁴⁰ Für die Konzeption von Erzählung als Struktur ergab sich aus der Übertragung des linguistischen Paradigmas auf erzählende Texte zweierlei:⁴¹ Zum einen wurde analog zu den verschiedenen Beschreibungsebenen des Satzes (phonetisch, phonologisch, grammatisch, kontextuell) eine Differenzierung weiterentwickelt, die schon im Russischen Formalismus angelegt war: die Unterscheidung zwischen verschiedenen Erzählebenen, die in ihrer wechselseitigen Integration gesehen werden müssen, um das Sinnpotential einer Erzählung zu erfassen.⁴² Die von den Strukturalisten hierarchisch modellierte Theorie der Ebenen hat sich für die Analyse des Erzählens als fruchtbar erwiesen. Sie führte zu einer strukturalen Konzeption, die den Teilbegriff und den Begriff der Relation zwischen den Teilen einer Erzählung nicht dem dargestellten Inhalt – dem Stoff, der Handlung – vorbehielt, sondern auf deren Vermittlung übertrug. Teile einer Erzählung sind in dieser Sicht die Ebenen der fabula und des sjužet (Boris Tomaševskij), der histoire und des discours (Tzvetan Todorov). Diese Zweiteilung wird manchmal bis auf die aristotelische Poetik zurückgeführt.⁴³ Sie regte Roland Barthes zu einer Dreiteilung zwischen ‚Funktionen‘ (nach Propp und Bremond), ‚Handlungen‘ (nach Greimas’ Theorie der Aktanten) und ‚Narration‘ (nach Todorov) an und kehrt bei Gérard Genette als Dreiteilung zwischen ‚Geschichte‘ (histoire), ‚Erzählung‘ (récit) und ‚Narration‘ (narration) wieder.⁴⁴ Die erzähltheoretische Terminologie ist unübersichtlich genug, und ich bevorzuge es, in

 Für Erzähltexte im Besonderen findet sich eine exemplarische Formulierung dieses Zugriffs bei Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Barthes, Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988b (Edition Suhrkamp 1441), S. 102– 143, hier S. 104: „Beim derzeitigen Forschungsstand scheint es vernünftig, der strukturalen Erzählanalyse die Linguistik selbst als Modell zugrunde zu legen.“  Dabei interessiert an dieser Stelle nur, was auf der Habenseite der strukturalistischen Erzählforschung steht; zu einer ausführlichen Kritik strukturalistischer Anleihen bei den Konzepten der Linguistik siehe demgegenüber Thomas G. Pavel: The Feud of Language. A History of Structuralist Thought. Oxford/Cambridge, MA 1989.  Vgl. den Abschnitt ‚Die Sinnebenen‘ in Barthes 1988b, S. 106 – 108.  So etwa Monika Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology. London/New York 1996, S. 333: „The classic dichotomy can be traced back as far as Aristotle’s constitutive notion of plot (muthos), which may be argued to contrast with the triple structure of beginning, middle and end (Poetics 1451a) on the level of discourse presentation.“ Ich kann diese Gegenüberstellung bei Aristoteles nicht wiederfinden, denn meines Erachtens versteht er unter mythos die bereits nach Anfang, Mitte und Ende strukturierte Handlung. Allenfalls könnte man die Ebene des discours im Begriff der Mimesis wiederfinden.  Unter ‚Erzählung‘ versteht Genette 1998, S. 16, „den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs“, während der Begriff der ‚Narration‘ dem „produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt.“

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Anlehnung an Martínez und Scheffel schlicht zwischen der Ebene der dargestellten Welt (einschließlich ihrer handlungsfunktionalen Elemente) und der Ebene der Vermittlung oder Darstellung dieser Welt zu unterscheiden.⁴⁵ In erzähllogischer Sicht interessieren vor allem die Beziehungen zwischen diesen als ‚Teilen‘ konzipierten Erzählebenen: zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite.⁴⁶ Zum zweiten rückten mit der Projektion sprachlicher Strukturen auf poetische die Bedeutungsbeziehungen zwischen den einzelnen Elementen eines Textes in ein neues Licht. Ein anschauliches und auch in der Mediävistik einflussreiches Beispiel dafür ist das Äquivalenzprinzip, das Roman Jakobson als grundlegendes Prinzip der Bedeutungskonstitution in literarischen Texten zu begründen versuchte. Jakobson geht bekanntlich von sechs Sprachfunktionen aus (emotiv, referentiell, poetisch, phatisch, metasprachlich, konativ) und beschreibt die poetische Funktion – als Sprachfunktion – mit einer berühmt gewordenen Formulierung als diejenige, bei der die Aufmerksamkeit auf den Ausdruck der Botschaft um seiner selbst willen gerichtet sei: „The set (Einstellung) toward the message as such, focus on the message for its own sake, is the poetic function of language.“⁴⁷ Um die poetische Sprachfunktion empirisch-linguistisch zu bestimmen, greift er auf die von Ferdinand de Saussure und dem dänischen Linguisten Louis Hjelmslev postulierte Unterscheidung zwischen syntagmatischen und paradigmatischen Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen sprachlichen Einheiten zurück.⁴⁸ Jakobson erläutert die poetische Sprachfunktion, indem er sie als die

 Martínez/Scheffel 2003, S. 23 f.; hier, S. 26, auch eine tabellarische Übersicht über die in diesem Zusammenhang gebräuchlichen Terminologien der Erzählforschung.  Vgl. David Herman: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative. Lincoln/London 2002 (Frontiers of Narrative), S. 104.  Roman Jakobson: Closing Statement: Linguistics and Poetics. In: Style in Language. Hrsg. von Thomas A. Sebeok. Cambridge, MA 1960, S. 350 – 377, hier S. 356; zu Jakobsons Verständnis von „Botschaft“ siehe den Kommentar in der deutschen Übersetzung des englischen Originals: „mit ‚Botschaft‘ (engl. ‚message‘) ist weder bloß der Inhalt noch die Form gemeint. Schon in seiner frühen Schrift Novejšaja russkaja poèzija […] hatte Jakobson die ‚ustanovka na vyraženie‘ (‚Einstellung, Ausrichtung auf den Ausdruck‘) in den Mittelpunkt seiner poetologischen Überlegungen gestellt“ (Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Jakobson, Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe. Bd. 1: Poetologische Schriften und Analysen zur Lyrik vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Hrsg. von Hendrik Birus/Sebastian Donat. Berlin/New York 2007, S. 155 – 216, hier S. 168, Anm. 46; Hervorheb. im Original). Vgl. dazu auch Michael Titzmann: Äquivalenzprinzip. In: RLW 1 (1997a), S. 12 f.  Saussure unterschied nicht syntagmatische von paradigmatischen, sondern von assoziativen Beziehungen; vgl. Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. Hrsg.von Charles Bally/ Albert Sechehaye. 3. Aufl. Paris 1931, S. 170 – 175. Die seit Hjelmslev gebräuchlichere Opposition

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Projektion der paradigmatischen Achse der Selektion (d. h. der Auswahl aus äquivalenten Wörtern wie child, kid, youngster, tot) auf die syntagmatische Achse der Kombination („the build up of the sequence“, d. h. der Verkettung des Nomens mit einem semantisch verwandten Verb: sleeps, dozes, nods, naps) bestimmt: „The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination.“⁴⁹ Vereinfacht ausgedrückt: In poetischen Texten gilt nach Jakobson das Äquivalenzkriterium nicht nur auf der vertikalen Ebene der Wortwahl, sondern auch auf der horizontalen oder syntagmatischen der (Wort‐) Sequenz. Frühere Ansätze – mit Ausnahme der Kompositionstheorie – hatten die Bedeutung eines literarischen Kunstwerks mehr oder weniger ausschließlich als eine Sache seiner inhaltlich-thematischen Bestandteile behandelt (z. B. seiner Motive⁵⁰). Jan Mukařovský, neben Roman Jakobson einer der bedeutendsten Vertreter des Prager Linguistenkreises, stellte 1946 kritisch fest: „The idea has not yet been completely discredited that the components of ‚content‘ (in conventional terminology), in contrast to the ‚formal‘ components, are the only vehicles of the meaning of an artistic work.“⁵¹ Mit dem semiotischen Strukturmodell wurde der Fokus nun auf das poetische Zeichengebilde selbst, seine interne Konstruktion und formale Organisation gelenkt, und zwar sowohl auf der Inhalts- wie auf der Ausdrucksebene. In der Sache beschreiben die von Jakobson genannten Selektionskriterien der Similarität und Dissimilarität, der Synonymie und Antonymie – dem Äquivalenzprinzip entsprechend auf die horizontale Achse der Kombination projiziert – nichts so sehr anderes als die Kompositionstheorie mit ihren Begriffen des Parallelismus und des Kontrastes.⁵² Nur wird der alte Form-Inhalt-Dualismus zwischen Syntagma und Paradigma stellt in gewisser Weise eine Verflachung der Saussure’schen Differenzierung dar, da Saussure mit der Bezeichnung ‚assoziativ‘ zugleich eine Erklärung für die genetische Struktur des vertikalen Felds des Paradigmas angab.  Jakobson 1960, S. 358.  ‚Motiv‘ im narratologisch-strukturellen Sinne der kleinsten Einheit einer Handlung; vgl. Martínez/Scheffel 2003, S. 108 f.  Jan Mukařovský: On Structuralism. In: Mukařovský, Structure, Sign, and Function. Selected Essays. Hrsg. von John Burbank/Peter Steiner. New Haven/London 1978 (Yale Russian and East European Studies 14), S. 3 – 16, hier S. 9. Unter „‚formal‘ components“ versteht Mukařovský insbesondere „single words, sound components, grammatical forms, syntactic components (the sentence structure), and phraseology“ (ebd.).  Hinzufügen muss man allerdings, dass Jakobson Äquivalenz in der Dichtung ausschließlich aufgrund formaler Kriterien bestimmt. „Regular reiteration of equivalent units“ (Jakobson 1960, S. 358) ist die regelmäßige Wiederholung äquivalenter metrisch-prosodischer Einheiten zum Bau einer Sequenz. Jakobson hat also nur formal gebundene Rede im Blick; vgl. dazu auch Rainer Warning: Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: RJb 52 (2001), S. 176 – 209, hier S. 178 f.

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nun nicht mehr im Rahmen einer letztlich normästhetischen, sondern einer zeichentheoretischen Begründung aufgelöst.

2.4 Motivationale Beziehungen und Bedeutungsbeziehungen Zusammengefasst: Dichtung wurde im Grunde von jeher struktural aufgefasst. Dieses strukturale Verständnis, das die abendländische Poetik seit ihren Anfängen in der platonischen und aristotelischen Philosophie prägte, ist letztlich eine Folge der im ersten Kapitel angesprochenen Sequentialität von Texten und damit auch von (textueller) Erzählung. Erzählungen können nur in einem Nacheinander aufgenommen werden, und dieses Nacheinander muss ein Nacheinander von etwas sein, das sich als die Teile eines besonders abgegrenzten und distinkt gestalteten Ganzen ansprechen lässt – der Erzählung. Dementsprechend ist die frühe Poetik vor allem an der linearen Verknüpfung des Dargestellten interessiert, sei es auf der Bühne oder im Epos. Sie thematisiert die Einheit des dichterischen Werks als eine nach bestimmten Regeln – nämlich den Prinzipien der Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit – organisierte Abfolge von Handlungen und Ereignissen. Wenn von den Teilen und ihren Beziehungen die Rede ist, sind primär Handlungselemente angesprochen. Im Hintergrund steht ein organologisches Verständnis von der Struktur dichterischer Werke. Die Relationen zwischen den Teilen dieser Struktur werden als solche der Kausalität und/oder Folgerichtigkeit begriffen. Ich bezeichne sie als motivationale Beziehungen. ⁵³ Die semiotische Poetik hält, vermittelt durch das organisch-morphologische Modell, an dem strukturalen Verständnis von Literatur fest. Aber sie bestimmt die Elemente poetischer Werke – ausgehend von einem der Linguistik entlehnten zeichentheoretischen Ansatz – als semantische Einheiten, die in einem nicht nur horizontal-syntagmatischen, sondern auch vertikal-paradigmatischen Verhältnis zueinander stehen. Neben Fragen der handlungssequentiellen Organisation von Erzählung (die vor allem in der Morphologie Propps und dann in Greimas’ Konzept der Aktanten wichtig bleiben) kommen hierarchisch zu beschreibende Ebenen wie die von story und discourse, von erzählter Welt und ihrer Darstellung, als Teile des narrativen Diskurses in den Blick. Und noch etwas kommt hinzu: Mit  In philosophisch-phänomenologischer Sicht sind Kausalität und Motivation zu unterscheiden; dazu Sonja Rinofner-Kreidl: Mediane Phänomenologie. Subjektivität im Spannungsfeld von Naturalität und Kulturalität. Würzburg 2003 (Trierer Studien zur Kulturphilosophie 5), S. 137– 139. Jedoch gehe ich von einem erzähltheoretischen Verständnis von Motivation aus, das den Motivationsbegriff nicht auf die intentionalen Inhalte eines Subjektbewusstseins bezieht.

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der kompositionstheoretischen und semiotischen Beschreibung von Erzählung als einer Struktur wird die Aufmerksamkeit auf Verknüpfungsmöglichkeiten gelenkt, bei denen sich die Korrelation der Teile einer Erzählung nicht kausal-motivational ergibt, sondern erst unter der Bedingung, dass der Rezipient aufgrund einer bestimmten Textphänomenologie – zum Beispiel formaler oder inhaltlicher Äquivalenzen – eine semantische Beziehung zwischen den einzelnen Teilen herstellen kann. In Abgrenzung von motivationalen Beziehungen lässt sich hier von Bedeutungsbeziehungen sprechen. Die Frage nach Erzähllogiken umfasst insofern nicht nur Fragen des ‚Handlungsaufbaus‘ und der Handlungsmotivation, sondern ebenso solche des ‚Bedeutungsaufbaus‘.⁵⁴ Der Teil- und Strukturbegriff, von dem ich ausgehe, führt somit den handlungsstrukturellen – inhaltsorientierten – Blick auf Erzählung mit dem zeichenstrukturellen – Inhalts- und Ausdrucksseite betrachtenden – zusammen. Dabei lege ich einen möglichst weichen und offenen Begriff von der strukturalen Beschaffenheit narrativer Texte zugrunde. Unter den ‚Teilen‘ eines Erzähltextes verstehe ich ganz allgemein verbale Elemente, die sich zu besonders hervortretenden, diskreten semantischen Komplexen aufbauen – vom einzelnen Satz bis hin zu Szenen, Episoden, Charakteren, Handlungen etc. – und die als solche die Frage nach ihrem Verhältnis zu anderen semantischen Komplexen des Erzähltextes aufwerfen. Wie die Geschichte des strukturalen Verständnisses von Erzählung lehrt, stellt sich die Frage nach dem logischen Verhältnis zwischen den verschiedenen semantischen Komplexen eines Narrativs sowohl lokal als auch global. Das heißt, sie betrifft Fragen der mikrostrukturellen Kohärenz (oder Konnektivität) eines Erzähltextes – wie er also von einem Satz oder einer Handlungseinheit zur nächsten gelangt – ebenso wie Fragen seiner makrostrukturellen Kohärenz, die sich vor allem in der Möglichkeit manifestiert, das Arrangement der Erzählsegmente in semantisch-thematischer Hinsicht als irgendwie sinnvoll oder plausibel wahrzunehmen.⁵⁵

 Natürlich ist die Frage nach dem Bedeutungsaufbau in Texten an sich nicht neu. Ohne dass schon ein Begriff dafür zur Hand wäre, findet sich die entsprechende Vorstellung in antiken Theorien der Textproduktion und -interpretation wieder; ebenso in der Rhetorik, vor allem in der Theorie der Tropen, der mittelalterlichen Allegorese oder in der Behauptung eines mehrfachen Schriftsinns der Bibel. Die Frage wird hier aber nicht im Zusammenhang einer strukturalen Auffassung von Narration und der Beziehung ihrer Komponenten zueinander thematisch; siehe auch Michael Titzmann: Bedeutungsaufbau. In: RLW 1 (1997b), S. 207 f.  Um Missverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle angemerkt: Ich möchte mir mit meinem Ansatz keine strukturalistischen Auffassungen sui generis zu eigen machen. Wovon ich lediglich ausgehe, ist eine strukturale Auffassung von Textualität, an der man meines Erachtens festhalten kann, ohne damit den poststrukturalistischen Gegenbewegungen ins Gehege zu kommen. Das gilt insbesondere für die Dekonstruktion (die als literaturwissenschaftliche Me-

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2.5 Muster, Modelle, Frames und Scripts: Der kognitive Umgang mit Inkohärenzen Wie aber machen Leser oder Hörer Erzähltexte kohärent? Welche Strategien wenden sie – bewusst oder unbewusst – an, um eine gegebene Erzählung als einen sinnhaften Zusammenhang wahrzunehmen? Diese Fragen stellen sich nicht nur für Erzählungen, in denen wir, vielleicht auch nur stellenweise, narrative Kohärenz vermissen, sondern für jeden narrativen Diskurs. Denn jeder narrative Diskurs ist notwendigerweise lückenhaft, schon deshalb, weil „kein Geschehen vollständig erzählt werden kann“ (Wolfgang Iser).⁵⁶ Im Rahmen einer strukturalen Auffassung von Erzählung lässt dieser Befund sich so ausdrücken: Wenn ein Erzähltext aus Teilen besteht, dann müssen diese Teile in ein irgendwie sinnhaftes Verhältnis zueinander gebracht werden, wenn denn das Erzählte als kohärentes Ganzes – als semantisch diskrete Einheit – wahrgenommen werden soll. Der Text gibt zwar Anweisungen darüber, wie die Beziehungen zwischen den Teilen herzustellen sind, doch letztlich liegt ihre Konstruktion beim Rezipienten. Auch dort, wo die Unbestimmtheiten in einem Erzähltext sich nicht als regelrechte Widersprüche darstellen, ist der Rezipient also immer Lücken füllend und kohärenzbildend tätig. Dieses Herstellen sinnhafter Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen einer Erzählung ist eine kognitive Leistung. Die Operationen, die wir als Leser, Hörer oder Zuschauer dabei vollführen, lassen sich als die Aktualisierung bestimmter kognitiver Muster – wahlweise auch ‚Modelle‘ oder ‚Frames‘ – beschreiben. Der Begriff des Musters weist darauf hin, dass die Formen des Denkens und der kognitiven Verknüpfung, die bei der Herstellung von Bezügen zwischen den Teilen eines narrativen Diskurses im Akt der Rezeption zum Tragen kommen, nicht willkürlich, zufällig oder kontingent sind. Nur unter dieser Bedingung ergibt

thode inzwischen selbst der Vergangenheit angehört). In der Dekonstruktion wird der Text zwar eine „Struktur ohne Zentrum“ – so Nikolaus Wegmann: Dekonstruktion. In: RLW 1 (1997), S. 334– 337, hier S. 334 –, aber er bleibt Struktur. Zudem: Was dekonstruktivistische Lektüren vor allem in Frage stellten, war ein Textverständnis, das von dem Gedanken einer organischen Einheit ausging und dementsprechend von der Möglichkeit einer systematischen, letztlich kohärenten, sinnhaften Integration aller Ebenen eines Textes. Wie im ersten Kapitel ausgeführt, betrachte ich Kohärenz nicht als konstitutives Merkmal von Erzählung.Wenn ich den Begriff der Kohärenz verwende, dann in einem rezipientenorientierten Sinn. Das heißt: Nicht jeder Erzähltext ist einer letztlich kohärenten Sinngebung zugänglich oder muss es gar sein. Jedoch gehe ich davon aus, dass Rezipienten in der Regel (d. h. vorbehaltlich gegenteiliger Instruktionen) Erzählungen mit einem Bedürfnis nach Zusammenhang begegnen und, aus diesem Bedürfnis heraus, Texte im Rezeptionsakt kohärent zu machen versuchen.  Iser 1975, S. 258.

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es Sinn, von Erzählung als einer Struktur zu sprechen. Denn die Anwendung des Strukturbegriffs auf den Erzähltext, der als aus Teilen bestehend gedacht wird, setzt voraus, dass zwischen diesen Teilen nichtarbiträre Beziehungen bestehen bzw. hergestellt werden können. Indem Rezipienten solche Verknüpfungen (re‐) konstruieren, machen sie den Text kohärent. Die Frage, wie das eigentlich geschieht, hat die Forschung nicht erst seit der ‚pragmatischen Revolution‘ oder dem cognitive turn in der Linguistik und Erzähltheorie beschäftigt. Schon die frühe Kompositionstheorie und der Strukturalismus Prager Prägung befassten sich mit ihr, und auch dem französischen Strukturalismus ist eine rezeptionsorientierte Auseinandersetzung mit Fragen der narrativen Kohärenzbildung nicht so fremd, wie gelegentlich der Eindruck erweckt wird.⁵⁷ Heute wissen wir, dass Rezipienten die einzelnen Elemente eines narrativen Textes zueinander ins Verhältnis setzen – mit einem anderen Wort: ‚integrieren‘ –, indem sie auf verschiedene, ihnen vertraute Kohärenzmodelle zurückgreifen. Diese Anverwandlung des Textes an Déjà-vu-Modelle hat der amerikanische Literaturtheoretiker Jonathan Culler einmal als ‚Naturalisierung‘ bezeichnet. Culler meint Modelle, die bereits in gewissem Sinne natürlich und lesbar sind;⁵⁸ „to naturalize a text“, schreibt er, „is to bring it into relation with a type of discourse or model which is already, in some sense, natural and legible.“⁵⁹ Der Begriff der naturalization bezeichnet Arten der Kohärenzbildung im Rezeptionsprozess, durch die der Text auf verschiedenen Ebenen „wahrscheinlich“ („vraisemblable“) gemacht wird (häufiger noch als von naturalization spricht Culler von vraisemblablisation).⁶⁰ Solche Déjà-vu-Modelle, wie Culler sie beschreibt, sind in der Forschung unter verschiedenen Begriffen diskutiert worden. Menakhem Perry spricht von

 Erinnert sei nur an die Unterscheidung zwischen dem texte lisible und dem texte scriptible, die Roland Barthes in seiner Studie ‚S/Z‘ anhand von Balzacs Erzählung ‚Sarrasine‘ vorgenommen hat. Der texte scriptible ist der, bei dessen Rezeption der Leser selbst zu einem Textproduzenten wird; der Text, der im Lesen für das Weiterschreiben, Noch-einmal-Schreiben offen ist, dazu einlädt. Der texte lisible ist der, bei dem der Leser nur Konsument ist, der geschlossene, der klassische Text. Die Unterscheidung zwischen dem „Schreibbaren“ und dem „Lesbaren“ bei Barthes ist eine der literarischen Wertung; siehe Roland Barthes: S/Z. Frankfurt a. M. 1987 (stw 687), S. 7 f.  Der Begriff des Natürlichen ist in diesem Zusammenhang selbstverständlich nicht von seinem Gegenteil her zu verstehen, also dem Unnatürlichen im Sinne einer ideologisch wie auch immer begründeten Zurückweisung oder sogar Dämonisierung des (unnatürlichen, perversen etc.) Anderen.  Jonathan D. Culler: Structuralist Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Literature. London 1975, S. 138.  Siehe Culler 1975, S. 137 f.

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„frames“,⁶¹ Benjamin Hrushovski von „frames of reference“,⁶² und auch Umberto Eco benutzt in seiner Unterscheidung zwischen „common frames“ und „intertextual frames“ den Frame-Begriff.⁶³ In jüngerer Zeit hat ihn, um nur einige weitere Beispiele zu nennen, Monika Fludernik im Rahmen ihres natürlichkeitstheoretischen Ansatzes aufgegriffen,⁶⁴ während David Herman Cullers Konzept der naturalization an die Script-Theorie anschließt.⁶⁵ Und in gewissem Sinne lassen sich bereits Roman Ingardens „schematisierte Ansichten“ hier einordnen.⁶⁶ Gerade weil so viele verschiedene Begriffe im Umlauf sind, teilweise Verschiedenes mit gleichen und Gleiches mit verschiedenen Begriffen belegt wird, lohnt es sich, das Begriffsknäuel ein wenig zu entwirren. Ganz grundsätzlich werden die Begriffe ‚Frame‘, ‚Script‘ oder auch ‚Schema‘ auf zwei verschiedene Dinge angewendet, die man systematisch auseinanderhalten sollte. Auf der einen Seite dient der Frame-Begriff zur Beschreibung von Lesehypothesen, auf der anderen zur Kennzeichnung außertextueller Wissensund Erfahrungsbestände, auf die Rezipienten bewusst oder unbewusst zugreifen, um die Lücken des Textes zu füllen und das Gelesene oder Gehörte kohärent zu machen. Im ersten Sinne wurde der Begriff des frame vor allem von Menakhem Perry und Manfred Jahn in die Erzählforschung eingebracht.⁶⁷ Frames sind hier die Hypothesen, die Leser im Lektüreprozess zum Beispiel hinsichtlich der räumlichen oder chronologischen Ordnung der Einzelheiten eines erzählten Geschehens konstruieren. Sie werden so gebildet, dass sie möglichst viele der verschiedenen Daten eines narrativen Textes in Übereinstimmung bringen.⁶⁸ Frames in diesem Sinne speisen sich zwar unter anderem aus Wirklichkeits- und litera Perry 1979.  Benjamin Hrushovski: Poetic Metaphor and Frames of Reference. With Examples from Eliot, Rilke, Mayakovski, Mandelshtam, Pound, Creeley, Amichai, and the New York Times. In: Poetics Today 5 (1984), S. 5 – 43.  Umberto Eco: The Role of the Reader. Explorations in the Semiotics of Texts. Bloomington, IN 1979 (Advances in Semiotics), S. 20 – 22.  Fludernik 1996, bes. S. 17– 19, 31– 35.  Vgl. Herman 2002, S. 85 – 113, bes. S. 106 – 109.  So grenzt Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang: Von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel. 2., verb. und erw. Aufl. Tübingen 1960, S. 279, die „konkreten“ und die „schematischen Ansichten“ – im Anschluss an Husserl – wie folgt voneinander ab: „hier [ist] nicht von den einmalig erlebten und für alle Ewigkeit vergangenen Ansichten die Rede, sondern von gewissen Idealisierungen, die sozusagen nur ein Skelett, ein Schema der konkreten, fließend vorbeigehenden Ansichten sind“ (Hervorheb. im Original).  Siehe Perry 1979; Jahn 1997.  Siehe Perry 1979, S. 43: „As has already been said, any reading of a text is a process of constructing a system of hypotheses or frames which can create maximal relevancy among the various data of the text […].“

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rischem Wissen, aber sie bezeichnen nicht dieses Wissen an sich, sondern den oder die Bedeutungsrahmen, die ein Leser während des Lesens in Bezug auf das Gelesene herstellt. Dem, wie diese Hypothesen gebildet werden und wie sie sich im Laufe der Lektüre ergänzen, ändern, überholen, gilt Perrys und Jahns eigentliches Interesse. Im zweiten Sinne wird der Frame-Begriff verwendet, wenn er extratextuelle Muster oder Modelle bezeichnet, auf die Rezipienten – meist unbewusst – Bezug nehmen, um Texte als kohärent wahrzunehmen. Auch hier muss man wieder differenzieren. Die wichtigste Unterscheidung scheint mir die zwischen Handlungsmustern und Deutungsmustern zu sein. Handlungsmuster: Hier sind Frames Modelle – kleine ‚Drehbücher‘ – für Situationen oder Handlungssequenzen. Der Rezipient kennt sie. Wenn er sie durch den Text aufgerufen sieht, dann wendet er sie an, um Handlungslücken zu füllen, nichtvorhandene oder unbestimmt vorhandene Motivationen hinzuzudenken und fehlende Verknüpfungen zu ergänzen. Um es an dem im ersten Kapitel zitierten Beispiel von dem Mann, der König werden wollte, deutlich zu machen: He wanted to be king. He was tired of waiting. He thought arsenic would work well.⁶⁹

Die verschiedenen Möglichkeiten, diese kurze Passage zu verstehen, haben ihren Ursprung in den Leerstellen der Satzsequenz. Wenn wir einmal annehmen, dass mit dem Pronomen „he“ stets dieselbe Person gemeint ist (schon das ist, strenggenommen, eine Kohärenzhypothese), dann besteht das Hauptproblem darin, dass der Text nicht explizit macht, worauf hier jemand wartet und wofür Arsen angeblich das beste Mittel ist. Vielleicht ohne es zu bemerken, füllen wir beim Lesen der drei Sätze die Lücken, um die Satzfolge als kohärente Handlungssequenz wahrnehmen zu können. Drei kohärenzstiftende Lesarten hatte ich vorgeschlagen: Ein überehrgeiziger Königssohn will seinen Vater vergiften; ein desperater Königssohn will sich selbst vergiften; eine nicht weiter bestimmbare dritte Person will entweder den König oder sich selbst vergiften.⁷⁰ Die meisten Leser werden nicht auf die dritte Lesart als Erstes kommen, sondern zunächst auf die erste, dann auf die zweite (oder umgekehrt). Warum? Weil wir solche Szenarien kennen, aus der Geschichte und aus Geschichten. In der ersten Variante (‚Ein Königssohn will den Vater vergiften‘) ist es das abstrakte Modell einer Vater-

 Gibbs 1994, S. 330.  Vgl. Kap. 1, S. 4– 6.

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mordgeschichte, das der Leser aktualisiert, um die Sequenz als kohärente zu prozessieren. Solche plot- oder handlungsbezogenen Modelle können verschiedenen Ursprungs sein. Sie können aus unserer alltäglichen, lebensweltlichen Erfahrung stammen, oder sie können selbst schon literarisch geformt sein (bei dem eben zitierten kurzen Text von Raymond Gibbs könnte man z. B. an Shakespeares ‚Macbeth‘ denken, wenn man ihn als die Darstellung eines Königsmords aus Machtgier versteht – der bei Shakespeare freilich nicht zugleich auch ein Vatermord ist).⁷¹ Im einen Fall kann man von „reality models“, im anderen von „literature models“ sprechen.⁷² Dasselbe hat Eco im Blick, wenn er zwischen „common frames“ und „intertextual frames“ unterscheidet. „Intertextual frames“ beziehen sich auf die Leseerfahrung des Rezipienten und sein literarisches Wissen, wozu insbesondere das Wissen um Gattungsregeln zählt.⁷³ Cullers Differenzierung zwischen der Naturalisierung durch Referenz auf die ‚reale‘ Welt („the real“) und der Naturalisierung durch Referenz auf kulturelle Codes und Diskurse („cultural vraisemblance“) gehört in diesen Zusammenhang.⁷⁴ Und auch die Possible-Worlds Theory mit ihrem „principle of minimal departure“ (Marie-Laure Ryan) erklärt die Konstruktion fiktionaler Welten in der Phantasie des Lesers mit dem Rückgriff auf solches alltagsweltliches Wissen.⁷⁵ Der Erzähltheorie dient die Vorstellung solcher Frames dazu, die kohärente Prozessierung narrativer Sequenzen im Rezeptionsakt zu beschreiben. Ursprünglich kommt sie aus der Kognitionswissenschaft und der Artificial Intelligence-Forschung. Diese unterscheiden zwischen Frames, Scripts und Schemata. Alle drei Termini zielen auf prototypisch organisierte Wissensbestände. Sie beschreiben Wissensrepräsentationen, die vergangene Erfahrungen speichern. Sie

 Natürlich ist ‚Macbeth‘ selbst nur die Dramatisierung eines Archetyps, der zum Sediment unseres kollektiven Unbewussten gehört; und nicht Macbeth oder seine Frau, Lady Macbeth, sondern dieses ist es, was uns dazu bringt, die Geschichte gerade so zu konkretisieren.  So Rimmon-Kenan 2002, S. 125.  Eco 1979, S. 20 – 22.  Siehe Culler 1975, S. 131– 160; vgl. auch die Idee der „kulturellen Codes“ in Barthes’ ‚S/Z‘ (Barthes 1987, S. 21– 24).  Das „principle of minimal departure“ – wahlweise auch „reality principle“ (Kendall Walton) oder „principle of mutual belief“ (ebenfalls Walton) genannt – besagt, dass Leser, die fiktionale Welten konstruieren, beim Auffüllen der Lücken im Text von einer Ähnlichkeit der fiktionalen Welt zu ihrer eigenen Erfahrungswirklichkeit ausgehen; vgl. Marie-Laure Ryan: Possible-Worlds Theory. In: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. Hrsg. von David Herman/Manfred Jahn/ Marie-Laure Ryan. London/New York 2005, S. 446 – 450, hier S. 447: „[…] when readers construct fictional worlds, they fill in the gaps in the text by assuming the similarity of the fictional world to their own experiential reality. This model can only be overruled by the text itself.“

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gehen auf konkrete, alltagsweltliche oder literarische Erfahrung zurück, sind aber abstrakt, insofern sie der bleibende Ein- oder Abdruck sind, den eine konkrete Erfahrung in der Erinnerung hinterlassen hat. Insofern sie abstrakt sind, können sie als Muster in neuen alltagsweltlichen oder literarischen Zusammenhängen aktualisiert werden. Solche Wissensrepräsentationen können entweder eine statische oder eine dynamische Form annehmen. Beziehen sie sich mehr auf räumlich und zeitlich begrenzte Situationen, sind sie eher statisch, und die Kognitionsforschung spricht von frames. ⁷⁶ Bezieht das gespeicherte Wissen sich hingegen mehr auf Handlungssequenzen, dann handelt es sich um eher dynamische Repräsentationen, und man spricht von scripts: ⁷⁷ „A script is similar to a frame in that it represents a set of expectations.“⁷⁸ Aber: „Frames differ from scripts in that frames are used to represent a point in time. Scripts represent a sequence of events that take place in a time sequence.“⁷⁹

 So definiert Marvin Minsky: A Framework for Representing Knowledge. In: Frame Conceptions and Text Understanding. Hrsg. von Dieter Metzing. Berlin/New York 1980 (Research in Text Theory 5), S. 1– 25, hier S. 1: „Here is the essence of frame theory: When one encounters a new situation […], one selects from memory a structure called a frame. This is a remembered framework to be adapted to fit reality by changing details as necessary. A frame is a data-structure for representing a stereotyped situation like being in a certain kind of living room or going to a child’s birthday party.“ Vgl. auch Teun A. van Dijk: Macrostructures. An Interdisciplinary Study of Global Structures in Discourse, Interaction, and Cognition. Hillsdale, NJ 1980a, S. 233: „we use the term to denote prototypical situations, backgrounds, environments, or contexts in which events and actions may take place“ (alle Hervorheb. im Original).  Die klassische Definition des Scripts in der kognitiven Psychologie stammt von Roger C. Schank/Robert P. Abelson: Scripts, Plans, Goals and Understanding. An Inquiry into Human Knowledge Structures. Hillsdale, NJ 1977 (The Artificial Intelligence Series), S. 41: „A script is a structure that describes appropriate sequences of events in a particular context. A script is made up of slots and requirements about what can fill those slots. The structure is an interconnected whole, and what is in one slot affects what can be in another. Scripts handle stylized everyday situations. They are not subject to much change, nor do they provide the apparatus for handling totally novel situations. Thus, a script is a predetermined, stereotyped sequence of actions that defines a well-known situation. Scripts allow for new references to objects within them just as if these objects had been previously mentioned; objects within a script may take ‚the‘ without explicit introduction because the script itself has already implicitly introduced them.“ Dazu van Dijk 1980a, S. 234: „The notion of ‚script‘ has more dynamic features. It is used here to denote prototypical episodes, that is, sequences of events and actions, taking place in frames“ (Hervorheb. im Original).  Dennis Mercadal: Script. In: Mercadal, Dictionary of Artificial Intelligence. New York 1990b, S. 255.  Dennis Mercadal: Frame. In: Mercadal, Dictionary of Artificial Intelligence. New York 1990a, S. 109 f., hier S. 109.

Muster, Modelle, Frames und Scripts

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Das in Frames und Scripts prototypisch organisierte Wissen ist Wissen darüber, wie Situationen, Szenen oder Episoden für gewöhnlich aussehen. Es umfasst nicht nur Handlungswissen, sondern auch psychologisches und soziales Wissen. Das heißt, es beinhaltet nicht nur, wie ein bestimmter Raum, zum Beispiel eine Bibliothek, eine Straße, eine Universität, aussieht oder wie man in einem Restaurant ein Essen bestellt, sondern auch, dass Menschen zornig werden können, wenn man sie beleidigt; dass sie traurig werden, wenn sie einen geliebten Menschen verlieren; dass sie in bestimmten Situationen einander auf eine bestimmte Art grüßen, und Ähnliches. Frame- und Scriptwissen bezieht sich darauf, was wir im Hinblick auf bestimmte (statische) Situationen, Ereignisse, Handlungen oder (dynamische) Sequenzen solcher Ereignisse und Handlungen für möglich, wahrscheinlich oder notwendig halten. Der dritte Begriff, der in diesem Zusammenhang oft gebraucht wird, ist der des ‚Schemas‘ in seiner kognitionswissenschaftlichen Prägung. Als vielleicht allgemeinster Begriff zur Bezeichnung prototypisch organisierter, kognitiver Repräsentationen meint ‚Schema‘ kognitive oder mentale Strukturen, vermittels derer alltagsweltliche Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Denkinhalte bewusst erfasst werden. Der Schemabegriff in diesem Sinne beinhaltet sowohl Frames als auch Scripts.⁸⁰ Die Schwierigkeiten einer erzähltheoretischen Verwendung dieses Schemabegriffs liegen jedoch vor allem in den verschiedenen konkurrierenden Bedeutungen, in denen ‚Schema‘ in der Literaturwissenschaft bereits gebraucht wird.⁸¹ Anders verhält es sich mit dem Script-Begriff. Da narrative Texte – in der Regel – die Darstellung von Handlungsfolgen beinhalten, hat er sich als erzähltheoretisch fruchtbar erwiesen. In Abgrenzung zu älteren, funktionsorientierten Ansätzen des Formalismus und des Strukturalismus bietet er eine weichere, weil weniger schematische Möglichkeit, um zu erklären, wie narrative Handlungsse-

 Siehe zur Abgrenzung der drei Begriffe auch van Dijk 1980a, S. 228 – 242; Jean M. Mandler: Stories, Scripts, and Scenes. Aspects of Schema Theory. Hillsdale, NJ 1984 (John M. MacEachran Memorial Lecture Series 1983); im Hinblick auf einen von den Cognitive Poetics angeregten Zugang zu mittelalterlicher Literatur auch Robert Mohr: Cognitive Poetics und mittelalterliche Literatur. Chancen einer Untersuchung mittelalterlicher Leseprozesse und schemabezogener Identitätsbildung. In: ZfdA 141 (2012), S. 419 – 433, hier S. 420 – 422.  Dazu etwa Hartmut Bleumer: Schemaspiele – ‚Biterolf und Dietleib‘ zwischen Roman und Epos. In: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 64), S. 191– 217, hier S. 191– 198.

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quenzen in literarischen Texten prozessiert werden.⁸² Scripts stellen imaginäre Muster dar, in denen für eine spezifische Situation ein bestimmtes pragmatisches, soziales oder psychologisches Handlungswissen niedergelegt ist, etwa für den Besuch eines Restaurants, um das berühmte Beispiel von Schank und Abelson zu zitieren. Auf diese Weise strukturieren Scripts größere Ereignis- und Handlungsabläufe in der Alltagswelt und erleichtern die kognitive Orientierung in bestimmten Handlungs- und Situationskontexten. Würde man die durch ein Script (z. B. das Restaurant- oder Supermarkt-Script) definierten Handlungsabläufe verbalisieren, erhielte man eine kurze Erzählung. Echtwelterfahrung ist insofern narrativ strukturiert und unterscheidet sich, wie vor allem die angloamerikanische Erzählforschung gezeigt hat, von der Erfahrungsdarstellung in literarischen Narrativen nur graduell, nicht kategorial.⁸³ Als außertextuelle Muster beruhen Scripts ja auch keinesfalls ausschließlich auf alltagsweltlicher Erfahrung, sondern sie können selbst schon aus der Rezeption literarischer oder anderer kultureller Medien gewonnen sein. Und insofern sowohl extratextuelle Scripts als auch literarische Texte narrative Organisationsformen aufweisen, lässt ihre Verknüpfung sich in beide Richtungen verfolgen: Scriptförmiges Handlungswissen aus alltagsweltlicher, literarischer oder wie immer gearteter Erfahrung spielt bei der kohärenten Verarbeitung textueller Phänomene im Rezeptionsprozess eine Rolle, aber man darf auch annehmen, dass die Produktion literarischer Texte sich solche „alltagsweltlich wirksame[n], narrativ organisierte[n] Erfahrungsmuster“ zunutze macht.⁸⁴ Natürlich gehen literarische Erzählwerke in der Aktualisierung solcher Erfahrungsmuster oder Scripts nicht auf, sondern unterlaufen sie immer wieder. David Herman knüpft an das Wechselspiel zwischen Script-Evokation und -Irritation sogar das Kriterium der Narrativität („narrativity“). Von der Dialektik von „canonicity and breach“ hat der Kognitionspsychologe Jerome Bruner in diesem Zusammenhang einmal gesprochen.⁸⁵ Bruners Diktum aufgreifend, weist Herman darauf hin, dass Erzähltexte umso weniger ‚narrativ‘ werden, je stereotyper sie  In diesem Sinne hat etwa Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, bes. S. 17– 41, die Script-Theorie zum Ausgangspunkt seines Konzepts des ‚Erzählkerns‘ gemacht.  Zerweck 2002, S. 222.  Diesen Untersuchungsweg geht, dem hiesigen entgegengesetzt, Müller 2007, S. 18: „Die für die Rezeption literarischer Texte erarbeiteten Ergebnisse stützen den hier vorgeschlagenen Ansatz, doch ist meine Untersuchungsrichtung die entgegengesetzte. Mir geht es nicht um die Formen der Verknüpfung von Textbefunden und Alltagserfahrung bei der Rezeption, sondern bei der Produktion literarischer Texte.“  Jerome Bruner: The Narrative Construction of Reality. In: Critical Inquiry 18 (1991), S. 1– 21, hier S. 11– 13.

Muster, Modelle, Frames und Scripts

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den durch sie aktivierten Scripts folgen.⁸⁶ Narrativität ist insofern eine graduelle Kategorie. Sie hängt an der Balance von Erwartung und Erwartungstransgression. Unter außertextuellen Mustern oder Modellen, die Rezipienten bei der Integration narrativer Texte anwenden, können also einerseits Muster verstanden werden, die der kohärenten Verarbeitung von Handlungssequenzen dienen. Auf einer anderen Ebene liegen hingegen jene Kohärenzbildungsstrategien, die nicht oder nicht ausschließlich auf Handlungsintegration gerichtet sind. Die Modelle, auf die Rezipienten hier Bezug nehmen, um Texte kohärent zu machen, stellen nicht mehr oder weniger abstrakte Repräsentationen bestimmter Ereignis- und Handlungsabläufe dar; sie sind keine vorgefertigten Handlungs-, sondern: Deutungsmuster: In diesem Sinne hat Tamar Yacobi fünf ‚Prinzipien‘ oder ‚Mechanismen‘ unterschieden, mit denen Rezipienten Inkongruenzen in Erzähltexten zu bewältigen versuchen:⁸⁷ Das existentielle („existential“) Prinzip bezieht Inkongruenzen auf die jeweiligen Wahrscheinlichkeitsregeln, die für eine fiktive Welt gelten und von alltagsrealistischen abweichen können. Das funktionale („functional“) Prinzip motiviert Inkonsistenzen im Hinblick auf den Zweck eines Werks (und kommt darin dem Konzept der finalen Motivierung nahe). Das generische („generic“) Prinzip versucht Inkonsistenzen aus den Rahmenbedingungen zu erläutern, die gattungsbedingt für die Gestaltung einer fiktiven Welt gelten (vom existentiellen Prinzip unterscheidet es sich darin, dass dieses nicht auf generisch verfestigte Modelle begrenzt ist – Gregor Samsas Verwandlung in einen Käfer etwa lässt sich kaum mit der Gattung des Textes begründen). Das perspektivische („perspectival“) Prinzip ermöglicht es dem Rezipienten, textuelle Inkongruenzen (im Hinblick auf Handlung, Logik, Wertvorstellungen etc.) als Anzeichen einer Uneinigkeit zwischen Erzähler und Autor zu verstehen. Das genetische („genetic“) Prinzip schließlich erklärt die Merkwürdigkeiten und Inkonsistenzen eines Textes aus seiner Genese oder Produktionsgeschichte.

 Herman 2002, S. 100 – 105.  Siehe zum Folgenden Yacobi 2005, S. 108 – 112.Yacobis Ansatz ist auch deshalb anregend, weil sie die Frage, wie Rezipienten Erzählungen naturalisieren, mit dem notorischen Problem des unzuverlässigen Erzählens verknüpft (zu diesem von Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1961, eingeführten Konzept siehe den hervorragenden Überblick in James Phelan: Living to Tell about It. A Rhetoric and Ethics of Character Narration. Ithaca, NY/London 2005, S. 31– 65, bes. S. 38 – 49). Yacobi behandelt das unzuverlässige Erzählen als ein Problem literarischer Kommunikation und grenzt sich damit vom Gros derjenigen Ansätze ab, die das Phänomen im Rahmen eines quasimenschlichen Modells des Erzählers und/oder eines quasiolympischen Modells des Autors behandeln – statt, wie es angezeigt erscheint, im Rahmen der textorganisierenden Tätigkeit des Rezipienten („the reader’s organizing activity“, S. 119); vgl. dazu auch Tamar Yacobi: Fictional Reliability as a Communicative Problem. In: Poetics Today 2 (1981), S. 113 – 126.

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Narration und Kognition

Anders als frames und scripts im oben erläuterten Sinne betreffen diese Naturalisierungsstrategien zwar auch die kohärente Prozessierung der Handlungsfolgen eines Textes. Aber sie gehen darin nicht auf oder sogar entschieden darüber hinaus. Das gilt besonders für die beiden letzten Prinzipien, das perspektivische und das genetische. Während ein Leser (oder Hörer), der das perspektivische Prinzip anwendet, Inkohärenzen zwar nicht mehr handlungs-, aber noch textintern aufzulösen versucht (nämlich auf der Ebene der Darstellung oder des discours), nimmt das genetische Prinzip ausschließlich zu textexternen Erklärungen Zuflucht.⁸⁸ Die unterschiedlichen Terminologien, die die Erzähltheorie verwendet, um zu beschreiben, wie Leser oder Hörer einen narrativen Text als kohärent zu verarbeiten suchen, zeigen, dass das Kohärentmachen von Erzählung sich auf verschiedenen Ebenen vollzieht, die nicht durch einen zu allgemeinen Begriff des framing vernebelt werden sollten.⁸⁹ Auf der Ebene der Handlung erfolgt es durch Referenz auf bewusstes oder unbewusstes Erfahrungswissen; Wissen, das in der Erinnerung geronnen ist zu statischen oder dynamischen Handlungsmustern (frames bzw. scripts) und sich speist aus Echtwelt- oder Kunstwelterfahrung. Auf der Ebene des Textganzen als der Gesamtheit von Dargestelltem und Darstellung, histoire und discours geschieht die Textintegration durch Referenz auf Deutungsmuster wie zum Beispiel: von einer Uneinigkeit zwischen Autor- und Erzählerstimme ausgehen; den Text als ironisch oder parodistisch verstehen; eine Korruption oder Kontamination des Textes im Verlauf seiner Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte annehmen.⁹⁰ Dabei weiß jeder Leser aus eigener Erfahrung, dass das Kohärenzbedürfnis sehr stark und der Leser zu einigen Kompromissen bei der Gestaltung seiner Lektürehypothesen (ich ziehe den Begriff der

 In den Zusammenhang von „models of coherence“, die Kohärenz nicht (mehr) auf der Ebene der erzählten Welt herzustellen versuchen, gehören auch die vierte und fünfte der von Culler 1975, S. 150, 159 f., genannten Naturalisierungsstrategien: Naturalisierung durch Referenz auf vom Text selbst angezeigte Abweichungen von literarischen Konventionen bzw. dadurch, dass der Text als Parodie oder Ironie verstanden wird.  Treffend kritisiert van Dijk 1980a, S. 234: „the notion of ‚frame‘ […] would become virtually meaningless or too general if it would apply to conceptual organization tout court.“  Zur Unterscheidung zwischen Handlungs- und Deutungsmustern siehe aus soziologischer Sicht auch Hans-Georg Soeffner: Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Frankfurt a. M. (stw 785), S. 18. Auf eine ähnliche Differenzierung beziehen sich Carol Fleisher Feldman u. a.: Narrative Comprehension. In: Narrative Thought and Narrative Language. Hrsg. von Bruce K. Britton/Anthony D. Pellegrini. Hillsdale, NJ 1990, S. 1– 78, hier S. 2 f., wenn sie im Anschluss an Adam Morton zwischen handlungs- bzw. kausalitätsbezogener „explanation“ und bewusstseinsbezogener „interpretation“ im Umgang mit Erzählungen trennen.

Muster, Modelle, Frames und Scripts

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Hypothese dem Perry’schen des frames vor) bereit ist, ehe er sich durch nicht mehr kohärent integrierbare Textelemente gezwungen sieht, eine einmal gebildete Hypothese zu ändern oder die Integration auf einer ganz anderen Ebene zu suchen.Wo der Rezipient Inkonsistenzen textgenetisch zu erklären versucht, kann von einem Kohärentmachen im eigentlichen Sinne auch schon nicht mehr die Rede sein. Dabei ist die entscheidende Frage: Lässt sich angeben, wo wir genetisch argumentieren dürfen oder sogar müssen, um Kohärenzstörungen in einem Erzähltext zu erklären? Oder umgekehrt: Lässt sich angeben, wo wir auf eine solche Erklärung gerade verzichten und (tatsächliche oder vermeintliche) Inkohärenzen mit guten Gründen textintern bewältigen können? Das ist der Unterschied zwischen einem diachronen und einem synchronen Ansatz der Textintegration. Beide Fragen sind vor allem für vorneuzeitliche Texte von einigem Belang, und sie betreffen dabei keinesfalls nur mittelalterliches Erzählen. Mehr noch als die literaturwissenschaftliche Mediävistik hat, zum Beispiel, die alttestamentliche Text- und Literarkritik in ihrer Analyse der Erzählungen des Alten Testaments anhand von Kohärenzstörungen eine feingliedrige Methodik zur Ermittlung von ‚Wachstumsschichten‘ innerhalb eines Textes und zur Beurteilung seiner literarischen Integrität entwickelt.⁹¹ Eine Antwort auf die gestellten Fragen lässt sich nur (und erst) geben, wenn man weiß, mit welchen Verknüpfungsformen und Kohärenzstandards historische Hörer oder Leser vertraut waren. Die Vorstellung von frames oder scripts kann dazu beitragen, die Prozessierung narrativer Handlungssequenzen in Erzähltexten zu verstehen. Frames bzw.

 Für einen Überblick siehe Uwe Becker: Exegese des Alten Testaments. Ein Methoden- und Arbeitsbuch. 3. Aufl. Tübingen 2011 (Uni-Taschenbücher 2664), S. 16 – 65, sowie Helmut Utzschneider/Stefan Ark Nitsche: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments. Gütersloh 2001, S. 59 – 112. Dabei ist das Interesse an einem synchronen neben dem traditionell diachronen Zugang in jüngerer Zeit deutlich gewachsen und wird dem zweifellos nach wie vor berechtigten, die Wachstumsgeschichte eines Textes rekonstruierenden Ansatz in der Tradition Julius Wellhausens und seiner Schule ein solcher zur Seite gestellt, der vom Endtext als einer kohärenten Größe ausgeht. Das geht einher mit der Erkenntnis, dass Kohäsion der Textoberfläche und Kohärenz der Texttiefenstruktur nicht immer vollkommen zusammenstimmen und Inkohärenz und Inkohäsion nicht Unfälle der Überlieferung sein müssen, sondern auch Kunstmittel sein können; als Beispiel für einen solchen synchronen Zugang zu alttestamentlichem Erzählen: Michael Konkel: Ezechiel – Prophet ohne Eigenschaften. Biographie zwischen Theologie und Anthropologie. In: Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament. Hrsg. von Christian Frevel. Freiburg i. Br. u. a. 2010 (Quaestiones disputatae 237), S. 216 – 242. Sehr viel früher, nämlich schon Mitte der 1980er-Jahre, hat der israelische Erzählforscher Meir Sternberg einen solchen Zugang gewagt; siehe Sternberg 1985.

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scripts können erklären, auf welche Weise und in welchem Sinne Rezipienten Lücken und Leerstellen im Handlungsgefüge einer Erzählung auffüllen; sie helfen Motivationen zu ergänzen, die der Text, wie in Gibbs’ Beispiel, unbestimmt lässt. Auch können sie Erwartungen des Rezipienten im Hinblick auf den Fortgang einer Geschichte erklären – Erwartungen, die im Frame- oder Scriptwissen hinterlegt sind und auf den Erzählverlauf prognostiziert werden, bis dieser eines anderen belehrt und zur Anpassung der Rezeptionshypothese auffordert. Sie können insofern das Verständnis motivationaler Inkohärenzen erleichtern. Schwieriger ist es hingegen, mit solchen prototypischen Erzählmustern solche Inkohärenzen zu naturalisieren, die ich als existentielle bezeichne.⁹² Denn hier geht es nicht um das Auffüllen oder Nachtragen fehlender Informationen, sondern um die logische, irgendwie sinnhafte Verarbeitung alternativer, gelegentlich sogar widerstreitender Textangaben, die die seinsmäßige Beschaffenheit der erzählten Welt betreffen (eine Figur kann nicht gleichzeitig tot und lebendig, nicht zugleich Bettelmann und König sein etc.). Frames oder Scripts sind in der Regel nicht nur zu handlungsorientiert, sondern auch zu abbreviaturenhaft, zu wenig komplex und zu sehr situativ begrenzt, um solche Textverhältnisse zu bewältigen.⁹³ Dasselbe gilt für Inkohärenzen perspektivischer oder diskursiver Art. Sie liegen vollends außerhalb dessen, was scripttheoretische Ansätze erklären können und wollen: einmal, weil sie primär auf die Handlungsebene von Erzählung abheben, zum anderen – was damit zusammenhängt –, weil sie Inkohärenzen, die sich aus der spezifischen Gemachtheit von Erzählung mit ihrem potentiellen Widerspiel unterschiedlicher Perspektiven oder dem Kurzschluss ontologisch getrennter Ebenen, zum Beispiel von Handlungs-, Diskurs- und Rezeptionsebene, ergeben, nicht gerecht werden können.

 Siehe dazu Kap. 1.3.  Das zeigen auch kognitionspsychologische Studien zur mentalen Verarbeitung literarischer Erzählungen. Eine interessante Studie dieser Art ist die von Fleisher Feldman u. a. 1990. Den Teilnehmern wurden Texte von Brendan Gill, Heinrich Böll, James Joyce und Kate Chopin laut vorgelesen. Dann wurden sie u. a. aufgefordert, das Wesentliche der Geschichten („the gist“) wiederzugeben. Dabei ließ sich beobachten, dass die Hörer die Geschichten auf irgendein einfaches, allgemeines Muster bezogen, das sie kannten und in den Geschichten wiederzufinden versuchten. Literarisches Erzählen ist einerseits auf solche Muster angewiesen; andererseits aber macht es sie in einer Weise komplex, die in solchen habitualisierten Mustern alltagsweltlicher oder auch kunstweltlicher Erfahrung nicht abgebildet ist.

Erzähllogiken als Ausdruck kognitiver Strukturen

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2.6 Erzähllogiken als Ausdruck kognitiver Strukturen Was ergibt sich daraus für die Beschreibung mittelalterlicher Erzähllogiken als Ausdruck kognitiver Strukturen? Dreierlei scheint mir wichtig: Erstens: Auszugehen ist von einem Kognitionsbegriff, der nicht allein auf die mentale Verarbeitung der dargestellten Situationen und Handlungssequenzen durch den Rezipienten abhebt, sondern der ganzheitlich auf die bewusstseinsmäßige Prozessierung von Erzähltem ausgerichtet ist und dabei das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen von Erzählung, insbesondere zwischen Handlung, Darstellung und dem pragmatischen Rahmen der Textrezeption miteinbezieht. Das bedeutet zweitens: Neben Handlungsmustern, wie sie unter anderem in vorgängigem Frame- oder Scriptwissen niedergelegt sind, sind die Deutungsmuster zu berücksichtigen, die historischen Rezipienten für ihren Umgang mit mehrdeutigen, widersprüchlichen oder sonstwie inkonsistenten Textverhältnissen bzw. -aussagen zu Gebote standen. Sowohl Handlungs- als auch Deutungsmuster sind, als kognitive Konzepte, relationale Entwürfe im weitesten Sinne: Sie dienen dazu, zwischen Texteinheiten eine Beziehung herzustellen, sie zueinander ins Verhältnis zu setzen, und zwar auf der formalen Ebene der Zeichen (der Oberflächenstruktur des Textes) und/oder der thematischen Ebene seiner Inhalte (der Tiefenstruktur).⁹⁴ Im Bereich der Handlungsmuster sind solche relationalen Entwürfe zum Beispiel kausale Modelle, die Ursache-Wirkung-Zusammenhänge abbilden – man denke an Ernst Cassirers Beschreibung des Kausalitätsverständnisses im mythischen Denken –, oder motivationale Modelle wie Clemens Lugowskis ‚Motivation von hinten‘. Sie liegen auch Frames und Scripts bzw. den in ihnen niedergelegten Situationen oder Handlungsabläufen zugrunde (z. B. in der Art, wie ein Erzählmuster Handlungsbestandteile korreliert und motiviert). Im Bereich der Deutungsmuster gehören dazu nicht nur Prinzipien wie das ‚genetische‘, ‚generische‘, ‚existentielle‘ oder ‚funktionale‘ (Tamar Yacobi), die dazu dienen, divergierende oder anderweitig unzusammenhängende Elemente zueinander ins Verhältnis zu setzen, sondern es gehören dazu auch hermeneutischsemantische Verfahren im engeren Sinne: Konzepte wie Metapher, Metonymie oder Analogie, die Verknüpfungen durch Übertragung herstellen.⁹⁵ Dabei können

 Siehe zu dieser aus der Textlinguistik kommenden Unterscheidung Utzschneider/Nitsche 2001, S. 60 f.  Von solchen figurativen Konzepten wurde behauptet, dass sie wichtige kognitive Aufgaben in der Strukturierung von Wirklichkeitswahrnehmung und -erfahrung erfüllten und dass zwischen den kognitiven Prinzipien des Alltagsdenkens und des literarischen Denkens daher kein grundsätzlicher Unterschied bestehe; siehe etwa Gibbs 1994, S. 1: „Metaphor, metonymy, irony, and

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sich Unterschiede zu neuzeitlichen Standards textueller Integrität und Kohärenz sowohl in der Art als auch in der Reichweite ergeben, die für bestimmte Prinzipien der Textintegration gelten. Drittens schließlich: Die historisch adäquate Beschreibung mentaler Repräsentationen von Verknüpftheit in und anhand von Erzähltexten setzt voraus, nicht nur intratextuelle, sondern auch extratextuelle Faktoren einzubeziehen. Neben den werkfunktionalen, gattungspoetischen, erzähltechnischen oder textgenetischen Prämissen gilt das vor allem für die medialen und pragmatischen Bedingungen der Textrezeption. Denn ob man etwas hört, sieht und/oder liest und unter welchen räumlichen, zeitlichen oder situativen Umständen das geschieht, beeinflusst die Wahrnehmung und kognitive Modellierung des Erzählten ganz erheblich.⁹⁶ Im Hinblick auf die grundsätzlich episodische Verfasstheit mittelalterlicher volkssprachiger Erzählliteratur konnte das besonders die Forschung zum heldenepischen Erzählen zeigen. In einem Erzählen, das entweder aus der Mündlichkeit kommt und/oder in dem Mündlichkeit als Basismedium der Textrezeption fungiert, gelten für die mentale Repräsentation und Prozessierung von Literatur andere Voraussetzungen und Umstände als in einer Zeit, in der die Schriftlichkeit die Mündlichkeit als das primäre Medium der Rezeption dichterischer Werke abgelöst hat.⁹⁷

other tropes are not linguistic distortions of literal mental thought but constitute basic schemes by which people conceptualize their experience and the external world.“ Ähnlich die Arbeiten von Mark Turner: Reading Minds. The Study of English in the Age of Cognitive Science. Princeton, NJ 1991, und ders.: The Literary Mind. New York/Oxford 1996, sowie George Lakoff/Mark Turner: More than Cool Reason. A Field Guide to Poetic Metaphor. Chicago/London 1989.  Das kognitionswissenschaftliche Interesse meiner Arbeit ist insoweit nicht zu verwechseln mit anderen Interessenrichtungen der Cognitive Literary Studies. Insbesondere ist es abzugrenzen von der sogenannten Theory of Mind (ToM), die sich damit beschäftigt, wie Leser das Bewusstsein fiktionaler Figuren lesen und Figurenpsychologie(n) entwerfen; vgl. dazu etwa Alan Palmer: Fictional Minds. Lincoln/London 2004 (Frontiers of Narrative); Lisa Zunshine: Why We Read Fiction. Theory of Mind and the Novel. Columbus, OH 2006 (Theory and Interpretation of Narrative); Paula Leverage u. a. (Hrsg.): Theory of Mind and Literature.West Lafayette, IN 2011. Es gibt aber Überschneidungen zwischen beiden Ausrichtungen, wenn zutrifft, was David Herman: Cognition, Emotion, and Consciousness. In: Herman (Hrsg.), The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge/New York 2007, S. 245 – 259, hier S. 245, schreibt: „analyzing fictional minds […] entails giving an account of readers’ minds, too – of how readers interpret particular textual details as information about characters’ attempts to make sense of the world around them.“  So hat etwa Harald Haferland: Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter. Göttingen 2004, S. 357– 373, am Beispiel des ‚Nibelungenlieds‘ und der Dietrichepik – strophischer Heldendichtung also – gezeigt, dass die parataktisch reihende Gliederung in episodische Erzählabschnitte einer Ökonomie des Gedächtnisses entspricht –

Erzähllogiken als Ausdruck kognitiver Strukturen

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Man kann mit guten Gründen annehmen, dass diese kognitiven Voraussetzungen den Texten in der Konfiguration ihrer Elemente eingeschrieben sind und dass sie eben deshalb vom Rezipienten aktualisiert oder konkretisiert werden können.⁹⁸ In diesem Sinne lassen sich narrative oder, allgemeiner gesagt, textuelle Verfahren als historisch und kulturell spezifische Ausprägungen von Formen des menschlichen Wahrnehmens, Erkennens und In-Beziehung-Setzens beschreiben. Literarisches Erzählen ist – das haben sowohl kognitionspsychologische als auch erzähltheoretische Studien gezeigt – in dieser Hinsicht von nichtliterarischem Erzählen, zum Beispiel mündlichem, in Konversation eingebettetem Alltagserzählen, zwar durch die Komplexität der vorzunehmenden kognitiven Operationen, aber nicht dem Wesen nach unterschieden.⁹⁹ Diese Beobachtung sollte allerdings nicht dazu verführen, aus den kognitiven Formen, derer sich Erzähltexte bedienen, ohne Weiteres auf universale anthropologische Strukturen zu schließen, auch wenn die behauptete Nähe zwischen Alltags- und literarischer Erzählung einer solchen Schlussfolgerung Vorschub leisten kann. Die Frage nach historischen Formen des Wahrnehmens und In-Beziehung-Setzens in narrativen Texten steht diesbezüglich in einer Spannung zwischen anthropologischen und poetogenen Strukturen.¹⁰⁰ Anthropologisch wären solche, für die man eine Geltung auch außerhalb des Bereichs poetischer Diskurse annehmen könnte. In diese Richtung gehen beispielsweise die Überlegungen von Harald Haferland zu Verschiebung, Verdichtung und Vertretung als charakteristischen kognitiven Operationen in der mittelhochdeutschen Erzählliteratur.¹⁰¹ Auf diese Seite gehört aber etwa auch, was Karl Bertau als zwei „historische Formen von Vernünftigkeit“ unterschied: eine sukzessiv-zeitliche Logik, die in Kategorien denkt, „die der

dessen, ‚was man sich auf einmal merken kann‘. Diese Ökonomie des Gedächtnisses bleibt als narrativer Usus erhalten, auch nachdem die Schriftlichkeit die Mündlichkeit verdrängt hat.  Siehe dazu die Ausführungen zum ‚impliziten Rezipienten‘ im Einleitungskapitel, Abschnitt 1.4.  Grundlegend sind vor allem die Arbeiten von Jerome Bruner: Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge, MA/London 1986 (The Jerusalem-Harvard Lectures); ders.: Acts of Meaning. Cambridge, MA/London 1990 (The Jerusalem-Harvard Lectures); außerdem Polkinghorne 1998; Jürgen Straub: Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Hrsg. von Jürgen Straub. Frankfurt a. M. 1998 (stw 1402), S. 81– 169; aus narratologischer Sicht besonders Fludernik 1996.  Zur Begrifflichkeit vgl. Rüdiger Zymner: Poetogene Strukturen, ästhetisch-soziale Handlungsfelder und anthropologische Universalien. In: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Hrsg. von Rüdiger Zymner/Manfred Engel. Paderborn 2004 (Poetogenesis), S. 13 – 29.  Siehe vor allem Haferland 2008 und 2009.

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Narration und Kognition

verlaufenden Form von Zeit angebildet sind“, und eine simultan-räumliche, die räumlichem Vorstellen verpflichtet ist und Verräumlichung gestattet – wobei Bertau die Zeit um 1200 als eine Zeit des Umbruchs von sukzessiv-zeitlicheschatologischem zu simultan-räumlich-enzyklopädischem Denken beschrieb.¹⁰² Auf der anderen Seite steht das, was ich als ‚narrative Kognition‘ bezeichne: Formen der mentalen Repräsentation und bewusstseinsmäßigen Prozessierung von Strukturen, die sich in mittelalterlichen Erzähltexten finden, und zwar solchen, die wir heute ‚literarisch‘ nennen. Hier geht es um Formen, die nicht unabhängig von den historisch und kulturell spezifischen Bedingungen der Produktion und, mehr noch, der Rezeption volkssprachiger Literatur im 12. Jahrhundert zu betrachten sind. Solche Formen stehen im Zentrum der folgenden Kapitel; von welchen Voraussetzungen in dichtungstheoretischer Hinsicht mittelalterliche Autoren dabei ausgehen konnten, davon handelt das dritte.

 Karl Bertau: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200. München 1983, S. 15 – 18, 19 – 23, die Zitate S. 15 und 17. Bertau nimmt dabei ein Hin und Her zwischen beiden Formen der Logik im geschichtlichen Verlauf an und sieht sie in engem Zusammenhang zur jeweiligen historischen Situation: „Ohne Zweifel modern ist heute der simultanlogische Diskurs. Simultanlogisch ist auch die Struktur der verwalteten Welt, in der wir leben“ (S. 16).

3 Narrationis contextus: Erzähllogik und narrative Kohärenz in der mittelalterlichen Dichtungstheorie Welche Vorstellungen hatten mittelalterliche Autoren von der Kohärenz dichterischer Werke? Ist ‚Kohärenz‘ überhaupt ein Thema, das die Dichter beschäftigte, und zwar nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch? Diese Fragen sind aus mehreren Gründen wichtig: Zum einen ist es einer historisch differenzierenden Erzähltheorie gemäß, von den poetologischen Voraussetzungen auszugehen, die in einer und für eine Zeit je galten und von denen wir daher annehmen können, dass sie zeitgenössische Erwartungen an die Gestaltetheit erzählender Werke mit geprägt haben. Zum anderen lässt sich erst vor dem Hintergrund zeitgenössischer Vorstellungen von narrativer Kohärenz genauer bestimmen, worin das, was an den Logiken mittelalterlichen Erzählens ‚anders‘ ist, jeweils seinen Ursprung hat: ob es sich Unterschieden in der Prozessierung narrativer Sequenzen verdankt, die eher allgemein anthropologischer oder eher spezifisch literarischer Natur sind. In diesem Kapitel soll daher der mittelalterliche Stand der Reflexion darüber rekonstruiert werden, wie man kohärent und schlüssig erzählt.¹ Dazu könnte man zum einen an metapoetischen Aussagen in erzählenden Texten selbst ansetzen, Einschaltungen etwa, in denen ein Erzähler sein Erzählprogramm erläutert, erklärt, warum er so und nicht anders erzählt, oder in denen er kritisch auf handlungslogische Unstimmigkeiten in seiner Vorlage hinweist. Beispiele dafür wären Thomas von Britannien, der in seinem ‚Tristran‘ die von Béroul überlieferte Version des Todes Tristrans aus Gründen der Unwahrscheinlichkeit und historischen Ungenauigkeit zurückweist;² oder auch Gottfried von Straßburg, der in seinem Tristanroman die sogenannte Schwalben-Episode der Béroul’schen Fassung, wonach eine Schwalbe aus Cornwall nach Irland geflogen sei, um dort ein Frauenhaar zum Nestbau zu nehmen, und es wieder zurück übers Meer getragen habe, als ganz unwahrscheinlich abtut; denn sei jemals eine Schwalbe für Baumaterial übers Meer in ferne Länder geflogen, wenn sie es doch auch vor Ort habe  Das Kapitel ist bereits gesondert erschienen als Christian Schneider: Narrationis contextus. Erzähllogik, narrative Kohärenz und das Wahrscheinliche in der Sicht der hochmittelalterlichen Poetik. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. von Florian Kragl/Christian Schneider. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 13), S. 155 – 186; für das Buch habe ich es überarbeitet und erweitert.  Siehe Thomas von Britannien: Tristran. Hrsg. von Stewart Gregory. New York 1991 (Garland Library of Medieval Literature 78), V. 2121– 2153. https://doi.org/10.1515/9783110593105-004

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finden können?³ Ein weiteres Beispiel wäre das ‚Programm‘ eines kohärenten Erzählens, das Konrad von Würzburg im Prolog seines ‚Trojanerkriegs‘ entwirft, wenn er ankündigt: ich büeze im [dem buoch von Troie, C. S.] sîner brüche schranz (V. 269, 276), und zwar mit rîmen und mit worten lûter unde glanz (V. 268, 275) – Konrad will den „Brüchen“ und „Rissen“ seiner Vorlage also mit poetisch-rhetorischen Mitteln beikommen.⁴ Jedoch sind, soweit ich sehe, derartige Äußerungen in der mittelhochdeutschen Literatur nicht so zahlreich und auch nicht so einlässlich, als dass sich aus ihnen eine mittelalterliche Theorie narrativer Logik ergeben würde. Aussagekräftiger für eine Beschreibung zeitgenössischer Vorstellungen von der narrativen Konsistenz eines Werkes der Dichtkunst sind demgegenüber die Stellungnahmen, die sich, zumeist auf Latein verfasst, in der gelehrten Literaturtheorie des Mittelalters finden, und hier vor allem in zwei Texttraditionen: in der antiken Literaturkommentierung – der sogenannten lectio auctorum und der Accessus-Literatur – und in den antik-mittelalterlichen Poetiken und Lehren der Rhetorik. In die neuen Artes poeticae, die vor allem in Nordfrankreich im Umfeld der Schulen von Chartres, Paris, Orléans und Tours entstanden, mündete im 12. und 13. Jahrhundert die antike und frühmittelalterliche Tradition des Nachdenkens über Fragen der Poetik und der rechten Art des Erzählens. Die volkssprachige Dichtungspraxis der Zeit vor dem Hintergrund dieser gelehrten Theorietradition zu betrachten, versteht sich nicht von selbst: Gibt es überhaupt einen Zusammenhang zwischen der lateinischen Poetologie und der volkssprachigen, insbesondere der deutschen Literaturproduktion? Inwieweit wurden zum Beispiel die nordfranzösischen Artes poeticae im deutschsprachigen Raum überhaupt rezipiert? Das sind wichtige Fragen, und ich komme am Ende dieses Kapitels auf sie zurück. Schon allein die „theoretische Dominanz“, die die lateinischsprachige Poetologie im Mittelalter unbestritten hatte,⁵ macht es jedoch unerlässlich, diese Poetologie in die Untersuchung historischer Erzähllogiken einzubeziehen. Es soll in diesem Kapitel nicht rekonstruiert werden, was einzelne

 Siehe V. 8605 – 8632 in Gottfrieds ‚Tristan‘.  Zitiert gemäß Konrad von Würzburg: ‚Trojanerkrieg‘ und die anonym überlieferte Fortsetzung. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Heinz Thoelen/Bianca Häberlein. Wiesbaden 2015 (Wissensliteratur im Mittelalter 51); siehe dazu Elisabeth Lienert: Widerspruch als Erzählprinzip in der Vormoderne? Eine Projektskizze. In: PBB 139 (2017), S. 69 – 90, hier S. 83 f., und Esther Laufer: Das Kleid der triuwe und das Kleid der Dichtung. mære erniuwen als Verfahren stilistischer Erneuerung bei Konrad von Würzburg. In: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf. Hrsg. von Elizabeth Andersen u. a. Berlin/Boston 2015, S. 157– 175, bes. S. 172– 174.  So Rüdiger Brandt/Simone Loleit: Poetik. In: HWRh 6 (2003), Sp. 1304– 1393, hier Sp. 1315.

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deutsche Erzähler an poetologischen Werken gekannt und verwendet haben könnten, sondern es geht um eine Beschreibung dessen, was im Mittelalter, genauer: in der mittelalterlichen Dichtungslehre und Literaturtheorie im Hinblick auf die Kohärenz einer Erzählung überhaupt gedacht werden konnte und formuliert wurde. Dabei zeigt sich schnell: Die mittelalterliche Theorie bewegt sich in Bahnen, die im zweiten Kapitel im Zusammenhang mit der aristotelischen Vorstellung von der Einheit des dichterischen Werks schon beschrieben wurden.⁶ Das bedeutet, dass die lateinisch schreibenden Poetiker und Rhetoriker die motivationalen Beziehungen zwischen den Teilen einer Dichtung in den Vordergrund stellten; es ging ihnen insbesondere um die temporale Anordnung und kausale Verknüpfung der einzelnen Teile einer dargestellten Handlung. Die temporale Organisation der Handlungsdarstellung war in der mittelalterlichen Poetik Gegenstand der Lehre von den beiden ‚Ordnungen des Erzählens‘ (ordines narrandi): der ‚natürlichen‘ (naturalis) und der ‚künstlichen‘ (artificialis). Um diese Lehre und die in ihrem Zusammenhang formulierten Vorstellungen ‚logischen‘ Erzählens muss es daher als Erstes gehen.

3.1 Die Lehre von den ordines narrandi Die ‚Rhetorica ad Herennium‘, Ciceros ‚De inventione‘ und die Poetik des Horaz – das sind die Schriften, die das mittelalterliche Nachdenken über literarische Erzähl- und Darstellungsverfahren am stärksten beeinflusst haben. Horaz’ ‚Ars Poetica‘ war dem Mittelalter früher bekannt als die aristotelische Poetik. Besonders in ihren Ausführungen über die rechte Art, einen vorgegebenen oder eigens erfundenen Stoff zu erzählen, bezogen sich die mittelalterlichen Autoren und Kommentatoren auf ihn. Mit dem römischen Dichter wurde dabei auch jene Unterscheidung verbunden, in deren Zusammenhang man Aussagen zur kohärenten Verknüpfung von Handlungs- oder Erzählelementen vielleicht am ehesten erwarten würde: die Unterscheidung zwischen den beiden Prinzipien des ordo naturalis und des ordo artificialis. Das Mittelalter hat diese schon bei Cicero und in der ‚Rhetorica ad Herennium‘ angelegte Lehre von der gedanklichen oder zeitlichen Abfolge der Teile einer Rede in die poetologische Terminologie übernommen. In der Dichtungstheorie bezieht sie sich nicht auf die Abfolge der Teile einer Rede, sondern auf die Darstellung der Ereignisfolge in der narratio: entweder eine der historischen, faktischen Ereignisfolge entsprechende Darstellung (ordo na-

 Siehe Kap. 2.1.

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turalis) oder eine ihr nicht entsprechende epische oder dramatische Darstellung (ordo artificialis oder artificiosus). In diesem Sinne haben die mittelalterlichen Horaz-Kommentare die rhetorischen Begriffe auf die narrative Stofforganisation übertragen: Nota duos esse ordines narrandi: alter naturalis, alter artificialis dicitur. Naturalis ordo est quando res eo ordine quo gesta est narratur, et servit historiographis. Artificialis est qui in quodam artificio consistit et rapit auditorem in mediam materiam, et servit poetis ut Virgilio et Terentio et aliis. (42,2– 5)⁷ Merke, dass es zwei Ordnungen des Erzählens gibt: die eine nennt man die natürliche, die andere die künstliche. Die natürliche Ordnung liegt vor, wenn eine Sache in der Reihenfolge erzählt wird, in der sie sich zugetragen hat; sie wird von den Geschichtsschreibern gebraucht. Künstlich ist diejenige, die auf einem gewissen Kunstgriff beruht und den Hörer in die Mitte des Stoffs reißt; sie wird von Dichtern wie Vergil, Terenz und anderen gebraucht.

So formulieren es etwa die anonymen ‚Glose in Poetriam Horatii‘, ein wahrscheinlich in der Mitte des 12. Jahrhunderts verfasster französischer Kommentar, für den Karsten Friis-Jensen nach seinem Incipit Materia huius auctoris den Begriff ‚Materia‘-Kommentar eingeführt hat.⁸ Etwas ausführlicher liest man dasselbe in den ‚Scholia Vindobonensia‘, Horaz-Scholien des 11. Jahrhunderts, von denen der ‚Materia‘-Kommentar über eine vermittelnde Quelle (den ‚Anonymus Turicensis‘?) wohl abhängig ist: Omnis ordo aut naturalis aut artificialis est. naturalis ordo est, si quis narret rem ordine quo gesta est; artificialis ordo est, si quis non incipit a principio rei gestae, sed a medio, ut Virgilius in Aeneide quaedam in futuro dicenda anticipat et quaedam in praesenti dicenda in posterum differt. (S. 5, Z. 5 – 9)⁹

 Zitiert aus den ‚Glose in Poetriam Horatii‘, dem sogenannten ‚Materia‘-Kommentar, ediert bei Karsten Friis-Jensen: The ‚Ars Poetica‘ in Twelfth-Century France. The Horace of Matthew of Vendôme, Geoffrey of Vinsauf, and John of Garland. In: CIMAGL 60 (1990), S. 319 – 388, hier S. 336 – 384; dazu auch ders.: Addenda et Corrigenda to CIMAGL 60 1990 319 – 88: Karsten FriisJensen, The Ars Poetica in Twelfth-Century France. In: CIMAGL 61 (1991), S. 184. Für alle Übersetzungen aus dem Lateinischen liegt, wenn nicht anders angegeben, die Verantwortung bei mir.  Friis-Jensen 1990, S. 319; siehe dazu und zur mittelalterlich-frühneuzeitlichen Horaz-Rezeption auch Karsten Friis-Jensen: The Medieval Horace. Hrsg. von Karin Margareta Fredborg u. a. Rom 2015 (Analecta Romana Instituti Danici, Suppl. 46).  So die Scholia Vindobonensia ad Horatii Artem Poeticam. Hrsg. von Joseph Zechmeister. Wien 1877, zu V. 45 der ‚Ars Poetica‘ des Horaz. Zechmeister hatte diese Horaz-Scholien in der Einleitung zu seiner Edition in das 9. Jahrhundert datiert. Fredborg und Friis-Jensen halten das 11. Jahrhundert für wahrscheinlicher; siehe Friis-Jensen 1990, S. 322, mit dem Verweis auf Karin Margareta Fredborg, die als Erste für die spätere Datierung plädierte, sowie ders.: Medieval Commentaries on Horace. In: Medieval and Renaissance Scholarship. Proceedings of the Second

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Jede Ordnung ist entweder natürlich oder künstlich. Natürlich ist die Ordnung, wenn man die Sache in der Reihenfolge erzählt, in der sie sich begeben hat; künstlich ist die Ordnung, wenn man nicht mit dem Anfang der Begebenheit beginnt, sondern in der Mitte, so wie Vergil in der ‚Aeneis‘ einige Ereignisse, die künftig zu sagen wären, vorwegnimmt und einige, die sofort zu sagen wären, auf später verschiebt.

Neben dem ordo naturalis und dem artificialis kennt man in der mittelalterlichen Poetik auch eine Mischung der beiden, den ordo commixtus oder auch communis, den Bernhard von Utrecht in seinem einflussreichen Kommentar zur Ekloge des Theodulus (‚Ecloga Theoduli‘), einem weitverbreiteten Schultext aus dem 9. oder 10. Jahrhundert, so erläutert: Communis est cum partim arte, partim prout gestae sunt vel geri potuerunt res scribuntur. De hoc ordine Horatius in Poetria sic precipit: „Ordinis haec virtus erit et venus, aut ego fallor, ut iam nunc dicat iam nunc debentia dici.“ (S. 64, Z. 155 – 159)¹⁰ Gemeinsam ist [die Ordnung oder dispositio, C. S.], weil die Dinge teils nach der Kunst, teils so aufgeschrieben werden, wie sie geschehen sind oder geschehen konnten. Über diese Ordnung lehrt Horaz in der Poetik das Folgende: „Die Leistung und Schönheit der Ordnung, wenn ich mich nicht täusche, wird darin bestehen, dass man schon jetzt sagt, was jetzt schon gesagt werden muss.“

Alternativ zu dieser Zwei- bzw. Dreiteilung erwähnt Bernhard dann noch ein ordoVerständnis, das an der Abfassungs- oder Lektüre-Abfolge ausgerichtet ist: Secundum Servium autem ordo est quo consideratur quid prius scriptum vel legendum sit („Servius zufolge aber ist Ordnung dasjenige, wodurch man betrachtet, was vor einem anderen geschrieben oder zu lesen ist“, ‚Commentum in Theodulum‘, S. 64, Z. 159 f.).¹¹ Ein solches produktions- und rezeptionspragmatisches Verständnis des ordo narrationis – das wohl auf die ordo librorum-Formel des Servius zurückgeht – konnte mit der gebräuchlicheren Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Ereignisabfolge auch verbunden werden. So kündigt der angel-

European Science Foundation. Workshop on the Classical Tradition in the Middle Ages and the Renaissance (London, The Warburg Institute, 27– 28 November 1992). Hrsg. von Nicholas Mann/ Birger Munk Olsen. Leiden u. a. 1997 (Mittellateinische Studien und Texte 21), S. 51– 73, hier S. 53.  Die verwendete Ausgabe: Bernhard von Utrecht: Commentum in Theodulum. In: Robert B.C. Huygens (Hrsg.): Accessus ad Auctores. Bernard d’Utrecht. Conrad d’Hirsau, Dialogus super Auctores. Leiden 1970, S. 55 – 69; dazu auch Franz Quadlbauer: Lukan im Schema des ordo naturalis/artificialis. Ein Beitrag zur Geschichte der Lukanbewertung im lateinischen Mittelalter. In: Grazer Beiträge. Zeitschrift für die Klassische Altertumswissenschaft 6 (1977), S. 67– 105, hier S. 70.  Vgl. dazu den Accessus zum ‚Aeneis‘-Kommentar des Servius: Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Bd. 1: Aeneidos librorum I–V commentarii. Hrsg.von Georg Thilo. Leipzig 1881, S. 1– 5, hier S. 4 f.; außerdem Quadlbauer 1977, S. 71 f., Anm. 12.

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sächsische Mönch Felix von Crowland in seiner zwischen 730 und 740 verfassten Lebensbeschreibung des Heiligen Guthlac (‚Vita s. Guthlaci‘) die Verwendung des ordo naturalis mit der Bemerkung an: principium in principio, finem in fine compono („Ich verfasse den Anfang am Anfang, das Ende am Ende“).¹² Die Gegenüberstellung von ordo naturalis und ordo artificialis, von chronologischer und nichtchronologischer Erzählweise ist bis in die neuzeitliche Poetik hinein verbindlich geblieben.¹³ Für eine Beschreibung mittelalterlicher Konzepte von Erzähllogik und narrativer Kohärenz sind die in den Accessus, Kommentaren und Poetiken mit einer gewissen Gleichförmigkeit wiederholten Sätze zu den beiden ordines des Erzählens im Ganzen dennoch wenig aufschlussreich. Das dürfte seinen Grund darin haben, dass die logisch stimmige Gestaltetheit einer Erzählung weniger eine Frage der Anordnung von Handlungssequenzen ist (was im Rahmen eines erzählten Geschehens also wann erzählt wird), sondern dass sie die Fugen des Textes betrifft, Fugen syntaktisch-grammatischer wie semantischinhaltlicher Art. Wie werden diese Fugen geschlossen und Verknüpfungen zwischen den einzelnen Erzähl- und Handlungselementen hergestellt, nach welchem oder welchen Prinzipien werden die Erzählelemente miteinander korreliert? Zu diesen Fragen – soweit sie die mittelalterlichen Autoren überhaupt beschäftigt haben – äußern sie sich in ihren Erörterungen der verschiedenen ordines narrandi kaum je. Galfred von Vinsauf kommt bei der Behandlung der dispositioLehre zwar ausführlich auf die Prinzipien des ordo naturalis und artificialis zu sprechen (anders als beispielsweise Matthäus von Vendôme); und er sagt in diesem Zusammenhang auch, dass beim ordo artificialis, richtig gehandhabt, alle Teile des Werks – der Anfang, die Mitte, das Ende – ohne Konflikt ihre Plätze einnähmen und auf elegante Weise, wie von selbst ineinander übergingen (immo sine lite licenter / Alternas sedes capiunt et more faceto / Sponte sibi cedunt, V. 95 – 97).¹⁴ Was das aber genau bedeutet und was die Kriterien für den Eindruck eines solchen anmutigen, gefälligen, spontanen Ineinandergreifens sind, darüber schweigt auch Galfred sich aus. Er empfiehlt lediglich, die Ereignisschilderung

 Zitiert nach Dennis H. Green: The Beginnings of Medieval Romance. Fact and Fiction, 1150 – 1220. Cambridge u. a. 2002 (Cambridge Studies in Medieval Literature 47), S. 96.  Siehe dazu Fritz Peter Knapp: Ordo artificialis/Ordo naturalis. In: RLW 2 (2000), S. 766 – 768; Green 2002, S. 96 – 102; außerdem die materialreiche, wenn auch wenig analytische Darstellung von Ulrich Ernst: Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer historischen Narratologie. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Köln 2000, S. 179 – 199.  Ich zitiere Galfreds ‚Poetria nova‘ nach der Ausgabe von Ernest Gallo: The ‚Poetria nova‘ and Its Sources in Early Rhetorical Doctrine. Den Haag/Paris 1971 (De proprietatibus litterarum, Series maior 10).

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mit einer Sentenz oder einem Exempel zu beginnen – und zwar beim ordo naturalis ebenso wie beim von Galfred bevorzugten artificialis –, und führt dann einige Beispiele für die Vorwegnahme der Mitte oder des Endes der Ereignisse sowie dazu passende Sentenzen und Exempel an. Aufschlussreich ist die mittelalterliche Lehre von den beiden ordines narrandi jedoch in einer anderen Hinsicht. Sie kann zu einer genaueren Bestimmung dessen beitragen, was nach Auffassung der Accessus und Autoritätenkommentare die Darstellungsweise des Dichters charakterisiert. Die beiden Ordines des Erzählens werden von Anfang an mit je verschiedenen Autorentypen und Darstellungsweisen verknüpft. Der ordo naturalis „dient“ (servit) dem Geschichtsschreiber, der ordo artificialis dem Dichter, wie es im ‚Materia‘-Kommentar heißt. Diese Zuordnung begegnet bereits bei Servius, dem antiken Vergil-Kommentator des späten 4. und frühen 5. Jahrhunderts.¹⁵ Im 12. Jahrhundert weist der (vermutlich irrtümlich) Bernardus Silvestris zugeschriebene ‚Aeneis‘-Kommentar aus der Schule von Chartres die beiden ordines narrandi dem historisch-philosophischen bzw. dem poetischen Darstellungsanliegen zu:¹⁶ Modus agendi talis est: in integumento describit quid agat vel quid paciatur humanus spiritus in humano corpore temporaliter positus. Atque in hoc describendo naturali utitur ordine atque ita utrumque ordinem narrationis observat, artificialem poeta, naturalem philosophus. (S. 3, Z. 9 – 13) Seine [Vergils, C. S.] Vorgehensweise ist die folgende: In verhüllender Weise beschreibt er, was der menschliche Geist, der zeitweise in einen menschlichen Körper versetzt ist, tut und was er erduldet. Wenn er darüber schreibt, verwendet er die natürliche Ordnung, und so befolgt er beide Ordnungen des Erzählens, als Dichter die künstliche, als Philosoph die natürliche.

Die Zuweisung des ordo artificialis an die epische und dramatische Poesie (wenngleich dem poeta freilich auch der naturalis nicht verboten ist) meinten die mittelalterlichen Autoren den Versen 42 – 45 der Horaz’schen Poetik entnehmen zu können, obwohl eine so eindeutige Interpretation dieser schwierigen Horaz-

 Siehe den ‚Aeneis‘-Kommentar des Servius, S. 129, Z. 5 – 18 zu ‚Aeneis‘ I,382.  Der ‚Aeneis‘-Kommentar aus der Schule von Chartres zitiert nach Bernardus Silvestris (?): The Commentary on the First Six Books of the ‚Aeneid‘ of Vergil. Hrsg. von Julian W. Jones/Elizabeth F. Jones. Lincoln/London 1977. Zur Autorfrage siehe die Einleitung hier, S. ix–xi; außerdem Fritz Peter Knapp: Grundlagen der europäischen Literatur des Mittelalters. Eine sozial-, kultur-, sprach-, ideen- und formgeschichtliche Einführung. Graz 2011, S. 279.

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Verse auf die ordines narrandi hin keineswegs zwingend ist.¹⁷ Sie wird jedoch durch die mittelalterliche Auffassung vom Wahrheitswert, der einem Werk der Dichtkunst bzw. einem solchen der Historiographie oder Philosophie zugebilligt werden kann, begünstigt. Als wirkmächtig erweist sich dabei, wie vor allem Fritz Peter Knapp herausgestellt hat, die Verkürzung des Wahrheitsbegriffs in der mittelalterlichen Literaturtheorie auf die Wahrheit des Faktischen, auf historische Ereigniswahrheit also.¹⁸ Sie hat zur Folge, dass die Dichtkunst im Unterschied zur (Fakten‐)Wahrheit der Historiographie und Philosophie mit Fiktion geradezu gleichgesetzt wird: Unde poete, id est fictores, nominantur. Nam poire est fingere („Daher werden sie Dichter, das heißt Erfinder genannt. Denn Dichten ist Erfinden“, Acc. 5,6), wie es im Accessus zum ‚Materia‘-Kommentar über die Dichter heißt; oder, im ‚Anonymus Turicensis‘-Kommentar: Poetica vero ars sive poesis est fictio sive figmentum, quod suum est poetarum („Die Dichtkunst oder Poesie aber ist Erfindung oder Erdichtung und kommt darum den Dichtern zu“).¹⁹ Ein Wahrheitswert, und zwar ein philosophischer, wird nur jener Unterart der narratio fabulosa zugesprochen, die heilige Dinge sub pio figmentorum velamine („unter dem ehrfürchtigen Schleier der Erfindung“) verkünde. Allerdings dürfe es dabei, so Macrobius in seinem Kommentar aus dem 5. Jahrhundert zum Somnium Scipionis des Cicero und, an Macrobius anschließend, der Chartrenser ‚Aeneis‘Kommentar des 12. Jahrhunderts, nicht um die höchste Gottheit gehen, sondern nur um einfache Gottheiten oder die Seele.²⁰ Diese Gleichsetzung von Dichtung und Fiktion ist schon aristotelisch. Doch erfolgt das poiein bei Aristoteles nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit, im  Siehe dazu, mit weiterer Literatur, Karsten Friis-Jensen: Horace and the Early Writers of Arts of Poetry. In: Sprachtheorien in Spätantike und Mittelalter. Hrsg. von Sten Ebbesen. Tübingen 1995 (Geschichte der Sprachtheorie 3), S. 360 – 401, hier S. 369 und Anm. 24.  Zusammenfassend Fritz Peter Knapp: Sein oder Nichtsein. Erkenntnis, Sprache, Geschichte, Dichtung und Fiktion im Hochmittelalter. In: Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Zehn neue Studien und ein Vorwort. Heidelberg 2005 (Schriften der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 35), S. 225 – 256; vgl. auch die bündige Formulierung von Jan-Dirk Müller: Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur. In: Poetica 36 (2004), S. 281– 311, hier S. 288, wonach in mittelalterlicher Literatur „der Wahrheitswert eines Textes grundsätzlich an nachweisbare Faktizität gebunden [bleibt].“  Zitiert nach Vincent Gillespie: From the Twelfth Century to c. 1450. In: The Cambridge History of Literary Criticism. Bd. 2: The Middle Ages. Hrsg. von Alastair Minnis/Ian Johnson. Cambridge 2005, S. 145 – 235, hier S. 164.  Siehe Ambrosius Macrobius Theodosius: Kommentar zum ‚Somnium Scipionis‘. Hrsg., übers., erl. und mit Indices vers. von Friedrich Heberlein. Mit einem Gastbeitrag von Christian Tornau. Stuttgart 2019 (Bibliothek der lateinischen Literatur der Spätantike 1), 1,2,7– 14, das Zitat 1,2,11; dazu der ‚Aeneis‘-Kommentar des Bernardus Silvestris (?), S. 50 f. zu ‚Aeneis‘ VI,100.

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Mittelalter hingegen nach dem Prinzip der Faktizität, wie in der Historiographie, die nur Lücken mit Wahrscheinlichem füllt. Ausgenommen davon ist auch nach mittelalterlicher Auffassung allerdings die fabula (Allegorie, Fabel), die reine Fiktion contra naturam enthält. Für die Dichter gilt: Sie ‚erdichten‘, sie ‚bilden‘ etwas in der Wirklichkeit nicht Vorhandenes. Und weil poesis per definitionem nicht auf die Darstellung historischer Ereigniswahrheit verpflichtet ist, gilt für den poeta auch nicht die für die Geschichtsschreibung verbindliche Darstellungsweise des ordo naturalis, sondern wird der ordo artificialis geradezu zum „positiven Markenzeichen“ des Dichterischen.²¹ Die ‚poetische Lizenz‘ erstreckt sich nun aber nicht nur auf eine von den Möglichkeiten der faktischen Chronologie abweichende Ordnung des Materials in der dispositio. Die Kommentatoren stellen weitere Kennzeichen dichterischen Darstellens fest, die für die Frage eines historischen Verständnisses von Erzähllogik und narrativer Kohärenz interessant sind. Zur Sprache kommen sollen im Folgenden zwei Lucan-Kommentatoren des 12. Jahrhunderts, Anselm von Laon und Arnulf von Orléans.²² Anselm, der am 15. Juli 1117 starb, war ein Schüler des Anselm von Canterbury und leitete seit etwa 1080 die Kathedralschule in Laon, die er zusammen mit Wilhelm von Champeaux (gest. 1122) zu hohem Ansehen führte. Arnulf war Magister in Orléans; er verfasste seinen sehr umfangreichen Kommentar zu Lucans ‚De bello civili‘, die ‚Glosule super Lucanum‘, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Bei Anselm und Arnulf kehrt nicht nur die schon bekannte Zuweisung des fictum an die Dichter wieder.²³ Dichtung kennzeichnet darüber hinaus, dass sie für ein bestimmtes Phänomen oder Ereignis mehrere mögliche Erklärungen benennt, ohne die eine oder andere als wahr erweisen zu wollen. So zählt Lucan im ersten Buch von ‚De bello civili‘ für das Phänomen der Gezeiten drei Ursachenhypothesen auf. Arnulf, dessen Werk als

 Knapp 2000, S. 767.  Zu ihnen siehe Heinrich J. F. Reinhardt: Anselm v. Laon. In: LexMA 1 (1980), Sp. 687 f.; Elisabeth Heyse: Arnulf v. Orléans. In: LexMA 1 (1980), Sp. 1020 f.  So sagt Arnulf im Accessus zu den ‚Glosule super Lucanum‘ über Lucan als Dichter und Geschichtsschreiber: Sicut Iuvenalis purus est satiricus, Terencius purus comedus, Horacius in odis purus liricus, non est iste poeta purus, sed poeta et historiographus. Nam historiam suam prosequitur et nichil fingit, unde poeta non simpliciter dicitur, sed poeta et historiographus („Wie zum Beispiel Juvenal ein reiner Satirenschreiber ist, Terenz ein reiner Komödiendichter, Horaz in den Oden ein rein lyrischer Dichter, so ist dieser [Lucan, C. S.] kein reiner Dichter, sondern Dichter und Geschichtsschreiber. Denn er folgt seiner Geschichte und erfindet nichts, weshalb er nicht einfach Dichter genannt wird, sondern Dichter und Geschichtsschreiber“, S. 4, Z. 1– 4); die Ausgabe: Arnulfi Aurelianensis Glosule super Lucanum. Hrsg. von Berthe M. Marti. Rom 1958 (Papers and Monographs of the American Academy in Rome 18).

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repräsentativ für seine Zeit angesehen werden kann, bemerkt dazu in den ‚Glosule super Lucanum‘: Ponit tres opiniones more philosophi sed nullam solvit aut affirmat more poete. (S. 55 zu Lucan I,412) Nach der Art der Philosophen legt er drei Ansichten dar, erklärt aber keine für ungültig und bestätigt auch keine, ganz nach der Art der Dichter.

Auch Anselm bezeichnet es als Eigenheit der Dichter, ihren Werken nicht nur eine einzige, sondern verschiedene Erklärungsansätze, Denkweisen oder Meinungen zu inserieren: Nam proprium est poetarum, ut non unam sectam solummodo, sed diversorum opiniones suo carmini inserant (S. 481 zu Lucan VI,608).²⁴ Um diese charakteristische Unentschiedenheit dichterischen Darstellens, die Entpflichtung von dem Zwang, Eindeutigkeit herzustellen, richtig einzuschätzen, muss man sie wiederum im Verhältnis zur historiographischen oder philosophischen Darstellungsweise sehen; Arnulf nennt die philosophi ja auch. Sie erklärt sich daraus, dass Gegenstand der Dichtkunst eben nicht die Darstellung eines verum ist. An die Stelle einsinniger Verifikation oder Falsifikation kann das Aufzeigen von Möglichkeiten treten, weil an die poetische Darstellung nicht der Anspruch gestellt wird, historische, philosophische oder theologische Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, von der es doch nur eine geben kann. Es lässt sich aus den Aussagen Anselms und Arnulfs darum aber auch nicht herauslesen, dass Dichtung in jeder Hinsicht auf Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit verzichten könne, zum Beispiel in der textinternen Verknüpfung von Handlungselementen oder -motivationen; sondern die Lizenz zur Unentschiedenheit bleibt bei Anselm und Arnulf bezogen auf externe Referentialisierungen in Form historischer, naturkundlicher oder philosophisch-theologischer Wahrheitsaussagen. Zugleich kennzeichnet den dichterischen Darstellungsmodus der Möglich²⁵ keit bei Anselm und Arnulf eine wichtige Einschränkung. Sie ergibt sich aus einer genaueren Bestimmung ihres Verständnisses von fingere. Zwar wird das Wort fictio an keiner Stelle definiert. Jedoch scheint – darauf hat Berthe Marti hingewiesen – die Auffassung der beiden Lucan-Kommentatoren, wonach fingere

 Der Lucan-Kommentar des Anselm von Laon ist zitiert nach der Ausgabe: Marcus Annaeus Lucanus: Pharsalia. Hrsg. von Karl Friedrich Weber. Bd. 3: Scholiastae. Leipzig 1831.  Man ist versucht, mit Robert Musil von einem „Möglichkeitssinn“ der Dichtung zu sprechen, wenn Musils Begriff nicht entschieden auf eine Gleichwertigkeit von Seiendem und zwar Nichtseiendem, aber Denkbarem gemünzt wäre – eine Auffassung, die die mittelalterlichen Kommentatoren sicher nicht geteilt hätten; vgl. das Kapitel ‚Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben‘ in Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ (Musil 1978, S. 16 – 18).

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ein Charakteristikum der Dichtkunst sei, unmittelbar auf Isidor von Sevilla und dessen ‚Differentiae‘ zurückzugehen:²⁶ Falsum ad oratores pertinet, ubi veritas saepe ita luditur, ut quae facta sunt, negentur; fictum vero ad poetas, ubi quae facta non sunt facta dicuntur. Falsum est ergo quod verum non est; fictum quod tantum verisimile est. (I,221)²⁷ Das Falsche gehört den Rednern an, wo die Wahrheit oft so zum Narren gehalten wird, dass das, was tatsächlich geschehen ist, geleugnet wird; das Erfundene aber ist den Dichtern zugehörig, wo das, was nicht geschehen ist, Tatsache genannt wird. Falsch ist also das, was nicht wahr ist, erfunden aber das, was nur wahrscheinlich ist.

Isidors Bestimmung des fictum hebt nicht auf das Besondere der dichterischen Sprachverwendung ab, sondern auf seine Unterscheidung vom falsum. Beide Aussageweisen werden bestimmten Genera zugeordnet: das falsum der Rede, das fictum hingegen der Dichtung. Generische und ontologische Bestimmung mischen sich, wenn beide Begriffe dann von ihrem Verhältnis zum Wahren her definiert werden. Fictio ist demnach das, was zwar erdichtet, aber dennoch wahrscheinlich, das heißt nicht contra naturam ist (im Unterschied zur fabula, die Unmögliches, weil Naturwidriges darstellt, wie Isidor in seiner berühmten fabulaDefinition sagt).²⁸ Die Kommentatoren erläutern an verschiedenen Stellen, dass und wie Lucan den Eindruck der Wahrscheinlichkeit seiner Darstellung zu steigern versucht habe. Zu Lucans Darlegung der Kriegsursachen schreibt Arnulf von Orléans etwa: Sed ad maiorem narrationis evidentiam discordie causas adsignat ut, causis assignatis, quasi verisimilius videatur quidquid de bello sequitur. (S. 18 zu Lucan I,67) Aber zur größeren Evidenz der Erzählung gibt er die Ursachen des Streits an, damit – nachdem die Ursachen benannt worden sind – umso wahrscheinlicher erscheint, was immer [an Erzählungen, C. S.] über den Krieg folgt.

 Berthe M. Marti: Literary Criticism in the Medieval Commentaries on Lucan. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 72 (1941), S. 245 – 254, hier S. 247; zur semantischen Vielschichtigkeit des mittelalterlichen fictio-Begriffs siehe Peter von Moos: Poeta und historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan. In: PBB 98 (1976), S. 93 – 130, hier S. 119, Anm. 57.  Isidor von Sevilla: Differentiarum libri duo. In: MPL 83 (1862), Sp. 9 – 98, hier Sp. 33.  Vgl. Isidor von Sevilla: Etymologiae sive Origines. Hrsg. von Wallace Martin Lindsay. Oxford 1911 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis), I,xliv,5. Hinweisen sollte man mit Marti 1941, S. 247, noch darauf, dass eine solche, an Isidor anschließende Definition der Dichtung bemerkenswert ist; sie findet sich weder bei Anselms und Arnulfs Vorgängern noch in den zeitgenössischen Artes poetriae.

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Insbesondere in der Frage der Beschreibungen und Digressionen, die in der mittelalterlichen Poetik unterschiedlich behandelt wird,²⁹ bemühen Anselm und Arnulf sich zu zeigen, dass Lucan sie vorbereitend im Blick auf später erzählte Handlungen und Situationen sowie zur Steigerung der Wahrscheinlichkeit der narratio verfertigt habe. So schreibt etwa Anselm von Laon in seinem ‚De bello civili‘-Kommentar: Nunc describit locum, ubi civitas Ilerda erat sita, et ubi ipse posuit tentoria; et hoc valebit ad futuram narrationem. (S. 254 zu Lucan IV,11) Nun beschreibt er [Lucan, C. S.] den Ort, wo die Stadt Ilerda gelegen war, und sogar, wo er [Caesar, C. S.] die Zelte aufschlug; und das stärkt die zukünftige Erzählung.

Und an anderer Stelle: Ideo hanc digressionem fecit, quia non esset verisimile, ut tantus homo et tam valens in magica arte veniret ad eam quaerere de futuris, nisi praecelleret ceteras in hac arte. (S. 477 zu Lucan VI,570) Er [Lucan, C. S.] unternimmt diese Abschweifung deswegen, weil nicht wahrscheinlich wäre, dass ein so großer und mächtiger Mann [Sextus Pompeius, C. S.] sich auf die Kunst der Magie einlassen würde, um diese über die zukünftigen Dinge zu befragen, wenn sie [die thessalische Hexe Erichtho, C. S.] die übrigen in dieser Kunst nicht überträfe.

Wahrscheinlichkeit wird bei Anselm sogar zur Conditio sine qua non allen Schreibens, wenn er sagt: omnis scriptor verisimiliter debet scribere („Jeder Schriftsteller muss der Wahrscheinlichkeit gemäß schreiben“, S. 39 zu Lucan I,213). Das klingt so, als betrachte er verisimilitudo als notwendige Voraussetzung für jede Art von Dichtung. Doch zeigt sich an anderer Stelle, dass Anselm es wohl im engeren Sinne auf fingierendes Erzählen bezogen wissen wollte: Omnis, qui narrat, verisimiliter saltim debet narrare („Jeder, der erzählt, muss zumindest wahrscheinlich erzählen“, S. 323 zu Lucan IV,810).

 Für Galfred von Vinsauf lediglich ein Mittel der dilatatio (‚Documentum de arte versificandi‘ II,2,3), für Matthäus von Vendôme nur gerechtfertigt, wenn sie ein notwendiger Teil des Werks sind (‚Ars versificatoria‘ 1,38 – 40); die Textausgaben: Galfred von Vinsauf: Documentum de modo et arte dictandi et versificandi. In: Les Arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge. Hrsg. von Edmond Faral. Paris 1958 (Bibliothèque de l’École des Hautes Études, Sciences Historiques et Philologiques 238), S. 263 – 320; Matthäus von Vendôme: Opera. Hrsg. von Franco Munari. Bd. 3: Ars versificatoria. Rom 1988 (Storia e letteratura 171).

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Wenn Anselm und Arnulf immer wieder die der Komposition des Gedichts zugrunde liegenden Strukturprinzipien herausheben;³⁰ wenn sie auf Parallelen und Korrespondenzen zwischen einzelnen Passagen in Lucans Erzählung hinweisen;³¹ wenn sie vermeintlich irrelevante Episoden oder Digressionen als sinnvoll und begründet zu erweisen suchen;³² wenn sie bemerken, dass Lucan sich der consuetudo poetarum gemäß um die Herstellung geschickter Übergänge zwischen den einzelnen Büchern seiner Dichtung bemühe;³³ wenn sie schließlich wiederholt Lucans Bemühen um wahrscheinliches Erzählen betonen und dies zum Maßstab allen dichterischen Erzählens machen, dann kommen darin in erzähllogischer Hinsicht folgende Erwartungen zum Ausdruck: Ein narrativer Text soll ausgewiesen sein durch interne Strukturiertheit; durch funktionale Plausibilität, das heißt, die einzelnen Elemente der Erzählung oder des erzählten Geschehens müssen sich in Bezug auf andere als begründet und sinntragend erweisen; durch Verknüpftheit (sie hat mit der funktionalen Plausibilität zu tun, bezieht sich aber nicht nur auf inhaltlich-thematische Verknüpfungen, sondern auch auf rein formale, z. B. die Anschlüsse von einem Werkteil zum andern); durch Wahrscheinlichkeit. Unbestimmtheiten als spezifisch poetische Technik sind möglich, beziehen sich aber auf textexterne Wahrheitsaussagen. Bei dieser Aufzählung sind natürlich vor allem diejenigen Kriterien berücksichtigt, die die Kommentatoren ausdrücklich für die poetische oder fingierende Darstellungsweise geltend machen. Lucan nimmt diesbezüglich in der mittelalterlichen lectio auctorum, und so auch bei Anselm von Laon und Arnulf von Orléans, eine Zwitterstellung ein. Die genannten Kriterien berühren die Frage nach den Vorstellungen von narrativer Kohärenz in der mittelalterlichen Literaturtheorie und Poetik in unterschiedlicher Weise. Während sich manches mehr auf Fragen der formalen Verknüpftheit bezieht, betrifft die Frage nach der inneren Logizität narrativen Darstellens am meisten das Wahrscheinlichkeitspostulat. Zwar formuliert kein

 Siehe in den ‚Glosule super Lucanum‘ des Arnulf z. B. S. 10 zu Lucan I,8; S. 15 zu I,45; S. 17 zu I,63; S. 18 zu I,67; S. 19 zu I,70; weitere Beispiele bei Berthe M. Marti: Introduction. In: Arnulfi Aurelianensis Glosule super Lucanum. Hrsg. von Berthe M. Marti. Rom 1958 (Papers and Monographs of the American Academy in Rome 18), S. XV–LXXVI, hier S. XXXIX.  So etwa Arnulf S. 116 f. zu Lucan II,289; S. 127 zu II,400.  Arnulf in seinen Bemerkungen S. 110 zu Lucan II,223; S. 244 zu IV,661; S. 270 zu V,198; Weiteres bei Marti 1958, S. XL.  Siehe etwa Anselm in seinem Lucan-Kommentar: Consuetudo poetarum est, ut finem praecedentis libri initio sequentis iungant quibusdam particulis; ut Maro saepe fecit („Das gewöhnliche Verfahren der Dichter ist, das Ende eines vorangehenden Buchs mit dem Anfang des nachfolgenden durch irgendwelche kleinen Teile zu verknüpfen, wie Vergil es oft gemacht hat“, S. 252 zu Lucan IV,1); ebenso S. 108 zu Lucan II,1.

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Kommentator das so nachdrücklich wie Anselm, der in dieser Hinsicht unter den Lucan-Kommentatoren einzigartig ist.³⁴ Aber zweifellos ist mit dem Begriff des verisimile ein Konzept berührt, das sich in den poetologischen Äußerungen lateinischsprachiger Gelehrter des 12. und 13. Jahrhunderts weiterverfolgen lässt und auch in den Artes poeticae des Mittelalters Schule gemacht hat. Und zweifellos ist es dasjenige Konzept, das für ein mittelalterliches, theoretisch reflektiertes Verständnis von logisch stimmigem, kohärentem Erzählen am bedeutsamsten geworden ist.

3.2 Wahrscheinlichkeit als strukturales Prinzip des Erzählens: Matthäus von Vendôme, Galfred von Vinsauf und Johannes von Garlandia Die Frage ist allerdings, was wahrscheinliches Erzählen bedeutet. Es geht dabei im Folgenden nicht um die verschiedenen gattungssystematischen Bestimmungsversuche innerhalb der mittelalterlichen Literaturtheorie, für die die Vorstellung des Wahrscheinlichen auch eine Rolle spielt, zumeist verknüpft mit dem etwas unscharfen Begriff des argumentum, manchmal auch des integumentum oder der poesis im Allgemeinen; sondern es geht darum, was die Forderung, wahrscheinlich zu erzählen, im Hinblick auf die Herstellung narrativer Kohärenz bedeutet: Welche Kriterien werden für Wahrscheinlichkeit angegeben? Wann ist etwas ‚wahrscheinlich‘? Das Konzept der verisimilitudo steht dabei in einem komplexen semantischen Feld, zu dem die Begriffe der probabilitas und credulitas ebenso gehören wie ein Natürlichkeitsbegriff, der in Isidors von Sevilla Definition der fabula als einer Erzählung von Dingen, die contra naturam seien, schon angeklungen ist. Ausgehend von den Artes poeticae des 12. und 13. Jahrhunderts, soll dieses Feld im Folgenden betrachtet werden.³⁵

 Vgl. Marti 1941, S. 252: „He [Anselm, C. S.] raises verisimilitudo to the position of a literary law, the observance of which is required of all narrative poets.“  Die erzählstrukturelle Bedeutung der verisimilitudo und verwandter Begriffe (probabilitas, credulitas) ist in der Mediävistik bisher kaum behandelt worden; für eine Geschichte des Wahrscheinlichkeitsbegriffs im naturwissenschaftlich-mathematischen Sinn siehe Robert Ineichen: Bemerkungen zur Verwendung von probabilis und verisimilis bei Nicole Oresme. In: Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption 16 (2006), S. 139 – 147. Ineichen unterscheidet zwischen aleatorischer und epistemischer Wahrscheinlichkeit. Der aleatorische Aspekt bezieht sich auf die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses bei Zufallsexperimenten, z. B. beim Würfeln oder Losen, der epistemische Aspekt auf „Wahrscheinlichkeit als Grad der Gewißheit oder der Glaubwürdigkeit einer Aussage“ (S. 139); um diesen Aspekt geht es hier.

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Zunächst Matthäus von Vendôme: Matthäus, der wohl Endes des 12. Jahrhunderts starb, war ein Schüler des Bernardus Silvestris an der Kathedralschule von Tours. Sein in Distichen geschriebenes Lehrbuch der Kunst des Versemachens, die ‚Ars versificatoria‘, begann er in den 1160er-Jahren in Orléans und schloss es wohl gegen 1170 in Paris ab, wo er zu dieser Zeit unterrichtete.³⁶ Matthäus’ ‚Ars versificatoria‘ kann als die Gründungsschrift der hochmittelalterlichen Artes poeticae gelten. Drei Eigenschaften bestimmen darin den Rang einer Dichtung: erstens die Wahl kunstvoller Wörter, zweitens die rhetorischen Figuren (schemata, tropi, colores), drittens schließlich die in der Gedankenfolge begründete Schönheit, für die die Begriffe interior favus oder venustas interioris sententiae eingeführt werden (2,9). Alle drei Dinge beabsichtigt Matthäus in einem eigenen Teil zu erörtern. Dann aber ändert er seinen Plan: Anweisungen zur Gedankenführung und Gliederung einer Dichtung, die die Kategorie der „Schönheit des inneren Gedankens“ hätte erwarten lassen, konnte er offenbar nicht geben. Die Kategorie wird beschränkt auf das bloße Vorhandensein einer sinnvollen Aussage und der bisher als Einleitung gedachte erste Teil kurzerhand zur Behandlung der venustas interioris sententiae erklärt.³⁷ Trotzdem folgt nun noch ein vierter Teil: ‚De exsecutione materiae‘, und dieser wiederum wird untergliedert in die Behandlung von Stoffen, die von anderen Dichtern schon einmal gestaltet worden sind, und solchen, die neu sind (materia illibata aut ab aliquo poeta primitus executa, 4,3). Wichtiger ist Matthäus aber die in den Schulen übliche Neugestaltung schon behandelter Stoffe. In Bezug auf sie formuliert Matthäus nun die Vorstellung einer „gewissen ordnungsgemäßen Abfolge in den menschlichen Handlungen“, an denen sich die Neugestaltung bei der amplificatio zu orientieren habe: Hucusque dictum est quomodo superflua debent resecari, sequitur quomodo minus dicta debeant suppleri. Verbi gratia, in humanis accionibus quedam est ordinaria successio: quedam enim acciones aliarum sunt preambule, quedam aliarum sunt consecutive: verbi gratia, in actuali amoris exercitio precedit intuitus, sequitur concupiscentia, accessus, colloquium, blandimentum, ad ultimum votiva duorum congressio. (4,13; Hervorheb. von mir) Bis hierher ist gesagt worden, wie Überflüssiges abgeschnitten werden soll. Es folgt, auf welche Weise verkürzt Gesagtes ergänzt werden muss. Zum Beispiel gibt es in den menschlichen Handlungen eine gewisse ordnungsgemäße Abfolge. Einige Handlungen nämlich gehen anderen voran, einige folgen anderen nach. In der praktischen Ausübung der

 Vgl. Rolf Peppermüller: Matthaeus, v. Vendôme. In: LexMA 6 (1993), Sp. 400; Carsten Wollin: Beiträge zur Werkchronologie und Rezeption des Matthäus von Vendôme. In: Sacris Erudiri 45 (2006), S. 327– 352.  Siehe dazu Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters. Darmstadt 1980 (Das lateinische Mittelalter), S. 124 f.

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Liebe beispielsweise geht der Anblick voraus, es folgen die Begierde, die Annäherung, das Gespräch, die Schmeichelei, zuallerletzt die ersehnte Vereinigung der beiden.

Dieser ordinaria successio hat die Behandlung des Gegenstands zu folgen, was an einem Ovid-Beispiel exemplifiziert wird:³⁸ Similiter in executione materie actionum gradus expresso debemus imitari vestigio, ut narrationis nulla sit intercisio sicut nec actionum. Predictarum siquidem actionum ordinem intercidere vel sincopare videtur Ovidius, ubi loquitur de Ynachide dicens: Viderat a patrio redeuntem Iupiter Io Flumine et „O virgo Iove digna tuoque beatum Nescio quem factura thoro, etc.“: etenim huius narrationis contextus interciditur, pretermittuntur enim duo gradus, scilicet concupiscentia et accessus, intuitus autem et colloquium continuantur tanquam ordinariam habeant successionem. (4,13; Hervorheb. von mir) Nicht anders müssen wir bei der Ausführung des Gegenstands die Handlungsstufen in anschaulichen Schritten nachahmen, so dass kein Bruch in der Erzählung und auch keiner in den Handlungen entsteht. Ovid freilich scheint die Ordnung der obenerwähnten Handlungen dort zu durchschneiden oder mittendrin zu verkürzen, wo er von Inachus’ Tochter spricht und sagt: „Jupiter hatte Io erblickt, wie sie vom Vater, dem Strom, zurückkehrte, / und er sagte: ‚O Jungfrau, die du einen Menschen mit deinem Bett / glücklich machen wirst, und bist doch Jupiters würdig, etc.‘“: Das Gefüge dieser Erzählung ist nämlich durchbrochen, denn zwei Stufen werden ausgelassen, und zwar Begierde und Annäherung. Der Anblick und das Gespräch hingegen werden miteinander verknüpft, als ob sie ordnungsgemäß aufeinanderfolgten.

Das Beispiel aus Ovids ‚Metamorphosen‘ erscheint nicht sonderlich illustrativ (wie viel anschaulicher wären all die fernliebenden Helden in der mittelhochdeutschen Epik gewesen, die auf die bloße Nachricht von der Schönheit einer Frau in Liebe zu ihr verfallen!). Aber nicht darauf kommt es hier an, sondern auf den Begriff des narrationis contextus. Es handelt sich dabei nicht um einen geläufigen Ausdruck.³⁹ Möglicherweise entnahm Matthäus ihn dem schon erwähnten Kommentar des Macrobius zu Ciceros Somnium Scipionis. Macrobius’ Cicero-Kommentar übte das gesamte Mittelalter hindurch einen starken Einfluss aus – seit etwa der Jahrtausendwende mehr noch als sein Hauptwerk, die Saturnalia – und  Vgl. Publius Ovidius Naso: Metamorphoses. Hrsg. von William S. Anderson. 4. Aufl. Leipzig 1988 (BT), I,588 – 590.  Elizabeth M. Tyler: England in Europe. English Royal Women and Literary Patronage, c. 1000– c. 1150. Toronto u. a. 2017 (Toronto Anglo-Saxon Series 23), S. 73. Tyler weist einen weiteren Beleg im Prolog des zu Anfang der 1040er-Jahre verfassten ‚Encomium Emmae reginae‘ nach; siehe Encomium Emmae Reginae. Hrsg. von Alistair Campbell. London 1949 (Camden Third Series 72), S. 4, Z. 29.

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wurde wiederholt kommentiert, insbesondere von Wilhelm von Conches, der seit 1120 an der Kathedralschule von Chartres lehrte;⁴⁰ zusammen mit Paris und Tours bildete Chartres jenes intellektuelle Milieu, dem auch Matthäus entstammte. Macrobius verwendet den Begriff des contextus bzw. der contextio in seiner Diskussion der Frage, inwieweit fabulöse – uneigentliche, bildhafte, mythische – Elemente für seriöse philosophische Abhandlungen brauchbar seien. An einer Stelle erscheint contextio im Sinne von ‚Zusammenfügung‘ in Bezug auf die Fabeln des Äsop, die zwar auf Philosophisches, auf Wahrheit und Tugend, gerichtet, deren Handlung aber aus Erfundenem zusammengesetzt sei: In quibusdam enim et argumentum ex ficto locatur et per mendacia ipse relationis ordo contexitur […]. (1,2,9) Bei manchen besteht nämlich der Gegenstand aus Erfundenem, und die Handlung selbst wird aus Unwahrheiten zusammengefügt […].

Die äsopische Fabel eigne sich aufgrund dieser Beschaffenheit für philosophische Abhandlungen nicht, noch weniger aber jene Sorte der fabula, die dem Gegenstand nach zwar auf Wahrheit gründe, deren Handlung jedoch aus Monstrositäten bestehe, wie in einigen mythologischen Erzählungen: Aut enim contextio narrationis per turpia et indigna numinibus ac monstro similia componitur, ut di adulteri, Saturnus pudenda Caeli patris abscidens et ipse rursus a filio regni potito in vincla coniectus, quod genus totum philosophi nescire malunt […]. (1,2,11) Entweder nämlich wird die Zusammenfügung der Erzählung aus Elementen gebildet, die schändlich, dem Wesen der Götter unwürdig und monströs sind, zum Beispiel ehebrecherische Götter oder Saturn, wie er die Schamteile seines Vaters, des Himmels, abschneidet und seinerseits von seinem Sohn nach dessen Machtergreifung in Fesseln gelegt wird; von alldem wollen die Philosophen nichts wissen.

Wie besonders aus der ersten Stelle erhellt, gebraucht Macrobius contexere und contextio als Termini technici für den ordo relationis, also die Art und Weise, wie die Handlungselemente einer Erzählung beschaffen und aufeinander bezogen, ‚angeordnet‘, sind.⁴¹ Daneben gibt es bei Macrobius noch einen zweiten, ‚höhe Zu den für das Folgende einschlägigen Passagen aus dem Macrobius-Kommentar des Wilhelm von Conches siehe die Auswahleditionen bei Peter Dronke: Fabula. Explorations into the Uses of Myth in Medieval Platonism. Leiden/Köln 1974 (Mittellateinische Studien und Texte 9), S. 68 – 78, und Frank Bezner:Vela Veritatis. Hermeneutik,Wissen und Sprache in der Intellectual History des 12. Jahrhunderts. Leiden/Boston 2005 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 85), S. 263 – 298.  Ähnlich bestimmt Gerhart von Graevenitz: Contextio und conjointure, Gewebe und Arabeske. Über Zusammenhänge mittelalterlicher und romantischer Literaturtheorie. In: Literatur, Artes

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ren‘ Begriff der contextio, der, so Gerhart von Graevenitz, zur „Umschreibung für die höchste Errungenschaft platonischer Philosophie“ verwendet werde, nämlich „die philosophische Konstruktion der Weltseele nach dem Vorbild ihrer göttlichen Erschaffung.“⁴² Graevenitz bezeichnet diesen ‚höheren‘ contextio-Begriff als den ‚ontologischen‘, im Unterschied zur ‚niederen‘ contextio des ordo relationis. ⁴³ Was Matthäus von Vendôme vorschwebt, ist offenkundig contextio bzw. contextus in letzterem Sinne. Nur an der darauf bezogenen Stelle erscheint der Begriff auch in Verbindung mit narratio, bei Macrobius als contextio narrationis, bei Matthäus als narrationis contextus. Paraphrasieren ließe diese Begriffsverbindung sich für die ‚Ars versificatoria‘ auch mit ‚narrativer Zusammenhalt‘.⁴⁴ Wenn der narrative Zusammenhalt einer (Vers‐)Dichtung nach Matthäus dadurch verbürgt wird, dass sie in ihrer Verknüpfung der Handlungselemente die ordinaria successio der Dinge und Handlungen imitiert (imitari), dann scheinen darin sowohl Reflexe der Horaz’schen Kunstlehre als auch der rhetorischen Schriften Ciceros und der ‚Rhetorica ad Herennium‘ auf. So schließt das Postulat eines Erzählens nach der „ordnungsgemäßen Abfolge in den menschlichen Handlungen“ an die Vorstellung eines Erzählens gemäß der Natur – secundum naturam, wie es im Vergil-Kommentar des Servius aus dem 4. Jahrhundert heißt –⁴⁵ und damit an das Wahrscheinlichkeitsgebot an, wie es die ‚Rhetorica ad Herennium‘ für die narratio (hier freilich im Sinne der Sachverhaltsdarlegung im Rahmen der Gerichtsrede) formulierte: Tres res convenit habere narrationem, ut brevis, ut dilucida, ut veri similis sit („Drei Eigenschaften soll die Darlegung des Sachverhalts haben, sie soll kurz, sie soll deutlich, sie soll wahrscheinlich sein“,

und Philosophie. Hrsg. von Walter Haug/Burghart Wachinger. Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 7), S. 229 – 257, hier S. 235, den ordo relationis bei Macrobius als „die Inhaltsstruktur der Erzählung“. Graevenitz führt ebd., S. 239, Anm. 16, auch weitere antik-mittelalterliche Belege für den Gebrauch von contexere und contextio in rhetorischen und poetologischen Zusammenhängen an.  Graevenitz 1992, S. 235.  Graevenitz 1992, S. 236.  Vgl. zur Stelle auch die Übersetzung von Knapp in Matthaeus Vindocinensis: Ars versificatoria. Text nach der Ausgabe von Franco Munari. Übers. und mit Anmerkungen und einer Einleitung vers. von Fritz Peter Knapp. Stuttgart 2020 (Relectiones 8), hier S. 163, der den Ausdruck mit „Zusammenhang dieser Erzählung“ wiedergibt.  So schreibt Servius im Zusammenhang der gattungspoetologischen Abgrenzung von historia und fabula: historia est quicquid secundum naturam dicitur, sive factum sive non factum, ut de Phaedra („Geschichte ist alles, was gemäß der Natur gesagt wird, mag es nun tatsächlich geschehen sein oder nicht, wie dasjenige über Phaidra“, S. 89, Z. 16 f. zu ‚Aeneis‘ I,235).

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I,9,14).⁴⁶ In der Herennius-Rhetorik werden die Kriterien der Deutlichkeit (dilucidus) und Wahrscheinlichkeit (veri similis) dann weiter ausgeführt: Rem dilucide narrabimus, si ut quicquid primum gestum erit, ita primum exponemus et rerum ac temporum ordinem conservabimus, ut gestae res erunt aut potuisse geri videbuntur. […] Veri similis narratio erit, si, ut mos, ut opinio, ut natura postulat, dicemus, si spatia temporum, personarum dignitates, consiliorum rationes, locorum opportunitates constabunt. (I,9,15 f.) Den Sachverhalt legen wir deutlich dar, wenn wir das, was zuerst geschehen ist, auch zuerst behandeln und eine sachliche und zeitliche Reihenfolge einhalten, wie die Ereignisse eintraten oder wie sie dem Anschein nach eintreten konnten. […] Wahrscheinlich ist die Darlegung des Sachverhaltes, wenn wir sprechen, wie es die Sitte, wie es die allgemeine Meinung, wie es die Natur fordert, wenn Zeitraum, Rang und Charakter der Personen, die Motive für ihr Vorhaben, die günstige Lage des Ortes übereinstimmen.

Was wahrscheinlich ist, bemisst sich also einerseits an den Gesetzen der Natur, andererseits an Sitte und Meinung, das heißt nach sozialen Konventionen. Die darin angelegte Differenzierung zwischen einer objektiven Wahrscheinlichkeit des Naturhaften und einer subjektiv-kollektiven Wahrscheinlichkeit dessen, was sozialer Übereinkunft entspricht, spielt für Matthäus aber keine Rolle. Sein Wahrscheinlichkeitsbegriff ist, auch wenn er die affektive Wirkung der poetischen Darstellungsweise durchaus kennt und einfordert, wesentlich objektiv geprägt, im Sinne eines Erzählens secundum naturam. Diesen Begriff des verisimile greift Matthäus in seiner Poetik auch an anderer Stelle auf. So gibt er im Rahmen der descriptio-Lehre im ersten Teil seines Werks ausführliche theoretische und praktische Anweisungen für die Beschreibung von Personen, Taten (facta) oder Vorgängen (negotia). Wenn man etwa von der Wirkung der Liebe spreche, sei eine solche Beschreibung der jugendlichen Schönheit des Mädchens vorauszuschicken – in diesem Fall geht es um Jupiter und Parrasis –, ut, audito speculo pulcritudinis, verisimile sit et quasi coniecturale auditori Iovis medullas tot et tantis insudasse deliciis (1,40); dass es dem Hörer, wenn er von dem Abbild der Schönheit gehört hat, wahrscheinlich und wie vermutet vorkommt, dass Jupiters Innerstes bei so vielem und großem Liebreiz ins Schwitzen kam.

 Rhetorica ad Herennium: Incerti auctoris de ratione dicendi ad C. Herennium libri IV. Hrsg. von Friedrich Marx. Repr. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1894. Hildesheim 1966; die Übersetzung nach Rhetorica ad Herennium. Lateinisch – deutsch. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. München/ Zürich 1994 (Sammlung Tusculum), S. 23.

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Und generell empfiehlt Matthäus, mit Bezug auf V. 119 der ‚Ars Poetica‘ des Horaz, in der descriptio ein Höchstmaß an Glaubwürdigkeit (fides) vorzugeben, ut vera dicantur vel veri similia, iuxta illud Oratii: „Aut famam sequere aut sibi convenientia finge“ (1,73); so dass entweder Wahres oder dem Wahren Gleiches gesagt wird, gemäß dem Wort des Horaz: „Entweder folge der Sage oder erdichte, was in sich übereinstimmt.“

Der Begriff des verisimile hat in der mittelalterlichen Poetologie demgemäß zwei Seiten: eine ontologische und eine narratologische. Als ontologische Kategorie zielt er auf die Realitätshaltigkeit einer Aussage, fragt er nach der Möglichkeit des Eintretens eines Ereignisses in der (außersprachlichen) Wirklichkeit. Hier geht es darum, ob etwas an sich wahrscheinlich ist und geschehen kann.Wenn etwas, das erzählt wird, nicht historisch wahr ist, muss es sich zumindest den Anschein historischer Tatsächlichkeit geben. In diesem Sinne wird Wahrscheinlichkeit in der mittelalterlichen Gattungspoetik relevant. Als narratologische Kategorie ist das Konzept des verisimile bei Matthäus demgegenüber rezipientenbezogen formuliert: Hier geht es nicht darum, ob, sondern wie etwas geschehen kann und wie dementsprechend erzählt werden muss, damit beim Rezipienten, dem auditor (1,40), ein Eindruck des Wahren entsteht. In diesem Zusammenhang bemerkt Matthäus, der ‚Rhetorica ad Herennium‘ folgend, dass Voraussetzung für den contextus narrationis, das heißt für eine narrativ kohärente Handlungsdarstellung, die linear fortschreitende Verknüpfung aller Einzelelemente eines Handlungskomplexes ist. Ontologischer und narratologischer Aspekt des Wahrscheinlichkeitsbegriffs sind natürlich zwei Seiten derselben Medaille, aber systematisch doch voneinander zu trennen. Das Prinzip linearer Progression, das Matthäus’ Vorstellung von narrativer Kohärenz zugrunde liegt, orientiert sich dabei an Kausalitätskriterien, die von einem objektiven Weltwissen instruiert sind, einem Wissen von der ordinaria successio in den menschlichen Dingen – das Beispiel aus Ovids ‚Metamorphosen‘ veranschaulicht es, wenngleich die hier genannten Entwicklungsstufen der Liebe (gradūs amoris) literarisch vorgeprägt sind.⁴⁷ Der Begriff des verisimile wird zwar vom Rezipienten her formuliert, seine Kriterien sind aber die einer objektiven Wahrscheinlichkeit oder Naturgemäßheit, die auf die Psyche des Rezipienten wirkt, ohne der Psychologie des Publikums unterworfen zu sein (was bedeuten würde zu erzählen, was das Publikum für möglich hält). Zugleich macht die Kritik an Ovid, der für Matthäus den narrationis contextus durchbricht, freilich auch  Zur antik-mittelalterlichen Tradition des Schemas siehe Lionel J. Friedman: Gradus Amoris. In: Romance Philology 19 (1965), S. 167– 177.

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klar, dass die poetische Praxis von der poetologischen Theorie durchaus abzuweichen vermag. Matthäus’ von Vendôme Gedanken zu narrativer Kohärenz in einem Werk der Dichtkunst kann man in den anderen Poetiken des 12. und 13. Jahrhunderts, die in seinem Gefolge entstehen, weiterverfolgen. Galfred von Vinsauf, Gervasius von Melkley, Johannes von Garlandia – sie alle greifen den verisimilitudo-Gedanken in der ein oder anderen Weise auf. Galfred lebte nach allem, was wir wissen, um 1200. Er stammte vielleicht aus England – sein Beiname ‚von Vinsauf‘ (oder ‚de Vino Salvo‘) könnte auf normannische Herkunft deuten.⁴⁸ Zeitweise jedenfalls hielt er sich in England auf, bevor er nach Rom ging, und zwar während des Pontifikats Papst Innozenz’ III., dem er die eine seiner beiden poetologischen Lehrschriften widmete: eine Poetik, um 1210 entstanden und seit dem 13. Jahrhundert weit verbreitet, die auch ‚Poetria nova‘ genannt wurde, um sie von der alten, horazischen ‚Ars Poetica‘ zu unterscheiden. Erhalten ist zum anderen eine Prosaschrift, das ‚Documentum de modo et arte dictandi et versificandi‘, in der der Rhetoriker in etwa den gleichen Stoff wie in der ‚Poetria nova‘ abhandelt. Auch Galfreds Hauptquellen sind die herkömmlichen Lehrbücher der Rhetorik: die ‚Rhetorica ad Herennium‘, Ciceros ‚De inventione‘, die ‚Ars Poetica‘ des Horaz, Quintilians ‚Institutio oratoria‘. Anders als die ‚Ars versificatoria‘ des Matthäus von Vendôme ist Galfreds Poetik aber stärker nach den Produktionsschritten der schulmäßigen Rhetorik gegliedert: inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio oder actio. Von Matthäus unterscheidet Galfred auch, dass er im Rahmen der dispositio-Lehre ausführlich auf die Prinzipien des ordo naturalis und des ordo artificialis zu sprechen kommt. In erzähllogischer Hinsicht interessant ist eine Feststellung, die Galfred in seiner Lehre von der Ausweitung (amplificatio) eines Stoffs trifft, und zwar im Zusammenhang mit der Vergleichung (collatio) eines Gegenstandes mit einem anderen. Galfred hält hier den verhüllten Vergleich, der sich nicht mit Vergleichswörtern wie magis, minus, aeque (246) zu erkennen gibt, für weitaus subtiler und begründet: hic est / Formula subtilis juncturae, res ubi junctae / Sic coeunt et sic se contingunt, quasi non sint / Contiguae, sed continuae quasi non manus artis / Junxerit immo manus naturae. (258 – 262) Dies ist das Muster für eine subtile Verbindung, wo die miteinander verbundenen Dinge so zusammenlaufen und sich so berühren, als ob sie einander nicht lediglich berührten, sondern auseinander folgten, wie wenn sie nicht die Hand der Kunst, sondern vielmehr die der Natur verbunden hätte.

 Vgl. Reinhard Düchting: Galfridus de Vino Salvo. In: LexMA 4 (1989), Sp. 1085.

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Auch hier begegnet man einem Kohärenzideal, das – um Galfreds Begrifflichkeit aufzugreifen – nicht auf ‚Kontiguität‘, sondern auf ‚Kontinuität‘, das heißt auf eine lückenlose ‚Auseinanderfolge‘ der Erzählelemente abstellt. Zum Kriterium dafür wird die „Hand der Natur“ (manus naturae), also eine an die Bedingungen der Naturgemäßheit gekoppelte, objektive Wahrscheinlichkeit. Sie kann und soll die Kunsthaftigkeit der dichterischen Darstellung verschleiern. Im Zusammenhang mit der Amplifikation des Stoffes stehen auch die Vorschriften, die Galfred im ‚Documentum de modo et arte dictandi et versificandi‘ zur richtigen Anordnung der Teile eines Stoffs gibt. Sie finden sich unter einer Reihe von Einzelvorschriften, die sich vor allem auf Horaz beziehen und wie ein Kommentar zu ausgewählten Stellen der ‚Ars Poetica‘ lesen. Über die richtige Anordnung der Teile des Stoffs notiert Galfred: Si vero diffuse tractare velimus et amplum tractatum construere, in primis consideremus universum corpus materiae, et omnia linamenta corporis illius prosequamur, vel directe secundum naturalem ordinem, vel indirecte secundum artificialem, ut in tractatu materiae diffusae omnes partes materiae sibi cohaereant, scilicet principium, medium et finis. Et ita vitabimus vitium illud quod appellatur incongrua partium positio. (II,154 f.) Wenn wir aber weitschweifig abhandeln und eine breite Erörterung aufbauen wollen, sollten wir als Erstes das gesamte Stoffcorpus betrachten und alle Einzelzüge jenes Corpus verfolgen, sei es geradewegs gemäß dem natürlichen Ordo, sei es über Umwege gemäß dem künstlichen, damit bei der Behandlung der weitschweifigen Materie alle Teile des Stoffs miteinander verbunden sind, nämlich der Anfang, die Mitte und das Ende. Und so vermeiden wir jenen Fehler, der als unpassende Stellung der Teile bezeichnet wird.

Galfred will das als Kommentar zu den berühmten Eingangsversen der Horaz’schen Dichtungslehre verstanden wissen, die das groteske Bild eines von überallher zusammengeklaubten Mischwesens entwerfen und es einem Buch vergleichen, das Gebilde erdichtet, ut nec pes nec caput uni / reddatur formae („so daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören“, V. 8 f.).⁴⁹ Bei Horaz dienen die einprägsamen Bilder vom missgestalteten Fabelwesen und den Fieberträumen eines Kranken der Veranschaulichung eines übergreifenden poetologischen Ideals der Harmonie und Kohärenz von ihrem Gegenteil  Die Übersetzung nach Horaz: Ars Poetica. Lateinisch/Deutsch. Übers. und mit einem Nachwort hrsg. von Eckart Schäfer. Stuttgart 2008 (RUB 9421). Die gesamte Passage V. 1– 9 lautet hier: „Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet, so daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören“ (S. 4).

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her. Kohärenz aber wird nicht durch die Wahrheit des Erzählten hergestellt (ob das Erzählte wahr ist oder nicht, ist für die Frage seiner erzähllogischen Plausibilität völlig unerheblich), sondern durch seine Wahrscheinlichkeit, die mit ‚Natur‘ gleichzusetzen ist, mit dem, was der ‚Normalfall‘ ist. Die Pointe des Horaz’schen Eingangsbildes liegt insofern, wie Charles Oscar Brink in seinem Kommentar formuliert, nicht darin, „that the image is untrue […]. Rather the gratuitous collection of limbs lacks verisimilitude; it is merely grotesque.“⁵⁰ Es ist nicht ganz eindeutig, ob Galfred an der zitierten Stelle in seinem ‚Documentum‘ die Kohärenz der einzelnen Teile eines Gedichts auch in dieser Weise, also im Sinne einer erzähllogisch plausiblen, weil am Natürlichkeits- bzw. Wahrscheinlichkeitspostulat orientierten Darstellungsweise verstanden wissen wollte. Möglich ist auch, dass er dabei lediglich an die Ordnungsprinzipien des ordo naturalis bzw. artificialis gedacht hat oder an die Wahrung der durch den Stoff vorgegebenen Stilebene (stilus materiae), die er freilich wenig später, in einer Kommentierung von V. 21– 29 der ‚Ars Poetica‘ des Horaz, nochmals eigens einfordert.⁵¹ Dieser materiale Stilbegriff ordnet die drei Stilarten – gravis stilus, mediocris stilus, humilis stilus – bestimmten Stoffbereichen zu, der materia sowie den Personen und Gegenständen (personae et res), die behandelt werden.⁵² Galfred teilt diese Stilauffassung, die die styli von einer besonderen, eigenständigen ästhetischen Qualität der elocutio unabhängig macht,⁵³ mit der ‚Parisiana poetria‘, einer umfassenden Stil- und Dichtungslehre, die der Lehrer, Dichter und didaktische Schriftsteller Johannes von Garlandia zwischen 1232 und 1249 verfasste.⁵⁴ Wie Galfreds Lehrschriften gelten auch die Anweisungen der ‚Parisiana poetria‘ großenteils sowohl für Vers- als auch für Prosadichtung, wenngleich beides immer wieder vermischt wird. Johannes von Garlandia, der aus England stammte, in Oxford studierte, dann aber hauptsächlich in Paris, zwischenzeitlich auch in Toulouse, lehrte und schrieb, greift Galfreds materialen Stilbegriff auf und treibt ihn weiter, indem er jeder der drei Stilarten entsprechende Gegenstandsbereiche zuordnet: dem gravis stilus den Ritter und Herrscher, dem mediocris stilus den Bauern und dem humilis stilus den Hirten. Auf diese Stillehre sind denn auch

 Charles Oscar Brink: Horace on Poetry. Bd. 2: The ‚Ars Poetica‘. Cambridge 1971, S. 85.  Siehe im ‚Documentum de arte versificandi‘ II,158 f.  Vgl. ‚Documentum de arte versificandi‘ II,145 – 151.  So Franz Quadlbauer: Die antike Theorie der genera dicendi im lateinischen Mittelalter. Graz u. a. 1962 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 241,2), S. 91.  Zu Johannes, der auch den Beinamen ‚Anglicus‘ trägt, siehe Günter Bernt: Johannes de Garlandia. In: LexMA 5 (1991), Sp. 577 f.

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die Anweisungen zur kongruenten Anordnung der Teile einer Dichtung bezogen, die Johannes im fünften Kapitel seiner Poetik, das eine Fehlerlehre bietet, formuliert.Wenn er hier unter Berufung auf V. 11– 13 der Poetik des Horaz die congrua parcium dispositio – die „stimmige Anordnung der Teile“ einer Versdichtung – als Ideal vorstellt, a qua deviat aliquis quando assumit sibi membra et partes alterius materie („von der ein jeder abweicht, wenn er Glieder und Teile eines anderen Stoffs aufnimmt“, 5,9 – 11), dann zeigt der Nachsatz, dass es um die Kongruenz und Einheitlichkeit des materiell verstandenen, stoff- und standesgebundenen Stiltypus geht: Per serpentes intelligimus humiles, per aves elatos; per tigrides homines feros, per agnos homines mansuetos, quorum non erit conveniencia. (5,17– 19)⁵⁵ Unter Schlangen verstehen wir niedrige, unter Vögeln gehobene Menschen; unter Tigern rohe, unter Lämmern sanftmütige Menschen, zwischen denen keine Übereinstimmung sein kann.

Auch im Rahmen der eigentlichen dispositio-Lehre, die Johannes, vom ciceronianischen Schema abweichend, im dritten statt im zweiten Kapitel bietet, ist über die stimmige Verknüpfung der Einzelbestandteile einer materia nichts zu lesen. Hier geht es hauptsächlich um die Lehre des ordo naturalis und artificialis, wofür die ‚Parisiana poetria‘ an Galfred anschließt. Nur bei den bekanntermaßen wenig konsistenten gattungspoetologischen Bemerkungen Johannes’ von Garlandia im fünften Buch seiner Poetik deutet sich an, welche Vorstellungen er von der narrativen Kohärenz eines Textes gehabt haben könnte.⁵⁶ Wieder ist der Ausgangspunkt Horaz, der in seiner poetologischen Epistel dem Tragödienschreiber diktiert: Aut famam sequere aut sibi convenientia finge („Entweder folge der Sage oder erdichte, was in sich übereinstimmt“, V. 119). Johannes von Garlandia nutzt diesen Vers für seine Definition der fiktiven fabula. Er zitiert zunächst die Bestimmung der ‚Rhetorica ad Herennium‘ (die die fabula neben historia und argumentum unter den drei Arten der narratio führt):⁵⁷ Fabula est que nec res veras nec verisimiles continet („Fabula ist diejenige Erzählung, die weder wahre noch wahrscheinliche Geschehnisse enthält“, 5,317), und fährt dann fort:

 Zitiert nach Johannes von Garlandia: The ‚Parisiana Poetria‘. Hrsg. und übers. von Traugott Lawler. New Haven/London 1974 (Yale Studies in English 182).  Klopsch 1980, S. 155 – 157, hat in Johannes’ Gattungspoetik Ordnung hineinzubringen versucht; dennoch bleibt vieles unklar.  Vgl. in der ‚Rhetorica ad Herennium‘ I,8,13.

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unde si contingit narrationem esse fabulosam, ne sit viciosa, mentiri debemus probabiliter, ut dicitur in Poetria: „Aut famam sequere aut sibi conveniencia finge.“ (5,318 – 320) Daraus folgt, dass wir bei einer fabulösen Erzählung, damit sie nicht fehlerhaft sei, glaubwürdig lügen müssen, wie es in der Ars Poetica heißt: „Entweder folge der Sage oder erdichte, was in sich übereinstimmt.“

Was bedeutet hier „glaubwürdig lügen“ (mentiri probabiliter)? Verwendet Johannes das Adverb probabiliter synonym zu verisimiliter, obwohl er doch gerade erst mangelnde Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit zu Kennzeichen der fabula erklärt hat? Unwahrscheinlich erscheint mir, dass es um die Einhaltung der – materiell verstandenen – Stilebene geht. Dagegen spricht erstens der Kontext, der von der Unterscheidung zwischen fabula, historia und argumentum als den drei Arten der handlungsbezogenen narratio handelt,⁵⁸ und zwar nach ihrem jeweiligen Wahrheitsgrad. Dagegen spricht zweitens der Bezug auf Horaz mit seiner Gegenüberstellung von fama im Sinne der Wahrheit der mythischen Tradition und dem Erdichteten. Und drittens schließlich bezieht sich der horazische Ausdruck sibi convenientia, wenn man dem Stellenkommentar von Brink folgt, nicht nur auf die Darstellung der dramatischen Charaktere, sondern ebenso auf „consistency, or appropriateness to each other, […] of successive incidents of a story“, auf „plotconstruction“ also.⁵⁹ Cicero, der neben Horaz und Galfred die Hauptquelle der ‚Parisiana poetria‘ ist, verwendet probabilis und verisimilis gleichbedeutend. „Kurz, klar und glaubwürdig“ solle die narratio in der Gerichtsrede sein (ut brevis, ut aperta, ut probabilis sit), schreibt er in ‚De inventione‘ und erläutert das Kriterium der Glaubwürdigkeit so: Probabilis erit narratio, si in ea videbuntur inesse ea, quae solent apparere in veritate; si personarum dignitates servabuntur; si causae factorum exstabunt; si fuisse facultates faciendi videbuntur; si tempus idoneum, si spatii satis, si locus opportunus ad eandem rem, qua de re narrabitur, fuisse ostendetur; si res et ad eorum, qui agent, naturam et ad vulgi morem et ad eorum, qui audient, opinionem accommodabitur. Ac veri quidem similis ex his rationibus esse poterit. (1,21,29; Hervorheb. von mir)⁶⁰ Glaubwürdig ist die Darstellung des Sachverhalts, wenn sie das zu enthalten scheint, was in Wirklichkeit gewöhnlich zu sehen ist; wenn die Würde der Person gewahrt wird; wenn die Ursachen der Taten sichtbar hervortreten; wenn sich zeigt, daß es Möglichkeiten zur Tat gab;

 Siehe die ‚Parisiana poetria‘, Ciceros ‚De inventione‘ zitierend, 5,313 – 316.  Brink 1971, S. 198.  Marcus Tullius Cicero: De inventione/Über die Auffindung des Stoffs. De optimo genere oratorum/Über die beste Gattung von Rednern. Lateinisch – deutsch. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf/Zürich 1998 (Sammlung Tusculum); die Übersetzung von Nüßlein.

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wenn man zeigt, daß der Zeitpunkt geeignet, der Zeitraum genügend, der Ort tauglich war für das Geschehen, das dargelegt wird; wenn das Geschehen der Natur der handelnden Person, der Sitte der Menge und der Meinung der Zuhörer angepaßt wird. Wahrscheinlich kann sie also sein, wenn man dies berücksichtigt.

Demgemäß dürfte „glaubwürdig lügen“ bei Johannes ein fingierendes Erzählen meinen, das zwar ‚widernatürliche‘, unwahrscheinliche Elemente enthält – sprechende Tiere in der Tierfabel beispielsweise oder, um Ciceros Beispiel für fabula in ‚De inventione‘ aufzugreifen, angues ingentes alites, iuncti iugo („ungeheure geflügelte Schlangen, in ein Joch gespannt“, 1,19,27) –, ein fingierendes Erzählen aber gleichwohl, das bei der erzähllogischen Kontextualisierung dieser unwahrscheinlichen oder unwahren Elemente bestimmte Plausibilitätserwartungen der Rezipienten einhält; also, Ciceros Erläuterung für die probabilitas der narratio paraphrasierend: kausale Plausibilität im Sinne einer klar hervortretenden Handlungsmotivation, raumzeitliche Stimmigkeit, Orientierung an allgemein geteilten Haltungen, Zuschreibungen oder Erwartungen (etwa bezüglich der handelnden Charaktere oder des Geschehensverlaufs).

3.3 Die Begehrensstruktur des verisimile Der Gedanke, dass dichterische Fiktion wahrscheinlich zu erzählen habe, wurde von den Kommentatoren und Poetiklehrern des 12. und 13. Jahrhunderts vor allem aus Horaz heraus entwickelt. Karsten Friis-Jensen konnte zeigen, dass Matthäus, Galfred und Johannes alle direkt oder indirekt auf den ‚Materia‘-Kommentar zurückgegriffen haben. Er bezeichnet diesen daher als „missing link“ zwischen den neuen Artes poeticae des 12. Jahrhunderts und Horaz’ ‚Poetria vetus‘.⁶¹ Dazu kamen antike Quellen, Cicero und die Herennius-Rhetorik, aber auch das, was im trivialen Schulunterricht den Klassiker-Kommentaren über die Gesetze der Dichtkunst zu entnehmen war.⁶² Die Vorstellung, dass dichterisches Erzählen sich an Wahrscheinlichkeit zu orientieren habe, findet sich natürlich nicht nur bei den Kommentatoren und Poetiklehrern des 11. bis 13. Jahrhunderts. Sie ist poetologisches Allgemeingut; auch die mittelalterlichen Accessus ad auctores kennen sie.⁶³ Die Aussagen gleichen sich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Wahrschein-

 Friis-Jensen 1990, S. 319.  Vgl. Marti 1941, S. 253.  So etwa der Accessus de Arte Poetica – gemeint ist die des Horaz – in der Accessus-Zusammenstellung von Robert B.C. Huygens (Hrsg.): Accessus ad Auctores. Bernard d’Utrecht. Conrad d’Hirsau, Dialogus super Auctores. Leiden 1970: Nota etiam quod illi dicuntur poetae, qui id quod

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lichkeit darauf beziehen, was objektiv möglich ist, weil es sich an der „Hand der Natur“ (Galfred von Vinsauf) orientiert. Dabei ist auch Galfred und seinen Vorgängern klar, dass die Wahrscheinlichkeit im Auge des Betrachters liegt: Matthäus von Vendôme empfiehlt, die Wirkung weiblicher Schönheit auf den Göttervater Jupiter so zu beschreiben, dass dessen Erregung „dem Hörer [!] wahrscheinlich und wie vermutet ist“. Aber wirklich reflektiert wird die subjektiv-psychologische Seite der verisimilitudo bei ihnen nicht. Ein Nachdenken über den Zusammenhang zwischen Wahrscheinlichkeitserfahrung und subjektiver Wahrnehmung deutet sich jedoch dort an, wo das Konzept des Wahren oder Wahrscheinlichen mit dem Begriff des Schönen verbunden wird. Das kennzeichnet zum Beispiel das Wahrheits- bzw. Wahrscheinlichkeitsverständnis im Berliner Kommentar zu Martianus Capellas ‚De nuptiis Philologiae et Mercurii‘ aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert.⁶⁴ An einer Stelle erläutert sein unbekannter Verfasser den Komparativ pulcriorque bei Martianus mit id est verior und fährt dann fort: Quemadmodum turpe est quod intuitum offendit, ita placitum est quod inspectum visum lenit. Veritas ergo scriptorum eorum pulcritudo est quia placet, falsitas turpitudo quia displicet. Quod autem veritas scriptorum placeat, ostendit Horatius dicens: „Ficta voluptatis causa sint proxima veris,“ id est ea, que finguntur ut placeant, sint saltem probabilia. (I,78)⁶⁵ So wie hässlich ist, was dem Anblick Anstoß bereitet, so gefällt das, was dem Sehen sanft tut. Die Wahrheit der Schriftsteller ist also deren Schönheit, weil sie gefällt, die Falschheit ist Hässlichkeit, weil sie missfällt. Dass aber die Wahrheit der Schriftsteller gefallen soll, erklärt Horaz, wenn er sagt: „Was man des Vergnügens wegen erfindet, sei dicht an der Wahrheit“, das heißt diejenigen Dinge, die erfunden werden, damit sie gefallen, seien wenigstens wahrscheinlich.

Anders ausgedrückt: Gefallen kann nur das, was schön ist; schön sein aber nur das, was wahr oder wenigstens wahrscheinlich ist. Wenn Schönheit aber mit Wahrheit gleichgesetzt wird, dann ist der Weg nicht mehr weit zu dem umge-

non est in re ita veri simile dicunt, quod, si vere esset, non posset magis proprie dici, ut Virgilius, Ovidius, Terentius („Merke nämlich, dass jene Dichter genannt werden, die, wie etwa Vergil, Ovid oder Terenz, das, was es in Wahrheit nicht gibt, so dem Wahren gleich darstellen, dass es, wenn es wahr wäre, nicht charakteristischer dargestellt werden könnte“, S. 51, Z. 42– 44).  Haijo Jan Westra/Tanja Kupke (Hrsg.): The Berlin Commentary on Martianus Capella’s ‚De nuptiis Philologiae et Mercurii‘. 2 Bde. Leiden u. a. 1994– 1998 (Mittellateinische Studien und Texte 20, 23); zur Datierung siehe Bd. 1, S. xxxvii.  Vgl. zur Stelle auch den Bernardus Silvestris zugeschriebenen Martian-Kommentar: The Commentary on Martianus Capella’s ‚De nuptiis Philologiae et Mercurii‘ Attributed to Bernardus Silvestris. Hrsg. von Haijo Jan Westra. Toronto 1986 (Studies and Texts 80), S. 133, 6,91– 106.

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kehrten Gedanken, dass das, was gefällt, weil es „dem Sehen sanft tut“, wahr oder eben zumindest wahrscheinlich ist. Die Verknüpfung von ästhetischem Gefallen und Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitssuggestion, die man im Martian-Kommentar vorformuliert finden kann, trägt den Keim zu einer veränderten Bewertung der verisimilitudo als strukturalem Prinzip der (fingierenden) Erzählung in sich. Sie steht unter dem Einfluss der arabischen Aristoteles-Rezeption, die sich vom 12. Jahrhundert an mit der Horaz-Rezeption verbindet. Ein früher Vertreter dieser Verschmelzung von horazischem und aristotelischem Denken ist Dominicus Gundissalinus mit seiner nach 1150 entstandenen Schrift ‚De divisione philosophiae‘; im 13. Jahrhundert stehen dafür vor allem Roger Bacon und Hermannus Alemannus.⁶⁶ Hermannus Alemannus (gest. 1272), der zunächst in Toledo als Übersetzer tätig war, bevor er, nach einem Umweg über Sizilien, Bischof von Astorga wurde, fertigte um 1256 in Toledo seine ‚Averrois Expositio Poetice seu Poetria Ibinrosdin‘, eine Übertragung des sogenannten Mittleren Kommentars des Averroes, in dem der arabische Philosoph die Poetik des Aristoteles erläutert und interpretiert hatte.⁶⁷ Der averroischen Paraphrase folgend, behandelt Hermannus die Poetik als Teil der Logik. Er geht davon aus, dass die dichterische Sprachverwendung wesentlich durch ihre ‚Imaginativität‘ gekennzeichnet ist (Et sermones poetici sermones sunt imaginativi, S. 42).⁶⁸ Er unterscheidet drei Künste, die den Effekt des Imaginierens hervorzurufen vermögen, darunter als dritte die ars componendi sermones representativos, die dann ausdrücklich als diejenige ars logicalis bezeichnet wird, von der in der Poetik des Aristoteles die Rede sei: Dixit: […] erunt artes imaginative vel que faciunt effectum imaginandi tres: ars consonandi, et ars metrificandi, et ars componendi sermones representativos. Et ista est ars logicalis de qua est consideratio in isto libro. (S. 42 f.) Er [Aristoteles, C. S.] sagte: […] Es gibt⁶⁹ drei imaginative Künste oder solche, die die Wirkung des Imaginierens erzeugen: die Kunst des Reimens, die Kunst der Metrik und die Kunst,

 Siehe dazu Gillespie 2005, S. 160 – 178.  Vgl. Charles H. Lohr: Hermannus Alemannus. In: LexMA 4 (1989), Sp. 2170 f.; zur arabischen Poetik siehe Deborah L. Black: Logic and Aristotle’s ‚Rhetoric‘ and ‚Poetics‘ in Medieval Arabic Philosophy. Leiden u. a. 1990 (Islamic Philosophy and Theology 7).  Hermannus’ Übersetzung zitiert nach der Ausgabe: Averrois Expositio seu Poetria Ibinrosdin. In: De arte poetica. Translatio Guillelmi de Moerbeka. Accedunt Expositio media Averrois sive ‚Poetria‘ Hermanno Alemanno interprete et specimina translationis Petri Leonii. Hrsg. von Lorenzo Minio-Paluello. Brüssel/Paris 1968 (Aristoteles Latinus 33), S. 39 – 74.  Der Gebrauch des Futur I bei Hermannus erklärt sich aus dem Kontext der Stelle, der aber hier unerheblich ist; ich gebe lat. erunt daher im Indikativ Präsens wieder.

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bildlich darstellende Reden zu verfertigen. Und diese ist die logische Kunst, die in diesem Buch Gegenstand der Betrachtung ist.

Dichtung ist imaginativ, insofern sie auf image-making, auf die verbildlichende Repräsentation von etwas gerichtet ist, aber auch insofern sie auf die emotiven Effekte zielt, die solche Bildhaftigkeit beim Rezipienten auslöst. Entscheidend dabei ist, dass in der averroischen Deutung das Konzept der imaginatio und, im Zusammenhang damit, der assimilatio ein Darstellungskonzept ersetzt, das Mimesis wesentlich als Imitation begreift.⁷⁰ Nicht Nachahmung als Darstellung von Wirklichkeit oder als Abbildung menschlicher Handlungen steht im Vordergrund, sondern das Wesen der Dichtung besteht in ihrer Gleichnishaftigkeit, das heißt darin, mittels Verbildlichung eine Ähnlichkeit zwischen zwei Sachverhalten darzustellen.⁷¹ In diesem Sinne versteht Hermannus unter assimilatio, eine Sache einer anderen ähnlich oder gleich zu machen; unter imaginatio versteht er demgegenüber die bildhafte Repräsentation einer Sache durch eine andere.Wie Vergleich, Gleichnis oder Metapher vermögen dichterische Äußerungen (sermones poetici) aufgrund ihrer Gleichnishaftigkeit Bilder vor dem inneren Auge des Vorstellungsvermögens hervorzurufen; in diesem Sinne sind sie imaginativ. Dabei werden beide, assimilatio und verbildlichende representatio, als dem Menschen natürlich eingegebene Neigungen betrachtet, von denen die Dichtung ihren Ursprung habe: Originis autem poetrie naturaliter in homine due videntur esse cause. Prima quidem quoniam in homine existit naturaliter a prima sua nativitate assimilatio rei ad rem et representatio rei per rem. (S. 44 f.) Die Ursprünge der Dichtung aber scheinen von Natur aus im Menschen zwei Ursachen zu haben. Die erste ist sicherlich, dass im Menschen ja naturgemäß von seiner ersten Geburt an die An-Ähnlichung⁷² einer Sache an eine Sache oder die bildliche Darstellung einer Sache durch eine Sache auftritt.

 Ausführlich und grundsätzlich zur Rezeption des Mimesis-Begriffs des Aristoteles und, im Zusammenhang damit, seines Prinzips der Wahrscheinlichkeit (eikós) in der mittelalterlichen Poetik Fritz Peter Knapp: Mimesis in der mittelalterlichen Poetik. In: Fiction and Figuration in High and Late Medieval Literature. Hrsg. von Marianne Pade u. a. Rom 2016 (Analecta Romana Instituti Danici, Suppl. 47), S. 43 – 54.  Vgl. Volkhard Wels: Dichtung als Argumentationstechnik. Eine Interpretation der averroischen Bearbeitung der aristotelischen ‚Poetik‘ in ihren lateinischen Übertragungen. In: PBB 133 (2011), S. 265 – 289, hier S. 271– 273; siehe dort auch zu den Anknüpfungspunkten der averroischen Mimesis-Interpretation bei Aristoteles.  Der Begriff nach Wels 2011, S. 272, der assimilatio so und mit „In-Vergleich-Setzen“ umschreibt.

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An die Fähigkeit der Dichtung, durch assimilatio und representatio auf das Vorstellungsvermögen ihrer Rezipienten zu wirken, wird nun der Begriff der credulitas poetica geknüpft. Credulitas poetica ist die spezifische Fähigkeit der Dichtung, beim Publikum Glauben in das Erzählte zu erzeugen. Die verisimilitudo der Dichtung wird so durch ein make-believe ergänzt, das die Plausibilität des Erzählten in erster Linie als einen psychischen Effekt beschreibt und erst in zweiter Linie an seinem (tatsächlichen oder möglichen) Wirklichkeitsgehalt festmacht. Hermannus schreibt: Quando ergo fuerint actiones possibiles et quasi reales amplius incidit per eas sufficientia persuasiva scilicet credulitas poetica motiva anime ad assequendum aliquid aut refutandum ipsum. (S. 52) Wenn also die Handlungen⁷³ möglich sind und wirklich erscheinen, dann ergibt sich aus ihnen eine größere Überzeugungskraft, das heißt eine Leichtgläubigkeit in Bezug auf das Dichterische, die den Geist bewegt, irgendeine Sache zu verfolgen oder dieselbe zurückzuweisen.

Damit bleibt das Konzept des Möglichen im Sinne einer Angleichung des dichterisch Dargestellten an das, was tatsächlich der Fall sein kann, bei Hermannus zwar im Prinzip bewahrt.⁷⁴ Aber es erscheint jetzt nicht mehr allein als objektives, sondern zugleich als subjektiv-psychologisches Prinzip. Im Mittelpunkt steht die Evokation „dichterischen Glaubens“. In der Pariser Handschrift B.N. lat. 16709 folgt auf eine Sammlung von Glossen zu Hermanns Averroes-Übersetzung eine ‚Questio in poetriam‘, die diesen Gedanken noch klarer darstellt. Ihr Herausgeber, Gilbert Dahan, datiert sie auf um 1300.⁷⁵ Wie bei Hermannus ist es ihr Anliegen, die aristotelische Poetik in das System der Logik einzuordnen und ihren Platz darin genauer zu bestimmen. Zunächst wird als übergreifende Gemeinsamkeit von Dichtung und Logik herausgestellt, dass sie sich derselben kognitiven Operationen bedienen. Beide nämlich verfahren mittels Syllogismen, die auf Zeichen beruhen (per sillogismos ex signis), und einer Redeweise, die das Empfinden oder die Affekte der Hörer

 Gemeint sind actiones, wie sie in Dichtung dargestellt werden.  So heißt es an anderer Stelle in Hermanns Averroes-Übersetzung auch: Ideo poete non pertinet loqui nisi in rebus que sunt aut quas possibile est esse („Sache des Dichters ist es daher, nur von Dingen zu sprechen, die sind oder sein können“, S. 51).  Siehe Gilbert Dahan: Notes et textes sur la poétique au moyen âge. In: Archives d’Histoire Doctrinale et Littéraire du Moyen Age 55 (1980), S. 171– 239; die ‚Questio in poetriam‘ hier, S. 206 – 219.

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anspricht (sermones passionales).⁷⁶ Von hier aus wird dann die der Dichtung eigene Logik entworfen, ihre spezifische Überzeugungsstrategie, die sie als specialem partem logice ausweist. Über sie sagt die ‚Questio‘: Actui autem intellectus per comparationem ad appetitum per quem homo in seipso dirigitur respondet persuasio poetica. Et quia quilibet propriis estimationibus maxime credit et propriis fantasiis maxime innititur, ideo sermo poeticus seu sillogismus poeticus ymaginativus a philosopho appellatur. (S. 215 f.; Hervorheb. von mir) Die dichterische Überzeugung aber bezieht sich auf die Tätigkeit des Erkenntnisvermögens im Verhältnis zu dem Begehren, durch das der Mensch in sich selbst geleitet wird. Und da ein jeder seinen eigenen Einschätzungen am meisten vertraut und sich auf die eigenen Einbildungen am meisten verlässt, darum wird die dichterische Rede oder der dichterische Syllogismus von dem Philosophen ‚imaginativ‘ genannt.

Wie alle anderen Formen des Denkens verwendet die Dichtung logisch-argumentative Verfahren. Im Unterschied zur demonstrativen Logik (logice demonstrativa) aber, die analytisch und mittels wissenschaftlicher Beweisgründe verfährt, richtet sich die Logik der Dichtung (logice poetica) an das Vermögen zu begehren (appetitus), durch das der Mensch aus sich selbst heraus geleitet wird.⁷⁷ Dichterische Rede wirkt, indem sie die menschliche Imaginationskraft nicht im Hinblick darauf anspricht, was objektiv der Fall ist, sondern im Hinblick darauf, was sie sich wünscht. Eine solche Analyse der Logik der Dichtung wirkt sich auf das Wahrscheinlichkeitsprinzip und damit auf die Frage der logischen Konsistenz dichterischen Erzählens unmittelbar aus. Denn was wahrscheinlich ist, bemisst sich dann tendenziell nicht mehr danach, was gemäß den Gesetzen der Natur geschehen kann oder nicht, sondern danach, inwieweit es den Haltungen, Erwartungen und Wünschen der Rezipienten entspricht und im Hinblick darauf ihre Phantasie anzuregen vermag. In diesem Sinne hatten Avicenna und Averroes den Begriff des ‚imaginativen Syllogismus‘ (sillogismus ymaginativus) geprägt, den die ‚Questio in poetriam‘ aufnimmt. Der ‚imaginative Syllogismus‘ ist der logische

 Die Stelle als Ganze lautet in der ‚Questio‘: Item processus et modi procedendi earum non differunt, quia ambe procedunt per sillogismos ex signis et sermones passionales („Daher unterscheiden sich das Vorgehen und die Vorgehensweisen derselben nicht, weil beide [Dichtung und Logik, C. S.] mittels auf Zeichen gründender Syllogismen und Reden, die die Empfindung ansprechen, voranschreiten“, S. 214).  Ähnlich weist auch Knapp 2016, S. 48, darauf hin, dass gemäß der arabisch-lateinischen Tradition der aristotelischen Poetik rhetorische und poetische Mittel „nicht mehr primär die Vernunft des Menschen, sondern seine Imagination und sein Begehren [ansprechen].“

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Operator einer für Dichtung spezifischen, imaginativen Darstellungsart, die das psychologische Einvernehmen des Rezipienten hervorrufen will.⁷⁸ Eine solche Konzeptualisierung von Wahrscheinlichkeit wird nicht erst von den mittelalterlichen Aristoteles-Übersetzern und -Kommentatoren ins Spiel gebracht. Sie ist schon bei Aristoteles zu finden, dessen Wahrscheinlichkeitsbegriff sowohl den objektiven als auch den subjektiven Aspekt kennt.⁷⁹ Die Kommentatoren entdecken ihn aber für die mittelalterliche Poetik wieder und ergänzen und erweitern dadurch das bisherige objektive Verständnis von Wahrscheinlichkeit. Dabei bedeutet die subjektive Dimension des verisimile, auf die die mittelalterliche Poetik im 12. und 13. Jahrhundert durch die arabische Philosophie aufmerksam wird, keinesfalls, dass objektive Wahrscheinlichkeit fortan keine Rolle mehr spielt. Vielmehr ist es so, dass die beiden Aspekte der Wahrscheinlichkeit sich potentiell komplementär zueinander verhalten. Ein Blick auf die aristotelische ‚Rhetorik‘ macht deutlich, dass der Unterschied zwischen ihnen vom jeweiligen Bezugspunkt abhängt: Wenn der Fokus auf einem Publikum liegt und auf der Aufgabe, dieses zu überreden oder zu überzeugen, dann ist der subjektive Sinn der angemessenere; richtet sich der Fokus hingegen auf die inneren Beziehungen zwischen den Bestandteilen einer Beweisführung oder eines entsprechenden Gedankengangs, dann kommt dem objektiven Sinn die tragende Rolle zu.⁸⁰ Bei Hermannus Alemannus spiegelt sich diese Komplementarität, wenn er feststellt, dass die subjektiv-psychologische Glaubwürdigkeit der Dichtung besonders ausgeprägt dann sei, wenn objektiv Wahrscheinliches gesagt werde. Gleichwohl bedeutet die Betonung der subjektiv-psychologischen Überzeugungskraft in den poetologischen Stellungnahmen eines Hermannus oder der Pariser ‚Questio in poetriam‘ eine Erweiterung des traditionellen verisimile-Verständnisses.Wahrscheinlichkeit wird nun auch daran gemessen, was Rezipienten kraft ihrer eigenen Einstellungen, Erwartungen und Wünsche hinsichtlich des Verlaufs einer dichterischen Erzählung für wahrscheinlich zu halten geneigt sind. Das Konzept der verisimilitudo umfasst hier nicht mehr nur das, was naturgesetzlich wahrscheinlich ist, sondern bezieht, zumindest in der Tendenz, die psychischen und kognitiven Dispositionen des Publikums, seine Begehrensstruktur, mit ein.

 Zum ‚imaginativen Syllogismus‘ siehe Deborah L. Black: The ‚Imaginative Syllogism‘ in Arabic Philosophy. A Medieval Contribution to the Philosophical Study of Metaphor. In: Mediaeval Studies 51 (1989), S. 242– 267; zudem Gillespie 2005, S. 171– 174.  Dazu ausführlicher Halliwell 1986, S. 101– 103.  Siehe Halliwell 1986, S. 102.

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3.4 Lateinische Theorie und volkssprachige Literaturpraxis Welche Vorstellungen von narrativer Kohärenz und einer in sich stimmigen Verknüpfung der Einzelbestandteile einer Erzählung kommen in der mittelalterlichen Dichtungstheorie also zum Ausdruck? Zum Gegenstand eines systematischen Nachdenkens wurde die Frage im 12. und 13. Jahrhundert nicht gemacht. Das gilt bemerkenswerterweise vor allem für die Poetiken. Es erklärt sich aber daraus, dass das Hauptanliegen der neuen Artes poeticae die Vermittlung literarischer Technik auf der mikrostrukturellen Ebene der Textgestaltung ist. Um das Werkganze und seine Makrostruktur geht es nur vereinzelt, am ehesten im Zusammenhang mit der dispositio-Lehre von der richtigen Anordnung der Teile einer narratio. Franz Quadlbauer hat das treffend die „Tendenz zur kleinen Einheit“ genannt, die das stiltheoretische Denken der Zeit kennzeichne.⁸¹ Trotzdem lassen sich aus den vereinzelten Aussagen recht genaue Vorstellungen von einer in sich kohärenten narratio herauslesen. Zum Maßstab dafür wird ein Dichten, das sich an schlüssiger linearer Handlungsprogression, an nahtloser Auseinanderfolge, an raumzeitlich stimmiger, kausaler Verknüpfung der Einzelelemente eines Handlungskomplexes orientiert (erinnert sei an das Beispiel Matthäus von Vendôme). Diesen Maßstab konkretisieren die Autoren durch die topische Forderung, dass die narratio eines Textes wahrscheinlich, das heißt: der ‚Natur‘, dem ‚Normalfall‘ gemäß zu sein habe. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit hat in diesem Zusammenhang, so zeigte sich, nicht nur eine ontologische, sondern auch eine narratologische Dimension. Die Texte verwenden ihn nicht nur zur Bestimmung des Verhältnisses des Erzählten zur außerliterarischen Wirklichkeit (wie nah ist das Erzählte an der faktischen Wahrheit, wie sie die historia berichtet?); sondern sie verwenden den Begriff auch innerliterarisch, das heißt zur Bestimmung des Plausibilitätsstatus eines narrativen Elements in Bezug auf vorausgehende oder nachfolgende Ereignisse der erzählten Welt. In diesem Sinne kann das Konzept, wie bei Johannes von Garlandia, auch mit probabilis glossiert werden. Dass die Verknüpfung wahrscheinlich wirken muss, dieser Vorgabe ist die Sachverhaltsdarstellung schon in der antiken Rhetorik unterworfen, und dies als einziger strukturaler Regel. Sie gilt auch in der mittelalterlichen Rhetorik und Poetik für die Gestaltung der narratio. Anders als etwa Roland Barthes in seiner Studie über ‚Die alte Rhetorik‘ suggeriert, wird diese strukturale Regel durch die mittelalterliche Theoretisierung des Gegensatzes zwischen ordo naturalis und ordo artificialis keineswegs aufgehoben, denn die Künstlichkeit der Ordnung wird

 Quadlbauer 1962, S. 71 f., 165.

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auf der Ebene des discours verhandelt, nicht auf der der histoire oder des Plots.⁸² Auf der Plotebene bleibt auch beim ordo artificialis das Prinzip der Chronologie als fundamentale Bedingung von Wahrscheinlichkeit (etwas zeitlich Nachfolgendes kann nicht wahrscheinliche Ursache eines Früheren sein) gewahrt. Nur wann welches Ereignis der chronologisch geordneten Geschichte im sequentiell geordneten Prozess der Erzählung dargeboten wird, darin unterscheiden sich ordo naturalis und ordo artificialis. Deshalb berührt die ordines-Lehre die Frage erzähllogisch plausibler Verknüpfung nicht unmittelbar. Allerdings erfährt das verisimile als strukturale Verknüpfungsregel durch die Rezeption aristotelischen Gedankenguts in der arabisch-lateinischen Poetik des 12. und 13. Jahrhunderts eine neue Bewertung. Diese besteht in der Betonung des subjektiven Aspekts von Wahrscheinlichkeit. Wenn Matthäus von Vendôme Ovid dafür tadelt, in seiner Schilderung von Jupiters Annäherungsversuchen an Io zwei Stufen der Liebesentstehung ausgelassen zu haben, so ist das gewissenhaft naturgesetzmäßig gedacht. Die poetische Logik in der averroischen Tradition, bei Hermannus Alemannus und in der ‚Questio in poetriam‘, ergänzt dieses naturhaft Wahrscheinliche dann um ein verisimilitudo-Verständnis, das den Begriff der Wahrscheinlichkeit auf das ‚Allgemeine‘ abstellt, das heißt auf die Publikumsmeinung, nicht auf das ‚Allgemeingültige‘. Nicht um wissenschaftliche Gewissheit geht es, sondern um menschlich Gewisses. Es gilt, dass es besser ist, ein unmögliches Wahrscheinliches als ein mögliches Unwahrscheinliches zu erzählen.⁸³ In den lateinischen Artes poeticae, den Accessus ad auctores und KlassikerKommentaren greifen wir nicht die, sondern eine theoretische Norm für logisches Erzählen im Mittelalter. Inwieweit sie für die volkssprachige Literaturpraxis, insbesondere im deutschsprachigen Raum, relevant gewesen ist, darüber lässt sich streiten. Jedoch sollte man dabei zwei Dinge im Auge behalten: Zum einen: Die mittelalterlichen Poetiken und Kommentare beziehen sich auf die Produktion von Schrifttexten; Informationen über eine ‚Poetologie der Mündlichkeit‘ fehlen demgegenüber fast völlig. Dieser Umstand verführt dazu, der gelehrten lateinischen Poetologie a priori nur eine sehr begrenzte Wirkung auf eine Literatur zuzutrauen, die, wie die weltliche volkssprachige Erzähldichtung vor und um 1200, in gewisser Weise zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit stand. Man darf darüber aber nicht vergessen, dass die antiken Regeln der Rhetorik, die im Mittelalter auf die Herstellung von Schrifttexten übertragen wurden,

 Vgl. Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: Barthes, Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988a (Edition Suhrkamp 1441), S. 15 – 101, hier S. 83.  Barthes 1988a, S. 26.

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ihrem Ursprung nach weitgehend selbst auf die mündliche Rede bezogene Regeln waren. Zum anderen: Nur in wenigen Fällen lässt sich der „Grad der Vernetzung“ zwischen gelehrtem Wissen und volkssprachiger Literatur genauer bestimmen.⁸⁴ Poetische Praxis folgt einer Eigenlogik, die sich um theoretische Vorgaben, selbst wenn sie diese kennt, nicht unbedingt kümmern muss und sich auch gar nicht immer mit ihnen verträgt (was die Theorie dann mit erhobenem Zeigefinger rügt: siehe nur Matthäus’ von Vendôme Ovid-Kritik). Das bedeutet allerdings nicht, dass das in den poetologischen Lehrschriften und Schulkommentaren der Zeit formulierte Wissen von vornherein irrelevant gewesen wäre. Die volkssprachigen Autoren der Frühzeit waren überwiegend geistlich gebildet. Sie hatten meist so etwas wie eine klösterliche Schulausbildung durchlaufen und dürften aus der Schullektüre, wie Jürgen Wolf schreibt, über eine recht genaue Kenntnis der lateinischen Klassiker verfügt haben, die ihren literarischen Horizont (mit‐)bestimmten.⁸⁵ Das wiederum setzte Fremdsprachenkenntnisse voraus, besonders (aber nicht nur) des Lateinischen. Der Pfaffe Konrad, der im Auftrag Heinrichs des Löwen und seiner Frau Mathilde die französische ‚Chanson de Roland‘ ins Deutsche übersetzte, hatte, nach eigener Aussage, eine französische Vorlage, die er zuerst ins Lateinische und erst dann ins Deutsche übertrug.⁸⁶ So wie (vermutlich) Konrad war jeder, der im 12. Jahrhundert über Lateinkenntnisse verfügte, zwei-, vielleicht sogar dreisprachig, und für viele volkssprachige Dichter blieben Lateinkenntnisse und lateinische Bildung auch im fortschreitenden 13. Jahrhundert, so Wolf, „Normalität“.⁸⁷ Entprechend wurden die an den Schulen gelehrten sprachlichen, rhetorischen und poetologischen Kompetenzen von vornherein als sprachenunabhängige verstanden, mit der Folge, dass einer Übertragung auf die Volkssprache grundsätzlich nichts im Wege stand. Oder, wie James J. Murphy es formuliert hat:

 Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun/Alexandra Dunkel/Jan-Dirk Müller. Berlin/Boston 2012, S. 24.  Jürgen Wolf: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert. Tübingen 2008 (Hermaea, N. F. 115), S. 45 – 47.  Im Epilog des ‚Rolandslieds‘ sagt Konrad: alsô ez an dem buoche gescriben stât / in franzischer zungen, / sô hân ich ez in die latîne betwungen, / danne in die tiutische gekêret (V. 9080 – 9083). Keine Rolle spielt dabei, ob Konrad hier eine ätiologische Fiktion konstruiert oder die tatsächliche Entstehung seiner Übersetzung wiedergibt. Allein, dass er ein solches Modell entwerfen kann, zeigt, dass es für sein Publikum (und seine Auftraggeber) Plausibilität besessen haben muss; vgl. Wolf 2008, S. 48 f., Anm. 195.  Wolf 2008, S. 49.

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Hence the inference is that vernacular facility may derive from Latin training. The school arts of poetry and prose, then, help us to understand what truly may be called the literary infrastructure of the Middle Ages.⁸⁸

Diese Infrastruktur, von der die poetologischen und rhetorischen Lehrschriften des Mittelalters nur ein Teil sind, machte auch vor Sprach- und Landesgrenzen nicht Halt. Schon Hartmann von Aue könnte die ‚Ars versificatoria‘ des Matthäus von Vendôme gekannt und verwendet haben.⁸⁹ Ganz sicher ist das für Gottfried von Straßburg: Nicht nur weist sein ästhetisch-poetisches Ideal, wie er es im Literaturexkurs des ‚Tristan‘ beschreibt, deutliche Parallelen zu den nordfranzösischen Grammatikern und Rhetorikern im Allgemeinen auf; er teilt speziell mit Matthäus auch die Vorliebe für die via plana des leichten Redeschmucks und zitiert im sogenannten Frauen- oder huote-Exkurs sogar direkt aus der ‚Ars versificatoria‘.⁹⁰ Und auch für den ‚Krone‘-Dichter Heinrich von dem Türlin lässt sich zeigen, dass ihm die poetologischen Auffassungen seiner Zeit durchaus geläufig waren.⁹¹ Gottfried und Heinrich sind vielleicht nicht repräsentativ für ihre Zeit, aber daraus im Umkehrschluss zu folgern, dass andere Autoren über keinerlei (gelehrtes) poetologisches Wissen verfügten, wäre ebenso verfehlt. Auch wenn sie im Einzelnen schwer zu beweisen ist, muss mit der Kenntnis der gallolateinischen poetischen Theorie östlich des Rheins prinzipiell gerechnet werden. Die gelehrten Bemerkungen zum narrationis contextus und zur Wahrscheinlichkeit des dichterischen Darstellens bilden insofern den Hintergrund, vor dem die Kohärenzansprüche und -verfahren in den volkssprachigen Texten zu sehen sind. Dabei beziehen sich die Bemerkungen der Poetiker, Rhetoriker und Kommentatoren im Wesentlichen auf das, was ich als ‚motivationale Beziehungen‘ bezeichne. Andere Formen der Verknüpfung oder Kohärenzherstellung, durch die Erzählen ausgewiesen ist, werden in der mittelalterlichen Poetologie nicht zum  James J. Murphy: The Arts of Poetry and Prose. In: The Cambridge History of Literary Criticism. Bd. 2: The Middle Ages. Hrsg. von Alastair Minnis/Ian Johnson. Cambridge 2005, S. 42– 67, hier S. 67.  So Fritz Peter Knapp: Einleitung. In: Matthaeus Vindocinensis, Ars versificatoria. Text nach der Ausgabe von Franco Munari. Übers. und mit Anmerkungen und einer Einleitung vers. von Fritz Peter Knapp. Stuttgart 2020 (Relectiones 8), S. VII–XVII, hier S. XIV.  Vgl. z. B. aus dem Frauenexkurs des ‚Tristan‘ die Verse 17971– 17979 und 17983 – 17789 mit Matthäus’ ‚Ars versificatoria‘ 1,55,11– 34; dazu Robert Glendinning: Gottfried von Strassburg and the School-Tradition. In: DVjs 61 (1987), S. 617– 638, bes. S. 624– 626, und Knapp 2020, S. XIIIf.  Siehe Fritz Peter Knapp: Heinrich von dem Türlîn. Literarische Beziehungen und mögliche Auftraggeber, dichterische Selbsteinschätzung und Zielsetzung. In: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten.Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13. 9. 1980. Hrsg. von Peter Krämer. Wien 1981 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 16), S. 145 – 187.

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Gegenstand gemacht. Für die dichterische Darstellung von Handlungsfolgen formuliert sie Kohärenzanforderungen, die uns vertraut erscheinen. Das Vertraute besteht jedoch weniger in dem Postulat realistischer, mimetischer Darstellung, sondern in der dafür geforderten Darstellungstechnik.⁹² Es betrifft die narratologische, nicht die ontologische Seite des verisimile. Im Hinblick auf diese ist klar, dass die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Erzählten historisiert werden muss. Was für mittelalterliche Menschen ‚realistisch‘ war, muss es für uns noch lange nicht sein, oder besser: ist es für uns schon lange nicht mehr. Das Mittelalter glaubte durchaus an Zauber, Drachen und andere Wunderwesen. Die mirabilia – die Absonderlichkeiten der Schöpfung – gehören in diesem Sinne ebenso zum Wahren und Wahrscheinlichen wie die wunderhaften Taten Gottes in der Geschichte, die miracula; und dass Gott die Geschicke einer Geschichte lenkt, dass er, technisch formuliert, als Faktor der Geschehensmotivation in Narrativen zu berücksichtigen ist, auch das ist für mittelalterliche Rezipienten nicht unwahrscheinlich. Auch Wunderwahrscheinlichkeit ist schließlich Wahrscheinlichkeit. In narratologischer Hinsicht, also hinsichtlich der Frage, wie etwas erzählt werden muss, damit es wahrscheinlich wirkt, erscheinen die mittelalterlichen Vorstellungen von heutigen demgegenüber nicht wesentlich geschieden: Grundsätzlich gilt für die Gestaltung von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen in poetischen Darstellungen das Prinzip einer relativ dichten, in sich konsistenten Kausalmotivation. Allerdings steht diese Kausallogik in einer gewissen Spannung zu der für die Dichtung charakteristischen Logik des Begehrens, in der es nicht so sehr darauf ankommt, was tatsächlich der Fall ist oder sein kann, sondern darauf, was den eigenen Werturteilen und Einbildungen entspricht. Diese logica poetica, wie die anonyme ‚Questio in poetriam‘ sie nennt, zieht die kognitive und psychische Disposition des Rezipienten bei der Bestimmung des verisimile mit in Betracht. Ein Bewusstsein dafür zeigt sich spätestens in der aristotelisch beeinflussten Poetologie des 13. Jahrhunderts. Motivationslogisch gefasst, ließe es sich so formulieren: Wovon der Rezipient oder auditor (‚Materia‘-Kommentar, Matthäus von Vendôme) wünscht, dass es geschieht, das erscheint ihm auch tendenziell wahrscheinlich; das heißt, in einer Folge von narrativen Ereignissen wird er eher dasjenige Ereignis als ‚dem Wahren ähnlich‘ – und damit überzeugend motiviert – zu betrachten geneigt sein, das seinen Wünschen und Erwartungen entspricht, als jenes, das ihnen zuwiderläuft.⁹³

 Dies differenzierend zu Schulz 2012, S. 125.  Auf diesen Zusammenhang komme ich in Kap. 5.3, S. 254– 258, zurück.

4 Kohärenz und Konnektivität Nicht nur für die mittelalterliche Dichtungstheorie, auch für die moderne Literaturwissenschaft spielt die Kategorie des verisimile bei der Bestimmung des Kohärenzbegriffs eine nicht unerhebliche Rolle. Wenn in der Literaturwissenschaft von ‚Kohärenz‘ die Rede ist, so ist in der Regel die „Stimmigkeit der Handlungsführung“, letztlich also „die Wahrscheinlichkeit der Abfolge der einzelnen Ereignisse im Sinne einer kausalen Relation von Ursache und Folge“ gemeint.¹ Ein solches Verständnis kann sich sowohl auf die aristotelische Idee der Ganzheit einer dargestellten Handlung mit Anfang, Mitte und Ende berufen als auch auf die ebenfalls schon aristotelische Lehre von den drei Einheiten: der Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, die der dramatischen Darstellung Wahrscheinlichkeit verleihen sollen.² Indem es Kohärenz auf handlungslogische Plausibilität abstellt, beschränkt es die Kategorie allerdings im Wesentlichen auf Fragen von Motivation und Kausalität. Diese sind für die Wahrnehmung der Kohärenz eines narrativen Textes sicher nicht unwichtig, doch zeigen gerade Beispiele der mittelalterlichen ebenso wie der postmodernen Literatur, dass Kohärenz in Handlungslogik nicht aufgeht.³ Ob ein Erzähltext kohärent ist oder nicht, ist nicht vom Text allein abhängig, sondern auch von den Möglichkeiten des Rezipienten, ihm in einem bestimmten Kontext und im Rückgriff auf bestimmte Handlungs- und Deutungsmuster Kohärenz zu attribuieren. Kohärenz ist insofern eine pragmatische Kategorie, und Rezipienten achten dabei nicht nur auf motivationale und kausale Verknüpftheit, sondern lassen sich auch von anderen Aspekten, wie etwa der Figurenkohärenz, der Narrativität, der Erzählwürdigkeit (tellability) des Dargestellten, leiten.⁴ Vor dem Hintergrund dessen, was Hans Robert Jauß den ‚Erwartungshorizont‘ genannt hat, vor dem ein Werk geschaffen und rezipiert wurde, entscheiden diese Aspekte mit darüber, ob es als kohärent

 Schulz 2012, S. 325 f.; vgl. auch Stuck 2000, S. 281.  Siehe dazu Kap. 2.1, S. 44– 46.  Als Beispiele postmodernen und/oder zeitgenössischen fiktionalen Erzählens, das konventionelle Erwartungen an einen logisch stimmigen Handlungszusammenhang herausfordert, werden gerne die Nouveaux Romans Alain Robbe-Grillets (z. B. ‚La Maison de rendez-vous‘, 1965), aber auch Djuna Barnes’ ‚Nightwood‘ (1936) oder Don DeLillos ‚Underworld‘ (1997) genannt.  Vgl. Michael Toolan: Coherence. In: Handbook of Narratology. 2. Aufl. Hrsg. von Peter Hühn u. a. Bd. 1. Berlin/Boston 2014, S. 65 – 83, bes. S. 73 – 76. Toolan gibt einen vorzüglichen Überblick über die verschiedenen Aspekte, die im Hinblick auf das Kohärenzkonzept in der Narratologie diskutiert werden. https://doi.org/10.1515/9783110593105-005

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wahrgenommen werden kann.⁵ Hinzu kommt: Die Kohärenz oder Nichtkohärenz eines Textes hängt nicht nur von der Handlungs- oder histoire-Ebene der Erzählung ab (auf sie aber beschränken motivationale Erwägungen sich), sondern auch von ihrer Diskursebene; sie betrifft Inhalt und Form. Erzähltheoretische Überlegungen zu narrativer Kohärenz können hier an die Beobachtungen der Textlinguistik zu Kohärenz und Konnexion anschließen. Auf ihnen baut die jüngere literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kohärenzbegriff, seit etwa Mitte der 1960er-Jahre, auf.⁶ Grundlegend für die textlinguistische Diskussion ist die Unterscheidung zwischen grammatischer und thematischer Kohärenz.⁷ Die grammatische Kohärenz betrifft die Oberflächenstruktur eines Textes, die thematische seine Tiefenstruktur.⁸ Grammatische Kohärenz beschreibt demnach die morphologisch-syntaktische Verknüpfung der Komponenten eines Textes, das heißt den Prozess, durch den Sätze zu fortlaufenden Texten ‚zusammengeflickt‘ werden.⁹ Sie bezieht sich auf „die für den Textzusammenhang relevanten syntaktisch-semantischen Beziehungen zwi-

 Zum Begriff des ‚Erwartungshorizonts‘ siehe Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. von Rainer Warning. München 1975 (Uni-Taschenbücher 303), S. 126 – 162, hier S. 130 – 136.  Vgl. Stuck 2000, S. 281.  Für die grammatische Kohärenz, d. h. die Verknüpfung der Oberflächenelemente des Textes durch bestimmte morphologisch-syntaktische Mittel, wird häufig auch der Begriff ‚Kohäsion‘ gebraucht, etwa in Robert-Alain de Beaugrande/Wolfgang Ulrich Dressler: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen 1981 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 28), S. 3 – 5; Maria Averintseva-Klisch: Textkohärenz. 2. Aufl. Heidelberg 2018 (Kurze Einführungen in die germanistische Linguistik 14), S. 1– 5, 7– 17. Andere wiederum halten diese Unterscheidung nicht nur für überflüssig, sondern sogar irreführend, weil sie den engen Zusammenhang zwischen expliziten (morphologisch-syntaktischen) und impliziten (semantisch-kognitiven) Formen textueller Kohärenz verwische. Brinker 2005, S. 18, Anm. 18, plädiert aus diesem Grund für ein umfassendes Kohärenzkonzept, das Unterscheidungen nach verschiedenen Aspekten (grammatisch, thematisch, pragmatisch, kognitiv etc.) erlaubt.  In diesem Sinne unterscheiden Utzschneider/Nitsche 2001, S. 60 f., für die literaturwissenschaftliche Bibelauslegung die beiden Formen. Die alttestamentliche Methodenlehre macht sich die Unterscheidung zwischen grammatischer und thematischer Kohärenz zunutze, um anhand von Kohärenz- und Kohäsionskriterien die literarische Integrität von Erzählungen des Alten Testaments zu überprüfen (Becker 2011, S. 56). Die untersuchten Phänomene sind dabei denjenigen, die sich in mittelalterlichen Texten beobachten lassen, z.T. ganz ähnlich. Statt von Oberflächen- und Tiefenstruktur ist, im Anschluss an das Makrostrukturkonzept Teun A. van Dijks, gelegentlich auch von der Makroebene (für die semantische Texttiefenstruktur) und Mikroebene (für die Satz- und Sequenzstrukturen von Texten) die Rede; siehe dazu Teun A. van Dijk: Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung. Tübingen 1980b, S. 41– 67.  Vgl. Roger Fowler: Linguistic Criticism. 2. Aufl. Oxford/New York 1996, S. 81.

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schen aufeinanderfolgenden Sätzen eines Textes.“¹⁰ Von Interesse sind auf dieser Beschreibungsebene verschiedene Formen der Rekurrenz, also der Wiederholung und Wiederaufnahme (und zwar sowohl auf sprachlich-lautlicher als auch auf formaler Ebene – man denke an Reimmuster oder Refrains); der Junktion, das heißt der Gliederung durch sprachliche Zeichen, die das Verhältnis von Textteilen zueinander deutlich machen (z. B. Textanfangs- oder Schlusssignale); sowie der Deixis im Sinne anaphorischer oder kataphorischer Verweise auf bereits Gesagtes oder noch zu Sagendes.¹¹ Thematische Kohärenz ist demgegenüber an den logisch-semantischen, pragmatischen und kognitiven Verknüpfungen interessiert, die dazu führen, dass die Sätze und Satzfolgen eines Textes als eine thematische Einheit wahrgenommen werden können.¹² Grammatische und thematische Kohärenz sind im Grunde genommen zwei Seiten derselben Medaille. Sie lassen sich auch als Formen expliziter und impliziter Kohärenzbildung unterscheiden, die komplementär aufeinander bezogen sind.¹³ Explizite grammatisch-syntaktische Verknüpfungen auf der propositionalen Ebene erzeugen zwar für sich alleine keine Kohärenz, aber sie können eine „Trägerstruktur“ für die, mehr oder weniger, impliziten thematischen Zusammenhänge des Textes bereitstellen.¹⁴ Diese Bestimmungen gelten nicht nur für die Kohärenz narrativer Texte, sondern für textuelle Kohärenz allgemein. Im Hinblick auf die Spezifika narrativer Kohärenz hat man darauf hingewiesen, dass bei Erzähltexten das Elliptische, Implizierte, Nichtgesagte, aber Erschließ- oder Ableitbare eine besondere Rolle spielten.¹⁵ Das dürfte zutreffen, da narrative Texte, besonders solche, die wir ‚li-

 Brinker 2005, S. 21.  Vgl. Utzschneider/Nitsche 2001, S. 66.  Die dabei zur Anwendung kommenden Prinzipien werden in der Textlinguistik mit den Begriffen der thematischen Entfaltung und Progression beschrieben; siehe Brinker 2005, S. 21 f., 61– 64; Utzschneider/Nitsche 2001, S. 67– 70.  Vgl. Kablitz 2013, S. 119, der unter ‚impliziter Kohärenz‘ solche Kohärenzmuster eines Textes versteht, „die nicht evident sind, weil sie nicht thematisch werden“; sie werden dem Text durch Interpretation attestiert. Explizite Kohärenz bezieht sich demgegenüber auf die „syntaktische[] Ordnungsbildung“ (S. 208), d. h. auf die propositionale Ebene eines Textes. Kablitz zufolge stellt sich implizite Kohärenzbildung als Suche nach „Beziehbarkeiten“ dar, die in dem Maße zunimmt, in dem syntaktische Ordnungsbeziehungen ausfallen oder an Eindeutigkeit abnehmen (ebd.).  Brinker 2005, S. 45. Dass die grammatische Verknüpfungsstruktur für sich genommen keine Kohärenz bewirkt, zeigt etwa das folgende, ebenfalls Brinker entnommene Beispiel, in dem alle Sätze durch das Prinzip der Wiederaufnahme verbunden sind, im Ganzen aber doch keine als kohärent zu interpretierende Satzfolge darstellen: „Ich habe eine alte Freundin in Hamburg getroffen. Dort gibt es zahlreiche öffentliche Bibliotheken. Diese Bibliotheken wurden von Jungen und Mädchen besucht. Die Jungen gehen oft in die Schwimmbäder. Die Schwimmbäder waren im letzten Jahr mehrere Wochen geschlossen. Die Woche hat 7 Tage. usw. usw.“ (ebd., S. 41).  Vgl. Toolan 2014, S. 71; Kablitz 2013, S. 149 – 165.

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terarisch‘ nennen, häufig einer – wenn auch historisch und kulturell variablen – Ästhetik folgen, die die Kohärenzbildungskompetenzen des Lesers oder Hörers in besonderer Weise in Anspruch nimmt; etwa wenn sie kalkuliert Lücken in der narrativen Progression, in der Handlungsmotivation, in der Figurenkonstituierung etc. lassen, gedachte oder hinzuzudenkende Verknüpfungen nicht explizieren, um aus solchen Unbestimmtheitsstellen semantisches Kapital zu schlagen. Argumentative, deskriptive oder instruktive Textgattungen tun das eher nicht.¹⁶ Äquivalenzbeziehungen, Analogien, Metonymien, semantische Isotopien, oder anders gesagt: Bedeutungs- und Kontextrelationen sowie die entsprechenden Inferenz- und Integrationsleistungen des Rezipienten sind daher für die Kohärenz narrativer Texte zentral.

4.1 Episodizität oder Narrative Progression im Zeichen kleiner Einheiten Wenn sich in mittelalterlichen Erzähltexten, zumindest für den heutigen Leser, Kohärenzfragen immer wieder stellen, so gilt das vor allem im Hinblick auf die narrative Progression, das heißt die Anordnung und Verknüpfung der Handlungselemente im Erzählfortgang. Dass das so ist, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass mittelalterliches Erzählen (in der Volkssprache) über weite Strecken episodisch organisiert ist. Ja, man könnte von Episodizität als der Grundsignatur der mittelalterlichen Erzählliteratur sprechen.¹⁷ Mit dem Begriff des Episodischen meine ich dabei ein Erzählen, bei dem die lineare Einzelgeschichte in eine ganze Reihe narrativer Einheiten aufgelöst erscheint. Das können sowohl Einheiten sein, auf die jene Kriterien zutreffen, die man klassischerweise für die Episode in Anschlag bringt: mittlere Größe, interne Geschlossenheit, relative Selbständigkeit, Wiederholbarkeit;¹⁸ es können aber auch unterhalb der Plotebene liegende noch kleinere Einheiten von relativer Selbständigkeit sein, also einzelne Szenen

 Beispiele für ‚argumentative‘ Texte, in Abgrenzung zu ‚narrativen‘, wären etwa wissenschaftliche Abhandlungen, für ‚deskriptive‘ Berichte oder Lexikonartikel, für ‚instruktive‘ Bedienungsanleitungen, Kochrezepte, Gebrauchsanweisungen usw.  In diesem Sinne hat Jonathan D. Evans: Episodes in Analysis of Medieval Narrative. In: Style 20 (1986), S. 126 – 141, hier S. 126, die Episode als „the primary macrostructural unit in medieval narrative“ bezeichnet; vgl. auch Morton W. Bloomfield: Episodic Motivation and Marvels in Epic and Romance. In: Bloomfield, Essays and Explorations. Studies in Ideas, Language, and Literature. Cambridge, MA 1970, S. 97– 128; Peter Haidu: The Episode as Semiotic Module in TwelfthCentury Romance. In: Poetics Today 4 (1983), S. 655 – 681.  Vgl. Martínez/Scheffel 2003, S. 110 f.; Evans 1986, S. 130.

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oder Handlungsabschnitte, die sich zusammengenommen zu einer Handlungssequenz fügen.¹⁹ Episodisch in diesem Sinne wären nicht nur die AventiurenReihen des Artusromans, sondern auch die Schilderung einer einzelnen Kampfszene im ‚Rolandslied‘.²⁰ Dabei haben die Episodizität und strukturelle Partikularität des mittelalterlichen Erzählens eine bemerkenswerte Parallele in der zeitgenössischen stilgeschichtlichen Diskussion. Schon Franz Quadlbauer hat in seinen Untersuchungen zur Rezeption der antiken genera dicendi in der lateinischen Poetik des Mittelalters als Kennzeichen des stiltheoretischen Denkens des 12. und 13. Jahrhunderts die „Tendenz zur kleinen Einheit“ ausgemacht.²¹ Quadlbauer erläutert, dass dies seinen Grund in einer bestimmten Auffassung von materia hat.²² Der Begriff meint, etwa bei Konrad von Mure oder Matthäus von Vendôme, nicht den Stoff im Unterschied zum Ausdruck, sondern materia ist der schon sprachlich gestaltete Stoff, der Stoff im Gewand der Sprache. Vor allem aber: Bei materia in diesem Sinne dachten mittelalterliche dictatores an Einheiten erstaunlich geringen Umfangs, Einheiten im Umfang von zwei Sätzen, manchmal auch nur einem. Galfred von Vinsauf geht in dieser Auffassung sogar so weit, dass als partes materiae bei ihm kleine Teile erscheinen, die mit je einem Wort bezeichnet werden können, mit der Folge, dass materiae und verba praktisch in eins fallen. Dass materia als eine kleine Einheit verstanden wird, eine Einheit, die sich in einem Satz ausdrücken lässt, erklärt auch (bzw. ist die Voraussetzung dafür), dass die zeitgenössischen Poetiken die Unterscheidung zwischen ordo naturalis und artificialis nicht nur auf die Gliederung des literarischen Werks, sondern auch auf die Konstruktion des einzelnen Satzes anwenden konnten.²³ So bestimmt Konrad von Mure, der als Weltgeistlicher und Leiter der Stiftsschule am Zürcher Großmünster tätig war, in seiner ‚Summa de arte prosandi‘, einer 1275/76 entstandenen Einführung in die Kunst des guten Briefstils, die ‚natürliche Anordnung‘ wie folgt:

 Fludernik 1996, S. 111, verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff der sub-episode.  Susanne Reichlin: Nach- oder Nebeneinander? Die Zeitlichkeit des seriellen Erzählens im ‚Rolandslied‘. In: DVjs 86 (2012), S. 167– 205, hier S. 167– 169 u. ö., spricht dementsprechend für das ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad wechselnd von „Kampfepisoden“, „Kampfpassagen“, „Kampfszenen“, „Kampfabschnitten“ etc.  Quadlbauer 1962, S. 71, 165.  Siehe zum Folgenden Quadlbauer 1962, S. 68 – 72.  Quadlbauer 1962, S. 70.

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Naturalis hic est ordo, quando nominativus precedit et verbum cum suis determinationibus et attintentibus subsequitur. Et iste ordo rem, prout gesta est, ordine recto, plano modo declarat et exponit. ²⁴ Natürlich ist jene Ordnung, bei der der Nominativ vorangeht und das Verb mit seinen adverbiellen Bestimmungen und Zugehörigkeiten nachfolgt. Und diese Ordnung bezeichnet und erläutert auf klare Weise und in der richtigen Reihenfolge den Sachverhalt, so wie er sich ereignet hat.

Sowohl der Begriff der materia als auch die beiden ordines wurden auf diese Weise in den Rahmen der Satzkonstruktion hineingenommen, und es dürfte mit dieser Tendenz zur kleinen Einheit zu tun haben, dass die Poetiker und Stiltheoretiker des 12. und 13. Jahrhunderts, wo sie dichtungspraktische Vorschriften formulierten, nicht in der Lage waren, wie Quadlbauer resümiert, „größere dispositionelle Teile des literarischen Werkes […] als kompositionelle Einheiten zu erfassen und ihre Vorschriften auf solche größere Einheiten abzustimmen.“²⁵ Das zeigt besonders die ‚Ars versificatoria‘ des Matthäus von Vendôme, dem bei der Abstimmung von Anfang, Mitte und Ende, anders als Horaz, nicht das größere Ganze des literarischen Werks, sondern zunächst einmal der einzelne Satz bzw. der Zusammenhang unmittelbar aufeinanderfolgender Sätze vorschwebt.²⁶ Die Tendenz zu „partikulare[r] Bindung“ findet so gewissermaßen ihren Spiegel im stiltheoretischen Denken der Zeit.²⁷ Man könnte das auch anders formulieren: Aus den stiltheoretischen praecepta, mit denen die volkssprachigen Autoren aufgrund ihrer bildungsgeschichtlichen Sozialisation innerhalb der sprachlichen, literarischen und poetologischen Kultur des lateinischen Mittelalters wohl vertraut waren, war für sie für die Komposition größerer Erzählzusammenhänge wenig zu gewinnen. Die Herausforderung, solche Zusammenhänge zu gestalten, stellt sich bei einem Erzählmaterial, das nicht nur in einer Episode oder Geschichte besteht, vor allem an den Stellen, an denen Übergänge von einer narrativen Einheit – einem

 Konrads ‚Summa‘ ist ediert in Walter Kronbichler: Die Summa de Arte Prosandi des Konrad von Mure. Zürich 1968 (Geist und Werk der Zeiten 17), S. 23 – 176; das Zitat hier, S. 67 (Übers. von mir). Zu Konrad siehe Wolfgang Maaz: Konrad v. Mure. In: LexMA 5 (1991), Sp. 1362 f.  Quadlbauer 1962, S. 71.  So, mit Belegen, Quadlbauer 1962, S. 72; vgl. auch ebd., S. 103, zu Galfred von Vinsauf.  Der Begriff der „partikularen Bindung“ nach Markus Stock: Vielfache Erinnerung. Universaler Stoff und partikulare Bindung in Ulrichs von Etzenbach ‚Alexander‘. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hrsg. von Jan Cölln/Susanne Friede/Hartmut Wulfram. Göttingen 2000 (Veröffentlichung aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 529 ‚Internationalität nationaler Literaturen‘, Serie A, Literatur und Kulturräume im Mittelalter 1), S. 407– 448, bes. S. 408.

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Motiv, einer Szene, einer Erzählereinschaltung – zur nächsten geschaffen werden müssen. Die Frage ist also, wie auf der Grundlage einer prinzipiell episodischen, kleinteiligen Konzeption von Geschichtenerzählen ein längerer, kontinuierlicher Text hergestellt wird. Solche Erzählübergänge oder shifts sind insbesondere an den Grenzen von Handlungseinheiten zu bewältigen. Im Hinblick auf die Kohärenz eines Erzähltextes stellen sie regelmäßig kritische Punkte dar, „moments of difficult transitions“, wie Wallace Chafe sie nennt.²⁸ Aber sie betreffen nicht nur die Handlungsebene – die Ebene des Dargestellten –, sondern auch die Diskursebene – die Ebene der Darstellung – bzw. den Wechsel zwischen diesen beiden. Die historische Diskursanalyse beschäftigt sich schon seit einiger Zeit damit, wie solche Übergänge, besonders an Episodengrenzen (und zu ihrer Markierung), bewerkstelligt werden.²⁹ Im Anschluss daran lassen sich für die mittelalterlichen Texte folgende Wechselpunkte – Laurel Brinton spricht von points of change – unterscheiden:³⁰ a) Wechsel in der Zeit; b) Wechsel im Schauplatz; c) Wechsel in den dramatis personae; d) Wechsel in der Handlungssequenz (die Erzählung wendet sich einem neuen zentralen Ereignis zu); e) Wechsel vom Allgemeinen zum Speziellen, oder umgekehrt; f) Wechsel in der Erzählperspektive oder dem point of view; sowie g) Wechsel im Erzählregister, insbesondere von Erzählerbericht oder -kommentar zu Handlungsdarstellung, oder umgekehrt. Diese Wechselpunkte sind natürlich nicht immer scharf voneinander abzugrenzen. Besonders bei a), b) und c) ergeben sich aus den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten von Zeit, Schauplatz und dramatis personae Überschneidungen. So gehen Wechsel in der Handlungssequenz, Stellen also, an denen sich die Darstellung einem neuen Geschehensmoment zuwendet, nicht selten mit einem Wechsel von Zeit, Schauplatz und Figuren einher. Auch Szenenwechsel, scene shifts im Sinne Monika

 Wallace Chafe: The Flow of Thought and the Flow of Language. In: Discourse and Syntax. Hrsg. von Talmy Givón. New York 1979 (Syntax and Semantics 12), S. 159 – 181, hier S. 176; vgl. auch ders.: Integration and Involvement in Speaking, Writing, and Oral Literature. In: Spoken and Written Language. Exploring Orality and Literacy. Hrsg. von Deborah Tannen. Norwood, NJ 1982 (Advances in Discourse Processes 9), S. 35 – 53, hier S. 42. Monika Fludernik: Narrative Discourse Markers in Malory’s ‚Morte D’Arthur‘. In: Journal of Historical Pragmatics 1 (2000), S. 231– 262, hier S. 235, spricht von „crucial trouble spots for the processing of a narrative“.  Siehe, u. a., Morton W. Bloomfield: Episodic Juxtaposition or the Syntax of Episodes in Narration. In: Studies in English Linguistics for Randolph Quirk. Hrsg. von Sidney Greenbaum/ Geoffrey Leech/Jan Svartvik. London/New York 1979, S. 210 – 220, hier S. 211– 213, 219; Chafe 1979, S. 177– 179; Laurel J. Brinton: Pragmatic Markers in English. Grammaticalization and Discourse Functions. Berlin/New York 1996 (Topics in English Linguistics 19), S. 42– 44.  Vgl. zum Folgenden die Auflistung in Brinton 1996, S. 43, die ich in leicht modifizierter Form übernehme.

Episodizität oder Narrative Progression im Zeichen kleiner Einheiten

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Fluderniks, beruhen auf Veränderungen in einem oder mehreren der genannten Parameter:³¹ sei es, dass a) die Zeit dieselbe bleibt, aber der Ort wechselt (und mit ihm die Figuren); b) die Zeit wechselt, aber Ort und Figuren dieselben bleiben; c) Ort und Zeit wechseln, wobei die Figuren entweder dieselben bleiben oder auch nicht; oder d) der Ort derselbe bleibt, aber die Figuren wechseln (und mit ihnen die Zeit). Als die bei weitem häufigste Art des scene shift erscheint dabei der gleichzeitige Wechsel von Schauplatz und dramatis personae,³² wodurch entweder, im Sinne von a), simultan stattfindende (aber nacheinander erzählte) Ereignisse wiedergegeben werden können oder aber, dieser Fall fiele unter c), spätere Ereignisse, mit anderen Figuren und an einem anderen Schauplatz. Wie also organisieren die vor- und frühhöfischen Erzähltexte im Deutschen solche Wechsel und szenischen Verschiebungen, welche Formen der Konnexion bevorzugen sie, um Handlungs- und Erzählsequenzen zu korrelieren?³³ Oder anders gefragt: Wie findet auf mikrostrukturell-grammatischer Ebene narrative Progression im Zeichen kleiner Einheiten statt? Mir scheint, dass Wechselpunkte in den Texten im Wesentlichen auf dreierlei Weise realisiert werden: Sie werden entweder durch Diskursmarker kenntlich gemacht, insbesondere durch die handlungsgliedernden Partikeln dô und nû;³⁴ oder durch metanarrative Formeln, Formeln vom Typ ‚Nun lassen wir X und Y und sprechen weiter von A und B‘; oder sie bleiben grammatisch unmarkiert. In diesem Fall, der in den Texten gar nicht so selten ist, haben wir es mit unvermittelt und abrupt wirkenden Übergängen zu tun, mit ‚harten Fügungen‘, und es sind besonders diese Fälle, die interessant und erklärungsbedürftig sind, weil sie bei heutigen Lesern sehr schnell den Eindruck diskursiver bzw. illokutionärer Inkohärenz hervorrufen.³⁵  Fludernik 2003a, bes. S. 334– 338; dies.: Scene Shift, Metalepsis, and the Metaleptic Mode. In: Style 37 (2003b), S. 382– 400.  Fludernik 2003a, S. 334.  Der Begriff ‚Konnexion‘ ist hier textlinguistisch verwendet. Ich verstehe darunter, Cathrine Fabricius-Hansen: Formen der Konnexion. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Hrsg. von Klaus Brinker u. a. Halbbd. 1: Textlinguistik. Berlin/New York 2000 (HSK 16,1), S. 331– 343, hier S. 331, folgend, „Relationen zwischen Satzinhalten i.w. S. […], die Textkohärenz stiften bzw. sich u. a. wegen der Forderung nach Textkohärenz erschließen lassen.“  Ich gebrauche den Begriff ‚Diskursmarker‘ anstelle des – im Deutschen allerdings unüblichen – englischen Terminus pragmatic marker. Beide Begriffe haben viele und z.T. sehr unterschiedliche Definitionen erfahren; eine Übersicht bei Brinton 1996, S. 29 – 40. Deborah Schiffrin: Discourse Markers. Cambridge 1987 (Studies in Interactional Sociolinguistics 5), S. 31, bestimmt discourse markers als „sequentially dependent elements which bracket units of talk.“ Der Häufigkeit ihres Vorkommens nach gelten Diskursmarker als ein Merkmal vor allem gesprochener Sprache (im Unterschied zu Schriftsprache) (Brinton 1996, S. 33).  Zu diesem Typ der Inkohärenz siehe Kap. 1.3, S. 24.

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4.2 Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses Diskursmarker – in der angloamerikanischen Textlinguistik und linguistischen Pragmatik ist auch von pragmatic markers die Rede – sind sprachliche Zeichen, die einerseits als optional gelten, andererseits für den kommunikativen Erfolg einer Sprachhandlung nicht unerhebliche Bedeutung haben. Topologisch, also im Hinblick auf ihre grammatische Position im Satz, sind sie im Deutschen durch ihre periphere syntaktische Stellung gekennzeichnet, das heißt, sie sind selbständigen Syntagmen in der Regel entweder voran- oder nachgestellt. Im sprachlichen Diskurs können sie sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen: Sie können der Gliederung von Texten, der Verknüpfung von Äußerungen, dem sogenannten turn-taking, also dem Sprecherwechsel, der Markierung von epistemischen Einstellungen oder auch des Verhältnisses zwischen Sprecher und Hörer dienen.³⁶ Ihre wichtigste Aufgabe sehen viele Forscher darin, die Beziehung oder Bedeutung einer Aussage zu der ihr vorangehenden Aussage oder dem sprachlich-inhaltlich-thematischen Kontext auszudrücken.³⁷ In diesem Sinne hat Deborah Schiffrin sie als eine integrative Kategorie von Wörtern beschrieben, die sich auf die Kohärenz von Texten bezieht. Für Schiffrin sind Diskursmarker sequentiell gebundene Elemente, die Sprecheinheiten klammern.³⁸ Im Gegenwartsdeutschen können als Diskursmarker sowohl Adverbien (jedenfalls, nur, bloß), Konjunktionen (und, oder), Subjunktionen (obwohl, weil), Relativa (wobei) als auch Partikeln wie da, denn, dann fungieren.³⁹ Ihren Ort und ihre Funktion haben Diskursmarker vor allem in der gesprochenen Sprache und mündlichen Kommunikation. In einer oft zitierten Studie aus dem Jahr 1980 hat Uta Quasthoff die Bedeutung solcher Marker für die mündliche Alltagserzählung untersucht (Quasthoff spricht dabei nicht von ‚Diskursmarkern‘, sondern bevorzugt den Begriff ‚Verknüpfungssignale‘).⁴⁰ Die Verknüpfungssignale, die sie interessieren, sind Partikeln wie und, und da, da, und denn, denn und und dann. Quasthoff weist darauf hin, dass diese Konnektoren in Erzählun-

 Peter Auer/Susanne Günthner: Die Entstehung von Diskursmarkern im Deutschen – ein Fall von Grammatikalisierung? In: Grammatikalisierung im Deutschen. Hrsg. von Torsten Leuschner u. a. Berlin/New York 2005 (Linguistik – Impulse und Tendenzen 9), S. 335 – 362, hier S. 335 f.  Brinton 1996, S. 30.  Vgl. Schiffrin 1987, S. 31.  Siehe, mit Beispielen, Auer/Günthner 2005, S. 336 – 348.  Uta M. Quasthoff: Erzählen in Gesprächen. Linguistische Untersuchungen zu Strukturen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags. Tübingen 1980 (Kommunikation und Institution 1), bes. S. 213 – 218.

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gen häufig der Satzeinleitung dienen und dementsprechend meist zu Beginn von narrativen Sätzen erscheinen. Das gilt nicht nur für das Deutsche, sondern etwa auch für die Verwendung der vergleichbaren englischen Konnektoren and, then, and then in mündlichen Erzählungen.⁴¹ Auffällig ist dabei, dass sie nicht notwendig eine zeitliche Relation zwischen den entsprechenden Satzaussagen zum Ausdruck bringen, im Sinne eines Nacheinander, sondern auch Sätze miteinander verknüpfen können, deren propositionale Gehalte (z. B. Ereignisse) nicht zeitlich oder anderswie aufeinander zu beziehen sind. Sehr oft werde, so Quasthoff, weder eine temporale noch eine lokale Beziehung zum Ausdruck gebracht. Vielmehr markierten die betreffenden Konnektoren – ungeachtet bestehender Unterschiede in ihrer Bedeutung und Verwendungsweise – „die Vertextung in der vornehmlich parataktisch organisierten mündlichen Rede.“⁴² Ein Beispiel aus dem Corpus, das Barbara Wackernagel-Jolles für ihre Untersuchung zu Formen der Verknüpfung in der gesprochenen Sprache zusammengestellt hat, mag den diskurspragmatischen Gebrauch insbesondere der Partikel da im mündlichen Alltagserzählen verdeutlichen. Es handelt sich um die Erzählung eines Kindes, das ein eigenes Erlebnis berichtet: Als meine Mutter eines Tages sagte / ich sollte im Keller gehn da ging ich auch im Keller (Da hörte –) als ich im Keller war / (hörte ich –) hörte ich ein Einmachglas fallen Ich erschrak mich und dachte es wär ein Gespenst Da lief ich schnell zu Mutter hoch Ich erzählte die Mutter das / und die Mutter wollte sich überzeugen / und ging selbst in Keller Da sah sie das Kellerfenster offen stehn Sie hatte grade noch gesehn (daß Nachbars (– – – –)) – daß die Katze (von Nachbarns –) von Nachbars Haus hier im Keller war Da sah ich auch das Einmachglas (– – –) Und da wußte ich daß es kein Gespenst mehr war⁴³

Auch aus sprachhistorischer und, zum Teil, erzähltheoretischer Warte ist der Gebrauch von Verknüpfungssignalen und Diskursmarkern verschiedentlich untersucht worden. Das gilt sowohl für mhd. dô (bzw. ahd. thô) als auch für das mittelenglische then. ⁴⁴ Dabei hat sich gezeigt, dass diese Partikeln in mittelal Dies und das Folgende nach Quasthoff 1980, S. 214.  Quasthoff 1980, S. 216.  Barbara Wackernagel-Jolles: Untersuchungen zur gesprochenen Sprache: Beobachtungen zur Verknüpfung spontanen Sprechens. Göppingen 1971 (GAG 33), S. 76. Die Hervorhebungen stammen von mir, Sperrungen und Satznummerierung des Originals sind getilgt, die Sätze aber, wie im Original, abgesetzt wiedergegeben.  Zu thô/dô und anderen handlungsgliedernden Diskursmarkern im Alt- und Mittelhochdeutschen siehe etwa Norbert Richard Wolf: Textanknüpfung und Textartenkonstitution in hochmit-

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terlichen Erzähltexten vor allem dem sogenannten foregrounding dienen. Das heißt, sie werden dazu verwendet, bestimmte Ereignisse der Erzählhandlung durch entsprechende Markierung in den Vordergrund zu rücken und auf diese Weise von Hintergrundinformationen abzusetzen.⁴⁵ In mittelalterlichem Erzählen können dabei häufiger auch Situationsbeschreibungen und Zustandsschilderungen, also Momente narrativer Stasis, mit linguistischen Vordergrundmarkern versehen sein – man denke nur an die ausgefeilten Beschreibungen höfischen Kleiderschmucks, von Turnieren, Festen und Entrées –, offenbar, weil zeitgenössische Hörerinnen und Hörer auf solche Schilderungen Wert legten.⁴⁶ Hinter der Theorie des grounding steht die Annahme, dass zwischen den verschiedenen Teilen eines narrativen Diskurses Relevanzunterschiede bestehen, dergestalt, dass einige Teile für das jeweilige Erzählanliegen (z. B. die Handlungsprogression) wichtiger erscheinen als andere. Erzählelemente, die durch Diskursmarker in-

telalterlicher Epik (zugleich ein Beitrag zum ‚System‘ mhd. Partikeln). In: Medium aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dietrich Huschenbett u. a. Tübingen 1979, S. 429 – 445; Anne Betten: Zur Satzverknüpfung im althochdeutschen Tatian. Textsyntaktische Betrachtungen zum Konnektor thô und seinen lateinischen Entsprechungen. In: Althochdeutsch. Hrsg. von Rolf Bergmann/ Heinrich Tiefenbach/Lothar Voetz. Bd. 1: Grammatik. Glossen und Texte. Heidelberg 1987 (Germanische Bibliothek 3, Untersuchungen), S. 395 – 407; dies.: Sentence Connection as an Expression of Medieval Principles of Representation. In: Internal and External Factors in Syntactic Change. Hrsg. von Marinel Gerritsen/Dieter Stein. Berlin/New York 1992 (Trends in Linguistics, Studies and Monographs 61), S. 157– 174; Claudia Maria Riehl: Kontinuität und Wandel von Erzählstrukturen am Beispiel der Legende. Göppingen 1993 (GAG 576), S. 253 – 258; Sonja Zeman: Tempus und ‚Mündlichkeit‘ im Mittelhochdeutschen. Zur Interdependenz grammatischer Perspektivensetzung und ‚Historischer Mündlichkeit‘ im mittelhochdeutschen Tempussystem. Berlin/New York 2010 (Studia Linguistica Germanica 102), S. 130 – 134, 158 – 161. Unter erzähltheoretischem Aspekt hat für das Mittelenglische den and then-Stil (me. thanne) u. a. Fludernik 1996, S. 101– 120, behandelt; vgl. auch Brita Wårvik: Participant Continuity and Narrative Structure. Defining Discourse Marker Functions in Old English. In: Folia Linguistica Historica 34 (2013), S. 209 – 242; Ans van Kemenade/Meta Links: Discourse Particles in Early English. Clause Structure, Pragmatics and Discourse Management. In: Glossa. A Journal of General Linguistics 5.1 (2020), Art. 3, S. 1– 23, sowie – zum Gebrauch der Konnektoren und sowie da/dann in anderen mittelalterlichen europäischen Sprachen und Literaturen – Suzanne Fleischman: Tense and Narrativity. From Medieval Performance to Modern Fiction. Austin 1990 (Texas Linguistic Series), S. 185 – 192.  Zum sogenannten grounding und der linguistischen Kontrastierung von Vordergrund und Hintergrund siehe Fleischman 1990, S. 168 – 199; in Bezug auf das mittelhochdeutsche dô Riehl 1993, S. 256 – 258. Vordergrund und Hintergrund sind dabei nicht im Sinne einer binären Opposition zu verstehen, sondern als die beiden Pole eines Kontinuums, das im Hinblick auf das, was Vorder-, was Hintergrundinformation ist, verschiedene, graduelle Abstufungen erlaubt.  Vgl. Fleischman 1990, S. 174 f.

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nerhalb des Vorstellungsraums deutlich markiert sind, treten in der Erinnerung des Rezipienten stärker hervor als die weniger oder gar nicht markierten. Bildlich gesprochen, entsteht auf diese Weise eine „Reliefstruktur“, die dem Rezipienten die kognitive Prozessierung der Erzählung erleichtert.⁴⁷ Der Effekt des foregrounding, der sich im Mittelhochdeutschen vor allem mit der Partikel dô, aber auch mit nû einstellt (dann, wenn dô und nû als Diskursmarker verwendet werden), hängt nicht zuletzt an der temporalen Qualität dieser Deiktika. Die Partikel dô leistet, wie Sonja Zeman beschrieben hat, eine Aktualisierung der jeweiligen Referenzzeit (als eines von der Sprechzeit unterschiedenen Zeitintervalls in der Vergangenheit, auf das in einem Satz Bezug genommen wird), die sich damit als ein „zurückverlagerte[s] Jetzt“ darstellt; die bezeichnete Verbalhandlung wird auf diese Weise in den Vordergrund gerückt.⁴⁸ Ganz ähnlich kann nû als Diskursmarker dazu eingesetzt werden, die jeweilige Referenzzeit zu aktualisieren, mit der Folge, dass das dazugehörige Verbalereignis vordergrundiert wird.⁴⁹ Solche explizite Markierung von Vordergrund und Hintergrund ist bei schriftlich niedergelegten (und schriftlich rezipierten) Erzähltexten weniger wichtig als bei mündlich vermittelten, weil Leser vergessene Handlungsmomente jederzeit nachlesen können. Hörer hingegen sind auf Diskursmarker angewiesen. Bekommen sie weniger Marker, werden sie vermutlich auch weniger Fixpunkte als Vordergrund abspeichern.⁵⁰ Um ein genaueres Bild davon zu erhalten, welche Bedeutung Diskursmarkern in der frühmittelhochdeutschen weltlichen Erzählliteratur bei der Gestaltung von Erzählübergängen und sogenannten Wechselpunkten zukommt und welche anderen Formen des narrativen Anschlusses daneben eine Rolle spielen, habe ich Stichproben von jeweils etwa 1000 Versen Länge an vier verschiedenen Texten durchgeführt: der ‚Kaiserchronik‘, dem ‚Vorauer Alexander‘ des Pfaffen Lambrecht, ‚König Rother‘ sowie dem deutschen ‚Rolandslied‘. Untersucht wurden die Textauszüge im Hinblick auf die Fragen: Wo finden Wechsel der oben genannten Art statt? Um was für eine Art von Wechselpunkten handelt es sich? Und schließlich: Wie werden sie markiert? Bei der Entscheidung, wo eine Handlungs- oder Erzähleinheit endet und eine andere beginnt (oder fortgesetzt wird), gibt es naturgemäß gewisse Ermessensspielräume; sie ist aufs Ganze gesehen aber eindeutiger zu treffen, als man zunächst vielleicht vermuten möchte. Schwieriger fällt von Fall zu Fall die Zuordnung der Wechselpunkte zu einem bestimmten Typ. Vor allem zwischen Zeit-,    

Riehl 1993, S. 253. Zeman 2010, S. 134. Vgl. Zeman 2010, S. 160. Vgl. Riehl 1993, S. 254.

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Orts- oder Figurenwechseln einerseits und Wechseln in der Handlungssequenz andererseits ist die Grenze nicht immer klar zu ziehen, ganz einfach, weil Zeitsprünge oder das Umschwenken der Erzählung zu einem anderen Schauplatz und/oder anderen Figuren häufig mit der Schilderung eines neuen Ereignisses zusammenfallen. Ich habe mich in diesen Fällen entschieden, die Kriterien des Zeit-, Orts- und Figurenwechsels vorgehen zu lassen und die betreffenden shifts, je nach Einschlägigkeit, einem dieser drei Wechselpunkte zuzuteilen, auch wenn zusätzlich das Kriterium eines Wechsels in der Handlungssequenz erfüllt ist. Wechselpunkte im Erzählgeschehen stimmen, wie sich herausstellt, regelmäßig mit Gliederungssignalen in der handschriftlichen Überlieferung der Texte überein. Doch empfiehlt es sich nicht, das Layout der Handschriften mit seinen – tatsächlichen oder vorgesehenen – Abschnittsmarkierungen geradewegs zum Leitfaden für die Bestimmung von Erzählübergängen zu nehmen. Zum einen, weil die Rubrizierung teilweise anderen Zwecken folgt: Sie dient nicht notwendig – oder gar ausschließlich – der Markierung von Episodengrenzen, Handlungseinschnitten oder anderen Verschiebungen im Erzählgefüge, sondern erfolgt vielfach noch kleinteiliger, wenn sie etwa Beginn und Ende von direkter Rede, Redewechsel oder schlicht ‚Atempausen‘ für den Vortragenden signalisiert.⁵¹ Zum anderen ist die Initialensetzung in den Handschriften nicht immer einheitlich durchgeführt. Manchmal hat eine Handschrift eine Abschnittsmarkierung an einer Stelle, wo eine andere keine hat, und umgekehrt. Und auch wenn das eher die Ausnahme als die Regel ist, deutet es darauf hin, dass schon mittelalterliche Schreiber oder Redaktoren bei der Abschnittsgliederung unterschiedlicher Auffassung sein oder unterschiedliche Prinzipien zugrunde legen konnten. Bei  Vgl. Alois Wolf: Strophisches, abschnitthaftes und fortlaufendes Erzählen in früher deutscher Epik des Mittelalters. In: Festschrift für Hans Eggers zum 65. Geburtstag. Hrsg.von Herbert Backes. Tübingen 1972 (PBB 94, Sonderheft), S. 511– 550, hier S. 546; Frank Brandsma: Medieval Equivalents of „quote-unquote“. The Presentation of Spoken Words in Courtly Romance. In: The Court and Cultural Diversity. Selected Papers from the Eighth Triennial Congress of the International Courtly Literature Society. The Queen’s University of Belfast 26 July – 1 August 1995. Hrsg. von Evelyn Mullally/John Thompson. Cambridge u. a. 1997, S. 287– 296. Ein besonderer Fall der Nichtübereinstimmung von Initialenabschnitt und Handlungsabschnitt ist dabei der, dass das Ende eines Handlungsabschnitts in den nächsten Initialenabschnitt, z. B. durch eine Schlussklausel, hineinlappt. Hier hat man den Eindruck, dass die geringfügige Verschiebung in der Abschnittsarchitektur mit dem Bemühen um einen kontinuierlichen Erzählfluss zu tun hat. Ein dem Prinzip nach vergleichbares Beispiel ist das Überspielen der klanglichen Einheit zweier durch den Reim verbundener Verse durch die Syntax im gepaarten Achtsilber des französischen Romans: Auch hier geht es darum, eine absolute Ruhelage zu vermeiden; „ein Zusammenfallen von Szenenwechsel und Ende des Couplet“, so Leo Pollmann: Von der chanson de geste zum höfischen Roman in Frankreich. In: GRM 47 (1966), S. 1– 14, hier S. 4, „hätte nämlich das Fließen unterbrochen.“

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schmaler oder unikaler Überlieferung, wo Vergleiche nur bedingt oder gar nicht möglich sind, heißt das im Umkehrschluss, dass andere Textzeugen in der Initialensetzung hier und da anders verfahren haben könnten.Wir können das nicht oder nur mehr bedingt überprüfen.⁵² Maßgeblich für die Bestimmung von Wechselpunkten muss daher sein, wo in den Texten, zunächst einmal unabhängig von Layout und Mise en Page, Wechsel und Verschiebungen – in der Zeit, im Schauplatz, in den Figuren, in der Handlungssequenz etc. – stattfinden. Darauf untersucht wurden die folgenden Textauszüge: – aus der ‚Kaiserchronik‘, in der Fassung A nach der aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts stammenden Vorauer Handschrift 276, ein Stück aus der ‚Crescentia‘-Erzählung (‚Narcissus und die beiden Dietriche‘, V. 11352– 12812, daraus V. 11352– 12364).⁵³ Es erzählt die Geschichte von der zu Unrecht verfolgten Kaisergattin bis zu ihrer zweiten versuchten Ertränkung in den Wassern des Tiber; – aus dem im selben Manuskript überlieferten ‚Vorauer Alexander‘, der dem Original des Pfaffen Lambrecht wohl am nächsten steht, die V. 1– 1005: Sie berichten vom Leben des Makedonenkönigs von seiner Geburt bis zur Zerstörung der Stadt Tyrus;⁵⁴ – aus dem ‚König Rother‘ der Beginn der Handlung mit dem Drängen der Vasallen auf eine Eheschließung des Königs bis zum Ende der ersten Audienz

 Ein Beispiel für eine Studie, die anhand einer erzähltechnischen Analyse von Abschnittsanfängen, -schlüssen und -übergängen u. a. nachzuweisen versucht, wo in der handschriftlichen Überlieferung einiger frühmittelhochdeutscher Epen Fehler in der Initialensetzung geschehen sein müssen, stellt Antje Mißfeldt: Die Abschnittsgliederung und ihre Funktion in mittelhochdeutscher Epik. Erzähltechnische Untersuchungen zum ‚König Rother‘, Vorauer und Straßburger ‚Alexander‘, ‚Herzog Ernst‘ (B) und zu Wolframs ‚Willehalm‘ unter Einbeziehung altfranzösischer Laissentechnik. Göppingen 1978 (GAG 236), dar (z. B. S. 72– 74 für den ‚König Rother‘).  Zur Handschrift siehe Kurt Gärtner: ‚Vorauer Handschrift 276‘. In: 2VL 10 (1999), Sp. 516 – 521; die benutzte Ausgabe: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von Edward Schröder. Hannover 1892 (MGH SS 8); vgl. auch die in Text und Verszählung Schröder folgende, aber mit einer Übersetzung versehene Auswahlausgabe: Die Kaiserchronik. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übers., komm. und mit einem Nachwort vers. von Mathias Herweg. Stuttgart 2014 (RUB 19270). Beide Ausgaben geben den ältesten Text A wieder. Für Vergleiche mit der nach 1250 entstandenen zweiten Bearbeitung C, die den Grundtext nochmals grundlegend modernisierte, ziehe ich die ältere Edition von Massmann: Der keiser und der kunige buoch oder die sogenannte Kaiserchronik. Gedicht des zwölften Jahrhunderts von 18,578 Reimzeilen. Hrsg. von Hans Ferdinand Massmann. 3 Tle. Quedlinburg/Leipzig 1849 – 1854 (Bibl.d. ges.dt. Nat.-Lit. 4,1– 3), heran; nur sie führt im Apparat die Lesarten der Rezensionen B und C auf.  Die verwendete Ausgabe hier: Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. und komm. von Elisabeth Lienert. Stuttgart 2007 (RUB 18508).

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Rothers – der sich inzwischen den Decknamen ‚Dietrich‘ zugelegt hat – und seiner Gefährten am Hof König Konstantins: die Verse 1– 1029 in der ältesten und einzigen (nahezu) vollständigen Handschrift H (Cod. Pal. germ. 390);⁵⁵ aus dem ‚Rolandslied‘ schließlich zwei Auszüge: V. 1– 1010 und V. 4017– 5190. Der erste reicht bis in die Beratung Kaiser Karls und seiner Großen, wie mit dem Unterwerfungsangebot des sarazenischen Königs Marsilie umzugehen sei; der zweite umfasst die Schilderung des ersten Teils der Schlacht von Ronceval und besteht aus zehn analog aufgebauten Kampfabschnitten. Erzählt wird jeweils, wie ein heidnischer Vorkämpfer mit seiner Schar einen christlichen angreift und besiegt wird. Die Konfrontation geht in ein allgemeines Gemetzel über, aus dem die christliche Schar siegreich hervorgeht. Dann folgt, nach diesem Muster, die nächste Kampfepisode.⁵⁶ Interessant ist diese serielle Aufeinanderfolge baugleicher Episoden nicht zuletzt der Frage wegen, in welchem zeitlichen Verhältnis die erzählten Kampfszenen eigentlich zueinander stehen. Sind sie als gleichzeitig oder nacheinander stattfindend zu denken? Regelmäßig werden sie mit dem Diskursmarker dô eingeleitet.⁵⁷ Welche Bedeutung kommt hier diesem dô zu?

Die folgenden Tabellen geben für jeden der analysierten Textauszüge eine Übersicht, wo Wechselpunkte vorliegen, welcher Art sie sind und wie die Übergänge jeweils bewerkstelligt werden. Es ergibt sich folgendes Bild: In der Passage aus der ‚Kaiserchronik A‘ werden Erzählübergänge, wie die Auswertung in Tabelle 1 zeigt, in nahezu 45 Prozent der Fälle durch die Partikel dô in Satzanfangsstellung markiert. Nimmt man den einen Fall hinzu, in denen das initiale dô temporale Konjunktion ist (‚als‘,V. 12022), aber von einem zweiten dô in diskurspragmatischer Funktion gefolgt wird (V. 12023), dann sind es 50 Prozent. Überwiegend handelt es sich dabei um Wechsel in der Handlungssequenz, also den Beginn einer neuen Handlungs- oder Ereigniseinheit. Das entspricht der auch anderwärts zu beobachtenden Funktion von dô, die Haupthandlungslinie einer  Zur Handschrift siehe die Hinweise in Hans Szklenar: ‚König Rother‘. In: 2VL 5 (1985), Sp. 82– 94, hier Sp. 83 f.  Das Muster ist allerdings nicht ganz streng durchgehalten. Klar erkennbar ist es für die ersten neun Kampfsequenzen, die – auf christlicher Seite – die Kämpfer Roland, Olivier, Turpin, Gergis, Gergers, Samson, Anseis, Engelirs und Hatte aufrufen. Mit dem Eingreifen des heidnischen Helden Stalmariz (bzw. Stramariz) in den Kampf (V. 4993) beginnt das Muster auszufransen und sich ab V. 5037 in die Darstellung mehrerer kürzer geschilderter Zweikämpfe aufzulösen, in denen einige der Kämpfer (Roland, Olivier, Samson) auch bereits ihren zweiten Auftritt haben; vgl. auch Reichlin 2012, S. 168, Anm. 6.  „Nach- oder Nebeneinander?“ – unter diesem Titel hat sich Susanne Reichlin 2012 der Frage nach der Zeitlichkeit der Szenen gewidmet.

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Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

Erzählung zu markieren, indem die entsprechenden Verbalereignisse sukzessivesequentiell aktualisiert und in den Vordergrund gestellt werden (eine Funktion, die dô vielfach auch innerhalb von Handlungseinheiten oder Episoden übernimmt).⁵⁸ Derselbe Effekt des foregrounding kann durch Inversion, durch die InTab. 1: ‚Kaiserchronik A‘, V. 11352 – 12364 (‚Narcissus und die beiden Dietriche [Crescentia]‘) Konnektor

Vers/Beleg

dô a)

Wechselpunkt/ point of change

Häufigkeit/ Frequenz Absolut Prozentual

 ,  , , ,  dô (Konj.) + dô  (Do der herzoge von hove chom, / do getorst in gruozen niemen) Zeitadverbial  (In dem sehsten jâre),  (Der winter nâhen began)  (Des tages dô)

Schauplatz Erzählregister Handlungssequenz Handlungssequenz



, %



, %

Zeit



, %

Metanarrative Formelb) V-Stellung Unmarkiert

Handlungssequenz



, %

Handlungssequenz Handlungssequenz

 

, % , %

Gesamt

 (Nû chundent uns diu buoch sus)  (Ûf stuont diu gote werde)  (der laide vîant began),  (Des erbunde ir alsô harte)  (Ain smit mit sînem hamere)

Handlungssequenz

Person 

a)

Die Belegstellen zur Partikel dô beziehen sich stets auf dô in Satzanfangsstellung. Metanarrative Formeln stellen keine Konnektoren im engeren, technischen Sinne des Begriffs dar, und auch bei syntaktischer Inversion (Verb in Satzanfangsstellung), dem Namen in der ersten Satzposition oder anderen, grammatisch unmarkierten Erzählübergängen erfolgt die Abschnittskennzeichnung nicht durch Konnektoren. Solche Formen des shifting werden in den Tabellen daher abgesetzt aufgeführt und in den Kapitelabschnitten 4.3 und 4.4 näher behandelt. b)

 Vgl. z. B. diese dicht durch dô-Sätze gegliederte Handlungsfolge im ‚Herzog Ernst B‘, zitiert in der Ausgabe: Herzog Ernst. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. In der Fassung B mit den Fragmenten der Fassungen A, B und Kl nach der Leithandschrift hrsg., übers. und komm. von Mathias Herweg. Mit Herzog Adelger (aus der ‚Kaiserchronik‘). Stuttgart 2019 (RUB 19606): die herren dô gedâhten / daz sie strichen in den walt. / dô wâren die helde balt / vil wünneclîche gar. / vil lützel sie der lîpnar / in dem walde funden. / dô âzen sie under stunden / wurze und swaz ez mohte sîn. / dô kâmen die armen pilgerîn / an ein wazzer, daz was grôz. / […] dô gelabten sie sich dô, / wan ez was gar vische rîch (V. 4350 – 4365; Hervorheb. von mir); dazu auch Zeman 2010, S. 131– 134.

128

Kohärenz und Konnektivität

itialstellung des Verbs im Satz entstehen, und so ist es kein Zufall, dass auch Techniken der Um- und Voranstellung von Wörtern entgegen der üblichen Wortfolge zur Betonung von Episoden- und Abschnittsgrenzen genutzt werden.⁵⁹ Dieses Mittel, von dem Konrad im ‚Rolandslied‘ einigen Gebrauch macht – und zwar nicht nur zur Markierung von Episodengrenzen (wie V. 223, 425), sondern häufiger noch zur Gliederung sequentieller (Einzel‐)Ereignisse innerhalb größerer Handlungsabschnitte (siehe z. B. V. 911, 969, 1140, 1298, 1310 etc.) –, ist in der ‚Kaiserchronik‘-Passage ein Mal, V. 11744, belegt (und auch sonst im Text die Ausnahme). Metanarrative Formeln des Typs ‚Nun berichten uns die Bücher‘ verwendet der Chronist zwar regelmäßig, zumeist allerdings als autoritätsverbürgende Quellenberufungen zur Einleitung von Großabschnitten – dem Übergang zu einer neuen Kaiservita –, weniger innerhalb derselben. Aufschlussreich ist der Vergleich dieser Gestalt des Textes in seiner ältesten erhaltenen Fassung A mit der etwa einhundert Jahre später, nach 1250, entstandenen Bearbeitung C. Der C-Redaktor modernisierte den Grundtext, und zwar unabhängig von der wohl Anfang des 13. Jahrhunderts hergestellten ersten Bearbeitung B – entweder weil er sie nicht kannte oder weil er auf sie nicht zurückgreifen wollte.⁶⁰ Wie der Autor der B-Rezension ist auch der C-Redaktor um  Das scheint sprachenunabhängig zu gelten und lässt sich nach Fludernik 1996, S. 70, etwa auch für mittelalterliche und frühneuzeitliche Erzähltexte aus dem englischen Sprachraum nachweisen; vgl. auch Fludernik 2003a, S. 335, mit einem Beispiel für Inversion als „episodebeginning marker[]“ bei Chaucer.  Wie der Verfasser des ursprünglichen Textes arbeitete der C-Redaktor vielleicht in Regensburg. Seine Bearbeitung ist durch fünf vollständige Handschriften repräsentiert: Wien, Cod.Vind. 2685 (Anfang 14. Jh.; bei Schröder Nr. 27, bei Massmann, dessen Siglen ich im Folgenden der Einfachheit halber übernehme,W); Wien (früher Innsbruck), Cod.Vind. 12487 (14. Jh.; bei Schröder Nr. 28; bei Massmann I); Karlsruhe, Cod. Aug. 52 (2. Hälfte 14. Jh.; bei Schröder Nr. 29; bei Massmann K); Leutkirch (auf Schloss Zeil), ZAMs 30 (Ende 15. Jh.; bei Schröder Nr. 30; bei Massmann Z); München, Cgm 965 (1594; bei Schröder Nr. 31; bei Massmann T). Hinzu kommen einige Fragmente, von denen hier die folgenden von Interesse sind: Wolfenbüttel, Cod. 15.2 Aug. 2° (1. Hälfte 14. Jh.; bei Schröder Nr. 3 und 33; bei Massmann Wo); die ‚Crescentia‘-Erzählung in der Fassung C, wie sie in der Heidelberger Sammelhandschrift Cod. Pal. germ. 341 (1. Viertel 14. Jh.), fol. 131ra–137va überliefert ist (von Schröder nicht berücksichtigt; bei Massmann h2). Mit dieser Handschrift identisch ist die Wiedergabe der ‚Crescentia‘ im Kalocsaer (oder Koloczaer) Codex Ms. 1 (1. Viertel 14. Jh.; heute Cologny-Genf, Bibl. Bodmeriana, Cod. Bodm. 72, fol. 132ra–138vb; von Schröder nicht berücksichtigt; bei Massmann c). Vgl. zur Überlieferung der C-Rezension die Hinweise von Hans Ferdinand Massmann: Vorläufige kurze Aufführung der Handschriften und Hülfsmittel. In: Der keiser und der kunige buoch oder die sogenannte Kaiserchronik. Gedicht des zwölften Jahrhunderts von 18,578 Reimzeilen. Hrsg. von Hans Ferdinand Massmann. Tl. 1. Quedlinburg/Leipzig 1849 (Bibl. d. ges.dt. Nat.-Lit. 4,1), S. XXII–XXV, hier S. XXIII–XXV, und Edward Schröder: Einleitung. In: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von Edward Schröder. Hannover 1892 (MGH SS 8), S. 1– 78, hier S. 23 – 26; außerdem Eberhard Nellmann:

Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

129

eine formale ‚Höfisierung‘ des alten Textes bemüht, um reine Reime und etwa gleichlange Verse; er verfährt darin aber eleganter als sein Vorgänger.⁶¹ Und offenbar gehörte für ihn zu diesem Bemühen um eine Modernisierung seiner Vorlage auch, die Erzählübergänge anders zu gestalten. ‚Anders‘ heißt: unter möglichstem Verzicht auf die Partikel dô dort, wo sie in der A-Fassung diskurspragmatische Funktion hat. Das lässt sich in der ‚Crescentia‘-Passage an sechs Stellen nachweisen, sechs von insgesamt acht, das heißt in 75 Prozent der Fälle, in denen der alte ‚Kaiserchronik‘-Text den Diskursmarker dô verwendete. Am weitesten geht dabei die C-Fassung, wie sie im Cod. Pal. germ. 341 (nach Massmann Hs. h2) sowie, auf diesem fußend, im Kalocsaer Codex (nach Massmann Hs. c) überliefert ist. Wie sich das im Einzelnen gestaltet, zeigt Tabelle 2. Tab. 2: ‚Crescentia‘ (V. 11352 – 12364 nach A) in ‚Kaiserchronik A‘ und C im Vergleich Vers Fassung A (vor ) Schröder Massmann 























Fassung C (nach )

dô was in den selben zîten / ain Ein kunic was in Affricam (WIKZ) chunich ad Affricam In Africa was ein künic rich (Wo) Nu hete ein künec in Affrica (hc) Dô giengen si an den rinch stân Diu vrouwe gie an den rinc stan (Wo + WIKZ) Sie (= Die c) giengen (hc) Dô hiez er samenen zimperDer rede wart der herre vro, / Den turn man / unz er alsô manigen hiez er bowen ho (hc) gewan Dô er mit grôzer crefte / daz Daz wart langer nicht gespart, / Daz heilictuom bestifte heilectuom bestatet wart (hc) Do gescach ain vil guot mære Schiere (+ vil Wo) leidiu mære / Vant ein viskære (Wo + WIKZ) Do der herzoge von hove Von (= Gein W) hove kom der herzoge, / chom, / do getorst in gruozen In gruozte dehein magezoge (Wo + WIKZ) niemen Der herzoge von hove quam (hc)

‚Kaiserchronik‘. In: 2VL 4 (1983), Sp. 949 – 964, hier Sp. 950. Der Text der Kalocsaer Handschrift findet sich in Koloczaer Codex altdeutscher Gedichte. Hrsg. von Johann Nepomuk Graf Mailáth/ Johann Paul Köffinger. Pesth 1817, S. 245 – 274.  Vgl. Mathias Herweg: Nachwort. In: Die Kaiserchronik. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Übers., komm. und mit einem Nachwort vers. von Mathias Herweg. Stuttgart 2014 (RUB 19270), S. 465 – 500, hier S. 474 f.

130

Kohärenz und Konnektivität

Dass der oder die C-Bearbeiter die Partikel dô an den genannten Stellen tilgten und durch andere Formulierungen ersetzten, bedeutet selbstverständlich nicht, dass dô (oder nû) in der Fassung C keine Rolle mehr spielten. Dô kommt immer noch häufig vor, insbesondere in Inquit-Formeln und, als Konjunktion, zur Einleitung temporaler Nebensätze, aber im Verhältnis zum A-Text ist die Abnahme in der Frequenz des Gebrauchs offenkundig, und sie betrifft gerade jene Stellen, an denen dô in der Funktion eines Diskursmarkers der Gestaltung von Erzählübergängen dient. Welche Wirkung hat diese Veränderung im Gebrauch des dô-Konnektors? Der Verzicht auf dô verändert nicht die Wechselpunkte im Erzählgeschehen, aber er hebt den durch den Diskursmarker hergestellten Eindruck eines Zusammenfallens der jeweiligen Referenzzeit mit dem aktuellen ‚Jetzt‘ der Erzählung auf. Anders gesagt: Sprechzeit und Referenzzeit, das ‚Jetzt‘ der Erzählung und das (zurückverlagerte) ‚Jetzt‘ der Handlung, wirken nicht mehr gleichzeitig; es ‚geschieht‘ nicht mehr, was erzählt wird, in dem Augenblick, in dem es erzählt wird. Dadurch aber wird der Gestus des ‚Jetzt-Erzählens‘, der derjenige mündlichen Erzählens ist, verwässert. An seine Stelle treten, in der Tendenz, Formulierungen, die auf die Herstellung eines Bezugs zur Gegenwart des Sprechens (die von der Gegenwart des Sprechers und/oder Hörers zu unterscheiden ist) verzichten und in diesem Sinne sprechzeitabstrakt sind. Eine Ausnahme stellt nur die Sequenzeinleitung Nu hete ein künec in Affrica dar, mit der die Handschriften h2 und c V. 11381 des alten Textes ersetzen, und wenn man die Wirkung dieser Formulierung mit derjenigen der C-Verse ohne dô oder nû vergleicht (Ein kunic was in Affricam, Diu vrouwe gie an den rinc stan, Von hove kom der herzoge etc.), dann bemerkt man den Unterschied. Auf die Frage, wie dieser Befund einzuschätzen ist, komme ich zurück, will aber zunächst die Auswertung der anderen Textauszüge anschließen, die das bisherige Bild einerseits bestätigen, andererseits ergänzen. Im ‚Vorauer Alexander‘ (siehe Tabelle 3), der schon aus formalen Gründen – den zahlreichen metrischen Freiheiten, den häufig unreinen Reimen und Assonanzen – als die älteste Version gelten muss, in der Lambrechts Werk überliefert ist, werden die Übergänge zwischen den Handlungs- und Erzähleinheiten regelmäßig durch die Partikel dô in Verbindung mit einem vorangestellten, mit unde alsô eingeleiteten temporalen Nebensatz hergestellt: Unde alsô daz was gendet, / dô wart ein bote gesendet (V. 434 f.), Unde alsô Philippus was begraben, / dô wart Alexander ze chunig erhaben (V. 552 f.; Hervorheb. von mir) – das ist das Muster. Die Satzeröffnung mit und gilt – neben derjenigen mit da – als eines der auffälligsten stilistischen Merkmale des älteren Erzählens, von den frühesten erhaltenen Zeugnissen in deutscher Sprache bis weit hinein in die frühneuhochdeutsche Literatur. In bestimmten Gattungen volkstümlich-vernakulären Erzählens, vor allem im Märchen, sind und und da noch in der Neuzeit die vorherrschenden

131

Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

Konnektoren. Auch weil sie im Stil des mündlich-konversationellen Alltagserzählens, wie wir es aus der eigenen Erfahrung kennen, eine so große Rolle spielen, geht man in der Syntax- und der textlinguistischen Forschung davon aus, dass diejenigen Textsorten der älteren Literatur, in denen dieselben Mittel ebenfalls so deutlich hervortreten, eine relative Nähe zur Mündlichkeit aufweisen.⁶² Tab. 3: ‚Vorauer Alexander‘, V. 1 – 1005 Konnektor

Vers/Beleg

Wechselpunkt/ point of change

unde alsô (Konj.) + dô Nû

, , ,      (Eines tages)

Handlungssequenz Schauplatz Handlungssequenz Schauplatz Handlungssequenz



, %



, %



, %

Handlungssequenz



, %

Erzählregister Person



, %

Schauplatz Erzählregister



, %

Zeitadverbial

Metanarrative  (Nû sprechent bôse lugenâre), Formel  (Nû wil ich eu sagen),  (Nû vernemt),  (Von Philippus stuode wil ich iu sagen),  (Nû vernement),  (Nû will ich sagen allen)  (Nûne freiscit ich) Name  (Ein chunich was Nycolaus genant)  (Tyre was ein stat grôz) Unmarkiert  (Rîcher chunege was genûc) Gesamt

Häufigkeit/ Frequenz Absolut Prozentual



Das gilt indirekt selbst für einen Text wie den althochdeutschen ‚Tatian‘, in dem Satzanschlüsse mit inti solche mit thô in der Häufigkeit sogar noch übertreffen und der dabei selbstverständlich nicht unmittelbar auf mündliche Erzählvorbilder zurückgreift, sondern auf den geheiligten Text der Bibel; inti ist hier, gefolgt von koordinierendem thô, der Satzanschluss, mit dem der althochdeutsche Übersetzer in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle lat. et (bzw. griech. χαί) in Satzanfangsstellung wiedergibt.⁶³ Doch hat man mit Recht darauf hingewiesen,

 Vgl. Betten 1987, S. 398.  Zu den Techniken der Satzverknüpfung im ‚Tatian‘ siehe Betten 1987; dort, S. 398 f., auch genauere Angaben zur Frequenz von thô und inti und den anderen Übersetzungen von lat. et im althochdeutschen Text. Auch in Erzähltexten anderer europäischer Volkssprachen des Mittelalters begegnen und-Anreihungen, nicht nur zur Satzverknüpfung, sondern auch und vor allem zur

132

Kohärenz und Konnektivität

dass die Ursprünge dieses Stils mit seinen parataktischen und-Anreihungen schon im Alten Testament liegen und in dem, was im Hebräischen normale Alltagssprache war.⁶⁴ Erst die Übersetzungen haben sie zu einer sakralsprachlichen Stileigentümlichkeit der Bibel werden lassen, die vor allem durch Luthers Übertragung für das heutige Sprachempfinden kanonisiert wurde. Die ‚Und als das geschehen war‘-Formel, wie sich ihrer die Vorauer Version des ‚Alexander‘ bedient, spiegelt insofern einerseits die für mündliches Erzählen charakteristische Tendenz zu parataktisch-additiver Satzverknüpfung und Aneinanderreihung der Erzähleinheiten.Walter Ong hat diesen Stil – eher additiv als subordinativ, mehr aggregativ denn analytisch – als Kennzeichen der Denk- und Ausdrucksstrukturen in primär oralen Kulturen beschrieben und als Basis ihrer mnemotechnischen Ausstattung.⁶⁵ Andererseits verbindet die Formel die parataktisch-additive Technik der Satz- und Episodenverknüpfung mit dem integrativanaphorischen Stil der temporalen Subjunktion. Das bloß reihende ‚Und dann‘ verschiebt sich damit zu einem formelhaften Ausdrucksgefüge, das Eröffnungsund Schlussklausel zugleich ist:⁶⁶ Der Nebensatz unterstreicht rückverweisend die Abgeschlossenheit der vorangehend erzählten Handlungseinheit und dient damit der Markierung einer temporalen Ordnung, bei der die Linearität des erzählten Geschehens der Linearität des Erzählablaufs, im Sinne eines Eins-nachdem-Anderen, entspricht. Die – für heutiges Sprachempfinden entbehrliche (und deswegen in den Übersetzungen fast immer ausgelassene) – Partikel dô im Folgesatz, dem Hauptsatz, ist dann wieder „action marker“: das eigentliche Aufmerksamkeitssignal, das der Fokussierung der Höreraufmerksamkeit und dem Markierung von Episodenanfängen, häufig; siehe etwa für das Altenglische Fludernik 1996, S. 101– 107, für das Altfranzösische Fleischman 1990, S. 189 – 191, jeweils mit ergänzenden Literaturhinweisen.  Vgl. etwa Birgit Stolt: Erzählstrukturen der Bibel und die Problematik ihrer Übersetzung. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses, Basel 1980. Hrsg. von Heinz Rupp/HansGert Roloff. Tl. 2. Bern u. a. 1980 (Jahrbuch für internationale Germanistik A, Kongreßberichte 8,2), S. 312– 321, bes. S. 313.  Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. London/New York 1982 (New Accents), bes. S. 31– 57.  Inwieweit Lambrechts Vorlage, der wohl schon um 1100 entstandene, im Frankoprovenzalisch der Dauphiné abgefasste ‚Roman d’Alexandre‘ des Alberic de Pisançon, dabei Pate gestanden haben könnte, lässt sich anhand des Wenigen, was von Alberics Roman überliefert ist, nicht sagen; siehe die kommentierte Ausgabe des Fragments von Ulrich Mölk/Günter Holtus: Alberics Alexanderfragment. Neuausgabe und Kommentar. In: ZfromPh 115 (1999), S. 582– 625. Aber selbstverständlich kennen auch erzählende Texte aus dem galloromanischen Sprachraum die et quant-Verknüpfung in Initialstellung; vgl. Fleischman 1990, S. 190, mit einem Beleg aus Geoffroys de Villehardouin Chronik des Vierten Kreuzzugs (1207/08), in der die Formel häufig Verwendung findet.

Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

133

foregrounding dient.⁶⁷ Während der unde alsô-Anschluss also der syntaktischen Kohärenz des Textes dient, hat dô primär metakommunikative, diskurspragmatische Funktion: Es ist auf den nächsten Handlungsschritt hin orientiert, auf das, was als neu und überraschend herauszustellen ist. Dass moderne Übersetzungen auf die Wiedergabe des Diskursmarkers verzichten können, zeigt, dass seine Verwendung den Bedürfnissen einer anders gearteten Rezeptionspraxis gehorcht. Die syntaktische Konstruktion entspricht in ihrem Stil einer Rezeption im Hören und verrät durch den anaphorischen Verweis auf das zuvor Geschehene zugleich ein Bewusstsein für den Text als eines größeren, in mehrere Teile gegliederten Ganzen, dem ein eigenes Zeigfeld zukommt, in dem mit Deiktika (Unde alsô daz was gendet) beliebig nach verschiedenen Richtungen verwiesen werden kann. Zusammen mit den durch die Partikel nû markierten Wechselpunkten in der Handlung sind es fast 40 Prozent der Erzählübergänge im ‚Vorauer Alexander‘, die über Diskursmarker bewerkstelligt werden. Ebenso frequent ist die Markierung durch metanarrative Formeln, in denen sich das Ich der Erzählerstimme jeweils deutlich vernehmbar Gehör verschafft. Die nû-Partikel aktualisiert in diesem Zusammenhang den Bezug zum Standort des Sprechers (V. 71, 103, 115, 155, 460) und dient der Thematisierung des Erzählens selbst als eines gegenwärtigen, in mehrere Akte gegliederten Vorgangs. Noch dominanter als in der frühesten Version von Lambrechts ‚Alexander‘ treten Diskursmarker an Gelenkstellen der Erzählung im ‚König Rother‘ auf, der etwas, aber nicht wesentlich jünger sein dürfte (siehe Tabelle 4).⁶⁸ Alle dô- und nû-Vorkommen zusammengenommen, werden in den ersten 1000 Versen des Textes gut 60 Prozent aller Erzählübergänge durch diese beiden Diskursmarker geleistet (nicht eingerechnet sind dabei die ebenfalls mit der nû-Partikel eingeleiteten metanarrativen Formeln, die, wie im ‚Vorauer Alexander‘, den Akt des Erzählens und die Situation der Textrezeption selbst fokussieren).

 Der Begriff „action marker“ bei Nils E. Enkvist/Brita Wårvik: Old English þa, Temporal Chains, and Narrative Structure. In: Papers from the 7th International Conference on Historical Linguistics. Hrsg. von Anna Giacalone Ramat/Onofrio Carruba/Giuliano Bernini. Amsterdam/Philadelphia 1987 (Current Issues in Linguistic Theory 48), S. 221– 237, hier S. 221, die als solchen die Funktion von þa im Altenglischen bezeichnen; vgl. auch Nils E. Enkvist: Old English þā – An Action Marker? In: Neuphil. Mitt. 73 (1972), S. 90 – 96.  Der ‚Vorauer Alexander‘ wird auf um 1160 datiert; siehe Elisabeth Lienert: Einführung. In: Pfaffe Lambrecht, Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. und komm. von Elisabeth Lienert. Stuttgart 2007 (RUB 18508), S. 7– 52, hier S. 12. Vom ‚Rother‘ nimmt man an, dass er ungefähr im selben Zeitraum (laut Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150 – 1300. München 1979, S. 92, „zwischen 1152 und 1180“) entstand, vermutlich aber doch näher an 1170 als an 1160; vgl. Szklenar 1985, Sp. 89 f.

134

Kohärenz und Konnektivität

Tab. 4: ‚König Rother‘, V. 1 – 1029 Konnektor

Vers/Beleg

Wechselpunkt/ point of change



, , , , ,    , ,  ⁶⁹ 

Handlungssequenz Person Zeit Handlungssequenz Schauplatz Zeit



, %



, %



, %

Handlungssequenz



, %

Handlungssequenz Handlungssequenz Zeit Handlungssequenz Schauplatz

  

, % , % , %

dô nachgest. Nû

Metanarrative  ([N]u mugid er horen mere), Formel  (Also Berther die riesen angesach, / nu mugit ir horen) Name ,  Wiederholung  Unmarkiert  ([D]ie kile waren gevazzot)  (Wol untfenc der kuninc riche)  (Sie hiezin den vreissamen man) Gesamt

Häufigkeit/ Frequenz Absolut Prozentual



Es handelt sich dabei in allen Fällen um handlungssequentielle Wechselpunkte, die unter Umständen jedoch einen Wechsel in der Zeit oder im Schauplatz einschließen. Neben den insgesamt neun Belegen mit dô oder nû in Spitzenposition finden sich vier, in denen der Konnektor nachgestellt im Satzinneren steht. Das ist an sich nicht ungewöhnlich, wenn auch, was den Aussagesatz betrifft, eher die Ausnahme. Auffällig ist aber, dass in drei der vier Fälle mit nachgestelltem dô (V. 134, 386, 620) am Satz- und Versanfang ein Name oder eine Personenbezeichnung stehen, gegebenenfalls auch um den Preis der Inversion wie in V. 620 f.: viere boten er [Rother, C. S.] do sande / vil witin inme lande. Dieser Befund stimmt zu zwei anderen Stellen, an denen zu Beginn eines neuen Abschnitts kein Konnektor auftritt, sondern ein Name in der ersten Position des Satzes; beide Male ist der Name ‚Rother‘ (V. 448, 546). Diese Stellen deuten darauf hin, dass auch die satzprominente Nennung eines Namens oder einer Personenbezeichnung als Signal der Handlungsprogression sowie der Vordergrunddarstellung verwendet

 Die Heidelberger Handschrift H hat hier, entgegen der Ausgabe Steins, eine einzeilige Initiale; siehe Cod. Pal. germ. 390, fol. 6r.

Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

135

werden konnte;⁷⁰ die weiterführenden Diskursmarker dô oder nû konnten dann entweder ausfallen oder in eine weniger prominente Position im Satzinneren rücken. Dort, wo die Technik der Abschnittsmarkierung durch ein sinnschweres Wort am Beginn oder die „epische Wucht des Namens“, von der Alois Wolf gesprochen hat,⁷¹ einhergeht mit einem Wechsel des Erzählfokus (z. B. hin zu einem anderen Schauplatz, anderen Figuren), wirken diese Übergänge, für heutige Leser zumindest, oftmals ein wenig ruckhaft; sie scheinen die Kontinuität des Erzählflusses zu stören, manchmal bis hin zum Eindruck der Inkohärenz. Für mittelalterliche Rezipienten war an solchen Stellen die deutliche Markierung des jeweiligen Fokus der Erzählung als Teil einer „Texterlebnisstrategie“⁷² offenbar wichtiger als eine grammatisch-syntaktisch enge Verzahnung der Erzählabschnitte, und auch das dürfte mit den spezifischen Bedürfnissen einer Rezeption im Hören zu tun haben. Schwieriger zu beurteilen sind im ‚König Rother‘ Fälle der Konnexion durch anaphorische Wiederaufnahme. Hier erscheint ein Abschnitt mit dem anderen verknüpft, indem der Schlussvers des vorangegangenen Abschnitts zu Beginn des neuen, leicht variierend, wiederholt wird. Ein solcher Fall stellt der Übergang V. 233 – 235 dar: sie [die Boten König Rothers, C. S.] quamen schone uffe den hof, endet der Abschnitt V. 233. Der folgende, in der Handschrift H durch einzeiligen Initialenfreiraum auch optisch hervorgehoben, setzt dann ein: [D]ie herren ritin uffe Constantinis hof, / da intfenc man in de ros (V. 234 f.; Hervorheb. von mir). Wollen die Verse 233 und 234 zwei verschiedene Vorgänge zum Ausdruck bringen, oder dient die Wiederaufnahme der Gliederung von Darstellungseinheiten, markiert also einen Neueinsatz des Erzählens?⁷³ Letzteres scheint mir wahrscheinlicher, denn es gibt im ‚König Rother‘ mindestens zwei weitere Stellen, an denen

 Vgl. dazu auch in der Passage aus dem ‚Vorauer Alexander‘ die Verse 374 und 694, für die sich ganz Ähnliches beobachten lässt. Zur Namensnennung oder der Bezeichnung einer Person oder Personengruppe an Abschnittsanfängen im ‚König Rother‘ darüber hinaus Mißfeldt 1978, S. 42– 44. Ihrer Zählung zufolge beginnen in 152 von 197 möglichen Fällen die Abschnitte mit einer Personennennung; Mißfeldt geht dabei allerdings von einem anderen Abschnittsbegriff als ich aus (ihr Begriff basiert auf der in H überlieferten Abschnittsgliederung, nicht auf Kriterien der Handlungs- oder Erzählprogression).  Wolf 1972, S. 531.  Betten 1987, S. 405.  Peter K. Stein/Ingrid Bennewitz: Kommentar. In: König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein. Hrsg. von Ingrid Bennewitz unter Mitarbeit von Beatrix Koll/Ruth Weichselbaumer. Stuttgart 2000 (RUB 18047), S. 435 – 465, scheinen in ihrem Kommentar zur Stelle zu Ersterem zu tendieren: „V. 233 und 234 könnten verschiedene Vorgänge meinen und dies in den Verben ausdrücken. Mit dem Anritt zum Hof (durch die Stadt?) schließt ein Initialabschnitt, der nächste fängt mit dem Einritt an“ (S. 439; Hervorheb. im Original).

136

Kohärenz und Konnektivität

Übergänge an den Grenzen von Handlungseinheiten in ähnlicher Weise realisiert werden. So wird auch in der Passage V. 1772– 1778 der Wechsel von einer Episode (Herzog Friedrichs Leute beklagen sich bei Rother/Dietrich über das Benehmen von dessen Vasall Witold) zur nächsten (Konstantin beklagt sich bei der Königin) durch die Wiederaufnahme einer Form hergestellt, die sich am Schluss des vorhergehenden Abschnitts findet: dar umbe liezen sie die clage unde swigitin lasteris unde schaden. Die gerouftin mit deme hare die swigitin is zware swilche wis sie mochtin. der kuninc saz in trechten unde clagitiz der kuningin […]. (V. 1772– 1778; Hervorheb. von mir) Deshalb ließen sie von der Klage ab / und schwiegen über ihre Schande und ihren Schaden. / Die so an den Haaren gerauft worden waren, / die schwiegen tatsächlich darüber, / so gut sie es vermochten. / Der König saß gedankenversunken da / und beklagte sich bei der Königin […].

In V. 2743 – 2746 heißt es am Ende eines Abschnitts, der von Witold erzählt: swar er zo der dicke quam, dar slouc er her uffe den man, daz sie al zescrietin also ein stop daz da hine weite. (V. 2743 – 2746; Hervorheb. von mir) Wo auch immer er ins Schlachtgedränge kam, / da hieb er auf die Leute ein, / dass sie alle auseinanderstoben / wie Pulver, das der Wind verweht.

Der Beginn des nächsten Abschnitts nimmt dann das Verb slagen wieder auf, wenn auch nun nicht auf Witold allein, sondern auf sämtliche Riesen bezogen, die an Rothers Seite gegen Ymelot kämpfen: Die zwelf riesen vreissam / die sclogin manichen man (V. 2747 f.; Hervorheb. von mir). In den Versen 1896 und 1909 wiederum betrifft die Wiederaufnahmerelation nicht Schlussvers des vorhergehenden und Anfangsvers des darauffolgenden Abschnitts, sondern was variierend wiederholt wird, ist die – jeweils durch Initiale ausgezeichnete – Anfangszeile zweier aufeinanderfolgender Abschnitte: Do scheit sich die hochgezit (V. 1896) – Die hohtith was irgangen (V. 1909).⁷⁴

 Weitere Beispiele für solche wörtlichen Wiederaufnahmen von Anfangszeilen listet Mißfeldt 1978, S. 53 – 55, auf.

Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

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Jean Rychner hat seinerzeit am Beispiel der altfranzösischen Heldenepik solche Verknüpfungen durch anaphorische Wiederaufnahme genauer beschrieben und für jenes Verfahren, bei dem eine Schlusszeile oder -partie zu Beginn des Folgeabschnitts wörtlich wiederaufgenommen wird, den Begriff des enchaînement geprägt.⁷⁵ Die Chansons de geste verwenden es in charakteristischer Weise zur Verschränkung ihrer in Laissen organisierten Erzählabschnitte. Im ‚König Rother‘ sind die Stellen nicht sehr zahlreich, und insbesondere dass zu Beginn eines neuen Abschnitts Formulierungen vom Ende des vorangehenden wiederaufgenommen werden, kommt, strenggenommen, nur zwei, drei Mal vor, wird also keinesfalls systematisch angewandt. Ebenso wenig halte ich die Stellen aber für Zufall oder eine Folge der schwierigen Überlieferung des ‚Rother‘. Sie passen in das Bild einer Dichtung, die, wie besonders die ältere Forschung herausgearbeitet hat, erzähltechnisch in mehr als nur einer Hinsicht Parallelen zur Laissenform der altfranzösischen Heldenepik aufweist.⁷⁶ Es scheint mir daher nicht unwahrscheinlich, dass es sich in diesen Fällen um eine den Chansons de geste abgelauschte Technik der Gestaltung von Erzählübergängen handelt. Die Frage, inwieweit sich darin Reste einer ursprünglichen Verfasstheit des ‚Rother‘ in ungleichzeiligen Strophen bewahrt haben, die also auch gesungen, nicht gesprochen wurden,⁷⁷ lasse ich dabei dahingestellt sein. Es geht mir nicht um die formale Genese des einzelnen Textes, darum, ob er auf ein strophisch geformtes

 Jean Rychner: La chanson de geste. Essai sur l’art épique des jongleurs. Genf/Lille 1955 (Société de Publications Romanes et Françaises 53), S. 74– 80, mit zahlreichen Beispielen; vgl. auch die ältere Arbeit von Werner Mulertt: Laissenverbindung und Laissenwiederholung in den Chansons de Geste. Halle a. S. 1918 (Romanistische Arbeiten 7), bes. S. 26 – 39, sowie Dominique Boutet: La chanson de geste. Forme et signification d’une écriture épique du Moyen Age. Paris 1993, S. 118 – 124.  Siehe dazu namentlich Friedrich Maurer (Hrsg.): Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. 3 Bde. Tübingen 1964– 1970, mit der These von der Beziehung der frühmittelhochdeutschen Dichtungen in ungleichzeiligen ‚Vortragsabschnitten‘ – Maurer selbst bevorzugt den Begriff ‚Vortragsstrophen‘ – zu den altfranzösischen Laissen (Bd. 1, S. 1– 60, bes. S. 22– 24 sowie, zum ‚König Rother‘, S. 36 – 39); darauf aufbauend Mißfeldt 1978, S. 80 – 93. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis von Friedrich Panzer: Italische Normannen in deutscher Heldensage. Frankfurt a. M. 1925 (Deutsche Forschungen 1), S. 82– 95, auf eine (wie auch immer vermittelte) stoffliche Verwandtschaft der deutschen ‚Ächtermäre‘ mit dem anglonormannischen Lied vom ‚Roi Horn‘. Panzer kommt zu dem Schluss, dass, „wie man nun über das Einzelne denke, eine weitgehende Vertrautheit des Rotherdichters mit französischer Epik unleugbar [bleibt]“ (S. 96).  Das war die Auffassung Maurers. Die Stimmen der älteren Forschung, die sich für eine ursprüngliche strophische Form des ‚Rother‘ aussprachen und entsprechende Rekonstruktionsversuche unternahmen, fasst Mißfeldt 1978, S. 29 – 32, zusammen; auch Maurer 1964– 1970, Bd. 1, S. 36 – 39, bietet den Anfang des Textes in unregelmäßigen Langzeilenstrophen.

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Kohärenz und Konnektivität

Vorbild zurückgehen könnte oder auch nicht. Worauf hingegen zurückzukommen sein wird, ist die grundsätzlichere Frage, die damit zu tun hat: wie sich nämlich das Erzählen in fortlaufenden Reimpaaren, wie es sich ab etwa 1150 in der deutschsprachigen Literaturlandschaft durchzusetzen beginnt, zur älteren – und teilweise selbstverständlich weiter gepflegten – Tradition eines strophisch-abschnitthaften Erzählens verhält, oder anders gefragt: ob und inwiefern sich diese Tradition auf die Konstitution der fortlaufend erzählten Texte und hier insbesondere die Gestaltung von Wechselpunkten im Handlungs- und Erzählgefüge ausgewirkt hat.⁷⁸ Ein Text, von dem man vielleicht vermuten möchte, dass für ihn die Verknüpfungstechniken seiner Vorlage – mit ihrer charakteristischen Form eines strophisch-abschnitthaften Erzählens in Laissen – eine gewisse Rolle gespielt haben könnten, ist das ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad. Umso auffälliger ist, dass das Prinzip der ungefähren Wiederaufnahme im Sinne von enchaînement oder reprise – ein Prinzip, das die ‚Chanson de Roland‘ (soweit wir das aufgrund der Oxforder Handschrift, die bekanntlich nicht Konrads Vorlage war, sagen können) häufig verwendet – bei Konrad gar nicht mehr vorkommt.⁷⁹ Dass es auch im Deutschen nicht völlig ausgeschlossen ist, zeigen die Beispiele aus dem ‚König Rother‘. Sie sind freilich zugleich ein Beleg dafür, dass enchaînement und reprise bei nichtstrophischem Erzählen nicht wirklich funktionieren und wohl nicht erst auf moderne Leser bis zu einem gewissen Grade widerständig wirken. Wenn Konrad im Unterschied zur ‚Chanson‘ auf diese Formen der Oberflächenkohärenz also verzichtet, dann dürfte das seinen Grund in der grundsätzlich anderen Erzählweise des deutschen Textes haben. Im Allgemeinen orientiert er sich zwar in seiner Abschnittsgestaltung an der Laisseneinteilung des französischen Textes, besonders was die Binnenstruktur der Erzähleinheiten angeht.⁸⁰ Doch scheint das Prinzip der Sukzession, wie es einem kontinuierlichen Erzählen in Reimpaaren entspricht, sich der immer neu ansetzenden, an den Laissengrenzen pausierenden, „Staumauern“ (Leo Pollmann) im Handlungsablauf errichtenden Erzählweise der Chansons de geste zu widersetzen bzw. im Deutschen aufgrund der dort

 Siehe dazu unten, S. 169 – 172.  Beispiele für enchaînement in der ‚Chanson de Roland‘ sind die Übergänge zwischen den Laissen 9 – 10, 21– 22, 33 – 34, 69 – 70, 147– 148, 163 – 164, 204– 205 – 206, 210 – 211; die benutzte Ausgabe: Das altfranzösische Rolandslied. Nach der Oxforder Handschrift hrsg. von Alfons Hilka. 8., verb. Aufl. besorgt von Max Pfister. Tübingen 1997 (Sammlung romanischer Übungstexte 3/4).  Näheres bei Antje Mißfeldt: Ein Vergleich der Laisseneinheiten in der Chanson de Roland (Hs. O) mit der Abschnittstechnik in Konrads Rolandslied. In: ZfdPh 92 (1973), S. 321– 338.

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Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

herrschenden anderen lautlichen und metrischen Bedingungen nicht überzeugend nachgebildet werden zu können.⁸¹ Wie aus Tabelle 5 hervorgeht, herrschen stattdessen bei Konrad in insgesamt noch stärkerem Maße als in den anderen Texten Diskursmarker als Mittel des narrativen Anschlusses vor. Nimmt man den einen Fall, in dem dô nicht als Tab. 5: ‚Rolandslied‘, V. 1 – 1010 Konnektor

Vers/Beleg

alsô (Konj.) Dô

,  , ,    dô nachgest.     (Alsô wonete dô dâ)

dô (Konj.)

 

Zeitadverbial  (under diu)  (under diu)  (Aines morgenes vruo) Name V-Stellung Unmarkiert Gesamt

Wechselpunkt/ point of change Handlungssequenz Handlungssequenz Erzählregister Person Erzählregister Handlungssequenz Allgemeines → Spezielles Spezielles → Allgemeines Person Allgemeines → Spezielles Schauplatz Person Zeit

 Erzählregister  (Vf stuont der erzebiscof),  (Vf Person spranc ein heiden)  (Der rât was getân) Handlungssequenz

Häufigkeit/ Frequenz Absolut Prozentual  

 %  %



 %



%



 %

 

%  %



%



 Zum stauenden Effekt der vielfach in Parallel- oder Wiederholungslaissen voranschreitenden Erzählweise der französischen Chansons de geste siehe u. a. Pollmann 1966, S. 2. Was die lautlichen und metrischen Bedingungen betrifft, so bestanden im Altfranzösischen durch die Endbetonung der Wörter wesentlich mehr Assonanz- und Reimmöglichkeiten als im Mittelhochdeutschen. Es dürfte daher für die französischen Autoren wesentlich leichter gewesen sein, relativ kompakte Abschnitte mit gleichbleibendem, assonierendem Endklang – Laissen eben – zu bilden. Im Mittelhochdeutschen hingegen mussten die Autoren im Reim beständig wechseln, was mit dazu beigetragen haben dürfte, dass eine so geschlossene Strophenform wie die Laisse sich hier nicht herausbildete.

140

Kohärenz und Konnektivität

Diskursmarker, sondern als temporale Konjunktion fungiert (V. 31), aus, dann sind es in den ersten gut 1000 Versen des Textes immer noch 50 Prozent aller in Betracht kommenden Stellen, an denen Verschiebungen in der Handlungssequenz – einschließlich eines Wechsels des Erzählfokus hin zu anderen Figuren oder von allgemeiner zu spezieller Geschehensdarstellung –⁸² oder auch im Erzählregister (in der Regel von einer Erzählerdigression zurück zur Handlungsschilderung, wie in V. 82 f. und 242 f.) durch die dô-Partikel signalisiert werden. Konrads Bearbeitung des ‚Rolandslieds‘ liegt damit in der Häufigkeit der dô-Vorkommen (in diskursmarkierender Funktion) in etwa gleichauf mit dem ‚König Rother‘. Daneben finden sich, wie schon in den anderen Texten, Namen oder Personennennungen als Abschnitts- und Wechselmarker, ebenso Inversionen sowie, an drei Stellen, Zeitangaben. Um die semantisch-funktionale Valenz von dô als Diskursmarker noch genauer zu beschreiben, soll ergänzend – und abschließend – die schon angekündigte Passage V. 4017– 5190 hinzugezogen werden, die in einer Reihe analog strukturierter Erzählabschnitte das Aufeinandertreffen der zwölf Pairs Karls des Großen mit den zwölf sarazenischen Vorkämpfern darstellt (siehe die Übersicht über die Art und Verteilung der Erzählanschlüsse in Tabelle 6). Auch hier werden, wenn man den einen Beleg für nachgestelltes dô mit einrechnet, knapp 50 Prozent der Wechselpunkte durch Diskursmarker angezeigt. Neben dô tritt dabei die stärker lokale Partikel dâ bzw. dar, wie zum Beispiel in Dar kom Eschermunt („Dorthin [auf den Kampfplatz] kam Eschermunt“, V. 4763). Das ergibt an den betreffenden Stellen einerseits Sinn, lässt andererseits eine klare semantische Abgrenzung vom mehr temporalen dô kaum erkennen. Anders gesagt: An den Stellen, an denen die Heidelberger Handschrift P (Cod. Pal. germ. 112) dâ oder dar am Versanfang hat, könnte, ohne nennenswerte semantische Verluste, auch dô stehen, und das entspricht dem zwischen Temporalem und Lokalem oszillierenden Gebrauch der beiden Partikeln im Mittel- und Frühneuhochdeutschen.⁸³ Ebenso wenig überraschend ist, dass die Technik, den Beginn  Z. B.V. 320 f. von der allgemeinen Furcht der Heiden in Tortolose vor dem Herannahen Rolands und des Christenheers hin zum Zoom auf eine besondere Figur, den alten heide[n] Josias.  Dass das temporale dô und das lokale Adverb dâ, dâr sich im Mittelhochdeutschen vermischen, hat Norbert Richard Wolf: Satzkonnektoren im Neuhochdeutschen und Mittelhochdeutschen. Prolegomena zu einer kontrastiven Textsyntax. In: Sprachwissenschaft 3 (1978), S. 16 – 48, bes. S. 38 – 40, anhand des ‚Nibelungenlieds‘ beschrieben. Ursula Schulze: Komplexe Sätze und Gliedsatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. In: ZfdPh 110 (1991), Sonderheft, S. 140 – 170, hier S. 167– 169, weist auf die Austauschbarkeit von dô und dâ, ohne funktionale Einschränkung, in den deutschsprachigen Urkunden des 13. Jahrhunderts hin. Auch im Frühneuhochdeutschen werden dô und dâ weiter parallel und unterschiedslos gebraucht; siehe auch Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. 25. Aufl. neu bearb. von Thomas Klein/Hans-

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Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

Tab. 6: ‚Rolandslied‘, V. 4017 – 5190 Konnektor

Vers/Beleg

Wechselpunkt/ point of change

Alsam dâ/dar Dô

  (dar),  (dâ)  (dâ) , , , 

dô nachgest. dô (Konj.)

, ,    

Person Person Erzählregister Spezielles → Allgemeines Person Handlungssequenz Handlungssequenz Handlungssequenz

Metanarrative  (Daz buoh kündet uns), Person Formel  (Nu hœren wir diu buoch jehen) Name , , , , , Person ,  ,  (Haiden, die grimmen) Spezielles → Allgemeines Gesamt

Häufigkeit/ Frequenz Absolut Prozentual  

%  %



 %

 

% %



%



 %



eines neuen Erzählabschnitts durch Namensnennung – durchweg in erster Satzposition – anzuzeigen, einen so großen Anteil ausmacht: Sie dient der markanten Einführung immer neuer Protagonisten, die in das Schlachtgeschehen eingreifen. Wie aber sind die auf diese Weise narrativ in Gang gesetzten Kampfepisoden in ihrem zeitlichen Verhältnis zueinander zu denken und welcher Wert kommt dabei der Partikel dô zu, die auch als Diskursmarker ja eine gewisse temporale Färbung aufweist? Die Frage nach dem zeitlichen Verhältnis dieser seriell aneinandergereihten Episoden im ‚Rolandslied‘ – und, als Vergleichsfolie, in der ‚Chanson de Roland‘ – hat die Forschung immer wieder beschäftigt. Sie kam dabei überwiegend zu dem Ergebnis, dass die Frage nicht wirklich zu beant-

Joachim Solms/Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schröbler, neubearb. und erw. von Heinz-Peter Prell. Tübingen 2007 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A, Hauptreihe 2), S. 414, § S 173,1. Folgerichtig übersetzt Kartschoke in seiner Ausgabe des ‚Rolandslieds‘ den zitierten V. 4763 auch gar nicht lokal, sondern rein temporal: „Nun kam Eschermunt angestürmt“ (S. 331).

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Kohärenz und Konnektivität

worten sei.⁸⁴ Auch Susanne Reichlin, die sich dieser Passagen aus ‚Rolandslied‘ und ‚Chanson de Roland‘ in einem Aufsatz mit dem bündigen Titel „Nach- oder Nebeneinander?“ angenommen hat, lässt die Frage am Ende offen.⁸⁵ Sie begründet dies damit, dass ein den Episoden vorausliegender „kontinuierlicher Zeitenraum“ fehle,⁸⁶ was meines Erachtens keine ganz befriedigende Erklärung darstellt, da das Fehlen eines solchen vorausgehenden temporalen Raums, wenn man es denn konstatieren möchte, nicht ausschließt, die Einzelepisoden der Serie, zum Beispiel durch entsprechende Zeitadverbien (dar/hie nâch, under diu/ des, die wîle etc.), zueinander in ein Verhältnis der Gleich- oder Nachzeitigkeit zu setzen. Das unklare Zeitverhältnis der Episodenserie ist nicht erst ein Phänomen des deutschen Textes, sondern bereits seiner französischen Vorlage (wie auch immer sie im Einzelnen ausgesehen haben mag). Doch hat es dort aufgrund der strophischen Form ein etwas anderes Gepräge. Reichlin weist darauf hin, dass in der ‚Chanson de Roland‘ der Auftritt eines Fürsten und der Abschnitt eines Kampfes jeweils genau die Länge einer Laisse hätten. Lyrische und narrative Einheit kommen so zur Deckung, und die enchaînements überbrücken die Zäsur zwischen den baugleichen Strophen einerseits, wie sie sie andererseits, im Zusammenspiel mit dem Wechsel des Assonanzvokals von Laisse zu Laisse, noch verstärken.⁸⁷ Vielleicht noch wichtiger ist, dass die Oxforder Handschrift der ‚Chanson‘ zu Beginn der Reihe der zwölf gleich gebauten Kampfszenen (L. 93 – 104) wiederholt das lokale Deiktikum i, ‚hier, dort‘, verwendet, wenn ein weiterer sarazenischer Fürst eingeführt wird, kein Temporaladverbium (L. 94, 95). Oft wird die nächste  So geht Hans-Hugo Steinhoff: Die Darstellung gleichzeitiger Geschehnisse im mittelhochdeutschen Epos. Studien zur Entfaltung der poetischen Technik vom Rolandslied bis zum ‚Willehalm‘. München 1964 (Medium aevum 4), S. 106 f., für die Ereignisse der ersten Schlacht von Ronceval von einer „einfache[n] Sukzession“ aus, „die die Gleichzeitigkeit der Angriffe in Nacheinander auflöst“. Gegen Gleichzeitigkeit spricht sich demgegenüber Hans Henning Pütz: Die Darstellung der Schlacht in mittelhochdeutschen Erzähldichtungen von 1150 bis um 1250. Hamburg 1971 (Hamburger philologische Studien 15), S. 45 – 50, aus und beruft sich dazu auf einzelne syntaktische Fügungen sowie die „zeitgenössische Kriegstechnik“; er sagt S. 47 f. aber auch, dass die Sache nicht eindeutig zu entscheiden sei. Für ein „Nacheinander einzelner Scharkämpfe“ auch schon Helmut de Boor: Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung: 770 – 1170. München 1949 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1), S. 232.  Vgl. Reichlin 2012, S. 203. Diese Offenheit rührt z.T. freilich daher, dass es ihr letztlich um eine Analyse des zeitlichen Verhältnisses der Einzelepisoden der Serie nicht geht, sondern in einer grundsätzlicheren Weise um die Beschreibung der unterschiedlichen temporalen Effekte, die ein seriell wiederholendes Erzählen wie im ‚Rolandslied‘ hervorrufen kann.  Reichlin 2012, S. 203.  Reichlin 2012, S. 186.

Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

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Laisse auch mit e, ‚und‘, eröffnet und so eine nicht nur syntaktische, sondern auch thematische Verknüpfung zwischen den Laissen erzeugt, die auf eine temporale Situierung im Sinne eines Nacheinander erkennbar nicht angelegt ist (L. 96, 97, 99 – 102). Jan-Dirk Müller, der sich ebenfalls mit dieser Sequenz befasst hat, folgert daraus, hier handele es sich um „Erinnerungstafeln“: um im narrativen Kontext isolierte, die Zeitlichkeit des Geschehens sistierende ‚Bilder‘, die, einfach nebeneinandergestellt, auf die memoria heroischen Handelns gerichtet seien. Konrads ‚Rolandslied‘ hingegen baue diese memorialen Strukturen tendenziell ab und integriere die einzelnen Szenen der Sequenz in ein Konzept linear vergehender Zeit.⁸⁸ Doch trifft das wirklich zu? Aus den Parallelstellen des französischen Textes wird deutlich, dass Konrad das Un duc/Uns reis i est der ‚Chanson‘ (L. 94 f.) mit episodeneinleitendem Dô kom wiedergibt oder dort, wo im Französischen die Laisse mit ‚und‘ anhebt, schlicht den Namen zum Abschnittsauftakt setzt.⁸⁹ Gegenüber der französischen ist es in der deutschen Version also die Verwendung der dô-Partikel mit ihrer temporalen Semantik, die es prima vista möglich erscheinen lässt, dass für die dargestellten Kampfszenen eine bestimmte zeitliche Ordnung angenommen werden soll, und zwar eine solche der Aufeinanderfolge. Ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, dass zeitgenössische Hörer, hätte man sie im Anschluss an einen öffentlichen Vortrag des ‚Rolandslieds‘ gefragt, ob die eben gehörten einzelnen Kampfabschnitte ihrer Meinung nach nacheinander oder gleichzeitig stattgefunden hätten, sich mehrheitlich für ein Nacheinander ausgesprochen hätten. Doch wäre dieser Eindruck wohl mehr in der Wahrnehmung des Verstreichens der Zeit während des Erzählens begründet gewesen als in entsprechenden textuellen Markierungen. Wenn es an einer eindeutigen Markierung, ob etwas als nach- oder nebeneinander stattfindend vorzustellen ist, fehlt, neigen Hörer oder Leser vermutlich dazu, zeitliche Sukzessivität anzunehmen. Oder anders gesagt: Sie neigen dazu anzunehmen, dass mit der Sukzessivität der Erzählzeit auch eine Sukzessivität im Hinblick auf die erzählte Zeit vorauszusetzen ist. Im Text selbst jedoch findet dieser Eindruck – wenn die Hörer von Konrads ‚Rolandslied‘ ihn denn tatsächlich gehabt haben sollten – nur ausnahmsweise eine Stütze. Die Frage, ob die zehn seriell aneinandergereihten Kampfszenen im ersten Teil der Schlacht von Ron-

 Müller 2017, S. 115, 326 f., 369 – 373; siehe zur Metapher der ‚Erinnerungstafel‘ auch ebd., S. 57 f.  Vgl. Un duc i est, si ad num Falsaron (Hs. O,V. 1213) zu Dô kom Falsaron (V. 4217); Uns reis i est, si ad num Corsablix (Hs. O, V. 1235) zu Dô kom der künc Cursable (V. 4371). Den Namen in Initialstellung statt eines ‚und‘-Anschlusses hat das ‚Rolandslied‘ in den Versen 4495 (zu V. 1261 der ‚Chanson‘), 4537 (zu V. 1269); dô statt eines ‚und‘-Anschlusses in V. 4689 (zu V. 1281); eine metanarrative Formel statt eines ‚und‘-Anschlusses in V. 4851 f. (Nu hœren wir diu buoch jehen, / Hatte, ain wârer gotes degen), der sich V. 1297 der ‚Chanson‘ vergleicht.

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Kohärenz und Konnektivität

ceval, V. 4017– 5190, als simultan oder sukzessive sich ereignend vorzustellen sind, muss daher nicht deshalb offen bleiben, weil etwa vorhandene textuelle Markierungen an Eindeutigkeit zu wünschen übrig ließen, sondern weil eine solche Markierung von Konrad offenkundig nicht beabsichtigt war. Ob die Szenen nach- oder nebeneinander geschehen, das ist insofern falsch gefragt – Konrad, und möglicherweise sogar den zeitgenössischen Rezipienten, dürfte die Zeitlichkeit dieser Episoden nicht so wichtig gewesen sein. Wir heutige Interpreten interessieren uns dafür, doch war für die historischen Rezipienten etwas anderes an dieser Stelle offenkundig wichtiger. Das lehrt insbesondere die Verwendung der dô-Partikel in den Versen 4017– 5190 des ‚Rolandslieds‘.Was sich hier beobachten lässt, deckt sich mit den an den anderen vier Textauszügen gemachten Beobachtungen. Auch an den Übergangsstellen zwischen den einzelnen Abschnitten innerhalb der Verse 4017– 5190 hat dô in aller Regel nicht die Funktion einer zeitlichen Verortung der dargestellten Ereignisse und ihrer Abfolge (wenn sie auch mit einer solchen einhergehen kann). So sind von den insgesamt dreizehn dô- oder dâ/dar-Vorkommen in der Schilderung des ersten Teils der Schlacht zehn ohne (zwingende) temporale Nuance, und dort, wo eine zeitliche Nuance im Sinne von ‚dann, darauf‘ (mit‐) gemeint sein muss, ergibt sie sich erst im Zusammenspiel mit weiteren Informationen.⁹⁰ Vielmehr dient dô – das bestätigt nicht zuletzt der Vergleich mit den Parallelstellen der ‚Chanson de Roland‘, wo in diese Funktion i und, mehr noch, e am Laissenbeginn eintreten – auch hier primär als Diskursmarker. Die Partikel hat, zusammen mit anderen Techniken wie vor allem der satzprominenten Namensnennung, die Aufgabe, die kognitive Prozessierung des Erzählten zu steuern – und damit zu erleichtern –, indem sie die jeweils handlungszentralen Ereignisse in den Vordergrund rückt.⁹¹

 So etwa in V. 4635 (Dô vâchten wol die christen) mit Blick auf den unmittelbar vorangehenden V. 4634, wo – in Bezug auf die Tötung des sarazenischen Heerführers Amarezur durch Samson – davon die Rede ist, ez was vermezzenlîche erhaben, also der Beginn von etwas konstatiert wird, das dann mit dem Massenkampf V. 4635 ff. fortgesetzt würde; oder in V. 4452 f. (dô wolt der himelische hêrre / die sîne wol gefristen), wo im Zusammenhang mit der Zeitangabe „zur Zeit der None“ bzw. „zur Mittagszeit“ von V. 4457 (daz gescach an der nône zît) davon ausgegangen werden kann, dass die gottgewirkte Erfrischung der christlichen Kämpfer mit einem „Tauregen vom Himmel“ (ain trôr von dem himeltouwe) als auch zeitliche Folge der in V. 4444 erwähnten Hitze des Kampfes aufzufassen ist. Eindeutig temporal sind eigentlich nur V. 5037, insofern hier ein Resultat des vorangehenden Schlachtgeschehens formuliert wird (Die haiden wâren dô gelegen), und V. 4017, wo dô aber temporale Konjunktion ‚als, nachdem‘ ist.  Müller 2017, S. 326 f., zitiert als eine Stelle, die sich als Beleg dafür deuten ließe, dass „das ‚Rolandslied‘ das Vergehen von Zeit [notiert]“, V. 3774– 3776: mir gevellet vile übele, / daz wir sô lange hie bîten. / lâz unsich zuo in rîten. Der heidnische König Zernubele zeige sich hier ungeduldig

Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

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Freilich: Wo die Autoren in ihren Texten durch diskursmarkierende Partikeln (vor allem dô und nû, seltener unde), durch Namen oder Personenbezeichnungen am Satz- bzw. Versanfang, durch syntaktische Inversionen (Verb in Satzanfangsstellung) oder gelegentlich auch Gleichanfänge nach dem Vorbild der enchaînements der Chansons de geste den Erzählvordergrund markieren, stellen sie zwar narrative Anschlüsse zwischen den Handlungs- oder Erzähleinheiten her, aber noch nicht fließende Übergänge. Verfahren der Vordergrundmarkierung sind nicht notwendig auch solche der kohärenzlogischen Verknüpfung in dem Sinne, wie wir sie erwarten. Auch dann, wenn der Wechsel von einem Handlungsabschnitt zum nächsten durch dô oder einen anderen Diskursmarker gekennzeichnet ist, kann der Eindruck einer diskontinuierlichen Darbietung des Geschehens bestehen bleiben,⁹² und beim unvermittelten Beginn eines neuen Abschnitts mit einem noch nicht eingeführten Namen ist das unter Umständen noch viel stärker der Fall. Diese kohärenzlogische Minderleistung von dô fällt bei einsträngigen, mehr oder weniger linear erzählten Handlungsverläufen nicht so sehr auf. Aber auch hier sind es nicht eigentlich Verfahren auf der Textoberfläche, die Verknüpfungen zwischen den einzelnen Abschnitten herstellen, sondern semantisch-thematische Rekurrenzleistungen des Rezipienten. Was sich an der Textoberfläche im Hinblick auf die Fügung der kleineren Handlungs- und Erzähleinheiten also beobachten lässt, ist weniger ein Bemühen um Verknüpfung. Worauf es in diesem frühen volkssprachigen Erzählen offenbar viel mehr ankam, war die möglichst markante Kennzeichnung von Geschehenseinheiten, und zwar ihres Anfangs mehr noch als ihres Endes. Auch das ist Ausdruck ebenso wie Folge jener ausgesprochenen Handlungslastigkeit, die man für mittelalterliches Erzählen generell festgestellt hat.⁹³ Nur am Rande vermerkt sei dabei die auffällige Regelmäßigkeit, mit der, quer durch die hier untersuchten Texte hindurch, die Länge einer Handlungseinheit sich auf durchschnittlich etwa fünfzig

und deute dadurch ein Bewusstsein vergehender Zeit an. Doch fällt Zernubeles Äußerung nicht in der Serie der Zweikämpfe zwischen Karls Pairs und den sarazenischen Vorkämpfern, sondern in der Reihe der diesen vorangehenden Reiz- und Prahlreden (V. 3540 – 3792). Selbst dort scheint sie mir ein allenfalls schwacher temporaler Indikator. Möglich ist auch, dass Zernubeles Äußerung nicht Ungeduld über „die in den Prahlreden vergangene Zeit“ (S. 327) ausdrückt, sondern hyperbolischer Ausdruck seiner Kampfbereitschaft ist: Zernubele kann es gewissermaßen nicht schnell genug in den Kampf gehen; jedes Wort wäre eines zu viel und Zeitverschwendung. Davon unberührt ist, dass Konrad makrostrukturell gegenüber der ‚Chanson de Roland‘ zweifellos um eine stärkere Einbindung des Geschehens in die lineare Konzeption christlicher Heilsgeschichte bemüht ist.  Diese Beobachtung, für die Schlachtsequenzen der Verse 4017– 5190 von Konrads ‚Rolandslied‘, bei Reichlin 2012, S. 170.  So etwa Schulz 2012, S. 166.

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Kohärenz und Konnektivität

Verse beläuft. Fünfzig Verse, das scheint das Maß zu sein, an dem sich dieses Erzählen im Zeichen kleiner Einheiten orientierte. Die textuellen Markierungen an den Gelenkstellen der Texte – potentiell kritische Stellen im Hinblick auf ihre Kohärenz – zielen mithin nicht auf die Gestaltung einer Erzählerrede (im Sinne dessen, was in der Erzähltheorie discours heißt), die in der Vorstellung des Rezipienten eine in sich geschlossene Erzählwelt mit in jeder Hinsicht – zeitlich, räumlich, sachlich-thematisch – wohlgeordneten und kohärenten Bezügen entstehen lässt. Das durchaus vorhandene Bemühen um Kohärenz kann vielmehr stets überlagert werden von der Notwendigkeit der ‚Reliefbildung‘, das heißt der Kenntlichmachung der Haupthandlungslinie der Erzählung und des foregrounding. Erich Auerbach hat in seinen klassischen Bemerkungen zum Stil der frühen volkssprachigen Dichtung in Frankreich beobachtet, dass in Texten wie der ‚Vie de Saint Alexis‘ (gegen 1050) und auch dem ‚Rolandslied‘ das Bedürfnis, Verbindungen herzustellen und Entwicklungen weiterzuverfolgen, schwach ausgeprägt sei. Er hat ihre Struktur als eine Folge autonomer, nur locker miteinander verbundener Ereignisse beschrieben, die je eine bedeutende Geste enthielten, dabei aber nur eine lose temporale oder kausale Verknüpfung mit den vorausgehenden oder nachfolgenden Ereignissen aufwiesen.⁹⁴ Die ‚Chanson de Roland‘ reihe unverbundene Bilder aneinander wie Perlen auf einer Schnur, und Suzanne Fleischman hat dieses Bild zum Anlass genommen, von einer Nähe der Syntax mittelalterlicher Wortkunst zu derjenigen der mittelalterlichen Malerei zu sprechen, mit ihrem charakteristischen Fehlen der Perspektive und ihrer Tendenz der Gegenüber- oder Nebeneinanderstellung voneinander unabhängiger Bilder.⁹⁵ Solche Vergleiche besitzen eine scheinbar schlagende Evidenz. Sie führen aber leicht in die Irre, indem sie in ihrer Suggestivität wichtige andere Aspekte unterbelichtet lassen. Sie halten einem Paradigma die Treue, das in der Beurteilung der Kontinuität oder Diskontinuität eines Werks letztlich rein textimmanent argumentiert.⁹⁶ Demnach werden Reibungen in der Sequentialisierung narrativer Einheiten, Reibungen, die, jedenfalls aus heutiger Sicht, als Inkohärenzen oder Diskontinuitäten spürbar werden, zwar nicht mehr über den Leisten neuzeitlicher

 Siehe das Kap. V (‚Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres‘) in Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 10. Aufl. Tübingen/Basel 2001 (Sammlung Dalp), S. 95 – 119, hier bes. S. 112 f.  Fleischman 1990, S. 191; siehe auch ihre Anm. 150 für weitere Hinweise zum Vergleich mit der bildenden Kunst des Mittelalters.  Hinzu kommt, dass die Parallele zu bildender Kunst und Malerei noch nichts über die Ursachen und Gründe dieser, nennen wir sie ‚parataktisch-additiven‘, Darstellungsweise in den mittelalterlichen Erzähltexten vor 1200 aussagt.

Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

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Kohärenzerwartungen, geschult an der Literatur der Goethezeit und des 19. Jahrhunderts, geschlagen; vielmehr bemüht sich gerade die jüngere Forschung – und, wenn man der Wahrheit die Ehre gibt, nicht erst sie – um eine Historisierung von Kohärenzmaßstäben und hat alternative Modelle der Kohärenz- und Sinnstiftung erarbeitet, wie die des finalen, metonymischen oder paradigmatischen Erzählens, die den logischen Strukturen vorneuzeitlicher Texte besser gerecht zu werden versprechen. Doch gehen auch solche Modelle mehrheitlich von einem textimmanenten, wenn auch nun historisch differenzierten, Kohärenzbegriff aus. Damit geraten jene Aspekte der Texte aus dem Blick, die deutlicher werden, wenn man Kohärenz nicht nur unter semantisch-thematischen Gesichtspunkten, sondern auch unter syntaktisch-grammatischen beschreibt und dabei besonders die Verknüpfungs- und Anschlussverfahren zwischen den Einheiten einer Erzählung beobachtet. Klar wird dann, dass die Konnektivität in den Texten auf dieser Ebene vor allem durch kommunikationspragmatische Bedürfnisse geprägt ist, denn sie sind es, die durch Konnektoren wie dô, dâ oder nû zuvörderst bedient werden.⁹⁷ Text- oder kommunikationspragmatische Aspekte müssen bei der Beurteilung der Kohärenzverhältnisse in mittelalterlichen Erzähltexten also mitberücksichtigt werden. Das ist einerseits eine Binsenweisheit, geschieht aber andererseits nicht immer in der Konsequenz, in der es eigentlich geschehen müsste.Wenn man dabei für die Oberflächenstruktur der Texte feststellt, dass hier im Hinblick auf die Gestaltung von Wechselpunkten und die Übergänge zwischen den kleineren Handlungs- und Erzähleinheiten Mittel der Reliefbildung und des foregrounding wichtiger sind als solche einer linear-syntagmatischen Verknüpfung; wenn man weiß, dass solche Mittel besonders dann von Bedeutung sind, wenn andere wie Schriftgestaltung, Layout oder paratextartige Verfahren der Vordergrundmarkierung nicht zur Verfügung stehen, weil sie zwar gesehen, aber nicht gehört werden können; wenn überdies vergleichbare Markierungsstrategien sich im mündlichen, konversationellen Erzählstil bis in die Gegenwart hinein finden, dann wird man diese Verhältnisse am ehesten auf die spezifischen medialen Bedingungen und Bedürfnisse dieses frühen weltlichen Erzählens in der Volkssprache zurückführen dürfen. Das Ergebnis sind Texte, die zwar schriftlich konzipiert und fixiert wurden, aber primär für eine Rezeption im Hören, und deren Verfasser diesen Umstand, im Sinne einer „mündlich konstituierten Narrativität“ (Norbert Richard Wolf), in die Konstitution ihrer Werke haben eingehen lassen.⁹⁸  Bei der genaueren Bestimmung der kommunikationspragmatischen Funktion der mittelhochdeutschen Konnektoren kann der Klassifizierungsvorschlag von Wolf 1979, S. 432, helfen. Mhd. dô, dâ und nû bezeichnet Wolf als „illokutive Konnektoren“, die dem Hörer bestimmte Äußerungstypen anzeigen – in diesem Fall narrative Äußerungen.  Vgl. Wolf 1979, S. 444.

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Kohärenz und Konnektivität

Folgerichtig lässt sich an den Anschlussmitteln, derer sich die Texte bei der Sequentialisierung ihrer Handlungs- und Erzähleinheiten bedienen, erkennen, dass die Gestaltung der jeweils erzählten Welt – einschließlich ihrer raumzeitlichen Parameter – potentiell durchlässig für und transparent auf die medialen Bedingungen der Textpräsentation und -rezeption ist. An der zuletzt untersuchten Passage aus Konrads Bearbeitung des ‚Rolandslieds‘ lässt sich das noch einmal verdeutlichen. So haben einige Interpreten die Hintereinanderschaltung der Kampfepisoden in der Schilderung des ersten Teils der Schlacht von Ronceval rein text- und, was in diesem Fall auf dasselbe hinausläuft, erzählweltimmanent zu lesen versucht. Sie sehen darin eine bestimmte temporale Logik dargestellt, die für die erzählte Welt gelte: eine Zeitlichkeit zum Beispiel, die nicht an der Wahrscheinlichkeit der menschlichen Erfahrung, sondern an der ewigen göttlichen Wahrheit ausgerichtet sei;⁹⁹ oder auch, wie Susanne Reichlin, eine Dynamisierung und Pluralisierung der Zeitverhältnisse, wodurch die Transzendierung der Zeit präsentisch vorweggenommen werde.¹⁰⁰ Natürlich können solche Deutungen von Fall zu Fall berechtigt sein, ebenso wie es möglich ist, dass der ‚und dann‘-Stil der frühen volkssprachigen Epik auch einmal der Profilierung eines bestimmten Zeitkonzepts dient, temporale Aspekte also in den Vordergrund treten. Müller hat den Stil in diesem Sinne als Kennzeichen einer „unbestimmte[n] Sagenzeit“ im ‚epischen Erzählen‘ dargestellt, einer von der christlich-teleologischen, ‚religiösen‘ zu unterscheidenden ‚profanen‘ Zeitordnung, in der die dargestellten Vorgänge ‚schwämmen‘ und die letztlich auf die Vorstellung einer Ko-Präsenz von Vergangenheit und Gegenwart durchsichtig sei, der Vorstellung nämlich, dass, was einmal war, immer noch und weiterhin gelte.¹⁰¹ Ob das der Fall ist, muss für jeden Text individuell ermittelt werden. Keinesfalls zeigt die Diffusität der Zeitdeixis per se eine bestimmte Zeitordnung an, und oftmals erklären sich Befunde wie die in ihrem zeitlichen Verhältnis unbestimmt hintereinandergestellten Kampfsequenzen im ‚Rolandslied‘ einfacher, wenn man sie für das nimmt, was sie vermutlich sind: Ausdruck einer Textualität, in der der Inhalt des Erzählten (die histoire oder ‚Geschichte‘), die Form seiner Vermittlung (der discours) und der Akt dieser Vermittlung selbst (dass eben jemand hic et nunc die Geschichte erzählt) selten scharf geschieden sind und in der demzufolge die eine Ebene in die andere stets hineinlappen kann. Im

 So Gerhard Zimmermann: Die Darstellung der Zeit in der mittelhochdeutschen Epik im Zeitraum von 1150 bis 1220. Diss. Kiel 1951, S. 98 f.  Reichlin 2012, S. 194, 204 f.  Müller 2017, S. 295 f., 300 – 304; von einer ‚Sagenzeit‘, in der „die Ereignisse einfach hintereinander geschaltet [werden] (dann…, und dann…, und dann…)“, spricht Müller auch ebd., S. 331.

Diskursmarker und andere Formen des narrativen Anschlusses

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konkreten Fall wäre die aus unserer Sicht diffuse Zeitlichkeit der erzählten Welt mit ihren sich wiederholenden, durch dô und/oder den Namen in Satzanfangsstellung eingeleiteten Kampfpassagen dann schlicht eine Konsequenz aus dem, was durch die französische Vorlage schon vorgegeben war; sie wäre wie dort ein Nebeneffekt der Notwendigkeit, bei auraler Rezeption die wesentlichen Handlungselemente im Vorstellungsraum der Hörer deutlich zu markieren und die episodische Struktur hervorzuheben. Eine wie auch immer geartete temporale Relationierung der dicht hintereinandergestaffelten Sequenzen dürfte demgegenüber als sekundär empfunden worden sein.¹⁰² Eine solche potentielle Unschärfe und Transgressivität dessen, was wir mit erzähltheoretischen Begriffen gerne deutlich voneinander abgrenzen würden, lässt sich im volkssprachigen Erzählen des 12. Jahrhunderts auch an anderen Systemstellen beobachten und hat, so behaupte ich, wesentlich mit der mündlich konstituierten Narrativität der Werke zu tun, einem Umstand, den man vielleicht am besten mit dem Begriff der ‚Schriftmündlichkeit‘ bezeichnet. Damit möchte ich, was das ‚Rolandslied‘ betrifft, nicht hinter die Positionen zurückgehen, die die Forschung in dem alten Streit um die mündliche oder schriftliche Genese, Produktion und Transmission des Textes inzwischen erreicht hat (wobei es in dieser Debatte um die französische Version geht). Die jüngere Forschung tendiert diesbezüglich mit guten Gründen zu schriftlicher Komposition;¹⁰³ Dominique Boutet hat differenzierend für eine „forme mixte“, bei der Schriftlichkeit und Mündlichkeit ineinander verschränkt seien, argumentiert.¹⁰⁴ Dem ist unbedingt zuzustimmen, jedoch sollte man daraus nicht folgern, dass serielles Erzählen im ‚Rolandslied‘ und vergleichbaren Texten auf keinen Fall durch die Mündlichkeit der Vorlage erklärt werden könne.¹⁰⁵ Was bei solchen Stellungnahmen gerne vermischt wird, ist, dass es zwischen Mündlichkeit oder Schriftlichkeit der Produktion noch ein Drittes gibt: nämlich Schriftlichkeit, die jedoch auf die auralen Gegebenheiten des Literaturbetriebs und entsprechende Rezeptionsbedürfnisse des Publikums Rücksicht nimmt. Genau dieser Fall scheint mir bei einer Vielzahl der Beispiele frühen volkssprachigen Erzählens vorzuliegen. Solche ‚Schriftmündlichkeit‘ ist nicht zu verwechseln mit fingierter Mündlichkeit, denn es ist

 Vgl. auch Fludernik 1996, S. 70.  Siehe Thordis Hennings: Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum: Die Rezeption der Chansons de Geste im 12. und 13. Jahrhundert. Überblick und Fallstudien. Heidelberg 2008 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 8 – 11; Dorothea Kullmann: Das ‚Rolandslied‘ (ca. 1095). In: Mittelalter. Hrsg. von Ulrich Mölk. Tübingen 2008 (Französische Literatur, Stauffenburg-Interpretation), S. 45 – 72, hier S. 47 f.  Boutet 1993, S. 65 – 98, das Zitat S. 97.  So aber beispielsweise Reichlin 2012, S. 188.

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Kohärenz und Konnektivität

keine Mündlichkeit, die so tut, als ob, sondern die in der Situation der Aufführung reale, konkrete Mündlichkeit ist.¹⁰⁶ Diskursmarker als Mittel des narrativen Anschlusses und zur Kennzeichnung von Handlungs- oder Erzähleinheiten sind auch nach der ‚Literarisierungsschwelle‘, als die Sonja Glauch die Zeit um 1200 beschrieben hat,¹⁰⁷ noch häufig, und sie bleiben es bis in die frühneuhochdeutsche Zeit hinein. Aber man kann feststellen, dass die Tendenz abnehmend ist. Die Version C der ‚Kaiserchronik‘ von nach 1250, wie sie unter anderem im Cod. Pal. germ. 341 sowie dem Kalocsaer Codex bewahrt ist, liefert dafür ein Beispiel. Das Schlagwort der ‚Höfisierung‘, das man für diese Fassung des vor 1147 entstandenen ursprünglichen Textes in Anspruch genommen hat, mehr noch als für die ebenfalls schon etwas ‚höfischere‘ Bearbeitung B von bald nach 1200, bedeutet hier zugleich zunehmende Literarisierung, im Sinne einer offenkundig stärker an die littera gebundenen Textualität in deutscher Sprache. Aber auch das heißt nur, dass die starke Präsenz diskursmarkierender Anschlussformen in der Erzählliteratur der früheren Zeit als ein Bestand aus mündlich-performativer Textvermittlung gelesen werden muss, die auch im späteren Mittelalter nicht mit einem Schlag aufgegeben wird. Vielmehr zeigen die Texte, wo wir sie in unterschiedlichen Fassungen vergleichen können, den sehr allmählichen und mit deutlichen, nicht zuletzt gattungsbedingten Phasenverschiebungen einhergehenden Übergang zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und von der Hör- zur Leserezeption.¹⁰⁸

 In dieser Hinsicht kann man der pointierten Formulierung Sonja Glauchs (2009, S. 41) nur zustimmen: „Damit fingierte Mündlichkeit wahrgenommen werden kann, darf der Text nicht vorgetragen werden. Fingierte Mündlichkeit schließt reale Mündlichkeit aus, und umgekehrt.“ Ebenso auch Plotke 2017, S. 107.  Glauch 2009; der Begriff bereits bei Lorenz Deutsch: Die Einführung der Schrift als Literarisierungsschwelle. Kritik eines mediävistischen Forschungsfaszinosums am Beispiel des ‚König Rother‘. In: Poetica 35 (2003), S. 69 – 90.  Zahlen zur Lese- und Schreibfähigkeit – wobei das eine mit dem anderen keineswegs notwendig Hand in Hand ging – sind nur mit Vorsicht zu schätzen. Alfred Wendehorst: Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben? In: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Hrsg. von Johannes Fried. Sigmaringen 1986 (VuF 30), S. 9 – 33, hier S. 32, geht von einer „während des ganzen Mittelalters allmählich, seit rund 1350 rasch und kontinuierlich zunehmende[n] Lese- und Schreibfähigkeit“ aus; zu Beginn der Reformation hätten etwa 10 bis 30 Prozent der städtischen Bevölkerung im Reich lesen können. Für die Zeit um 1200 nimmt Fritz Peter Knapp: Stimme und Schrift. Vokalität als Grundlage und Fortsetzung des Schreibens. In: Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz. Berlin 2012 (WolframStudien 22), S. 23 – 39, hier S. 26, an, dass „die Lesefähigkeit kaum zehn Prozent der Gesamtbevölkerung zugeschrieben werden [kann].“

Metanarrative Formeln

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4.3 Metanarrative Formeln Die bisher besprochenen Formen, narrative Anschlüsse zu bewerkstelligen und von einer Erzähleinheit zur nächsten zu gelangen, haben gemeinsam, dass sie sich logisch allesamt auf jene Ebene von Erzählung beziehen, die die Erzähltheorie die diegetische nennt. Mit ihnen referenziert die Erzählerstimme auf die räumlich-zeitliche Welt, in der eine Geschichte spielt.¹⁰⁹ So verweisen die Diskursmarker dô oder nû auf einen Punkt im Raum-Zeit-Gefüge des diegetischen Universums, an dem etwas ‚da‘, ‚jetzt‘, ‚nun‘ geschieht. Die Nahtstellen zwischen den narrativen Einheiten eines Textes können aber auch durch sogenannte metanarrative Formeln gestaltet sein. Darunter verstehe ich relativ feststehende Wendungen, in denen sich eine Erzählerstimme zu Wort meldet und das Erzählen selbst zum Gegenstand der Aussage macht. ‚Metanarrativ‘ sind solche Wendungen, weil sie ihrem propositionalen Gehalt nach die diegetische Ebene der Erzählung übersteigen; mit ihnen werden Aussagen getroffen, die nicht, jedenfalls nicht primär, der erzählten Welt gelten, sondern dem Akt des Erzählens dieser Welt. Solche metanarrativen Wendungen kennen wir aus dem mündlichen Alltagserzählen. Sie erfüllen dort eine diskurspragmatische Funktion, etwa indem sie die ein- und ausleitenden Grenzen einer Diskurseinheit markieren und/oder Sprecherwechsel anzeigen. Hierher gehören die von Elisabeth Gülich so genannten „meta-narrativen Sätze“, die als Auftaktsignale für Erzählungen verwendet werden; Sätze etwa wie „Mensch, da muss ich euch ne Geschichte erzählen.“¹¹⁰ Sie spielen aber nicht nur in alltagskonversationellem, sondern auch in literarischem Erzählen eine Rolle. Eine metanarrative Standardwendung, die in mittelalterlichen Texten mit großer Häufigkeit an den Grenzen von Handlungsabschnitten eingesetzt wird, ist Monika Fludernik zufolge die, ihrem Typ nach schon zitierte, Formel „Now let us leave X and Y (in location A) and turn to O and P who were walking/riding/sitting in location B.“¹¹¹ In einer diachron angelegten

 Genette 1998, S. 201, erläutert den Begriff der Diegese, indem er auf Étienne Souriaus kinematographische Bestimmung von 1948 zurückgreift („das diegetische Universum als Ort des Signifikats im Gegensatz zum Leinwanduniversum als Ort des filmischen Signifikanten“; Hervorheb. im Original); sie ist „nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt“.  Elisabeth Gülich: Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse (am Beispiel mündlicher und schriftlicher Erzähltexte). In: Erzählforschung. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik. Mit einer Auswahlbibliographie zur Erzählforschung. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs. Bd. 1. Göttingen 1976 (LiLi, Beiheft 4), S. 224– 256.  Fludernik 2003a, S. 334 f. Fludernik bezeichnet die Wendung auch als „the Malorian formula“ (S. 338), da sie das Standardmuster darstelle, mit dem bei Thomas Malory – Fluderniks

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Kohärenz und Konnektivität

Studie hat die Anglistin die Verwendung dieser Formel im Zusammenhang mit der bei weitem häufigsten Form des Szenenwechsels untersucht – dem eines gleichzeitigen Wechsels von Schauplatz und dramatis personae –, und zwar aus makro- wie mikrostruktureller Perspektive.¹¹² Den ausgiebigen Gebrauch der Formel im Mittelenglischen erklärt Fludernik aus der Eingebundenheit der Texte in eine mündliche Erzählpraxis. Da die mittelenglischen Romanzen immer noch mündlich vorgetragen worden seien, hätten solche Wechsel klarer markiert werden müssen als in der späteren Romanliteratur, die – als gedruckte und lesend rezipierte – dem Leser nicht nur ein rasches Zurückblättern ermöglicht, sondern mit ihrer Kapitelstruktur und den Zwischenüberschriften auch paratextuelle Elemente aufgewiesen habe, für die im früheren episodischen Erzählen makroepisodische Marker, wie eben die genannte Formel, hätten eintreten müssen. Folgerichtig erklärt sich für Fludernik das allmähliche Verschwinden der metanarrativen Technik des Szenenwechsels seit der Renaissance aus der „Erfindung des Kapitels“ und der Abkehr von einer oralperformativen Textkultur, in welcher die Erzählerfigur als eine mit dem Publikum real kommunizierende Instanz entworfen wurde.¹¹³ Die alte Formel sei damit frei für anderweitige, insbesondere metaleptische und metafiktionale Funktionalisierungen geworden, die sich bereits in der Renaissance und verstärkt dann seit dem 18. Jahrhundert beobachten ließen.¹¹⁴ Vor diesem Hintergrund lässt sich der Gebrauch metanarrativer Formeln in den mittelhochdeutschen Erzähltexten des 12. Jahrhunderts genauer bestimmen. Solche Formeln, in denen ein Erzähler-Ich sich Gehör verschafft, werden als Konnexionsmittel zur Gestaltung von Übergängen zwischen Handlungs- und Erzähleinheiten immer wieder verwendet. Dabei verteilen sich die Belege in den

Analyse liegt das ‚Book of Sir Tristrem de Lyones‘ zugrunde – von einer Szene zur nächsten übergegangen werde; siehe auch Fludernik 2000, S. 244– 247, und 2003b, S. 389.  Fludernik 2003a.  Fludernik 2003b, S. 389: „the invention of the chapter, which made chapter beginnings logical points at which to place a scene shift and reduced the necessity of marking such a scene shift by additional formulae“; außerdem Fludernik 2003a, S. 337 f.  Als ein frühes Beispiel für die metaleptische Gestaltung des Wechsels von einem Handlungsstrang zum nächsten zitiert Fludernik eine Stelle aus Sir Philip Sidneys ‚Old Arcadia‘ von etwa um 1580: „But Cleophila (whom I left in the cave hardly bested […]) makes me lend her my pen awhile to see with what dexterity she could put by her dangers“ (Fludernik 2003a, S. 339). Das sind in der Tat Fälle, in denen mit dem Überschreiten der Grenze zwischen der intradiegetischen Ebene der Figuren und der extradiegetischen Ebene der Erzählerstimme gegen mimetische Regeln der verisimilitudo verstoßen wird (tatsächlich kann der Erzähler seine Feder natürlich keineswegs Cleophila eine Zeit lang zur Verfügung stellen) und damit die Gemachtheit der Erzählung ausgestellt wird.

Metanarrative Formeln

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Textauszügen auf zwei Typen metanarrativer Formeln: Der eine Typ sind Wendungen, in denen die Erzählerstimme auf ihre Quelle(n) – ein oder mehrere buoch – als literate Autorität für das Erzählte Bezug nimmt: Nû chundent uns diu buoch sus, so lautet die Wendung zum Beispiel in der ‚Kaiserchronik‘ (Fassung A, V. 11352). Der andere Typ wird durch Ausdrücke wie Nû vernemt, wie sich Alexander vur nam (‚Vorauer Alexander, V. 155), Von Philippus stuode wil ich iu sagen (‚Vorauer Alexander‘, V. 235) oder nu mugit ir horen (‚König Rother‘, V. 661) repräsentiert, folgt also, in verschiedenen Varianten, der Eröffnungs- und Anknüpfungsformel ‚Nun will ich euch sagen‘. Besonders in der Vorauer Fassung von Lambrechts Alexanderroman ist dieser Typ ausgesprochen häufig (fast 40 Prozent der Handlungsanknüpfungen erfolgen auf diese Weise), kommt aber auch im ‚König Rother‘ vor (siehe Tabellen 3 und 4 in Abschnitt 4.2). Der erste Typ findet sich in den Textauszügen aus der ‚Kaiserchronik‘ und dem ‚Rolandslied‘ (siehe Tabellen 1 und 6), jedoch mit einer Häufigkeit von jeweils unter zehn Prozent. Wenngleich metanarrative Techniken also zur Verfügung stehen, werden sie insgesamt weitaus seltener als andere Erzählanschlüsse, insbesondere Diskursmarker, verwendet. Das gilt noch sehr viel mehr für die Formel des von Fludernik beschriebenen Typs. Sie lässt sich in den fünf untersuchten Textauszügen gar nicht und überhaupt in der frühen mittelhochdeutschen Epik nur selten nachweisen. Im ‚Grafen Rudolf‘ heißt es an einer Stelle: [nu laze] wir die rede stan, / wir suln an den kunic van (Eb 10 f.); in ‚Salman und Morolf‘: nu laßen wir die rede beston, von des künig fore schwester söllen wir nu von dem töuff heben an. (Str. 579,3 – 5)¹¹⁵ Nun lassen wir diese Geschichte auf sich beruhen; / von der Schwester König Fores / und ihrer Taufe wollen wir jetzt erzählen.

Während die Formel in diesen beiden Texten also nahezu identisch lautet, hat sie ihre eigentliche Gestalt, soweit ich sehe, nur an zwei Stellen des ‚Münchner Oswald‘: nu laß wir si [die Heiden, C. S.] den hirsch jagen / und süllen da haim von der kungin sagen (V. 2483 f.); sowie: nu laß wir si [Oswald und sein Heer, C. S.] got enpfolhen varen, der mag si alle wol bewaren!

 Zitiert: Graf Rudolf. Hrsg. von Peter F. Ganz. Berlin 1964 (Phil. Stud.u.Qu. 19); Salman und Morolf. Hrsg. von Alfred Karnein. Tübingen 1979 (ATB 85).

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wir sullen nu nicht verdagen und sullen () von der alten kungin sagen […]. (V. 2661– 2664)¹¹⁶ Nun lassen wir sie in Gottes Namen segeln; / der vermag sie alle sicher zu behüten! / Wir dürfen nun nicht länger schweigen, / sondern müssen von der alten Königin sprechen […].

Nur hier nämlich greift die disponierende Macht der Erzählerstimme – die die Formel in jedweder Gestalt zum Ausdruck bringt – auf die Handlung selbst durch, indem sie etwas mit den Figuren geschehen lässt. In den anderen Beispielen hingegen ist Gegenstand dessen, worüber der Erzähler disponierend zu verfügen behauptet, nicht die Handlung, sondern das Erzählen davon, eben die rede. ¹¹⁷ Auf diesen kleinen, aber nicht unerheblichen Unterschied komme ich unten noch einmal zurück. Das Bild, das man anhand der vor- und frühhöfischen Texte gewinnt, scheint bis in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts hinein Gültigkeit zu haben. Beide Ausprägungen der Formel – ‚Nun lassen wir X und Y‘ und ‚Nun lassen wir die rede‘ – kommen vor, aber insgesamt nicht übermäßig häufig. Die Klassiker der mittelhochdeutschen Erzählliteratur – Veldeke, Hartmann, Wolfram, Gottfried, der Stricker, Rudolf von Ems, Konrad von Würzburg – haben sie entweder gar nicht oder nur sehr vereinzelt.¹¹⁸ Wirklich häufig taucht sie erst nach etwa 1250 auf, im ‚Garel von dem Blühenden Tal‘ des Pleier, in Albrechts ‚Jüngerem Titurel‘,

 Die verwendete Edition: Der Münchner Oswald. Mit einem Anhang: die ostschwäbische Prosabearbeitung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Michael Curschmann. Tübingen 1974 (ATB 76). Freilich sind das, was noch hinzukommt, allesamt etwas unsichere Belege, da wir uns bei der schwierigen Überlieferungslage dieser drei Texte – ‚Graf Rudolf‘ ein Fragment, die anderen beiden spät und in stark voneinander abweichenden Fassungen überliefert – nicht sicher sein können, welchen Wortlaut die ältesten Versfassungen, die noch ins 12. Jahrhundert zu datieren wären, gehabt haben könnten. Das gilt auch für den einen Beleg aus der B-Fassung des ‚Herzog Ernst‘: Hie lâzen wir belîben daz. / ich wil iu sagen vürbaz (V. 4667 f.).  Zu Beispielen dafür zählen auch Wendungen mit belîben lân, in denen ein Erzähler ankündigt, das Bisherige sein lassen und nun von etwas anderem sprechen zu wollen. Zahlreich sind solche Wendungen etwa in der ‚Kudrun‘: Nu lâzen wir belîben, wie dâ gescheiden wart, / und grîfen an diu mære […] (Str. 67,1 f.); Nu lâzen wir belîben wie ez im ergê (Str. 630,1); Nu lâzen wir belîben, wie ez umbe si gestâ, / oder wáz die klôsterliute ze schaffen hêten dâ. / wir suln lâzen [hœren] umbe Hartmuote […] (Str. 951,1– 3) etc. Auch hier ist Gegenstand der Erzählregie die rede bzw. das mære; vgl. dazu auch Müller 2017, S. 160 f.  Die wenigen Stellen, die ich gefunden habe, sind in Wolframs ‚Willehalm‘ 360,29 f. (nû lât Terramêren rîten – / hoeret, wie die êrsten strîten! – eine spielerisch-ironische Aufforderung an das Publikum) sowie im ‚Nibelungenlied‘, zitiert nach der B-Handschrift, Str. 775,1– 3 (Alle ir vnmvze di laze wir nv sin, / vnde sagen wi vrowe Criemhilt vnt ovch ir magedin / gegen Rine fvren), 1287,1 f. (Di boten lazen riten; wir svln iv tvn bechant / wi div chvneginne fvͤre dvrch div lant) und 1503,1 (Nv laze wir beliben wi si gefvren hie).

Metanarrative Formeln

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in Johanns von Würzburg ‚Wilhelm von Österreich‘ und, vor allem, im ‚Prosalancelot‘.¹¹⁹ Während im ‚Jüngeren Titurel‘ Bezugspunkt der Formel nicht selten die Handlung selbst ist, der Erzähler mit ihr also direkt auf das erzählte Geschehen und die Aktionen der Figuren zugreift (z. B. Str. 1068,1: Nu laze wir in riten und sagen ein ander mære), ist es im ‚Prosalancelot‘ durchweg die erzählerische Darstellung oder rede, die unterbrochen, abgebrochen, wiederaufgenommen wird (Muster: Nu laßen wir die rede beliben und sprechen furbas von … z. B. dem konig Claudas von der Wustunge, S. 78,8 – 10). Man kann die Tendenz, die sich in diesen Beispielen abzeichnet, diachron weiterverfolgen. Im frühneuhochdeutschen Prosaroman wird die metanarrative Formel des Typs ‚Nun lassen wir X und Y und sprechen weiter von A und B‘ zum standardmäßig eingesetzten Konnexionsmittel an den Grenzen einer Handlungseinheit. Schön sehen lässt sich das etwa an der ‚Melusine‘, Thürings von Ringoltingen Anfang 1456 abgeschlossener Prosaübersetzung des gleichnamigen französischen Versromans von Couldrette.¹²⁰ Dabei sind in dem Erstdruck, den der Drucker Johann Bämler 1474 in Augsburg besorgte, größere Zäsuren und Wechselpunkte im Erzählgeschehen bereits durch Kapitelüberschriften und die Holzschnitte, die zumeist an den Kapitelanfängen, unmittelbar nach den Überschriften stehen, deutlich bezeichnet. Dem entspricht, dass die Formel ganz überwiegend zur Gestaltung von Wechseln – im Schauplatz, in den Figuren, in der Handlungssequenz – im Kapitelinneren verwendet wird, oft, aber nicht immer begleitet von Absatzmarkierungen.¹²¹ An den Kapitelgrenzen hingegen besteht

 Die Belege werden dann zu zahlreich, als dass sie sich vollständig auflisten ließen. Ich nenne nur einige Beispiele; aus Pleier: Garel von dem blüenden Tal. Ein höfischer Roman aus dem Artussagenkreise. Mit den Fresken des Garelsaales auf Runkelstein. Hrsg. von Michael Walz. Freiburg i. Br. 1892: V. 740 – 742, 1816 – 1819, 5468 f., 10428 – 10430, 17604– 17607; aus Albrecht: Jüngerer Titurel. Bd. 1– 2 nach den ältesten und besten Handschriften kritisch hrsg. von Werner Wolf, Bd. 3 nach den Grundsätzen von Werner Wolf kritisch hrsg. von Kurt Nyholm. Berlin 1955 – 1992 (DTM 45, 55, 73): 816,1– 3, 1068,1, 2888,4, 2919,1– 4, 3822,1 f.; aus Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift hrsg. von Ernst Regel. Berlin 1906 (DTM 3): V. 616 – 619, 1401 f., 2363 – 2368, 8690 – 8693, 11283 – 11285; aus dem Prosalancelot. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hrsg. von Reinhold Kluge, erg. durch die Handschrift Ms. allem. 8017– 8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris. Übers., komm. und hrsg. von HansHugo Steinhoff. 3 Tle. in 5 Bdn. Frankfurt a. M. 1995 – 2004 (BdK 123), Bd. I/I: S. 78,8 – 10; 236,18 – 20; 266,21– 23; 314,35 f.; 552,34 f. etc.  Ich zitiere den deutschen Roman nach Thüring von Ringoltingen: Melusine. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990 (BdK 54), S. 9 – 176 (Text), 1012– 1087 (Kommentar).  Das trifft in der ‚Melusine‘ auf neun von dreizehn Belegstellen zu: S. 50,27 f.; 53,6 – 8; 60,17 f.; 90,15 f.; 91,17 f.; 95,4 f.; 101,14 f.; 111,8 – 10; 157,8 f. Absatzmarkierung im Kapitelinneren fehlt S. 50,27; 60,17; 111,8.

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dafür kaum noch Bedarf: Nur an zwei Stellen dient die Formel zur Eröffnung eines neuen Kapitels (S. 92,13; 127,6 – 8). Dasselbe gilt für ihre Verwendung am Kapitelende: Auch hier wird sie nur zweimal zur Ankündigung des im jeweils folgenden Kapitel Erzählten genutzt (S. 62,17 f.; 165,7– 12), und zumindest im zweiten Fall führt das dann auch zu einer pleonastisch wirkenden Wiederholung.¹²² Nun liegt die Verwendung metanarrativer Wendungen – insbesondere des Musters, das Fludernik untersucht hat – vor allem dann nahe, wenn Sequenzen von Handlungseinheiten mit je verschiedenen Schauplätzen und Figurengruppen zu koordinieren sind. Das ist natürlich bei Erzählungen mit komplexer Handlung viel mehr der Fall als bei einsträngigen Erzählungen oder solchen, die nur eine geringe Anzahl an Schauplätzen und/oder Figuren zum Gegenstand haben. Darin liegt sicher eine teilweise Erklärung dafür, dass Texte wie der ‚Prosalancelot‘ oder auch der ‚Jüngere Titurel‘ von metanarrativen Formeln zur Bewältigung von Erzählübergängen so reichen Gebrauch machen. Doch muss es nicht der einzige Grund sein, warum sich solche Formeln, als Anknüpfungsmittel an den Grenzen zwischen Erzähleinheiten, in narrativen Texten des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts so relativ selten und häufiger erst ab der Mitte des 13. Jahrhunderts finden; sowie, weshalb sie zunächst häufiger als Rekurs auf die Ebene des discours als auf die Ebene der histoire erscheinen, also als Bezugnahme auf das mære, die rede oder auch, wie in den frühen Belegen, auf die Quelle(n) und/oder das, was das Erzähler-Ich ‚jetzt‘ sagen möchte und sein Publikum ‚nun‘ vernehmen soll. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal und etwas genauer darauf zu sprechen kommen, was mit den zitierten metanarrativen Wendungen eigentlich jeweils ausgesagt ist: was sie bedeuten und worin sie sich unterscheiden. Wichtig erscheint zunächst: Wann immer metanarrative Formeln, in der einen oder anderen Ausprägung, zum Einsatz kommen, bringt ein Erzähler-Ich sich zum Ausdruck. Dieses Ich profiliert sich als Herr über die Rede. In der Form, die metanarrative Erzählübergänge in den frühen Texten annehmen, erfolgt diese Profilierung nur sehr zaghaft: Das Ich, das da spricht, artikuliert sich entweder als Medium und Sprachrohr der Überlieferung, indem es sich auf eine schon buchschriftliche Tradition beruft (Nû chundent uns diu buoch sus, ‚Kaiserchronik A‘, V. 11352) oder aber, im Fall der aus mündlich-illiterater Tradition hervorgehenden

 So endet das Kapitel S. 165,6 – 12 mit dem Absatz: Nun wil ich von der historien des schlosses mit dem sperber fuͤrbaß nit mer schreiben vnd es dabeÿ beleiben lassen wann es wuͤrd zů vil zů schreiben Aber ich wil nun fuͤrbaß sagen von Palantine der dritten tochter. die auch künig Helmas dochter vorgenant / Vnd auch Melusina vnd Meliora vorgenant schwester gewesen ist. Worauf das nächste Kapitel beginnt: Darnach will ich fürbaß sagen von Palantina der schoͤnen junckfrawen (S. 165,15 f.).

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Abenteuer-, Brautwerbungs- und Heldenepik, auf ein vorgängiges Sagen (musterhaft die in den Handschriften A und C überlieferte Eingangsstrophe des ‚Nibelungenlieds‘: Uns ist in alten mæren wunders vil geseit). Oder das epische Ich ruft sich, etwas selbstbewusster, zu Beginn eines neuen Abschnitts als Instanz der hier und jetzt stattfindenden oral-auditiven Vermittlung in Erinnerung und verweist damit implizit auf die Gebundenheit des Aktes der Narration an die Erzählerstimme – darauf, was das epische Ich nun sagen will bzw. was das Publikum vernehmen soll (Nû wil ich eu sagen, ‚Vorauer Alexander‘,V. 103).¹²³ Im einen wie im anderen Fall zielt die metanarrative Formel nicht primär auf die Selbstausstellung der disponierenden Macht der Erzählinstanz, als derjenigen, die den Diskurs organisiert und arrangiert, ja, mitunter bis auf die Handlung selbst durchgreift. Von den Formeln der früheren Epik ist es insofern noch ein ganzes Stück bis zu jener metanarrativen Anknüpfungsform, die dann im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählen so prominent wird. Es scheint, als ob hier veränderte Auffassungen von – und weitergehende Erfahrungen mit – den Möglichkeiten der Ausgestaltung einer Erzählerrolle vorausgesetzt sind. Denn wo die Erzählerstimme behauptet, etwas mit den Figuren geschehen zu lassen, wo sie beispielsweise sagt: „Nun lassen wir Tschinotulander reiten“ (‚Jüngerer Titurel‘, Str. 1068,1), da wird die Illusion hervorgerufen, die Handlung ereigne sich just im Moment des Sprechens. Indem das Ich (bzw. das kollektive, das Publikum miteinbeziehende Wir) der Sprecherinstanz spricht, geschehen die Dinge, verabschiedet der „Fürst aus Graswaldane“ (Str. 1067,1) sich und macht sich, zu Pferd, auf nach Kanfoleis, während die Erzählung sich wieder Herzeloude und Sigune zuwendet. Darin artikuliert sich ein präzises Bewusstsein vom kognitiv-perzeptiven Effekt literarischen Sprechens: dem Effekt einer (Re‐)Aktualisierung und verlebendigenden Gegenwärtigmachung des dargestellten Geschehens im Akt des Sprechens, und dieses Bewusstsein geht einher mit der impliziten Selbststilisierung des Erzählers als absolutem Herrn über die Geschichte. Wo die Formel sich demgegenüber auf die Ebene der Darstellung bezieht, nach dem Muster: „Nun lassen wir diese Rede und erzählen weiter von König Claudas vom Wüsten Land“ (‚Prosalancelot‘, S. 78,8 – 10), da erscheint die Erzählung gewissermaßen als ein Konglomerat bestehender reden, verschiedener diskursiver Einheiten also, die inhaltlich vorgeformt sind und vom Sprecher wie Registerkarten je nach Handlungsbedarf und Erzählinteresse hervorgezogen werden. Die Rede von dem mære oder der rede, die  Der Begriff des epischen Ich meint hier ausdrücklich nicht nur das auf den vortragenden Erzähler oder Rhapsoden durchsichtige Ich der Heldenepik – Glauch 2009, S. 27, Anm. 2, nennt es das „altepische[] Ich“ –, sondern jedes sich in einem erzählenden Text zum Ausdruck bringende Ich.

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der Erzähler zu beginnen, zu verlassen, wieder aufzunehmen verspricht, setzt hier ein entwickeltes Konzept von Erzählung als einem komplexen ‚Text‘ voraus – im Sinne eines narrativen Gewebes aus unterschiedlich vielen, aber schon gegebenen Diskursentitäten. In beiden Spielarten – der stärker histoire-bezogenen (‚Nun lassen wir X und Y‘) wie der stärker discours-orientierten (‚Nun lassen wir die rede‘) – demonstriert die metanarrative Formel damit ein entwickeltes Bewusstsein von der Gemachtheit der Erzählung und ihrer Artifizialität in poetologischer Hinsicht. Dass dieses Bewusstsein, von dem in der poetologischen Theoriebildung des Mittelalters die Auffassung vom poetischen ‚Machen‘ als einem artificium Zeugnis ablegt,¹²⁴ nicht mit der Entstehung eines fiktionalen Literaturverständnisses zu verwechseln ist, muss inzwischen nicht mehr eigens betont werden. Gleichwohl scheint mir, dass die Veränderungen, die sich im Gebrauch metanarrativer Formeln als Konnexionsmittel zwischen etwa 1150 und 1250 (und darüber hinaus) beobachten lassen, und zwar sowohl hinsichtlich der Häufigkeit ihres Vorkommens als auch ihrer jeweiligen Gestalt, in einen größeren Zusammenhang zu stellen sind. Dieser Zusammenhang wäre die Anreicherung der Texte durch eine metanarrative Schicht, in der das Erzählen an sich zum Gegenstand der Rede gemacht wird und literarisches Bewusstsein sich kundgibt. Zur Ausbildung dieser Schicht tragen vor allem die poetologischen, metanarrativen und selbstreflexiven Einlassungen bei, mit denen die Romanautoren des hohen Mittelalters an verschiedenen Stellen selbstbewusst auf ihre Autorität als kunstfertige Gestalter ihrer Stoffe hinzeigen oder in denen sie mit ihrer eigenen Rolle als Erzähler und dem Publikum zu spielen scheinen;¹²⁵ aber auch metanarrative Techniken der Verknüpfung von Erzähleinheiten dürften einen (kleineren) Anteil daran haben. Die medienpragmatisch interessante Frage lautet dabei, inwieweit die Tendenz hin zu poetologisch anspruchsvolleren metanarrativen Verknüpfungsformen, die sich ab dem Ende des 12. und dann vor allem im 13. Jahrhundert feststellen lässt, etwas mit jener Entwicklung zu tun hat, die Sonja Glauch die

 In der mittelhochdeutschen Terminologie steht dafür bekanntlich der Begriff des tihtens im Sinne einer handwerklich geschulten, kunstreichen Arbeit an der Form der materia; vgl. Joachim Bumke: Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift Gδ). In: ZfdPh 116 (1997), Sonderheft, S. 87– 114, hier S. 108 f.; Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128 – 142, hier S. 136 – 139.  Beispiele für die Geschichte dieser in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts neuartigen auktoriellen Selbststilisierung der Dichter, von Chrétiens ‚Erec‘-Prolog bis zu Wolframs ‚Parzival‘, diskutiert Glauch 2009, S. 27– 65.

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„buchliterarische Revolution“ genannt hat. Sie meint damit einen im deutschsprachigen Raum Ende des 12. Jahrhunderts einsetzenden Prozess, in dessen Verlauf – „ohne daß deshalb die Teilmündlichkeit der Performanz schon aufgegeben werden müßte!“ – das geschriebene Buch sich als Zielform für immer weitere Teilbereiche der weltlichen volkssprachigen Dichtung etabliert.¹²⁶ Die mit Ausrufezeichen versehene Parenthese scheint mir dabei wichtig: Die Anreicherung des Textes durch eine metanarrative Schicht ist in der früheren Forschung immer wieder mit dem Medienwechsel vom Vortrag zum Buch in Bezug gesetzt worden, und zwar sowohl im Zusammenhang mit der Diskussion um die sogenannte fingierte Mündlichkeit als auch (und teilweise damit verbunden) um die Frage der Entwicklung einer autorunabhängigen Erzählerinstanz.¹²⁷ Zugespitzt findet sich dieser Bezug etwa in der These, wonach eine textinterne Erzählerfigur als Kompensation für das performative Defizit der Schriftlichkeit und die mit ihr einhergehenden Verlusterscheinungen entwickelt worden sei: einerseits Verlust der unmittelbaren Begegnung von Autor und Publikum, andererseits Verlust von Glaubwürdigkeit und Autorität.¹²⁸ Doch weist Glauch mit Recht darauf hin, dass die Thematisierung des Erzählakts im Text (wie sie u. a. eben auch in metanarrativen Verknüpfungsformeln des späteren Typs zum Ausdruck kommt) nicht  Glauch 2009, S. 10, 19.  Vgl. etwa Franz H. Bäuml: Varieties and Consequences of Medieval Literacy and Illiteracy. In: Speculum 55 (1980), S. 237– 265; Walter Haug: Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 376 – 397; Elisabeth Lienert: Zur Pragmatik höfischen Erzählens. Erzähler und Erzählerkommentare in Wirnts von Grafenberg ‚Wigalois‘. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 234 (1997b), S. 263 – 275; Ursula Schaefer: Die Funktion des Erzählers zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs/Eckart Conrad Lutz/Klaus Ridder. Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 83 – 97.  So z. B. Maria Selig: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Bereich der trobadoresken Lieddichtung. In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/Ursula Schaefer. Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S. 9 – 37, hier S. 18: „Für die narrative Dichtung, in der eine analoge mediale Entwicklung stattgefunden hat, wissen wir, daß das Fehlen des direkten physischen Kontaktes zwischen Autor und Publikum durchaus als prekär und problematisch erlebt wurde. Die Verfasser der narrativen Texte reagieren auf die veränderte Situation dergestalt, daß sie der eigentlichen Erzählung fast immer einen ausgedehnten Metatext zur Seite stellen, der die Elemente der externen Kommunikationssituation, das heißt der Kommunikationssituation zwischen Autor und Publikum, explizit macht und auf diese Weise den Wegfall der Ko-Präsenz zu kompensieren sucht.“ Für einen verwandten Ansatz vgl. Peter von Moos: Über pragmatische Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hrsg. von Barbara Frank/Thomas Haye/Doris Tophinke. Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 313 – 321, bes. S. 320 f.

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ungebrochen die literar- und mediengeschichtlichen Umstände seiner Entstehung reflektiere.¹²⁹ Dafür gibt es mehrere gute Argumente. Das eine ist das schon genannte: Auch da, wo Buchschriftlichkeit als Zielform angestrebt war, musste die Möglichkeit tatsächlicher mündlicher Performanz dadurch nicht ausgeschlossen sein. Zweitens: Dass in einen einzelnen Text eine epische ErzählerPersona eingeschrieben ist, die ihm Autorität verleihen und seine erzählerische Glaubwürdigkeit bekräftigen soll, heißt nicht zwangsläufig, dass es ihm an einer physischen Autorisierungsinstanz gefehlt haben müsste. Solche Autorisierungsinstanzen können sich verdoppeln, und neben „die textuelle Repräsentation eines ‚Sprechers‘, der in Abhängigkeit und im Hinblick auf seinen spezifischen Ort im Spiel der Intertextualität als Ritter und Erzähler konstruiert wird“ (Horst Wenzel), tritt dann die physische Präsenz eines leibhaft anwesenden Vortragserzählers oder Rhapsoden mit seiner Stimme.¹³⁰ Was bedeutet das für die Verwendung metanarrativer Formeln als Technik der Verknüpfung von Handlungs- und Erzähleinheiten? Dass die Formeln des von Fludernik beschriebenen Typs gegenüber den schlichteren Wendungen der vorund frühhöfischen Texte ab etwa der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts so überproportional zunehmen, hat gewiss auch mit dem beschriebenen medialen Wandel zu tun. Dafür spricht nicht zuletzt der Umstand, dass die poetologisch etwas profilierteren Typen (‚Nun lassen wir X und Y und sprechen weiter von A und B‘ bzw. ‚Nun lassen wir die rede‘) in der volkssprachigen erzählenden Prosa des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit dann so häufig werden, markiert die Prosa nach allgemeiner Ansicht doch geradezu die Abkehr von der akustischen Textkultur.¹³¹ Doch glaube ich, dass die Zusammenhänge differenzierter gesehen werden müssen, als es eine binäre Gegenüberstellung von Mündlichkeit versus Schriftlichkeit, Hören versus Lesen oder Vortragsmedialität versus Buchmedialität erlaubt. Insofern sich in den Formeln des späteren Typs ein auktoriales Erzähler-Ich zum absoluten Herrn über die Geschichte und Arrangeur multipler diskursiver Einheiten stilisiert, scheinen sie ein Textualitätsverständnis vorauszusetzen, das

 Glauch 2009, S. 19.  So Horst Wenzel: Schwert, Saitenspiel und Feder. In: Literarische Leben: Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 853 – 870, hier S. 863, über Hartmanns Erzählerfigur im ‚Armen Heinrich‘.  Dazu grundlegend Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung. In: IASL, Sonderheft 1 (1985), S. 1– 128, bes. S. 20 – 25.

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in der Tat von der Buchform herkommt und an die Schrift gebunden ist.¹³² Erst das Konzept eines Buchs erlaubt ein übergreifendes, voraus- und zurückschauendes Planen, wie es dem disponierenden Umgang mit verschiedenen Handlungs- und Erzählfäden entspricht; zumindest dürfte es sie bedeutend erleichtern.¹³³ Dabei ist auch vorstellbar, dass dieses Buch ein ‚implizites Buch‘ in dem Sinne ist, in dem Christine Putzo den Begriff entwickelt hat: als eine konzeptionelle Ordnung, die am räumlichen Layout des Buches mit seinen zwei pragmatisch-technischen Dimensionen orientiert ist – der linear-zeitlichen und der dimensional-räumlichen –, beim Schreiben mitgedacht wird und auf diese Weise die narrative Struktur des Textes mit beeinflusst.¹³⁴ Trotzdem kann der Text (auch) für auditive Rezeption gedacht und gemacht gewesen sein.

 Ähnlich liest Müller 2017, S. 130, 161, metanarrative Formeln, wie sie in der ‚Kudrun‘ vorkommen (z. B. Nu lâzen wir belîben wie ez im ergê, Str. 630,1), als kennzeichnend für den Übergang von einer Situation kollektiven epischen Erzählens, in der die Tradition sich quasi ‚von selbst‘ erzählte, zu auktorialem Erzählen, einem „epische[n] Erzählen deuxième degré“, das den archaisch-mündlichen Erzählstil nur mehr prätendiert.  Zwar gehören auch die nicht buchepischen Dichtungen größeren Formats, die dem deutschen Publikum vor Heinrich von Veldeke bekannt waren – Abenteuer-, Brautwerbungs- und Heldenepik wie ‚König Rother‘, ‚Herzog Ernst‘, ‚Graf Rudolf‘ –, der mündlich-illiteraten Tradition, der sie entstammen, nicht mehr selbst an, sondern sind an die Kulturtechnik der Schrift gebunden; doch dürfte ihr eher additiver kompositorischer Stil eben doch diesem Herkommen aus oraler Überlieferung geschuldet sein. Michael Curschmann: Oral Poetry in Mediaeval English, French, and German Literature. Some Notes on Recent Research. In: Speculum 42 (1967), S. 36 – 52, hier S. 45, hat in diesem Zusammenhang den meiner Meinung nach sehr sinnvollen Begriff der „transitional texts“ verwendet: „Such texts would show the characteristics of oral composition, although they might have been composed pen in hand and subject to overall planning which the process of additive oral composition does not permit.“ Demgegenüber kann man bei der höfischen Romanliteratur erkennen, dass sie auch dann, wenn sie für den Vortrag gedichtet wurde, konzeptionell der Idee eines realen Buchs nähersteht.  Siehe Christine Putzo: Das implizite Buch. Zu einem überlesenen Faktor vormoderner Narrativität. Am Beispiel von Wolframs ‚Parzival‘, Wittenwilers ‚Ring‘ und Prosaromanen Wickrams. In: Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz. Berlin 2012b (Wolfram-Studien 22), S. 279 – 330, bes. S. 286 – 289: „Wer planend schreibt, so meine Annahme, der schreibt bewußt oder unbewußt mit Blick auf eine räumliche, visuelle Struktur seines Textes – nicht die auf der Wachstafel oder einem anderen Konzeptmedium, sondern die der späteren visuellen Präsentation auf der Buchseite und im Buch. Einen Text zu konzipieren, heißt dann, ein graphisches, räumliches Layout mitzudenken – zu praevisualisieren –, das den linearen Prozeß des Schreibens begleitet und das so in die Komposition einfließt“ (S. 288); vgl. auch dies.: The Implied Book and the Narrative Text. On a Blind Spot in Narratological Theory – from a Media Studies Perspective. In: JLT 6 (2012a), S. 383 – 415.

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Wenn aber umgekehrt die metanarrativen Anschlussformeln des späteren, vor allem im Prosaroman häufigen Typs in den früheren Texten auffällig schwach oder gar nicht vertreten sind; wenn diese Texte stattdessen vor allem solche Formeln aufweisen, die nicht eigentlich der Korrelation von Handlungssträngen dienen, sondern ‚nur‘ der autoritätsheischenden Beschwörung der Tradition (nû kündent uns diu buoch) oder der Ankündigung fortgesetzten Sprechens (nû wil ich iu sagen), so ist das meines Erachtens auch dadurch bedingt, dass ein solches entwickeltes Buchkonzept, sei es als implizites, sei es als reales, für die volkssprachige weltliche Dichtung erst im Entstehen begriffen ist – und das eben deshalb, weil Vortrag der Normalfall, Lektüre aber die Ausnahme war. Der Umgang mit metanarrativen Formeln als Mitteln der narrativen Konnexion spiegelte dann auch in dieser Hinsicht die primäre mediale Mündlichkeit der früheren Texte und ihr Verwurzeltsein in einer (noch) vorwiegend akustischen Textkultur.¹³⁵

4.4 Unvermittelte Übergänge und harte Fügungen Metanarrative Formeln und Diskursmarker stellen Erzählanschlüsse her, indem sie in einem Erzählen, das im Zeichen kleiner Einheiten steht, Episodenanfänge, scene shifts, Wechselpunkte in der Handlung oder im Erzählverhalten markieren. Sie dienen der morphologisch-syntaktischen Verknüpfung der einzelnen Elemente des Textes, insofern sie, als Mittel der Junktion, das Verhältnis von Textteilen zueinander deutlich machen. Sie schaffen damit jedoch nicht zwangsläufig Verknüpfungen, die wir im Hinblick auf die inhaltlich-thematische Progression des Textes als logisch, stimmig oder plausibel betrachten würden. Oder anders gesagt: Es sind Formen der Verknüpfung, die die grammatische Kohärenz des Textes stützen, aber nicht automatisch auch zur Wahrnehmung thematischer Kohärenz führen. Es gehört zu den für unser Empfinden merkwürdigen Auffälligkeiten des weltlichen Erzählens in deutscher Schriftlichkeit, das sich ab der Mitte des 12. Jahrhunderts zu entwickeln beginnt, dass zeitgenössische Rezipienten solcher Kohärenzsignale offenbar weniger bedurften als wir heute. Dabei ist an dieser Stelle nur von grammatischen und/oder thematischen Verknüpfungen auf der mikrostrukturellen Ebene der Texte, buchstäblich beim Übergang von einem Satz zum nächsten, die Rede. Und selbstverständlich kann der Befund nur für ver-

 Wenn das zutrifft, dann würde das auch die von Fludernik 2003a, S. 345, Anm. 15, abschließend aufgeworfene Frage beantworten, „whether the formula […] is a technique typical of the written text.“ In dem Sinne, dass sie ein buchschriftliches Textkonzept voraussetzt: ja!

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textete Kohärenzsignale Geltung beanspruchen, die sich, als abwesende, in der schriftlichen Tradition nachvollziehen lassen. Nicht prinzipiell auszuschließen ist, dass es so etwas wie nichttextuelle Kohärenzmarker gab. Als solche wären etwa gestische oder mimische Untermalungen von Erzählübergängen anzusehen. An Stellen, an denen der Erzählfokus abrupt von einer Figur oder Figurengruppe zu einer anderen wechselte, könnte dies beispielsweise durch eine kurze Pause im Vortrag und einige knappe, die neu auftretende(n) Figur(en) bezeichnende Gesten des Rhapsoden vorbereitet worden sein, so dass solche Wechsel auf das Publikum so unvermittelt gar nicht gewirkt haben müssen. Man könnte in diesem Zusammenhang, auch wenn der Vergleich für den Bereich der nichtgesungenen Reimpaarepik ein wenig hinkt, an die rezitativische und offenbar stark theatralisch untermalte Vortragsweise der Chanson de geste, des cantus gestualis, denken, die der französische Musiktheoretiker Johannes de Grocheo um 1300 in seinem Traktat ‚Ars musice‘ andeutet.¹³⁶ Eine Erklärung für den geringeren Bedarf an textuellen Kohärenzmarkern dürfte, wie ich zu zeigen versucht habe, darin liegen, dass die deutliche Markierung der narrativen Progression – im Sinne der Kennzeichnung dessen, wo etwas Neues beginnt – wichtiger war als ein für heutige Begriffe geschmeidiger Erzählübergang. Allerdings treten einigermaßen abrupt wirkende Anschlüsse nicht nur an Episodengrenzen auf (hier kann besonders der Abschnittsbeginn mit einem noch nicht – oder länger nicht mehr – genannten Figurennamen als plötzlich und unvermittelt empfunden werden);¹³⁷ sie finden sich immer wieder auch innerhalb einzelner Handlungs- oder Erzähleinheiten. Dabei gibt es verschiedene Fälle: Manchmal verhält es sich so, dass auf den expliziten sprachlichen Ausdruck von Kohärenz verzichtet wird. In solchen Fällen diskursiv-illokutionärer Inkohärenz scheint es an grammatisch-syntaktischen Bindemitteln zu fehlen, an Adverbialausdrücken, Partikeln, Konjunktionen, die, mögen sie auch nicht zwingend notwendig sein, die Herstellung eines inhaltlich-thematischen Zusammenhangs mit dem Vorangehenden oder Nachfolgenden doch erleichtern würden. Im ‚König Rother‘ stellt sich das an einer Stelle so dar: Rother und

 Vgl. Ellinore Fladt: Johannes de Grocheo. In: 2MGG, Personenteil 9 (2003), Sp. 1093 – 1098. Insofern beinhaltet die Aussage, dass das mittelalterliche Publikum ein Weniger an expliziten, verschriftlichten Markern benötigte, um jene kognitiven Inferenzleistungen zu erbringen, die die Kohärenz des Textes sicherten, nicht zugleich, dass die Kohärenzerwartungen damaliger Rezipienten grundsätzlich niedriger als diejenigen moderner Leser waren.  Beispiele sind die oben, S. 141, in Tabelle 6 verzeichneten Abschnittsanfänge aus Konrads ‚Rolandslied‘ mit einem Namen in der ersten Position des Satzes: V. 4287, 4487, 4537, 4589, 4949, 5119.

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Konstantin treffen in Begleitung ihrer Frauen im Hippodrom von Konstantinopel aufeinander. Die entscheidende Schlacht ist geschlagen, Konstantin hat sich endlich bereitgefunden, seine Tochter Rother zur Frau zu geben, nun geht es um die zeremonielle Bekräftigung ihrer Versöhnung; Witold, einer der Riesen aus dem Gefolge des mit Rother verbündeten Riesenkönigs Asprian, ist auch zugegen. Der Abschnitt V. 4669 – 4886 beginnt, mit einzeiligem Initialenfreiraum in der Handschrift H (fol. 66v): [W]ie rechte die koningin gesach, daz Widolt unsitich was! zo Constantino deme richen sprach si gezogenliche: „du solt vor Rothere stan! dort steit Asprianis man: sin gemote ist herte! waz, of dich dinis gevertis noch hude selve irvilt?“ (V. 4669 – 4677) Wie genau die Königin doch bemerkte, / dass Witold aufgebracht war! / Zu dem mächtigen Konstantin / sagte sie höflich: / „Du musst vor Rother treten! / Dort steht Asprians Vasall: / Er ist zornig! / Was, wenn dein Verhalten dir / heute noch selbst Verdruss bereitet?“

du solt vor Rothere stan! / dort steit Asprianis man – in welchem logischen Verhältnis stehen die Verse 4673 und 4674? Stehen sie überhaupt in einem logischen Verhältnis zueinander? Offenbar: Das texträumliche Näheverhältnis der beiden parataktischen Satzaussagen – unmittelbar aufeinanderfolgend, durch Reim gebunden – suggeriert einen inhaltlich-thematischen Zusammenhang. Dieser scheint zu sein: Die Königin appelliert an ihren Gatten, auf Rother zuzugehen, aus Furcht, andernfalls werde Witolds grimmige Gesinnung ihm zum Schaden gereichen. Doch wird dieser Zusammenhang allein durch das Zusammenstehen der Verse insinuiert. Expliziert wird er nicht. Dass wir derlei mitunter als etwas unbefriedigend empfinden, dafür sind wiederum die neuhochdeutschen Übertragungen ein guter Indikator. So fügt Peter Stein seiner Übersetzung denn auch die Kausalpartikel ‚nämlich‘ hinzu und präzisiert im Folgevers 4675 die Zielrichtung von Witolds Grimm: Du mußt dich vor Rother begeben! Dort (drüben) steht nämlich Asprians Vasall: sein Zorn gegen dich ist ungebrochen! (S. 351; Hervorheb. von mir)

An der grammatisch-syntaktischen Explikation des logischen Bezugs in aufeinanderfolgenden Sätzen (kausal, konsekutiv, konditional, konzessiv, final) kann es auch sonst fehlen, mit der Folge, dass sie für heutiges Sprachempfinden

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unvermittelt gefügt und unter Kohärenzgesichtspunkten unterbestimmt wirken. Ein zweites Beispiel ist diese kurze Passage aus dem deutschen ‚Rolandslied‘: Die christen wâren in nœten umbe ir hêrren guoten [Kaiser Karl, C. S.]. vil tiure si got dar umbe manten. vil schiere si sich erhalten. (V. 8551– 8554) Die Christen fürchteten / für ihren guten Herrn. / Sehr inständig beteten sie deshalb zu Gott. / Sehr bald kamen sie wieder zu Kräften.

Anders als im ‚Rother‘-Beispiel, wo sich keinerlei syntaktisch-semantische Verknüpfungssignale zwischen den fraglichen Versen befinden, gibt es hier zwar Formen der expliziten Rekurrenz,¹³⁸ nämlich die Wiederaufnahme des Referenzträgers christen durch das Personalpronomen (si). Aber diese klärt nicht das logische Verhältnis zwischen den Propositionen der Verse 8553 und 8554. Auch hier vermisst man kausale oder konsekutive Konnektoren im Sinne von ‚deshalb‘ oder ‚dann‘, die moderner Sprachgebrauch erwarten würde. Als kohärent lesbar wird das bloß parataktische Nebeneinander der Verse erst unter Zuhilfenahme dessen, was Klaus Brinker „sprachtranszendente Indizien“ genannt hat, das heißt außersprachlichen Wissens (allgemeine Weltkenntnis, enzyklopädische Erfahrungen), das von Sprecher und Hörer geteilt wird – in diesem Fall, dass Gott die Gebete der Seinen erhört.¹³⁹ Dabei mag man den Ursache-Wirkung-Zusammenhang statt im engeren Sinne sprachlich (d. h. grammatisch, syntaktisch oder lexikalisch) formal untermauert sehen, nämlich durch Anapher und Parallelismus (vil tiure si got darumbe manten. / vil schiere si sich erhalten). Paradigmatischformale Beziehungen treten hier für die syntagmatisch logische Verknüpfung der beiden Sätze ein. Aber daraus lässt sich keine Regel machen. Dass die logischen Beziehungen zwischen Satzaussagen nicht ausbuchstabiert bzw. verbal expliziert werden müssen, wie an dieser Stelle zu beobachten ist, dürfte viel mehr mit den Möglichkeiten der Verkürzung und ‚narrativen Ellipse‘ zu tun haben, über die dieses mittelalterliche Erzählen aufgrund seiner stärkeren Gebundenheit an und Abhängigkeit von prototypisch organisiertem, in kognitiven Scripts niedergelegtem Wissen verfügt. Das soll im folgenden Kapitel unter dem Begriff des prototypischen Erzählens näher erläutert werden.

 Mit Brinker 2005, S. 27, verstanden als die „Referenzidentität (Bezeichnungsgleichheit) bestimmter sprachlicher Ausdrücke in aufeinanderfolgenden Sätzen eines Textes. Ein bestimmter Ausdruck (z. B. ein Wort oder eine Wortgruppe) wird durch einen oder mehrere Ausdrücke in den nachfolgenden Sätzen des Textes in Referenzidentität wiederaufgenommen.“  Brinker 2005, S. 43.

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Eine andere Form der ‚harten Fügung‘,¹⁴⁰ die sich von der grammatischsyntaktischen unterscheiden lässt, ergibt sich aus dem sehr abrupten Wechsel des Erzählfokus. Manchmal wechselt dieser auch innerhalb einzelner Episoden, ohne dass es sich um Szenenwechsel im eigentlichen Sinne handelte, übergangslos von einem Set von Figuren zum anderen. Man vergleiche die beiden folgenden Passagen, die erste aus dem ‚König Rother‘: [D]o der konic Pippin vor Rothere deme vatir sin daz swert umbe gebant, do reit her mit manicgeme uffe daz sant unde richte nach rechte herrin unde knechten. do scheit sich zo Ache die groze lantsprache. do quam gestrichin over lant ein snewizer wigant [Berchter, C. S.]. (V. 5071– 5080) Als König Pippin sich / vor Rother, seinem Vater, / das Schwert umgegürtet hatte, / da ritt er mit großem Gefolge auf das Feld / und sprach den Bestimmungen gemäß Recht / für Herren und Abhängige. / Da löste sich in Aachen / die große Landesversammlung auf. / Da kam übers Land / ein Krieger mit schneeweißem Haar und Bart einhergeritten.

Die Sequenz findet sich gegen Ende des in der Heidelberger Handschrift H überlieferten Textes. Innerhalb von sieben Versen wird der Erzählfokus dreimal neu ausgerichtet: Jeweils durch satzeröffnendes dô hervorgehoben, richtet er sich von der Rechtsausübung des soeben inthronisierten Rother-Sprösslings Pippin (V. 5074) auf das Ende der Landes- und Ratsversammlung zu Aachen (V. 5077), auf die Ankunft Berchters in Aachen, Rothers altem Vasallen und Waffengefährten, der Rother zum moniage ermuntern wird (V. 5079). In parataktisch aneinandergereihten Sätzen von wenigen Versen Länge eilt die Handlung von Ereignis zu Ereignis. Besonders der Übergang zwischen den Versen 5077 f. (do scheit sich zo Ache / die groze lantsprache) und 5079 f. (do quam gestrichin over lant / ein

 Der Begriff der ‚harten Fügung‘ geht auf den hellenistischen Philologen Dionysios von Halikarnassos zurück. In jüngerer Zeit ist er, zuerst von Norbert von Hellingrath, vor allem mit der Poetik Hölderlins in Verbindung gebracht worden (Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Jena 1911, bes. S. 1– 7). Er meint dort kühne Inversionen in der Wortfolge, die darauf zielen, ungebräuchliche, widerstreitende Elemente syntagmatisch aneinanderzureihen, um, so Hubert Arbogast: Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung. Köln u. a. 1967, S. 113, auf diese Weise „das Gleiten des Verstons, die Verschmelzung ganzer Wortgruppen und ganzer Verse zu Wort- und Vorstellungseinheiten zu vermeiden.“

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snewizer wigant) wirkt unvermittelt und sprunghaft. Wäre der Vergleich nicht anachronistisch, könnte man den Eindruck einer beweglichen Kamera gewinnen, die von einem Punkt aus in Sekundenschnelle auf verschiedene Schauplätze schwenkt und beobachtet, was dort jeweils geschieht. Dieselbe Wirkung vermittelt die folgende Stelle aus dem ‚Herzog Ernst B‘: des was diu küniginne frô. der keiser gurte sich dô in sîn küniclîch gewant. die fürsten kâmen alzehant in daz münster frône. der keiser under der krône bî der küniginnen stuont, als sie ze hôchgezîte tuont. ein bischof vor in messe sanc. von liuten vil grôz gedranc in dem wîten münster was. (V. 5907– 5917) Darüber war die Königin froh. / Der Kaiser legte da / sein königliches Gewand an. / Sogleich zogen die Fürsten / in das herrliche Münster ein. / Der Kaiser stand gekrönt / neben der Königin, / wie es an Festtagen üblich ist. / Ein Bischof sang vor ihnen die Messe. / Es herrschte ein großer Menschenandrang / in dem weitläufigen Münster.

Auch hier wechselt der Erzählfokus binnen elf Versen sechsmal: von der Königin, froh über das Versprechen der Fürsten, sich bei Kaiser Otto für ihren Sohn, Ernst, zu verwenden (V. 5907), zur Einkleidung des Kaisers (V. 5908), zur Versammlung der Fürsten in der Kirche (V. 5910), zu Kaiser und Königin in der Kirche (V. 5912), zum Bischof (V. 5915), zur Menschenmenge in dem Gotteshaus (V. 5916). Teilweise bringen die kurzen, parataktisch gereihten Handlungssätze nacheinander Geschehendes, teilweise aber auch gleichzeitig Geschehendes zur Darstellung.¹⁴¹ Die Passage wirkt nicht thematisch inkohärent – die einzelnen Aussagen konzentrieren sich ja auf einen einheitlichen Gegenstand: den Gottesdienstbesuch –, sie erscheinen aber temporal wenig bis gar nicht koordiniert; Handlungslücken tun sich auf (z. B. zwischen der Einkleidung des Kaisers und seinem und der Königin under krône-Stehen im Münster), es entsteht der Eindruck der Sprunghaftigkeit in Zeit und Raum. Nun werden solche Stellen naturgemäß unterschiedlich empfunden. Das wird für damalige Rezipienten nicht anders gewesen sein als für heutige. Was die  Nacheinander: die Einkleidung des Kaisers, sein und der Königin Auftritt in der Kirche; nebeneinander: der Kaiser und die Königin im Münster, der Bischof vor ihnen, das Menschengedränge in dem Gotteshaus; nach- oder nebeneinander: die Einkleidung des Königs und die Ankunft der Fürsten in der Kirche, die Ankunft der Fürsten und der Introitus des Herrscherpaares.

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Kohärenzwahrnehmung des einen schon stört, kann vom anderen durch entsprechende Inferenzleistungen noch als kohärent und sinnhaft verarbeitet werden. Schon von der mittelalterlichen Hörer- oder Leserschaft dürften manche Stellen allerdings hinsichtlich ihrer mikrostrukturellen Kohärenz als unbefriedigend empfunden worden sein. Ein Beispiel ist der Eintritt Turpins in den Schlusskampf in Konrads ‚Rolandslied‘. Die Passage lautet im Zusammenhang: dâ ersluogen si [die Heiden, C. S.] Walthêren. harte rach in dô Ruolant. swaz er ire ûfrechter vant, die muosen Walthêren gelten. si versuochten dâ zim vil selten den guoten Durndarten [Rolands Schwert, C. S.], den vorchten si harte, daz sîn dâ niemen enbaite. swaz er ir ouch erraichte, der gotes urkünde, ôwî waz er frumte der tôten alumbe sich! (V. 6590 – 6601) Da erschlugen sie Walther. / Furchtbar rächte ihn da Roland. / Wen immer er von ihnen noch aufrecht antraf, / der musste für Walther mit dem Leben büßen. / Sie wagten gar nicht erst, / den guten Durndart auf die Probe zu stellen; / den fürchteten sie so sehr, / dass dort niemand auf ihn warten mochte. / Wen immer er erreichen konnte, / der Zeuge Gottes, / ach, wie viele / Tote schuf er um sich herum!

Dieter Kartschoke hat das Eingreifen Turpins, der mit der Synekdoche der gotes urkünde in V. 6599 gemeint ist, für „reichlich undeutlich[]“ und wenig durchsichtig befunden.¹⁴² Dass es Konrads Zuhörern ähnlich gegangen sein mag, dafür ist vielleicht (d. h., wenn er Konrads Text nicht in einer ganz anderen Fassung vorliegen hatte, als die Handschrift P sie bietet) der Stricker ein Beleg. In seinem etwa ein halbes Jahrhundert später verfassten Karlsroman führt er die drei Protagonisten – Roland, Walther, Turpin – gleich zu Beginn des entsprechenden Abschnitts gesammelt ein, motiviert in acht Versen den Kampfeintritt Turpins und vereindeutigt den Parallelvers zu P 6599 (der gotes urkünde) durch die in P fehlende Namensnennung zusätzlich: Tuͤrpin der gotes uͤrchuͤnde, so lautet der Vers

 Dieter Kartschoke: Kommentar. In: Pfaffe Konrad, Das Rolandslied. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. und komm. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1993a (RUB 2745), S. 627– 750, hier S. 724 zu V. 6581 ff.

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beim Stricker.¹⁴³ Auf diese Weise tilgt der Stricker die Unvermitteltheit des Übergangs von einer Figur zur anderen, die in P (nicht nur) an dieser Stelle herrscht. Oft genug entziehen sich solche – in ihrer Wahrnehmung sowohl synchron als auch diachron variablen – Inkohärenzen einer einfachen Erklärung. Das liegt nicht zuletzt an der Verschiedenheit der Ursachen, die sie haben können. Zu diesen gehören, historisch betrachtet, auch überlieferungsbedingte Textstörungen – ein bekanntes und fallweise gewiss auch zutreffendes Argument.¹⁴⁴ Aber gerade plötzliche Umsprünge im Erzählfokus, das heißt in der Ausrichtung auf ein bestimmtes Erzähltes, kommen in diesem frühen weltlichen Erzählen in deutscher Schriftlichkeit so zahlreich und regelmäßig vor, dass es sich lohnt, nach Erklärungen zu fragen, die diese kleinen Risse in der mikrostrukturellen Kohärenz der Texte jenseits von Verwerfungen der Überlieferung narratologisch einzuordnen erlauben. Für einen Teil der Erzählliteratur, die von etwa der Mitte des 12. Jahrhunderts an im deutschsprachigen Raum entsteht, ist dabei eine wichtige poetologische Voraussetzung mitzuberücksichtigen, nämlich die Spannung, in der diese Dichtung zwischen strophisch-abschnitthaftem und fortlaufendem Erzählen steht. ‚Abschnitthaft‘ bezieht sich hier nicht auf die epische Konzeption (im Sinne eines Erzählens in Inhaltsabschnitten oder Episoden), sondern auf die formale. Die Tendenz, den Erzählstoff in solche kleineren formalen Einheiten zu zerlegen, hat man als Charakteristikum besonders der frühen volkssprachigen Dichtung der Romania beobachtet.¹⁴⁵ In einer Studie zum altfranzösischen ‚Leodegarlied‘

 Vgl. zu Konrad die folgenden Passagen bei dem Stricker: Karl der Große. Hrsg. von Johannes Singer. Berlin/Boston 2016 (DTM 96): Nůne was der kristen niht mer / wan Růlant und Walther / unt der bisschof Trpin – so beginnt der Initialenabschnitt beim Stricker, bevor er drei Verse weiter auf Konrad zurücklenkt: sie hůben sich in di namen dri, / da bi man got erchennen sol (V. 7589 – 7595). Die zweite Stelle, zu Turpins Kampfeintritt, beim Stricker: nů begonden sin [die Heiden Walther, C. S.] da mite eren, / daz si in gerne vermiten / und an den bisschof alle riten. / der wart also bestanden, / daz si in und Rulanden / von ein ander verre drungen / und si mit not betwungen, / daz sie sich můsen scheiden – und dann erst folgt das Konrad-Zitat: da slůch er manigen heiden, / Trpin der gotes rchnde (V. 7612– 7621).  Das hat Kartschoke 1993a, S. 724, auch für die eben zitierte ‚Rolandslied‘-Stelle erwogen – ich bin mir aufgrund des weiter unten Dargelegten nicht so sicher, sondern neige dazu, in den abrupten Wechseln des Erzählfokus eine Stilmöglichkeit dieses frühen Erzählens zu erkennen.  Siehe u. a. Alois Wolf: Frühmittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Vers, Abschnitt und Strophe: Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Wolf, Erzählkunst des Mittelalters. Komparatistische Arbeiten zur französischen und deutschen Literatur. Hrsg. von Martina Backes/Francis G. Gentry/Eckart Conrad Lutz. Tübingen 1999, S. 1– 23, bes. S. 6 f. In diesem Sinne interpretiert Wolf S. 3 f. auch die Bemerkung des anonymen Verfassers der zwischen 1060 und 1100 entstandenen ‚Chanson de Sainte Foy‘, seine Dichtung à lei Francesca darbieten zu wollen: als Hinweis nicht (nur) auf die Sprache, sondern auf ein Erzählen in kleineren, formal gebundenen Abschnitten.

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wollte Erich Auerbach darin den Ausdruck einer Parzellierung der Wirklichkeit erkennen, ein perspektivisches Phänomen, hinter dem er eine archaische Weise der Wahrnehmung von Wirklichkeit vermutete.¹⁴⁶ Demgegenüber sah Alois Wolf hier eher poetische Traditionen am Werk, insbesondere die Formensprache der christlichen Hymnik (jedoch gesteht er zu, dass, „als sekundärer Effekt“, dieses Parzellieren auf die darstellerischen Perspektiven der frühen volkssprachigen erzählenden Dichtung nicht unwesentlichen Einfluss gehabt habe).¹⁴⁷ Gegen die Annahme einer anthropologisch oder kognitionshistorisch grundsätzlich anderen, archaischeren Auffassungsweise, die in der Parzellierungstendenz der frühen romanischsprachigen Dichtung deutlich würde, spricht sicherlich, dass beispielsweise der deutschsprachige Raum – das Altsächsische eingeschlossen – in Texten wie dem ‚Hildebrandslied‘, dem ‚Heliand‘ oder der nur fragmentarisch erhaltenen ‚Altsächsischen Genesis‘ über eine mindestens bis ins 9. Jahrhundert zurückreichende Tradition des fortlaufenden Erzählens (in stabreimenden Langzeilen) verfügte.¹⁴⁸ Es scheint, folgt man den Analysen Wolfs, dass das auf den Endreim gegründete, strophisch-abschnitthafte Erzählen der Francia sich erst vom 9. Jahrhundert an im Bereich der Germania gegenüber der tradierten Form des fortlaufenden Erzählens in Langzeilen durchzusetzen begann – im Althochdeutschen viel stärker als im Altenglischen –, während man für das Frühmittelhochdeutsche wiederum einen allmählichen Wandel vom strophisch-abschnitthaften Dichten hin zu einem (unstrophischen) Erzählen im Kontinuum feststellen kann.¹⁴⁹ Wolf hat das an einem Vergleich zwischen ‚Annolied‘ und ‚Kaiserchronik‘ überzeugend nachgewiesen („Die Kaiserchronik ist bei weitem nicht mehr so strophisch-abschnitthaft angelegt wie das Annolied“).¹⁵⁰ Auch in Alberics Alexanderfragment – Wolfs zweitem Beispiel – erfolgt der Übergang zwischen den fünfzehn erhaltenen Laissen fast immer „mit einem Ruck“, also nichtkontinuierlich.¹⁵¹ Lambrecht hingegen geht zwar, wie wir sahen, ebenfalls von einer re-

 Erich Auerbach: Über das altfranzösische Leodegarlied. In: Syntactica und Stilistica. Festschrift für Ernst Gamillscheg zum 70. Geburtstag, 28. Oktober 1957. Hrsg. von Günter Reichenkron. Tübingen 1957, S. 35 – 42.  Wolf 1999, S. 7.  Versuche, für das ‚Hildebrandslied‘ ein Erzählen in kleineren, strophisch-abschnitthaften Einheiten nachzuweisen, dürfen – so Wolf 1999, S. 8 – als gescheitert gelten.  Das gilt freilich nur außerhalb des Bereichs der traditionellen, mündlich-heroischen Dichtung und hat auch damit zu tun, dass hier die Weiterentwicklung des Repertoires an sprachlichsyntaktischen Mitteln für die gebundene Rede in der Volkssprache stärker zum Tragen kommt als in der traditionellen gesungenen Epik, die an die weniger differenzierte episch-altertümliche Sprache gebunden bleibt; vgl. mit Einzelheiten Wolf 1999, S. 13 f., und 1972, bes. S. 549 f.  Wolf 1972, S. 519 – 526, das Zitat S. 525.  Wolf 1972, S. 530.

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lativ engmaschigen Abschnittsstruktur aus, bemüht sich aber regelmäßig durch den Gebrauch von Diskursmarkern um weichere Übergänge zwischen den Abschnitten, so dass ein, wenn auch lose gewobenes, Erzählkontinuum entsteht. Gleichzeitig lässt sich bei allem Bemühen um ein stärker kontinuierliches Erzählen beobachten, dass gerade dort, wo die deutschsprachigen Autoren sich romanischer Vorlagen bedienten, die abschnitthafte Erzählweise der Vorlage die Bearbeitung beeinflusste und tatsächlich an vielen Stellen, an denen wir sprunghafte und inkohärent wirkende Wechsel im Erzählfokus wahrnehmen, Ursache dieser Sprünge ist. Das lässt sich wieder sehr schön an einem Vergleich des deutschen mit dem französischen ‚Rolandslied‘ nachvollziehen. Immer wieder fallen Stellen, an denen narrative Übergänge im deutschen Text abrupt und ungelenk erscheinen, mit Laisseneinschnitten im französischen Text zusammen.¹⁵² Was die Laissenstrophe betrifft, so sorgte ihre formale Geschlossenheit mit dem charakteristischen Gleichklang der letzten Silbe jedes Verses für eine deutliche Zäsur zwischen den einzelnen Laissen und ließ schon vom akustischen Eindruck her den Gedanken eines kontinuierlichen, nicht blockhaften Erzählens gar nicht erst aufkommen.¹⁵³ In Konrads Bearbeitung ist das anders. Wie Lambrecht machte auch Konrad nicht den Versuch, die Strophenform seiner Vorlage zu übernehmen – vermutlich, weil sich weder die Reim- bzw. Assonanzeinheiten noch der Zehnsilber der ‚Chanson‘ im Deutschen befriedigend nachbilden ließen. Er entschied sich, paarweise zu reimen bzw. zu assonieren, in Versen von ungleicher Länge, grundsätzlich nicht anders, als man es auch aus anderen frühmittelhochdeutschen Dichtungen kennt. Das bedeutete zugleich, die Bearbeitung auf ein Erzählen umzustellen, das bereits seiner performativen Praxis nach einen eher kontinuierlichen Gestus verlangte. Aber diese Umstellung führte offenkundig nicht dazu, dass die nun – unter den Bedingungen einer nicht mehr liedhaftrezitativen, sondern kontinuierlichen Vortragsweise – als solche wahrnehmbaren

 Vgl. etwa die folgenden Stellen: RL V. 3539 f. zu ChdR (in der Oxforder Hs. O) V. 859 f. (= L. 68/ 69; li niés Marsilie im französischen Text ist Aelroth bzw., bei Konrad, Alterôt); RL V. 5296 f. zu ChdR V. 1592 f. (= L. 119/120); RL V. 6167 f. zu ChdR V. 1850 f. (= L. 139/140); RL V. 7127 f. zu ChdR V. 2569 f. (= L. 186/187). Dass Konrad von der Abschnittstechnik seiner Vorlage beeinflusst ist, stellte, ausgehend von einer Untersuchung der Initialensetzung, schon Werner Besch: Beobachtungen zur Form des deutschen Rolandsliedes. In: Festgabe für Friedrich Maurer. Zum 70. Geburtstag am 5. Januar 1968. Hrsg. von Werner Besch/Siegfried Grosse/Heinz Rupp. Düsseldorf 1968, S. 119 – 134, hier S. 130, fest.  Hinzu kommt, dass die Erzählblöcke wohl durch musikalische Interludien unterbrochen und so noch stärker voneinander abgegrenzt wurden; vgl. Gisela Febel: Chanson de geste. In: HWRh 2 (1994), Sp. 157– 163, hier Sp. 159. Dabei könnte man an einen kleinen Abgesang des Rhapsoden – oder der Hörenden, vielleicht zusammen mit dem Rhapsoden? – denken, vielleicht auch (nur) an ein arpeggienhaftes Greifen in die Saiten des Begleitinstruments.

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Sprünge und abrupten Wechsel stilistisch geglättet wurden. Man kann darin, wie schon die ältere Konrad-Forschung, einen Ausdruck des Bemühens sehen, der altfranzösischen Quelle im Rahmen der metrisch-formalen Bedingungen des Deutschen treu zu bleiben.¹⁵⁴ Das schließt aber nicht aus, dass in diesem mikrostrukturell – beim Übergang von einem Satz zum nächsten – sprunghaften Erzählen auch eine Stilmöglichkeit liegt, die uns fremd anmutet, in diesem älteren Erzählen jedoch nicht selten ist und den zeitgenössischen Rezipienten daher vertraut gewesen sein muss.¹⁵⁵ Als stilistische Möglichkeit mag das unvermittelte Wechseln des Erzählfokus dabei ursprünglich durch strophisch-abschnitthafte Form bedingt oder zumindest begünstigt worden sein. Dass es aber auch jenseits dieser Form in kontinuierlich erzählenden Texten Anwendung finden konnte, spricht dafür, dass es rezipientenseitig auf eine Disposition traf, die unabhängig von Strophen-Abschnitten für diese Art des Erzählens empfänglich war (andernfalls müsste man viele Fälle eines unvermittelten, springenden Erzählfokus auch innerhalb von Sinnabschnitten für erzähltechnische Unzulänglichkeiten halten). Die Frage, die sich dabei stellt und die sich vielleicht nur spekulativ beantworten lässt, lautet: Wenn historische Rezipienten von diesem Phänomen nicht irritiert waren – grundsätzlich nicht irritiert waren, Grenzfälle, wie möglicherweise die oben erwähnte Stricker-Stelle wird es sicherlich gegeben haben –, auf welche kognitive Disposition im Hinblick auf die Aufnahme von Gehörtem musste es treffen, damit es nicht als störend empfunden wurde; schon bei strophisch-abschnitthaftem Erzählen nicht, umso weniger aber bei fortlaufendem? Harald Haferland hat an einem anderen Irritationsphänomen mittelhochdeutscher Erzähltexte, nämlich der Pronominalisierung, die These formuliert, die vokale Kultur des Mittelalters habe sehr viel selbstverständlicher als heute beim Hörer einen „leicht zugänglichen und geordneten Gedächtnisraum“ vorausgesetzt, „auch wenn das sprachliche Material nach heutigem Verständnis eher ungeordnet bereitgestellt wurde.“¹⁵⁶ Wenn Pronomen über längere Strecken hin-

 Siehe etwa Besch 1968; auch Dieter Kartschoke: Nachwort. In: Pfaffe Konrad, Das Rolandslied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. und komm. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1993b (RUB 2745), S. 779 – 799, hier S. 793 – 795.  Auch Müller 2017, S. 83 – 85, bezeichnet eine „auf harte Brüche setzende[], alle Nebenumstände ausblendende[]“ Darstellungsweise als kennzeichnend für den Stil dessen, was er ‚episches Erzählen‘ nennt.  Harald Haferland: Vokale Kultur, Hörgedächtnis und Textgrammatik. Zur Pronominalisierung in mittelhochdeutschen Texten. In: der âventiuren dôn. Klang, Hören und Hörgemeinschaften in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/William Layher. Wiesbaden 2013b (Imagines medii aevi 31), S. 45 – 62, hier S. 60.

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weg grammatisch mehrdeutig und auf mehr als nur einen Referenten beziehbar gewesen seien – und tatsächlich ist gerade das ein Phänomen, wo moderne Übersetzungen gerne nachhelfen, indem sie die Pronominal- durch Nominalformen bzw. Namen ersetzen (und auf diese Weise, durch Renominalisierung, referentielle Eindeutigkeit herstellen) –, sei die Erwartung gewesen, dass die Hörer ihren Weg durch das Dickicht der Pronomen mit wechselnder Referenz schon finden würden. Haferland zieht zum Vergleich Jean Piagets Beobachtungen zum Egozentrismus im Sprechen und Denken fünf- bis achtjähriger Kinder heran. Kinder neigten dazu, so Piaget, für sich selbst zu sprechen, ohne Rücksicht auf ihren Gesprächspartner; sie erzählten, als könne man ihre Gedanken lesen und als habe man unabhängig von der konkreten sprachlichen Äußerung „Zugang zum Inhalt der Erzählung in einem allgemein zugänglichen Raum der gemeinsamen Welt“.¹⁵⁷ Der Vergleich mit dem kindlichen Sprecher-Egozentrismus beweist für die kognitiven Voraussetzungen der vokalen Textkultur des Mittelalters historisch natürlich gar nichts; er ist aber doch illustrativ. Zugrunde liegt offenbar stets die Vorstellung, die Dinge müssten sprachlich nicht expliziert werden, weil sie klar sind. Das gilt für die Pronominalisierung: Irgendwie muss klar gewesen sein, welcher Referent jeweils gemeint war. Und es gilt auch für abrupte Erzählübergänge und Fokuswechsel: Irgendwie mussten die Leerstellen dazwischen nicht ausgefüllt werden, weil die Verknüpfungen und Zwischenglieder (logischer, temporaler und/oder grammatischer Natur) auch ohnedies gegeben oder erschließbar waren. Diese Vorstellung ist nicht kategorial verschieden von heutigen Kohärenzerwartungen, aber doch graduell, indem ein geringeres Maß an Konnexion zwischen den narrativen Propositionen (oder Satzinhalten) offenbar als hinreichend empfunden wurde. Historisch scheint mir der Schlüssel zu ihr in der Art der Visualisierung von Erzählinhalten seitens des Rezipienten, genauer: in einem stärker visuell-szenischen Denken zu liegen. Drei Faktoren dürften dazu beigetragen haben: zum einen, dass Erzählungen in ausgeprägterer Weise entlang prototypischer Szenen und Ereignisrahmen komponiert wurden, die, als ‚gescriptete‘ Abläufe, im Bewusstsein der Rezipienten gewissermaßen schon vorformuliert waren (das könnte der Fall an der zitierten ‚Herzog Ernst‘-Stelle – Weihnachtsgottesdienst mit Kaiser und Königin under der krône im Bamberger Dom – sein; das Prototypische der Szene wird hier durch den Vers als sie ze hôchgezîte tuont sogar eigens betont). Eine ähnliche Bedeutung wird der Umstand gehabt haben, dass viele Geschichten wiedererzählt wurden, das heißt ihrem

 Haferland 2013b, S. 48, 60; vgl. Jean Piaget: Sprechen und Denken des Kindes. 3. Aufl. Düsseldorf 1976 (Sprache und Lernen 1), S. 137.

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Inhalt und ihren Handlungsabläufen nach schon bekannt waren, so dass beispielsweise der Erzählfokus deshalb unvermittelt auf eine andere oder neue Figur umschwenken konnte, weil das Publikum wusste, dass sie an dieser Stelle auftreten würde;¹⁵⁸ Vertrautheit mit der Handlung konnte also ausgleichend an die Stelle von Scripts treten oder sie ergänzen. Drittens schließlich – und darauf kommt es mir hier besonders an – dürfte das Hören zu einer anderen Qualität der Visualisierung der Erzählinhalte beigetragen haben. Zum einen wird Erzähltes im Hörgedächtnis länger bereitgehalten, als wenn es gelesen wird.¹⁵⁹ Zum anderen ist aus kognitionspsychologischen Untersuchungen bekannt, dass zwischen der Visualisierung von Textinhalten und dem Lesen ein Konflikt besteht. Die Ergebnisse dieser Studien wurden, soweit ich sehe, in der historischen Medialitätsforschung bislang nicht berücksichtigt; sie sollten aber auch für die medialpragmatische und erzähltheoretische Beurteilung vorneuzeitlicher Erzählverfahren von Interesse sein. So haben Kognitionspsychologen in einer Reihe von Experimenten, die bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren durchgeführt wurden, zeigen können, dass das Lesen die Visualisierung von Aussageinhalten tendenziell beeinträchtigt.¹⁶⁰ Das gilt insbesondere für die Visualisierung räumlicher Verhältnisse.¹⁶¹ In einer Versuchsanordnung wurden die Namen von drei Objekten (u. a. goat, rock, fountain) in ein griechisches Kreuz eingefügt, wobei ein Objekt jeweils in der Mitte und die anderen beiden in den benachbarten – also nicht den gegenüberliegenden – Armen des Kreuzes sich befanden. Im Verlauf des Experiments wurden den Probanden Sätze, die das jeweilige Arrangement der Objekte in dem Kreuz beschrieben (z. B. The goat is to the left of the rock and above the fountain), auf drei verschiedene Weisen vermittelt: Die Probanden hörten den Experimentator die Sätze entweder vorlesen; oder sie hörten die Sätze und lasen sie gleichzeitig in

 Solches könnte man etwa, wenn man die Stelle retten wollte, für den erzählerisch kaum motivierten Eintritt Bischof Turpins in den Schlusskampf in Konrads Version des ‚Rolandslieds‘, V. 6598 ff., annehmen.  Haferland 2013b, S. 62, spricht von einer „Korrelation zwischen der visuellen Bindung des Lesens und einer memoriellen, gedächtnismäßigen Abflachung im Parathalten von Textinhalten“.  Siehe Lee R. Brooks: The Suppression of Visualization by Reading. In: Quarterly Journal of Experimental Psychology 19 (1967), S. 289 – 299; ders.: Spatial and Verbal Components in the Act of Recall. In: Canadian Journal of Psychology 22 (1968), S. 349 – 368, sowie ders.: An Extension of the Conflict Between Visualization and Reading. In: Quarterly Journal of Experimental Psychology 22 (1970), S. 91– 96; dazu auch der Forschungsbericht von Samuel Weintraub u. a.: Summary of Investigations Relating to Reading, July 1, 1970 to June 30, 1971. In: Reading Research Quarterly 7 (1972), S. 213 – 393, bes. S. 253 – 258.  Zum Folgenden vgl. die Studie von Brooks 1970.

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Kopie; oder sie hörten die Sätze und sahen die betreffenden Wörter gleichzeitig in ihrem Arrangement auf dem Kreuz (in Gestalt einer bildlichen Darstellung). Anschließend wurde jeder Teilnehmer angewiesen, einen Satz zu bilden, der das Objektarrangement des ursprünglichen Satzes wiederholte, oder aber die Objekte in der Vorstellung im oder gegen den Uhrzeigersinn rotieren zu lassen und ihre neue Position in einem Satz zu formulieren. Die Ergebnisse sind interessant, weil sie die drei medialen Modalitäten – Sehen, Hören, Lesen – in einem relativ einfachen Experiment zusammenführen und zu vergleichen erlauben. Es zeigte sich, dass es den Probanden deutlich leichter fiel, die geforderten kognitiven Leistungen zu erbringen, das heißt die Objekte zu visualisieren und den Anweisungen entsprechend zu drehen, wenn sie den Ausgangssatz entweder gehört oder zugleich gehört und eine bildliche Darstellung des Kreuzes gesehen hatten.Wenn sie den Ausgangssatz hingegen nur gelesen hatten, benötigten sie signifikant länger, einen der rotierten Position der Objekte entsprechenden Satz zu bilden. Weitere Studien konnten die als Erstem von Lee R. Brooks aufgestellte Hypothese einer Hemmung von Visualisierungsprozessen durch das Lesen („suppression of visualization by reading“) – im Unterschied zum Hören – bestätigen.¹⁶² Ihre Resultate erhärten, dass Lesen mit der Erzeugung einer mentalen Repräsentation räumlicher Informationen und Situationen interferiert. Nach Brooks lässt dieser Befund zwei Interpretationen zu: (a) Visualization and reading compete for the use of neural pathways specialized for visual perception. (b) The process of reading hinders the conversion of input material into nonverbal form; that is, reading forces the subject to deal with information in a more exclusively verbal form than does listening.¹⁶³

Die erste Erklärung – da das Lesen ebenfalls ein visueller Vorgang ist, konkurrieren Lesen und Visualisieren um dieselben neuronalen Ressourcen im visuellen Kortex – trifft sich mit Haferlands Annahme, die visuelle Bindung des Lesens einerseits und die „gedächtnismäßige[] Abflachung im Parathalten von Textinhalten“ andererseits stünden zueinander in einer Wechselbeziehung.¹⁶⁴ Allerdings beziehen sich die Unterschiede zwischen Hören und Lesen im Hinblick auf die Visualisierung von Aussageinhalten nicht nur auf das Gedächtnis, auf die

 Siehe etwa M. J. Peterson/J. E. Thomas/H. Johnson: Imagery, Rehearsal, and Compatibility of Input-Output Tasks. In: Memory and Cognition 5 (1977), S. 415 – 422.  Brooks 1967, S. 289.  Haferland 2013b, S. 62. Haferland fügt an: „Lesen schaltet das Hörgedächtnis partiell aus und schreibendes Strukturieren von zu lesenden Texten nimmt darauf Rücksicht. Man kann ja, wenn nötig, oben noch einmal nachschauen.“

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Fähigkeit also, Redegegenstände in der Vorstellung festzuhalten; sondern sie betreffen offenbar auch das Vermögen, sich Textinhalte visuell zu vergegenwärtigen, insbesondere dann, wenn es um räumliche Verhältnisse geht. Gewiss zögert man, die Ergebnisse moderner kognitionspsychologischer Studien auf die kognitive Situation mittelalterlicher Hörerinnen und Hörer zu übertragen. Auf der anderen Seite sehe ich nicht, warum sie nicht auch für Rezipienten des 12. oder 13. Jahrhunderts Gültigkeit haben sollten. Im Gegenteil wird man annehmen können, dass das historische Publikum, sozialisiert im Hören, wie es war, in der Visualisierung vokal und aural vermittelter Erzählinhalte viel geübter war als in der kognitiven Verarbeitung derselben Inhalte bei stiller Lektüre. Das spräche dann dafür, dass mittelalterliche Rezipienten auch bei einem Weniger an textgrammatischer Kohäsion, als wir sie heute für notwendig erachten, in der Lage waren, die Textinhalte in einen kohärenten und geordneten Zusammenhang zu überführen, und zwar deshalb, weil die Wahrnehmung der Kohärenz des Erzählten weniger an der literalen Textoberfläche (mit ihrem relativen Mangel an textsyntaktischen Kohärenzmitteln) hing als an der im Hören hervorgerufenen Visualisierung der Redegegenstände. Oder anders gesagt: Damaligen Rezipienten dürfte das Vorgetragene, gerade wo es um Räumlich-Szenisches ging, aufgrund des Hörens sehr schnell in einer visuellen Gesamtschau kognitiv zugänglich gewesen sein. Diese machte lineare textgrammatische Kohäsion in einem Grade vernachlässigbar, wie wir als visuell an die Buchseite (mit ihrem linear organisierten Text) gebundene Rezipienten uns das nur noch schwer vorstellen können. In den volkssprachigen Erzähltexten des 12. Jahrhunderts zeigte sich so, in je unterschiedlicher Ausprägung, ein Stand der Konnektivität und Kohärenz im Mikrostrukturellen, der bei grundsätzlich schriftlicher Konzeption (und neben genuin schriftliterarischen Kohärenztechniken) die besonderen Rezeptionsbedingungen dieser Literatur spiegelte. Und tatsächlich wird ja immer wieder so erzählt, als seien die Dinge sichtbar und würden den Rezipienten bildhaft vor Augen stehen. Besonders dort, wo der Erzählfokus von einem Gegenstand unvermittelt zu einem anderen wechselt, eignet den Texten oftmals ein Gestus der Schau, des räumlich-szenischen VorAugen-Stehens. Erzählt wird dann, als übersähe der Rezipient die gesamte erzählte Welt und könnte den Blick umstandslos, ohne jede diskursive Vorbereitung von hierhin nach dorthin richten. Diese Möglichkeit eines springenden, unvermittelt zwischen A und B wechselnden Erzählfokus kann geradezu artistisch, als rhetorisch-poetologischer Kunstgriff eingesetzt werden. Das soll abschließend an einer Reihe von Texten gezeigt werden, in denen die auf diese Weise entstehenden harten Fügungen – und darin besteht das Kunstfertige – zusätzliche Bedeutungszuschreibungen erlauben und damit etwas erzeugen, das über ein bloßes So-gefügt-Sein narrativer Elemente hinausgeht.

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Den Anfang machen Beispiele aus dem deutschen ‚Rolandslied‘: Karl ist mit dem Hauptheer von Ronceval aufgebrochen und befindet sich auf dem Rückweg nach Frankreich. Von einer Berghöhe hat Roland die nachrückenden Heere der Sarazenen erblickt. Nun rüsten seine Leute sich zur Schlacht. Die Verse 3393 – 3464 schildern, wie die Christen die Messe feiern, sich mit Beichte, Kommunion, Glaubensbekenntnis auf die Schlacht vorbereiten. Ich zitiere nur den Fokuswechsel V. 3464 f., der in der Heidelberger Handschrift P von einer Initiale begleitet wird: ain zuoversicht unt ain minne, ain geloube unt ain gedinge, ain triuwe was in allen. ir nehain entwaich dem anderen. in was allen ain wârhait. des fröut sich elliu christenhait. Haiden, die verworchten, die got niene vorchten, ir apgot si ûf huoben, mit grôzer hôchvart si vuoren. (V. 3459 – 3468) Eine Zuversicht und eine Liebe, / einen Glauben und eine Hoffnung, / eine Treue teilten sie alle. / Keiner von ihnen wich dem andern von der Seite. / Sie alle teilten eine Wahrheit. / Darüber freut sich die gesamte Christenheit. / Die verworfenen Heiden, / die Gott niemals fürchteten, / nahmen ihre Götzenbilder auf; / voller Hochmut zogen sie los.

Mit V. 3465 (Haiden, die verworchten) schwenkt die Darstellung abrupt vom christlichen zum heidnischen Heer und schildert deren sakrale Handlungen (bis V. 3523). Dem christlichen Gottesdienst wird der heidnische Götzendienst auf diese Weise spiegelgleich gegenübergestellt. Von V. 5806 an wendet sich Roland, während die Schlacht unterbrochen ist, an die Seinen, um sie im Glauben an ihre gottgegebene Kraft zu bestärken (Ruolant in den satel trat. / er sprach: „wol ir süezen Karlinge […]“, V. 5806 – 5828). Der nächste Abschnitt dann – in der Handschrift P wieder durch Initiale markiert – bringt eine entsprechende Ansprache Marsilies an seine Leute (Marsilie sprach zuo den sînen: / „ir ne scult in nicht entlîben […]“,V. 5829 – 5852). Die beiden Abschnitte und ihre Fügung im Zusammenhang: Ruolant in den satel trat. er sprach: „wol ir süezen Karlinge, ich bit iuch in der wâren gotes minne, fürchtet nehain ir grôzen magen. […] er ist volliclîchen komen ze künclîchen êren,

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der sihet sînen hêrren in sîner gothaite. dar müget ir gerne arbaite.“ Marsilie sprach zuo den sînen: „ir ne scult in nicht entlîben. nemet zehenzec tûsent man. Grandon füere den van, der füeret si wol dar. vil schiere beraitet fünfzehen scar. habet manlîch gemüete.“ (V. 5806 – 5835) Roland richtete sich im Sattel auf. / Er sprach: „Wohlan, ihr herrlichen Franken, / um der wahren Gottesliebe willen bitte ich euch, / fürchtet ihre große Stärke nicht. / […] Derjenige, der seinen Herrn / in seiner Gottheit erschaut, / der wird königliche Ehren / in Fülle erlangt haben. / Dafür sollt ihr bereitwillig Mühsal erdulden.“ / Marsilie sprach zu den Seinen: / „Schont sie nicht. / Nehmt hunderttausend Mann. / Grandon soll die Fahne vorantragen, / der wird sie gut dorthin führen. / Stellt sogleich fünfzehn Scharen auf. / Seid tapfer.“

Die beiden Ansprachen sind in etwa gleich lang. Wie an diesen fungiert auch an anderen, vergleichbaren Stellen der unvermittelte Wechsel des Erzählfokus als Achse einer symmetrischen Gegenüberstellung von Christen und heidnischen Sarazenen, wie Konrad sie auch sonst in seiner Bearbeitung verfolgt.¹⁶⁵ Das ‚Rolandslied‘ erzählt eine agonale Auseinandersetzung von gewaltigen Ausmaßen. Der Agon, der dem Prinzip nach auch die klassische Aventiuresituation des höfischen Romans mit ihrem Wettkampf zweier Ritter kennzeichnet, ist hier, wie in vergleichbaren Texten der Helden- und Geschichtsepik, ins weltgeschichtlich Große und heilsgeschichtlich Bedeutende gesteigert. Besonders der Pfaffe Konrad ist für diese theologisch-heilsgeschichtliche Perspektivierung des ‚Rolandslieds‘ bekannt, indem er die schon in der ‚Chanson de Roland‘ angelegten Rückbeziehungen auf alttestamentliche Erzählungen und neutestamentliche Lehren noch verstärkte.¹⁶⁶ Doch im Grundsatz gilt auch für diese Art des

 Vgl. Kartschoke 1993a, S. 700 zu V. 3522 f. Demselben Prinzip symmetrischer Darstellung gehorchen wohl die Verse 3844 f. mit dem abrupten Wechsel von Falsaron zu Olivier und ihren jeweiligen Heeresansprachen. Die Zuordnung dieser beiden Heerführer, der eine heidnisch, der andere christlich, kulminiert dann ungefähr vierhundert Verse weiter darin, dass es V. 4262– 4272 Olivier ist, der Falsaron in der Schlacht tötet.  Einige Interpreten haben diese Rückbeziehungen und Analogien (z. B. die Zwölfzahl der Pairs, die Judasparallele im Zusammenhang mit Ganelon/Genelun, der den armen Judas […] gebildôt, V. 1925) in Anlehnung an die christliche Hermeneutik des Mittelalters typologisch zu deuten versucht; vgl. Ingeborg Geppert: Christus und Kaiser Karl im deutschen Rolandslied. In: PBB 78 (1956), S. 349 – 373; Horst Richter: Das Hoflager Kaiser Karls. Zur Karlsdarstellung im deutschen Rolandslied. In: ZfdA 102 (1973), S. 81– 101. Ob solche Rückbezüge volkssprachig-

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Agons das, was die Forschung für die höfische Epik um 1200 als Interaktionsmodell herausgearbeitet hat: dass es nämlich auf „dem agonalen Schema und dem Muster der Reziprozität“ beruhe.¹⁶⁷ In der symmetrischen Darstellungsweise findet das agonale Schema einen ihm entsprechenden rhetorischen Ausdruck; sie bildet die agonale Situation gewissermaßen texträumlich nach. Das ist nicht so schlicht, wie es vielleicht den Anschein hat: Die agonale Situation könnte ohne Weiteres auch anders zur Darstellung gebracht werden, sie verlangt nicht notwendig symmetrisches Erzählen. Ebenso wenig ist symmetrisches Erzählen an einen abrupt springenden Erzählfokus gebunden. Aber der plötzliche Wechsel von Schauplatz und Figuren lässt die Symmetrie des narrativen Arrangements und damit das Agonale der Weltordnung, die dem Text zugrunde liegt, noch deutlicher hervortreten. Zugleich können harte Fügungen temporale Effekte zeitigen. Wenn es an temporalen Markern fehlt, die die hintereinandergeschalteten Erzählelemente in ein Verhältnis des Nacheinander setzen, können sie dazu führen, dass die Zeitlichkeit des Dargestellten als Simultaneität aufgefasst wird (an den Übergängen V. 3464 f. und V. 5828 f. z. B. ist das der Fall). Wie solche Effekte unvermittelter, in diskursiver Hinsicht inkohärent wirkender Übergänge sehr gezielt zur temporalen Gestaltung der Geschichte eingesetzt werden können, zeigt im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts Wolfram von Eschenbach. Ich denke dabei vor allem an den ‚Willehalm‘, der mit dem ‚Rolandslied‘ nicht nur das Thema des Heidenkampfes teilt – Wolfram hat die Beziehungen seiner Geschichte zum ‚Rolandslied‘ weit über seine Quelle hinaus ausgearbeitet –,¹⁶⁸ sondern in dem harte Fügungen regelmäßig zur Korrelation zeitgleich stattfindender Ereignisse genutzt werden. Durch den Verzicht auf temporale Konnektoren oder entsprechende Verknüpfungselemente wird der Eindruck mehrerer parallel ablaufender Handlungen erzeugt, die wahlweise in den Vorder- oder Hintergrund gerückt werden können. Das scheint durchgängig mit Bedacht zu geschehen: so etwa in ‚Willehalm‘ 40,19 f., wenn die Erzählung unvermittelt von Willehalm und dem Geschehen in der Hauptschlacht bei Alischanz zu Vivianz an den Fluss Larkant wechselt (40,8 – 23); oder in 109,1 f. (der marcrâve ist durh si komen), wenn von der Bela-

weltlicher Texte auf die Heilige Schrift in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts geläufig waren und zulässig erschienen, ist freilich umstritten.  So Harald Haferland: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), S. 17.  Siehe dazu Joachim Heinzle: Kommentar. In: Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1991 (BdK 69), S. 789 – 1092, hier S. 798 – 801.

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gerung Oransches durch Terramer und seine Truppen hin zu Willehalm gewechselt wird, der sich unerkannt seinen Weg durch das Heidenheer bahnt, um weiter zu König Louis nach Laon zu reiten und Hilfe herbeizuholen: die zem êrsten kômen unde sider, die wolten Oransche nider mit sturme dicke brechen, herren und mâge rechen an Gîburge, der künegîn. si heten werlîchen sin, die der stet dort inne pflâgen, swie zornic die ûzern lâgen. der marcgrâve ist durh si komen âne schaden. nû wirt vernomen alêrst, wie’z umbe triuwe vert. (108,23 – 109,3) Die als Erste und die später eingetroffen waren, / alle wollten Oransche / wieder und wieder im Sturm brechen, / Herren und Verwandte / an Giburg, der Königin, rächen. / Diejenigen, die dort drinnen die Stadt in ihrer Obhut hatten, / waren wehrhaft eingestellt, / wie zornig die draußen sie auch belagerten. / Der Markgraf ist unversehrt / durch sie hindurch gelangt. Jetzt erst kann man hören, / wie es um Treue bestellt ist.

Eine im Hintergrund laufende Handlung (während die Sarazenen die Belagerung Oransches in Angriff nehmen, reitet Willehalm unerkannt durch ihr Heer) wird auf diese Weise kurzfristig wieder in den Erzählvordergrund gerückt. Ganz ähnlich auch in 319,4 f.: Erzählt wird von Rennewart, der auf dem Weg nach Oransche zum dritten Mal seine Stange vergessen hat und zum Ort des letzten Nachtlagers zurückeilen muss, um sie zu holen; Willehalm und seine Armee haben sich in der Zwischenzeit schon weit entfernt (vgl. 316,26). Vollkommen abrupt schwenkt der Fokus dann mit 319,5 (der marcgrâve was sô nâhe komen) von Rennewart, der am letzten Lagerort seine Stange aus dem Feuer reißt, zum viele Meilen entfernten Willehalm, der sich dem Feld von Alischanz nähert: ez sûmte in [Rennewart, C. S.] harte lange, unz er si [die Stange, C. S.] verloschen vant. si was swarz als ein ander brant. nû neruochet, was si ê waeher – si ist nû vester und zaeher. er zucte’s ûz’em viure und lief gein âventiure. der marcgrâve was sô nâhe komen:

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ûf einen berc het er genomen sîner helfaere vil durh schouwen. (318,28 – 319,7)¹⁶⁹ Es kostete ihn viel Zeit, / bis er die Stange erloschen wiederfand. / Sie war schwarz wie jedes Angebrannte. / Nun bekümmert euch nicht darum: War sie zuvor schöner – / jetzt ist sie härter und zäher. / Er riss sie aus dem Feuer / und lief los, auf Abenteuer aus. / Der Markgraf war ganz nah herangekommen: / Auf einen Berg hatte er / viele seiner Helfer mitgenommen, um Ausschau zu halten.

Auch zur symmetrischen Darstellung von Christen und Heiden, im Sinne einer texträumlichen Verbildlichung des agonalen Schemas wie im ‚Rolandslied‘, wird im ‚Willehalm‘ der abrupte Wechsel des Erzählfokus wiederholt genutzt, selbst wenn es die mikrostrukturelle Kohärenz des Textes für heutige Leser zu beeinträchtigen droht. Ich will dafür nur ein Beispiel geben, das mir besonders anschaulich scheint: In Abschnitt 372 wird die Beschreibung eines Trupps von zehn heidnischen Königen plötzlich unterbrochen durch die Erwähnung zweier christlicher Ritter, von denen wir erfahren, dass sie unter derselben Fahne reiten, bevor der Erzählfokus zu den heidnischen Königen zurückschwenkt: dâ kom in galopeize her von den zehen künegen jungen manec storje umbetwungen von aller zageheite: hôchmuot was ir geleite. Bernart von Brûbant, der ie genendic was bekant, und Buove von Kumarzî die riten einem vanen bî. Fâbors von Meckâ kom vür durh tjostieren dâ; Glôrîax, Mâlarz und Utreiz kom vor dem grôzem puneiz. (372,14– 26) Da kamen im Galopp / von den zehn jungen Königen / viele Trupps daher, / von keiner Feigheit bezwungen: / Stolz und Mut gaben ihnen Geleit. / Bernhard von Brubant, / der immer schon als kühn bekannt war, / und Buove von Commercy, / die ritten unter einer Fahne. / Fabors von Mecka / ritt zur Tjost nach vorne; / Gloriax, Malarz und Utreiß / ritten vor dem großen Haufen.

Ich habe die Verse, in denen die Erzählung sich plötzlich zwei christlichen Rittern zuwendet, durch Fettdruck hervorgehoben. Der unvermittelte Fokuswechsel wird verständlicher, wenn wir später (373,1 ff.) erfahren, dass Bernhard von Brubant

 Ein anderes Beispiel: ‚Willehalm‘ 115,6 f.

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und Buove von Commercy die nächsten Gegner der heidnischen Könige sind. Doch warum der Einschub der vier Verse an just dieser Stelle, selbst um den Preis einer Störung der diskursiven Kohärenz des Abschnitts? Eine Erklärung könnte lauten: Die Erzähllogik folgt hier dem Bemühen um eine symmetrische Darstellung. Sie verräumlicht die Erzählung der Kampfbegegnung, indem sie den heidnischen Kräften in vier Versen die christlichen unmittelbar gegenüberstellt. Die symmetrische Darstellung bringt ein Gleichgewicht der Kräfte zum Ausdruck und zeigt Gleichzeitigkeit des Geschehens an. Gestützt wird sie durch einen hochgradig beweglichen Erzählfokus, der jederzeit von einem Erzählgegenstand zum anderen springen zu können scheint. Am Ende des Kapitels soll ein letztes Beispiel stehen, das nicht deshalb bemerkenswert ist, weil hier der unvermittelte Wechsel des Erzählfokus, im Sinne einer Stilmöglichkeit vorneuzeitlichen Erzählens, besonders kunstvoll eingesetzt würde. Interessant ist es vielmehr, weil es das historische Verfallsdatum eines solchen Erzählens anzeigen könnte. Das Beispiel stammt aus einem Text, der in seiner uns zugänglichen Gestalt nicht in die Geschichte der frühen weltlichen Erzählliteratur in deutscher Schriftlichkeit gehört, sondern einige Jahrzehnte jünger ist: dem ‚Eckenlied‘, einem Stück der sogenannten aventiurehaften Dietrichepik, entstanden vor der Mitte des 13. Jahrhunderts.¹⁷⁰ Mit seinen mindestens drei Versionen ist die Überlieferung des Liedes einerseits kompliziert, erlaubt andererseits aber gerade dadurch, unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten ein und desselben Textbestandes diachron zu vergleichen. Die berühmteste Strophe des ‚Eckenlieds‘ und diejenige, um die es mir hier geht, ist die sogenannte Helferich-Strophe. Sie steht am Anfang der Überlieferung. In ihrer ältesten überlieferten Gestalt ist sie als Einzelstrophe im Codex Buranus, der Handschrift der ‚Carmina Burana‘ (um 1220/30?), eingetragen.¹⁷¹ Bedauerlicherweise gibt es außer der Buranus-Strophe (‚Carmen Buranum‘ 203a) keine weiteren Zeugnisse der durch sie repräsentierten Fassung des Liedes. Im zweiten, siebenzeiligen Verskomplex der Strophe – deren Bau im Codex Buranus ein wenig von der späteren Struktur des Bernertons abweicht – begegnet ein klassisches

 Siehe zur Datierung Joachim Heinzle: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung. München 1978 (MTU 62), S. 43 f.; ders.: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin/New York 1999, S. 117 f.  Angehängt an das lateinische Gedicht ‚Hiemali tempore‘ (‚Carmen Buranum‘ 203); München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4660, fol. 90v.

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Beispiel einer harten Fügung im hier gemeinten Sinne. Die Verse 7– 13 lauten dem Codex Buranus gemäß:¹⁷²

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als vinster was der tan, da si [Ecke und Dietrich, C. S.] anander funden. her Dietrich rait mit mannes chrafft den walt also unchunden. her Eke der chom dar gegan; er lie da heime rosse vil, daz was niht wolgetan. (E1 1) Ganz finster war der Tannenwald, / wo sie aufeinandertrafen. / Herr Dietrich ritt mit männlicher Stärke / durch den ihm unbekannten Wald. / Herr Ecke kam zu Fuß dorthin; / er hatte zu Hause viele Pferde zurückgelassen, / das war nicht recht gehandelt.

In harter, blockhafter Fügung folgen die Verse 9 f. und 11 f. – Erstere ursprünglich wohl eine Langzeile, die mit den Versen 7 und 8 ein Paar bildete – aufeinander.¹⁷³ Der Eindruck ist wieder der einer symmetrischen Gegenüberstellung der beiden Protagonisten: hier Dietrich, der sich männlich stark seinen Weg durch den ebenso finsteren wie unbekannten Tannenwald bahnt; dort Ecke, der dahergelaufen kommt. Entsprechend abrupt springt der Erzählfokus mit V. 11 von dem einen zum anderen. Auffälligerweise wird nun gerade diese Art der Fügung in allen greifbaren späteren Fassungen der Strophe aufgelöst.¹⁷⁴ Im ‚Donaueschinger Eckenlied‘ (E2; Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 74), der ältesten annähernd vollständig erhaltenen Version vom Anfang des 14. Jahrhunderts, liest sich die Strophe so:

 Ich zitiere die Fassungen E1, E2, E7 und e1 der Helferich-Strophe nach der Synopse in der Ausgabe: Das Eckenlied. Sämtliche Fassungen. Hrsg. von Francis B. Brévart. 3 Tle. Tübingen 1999 (ATB 111), hier Tl. 1, S. 3. Nicht verschwiegen sei, dass Eckes Name im Codex Buranus zu Erek verschrieben ist (Ereke der chom dar gegan) – ob absichtlich oder zufällig, dazu Florian Kragl: Heldenzeit. Interpretationen zur Dietrichepik des 13. bis 16. Jahrhunderts. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 12), S. 24 f.; für den originalen Wortlaut der Strophe siehe Carmina Burana. Mit Benutzung der Vorarbeiten Wilhelm Meyers kritisch hrsg. von Alfons Hilka/Otto Schumann. Bd. 1,3: Die Trink- und Spielerlieder – Die geistlichen Dramen. Nachträge. Heidelberg 1970, S. 47 f.  Vgl. Heinzle 1999, S. 102.  Sollte sie in E1 auch dazu gedient haben, den Kontrast zwischen Reiten (Dietrich) und Gehen (Ecke) hervorzuheben, was mit Blick auf das Strophenende durchaus denkbar ist, so bliebe diese formale Pointe doch zugleich merkwürdig stumpf. Als Vorausdeutung ergeben die Verse 12 und 13 nämlich keinen rechten Sinn: Ecke wird Dietrich nicht deshalb unterliegen, weil dieser beritten ist.

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so rehte vinster was der tan, da si anander funden, her Dietherich und der kuͤne man, wol an den selben stunden. her Egge der kam zuͦ gegan; er lie da haim vil rosse, das was ser missetan. (E2 69) So recht dunkel war der Tannenwald, / wo sie aufeinandertrafen, / Herr Dietrich und der kühne Mann, / genau zur selben Zeit. / Herr Ecke kam zu Fuß; / er hatte zu Hause viele Pferde zurückgelassen, / das war äußerst übel gehandelt.

Während die Strophe sonst mit E1 1 weitgehend identisch ist, weichen die Verse 9 und 10 ab, indem V. 9 als Apposition daherkommt, die – das Personalpronomen si des vorangehenden Verses näher bestimmend – Dietrich und Ecke (den „kühnen Mann“) in einem Vers zusammenfasst. Eine dritte Fassung, die Druckversion e1 (zuerst 1491, Augsburg, Hans Schaur, mit weiteren Drucken bis ins späte 16. Jahrhundert), verfährt wieder anders, beseitigt den sprunghaften Wechsel des Erzählfokus aber ebenfalls, indem sie die ganze Passage aus Eckes Warte fokalisiert; Dietrich ist nur noch derjenige, der von Ecke erblickt wird:

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Ja also feinster was der tan do zuͦ den selben stunden. herr Eck der wolt nit abe lan. den weg het er gefunden, das er in [Dietrich, C. S.] sach do an der stett. seyn roß ließ er do heime, das in gerawen hett. (e1 63) Ja, so finster war der Tannenwald / zu ebenjener Stunde. / Herr Ecke wollte von seinem Vorhaben nicht lassen. / Er hatte den Weg ausfindig gemacht, / so dass er ihn dort stehen sah. / Sein Pferd hatte er zu Hause gelassen, / was er später bereute.

Lediglich in der Version derselben Strophe im ‚Eckenlied‘ des ‚Dresdner Heldenbuchs‘ von 1472 (E7; Sächsische Landesbibliothek, Mscr. Dresd. M. 201), das eine weitere selbständige Version des Textes bietet, ist nicht ganz eindeutig, ob die harte Fügung ebenfalls getilgt wird. Die entsprechenden Verse heißen hier:

10

und also vinster was der than, do sie einander fünden, her Diterich, der kune man, wol an den selben stunden. her Eck der kam dar gegan; her Eck der liß do haymen also vil guter roß bestan. (E7 69)

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Und so finster war der Tannenwald, / wo sie aufeinandertrafen, / Herr Dietrich, der kühne Mann, / genau zur selben Zeit. / Herr Ecke kam zu Fuß; / Herr Ecke hatte zu Hause / viele gute Pferde stehengelassen.

V. 9 würde der Version E2 entsprechen und die symmetrische Struktur der Verse 9 – 12 in E1 beseitigen, wenn man den Vers als eine nicht durch und verbundene Aufzählung lesen und unter dem kune[n] man Ecke verstehen würde. Dafür spräche, dass in E2 mit demselben Epitheton tatsächlich Ecke gemeint ist. Aber die Worte in E7 lassen sich auch als Apposition zu her Diterich verstehen („Herr Dietrich, der kühne Mann“), was beim ersten Lesen wohl näherliegt. Allerdings passte das dann nicht zum Plural des Personalpronomens sie des vorangehenden Verses, der Satz wirkte korrumpiert (was die Strophe freilich in E7 auch sonst tut – siehe die redundante Wiederholung her Eck in den beiden letzten Versen). Bleiben mikrostrukturelle Inkohärenzen in E7 also bestehen, so lässt sich von allen anderen Versionen sagen, dass sie die Übergangslosigkeit, die den Wechsel von Dietrich zu Ecke in der ältesten überlieferten Fassung der Strophe kennzeichnet, durch eine glatter und kohärenter wirkende Formulierung zu ersetzen suchen. Da von der Version E1 des ‚Eckenlieds‘ nur diese eine Strophe erhalten ist, wird man den Veränderungen, die sie im Laufe ihrer Überlieferung vom ersten Drittel des 13. bis ins 16. Jahrhundert hinein erfahren hat, nicht zu viel Beweislast aufbürden wollen. Für die Geschichte eines Erzählens in parataktischen Reihungen und harten Fügungen scheint sie mir dennoch aufschlussreich. Man muss dazu nur annehmen, dass die Gestalt, in der der Codex Buranus die HelferichStrophe wiedergibt, die ältere ist. Dafür freilich spricht schon die Chronologie der Überlieferung, die die Strophe vor 1230 datiert.¹⁷⁵ Wenn die späteren Fassungen die harte Fügung auflösen, heißt das dann, dass die ältere Version ein Fehler ist? Ich meine nein. Sie entspricht einem heldenepischen Erzählen, dem der Zug zum Zeilenstil auch sonst nicht fremd ist (wenn man Joachim Heinzle darin folgt, dass die betreffenden Verse des Codex Buranus ursprünglich Langzeilen waren). Aber nicht nur das: Wie die Beispiele aus den anderen, nicht heldenepischen Texten zeigten, lässt sich ein solches übergangsloses Erzählen gattungstypologisch gar nicht eingrenzen. Es scheint vielmehr einem Erzählen gemäß zu sein, das hinsichtlich der kognitiven Verarbeitung narrativer Inhalte von textuell-medial anderen Voraussetzungen ausgeht. Es repräsentiert eine Form, die an eine andere Art der Visualisierung des Erzählten gebunden zu sein scheint; eine Erzählform, in der auch räumlich oder zeitlich Auseinanderliegendes in ein Bild gewisser-

 Vom Bernerton schreibt Heinzle 1999, S. 102, dass er aufgrund seiner formalen Nähe zur Kanzonenstrophe „kaum vor etwa 1200“ entstanden sein könne. Den terminus ante quem für die Entstehung des ‚Eckenlieds‘ gibt mit dem Jahr 1230 der Codex Buranus vor.

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maßen zusammengezogen werden kann. Was hier Kohärenz verbürgt, soweit wir das nachvollziehen können, ist nicht die Textoberfläche (die unter grammatischsyntaktischen Kohärenzgesichtspunkten durchaus unterfüllt sein kann), sondern die Visualisierung des Erzählten: Die Kohärenz geht sozusagen vom Bild aus, nicht vom Text. Daher sind narrative Unverbundenheiten oder unvermittelte Wechsel des Erzählfokus möglich und wird immer wieder erzählt, als seien die Redegegenstände dem Rezipienten in einer visuellen Gesamtschau ohne Weiteres und jederzeit präsent. Dass diese Art der spontanen, räumlich-szenischen Visualisierung aber funktioniert – denn schließlich ist die Visualisierung ja von textuellen Informationen angeregt und ohne sie buchstäblich gar nicht denk- bzw. mental modellierbar –, daran dürfte das Hören, wie ich plausibel zu machen versucht habe, ganz wesentlich beteiligt gewesen sein. Es spricht viel dafür, dass das ‚Carmen Buranum‘ 203a einen jener seltenen Fälle darstellt, in denen wir tatsächlich den unmittelbaren Reflex einer mündlichen Tradition vor uns haben. Das heißt jedoch nicht, dass, wenn spätere Redaktoren für die Eingangsstrophe des ‚Eckenlieds‘ andere, für heutige Begriffe kohärentere Gestaltungen bevorzugen (mit Ausnahme von E7), für diese späteren Versionen nicht mehr von vokal-auraler Rezeption auszugehen wäre. Gerade Texte der Heldendichtung wurden wohl noch weit ins späte Mittelalter, ins 15., vielleicht sogar bis ins 16. Jahrhundert hinein mündlich tradiert.¹⁷⁶ Die Dietrichepik ist in dieser Hinsicht ein notorisch schwieriger Fall. Florian Kragl hat sehr einleuchtend dafür plädiert, sich von einem „unilineare[n] Evolutionsmodell“ im Sinne der These von einer ‚ersten‘ und einer ‚zweiten Literarisierung‘ zu verabschieden.¹⁷⁷ Michael Curschmann und, im Anschluss an ihn, Cordula Kropik haben diese These in etwa so entwickelt:¹⁷⁸ In der Phase einer ‚ersten Literarisierung‘ wird die vorliterarische Mündlichkeit der heroischen Überlieferung in einer Weise ‚in Buchstaben gebracht‘, die im Schriftlichen mündliche Erzähltechniken nachahmt und ausstellt (was dann zu dem schon genannten Widerspruch führt, dass fingierte Mündlichkeit in einer oralen Kommunikationssituation keinen rechten Sinn ergibt).¹⁷⁹ Dem folgt dann eine Phase schriftliterarischen Erzählens, die einerseits

 Zum sich daraus ergebenden Nebeneinander zwischen mündlicher heroischer Überlieferung und schriftlicher Heldenepik siehe ausführlich Kragl 2013, bes. S. 20 – 30.  Kragl 2013, S. 503.  Vgl. zu dem folgenden, zugegebenermaßen zugespitzten, Resümee Michael Curschmann: Zu Struktur und Thematik des Buchs von Bern. In: PBB 98 (1976), S. 357– 383; Cordula Kropik: Reflexionen des Geschichtlichen. Zur literarischen Konstituierung mittelhochdeutscher Heldenepik. Heidelberg 2008 (Jenaer Germanistische Forschungen, N. F. 24), S. 187– 197, 304 f. u. ö.; dazu die Kritik von Kragl 2013, S. 502– 504.  Siehe oben, S. 150, Anm. 106, mit dem Hinweis auf Glauch 2009, S. 41.

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dadurch gekennzeichnet ist, dass sie auf schon buchepischen Entwürfen beruht und diese durch Einflüsse aus anderen Gattungen anreichert; andererseits durch ein Oszillieren zwischen fortgesetzter Historizitätsbehauptung der eigenen Überlieferung und relativ freiem Umgang mit dem verfügbaren Erzählmaterial (‚zweite Literarisierung‘). Anstelle eines solchen Zwei-Stufen-Modells muss man wohl von einer anhaltenden Omnipräsenz der Mündlichkeit ausgehen, bei der die Texte nicht aufeinander aufbauen, sondern in immer neuen Anläufen Mündliches in Schriftliches übersetzt wurde. Aber selbstverständlich wurde dabei immer auch Rücksicht auf das schon Schriftgewordene genommen, und das bedeutet: Rücksicht nicht nur auf das, was an schriftlichen Texten über Dietrich von Bern im Umlauf war, sondern Rücksicht auch auf mit der Verschriftlichung einhergehende (und durch sie teils bedingte) Standards der kohäsionellen Organisation eines Textes.¹⁸⁰ Das dürfte zumindest ab dem Zeitpunkt gelten, ab dem Schriftlichkeit sich in einer Gesellschaft – ungeachtet fortbestehender Residuen der Mündlichkeit – als ‚Leitmedialität‘ durchgesetzt hat. Im deutschsprachigen Bereich ist das mit dem späten Mittelalter der Fall. Dass es dabei immer auch zu Interferenzen zwischen eher vokal-auralen und eher skripturalen Formen kommen kann, liegt auf der Hand. Die in der Dresdner Fassung E7 bewahrte Gestalt der Helferich-Strophe mit ihrem merkwürdigen Durcheinander aus offenkundig älterem und jüngerem Material könnte dafür ein Beleg sein.¹⁸¹ Die Veränderungen, die sich an der Helferich-Strophe des ‚Eckenlieds‘ über einen Zeitraum von etwa dreihundert Jahren beobachten lassen, scheinen mir  Ich spreche dabei bewusst von ‚Verschriftlichung‘, nicht von ‚Verschriftung‘, weil ich glaube, dass diese auf Wulf Oesterreicher: ‚Verschriftung‘ und ‚Verschriftlichung‘ im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Hrsg. von Ursula Schaefer. Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267– 292, zurückgehende Differenzierung zwischen gewissermaßen mechanischer und konzeptueller Schriftwerdung theoretisch fruchtbar, aber praktisch kaum je in Reinform anzutreffen ist. Wer einmal versucht hat, etwas mündlich Erinnertes aus dem Gedächtnis schriftlich niederzulegen, wird aus Erfahrung wissen, wie leicht dabei schriftspezifische Verfahren der Textgestaltung sich einstellen und bewusst zurückgehalten werden müssen; ähnlich auch Müller 2017, S. 35, mit der Feststellung, dass „die theoretisch gebotene Unterscheidung zwischen ‚Verschriftung‘ und ‚Verschriftlichung‘ im konkreten Fall oft kaum möglich [ist].“  Die Verse 7 f. und 11 in E7 stimmen zu Version E1, V. 9 hingegen zu E2, mit der E7 auch die Reimstruktur teilt, in der die alten Langzeilen aufgegeben und durch eine Kreuzreimgruppe (V. 7– 10) mit anschließender Waisenterzine (V. 11– 13) ersetzt sind. Die Spekulation wird noch reizvoller, da wir aufgrund des erst 1926 veröffentlichten Bruchstücks E3 aus dem ältesten erhaltenen Heldenbuch wissen, dass das ‚Dresdner Eckenlied‘ E7 zumindest teilweise bis in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts und vielleicht noch weiter zurückreicht, also durchaus ursprüngliches Material enthalten kann; siehe Heinzle 1999, S. 110, 117.

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Kohärenz und Konnektivität

insofern nicht (nur) durch die einmal mehr, einmal weniger gelungene Adaptation eines formalen Modells – von der Langzeilenstrophe, auf die der Codex Buranus hindeutet, zur Kanzonenform des Bernertons – bedingt zu sein.¹⁸² Sie machen exemplarisch das Bemühen deutlich, eine ältere, kohäsionell lockerere Fügung, die schon formal ihren Ursprung in der Mündlichkeit heroischen Erzählens hat, textgrammatisch zu verdichten und damit, ohne dass wir das präzise datieren könnten, an schriftliterarische Kohärenzstandards heranzuführen (in E2 durch appositionelle Integration – da si anander funden, / her Dietherich und der kuͤne man, / wol an den selben stunden – statt parataktischer Juxtaposition in E1, in e1 durch perspektivische Vereinheitlichung).¹⁸³ Das muss weder immer zu gelungenen Ergebnissen führen, noch bedeutet es, dass die jüngeren Versionen nicht mehr laut vorgetragen wurden. Es heißt nur, dass in der späteren Überlieferung auf der mikrostrukturellen Ebene der Textkonstitution Formen partiell aufgegeben sind, von denen wir annehmen können, dass sie im Hören besser funktionierten als im Lesen. Hörrezeption ist mehr als auf mikrostrukturelle Kohärenz auf die deutliche Markierung von Erzählvordergrund und -hintergrund bzw. der narrativen Progression angewiesen. Im Hinblick auf die Textoberfläche kann sie hingegen auf textsyntaktische Verbundenheit und referentielle Eindeutigkeit eher verzichten als (stille) Leserezeption, weil Gehörtes kognitiv anders modelliert – und visualisiert – wird als Gelesenes.

 Mit der Entwicklung zur Kanzonenstrophe wurde insbesondere der Schluss von V. 9 (her Dietrich rait mit mannes chrafft) der Fassung E1 zum Problem. In der Langzeile der Anvers und ohne Reimsilbe (als vinster was der tan, da si anander funden. / her Dietrich rait mit mannes chrafft den walt also unchunden), musste er nun, im Rahmen des siebenzeiligen Verskomplexes B (V. 7– 13), in die Kreuzreimgruppe der Verse 7– 10 eingepasst werden. Vor allem daran scheinen sich die Bearbeiter der späteren Versionen abzuarbeiten, wenn sie das Wort chrafft tilgen und stattdessen Lösungen mit man (E2, E7) oder lan (e1) versuchen.  Zu nominalphrasenformatigen Konstruktionen als Beispiel eines Typs der Apposition, der bevorzugt in geschriebener Sprache vorkommt, siehe Horst Raabe: Apposition. Untersuchungen zum Begriff und zur Struktur der Apposition im Französischen unter weiterer Berücksichtigung des Deutschen und Englischen. Tübingen 1979 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 119), S. 136 f.

5 Logiken der Handlungsdarstellung Die Unverbundenheiten und Unabgestimmtheiten, die sich in mittelalterlichen Erzählungen beobachten lassen, betreffen nicht nur ihre Oberfläche. Sie betreffen nicht nur die Ebene der Zeichen und ihrer Verknüpfung, sondern auch und gerade die Ebene der Inhalte oder – wenn man sich dieser, der generativen Transformationsgrammatik Noam Chomskys entlehnten, Metapher aus Gründen der Anschaulichkeit bedienen will – ihre Tiefenstruktur. Tatsächlich stellen mittelalterliche volkssprachige Erzähltexte uns im Hinblick auf ihre inhaltlich-thematische Kohärenz vielfach vor größere Verständnisschwierigkeiten als hinsichtlich ihrer textgrammatischen Kohäsion. In diesem Kapitel soll es um Fragen der Kohärenz auf dieser Makroebene gehen, die von der Mikroebene der Satz- und Sequenzstrukturen, um die es im vierten Kapitel ging, nicht unabhängig ist, aber einen anderen Blick verlangt: einen Blick, der stärker auf die semantischen, pragmatischen und kognitiven Beziehungen zwischen den Erzähleinheiten eines Textes und damit auf narrative Einheiten größerer Ordnung in ihrem logischen Verhältnis zueinander gerichtet ist. Wenn heutige Interpreten an mittelalterlichen Erzähltexten einen Mangel an syntagmatischer Kohärenz feststellen, das heißt an einer plausibel erscheinenden Verknüpfung der Textelemente in ihrer linear-sukzessiven Ordnung, so ist das vor allem auf diese Makroebene von Erzählung gemünzt: Begonnene, aber nicht zu Ende geführte Handlungsstränge, überflüssig oder dysfunktional wirkende Plotelemente, einander logisch ausschließende Textangaben, ‚blinde‘ Motive – solche Phänomene, die auf der histoire-Seite, dem ‚Was‘ der Erzählung, siedeln, sind es insbesondere, die den Eindruck vermitteln, im Text nacheinander auftretende Elemente seien semantisch-thematisch nicht schlüssig aufeinander bezogen. Dergleichen Textverhältnisse lassen sich, zumindest vom Standpunkt abstrakter Logik aus, als Widersprüche beschreiben, und die Forschung beschäftigt nicht erst seit heute die Frage, wie sie zu bewerten oder zu erklären sind.¹ Das Interessante an dieser Frage ist nicht nur, ob es sich bei den betreffenden Phänomenen um tatsächliche oder vermeintliche Widersprüche handelt, sondern mindestens ebenso sehr, von welchem Textverständnis und welcher Perspektive auf mittelalterliche Textualität wir ausgehen, wenn wir sie als ‚Widersprüche‘ bezeichnen. In dieser autoreflexiven Wendung liegt vielleicht der eigentliche Er-

 Die Frage ist aber mit dem neuen Interesse an einer historischen Narratologie zu einer solchen geworden, die nicht nur okkasionell, sondern systematisch gestellt wird: siehe etwa den Aufsatz von Lienert 2017, der nach dem „Widerspruch als Erzählprinzip“ der Vormoderne fragt; ebenso schon Schulz 2012, S. 348 – 350. https://doi.org/10.1515/9783110593105-006

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kenntniszugewinn, den wir uns von der Frage nach dem Widerspruch als „Prinzip“ (Elisabeth Lienert) vorneuzeitlichen Erzählens versprechen können.² Wo mittelalterliche Texte nach heutigen Maßstäben an linearem Zusammenhalt zu wünschen übrig lassen, da stellen sie sich als schlichtes Nacheinander kleinerer, nur partiell miteinander verbundener Erzählteile dar. Diese „Tendenz zur kleinen Einheit“ (Franz Quadlbauer) kennzeichnete schon das stiltheoretische Denken der Zeit und drückte sich hier unter anderem im eher mikrostrukturellen Fokus der gelehrten lateinischen Poetik aus.³ Die mediävistische Literaturwissenschaft hat dieselbe Tendenz für die weltlich-volkssprachige Textualität des 12. und 13. Jahrhunderts beobachtet und auf unterschiedliche, im Großen und Ganzen aber doch vergleichbare Weise beschrieben. Ich will nur drei Stellungnahmen herausgreifen: Am Beispiel der Dietrichepik wies etwa Joachim Heinzle schon 1978 darauf hin, dass mittelhochdeutsche Epen und Romane dazu neigten, stärker punktuell zu erzählen, als heutige Leser es aus dem Erzählen in der Tradition der Goethezeit und des 19. Jahrhunderts gewohnt sind. Heinzle wertet Unstimmigkeiten, offenkundige Lücken oder Widersprüche im Erzählen von Dietrich von Bern als „Stilphänomen im weiteren Sinne“:⁴ Sie sind Ausweis einer „Punktualität der Darstellungsweise“ und „strukturellen Offenheit“ der Texte, die sich zwar gattungsabhängig verdichtet beobachten lässt (z. B. in dem aus mündlicher Überlieferung kommenden, heldenepischen Erzählen), aber nicht gattungsspezifisch ist.⁵ „Wir kennen“, so Heinzle, diese Punktualität der Darstellung aus der Episodenstruktur des höfischen Romans ebenso wie etwa aus der Bilderbogentechnik des ‚Nibelungenliedes‘, in dem es ganz offenbar auf die einzelne Szene, die einzelne Gebärde mehr ankommt als auf die logische Geschlossenheit der Handlungszusammenhänge.⁶

 Der Widerspruchsbegriff kann dabei in doppelter Weise verstanden werden. Elisabeth Lienert: Einleitung. In: Lienert (Hrsg.), Poetiken des Widerspruchs in vormoderner Erzählliteratur. Wiesbaden 2019 (Contradiction Studies), S. 1– 19, hier S. 1, differenziert ihn „als Widerrede, Einspruch einerseits; als logische, sachliche oder diskursive Unvereinbarkeit andererseits“; siehe auch Lienert 2017, S. 80 f.Wenn hier von ‚Widersprüchen‘ die Rede ist, dann in ersterem Sinne, also „als Inkonsistenzen in der Erzähllogik“ und „sich widersprechende doppelte oder multiple Sinnkonstitution“ (Lienert 2019, S. 1).  In diesem Sinne auch Schultz 1989, S. 79: „[T]he fluctuating numbers in ‚Kudrun‘, the implausible speech of Tristan, and the teachings of the poetic treatises all have this in common: they share the same concern with the elaboration of individual elements and the same disinterest in the coherence of the whole.“  Heinzle 1978, S. 170 – und „Stilphänomen“ heißt in diesem Zusammenhang auch „Ausfluß eines bestimmten Stilwillens“ (S. 173).  Heinzle 1978, S. 171, 231 u. ö.  Heinzle 1978, S. 170.

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In jüngerer Zeit hat Markus Stock in ähnlichem Zusammenhang von nur „partikularen Bindung[en]“ in mittelalterlichen Erzähltexten gesprochen. Mit dem Begriff der „partikularen Bindung“ weist er auf Formen der Szenengestaltung hin, bei denen immer nur partiell und nie so, dass es die Struktur des Textes zur Gänze prägen würde, die Anbindung an vorgegebene Handlungs- oder Sinnbildungsmuster aus der literarischen Tradition gesucht wird.⁷ Wenn Stock dies an Ulrichs von Etzenbach Alexanderroman vorführt, so bestätigt das nur Heinzles Behauptung, dass Punktualität und Partikularität der Darstellung keineswegs vorneweg auf bestimmte Gattungen oder Textreihen beschränkt sind. In diesem Sinne hat unter anderem Jan-Dirk Müller Stocks Begriff aufgenommen und damit neuzeitliche Erwartungen an die Ganzheit und Geschlossenheit literarischer Texte einschließlich entsprechender Kohärenzerwartungen relativiert: ‚Ganzheit‘ sei keine Kategorie der mittelalterlichen Literatur, wobei Müller mit Recht anmerkt, dass es in dieser Hinsicht ein nicht unerhebliches ästhetisches Gefälle gebe, und zwar sowohl zwischen den Gattungen als auch gattungsintern. Im Bereich des höfischen Erzählens etwa stehen auf der einen Seite ästhetisch anspruchsvolle und durchgeformte Texte wie, am Ende des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts, diejenigen Hartmanns, Wolframs oder Gottfrieds; auf der anderen Seite weniger anspruchsvolle und weniger durchgestaltete wie etwa die ‚Gute Frau‘ oder ‚Mai und Beaflor‘.⁸ Vor dem Hintergrund dieses Partikularitätsbefundes entwickelt Müller sein Konzept der ‚Erzählkerne‘, worunter er narrative Verdichtungen bestimmter imaginärer Konstellationen, zeithistorischer Problemlagen und Faszinationstypen versteht, aus denen dann verschiedene erzählerische Konfigurationen entwickelt werden könnten.⁹ ‚Erzählkerne‘ in diesem Sinne sind Themen, die mit bestimmten narrativen Verläufen verknüpft werden, zum Beispiel das Thema ‚Name‘ mit ‚Namensuche‘ oder auch ‚Verweigerung des Namens‘; sie führen zur Ausbildung narrativer Teilstrukturen, ohne dass die Texte dabei um eine vollständige Integration aller (Teil‐)Elemente, „manchmal nicht einmal um Widerspruchsfreiheit [bemüht]“ sein müssten.¹⁰ Die Partikularität mittelalterlichen Erzählens wird also entweder als ein stilistisches Phänomen beschrieben (Heinzle); oder weniger als ein stilistisches, im Sinne eines intentional eingesetzten Erzählverfahrens, denn formal-kompositorisches (Stock); oder auch als

 Stock 2000, bes. S. 408.  Vgl. Müller 2007, S. 39.  Müller 2007, bes. S. 6 – 45; für die Bestimmung des Begriffs ‚Erzählkern‘ siehe hier, S. 22: „‚Erzählkern‘ nenne ich die regelhafte Verknüpfung eines Themas bzw. einer bestimmten thematischen Konstellation […] mit einem narrativen Potential, aus dem verschiedene narrative Konfigurationen generiert werden können.“  Müller 2007, S. 39.

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ein primär thematisches, wenn auch mit formhistorischen Auswirkungen (Müller). Die Frage, die sich an diesen, wie auch immer zu beschreibenden, Befund einer Tendenz zur kleinen Einheit anschließt und der dieses Kapitel gilt, lautet: Wie organisiert ein Erzählen, das nicht an Ganzheit, sondern an partikularen Bindungen und Teilstrukturen unterschiedlicher Reichweite ausgerichtet ist, Kohärenz inhaltlich-thematisch? Die historische Erzählforschung, besonders die germanistisch-mediävistische, hat in diesem Zusammenhang verschiedene Modelle entwickelt, die, indem sie alternative Verfahren der Kohärenzbildung postulieren, die Herausforderungen zu bewältigen versuchen, vor die vorneuzeitliches Erzählen moderne Schlüssigkeitserwartungen stellt. Die Ansätze sollen im Folgenden kurz vorgestellt und systematisiert werden (wobei ich bewusst ein wenig vereinfache und vereindeutige). Auf der einen Seite stehen Modelle, die handlungslogisch ausgerichtet sind. Dazu zählen insbesondere Ansätze, die auf unterschiedliche Arten der Motivierung abheben. Prominenz hat in diesem Zusammenhang vor allem das Konzept der retroaktiven Motivation erlangt. Formuliert wurde es von Clemens Lugowski in seiner 1932 erschienenen Studie ‚Die Form der Individualität im Roman‘, bekannter aber erst mit Lugowskis Wiederentdeckung für die (mediävistische) Germanistik seit den 1980er- und 1990er-Jahren.¹¹ Mit seinem Begriff der ‚Motivation von hinten‘ zielte Lugowski auf das Resultathafte des spätmittelalterlichen Prosaromans. Geschehensmotivation erfolge hier nicht als kausale oder „vorbereitende Motivation“, das heißt als Abfolge sich wechselseitig bedingender Geschehensabläufe, wobei das eine das jeweils nächste begründe; sondern ein Ereignis oder Erzählelement erhalte seine Rechtfertigung erst im Blick auf das gewissermaßen hinter ihm liegende Ergebnis.¹²

 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Hildesheim/New York 1970 [1932] (Neue Forschung 14); zur ‚Wiederentdeckung‘ vgl. etwa Müller 1985, S. 92– 98, und dann vor allem Müllers Analyse von Motivationsstrukturen im ‚Nibelungenlied‘ mit Hilfe von Lugowskis Begriff der ‚Motivation von hinten‘: Jan-Dirk Müller: Motivationsstrukturen und personale Identität im ‚Nibelungenlied‘. Zur Gattungsdiskussion um ‚Epos‘ oder ‚Roman‘. In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985. Hrsg. von Fritz Peter Knapp. Heidelberg 1987, S. 221– 256, und Müller 1998, S. 46 f., 74– 78 u. ö. Eine Bestandsaufnahme zur Theorie des Formalen Mythos, die hinter Lugowskis Beschreibung der Erzählform im spätmittelalterlichen Prosaroman steht, bietet Matías Martínez (Hrsg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Paderborn u. a. 1996 (Explicatio 7).  Siehe Lugowski 1970, S. 73 – 89, zusammenfassend S. 83. Die Konzepte der ‚Motivation von vorne‘ bzw. ‚von hinten‘ wurden von Björn Michael Harms: Narrative ‚Motivation von unten‘. Zur Versionenkonstitution von ‚Virginal‘ und ‚Laurin‘. Berlin/Boston 2013 (Texte und Studien zur

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Die „Bedeutung des Ergebnismoments“¹³ verdeutlicht Lugowski unter anderem am Beispiel der Prosahistorie des ‚Ritter Galmy‘ (1539), der lange Zeit als ein Frühwerk Jörg Wickrams angesehen wurde.¹⁴ Die britannische Herzogin, die dem Ritter Galmy aus Schottland in heimlicher Liebe verbunden ist, droht, während ihr Mann, der Herzog, sich auf einer Jerusalemfahrt befindet, Opfer einer Hofintrige zu werden. Diese bringe die Herzogin, so Lugowski, fast auf den Scheiterhaufen; doch werde zugleich innerhalb der Handlung bereits im 22. der insgesamt 59 Kapitel durch die erzählerseitige Auslegung eines Traums der Herzogin der glückliche Ausgang der Handlung vorweggenommen: Galmy, der der Träumerin als theüre[r] und Edle[r] Loͤwe[] (S. 90, Z. 33 f.) erscheint, wird in einem Gerichtskampf den intriganten Marschall – im Traum ein freysam wuͤtend ber (S. 90, Z. 35) – töten, auf diese Weise der Herzogin nicht nur Leben, sondern auch Ehre retten und sie, als der Herzog stirbt, heiraten.¹⁵ Mit dieser Vorwegnahme werde „die Spannung des ‚Ob überhaupt‘“ weitgehend getilgt und „die wirkliche ‚Entwicklung‘ der Dinge“, anders gesagt: ihre kausal begründete ‚Auseinanderfolge‘ schon früh in der Erzählung zugunsten des Ergebnisses (oder, wie es in einem dem Roman vorangestellten Argument selbst heißt, ihres außgang[s]) entkräftet, entwertet, wird ihr der Ernst, das Gefährliche, Ungewisse, Zeithafte genommen, sie wird zur bloß physischen Realität, hinter der die ‚metaphysische‘ Sphäre zeitlosen Seins im Ergebnis des glücklichen, befriedeten Daseins absolut gesichert ruht […].¹⁶

Proleptische Elemente, wie im ‚Galmy‘ die Traumerzählung, stellen die Ergebnishaftigkeit einer Handlungsdarstellung in besonderer Weise aus, indem sie das Resultat vorwegnehmend explizieren. Doch kann das antizipatorische Moment der ‚Motivation von hinten‘ auch mehr impliziter Natur sein. Von retroaktiver Motivation durch das Ergebnis oder den (finalen) Zweck lässt sich immer dann sprechen, wenn Situationen sich „nach ‚Bedarf‘ der Handelnden“ oder der Handlung einstellen.¹⁷ Als ein Beispiel aus dem ‚Nibelungenlied‘ hat Jan-Dirk Müller in diesem Sinne die Motivierung des Ausbruchs der Kampfhandlungen an

mittelhochdeutschen Heldenepik 7), noch um die Vorstellung einer ‚Motivation von unten‘ ergänzt.  Lugowski 1970, S. 81.  So auch von Lugowski; begründete Zweifel an der Autorschaft erhob Dieter Kartschoke: Ritter Galmy vß Schottenland und Jörg Wickram aus Colmar. In: Daphnis 31 (2002), S. 469−489.  Vgl. Georg Wickram: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Bd. 1: Ritter Galmy. Berlin 1967 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts [1]), S. 89 – 91.  Lugowski 1970, S. 80 f.  Kurt Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 1: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue. 2. Aufl. Berlin 1977 (Grundlagen der Germanistik 7), S. 114.

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Etzels Hof im zweiten Teil des Epos interpretiert. Während diese ‚von vorne‘ durch den Überfall der Hiunen auf den burgondischen Tross in Gang gesetzt würden (der Überfall provoziert einen Gegenschlag), stelle der Umstand, dass der Hiunenprinz Ortliep das erste Opfer des Gegenschlags sei, eine ‚Motivation von hinten‘ dar. Der Hiunenprinz „muss da sein“, da der Gegenschlag ein möglichst prominentes Opfer brauche, damit der Konflikt nicht mehr beizulegen sei.¹⁸ Dabei geht es Lugowski und der an ihn anschließenden Forschung mit Konzepten wie demjenigen der ‚Motivation von hinten‘ nicht nur um die Beschreibung konkurrierender Motivationslogiken in mittelalterlich-frühneuzeitlichen Erzähltexten – einerseits kausal-proaktive, andererseits final-retroaktive Motivation –, sondern ebenso um die weitergehende Frage nach historisch anderen Formen der kognitiven Modellierung von Kausalität bzw. Ursache-Wirkung-Beziehungen. Viel Beachtung hat in diesem Zusammenhang die Vorstellung eines metonymischen Erzählens gefunden. Angedeutet findet sie sich schon, und zwar am Beispiel des ‚Tristan‘, in James A. Schultz’ Bemerkungen zur Kohärenz mittelhochdeutscher Erzähltexte von 1989.¹⁹ Systematisch ausformuliert aber haben sie in mehreren, teilweise gemeinsam verfassten Aufsätzen vor allem Harald Haferland und Armin Schulz.²⁰ Kurz gesagt, geht es dabei um Formen der Verknüpfung zwischen Handlungselementen, die nicht auf motivationalen oder Ursache-Wirkung-Verhältnissen beruhen, sondern auf einer wie auch immer – sachlich, räumlich, zeitlich etc. – gearteten Berührung (‚Kontiguität‘) oder Verschmelzung. Ein einfaches Beispiel, erneut aus dem ‚Nibelungenlied‘, ist für Haferland und Schulz die Ankunft Sivrits und seiner elf Begleiter in Worms in der dritten Aventiure. Motiviert erscheint sie als Bestandteil einer Werbungshandlung: Sivrit möchte in Worms um Kriemhilt, die Tochter des Burgondenkönigs Gunther,

 Müller 1998, S. 75 – 78, das Zitat S. 76; siehe zum Konzept der retroaktiven bzw. Finalmotivation und seinem Verhältnis zur sogenannten kompositorischen Motivation auch unten, S. 251– 253.  So erklärt Schultz 1989, S. 78 f., den an sich höchst unwahrscheinlichen Umstand – Schultz nennt ihn „absurd“ (S. 78) –, dass Tristan sich allein aufgrund der Namensidentität mit der blonden Isolde in Isolde Weißhand verliebt, mit einer metonymischen Operation des Erzählers: „The whole thing is based on a fundamental metonymy, in which the name Isolde is taken for the person, and a relentless traductio, the repetition of that name“ (S. 79).  Harald Haferland: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden. In: Euph. 99 (2005), S. 323 – 364; Haferland 2008 und 2009; Harald Haferland/Armin Schulz: Metonymisches Erzählen. In: DVjs 84 (2010), S. 3 – 43; für eine kritische Bestandsaufnahme Cordula Kropik: Metonymie und Vormoderne. Zur kulturgeschichtlichen Verortung einer Denkfigur. In: Poetica 44 (2012), S. 81– 112; Jan-Dirk Müller: Einige Probleme des Begriffs ‚Metonymisches Erzählen‘. In: Poetica 45 (2013a), S. 19 – 40.

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werben. Als er eintrifft, erkennt ihn niemand, außer Hagen, der in Form einer Binnenerzählung die heroische Vergangenheit Sivrits mit der Horteroberung und dem Drachenkampf erzählt (Str. 84– 101). In der Begrüßungsszene allerdings führt Sivrit sich nun keineswegs wie ein höfischer Werber ein, sondern äußerst aggressiv. Die bekannten Verse, an Gunther gerichtet, lauten in der Handschrift B: Nv ir sit so chne, als mir ist geseit, sone rch ich, ist daz iemn lieb od leit, ich wil an iv ertwingen swaz ir mvget han; lant vnde bvrge, daz sol mir werden vndertan. (Str. 108 [110]) Wenn ihr also so kühn seid, wie mir gesagt wurde, / dann ist mir gleich, ob das jemandem gefällt oder nicht: / Ich werde euch mit Gewalt abnehmen, was auch immer ihr besitzt; / euer Land und eure Burgen, die sollen mir untertan werden.

Vom Standpunkt linearkausaler Handlungsmotivation aus ist das wenig plausibel: Stellt man sich so seinem Schwiegervater in spe vor? Hier setzt der Erklärungsansatz des metonymischen Erzählens ein. Sivrit, so Schulz, trete in Worms als Heros auf – und damit genau so, wie Hagen es in seiner Wiedergabe der heroischen Jugendabenteuer Sivrits eben erzählt habe. Sivrits Ankunft erfolge unter dem Thema des ‚Heros-Seins‘. Metonymisch sei dieses Erzählen insofern, „als ‚Heros-Sein‘ zugleich eine Eigenschaft ist, die an die Figur Sivrits (und hier auch an diejenige Hagens) gebunden ist. Dieses Konzept steht hier im Vordergrund der Erzählung und drängt alles andere zurück.“²¹ Metonymisches Erzählen zielt demgemäß nicht auf die mimetische Darstellung potentieller Geschehensverläufe in realen oder möglichen Welten, sondern auf ‚präsentative Symbolifikation‘ (Karl Bertau): ein „narrative[s] Vor-Augen-Stellen[] von Sachverhalten in erzählerischen ‚Verkörperungen‘, wobei die jeweiligen Szenen nicht notwendig durch Beziehungen von Ursache und Folge verbunden sein müssen, sondern durchaus auch rein assoziativ – genauer: metonymisch – miteinander verknüpft sein können“.²²

 Schulz 2012, S. 335; siehe auch ders.: Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im ‚Nibelungenlied‘ und in der ‚Kaiserchronik‘. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (TMP 19), S. 339 – 360, bes. S. 348 – 351; Haferland/Schulz 2010, S. 23 – 25.  Schulz 2012, S. 335; hier auch der Bezug auf Bertau 1983, S. 81– 84, und den Begriff der ‚präsentativen Symbolifikation‘. Ähnliche Überlegungen stellte bereits Müller in seinem ‚Nibelungenlied‘-Buch an, um einen Erzählgestus zu beschreiben, bei dem auf die klare Verortung der Handlungselemente in einem raumzeitlichen Kontinuum zugunsten variierender Doppelung und assoziativer Reihung verzichtet und auf diese Weise Komplexität erzeugt wird: „Dem Hörer wird nicht auseinandergesetzt, wie man von einem Zustand zum nächsten gelangt, sondern ihm werden zwei Bilder gezeigt, die, übereinanderkopiert, das Ganze ausmachen“ (Müller 1998,

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Vor allem Haferland versteht das metonymische Erzählen dabei nicht nur als einen narrativen, sondern zugleich einen kognitiven Modus, als eine Denkform, die nicht spezifisch mittelalterlich ist, dort aber, und zwar auch außerhalb literarischer Diskurse, eine besondere Rolle gespielt habe. Metonymisches Erzählen entspricht in dieser Sicht einem affektlogischen Denken, in dem Gegenstände oder Personen für ein Ereignis verantwortlich gemacht werden können, wenn sie nur irgendwie – metonymisch, als Pars pro toto – mit der eigentlichen Wirkursache in Verbindung stehen (z. B. der Überbringer einer schlechten Nachricht mit deren Urheber, mit der Folge, dass der Zorn sich gegen den Boten richtet).²³ Die einzelnen Relationsglieder wachsen oder fallen hier nach den Prinzipien der Konkreszenz oder Koinzidenz in einer Weise zusammen, wie sie Ernst Cassirer für das mythische Denken als charakteristisch ansah, wo „noch alles aus allem werden [kann], weil alles mit allem sich zeitlich oder räumlich berühren kann.“²⁴ Neben handlungslogisch ausgerichteten Modellen der Beschreibung alternativer Kohärenzbildungsverfahren in vorneuzeitlichem Erzählen – Modellen also wie der ‚Motivation von hinten‘ oder des ‚metonymischen Erzählens‘ – stehen solche, die auf bestimmte Formen der Sinnkonstitution abheben; die also, anders gesagt, weniger handlungslogisch als vielmehr semantisch oder bedeutungslogisch ausgerichtet sind. Hierzu rechnet insbesondere das Konzept des paradigmatischen Erzählens. Es wird, zumindest im deutschsprachigen Raum, fast immer mit dem Namen Rainer Warnings verbunden. Der Sache nach findet es sich schon früher in der angloamerikanischen Literatur,²⁵ wurde aber von Warning in einem besonderen Sinne ausgearbeitet, und dies zunächst gar nicht einmal für mittelalterliche Erzähltexte, sondern für Romane des französischen Realismus (Balzac, Flaubert) und den Nouveau Roman. ²⁶ Spezifisch vorneuzeitlich ist ein

S. 140). Allerdings stellt Müller 2013a, S. 23 f., die Frage, ob ein Erzählen, das sich, wie in der dritten Aventiure des ‚Nibelungenlieds‘, thematische (und darunter auch metonymische) Bezüge zunutze macht, selbst schon ‚metonymisch‘ genannt werden kann oder ob das nicht eine unnötige Ausweitung und Aufweichung des Metonymiebegriffs bedeutet. Lieber möchte Müller von einem aggregativen Nebeneinanderstellen durch thematische Äquivalenzen miteinander verbundener Erzählelemente sprechen (ebd., S. 40).  Siehe vor allem Haferland 2008.  Cassirer 1953, S. 61 (Hervorheb. im Original).  So spricht schon Jonathan D. Evans 1986, S. 138, in Bezug auf die Episodizität mittelalterlichen Erzählens von einer „paradigmatic axis of the syntax of medieval episodes“ (Hervorheb. im Original).  Zuerst in Warning 2001, dann, teilweise wiederholend, in Rainer Warning: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im ‚Tristan‘. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hrsg. von Gerhard Neumann/Rainer Warning. Freiburg i. Br. 2003 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 98), S. 175 – 212.

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‚Erzählen im Paradigma‘ – so die Begriffsprägung Warnings – demnach nicht. Im Gegenteil sieht er darin eine Form, die erst in der Moderne vorherrschend geworden sei, wenn auch die Bereitwilligkeit, mit der das Konzept von der literaturwissenschaftlichen Mediävistik, angeregt durch Warnings ‚Tristan‘-Aufsatz, aufgenommen wurde, den gegenteiligen Eindruck erwecken kann.²⁷ Als kleinster gemeinsamer Nenner paradigmatischer Erzählkonzepte lässt sich angeben, dass sie allesamt von der Beobachtung ausgehen, dass die Wahrnehmung narrativer Kohärenz auf Wiederholungsbeziehungen beruht.²⁸ Entscheidend ist dann freilich, wie diese Beziehungen jeweils gestaltet sind. Als ‚paradigmatisch‘ werden narrative Strukturen der Wiederholung beschrieben, bei denen Kohärenz, wenn überhaupt, dann durch die Vergleichbarkeit oder „funktionale Äquivalenz“²⁹ verschiedener Abschnitte (oder Episoden) ein und derselben Erzählung hergestellt wird, das heißt durch kata- und anaphorische Beziehungen zwischen den jeweiligen Erzählelementen. Dem syntagmatischteleologischen Erzählen soll ein „Erzählen im Zeichen der Episodizität, der Reihung, der variierenden Wiederholung“ entgegengesetzt werden, das mittels narrativer Sinnbildung auf eine „Synthese des Heterogenen“ abzielt.³⁰ Musterhaft umgesetzt erscheint ein solches narratives Prozessieren im Paradigma in den ‚Tristan‘-Erzählungen, genauer: in der Serie der Ehebruchsschwänke und Rückkehrabenteuer, die auf die Begegnung Tristans mit Isolde Weißhand folgen. In variierender Weise erzählen diese Abenteuer, wie Tristan in verschiedenen Verkleidungen, als Aussätziger, Pilger, fahrender Spielmann, Narr, wieder und wieder zu der anderen, der blonden Isolde zurückkehrt und sich Zugang zu ihr zu verschaffen sucht. In der Überlieferung – nicht bei Gottfried, der diese Episoden nicht mehr erzählt hat, sondern bei Eilhart, Ulrich von Türheim, Heinrich von Freiberg, aber auch bei Thomas von Britannien und in der von ihm abhängigen nordischen Saga-Fassung – ist auffällig, dass diese Episoden in unterschiedlicher Reihenfolge dargeboten werden. Sie erscheinen also austauschbar. Wenn man mit Jurij M. Lotmann die Sujethaltigkeit eines Textes nach der  Warning 2001, S. 180; zur germanistisch-mediävistischen Rezeption siehe nur Julia Richter: Spiegelungen. Paradigmatisches Erzählen in Wolframs ‚Parzival‘. Berlin/Boston 2015 (MTU 144).  Vgl. Schulz 2012, S. 322. Systematisch als ein Prinzip narrativer Kohärenzbildung, das an die Stelle linearer Progression treten kann, beschreibt Wiederholung (in ihren unterschiedlichen Formen und Funktionen) Müller 2017, S. 351– 398; siehe zu Wiederholung als fundamentalem Prinzip mittelalterlicher Literatur und Kultur zudem Ludger Lieb: Wiederholung und Einmaligkeit. Eine Studie zu Wiederholungshandlungen und Erzählstrukturen in Hartmanns ‚Erec‘. Habil. Dresden 2002.  Warning 2001, S. 186.  Warning 2003, S. 179; der Begriff von der „Synthese des Heterogenen“ nach Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer. München 1996 (Übergänge 26), S. 174.

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Überschreitung einer „grundlegenden topologischen Grenze“, dem Übergang über eine, oft räumlich dargestellte, „semantische Grenzlinie“ zwischen verschiedenen Norm- und Wertbereichen bemisst, dann wirkt die Sujethaltigkeit der ‚Tristan‘-Erzählungen in Bezug auf die Rückkehrabenteuer „deutlich reduziert“.³¹ An Stelle der einen großen, sujetkonstitutiven Grenzüberschreitung, auf die die Episoden final hingeordnet wären, steht eine Reihe äußerst ähnlicher Normverstöße, gewissermaßen „Mikrosujets“.³² Was hier – trotz loser, austauschbarer Aufeinanderfolge im Syntagma – Verknüpfung schafft, und das heißt: Kohärenz erzeugt, so das Argument Warnings und anderer, sind paradigmatische Äquivalenzbeziehungen. Anders als in Jakobsons Bestimmung paradigmatischer Äquivalenz in poetischen Texten ist dabei aber nicht an formal vorgegebene Äquivalenzbeziehungen metrisch-prosodischer Art (Versmaß, Reimschema, Strophenbau) gedacht, sondern an thematische und strukturelle, Beziehungen also, die auf einer semantischen Merkmalsgleichheit zwischen den einzelnen erzählten Episoden beruhen.³³ Die genannten Ansätze – seien sie nun stärker handlungs- oder stärker bedeutungslogisch ausgerichtet – sind bestrebt, andersgeartete und, zumindest nach der Deutlichkeit ihres Hervortretens, spezifisch vormoderne Verfahren der Verknüpfung von Handlungseinheiten zu beschreiben. In einer Hinsicht allerdings bleiben sie, so scheint mir, einem modernen Kohärenzdenken verbunden: insofern nämlich, als sie den vogelperspektivischen Blick auf den Text nie ganz aufgeben können, und ‚vogelperspektivisch‘ meint hier eine Sicht, die den Grad des narrativen Zusammenhalts eines Textes letztlich ‚von oben‘, in einer Gesamtschau seiner einzelnen Elemente und der logischen Verhältnisse zwischen ihnen, zu bestimmen versucht (dies trifft für den Fokus auf das Ergebnis in Lugowskis ‚Motivation von hinten‘ ebenso zu wie für die teils weiträumigen thematischen Kontiguitätsrelationen im ‚metonymischen Erzählen‘ oder den Blick des ‚Erzählens im Paradigma‘ auf sich wiederholende Grundmuster im Gesamt einer Episodenreihe). Es handelt sich, etwas neumodisch formuliert, um TopDown-Ansätze, nicht um solche, die die Frage der Kohärenz ‚von unten‘, von der Partikularität mittelalterlichen Erzählens und ihren Bedingungen her entwickeln. Exemplarisch lässt sich das an Armin Schulz’ ‚Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive‘ von 2012 veranschaulichen. Schulz beschreibt darin das mittelalterliche Erzählen als ein solches, „das gerade vom Widerstreit unterschiedlicher  Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 4., unveränd. Aufl. München 1993 (Uni-Taschenbücher 103), S. 338 f.; als „deutlich reduziert“ bezeichnet die Sujethaltigkeit in den ‚Tristan‘Fortsetzergeschichten Schulz 2012, S. 344.  Schulz 2012, S. 345.  Vgl. Warning 2003, S. 182; Schulz 2012, S. 344; zu Jakobson siehe Kap. 2.3, S. 55 – 57.

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Sinnbildungsmuster, Handlungsschemata, Themen, Interaktionsmuster und Anthropologien geprägt ist“, und sieht darin das Wesen seiner Alterität:³⁴ Grundsätzlich geht es darum, daß auf unterschiedlichen Ebenen der Erzählung in der narrativen Abfolge, im Syntagma also, massive Widersprüche erscheinen, wobei diese Widersprüche allerdings als konkurrierende Optionen innerhalb des gleichen übergeordneten Themas verstanden werden können, so daß die Textkohärenz zwar nicht syntagmatisch, jedoch paradigmatisch durchaus gegeben bleibt (v. a. im Blick auf Verfahren metonymischen Erzählens).³⁵

Was Schulz und anderen offenbar vorschwebt, ist eine quasi programmatische, zumindest aber systematische Widersprüchlichkeit mittelalterlichen Erzählens. Wo Widersprüchlichkeit – und damit scheinbare oder tatsächliche Inkohärenz – jedoch als systematisches Proprium des vorneuzeitlichen Erzählens ausgegeben wird, da wird in der Regel zugleich von ästhetischer Intentionalität ausgegangen; es wird dann, zumeist stillschweigend, angenommen, dass die Texte absichtlich und planvoll auf Widersprüchlichkeit und eine Pluralität konkurrierender Sinnoptionen zusteuerten, so dass von einer narrativen Prozessierung von Widersprüchen die Rede sein kann.³⁶ Aus dieser unausgesprochenen Vorannahme speist sich denn auch das Urteil besonderen ästhetischen Raffinements, zu dem die Beobachtung offenkundiger Widersprüche in den Texten bisweilen führt. Als systematisch oder gar programmatisch kann Widersprüchlichkeit in einem Text aber nur begriffen werden, wenn man als Ausgangsgröße den Text als Ganzen ansetzt, also von einer Gesamtsicht des Artefakts herkommt. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sie nicht prozessual entfaltet würde; doch als formale und semantische Struktur im Sinne Schulz’ ergibt solche Widersprüchlichkeit nur Sinn, wenn man den ganzen Text und alle seine „konkurrierende[n] Optionen innerhalb des gleichen übergeordneten Themas“ kennt. Unter den pragmatischen und medialen Bedingungen einer Schriftkultur, in der der Text in aller Regel in Buchform und damit schon materiell-physisch als Gesamtobjekt vorliegt und – was noch wichtiger erscheint – auch dementsprechend rezipiert wird, leuchtet eine solche Sichtweise auch ohne Weiteres ein. Es fragt sich allerdings, ob man von einer solchen Gesamtsicht für die Rezeption mittelalterlicher Texte, besonders solche größeren Umfangs, ausgehen

 Schulz 2012, S. 348.  Schulz 2012, S. 349.  So Schulz 2012, S. 349.

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darf. Die Texte wurden überwiegend gehört, nicht gelesen;³⁷ sie lagen dem Gros der Rezipienten materiell nicht vor. Wenn sie vorgetragen wurden, konnten sie nicht anders als in mehreren Sitzungen vorgetragen werden: welche zeitlichen Abstände mögen dazwischengelegen haben? Kann man davon ausgehen, dass jeder Hörer an allen Sitzungen teilnahm? Gingen die Autoren davon aus, dass alle alles mitbekamen? Texte wurden vorab und in noch unfertigem Zustand verbreitet und rezipiert. Annehmen kann man das etwa für Wolframs ‚Parzival‘, es dürfte aber auch für andere Werke gegolten haben. „Die unsicheren Arbeitsbedingungen“, so Joachim Bumke, denen die Verfasser längerer Epen ausgesetzt waren, die Abhängigkeit der Dichter von den Wünschen der Auftraggeber und des Publikums sowie die Unberechenbarkeit anderer Störfaktoren lassen es als wahrscheinlich erscheinen, daß die umfangreicheren Werke in vielen Fällen nicht auf einmal entstanden sind und daß sie nicht erst nach der Fertigstellung des Ganzen bekannt gemacht worden sind, sondern daß es Frühfassungen, Teilveröffentlichungen,Vortragskladden, Überarbeitungen, Umwidmungen und Parallelversionen gegeben hat.³⁸

Texte konnten auch – wie, wenigstens nach eigenem Bekunden, Veldekes Eneasroman – abhandenkommen, um erst Jahre später fertiggestellt werden zu können. Letzteres wird sicherlich die Ausnahme, aber doch vielleicht auch nicht der einzige Fall dieser Art gewesen sein. Auch die Tatsache alternativer Schlüsse, wie sie etwa für Hartmanns ‚Iwein‘-Roman vorliegen, lässt sich so interpretieren, dass selbst bei Werken oder Werkgattungen, die, wie der mittelalterliche Artusroman, modernen Vorstellungen von Werkgeschlossenheit näher kommen, nicht nur ‚Ganzheit‘ keine Kategorie, sondern auch ‚Geschlossenheit‘ kein absoluter Begriff ist. Abgesehen von den Bedingungen der Rezeption volkssprachiger Erzählliteratur und den Unwägbarkeiten einer handschriftlichen Textüberlieferungskultur, hat dies im Übrigen auch mit dem spezifischen Status der Verfasser volkssprachiger Werke im Mittelalter zu tun. Das zeigt ein Blick in die zeitgenössische klerikal-lateinische Buchkultur. Die Bezeichnung auctor blieb hier bis ins 14. Jahrhundert hinein ganz bestimmten Verfassern vorbehalten: denjenigen, die aus den Kanonisierungsprozessen der Spätantike und des Frühmittelalters als auctores hervorgegangen waren und in den Accessus ad auctores des Schulun-

 In welchem Umfang dies, ausweislich der Gestaltung der handschriftlichen Überlieferungsträger, selbst für einen Text wie Rudolfs von Ems ‚Alexander‘ noch im 15. Jahrhundert galt, führt beispielhaft Plotke 2017, S. 223 – 227, vor.  Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36), S. 248 f.; zum ‚Parzival‘ siehe hier, S. 247– 249.

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terrichts als Autoritäten behandelt wurden.³⁹ Mit Folgen für den Werk-Begriff: Es führte dazu, dass die Vorstellung von der Abgeschlossenheit des Werks und eines „vom Urheber so und nicht anders geschaffenen Texts“ diesen auctores, nicht aber volkssprachigen Dichtern vorbehalten blieb.⁴⁰ All dies erklärt, dass die Integrität volkssprachiger Erzähltexte aufgebrochen werden konnte – sei es von einem Bearbeiter oder sogar dem Autor selbst –, und genau genommen bedeutet das, dass von ‚Werkintegrität‘ als einer festen Größe gar nicht gesprochen werden kann. Ist es angesichts dessen realistisch anzunehmen, die Texte zielten auf Widersprüchlichkeit als erzählsystematisches Prinzip, wenn dies hermeneutisch doch nur Sinn ergibt, wenn man voraussetzt, dass sie auf das Ganze des Textes berechnet war und von den Rezipienten auch in dieser Ganzheit wahrgenommen werden konnte? Dagegen sprechen, mit ihrer Tendenz zur kleinen Einheit, nicht nur die Konzeptionalisierungen von narrativer Kohärenz und des verisimile der Stoffgestaltung in der mittelalterlichen Poetik, von denen im dritten Kapitel die Rede war; vor allem die medial-pragmatischen Bedingungen des frühen epischen Erzählens in der Volkssprache scheinen dagegen zu sprechen, jedenfalls dann, wenn man damit rechnet, dass sie für die Autoren eine Rolle spielten und, wie auch immer bewusst, bei der Textkomposition (mit‐)berücksichtigt wurden. Die Frage, wie ein solches Erzählen Kohärenz inhaltlich-thematisch organisiert, sollte daher ausgehend von der Partikularität und dem Zug zur kleinen Einheit, der die Anfänge der mittelhochdeutschen weltlichen Epik im 12. Jahrhundert kennzeichnet, entwickelt werden, und das heißt vor allem: von den medialen und pragmatischen Bedingungen dieses Erzählens her. Anders formuliert: Wie stellte sich die Kohärenzfrage für die damaligen Rezipienten, wenn man zweierlei systematisch zu berücksichtigen versucht: zum einen die Bedingungen ihres praktischen Umgangs mit den Texten; zum anderen die kognitiven Rahmenbedingungen, die für die Textrezeption galten und die nicht nur literarische Vorerwartungen (z. B. gattungs- oder werkspezifischer Art) beinhaltet haben dürften, sondern ebenso bestimmte Textaufnahmestrategien und Kohärenzbildungsverfahren, die mit der primär aural-performativen Rezeption der Texte einhergingen?

 Plotke 2017, S. 85 – 89.  Plotke 2017, S. 89; siehe in diesem Zusammenhang auch ebd., S. 177, wo Plotke darauf hinweist, dass die Erzählstimme selbst in einem Text wie Chrétiens de Troyes ‚Yvain‘ sich auffälligerweise nirgendwo auf ein Werkganzes beziehe: „Den discours betreffende Vor- oder Rückverweise, die […] ein abgeschlossenes literarisches Produkt oder zumindest eine in ihrer Ganzheit überblickte Erzählung supponieren, finden sich kaum.“

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Literaturgeschichtlich bedeutet das, die Partikularität des mittelalterlichen Erzählens, um das es hier geht, als Ausgangsform zu verstehen, Kohärenz im Sinne eines Grades der Verknüpftheit, der das Werkganze umfasst, hingegen als eine Zielform. Selbstverständlich hatten die mittelalterlichen Autoren einen Begriff von ihren Werken als einer Ganzheit. Aber diese Ganzheit bedeutete zunächst einmal nicht mehr als einen übergreifenden Zusammenhalt der Texte im Sinne des aristotelischen Anfang-Mitte-Ende-Modells, keine durchkomponierte und bis ins Letzte aufeinander abgestimmte Werktotalität. Die Entwicklung hin zu einem dementsprechenden Kohärenzverständnis – kein Fortschritt, sondern eine Veränderung in eine bestimmte Richtung – scheint nicht unabhängig zu sein von der historischen Entwicklung der Schriftlichkeit und der Buchform, mit allen Folgen, die das in medialer und pragmatischer Hinsicht für die Produktion und Rezeption von Geschriebenem hatte.⁴¹ Selbst für Werke der klassischen höfischen Literatur, für die man gemeinhin ein höheres Maß an Kohärenz und ästhetischer Durchformung annimmt, gilt diese Partikularität und Punktualität des Erzählens immer wieder. Man denke nur an ‚blinde‘ Motive, wie sie sich etwa auch in Hartmanns ‚Gregorius‘ finden: Die Verse 1939 – 1954 erzählen, wie Gregorius’ Mutter den Seidenstoff, den der ihr gegenüberstehende Mann trägt, als denselben identifiziert, den sie seinerzeit ihrem Neugeborenen mit in das kleine Fass auf das Meer gegeben hatte. Aber die dann naheliegende und zu erwartende Frage, woher der Gast den Stoff denn habe, stellt sie nicht. Die Möglichkeit des Wiedererkennens von Mutter und Sohn schon an dieser Stelle wird durch das Kleidermotiv angespielt, dann aber abgebrochen und auch im Fortgang der Erzählung nicht wieder aufgenommen.⁴²

 Vgl. dazu etwa Glauch 2009, S. 65 – 76; auch Putzo 2012a, 2012b.  Daraus die Konstruktion einer Schuld der Mutter herauszulesen, halte ich mit Volker Mertens für irreführend; siehe Volker Mertens: Kommentar. In: Hartmann von Aue, Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hrsg. und übers. von Volker Mertens. Frankfurt a. M. 2004 (BdK 189), S. 769 – 1051, hier S. 862 zu V. 1942. Allerdings trifft auch nicht zu, „dass“, so Mertens weiter, „die Mutter den Stoff erkennt, aber nicht den richtigen Schluß daraus zieht“ – sie zieht eben überhaupt keinen Schluss bzw. wird uns ein solcher nicht erzählt. Anders in der französischen ‚Vie du pape Saint Grégoire‘: Hier wird das Problem erkannt und durch eine entsprechende Formulierung aus der Welt geschafft: Si ne fust por solement tant / Que plusor paile son semblant („wenn es nicht gerade so gewesen wäre, dass viele Seidenstoffe einander gleichen“; siehe La vie du pape Saint Grégoire ou la légende du bon pécheur. Das Leben des heiligen Papstes Gregorius oder die Legende vom guten Sünder. Text nach der Ausgabe von Hendrik Bastiaan Sol. Mit Übersetzung und Vorwort von Ingrid Kasten. München 1991 [Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 29],V. 1321 f.). Bei Hartmann hingegen wird die Situation lediglich mit der – für heutigen Geschmack etwas unbefriedigenden – Wendung abgebogen, das Ganze habe sie, die Mutter, an ihr vergangenes Leid erinnert (V. 1954). Wenn man sich, meines Erachtens zu Recht, gegen eine

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Kompositorisch entspricht der Tendenz des mittelalterlichen Erzählens zur kleinen Einheit – der oft eine über längere oder kürzere Zeiträume sich erstreckende Rezeption in ‚Happen‘ entsprochen haben wird –, dass wir es, wie man lange weiß, vielfach mit additiven Formen zu tun haben. Das gilt selbst für den Artusroman Chrétien’scher Prägung, dessen Autoren sich um eine ästhetisch und kompositorisch anspruchsvolle, aber gleichwohl vom Prinzip der Addition ausgehende Zusammenfügung, eine – wie Chrétien im Prolog zum ‚Erec‘ sagt – molt bele conjointure der Episoden, die erzählt werden sollen, bemühen.⁴³ Im Hinblick auf den Grad der Vernetzung zwischen den einzelnen Handlungs- und Erzählelementen wiederum entspricht dem, dass es kaum je ein einziges, übergeordnetes Kohärenzprinzip gibt, sondern dass wir es mit Kohärenzstrukturen mittlerer Reichweite zu tun haben, die von verschiedenen Gravitationszentren aus regiert werden. Mindestens drei solcher Gravitationszentren, die bestimmend für die Logik der Handlungsdarstellung sind und von denen aus Kohärenz inhaltlich-thematisch organisiert werden kann, möchte ich unterscheiden: Schema, Szene und (figurative) Bedeutung. Vom heutigen Standpunkt aus mag es naheliegen, als Viertes auch noch an die Kategorie der Figur zu denken.⁴⁴ Doch scheint mir die Kategorie der Figur eher ein für ‚neues‘ Erzählen charakteristisches Zentrum der Organisation von Kohärenz zu sein: Figuren wirken vor allem über ihre erzählten

moralisierende Deutung entscheidet, wird man sagen müssen, dass hier verschiedene Teilstrukturen nicht restlos kohärent aufeinander abgestimmt sind: auf der einen Seite der Gewandstoff, den Gregorius, ebenso wie die Tafel, die mit im Fässchen lag, als Ausweis seiner Identität tragen muss (weshalb auch die Kleidung nicht einfach unerwähnt bleiben kann); auf der anderen Seite die finale Logik der Motivierung, wonach die Mutter an dieser Stelle der Geschichte ihren Sohn (noch) nicht erkennen darf. Je nachdem, welches Maß an kompositorischer Absicht man der daraus entstehenden Reibung zubilligen möchte, kann man sie dann, wie Mertens, als bewusste Verschärfung des tragischen Moments oder eben einfach als blinden Fleck bezeichnen. An derlei ‚blinde‘ Motive haben Peter Strohschneider: Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum ‚Nibelungenlied‘. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller. Stuttgart/Leipzig 1997b, S. 43 – 74, Müller 1998, S. 140 – 144, und Armin Schulz: Fragile Harmonie. ‚Dietrichs Flucht‘ und die Poetik der ‚abgewiesenen Alternative‘. In: ZfdPh 121 (2002), S. 390 – 407, die Interpretationsfigur der ‚abgewiesenen Alternative‘ angeknüpft, allerdings primär bezogen auf heldenepisches Erzählen.  Chrétien de Troyes: Erec et Enide. Altfranzösisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Albert Gier. Stuttgart 1987 (RUB 8360), V. 14.  Ein Gedanke, den schon Schultz 1989, S. 85, im Blick zu haben scheint, wenn er den Figurennamen als kohärenzverbürgende, Zusammenhänge stiftende Größe in mittelhochdeutschen Erzähltexten anführt.

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Intentionen, Aktionen und Reaktionen kohärenzbildend.⁴⁵ Wenn der Roman des 19. Jahrhunderts unter den verschiedenen Formen der Handlungsmotivierung die psychologisch stimmige Kausalmotivation bevorzugt, so hat das vor allem damit zu tun, dass hier die Figur zum dominierenden Kohärenzzentrum geworden ist. Für mittelalterliches Erzählen gilt das weithin nicht: Mittelalterliche Figuren sind in der Regel psychologisch deutlich ‚flacher‘ konzipiert. Auch deshalb spielen sie als kohärenzverbürgende Größen eine viel geringere Rolle als im nachgoethezeitlichen Erzählen.⁴⁶ Schema meint eine Gebundenheit an literarisch vorgeformte Handlungsmuster. Dass solche Handlungsmuster, im Sinne makrostruktureller Plotverläufe, das mittelalterliche Erzählen in weiten Teilen bestimmen, hat man schon lange gesehen und ist eingehend erforscht worden. Es handelt sich um spezifisch literarische Handlungsmuster – und ‚literarisch‘ meint hier nicht, an die littera gebunden, sondern umfasst auch mündlich tradierte Texte – unterschiedlicher Reichweite. Sie machen bestimmte Handlungsverläufe erwartbar und können die tatsächlich erzählte Handlung über kürzere oder längere Strecken bestimmen, um dann eben auch davon abweichen zu können. Beispiele für solche Handlungsschemata sind insbesondere das sogenannte Brautwerbungsschema – vielleicht das literarisch produktivste Muster der mittelalterlichen Adelsliteratur –, aber auch Erzählmuster kürzerer Reichweite, wie etwa das rash boon-Motiv oder auch die Abfolge der gradūs amoris, auf die Matthäus von Vendôme in seiner ‚Ars versificatoria‘ Bezug nimmt.⁴⁷ Szenengebunden erscheinen die Kohärenzstrukturen mittelalterlicher Erzähltexte dort, wo man in der narrativen Gestaltung eine Fokussierung auf kleine Handlungsabschnitte – mit in der Regel gleichbleibendem Schauplatz und Personal – beobachtet. Die Forschung hat immer wieder festgestellt, dass mittelalterliche Autoren eine Vorliebe dafür hätten, möglichst wirkungsvolle Einzelszenen zu gestalten;⁴⁸ und auch, dass sie dazu neigten, über der Ausarbeitung

 Glauch 2013, S. 306.  Siehe zu ‚Figur‘ in mediävistischer Perspektive u. a. Matthias Meyer: Blicke ins Innere. Form und Funktion der Darstellung des Selbst literarischer Charaktere in epischen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts. Habil. Berlin 2004; Markus Stock: Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (TMP 19), S. 187– 203.  Siehe Kap. 3.2, S. 89 f., 94; einen Überblick über die wichtigsten mittelalterlichen Erzählschemata bietet Schulz 2012, S. 191– 291.  Siehe schon Hugo Kuhn: Über nordische und deutsche Szenenregie in der Nibelungendichtung. In: Edda, Skalden, Saga. Festschrift zum 70. Geburtstag von Felix Genzmer. Hrsg. von Hermann Schneider. Heidelberg 1952, S. 279 – 306; sodann u. a. Horst Wenzel: Szene und Gebärde. Zur visuellen Imagination im ‚Nibelungenlied‘. In: ZfdPh 111 (1992), S. 321– 343; Volker Mertens:

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solcher lokaler Elemente die (konsistente) Gesamtgestaltung – „the overall design“ (James A. Schultz) – zu vernachlässigen, wurde wiederholt bemerkt.⁴⁹ Im Vordergrund stünden die Eindrücklichkeit und Wucht, die punktuell schlagende Evidenz einer in sich abgeschlossenen Szene, weniger eine zeitlich und/oder kausal konsistente Integration der einzelnen, szenisch angelegten Episoden.⁵⁰ An die Stelle kohärenter Integration trete in solchen Fällen kontiguitäre Aggregation.⁵¹ Gemeinsam ist diesen Einlassungen, dass sie die Orientierung an der einzelnen Szene auf die Intention der Autoren zurückführen, bestimmte Effekte zu erzielen – sei es im Sinne einer ‚Überwältigungsästhetik‘ (wie man Kuhns Ausführungen zur Gestaltung mancher Szenen im ‚Nibelungenlied‘ zuspitzen könnte), sei es, dass sie, worauf insbesondere neuere Arbeiten zielen, im Sinne einer Visualitätsästhetik das szenenorientierte Erzählen mit der Herstellung visueller und akustischer Präsenzeffekte erklären, die dem Rezipienten die Immersion in eine Realitätsillusion erlauben sollen.⁵² Weniger gesehen hat man dagegen, dass – gerade in ästhetisch weniger elaborierten Texten – zahlreiche Inkohärenzen motivationaler und ontologischer Art im Verhältnis von Einzelszene einerseits und Gesamthandlung andererseits daraus resultieren, dass bei der einzelnen Szenengestaltung protoypische Muster eine wesentliche Rolle spielen. Wie Handlungsschemata beziehen sich auch protoszenische Muster auf die Handlungsseite von Erzählung, also auf die Ebene des Dargestellten oder der histoire. Anders als jene aber meinen sie nicht schon literarisch gefasste bzw. narrativ gebundene imaginäre Konstellationen (etwa im Sinne von Müllers ‚Erzählkernen‘), sondern Scripts oder ‚Drehbücher‘ für Situationen und Handlungs- bzw. Geschehensabläufe ganz kleiner Ordnung. Vor allem unterscheiden sie sich von den Erzählschemata der mittelalterlichen Literatur dadurch, dass sie nicht spezifisch literarisch sind. Sie beziehen sich auf allgemein

Szenisches Erzählen. Ulrich Füetrer – Wolfram – ‚Nibelungenlied‘. In: 800 Jahre ‚Nibelungenlied‘. Rückblick – Einblick – Ausblick. 6. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 2001 (Philologica Germanica 23), S. 97– 114.  Schultz 1989, S. 77, mit weiteren Belegen.  So Glauch 2013, S. 307.  Vgl. Peter Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Frankfurt a. M./New York 1989 (Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung 1), S. 15 u. ö.; dazu Peter Strohschneider: Die Zeichen der Mediävistik. Ein Diskussionsbeitrag zum Mittelalter-Entwurf in Peter Czerwinskis ‚Gegenwärtigkeit‘. In: IASL 20 (1995), S. 173 – 191, hier S. 177 f. Auch Bruno Quast: Wissen und Herrschaft. Bemerkungen zur Rationalität des Erzählens im ‚Nibelungenlied‘. In: Euph. 96 (2002), S. 287– 302, gebraucht die Vorstellung eines „aggregative[n] Erzählen[s]“ (S. 287), um auf diese Weise eine Erzählweise zu charakterisieren, die, wie diejenige des ‚Nibelungenlieds‘, Kohärenz vermittels „paradigmatischer Verweisstrukturen“ (S. 299) ausbilde.  In diese Richtung zielt schon Wenzel 1992.

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kulturell und/oder alltagsweltlich geprägte Vorstellungen davon, wie bestimmte Situationen aussehen und wie sie ablaufen. Vorstellungen dieser Art bestehen insbesondere für irgendwie ‚geregelte‘ Handlungen und Handlungsabläufe, solche also, die durch Rituale oder ritualhafte Formen (Gebärden, Gesten, Symbole, Zeremonielle etc.) bestimmt waren: zum Beispiel beim Überbringen einer Botschaft;⁵³ beim consilium des Herrschers mit seinen Ratgebern und Gefolgsleuten;⁵⁴ bei der agonalen Begegnung in Turnier und (freundlichem oder feindlichem) Zweikampf; bei gottesdienstlichen oder sonstigen liturgischen Handlungen usw. Auf solche präformierten Handlungsvollzüge – und ein entsprechendes Wissen des Publikums – beziehen sich die zahlreichen als man gezam-Formulierungen in den Texten (z. B. ‚Herzog Ernst B‘, V. 5914: als sie ze hôchgezîte tuont). Es handelt sich hier, je nach ihrer Statik oder Dynamik, um Frames oder Scripts, die als kognitive Muster den Rezipienten verfügbar sind und diesem verfügbaren Wissen gemäß einen bestimmten Ver- oder Ablauf einfordern und erwartbar machen. Inkonsistenzen im Hinblick auf die narrativen Informationen, die in einem Text gegeben werden, ergeben sich in solchen Fällen aus der Spannung zwischen einer starken Tendenz zum Erzählen prototypischer Verläufe, zu Protoszenen und protoszenischer Gestaltung einerseits und dem über die einzelne Szene hinausreichenden motivationalen bzw. semantischen Gefüge andererseits. Bedeutung: Viel stärker als in dem uns vertrauten ‚neuen‘ Erzählen erscheint das ‚alte‘ Erzählen, dem wir in den Texten des 12. Jahrhunderts begegnen, in einzelnen, im Gesamtzusammenhang inkonsistent wirkenden narrativen Informationen durch die Orientierung hin auf eine ‚Bezeichnung‘ (bezeichenunge) geprägt, hinter der die literale Bedeutung der Proposition zurücktritt. Dieses Gravitationszentrum zur Organisation von Kohärenz bezieht sich, anders als (literarische) Schemata oder (alltagsweltliche) Protoszenen, also nicht auf Handlungs-, sondern auf Deutungsmuster. Textdaten, die sich widersprüchlich zu anderen verhalten, werden hier weder von bestimmten Erzählschemata noch prototypischen Szenenverläufen aus regiert, sondern sind funktional ausgerichtet auf das, wofür sie ‚stehen‘, was sie also in der und für die Erzählung ‚bedeuten‘ sollen. Es geht mithin um einen Modus der Uneigentlichkeit. Erst im Hinblick auf

 Zur Situation des Botenempfangs siehe etwa Stephan Müller: Datenträger. Zur Morphologie und Funktion der Botenrede in der deutschen Literatur des Mittelalters am Beispiel von ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘. In: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Hrsg. von Ludger Lieb/Stephan Müller. Berlin/New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20), S. 89 – 120, mit dem Versuch einer „Morphologie der Botenrede“ (S. 96 f.).  Dazu Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997, S. 157– 184.

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die semantische Schicht, die sich an die narrativen Propositionen assoziativ anlagert, stellt sich dann ein Sinn ein, der die linear-syntagmatische Inkohärenz zwar nicht aufhebt, aber im Sinne einer gleichsam vertikalen Kohärenz erklärbar macht. Sowohl aus dem Umstand, dass mittelalterliches Erzählen partikular verfährt und bestimmte konzeptionelle Vorgaben und Sinnbildungsmuster oft nur ein Stück weit verfolgt, als auch aus der – zum Teil dadurch bedingten – Pluralität der Gravitationszentren, von denen aus narrativer Zusammenhalt (potentiell) organisiert werden kann, ergibt sich, dass verschiedene Kohärenzformen auch miteinander in Konflikt geraten können und keineswegs immer sorgfältig aufeinander abgestimmt sein müssen. Auch in dieser Hinsicht lässt sich ein zum Teil erhebliches Gefälle ausmachen, in das Textreihenzugehörigkeit und Textgenese (einschließlich möglicherweise vorausliegender oraler Traditionen) mit hineinspielen. Solche Konkurrenzen können nicht nur linear-sukzessiv, also im Verlauf der narrativen Progression zutage treten, sondern unter Umständen schon punktuell, an Stellen, an denen man den Eindruck hat, dass verschiedene Kohärenzlogiken sich gewissermaßen übereinanderschichten.⁵⁵ Es wirkt daher an einzelnen Stellen so (die der Geologie entliehene Metapher weiterführend), als ob Kohärenz hierarchisch aufgebaut würde. Am nächsten kommt dieser Vorstellung hierarchischer Kohärenzstrukturen die Formulierung, die James A. Schultz für die Kohärenz mittelhochdeutscher Erzähltexte gefunden hat: „MHG [Middle High German, C. S.] narrative“, so Schultz bündig, „is more hierarchical. Its coherence depends less on the linear relation of parts than on the relation of each individual part to a given whole.“⁵⁶ Dem wird man zustimmen, mit der nicht unwesentlichen Einschränkung allerdings, dass die einzelnen Teile sich keineswegs notwendig auf ein gegebenes Ganzes beziehen müssen – das es oft in der Form, die wir uns darunter vorstellen, gar nicht gibt –, sondern vielfach nur auf ‚Teilganzheiten‘. Vom Standpunkt einer Geschichte der historischen Narrativik scheint mir, in der longue durée, die ästhetische Ambition dahin zu gehen, die verschiedenen Gravitationszentren für narrative Kohärenz immer besser zu korrelieren und aufeinander abzustimmen – molt bele, wie Chrétien es an der berühmten Stelle seines ‚Erec‘-Prologs nennt.⁵⁷

 Als ein Beispiel siehe die Analyse der Schlussszene des ‚Herzog Ernst B‘ unten, S. 222– 233.  Schultz 1989, S. 84.  Wenngleich Schultz 1989, S. 77 f., zu Recht darauf hinweist, dass darüber das Ausmaß, in welchem die Tendenz mittelalterlicher Autoren, sich auf die Ausarbeitung lokaler Elemente zu konzentrieren, „even in the most polished texts“ Inkonsistenzen hervorruft, nicht übersehen werden sollte.

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Es soll folglich in diesem Kapitel an Beispielen aus der frühen mittelhochdeutschen Epik, die in ästhetisch-kompositorischer Hinsicht als insgesamt weniger durchgeformt als die Klassiker gelten kann, gezeigt werden, wie sich die genannten Gravitationszentren in den Texten darstellen. Während der erste Kapitelabschnitt dem gilt, was ich ‚prototypisches‘ und ‚funktionales‘ Erzählen nenne, wendet sich der zweite dem vertikalen Kohärenzprinzip eines Erzählens gemäß dem Vorrang der bezeichenunge zu.⁵⁸ Im dritten Abschnitt sollen dann genauer die Spannungen betrachtet werden, die sich mit Blick auf die erzähltheoretische Kategorie der Motivierung in den Texten zeigen: Spannungen zwischen ihren partikularen Kohärenzstrukturen einerseits und andererseits Kohärenzerwartungen größerer Reichweite, die sich aus der Kenntnis literarischer Erzählschemata und Prätexte, aber auch aus Antizipationen und Wünschen, wie eine erzählte Handlung sich entwickeln wird oder soll, ergeben.

5.1 Prototypisches und funktionales Erzählen: Rolandslied, Münchner Oswald, Herzog Ernst Im Schlussteil des ‚Herzog Ernst‘ wird erzählt, wie sich Kaiser Otto und die Reichsfürsten am Heiligen Abend im Münster zu Bamberg versammeln, um gemeinsam die Christmette zu feiern. Die Szene wirkt, anders als der oft ausmalende Stil der orientalischen Reiseabenteuer im Mittelteil des Epos, äußerst gerafft und pointiert gestaltet: der keiser gurte sich dô in sîn küniclîch gewant. die fürsten kâmen alzehant in daz münster frône. der keiser under der krône bî der küniginnen stuont, als sie ze hôchgezîte tuont. ein bischof vor in messe sanc. von liuten vil grôz gedranc in dem wîten münster was. (V. 5908 – 5917) Der Kaiser legte da / sein königliches Gewand an. / Sogleich zogen die Fürsten / in das herrliche Münster ein. / Der Kaiser stand gekrönt / neben der Königin, / wie es an Festtagen

 Siehe zum Begriff eines ‚funktionalen Erzählens‘ auch Elisabeth Lienert: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘.Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22), S. 272, 274 u. ö.

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üblich ist. / Ein Bischof sang vor ihnen die Messe. / Es herrschte ein großer Menschenandrang / in dem weitläufigen Münster.

So erzählt es die vermutlich Anfang des 13. Jahrhunderts entstandene Fassung B des ‚Herzog Ernst‘. Die parataktisch gereihten Handlungssätze sind temporal wenig bis gar nicht koordiniert (wann kommen die Fürsten in das Gotteshaus: während oder nachdem der Kaiser sich einkleidet bzw. eingekleidet hat?); sie lassen Lücken in der Handlungsabfolge entstehen (wann und wie sind der König und die Königin in das Münster eingezogen?) und führen zum Eindruck eines unvermittelt wechselnden Erzählfokus.⁵⁹ Es handelt sich um eine Szene mit einem zeremoniell verfestigten Ablaufplan: dem Introitus eines Herrschers und seiner Gemahlin zum Anlass eines festlichen Gottesdienstes in einer Bischofskirche. Solche Ereignisse folgten einem mehr oder weniger festen ‚Drehbuch‘: einem Script, das den Rezipienten im Sinne eines kognitiv präformierten Handlungszusammenhangs vertraut gewesen sein dürfte. Der szenisch pointierende, elliptische Duktus, der die Stelle kennzeichnet, ist insofern nicht dem generellen Erzählstil im Anfangs- und Schlussteil des ‚Herzog Ernst B‘ mit seiner Tendenz zu straffer Handlungsdarstellung geschuldet, sondern hier wird etwas erzählt, das man weiß und kennt.Wenn es nicht in allen Einzelheiten auserzählt werden muss, dann deshalb, weil der Zuhörer (oder Leser) das Fehlende aus seinem Scriptwissen ergänzen kann. Es gibt dafür einen direkten Hinweis im Text: als sie ze hôchgezîte tuont (V. 5914) – „wie man es an Festtagen tut“, so steht der Kaiser gekrönt neben der Königin; wie es bei einem Fest dieser Art üblich ist, so läuft die Handlung ab. Wendungen wie diese finden sich vielfach in mittelhochdeutschen Erzähltexten. Sie sind nicht nur ein Mittel der abbreviatio, oder besser: sie sind es, aber dass sie es sind und sein können, hat damit zu tun, dass sie auf beim Rezipienten vorhandenes Wissen darauf vertrauen können, wie bestimmte Handlungszusammenhänge prototypisch aussehen, und dieses Wissen aufrufen. In diesem Sinne kann man bei einer Szene, wie sie der Schlussteil des ‚Herzog Ernst‘ schildert, auch von einer ‚Protoszene‘ sprechen. Solche konzeptuellen Prototypen bestimmter Handlungen oder Handlungsverläufe – als einer besonderen Form des Frame- oder Scriptwissens des Rezipienten – sind für die Projektion narrativer Kohärenz relevant.⁶⁰ Dass sie auch in der

 Siehe zur Stelle auch Kap. 4.4, S. 167.  Siehe die Arbeiten von Eleanor Rosch: Principles of Categorization. In: Cognition and Categorization. Hrsg. von Eleanor Rosch/Barbara B. Lloyd. Hillsdale, NJ 1978, S. 27– 48, sowie Marisa Bortolussi/Peter Dixon: Psychonarratology. Foundations for the Empirical Study of Literary Response. Cambridge u. a. 2003, die die Prototypentheorie Roschs in einem psychonarratologischen

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frühen mittelhochdeutschen Epik von erheblicher Bedeutung sind, hat Alois Wolf, wenn auch in anderer Terminologie und partiell auf anderes zielend, im Zusammenhang mit seinen Bemerkungen zur ‚Jüngeren Judith‘ angedeutet. Er wies auf „die nicht geringe Bedeutung traditionell-epischer Darstellung bestimmter Sachverhalte (Versammlung, Einführung der wichtigen Person, Rede), die sich in der Verselbständigung bestimmter Einzelteile, in der Wiederholung und im Zurücktreten logisch-temporaler Abfolgen zeigt“, hin.⁶¹ Wie Wolfs Beispiele – Versammlung, Einführung des oder der Protagonisten, Rede – deutlich machen, geht es ihm dabei aber nur teilweise um prototypische Handlungsmuster im engeren Sinne (eine Versammlung ist ein solches, die Einführung des Protagonisten hingegen folgt eher literarischen als Handlungsmustern). Während die kurze ‚Herzog Ernst‘-Passage als ein Beispiel dafür gelten kann, wie eine Szene abbreviaturenhaft oder elliptisch erzählt werden kann, weil der Rezipient ihre ‚Vollform‘ aus seinem Scriptwissen ergänzen und rekonstruieren kann, möchte ich in diesem Abschnitt zeigen, wie prototypische Formen und Vorstellungen die Handlungsdarstellung in den Texten gerade dadurch prägen, dass sie nicht ausgelassen, sondern erzählt und explizit gemacht werden, obwohl sie nicht stimmig auf andere Erzählinformationen außerhalb oder innerhalb der kleineren Einheit – einer Szene, einer Episode –, auf die sie sich beziehen, hin vermittelbar sind. Anders gesagt: Makrostrukturelle Inkohärenzen, insbesondere solche motivationaler Art, erklären sich vielfach daraus, dass die lokale Szenengestaltung auf prototypische Muster zurückgreift, die offenbar – weil sie Bekanntes, den ‚Normalfall‘ erzählen – erzählt werden müssen, dadurch aber in Spannung zu anderen narrativen oder semantischen Teilstrukturen der Erzählung geraten. Ein erstes Beispiel dafür entnehme ich dem ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad. Die Inkohärenz, um die es in der folgenden Szene geht, ist eine motivationale. Sie entsteht daraus, dass von sequentiellen Plausibilitätserwartungen abgewichen wird, die zumindest ein moderner Betrachter an die erzählte Handlungsfolge anlegen dürfte, und sie ist zugleich eine für den Text zentrale: Genelun, der Schwager Karls und Stiefvater Rolands, hat den Auftrag, in Begleitung der hochrangigen Gesandten Marsilies – allen voran des alten Blanscandiz – an dessen Hof zu reiten und dem sarazenischen König die Botschaft des Kaisers zu überbringen: dass Karl, sollte Marsilie sich nicht zum Christentum bekehren und einverstanden erklären, sich auf die Hälfte seines Reichs zu beschränken und dieses von Karl zu Lehen zu nehmen, nach Spanien ziehen, Sarraguz zerstören

Ansatz anwenden; ähnlich auch Fludernik 1996, S. 17, die darauf hinweist, dass kognitive Muster, ob frames, scripts oder Schemata, „of a prototype nature“ sind.  Wolf 1972, S. 545.

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und Marsilie gefesselt auf einem Esel nach Aachen bringen werde, um ihn dort enthaupten zu lassen (V. 1502– 1524). Dann, auf dem Weg nach Sarraguz, beschließen Genelun und Herzog Blanscandiz zusammen mit den anderen Gefolgsleuten Marsilies den Verrat an Karl und den Seinen: Roland soll, entgegen den Plänen des Kaisers, nicht dessen Statthalter in Spanien werden, sondern zusammen mit den anderen Pairs getötet werden und Marsilie die Herrschaft in Spanien behalten (V. 1858 – 1991). Doch als Genelun im nächsten Handlungsabschnitt (V. 1992 ff.), nun an Marsilies Hof, dem König gegenübertritt und Karls Botschaft überbringt, wird das schon beschlossene Komplott, das der Botschaft alle Schärfe nehmen würde, mit keinem Wort erwähnt. Vielmehr gerät Marsilie in Zorn über Geneluns Worte und will diesen – den Botenschutz, der diesem von Rechts wegen zusteht, brechend – angreifen: sînen stap begreif er, mit zorne er in ûf huop, nâch Genelûne er in sluoc. (V. 2060 – 2062) Er griff nach seinem Stab, / zornig hob er ihn über den Kopf / und schlug mit ihm nach Genelun.

Genelun reagiert darauf ebenfalls mit einer Aggressionsgebärde: Er zieht sein Schwert zur Hälfte aus der Scheide (er zuchte daz swert über halp, V. 2070). Die Übereinkunft, die zwischen Genelun und der Partei Marsilies de facto bereits besteht, muss erst in einem erzählerisch aufwendigen Verfahren – gewissermaßen ‚über Bande‘ – eingespielt werden, und dass und wie das geschieht, hat mit prototypischen Formen und Regeln zu tun, die für die einzelnen Teile der geschilderten Handlungsfolge gelten (und von denen man annehmen darf, dass sie den Hörern vertraut waren und dementsprechende Erwartungen begründeten). Das gilt zunächst für die Botenfunktion Geneluns: Als er zu Marsilie an den Hof kommt, ist er – eigentlich – bereits Verräter; er ist vom Erzähler in einem Vergleich mit der neutestamentlichen Judasfigur auch bereits ausdrücklich als solcher kenntlich gemacht worden (den armen Judas er gebildôt, V. 1925). Doch muss er, seiner Funktion als Bote gemäß, zunächst auch als solcher in Erscheinung gebracht werden: Sein Auftritt bei Marsilie folgt dem prototypischen Muster der Nachrichtenübermittlung durch einen Stellvertreter, der, gemäß der Logik des mittelalterlichen Botenwesens, für seinen Auftraggeber metonymisch eintritt und als dessen Sprachrohr fungiert.⁶² Das wird im Text auch markiert, wenn Genelun unmittelbar vor seiner Rede zweimal nicht mit Namen, sondern als bote apostrophiert wird, und zwar einmal von Blanscandiz (nû vernim dû, hêrre, selbe, / waz  Vgl. dazu Haferland 2008, bes. S. 53 – 60.

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die bote rede welle, V. 2012 f.), einmal von der Erzählerstimme (der bote sprach ze Marsilie,V. 2018).⁶³ Entsprechend geriert auch Genelun sich ganz als treuer Diener seines Herrn, indem er Karls Botschaft und brief (V. 2113) an Marsilie wortgetreu überbringt (V. 2025 – 2051). Indem der zuvor erzählte Verrat unerwähnt bleibt, läuft die Botenszene ab, als habe er gar nicht stattgefunden – und droht zu eskalieren: Marsilie bedroht Genelun, dieser bedroht Marsilie, und alle Zeichen stehen auf Konfrontation. Erzähltechnisch ist jetzt die Frage, wie der Konsens – der ja zwischen Marsilie und Genelun aufgrund des verräterischen Übereinkommens, das Genelun und Marsilies Ratgeber auf dem Weg nach Sarraguz erzielt haben, bereits besteht – an die Stelle des Dissenses treten kann, und wie das erzählt wird, auch dies folgt wieder prototypischen Vorgaben: Genelun erscheint, zunächst jedenfalls, auf die Rolle des Boten festgelegt; er kann daher den Konsens nicht selbst herbeiführen, sondern das kann nur durch Marsilies Berater geschehen. Narrativ umgesetzt wird auch das wieder auf eine Weise, für die es ein festes Script gibt: nämlich das des consilium, das in einem mehrstufigen Verfahren besteht. Zunächst berät sich der Herrscher im colloquium familiare (oder auch secretum) mit seinem engsten Kreis (cum suis fidelibus, wie es bei Wipo zum Jahr 1027 über die Vorbereitung der Beratungen eines Hoftags Konrads II. heißt), bevor die Beratungen dann in einen größeren Kreis mit einer gesteigerten Öffentlichkeit (die aber immer noch eine Teilöffentlichkeit sein kann) überführt werden.⁶⁴ So geschieht es auch im ‚Rolandslied‘: Im Anschluss an die Provokation, die die Übermittlung von Karls Botschaft bedeutet, berät Marsilie sich mit seinen engsten Ratgebern (zu Wort kommen sein œheim Algafiles, V. 2133, und Blanscandiz, der alte mit deme barte, V. 2151). Blanscandiz rät, Genelun freundlich zu behandeln, denn – so Marsilies Berater vielsagend – dieser wisse, wie Marsilie seine Sache so führen könne, dass ez allem disem rîche [gevrumt] (V. 2168). Der, um den es geht, Genelun, ist bei diesem colloquium nicht anwesend. Dass er sich aber entfernt hat, wird nicht berichtet; es ergibt sich erst nachträglich aus V. 2176 – 2178, wo erzählt  Das ist auch deshalb so auffällig, weil Genelun sonst in der Szene mit Marsilie immer mit seinem Namen bezeichnet wird, nur an diesen beiden Stellen als „Bote“; auf diese Funktion kommt es hier offenbar besonders an. Die beiden ‚Urbilder‘ oder Protoypen – einerseits ‚Judas‘, andererseits ‚Bote‘ – sind in der Erzähllogik Konrads nicht zueinander vermittelbar.  Vgl. Gerd Althoff: Colloquium familiare – Colloquium secretum – Colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters. In: FMSt 24 (1990), S. 145 – 167; hier, S. 158, auch das Wipo-Zitat. Siehe außerdem Julia Breulmann: Erzählstruktur und Hofkultur. Weibliches Agieren in den europäischen Iweinstoff-Bearbeitungen des 12. bis 14. Jahrhunderts. Münster u. a. 2009 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 13), S. 175 f., die zeigt, wie in Chrétiens ‚Yvain‘ der Beratungsprozess, der Laudine schlussendlich dazu bewegt, Yvain zu heiraten, nach dem Vorbild eines solchen historischen consilium modelliert sein könnte.

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wird, dass Fürsten Genelun holen gehen, der allein unter einer Pinie steht.Was für den heutigen Leser wie eine Lücke oder Leerstelle erscheint, muss für den historischen Rezipienten aber keine gewesen sein: zumindest dann nicht, wenn er mit dem mehrstufigen, ‚gescripteten‘ Ablauf eines solchen consilium im Anschluss an eine Botschaftsübermittlung eines fremden Herrschers vertraut war und daher aus seinem Scriptwissen ergänzen konnte, dass der fremde Bote bei dieserart Beratung, dem colloquium familiare im engsten Kreis, nicht anwesend sein konnte. An sie schließt sich die Beratung in einem erweiterten, nun halböffentlichen Kreis an: Genelun wird wieder hinzugebeten, und es heißt ausdrücklich, dass Marsilie weitere fürstliche Ratgeber, insgesamt zwölf, zu sich geladen habe, diejenigen, die ime aller beste kunden gerâte (V. 2196). Die Szene zeigt einerseits, wie handlungslogische Unwahrscheinlichkeiten – Geschehensverläufe also, die dem heutigen Leser in motivationaler Hinsicht wenig plausibel erscheinen – sich aus der Orientierung dieses mittelalterlichen Erzählens an prototypischen Verhaltens- und Handlungsmustern ergeben, die nicht unmittelbar zueinander vermittelbar sind (Genelun als Bote – Genelun als Komplize); sie verdeutlicht andererseits, wie zeitgenössische Rezipienten vermutlich gerade aufgrund dieser vorauszusetzenden prototypischen Muster Handlungslücken und (vermeintliche) Unstimmigkeiten naturalisieren, integrieren, auffüllen konnten (dass Genelun in seiner Rede den bereits erreichten Konsens nicht erwähnen kann; dass er nach der Übermittlung seiner Botschaft sich entfernt haben muss). Wie ein solches, tendenziell kleinräumig verfahrendes und an prototypischen Mustern orientiertes Erzählen zu syntagmatischen Unstimmigkeiten führen kann, lässt sich auch in der Erzähltradition von dem 642 gefallenen englischen Missions- und Märtyrerkönig Oswald von Nordhumbrien, die Beda in seiner ‚Historia ecclesiastica gentis Anglorum‘ (um 731) begründet hatte, sehen. Sie war im Deutschen im ganzen Hoch- und Spätmittelalter lebendig, vor allem im oberdeutschen Sprachraum. Unmittelbar greifbar ist sie allerdings nur in mehreren relativ spät überlieferten Fassungen und Textzeugen. Drei davon sind Versdichtungen: der ‚Münchner‘ und ‚Wiener Oswald‘, deren Überlieferung jeweils im 15. Jahrhundert einsetzt, sowie der – allerdings nur fragmentarisch erhaltene – ‚Linzer Oswald‘. Daneben stehen mehrere Prosafassungen des 14. und 15. Jahrhunderts, deren Hauptquelle der ‚Münchner Oswald‘ ist, sowie eine Spielfassung, das ‚Zuger St. Oswald-Spiel‘ von 1630.⁶⁵ Diese breite Erzähltradition geht, ungeachtet ihrer erst spätmittelalterlichen Überlieferung, im Wesentlichen auf ein wohl um 1170, vermutlich in Regensburg, entstandenes weltliches deutsches

 Vgl. Michael Curschmann: ‚Münchner Oswald‘. In: 2VL 6 (1987), Sp. 766 – 772, hier Sp. 766.

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Kurzepos zurück, als dessen „authentischster Vertreter“ der seit Georg Baesecke so bezeichnete ‚Münchner Oswald‘ gilt; die Handschriften sprechen vom puoch, leben oder der hystory von St. Oswald.⁶⁶ Wie etwa auch der ‚König Rother‘ kann dieser Text als problematisierende Auseinandersetzung mit dem – oder „Arbeit am“ – Muster des Brautwerbungsschemas gelesen werden.⁶⁷ Während die Forschung lange dazu tendierte, die lockere Fügung des Textes auf zeitlich auseinanderliegende Gestaltungsschichten zurückzuführen und unter anderem auf diese Weise Unstimmigkeiten im Handlungs- und Erzählgefüge zu erklären, hat sich seit den Forschungen Curschmanns eine „Sicht vom Werkganzen her“ etabliert, die mit der Integrität des Werks in seiner überlieferten Form rechnet.⁶⁸ Schemagemäß muss dem Protagonisten zu Beginn der Handlung eine Frau bestimmt werden, auf die sich die Werbung richten soll. Im ‚Münchner Oswald‘ geschieht das folgendermaßen: Oswald aus Engellant (V. 5), vierundzwanzig Jahre alt und früh verwaist, bittet Gott um rat und ler (V. 42), wie er es anfangen solle, eine tugendhafte Frau für sich zu finden. Die Aufforderung, eine Frau zu nehmen, kommt aus seinem hertz (V. 44); doch seine Versuche, mit sich selbst zurate zu gehen (er gab im selber rat und ler, V. 51), wer die passende Frau sein könnte, verlaufen im Nichts; in den christlichen Reichen weiß Oswald keine ihm gemäße Frau. Sein Gebet wird erhört. Er vernimmt eines Nachts die Stimme eines Engels, der ihm Rat erteilt:

 Diese Auffassung ist nicht unwidersprochen, darf aber als die vorherrschende gelten; siehe Michael Curschmann: Vorwort. In: Der Münchner Oswald. Mit einem Anhang: die ostschwäbische Prosabearbeitung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Michael Curschmann. Tübingen 1974 (ATB 76), S. VII–XIII, hier S. VIIIf.  So, in Bezug auf den ‚Rother‘, Christian Kiening: Arbeit am Muster. Literarisierungsstrategien im ‚König Rother‘. In: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Hrsg. von Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe. Berlin 1998 (Wolfram-Studien 15), S. 211– 244; für den ‚Oswald‘ spricht Curschmann 1987, Sp. 769, von einem „dialektisch als ‚Problemstruktur‘ organisierten Vollzug des Brautwerbungsschemas“.  Curschmann 1987, Sp. 769; siehe auch die Interpretationen in Michael Curschmann: Der Münchener Oswald und die deutsche spielmännische Epik. Mit einem Exkurs zur Kultgeschichte und Dichtungstradition. München 1964 (MTU 6). Nikolaus Miller: Brautwerbung und Heiligkeit. Die Kohärenz des ‚Münchner Oswald‘. In: DVjs 52 (1978), S. 226 – 240, kritisiert zwar Curschmanns Argumentation (bes. S. 226 – 230), plädiert im Ergebnis aber ebenso für die Werkeinheit des Textes: Die Unvereinbarkeit der Brautwerbungshandlung mit der keuschen Ehe am Schluss sei nur scheinbar. Durch den göttlichen Zweck der Brautwerbung (Rettung Paugs als heimlicher Christin, Verbreitung des christlichen Glaubens) werde das ihr zugrunde liegende Schema von Anfang an zugunsten des Heiligungsschemas revidiert und letztlich konsequent dem „Negationsprinzip der Legende“ (S. 226) unterstellt.

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ich wil dir rat[en], furst guot: nim dir dhain frauen in den landen dein. ich wil dir ez raten auf die treuen mein: du muost varen uber mer mit ainem kreftigen her nach ainer haidnischer kuniginne: die soltu uber mer her pringen. [du muost in die haidenschaft cheren] und kristenleichen glauben meren. nim dir ain haidmische [sic!] kun[i]gin, daz ist gots will und () der lieben muoter sein! (V. 60 – 70) Ich will dir einen Rat geben, guter Fürst: / Nimm dir keine Frau aus deinen eigenen Ländern. / Ich rate dir bei meiner Treue: / Fahr mit einem mächtigen Heer / übers Meer / und gewinne dir eine heidnische Königin: / die sollst du übers Meer hierher bringen. / [Du musst dich in heidnisches Land aufmachen] / und den christlichen Glauben verbreiten. / Nimm dir eine heidnische Königin, / das ist Gottes Wille und der seiner lieben Mutter.

Damit ist die Sache – scheinbar – klar: Oswald freut sich über die ihm erteilte Weisung, und wenn er der Gottesstimme antwortet: himlischer furst guot, / nun hilf mir uber des meres fluot! (V. 73 f.), so könnte darin mitausgesagt sein, dass er nicht nur weiß, wohin er sich zu wenden hat, sondern auch, wen die Stimme meint; nicht den Namen der als „heidnische Königin“ bezeichneten Frau erbittet er, sondern lediglich Beistand für die gefährliche Reise. Erzählt werden könnte jetzt, wie Oswald, Herrscher über zwölf Königreiche, vierundzwanzig Herzogtümer, sechsunddreißig Grafschaften und an seinem Hof umsorgt von neun Bischöfen, die Großen seines Reichs zu sich versammelt, um mit ihnen zu beraten, wie die fremde Königin gewonnen und die Heidenmission – der zweite Auftrag, den der Engel Oswald erteilt hat – ins Werk gesetzt werden könnte. Und tatsächlich beruft der junge König als Nächstes die Herren seines Landes an seinen Hof. Doch der Zweck ist ein anderer: Nachdem Oswald die Herren ganze zwölf Tage fürstlich bewirtet hat, teilt er ihnen den Grund ihrer Versammlung mit. Es ist eine Bitte um Rat: hertzen lieben freunt mein, nun rat mir waz daz pest mug gesein mit treuen der ich euch getrau. ir wist wol, () meine land stant an ein frauen: chunt ir mir indert gezaigen unter kristen und unter haiden ein kungin edel und reich der leib sei kluog und minnekleich, ir er michel und groß und diu müg wesen mein genoß? (V. 149 – 158)

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Meine von Herzen geliebten Freunde, / nun ratet mir, was wohl das Beste ist, / in der Treue, die ich auch zu euch hege. / Wie ihr gut wisst, fehlt meinen Ländern eine Herrin: / Könnt ihr mir irgendwo / in christlichem oder heidnischem Land / eine edle Königin von vornehmer Abkunft zeigen, / die hübsch und liebenswert ist, / weithin in hohem Ansehen steht / und die mir ebenbürtig sein könnte?

Die Frage ihres Herrn lässt die Fürsten auch nach dreitägigem Kopfzerbrechen ratlos zurück. Ohne Ergebnis wird das colloquium aufgelöst, und die Herren kehren in ihre Länder zurück. Das motiviert dann den Auftritt des Pilgers Warmunt, der als Diener unsers lieben heren / und durch die himlisch kun[i]gin (V. 198 f.) – als Gottesmittler also gewissermaßen – Rat zu geben weiß, indem er die himmlische Weisung des Anfangs wiederholt und der ausersehenen Braut einen Namen gibt: Paug (V. 225 – 240). Die Szene mit dem Auftritt des Pilgers könnte insofern darauf abzielen, die göttliche Legitimation der Brautwerbung und, in ihrer Folge, der gewaltsamen Heidenmissionierung – durch Wiederholung – zu unterstreichen und darüber hinaus die überlegene Weisheit transzendental inspirierten Ratschlusses zu demonstrieren: Gott und sein Gewährsmann, der ‚Wahrheit sprechende‘ Pilger Warmunt wissen Rat, die Großen des Reiches nicht. Die Einberufung des Fürstenrats, auch wenn sie handlungslogisch entbehrlich erscheint, muss insofern im ‚Oswald‘ kein „blindes Motiv“ sein.⁶⁹ Doch löst eine solche Interpretation nicht das Problem, dass hier eine in sich widersprüchliche Doppelmotivierung vorliegt. Diese liegt nicht so sehr darin, dass Oswald, im Anschluss an das Traumgesicht des Engels, die Seinen um Rat fragt; nicht, dass die Ratsversammlung überhaupt stattfindet, ist das Problem, sondern dass ihr Gegenstand Rat in einer Frage ist, deren Antwort Oswald schon kennt. Er fragt seine Ratgeber etwas, was er offensichtlich schon weiß: Denn zumindest, dass die Gesuchte in heidnischem Land zu finden sei, das hat ihm sein engel (V. 59) schon eingegeben, und es gibt im Text keinen Hinweis darauf, dass der Protagonist an dieser Auskunft des Engels zweifelt und sie deshalb der Bestätigung bedürfte – ebenso wenig, wie dann freilich Anlass für Oswald besteht, seine Gefolgsleute darum zu bitten, ihm „irgendwo in christlichem oder heidnischem Land“ eine Königin zu zeigen, die seiner würdig sei.⁷⁰ Der Widerspruch unter So Jan-Dirk Müller: Ratgeber und Wissende in heroischer Epik. In: FMSt 27 (1993), S. 124– 146, hier S. 142, mit der Schlussfolgerung, dass in diesem Text „das Verständnis für das skizzierte Handlungsmodell verlorengegangen zu sein [scheint]“ (S. 146).  Die widersprüchliche Anlage der Ratszene im ‚Münchner Oswald‘ wurde schon früher gesehen und, etwa von Rolf Bräuer: Literatursoziologie und epische Struktur der deutschen ‚Spielmanns‘- und Heldendichtung. Zur Frage der Verfasser, des Publikums und der typologischen Struktur des Nibelungenliedes, der Kudrun, des Ortnit-Wolfdietrich, des Buches von Bern, des Herzog Ernst, des König Rother, des Orendel, des Salman und Morolf, des St.-Oswald-Epos, des

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scheidet die Szenenanlage im ‚Münchner Oswald‘ auch von vergleichbaren Engführungen von göttlicher Eingebung und herrschaftlicher Beratung in anderen Epentexten. Etwa dem ‚Rolandslied‘: Auch hier hat Karl den ‚Rat‘ zur Unterwerfung und Christianisierung Spaniens von einem Engel erhalten (V. 52– 64). Aber die Einberufung des Fürstenrats schließt dann nahtlos daran an: Während Oswald hinter die Botschaft des Engels gewissermaßen ‚zurückgeht‘, eröffnet Karl die Konsultation der Pairs mit der Mitteilung seines qua göttlicher Inspiration schon gefassten Entschlusses: Der keiser in dô sagete, daz er willen habete, die haidenscaft zestœren, die cristenhait gemêren. (V. 83 – 86)⁷¹ Da sagte der Kaiser ihnen, / dass er den Entschluss gefasst habe, / das Heidentum zu vernichten / und das Christentum auszubreiten.

Wie also lässt sich die – für die Handlungsmotivierung redundante und kohärenzlogisch nicht aufeinander abgestimmte – Doppelung der Ratszene im ‚Oswald‘ erklären? Offenbar wird hier etwas erzählt, weil es erzählt werden muss, und dass dem so ist, liegt nicht (primär) in der Logik des literarischen Schemas – der ‚gefährlichen Brautwerbung‘ – und seinen prinzipiellen Regeln begründet, von denen die wichtigsten, in der Formulierung Peter Strohschneiders, lauten: „‚Dem Werber die Braut‘ und ‚Dem Besten die Schönste‘“;⁷² sondern es liegt in der Logik der Sache selbst, um die es geht: einer Heirat, die, als die geplante Eheschließung eines Fürsten, eine politische ist. In der Realität des mittelalterlichen Feudalwesens galten dafür bestimmte Regeln. Herbert Ernst Wiegand hat darauf hingewiesen, dass dazu insbesondere ein „Zustimmungsrecht der Lehnsherren“ gehörte, „das sich adäquat zu den Verhältnissen in der sozialen Praxis aus dem

Dukus Horant und der Tristan-Dichtungen. Berlin 1970 (Veröffentlichungen des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur 48), der Ungeschicklichkeit des Dichters zur Last gelegt; die Engel-Episode sei, so Bräuer, ein Einschub, der „im Widerspruch zum folgenden Handlungsablauf steht und eine recht ungeschickte Vorwegnahme der Beraterszene darstellt“ (S. 154). Auch Miller 1978, S. 232 f., konstatiert, dass die Einberufung des Fürstenrats „die durch den Hinweis des Engels bereits eingeleitete Geschichte [unterbricht und negiert].“  Der Stricker geht in seiner Bearbeitung des ‚Rolandslieds‘, wie Müller 1993, S. 127 f., bemerkt, sogar noch weiter, indem hier die Botschaft des Engels die Aufforderung, eine Ratsversammlung einzuberufen, gleich miteinschließt: d solt morgen fr dich laden / di dine liebesten alle, / wie in diu rede gevalle (‚Karl‘, V. 394– 396).  Strohschneider 1997b, S. 48.

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Verheiratungsrecht entwickelt hat und dem auf der Seite der Vasallen eine Art Beratungsrecht entsprach.“⁷³ Wenn also von der Gattenwahl des Herrschers zum Zwecke einer Heirat, die Herrschaft und Erbe sichern sollte,⁷⁴ erzählt wurde, dann darf man davon ausgehen, dass die Rezipienten – erst recht, wenn es sich, wie im Fall des ‚Oswald‘-Versepos, um ein laienadeliges Publikum handelte – recht genaue Vorstellungen davon im Kopf hatten, wie das zu geschehen hatte: unter anderem, dass es dazu der Beteiligung der Großen des Reichs und der Berücksichtigung ihres Beratungsrechts bedurfte.⁷⁵ Diese Vorstellungen müssen, sicherlich durch entsprechende Erzählungen narrativ verdichtet,⁷⁶ eine Art kognitives Script ausgebildet haben, das den Rahmen dafür festlegte, wie eine erzählte Handlung – hier: Beratung mit den Vasallen – abzulaufen hatte. So scheint es auch an der betreffenden Stelle im ‚Münchner Oswald‘ zu sein. Dass es hier auch darum geht, ein Verlaufsstereotyp politisch-sozialen Handelns – und damit entsprechende Vorerwartungen der Rezipienten – erzählerisch zu bedienen, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass in der Beratungsszene die Darstellung der rituell-zeremoniellen, das heißt der ‚gescripteten‘ Teile der Handlung – die Ankunft der Vasallen (V. 88 – 100), ihr Empfang (V. 101– 112), ihre Bewirtung (V. 113 – 136), der Vortrag des Beratungsanliegens (V. 137– 162) – mit 75 Versen den meisten Raum einnimmt; die eigentliche Beratung (V. 163 – 188) ist demgegenüber in 26 Versen relativ schnell erzählt. Das gilt für den gesamten Anfangsteil des Textes: Gemessen daran, dass der eigentliche Anstoß für die weitere Handlung durch göttliche Intervention (den Rat des Engels) und den Pilger Warmunt erfolgt, wird die Beratung mit den Vasallen unverhältnismäßig ausführlich erzählt. Wenn dabei vor allem Rituell-Zeremonielles zur Sprache kommt, so ist das im epischen Erzählen des Mittelalters bekanntlich – und oft zum Verdruss heutiger Leser – keine Seltenheit. Wir erklären uns das in der Regel

 Herbert Ernst Wiegand: Studien zur Minne und Ehe in Wolframs Parzival und Hartmanns Artusepik. Berlin/New York 1972 (QF 173), S. 25, mit Beispielen aus dem französischen Raum. Zustimmungs- und Beratungsrecht wurden im Laufe des späteren Mittelalters allmählich zur bloßen Formalität, als solche aber nicht obsolet.  Vgl. zu eben diesem Zentralmotiv feudaladeliger Heiratspraxis im ‚Münchner Oswald‘ die Verse 44– 50, in denen Oswald Zwiegespräch mit sich selbst hält: sein hertz im zuo den sinnen rief: / „Oswalt, sullend deineu land an ein frauen stan? / treun, daz ist nicht guot getan! / zweu sullen dir weiteu kun[i]kreich, / du hiets[t] dann ain frauen tugentleich? / sturbstu, so wurd ez erblos: / nim dir aine die sei dein genoß!“  Zum anzunehmenden Rezipientenkreis des Textes siehe Curschmann 1987, Sp. 770: „Der ‚M.O.‘ ist Buchdichtung für den Laienadel, konzipiert aus weltgeistlicher Perspektive.“  Besonders die heroische Epik des Mittelalters weist zahlreiche solcher Ratszenen auf. Dabei geht es selten um die argumentative Aushandlung einer Problemlösung, sondern, so Müller 1993, S. 126, um deren Befestigung „in öffentlicher Versammlung“.

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damit, dass das mittelalterliche Publikum dergleichen hören wollte, weil es daran, offenbar, Vergnügen fand. Man könnte vielleicht hinzusetzen: Es fand daran Gefallen deshalb, weil auf diese Weise ausgeführt wurde, was prototypisch der Fall zu sein hatte. Im ‚Münchner Oswald‘ ist der Brautwerbungshandlung demnach ein zweimaliger Anfang gesetzt. Die Doppelung der topischen Ratszene – einmal himmlischer, einmal (vergeblich ersuchter) irdischer Rat, der dann durch Warmunt kompensiert wird – bleibt dabei nicht ohne handlungslogische Widersprüche. Sie scheinen mir jedoch nicht dadurch erklärbar zu sein, dass zwei zueinander nicht vermittelte Bilder gezeigt würden, die, übereinandergelegt, das Ganze ausmachten. In dieser Weise hat etwa Jan-Dirk Müller für das ‚Nibelungenlied‘ die unverbundene Verdoppelung des Motivs für Sivrits Werbungsfahrt – einmal Kriemhilts Minne, einmal Kampf um Herrschaft – erläutert. Unabhängig davon, dass man den Texten für ein solches Verfahren einige ästhetische Ambition unterstellen muss, ist der Unterschied zum ‚Münchner Oswald‘ der, dass solche aggregativen Motivdoppelungen „weiträumige Dispositionen“ vorauszusetzen scheinen.⁷⁷ Davon kann in der Anfangspassage des ‚Oswald‘ keine Rede sein. Vielmehr reiben sich hier auf engem Raum zwei unterschiedliche Logiken gegeneinander: eine finale Logik der religiösen Berufung, die letztlich auf die heilsgeschichtliche Bekehrungsmission in göttlichem Auftrag zielt, und eine Logik der Einzelszene, die sich am Script der Vasallenberatung orientiert.⁷⁸ Dieses Muster kann zwar zugunsten jenes Unwahrscheinlichen, das Erzählung erzählenswert macht, abgebogen werden – und wird es auch: die Vasallen wissen keinen Rat –, muss aber offenkundig zunächst einmal aufgerufen werden.⁷⁹ Im Fall des ‚Münchner Oswald‘ lässt sich aus dieser Konstellation hermeneutisches Kapital schlagen: Indem die Vasallenberatung als Protoszene erwartungsgemäß aufgerufen wird, sie dann aber ins Leere läuft, wird die göttliche Legitimation des Auftrags zweifach bewährt: zunächst per se durch die Stimme des Engels, dann durch den Pilger. Entscheidend ist jedoch, dass die erzähllogische Basiskonfiguration in solchen Fällen stets dieselbe ist: nämlich Konkurrenz zwischen partikularer, prototypisch bestimmter Szenenlogik einerseits und fina-

 Siehe zum Ganzen Müller 1998, S. 136 – 140, bes. S. 140.  Wie sich dieses Widerspiel konkurrierender Logiken zu dem verhält, was in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik unter dem Begriff der ‚abgewiesenen Alternative‘ diskutiert wird, siehe unten, S. 257.  Insofern würde ich der Feststellung von Schulz 2012, S. 363, dass „die topische Ratszene, in der dem jungen Herrscher zur Brautwerbung geraten wird, völlig ohne Beteiligung der Vasallen stattfindet“, nicht zustimmen: Die Beteiligung wird prototypisch anerzählt, dann aber im Sinne der finalen Logik des Textes umgelenkt.

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ler Logik der Gesamthandlung – worauf sie gewissermaßen ‚hinauswill‘ – andererseits. Dass diese Konkurrenz schon zeitnah auch als Inkohärenz empfunden werden konnte, das legen spätere Gestaltungen des Oswald-Stoffs nahe, in denen die widersprüchliche Doppelmotivierung der Ratszene zurückgenommen und zugunsten einer handlungslogischen Variante entschieden wird. Das zeigen etwa die Prosabearbeitungen, die die Versdichtung des ‚Münchner Oswald‘ im 14./ 15. Jahrhundert erfahren hat.⁸⁰ So greift die ostschwäbische Prosabearbeitung, auch ‚Berliner Oswald‘ genannt und überliefert in einer Handschrift aus dem späteren 15. Jahrhundert, gerade in den Anfang der Handlung ein und vereinfacht die Doppelmotivierung des ‚Münchner Oswald‘, indem sie auf die divinatorische Eingebung durch Oswalds Engel verzichtet: Oswalds nüchterner Bestandsaufnahme seiner Situation – ohne Familie oder Erben – folgt hier unmittelbar der Beschluss zur Einberufung eines hoff[s], der mir ain semlich junckfrow mecht weisen die mir ebenbirtig wer (S. 195, Z. 19 f.).⁸¹ Das ist umso auffälliger, als dieser Bearbeitung die Münchner Fassung offenkundig als Vorlage diente. Es stimmt aber zu der Darstellung, die sich in der um 1400 entstandenen Nacherzählung der Oswaldlegende für das Nürnberger Legendar ‚Der Heiligen Leben‘ findet.⁸² Diese Prosa geht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie gar nicht mehr von einem initialen Heiratswunsch Oswalds erzählt, sondern den Rat zur Eheschließung gleich von den Großen seines Reichs kommen lässt (do maynten die herren, es solt ain gute frucht von im komen, vnd sprachen zu im, er solt ain frawen nehmen, S. 44, Z. 14– 16). In der Versfassung des ‚Wiener Oswald‘ wiederum – der freilich, insofern er kaum wörtliche Anklänge an den ‚Münchner Oswald‘ enthält, „etwas weiter ab[steht]“ (sein Verfasser kannte die ältere Version vielleicht nur vom Hörensagen) – bietet sich ein ähnliches Bild:⁸³ Hier soll Oswald auf Wunsch seines Gefolges heiraten (do riten im alle sine man, V. 35), und es ist dann ein durchreisender Pilger, der hier Tragemunt (V. 47) heißt, der die Tochter eines (ungenannten) Heidenkönigs benennt.⁸⁴

 Drei Prosafassungen sind erhalten; zu ihnen im Überblick Michael Curschmann: ‚Oswald‘ (Prosafassungen). In: 2VL 7 (1989b), Sp. 126 – 128.  Die ostschwäbische Prosa findet sich im Anhang der ‚Münchner-Oswald‘-Ausgabe Curschmanns von 1974, S. 189 – 213.  Ediert in Ignaz V. Zingerle: Die Oswaldlegende und ihre Beziehung zur deutschen Mythologie. Stuttgart/München 1856, S. 41– 69.  Curschmann 1987, Sp. 766.  Die Ausgabe: Der Wiener Oswald. Hrsg. von Gertrud Fuchs. Breslau 1920 (Germanistische Abhandlungen 52).

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Was die übrige spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Oswald-Überlieferung im Deutschen betrifft, so ähnelt der ostschwäbischen Prosabearbeitung auch die Gestaltung des ‚Zuger St. Oswald-Spiels‘ von 1630, mit dem Unterschied, dass in der Spielversion der Protagonist nicht die Herren seines Landes, sondern einen Bischof um Rat fragt – dabei allerdings für sich schon entschieden hat, eine Nichtchristin heiraten zu wollen: Eins heiden dochter wolt ich neen, / Es weer mir lieb, wans möchte bescheen (S. 150, Z. 3501 f.).⁸⁵ Die Versfassung des ‚Linzer Oswald‘ scheidet für einen Vergleich aus, da dieses Fragment nur Szenen einer großen Schlacht zwischen Christen und Heiden enthält. Damit ist die ‚Budapester Oswald‘-Prosa aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die einzige Fassung, die außer dem ‚Münchner Oswald‘ – an den sie sich überhaupt sehr eng anlehnt – noch die Doppelung der Ratszene kennt. Aber selbst hier erscheint die Szene motivational geglättet, indem Oswalds Engel ihm ausdrücklich zu verstehen gibt, er solle kainen gemahel nemen In seinen landen (S. 152, Z. 59), und seine Ratgeber diese Weisung, ohne dass Oswald sie ihnen mitgeteilt hätte, implizit aufnehmen: […] vnd kunden Im kayͤnen gemahel zaigen noch vinden In allen seinen landen die sein genos waͤr vnd ob syͤ in andern landen hieten funden die sein genos waͤr gewesen so was In doch nit wissenlich Ihrer kewsch vnd raͤynigkait vnd da von machten syͤ dem Jungen knig Sand Oswolt seiner pet nit entschayͤden noch raten. (S. 153, Z. 84– 88)⁸⁶ […] und sie wussten ihm in keinem seiner eigenen Länder eine Braut zu zeigen oder ausfindig zu machen, die ihm ebenbürtig wäre; und wenn sie in anderen Ländern eine gefunden hätten, die ihm ebenbürtig gewesen wäre, so hätten sie doch nicht wissen können, ob sie keusch und rein wäre, und daher vermochten sie dem jungen König, dem Heiligen Oswald, in seinem Anliegen weder Rat noch Auskunft zu geben.

Wenn spätere Bearbeitungen der Legende die Doppelung der Ratszene tilgen und sie motivational oder semantisch vereindeutigen, so scheint mir das die offenkundig ältere Gestaltung im ‚Münchner Oswald‘ jedoch nicht zu einem ‚Fehler‘ zu machen. Letztere ist vielmehr Ausweis einer Orientierung der Darstellung an kleinen, prototypisch vorgeformten Handlungseinheiten, die in Spannung zu anderen narrativen Dynamiken des Textes geraten kann, bezeichnenderweise aber erst in sekundärer Rezeption Anlass zur Be- oder Überarbeitung gab.⁸⁷ Da die

 Zitiert: Johannes Mahler: Spiel von St. Oswald. Hrsg. von Wolfgang F. Michael/Hans-Gert Roloff. Bern u. a. (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken 26).  Zitiert nach der Edition in András Vizkelety: Der Budapester Oswald. In: PBB (Halle) 86 (1964), S. 107– 188, hier S. 151– 188.  Das lässt sich nicht nur für den ‚Münchner Oswald‘, sondern auch für andere Texte, etwa den ‚Herzog Ernst B‘ und den ‚Orendel‘ (siehe unten, S. 245 f.), zeigen und legt in der Häufigkeit des Vorkommens nahe, dass die Ursachen systemischer, nicht textindividueller Natur sind.

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frühe weltliche volkssprachige Erzählliteratur, und nicht nur sie, regelmäßig Interaktionen zum Gegenstand hat, für die es solche prototypischen Handlungsmuster oder kognitiven Scripts gibt (besonders natürlich, wo es um rituell überformte, symbolisch besetzte oder sonstwie nach ‚Spielregeln‘ ablaufende Handlungen geht), kann es bei einem grundsätzlich partikular verfahrenden Erzählen immer wieder zu Spannungen zwischen prototypisch bestimmter Szenenlogik und finaler Logik der Gesamthandlung kommen. Das kann makrostrukturelle, szenenübergreifende Inkonsistenzen und Widersprüche in der Erzähllogik erklären, auch wo diese, anders als im ‚Münchner Oswald‘, nicht ohne Weiteres interpretatorisch verwertbar sind. So etwa an der folgenden Stelle aus dem ‚Herzog Ernst‘, die von der Forschung ebenfalls als Unstimmigkeit in der Motivierung verbucht wurde und an der sich die erzähllogischen Verhältnisse noch einmal komplexer darstellen als im Anfangsteil des ‚Münchner Oswald‘: Sie betrifft die zu Beginn des Kapitelabschnitts bereits erwähnte Szene des festlichen Weihnachtsgottesdienstes im Bamberger Münster. Der Festgottesdienst markiert den Auftakt zu einem Hoftag, und er soll Gelegenheit zur Versöhnung Herzog Ernsts und seiner Begleiter mit Otto und zu ihrer Wiederaufnahme in die Huld des Kaisers geben.⁸⁸ So stellt es die B-Fassung des Epos dar (V. 5845 – 5917); spätere Fassungen weichen geringfügig ab, indem sie den Ort des Hoftags nach Nürnberg verlegen.⁸⁹ Bis dahin wurde erzählt, wie Ernst durch böswillige Verleumdung um die Huld Kaiser Ottos, seines Stiefvaters, gebracht wurde; wie er seinen Verleumder, einen rheinischen Pfalzgrafen, erschlagen hat; wie er daraufhin, von Otto geächtet, die Heimat verlassen musste, in einem fabulösen Orient abenteuerreiche Schicksale erlebt, im Heiligen Land gegen die Heiden gekämpft und nun die Rückkehr ins Reich angetreten hat, um das Wohlwollen des Kaisers und sein Herzogtum wiederzugewinnen. Nach dem Bisherigen erwartet man, dass das im Interesse des Kaisers ist: Wochen vor dem Bamberger Hoftag – Ernst hält sich zu diesem Zeitpunkt noch in  ‚Huld‘ ist in diesem Zusammenhang ein politisch codierter Begriff; dazu vor allem Gerd Althoff: Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschaftsordnung. In: FMSt 25 (1991), S. 259 – 282; in Bezug auf den ‚Herzog Ernst B‘ Kai-Peter Ebel: Huld im ‚Herzog Ernst B‘. Friedliche Konfliktbewältigung als Reichslegende. In: FMSt 34 (2000), S. 186 – 212.  So die lateinische Prosafassung C, wahrscheinlich aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts (‚Herzog Ernst C‘), die in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts gedruckte deutsche Prosafassung F sowie die Frankfurter Prosafassung des 16. Jahrhunderts (‚Herzog Ernst Vb‘), die über die Fassung ‚Herzog Ernst F‘ auf die lateinische Prosa C zurückgeht (zum Verhältnis der Fassung Vb zu F siehe John L. Flood: Einleitung. In: Die Historie von Herzog Ernst. Die Frankfurter Prosafassung des 16. Jahrhunderts. Aus dem Nachlass von K.C. King. Hrsg. von John L. Flood. Berlin 1992 [Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 26], S. 11– 68, hier S. 11 f.).

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Jerusalem auf – hat Otto ihm Nachricht senden lassen, daz er tougenlîche / kæme vür daz rîche (‚Herzog Ernst B‘, V. 5749 f.), dass er, Herzog Ernst, also heimlich zu ihm zurückkommen möge.⁹⁰ Otto, so heißt es an dieser Stelle, reue es, dass er dem Herzog mit der über ihn verhängten Reichsacht Unrecht getan habe, und er wolle ihm alles wiedergeben, was er ihm genommen habe: des wære ime wol ze muote (V. 5756). Die Szene des weihnachtlichen Gottesdienstes aber wird dann ganz anders erzählt, als man es nach diesen Vorgaben erwarten würde. Erhalten ist die Passage, soweit es die mutmaßlich älteste Stoffbearbeitung von um oder vor 1200 betrifft, nur in der aus den Handschriften a und b rekonstruierten Fassung B des ‚Herzog Ernst‘; die drei Fragmente der A-Fassung enthalten sie nicht.⁹¹ Barfuß und im wollenen Gewand (wullen und barfuoz), so heißt es in der B-Version, werfen sich die Geächteten dem Kaiser zu Füßen und bitten um seine Gnade (V. 5923 – 5925). Otto gewährt den Bittstellern seine Huld. Doch weiß er nicht, dass es sich dabei um Herzog Ernst und seine Begleiter handelt. Als er Ernst dann erkennt, bereut er, ihn in seine Huld wiederaufgenommen zu haben, und will die Entscheidung rückgängig machen: ez gerou in, dô daz geschach. als er in erblihte,

 Herwegs Ausgabe hat an dieser Stelle: daz er tugentlîche / kæme vür daz rîche. Die Lesart tugentlîche entspricht der Hs. a, die Herweg als Leithandschrift seiner Textherstellung zugrunde legt. Da Hs. a einen fehlerfreieren Text als b bietet, hat schon Karl Bartsch vor allem die Lesarten von a übernommen, obwohl b an einigen Stellen altertümlicher wirkt (vgl. Bernhard Sowinski: Nachwort. In: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A hrsg., übers., mit Anmerkungen und einem Nachwort vers. von Bernhard Sowinski. Stuttgart 1970 [RUB 8352], S. 405 – 429, hier S. 428). Bartsch folgt an dieser Stelle Hs. b. Was hier ‚richtig‘ ist, ist schwer zu entscheiden. Wenn ich – mit Bartsch und Sowinski – die b-Lesart tougenlîche bevorzuge, dann weil sie von der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Rezeption gedeckt wird. Auch die lateinische Prosafassung C sowie, darauf aufbauend, der ‚Herzog Ernst F‘ sowie die Frankfurter Prosafassung des 16. Jahrhunderts heben die Heimlichkeit der Rückkehr hervor; vgl. Thomas Ehlen: Hystoria ducis Bauarie Ernesti. Kritische Edition des ‚Herzog Ernst‘ C und Untersuchungen zu Struktur und Darstellung des Stoffes in den volkssprachlichen und lateinischen Fassungen. Tübingen 1996 (ScriptOralia 96), S. 217– 394, hier S. 373, Z. 13 f.; ‚Herzog Ernst F‘ nach der Ausgabe: Herzog Ernst. Das deutsche Volksbuch. In: Herzog Ernst. Hrsg. von Karl Bartsch. Wien 1869, S. 227– 308, hier S. 296, Z. 10 – 15; Die Historie von Herzog Ernst. Die Frankfurter Prosafassung des 16. Jahrhunderts. Aus dem Nachlass von K.C. King. Hrsg. von John L. Flood. Berlin 1992 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 26), S. 146, Z. 17– 19. Der Unterschied ist nicht völlig belanglos: Wenn Kaiser Otto seinen Stiefsohn und dessen Gefährten auffordert, heimlich ins Reich zurückzukehren, dann salviert das gewissermaßen ihren Inkognito-Auftritt auf dem Hoftag.  Die Fragmente des ‚Herzog Ernst A‘ sind in Herwegs Ausgabe mitediert. Eine Übersicht über die erhaltenen A-Verse findet sich hier, S. 490 f.

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der keiser nider nihte. er wolde im niht sprechen zuo. (V. 5942– 5945) Kaum war das geschehen, bereute er es. / Als er ihn erkannte, / senkte der Kaiser das Haupt. / Er wollte kein Wort an ihn richten.

Dieses Verhalten des Kaisers scheint nun allerdings im Widerspruch zu V. 5748 – 5750 zu stehen (dô enbôt im der künic rîch, / daz er tougenlîche / kæme vür daz rîche): Hatte der Kaiser nicht selbst Ernst zur Rückkehr aufgefordert und ihm Versöhnung und Wiedergutmachung angeboten? Die Stelle hat die Forschung immer wieder beschäftigt. Sie sah in diesem „Meinungswechsel“⁹² eine motivationale Inkohärenz, die sie, unter anderem, mit der Genese des Textes zu erklären suchte. Manfred Hellmann etwa erkannte darin den Ausdruck verschiedener Überlieferungsschichten des Textes,⁹³ und auch Bernhard Sowinski vermutete im Nachwort seiner Ausgabe von 1970 „eine[] ursprünglich andere[] Gestaltung“: „Dieser Widerspruch muß nicht auf einem Zwiespalt in der Darstellung Kaiser Ottos beruhen. Er kann auch durch die Einfügung des Abenteuerteils in eine ursprüngliche Ächtermäre erfolgt sein.“⁹⁴ Prinzipiell auszuschließen ist dieses textgenetische Argument nicht. Es bedürfte aber einer weitergehenden Begründung, denn die Widersprüchlichkeit der Aussagen des Kaisers hat mit der nachträglichen Einfügung eines Mittelteils nicht unmittelbar zu tun: Irgendeine Fluchtgeschichte, in ein Waldgebirge oder ins Ausland, muss in einer ursprünglichen Verbanntendichtung ja in jedem Fall enthalten gewesen sein, und warum sollte nicht auch sie schon eine Aufforderung des Verbannten zur Rückkehr und ein Versöhnungsangebot enthalten haben? Die Mehrzahl der Interpreten tendiert denn auch, soweit ich sehe, zu Erklärungen, die mehr oder weniger voraussetzen, dass der Widerspruch ein wissentlicher ist. Eine psychologische Deutung schlug dabei erstmals Clemens Heselhaus in einer gattungs- und gestaltgeschichtlich interessierten Untersuchung aus dem Jahr 1942 vor:

 Ebel 2000, S. 208.  Siehe Manfred W. Hellmann: Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft. Untersuchungen zu ihrer Bedeutung als politischer Elemente in mittelhochdeutschen Epen. Annolied, Kaiserchronik, Rolandslied, Herzog Ernst, Wolframs ‚Willehalm‘. Diss. Bonn 1969, S. 108: „Dem in höchstem Ruhme strahlenden und – wenn auch nicht streng rechtlich, so doch moralisch – in jeder Weise bewährten und gerechtfertigten Fürsten will der Kaiser Otto der vorliegenden Fassungen die Heimkehr nicht versagen; dem Mörder seines Blutsverwandten verweigert der König einer früheren Stufe des Ernstepos die Begnadigung fast doch noch.“  Sowinski 1970, S. 420.

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Man kann diesen Widerspruch psychologisch erklären: Ernst wagt es nicht, dem Kaiser auf seine bloße Versöhnungsentbietung hin gegenüberzutreten, und die Zukunft gibt ihm recht. Aber auch der Kaiser fühlt wieder seinen alten Zorn, da er den Mann vor sich sieht, der ihm solange getrotzt hatte. Beides stimmt gut zu dem machtsüchtigen und jähzornigen Charakter des Kaisers Otte.⁹⁵

Indem diese Deutung in dem „höfische[n] Versgedicht“ des ‚Herzog Ernst B‘ zwar impliziert sei, aber nicht ausdrücklich formuliert werde, unterscheide sich diese frühe Fassung von dem späteren Prosaroman – Heselhaus meint die ‚Volksbuch‘Fassung des ‚Herzog Ernst‘ –, der Sprunghaftigkeit zu vermeiden suche und an die Stelle einer „lockere[n] Reihung der Geschehnisse“ ihre „logisch-kausale und durchdachte Verknüpfung“ setze.⁹⁶ Wolfgang Harms setzte in den 1960er-Jahren die Reihe psychologischer Interpretationen fort, allerdings nicht im Rahmen einer formgeschichtlichen Argumentation, sondern indem er das Verhalten des Kaisers in der Domszene als Folge einer doppelten Besetzung des Konflikts zwischen Ernst und Otto analysierte. Dieser sei zugleich ein Vater-Sohn-Konflikt und ein vasallitischer zwischen Kaiser und Herzog. In der Erkennungsszene überblendeten sich die beiden ‚Komplexe‘: Das Gewähren der Gnade gilt scheinbar dem Unerkannten, in Wahrheit aber wird es dem verborgen zugrundeliegenden Verhältnis zwischen Kaiser und Herzog – vielleicht auch noch: zwischen Vater und Sohn – gerecht. Der darauffolgende Versuch, die Gnade wieder zu entziehen, gilt dem mit Sinnen Erkannten, jetzt aber in seinem Wesen als treuer Vasall Verkannten.⁹⁷

Auch Siegfried Jäger versuchte 1968 den Widerspruch letztlich psychologisch zu erläutern, indem er von einer Spaltung der Identität des Kaisers in Person und Amtsträger ausgeht und annimmt, dass Otto einmal – bei der Einladung zur Rückkehr – als Person, das andere Mal – bei dem Weihnachtsgottesdienst in Bamberg – als öffentliche Persönlichkeit und Amtsträger handelt: „Als Person hat Otto seinem Stiefsohn längst verziehen; er bittet ihn, tougenlîche vor das Reich zu kommen (Z [sic!] 5749 – 50); als Vertreter des Amtes, als das rîche selbst, kann er so schnell nicht verzeihen.“⁹⁸  Clemens Heselhaus: Die Herzog-Ernst-Dichtung. Zur Begriffsbestimmung von Märe und History. In: DVjs 20 (1942), S. 170 – 199, hier S. 178.  Heselhaus 1942, S. 170 und 178 f.  Wolfgang Harms: Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300. München 1963 (Medium aevum 1), S. 94.  Siegfried Jäger: Studien zur Komposition der Crescentia der Kaiserchronik, des Vorauer und des Strassburger Alexander und des Herzog Ernst B. Diss. Bonn 1968, S. 218.

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Kai-Peter Ebel wiederum spricht in seinem Aufsatz aus dem Jahr 2000 zwar, wie zitiert, von einem „Meinungswechsel“ des Kaisers. Im Übrigen aber sieht er von figurenpsychologischen Erwägungen ab und versucht auf andere Weise zu zeigen, dass kein widersprüchlicher, sondern vielmehr ein „kohärenter Epenschluß“ vorliegt.⁹⁹ Dazu betrachtet Ebel Ottos Handeln, Anregungen Gerd Althoffs aufnehmend, vor dem Hintergrund des Regelwerks der deditio, das in der Schlussszene auf dem Hoftag aufgenommen werde. Demgemäß sei der öffentliche Teil einer deditio, also das Ritual der Unterwerfung coram publico, in der Realität fürstlichen Herrschaftshandelns im Mittelalter eine reine Inszenierung gewesen. Diesem Staatsakt, zum Beispiel an Hoftagen zu hohen kirchlichen Feiertagen, hätten geheime Verhandlungen vorauszugehen, in denen beide Seiten detailliert die Bedingungen für die Wiederaufnahme des Vasallen in die Huld des Herrschers aushandelten. Indem im ‚Herzog Ernst B‘ diese „unabdingbaren Vorverhandlungen“ über Gegenleistungen, die Otto für die anstehende deditio verlangen könne, ausblieben, sei die Verweigerungshaltung des Kaisers völlig verständlich.¹⁰⁰ Ebel räumt allerdings ein, dass bei dieser Erklärung immer noch unklar bleibt, „warum der Umweg zum Ziel führt, die Huld zu erlisten.“¹⁰¹ Er deutet den Umstand, dass das rechtsgültige Regelwerk der deditio in der Schlussszene des ‚Herzog Ernst‘ zu Ernsts Gunsten überwunden werden kann, als Hinweis auf die Legitimation des Helden durch übergeordnetes, göttliches Recht und damit im Sinne Althoffs als ein literarisches Spiel mit den ‚Spielregeln‘ fürstlichen Herrschaftshandelns.¹⁰² So weiterführend der Hinweis auf die Rolle des deditio-Regelwerks in der Versöhnungsszene des Epos ist, besteht das Hauptproblem einer Deutung wie derjenigen von Ebel darin, dass sie die Dichtung wie einen realhistorischen Zusammenhang begreift und dabei weitgehend außer Acht lässt, dass es sich um ein Erzählwerk handelt, um die narrative Darstellung einer Geschichte, die so, aber auch ganz anders hätte erzählt werden können. Warum wird die Versöhnung zwischen dem Kaiser und seinem Herzog, nachdem der Text an beider Versöhnungsbereitschaft keinen Zweifel gelassen hat, so umständlich geschildert?

 Ebel 2000, S. 208; dem folgend Mathias Herweg: Herzog Ernst, oder Streifzüge durch ferne Erzählwelten. Ein Nachwort. In: Herzog Ernst. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. In der Fassung B mit den Fragmenten der Fassungen A, B und Kl nach der Leithandschrift hrsg., übers. und komm. von Mathias Herweg. Mit Herzog Adelger (aus der ‚Kaiserchronik‘). Stuttgart 2019 (RUB 19606), S. 545 – 588, hier S. 566 f.  Ebel 2000, S. 209; ähnlich Otto Neudeck: Erzählen von Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung von Geschichte in mittelhochdeutscher Literatur. Köln u. a. 2003 (Norm und Struktur 18), S. 152– 155.  Ebel 2000, S. 210.  Ebel 2000, S. 210 f.

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Warum etwa werden die von Ebel vermissten Vorverhandlungen für eine deditio nicht erzählt? Warum bleibt der Kaiser von den Vorbereitungen für die deditio ausgeschlossen und muss überlistet werden? Warum wird gesagt, der Kaiser bereue die Versöhnung und wolle sie rückgängig machen, erst recht wenn, wie man hervorgehoben hat, dem Ritual in der mittelalterlichen Vorstellung schon an sich, allein aufgrund seines öffentlichen Vollzugs und unabhängig von der Identität des Begnadigten, Wirksamkeit zukam?¹⁰³ Das alles hätte auch anders erzählt werden können. Dass dies nicht geschieht, der ‚Herzog Ernst B‘ die Versöhnung zwischen Otto und Ernst vielmehr so erzählt, wie er sie erzählt, lässt sich aus den rituell-kommunikativen ‚Spielregeln‘ historischen Herrschaftshandelns allein nicht erklären. Insofern wird man an dem Befund einer syntagmatisch wenig kohärenten Motivierung der Schlussszene in der B-Fassung festhalten müssen.¹⁰⁴ Statt die Inkohärenz mit der Textgenese zu begründen oder sie hinwegzuinterpretieren – sei es durch figurenpsychologische, sei es durch (ausschließlich) politisch-kommunikationshistorische Erwägungen –, lässt sich zeigen, dass die eigenartige Szene und der in ihr enthaltene Widerspruch in der Figur Kaiser Ottos sich aus der Spannung zwischen partikularer, scriptorientierter Szenengestaltung einerseits und über die Einzelszene hinausreichenden Gestaltungsabsichten andererseits erklären.¹⁰⁵ Geschildert werden soll am Ende eine Versöhnung zwischen dem geächteten Herzog und seinen Begleitern und dem Kaiser. Dafür gibt es im zeremonialpolitischen Repertoire des Mittelalters ein Regelwerk: eben die deditio, einen öffentlich inszenierten, rituellen Unterwerfungsakt, den Gerd Althoff so beschrieben hat: „Barfuß und im Büßergewand wirft sich ein Konfliktgegner dem anderen zu Füßen, ergibt sich auf Gnade oder Ungnade, indem er sein Schicksal der Willkür des Gegners anheimstellt.“¹⁰⁶ Bei einem Herrscher-Untertan-Verhältnis entsteht daraus auf Seiten des Herrschers die Verpflichtung, den Vasallen wieder in seine

 So Corinna Dörrich: Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur. Darmstadt 2002 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), S. 117 f.  Ähnlich auch Dörrich 2002, S. 111– 114, mit dem Verweis auf weitere „Kohärenzbrüche[]“ im Zusammenhang mit Ernsts Rückkehr ins Reich.  Dass die Szene, trotz ihres literarisch-spielerischen Charakters, historisch nicht ganz ohne Beispiel ist, merkt Uwe Meves: Studien zu König Rother, Herzog Ernst und Grauer Rock (Orendel). Frankfurt a. M./Bern 1976 (Europäische Hochschulschriften 1, Deutsche Sprache und Literatur 181), S. 157 f., Anm. 5, an (mit Verweis auf Gertrud Boensel: Studien zur Vorgeschichte der Dichtung von Herzog Ernst. Diss. Tübingen 1944, S. 59 f.): So schildert Thietmar von Merseburg in seiner Chronik die Versöhnung Liudolfs mit seinem Vater in der Weise, dass der König zuerst nicht verzeihen will und dies dann erst auf die Intervention seiner Großen hin tut.  Althoff 1997, S. 100 f.

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Huld aufzunehmen, wenn dieser eine angemessene Genugtuung (satisfactio, compositio) zu leisten verspricht.¹⁰⁷ Die Regeln der deditio stellen ein ‚Drehbuch‘ für die Aussöhnung zwischen Herrscher und Vasall bereit, und wie die Forschung verschiedentlich festgestellt hat, folgt die Darstellung der Unterwerfung Herzog Ernsts und seiner Begleiter – zunächst – genau diesem Script. Erzählt werden soll im ‚Herzog Ernst B‘ aber zugleich das Gegenteil einer Unterwerfung, eine Nichtunterwerfung. Dieses finale Erzählanliegen ist bereits im Beginn der Szene angelegt. Zu Anfang des Abschnitts, noch bevor von dem Geschehen während des Weihnachtsgottesdienstes im Bamberger Münster erzählt wird, bittet die Königin die anwesenden Fürsten, sich bei dem Kaiser für den Geächteten zu verwenden: Sie möchten ihn, den Kaiser, Gott zuliebe darum ersuchen, dass er Ernst lieze sîne hulde / und ime vergæbe sîne schulde (V. 5897 f.), dass er ihm also seine Schuld vergebe und ihn wieder in seine Huld aufnehme. Das versprechen die Fürsten der Königin: dô gelobeten sie der künigin, daz sie sich durch den werden degen wolden alles des vergeben gewaldes des sie mohten hân. er müese im die hulde lân oder verzîhen vil übellîch. (V. 5900 – 5905) Da versprachen sie der Königin, / dass sie für den edlen Helden / allen Einfluss geltend machen wollten, / den sie immer haben mochten. / Der Kaiser müsse ihm seine Huld gewähren, / oder er werde sie ihm zu seinem eigenen Schaden abschlagen.

Diese Eröffnung der Schlussszene, insbesondere die Ankündigung der Fürsten, sich mit aller ihnen zu Gebote stehenden gewalt – im Sinne von Machtmitteln und Einflussmöglichkeiten – beim Kaiser für Ernst verwenden zu wollen, hat im Text eine Vorgeschichte, und zwar in dem, was der Text über das Verhältnis zwischen Reichsfürsten und Kaiser erzählt. Die Forschung hat mit Recht darauf hingewiesen, dass schon beim ersten Versuch der Fürsten, zwischen Ernst und Otto zu vermitteln (V. 1105 – 1185) – im ersten Teil, vor der Orientreise – ein Machtkampf zwischen Kaiser und Reichsfürstenschaft deutlich wird.¹⁰⁸ Dabei geht es einerseits um fürstliche Partizipations- und Mitspracheansprüche in einer Sache, die, wie die Verhängung bzw. Aufhebung einer Reichsacht, eine wichtige Reichsangelegenheit war, und der Text spiegelt diesbezüglich durchaus, was mittelalterlicher Rechts- und Herrschafts-

 Ebel 2000, S. 196.  Dazu Ebel 2000, S. 197 f.

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praxis entsprach.¹⁰⁹ Andererseits spielt im Hinblick auf den Machtkampf zwischen dem Kaiser und den Reichsfürsten die Logik des Verhältnisses zwischen Ernst und seinen Standesgenossen eine wesentliche Rolle: So machen die Fürsten bei ihrem ersten Vermittlungsversuch dem Kaiser ein gemeinsames compositioAngebot und bestätigen dadurch ihr enges Bündnis mit Ernst. „Was er auch gegen euch getan hat, / wollen wir ihm büßen helfen“ (swaz er wider iuch getân hât, / daz wellen wir im helfen büezen, V. 1132 f.), sagen sie, und: „Für alles, was ihr von ihm noch zu fordern habt, / wollen wir für ihn bürgen“ (swes ir von im niht welt entwesen, / des wellen wir vür in bürge wesen, V. 1155 f.). In der Leithandschrift a (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 998), von der der Text in den Ausgaben von Karl Bartsch, Bernhard Sowinski und Mathias Herweg an dieser Stelle abweicht, wird der Standpunkt der Fürsten in dem Konflikt zwischen Ernst und Otto sogar noch schärfer formuliert, indem sie dem Kaiser drohen, das Bündnis mit ihm zu beenden, falls er über Ernsts deditio nur nach eigenem Willen entscheide: Des lat yn zu busze stan Nůr wye ir selb welt: Das wyr dienstlich syn verselt Gen uch nymmer mere. (Hs. a, fol. 272vb)¹¹⁰ Dafür lasst ihn büßen / nur so, wie ihr selbst es wollt: / auf dass wir euch gegenüber / niemals mehr dienstpflichtig sind.

 Zur Reichsacht als einer besonderen Form der Acht siehe Friedrich Battenberg: Reichsacht. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 4 (1990), Sp. 523 – 529, sowie, allerdings mit einem Schwerpunkt auf dem 14. und 15. Jahrhundert, die ausführliche Darstellung von Friedrich Battenberg: Reichsacht und Anleite im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der höchsten königlichen Gerichtsbarkeit im Alten Reich, besonders im 14. und 15. Jahrhundert. Köln/Wien 1986 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 18). Sven Externbrink: Friedrich der Große, Maria Theresia und das Alte Reich. Deutschlandbild und Diplomatie Frankreichs im Siebenjährigen Krieg. Berlin 2006, S. 130 – 135, referiert, wenn auch in anderem, nämlich frühneuzeitlichem Zusammenhang, Stimmen, wonach es im Mittelalter deshalb kaum zu Achtprozessen gekommen sei, weil der Kaiser immer auf die Zustimmung der (Kur‐)Fürsten angewiesen gewesen sei. Grundlegend geändert habe sich das erst mit der Regierung Karls V. und seiner Nachfolger, die sukzessive das Mitspracherecht der Fürsten einschränkten. Auch Battenberg 1990, Sp. 526, weist darauf hin, dass die Reichsacht zwar regelmäßig ein dem Herrscher persönlich vorbehaltenes Institut war, sein diesbezüglicher Handlungsspielraum jedoch trotz der theoretisch immer wieder betonten plenitudo potestatis imperialis begrenzt blieb.  Zitiert nach dem Lesartenapparat in Cornelia Weber: Untersuchung und überlieferungskritische Edition des ‚Herzog Ernst B‘. Mit einem Abdruck der Fragmente von Fassung A. Göppingen 1994 (GAG 611), S. 244.

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Bartsch, dessen kritischem Text die Ausgabe von Sowinski folgt, und neuerdings auch Herweg korrigieren die Leithandschrift an dieser Stelle und schreiben ymmer bzw. iemer statt nymmer; ‚Herzog Ernst B‘, V. 1144 f. lauten bei Herweg: daz wir dienstlîch sîn verselt / gên iuch iemer mêre. Die Fürsten stehen also zunächst – das heißt bis sie sich, nach dem Tod des Pfalzgrafen, auf einem Hoftag der Ächtung des Herzogs anschließen und zur Exekution der Acht verpflichten – auf Ernsts Seite, und so tun sie es in der Schlussszene. Dabei kann das Verhältnis zwischen Ernst und den Fürsten, seiner Logik nach, als eines der ‚Vertretung‘ beschrieben werden in dem Sinne, den Harald Haferland und Armin Schulz dem Begriff gegeben haben: Die Fürsten fungieren und agieren als Stellvertreter Ernsts in einer Weise, die sie ihm metonymisch verbunden erscheinen lässt, so dass mit dem einen auch die anderen getroffen sind. Ein deutliches Bewusstsein dafür wird im Text auch ausgesprochen, und zwar seitens des Kaisers, wenn er, ebenfalls im ersten Teil, sagt, dass Ernst, indem er den Pfalzgrafen erschlagen habe, auch sie, die Fürsten, entehrt habe: helde, lât iu wesen zorn daz er iuch und daz rîche sô rehte lasterlîche beide iu allen hât geschant. (V. 1414– 1417) Helden, geratet in Zorn darüber, / dass er sowohl euch als auch das Reich / zu euer aller großen Schmach / so in Schande gebracht hat.

Für die Schlussszene bedeutet das metonymische Verhältnis zwischen Ernst und den Fürsten freilich auch, dass der Konflikt zwischen dem Herzog und Otto, seiner tieferen Bedeutung nach, den Machtkampf zwischen Kaiser und Reichsfürsten spiegelt. Der Text lässt mithin eine Gestaltungsabsicht und eine ihr entsprechende finale Dynamik erkennen, die darauf zielt, das Gegenteil einer Unterwerfung zu zeigen. Darauf weist nicht nur die kompositorische Anlage der Schlussszene, sondern auch die Darstellung des Verhältnisses zwischen Fürsten und Kaiser im Anfangsteil, vor den Orientabenteuern Ernsts, hin. Wenn das aber so ist, dann ergibt sich ein quasi unlösbarer Konflikt. Wie kann man Unterwerfung und Nichtunterwerfung zugleich zeigen? Das Script der deditio sieht nur die Unterwerfung vor. Es kann aber – und das scheint mir für diese Art eines an prototypischen Handlungsmustern orientierten Erzählens charakteristisch – zugleich nicht ausgelassen werden, weil es die rituelle Form für die Sache bereitstellt, um die es geht: hier die Aufhebung einer Reichsacht. Es konfligieren also die szenenbezogene, mikrostrukturelle Logik des Scripts und die szenenübergreifende,

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makrostrukturelle Logik in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Fürsten und Kaiser in dem Text – eine Logik, die zu Beginn der Szene durch die Wiedergabe des Gesprächs zwischen Königin und Fürsten auch noch einmal ins Bewusstsein gerufen wird. Aufgrund dieser paradoxen Anlage der Schlussszene muss die Position des Kaisers umgeschrieben werden. Indem der Kaiser, den ‚Spielregeln‘ der deditio gemäß, seine Huld gewährt, dabei aber, anders als die Fürsten, nicht weiß, wer die Bittsteller sind, wird erzählerisch die Möglichkeit geboten, die gewalt (V. 5903) der Fürsten zu zeigen: Nachdem Otto den Herzog nämlich erkannt hat und dazu ansetzt, seine Entscheidung zu revidieren, sind es die Fürsten, die in direkter Rede zu Wort kommen und an Otto appellieren, das einmal Gewährte nicht wieder zurückzunehmen; er mache sich sonst selbst zum Gespött (V. 5946 – 5953). nû ez iuch herren dunket guot, antwortet der Kaiser, und ir sîn genâde wellet hân, sô wil ich mînen zorn lân, sô wil ich im iemer wesen holt. (V. 5954– 5957) Nun, wenn es euch, ihr Herren, gut erscheint / und ihr seine Begnadigung wollt, / dann will ich von meinem Zorn ablassen / und ihm fortan gewogen sein.

Auffällig an dieser Antwort ist, dass Otto nicht auf die Aussicht hin, sich Spott auszusetzen, einlenkt, sondern weil die Fürsten es so wollen: „wenn ihr seine Begnadigung wollt“ (V. 5955). Es geht also wesentlich – und ganz im Sinne des finalen Erzählinteresses – um die Berücksichtigung fürstlicher Partizipationsund Mitspracheansprüche. Augenfälliger als indem man erzählt, wie die Fürsten den Kaiser von etwas überzeugen, was dieser – zunächst – nicht will, können diese nicht vorgeführt werden.¹¹¹ Die Versöhnungsszene am Schluss des Epos zielt also weder auf die Darstellung eines „Meinungswechsels“ Ottos noch allein auf eine burleske ‚Lust an der List‘.¹¹² Die List der Fürsten und der Königin ist vielmehr die einzige Möglichkeit der Vermittlung zweier an sich unvermittelbarer Logiken: der Logik des Scripts – mikrostrukturell, dem Muster der deditio verpflichtet – und der makrostrukturellen Logik des Kaiser-Fürsten-Narrativs. Sie ist die Stelle, an der sich zwei unterschiedliche Handlungslogiken wie in einem Knotenpunkt kreuzen, und der narrative Mechanismus, die zwischen ihnen bestehende Spannung aufzulö-

 Die Rolle der Fürsten in der Inszenierung der Versöhnung zwischen Ernst und dem Kaiser betont auch Dörrich 2002, S. 118 – 120.  Vgl. Warning 2003.

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sen.¹¹³ Den motivationalen Widerspruch zwischen V. 5748 – 5755 (Otto verspricht Ernst Versöhnung und Wiedergutmachung) und V. 5942– 5945 (Otto will die Versöhnung zurücknehmen) hebt das nicht auf. Aber offenbar geht es darum auch gar nicht. Offenbar folgt die Schlussszene des ‚Herzog Ernst B‘ einer Erzähllogik, der psychologisch-figurenbezogene Kohärenzprinzipien nachrangig sind.Vorrang wird stattdessen solchen gegeben, die funktional an der einzelnen Szene ausgerichtet und durch Schemata, prototypische Verläufe oder anderweitig präformierte Handlungserwartungen unterschiedlicher Reichweite bestimmt sind.¹¹⁴ Immer wieder erweist sich die Handlungslogik in den Texten so als funktional bezogen auf das, was Gegenstand eines einzelnen Handlungsabschnitts oder auch einer bestimmten Folge von Szenen ist, ohne dass damit notwendig Ansprüche auf eine weiterreichende Kohärenz oder Folgerichtigkeit des Dargestellten erhoben sein müssten. Das gilt nicht nur dort, wo wie in den bisherigen Beispielen szenenbezogen prototypische Muster literarischer und/oder alltagsweltlicher Art vorauszusetzen sind, um Handlungslücken aufzufüllen (‚Rolandslied‘), oder wo sie offenkundig aufgerufen werden müssen, gleichzeitig aber mit der finalen Logik von Szene und/oder Gesamttext in Widerstreit geraten – was

 Gerd Althoff: Spielen die Dichter mit den Spielregeln der Gesellschaft? In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.– 11. Oktober 1997. Hrsg. von Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 53 – 71, hat demgegenüber, ausgehend von seinen Untersuchungen zu den ‚Spielregeln der Politik im Mittelalter‘, die Stelle, wie schon angedeutet, vorherrschend im Hinblick auf die deditio und des für sie geltenden Regelwerks interpretiert. Er sieht darin ein literarisches Spiel der mittelalterlichen Autoren mit dem politisch-juristischen Regelwerk der Huld, ein „Spiel mit den Spielregeln“ (S. 58); vgl. auch Gerd Althoff: Brüchige Helden: Herzog Ernst und Kaiser Otto. In: Brüchige Helden – Brüchiges Erzählen. Mittelhochdeutsche Heldenepik aus narratologischer Sicht. Hrsg. von AnneKatrin Federow/Kay Malcher/Marina Münkler. Berlin/Boston 2017 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 11), S. 21– 34. Neudeck 2003, S. 152– 155, wiederum beobachtet, an Althoff anschließend, einen kontrafaktischen Umgang mit den ritualisierten Kommunikationsregeln einer gängigen kommunikativen Praxis. Nach dem Gesagten sollte deutlich sein, dass diese Erläuterungen die Logik des Listhandelns in der Schlussszene des ‚Herzog Ernst‘ meines Erachtens nicht wirklich erklären können.  Es versteht sich beinahe von selbst, dass vor diesem Hintergrund auch die in der Forschung immer wieder thematisierte Schuldfrage – bei wem liegt die Hauptschuld für den Konflikt: bei Ernst, der, so Monika Schulz: Âne rede und âne reht. Zur Bedeutung der triuwe im ‚Herzog Ernst‘ (B). In: PBB 120 (1998), S. 395 – 434, doch moralische Tugend, insbesondere triuwe, beweise, oder bei Otto, den doch politische Notwendigkeiten zu seinem Handeln zwängen und den Konflikt zu einem tragischen machten (in diesem Sinne u. a. Hans-Joachim Behr: Herzog Ernst. In: Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart 2007 [RUB 8914], S. 59 – 74)? – wenig Sinn ergibt. Siehe dazu auch Herweg 2019, S. 558 – 562, der „Fragen individueller Schuld, wie sie in der Ernst-Forschung stets eine große Rolle spielten“ (S. 559), gleichfalls für nachrangig hält.

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dann entweder zu, gegebenenfalls hermeneutisch verwertbaren, Doppelungen (‚Münchner Oswald‘) oder zur Umschreibung früherer Textinformationen im Sinne des lokalen Erzählanliegens zwingt (‚Herzog Ernst B‘). Punktuell-funktionales Erzählen zeigt sich vielmehr auch, wo ad hoc und unabhängig von Scriptvorgaben Informationen eingespielt werden, die sich mit dem zuvor Erzählten nicht vertragen – sei es, weil sie ihm widersprechen oder weil an etwas angeknüpft wird, das gar nicht erzählt wurde –, die aber offenkundig dazu dienen, die Plausibilität der einzelnen Szene zu stützen. Die Konsistenz der Einzelszene ist in solchen Fällen dem Gesamtzusammenhang immer übergeordnet. Dass mittelalterliches Erzählen nicht selten in dieser Weise punktuell-funktional verfährt, ist, wie eingangs erwähnt, in der Forschung mehrfach festgestellt worden. Ich will daher nur ein Beispiel anführen, das zeigt, wie sich dies im Hinblick auf die Handlungsmotivierung darstellen kann. Es entstammt noch einmal dem deutschen ‚Rolandslied‘. Im Kontext der Racheschlacht Karls gegen das Heer Paligans heißt es an einer Stelle: Der haiden viel ain michel menige. halsperge noch helme machten si nicht gefristen. wol vâchten die cristen. dô gedâcht Malprimes des vermezzen urloubes, des er zuo dem vater nam, daz er den kaiser scolte erslân. er was der Paligânes sun. (V. 8321– 8329) Eine große Zahl der Heiden fiel. / Weder Panzer noch Helme / konnten sie vor dem Tod bewahren. / Die Christen kämpften tapfer. / Da dachte Malprimes / an die verwegene Bitte, / die er an den Vater gerichtet hatte, / dass er den Kaiser erschlagen dürfe. / Er war Paligans Sohn.

Die Verse gehen der Schilderung des Zweikampfs zwischen dem Kaiser und Paligans Sohn voran, in welchem der Kaiser Malprimes töten wird (V. 8347– 8349). Ihr Rückbezug – „Da dachte Malprimes an die verwegene Bitte, die er an den Vater gerichtet hatte“ – ist allerdings unklar: In V. 3651– 3664 hatte ein Herzog Malprimis von Ampelgart, nicht identisch mit dem namensgleichen Sohn König Paligans, um das Vorrecht gebeten, Roland (nicht Karl) töten zu dürfen; in V. 7223 – 7238 wiederum hatte Paligans Sohn Malprimes seinem Vater geraten, Paris und Aachen zu zerstören, Rom zu erobern. Beide Stellen scheinen zu der Bitte, den Kaiser erschlagen zu dürfen, nicht zu passen. Die Erwartung jedoch, dass es sich

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hier um eine fehlgeleitete „Reminiszenz“ handeln müsse,¹¹⁵ scheint mir den grundsätzlichen Verfahrensweisen dieses Erzählens nicht angemessen. Das zeigt ein Vergleich mit der Vorlage: Die ‚Chanson de Roland‘ erzählt an dieser Stelle etwas anderes. Hier ist es zunächst Herzog Naimes, der Malpramis tötet (ChdR V. 3421– 3428; bei Konrad verwundet Malprimes Naimes, den Karl dann rettet). Dann tötet Karl König Canabeus, den Bruder Baligants, der Naimes bedrängt hat (ChdR V. 3444 – 3450). Bei Konrad hingegen fällt der Canabeus-Kampf aus. An Canabeus’ Stelle rückt stattdessen Malprimes, und nun ist er es, der von Karl getötet wird. Es spricht also viel dafür, dass die Verse 8325 – 8328 (dô gedâcht Malprimes […]) von Konrad – oder, sinngemäß, derjenigen Fassung der ‚Chanson‘, die ihm vorlag – eingefügt wurden, um den Zweikampf zwischen Karl und Malprimes zu motivieren (in der ‚Chanson‘ ist Karls Eingreifen in den Kampf demgegenüber durch Naimes’ Notlage motiviert). Es handelte sich dann um eine punktuell gesetzte Motivierung, die ihre Funktion im Rahmen der bestimmten Szene hat, in der und für die sie eingesetzt wird. Dabei kann dann prinzipiell auch an Nichterzähltes angeknüpft werden.¹¹⁶ Auch im ganz Kleinen lässt sich dieses szenenbezogen funktionale Erzählen, das sich heutigen makrostrukturellen Kohärenzerwartungen widersetzt, bekanntlich beobachten: etwa an Gegenständen, die nicht in lebendigem, wiederholtem Gebrauch gezeigt werden, sondern nur ad hoc, für eine ganz bestimmte Handlungssituation auftauchen und nur ein einziges Mal verwendet werden, selbst wenn es naheläge, sie häufiger zu verwenden. Das goldgewirkte Bild der Marter Christi, das der Held im ‚Orendel‘ als Opfergabe für das Heilige Grab anfertigen lässt, wird später, als Orendel in Jerusalem ist, mit keinem Wort mehr erwähnt;¹¹⁷ die Herstellung solcher Opfergaben gehört aber, gewissermaßen urbildlich, zu einer Szene des Typs ‚Vorbereitungen zum Aufbruch ins Heilige Land‘. Und, um ein anderes, bekannteres Beispiel anzuführen, der magische Ring, den Lunete sowohl bei Chrétien als auch bei Hartmann dem Protagonisten in der Torraumszene gibt, damit er ihn vor seinen Verfolgern unsichtbar mache – ein

 So Kartschoke 1993a, S. 741, zur Stelle.  Mit Sternberg 1985, S. 235 – 241, könnte man vielleicht von einer ‚temporären Lücke‘ (temporary gap) sprechen, einer handlungsrelevanten Information, die aber nicht dann geliefert wird, wenn die Chronologie des dargestellten Geschehens es erfordert, sondern ad hoc, an dem Ort und der Stelle, an der sie gebraucht wird; siehe auch Kap. 1.2, bes. Anm. 28.  Der ‚Orendel‘ wird zitiert nach der Ausgabe: Orendel. Ein deutsches Spielmannsgedicht. Mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Arnold E. Berger. Bonn 1888; siehe hier V. 323 – 328: Der junge künig lobesam / ein bild giezen dô began / von dem rôten schoenen golde, / als erz zuo Jêrusalêm zuom opfer haben wolde. / Ez was ein bild so hêrlîch, / unsers hêren bild der marter was ez glîch.

Prototypisches und funktionales Erzählen

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Gegenstand, den Yvain/Iwein später durchaus noch gebrauchen könnte –, verschwindet mit dem Abschluss der Szene vollkommen aus der Handlung.¹¹⁸ Dass, wenn zu Beginn der Erzählung ein Nagel in die Wand geschlagen werde, sich der Held am Ende der Erzählung auch an diesem Nagel aufhängen müsse,¹¹⁹ gilt eben in mittelalterlichen Erzähltexten nur bedingt, und je undurchformter sie insgesamt sind, desto weniger. Das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht auch das Gegenteil gäbe: Die ästhetisch anspruchsvollen Erzählwerke des 12. und 13. Jahrhunderts – Veldekes Eneasroman wäre dafür schon ein Beispiel – sind erkennbar um eine stärkere makrostrukturelle Einbindung der einzelnen Handlungs- und Erzähleinheiten bemüht. Doch auch in ihnen wird Kohärenz immer wieder von der einzelnen Szene, von der Funktionalität eines Motivs für einen bestimmten Handlungszusammenhang her bestimmt und können einzelne Handlungselemente an prototypischen Mustern oder Scripts orientiert sein, was unter Umständen makrostrukturell zu Unstimmigkeiten führt. Die elaborierte volkssprachige, zumeist höfische Erzählliteratur von um 1200 scheint diesbezüglich von der etwas älteren nicht kategorial, sondern nur graduell verschieden. Insofern fasst man in der frühen mittelhochdeutschen Epik eine erzähllogische Basiskonfiguration, und es ließe sich zeigen, dass diese, sehr abhängig von Gattung und Gebrauchszusammenhang, auch für sehr viel spätere Texte zum Teil noch prägend ist.¹²⁰

 Diese funktional auf die einzelne Handlungssituation bezogene Logik teilen die mittelalterlichen Erzähltexte im Übrigen mit den Darstellungsverfahren des Märchens, wie Max Lüthi sie unter den Stichworten ‚Flächenhaftigkeit‘ und ‚Isolation‘ beschrieben hat; siehe Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 11. Aufl. Tübingen/Basel 2005 (Uni-Taschenbücher 312), S. 13 – 24 und 37– 62, zum Umgang mit Gegenständen im Märchen bes. S. 13.  So das gern zitierte Diktum Čechovs, nachzulesen in Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Aufl. (Moskau – Leningrad 1931) hrsg. und eingel. von KlausDieter Seemann. Wiesbaden 1985 (Slavistische Studienbücher, N. F. 1), S. 227 f.  Ich denke dabei insbesondere an die volkssprachige Dietrichepik des (späten) Mittelalters, in der man zahlreiche Beispiele für funktionales Erzählen findet. Nur ein Beispiel aus der ‚Rabenschlacht‘ aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts: In Str. 899 entdeckt Dietrich die Wunden der Etzelsöhne Orte und Scharphe scheinbar zum ersten Mal. Dabei hatte er sie Str. 885,5 bereits geküsst. Ist das ein Bruch in der Textlogik, wie Ute Schwab: Einige Gebärden des Todesrituals in der ‚Rabenschlacht‘. In: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hermann Reichert/Günter Zimmermann. Wien 1990 (Philologica Germanica 11), S. 359 – 393, meint? Meines Erachtens muss man diesen (vermeintlichen) Widerspruch im Zusammenhang mit der Funktion der Wundbetrachtung sehen, die hier nicht Trauer ist, sondern Identifikation des Täters (vgl. Str. 900 f.).

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Logiken der Handlungsdarstellung

5.2 Der Vorrang der bezeichenunge: Orendel, König Rother, Rolandslied ‚Orendel‘ oder ‚Der Graue Rock‘ erzählt die Geschichte der Reliquie vom ungenähten Rock Christi in einer merkwürdigen Mischung aus profanen und geistlich geprägten Erzählmustern, aus Brautwerbungs- und Legendennarrativ. Der Text beginnt mit einer kurzen Darstellung der Frühgeschichte der Reliquie (V. 1– 154). Die Quellenberufung auf „das Buch“ (Ez sprichet an dem buoche [alsô],V. 155), das zuvor schon als tiutsche[z] (V. 41) eingeführt wurde, eröffnet dann den ersten Handlungsteil. Erzählt wird eine Brautwerbungshandlung, wobei die Umbesetzung der ‚gefährlichen Brautwerbung‘ durch das Legendenmuster zur Folge hat, dass das Schema nur noch undeutlich erkennbar ist:¹²¹ Orendel will dem Heiligen Grab dienen und Bride, die Alleinerbin Jerusalems, freien. Schon die Hinfahrt zieht sich mehrere Jahre hin und gestaltet sich abenteuerlich. Orendel, dessen gesamte Flotte in einem von Gott gesandten Sturm zugrunde gegangen ist, wird von einem Fischer namens Ise aufgenommen und kauft ihm für dreißig Pfennige das Gewand ab, aufgrund dessen er nach seiner Ankunft in Jerusalem nur noch ‚Der graue Rock‘ heißen wird. Es gelingt ihm, Bride zur Frau zu gewinnen, und gemeinsam behalten sie in mehreren Kämpfen gegen Riesen und heidnische Heerscharen die Oberhand. Gott allerdings hat ihnen durch einen Engel neun Jahre Keuschheit geboten. In einer ursprünglichen Fassung des Textes, so hat man angenommen, reiste Orendel nun auf direktem Weg nach Trier zurück.¹²² Der erhaltene Text erzählt etwas anderes, eine Expedition nach Westfalen und weitere Kämpfe im Heiligen Land. Dann kehren Orendel und Bride nach Trier zurück, bevor sie in einem zweiten Hauptteil (ab V. 3150), gemeinsam mit dem inzwischen zum Herzog erhobenen Ise, weitere Abenteuer erleben und am Schluss Jerusalem ein zweites Mal befreien. Erneut erscheint ein Engel: Das Keuschheitsgebot ist jetzt endgültig. Alle Protagonisten ziehen sich aus der Welt zurück, um, ebenfalls wie von dem Engel angekündigt, ein gutes halbes Jahr später zu sterben. Der Text ist spät und schlecht überliefert. Die einzige bekannte Handschrift aus dem Jahr 1477, 1870 in Straßburg verbrannt, ist nur in einer Abschrift bzw. einem Abdruck erhalten.¹²³ Darüber hinaus sind lediglich zwei Druckfassungen

 Vgl. Schulz 2012, S. 191 f.  Michael Curschmann: ‚Orendel‘ (‚Der Graue Rock‘). In: 2VL 7 (1989a), Sp. 43 – 48, hier Sp. 45.  Die Abschrift (Berlin, Staatsbibliothek, mgq 817a) fertigte Christian Moritz Engelhardt nach 1817 für Friedrich Heinrich von der Hagen an, der sie für seine ‚Orendel‘-Ausgabe nutzte: Der ungenähte graue Rock Christi: wie König Orendel von Trier ihn erwirbt, darin Frau Breiden und das heilige Grab gewinnt, und ihn nach Trier bringt. Altdeutsches Gedicht. Aus der einzigen

Der Vorrang der bezeichenunge

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bekannt. Beide wurden 1512 in Augsburg veröffentlicht. Die eine ist eine von Hans Froschauer auf der Grundlage der Handschrift herausgegebene Versfassung, die andere eine Prosaversion – besorgt von Johann Otmar –, die zum Teil verändernd und erklärend in den Text der Versfassung eingreift. Der Überlieferungssituation entsprechend unsicher ist auch die zeitliche Einordnung des ‚Orendel‘. Traditionell wird der Text früh datiert und auch in den Literaturgeschichten üblicherweise der vor- oder frühhöfischen Literatur zugerechnet.¹²⁴ Doch ist diese Frühdatierung (nicht nur) in der älteren Forschung in Frage gestellt worden. Schon Helmut de Boor zweifelte an ihr, unter anderem aus stilistischen Gründen – ihn erinnerte der Stil des Textes an die spätmittelalterliche Balladendichtung –, und in jüngerer Zeit wurde sie von Christian Kiening geradezu als „germanistische[s] Fantasma“ tituliert.¹²⁵ Dagegen datierte Ernst Teuber aufgrund einer sprachgeschichtlichen Untersuchung den ‚Orendel‘ in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts.¹²⁶ Seine Einschätzung hat ihre Probleme, die nicht zuletzt mit der von ihm zugrunde gelegten Textausgabe (der in textkritischer Hinsicht zweifelhaften Ausgabe Hans Steingers) zu tun haben.¹²⁷ Diese wurden bereits von Curschmann gesehen, der der Frühdatierung im Ergebnis aber dennoch zustimmt und eine Entstehung des Textes in den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts für am wahrscheinlichsten hält; allerdings rechnet er mit einer stilistischen Überarbeitung im 13. Jahrhundert.¹²⁸ Die für eine frühe Datierung vorgebrachten Argumente – Sprach- und

Handschrift, mit Vergleichung des alten Drucks, hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. Berlin 1844.  Siehe beispielsweise Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick. Stuttgart 1997 (RUB 9485), S. 164.  De Boor 1949, S. 250 f., 256 f.; Christian Kiening: Hybriden des Heils. Reliquie und Text des ‚Grauen Rocks‘ um 1512. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg.von Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, S. 371– 410, 1013 – 1016 (Abb.), hier S. 389.  Siehe Ernst Teuber: Zur Datierungsfrage des mittelhochdeutschen Orendelepos. Diss. Göttingen 1954, der S. 221– 223 zu dem Ergebnis kommt: dem Wortgebrauch nach nicht später als 1300, der Reimtechnik nach zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts, dem Stil nach an dessen Ende.  Zur Kritik an der Ausgabe Steingers Michael Curschmann: ‚Spielmannsepik‘. Wege und Ergebnisse der Forschung von 1907– 1965. Mit Ergänzungen und Nachträgen bis 1967 (Überlieferung und mündliche Kompositionsform). Stuttgart 1968 (Referate aus der DVjs), S. 14 f.; Sarah Bowden: Bridal-Quest Epics in Medieval Germany. A Revisionary Approach. London 2012 (MHRA Texts and Dissertations 85), S. 139. Mit Blick auf die Textgrundlage und die von ihm herangezogenen Vergleichstexte äußert sich skeptisch zu Teubers Befunden auch Rabea Kohnen: Die Braut des Königs. Zur interreligiösen Dynamik der mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen. Berlin/ Boston 2014 (Hermaea, N. F. 133), S. 22– 26.  Curschmann 1964, S. 125 f.: „Eine Datierung in die 80er Jahre des 12. Jahrhunderts dürfte der Wahrheit am nächsten kommen.“ Siehe auch Curschmann 1968, S. 81, sowie, zustimmend, Alfred

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Versgestalt, aber auch Thema, Machart und literarische Beziehungen (zu Epen wie ‚Salman und Morolf‘, ‚Rother‘, aber auch ‚Oswald‘) – scheinen mir nach wie vor überzeugend, doch wirklich beweisen lässt sie sich nicht. Wenn also der ‚Orendel‘ hier für die frühe mittelhochdeutsche Erzählliteratur in Anspruch genommen wird, dann nur unter dem Vorbehalt der schwierigen Überlieferungslage des Textes. So wie seine Überlieferung und Datierung ist auch die Konstitution des Textes selbst nicht leicht zu bewerten. Vieles an dem Werk, das in der mittelalterlichen Überlieferung nur Der Graw Roc heißt, scheint formelhaft-stereotyp. Der Text in seiner für uns fassbaren Gestalt weist zahlreiche, fast wörtliche Wiederholungen kleinerer oder größerer Erzählblöcke – allein der Beginn des Gedichts erscheint dreimal wiederholt (V. 1 ff., 19 ff., 40 ff.) –, aber auch Unstimmigkeiten und Widersprüche auf, die in der Forschung sehr unterschiedlich beurteilt wurden. Sein vierter Herausgeber, Steinger, suchte sie mit verschiedenen, älteren und jüngeren Textschichten zu erklären – und bestritt damit nicht nur die Text-, sondern auch die Verfassereinheit: [T]rotz anscheinend vielfach eingewurzelter Gewohnheit geht es nicht an, den Orendel, so wie er uns vorliegt, als das Werk eines Mannes zu betrachten. Mit solch einem Maß von Unstimmigkeiten findet sich wohl irgendein Bearbeiter und seine anspruchslose Zuhörerschaft ab, ein einzelner Dichter wäre kaum darauf verfallen.¹²⁹

Demgegenüber ist vor allem Curschmann für eine integrative Betrachtung des Epos eingetreten, indem er „bei näherem Zusehen auch in diesem Paradebeispiel einer ‚Dichtung ohne Grundsatz‘ eine sinnfällige künstlerische Einheit“ erkannte.¹³⁰ In erzähllogischer Hinsicht sind es gerade seine Widersprüche und Unstimmigkeiten, die den Text interessant machen. Die Protagonistentrias der Erzählung wird gebildet aus Orendel, Bride und Ise. Orendel führt der Erzähler als einen frommen Trierer Königssohn ein (V. 155 – 189). Bride ist, das wurde schon angedeutet, die Herrscherin über und Alleinerbin Jerusalems. Doch wer eigentlich ist Ise? Auf den ersten Blick scheint das klar: ein Fischer, der dann zum Herzog erhoben wird. Doch sieht man genauer hin, so zeigen sich Widersprüche und Unstimmigkeiten in Bezug auf diese Figur, die sich Ebenbauer: ‚Orendel‘ – Anspruch und Verwirklichung. In: Strukturen und Interpretationen. Studien zur deutschen Philologie, gewidmet Blanka Horacek zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Alfred Ebenbauer/Fritz Peter Knapp/Peter Krämer. Wien/Stuttgart 1974 (Philologica Germanica 1), S. 25 – 63, hier S. 25 f.  So Hans Steinger: [Einleitung]. In: Orendel. Hrsg. von Hans Steinger. Halle a. S. 1935 (ATB 36), S. III–XXXII, hier S. XVI.  Curschmann 1964, S. 115.

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allein textgenetisch, also mit der Annahme verschiedener ‚Schichten‘ des Textes – späterer Ergänzungen und Einschübe –, kaum erklären lassen. Einerseits ist Ise ein mächtiger Herr, der über achthundert Fischer gebietet (V. 595 – 597); und doch fährt er zum Fischfang alleine aus (V. 511) und wird – noch viele hundert Verse später – schlicht ein schifman, ein „Schiffer“, genannt (V. 2284).¹³¹ Einerseits ist seine Behausung eine prächtige Burg mit sieben Türmen (V. 589 – 592), die als einem römischen König angemessen bezeichnet wird (si hêt wol gezimet einem künige, / der dô sêz zuo Rôme, V. 593 f.); andererseits wird sie wenige Verse davor und danach eine klûse genannt (V. 588), er selbst Meister Îse von der clûsen (V. 628). Einerseits tragen seine Gattin und ihre Dienerinnen Gewänder aus kostbarer Seide (gekleit in pfeller und sîden, V. 603), andererseits gelten Ise die fünf schilling guldîner pfenninge (V. 641), die ihm der gefundene Rock eintragen soll, als ein höchst wertvoller Erwerb; er bietet das Gewand selbst auf dem Markt feil und will es, als Orendel ihn darum bittet, keinesfalls für weniger abgeben: Dô bat der ellende man [Orendel, C. S.] sînen meister den fischêre, daz er im den grâwen roc gêbe. Er sprach: „nun wirt er nimmer dîn, du vergeltest in denne waz er wert mag sîn.“ (V. 642– 645) Da bat der Fremde seinen Herrn, den Fischer, / dass er ihm den grauen Rock gebe. / Der entgegnete: „Er wird dir niemals gehören, / es sei denn, du gibst mir dafür, was er wert ist.“

Das sind Fälle existentiell-ontologischer Inkohärenz: Ise kann – eigentlich – nicht beides zugleich sein, arm und reich, Klausner und Burgbewohner, kleiner Fischer und großer Herr. Und da die Inkohärenzen so offensichtlich sind, haben sie bereits (und vor allem) in der älteren Forschung zu verschiedenen Erklärungsansätzen geführt, die meines Erachtens jedoch nicht wirklich befriedigen können.¹³² So war Franz Kampers der Meinung, dass hinter der Ise-Figur diejenige König Salomons stehe, Karl Müllenhoff folgerte aus Ises gesellschaftlicher Stellung und seinem Reichtum, er sei ursprünglich eine Art Dämonenfürst gewesen, wieder andere Vorschläge verstanden ihn als Meergott oder Repräsentanten der nor-

 Vgl. zum Folgenden Steinger 1935, der S. XX noch weitere Unstimmigkeiten in der Figur des Ise aufführt; ebenso Arnold E. Berger: Einleitung. In: Orendel. Ein deutsches Spielmannsgedicht. Mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Arnold E. Berger. Bonn 1888, S. I–CXV, hier S. LXXIIf.  Vgl. auch Kohnen 2014, S. 93, Anm. 59: „Diese Spannungen in der Figurenkonzeption des Fischers wären sicherlich eine weiterführende Untersuchung wert.“

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mannischen Seefahrer.¹³³ Steinger wiederum führte, wie schon angedeutet, die Inkohärenzen der Ise-Figur auf „zwei Kultur- und Altersschichten“ zurück, die hier, „wie in vergleichbaren Fällen des Nibelungenliedes“, ganz offen zutage träten, und nahm sie als Beleg für eine zeitlich gestaffelte Entstehung des Textes.¹³⁴ Dass hier zwei diachron unterschiedliche Gestaltungen des Stoffes miteinander verbunden und vermischt wurden, wird man sicherlich nicht ganz ausschließen können, doch scheint mir der Textbefund eher dagegen zu sprechen. Einerseits liegen die widersprüchlichen Textangaben zu nahe beieinander: Nicht nur hätte es keines besonders aufmerksamen oder geschickten Bearbeiters bedurft, sie zu bemerken und auszugleichen (wenn er sie denn als Widersprüche wahrnahm!); es fällt auch schwer, auf so kleinem Raum, wie etwa den Versen 588 – 597, die Fugen zu erkennen, die für die Annahme „auslösbare[r] Einschübe“ sprechen sollten.¹³⁵ Andererseits liegen sie auch wiederum zu weit auseinander, spannen sich wie ein Netz über den gesamten Text aus und scheinen dadurch in der Inkonsistenz gewissermaßen zu konsistent, als dass sie allein durch Verwerfungen in der Textgeschichte bedingt sein könnten.¹³⁶ Wie aber könnten die Inkohärenzen dann zu erklären sein? Die Unstimmigkeiten in der Rolle des Ise wirken sich nicht zuletzt auf die Bestimmung des personenrechtlichen Verhältnisses zwischen Ise und Orendel aus; besser vielleicht: sie spiegeln dieses Verhältnis und scheinen dadurch bedingt. So wird Orendel auf der einen Seite wiederholt als Ises „Knecht“ be-

 Siehe Franz Kampers: Das Lichtland der Seelen und der heilige Gral. Köln 1916 (Vereinsschrift der Görres-Gesellschaft 1916,2), S. 36 – 38, sowie die Hinweise bei Richard Heinzel: Über das Gedicht vom König Orendel. Wien 1892 (Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 126,1), S. 22 f.  Steinger 1935, S. XX; ähnlich auch Berger 1888, S. LXXIII.  Steinger 1935, S. XX.  Hinzu kommt noch jenes grundsätzlichere Argument, das Jan-Dirk Müller am Beispiel des ‚Nibelungenlieds‘ gegen einen vorschnellen Rückzug auf die text- bzw. sagengeschichtliche Erklärung narrativer Inkohärenzen vorgeführt hat: Dass ein Text Brüche, Lücken und Widersprüche aufweist, bedeutet nicht, dass nicht schon die historischen Rezipienten ihn dennoch in seiner konkret vorliegenden Gestalt zu verstehen und sich einen Reim auf das Erzählte zu machen versuchten. Im Gegenteil, die Arbeit an der Überlieferung, die sich in den Varianten der Handschriften dokumentiert, weist – ungeachtet der historischen Rahmenbedingungen (medial, pragmatisch, kognitiv usw.) – auf ein solches Bemühen um ein integratives Textverständnis gerade hin; vgl. Müller 1998, u. a. S. 18, sowie Müller 2017, S. 43, wonach die genealogische Fokussierung auf die einem Text vorausliegenden Überlieferungen „die Oberflächengestalt des konkret überlieferten Textes zugunsten der Tradition(en), die man hinter ihm zu erkennen glaubt, [entwertet].“

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zeichnet.¹³⁷ Das hat seinen unmittelbaren Grund darin, dass Ise, der Orendel nackt und hilflos am Strand aufgefunden hat, diesen als eigenkneht (V. 620) bei sich aufnimmt. Doch bleibt Orendel Ises kneht und dieser sein meister auch später noch, als Orendel Ises Behausung schon längst verlassen hat und, als Der graue Rock, gekrönter König von Jerusalem ist. Auf der anderen Seite ist Orendel selbst eben das: König, nicht nur von Jerusalem, sondern Königssohn von Anbeginn der Geschichte an und als solcher Ise auch ständisch überlegen; als König der Heiligen Stadt erhebt er Ise in den Rang eines Herzogs vom Heiligen Grab (V. 2269 – 2306). In der Figur Ises scheinen sich zwei Bilder und Funktionen zu überlagern: Zum einen ist er der Helfer des Protagonisten. Als solcher ist er Orendel ständisch unterlegen, wird von ihm zum Herzog erhöht. Zu diesem Bild gehört seine Beschreibung als ‚armer Fischer in der Klause‘. Zum anderen jedoch wird die IseFigur offenkundig mit Merkmalen verbunden, die sich als Christus-Attribute verstehen lassen.¹³⁸ Damit ist nicht gemeint, dass Ise als Christusfigur dargestellt und in dieser Hinsicht konsistent gestaltet wäre; das ist er keineswegs. Aber verschiedene seiner Zuschreibungen erlauben eine christologische Deutung. Allem voran, dass Ise als „Fischer“ und „Meister“ bezeichnet ist.¹³⁹ Auch die Siebenzahl der Türme von Ises Burg könnte symbolisch in diese Richtung weisen – man denke an die von den Evangelien überlieferten sieben letzten Worte Jesu am Kreuz, die sieben Gleichnisse vom Himmelreich im Matthäus-Evangelium, die bei Johannes beschriebenen sieben Wunder Jesu.¹⁴⁰ Vor allem aber weist daraufhin eine Selbstauskunft Orendels, die dieser, schon König in Jerusalem, gegenüber  Einige Belegstellen: V. 2151– 2154 (Aller êrst kam meister Îse, / ein fischer hêr und wîse, / er frâgte si der mêre, / ob sîn kneht zuom heilgen grabe wêre), 2168 – 2171 (Orendel zu Ise: Ich sag iuch, hêre, daz weiz got: / ir sollent gân über den hof gedrâte / zuo frouwen Brîden in ein schoene kemenâte / und heizent iuch geben iuwern kneht), 2258 – 2260 (ich muoz mit mînem meister über mêre: / ich bin eines fischers kneht, / ich sol im dienen, daz ist mîn reht).  Ähnlich bereits Heinzel 1892, S. 23 f., der zwischen ‚Ise‘ und ‚Jesus‘ bzw. den griechischen, arabischen, slawischen und keltischen Varianten ‚Isus‘, ‚Isa‘, ‚Isua‘, ‚Isu‘ eine Namensähnlichkeit sieht, aufgrund derer „man Ise für Jesus Christus erklären [könnte].“ Wahrscheinlicher ist aber vielleicht, dass es sich bei ‚Ise‘ um die Kurzform eines Namens wie ‚Is(en)bert‘ oder Ähnliches handelt.  Vgl. zum Fischertum Jesu, das in der Tradition dann auf Petrus übergeht, Mk 1,16 – 18 (zitiert nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984): „Als er [Jesus, C. S.] aber am Galiläischen Meer entlangging, sah er Simon und Andreas, Simons Bruder, wie sie ihre Netze ins Meer warfen; denn sie waren Fischer. Und Jesus sprach zu ihnen: Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.“  Zu Christlichem im ‚Orendel‘ auch Ingeborg Köppe-Benath: Christliches in den ‚Spielmannsepen‘ König Rother, Orendel und Salman und Morolf. In: PBB (Halle) 89 (1967), S. 200 – 254; Kohnen 2014, S. 92– 110.

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Herzog Daniel gibt, dem Boten der beiden heidnischen Könige Elin und Durian von Babilônie, die Jerusalem den Krieg erklärt haben: Dô sprach der bote wunnesam: „Daz dunket mich [nit] misselîch getân. daz ir daz entbietent widere zwên alsô rîchen künigen, die wol in anderhalben tagen drîzig tûsent man mügent haben, wan ir sind eins fischers schalc, wie grôz joch ist iuwer gewalt: ir tragent an einen roc ân gêren, ir sint entrunnen iuwerm hêren!“ Dô sprach der Grâwe Roc: „Daz bin ich, hêr, daz weiz got! ich bin eines fischers kneht, ich sol im dienen, daz ist mîn reht. Er fand mich in riuwen, dô half er mir in triuwen: daz vergelt im got der guote und Marîa, sîne liebe muoter!“ (V. 2589 – 2606) Da sagte der reizende Bote: / „Das scheint mir übel gehandelt, / dass ihr dergleichen / zwei so mächtigen Königen entgegnen lasst, / die in eineinhalb Tagen gewiss / dreißigtausend Mann ausheben können, / denn ihr seid der Knecht eines Fischers, / wie mächtig auch immer ihr sein mögt: / Ihr tragt einen unwürdigen Rock, / ihr seid eurem Herrn entlaufen!“ / Da sprach der Graue Rock: / „Weiß Gott, das bin ich, Herr! / Ich bin eines Fischers Knecht, / ihm soll ich dienen, das ist meine Pflicht. / Als er mich in meinem Kummer fand, / da half er mir treu: / Das vergelte ihm der barmherzige Gott / und Maria, seine liebe Mutter!“

Ich meine, dass man diesen Wortwechsel als bewusste Juxtaposition zweier unterschiedlicher Verstehensebenen lesen (bzw. hören) muss, einer buchstäblichen und einer symbolisch übertragenen. Beabsichtigt der Herzog mit der Aussage, Orendel sei der „Leibeigene“, „Knecht“ oder „Diener“ eines Fischers (eins fischers schalc), diesen ständisch herabzusetzen und zu beleidigen – das mittelhochdeutsche Substantivum schalc meint in jedem Fall einen Menschen von niederem Stand –,¹⁴¹ so lässt sich Orendels selbstbewusste Antwort (Daz bin ich, hêr, daz weiz got!) durchgängig als Spiel mit doppelter Referenz lesen: Darauf deutet schon die, nur partiell redensartliche, Gottesberufung daz weiz got! Der Fischer, der hier gemeint ist, ist einerseits Ise; aber es ist auch der himmlische Fischer, der Orendel

 Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1872– 1878, hier Bd. 2, Sp. 640.

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aus Not und Betrübnis (riuwe) errettet hat, als dessen streitbarer Kämpfer er sich versteht und dem zu dienen er, als König von Jerusalem, als seine rechtmäßige Pflicht betrachtet.¹⁴² Die Ise-Figur ist so doppelt besetzt: Auf der literalen Ebene ist Ise ein Fischerkrieger von stellenweise archaisch anmutendem Habitus, eine Helferfigur vergleichbar dem Berchter im ‚König Rother‘, über die Orendel schon qua seiner durch das Legendenmuster vorgegebenen heilsgeschichtlichen Bestimmung hinauswachsen können muss – ein armer Fischer und schifman, der zum Herzog erhoben werden kann. Auf der nichtliteralen Ebene hingegen ist die Figur mit Christusallusionen versehen. Auf dieser Ebene muss Ise daher ein herrlicher König sein, der Orendel als seinen Knecht und Diener für sich in Anspruch nehmen kann und dem Orendel, quasi als Knecht Gottes, treu ergeben ist. Syntagmatisch führt diese Doppelbesetzung der Figur zu Widersprüchen. Am deutlichsten vielleicht in V. 2255 ff. Hier bittet Orendel Bride um urloub; er müsse mit seinem Herrn übers Meer fahren: ich bin eines fischers kneht, / ich sol im dienen, daz ist mîn reht (V. 2259 f.). Dieses formelhaft wiederholte Redeversatzstück bezieht sich auf die Bedeutungsebene, genauer: Orendels Selbstverständnis als Diener Gottes. Im Syntagma dagegen, das heißt auf der Ebene der dargestellten Handlung und ihrer narrativen Abfolge, ergibt die Aussage wenig Sinn. In den Versen 2215 – 2220, also kurz zuvor, hatte Ise Orendel selbst geraten, als Landesherr in Jerusalem zu bleiben;¹⁴³ Orendel folgt dem Rat als ein frölîcher man (V. 2222), und Ise fährt alleine nach Hause. Als stimmig verstehbar erweist sich die Stelle erst, wenn man Orendels Worte von ihrer bildlichen, übertragenen Bedeutung – ihrer bezeichenunge – her versteht. Diese hat offenbar den Vorrang. Anders gesagt: Was hier punktuell Kohärenz vermittelt, sind Bedeutungsrelationen und die ihnen zugrunde liegenden Deutungsmuster. Dem, wofür eine narrative Proposition auf einer zweiten, übergeordneten Bedeutungsebene – ‚vertikal‘ gewissermaßen – steht, wird der Vorzug vor ihrer ‚horizontal‘ widerspruchsfreien Einbindung ins narrative Syntagma gegeben. Für diese Ebene von ‚Figural-‘ im Unterschied zu ‚Literalebene‘ zu sprechen, könnte missverständlich sein, da diese Begriffe schnell an die mittelalterliche allegoretische Hermeneutik denken lassen. Um eine allegorische Auslegung der Ise-Figur im Sinne der sensusLehre geht es mir nicht; wohl aber um punktuelle Sinnpotentiale im Text, die im Hinblick auf eine übertragene Bedeutung (‚vertikal‘) als konsistent lesbar sind, auch wenn sie ‚horizontal‘, im narrativen Syntagma, zu Unstimmigkeiten führen.  Auch das kann mhd. kneht heißen, im Sinne eines (jungen) Mannes, der bei einem Ritter in dienender Stellung steht; vgl. Lexer 1872– 1878, Bd. 1, Sp. 1645.  ir sollent bestân bî frouwen Brîden, / der schoensten ob allen wîben, / ir sollent wesen kûnig und hêre / über daz land und die burg zuo Jêrusalême (V. 2217– 2220).

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Vom zugrunde liegenden Verfahren her bestehen dabei allerdings durchaus Parallelen zu jener „wirklichkeitsdeutende[n] Tätigkeit“, die Erich Auerbach als „Figuraldeutung“ beschrieben hat: Sie stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere hingegen das eine einschließt oder erfüllt. Beide Pole der Figur sind zeitlich getrennt, liegen aber beide, als wirkliche Vorgänge oder Gestalten, innerhalb der Zeit […].¹⁴⁴

Natürlich lässt sich nicht beweisen, dass den historischen Rezipienten die für ein solches Verständnis der Ise-Figur des ‚Orendel‘ erforderlichen religiösen Deutungsmuster verfügbar waren; und dass sie aufgrund dessen die widersprüchlichen Informationen, die der Text über diese Figur vermittelt, doch als konsistent wahrnehmen konnten. Es scheint mir aber wahrscheinlicher als das Gegenteil, nicht zuletzt deshalb, weil das legendarische Register, das die Erzählung vom Grauen Rock aufruft, religiös-heilsgeschichtliche Sinnbezüge bis zu einem gewissen Grade erwartbar machte. Berücksichtigen sollte man auch, dass es vielen Menschen der Zeit nicht grundsätzlich fremd gewesen sein dürfte, die Dinge, die ihnen in der Wirklichkeit begegneten – und dabei gar nicht einmal nur in textuellen oder literarischen Artefakten –, auf eine zweite Bedeutung hin anzusehen. Man hat in diesem Zusammenhang auch von einer wesentlich zeichenhaften Weltauffassung des mittelalterlichen Menschen gesprochen, und wie die Forschung zeigen konnte, nahm diese auch auf den literarischen Diskurs Einfluss. Für die historisch-enzyklopädisch-wissensvermittelnden Einschübe im volkssprachigen Roman des späten 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts etwa hat Mathias Herweg nachgewiesen, dass auch hier der bezeichenunge stets der Vorrang vor der stimmigen proprietas – im Sinne von „Überlieferungs- oder Faktentreue, chronologischer und kausaler Kohärenz“ – zukam.¹⁴⁵ Jenseits des literarischen Diskurses spielte insbesondere die volkssprachige Predigt eine wichtige Rolle bei der Verbreitung eines solchen hermeneutischen Weltverständnisses (im 13. Jahrhundert ist dafür Berthold von Regensburg ein Beispiel).¹⁴⁶ Als Mittel der ‚vertikalen‘ Kohärenzbildung sind auch solche Bedeutungsrelationen in den Texten von lokal begrenzter Reichweite. Sie gelten oft nur ein

 Erich Auerbach: Figura. In: Auerbach, Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern/München 1967, S. 55 – 92, hier S. 77; siehe auch Auerbach 2001, S. 74 f., 516.  Vgl. Mathias Herweg: Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300. Wiesbaden 2010 (Imagines medii aevi 25); das Zitat hier, S. 147.  Siehe dazu und zum Ganzen auch das Kapitel ‚Hermeneutik und Allegorese‘ in Knapp 2011, S. 245 – 264.

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Stück weit, sei es, dass sie, wie im Fall der Ise-Figur im ‚Orendel‘, nur bestimmte Aspekte eines Handlungsträgers erfassen, sei es, dass sie sich nur auf eine bestimmte Handlungseinheit – eine Szene, eine Episode – beziehen. Auffällig ist dabei, dass, ähnlich wie im Fall der gedoppelten Ratszene im ‚Münchner Oswald‘, spätere und/oder sekundäre Versionen der Orendel-Tradition wieder verändernd eingreifen und um semantische Vereindeutigung bemüht sind. Aufgrund der schmaleren Überlieferung ist die Situation beim ‚Orendel‘ allerdings deutlich übersichtlicher. Die Versfassung, in der der Text heute gelesen wird, basiert im Wesentlichen auf der einzigen, nur abschriftlich erhaltenen Handschrift H und dem Augsburger Druck D von Hans Froschauer aus dem Jahr 1512. Interessant ist der Vergleich mit dem dritten Textzeugen, der im selben Jahr und ebenfalls in Augsburg gedruckten Prosabearbeitung P, die dem Nachwort zufolge von ihrem Drucker, Johann Otmar, selbst stammt.¹⁴⁷ Sie versucht erkennbar, die Widersprüche in Bezug auf die Figur des Fischers Ise, der hier Eyß heißt, zu tilgen oder auszugleichen. Das betrifft zunächst die Beschreibung der Figur und ihrer Lebensverhältnisse. Anders als in der Versversion wird Ises/Eyß’ Wohnstatt bei Otmar nicht als „Klause“, sondern als hauß (S. P 13, Z. 13) bezeichnet, die diminutive Vokabel also durch eine neutrale ersetzt, die die anschließende Beschreibung – das was ain herrlich schloß / darinnen ainem künig z wonen tuget (S. P 13, Z. 13 – 15) – nicht unstimmig erscheinen lässt. Noch auffälliger: Ise/Eyß wird, mit einer Information, die die Versfassung nicht hat, als gebürtiger Herzog eingeführt (Der vischer maister Eyß genant / von geburt ein hertzog, S. P 13, Z. 3). Otmar lässt deshalb die spätere Erhebung Ises/Eyß’ in den Herzogsstand nicht wegfallen, scheint sich aber der Tautologie der Herzogserhebung eines Herzogs bewusst gewesen zu sein, indem er an der diesbezüglichen Stelle Orendel ergänzend sagen lässt, Ise/Eyß solle ein Herzog an meinem hof sein (S. P 44, Z. 3). Mindestens ebenso auffällig ist die Disambiguierung der Rede von Orendel als „Fischerknecht“ in der Prosaauflösung. Ausgangspunkt dafür ist offenbar eine Passage der Versfassung, in der Bride Ise darum bittet, den Grauen Rock fortan nicht mehr als seinen kneht zu bezeichnen (V. 2183 – 2206, bes. V. 2204: verjech sîn zuo keinem knehte nimmer mêre!). Daran anschließend, kontextualisiert Otmar dann etwas später den Vers Held, die rede lâz belîben! (V. 2266), der sich in der Versfassung auf die Bitte Orendels bezieht, Bride möge ihm urloub gewähren (V. 2257 f.), in der folgenden Weise: Do die künigin solch sein fürnemen vermerckt / und daz er sich selbs für

 Die Prosaversion P ist, ebenso wie der Druck D, enthalten in Orendel (Der graue Rock). Faksimileausgabe der Vers- und Prosafassung nach den Drucken von 1512. Hrsg. von Ludwig Denecke. 2 Bde. Stuttgart 1972 (Sammlung Metzler 111).

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ainen vischerknecht erkannt / sprach sy / Ey lieber herr diese red lasset beleyben (S. P 43, Z. 19 – 21). Der Imperativ diese red lasset beleyben bezieht sich also hier auf die Selbstbezeichnung Orendels als „Fischerknecht“, nicht mehr auf sein Abschiedsbegehren. Offenbar nahm Otmar die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Ise und Orendel in seiner Vorlage nur in ihrer personenrechtlichen, das heißt sozialhistorischen Dimension war. Von dieser her erschien ihm die Darstellung widersprüchlich, und er arbeitete den Text entsprechend um, mit der Folge, dass die der Versfassung eingeschriebene doppelte Semantik der Ise-Figur in der Prosafassung zurückgenommen und vereindeutigt wirkt. Daraus folgt aber nicht, dass es sich bei der Gestaltung der Ise-Figur in der Primärfassung, soweit sie sich greifen lässt, um einen ‚Fehler‘ oder ‚Irrtum‘ handelte.Vielmehr scheint mir die Prosaversion von 1512 – abgesehen davon, dass sie auch Zeugnis des individuellen Textverständnisses ihres Bearbeiters, Otmars, sein könnte – auf veränderte, nämlich tendenziell weitergespannte, weniger lokalpartikulare Kohärenzerwartungen hinzudeuten, die bei sekundärer Rezeption (denn Bearbeitungen oder Adaptationen sind immer auch Rezeptionszeugnisse) zu den genannten Eingriffen führten. Gegen die Fehlerhypothese spricht überdies, dass es sich bei dem, was sich in der Versfassung des ‚Orendel‘ an der Ise-Figur beobachten lässt, keineswegs um den Einzelfall eines Vorrangs der bezeichenunge vor syntagmatisch stimmiger, kausaler oder motivationaler Kohärenz handelt. Ein solcher lässt sich immer wieder feststellen, und keineswegs muss es sich dabei notwendig um Rekurrenzen auf feste, kulturell codierte Deutungsmuster, wie religiös-heilsgeschichtliche Sinnhorizonte es unter anderem sind, handeln. ‚Vorrang der bezeichenunge‘ meint vielmehr, dass Texteinheiten – Sätze, Satzfolgen – ein semantischer Mehrwert zuweisbar ist, der über ihren propositionalen Gehalt hinausweist, und dass die Texte eine Tendenz erkennen lassen, Kohärenz punktuell von diesem Mehrwert, nicht vom propositionalen Gehalt der jeweiligen Prädikationen her zu organisieren. Dafür ließen sich aus der frühen mittelhochdeutschen Erzählliteratur viele Beispiele anführen,¹⁴⁸ und in der Regel sind sie viel unauffälliger als die aus verschiedenen Aspekten zusammengesetzte Figur des Ise im ‚Orendel‘. Im ‚König Rother‘ etwa wird geschildert, wie ein Spielmann König Konstantin anbietet, seine Tochter – die heimlich mit Rother das Land verlassen hat – rückzuentführen.¹⁴⁹ Der Spielmann erklärt, wenn Konstantin ihm ein mit Schätzen beladenes Schiff zur Verfügung stelle, wolle er Konstantins Tochter mit dem  Was nicht heißt, dass das Phänomen nicht auch im späteren epischen Erzählen vorkommen würde.  Die Stelle wurde in der Forschung gleichfalls als „Inkongruenz“ vermerkt; siehe etwa Kiening 1998, S. 220 f.

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Schmuck und den prächtigen Kleidern an Bord locken und, während sie die feilgebotene Ware besichtige, die Rückfahrt antreten (V. 3060 – 3083). In Bari angelangt, scheint er seinen Plan aber geändert zu haben: Er liest vier Kieselsteine vom Strand auf und bietet einen von ihnen als ‚Wunderstein‘ an: Berühre die Königin einen Kranken mit ihm, so werde er sogleich gesund; allerdings müsse das auf dem Schiff geschehen. Als die Königin an Bord geht, um zwei verkrüppelte Kinder zu heilen, legt das Schiff ab (V. 3108 – 3236). Syntagmatisch handelt es sich auch hier um ein inkonsistentes Motivationsgefüge: Die Kieselstein-List des Spielmanns hat mit der ursprünglichen nicht das Geringste zu tun, ohne dass erzählt würde, warum der Plan, den der Spielmann Konstantin zunächst unterbreitet hat, nicht narrativ weiterverfolgt wird. Aber offenbar geht es darum nicht. Wichtig scheint nicht, welche List zur Anwendung kommt und die Entführung in Gang setzen soll, sondern die Erzählung denkt kleinräumig. Und noch wichtiger: Sie denkt nicht buchstäblich, sondern motiviert in Bezug auf eine von der wörtlichen abstrahierte Bedeutung. Diese ist an der ersten Stelle nicht, dass Konstantins Tochter auf diese konkrete Weise entführt werden soll, sondern semantisch zielt die Aussage auf einen Topos, besser vielleicht: auf ein im Zusammenhang mit maritimen Brautwerbungshandlungen topisches Listszenario: Das ‚Kudrun‘-Epos hat dasselbe (vgl. Str. 249 – 252), und auch in Eilharts ‚Tristrant‘ gibt sich der Protagonist, den es auf seiner Werbungsfahrt ein zweites Mal nach Irland verschlagen hat, dort als Kaufmann aus.¹⁵⁰ Wenn also das Angebot des Spielmanns an Konstantin erzählt wird, so geht es um die Evokation dieses schemagemäßen Kaufmannsmotivs und damit nicht um das ‚Wie‘, sondern um das ‚Dass‘ der (Rück‐)Entführung der Königstochter. In Bezug auf diese Aussage wird die Handlung – und dann durchaus konsequent – weitergeführt. Konrads ‚Rolandslied‘ wiederum erzählt in den Versen 2917– 2984, wie Roland, dem verräterischen Vorschlag Geneluns folgend, als Statthalter in Spanien eingesetzt werden soll, bevor der Kaiser und sein Heer sich auf den Rückmarsch ins Frankenreich machen. Karls Verstörung über Geneluns Vorschlag wird in Anklängen an Psalm 37,11– 15 dargestellt: Karl wird bleich, senkt das Haupt, ihm wird schwarz vor Augen (daz gesiune im enzôch, V. 2968). Seine Replik ist, indem

 Eilhart von Oberg: Tristrant. Edition diplomatique des manuscrits et traduction en français moderne avec introduction, notes et index. Hrsg. von Danielle Buschinger. Göppingen 1976 (GAG 202), V. 1545 – 1549 (nach Hs. D): wir [Tristrant und seine Begleiter, C. S.] sin gekomen in diß lant / – suß sult ir dem koninge vorczellin –, / ich und zcwelfe myner gesellin, / der allir thurestin koufmanne. Siehe dazu auch Gerhard Schindele: Tristan. Metamorphose und Tradition. Stuttgart u. a. 1971 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 12), der vom „im Werbungsschema fest verankerten Kaufmannsmotiv[]“ (S. 26) spricht.

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der Kaiser sie im Präteritum formuliert, nicht nur eine Prolepse (und bereitet darin die anschließenden beiden Träume des Kaisers vor, V. 3020 – 3081), sondern bringt auch die Intensität seines Verhältnisses zu Roland zum Ausdruck: mîn neve Ruolant was mîn zesewe hant. nû habet ir in mir benomen. ich ne weiz, wie ich ze lande scol komen. (V. 2973 – 2976) Mein Neffe Roland / war meine rechte Hand. / Nun habt ihr ihn mir genommen. / Ich weiß nicht, wie ich heimkehren soll.

Im Anschluss an die Träume wird der Vorschlag Geneluns nochmals erzählt, dann die Übertragung des Fahnenlehens an Roland und der Abschied.Wieder weint der Kaiser, ebenso alle Anwesenden, und sagt zu Roland gewandt: „scolt ich“, sprach er, „dise nôt hie samt dir lîden. dar umbe wolt ich verzîhen der gebe Marsilien.“ (V. 3136 – 3139) „Könnte ich nur“, sagte er, „diese Not / hier mit dir zusammen erleiden. / Dafür wollte ich / auf Marsilies Geschenke gerne verzichten.“

Auch hier hat die Forschung einen Widerspruch vermerkt: Karl, so Kartschoke in seinem Kommentar zur Stelle, habe eigentlich auf alle Tributzahlungen des Marsilie bereits verzichtet. Hier nun nehme er sie doch an.¹⁵¹ Der Einwand bezieht sich auf V. 371– 376, wo in der Tat gesagt wird, dass Karl keinerlei Leistung (neheiner slachte mieten, V. 372) von Marsilie und den Sarazenen anzunehmen bereit ist außer deren Übertritt zum Christentum.¹⁵² Nun ist fraglich, ob man in Konrads Text Kohärenzstrukturen von solcher Reichweite (fast 2800 Verse) erwarten und die beiden Stellen daher überhaupt im Zusammenhang sehen darf – erinnert sei nur an die toten Krieger Egeris/Gergers und Beringer, die bei Konrad einige hundert Verse weiter noch einmal erschlagen werden können.¹⁵³ Will man darin aber, Kartschoke folgend, eine motivationale Inkohärenz sehen, so kann man auch hier fragen, ob zu Recht. Obwohl sachlich ein Widerspruch, könnten auch die Verse 3136 – 3139 als Beispiel eines Erzählens zu lesen sein, das der fi Kartschoke 1993a, S. 696 zu V. 3138 f.  Die Stelle im Zusammenhang: im ne dörfte nieman bieten / neheiner slachte mieten. / wæren die berge alle guldîn, / daz ne möchte in vrume sîn, / diene hêt er alle nicht genomen, / sine wæren in die cristenheit komen (V. 371– 376).  Vgl. Kap. 1.3, S. 21.

Der Vorrang der bezeichenunge

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gurativen Bedeutung eines Textelements den Vorzug vor seinem propositionalen Gehalt gibt – mit der Folge, dass sich einerseits makrostrukturelle Unstimmigkeiten auf der Handlungsebene relativieren und andererseits einzelne Textelemente sich als punktuell funktional erweisen, nämlich im Hinblick darauf, was sie in einer und für eine bestimmte Handlungseinheit bedeuten. Was heißt das im vorliegenden Fall? Wenn Karl im Kontext von Rolands Abschied sagt, auf Marsilies Gaben gerne verzichten zu wollen, so muss der Potentialis der Formulierung wohl verstanden werden im Sinne eines ‚Was gäbe ich dafür, wenn ich diese Not mit dir leiden könnte‘. Angesichts der exorbitanten Geschenke – der vil hêrlîchen gebe (V. 2709) –, die Marsilie Karl hat überbringen lassen, zielte sie nicht primär darauf, ob Karl von Marsilie nun Geschenke angenommen hat oder nicht, sondern wäre eine Formulierung des Wunsches – größer noch als alle Geschenke, die Marsilie je machen könnte –, gemeinsam mit Roland den gefährlichen Auftrag in Spanien zu bestehen. Die Formulierung wäre also in erster Linie als hyperbolischer Ausdruck der Intensität des Verhältnisses zwischen Karl und Roland, ganz im Sinne der Verse V. 2973 – 2976, zu verstehen und von Karls Schmerz über die vorausgeahnte Endgültigkeit ihres Abschieds.¹⁵⁴ Für heutige Interpreten ist die Versuchung groß, auf diese Weise – indem wir Elemente der dargestellten Handlung als ‚uneigentlich‘ verstehen – möglichst viele Inkohärenzen aus einem Text hinauszueskamotieren. Entscheidend wäre aber, wie die historischen Rezipienten eine Stelle ‚gelesen‘ haben. Das freilich lässt sich in der Regel nicht mehr ermitteln. Haben die mittelalterlichen Rezipienten den Widerspruch überhaupt wahrzunehmen vermocht, zumal bei intermittierender Rezeption im Hören? Welche Deutungsrepertoires, im Sinne kognitiver Verfahren zur kohärenten Prozessierung widerstreitender Textinformationen, standen ihnen zur Verfügung? Zumindest im zuletzt genannten Fall lässt sich aber feststellen, dass der Stricker in seiner Bearbeitung des ‚Rolandslied‘-Stoffes den Widerspruch nicht tilgte, sondern genau so reproduzierte.¹⁵⁵ Natürlich könnte auch er ihn nicht bemerkt haben. Allerdings zeichnet gerade seine Version sich dadurch aus, dass sie zahlreiche Unstimmigkeiten in ihrer Vorlage zu glätten bemüht ist.¹⁵⁶ Warum nicht auch diese? Wenn der Stricker aber keinen Widerspruch darin sah, dass Karl einerseits von den Heiden weder silber noch golt (‚Karl‘, V. 887) anzunehmen bereit ist, andererseits aber alles Gut, daz mir Marssilies hat gegeben (V. 3829), für Roland aufgeben will, dann ist die Frage, warum oder inwiefern nicht.Vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Tendenz  Vgl. V. 3144– 3146: got selbe sî dîn gelaite, / Ruolant, vil lieber neve. / ich newaiz, ob ich dih iemer gesehe.  Vgl. im Karlsroman des Strickers die Verse 886 – 892 vs. 3825 – 3829.  Zu Beispielen dafür siehe Kap. 4.4, S. 168 f., und 6.4, S. 301 f.

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dieses mittelalterlichen Erzählens, der bezeichenunge einer punktuellen Textaussage den Vorrang vor ihrem propositionalen Gehalt zu geben – die erste Stelle Zeichen der Unbestechlichkeit des idealen Herrschers,¹⁵⁷ die zweite Zeichen der unverbrüchlichen Verbundenheit mit Roland –, scheint mir die Annahme, dass der Stricker die beiden, auf den ersten Blick widersprüchlichen, Textangaben genau so las, mehr als nur eine Möglichkeit.

5.3 Logik der Motivierung Als Jesus, so erzählt das Matthäusevangelium die Passionsgeschichte, am Vorabend des Passahfestes mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl hält, sagt er zu ihnen, während sie alle essen, dass einer unter ihnen sei, der ihn verraten werde. Die Jünger reagieren überrascht und betroffen; jeder will wissen, ob er es sei. Jesus beantwortet die Frage zunächst indirekt: „Der die Hand mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verraten“ (Mt 26,23).Wir sollen uns offenbar vorstellen, dass Judas soeben zusammen mit Jesus einen Bissen Brot aus der Schüssel genommen hat; erzählt wird es nicht. Dann aber fragt Judas – und der Evangelist fügt hinzu, „der ihn verriet“: „Bin ich’s, Rabbi?“ Und Jesus sagt zu ihm: „Du sagst es“ (Mt 26,25).¹⁵⁸ Das ist im Grunde eine ganz unmögliche Geschichte. Man muss keine moderne Psychologie unterstellen, um annehmen zu dürfen, dass sie schon zeitgenössischen Vorstellungen von Erzählwahrscheinlichkeit spottete. Da weiß derjenige, der der Verräter ist, offenbar nicht, was er getan hat, und derjenige, der der Verratene ist, weiß es und spricht es aus, obwohl er es eigentlich nicht wissen kann. Nach den Maßstäben kausaler Stimmigkeit erscheint das einigermaßen absurd. Zugleich aber formuliert die Erzählung in ihrer motivationalen Fragwürdigkeit eine Grundstruktur, die nicht nur die Geschehensmotivierung in biblischem Erzählen, sondern in Erzählen überhaupt bestimmt: Das Ergebnis, auch wenn der Rezipient es noch nicht kennt, steht von Anfang an fest, und dennoch muss, und zwar in irgendeiner Weise überzeugend, erzählt werden, wie man dahin kommt. Natürlich dürfen wir solche Maßstäbe einer stimmigen Kausalmotivation an diese Geschichte nicht anlegen: Dass die Handlung genau so motiviert wird, hat mit dem Wesen dieser Art des Erzählens zu tun. Erzählt wird von etwas, das  So Johannes Singer: Kommentar. In: Strickers Karl der Große. Hrsg. von Johannes Singer. Berlin/Boston 2016 (DTM 96), S. 345 – 392, hier S. 351 zu V. 886 f., mit Verweis auf Kartschoke.  Zitiert nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984; für die gesamte Abendmahlserzählung siehe Mt 26,20 – 30.

Logik der Motivierung

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vorausbestimmt ist, und der Zweck ist gerade, diese Prädetermination selbst zu erzählen, weil in ihr der maßgebliche Sinn des Ganzen liegt. Es geht eben um Heilsgeschichte, die eo ipso nicht nur prädeterminiert, sondern auch darauf angewiesen ist, diese Prädetermination immer wieder auszustellen, um sich als Heilsgeschichte zu bewähren und zu bewahrheiten. Dennoch ist die kurze Geschichte von Jesu Abschiedsmahl bemerkenswert, weil sie die grundsätzliche Spannung zwischen Ergebnis- und Prozesshaftigkeit, unter der Erzählen steht, explizit macht, indem sie diese Spannung durch die handelnden Figuren gewissermaßen ausagieren lässt. Oder anders gesagt: Das, was normalerweise ein Problem des discours ist, wird hier in die histoire-Ebene hineinverlegt und auf diese Weise ein Thema des dargestellten Geschehens. In nichtbiblischem Erzählen ist das in der Regel anders. Hier gibt es auf der Handlungsebene zwar Motivierungen, seien es explizite oder implizite, und der Rezipient kann diese entweder plausibel finden oder nicht;¹⁵⁹ aber es wird nicht die genannte Spannung selbst, auf einer Metaebene quasi, zum Thema gemacht, geschweige denn von den Figuren ausagiert. Die Erzähltheorie hat unterschiedliche Begrifflichkeiten entwickelt, um diese Spannung, die bei Matthäus deutlicher exponiert wird als bei den anderen Synoptikern oder bei Johannes, zu beschreiben. Bezeichnet werden ihre beiden entgegengesetzten Pole gemeinhin mit den Begriffen der ‚kausalen‘ bzw. der ‚finalen Motivierung‘. Die kausale Motivierung begründet ein Ereignis lebensweltlich als Folge eines Ursache-Wirkung-Zusammenhangs und beinhaltet dabei sowohl psychologische Beweggründe, die die Protagonisten zu ihren Handlungen bewegen können, als auch nichtintentionale Ursachen wie Zufälle, Naturereignisse oder andere kontingente Faktoren.¹⁶⁰ Maßgeblich für kausale Motivationszusammenhänge sind empirische Wahrscheinlichkeit – was also der ‚Normalfall‘ ist – oder zumindest Möglichkeit, wobei die Kriterien dafür historisch variieren können. Von finaler Motivierung wird demgegenüber gesprochen, wenn das Geschehen in irgendeiner Weise prädeterminiert erscheint, zum Beispiel durch das Wirken einer numinosen Instanz oder auch den „Sinnhorizont eines mythischen Weltmodells“: „Der Handlungsverlauf ist hier von Beginn an geplant, scheinbar freie Entscheidungen der Figuren oder Zufälle enthüllen sich als Fügungen gött-

 Explizit sind kausale (oder finale) Motivierungen, wenn sie dem Rezipienten durch die Erzähler- oder Figurenrede mitgeteilt werden. In der Regel aber sind Motivierungen implizit; sie werden, so Matías Martínez: Motivierung. In: RLW 2 (2000), S. 643 – 646, hier S. 644, „im Akt der Lektüre als unbestimmt-vorhanden vorausgesetzt“ und sind insofern ‚Unbestimmtheitsstellen‘ im Sinne der rezeptionsästhetischen Theorie (siehe dazu Kap. 1.2).  Martínez 2000, S. 643; siehe auch Martínez/Scheffel 2003, S. 111– 119.

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licher Providenz.“¹⁶¹ Boris Tomaševskij hat diese Unterscheidung noch um eine dritte Dimension der Motivierung ergänzt, die er als „kompositorische“ bezeichnete und die nicht empirischen, sondern ästhetisch-erzählökonomischen Gesichtspunkten folgt, unter anderem dem, dass „nicht ein Requisit in der Fabel ungenutzt, nicht eine Episode ohne Einfluß auf die Situation der Fabel bleiben [darf].“¹⁶² Kausale und finale Motivierung, so wie sie in der Erzähltheorie im Allgemeinen verstanden werden, haben gemeinsam, dass sie beide ein Element der erzählten Welt sind. Auch wo ein Handlungsverlauf als Ergebnis göttlicher Fügung erscheint, residiert seine Wirkursache – Gott – nicht außerhalb der Diegese. Bei der kompositorischen Motivierung hingegen ist das anders; hier führt die Wirkursache unmittelbar auf den Autor oder Erzähler, eben den ‚Kompositeur‘ der Erzählung zurück. Ganz trennscharf ist die Unterscheidung zwischen finaler und kompositorischer (oder ästhetischer) Motivierung dennoch nicht. Denn zweifellos wirken auch erzählökonomische Beweggründe oder solche, die durch das Handlungsschema vorgegeben sind, final bzw. vom Ergebnis her – Tomaševskijs Feststellung, dass Prinzip der kompositorischen Motivierung die „Zweckmäßigkeit der Motive“ sei, deutet das schon an.¹⁶³ Dies scheint mir in der schon angesprochenen Unterscheidung Clemens Lugowskis zwischen einer proaktiven Motivation (‚von vorn‘) und einer retroaktiven Motivation (‚von hinten‘) mitberücksichtigt. Das mythische Analogon nämlich, von dem her Lugowski seinen Ergebnisbegriff bestimmt, ist nicht primär ein Bestandteil der erzählten Welt, sondern es ist das Prinzip, nach dem die erzählte Welt aufgebaut und das für das Textgeschehen bestimmend ist: jenes Sein, das sich im Ergebnis realisiert und das, indem dieses Ergebnis immer schon vorausgewusst ist, zeitlos – und in dieser Hinsicht der Zeitstruktur des Mythos analog – ist.¹⁶⁴

 Martínez 2000, S. 643; vgl. dazu und zum Folgenden auch oben, S. 192– 194.  Tomaševskij 1985, S. 227. Wie die drei Motivationsarten in mittelalterlichem Erzählen ineinandergreifen können und die kompositorische Motivation zum Ausweis der „spezifischen Künstlichkeit heldenepischen Erzählens“ werden kann, hat am Beispiel des ‚Wolfdietrich B‘ Hartmut Bleumer: Motivation im ‚Wolfdietrich‘ B. In: Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche). 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 2003 (Philologica Germanica 25), S. 37– 55, gezeigt; das Zitat hier, S. 41.  Tomaševskij 1985, S. 227.  Vgl. Lugowski 1970, S. 25: „Ein Ergebnis ist nun immer etwas, in dem die (zeithafte) Bewegung, die zu ihm hinführt, aufgehoben ist. Es ist, verglichen mit dieser Bewegung, zeitlos; es hebt sich von dieser Bewegung ab als das End-gültige und in diesem Sinne Ewige von dem Vorläufigen“ (Hervorheb. im Original). Siehe zur Theorie Lugowskis, ihrer Weiterführung im Konzept der ‚finalen Motivation‘ (nach Matías Martínez) und der Differenzierung zwischen kausaler, finaler und

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Dieser Resultathaftigkeit entspricht im vorneuzeitlichen Erzählen dann, Lugowski zufolge, jene Art der Motivierung, bei der das erzählte Geschehen sich nicht als Abfolge einander wechselseitig bedingender Geschehensabläufe darstellt, sondern ein Ereignis oder Erzählelement seine Rechtfertigung erst im Blick auf das hinter ihm liegende, es aber bestimmende Ergebnis erhält: Im Falle der „Motivation von hinten“ gibt es streng genommen nur ein Motivierendes, das Ergebnis, und der Selbstwert liegt nicht in der Fülle des Einzelnen ausgebreitet, sondern diese Fülle des Konkreten ist nichts als das Transparent, durch das hindurch der Selbstwert scheint. […] Alle Einzelzüge der Handlung, die im Sinne der „Motivation von hinten“ motiviert erscheinen, sind in ihrem Dasein nur im Angesichte des Ergebnisses gerechtfertigt, nicht begründet wie bei der vorbereitenden Motivation, aber doch gerechtfertigt.¹⁶⁵

Psychologische Motivierung, wie der Leser sie im modernen Roman erwartet, kenne das Romanerzählen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit dagegen nicht, weil sie Einzelmenschlichkeit, „Individualeinheit“ der Figuren voraussetze, die so noch nicht (oder nur bedingt) eingeführt sei.¹⁶⁶ In seiner Analyse der Motivationslogik vorneuzeitlicher Erzähltexte berührt Lugowskis ‚Motivation von hinten‘ sich mit dem erweiterten, nicht auf das intradiegetische Wirken einer numinosen Instanz beschränkten Begriff von „Finalmotivation“, wie ihn für die mediävistische Literaturwissenschaft unter anderem Kurt Ruh formuliert hat, und zwar in Bezug auf die Artusepik.¹⁶⁷ Auch Ruh geht von der Annahme aus, dass kausal-psychologische Plausibilitätsüberlegungen der narrativen Logik des Artusromans fremd sind: Chrétien und Hartmann fragen nicht oder doch nur gelegentlich und beiläufig nach Beweggründen, sondern nach dem Wozu. Handlung ist nicht kausal, sondern final bedingt, Situationen stellen sich nach ‚Bedarf‘ der Handelnden ein […].¹⁶⁸

Was aber bestimmt diesen „‚Bedarf‘ der Handelnden“ bzw. wodurch ist dieses „Wozu“ bedingt? Oder, wenn man die Frage vom Standpunkt des Rezipienten aus formuliert, dem es ja anheimgestellt ist und der in aller Regel bemüht sein wird, den Text in irgendeiner Weise kohärent oder „vraisemblable“ (im Sinne Cullers)

kompositorischer Motivierung kritisch zusammenfassend Anne Sophie Meincke: Finalität und Erzählstruktur. Gefährdet Didos Liebe zu Eneas die narrative Kohärenz der ‚Eneide‘ Heinrichs von Veldeke? Stuttgart 2007, S. 101– 148.  Lugowski 1970, S. 83.  Lugowski 1970, S. 67 und 84.  Der Begriff bei Ruh 1977, S. 122.  Ruh 1977, S. 114.

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zu machen:¹⁶⁹ Welche Faktoren sind es, die auch bei fehlender oder mangelhafter Kausalmotivation darauf Einfluss haben, ob der Rezipient das Erzählte final, vom Ergebnis her, als wahrscheinlich, stimmig, schlüssig wahrnimmt? Mindestens drei solcher Faktoren scheinen mir, schon im Hinblick auf ein mittelalterliches Publikum, relevant zu sein: zum einen literarische (Vor‐)Erwartungen, wie sie durch Gattungswissen, Wissen um Erzählschemata, Kenntnis von Prätexten etc. geformt wurden, das heißt durch die Kenntnis der ‚Spielregeln‘, die für einen bestimmten Text oder Texttypus galten. Das dürfte nicht anders als heute gewesen sein: Was wir im Märchen selbstverständlich akzeptieren, nämlich einen Wasserfrosch, der mit einer Königstochter spricht, würde uns in einem Gesellschaftsroman in hohem Maße unwahrscheinlich und schnell inkonsistent vorkommen. In diesen Zusammenhang gehören auch spezifisch poetische Wahrscheinlichkeitskonzepte, denen zufolge etwas, das in einem Werk der Dichtkunst wahrscheinlich oder möglich erscheinen kann, mit außerliterarischen Wahrscheinlichkeitsvorstellungen nicht übereinstimmen muss. Das Zweite sind eben solche alltagsweltlich geprägten Vorstellungen davon, was als wahrscheinlich, möglich oder der ‚Normalfall‘ anzusehen ist. Auf sie bezogen sich auch die Artes poeticae des 12. und 13. Jahrhunderts, wenn sie in Anlehnung an die antike Rhetorik ein Erzählen secundum naturam, also gemäß der Natur, der Sitte oder der allgemeinen Meinung vorschrieben (so wie Matthäus von Vendôme im Hinblick auf eine quasi naturgesetzmäßige Darstellung der Stufenfolge in der Liebe).¹⁷⁰ Drittens schließlich spielen bei der Textintegration Wünsche – individueller wie kollektiver Natur – eine erhebliche Rolle. Auch objektiv höchst Unwahrscheinliches sind wir zu akzeptieren bereit, wenn der Ausgang oder das Ergebnis nur dem entsprechen, was wir uns wünschen. In der unter dem Einfluss der Aristoteles-Rezeption stehenden poetologischen Diskussion des 13. Jahrhunderts lässt sich ein Bewusstsein dafür im Rekurs auf das menschliche Begehrensvermögen (appetitus) feststellen.¹⁷¹ Rezipienten neigen dazu, diesbezüglich erhebliche Zugeständnisse an die Kohärenz und Schlüssigkeit des Dargestellten zu machen. Dabei können sowohl narrativ, etwa durch Perspektivierung und Sympathiesteuerung im Text aufgebaute Wünsche eine Rolle spielen als auch außertextuelle, die sich aus persönlichen Vorlieben, Normen,Wertvorstellungen etc. speisen. Beide mischen sich in dem, was in der Poetik und Literaturkritik seit dem Ende des 17. Jahrhunderts unter dem Terminus ‚poetische Gerechtigkeit‘ firmiert:

 Siehe Culler 1975, S. 137 f.; außerdem Kap. 2.5, S. 60.  Siehe Kap. 3.2, S. 92 f., 95 f.  Dazu eingehend Kap. 3.3.

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das Bedürfnis also, dass am Ende ein jeder das bekomme, was er – im Guten wie im Schlechten – verdient.¹⁷² In den Texten der frühen mittelhochdeutschen Epik zeigt sich nun immer wieder eine Spannung zwischen dem übergeordneten finalen Erzählanliegen und der Handlungslogik kleinerer Erzähleinheiten – Szenen, Episoden – oder auch, wie in der Ise-Figur aus dem ‚Orendel‘, zwischen syntagmatisch nicht zueinander vermittelten, quasi übereinandergelegten Bedeutungsschichten. Die Gestaltung thematischer Kohärenz scheint dabei primär von der partikularen Erzähleinheit auszugehen, und das hat zur Folge, dass es zu erzähllogischen Inkonsistenzen im Verhältnis zu an anderer Stelle gegebenen Textinformationen kommen kann (nicht muss!). Sicher hatten solche Unvermitteltheiten manchmal ganz praktische Ursachen, die in den Entstehungsbedingungen und -umständen der Werke begründet lagen. Doch sind sie insgesamt zu häufig und zu auffällig, als dass das textgenetische Argument zur Erklärung hinreichen würde. Auffällig ist vor allem, dass Lücken und/oder Widersprüche immer wieder dadurch entstehen, dass präformierte Handlungs- und Deutungsmuster kleineren Zuschnitts (Scripts bzw. Frames mit prototypischem Charakter) mikro- oder makrostrukturell mit anderen Erzählabsichten konfligieren. ‚Mikrostrukturell‘ heißt dabei bezogen auf die einzelne Szene, ‚makrostrukturell‘ bezogen auf den übergeordneten Erzählzusammenhang: In Konrads ‚Rolandslied‘ beispielsweise betraf das die Logik des Scripts ‚Nachrichtenübermittlung durch einen Boten‘ und die Logik der Verratshandlung; im ‚Münchner Oswald‘ die Logik der schemabedingt erforderlichen Ratszene und die Logik göttlicher Providenz und Berufung;¹⁷³ im ‚Herzog Ernst B‘ die Logik des Regelwerks der deditio und die finale Logik des Erzählanliegens, das auf die Exposition fürstlicher Macht- und Mitspracheansprüche zielt; im ‚Orendel‘, auf etwas andere Weise, divergierende, aber jeweils handlungsrelevante Bedeutungs-

 Siehe etwa in Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Goethe,Werke. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. VII: Romane und Novellen II. 15. Aufl. München 2002, die kurze Inhaltszusammenfassung, die der Erzähler zu dem selbstverfertigten Stück gibt, das der Baron Wilhelms Theatertruppe spielen lassen möchte: „Der Held war ein vornehmer, tugendhafter, großmütiger und dabei verkannter und verfolgter Mann, der aber denn doch zuletzt den Sieg über seine Feinde davontrug, über welche sodann die strengste poetische Gerechtigkeit ausgeübt worden wäre, wenn er ihnen nicht auf der Stelle verziehen hätte“ (S. 152 f.); zur Geschichte des Begriffs und der daran sich anknüpfenden Forschungsdiskussion Hartmut Reinhardt: Poetische Gerechtigkeit. In: RLW 3 (2003), S. 106 – 108.  Siehe zur Ratszene als Element in der Handlungsstruktur des Brautwerbungsmusters Christian Schmid-Cadalbert: Der ‚Ortnit AW‘ als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur. Bern 1985 (Bibliotheca Germanica 28), S. 88 – 90; Müller 1993, bes. S. 126 – 130. An sie schließt sich schemagemäß die Verpflichtung der Dienstleute zur Hilfe bei der Brautwerbung an.

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zuschreibungen an die Figur des Fischers Ise. Man könnte das auch so zuspitzen, dass in diesen und weiteren Fällen das, was erzählt werden muss, mit dem in Konflikt gerät, was erzählt werden will. Doch warum eigentlich ist das so? Rein erzähltechnisch wäre es an einer Stelle wie dem Empfang Geneluns durch Marsilie im ‚Rolandslied‘ wohl nicht allzu schwierig gewesen, eine Lösung zu finden, die die auseinanderstrebenden Handlungslogiken in dieser Botenszene zueinander vermittelt hätte. Aber offenbar geht es um etwas anderes, und ich meine, dass sich dieses andere als das Bemühen um ein Austarieren von Normalitätserwartungen einerseits und dem Unerhört-Ereignishaften, das ein dargestelltes Geschehen ‚erzählwürdig‘ macht, andererseits beschreiben lässt.¹⁷⁴ Wenn die Handlungsdarstellung sich lokal an prototypischen Abfolgen oder anderen präformierten Mustern orientiert, obwohl diese zu anderen narrativen Dynamiken, die im Text wirken – insbesondere dem finalen Erzählanliegen –, nicht vermittelbar sind bzw. bewusst nicht aufeinander abgestimmt werden, dann zielt das darauf zu erzählen, was ‚man‘ weiß und kennt und was demgemäß für eine bestimmte Handlungssituation als wahrscheinlich und erwartbar gelten kann.¹⁷⁵ Dass das in diesem Sinne Wahrscheinliche und Erwartbare dann regelmäßig durch die Erzählung negiert oder abgebogen wird, ist das eine; das andere, dass der dabei entstehende Riss, die Inkohärenz, sich als Intensitätsmarker lesen lässt. Er verweist auf die Bedeutung, die der Evokation des Musters offenkundig zukam, und damit auf die Intensität diesbezüglicher Affirmationswünsche im Sinne einer Bestätigung dessen, „was man weiß und was seit je gilt“,¹⁷⁶ selbst wenn es zugleich narrativ unter Vorbehalt gestellt wird. Gegenstand der Affirmation kann dabei sowohl ein allgemeines Welt- und Wirklichkeitswissen sein, Erfahrungen in Bezug auf und Kenntnisse über Natur, Umwelt, Gesellschaft usw.; es kann aber auch um die Bestätigung eines spezifisch

 Das Kriterium der ‚Erzählwürdigkeit‘ (tellability) als ein Bestandteil von ‚Narrativität‘ (narrativity) bezieht sich darauf, dass das in einer Geschichte vermittelte Ereignis „eine überraschende Wendung, einen entscheidenden Umschwung, eine Abweichung vom Erwarteten oder Normalen“ enthalten muss (Peter Hühn: Erzähltexte im Verhältnis zu anderen Textsorten. In: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Matías Martínez. Stuttgart/ Weimar 2011, S. 12– 16, hier S. 12); siehe dazu auch Lotman 1993, S. 329 – 340, sowie zu Narrativität als einer skalierbaren Größe, die in der Balance von „canonicity and breach“ (Jerome Bruner) besteht, Herman 2002, S. 91, 100 – 105.  Dieses ‚man‘ ist insofern nicht deckungsgleich mit jenem, das Müller 2017 im Sinn hat. Müller versteht darunter wahlweise die Stimme der literarischen Tradition, das „Sprachrohr der Geschichte“, die „‚Kunde‘, die ‚man‘ sich erzählt“ (S. 15, 64). Demgegenüber beinhaltet das hier gemeinte ‚man‘ nicht nur ein Wissen um Erzähltraditionen, sondern in einer allgemeineren Weise kollektives alltagsweltliches Erfahrungs- und Handlungswissen.  Müller 1998, S. 29.

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literarischen Wissens gehen, wie wenn um den Preis syntagmatischer Inkohärenz etablierte Elemente eines bestimmten Erzählschemas eingespielt werden. Auch bei dem, was die mediävistische Literaturwissenschaft unter dem Begriff der ‚abgewiesenen Alternative‘ erörtert, fällt auf, dass das, was abgewiesen wird, regelmäßig das Erwartete, der Prototyp, ist. Ein bekanntes Beispiel ist der abgewiesene ‚Kurzschluss‘ zwischen Werbungshelfer und Braut im ‚Nibelungenlied‘: Obwohl Sivrit auf Isenstein als Untergebener Gunthers auftritt, indem er ihm beim Anlandgehen den Stratordienst erweist und in den Steigbügel hilft, scheint Prünhilt in Sivrit den eigentlichen Brautwerber zu sehen: vnt ist der starche Sifrit chomen in diz lant / dvrch willen miner minne, ez gat im an den lip (Str. 414,2 f. [416,2 f.] nach Hs. B). Dementsprechend begrüßt sie ihn zuerst, obwohl Gunther an der Spitze der Gruppe schreitet. Hier scheine, so Peter Strohschneider, der Kurzschluss zwischen Werbungshelfer und Braut „als abgewiesene Alternative bewußt gehalten zu sein“.¹⁷⁷ Was damit aber bewusst gehalten wird, ist nichts anderes als das, was gemäß den Regeln der Brautwerbung tatsächlich gilt und der Fall sein sollte: dass nämlich der Beste auch die Schönste bekommt. Man kann solche Stellen in zweierlei Richtung lesen: einmal im Hinblick auf ein literarästhetisch und erzählstrategisch ausgeklügeltes Aufrufen des ‚Normalfalls‘, um durch seine Abweisung zu zeigen, dass eben alles auch ganz anders sein kann. Man kann die Spannung, die sich in diesem ‚Kurzschluss‘ entlädt, aber auch als Ausdruck des Bedürfnisses verstehen, das, was gelten sollte – und tatsächlich auch gilt (der für Prünhilt Richtige ist eigentlich Sivrit, und umgekehrt) –, bestätigend ins Bewusstsein zu bringen. Die Spannung zwischen der Partikularlogik der einzelnen Handlungseinheit und der teleologischen Finallogik der Erzählung, die sich in den Texten wiederholt beobachten lässt, hätte, so gesehen, Ursachen, die sich nicht allein mit historisch anderen Erzählpraktiken erklären lassen, sondern die letztlich auf bestimmte psychische und kognitive Dispositionen zurückführen. Sie ließe sich reformulieren als eine Spannung zwischen widerstreitenden Wünschen: einerseits solchen, die auf das Bekannte und Erwartbare, andererseits solchen, die auf das Unbekannte und buchstäblich Unerhörte gerichtet sind. Insofern es sich dabei um ein Grundprinzip allen Erzählens handelt – narratologisch gefasst in die Begriffe ‚Ereignishaftigkeit‘ und ‚Erzählwürdigkeit‘ –, ist das nichts Besonderes. Indem die genannte Spannung in den mittelalterlichen Texten aber immer wieder in der Form regelrechter Inkohärenzen zutage tritt, deuten Letztere auf ein verstärktes Bedürfnis nach Weltgewissheit und Affirmation des Bekannten hin, das

 Strohschneider 1997b, S. 49; vgl. auch Schulz 2012, S. 353 – 356.

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sich bis in die Textkonstitution hinein auswirkt.¹⁷⁸ In diesem Widerspiel zwischen dem Wunsch, das Bekannte bestätigt zu wissen und doch das Unbekannte, buchstäblich Unerhörte zu hören, scheint mir ein wesentlicher Grund für handlungslogische Inkonsistenzen in mittelalterlichem Erzählen zu liegen.

 In diesem Sinne ließen sich auch die in der volkssprachigen Epik so zahlreich vorkommenden Formulierungen der Art vernemet seltsâniu dink (z. B. Heinrich von Veldeke, ‚Eneit‘, V. 823) oder sô moget ir hôren wunder (z. B. ‚Eneit‘, V. 9390) deuten: Sie sind nicht nur rhetorische Mittel der Spannungserzeugung und Aufmerksamkeitsfokussierung, sondern dienen auch der vorbereitenden Ankündigung – und damit besonderen Markierung – dessen, was vom Bekannten, Naturgemäßen, ‚Normalen‘ abweicht; die zitierte ‚Eneit‘-Ausgabe: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1997 (RUB 8303).

6 Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume Eine Erzählung, die wir lesen oder hören, lässt vor unserem inneren oder geistigen Auge einen bildhaften Eindruck des Erzählten entstehen.¹ Für dieses Bild, das durch die Erzählung in der Vorstellung hervorgerufen wird, ist charakteristisch, dass es als ein räumlicher Entwurf erscheint. Das ist besonders dann der Fall, wenn die Erzählung selbst räumliche Informationen enthält. Aber auch, wenn sie uns konkrete Raumangaben vorenthält, entwirft sich uns das Erzählte als ein Bild, dem räumliche Plastizität eignet. Je weniger objektiv Räumliches das Erzählte zur Anschauung bringt, desto subjektiver wird die Raumvorstellung sein, gespeist aus dem je individuellen Vorstellungsvermögen ebenso wie aus dem Fundus von Raumbildern und Raumerlebnissen, tatsächlichen oder durch Kunst (Bücher, Filme, Fotografien etc.) vermittelten, die in unserem Gedächtnis gespeichert sind. Dieser vorgestellte Raum ist im Hinblick auf die erzählte Geschichte der Raum der Wahrnehmung. Es ist der Raum, in dem wir das erzählte Geschehen sich abspielen sehen und in Bezug auf den die räumlichen Orientierungsprozesse statthaben, die die Erzählung uns abverlangt. Dieser Wahrnehmungsraum ist ein vorgestellter, aber ein vorgestellter konkreter Raum. So helfen denn auch konkrete Raumangaben, ihn in unserer Vorstellung entstehen zu lassen.² Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsraum hängen dementsprechend eng miteinander zusammen, lassen sich aber doch unterscheiden. Wenn Raumwahrnehmung die prozesshafte Verarbeitung raumbezogener Daten ist – Daten aus der Umwelt oder auch durch sprachliche Handlungen vermittelte –, dann ist der Wahrnehmungsraum, zusammen mit anderen, subjektiven Faktoren, das Ergebnis dieses Vorgangs.³ Er ist der „dem Menschen durch seine Sinnestätigkeit gegebene, aber nicht vollständig bestimmte Raum“, da Wahrnehmung auch noch durch andere Faktoren als die Funktion der verschiedenen Sinnesorgane, zum Beispiel durch Erwartungshaltungen, beeinflusst wird.⁴

 Die bildgebende Wirkung nicht nur von Erzählung, sondern von Sprache allgemein muss hier nicht näher ausgeführt werden. Sie galt gerade dem Mittelalter als Allgemeingut und wurde in der auf die griechische Medizin der Antike, vor allem Galen, zurückgehenden Ventrikellehre auch sinnesphysiologisch erklärt und begründet; siehe dazu, mit Quellen- und Forschungshinweisen, Björn Reich: Name und maere. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik. Mit exemplarischen Einzeluntersuchungen zum ‚Meleranz‘ des Pleier, ‚Göttweiger Trojanerkrieg‘ und ‚Wolfdietrich D‘. Heidelberg 2011 (Studien zur historischen Poetik 8), S. 47– 51.  Vgl. zu einer solchen Charakterisierung des Wahrnehmungsraums Michael Holger Dück: Der Raum und seine Wahrnehmung. Würzburg 2001 (Epistemata, Reihe Philosophie 252), S. 44– 46.  Vgl. Dück 2001, S. 45.  Dück 2001, S. 44. https://doi.org/10.1515/9783110593105-007

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In einem funktional-pragmatischen Textverständnis, das, wie Konrad Ehlich es im Anschluss an Karl Bühler vorgeschlagen hat, den Textbegriff von einer Theorie des sprachlichen Handelns her bestimmt, nimmt der Begriff des Wahrnehmungsraums eine zentrale Stelle ein, und zwar zunächst im Hinblick auf die unmittelbare Sprechsituation.⁵ Sprechsituationen im hier gemeinten Sinne sind Situationen physischer Kopräsenz von mindestens zwei Aktanten, Sprecher und Hörer. Sie sind gekennzeichnet durch „Gleichzeitigkeit“ und „Gleichräumlichkeit“,⁶ und es ist diese Situation der Kopräsenz, die einen, zumindest weitgehend, gemeinsamen Wahrnehmungsraum von Sprecher und Hörer schafft. Als Raum „potentieller sinnlicher Gewißheit“, wie Ehlich ihn auch beschreibt, ist er Voraussetzung für gelingende sprachliche Kommunikation;⁷ er wird sowohl für die Äußerungsdimension der sprachlichen Handlung – die Kommunikation von Lauten und nonverbalen Zeichen – als auch für die Konstitution des Zeigfeldes und die Verwendung deiktischer Ausdrücke genutzt.⁸ Auf dieser Analyse der unmittelbaren Sprechsituation baut der funktionalpragmatische Textbegriff auf. ‚Text‘ ist in dieser Sicht eine „aus ihrer primären unmittelbaren Sprechsituation herausgelöste Sprechhandlung, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert wird“. Mit anderen Worten: Texte sind nicht „quasi naturwüchsig vorfindliche Objekte“, sondern sie sind auf die Vermittlung zweier diachroner und/oder diatopischer Sprechsituationen gerichtet, auf das, was Ehlich eine „zerdehnte Sprechsituation“ nennt. Zum Kriterium für Textualität wird damit die über die einzelne Sprechsituation hinaus fortdauernde Stabilität, und das heißt: „die Überlieferungsqualität einer sprachlichen Handlung“.⁹  Das Folgende nach Konrad Ehlich: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Schrift und Gedächtnis. Hrsg. von Aleida Assmann/Jan Assmann/Christof Hardmeier. München 1983 (Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation 1), S. 24– 43; vgl. auch ders.: Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse. Ziele und Verfahren. In: Verbale Interaktion. Studien zur Empirie und Methodologie der Pragmatik. Hrsg. von Dieter Flader. Stuttgart 1991, S. 127– 143.  Ehlich 1983, S. 30.  Konrad Ehlich: Deiktische und phorische Prozeduren beim literarischen Erzählen. In: Erzählforschung. Ein Symposion. Hrsg. von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1982 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 4), S. 112– 129, hier S. 118; vgl. auch Ehlich 1983, S. 29.  Zur Theorie der sprachlichen Felder, wie sie von Bühler 1934 begründet und im Rahmen der funktional-pragmatischen Kommunikationsanalyse weiterentwickelt wurde, Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 2. Aufl., mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz. Stuttgart 1965, sowie Ehlich 1991; einen knappen Forschungsüberblick bietet Jochen Rehbein: Das Konzept der Diskursanalyse. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Hrsg. von Klaus Brinker u. a. Halbbd. 2: Gesprächslinguistik. Berlin/New York 2001 (HSK 16,2), S. 927– 945, hier S. 937 f.  All das, auch die Hervorhebung, bei Ehlich 1983, S. 32.

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Was bedeutet das für den Wahrnehmungsraum? Es heißt zunächst, dass ein gemeinsamer Wahrnehmungsraum, im Sinne eines durch Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit geschaffenen Raums möglicher sinnlicher Gewissheit, nicht vorab als gemeinsame Umgebung der an der Sprachhandlung Beteiligten, des Urhebers oder ‚Autors‘ der sprachlichen Äußerung und ihres Adressaten, bereits gegeben ist. Mit dem Wegfall der Kopräsenz entfällt aber auch das gemeinsame Zeigfeld als Bezugsfeld sinnlicher Gewissheit. An die Stelle der unmittelbaren Wahrnehmung treten nun, in der eingangs beschriebenen Weise, mentale Vorgänge des Erinnerns und Imaginierens, durch die der Hörer oder Leser bei der sprachlichen Aktualisierung des Textes den Wahrnehmungsraum allererst herstellen muss. Die Orientierung der Aufmerksamkeit des Textrezipienten findet jetzt am Text- und Vorstellungsraum statt, mit dem Ausdruck Bühlers: am Phantasma, nicht mehr am Sprechzeitraum und Rederaum. Die vier Begriffe – ‚Sprechzeitraum‘, ‚Rederaum‘, ‚Textraum‘, ‚Vorstellungsraum‘ – führte Ehlich zur Unterscheidung von vier „Verweisräumen“ ein, worunter er diejenigen Räume versteht, auf die beim sprachlichen Handeln deiktische Operationen angewandt werden können.¹⁰ Der Sprechzeitraum ist der durch Kopräsenz von Sprecher und Hörer ermöglichte, gemeinsame Wahrnehmungsraum; er entspricht der Bühler’schen demonstratio ad oculos. Der Begriff des Vorstellungsraums, bei Bühler die Deixis am Phantasma, bezieht sich auf deiktische Prozeduren am imaginativ Entworfenen.¹¹ Demgegenüber betreffen die beiden anderen Termini nicht den Gegenstand der sprachlichen Äußerung, sondern, in metaphorischer Wortverwendung, den Raum der sprachlichen Äußerung selbst, erzähltheoretisch gefasst, die Darstellung oder den discours. Im Fall der unmittelbaren, primären Sprechsituation stellt sich dieser als Rede dar, im Fall der der unmittelbaren Sprechsituation enthobenen, für den Wiedergebrauch konservierten Sprachhandlung als Text.¹² Wie Bühler gezeigt hat, erfolgt auch im Phantasma die Orientierung in

 Siehe Ehlich 1982, S. 117– 120.  Dabei ist unerheblich, ob das Phantasma sich auf die wirkliche oder aber auf eine fiktive Welt bezieht.  Schon Bühler wies auf das Phänomen hin, dass in etwa dieselben Zeigwörter, die wir für die Deixis im Wahrnehmungsraum verwenden, bei anaphorischer oder kataphorischer Verwendung auch für das Zeigen auf Plätze in der Rede gebraucht werden; siehe zum Ganzen Bühler 1965, S. 121– 140, Ehlich 1982 und ders.: Literarische Landschaft und deiktische Prozedur: Eichendorff. In: Sprache und Raum. Psychologische und linguistische Aspekte der Aneignung und Verarbeitung von Räumlichkeit. Ein Arbeitsbuch für das Lehren von Forschung. Hrsg. von Harro Schweizer. Stuttgart 1985, S. 246– 261, bes. S. 250 f., sowie Ellen Fricke: Origo, Geste und Raum. Lokaldeixis im Deutschen. Berlin/New York 2007 (Linguistik – Impulse und Tendenzen 24), S. 18 – 27. Zur Bestimmung von Text als „Wiedergebrauchsrede“ Peter Strohschneider: Höfische

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derselben Weise räumlich und es wird dasselbe Orientierungsfeld ausgewertet wie in einer gegenwärtigen Wahrnehmungssituation, mit der Folge, dass das „vor dem geistigen Auge auftauchende Vorstellungsding einen Platz vor, hinter oder neben mir, und direkt unter den Dingen, die ich teilweise wahrnehme, teilweise vorstelle, erhalten kann.“¹³ Die Unterscheidung von Sprechzeitraum und Vorstellungsraum, Rederaum und Textraum leuchtet unmittelbar dort ein, wo wir es mit verschriftlichten Texten und, wichtiger noch, mit Leserezeption zu tun haben; sprachpragmatisch formuliert: mit einer Sprechhandlung, die von vornherein und vollständig aus der unmittelbaren Sprechsituation herausgelöst und in diesem Sinne situationsabstrakt ist. Das ist immer dann der Fall, wenn, wie heute in der Regel, Texte gelesen werden, und zwar nicht laut und gemeinsam, sondern still und einsam. Doch wie verhält es sich bei Texten, die zwar schriftlich überliefert sind, doch vorgelesen, vorgesungen oder vorgetragen wurden, die also auf eine Rezeption im Hören angelegt und damit aus der unmittelbaren Sprechsituation mündlicher Kommunikation gerade nicht herausgelöst, sondern in sie eingebunden waren? Die Vortragssituation selbst ist, als direkte, unmittelbare, unvermittelte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, durch Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit gekennzeichnet; sie ist eine Situation der Kopräsenz, und sie schafft für den Vortragenden und die Zuhörer einen unmittelbaren, gemeinsamen Wahrnehmungsraum, der sich im Hinblick auf die räumliche Orientierung und die Möglichkeiten der Deixis als Sprechzeitraum ebenso wie als Rederaum darstellt. Zugleich freilich ist Gegenstand der Darbietung ein Text im Sinn einer Wiedergebrauchsrede, und im Hinblick auf sie finden die Raumorientierung und Zeigeprozeduren an der durch die Sprache evozierten „optischen Phantasieszene“¹⁴ (dem Phantasma oder Vorstellungsraum) ebenso statt wie am Ganzen der Textrede selbst (dem Textraum), deren propositionaler Gehalt sich der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung von Sprecher und Hörer entzieht. Man hätte es also mit einer Situation zu tun, in der sich verschiedene Wahrnehmungsräume und Raumwahrnehmungen kreuzen und überlagern, mit der Folge, dass das, was sich theoretisch-terminologisch säuberlich trennen lässt, in der Praxis zu Vermischung und wechselseitiger Ausbeutung geradezu einlädt: Vortragserzähler können durch Gestik und Mimik, durch Hand-, Kopf- und Zeigebewegungen, ebenso wie durch stimmliche (Tonlage) und andere akustische Mittel (Geräusche) den Raum der gemeinsamen Wahrnehmung zur Vergegenwärtigung des vorgeTextgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur. Heidelberg 2014 (GRM-Beiheft 55), S. 15.  Bühler 1965, S. 134; vgl. auch ebd., S. 140.  Bühler 1965, S. 137.

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stellten Wahrnehmungsraums und zur Raumreferenz nutzen.¹⁵ Dass sie das auch tun, hat etwa Harold Scheub für das mündlich-performative Erzählen in den oralen Kulturen Afrikas in eindrucksvoller Weise demonstriert (womit keine vorschnellen, anachronistischen Parallelen zur medialen Pragmatik mittelalterlicher Texte suggeriert seien).¹⁶ So zeigt sich also, dass in einem Textualitätskonzept, das im Schnittpunkt von kategorial Diskursivem und kategorial Performativem angesiedelt ist und in dem der Körper des Vortragenden als Instanz der (Erzähl‐)Rede fungiert,¹⁷ auch im Hinblick auf Räumliches Interferenzpotentiale gegeben sind. In diesem Kapitel möchte ich herausarbeiten, dass und wie in der Zeit eines Übergangs zwischen konzeptionell mündlicher und konzeptionell schriftlicher Kommunikation von Literatur die Überschneidung von Rederaum und Textraum, Sprechzeitraum und Vorstellungsraum in der Situation des Vortrags sowohl die Raumwahrnehmung und -gestaltung in den Texten als auch die Art ihrer Raumreferenz beeinflussen konnte. Dabei soll deutlich werden, dass sich einige auffällige Phänomene, die die Texte im Hinblick auf die Darstellung von und die Bezugnahme auf Räumliches aufweisen, erklären, wenn man sie vor dem Hintergrund der medialen Pragmatik mittelalterlicher Dichtung sieht; leichter erklären jedenfalls, als wenn man sie, wie es in der mediävistisch-germanistischen Raumforschung tendenziell geschieht, als Epiphänomene einer historisch alteritären Raumsemantik betrachtet, deren Wurzeln wiederum in den spezifischen anthropologischen, epistemologischen und lebensweltlichen Bedingungen der mittelalterlichen Kultur gefunden werden. Es geht mir dabei nicht darum, den einen Erklärungsansatz gegen den anderen auszuspielen, sondern durch die systematische Einbeziehung der medialen Pragmatik der Texte zu einem differenzierteren Verständnis von Wahrnehmungs- und Darstellungsräumlichem in der vor- oder frühhöfischen Erzählliteratur zu kommen. Dass das stumme Lesen in der Volkssprache noch im späten Mittelalter, wie in der Antike, die Ausnahme war, darin scheint sich die Forschung einig.¹⁸ Darüber hinaus aber ist, was die Medialität und Pragmatik mittelalterlicher Literatur betrifft, vieles umstritten. Sonja Glauch hat in ihrer Studie zur Poetik höfischen

 Mit ‚Raumreferenz‘ ist mit Theo Herrmann/Joachim Grabowski: Sprechen. Psychologie der Sprachproduktion. Heidelberg u. a. 1994 (Spektrum Psychologie), S. 107, die „Bezugnahme unseres Sprechens auf Räumliches“ gemeint.  Siehe Harold Scheub: Body and Image in Oral Narrative Performance. In: NLH 8 (1977), S. 345 – 367.  So Strohschneider 2014, S. 17.  Vgl. Manfred Günter Scholz: Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert. Wiesbaden 1980, S. 103 – 111, bes. S. 109.

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Erzählens die Frage für die volkssprachige Dichtung um 1200 noch einmal aufgenommen und gegen eine in der Germanistik der letzten Jahrzehnte zunehmende „Tendenz zur ‚Literarisierung‘“ den performativen Charakter der Texte betont.¹⁹ Ein guter Teil der volkssprachigen Erzählliteratur vor 1200 ist Vortragsdichtung, und sie enthält die Performanz als Möglichkeit selbst dort, wo sie ihrer Entstehung nach auf die Buchform angewiesen ist.²⁰ Dieser Befund darf, mit Differenzierungen im Einzelnen,²¹ sowohl für die anonym überlieferte, aus mündlicher Tradition stammende, aber in die Schriftlichkeit überführte Abenteuer-, Brautwerbungs- und Heldenepik als auch für die mit Autornamen versehene, überwiegend auf historische und legendarische Stoffe zurückgreifende Buchepik der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Geltung beanspruchen. Zwar ist mit der medialen Bestimmung der Texte als im Hören rezipierte Vortragsdichtung noch nichts darüber ausgesagt, inwieweit diese Medialität sich auch auf die Textkonstitution selbst auswirkte. Auch Texte, die nicht genuin Vortragsdichtung sind, die also nicht für einen realen Vortrag geschrieben wurden, können selbstverständlich vorgetragen werden; das Format der modernen Autorenlesung ist ein klassisches Beispiel dafür. Doch ist es das Beispiel einer literaten Kultur, während es umgekehrt für eine semi-orale Kultur, wie es diejenige des Mittelalters anerkanntermaßen war,²² erstaunlich wäre, wenn der Zwischenstatus der Texte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Spuren nicht auch in ihrer textuellen Verfasstheit hinterlassen hätte.²³ Solchen Spuren soll im Folgenden an drei Erscheinungen nachgegangen werden, die in raum- und wahrnehmungslogischer Hinsicht auffällig sind, auch in dem Sinne, dass sie neuzeitlichen Maßstäben zuwiderlaufen und daher bei  Glauch 2009, S. 35 – 76.  Vgl. Glauch 2009, S. 10.  Für den ‚Herzog Ernst‘ z. B. mit seiner Mischung aus Reichsgeschichte einerseits, orientalischer und lateinisch-ethnographischer Märchenwelt andererseits ist nicht ganz klar – und wird sich wohl auch nicht mehr klären lassen –, zu welchen Teilen er sich aus schriftliterarischen oder aber mündlichen Quellen speist; vgl. Curschmann 1968, S. 34– 41; Markus Stock: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ‚Straßburger Alexander‘, im ‚Herzog Ernst B‘ und im ‚König Rother‘. Tübingen 2002 (MTU 123), S. 154– 157.  So etwa Jan-Dirk Müller: Medieval German Literature: Literacy, Orality and Semi-Orality. In: Medieval Oral Literature. Hrsg. von Karl Reichl. Berlin/Boston 2012, S. 295 – 334, bes. S. 328.  In diesem Sinne auch Knapp 2012, S. 26 f., der darauf hinweist, dass die eingeschränkte Leseund Schreibfähigkeit im Mittelalter (Knapp geht für um 1200 von einer Lesefähigkeit von „kaum zehn Prozent der Gesamtbevölkerung“ aus) als „bildungsgeschichtliche[] Voraussetzungen Auswirkungen auf den Text haben [mußten], auch wenn er selbst schriftlich geschaffen und auch für schriftliche Verbreitung vorgesehen war.“ Vorläufig ausgeklammert werden soll dabei an dieser Stelle die Frage, ob die solchermaßen postulierte Mündlichkeit in den Texten als eine ‚fiktive‘, ‚gespielte‘ anzusprechen wäre; dazu der Kapitelabschnitt 6.4.

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einer Lektüre im Stillen, wie sie heute der Normalfall ist, irritierend wirken. Diese Phänomene sind: narrative Aussparungen, die den Eindruck der Gestaltlosigkeit und Unanschaulichkeit des Raums der erzählten Welt hervorrufen; die Tendenz zu deiktischen statt nichtdeiktischen Arten des Verweisens bei der Erzeugung von Raum; erzählte Raumwahrnehmung, bei der die Positionen und Perspektiven verschiedener räumlicher Wahrnehmungsinstanzen überblendet werden.

6.1 Amorphe Räume Raum wird hergestellt und strukturiert durch Nähe- und Distanzverhältnisse: durch Richtungen, Bewegungen und Dinge im Sinne materieller räumlicher Gegebenheiten. Rechts oder links, ein Spaziergang, die Flugbahn eines Stöckchens, dem ein Hund nachjagt, die Bank in einem Park – all das schafft Raum. In einem narrativen Text helfen derlei raumkonstitutive Angaben dem Rezipienten dabei, sich von dem dargestellten Raum ein Bild zu machen, ihn als mentales Modell zu entwerfen.²⁴ Neuzeitliche Leser sind daran gewöhnt, dass Erzähltexte ihnen eine erhebliche Menge an Informationen zur Verfügung stellen, die im Prozess der Lektüre für den Aufbau der räumlichen Verhältnisse der dargestellten Welt ausgewertet werden können. Mittelalterliche Texte verfahren, wie die Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte herausgearbeitet hat, in dieser Hinsicht anders.²⁵ Sie gehen mit Hin-

 Systematisch als „mentales Modell eines Modell-Lesers“ (S. 8 u.ö.) konzeptualisiert Katrin Dennerlein 2009, bes. S. 99 – 114, den erzählten Raum.  Für einen Überblick über Aspekte und Tendenzen der mediävistisch-germanistischen Raumforschung seit den 1950er-Jahren siehe etwa Erwin Kobel: Untersuchungen zum gelebten Raum in der mittelhochdeutschen Dichtung. Zürich o. J. [1951] (Zürcher Beiträge zur deutschen Sprach- und Stilgeschichte 4); Jan A. Aertsen/Andreas Speer (Hrsg.): Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter. Berlin/New York 1998 (Miscellanea mediaevalia 25); Andrea Glaser: Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2004 (Europäische Hochschulschriften 1, Deutsche Sprache und Literatur 1888); Elisabeth Vavra (Hrsg.): Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003. Berlin 2005 (Akten des [10.] Symposiums des Mediävistenverbandes 10); Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007; Sonja Glauch/Susanne Köbele/Uta Störmer-Caysa (Hrsg.): Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Berlin/ Boston 2011; Schulz 2012, S. 292– 321; Silvan Wagner: Erzählen im Raum. Die Erzeugung virtueller Räume im Erzählakt höfischer Epik. Berlin/Boston 2015 (TMP 28); die Beiträge von Robert Kirstein, Dominik Streit und Coralie Rippl zur erzähltheoretischen Kategorie des Raums in Antike,

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weisen, die dem Rezipienten die räumliche Imagination des Dargestellten erleichtern könnten, wesentlich sparsamer um. Der Raum, in dem die handelnden Figuren sich bewegen, erscheint oft merkwürdig ungeformt und gestaltlos. Auf die Schilderung von objektiv Räumlichem wird gerne verzichtet, Wege, Ziele, räumliche Verhältnisse und Gegebenheiten nur dann objektiviert und näher beschrieben, wenn sie etwas zu bedeuten haben und/oder für die Handlung zwingend erforderlich sind. Auch die Geographie der Texte erscheint selten wirklichkeitsförmig. Das gilt besonders für den höfischen Roman des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts mit seiner, wenn auch historisch teilweise erklärbaren, Märchengeographie.²⁶ In anderen Textgattungen, wie dem Heldenepos, verhält es sich etwas anders: Im ‚Nibelungenlied‘ etwa lässt sich Kriemhilts und der Burgonden Weg an den Etzelhof bekanntlich – und zur Freude der heutigen Tourismusindustrie – über weite Strecken mit dem Finger auf der Landkarte nachwandern. Aber erstens ist solcher geographischer Realismus auch dem Heldenepos nur punktuell zu eigen,²⁷ und zweitens betreffen geographische Angaben und Wirklichkeitsanspielungen räumliche Makrostrukturen, die auf einer anderen Ebene anzusiedeln sind als Raumstrukturen kleinerer Ordnung, wie sie für die mentale Modellierung einzelner Szenen oder anderer eher kleinräu-

Mittelalter und Früher Neuzeit in Eva von Contzen/Stefan Tilg (Hrsg.): Handbuch Historische Narratologie. Berlin 2019, S. 206 – 217, 218 – 228 und 229 – 238.  Dazu Störmer-Caysa 2007, S. 43 – 47. Die Situation ändert sich im Lauf des 13. Jahrhunderts: So hat Herweg 2010, S. 246 – 267, gezeigt, wie im Zusammenhang mit dem, was er die „(Re‐)Historisierung“ (S. 432) des späthöfischen Versromans nennt, das Anliegen einer geographischen Verortung und Systematisierung der epischen Raumbezüge sowie ihre Anbindung an die Erfahrungswelt der Rezipienten zum textreihenkonstitutiven Merkmal des Romans um 1300 wird.  So konzentrieren sich beispielsweise die Angaben im ‚Nibelungenlied‘ in auffälliger Weise auf den Donauraum zwischen Passau und Wien, was die ältere Forschung, z. B. Heinrich Hempel: Pilgerin und die Altersschichten des Nibelungenliedes. In: ZfdA 69 (1932), S. 1– 16, zu weitreichenden Hypothesen über die Entstehung des Textes veranlasst hat. Gleichzeitig stehen den präzise lokalisierbaren Räumen solche gegenüber, die sich im geographischen Irgendwo einer mythischen Sagenwelt verlieren (das Land Nibelungs, Isenstein); dazu George T. Gillespie: Das Mythische und das Reale in der Zeit- und Ortsauffassung des ‚Nibelungenliedes‘. In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985. Hrsg. von Fritz Peter Knapp. Heidelberg 1987, S. 43 – 60, sowie, zur struktur- und sinnkonstitutiven Funktion von Raum im ‚Nibelungenlied‘, Elisabeth Lienert: Raumstrukturen im ‚Nibelungenlied‘. In: Heldendichtung in Österreich – Österreich in der Heldendichtung. 4. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 1997a (Philologica Germanica 20), S. 103 – 122. Dessen ungeachtet ist die Heldenepik im Ganzen sicherlich in stärkerer Weise als der Roman um eine geographisch-topographische Verortung des dargestellten Geschehens bemüht.

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miger Arrangements von Bedeutung sind.²⁸ Was diese betrifft, scheint sich die Raumgestaltung in der Heldenepik von der des höfischen Romans nicht wesentlich zu unterscheiden. Die Forschung hat angesichts dieses Befundes davon gesprochen, dass die Raumdarstellung in mittelalterlichen Texten nicht mimetisch sei, nicht abziele auf „die wertfreie Abbildung irgendwelcher Wirklichkeiten“.²⁹ Stattdessen seien Raum und Bewegung im mittelalterlichen Roman, wie vor allem Uta StörmerCaysa hervorgehoben hat, radikal subjektiv und figurbezogen. So wie in mittelalterlichen Itineraren und Reisebeschreibungen Raum nicht als objektiv vorhanden aufgefasst werde, so erscheine auch in der Literatur Raum als „Raum-fürmich“, gebunden an die Raumwahrnehmung und -erfahrung des gehenden oder reitenden Menschen.³⁰ Zur Veranschaulichung dieses Zusammenhangs wurde und wird gerne auf die von Erwin Panofsky in seinem berühmten Aufsatz zur Entwicklung der Zentralperspektive eingeführte und als Erstem von Peter Czerwinski für die Mediävistik genutzte Unterscheidung zwischen Aggregat- und Systemräumen verwiesen.³¹ Meint Systemraum einen Raum, der den Dingen vorgängig ist und in dem die Dinge einander nach bestimmten, allgemeingültigen Regeln relational zugeordnet sind, so bezieht sich der Begriff des Aggregatraums auf einen Raum, der sich als ein mehr oder weniger unverbundenes, perspektivisch nicht aufeinander abgestimmtes Neben- oder Hintereinander der Dinge darstellt.³² Der Raum wird hier nicht von außen, sondern von innen her bestimmt,

 Dies ließe sich auch gegen Müllers These von einer sukzessiven Ablösung des unbestimmten, von der Sprecher-Origo abhängigen, einfach zuhandenen (Sagen‐)Raums in den frühmittelalterlichen Texten durch stärker gegliederten, topographisch geordneten (Geschichts‐)Raum in den späteren – oder manchmal auch in ein und denselben – Texten einwenden. Müllers Beispiele sind u. a. das ‚Alexanderlied‘ und ‚König Rother‘; siehe Müller 2017, S. 243 f., 269 – 279, 285. Ausgearbeitete Raumkonzeptionen, die sich einem Systemraum annähern, bestehen in der Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, wie Müller ebd., S. 280 und 285, auch selbst andeutet, wenn, dann vornehmlich in Bezug auf die Makroebene geographischer Angaben, nicht aber die Mikroebene der szenenräumlichen Gestaltung.  Schulz 2012, S. 304.  Störmer-Caysa 2007, S. 64 und 76.  Erwin Panofsky: Die Perspektive als „symbolische Form“. In: Panofsky, Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hrsg. von Hariolf Oberer/Egon Verheyen. 3. Aufl. Berlin 1980, S. 99 – 167; Peter Czerwinski: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. München 1993 (Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung 2), bes. S. 89 – 109.  Vgl. Panofsky 1980, S. 108 – 111.

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durch die Dinge oder – im Fall menschlicher oder menschenähnlicher Protagonisten – von den Figuren her.³³ Dementsprechend hat man gesagt, dass Raum sich in den Texten als Funktion der Figuren präsentiere; er sei funktional an der Bewegung und dem Handeln der Figuren ausgerichtet.³⁴ Räumliches trete nur dann in Erscheinung, wenn es für die Protagonisten von Bedeutung sei, unvermittelt ‚knospend‘, dann aber in mitunter erstaunlich stabilen Arrangements.³⁵ Bernhard Jahn hat dafür den Begriff des ‚Inselraums‘ verwendet.³⁶ Auf heutige Leser wirkt das so, also ob, hervorgerufen durch die „raumschaffenden Potenzen“ der Protagonisten, die Raumverhältnisse, derer die Handlung gerade bedarf, ad hoc aus dem Boden der erzählten Welt schössen, ohne dabei notwendig in sich stimmig oder auch nur widerspruchsfrei zu sein.³⁷ Als Figurenfunktion erscheint Räumliches auch dort, wo es, wie in Richtungsund anderen Angaben der Raumorientierung, auf die Bewegung der Figuren abgestimmt und von ihnen aus gedacht ist. Besonders hier hat sich gezeigt, dass Raumstrukturen im mittelalterlichen Erzählen semantisch besetzt und einem topologischen Verständnis zugänglich sein können. Bekannte Beispiele sind – eine schon biblische Wegemetaphorik aufgreifend, aber bisweilen auch in einer nicht leicht zu entwirrenden Weise mit ihr spielend – die Wege zur Linken und zur Rechten des arturischen Aventiureritters;³⁸ oder auch die, im Sinne Lotmans,

 Im Sinne eines aggregativen, d. h. von den Figuren ausgehenden Raumverständnisses ist auch die Unterscheidung zwischen Bewegungsräumen und Schwellenräumen zu verstehen, die Glaser 2004, S. 19 – 21, für die Raumdarstellung im höfischen Roman trifft: Räume, die durch die „visualisierte Bewegung“ von Figuren oder als Bewegung von Räumen selbst entstehen, sind ‚Bewegungsräume‘; ‚Schwellenräume‘ solche, die sich beim Übertritt einer Figur von einer Sphäre in eine andere bilden.  So, unter Bezug auf Störmer-Caysa, Schulz 2012, S. 304.  Von ‚räumlicher Knospung‘ und ‚Sprossräumen‘ hat Uta Störmer-Caysa gesprochen und als Beispiel das sogenannte Torverlies aus dem ‚Iwein‘-Roman Hartmanns von Aue herangezogen; siehe Störmer-Caysa 2007, S. 70 f. und 240.  Jahn unterscheidet dabei zwei Fälle: erstens, dass der Raum für den ihn durchquerenden Helden zur Gefahr wird, zweitens, dass die Lage einer Stadt oder Burg, als Kulturorte inmitten des Niemandslandes einer ansonsten indifferent erscheinenden Natur, näher bestimmt wird; siehe zusammenfassend Bernhard Jahn: Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen. Frankfurt a. M. 1993 (Mikrokosmos 34), S. 346 – 355.  Störmer-Caysa 2007, S. 71.  Siehe dazu Auerbachs klassisches Kapitel zum ‚Yvain‘ des Chrétien de Troyes (Auerbach 2001, S. 120 – 138, bes. S. 125 f.); außerdem Störmer-Caysa 2007, S. 53 – 57, sowie Elisabeth Schmid: Lechts und rinks … Kulturelle Semantik von Naturtatsachen im höfischen Roman. In: Projektion –

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sujetkonstitutive Überschreitung einer an sich nicht überschreitbaren Grenze im Raum der erzählten Welt, die zugleich eine topologische Grenze darstellt: eine Grenze zwischen zwei ‚semantischen Feldern‘, das heißt unterschiedlichen Normbereichen oder ‚Welten‘ – zwischen Höfischem und Nichthöfischem, Diesseitigem und Jenseitigem etc.³⁹ Gestaltlosigkeit und Diskontinuität – man hat auch von ‚räumlicher Unbestimmtheit‘ und ‚Anschauungslosigkeit‘ gesprochen –⁴⁰ stellen sich so, neben Momenten einer ausgeprägten Plastizität, als Kennzeichen der Raumdarstellung im volkssprachigen Erzählen vor und um 1200 dar. Die frühen höfischen Erzähltexte bieten dafür viele Beispiele. Ich will mich auf einige wenige, besonders aussagekräftige beschränken. Sie sollen das Spektrum dessen veranschaulichen, was ich mit ‚amorphen Räumen‘ meine und was mir im Hinblick auf eine mediale Raumpragmatik bemerkenswert erscheint. Wenn die Beispiele dabei aus Texten unterschiedlicher Reihenzugehörigkeit stammen, dann spiegelt das den Umstand, dass die Phänomene tatsächlich, in wechselnder Dichte, in allen der hier untersuchten Texte vorkommen. Sie betreffen – die (mangelnde) Wirklichkeitsförmigkeit in der Darstellung räumlicher Verhältnisse, genauer: eine auffällige Unbekümmertheit um die räumlichen Bedingungen, die der Handlung realistischerweise gesetzt sind; – die (mangelnde) Binnenkonsistenz räumlicher Arrangements; – die (fehlende) Darstellung von Bewegung. Ein Beispiel für das Erste entnehme ich dem ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad: Die Nachhut des kaiserlichen Heeres, unter Führung Rolands, Oliviers, Bischof Turpins und der anderen Paladine Karls, ist im Tal von Ronceval in den Pyrenäen in einen Hinterhalt der Sarazenen geraten. Erst als das kleine Heer, trotz heroischer Gegenwehr, nahezu aufgerieben ist, entscheidet sich Roland, das zuvor verweigerte Notsignal zu geben. Sein Horn Olifant blasend, bis ihm der Schädel zu platzen droht, ruft er das kaiserliche Hauptheer zu Hilfe. Karl kehrt um und besiegt die Sarazenen in einer gewaltigen Racheschlacht. Ein lakonischer Doppelvers berichtet die Reaktion Marsilies auf die Niederlage und Flucht der Heiden: Marsilie ersach der haiden nôt, / vor laide viel er tôt (V. 8595 f.). Aber wie kann Marsilie die Not seiner Leute ersehen? Er hat den Ort des Geschehens zu diesem Zeitpunkt schon längst geflohen, liegt in der Stadt Sarraguz auf dem Krankenlager (V. 7128 – 7130). Roland hat Marsilie in der Schlacht einen Arm abgeschlagen Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Hrsg. von Sonja Glauch/Susanne Köbele/Uta Störmer-Caysa. Berlin/Boston 2011, S. 121– 136.  Vgl. Lotman 1993, S. 327– 329 (zum Begriff der Grenze) und 329 – 340 (zum Konzept des Sujets).  So Hugo Kuhn 1952, S. 283 und 285, in Bezug auf die Aventiuren 1– 13 des ‚Nibelungenlieds‘.

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(V. 6306); sein Heer führt inzwischen der muslimische Großkönig Paligan. Die Schlacht findet zweifellos in der Nähe von Ronceval statt (V. 7485), Saragossa ist mehr als 150 Kilometer entfernt. Doch spielen die tatsächlichen Raumverhältnisse an dieser Stelle erkennbar keine Rolle; suggeriert wird vielmehr eine, in die Figurenperspektive hineinverlegte, unmittelbare Wahrnehmbarkeit des Geschehens ad oculos. ⁴¹ Räumliche Wirklichkeitsförmigkeit spielt vor allem bei der Darstellung von Figurenkommunikation oft keine Rolle. Die Figuren sehen sich, hören sich oder sprechen miteinander, ohne dass dies raumrealistisch nachvollziehbar wäre. Im ‚Orendel‘ etwa wird erzählt, wie die Riesen Liberian und Pelian jeweils von Bride, der Herrscherin über Jerusalem, die Herausgabe Orendels verlangen, der seit seiner Ankunft in der Stadt nur noch ‚Der graue Rock‘ heißt: Der [Liberian, C. S.] leinte sich mit trûwen zuo Jêrusalêm an die burgmûren, er sprach: „sîd ir din, frouw Brîde, die schoenste ob allen wîben? So gebent uns den Grâwen Roc her ûz ûf disen tempelhof! Oder daz heilge grab wil ich verprennen, die cristenliute quellen darinnen!“ Dô frouwe Brîde die red vernam, ûf stuond die maget lobesam […]. (V. 1546 – 1555)⁴² Der lehnte sich vertraulich / an die Mauern der Stadt Jerusalem / und sprach: „Seid ihr drinnen, Frau Bride, / ihr Allerschönste der Frauen? / Dann gebt uns den Grauen Rock / heraus auf den Hof des Tempels. / Andernfalls werde ich das Heilige Grab niederbrennen / und alle Christen darin martern!“ / Als Frau Bride diese Worte hörte, / stand die ehrenwerte junge Frau auf […].

 Man könnte zwar daran denken, mhd. ersehen im Sinne eines allgemeineren, nicht auf visuelle Sinneseindrücke beschränkten Wahrnehmens zu verstehen, doch sprechen die Gebrauchszusammenhänge, in denen das Verb im Mittelhochdeutschen belegt ist, eher gegen ein solches Verständnis. Die in den Wörterbüchern gelisteten Belegstellen zeigen, dass ersehen fast immer tatsächliches Sehen meint; siehe Georg Friedrich Benecke/Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1854– 1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefaßten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem Alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf. Bd. 1– 3 in 4 Bdn. Stuttgart 1990, hier Bd. II,2, Sp. 276b–277b; Lexer 1872– 1878, Bd. 1, Sp. 670 f. Einen zusätzlichen Beleg, dass das auch für Konrads ‚Rolandslied‘ gilt, bietet die Parallelstelle aus dem ‚Karl‘ des Strickers; siehe unten, S. 301 f.  Ebenso V. 1840 – 1849.

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An die Stadtmauern Jerusalems gelehnt, ‚spricht‘ Liberian. Bride vernimmt die an sie gerichteten Worte des Riesen, obwohl sie sich zu dieser Zeit – es ist Nacht – in ihrem Schlafgemach befindet.⁴³ Rationalisierende Erklärungsversuche wie die, dass Riesen eben so laut sprechen, dass man sie überall hört, führen hier nicht weiter.⁴⁴ Es geht um eine grundsätzliche Unbekümmertheit um die räumlichen Bedingungen der erzählten Handlung, eine Unbekümmertheit, die überall dort herrscht, wo nicht Räumliches selbst im Fokus der Handlungsdarstellung liegt. Auch Beispiele für eine mangelnde Binnenkonsistenz räumlicher Arrangements finden sich immer wieder. Hier erscheinen die erzählten Raumverhältnisse und Bewegungen zwar für sich genommen nicht wirklichkeitsinadäquat, formen sich aber im Ganzen doch nicht zu einem in sich stimmigen Raumbild. So an dieser Stelle aus dem ‚König Rother‘: Nachdem Rother, alias Dietrich, und seine Mannen vor Konstantinopel gelandet und von König Konstantin empfangen worden sind, nehmen sie Quartier; es ist ihr erster Aufenthalt in Konstantinopel: sich herbergetin Thiederichis man der porten also nahe, daz si sich wol undersagen. (V. 1031–1033) Dietrichs Gefolgsleute quartierten sich / nahe dem Hafen ein, / so, dass sie einander gut sehen konnten.

Das ist die Version von H, die nicht nur Leithandschrift, sondern quasi-unikales Manuskript ist. Porte könnte hier den ‚Hafeneingang‘, aber auch den ‚Stadteingang‘ meinen oder schlicht ‚Hafen‘ bzw. ‚(Stadt‐)Tor‘.⁴⁵ Doch ist das Problem ein anderes. Wenig später, als Rother und seine Gefährten ihren Auftritt an Konstantins Hof haben, heißt es nämlich: Die recken stalletin ir ros / unde geherbergetin uffe dene hof (V. 1092 f.). Jetzt ist die Herberge offenbar der Hof. Wenn Berchter, Rothers ältester Ratgeber, V. 1238 seinem Herrn dann empfiehlt, sich in die Quartiere zurückzuziehen (unde var zo den herrebergen), fragt man sich, wo diese nun sind: in der Nähe des Hafens/Stadttors oder aber an Konstantins Hof?

 Dass die Szene nachts spielt, ist V. 1560 (Slâfent ir, hêr Grâwer Roc?) zu entnehmen, wo Bride Orendel aufwecken kommt, sowie der kurz darauffolgenden Zeitangabe des morgens dô ez tagte (V. 1574).  Vergleichbare Beispiele eines ‚barrierelosen‘ Hörens und Sehens führt Müller 2017, S. 255 f., aus der ‚Älteren Judith‘ an.  Für ‚Hafen‘ entschieden sich in ihren Ausgaben bzw. Übersetzungen Rückert (König Rother. Hrsg. von Heinrich Rückert. Leipzig 1872 [Deutsche Dichtungen des Mittelalters 1], S. 62), Kramer (König Rother. Geschichte einer Brautwerbung aus alter Zeit. Übertr. und eingel. von Günter Kramer. Berlin 1961, zu V. 1018 – 1054) und Stein (S. 97); Vries (Rother. Hrsg. von Jan de Vries. Heidelberg 1922 [Germanische Bibliothek 2,13], S. 107) hat wohl ‚(Stadt‐)Tor‘ im Auge.

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Die Situation klärt sich V. 1261– 1267: Rother/Dietrich bittet Konstantin, zusammen mit seinen Gefolgsleuten in seinen, Rothers, Quartieren wohnen zu dürfen; sie seien zu viele, um alle an den Hof ziehen zu können. Diese Aussage kann nur auf ein Quartier am Hafen/beim Stadttor bezogen sein. Schon die Handschriften, H und die fragmentarische Überlieferung BE, verhalten sich an dieser Stelle nicht eindeutig.⁴⁶ Die Überlieferung reagiert offenbar auf drei Situationen mit je eigenen räumlichen Anforderungen: erstens das Löschen der kostbaren Fracht, des Goldes und der anderen Schätze, die Rothers Schiffe mit nach Konstantinopel gebracht haben – das legt ein Quartier am Hafen nahe, wo Sichtkontakt zu den Bewachern der Schiffe besteht; auf diese Situation zielt H in V. 1031– 1033. Zweitens: das Beisammensein (und Zusammenhalten) von Rothers Mannen in der feindlichen Umgebung – in H,V. 1267 (da wir al samen sin), stellt dies Rothers Begründung gegenüber Konstantin dar und wird in der Überlieferung von BE schon an der ersten Stelle (H 1031– 1033) als Ersatzvers eingespielt: sich herbergten Dietriches man zv der porte nahen (hin zv), da si allesampt warn (nv). (BE 32– 34)⁴⁷ Dietrichs Gefolgsleute quartierten sich / nahe dem Hafen ein, / wo sie alle beisammen waren.

Drittens schließlich: die gastliche Aufnahme in der Fremde, an Konstantins Hof; das der Handlung zugrunde liegende Script wäre hier: Wer in nicht feindlicher Absicht an einen fremden Hof kommt, findet dort auch gastliche Aufnahme, Herberge also. Doch werden diese drei Handlungssituationen mit ihren jeweiligen Raumerfordernissen nicht vollkommen konsistent zueinander vermittelt, sondern wie drei Raumbilder übereinandergelegt. Auf einen heutigen Leser wirkt das irritierend. Im ‚Tristrant‘ Eilharts von Oberg stellt Kehenis, der Bruder der zweiten Isalde und, seit Tristrants Heirat mit seiner Schwester, dessen Schwager, Tristrant zur Rede, weil dieser sich weigert, mit seiner Schwester die Ehe zu vollziehen. Tristrant erklärt darauf, von Isalde auch nicht gut behandelt worden zu sein. Eine edle

 BE bezeichnet die Baden-Nürnberger Fragmente, bestehend aus dem Badener Fragment B (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 27744) und dem Fragment E (früher Privatbesitz Apel, Ermlitz; heute München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8797). Die Fragmente gehören zur selben Handschrift und finden sich in der Stein’schen Ausgabe abgedruckt S. 394– 426.  Vgl. dazu Walter Johannes Schröder: Zur Textgestaltung des ‚König Rother‘. In: PBB (Halle) 79 (1957), S. 204– 233, hier S. 207 f.

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Frau gebe es, die um seinetwillen einen Hund besser behandele als Kehenis’ Schwester ihn: jo vuret ouch eine vrauwe baß ein hundelin dorch mynen willen beide vorholin und stille, den uwir swestir mir hat getan. (V. 6244– 6247)⁴⁸ Ja, es gibt eine Dame, / die behandelt mir zuliebe einen kleinen Hund, / auch wenn es still ist und niemand sieht, besser, / als eure Schwester mich behandelt hat.

Das gilt es zu bewähren. Tristrant und Kehenis machen sich auf nach Tintanjol. Dort, während einer Jagdpartie im Blankenwalt (V. 6619), beobachten sie aus einem Dornbusch, wie die erste Isalde – die Tristrant freilich vorher durch einen Boten vorbereitet hat – Tristrants Hündchen so zärtlich streichelt, dass Kehenis zugesteht, dass seine Schwester so gut Tristrant nicht behandelt haben könne (V. 6595 – 6601). Am Abend suchen Tristrant und Kehenis Isalde auf. Isalde behält Tristrant bei sich und fordert Kehenis auf, zu ihrer Gefährtin Gymele zu gehen, damit diese mit ihm schlafe (V. 6654– 6664). Offenbar will Isalde mit Tristrant ihre Ruhe haben, aber Gymele weist Kehenis ab. Einige Verse weiter schickt Isalde Kehenis wahlweise zu Brangene oder Gymele (V. 6708 – 6718). Das wirkt widersprüchlich, denn mit keinem Wort wird erwähnt, dass Isalde Kehenis bereits einmal aufgefordert hat, zu Gymele zu gehen. Ebenso wenig erfahren wir, dass Kehenis in der Zwischenzeit wieder zu Tristrant und Isalde zurückgekehrt ist. Hingegen sind die darauffolgenden Verse 6731– 6733 wieder konsistent: Kehenis fühlt sich verspottet, weil er doch schon einmal bei Gymele gewesen sei. Wieder einige Verse weiter spricht dann Gymele mit Isalde (V. 6742– 6756), ohne dass die räumlichen Umstände der Szene deutlich wären. Offenbar spricht Gymele von ihrem Bettlager aus. Aber haben wir uns Gymeles Lager im selben Zelt wie dasjenige Isaldes vorzustellen? Dafür spräche vielleicht V. 6665, wo zuletzt von einem Innen die Rede ist (Do en waz dar nymant inne) – offenbar dem Inneren eines Zeltes (V. 6554– 6559, 6579) –, in dem sich zu diesem Zeitpunkt niemand außer Isalde, Gymele und dem Kämmerer Perenis befinden. Aber das liegt fast ein Ich zitiere nach der Dresdener Handschrift D (Sächsische Landesbibliothek Ms. M 42, 1433), da diese gegenüber der Heidelberger Handschrift H (Cod. Pal. germ. 346, zwischen 1460 und 1475) zwar nicht den Vorteil größerer Textvollständigkeit, aber dafür den der besseren Textqualität hat, was sich u. a. in der konservativeren Bewahrung alter Reime, Formen und Fügungen zeigt; dazu die Bemerkungen zur Beurteilung der Handschriften in Hadumod Bußmann: Einleitung. In: Eilhart von Oberg, Tristrant. Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung. Hrsg. von Hadumod Bußmann. Tübingen 1969 (ATB 70), S. VII–LXV, hier S. XLVI–IL.

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hundert Verse zurück, und selbst wenn dem so wäre, bliebe die Lokalität der Szene im Ganzen unanschaulich, weil auf die Explikation der räumlichen Verhältnisse und der Figurenbewegungen verzichtet wird. Der Raum bleibt, zumindest für moderne Leser, amorph. Beispiele für fehlende Bewegungsdarstellung finden sich in den Texten allenthalben. Noch einmal aus dem ‚Orendel‘: In V. 2139 – 2144 spricht Bride Orendel direkt an, die beiden sind also in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander vorzustellen. Fünfundzwanzig Verse später dann, in V. 2169 f., lässt Orendel zu ihr in ihre kemenâte schicken; kein Wort davon, dass Bride sich in der Zwischenzeit entfernt hat. Die Verse 3059 – 3062 wiederum erzählen, wie Bride zwei Herzögen in Bari je fünfzig Pferde überschreibt, die der, inzwischen ebenfalls zum Herzog erhobene, Ise für Bride und Orendel eingefangen hat, tatkräftig unterstützt von den beiden Herzögen. Die Szene ereignet sich während der Seereise nach Trier. Sie setzt voraus, dass Bride, die sich zuletzt noch auf ihren Schiffen befand (vgl. V. 2969 – 2976), an Land gegangen ist. Doch wurde davon nicht nur nichts erzählt, sondern es scheint auch V. 2997– 3012 zu widersprechen, aus denen sich ergibt, dass Ise „ganz allein“ (alterseine,V. 3011) an Land gerudert ist, um Pferde zu beschaffen. Phänomene dieser Art – die Beispiele ließen sich ohne Weiteres vermehren – können auch als ‚räumliche Abbreviaturen‘ beschrieben werden. Es handelt sich um Verkürzungen, die sich aus der Nichtexplikation oder Unabgestimmtheit solcher räumlicher Bedingungen der dargestellten Handlung ergeben, wie sie, zumindest nach heutigen Maßstäben, für ein kohärentes Raumbild erforderlich wären. Nach den Maßstäben der volkssprachigen Textkultur des 12. Jahrhunderts waren sie es offensichtlich nicht. Die zeitgenössischen Rezipienten, so darf man wohl annehmen, haben sich daran nicht gestört. Manche der Beispiele lassen sich als Fälle eines aggregativen – statt systemischen – oder auch eines entschieden figur- und handlungsbezogenen Raumverständnisses interpretieren: Ersteres ließe sich etwa für den ‚König Rother‘ geltend machen, wo mehrere räumliche Konstellationen übereinandergelegt zu sein scheinen (Herberge in Hafen- oder Stadttornähe in Bezug auf den Schatztransport und eine gemeinsame Unterbringung, am Hof in Bezug auf die Beherbergung durch Konstantin), Letzteres für die zweite ‚Orendel‘-Stelle, wo die vorauszusetzende Räumlichkeit sprunghaft wechselt, sobald eine neue Handlungssituation dies erfordert (Bride auf den Schiffen/an Land). Die Grenzen zwischen aggregativen und figur- bzw. handlungsbezogenen Raumentwürfen erscheinen fließend. Vor allem aber sind solche Entwürfe eigentlich auf die Bewegung der Figuren im Raum der erzählten Welt sowie auf Stellen berechnet, an denen man es mit relativ ausgearbeiteten Raumarrangements zu tun hat, diese aber nur vorübergehend, bezogen auf eine bestimmte Handlungssequenz, Bestand haben (z. B. die Minnegrotte im ‚Tristan‘).

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Die hier vorgestellten Beispiele, wie zahllose andere Stellen auch, sind demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass Räumliches sehr weitgehend herausgekürzt erscheint. Dabei wird man von Fall zu Fall darüber streiten können, ob eine Stelle, die, nach heutigen Maßstäben, raumlogisch unvollständig oder gar defizient wirkt, vielleicht auch die Folge einer schwierigen Textüberlieferung sein könnte. Besonders bei einigen Vertretern jener Textreihe, die man früher als ‚Spielmannsepik‘ bezeichnet hat (‚König Rother‘, ‚Herzog Ernst‘, ‚Oswald‘, ‚Orendel‘, ‚Salman und Morolf‘) und heute so nicht mehr nennen möchte, weil wir inzwischen wissen, dass auch die Verfasser dieser Texte überwiegend Kleriker waren, liegt dieser Gedanke nahe.⁴⁹ Und wenn man nur die einzelne Stelle im Blick hat, so wird man bei Werken wie etwa dem ‚Orendel‘, die spät, spärlich oder in mehr oder weniger verwilderter Weise überliefert sind, nicht immer ausschließen können, dass Textverderbnis eine gewisse Rolle gespielt haben könnte. Doch treten die beobachteten Phänomene textreihenübergreifend und in einer solchen Häufigkeit auf, dass es zu kurz greifen würde, sie mit dem Verweis auf die qualitativ schlechte Überlieferung des Einzeltextes hinwegzuerklären. Wir müssen also fragen, warum die frühen volkssprachigen Texte im Hinblick auf Räumliches so verfahren können, und diese Frage scheint mir auch mit dem Hinweis darauf, dass dieses Erzählen an einer raumrealistischen Geschehensdarstellung eben grundsätzlich nicht interessiert sei, noch nicht hinreichend beantwortet. Weiterzufragen wäre dann nämlich, was die Gründe für dieses Desinteresse sein könnten. Ebenso wenig lassen sich die Phänomene erklären mit dem besonderen Verhältnis des vorneuzeitlichen Menschen zum Raum, einem Verhältnis, das, wie Störmer-Caysa bemerkt hat, ebenso archaisch wie radikal subjektiv ist, insofern es das räumliche Weltabbild an die Wahrnehmung des gehenden oder reitenden Menschen bindet.⁵⁰ So richtig das sein dürfte, macht es doch vor allem die Wegeschilderungen der Texte verständlich, in denen Wege nicht als ‚Wege an sich‘, sondern als ‚Wege für den Helden‘ in Erscheinung treten.⁵¹ Nicht aber erklärt es in einer allgemeineren Weise die vielfach mangelnde

 Die Problematik des Gattungsbegriffs soll hier nicht noch einmal erörtert werden. Verwiesen sei dafür auf die Diskussion bei Rüdiger Brandt: ‚Spielmannsepik‘: Literaturwissenschaft zwischen Edition, Überlieferung und Literaturgeschichte. Ein nicht immer unproblematisches Verhältnis. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37 (2005), S. 9 – 49, der resümiert: „Die Kategorien ‚Spielmannsepik‘ und ‚spielmännische Epik‘ gehören eigentlich beide auf den Begriffsfriedhof“ (S. 41; Hervorheb. im Orignal); vgl. auch Kohnen 2014, S. 7– 13.  Störmer-Caysa 2007, S. 64.  Störmer-Caysa 2007, S. 63 – 65. Richtig ist freilich auch, dass die Feststellung Störmer-Caysas, der Mensch denke von den Erfahrungen seines Körpers aus, die er auch auf das Hören von Ge-

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Plastizität der Raumdarstellung und die Sprunghaftigkeit, mit der in diesem Erzählen Raumwechsel vollzogen werden. Ich schlage vor, die Erklärung in seinem medial-pragmatischen Kontext zu suchen, das heißt in dem Umstand, dass die Texte primär für den Vortrag verfasst und hörend rezipiert wurden. Wie ich plausibel zu machen versucht habe, fallen in der performativen Situation der Aufführung der unmittelbare Wahrnehmungsraum, der als gemeinsames kognitives Umfeld durch die Kopräsenz von Sprecher und Hörer im sprachlichen Handlungsraum gegeben ist, und der in und durch die Rede eröffnete Vorstellungsraum, der Raum des Phantasmas, tendenziell zusammen. Es scheint diese potentielle Konvergenz von Sprechzeitraum und Vorstellungsraum, von Rederaum und Textraum zu sein, die Auslassungen in der Raumdarstellung erlaubt, die in der Aufführung entweder aufgefüllt waren oder der Auffüllung entbehren konnten, bei zunehmender (Lese‐)Schriftlichkeit aber durch den Text selbst aufgefüllt, das heißt expliziert werden müssen. Das wird deutlicher, wenn man die Situation mit Erzähltexten vergleicht, die in und für ein Buch geschrieben sind und lesend rezipiert werden. Solche Texte besitzen aufgrund ihrer Bindung an das Buch als materialem, (drei‐)dimensionalem Gegenstand ein räumliches Potential, das sich auch auf die Wahrnehmung der erzählten Welt auswirkt. Christine Putzo hat im Hinblick darauf von einer „Strukturdoppelung“ gesprochen:⁵² Sowohl in Bezug auf die Handlungsebene, die histoire, als auch in Bezug auf die Darstellungsebene, den discours, zeichnen narrative Texte im Medium des Buchs sich durch eine charakteristische Gleichzeitigkeit von Linearität und Dimensionalität, von Zeitlichem und Räumlichem aus. Das bedeutet, dass die Handlung sich einerseits sukzessive entwickelt und diesbezüglich einer zeitlich-linearen Ordnung folgt, andererseits jedoch durch die buchschriftliche Niederlegung jedem ihrer Momente prinzipiell Jederzeitigkeit verliehen ist – bei diskontinuierlicher Lektüre nämlich kann auf jeden dieser Momente jederzeit zugegriffen werden.⁵³ Man könnte auch sagen: Dem Bewusstsein für die Räumlichkeit des fortlaufenden Textes im Buch entspricht ein Bewusstsein für die Jederzeitigkeit und räumliche Kontinuität der erzählten Welt.

schichten übertrage (S. 53), nicht nur für den mittelalterlichen, sondern ebenso für den neuzeitlichen Menschen gilt. Interessanter für die historische Differenzierung scheint mir daher der, von Störmer-Caysa nicht weiter verfolgte, Hinweis auf das ‚Hören‘ von Geschichten zu sein.  Putzo 2012b, S. 289.  Vgl. Putzo 2012b, S. 286 – 289. An anderer Stelle beschreibt Putzo den „Gegensatz einer sukzessive sich entfaltenden Handlung und der prinzipiellen Jederzeitigkeit ihrer Momente“ als den „Gegensatz zwischen der zeitlichen und der räumlichen, der linearen und der (drei‐)dimensionalen Ordnung, die durch die Fixierung von Erzählung im Buch entsteht“ (S. 324). Siehe auch Putzo 2012a.

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Das Buch simultanisiert insofern Linearität und Dimensionalität, und es erscheint, indem es die Wahrnehmung der erzählten Welt unabhängig macht von der visuell-auditiven, transitorischen Vermittlung durch einen Rezitator, als das Medium par excellence des Systemraums. Demgegenüber ist mündlich Vorgetragenes durch seine rein lineare Struktur und die Flüchtigkeit des gesprochenen Worts gekennzeichnet. Nun heißt das nicht, dass in der Hörerinnerung die Raumverhältnisse der erzählten Welt von derselben Flüchtigkeit wären wie die Laute, durch die sie evoziert werden. Es dürfte aber doch so sein, dass in Abwesenheit jener buchmedial vermittelten jederzeitigen Präsenz der Geschehensmomente, einschließlich ihrer räumlichen Dimensionen, auch die konkreten räumlichen Bedingungen der erzählten Welt, sofern sie nicht erzähltechnisch (z. B. durch Wiederverwendung) oder anderweitig stabilisiert werden, einer höheren Flüchtigkeit unterliegen und aggregative Raumarrangements begünstigen. Der Grund dafür liegt weniger in einer gegenüber der schriftgestützten Textaufnahme verkürzten Merkfähigkeit des Hörgedächtnisses – im Gegenteil nimmt man allgemein an, dass die Gedächtniskapazitäten oraler oder semi-oraler Kulturen diejenigen vorwiegend literaler Kulturen bei weitem übersteigen –,⁵⁴ sondern darin, dass bei Hörrezeption die mentale Modellierung der erzählten Welt und ihrer räumlichen Verhältnisse durch ebenjene Faktoren mitbestimmt wird, die der buchmedialen Textvermittlung fremd sind: die gemeinsam erlebte Räumlichkeit in der Vortragssituation und, im Zusammenhang damit, die nicht nur akustische, sondern auch visuelle Bindung der Publikumsaufmerksamkeit an den Körper des Vortragserzählers. Der durch die Kopräsenz von Vortragendem und Publikum konstituierte gemeinsame Wahrnehmungsraum kann der eines Innen- oder auch eines abgezirkelten Außenraums sein: ein Festsaal, ein Kaminzimmer, das Innere eines Zeltes oder auch ein Platz, ein Burghof, ein Garten. Wie immer man ihn sich konkret vorzustellen hat, er ist kein räumlich tief gegliederter. Hier ist alles nah beisammen; hier gibt es zwar Nah und Fern, aber doch nur in beschränktem Ausmaß. Es gibt keine trennenden räumlichen Gegebenheiten oder unüberwindlichen Distanzen, sondern alles ist in Hör- und Sichtweite, der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar zugänglich. Indem der Raum der erzählten Welt in einer solchen Situation durch den Auftritt des Vortragenden heraufbeschworen und vergegenwärtigt wird, besteht jederzeit die Möglichkeit, dass erzählter Raum und tat So hat etwa Kurt Ranke: Orale und literale Kontinuität. In: Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Hrsg. von Hermann Bausinger/Wolfgang Brückner. Berlin 1969, S. 103 – 116, hier S. 110, im Hinblick auf die Aufnahmefähigkeit des Gedächtnisses von Angehörigen vorneuzeitlicher Kulturen von einer psychomentalen Funktion gesprochen, „die dem Menschen der Jetztzeit nicht mehr eigen ist“; siehe auch Haferland 2004, S. 21 f.

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sächlicher Raum sich einander annähern. Auf die Raumkognition der Zuhörer wirkt sich diese potentielle Verschmelzung von Sprechzeitraum und Vorstellungsraum so aus, dass die räumlichen Bedingungen der unmittelbaren Sprechsituation die Wahrnehmung des erzählten Raums beeinflussen können. Es wirkt so, als ob die Raumverhältnisse der Sprechsituation auch für den Vorstellungsraum gälten, als ob auch hier keine oder kaum räumliche Grenzen bestünden und als ob Figuren- und Rezipientenwahrnehmung in einer Weise gekoppelt seien, als sei, je nach Bedarf, allen jederzeit alles unmittelbar zugänglich und wahrnehmbar.⁵⁵ Mit anderen Worten: Die unscharfe Trennung zwischen dem unmittelbaren, gemeinsamen Wahrnehmungsraum in der Situation der Aufführung (dem Sprechzeitraum) und dem in der Erzählung entworfenen Vorstellungsraum macht es möglich, dass die raumzeitlichen Bedingungen, die für den imaginierten Raum (den Raum der dargestellten Welt) realistischerweise gelten müssten, außer Acht bleiben können. Beschreiben ließe sich das als eine, stellenweise, bühnenförmige Inszenierung des dargestellten Raums, bei der Abwesendes in den Präsenzraum hineinzitiert werden kann wie etwa im Drama. An dieser Stelle muss noch etwas zur Rolle des Rezitators gesagt werden. Denn dass in der Vortragssituation Sprechzeitraum und Vorstellungsraum konvergieren können, hat entscheidend mit der nicht nur akustisch-vokalen, sondern zugleich visuellen Bindung des Dargestellten an den Körper des Vortragenden zu tun. Der Vortragende ist ja nicht nur Medium, über das die Erzählung vermittelt würde, sondern er repräsentiert und verkörpert sie in ihren einzelnen personalen Instanzen, seien sie auch kategorial voneinander zu scheiden. Er verkörpert den Erzähler und die Figuren, manchmal auch den Autor als Urheber der Rede oder eine Autorenrolle. Das bedeutet aber wohl auch, dass Präsenz – im Sinne von tatsächlicher Vorhandenheit – vor allem dem zukommt, wovon jeweils gerade die Rede ist, was im Hier und Jetzt durch den Vortragenden verkörpert wird, während alles andere in den Hintergrund, aus den Augen und damit buchstäblich auch aus dem Sinn rückt. Auch dies hat die Vortragssituation mit der Situation der Theateraufführung gemeinsam, und in dieser Präsenzlogik des performativen Akts scheint mir eine wesentliche Voraussetzung für die Sprunghaftigkeit von Raumwechseln zu liegen, wie sie sich an dem zitierten ‚Orendel‘-Beispiel (Bride auf den

 Man könnte hinzusetzen: weil es in der Wirklichkeit der durch Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit gekennzeichneten unmittelbaren Sprechsituation Diatopie bzw. Diachronie auch tatsächlich nicht gibt. Mangelnde Wirklichkeitsförmigkeit lässt sich dem mittelalterlichen Erzählen so gesehen nur dann zuschreiben, wenn man seine Textualität ausschließlich im Hinblick auf die Kategorie der relativen Situationsabstraktheit bestimmt und dabei von seiner Einbindung in eine primäre, unmittelbare Sprechsituation absieht, mit anderen Worten: wenn man dieses Erzählen vorrangig als buchmediale Erscheinung beschreibt.

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Schiffen/an Land) beobachten lässt, oder auch für die Möglichkeit eines raschen ‚Übersprechens‘ von Raumverhältnissen, je nachdem, wie es die Handlung erfordert. Beispiele dafür wären nicht nur die genannte Überlagerung verschiedener räumlicher Konfigurationen im ‚König Rother‘, sondern auch das plötzliche und logisch nicht aufeinander abgestimmte Hervortreten immer neuer Raumelemente in den Torraum-Szenen des ‚Iwein‘. Auch raumrealistisch fragwürdige Konstellationen wie in dem ‚Tristrant‘-Beispiel, wo unklar ist, wie die Figuren sich räumlich zueinander verhalten, sich bewegen, als an- oder abwesend vorzustellen sind, funktionieren als Szenen wohl besser in der Vortragssituation, in der Präsenz je das hat, was Gegenstand der Rede des Rezitators ist und durch ihn hörund sichtbar verkörpert wird. Die Präsenzlogik der Aufführungssituation dürfte hier stets die objektive Raumlogik überlagern, das heißt die mentale Modellierung der erzählten Welt als eines Systemraums, mit Raumverhältnissen, die objektiv gegeben, wirklichkeitsförmig und in sich stabil wirken. Die potentielle Verschmelzung von gemeinsamem, unmittelbarem Wahrnehmungsraum und vorgestelltem, erzähltem Wahrnehmungsraum, gebunden an und bedingt durch die performative Präsenz des Vortragenden, kann auch solche Fälle in den Texten erklären, bei denen Distanzen oder Grenzen im Raum der erzählten Welt keine Rolle zu spielen scheinen. Beispiele dafür gaben das ‚Rolandslied‘ und der ‚Orendel‘. Wenn Marsilie sieht, was er eigentlich nicht sehen, und Bride hört, was sie eigentlich nicht hören kann, dann wird auch hier eine räumliche Als-ob-Fiktion erstellt; es wird dann so erzählt, als sei der Vorstellungsraum ein gemeinsamer Wahrnehmungsraum, als hätten Sprecher, Hörer und Figuren, unabhängig von irgendwelchen raumzeitlichen oder begriffskategorialen Grenzen, Zugang zu ihm als einem allgemein zugänglichen Raum der gemeinsamen Welt.⁵⁶ Diese Fiktion ist nicht allein handlungsfunktional bedingt, sondern sie entspricht einer Rezeptionspraxis, die durch die Gemeinsamkeit des Wahrnehmungsraums in der Aufführungssituation und die verlebendigende Verkörperung des Erzählten durch den Rezitator darin gekennzeichnet ist. Es zeigt sich daran einmal mehr, wie uns gewohnte erzähltheoretische Kategorien sich in historischer Perspektive als nicht trennscharf erweisen, sondern unter dem Druck der medialen und pragmatischen Voraussetzungen einer semi-oralen Textkultur gewissermaßen kollabieren. Die genannten Phänomene werden denn auch im Hören viel weniger auffällig gewesen oder gar als störend empfunden worden

 Raumzeitliche Grenzen wären solche innerhalb der erzählten Welt, aber auch zwischen primärer und sekundärer Sprechsituation (vgl. Ehlich 1983, S. 32), begriffskategoriale solche zwischen histoire und discours, Publikum, (Autor‐)Erzähler und Figuren.

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sein, als das beim Lesen der Fall ist und, möglicherweise, schon für mittelalterliche Rezipienten der Fall gewesen wäre.

6.2 Bühnenraum und Raumdeixis Was sich hier in Spuren greifen lässt, ist – eine Formulierung Michael Curschmanns aufnehmend – die Situation mündlicher Kommunikation, die der Schriftlichkeit der Texte mit eingeschrieben ist.⁵⁷ Mit eingeschrieben, denn selbstverständlich erscheinen die Räume, in denen das Geschehen zu situieren ist, schon in den frühen Epentexten keineswegs durchweg amorph und wenig plastisch. Räumliche Abbreviaturen der geschilderten Art lassen sich vor allem an solchen Stellen beobachten, wo die räumlichen Verhältnisse den Erfordernissen der Handlung funktional nachgeordnet zu sein scheinen, und sie stehen neben Passagen relativ konkreter und wirklichkeitsförmiger Raumdarstellung. Sind die Phänomene also keineswegs immer dominant, sondern zeigen sich in unterschiedlicher Dichte und Ausprägung, so wirken sie doch andererseits nicht zufällig oder gar fehlerhaft. Wenn man davon ausgeht, dass systematisch entfaltete, situationsübergreifend stabile und in sich stimmige Raumverhältnisse eher ein Kennzeichen buchmedialen Erzählens sind, dann fügen sie sich ein in das Bild einer Textualität, die kein Entweder-Oder ist – entweder Vortrags- oder Lesedichtung –, sondern sich als ein nicht immer leicht zu entwirrendes Ineinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit darstellt. Spuren der Bindung an eine mündlich-performative Kommunikationssituation können dabei nicht nur dort zutage treten, wo auf die Explikation der räumlichen Bedingungen der dargestellten Handlung verzichtet wird; sie zeigen sich auch in einer stellenweise bühnenförmigen Szenengestaltung und in der Tendenz zu deiktischer Raumreferenz, die sich in den Texten beobachten lässt. Insbesondere Redeszenen sind es – Passagen also, in denen die Darstellung von einem diegetisch-erzählenden in einen mimetisch-dramatischen Modus überwechselt –, die wiederholt den Eindruck eines bühnenräumlichen Vor-Augen-Stehens des Erzählten hervorrufen. So etwa an der folgenden Stelle aus dem ‚Rolandslied‘: Erzählt wird, wie Genelun, der Schwager Karls und Stiefvater Rolands, in Begleitung der sarazenischen Gesandtschaft nach Sarraguz an den Hof des Königs Marsilie kommt, um Marsilie die Antwort des Kaisers auf sein vor Vgl. Michael Curschmann: Höfische Laienkultur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Das Zeugnis Lamberts von Ardres. In: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 17), S. 149 – 169, hier S. 149.

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gebliches Friedens- und Unterwerfungsangebot zu überbringen. Auf der Reise haben Genelun und der Anführer der Gesandtschaft, Marsilies alter Ratgeber Blanscandiz, die Tötung Rolands und seiner Gefährten beschlossen. Nun erreichen sie Marsilies Hof, und es geht darum, dass Genelun die Botschaft Karls übermittelt (V. 1992 ff.).⁵⁸ Zuerst spricht Blanscandiz. Er nennt Genelun nicht beim Namen, fordert Marsilie nur auf, dem Boten sein Ohr zu leihen, und sagt: „nû vernim dû, hêrre, selbe, waz die bote rede welle.“ „ich hœre ez allez vile wole, swaz er hie reden scol“, sprach der künic Marsilie. „nû rede dû selbe.“ (V. 2012– 2017) „Jetzt höre selbst, Herr, / was der Bote sagen will.“ / „Ich höre alles gerne an, / was er hier ausrichten soll“, / sagte König Marsilie. / „Nun sprich du selbst.“

An wen ist die Du-Anrede des letzten Verses gerichtet: an Blanscandiz, an Genelun, an einen Dritten? Die Referenz der Zeigegeste, die in der Verwendung des Personalpronomens der 2. Person enthalten ist, erscheint, vom Text her, zunächst unbestimmt. Erst der unmittelbar folgende Vers klärt: der bote sprach ze Marsilie (V. 2018), und dann folgt, in wörtlicher Rede, was Genelun Marsilie zu sagen hat. Etwas anders, aber nicht unähnlich gelagert sind Fälle, in denen Figuren ad hoc, wie Pilze gleichsam, aus dem Boden der erzählten Welt zu schießen scheinen. Figuren können andere Figuren ansprechen, ohne dass diese zuvor in irgendeiner Weise genannt sein müssten, weder von der Erzählerstimme noch von einer anderen Figur, so dass erst mit der direkten Anrede klar wird, dass die angesprochene Figur in der geschilderten Situation, und damit im Raum der erzählten Welt, als anwesend vorzustellen ist: In V. 5195 – 5206 des ‚Rolandslieds‘ berichtet ein Bote, der mit abgehauenem Fuß dem Schlachtfeld entronnen ist,⁵⁹ Marsilie von der Niederlage der Sarazenen in der ersten Schlacht gegen Rolands Heer bei Ronceval und fordert ihn auf, umgehend in den Kampf einzugreifen. Der Erzähler berichtet in einem Vers Marsilies Reaktion auf die Botenrede: Marsilie erzurnte harte (V. 5207). Der Inquit-Formel im nächsten Vers schließt sich die wörtliche Rede an (er [Marsilie, C. S.] sprach: „Karl mit sînem grawen barte / hât menigiu rîche betwungen […]“, V. 5208 f.), die wenige Verse später folgende direkte Anrede enthält:

 Siehe zu dieser Szene auch Kap. 5.1, S. 210 – 213.  Nimmt man V. 5631– 5635 hinzu, muss es sich um Margariz, König von Sevilla und Taceria, handeln.

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jâ du herzoge Grandon, ich wil dich an mînes sunes stete haben. nim du, helt, mînen vanen. daz her lâ dir bevolhen sîn. (V. 5220 – 5223)⁶⁰ Ja, dich, Herzog Grandon, / will ich an Sohnes Stelle haben. / Nimm du, Held, meine Fahne. / Lass mich das Heer dir anvertrauen.

Das szenische Arrangement, und das heißt insbesondere: wer hier anwesend ist, ist nicht entfaltet. Lediglich V. 5194 hatte vermeldet: der [der Bote, C. S.] kom an den künc gevaren. Keine Rede davon, wer sonst noch zugegen sein könnte, und ein Herzog Grandon wird an dieser Stelle überhaupt zum ersten Mal im Text erwähnt. Nun mag zwar impliziert sein, dass „zum König kommen“ soviel wie „an den königlichen Hof kommen“ heißt und zeitgenössische Rezipienten die Szene stillschweigend als eine Gruppenszene imaginierten. Dennoch bleibt die Möglichkeit des plötzlichen Hervorrufens von Figuren durch die in wörtliche Figurenrede eingelassene Du-Deixis ein auffälliger und erklärungsbedürftiger Befund. Dass es sich dabei nicht um einen autor- oder überlieferungsbedingten ‚Fehler‘ handelt, bestätigt etwa die folgende Stelle aus dem ‚Orendel‘, wo genau dasselbe passiert: In Jerusalem hat Orendel vor den Augen Brides einen Heiden nach dem anderen im ritterlichen Wettstreit besiegt, und nun will Bride den Fremden in dem grauen Gewand kennenlernen. Auch hier wird die Szene nicht auserzählt. Wir wissen, wo Bride sich ungefähr befindet (an der zinnen, V. 862), umgeben von elf jungen Frauen; doch ist das alles und insbesondere von männlicher Gesellschaft keine Rede. Nun, ab V. 1108, spricht sie (zu wem?): „möht ich einen boten haben, der mir den held getörste laden, ê daz in die helde guote bestüendent mit zorniglîchem muote! si râten im alle an den lîb, er muoz mich immer riuwen!“ sprach daz wîb. „Vil trûter degen Schiltwîn, zuo im soltu mîn bote sîn, erfar mir, ûzerwelter man, ob er sî wilde oder zam.“ (V. 1119 – 1128) „Hätte ich nur einen Boten, / der mir den Held einzuladen wagte, / bevor ihn die tapferen Krieger / in ihrem Zorn angreifen! / Sie trachten ihm alle nach dem Leben, / er muss mir immer leidtun!“, sagte die Frau. / „Treuester Held Schiltwin, / du sollst als mein Bote zu ihm gehen; / bring für mich in Erfahrung, / ob er gefährlich ist oder nicht.“

 Außen vor kann hier bleiben, dass auch von einem Tod des Sohnes von Marsilie (vgl. V. 5221) bisher nichts erzählt wurde; siehe zu diesem Problem Kartschoke 1993a, S. 714.

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Wie Grandon im ‚Rolandslied‘ wird auch Schiltwin hier zum ersten Mal im Text genannt, und wie jener ist auch er ganz unvermittelt da. Herbert Kolb hat seinerzeit ganz Ähnliches für den ‚Helmbrecht‘ Wernhers des Gartenære festgestellt: ein unvermitteltes Auf-der-Szene-Stehen der Personen, die einfach da seien, ohne dass ihr Kommen besonders angezeigt worden wäre, und das als eine dramatische Technik beschrieben, bei der die Anwesenheit der handelnden Personen, ihre Auf- und Abtritte sich durch direkte Rede unmittelbar kundgeben.⁶¹ So ist es auch hier: Der Auftritt der Figuren wird nicht narrativ vorbereitet, sondern sie erscheinen auf der Bildfläche der Rezipientenimagination schlicht, indem sie sprechen oder angesprochen werden. Handelt es sich um ‚Sprossfiguren‘, wie man in Analogie zu Störmer-Caysas Begriff der ‚Sprossräume‘ sagen könnte, um Fälle einer figürlichen Knospung, wo Figuren wie Raumelemente je nach Bedarf plötzlich aus dem Text schnellen? Das zweite ‚Rolandslied‘- und das ‚Orendel‘Beispiel ließen sich so beschreiben. An der ersten Stelle aus dem ‚Rolandslied‘ hingegen schießt eine Figur nicht unvermittelt aus dem Text, sie ist in der Szene schon eingeführt und nur die Referenz der Du-Anrede momenthaft uneindeutig, weil sie keinen Namen enthält und vom Wortlaut des Textes her mehrere Referenzfiguren zur Auswahl stehen. Dennoch scheint es mir richtig, die drei Passagen im Zusammenhang zu sehen, als Beispiele einer quasi-bühnenräumlichen Inszenierung der erzählten Welt und ihrer Figuren. Das Darstellungsverfahren nämlich ist in allen drei Fällen dasselbe: eine Du-Deixis, die sich als demonstratio ad oculos gibt; die nicht Deixis am Text oder an der Rede ist, sondern die so tut, als sei sie Zeigegeste in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum; in einem Raum, in dem die Dinge und Figuren der erzählten Welt vorhanden sind, als seien sie den beiden Aktanten der Sprachhandlung – Sprecher und Hörer – wirklich gemeinsam und unmittelbar sinnlich wahrnehmbar und als könnte daher auf sie Bezug genommen werden, ohne dass sie zuvor diskursiv expliziert werden müssten. Die hier im Modus des Als-ob vorausgesetzten wahrnehmungsräumlichen Bedingungen sind am ehesten denen einer Bühne vergleichbar. Die Erzählung verhält sich so, als bewegten sich die handelnden Figuren in einem Bühnenraum; als müsste ihre Anwesenheit und welche Figur zu welcher spricht, nicht erzählt werden, weil das Publikum all das ja sehen kann. Selbstverständlich kann eine solche Theaterhaftigkeit in der Situation des Textvortrags nur simuliert werden: durch den Einsatz von Gesten und Gebärden, durch Körperdrehungen, durch

 Herbert Kolb: Der ‚Meier Helmbrecht‘ zwischen Epos und Drama. In: ZfdPh 81 (1962), S. 1– 23, bes. S. 8 f. Kolb hat an Phänomenen wie diesen den Zwischenstatus des ‚Helmbrecht‘ zwischen Epos und Drama zu erweisen gesucht.

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Blick- und Zeigebewegungen in die eine oder andere Richtung. Oder auch durch die Einbeziehung einzelner Zuhörer/Zuschauer oder der Gesamtheit des Publikums in die Aufführung: Warum etwa sollte ein Rezitator bei den Worten Vil trûter degen Schiltwîn, / zuo im soltu mîn bote sîn (‚Orendel‘,V. 1125 f.) nicht auf einen der im Publikum Anwesenden gezeigt haben – ihn solchermaßen zum Schiltwin werden lassend – oder bei Versammlungsszenen so agiert haben, als stellten die anwesenden Hörerinnen und Hörer einen Teil des Handlungspersonals dar? Der gemeinsame Wahrnehmungsraum in der Vortragssituation und der im Akt des Erzählens evozierte Vorstellungsraum (der imaginativ entworfene Raum der erzählten Welt) würden so auf sinnfällige Weise ineinandergeblendet. Daher dürften deiktische Verfahren, bei denen das Vorgestellte wie in einer theatralischen Szene im unmittelbaren Verweisraum verortet wird, bei mündlich-performativer Darbietung auch wesentlich weniger überraschend oder gar störend wirken als bei stiller Lektüre.⁶² Natürlich ist an Stellen wie den zitierten die performative Dimension der Deixis nicht unabhängig vom dramatischen Modus, dem Umstand also, dass es sich um Redeszenen handelt. Interessant ist aber, dass die performative Raumdeixis in diesem frühen epischen Erzählen – wie übrigens auch später noch – nicht auf wörtliche Figurenrede beschränkt bleibt, sondern in einem weiteren Sinne charakteristisch dafür ist, wie Raum narrativ erzeugt und wie auf ihn Bezug genommen wird. Bevor ich darauf näher eingehe, sei kurz an einige grundsätzliche Unterscheidungen erinnert, die sich im Hinblick auf die sprachliche Bezeichnung von Raum im Deutschen treffen lassen.⁶³ Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen statischer und dynamischer Raumreferenz bzw. zwischen Positionierung und Direktionalisierung, die Heinz Vater in die linguistische Raumdiskussion eingeführt hat.⁶⁴ Statisch ist die Raumreferenz, wenn sie auf die Beschreibung der Position von Objekten und Personen ausgerichtet ist, dynamisch, wenn sie die Richtung oder Bewegung eines Objekts oder einer Person von einem Ort zu einem anderen bezeichnet. Für beides müssen im Deutschen, anders als etwa im Lateinischen, lexikalische Mittel verwendet werden, weil rein grammatische wie der lateinische Ablativ oder der Lokativ zur Raumerzeugung nicht zur Verfügung

 Vgl. dazu auch die Beiträge in Manfred Kern (Hrsg.): Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potenziale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie. Heidelberg 2013 (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1).  Das Folgende nach Heinz Vater: Einführung in die Raum-Linguistik. 2. Aufl. Hürth-Efferen 1991 (Kölner linguistische Arbeiten – Germanistik 24), sowie Dennerlein 2009, S. 73 – 84.  Siehe Vater 1991, S. 42– 47.

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stehen.⁶⁵ Aus linguistischer Perspektive zentral ist dabei die Frage, welches Referenzsystem zur Bezeichnung räumlicher Relationen verwendet wird. Zur Auswahl stehen zwei Ausdrucksklassen: die der deiktischen und die der nichtdeiktischen Ausdrücke. Nichtdeiktische Ausdrücke bezeichnen Orte oder Räume – hier greife ich eine Zusammenstellung Katrin Dennerleins auf – durch Toponymika (‚Asien‘, ‚England‘, ‚Jerusalem‘), Eigennamen (‚Munsalvæsche‘), Gattungsbezeichnungen (‚Palas‘, ‚Kemenate‘) und andere Konkreta. Deiktische Raumreferenz hingegen erfolgt durch Ausdrücke wie ‚hier‘, ‚da‘, ‚dort‘, ‚oben‘, ‚unten‘, ‚vorne‘ oder, wenn es nicht um Positionierung, sondern um Direktionalisierung geht, durch Ausdrücke wie ‚hierher‘, ‚dahin‘, ‚dorthin‘, ‚nach oben‘, ‚rechts‘, ‚links‘, ‚hinauf‘, ‚heran‘. Deiktische Ausdrücke sind, nach der gängigen Definition Karl Bühlers, solche, die sich nur dann erschließen, wenn man den Standort, die zeitliche Situierung und die Identität – das Hier, Jetzt und Ich – des Sprechers kennt.⁶⁶ Im Hinblick auf den Raum stellt sich die Unterscheidung zwischen deiktischen und nichtdeiktischen Ausdrücken also als eine solche zwischen standortabhängigen und standortunabhängigen Ausdrücken dar. Nur das deiktische Referenzsystem ist von der Origo des Sprechers oder der Wahrnehmungsinstanz abhängig und in diesem Sinne subjektiv;⁶⁷ nichtdeiktische (oder absolute) Referenzsysteme dagegen sind an den Standpunkt der Wahrnehmungsinstanz nicht gebunden. Das volkssprachige Erzählen vor und um 1200 hat eine Vorliebe für die Verwendung deiktischer (oder relativer) Referenzsysteme, wenn es um die narrative Erzeugung von Raum geht. Gelegentlich nutzen die Dichter sie für die einmal mehr, einmal weniger komplexe Semantisierung der Bewegungen der Protagonisten im Raum der erzählten Welt. Einige dieser Semantisierungen gehen auf Bedeutungszuschreibungen zurück, die sich in verschiedenen Kulturen der Menschheitsgeschichte finden. Dazu gehört etwa die Metaphorik der Erhöhung und Erniedrigung, in der das, was oben ist, für das Gute, Erstrebenswerte, buchstäblich Erhabene steht, während Unteres mit Schlechtem und Abzulehnendem gleichgesetzt wird.⁶⁸ Andere Semantisierungen von Deiktika haben ihre Wurzeln in kulturspezifischen Denk- und Deutungstraditionen: etwa die schon genannte Identifikation von rechts mit dem Rechten und Guten, von links mit dem Bösen und Schlechten, die ihr Vorbild in biblischer Metaphorik hat.⁶⁹ Wie die mittelalterlichen Dichter diese unterschiedlichen kulturellen Sinn- und Bedeu    

Vgl. Vater 1991, S. 4. Bühler 1965, S. 102– 120. Dennerlein 2009, S. 81. Vgl. Störmer-Caysa 2007, S. 53. Siehe z. B. Mt 26,64, Apg 7,55, Eph 1,20.

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tungszuschreibungen aufnehmen, wenn sie die Bewegungen ihrer Figuren im Raum darstellen, ist vielfach beschrieben worden.⁷⁰ Dabei hat sich gezeigt, dass sie die Traditionen symbolischer Raumorientierung und -bewegung nicht immer eins zu eins als hermeneutische Straßenschilder im Handlungsraum placieren, sondern zu ambivalenten Semantisierungen nutzen können, die es dem Hörer oder Leser anheimstellen, wie bestimmte Bewegungen im Raum zu deuten sind. Allerdings geht die Vorliebe der Texte für deiktische Formen der Positionierung und Direktionalisierung weit über ihre topologische Nutzung hinaus. Selbstverständlich finden sich auch absolute Orts- und Raumangaben häufig, und es ist daher keineswegs so, dass die Darstellung von Raum in den Texten grundsätzlich auf einem relationalen Raumverständnis aufruhen würde. Vergleicht man sie jedoch mit neuzeitlichen Erzähltexten, dann fällt auf, dass sie vielfach relative Raumangaben verwenden, wo wir absolute bevorzugen würden. Ein guter Indikator dafür sind moderne Übersetzungen. Es gibt zahlreiche Stellen, an denen die Übersetzungen aus dem Mittel- ins Neuhochdeutsche den Eindruck räumlicher oder topographisch-geographischer Unterbestimmtheit, der sich für uns mit relativen, deiktischen Ausdrücken der Raumreferenz einstellt, kommentarlos durch absolute Referenz auszugleichen suchen. Wo der ‚Herzog Ernst‘ in der Fassung B im Zusammenhang einer Beratung am Hof Ottos lediglich hat: die vürsten vür giengen (V. 302), da liest man in der Übersetzung Bernhard Sowinskis: „Die Fürsten gingen nun zum König.“⁷¹ Und wo Wolfram von Eschenbach in seinem ‚Willehalm‘ dichtet:

 Siehe u. a. die in Anm. 38 dieses Kapitels genannte Literatur; zudem Ernst Trachsler: Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman. Bonn 1979 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 50), S. 155 – 163; Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‚Eneas‘, im ‚Iwein‘ und im ‚Tristan‘. Tübingen/Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), S. 1.  Die Ausgabe: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A hrsg., übers., mit Anmerkungen und einem Nachwort vers. von Bernhard Sowinski. Stuttgart 1970 (RUB 8352), hier S. 21. Die neuere Übersetzung von Mathias Herweg gibt den Vers mit „Die Fürsten kehrten zurück“ (S. 33) wieder. Das ist eine recht freie Übersetzung: Die mhd. Präposition vür ist zweifellos bewegungsräumlich zu verstehen, im Sinne von ‚vor etwas hin‘ (vgl. Lexer 1872– 1878, Bd. 3, Sp. 583 f.); ganz wörtlich hieße die Stelle: „Die Fürsten traten nach vorne“. Eine parallele Stelle findet sich in dem Saganer Bruchstück Iv der ältesten Fassung A des ‚Herzog Ernst‘ (in der Ausgabe Sowinskis wiederabgedruckt S. 352; eine synoptische Gegenüberstellung von B und den Fragmenten der Fassung A bietet Weber 1994). Hier heißt es über das Ende des Hochzeitsfests Kaiser Ottos: Do diụ brutloft was getan / di herren begonden vr gan / Und namen ụ rlop (V. 42– 44). Auffällig ist das, weil die Fassung B an der entsprechenden Stelle anders lautet, nämlich die adverbiale Richtungsangabe (schon?) durch einen nichtdeiktischen Präpositionalausdruck ersetzt hat: Dô diu hôchgezît ein ende nam, / vür den keiser lobesam / die fürsten sunder kâmen, / dâ

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vürsten, grâven, dise unt die, und swen man vür den barûn sach und al die, den man rotte jach, die wâren ze velde gar gevarn. Gîburc dort inne wil bewarn ir liebisten vater Heimrîch (278,10 – 15), Fürsten, Grafen, diese und jene, / wer immer einen Baron vorstellte / und alle, denen man eine Schar zugewiesen hatte, / hatten sich aufs Feld begeben. / Giburg dort drinnen will sich / um ihren liebsten Vater Heimrich kümmern,

da übersetzt Joachim Heinzle die beiden letzten Verse, das dort inne räumlich konkretisierend: „In der Burg will Giburg / ihren hochgeliebten Vater Heimrich pflegen“ (S. 475).⁷² Er macht das, weil aus den vorangehenden Versen die Lokalität ‚Burg‘ nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, und ersetzt dabei die deiktische, standortabhängige durch eine nichtdeiktische, standortunabhängige Referenz. Die beiden Beispiele zeigen zugleich, dass die Origo, an die die deiktischen Ausdrücke gekoppelt sind, variieren kann: Im ‚Herzog Ernst‘ ist das Präpositionaladverb vür (im Sinne von ‚nach vorne‘, ‚vor etwas hin‘) von den Fürsten aus gesehen, also vom Figurenstandpunkt abhängig; im ‚Willehalm‘ ist die Origo des dort inne, das die deiktische Qualität des ‚dort‘ mit der nichtdeiktischen des ‚innen‘ (oder ‚drinnen‘) mischt, ebenfalls im Raum der erzählten Welt placiert, entspricht aber nicht der Wahrnehmungsposition einer bestimmten Figur, sondern der eines relativ nah an die jeweils handlungsdominante Figur – hier Giburg – heranrückenden Erzählerauges.⁷³ Indem die Übersetzer deiktische Lokalisationen durch nichtdeiktische, absolute ersetzen, tragen sie Bedürfnissen Rechnung –

sie urloup von im nâmen (V. 511– 514). Das könnte darauf hinweisen, dass die deiktische Form der Raumreferenz die ursprünglichere ist; der Verfasser der Anfang des 13. Jahrhunderts entstandenen B-Fassung hätte sie dann konkretisiert.  Vgl. dazu auch die Übersetzung von Kartschoke in Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe von Werner Schröder. Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke. 3. Aufl. Berlin/New York 2003, der ebenfalls, aber anders konkretisiert: „Gyburc bemühte sich unterdessen in der Stadt […]“ (S. 180; ein ähnlicher Fall: 146,14 und 22). Unnötig hinzuzufügen, dass darin keine Kritik an den modernen Übersetzungen liegt. Sie müssen so verfahren, wenn sie heutigen Lesern eingängig sein wollen, und gerade Heinzle bemüht sich in seiner Übertragung um ein äußerstes Maß an Worttreue, die aber von Fall zu Fall eben nicht gewahrt werden kann.  Darin bestätigt sich das, was Hartmut Beck: Raum und Bewegung. Untersuchungen zu Richtungskonstruktion und vorgestellter Bewegung in der Sprache Wolframs von Eschenbach. Erlangen/Jena 1994 (Erlanger Studien 103), als den „Grundgedanke[n]“ (S. 241) der Raumdarstellung bei Wolfram herausgearbeitet hat: das Prinzip einer deiktischen Räumlichkeit, die sich an den Bewegungen der Figuren entwickelt, durch sie entsteht und vergeht; siehe Becks zusammenfassende Bemerkungen S. 241– 243.

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Bedürfnissen im Hinblick auf die kognitive Verarbeitung erzählter Räume –, die sich gegenüber der ursprünglichen Umgebung der Texte offenbar verändert haben. Die ‚Willehalm‘-Stelle ist zugleich ein Beispiel dafür, dass Wolfram sich einer am ‚Zeigraum‘ orientierten Erzählweise nicht nur als Zitat aus heldenepischem Kontext bedient. Er verwendet sie nicht nur dort, wo es um „heroische Raumdisposition“ geht, um Schlacht- oder Zweikampfdarstellungen in der Tradition eines ‚epischen Erzählens‘, an der der ‚Willehalm‘ dadurch teilhat, dass seine Hauptquelle eine Fassung der ‚Bataille d’Aliscans‘, also französische Chansonde-geste-Tradition ist.⁷⁴ Vielmehr deutet Wolframs Verschiebung des Zeigefeldes von dem Feld vor Oransche hin zu Giburg und ihrem Vater in der Stadtburg auf eine von heutigen Maßstäben grundsätzlich verschiedene Form der Raumwahrnehmung und -darstellung hin. Das gilt auch für die folgende, wieder dem ‚Herzog Ernst B‘ entnommene Stelle. Gegen Ende des Textes – Ernst ist inzwischen in Jerusalem und hat dort schon über ein Jahr erfolgreich gegen die Heiden gekämpft – heißt es, Pilger aus deutschen Landen seien übers Meer gekommen und hätten dem Herzog wahrheitsgemäß berichtet, wie man sîn dishalp gedâhte (V. 5709). Dishalp bedeutet ‚auf dieser Seite‘, aber so wörtlich kann man das kaum übersetzen. Gemeint ist ‚auf dieser Seite des Meeres‘ im Gegensatz zu den outre mer – ‚jenseits des Meeres‘ – gelegenen Ländern der Levante, doch bevorzugt der Text den deiktischen Adverbialausdruck gegenüber der absoluten Referenz und markiert so die Position der Instanz, von der aus wahrgenommen wird: Es ist die der Heimat, aus der auch die Pilger kommen, die Ernst von dem berichten, was in diutschem lande (V. 5705) über ihn gesagt wird, und damit die eines deutschsprachigen Publikums.⁷⁵ Die Tendenz dieses Erzählens zu relativer, vom Hier, Jetzt und Ich einer Wahrnehmungsinstanz aus gedachter Raumreferenz ist die andere Seite einer Raum- und Bewegungsregie, wie Störmer-Caysa sie für den höfischen Roman ausgemacht hat: einer Raumauffassung, die primär an der Wahrnehmung des gehenden oder reitenden Subjekts und damit der Figurenbewegung ausgerichtet ist, weniger an Raum als etwas objektiv Vorhandenem, in konkreten Ortsangaben und absoluten Referenzsystemen Fassbarem. Dementsprechend unbestimmt, manchmal nachgerade inhaltsleer oder sogar tautologisch scheinen – zumindest

 So Müller 2017, S. 141, Anm. 10.  Dementsprechend übersetzt etwa Sowinski in seiner Ausgabe mit „wie man zu Hause über ihn dachte“ (S. 321). Herweg bevorzugt „dass man jenseits des Meers seiner gedachte“ (S. 431) und verwandelt damit das Ortsadverbial der Perspektive der reisenden Pilger an: Von Jerusalem aus gesehen, liegt die Heimat nicht mehr diesseits, sondern jenseits des Meeres.

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für unsere Begriffe – Raum-, Bewegungs- oder Richtungsangaben, auch dort, wo sie nicht durch Deiktika im eigentlichen Sinne ausgedrückt werden: dannen reit der künic dô mit der frouwen wol getân. im volgete nâch vil manic man, unz er sie dar brâhte dâ er ze belîben gedâhte. (‚Herzog Ernst B‘, V. 520 – 524) Darauf ritt der König / mit seiner schönen Frau fort. / Ihn begleitete ein großes Gefolge, / bis er sie dorthin gebracht hatte, / wo er bleiben wollte.

Wohin Kaiser Otto mit seiner neuen Gemahlin, der bayerischen Herzogin Adelheid, reitet, wird nicht gesagt. Entscheidend ist die Richtungsbewegung der Figuren: „weg“ (dannen) vom Hochzeitsfest, „dorthin“ (dar), wo der Kaiser sich aufzuhalten gedenkt. dô leite sie der wîgant / gar manlîche von dan (V. 2302 f.): „weg“ führt Graf Wetzel, mit einer roten Fahne in der Hand, Ernst und seine Getreuen, weg von der Stelle, an der sie soeben, nach dreimonatigem Seesturm, angelandet sind (es handelt sich um Grippia, das Land der Kranichschnäbler); wohin, spielt vorerst keine Rolle. Insbesondere Formulierungen des Typs unz er sie dar brâhte / dâ er ze belîben gedâhte finden sich häufig.⁷⁶ In Eilharts ‚Tristrant‘ entdeckt Marke das Liebespaar in seiner Waldhütte aus Holz und Laub, schlafend und mit dem entblößten Schwert zwischen sich, und legt einen Handschuh auf Isalde; dann entfernt er sich: und ging zcu dem rosse sin und reit, wo he wolde, alß he zcu rechte solde. (V. 4644– 4646) Und er ging zu seinem Pferd / und ritt dorthin, wo er hinwollte, / wie es ihm anstand.

Auffällig ist, dass solche Unbestimmtheitsangaben, wo die jeweils handelnde Figur oder Figurengruppe sich im räumlichen Irgendwo der erzählten Welt zu verlieren scheint, regelmäßig mit kleineren oder größeren Zäsuren in der Erzählsequenz zusammenfallen. An der ersten ‚Herzog Ernst‘-Stelle (B, V. 520 – 524) wechselt das Erzählregister mit dem nächsten Vers 525 von der Handlungsdarstellung zur resümierenden Kommentierung der Verbindung zwischen Otto und Adelheid durch die Erzählerstimme:  Vgl. auch, als ein späteres Beispiel, folgende Stelle aus der in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datierenden ‚Rabenschlacht‘: Si [Hildebrand und das Heer Dietrichs, C. S.] gahten uber gevilde / alle die naht. / Si riten niwan die wilde. / Da si da heten hin gedaht, / dar chomens ane sorgen / reht do in louhte der morgen (Str. 584,1– 6).

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sie kunde im freude mêren. er phlac mit grôzen êren der edelen küniginne. durch ir vil edelen minne sô liebte im ir vil schœner lîp. (V. 525 – 529) Sie vermochte ihm seine Freude zu mehren. / Er behandelte die edle Königin / überaus ehrenvoll. / Durch ihre edle Liebe / erfreute ihn die schöne Frau.

Die zweite Stelle (‚Herzog Ernst B‘,V. 2302 f.) weist keinen solchen Registerwechsel auf, stattdessen scheint es um die mikrostrukturelle Gliederung der Handlung in kleinere Situationen oder Szenen zu gehen: Wetzel und Ernst führen ihre Leute von der Landungsstelle fort; damit ist die Handlungseinheit ‚Landung auf Grippia‘ abgeschlossen. Nach einer kurzen Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes der Gruppe (sie heten ir wâfen an, / dar zuo helm und schilde, V. 2304 f.) gelten die folgenden Verse 2306 – 2310 dann dem Marsch vor das Stadttor von Grippia; jetzt also wird erzählt, wohin Ernsts Mannen geführt werden. An der ‚Tristrant‘-Stelle ist die kleinteilige Handlungsstrukturierung ebenfalls deutlich. V. 4647 schließt an (in der Dresdener Handschrift D ist die Zäsurierung sogar durch Absatz gestützt): Do Tristrant irwachete und sich uff gemachete, do gesach he den hantschu. (V. 4647– 4649) Als Tristrant erwachte / und sich aufrichtete, / da erblickte er den Handschuh.

Marke ist buchstäblich von der Bildfläche verschwunden, nun geht es um Tristrants und Isaldes Reaktion auf ihre Entdeckung. Der Verzicht auf konkrete Ortsund objektive Raumangaben kann also auch die Funktion haben, Erzählsequenzen abzubinden.Wo Unbestimmtheitsangaben in dieser Weise als ‚Abbinder‘ fungieren, unterstützen sie eine Strukturierung des Erzählgeschehens in kleinere Handlungs- oder Erzählschritte – mehr Situationen, Bilder oder kurze Szenen als ganze Handlungsabschnitte. Wahrnehmungspsychologisch bedeutet das: Indem Orte und Ziele – vorübergehend oder ganz – unbestimmt bleiben (wo der Kaiser mit seiner Gemahlin verbleibt, wohin Wetzel und Ernst ihre Leute führen, wohin Marke zu reiten beabsichtigt) und nicht durch Konkreta sogleich ein neues Raumbild im Rezipienten aufgerufen wird, rückt das, was eben noch Gegenstand des Erzählens war, schneller in den Hintergrund und wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten in effizienter Weise auf das unmittelbar Folgende fokussiert. Präsenz hat in dieser Art des Erzählens je das, wovon die Rede ist und was im Erzählakt flüchtige Festigkeit und vorübergehende Gestalt gewinnt. Alles andere

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entschwindet momentan ins Ungefähre einer erzählten Welt, die keinen anderen materiell-physischen Widerpart hat als Körper und Stimme des Vortragenden. Unbestimmtheit im Räumlichen an Stellen, wo sie heutigen Lesern befremdlich vorkommen mag, wäre dann erzählfunktional bedingt, und zwar im Hinblick auf die Pragmatik eines Erzählens in der Mündlichkeit des Vortrags. Dasselbe scheint mir für die Tendenz der Texte zu deiktischer Raumreferenz und/ oder an der Figurenbewegung orientierter Raumdarstellung zu gelten. Auch sie dürfte mehr mit der gegenüber neuzeitlichem Erzählen veränderten medialen Umgebung der Texte zu tun haben als mit einer grundsätzlich, etwa anthropologisch, anderen Art der Raumkognition der Menschen des 12. oder 13. Jahrhunderts. Dafür spricht nicht zuletzt der schon angedeutete Zusammenhang zwischen Raumwahrnehmung und Aktantenstruktur. Gemeint ist damit, dass in der volkssprachigen Epik vor und um 1200 die Raumdarstellung in der Erzählung (die Auswahl der Schauplätze, das Kommen und Gehen der anderen Figuren) regelmäßig an der jeweils dominant handelnden Figur oder Figurengruppe ausgerichtet ist. Gert Hübner hat in diesem Zusammenhang von der raumfilternden Funktion der Figur gesprochen.⁷⁷ Im Fall der deiktischen Raumreferenz rückt die Origo der Raumwahrnehmung dabei relativ nah an die jeweils handlungsbestimmende Figur heran. Diese Figurengebundenheit der Raumdarstellung kann eine beträchtliche Mobilität der Wahrnehmungsinstanz zur Folge haben; Wolframs ‚Willehalm‘ bietet dafür zahlreiche Beispiele. Vor allem aber ist sie nicht unabhängig von den Bedingungen einer Visualisierung des erzählten Geschehens im Hören. Während, wie man annimmt, die visuelle Aufmerksamkeit auf die Buchseite die Visualisierung des Gelesenen eher behindert, kommt das Hören einer Visualisierung von Erzählinhalten eher entgegen.⁷⁸ Allerdings bedarf es dazu räumlich-bildlicher Anhaltspunkte, an denen sich das Gedächtnis orientieren kann. Harald Haferland hat, mit Blick auf die Produktionsseite, gezeigt, wie die Sänger von Heldendichtung sich für den Abruf der Erzählinhalte und das Weitererzählen auf ein ‚Sehen‘ aus dem Gedächtnis verlassen, das an der Figur und der Handlungssituation, in die sie eingebunden ist, ausgerichtet ist.⁷⁹ Das Erzählen aus dem Gedächtnis bedient sich, neben der Speicherung des Wortlauts, eines „Erinnerungsbild[es] der erzählten Situation“, bei dem die abzurufende

 Siehe Hübner 2003, S. 122 f. Hübner schreibt: „Der Raumfilter hat die Konsequenz, daß eine Figur über eine Textpartie hin präsent bleibt, während andere Figuren auf- und abtreten. Die Erzählung orientiert ihre Schauplätze in diesem Fall an der Filterfigur und macht sie auf diese Weise zu einem Kompositionsprinzip“ (S. 123).  So Haferland 2013b, S. 62; siehe dazu auch Kap. 4.4, S. 173 – 176.  Siehe Haferland 2004, bes. S. 298 – 301.

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Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume

Erzählhandlung über die Figur und den situativen Hintergrund, in dem sie sich bewegt, visualisiert wird.⁸⁰ Wolfgang Dinkelacker hat das in seinen Studien zum ‚Ortnit‘ in der Weise zusammengefasst, dass der Erzähler über seine Figuren spreche, als ob er sie reden und handeln sähe.⁸¹ Dazu passt, dass es beim Abruf heldenepischer Texte aus dem Gedächtnis offenbar kaum je zu einer Verwechslung von Figuren gekommen ist, und dies, obwohl die Figuren in den Texten nur selten eine Beschreibung erhalten und im Allgemeinen ohne jede Anschaulichkeit bleiben.⁸² Nicht anschauliche Beschreibung, nicht einmal der Name ist es, dessen der Sänger bedarf, um die Figur im Gedächtnis aufzurufen, sondern ihr imaginatives Vor-Augen-Stehen in der Handlungssituation, in die sie eingebunden ist. Diese Beobachtungen sind auf die mündliche Reproduktion heldenepischer Texte aus dem Gedächtnis bezogen und damit auf eine Textgattung, die, wenn sie auch vielleicht unter Zuhilfenahme der Schrift entstand, ohne Rückgriff auf den geschriebenen Buchstaben zum Vortrag kam. Texte wie der ‚Herzog Ernst‘, ‚Tristrant‘ oder auch Konrads ‚Rolandslied‘, die der Buchdichtung näherstehen (im Sinne von erzählender Dichtung, die zum Vorlesen aufgeschrieben wurde), wurden demgegenüber kaum aus dem Gedächtnis vorgetragen, und sie wurden auch nicht gesungen, sondern rezitiert.⁸³ Auch für solche Dichtung interessant und anschlussfähig erscheint mir aber, welche kognitiven Strategien bei der nicht schriftgestützten Visualisierung von Erzählinhalten zum Tragen kommen. So wie der Sänger von Heldendichtung muss auch der auf das bloße Hören angewiesene Rezipient Handlungssituationen so vergegenwärtigen und für den weiteren Erzählablauf parat halten können, dass es der Textaufnahme förderlich ist. Und so wie der Sänger, der aus dem Gedächtnis singt, dürfte auch der Hörer für die Visualisierung des Gehörten auf anschauliche, objektivierende Beschreibung weniger angewiesen sein als auf die Verbindung von Figur und Handlungssituation. Die Orientierung der Raum- und Bewegungsregie an der oder den je handlungsbestimmenden Figuren kommt dem ebenso entgegen – und stützt damit die Visualisierung gehörter Erzählinhalte – wie der Gebrauch deiktischer statt nichtdeiktischer Arten des Referierens oder, im Fall einer quasi-bühnenräumlichen Darstellung, die Suggestion unmittelbarer Wahrnehmbarkeit des Erzählten durch Körper und Stimme des performativ agierenden Rezitators. Eine Darstellung hingegen, die die Gegenstände und Figuren in den erzählten Raum hinein-

 Haferland 2004, S. 300.  Wolfgang Dinkelacker: Ortnit-Studien. Vergleichende Interpretation der Fassungen. Berlin 1972 (Phil. Stud.u.Qu. 67), S. 220.  Haferland 2004, S. 299 f.  Vgl. Dennis H. Green: Medieval Listening and Reading. The Primary Reception of German Literature 800 – 1300. Cambridge 1994, bes. S. 107– 110.

Erzählte Raumwahrnehmung

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stellt wie in einen Systemraum, dürfte die Visualisierung im Hören nicht in der gleichen Weise befördern, weil der Raum hier nicht mehr gleichsam vom Inneren eines Körpers her bestimmt wird: der Figuren bzw. ihrer Vergegenwärtigung durch die somatische Präsenz des Vortragserzählers im performativen Akt. Wir würden dann in der Figurbezogenheit der Raumdarstellung in den Texten, in der Biegung lokaler Angaben auf den Protagonisten hin, in der Situativität und Bewegungsgebundenheit der Räume Spuren einer Raumkognition antreffen, die mit dem Übergang zu buchmedialer Rezeption allmählich obsolet wurde, mittelalterlichen Hörern aber die Erfassung und Visualisierung der Erzählinhalte und die Orientierung im Text und in der Handlung zu erleichtern vermochte.

6.3 Erzählte Raumwahrnehmung Die Visualität der dargestellten Ereignisse wird in mittelalterlichen Erzähltexten dabei wiederholt auch selbst zum Gegenstand der Rede. Damit ist gemeint, dass das, was erzählt wird, häufig auch wahrgenommen, genauer: mit der Erzählung von Wahrnehmung verbunden wird. Zwar wird in der narratologischen Diskussion über den Raum gelegentlich die Position vertreten, dass der in einer Geschichte erzählte Raum immer und ausschließlich als wahrgenommener Raum zu begreifen ist,⁸⁴ aber dieser Standpunkt ist nicht sehr überzeugend, weil er Differenzierungsmöglichkeiten ignoriert, die – nicht nur, aber auch – in historischer Perspektive wichtig erscheinen. So sollte man unterscheiden zwischen Fällen, in denen Ereignisse und mit ihnen verbundene Räume vom Erzähler schlicht erzählt werden, und solchen, in denen ein Wahrnehmungsakt angezeigt wird. Nur in dem Fall, wo ein Wahrnehmungsakt indiziert ist, sei es durch den Gebrauch von Wahrnehmungsverben oder dadurch, dass er durch das Erzählte impliziert ist, sollte man von erzählter Raumwahrnehmung sprechen.⁸⁵ Auch mit dem, was in der Erzähltheorie unter den Begriffen ‚Fokalisierung‘ oder ‚Perspektive‘ verhandelt wird, darf die explizite oder implizite Erzählung von Raumwahrnehmung nicht verwechselt werden. Diese Verwechslung liegt nahe, da Genette den von ihm

 So etwa, im Einzelnen unterschiedlich ansetzend, Chatman 1978, S. 101– 107; Gabriel Zoran: Towards a Theory of Space in Narrative. In: Poetics Today 5 (1984), S. 309 – 335; Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. 2. Aufl. Toronto u. a. 1997, S. 133 – 135.  Vgl. Dennerlein 2009, S. 143 – 146, die Beispiele für explizit und implizit erzählte Raumwahrnehmung aus Erzähltexten des 16. bis 20. Jahrhunderts anführt. Räume, die vermittels eines Akts der Wahrnehmung erzählt werden, bezeichnet Dennerlein als ‚wahrgenommene Räume‘ und unterscheidet sie von der ‚Ereignisregion‘ als demjenigen Bereich „in, an oder bei einer räumlichen Gegebenheit, in dem sich ein Ereignis abspielt“ (S. 144, 237).

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Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume

geprägten Begriff der Fokalisierung mit der Frage ‚Wer sieht?‘ (später weiterentwickelt zu: ‚Wer nimmt wahr?‘) paraphrasierte.⁸⁶ Doch geht es bei erzählter Raumwahrnehmung weder um das Verhältnis zwischen dem Wissen eines Erzählers und dem einer Figur (das wäre Fokalisierung) noch um die Beschreibung des Standpunkts oder der subjektiven Erfahrung einer Figur (dem wären die Begriffe ‚Perspektive‘ und point of view vorbehalten),⁸⁷ sondern um die Beschreibung von Raumwahrnehmung nach ihren verschiedenen Ausgangspunkten. Grundsätzlich kann die Wahrnehmung des erzählten Raums im Text einer Figur, einer unpersönlichen Instanz – einem nicht weiter bestimmten ‚man‘ – oder einem in der erzählten Geschichte nicht selbst vorkommenden, heterodiegetischen Erzähler zugeteilt sein.⁸⁸ An Erzähltexten des 12. Jahrhunderts (und darüber hinaus) fällt im Hinblick darauf zweierlei auf: zum einen, wie oft der Raum der erzählten Welt und die in ihm situierten Ereignisse an visuelle Wahrnehmung angebunden werden. Deutlich zeigt sich das etwa in den zahlreichen man sachKonstruktionen des höfischen Romans, die in dieser Massivität modernem Erzählen fremd sind.⁸⁹ Zum anderen ist auffällig, dass die visuelle Wahrnehmung sich in solchen Fällen vertexteter Perzeption oft nicht konsistent einem bestimmten Akteur oder einer bestimmten Wahrnehmungsinstanz zuordnen lässt. Stattdessen können die Instanzen erzählter Raumwahrnehmung in einer Weise überblendet werden, die bei heutigen Lesern den Eindruck eines verwirrenden Ineinanders von Figurensehen, Erzählersehen oder dem Sehen einer allgemeinüberpersönlichen Instanz hervorruft. Genette würde hier von ‚Paralepsen‘ sprechen, denn stets geht es darum, dass Informationen gegeben werden, die, wenn die Wahrnehmungsinstanzen kohärent modelliert wären, eigentlich weggelassen werden müssten.⁹⁰ Die folgende Passage aus dem ‚Herzog Ernst B‘ bietet für solche Informationsüberschüssigkeit ein Beispiel: Ernst und Wetzel durchstreifen die Burganlage von Grippia ein zweites Mal, um sie sich genauer anzusehen. Ernst sieht (gesach, V. 2568)

 Genette 1998, S. 132– 134.  Diesen, wie mir scheint, sinnvollen Vorschlag zur Abgrenzung der Konzepte ‚Fokalisierung‘ einerseits, ‚Perspektive/point of view‘ andererseits unterbreitet Burkhard Niederhoff: Focalization. In: Handbook of Narratology. 2. Aufl. Hrsg. von Peter Hühn u. a. Bd. 1. Berlin/Boston 2014a, S. 197– 205, hier S. 203 f.; vgl. dazu auch ders.: Perspective – Point of View. In: Handbook of Narratology. 2. Aufl. Hrsg. von Peter Hühn u. a. Bd. 2. Berlin/Boston 2014b, S. 692– 705.  Vgl. Dennerlein 2009, S. 145 – 147.  Schulz 2012, S. 384.  Vgl. Genette 1998, S. 138 – 140.

Erzählte Raumwahrnehmung

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ein kemenâta wol getân. diu was gezieret innen von meisterlîchen sinnen von edelem gesteine. (V. 2570 – 2573) eine schöne Kemenate. / Die war innen / meisterlich / mit Edelsteinen verziert.

Die Innenausstattung des Zimmers können Ernst und Wetzel aber eigentlich gerade nicht sehen, weil sie das Gemach noch gar nicht betreten haben (vgl.V. 2577). Zugunsten einer konsistenten Vermittlung der Raumwahrnehmung ist man geneigt anzunehmen, dass die Darstellung hier unmerklich von der Figurenwahrnehmung zum Erzählerbericht wechselt. Aber sicher ist das nicht, der Wahrnehmungseindruck könnte auch Ernst und Wetzel zuzurechnen sein, denn schon V. 2577 f. zeigt eindeutig (wieder) die Figuren als Instanzen der Wahrnehmung an: dô sie dar in begunden gân, / ein spanbette sie sâhen stân. Dieselbe Unsicherheit stellt sich einige Verse weiter ein, immer noch befinden Ernst und Wetzel sich in dem Edelsteinzimmer: zwên guldîn köphe tiure bî dem bette nâhen sie dâ stên sâhen. dar inne was der beste wîn, der in dem lande mohte sîn oder iemer man enbîze. (V. 2634– 2639) Zwei kostbare goldene Becher / sahen sie dort / nahe am Bett stehen. / Darin war der beste Wein, / den es im Lande gab / oder den man jemals trinken könnte.

Dass die beiden goldenen Becher den besten Wein, „den man jemals trinken könnte“, enthalten, muss sich der visuellen Wahrnehmung der Figuren (sâhen) entziehen. Dann, während Ernst und Wetzel noch die Wunder und Seltsamkeiten der wie verwaist daliegenden Stadt betrachten, kehrt überraschend der Herr der Burg, der König mit dem Schwanenkopf, mit seinen Leuten zurück (V. 2817 ff.). Ernst und Wetzel verstecken sich in einem hochgelegenen dunklen Gewölbe, dar ûz gienc ein venster (V. 2834). Durch das gewelbe vinster (V. 2833) und den Hinweis auf das Fenster ist die Wahrnehmungsinstanz lokalisiert und derjenige Ausschnitt des Raums der erzählten Welt, der wahrgenommen wird, umrissen. Demgemäß wird die Ankunft der Grippier zunächst im Hinblick darauf erzählt, was Ernst und Wetzel vom Fenster ihres Verstecks aus beobachten können; durch Verben der visuellen Wahrnehmung wie sehen (V. 2847, 2860) und gewar werden (V. 2848 f.) wird dies auch explizit angezeigt. Ab V. 2879 dann werden in Form einer Analepse Hintergrundinformationen zum Volk der Kranichschnäbler gegeben: ihrem Stolz, ihrem Reichtum, ihrem König und wie dieser nach India gefahren ist, den König

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Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume

des Landes getötet und seine Tochter entführt hat, um sie jetzt in Grippia zu heiraten. Das sind Dinge, die die beiden Eindringlinge unmöglich sehen oder wissen können, und folgerichtig beginnt die Analepse mit einer markierten Einschaltung des Ichs der Erzählerstimme: Doch wil ich iu baz betiuten / von den seltsænen liuten (V. 2879 f.). Allerdings deutet das baz, insofern es eine Fortsetzung des zuvor Erzählten ankündigt, zugleich die potentielle Überblendung verschiedener Wahrnehmungsinstanzen an, denn das zuvor Erzählte war das von Ernst und Wetzel Wahrgenommene. Dem entspricht, dass auch im Folgenden nicht immer klar ist, wem das Erzählte wahrnehmungslogisch zuzurechnen ist. Einerseits wird das Erzählte immer wieder als Wahrnehmung Ernsts und Wetzels dargestellt; es erscheint dann als Ausschnitt des Raums der erzählten Welt, den die beiden Eindringlinge aus ihrem Versteck heraus wahrnehmen können. Gemessen an der Länge der etwa 550 Verse umfassenden Passage (V. 2845 – 3400), geschieht dies mit beachtlicher Konstanz. Der wiederholte Gebrauch entsprechender Verben hält das Figurenduo als Instanz der Wahrnehmung stabil: dô dise recken [Ernst und Wetzel, C. S.] vil balt disiu wunder vernâmen und rehte war genâmen diser seltsænen diet, dô envorhten sie es niet. (V. 2930 – 2934) Als die kühnen Fremden / diese wunderlichen Vorgänge wahrnahmen / und dieses merkwürdige Volk / genau betrachteten, / da fürchteten sie sich nicht vor ihm. dô sâhen sie zuo dem tor în gên neben ein ander zwêne man. die sâhen sie tragen an zwô vil rîcher hemde […]. (V. 2996 – 2999) Da sahen sie durch das Tor / nebeneinander zwei Männer schreiten. / Sie sahen, wie sie / zwei kostbare Hemden trugen […]. ir zuht und ir gebære die herren [Ernst und Wetzel, C. S.] dûhte vil lobelîch. (V. 3054 f.)⁹¹ Ihre Wohlerzogenheit und ihr Benehmen / schienen den Herren überaus lobenswert.

Andererseits werden in diesem Rahmen nicht nur Dinge und Ereignisse erzählt, die sich der Wahrnehmung der Protagonisten entziehen, sondern die erzählte Raumwahrnehmung der Figuren, Ernsts und Wetzels, kann auch beständig in die visuelle und auditive Wahrnehmung, das Sehen und Hören, eines nicht weiter  Weitere Stellen: V. 3034, 3082, 3106; jedes Mal ist das Wahrnehmungsverb sehen.

Erzählte Raumwahrnehmung

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bestimmten ‚man‘ hinüberspielen: den selben sach man tragen an / wât diu vil verre schein (V. 3062 f.), heißt es, als der König von Grippia in die Stadt eintritt; dâ mohte man jâmer schouwen (V. 3140), als die unglückliche indische Königstochter in den Festsaal hineingeführt wird; man sach sie zeigen mit der hant (V. 3158) über die sich mit Gesten verständigenden Grippier. Wie der Wahrnehmungsbereich der Figuren und derjenige des indefiniten ‚man‘ enggeführt werden können, zeigt vor allem diese Stelle: Man muose der edelen frouwen [der indischen Prinzessin, C. S.] ir liehten ougen schouwen von weinen trüebe unde rôt. diu enmohte ir starken nôt leider nieman dâ gesagen. dô vernam ir weinen und ir klagen Ernest der fürste hêre. […] dô der herzoge ir jâmer sach, wider den grâven er dô sprach […]. (V. 3251– 3266) Man sah die hellen Augen / der edlen Frau / vom Weinen trüb und rot. / Zu ihrem Schmerz konnte sie ihre furchtbare Not / dort niemandem sagen. / Da hörte ihr Weinen und ihr Klagen / Ernst, der edle Fürst. / […] Als der Herzog ihren Jammer sah, / da sagte er zu dem Grafen […].

Zunächst wird das schouwen mit einem allgemeinen man verknüpft (V. 3251 f.), bevor es vier Verse weiter wieder Herzog Ernst ist, der die Schmerzensäußerungen der Prinzessin hört und ihr Leid sieht (V. 3256; ebenso V. 3265). Was ‚man‘ schouwen, vernemen oder sehen kann, was also der allgemeinen Wahrnehmung zugänglich ist, das kann auch Ernst aus dem Gewölbe heraus wahrnehmen.Wenn V. 3410 – 3413 dann der Herzog und der Graf von einem Diener des Kranichkönigs in ihrem Versteck entdeckt werden, so ist daran interessant, dass es nicht Ernst und Wetzel sind, die den Diener bemerken, sondern die Position der Wahrnehmungsinstanz wechselt und nun bei des küniges holde lokalisiert erscheint: einer des küniges holde kam in den winkel hin gegân und sach dise zwêne stân in ir halsbergen gar. (V. 3410 – 3413) Einer der Diener des Königs / kam hin in den Winkel gegangen / und sah diese beiden / in voller Rüstung dort stehen.

Die Passage des ‚Herzog Ernst B‘, in der Ernst und Wetzel aus ihrem Versteck im Palast von Grippia die Grippier beobachten, lässt noch einmal deutlich werden,

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Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume

was für die Raumdarstellung in dieser Art des Erzählens charakteristisch ist. Das ist zuvörderst der enge Zusammenhang zwischen Raumwahrnehmung und Aktantenstruktur: Der Raum der erzählten Welt erscheint von der oder den jeweils handlungsbestimmenden Figuren her entworfen. Sind das zuerst Ernst und Wetzel, die aus dem Fenster ihres Gewölbes heraus beobachten, was in der Stadt geschieht, so zuletzt, bei ihrer Entdeckung, der Diener des Königs. Entsprechend eng schmiegt sich die Darstellung den Wahrnehmungen der jeweiligen Figuren an, erst der beiden Gefährten, dann des Dieners.⁹² Dabei erscheint die Warte, von der aus wahrgenommen wird, im Raum der erzählten Welt selbst situiert, relativ nah am dargestellten Geschehen und der handelnden Figur. Sprachlich findet das seinen Ausdruck in der deiktischen Raumreferenz, die der Wahrnehmung der handlungsdominanten Figur gemäß ist und ihr entspricht: dise zwêne sieht der Diener stehen, als würden er und der Erzähler förmlich auf Ernst und Wetzel zeigen. Dass dieses Erzählen sehr an den Wahrnehmungen der einzelnen Figur ausgerichtet ist, heißt aber offensichtlich nicht, dass die figurenorientierte Raumwahrnehmung nicht immer wieder überschritten, dass erzählt werden könnte, was die Figur – nach Maßgabe der räumlichen Bedingungen der erzählten Welt – gerade nicht wahrnehmen kann, und dass die Wahrnehmung der Figur und die einer unbestimmt-überfigürlichen Instanz nicht enggeführt werden könnten. Figurensehen und das Sehen eines allgemeinen ‚man‘ können sich ohne Weiteres überblenden. Anders gesagt: Weil ‚man‘ etwas sehen kann, können es auch Ernst und Wetzel sehen, selbst wenn sie es eigentlich nicht sehen (oder hören) können. Die Dinge scheinen in einem allgemein zugänglichen Bereich der Wahrnehmung beisammenzustehen, und genau diese Situation drückt sich in den zahlreichen man sach-Konstruktionen aus. Gert Hübner und Armin Schulz haben im Hinblick auf dieses man von einem „leere[n] Zentrum“, einem „kognitive[n] Zentrum“ gesprochen, das nicht mit einer Figur gleichgesetzt werden könne, weil es nicht darum gehe, was ein einzelner, sondern was alle hätten sehen können; es gehe hier um die Wahrnehmung eines Kollektivs.⁹³ Wer aber ist dieses Kollektiv? Sowohl die man sach-Formulierung selbst als auch der Umstand, dass sie zwar nicht mit der Figur identifiziert, wohl aber mit ihr enggeführt werden kann, deuten darauf hin, dass es sich hier um eine Vertextung jener wahrnehmungsräum Vgl. Schulz 2012, S. 383.  Gert Hübner: Fokalisierung im höfischen Roman. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs/Eckart Conrad Lutz/Klaus Ridder. Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 127– 150, hier S. 131; Schulz 2012, S. 384 f.

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lichen Verhältnisse handelt, wie sie für die unmittelbare Sprechsituation kennzeichnend sind, also jener Kopräsenz der an einer Sprachhandlung Beteiligten in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum. Narrativiert und im epischen Präteritum des man sach konserviert wird die Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit einer Ordnung, in der alle und alles beisammen und der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung ad oculos verfügbar ist: die Gegenstände und Figuren der erzählten Welt ebenso wie Sender und Empfänger, Sprecher und Zuhörer/Zuschauer, die sich sehend, schauend, zeigend auf sie beziehen. Es ist der authentifizierende und Historizität verbürgende Rekurs auf die Wahrnehmungsräumlichkeit einer primären, unmittelbaren Sprechsituation, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert, und das heißt eben: vertextet wird. Hinter dem man der Konstruktion steht insofern kein leeres Zentrum, sondern die Fiktion eines Kollektivs der Sprecher, Hörer und Charaktere, die in der Situation mündlicher Kommunikation eine gemeinsame Umgebung teilen. Die man sach- und verwandte Konstruktionen behaupten so einerseits eine primäre unmittelbare Wahrnehmungssituation, die im performativen Akt in eine zweite näherungsweise überführt wird, und sind mithin auf eine Situation medialer Unmittelbarkeit transparent (mit den beschriebenen Konsequenzen für die Raumdarstellung und das Verhältnis von Figuren, Erzählerstimme und Rezipienten zur erzählten Welt). Andererseits sind sie zugleich Textualitätssignale. Als solche markieren sie, nicht zuletzt durch den grammatischen Ausdruck zeitlicher Distanz, einen unendlichen, nicht einholbaren Abstand zu jeder unmittelbaren Wahrnehmungsräumlichkeit. Man könnte sie daher als mediale Zwittererscheinungen bezeichnen und von ‚semi-oralen Paralepsen‘ sprechen, die Zeugnis ablegen von einer Textualität, die auch im Hinblick auf die narrative Raumgestaltung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit steht.

6.4 Raumdarstellung und virtuelle Mündlichkeit Dies zu zeigen, an raumnarrativen Aussparungen in den Texten, an ihrer Tendenz zu deiktischer Raumreferenz, den Spuren einer szenischen Raumdarstellung und dem Wechselverhältnis von Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsraum in der Vortragssituation mit ihrer performativen Unmittelbarkeit, war Anliegen dieses Kapitels. Ich behaupte also, dass es sich bei den Spezifika der Raumgestaltung in diesem Erzählen zwischen etwa 1150 und 1190, zum Teil aber auch noch viel später, um Erscheinungen einer noch stark von der Mündlichkeit geprägten Medialität der literarischen Kommunikation handelt, das heißt vorrangig um Phänomene medialer Alterität. Das wirft freilich die Frage

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Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume

auf, ob das, was Ausdruck der Bestimmtheit der Texte für eine mündlich-performative Kommunikationssituation zu sein scheint, nicht Resultat einer ‚sekundären‘ oder ‚fingierten‘ Mündlichkeit ist.⁹⁴ Gemeint ist damit die Simulation von Mündlichkeit in einem schriftlich konzipierten Text. Vor allem mit den Arbeiten von Franz H. Bäuml und Michael Curschmann hat sich in der germanistischen Medävistik die Auffassung verbreitet, Mündlichkeitsspuren in den Texten seien vornehmlich als literarisches Kunstmittel zu interpretieren, als eine den Texten reflektiert eingeschriebene, fiktive Mündlichkeit.⁹⁵ Demgegenüber hat Sonja Glauch sich um eine Differenzierung des Konzepts sekundärer Mündlichkeit bemüht. Am Beispiel der Entwicklung der Erzählerstimme im höfischen Roman um 1200 legt sie nahe, dass Oralität und Performativität zwar in die Texte hineingeschrieben waren, aber nicht als Fiktionen, sondern als „die virtuelle Mündlichkeit eines Redemanuskripts, die Performativität eines Drehbuchs.“⁹⁶ Der Begriff der ‚virtuellen Mündlichkeit‘ scheint mir auch für die hier beschriebenen raumnarrativen Phänomene der passendere zu sei. Selbstverständlich handelt es sich bei den Texten um schriftlich konzipierte. Aber ihre Mündlichkeitsspuren sollen keine Mündlichkeit simulieren – das wäre bei vorgetragenen Texten auch ein tautologisches Unterfangen: fingierte Mündlichkeit kann nur bei nichtmündlicher Rezeption als solche wahrgenommen werden –,⁹⁷ sondern sie verweisen auf die Verfasstheit der Texte für künftigen Vortrag. Diese Eigenschaft teilen die Texte mit Skripten und Drehbüchern (ohne freilich solche zu sein): Sie fingieren nicht, sondern sie antizipieren, stellenweise, jene Mündlichkeit und Performativität, die in der Situation des Vortrags aus der Virtualität in die Realität überführt wird. Charakteristisch erscheint dabei, dass in diesem vor- oder frühhöfischen Erzählen Züge einer mündlich-performativen, audiovisuellen Räumlichkeit ne-

 Der erste Begriff geht auf Paul Zumthor: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. München 1994 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 18), S. 44, zurück, der zweite auf Paul Goetsch: Fingierte Mündlichkeit in der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen. In: Poetica 17 (1985), S. 202– 218.  Vgl. Franz H. Bäuml: Medieval Texts and the Two Theories of Oral-Formulaic Composition. A Proposal for a Third Theory. In: New Literary History 16 (1984), S. 31– 49; ders.: The Theory of OralFormulaic Composition and the Written Medieval Text. In: Comparative Research on Oral Traditions. A Memorial for Milman Parry. Hrsg. von John M. Foley. Columbus, OH 1987, S. 29 – 45; Michael Curschmann: Nibelungenlied und Nibelungenklage. Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Prozeß der Episierung. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 85 – 119.  Glauch 2009, S. 72.  Dezidiert schreibt Glauch 2009, S. 41: „Fingierte Mündlichkeit schließt reale Mündlichkeit aus, und umgekehrt.“

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ben solchen einer stärker schriftliterarischen Räumlichkeit stehen. Die Texte wirken, von Differenzierungen im Einzelnen abgesehen, weder auf das eine noch auf das andere hin stringent durchgearbeitet. Auch das spricht im Übrigen gegen die Annahme einer intentional fingierten Mündlichkeit, die sich Oralitäts- und Performativitätsspuren als eines literarischen Kunstmittels bedienen würde. Natürlich kann dieser Eindruck auch Folge der je besonderen Überlieferungssituation der Werke sein: Bei später und/oder teilweise schon stilistisch überarbeiteter Überlieferung eines Großteils des Textbestands, wie im Fall des ‚Herzog Ernst‘ oder des ‚Tristrant‘, lässt sich nicht immer sicher entscheiden, was alte oder schon neuen, veränderten Bedürfnissen angepasste Textgestalt ist. Insgesamt aber fügt sich die Art der Raumgestaltung in den Texten dem Bild einer Literatur, die „an der Schwelle“ (Sonja Glauch) steht, zwischen Performativität und Buchmedialität, Mündlichkeits- und Schriftlichkeitskultur, sich aber doch in eine bestimmte Richtung hin entwickelt.⁹⁸ Welche Richtung diese Entwicklung nimmt, ohne dabei geradlinig oder teleologisch zu verlaufen, mag ein Beispiel aus dem Karlsroman des Strickers verdeutlichen. Es betrifft jene schon zitierte Stelle aus dem ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad, an der König Marsilie von der Niederlage des sarazenischen Heeres gegen den zurückgekehrten Karl erfährt: Marsilie ersach der haiden nôt, / vor laide viel er tôt (V. 8595 f.), hieß es da und erschien raumlogisch widersprüchlich, weil Marsilie sich zu diesem Zeitpunkt bereits wieder in Sarraguz befindet und die Not seiner Leute gewiss nicht ‚sehen‘ oder ‚erblicken‘ kann. Auf der Grundlage des Konrad’schen ‚Rolandslieds‘ verfasste etwa fünfzig Jahre später, um 1220, der Stricker seinen ‚Karl‘. Bei ihm ist an die Stelle des ersehen nun ein sagen hœren getreten, also eine Formulierung, die den realen Raumverhältnissen gerecht wird. Jemand, vermutlich ein Bote, ist zu Marsilie an den Hof gereist und hat ihm die Nachricht von der Niederlage und dem Tod Paligans, seines Herrn, mündlich überbracht: Do Marssilies horte sagen, daz sin herre was erslagen,

 Hugo Kuhn: Aspekte des 13. Jahrhunderts in der deutschen Literatur. In: Kuhn, Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980, S. 1– 18, hat in Bezug darauf von einer „Zwischenkultur“ (S. 5) gesprochen, Hans Fromm: Der oder die Dichter des Nibelungenliedes? In: Colloquio italo-germanico sul tema: I Nibelunghi. Rom 1974 (Atti dei convegni Lincei 1), S. 63 – 74, von einer „symbiotischen Mischkultur“ (S. 66). Ursula Schaefer: Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1992 (ScriptOralia 39), bevorzugt demgegenüber den von Paul Zumthor geprägten Begriff der ‚Vokalität‘ (siehe auch Schaefer 2004, S. 85), was etwas missverständlich ist, weil der Begriff bei Schaefer einen Kulturzustand bezeichnen soll, dem Wort nach aber eine mediale Eigenschaft, nämlich Stimmlichkeit beschreibt.

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Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume

do schůf sîn grozziu swære und ouch diz bse mære, daz er so grozliche erschrach, daz er vor leide tot lach. (V. 10187– 10192) Als Marssilies sagen hörte, / dass sein Herr erschlagen worden war, / da bewirkten sein großes Leid / und diese schlimme Nachricht, / dass er so furchtbar erschrak, / dass er vor Schmerz tot zusammenbrach.

Die Änderung ist sicher nicht zufällig. Offenbar hat der Stricker die räumlichen Bedingungen der erzählten Ereignisse stärker auf ihre Wirklichkeitsförmigkeit hin beurteilt und den Wortlaut entsprechend angepasst. Aufgegeben ist damit die Konzeptualisierung des Raums der erzählten Welt als eines transgressiven, bühnenförmigen Raums, in dem (potentiell) alles beisammen und alles jederzeit allen zugänglich und wahrnehmbar ist, eine Konzeptualisierung, die in der Audiovisualität des performativen Textvortrags funktioniert, aber eben nur dort. Daraus zu schließen, der Stricker habe bei der Abfassung des Textes primär an ein Lesepublikum gedacht, wäre vorschnell und würde wohl auch nicht zutreffen. Doch spiegelt sich in solch einer Änderung eine mentale Modellierung von Raum, die der Leserezeption gemäßer ist und demgemäß beim Lesen auch nicht störend auffällt. Sie entspricht einem buchmedialen Entwurf von narrativem Raum, der für seine Realisierung auf den performativen Akt, auf Körper und Stimme des Vortragenden und die Unmittelbarkeit eines gemeinsamen Wahrnehmungsraums nicht angewiesen ist. Für die Raumdarstellung und -wahrnehmung in der weltlichen, volkssprachigen Dichtung vor dem 13. Jahrhundert gilt das Gegenteil. Sie gewinnt imaginative Evidenz und raumlogische Plausibilität, wenn sie vorgetragen und vorgespielt wird.⁹⁹ Auf sie trifft zu, was der

 Beispiele aus jüngerer Zeit, die diesen Zusammenhang untermauern könnten, ließen sich in Kulturen finden, in denen mündliches Erzählen bis heute einen hohen Stellenwert besitzt. So weisen etwa die Transkriptionen mündlicher Erzählungen, die Zenani und Scheub aus der oralen Tradition der Xhosa zusammengetragen haben, im Hinblick auf die performative Gestaltung des erzählten Raums ganz ähnliche Phänomene auf wie die – unter historisch und kulturell anderen, aber doch nicht ganz unvergleichbaren Bedingungen entstandenen – mittelalterlichen Erzähltexte; vgl. Nongenile Masithathu Zenani: The World and the Word. Tales and Observations from the Xhosa Oral Tradition. Hrsg. von Harold Scheub. Madison,WI 1992; dazu Isidore Okpewho: The Epic in Africa. Toward a Poetics of the Oral Performance. New York 1979, und ders. (Hrsg.): The Oral Performance in Africa. Ibadan/St. Helier 1990; Harold Scheub: Story. Madison, WI 1998. Dasselbe gilt übrigens für mündliches, konversationelles Alltagserzählen. Auch hier zeigen sich, etwa in den Mitteln der szenischen Darstellung, der Verwendung deiktischer Referenzsysteme oder auch der Kleinschrittigkeit der Handlungsdarstellung (‚Atomisierung‘ in Quasthoff 1980), interessante Parallelen zu einigen raumnarrativen Phänomenen des mittelalterlichen Erzählens;

Raumdarstellung und virtuelle Mündlichkeit

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anonyme Dichter der ‚Rabenschlacht‘ viele Jahrzehnte später, vermutlich schon als Reminiszenz spätmittelalterlicher Schriftlichkeit an eine vorschriftliche Erzählkultur, in die imperativische Formel fasste: Welt ir nu gerne schowen, / so hoeret vil bereit (Str. 103,1 f.).

vgl. etwa Elisabeth Gülich: Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen. In: ZGL 36 (2008), S. 403 – 426, aber auch Fludernik 1996, bes. S. 53 – 91.

7 Narrative Transgressionen Wenn die Erzählerstimme im ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad Christen und Heiden gegeneinander antreten lässt, dann achtet sie recht genau darauf, die beiden Seiten einander symmetrisch gegenüberzustellen. Diese Spiegelgleichheit zeigt sich besonders in der Darstellung der jeweiligen Schlachtvorbereitungen: Dem christlichen Gottesdienst wird der heidnische Götzendienst gegenübergestellt, der Heeresansprache Rolands diejenige Marsilies, der Truppenaufstellung Karls diejenige Paligans, der Darstellung von Fahne und Gebet des Kaisers Fahne und Gebete der Sarazenen.¹ Das führt wiederholt zu unvermittelten Übergängen, einem sprunghaft wechselnden Erzählfokus und harten Fügungen, die vom Standpunkt der mikrostrukturellen Kohäsion des Textes aus irritierend wirken können. Doch lässt sich dieses Darstellungsverfahren auch als eine texträumliche Nachbildung dessen beschreiben, was Gegenstand der Darstellung ist: eine Situation der agonalen Interaktion. Konrad hat diese Darstellungstechnik nicht allein. Eine ähnlich schematische Schilderung eines Schlachtgeschehens weist zum Beispiel die kurze altenglische Langzeilendichtung der ‚Battle of Brunanburh‘ auf, die sich in der ‚Angelsächsischen Chronik‘ für das Jahr 937 eingetragen findet und bei der der Erzählfokus ebenfalls regelmäßig wechselt zwischen der Seite der Angelsachsen und der Seite der Feinde.² Auffällig ist allerdings, dass die ‚Chanson de Roland‘ – zumindest in der sogenannten Oxforder Version – nicht in dieser Weise um eine symmetrische Darstellung von Christen und Heiden bemüht ist; sie ist also, höchstwahrscheinlich, eine eigenhändige Zutat Konrads. Etwa vierzig oder fünfzig Jahre später nutzt Wolfram von Eschenbach sie in seinem ‚Willehalm‘, am auffälligsten vielleicht an der folgenden, schon zitierten Passage aus der zweiten Alischanzschlacht, wo die Erzählung sich mit 372,19 – 22 (ab Bernart von Brûbant) im Rahmen der Beschreibung eines Trupps von zehn heidnischen Königen unvermittelt für vier Verse zwei christlichen Rittern zuwendet, bevor sie, ebenso abrupt, mit Fabors von Mecka zu den Heidenkönigen zurückkehrt: dâ kom in galopeize her von den zehen künegen jungen

 Siehe V. 3393 – 3464 vs. 3465 – 3523 (Gottesdienste), 5806 – 5828 vs. 5829 – 5852 (Heeresansprachen), 7757– 7946 vs. 7947– 8148 (Truppenaufstellungen), 7895 – 7930 vs. 8123 – 8148 (Fahnen und Gebete); dazu auch oben, Kap. 4.4, S. 176 – 179.  Siehe The Battle of Brunanburh. Hrsg. von Alistair Campbell. London 1938; dazu Wolf 1999, S. 14– 16. https://doi.org/10.1515/9783110593105-008

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manec storje umbetwungen von aller zageheite: hôchmuot was ir geleite. Bernart von Brûbant, der ie genendic was bekant, und Buove von Kumarzî die riten einem vanen bî. Fâbors von Meckâ kom vür durh tjostieren dâ; Glôrîax, Mâlarz und Utreiz kom vor dem grôzem puneiz. (372,14– 26; Hervorheb. von mir) Da kamen im Galopp / von den zehn jungen Königen / viele Trupps daher, / von keiner Feigheit bezwungen: / Stolz und Mut gaben ihnen Geleit. / Bernhard von Brubant, / der immer schon als kühn bekannt war, / und Buove von Commercy, / die ritten unter einer Fahne. / Fabors von Mecka / ritt zur Tjost nach vorne; / Gloriax, Malarz und Utreiß / ritten vor dem großen Haufen.

Der Einschub der beiden christlichen Fürsten lässt sich lesen als eine symmetrische Juxtaposition heidnischer und christlicher Kräfte (in je fünf bzw. vier Versen), die auf eine textuelle Verräumlichung der Kampfbegegnung zielt – erst recht, wenn man weiß, dass Bernhard von Brubant und Buove von Commercy die nächsten Gegner der Könige sind.³ Auch die Gegenüberstellung der beiden Protagonisten Dietrich und Ecke im B-Teil der sogenannten Helferich-Strophe des ‚Eckenlieds‘ (allerdings nur in ihrer ältesten, im Codex Buranus überlieferten Form) in je zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Versen: her Dietrich rait mit mannes chrafft den walt also unchunden. her Eke der chom dar gegan; er lie da heime rosse vil […] (E1 1,9 – 12), Herr Dietrich ritt mit männlicher Stärke / durch den ihm unbekannten Wald. / Herr Ecke kam zu Fuß dorthin; / er hatte zu Hause viele Pferde zurückgelassen […],

kann als ein Beispiel symmetrischen Erzählens verstanden werden. Als Stilmittel ist symmetrische Darstellung sicherlich kein generelles Charakteristikum mittelalterlicher volkssprachiger Dichtung. Es ist kein Zufall, dass sie sich insbesondere dort findet, wo es um die Schilderung agonaler Handlungen mit einem schematisch klaren Gegenüber zweier feindlicher Parteien geht.Worauf es mir jedoch ankommt: Indem an solchen Stellen die Erzählung das Erzählte  Siehe zur Stelle auch Kap. 4.4, S. 180 – 182.

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quasi texträumlich nachvollzieht, werden histoire und discours in einer spezifischen Weise enggeführt. Ein solches Erzählverfahren bewirkt, insofern auf der Ebene der Darstellung das Dargestellte nachgebildet wird, den Eindruck einer texträumlichen Verkörperung des Erzählten: Der Agon auf der Ebene der Handlung wird auf der Diskursebene in ein, zwar nur im linearen Nacheinander der Sprachzeichen vermittelbares, aber in seiner Blockhaftigkeit doch deutliches Gegenüber übersetzt. Die Erzählung ist hier gewissermaßen selbst das, was sie erzählt. Man könnte das, auch wenn der Vergleich ein wenig hinkt, mit Figurengedichten in Beziehung setzen, bei denen das Schrift- bzw. Druckbild die Umrissform jenes Gegenstandes annimmt, den der sprachliche Text zum Thema hat, wo die graphische Gestaltung also in einem semiotischen Verhältnis zum Text steht.⁴ Ähnlich verhält es sich bei symmetrischer Darstellung in Erzähltexten: Das Arrangement des discours steht hier in einem semiotischen Verhältnis zur histoire, indem es das Dargestellte gleichsam physisch repräsentiert. Doch ist der Vergleich mit dem carmen figuratum in noch einer weiteren Hinsicht aufschlussreich: Figurengedichte müssen gesehen werden und kommen ohne den optischen Eindruck nicht aus; im Vorlesen allein erschließt sich die semantisierte graphische Gestaltung der Textoberfläche nicht. Die semiotische Engführung von Textthema und graphischer Gestaltung ist also eng an Visualität gebunden. In ähnlicher Weise scheinen mir auch textsymmetrische Darstellungsverfahren an eine bestimmte Form der visuellen Medialität, wenn nicht gebunden zu sein, so doch durch sie unterstützt zu werden. Damit ist nicht die Visualität des ‚sehenden Lesens‘ gemeint (auf die es beim Figurengedicht ankommt), sondern die des ‚sehenden Hörens‘: jene Visualität also, die in der Vortragssituation mitgegeben war, da der Rhapsode oder Vortragende ja nicht nur laut rezitierte, sondern, aller Wahrscheinlichkeit nach, den Text auch mimisch, gestisch oder akustisch begleitete, gegebenenfalls sogar theatralisch untermalte.⁵ Vorstellbar ist etwa, dass symmetrische Darstellungsverfahren, die bei stillem Lesen als Sprünge im Text merkbar werden, beim Vortrag durch entsprechende Gesten zur Rechten oder Linken, durch Kopfbewegungen oder Körperdrehungen unterstützt wurden, so dass der Eindruck eines sprunghaften, unzusammenhängenden Erzählens als ästhetischer Effekt zwar nicht aufgehoben, aber eingerahmt wurde. Auch die kognitionspsychologischen Studien zur mentalen Verarbeitung räumlicher Relationen bei Hör- im Unterschied zu Leserezeption deuten darauf hin, dass das Hören die räumliche Visualisierung von Erzählinhalten be-

 Vgl. Bernhard F. Scholz: Figurengedicht. In: RLW 1 (1997), S. 589 – 591, hier S. 589.  Ein solcher Fall theatralischer Untermalung dürfte der Chanson-de-geste-Vortrag gewesen sein; siehe Fladt 2003.

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fördert (während Lesen sie eher behindert), was der kognitiven Repräsentation und Verarbeitung texträumlicher Darstellungstechniken wohl entgegenkam.⁶ Die physische Repräsentation des Erzählten, die bei symmetrischer Darstellung schon die Diskursebene des Textes prägt, würde hier unmittelbar gebunden an die körperliche Präsenz des Vortragenden im Hör- und Sehraum, der ein Vortragsort ja immer ist. Umso deutlicher würde dann aber, dass solche Fälle einer Engführung von Erzähltem und Erzählen, von histoire- und discours-Ebene transgressiven Charakter haben.⁷ Was sich hier je berührt oder sogar überschritten wird, ist die Grenze zwischen Diegese und Exegesis und damit zugleich die kategoriale Unterscheidung zwischen der narrativen Aussage, ihrem Inhalt (d. h. den dargestellten Ereignissen) und dem Aussageakt des Erzählens selbst.⁸ Indem auf der Ebene der narrativen Darstellung (des récit in Genettes Terminologie) das Dargestellte quasi imitiert und, bei lebendigem Vortrag, durch den Akt der Erzähläußerung (der narration) diese Imitation noch zusätzlich verstärkt wird, ragt die histoire in die anderen Ebenen gewissermaßen hinein. In den Worten Mark Turners: „In the blend, the representation is fused with what it represents.“⁹ Peter Strohschneider hat dies auf Textualitätsvorstellungen zurückgeführt, die den Diskurs nicht (allein) als „semiotisches Verweissystem“ begriffen, sondern als „Epiphanie des Erzählten selbst“, und zwar in der Weise, „dass zwischen dem Erzählten und einem Leser oder Hörer ein Kontiguitätsverhältnis gegeben ist.“¹⁰ Ein solches Zur-Erscheinung-Kommen des Erzählinhalts im Erzählakt lässt sich in mittelalterlichen Texten immer wieder und auf unterschiedliche Weise beobachten. Nicht nur dort, wo Zweikämpfe oder andere agonale Konstellationen erzählerisch verbildlicht werden, sondern zum Beispiel auch, wo mit der doppelten Temporalität von Erzählung gespielt und Erzählzeit und erzählte Zeit

 Siehe vor allem Brooks 1967, 1968 und 1970.  Auf einer noch einmal anderen Ebene – um die es hier nicht geht – liegen Transgressionen in Bezug auf die Erzählinstanzen in volkssprachigem Erzählen des Mittelalters, also z. B. zwischen der in einem Text installierten Sprecher- und der Autorinstanz, wie Plotke 2017, S. 179 – 197, bes. S. 191, dies etwa für Hartmanns ‚Iwein‘ beobachtet.  Damit beziehe ich mich auf die von Genette vorgenommene Unterscheidung zwischen récit, histoire und narration (vgl. Genette 1998, S. 15 f.). Mit den beiden Termini ‚Erzählung‘ (récit) und ‚Narration‘ (narration) ersetzte Genette bekanntlich den von ihm als zu undifferenziert bemängelten discours-Begriff.  So Mark Turner: The Way We Imagine. In: Theory of Mind and Literature. Hrsg. von Paula Leverage u. a. West Lafayette, IN 2011, S. 41– 61, hier S. 42, über Crockett Johnsons Kinderbuch ‚Harold and the Purple Crayon‘ (1955).Von einer „ikonische[n]“ Verfahrensweise des Textes würde wohl, sich auf Peirce und Jakobson berufend, Genette sprechen; vgl. Genette 1998, S. 76.  Strohschneider 2014, S. 30.

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enggeführt zu werden scheinen.¹¹ Auch dafür bietet Wolframs ‚Willehalm‘ ein anschauliches Beispiel: In Abschnitt 175,16 – 176,3 wird geschildert, wie König Louis sich in Gesellschaft seiner Frau, seiner Tochter Alice, Willehalms, Wimars und anderer zu Tisch setzt. Dann, 176,4, beginnt die Erzählung hierhin und dorthin zu schweifen: zu Wimar, der von Willehalm zweihundert Mark Belohnung für seine Gastfreundschaft erhalten habe; zu Willehalms Gelübde der Enthaltsamkeit, das ihn nur Wasser und Schwarzbrot zu sich nehmen lässt; zu seinem Ausbruch aus dem belagerten Oransche; zu seinen Gedanken an Giburg (176,4– 177,14). All das wird über etwa einundvierzig Verse erzählt, bis es von Willehalm in 177,15 heißt: er dâhte: „nû ist der künec sat.“ Es ist einige Erzählzeit vergangen; vielleicht nicht gerade so viel, wie ein herrschaftliches Mahl mit Wild, Braten, Met, Wein und Maulbeertrank (177,3 – 5) in Anspruch nimmt. Doch kann man sich leicht vorstellen, wie, während der Erzähler sich anderen Gegenständen zuwendet, der König isst, so lange, bis er Willehalm denken lassen kann, nun sei der König aber satt. Erzählzeit und erzählte Zeit fallen hier nicht genau in eins, schmiegen sich aber einander an. Diese (tendenzielle) Synchronisierung von Erzählzeit und erzählter Zeit lässt sich als ‚rhetorische Metalepse‘ beschreiben: Der Erzähler verbleibt zwar auf der extradiegetischen Ebene, aber indem der Eindruck erweckt wird, er erzähle, während der König esse, verlagert die Gleichzeitigkeitsillusion ihn metaphorisch in den Bereich der erzählten Welt.¹² Noch einmal anders liegen die Dinge in einem Fall wie der ‚Rabenschlacht‘, für die Jan-Dirk Müller gezeigt hat, wie hier der Gegenstand des Epos – die Klage – zugleich zu seiner „Vollzugsform“ wird.¹³ Mit sich steigernder Intensität stimmt der Erzähler in die verschiedenen Klagebekundungen der Figuren im Verlauf der Handlung ein und beteiligt sich auf diese Weise emotional am dargestellten Geschehen. Indem Erzählertrauer und Figurentrauer enggeführt werden (z. B. 463,5 f.: Owe, nu riwent si mich sere! / Nu uberwindet ez vr Helche nimmermere, über den Tod der beiden Söhne Helches), tendiert die Erzählung dazu, selbst zu

 Zu den Begriffen siehe den grundlegenden Aufsatz von Günther Müller: Erzählzeit und erzählte Zeit. In: Müller, Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verbindung mit Helga Egner hrsg. von Elena Müller. Tübingen 1968, S. 269 – 286.  Der Begriff ‚rhetorische Metalepse‘ im hier verwendeten Sinne geht auf Marie-Laure Ryan zurück; Monika Fludernik 2003b, S. 383 – 389, hier S. 387, zitiert ihn zur Bezeichnung eines der fünf Typen der Metalepse, die sie im Anschluss an Genette unterscheidet; siehe auch Genette 1998, S. 167– 169, 251 f., sowie Fludernik 2003a, S. 339 – 341.  Jan-Dirk Müller: Heroische Erinnerung – Heroische Präsenz. Die Klage um die Etzelsöhne in der ‚Rabenschlacht‘. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. von Florian Kragl/Christian Schneider. Heidelberg 2013b (Studien zur historischen Poetik 13), S. 227– 242, hier S. 253; siehe auch Müller 2017, S. 390 – 395.

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sein, was sie darstellt: nämlich Äußerung maßloser Klage. Diese Aufhebung der Distanz zwischen der Erzählwelt einerseits und dem Erzähler und seinen Hörern andererseits hat ebenfalls metaleptischen Charakter. Die narrative Metalepse besteht hier darin, dass der Erzähler gewissermaßen auf die Ebene der Diegese hinuntersteigt und in die Klagen der Figuren mit einstimmt. ‚Rolandslied‘, ‚Willehalm‘ und ‚Rabenschlacht‘ sind, aus unterschiedlichen Gründen, extreme Beispiele: Symmetrische Juxtaposition ist in mittelalterlichen Erzähltexten keineswegs das Standardverfahren zur Darstellung von Kampfszenen oder anderen agonalen Interaktionen. Eine mimetische Engführung von Erzählzeit und erzählter Zeit, wie Wolfram sie leistet und wie wir sie sonst eher aus ‚neuerem‘ Erzählen kennen, ist nicht die Regel. Und auch die ‚Rabenschlacht‘ ist mit ihrer performativen Inszenierung der Äußerung von Schmerz ein Sonderbeispiel, das sich mit dem Überspielen der Grenze zwischen Erzähler und Erzählwelt vom höfischen Roman etwa grundlegend unterscheidet. Die Beispiele weisen aber allesamt auf ein grundsätzlich transgressives Potential hin, das mittelalterlichem Erzählen offenbar eignet und das sich auch in viel weiter verbreiteten Phänomenen manifestiert. Zwei solche Phänomene sollen in den folgenden beiden Abschnitten genauer betrachtet werden, und zwar deshalb, weil sie – anders oder stärker als die bisher genannten – aus heutiger Sicht immer wieder zur Wahrnehmung narrativer Inkohärenz führen: zum einen die unscharfe Grenze zwischen Figurenwissen und Erzähler- oder Textwissen;¹⁴ zum anderen, und damit zusammenhängend, die Tendenz zu einer Entgrenzung der erzählten Welt und der in ihr geltenden Kategorien im Hinblick auf den performativen Erzählakt.

7.1 Unscharfe Grenzen: Figuren und Figurenwissen Figuren in mittelalterlichen Erzähltexten stehen in einer Spannung zwischen Schemagebundenheit einerseits und andererseits der Exploration von Figurenkonzeptionen, die es erlauben, ihr Handeln nicht allein aus der Verwirklichung eines oder mehrerer Aktanten zu motivieren, sondern stärker von ihrer Innenwelt her.¹⁵ Erscheint das Handeln der Figuren primär durch die Realisierung elemen-

 Siehe zum Thema ‚Figurenwissen‘ insbesondere den Sammelband von Lilith Jappe/Olav Krämer/Fabian Lampart (Hrsg.): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. Berlin/Boston 2012 (Linguae et Litterae 8).  Zum Begriff der ‚Figur‘, allerdings in mehr systematischer als historischer Perspektive, siehe Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin/New York 2004 (Narratologia 3), der sie als Variante eines anthropomorphen besten Exemplars bestimmt, dessen spezifische Gestaltung von den jeweils geltenden kulturellen Vorstellungen abhängig ist:

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tarer, vom Schema vorgegebener Handlungsprinzipien bestimmt – Aktanten im Sinne Greimas’, wie ‚Opposition‘ oder ‚Hilfe‘, die sich auch zu ‚thematischen Rollen‘ verdichten können (‚Gegner‘, ‚Helfer‘) –, dann lässt sich von einem ‚objektiven‘ Figurenentwurf sprechen;¹⁶ im entgegengesetzten Fall, wenn die Innenweltsicht eine größere Rolle spielt, von einem ‚subjektiv begründeten‘. Dass und wie beide Figurenkonzeptionen auch nebeneinandergestellt werden können, hat Markus Stock am Beispiel des Mittelteils von Hartmanns ‚Erec‘ gezeigt: Während Erecs gemüete unzugänglich bleibt und er stattdessen als handlungsfunktional determinierter Aventiureritter erscheint, fokalisiert die Erzählung von Enites Rede im Ehebett an dominant auf sie und vermittelt dem Rezipienten „eine privilegierte Sicht in ihr Inneres“.¹⁷ Sicherlich kommt in der mittelalterlichen volkssprachigen Epik dem höfischen Roman bei diesen Versuchen der Erkundung eines ‚subjektiven‘ Figurenentwurfs und den Mitteln seiner narrativen Gestaltung eine Vorreiterrolle zu. Heutige Leser neigen dazu, stärker an jener zweiten, ‚subjektiven‘ Konzeption von Figur interessiert zu sein, bei der Figuren nicht mehr oder weniger schematisch modellierte Handlungsträger auf der histoire-Seite von Erzählung sind, sondern auf der discours-Ebene in besonderer Weise gestaltete Entitäten.¹⁸ Demgegenüber ist in der jüngeren Diskussion über eine Historisierung der erzähltheoretischen Kategorie der Figur mit Nachdruck davor gewarnt worden, moderne Anthropologien vorschnell auf mittelalterliche Konzepte von Figur anzuwenden. Das gilt insbesondere für ihre, vielfach unangemessene, Psychologisierung:¹⁹ einerseits, weil Figurenzuschreibungen, die sich wie psychologische Merkmale lesen (z. B. Emotionswörter wie zornec, trûrec), nicht notwendig als

„[D]ie Kategorie ‚Figur‘ [ist] prototypisch organisiert, d. h. wie prototypisch eine Figur ist, läßt sich durch den Bezug auf die Merkmalskombination in einem besten Exemplar bestimmen. Dieses beste Exemplar für die Kategorie der Figur ist wohl eine im Äußeren menschenförmige und im Inneren den jeweiligen kulturellen Konzepten von typisch menschlichen mentalen Zuständen konforme Gestalt“ (S. 239).  Zur Aktantentheorie Algirdas Julien Greimas: Elemente einer narrativen Grammatik. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Blumensath. Köln 1972 (Neue wissenschaftliche Bibliothek 43, Literaturwissenschaften), S. 47– 67.  Stock 2010, S. 200; ebd., S. 189 – 196, auch eine systematisierende Skizze der narratologischen Forschungsgeschichte zur Figur.  Vgl. Stock 2010, S. 191: „signifikant beschriebene und erzählerisch spezifisch ausgestattete Figuren, bei deren Darstellung eine reduktive und allusive Technik zum Tragen kommen muss.“  So hat Jan-Dirk Müller im Vorwort zu seinem Nibelungenbuch die, wie man am Ende der Lektüre weiß, dem Text nicht adäquate Aufsatzfrage, wie eigentlich Kriemhilt zur Unholdin geworden sei, als Ausgangspunkt seiner Untersuchung beschrieben (Müller 1998, S. 1); siehe ebenso den Abschnitt ‚Wider Psychologisierung‘ ebd., S. 201– 203.

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solche gemeint sind, sondern sich regelmäßig als habituell und/oder durch die jeweilige Handlungssituation bestimmt erweisen;²⁰ andererseits, weil wir zumeist nur eine Außensicht auf die Figuren erhalten und explizit psychologische Charakterisierungen fehlen. Dass die Charaktere in vorneuzeitlichen Erzählungen nur sehr bedingt auf Psychologisierung angelegt sind, ist dabei an sich kein neuer Befund. Lugowski bestritt Anfang der 1930er-Jahre die Existenz psychologischer Motivation, wie der Leser sie im modernen Roman erwartet, für den frühen Roman gerade mit dem Argument, dass sie Einzelmenschlichkeit – die „Individualeinheit einer Figur“ – voraussetze, die es so noch nicht gegeben habe.²¹ Ebenso betonte Vladimir Propp für vormoderne Folklore-Erzählungen die handlungsfunktionale Gebundenheit der Figuren, dergestalt, „daß die Gefühle und Absichten der handelnden Personen sich in keinem Fall auf den Gang der Handlung auswirken.“²² Der Handlungsverlauf wird vielmehr durch schema- bzw. plotbedingte Strukturen bestimmt, und diese determinieren auch die Handlungen der Figuren, ohne dass sie eine individuelle Figurenpsychologie entstehen ließen. Abgeschwächt, so Harald Haferland, treffe dies auch für mittelalterliche Erzählungen zu.²³ Andererseits gilt: „Es gibt keine Figuren ohne Psychologie“,²⁴ und ebenso wenig kommt irgendeine Interpretation ohne ein Minimum an Psychologisierung aus. Dabei muss nicht alles, was die Interpretation sich zur Grundlage macht, im Text stehen. Jede Erzählung weist Ungesagtes und Lücken auf, die der Rezipient durch Vor- oder Weltwissen, Lesehypothesen und Inferenzen im Sinne „kombinierende[r] Schlussfolgerungen“ ergänzen muss.²⁵ Historisch adäquat wird die Interpretation aber nur dann sein, wenn sie den Code berücksichtigt, der für die Zuteilung von Psychologie an eine Figur jeweils anzusetzen ist, und dieser ist nicht nur historisch, sondern auch in Abhängigkeit von Vorgaben der Erzählweise, der Gattung oder des pragmatischen Kontextes einer Erzählung zu spezifizieren. Heutigen Lesern fällt in diesem Zusammenhang freilich auf, dass die Figuren mittelalterlicher Erzähltexte sich einer ‚individualeinheitlichen‘ Interpretation, einschließlich einer Zuteilung von Psychologie, sei sie noch so rudimentär oder konventionell, auch dadurch entziehen, dass sie immer wieder als Größen mit unscharfen Rändern erscheinen. Sie lassen sich nicht nur selten ins Innere blicken, wie Erec, von dem die Erzählerstimme sagt, da, an seinem Hof, sei

     

Dazu am Beispiel des ‚Nibelungenlieds‘ Müller 1998, S. 201– 248. Siehe Lugowski 1970, S. 67. Propp 1975, S. 78. Haferland 2013a, S. 113. Haferland 2013a, S. 103. Haferland 2013a, S. 109.

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niemand gewesen, der sich des mohte verstân / wie sîn gemüete was getân (V. 3078 f.).²⁶ Weder solche verweigerte Innensicht noch ihre schematische Modelliertheit ließe die Figuren, für sich genommen, inkonsistent erscheinen. Was aber zum Eindruck der Inkohärenz führt, sind mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftretende Unstimmigkeiten im Hinblick auf die Informations- und Wissenszuteilung im Verhältnis einer Figur zu weiteren Instanzen der Erzählung: anderen Figuren, dem Erzähler, dem (impliziten) Rezipienten, der Erzählung als Ganzer. Gemäß der im ersten Kapitel vorgenommenen Typisierung machen sie sich vornehmlich als perspektivische Inkohärenzen bemerkbar: als Fälle also, in denen eine Figur auf der Ebene der Diegese auf Erzähleräußerungen reagiert oder auf ein Wissen Bezug zu nehmen scheint, über das zwar der Erzähler, der (implizite) Rezipient oder eine andere Figur, nicht eigentlich aber sie selbst verfügen kann. Auffällig ist auch, dass solche perspektivischen Inkohärenzen, wenn auch mit graduellen Unterschieden, gattungsübergreifend auftreten. In erzählsystematischer Hinsicht sind sie abzuheben von Fragen der Perspektivierung, des point of view oder der Fokalisierung. Sie sind weitgehend unabhängig davon, wie die Darstellung der Geschichte beeinflusst ist von der Position, der Persönlichkeit und den Werten des Erzählers, der Figuren und möglicherweise weiterer hypothetischer Entitäten in der erzählten Welt.²⁷ Auch als Fokalisierungseffekte lassen sie sich kaum beschreiben, zumindest dann nicht, wenn man unter ‚Fokalisierung‘ die Auswahl oder Beschränkung von narrativer Information in Bezug auf die Erfahrungen und das Wissen des Erzählers, der Figuren oder anderer, wieder mehr hypothetischer Entitäten versteht, in der Absicht, das Geschehen aus einer bestimmten Sicht – von Genette in die schlichte Frage ‚Wer sieht?‘ gefasst – darzustellen.²⁸ Perspektivische Inkohärenzen schließen Fokalisierungs- oder Perspektivierungseffekte nicht grundsätzlich aus: Dass eine Figur etwas weiß, was sie eigentlich nicht wissen kann, bedeutet nicht, dass die Darstellung der erzählten Welt sich nicht trotzdem an ihrer Wahrnehmung orientieren könnte (die Figur verfügte dann lediglich über einen transpersonal erweiterten Wahrnehmungshorizont); sie tragen umgekehrt zu solchen Effekten aber auch nicht bei, weil sie an sich gerade dadurch gekenn-

 Zitiert nach Hartmann von Aue: Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente. Hrsg. von Albert Leitzmann. Fortgef. von Ludwig Wolff. 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner. Tübingen 2006 (ATB 39).  Zu einer solchen Bestimmung der Begriffe ‚Perspektive‘ und point of view Niederhoff 2014b, S. 692.  Vgl. Niederhoff 2014a, S. 197; Genette 1998, S. 132; für das mittelalterliche Heldenepos und den höfischen Roman Schulz 2012, S. 367– 378.

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zeichnet sind, dass Informationsfilter aufgehoben werden.²⁹ Um Techniken der Fokalisierung und Perspektivierung wird es daher im Folgenden ebenso wenig gehen wie um die Stellung der Figuren in oder ihre Funktion für die Handlung. Es geht mir vielmehr darum, anhand von Phänomenen einer inkohärenten Informations- und Wissenszuteilung die Rahmenbedingungen zu präzisieren, die bei Inferenzen auf die Figuren mittelalterlicher Erzähltexte zu berücksichtigen sind, weil sie (mutmaßlich) bereits von historischen Rezipienten berücksichtigt wurden. Dass die Figuren in der mittelalterlichen Epik häufig mehr wissen, als sie nach Maßgabe der Erzählung eigentlich wissen können, hat schon die ältere Forschung, und nicht selten ungut, vermerkt. Exemplarisch sei Friedrich Panzers Studie zum ‚Kudrun‘-Epos von 1901 zitiert, in der Panzer im Kontext einer umfangreichen Auflistung der Widersprüche des Epos notiert: Mehrfach setzt der Dichter bei seinen Personen Kenntnis von Dingen voraus, die zwar er und seine Leser oder Hörer, unmöglich aber jene Personen wissen können. Hetel theilt 241 Waten seinen Entschluss mit, um Gudrun zu werben. Es mag noch hingehen, wenn Wate †242.3 sogleich erräth, dass Frute auf ihn verwiesen hat (†230); er kann schliesslich persönliche Gründe zu diesem Verdachte haben. Unmöglich aber kann er †243.2 wissen, dass Horand und Frute Hildes Schönheit gerühmt haben.³⁰

Panzers Bemerkung ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie einerseits Lücken durch die Zuteilung von Psychologie versuchsweise aufgefüllt werden (Wate hat möglicherweise „persönliche Gründe“ für seinen Verdacht), dieses Verfahren aber andererseits bei Folgewidersprüchen schnell an seine Grenzen gerät. Woraus sich entweder folgern lässt, der Epiker sei ein schlechter Dichter gewesen, oder, dass diese Art der Inferenz dem Text nicht angemessen ist. Gegen Ersteres spricht freilich die Häufigkeit, mit der nicht nur in der ‚Kudrun‘, sondern in mittelalterlichen Epen überhaupt solche Widersprüche auftreten. Dabei lassen sich drei Fälle unterscheiden. Erstens: Figuren wissen Dinge, die sie eigentlich nicht wissen können, weil es ihren Wahrnehmungshorizont in der erzählten Welt überschreitet; oder anders gesagt: Sie beziehen sich auf Handlungen, Ereignisse oder Sachverhalte, denen sie nicht beigewohnt haben und von denen der Erzähler weder mitgeteilt hat noch plausibel geschlussfolgert werden kann, dass sie anderweitig in ihre Kenntnis gelangt sind. Ein erstes Beispiel dafür, aus dem ‚König Rother‘, wurde bereits in  Aus mediävistischer Sicht dazu vor allem Hübner 2003 und 2004; zu Fokalisierung als Filterung narrativer Information siehe Seymour Chatman: Characters and Narrators. Filter, Center, Slant, and Interest-Focus. In: Poetics Today 7 (1986), S. 189 – 204.  Panzer 1901, S. 116.

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der Einleitung angeführt. Als die Königinmutter ihre Tochter Rother offiziell zur Frau gibt, sagt sie zu Berchter: din zucht is hute wole scin, sit der koninc Constantin mit deme live intgat, so vile he dir leydes getan hat! (V. 4703 – 4706) Deine höfische Art zeigt sich heute sehr deutlich, / da König Konstantin / mit dem Leben davonkommt, / obwohl er dir so viel Leid angetan hat!

Sie rekurriert damit auf Berchters in den Versen 4459 – 4481 erzählten Rat an Rother, Konstantins Leben zu schonen. Davon dürfte die Königin freilich eigentlich nichts wissen, weder von dem Rat noch, dass Berchter ihn gab. Man fragt sich also, wie sie darauf Bezug nehmen kann, wenn sie jetzt Berchters höfische Vorbildlichkeit lobt. An einer anderen Stelle, ebenfalls im ‚Rother‘-Epos, ist es in der finalen Auseinandersetzung mit Konstantins Verbündeten Lupold, der in bedrängter Lage das verabredete Hornzeichen gibt und damit Asprian und das Gefolge Rothers zu Hilfe ruft: lude rief Asprian: „min here ist, weiz got, bestan! wol uf, helet Wolfrat, ich wene, dinen neven not bestat! nu will ich Rotheres gedagin, inde wirt Luppolt irslagin, he mochte uns imer rowin! he ist gruntveste allir trowe!“ (V. 4199 – 4206) Laut rief Asprian: / „Weiß Gott, mein Herr wird angegriffen! / Auf jetzt, Held Wolfrat, / ich glaube, dein Verwandter ist in Gefahr! / Von Rother will ich jetzt gar nicht reden, / aber wenn Lupold getötet wird, / werden wir seinen Verlust immer beklagen! / Er ist das Fundament aller Treue!“

Die Verse 4203 – 4206, in denen Asprian Lupold den Vorzug vor Rother zu geben scheint, legen nahe, dass er weiß, dass das Hornzeichen von Lupold kommt (zumindest ist sonst nicht ersichtlich, warum er Lupolds hier so eindringlich gedenken sollte). Das aber kann er eigentlich nicht wissen. Nicht nur lagert das Gefolge zu weit entfernt, im Wald; ebenso ist an der Referenzstelle, V. 3680 – 3687, davon die Rede, dass Wolfrat sein Horn Rother (nicht Lupold) gibt, und darauf bezieht Asprian sich an dieser Stelle auch, wenn er zu Rother sagt: verneme wir

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din [!] horn, / so ist die veste [Konstantinopel, C. S.] verlorn (V. 3686 f.). Zu erwarten wäre daher, dass Asprian annimmt, Rother habe das Hornsignal gegeben.³¹ Auch der ‚Herzog Ernst B‘ bietet mehrere Beispiele für diese Art der perspektivischen Inkohärenz. Von ihrem ersten Besuch Grippias zu ihrem Schiff zurückgekehrt, beschließen Ernst und Wetzel bald, noch einmal in die wie verwaist daliegende Stadt der Kranichschnäbler zurückzukehren. Wetzel ersucht Ernst, die Gefährten zu bitten, sich zur Hilfe bereitzuhalten, falls sie in der Stadt angegriffen würden (V. 2496 – 2509). Erzählt wird das als Zwiegespräch zwischen Ernst und Wetzel; aber der betreffende Abschnitt endet: dô gelobeten in die helde daz: sie hulfen in von der nôt oder sie gelægen bî in tôt. (V. 2528 – 2530) Da gelobten ihnen die Helden, / dass sie ihnen entweder aus der Gefahr helfen / oder mit ihnen sterben wollten.

Der dô-Konnektor suggeriert hier ein Verhältnis des post hoc, ergo propter hoc: Auf das Gespräch zwischen Ernst und Wetzel hin versprechen ihnen die Gefährten, ihnen im Kampf zu helfen. Eine entsprechende Aufforderung an die Ritter ist aber gar nicht ergangen; sie reagieren auf eine Unterhaltung, bei der sie nicht anwesend waren. Dass Ernsts und Wetzels Zwiegespräch auf so relativ kleinem Raum wie einem Schiff schon allen vernehmbar gewesen sein dürfte, wäre dabei zu mimetisch-realistisch gedacht. Die Ritter scheinen vielmehr Zugang zu einem Wissen der Erzählung zu haben, quasi über den Umweg jenes Narrationsaktes, dessen Gegenstand die Wiedergabe des Gesprächs zwischen Ernst und Wetzel in direkter Rede ist. Ganz ähnlich in V. 5111– 5154: Nach Hause zurückgekehrt, berichtet der Bote der Giganten von Canaan, die sich das Volk der Arimaspen tributpflichtig machen wollen, seinem König, „ein kleines Menschlein“ (ein wênegez mennelîn, V. 5133) – gemeint ist Herzog Ernst – habe den König von Arimaspi zum Widerstand gegen die Giganten ermutigt. Dass Ernst im Rat des Arimaspenkönigs eine Rede gehalten hat, dass, so der Bote, er mutiger nicht habe sprechen können, und, „bevor er sich aus dem Rat verabschiedete“ (ê daz er von dem râte schiet), dem Arimaspenkönig abgeraten habe, dem König von Canaan Gehorsam zu leisten (V. 5139 – 5141), müsste sich dem Wissen des Boten freilich erneut entziehen: Er war bei der Beratung gar nicht anwesend; ausdrücklich wird V. 5090, am Ende der Beratung, gesagt, der König von Arimaspi habe nach dem Boten der Giganten senden lassen.  Kiening 1998, S. 230, sieht diese Umbesetzung im Zusammenhang mit einer Stilisierung Rothers zum rex iustus, „der die Ausübung von Gewalt anderen überläßt.“

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Man könnte in diesen Fällen von einer perzeptorischen Überschreitung sprechen: Figuren haben ein Wissen, dass sie wahrnehmungslogisch nicht haben können.³² Solche Überschreitungen stellen den Sonderfall einer zweiten Form der Transgression dar, bei der Figuren nicht von etwas wissen, das ihren kognitiven Horizont überschreitet (weil sie bei dem betreffenden Geschehen nicht zugegen waren), sondern wo sie ein Wissen beweisen, welches der Erzählung als solcher angehört, das also tatsächlich nur über die Gestaltung des discours verfügbar ist. Auch dafür bietet die Fassung B des ‚Herzog Ernst‘-Epos ein Beispiel: Königin Adelheid lässt ihrem Sohn durch einen Boten sagen, in hete der phalzgrâve verlogen wider den künic sô grôzlîche, daz im wærlîche [] nieman kunde gewegen. (V. 1026 – 1029) Der Pfalzgraf habe ihn / beim König so sehr verleumdet, / dass ihm wahrhaftig / niemand helfen könne.

Das aber deckt sich nicht mit dem, was ihr der Kaiser auf ihre Bitte hin, Ernst Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben, geantwortet hatte. Von den lügenlîchen mære (V. 799), die der Pfalzgraf dem Kaiser über Ernst vorgetragen hat, ist darin nicht die Rede. Otto verweigert seiner Gemahlin die Bitte lediglich mit der Begründung, Ernst habe ihn so sehr beleidigt, dass dieser niemals mehr vor sein Angesicht kommen dürfe (V. 997– 1014). Dem entspricht, dass der Pfalzgraf in der Verleumdungsszene dem Kaiser aufgetragen hatte, der Königin und allen seinen Gefolgsleuten zu „verschweigen“ (heln), was er ihm gesagt habe (V. 820 – 822), und das tut der Kaiser auch.³³ Dass der Pfalzgraf Ernst „verleumdet“ (verlogen) habe, ist eine Erzählerwertung, die Adelheid sich, zusammen mit dem dieser Wertung zugrunde liegenden Handlungswissen, an dieser Stelle offenbar zu eigen machen kann. Im ‚König Rother‘ sind solche perspektivischen Inkohärenzen besonders häufig. Als Rother unter dem Namen Thiederich in Konstantinopel gelandet ist und die Königin unter Dietrichs Gefolge den an einer Kette geführten Riesen Witold erblickt, der die Stadtbewohner in Angst und Schrecken versetzt, lässt der Erzähler sie zu Konstantin sagen:

 Vgl. dazu auch Kap. 6.3, S. 294– 298. Der Unterschied zu der dort erörterten Stelle aus der Grippia-Episode des ‚Herzog Ernst‘ besteht darin, dass perzeptorische Transgressionen nicht notwendig an das Erzählen von Raumwahrnehmung gebunden sind.  Der künic volgete drâte / des phalzgrâven râte / und tet nâch sîner lêre (V. 853 – 855).

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sich nu, herre Constantin, hi voren sie den meister din in einer ketenen zwaren! owi, we tump wer do waren, daz wer unse tochter virsageten Rothere der dise virtreif uber mere. (V. 1062– 1067) Nun sieh, Herr Konstantin, / hier führen sie einen, der dir über ist, / doch wahrhaftig an einer Kette! / Ach, wie töricht waren wir damals, / als wir Rother unsere Tochter verweigerten, / der diese über das Meer vertrieben hat.

Der Zusammenhang, den die Königin zwischen dem Auftritt des Riesen und der Absage an Rother herstellt (owi, we tump wer do waren, V. 1065), lässt sich allein von der Handlungsebene her nicht begründen. Er ergäbe erst Sinn, wenn man annähme, die Königin wüsste, dass Dietrich/Rother ein und dieselbe Person sind – was sie nach Lage der Dinge in der erzählten Welt aber nicht wissen kann. Dasselbe gilt für die kurz darauffolgende Szene, in der Asprian den Löwen Konstantins tötet, indem er ihn gegen die Saalwand schleudert. Die Königin, so heißt es, freut sich über den zorn (V. 1172), den das hervorruft: sie lachete Constantine an. „nu warte“, sprach sie, „wie genir hoveman din vedirspil irzogen hat, der da vor deme dische stat! iz kumet noch an die ride min: ia ne hettes du die tochter din nicht vorloren an Rothere der diese vertreif over mere, owi, we gerne ich noch riete, daz men die boten liete ritin hin zo lande […].“ (V. 1174– 1184) Sie lachte Konstantin an. / „Schau doch“, sagte sie, „wie jener Höfling, / der da vor der Tafel steht, / dein Jagdvögelchen gezähmt hat! / Es kommt noch so, wie ich gesagt habe: / Hättest du Rother deine Tochter / nicht verweigert, / der diese über das Meer vertrieben hat, / ach, wie gerne noch gäbe ich dir den Rat, / die Boten / heimkehren zu lassen […].“

Auch hier würde die Konsistenz der Figurenperspektive auf der Handlungsebene erfordern, dass die Königin einen kausalen Zusammenhang zwischen den Gästen an Konstantins Hof und der Brautverweigerung nicht herstellen kann. Sie kann wissen, dass Rother die Gäste (vermeintlich) vertrieben hat, denn mit dieser Begründung haben sie um Aufnahme am Hof von Konstantinopel gebeten (vgl. V. 918 – 940), aber nicht, dass sie in irgendeiner Weise mit der verweigerten Hand der Königstochter zu tun haben. Selbstverständlich spielt die Stelle mit dem Wissen um die doppelte Identität der Rother/Dietrich-Figur – und dass sie es auf

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der Handlungsebene tut, macht ihren literarästhetischen Reiz aus. Gleichwohl handelt es sich dabei um ein Wissen, das der Erzähler und der (implizite) Rezipient haben, aber nicht eigentlich die Figur. Indem die Figur darüber verfügt, überschreitet sie die Grenze dessen, was ihr auf der histoire-Ebene an Wissen zugeteilt ist. Im ‚Rolandslied‘ folgt auf die Szene, in der Roland sein Horn Olifant bläst und damit Karl und dem Hauptheer der Franken signalisiert, dass die in Spanien zurückgebliebene kaiserliche Nachhut sich in Not befindet, die Darstellung eines Gesprächs zwischen Karl und Genelun. Genelun versucht den Kaiser davon abzubringen, das Hornzeichen ernst zu nehmen und umzukehren (V. 6079 – 6089). Worauf der Kaiser erwidert, allein durch Geneluns Schuld werde Frankreich auf immer weinen müssen: von dir ainem muoz Karlingen iemer wainen. durch den urmæren hort sô hâstu gefrumt disen mort, den dir Marsilie gap. (V. 6094– 6098) Allein durch deine Schuld / wird Frankreich auf immer weinen müssen. / Um des übermäßig großen Schatzes willen, / den Marsilie dir gab, / hast du dieses Morden ins Werk gesetzt.

In der Tat hat Genelun für seinen Vertrag mit Marsilie von diesem zahlreiche Geschenke erhalten (V. 2490 – 2513), worauf Karl mit dem Ausdruck von dem urmæren hort Bezug nimmt. Doch dürfte Karl nach Maßgabe dessen, was der Text bis hierher erzählt hat, weder von dem Vertrag noch von Marsilies Geschenken noch auch, strenggenommen, davon wissen, dass hier ein mort begangen wurde.³⁴ Hier wird keine scharfe Grenze gezogen zwischen dem, was der Erzähler und das Publikum wissen, und dem, was die einzelnen Figuren wissen (können). Ich schließe noch einige Belege aus Eilharts ‚Tristrant‘ an, die zeigen, dass dieses Phänomen auch in einem schon im engeren Sinne (früh‐)höfisch-romanhaften Erzählen nicht selten ist.Weil Brangene von dem Betrug an Marke weiß (sie hat ja in ‚Vertretung‘ Isaldes mit dem König das Bett geteilt),³⁵ verfällt Isalde – in

 Möglicherweise deshalb übersetzt Kartschoke das Substantiv mort mit „Frevel“ (S. 419), die ‚geflissentliche, treulose Tötung‘ oder ‚Niedermetzelung in großem Umfang‘, die mort an dieser Stelle eigentlich bedeutet (vgl. Lexer 1872– 1878, Bd. 1, Sp. 2204), etwas im Ungefähren lassend.  Zu dieser Figurendoppelung bei Eilhart Christiane Witthöft: Vertreten, Ersetzen, Vertauschen. Phänomene der Stellvertretung und der Substitution im ‚Prosalancelot‘. Berlin/Boston 2016 (Hermaea, N. F. 141), S. 198 – 200.

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der erzählten Zeit ist inzwischen über ein Jahr vergangen – auf den Gedanken, Brangene töten zu lassen (V. 2852 f., 2863 – 2867). Sie bedient sich dazu einer List und bittet Brangene, ihr von der Quelle im Baumgarten Wasser zu holen.³⁶ Dort warten zwei Ritter auf sie, die Isalde bestochen hat. Als diese Brangene verkünden, sie müsse nun sterben (frauwe, ir mogit nicht genesin,V. 2905), weiß Brangene sofort, dass Isalde es ist, die den Mord in Auftrag gegeben hat: ich entgelde myner großin truwe: / min vrauwe heißet mich irslan (V. 2912 f.). Wie sie das wissen kann, bleibt ungesagt, und diese Lücke in der Erzählung sollte wohl auch nicht durch psychologisierende Annahmen gefüllt werden: etwa in der Weise, dass Brangene in Sekundenschnelle für sich Revue passieren ließe, wem gegenüber sie sich vermeintlich schuldig gemacht haben könnte. In der sogenannten Mehlstreuszene scheint der Zwerg Aquitain, als er dem König seinen Plan, der Tristrant des Ehebruchs überführen soll, erklärt, die Wirkweise des Minnetranks genau zu kennen: he [Tristrant, C. S.] sulle syben nach [sic!] usse sin. sege he denne nicht die vrawen sin in desir nacht vor dem tage, so heiset mir myn houbt slan abe. (V. 3841– 3844) Er vermag sieben Nächte fort zu sein. / Wenn er seine Herrin / nicht heute Nacht noch vor Tagesanbruch aufsucht, / dann lasst mir das Haupt abschlagen.

Aquitains Gewissheit, dass sein Plan binnen sieben Tagen auf- und Tristrant in die Falle gehen werde, bezieht sich auf die Erläuterung des Liebestranks durch den Erzähler in den Versen 2279 – 2300 (Der trang der waz so getan […]): Wenn die Liebenden länger als eine Woche nicht miteinander sprechen können, so müssen sie sterben. Die Figur rekurriert hier auf eine extradiegetische Informationseinheit, ohne dass auf Handlungsebene wahrscheinlich gemacht werden müsste, wie sie in den Besitz dieses Wissens kommen kann.³⁷ In all diesen Fällen wird Figuren Wissen nicht nach handlungsrealistischen Gesichtspunkten, also nach den für die erzählte Welt und innerhalb ihrer gel-

 V. 2895 f. nach Hs. D. In Hs. H wird dies in vier Zusatzversen (V. 2891– 2894) damit begründet, dass Isalde unwohl sei; vgl. die synoptische Gegenüberstellung der beiden Handschriften in der Edition von Buschinger.  Dass die hier zitierte Hs. D gegenüber H ausgerechnet die Verse 2295 – 2297 (gemäß der Zählung in Eilhart von Oberg: Tristrant. Hrsg.von Franz Lichtenstein. Straßburg/London 1877 [QF 19]), die die Siebentageklausel enthalten, nicht hat, macht die Sache noch interessanter. Vom erhaltenen Textbestand her müsste man für diese Überlieferung sagen, dass der Zwerg nicht einmal auf ein Wissen der Erzählung, sondern auf außertextuelles, in der Stofftradition begründetes Wissen Bezug nimmt.

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tenden Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit zugeteilt, sondern es handelt sich um Informationen, die den Figuren in Überschreitung der diegetischen Ebene, im Zugriff auf Diskurs- bzw. Textwissen verfügbar sind. Insofern lässt sich hier von einer diegetischen Überschreitung des Figurenhorizonts sprechen. Sie ist das genaue Gegenteil von Bedingungen der Wissenskonstitution, wie sie etwa für die Figuren in einem Text wie dem ‚Cligès‘ Chrétiens de Troyes gelten. Dort wird von einem goldenen Haar erzählt, das Soredamors in ein seidenes Hemd eingestickt hat, welches die Königin Alexander zu seiner Ritterweihe zukommen lässt. Aber Alexander, der kurz darauf mit König Artus in dessen Krieg gegen einen Verräter ziehen wird, weiß nichts von dem Haar: He, Des! con grant joie an eüst Alixandres, se il seüst, Que la reïne li anvoie! Mout an reüst cele grant joie, Qui son chevol i avoit mis, S’ele seüst que ses amis La deüst avoir ne porter. Mout s’an poïst reconforter; Car ele n’amast mie tant De ses chevos le remenant Con celui qu’Alixandres ot. Mes cil ne cele ne le sot: C’est granz enuis, quant il nel sevent. (V. 1171– 1183)³⁸ Oh Gott! Wie sehr hätte / Alexander sich gefreut, wenn er gewusst hätte, / was die Königin ihm schickt! / Und auch die hätte sich sehr gefreut, / die ihr Haar dort eingenäht hatte, / wenn sie gewusst hätte, dass ihr Freund / es erhalten und tragen würde. / Großen Trost hätte sie dadurch finden können, / denn ihr war das Haar, / das sie selbst hatte, nicht so lieb / wie das, welches Alexander von ihr besaß. / Aber weder er noch sie weiß es. / Es ist sehr schade, dass sie es nicht wissen.

Durch das Haar Soredamors wird das weiße Seidenhemd symbolisch aufgeladen und zu einem Liebespfand, das Alexander bei seinen Waffentaten in Artus’ Krieg begleiten wird; und indem der Erzähler erklärt, wie die beiden davon nichts wissen, wird einerseits die Intensität ihrer Zuneigung betont und andererseits, durch die exclamatio (He, Des! con grant joie an eüst / Alixandres, se il seüst […]!), die Differenz zwischen dem wechselseitigen Unwissen der Liebenden und dem

 Text nach der Ausgabe: Chrétien de Troyes: Cligès. Auf der Grundlage des Textes von Wendelin Foerster übers. und komm. von Ingrid Kasten. Berlin/New York 2006; die Übersetzung ebd., S. 85.

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Wissen der Rezipienten darüber ironisch-augenzwinkernd hervorgehoben.³⁹ In diesem Sinne ist Soredamors’ und Alexanders Nichtwissen nicht unerheblich, sondern hat eine narrative Funktion und einen semantischen Wert. Wie in den mittelhochdeutschen Beispielen auch, wissen die Figuren nichts, was sie, im Sinne der Geschichte, nicht wissen dürfen, aber alles, was sie wissen sollen. Was sie allerdings seitens der Erzählung wissen sollen, wird bei Chrétien genau nach kausalen Regeln der Wahrscheinlichkeit zugeteilt, die innerhalb der dargestellten Welt gelten, nicht durch diegetische Transgression. Wenn Alexander in V. 1611– 1645 schließlich von dem Haar in dem Hemd erfährt und es in seiner Sicht den quasireligiösen Charakter einer Reliquie erlangt, dann dadurch, dass Soredamors selbst es ihm sagt. Ein dritter Fall der Überschreitung dessen, was Figuren gemäß den sonst in der erzählten Welt geltenden Maßstäben zu wissen möglich ist, liegt dann vor, wenn Figuren auf ein Wissen um die finale Logik der Erzählung rekurrieren. Auch hier handelt es sich um Fälle diegetischer Transgression von Figurenwissen, und sie sind von dieser nicht immer eindeutig zu unterscheiden; doch liegt, wie die folgenden Beispiele zeigen, der Akzent etwas anders. Ebenfalls im ‚Tristrant‘ Eilharts von Oberg haben der Protagonist und hundert von Markes Rittern sich in einem Schiff aufgemacht, für den König die Frau zu jenem Haar zu finden, das zwei Schwalben auf dem Estrich des Saales seiner Burg verloren haben (V. 1434– 1434c in Hs. H). Da Tristrant Morolt, den Schwager des irischen Königs, im Zweikampf getötet hat, befiehlt er seinen Leuten, auf keinen Fall Irland anzulaufen. Als dann ein Sturm das Schiff an die Küste Irlands wirft und der irische König von dem Schiff erfährt, will er der Besatzung sofort die Köpfe abschlagen lassen (V. 1519 – 1524). Damit wird ein Befehl aktualisiert, den er bei Morolts Begräbnis erteilt hatte: der koning gebot do obir al und wart in dem lande ein groß schal, […] wer von Kurnevaleß queme, daß man im daz lebin neme. (V. 988 – 992)

 Siehe Ingrid Kasten: Kommentar. In: Chrétien de Troyes, Cligès. Auf der Grundlage des Textes von Wendelin Foerster übers. und komm. von Ingrid Kasten. Berlin/New York 2006, S. 371– 422, hier S. 388, zur Stelle sowie Rita Boemke: Alexanders Ritterweihe vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Literatur. Ein antiker Stoff und seine literarische Aktualisierung. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hrsg. von Jan Cölln/Susanne Friede/Hartmut Wulfram. Göttingen 2000 (Veröffentlichung aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 529 ‚Internationalität nationaler Literaturen‘, Serie A, Literatur und Kulturräume im Mittelalter 1), S. 46 – 81, hier S. 76 – 78.

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Der König ließ überall Befehl erteilen, / und im ganzen Land wurde es verkündet, / […] dass man jeden töten solle, / der aus Cornwall ankomme.

Der König weiß also V. 1519 – 1524 nicht nur, was eigentlich nur der Erzähler und das Publikum wissen können: dass nämlich das Schiff aus Cornwall kommt; sein Wissen erscheint zudem begründet im Hinblick auf das finale Erzählanliegen. Dieses sieht vor, dass Tristrant als Brautwerber nach Irland kommt, und schemagemäß wird daher mit dem Tötungsbefehl zugleich das Motiv des gefährlichen Brautvaters eingespielt. Final-teleologisch bedingt ist das Wissen der Figuren auch an den folgenden Stellen aus dem ‚König Rother‘. Als Rothers Boten an Konstantins Hof ankommen, fordert die Königin Konstantin auf, sie ehrenvoll zu empfangen: mich dunket got, herre, daz wir dese boden heren. sie ne sint der antworte nicht gewone, die du thos manigen boten vore. (V. 260 – 263) Ich hielte es für gut, Herr, / wenn wir diesen Boten Ehre erwiesen. / Sie sind es nicht gewohnt, die Art der Antwort zu erhalten, / die du sonst so vielen Brautwerbern gegeben hast.

Die Stelle wirkt nicht weiter auffällig. Doch wird man strenggenommen sagen müssen, dass die Königin eigentlich noch nicht wissen kann, dass es sich bei den Gästen, die ihr Anliegen noch gar nicht vorgebracht haben, um Brautwerber handelt (denen eine bessere Behandlung als früheren angemessen sei). Wenn die Königin bereits von einer antworte spricht – nämlich auf das Werbungsanliegen –, dann interferiert Figurenwissen mit Schemawissen: Was die Königin weiß, weiß sie nicht aufgrund dessen, was auf Handlungsebene über die Boten erzählt worden wäre, sondern sozusagen durch das Erzählmuster. Als die Boten – die Konstantin als Antwort auf ihre Werbung gefangen gesetzt hat – auch nach Ablauf eines Jahres noch nicht zurückgekehrt sind, trauert Rother (Rother uf eime steine saz / – we trurich ime sin herze was!, V. 448 f.). Seinen Vasallen Berchter bittet er um Rat: du salt mir ratin, Berter, we wir kumen ober mer zu Constonopole in de stat. his, daz des got gestadet hat, daz der kuninc Constantin gehoubetit hat der boten min, so ne willich nimmer mere beliven an romesker erden

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er iz ime an den lib gat. owi, we troric her mich gemachit hat! (V. 462– 471) Du musst mir raten, Berchter, / wie wir übers Meer / zu der Stadt Konstantinopel gelangen. / Wenn es so ist, dass Gott zugelassen hat, / dass König Konstantin / einen meiner Boten enthaupten ließ, / dann will ich so lange nicht / römischen Boden betreten, / bis es ihm ans Leben geht. / Ach, wie traurig Konstantin mich gemacht hat!

Die Stelle ist auch deshalb bemerkenswert, weil hier die motivationale Inkohärenz, die aus der Überlagerung von kausal-handlungsbedingtem und final-schemabedingtem Figurenwissen entstehen kann, in den Figurenreden gespiegelt wird. Woher will Rother schon wissen, dass Konstantin für das Ausbleiben der Boten verantwortlich ist? Was die Verse 465 – 470 noch als Konditionalsatz formulieren (his, daz des got gestadet hat), scheint mit der exclamatio von V. 471 (owi, we troric her mich gemachit hat!) zu einer Gewissheit geworden zu sein, die Rother nach Maßgabe des ihm auf der Handlungsebene zugänglichen Wissens nicht haben kann. In gewissem Widerspruch dazu formuliert Rother genau diese Ungewissheit in seiner Antwort auf den Rat Berchters, mit einem großen Heer nach Griechenland zu ziehen: warumbe solde wir mit so manigime kumen hin zo Creichen, wie ne wisten werliche, ob se waren gehoubitod? (V. 514– 517) Warum sollten wir mit so vielen / nach Griechenland ziehen, / wenn wir doch noch gar nicht sicher wissen, / ob sie enthauptet worden sind?

Der Einbau der konditionalen Wendung – wie ne wisten werliche, / ob se waren gehoubitod – könnte Ausdruck eines verfasserseitigen Bemühens sein, handlungsrealistisches und extradiegetisch angereichertes Figurenwissen in einen Ausgleich zu bringen. Doch muss man dabei berücksichtigen, dass auch hier das handlungsrealistische Argument unter finalem Vorzeichen steht: Es soll begründen, warum Rother mit kleinerem Gefolge, in reckewis (V. 560) und unter falschem Namen nach Konstantinopel wird aufbrechen wollen. Ebenso in der Szene, in der Rother bei seinem zweiten Aufenthalt an Konstantins Hof der jungen Königin seine Anwesenheit zu erkennen gibt: Unter Konstantins Tisch sich verbergend, drückt er ihr einen goldenen Ring in die Hand, in den sein Name eingraviert ist. Als sie ihn entziffert hat, lacht sie, und zu diesem Lachen bemerkt Ymelot: ich wene, uns uwer lachin herzeleit icht mache

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unde wringinde die hende, swanne iz nimit ende. wir hotin unsich wole! hie sint in deme sale der leidin spehere des kuningis von Bare! swer mir des nine gelouvet, deme gevich min houbit! (V. 3896 – 3905) Ich fürchte, dass uns euer Lachen / noch einigen Kummer / und Händewringen verursachen wird, / wann immer es ein Ende nimmt. / Wir sollten besser auf der Hut sein! / Hier im Saal sind / einige der leidigen Kundschafter / des Königs von Bari! / Wer mir das nicht glaubt, / dem lass ich mein Haupt!

Wie kann der König von Babylon, mit dessen Sohn die Tochter Konstantins vermählt werden soll, infolge ihres Lachens wissen, dass Kundschafter Rothers im Saal sind? Die Beteuerungsformel V. 3904 f. (swer mir des nine gelouvet, / deme gevich min houbit!) bringt mit ihrem exorbitanten Einsatz – Ymelots Haupt – einerseits vollkommene Gewissheit, andererseits die Unwahrscheinlichkeit des Wissenkönnens zum Ausdruck: Das Wissen bedarf der Beteuerung, weil es eigentlich unmöglich gewusst werden kann. Zugleich wird in Ymelots Bemerkung aber die Quelle solchen Wissens expliziert: swanne iz nimit ende – was Ymelot weiß, weiß er vom Ende her. Insofern in solchen Fällen das Wissen der Figur auf ein nur dem Erzähler und allenfalls dem Publikum verfügbares Wissen über den weiteren Verlauf bzw. das Ende der erzählten Handlung ausgreift, kann diese Art der Transgression als final-teleologische bezeichnet werden. Es sollte deutlich sein, dass die Logik, die solchen Transgressionen im Figurenwissen – Transgressionen perzeptorischer, diegetischer oder final-teleologischer Art – zugrunde liegt, nicht aus Lücken oder Leerstellen, gaps oder blanks auf der Ebene der Diegese erklärt werden kann.⁴⁰ Es handelt sich offenkundig nicht darum, dass Dinge in der Handlung ungesagt blieben, die der Rezipient zu ergänzen aufgefordert wäre. Dass im ‚Herzog Ernst B‘ in unmittelbarem Anschluss an das Zwiegespräch Ernsts und Wetzels auf dem Schiff erzählt wird, „da“ (dô) hätten ihnen die Ritter ihre Hilfe versprochen, verweist nicht auf eine Lücke in der Handlungsdarstellung, der gemäß wir hinzuzufügen hätten, dass Ernst und Wetzel in der Zwischenzeit zu ihren Gefährten gegangen wären, ihnen von ihrem Entschluss, Grippia nochmals aufzusuchen, erzählt und sie um ihre Hilfe im Notfall gebeten hätten. Auch scheint klar, dass psychologisierende Zusatzannahmen, etwa im Beispiel des Mordanschlags auf Brangene bei Eilhart, nicht  Zur Unterscheidung zwischen gaps und blanks Sternberg 1985, S. 235 – 241, sowie Kap. 1.2, Anm. 28.

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weiterhelfen. Im Gegenteil sind gerade dann, wenn Figuren offenkundig Zugang zu extradiegetischen, ‚allgemein‘ verfügbaren Wissensbeständen haben, der Zuteilung von Psychologie enge Grenzen gesetzt (zumindest dann, wenn man dafür eine mehr oder weniger kohärente Personeneinheit voraussetzt). Wie aber lassen sich perzeptorische, diegetische oder final-teleologische Transgressionen von Figurenwissen dann erklären? Wie könnten sie sich für zeitgenössische Rezipienten gereimt haben? Mir scheint, dass das vor- oder frühhöfische epische Erzählen in der Volkssprache hier auf eine historisch spezifische Konzeption von Text und Erzählung rekurriert, die sich in zweierlei Hinsicht konturieren lässt: zum einen im Hinblick auf den in der Vortragssituation körperhaft anwesenden Vortragserzähler, zum anderen im Hinblick auf eine final-resultative Konzeption von Erzählung, die beide – je für sich oder auch zusammengenommen – Möglichkeiten der narrativen Grenzüberschreitung bewirken.

7.2 Ebenenüberschreitung durch die Erzählperformanz Wo in Figurenreden ein Wissen zur Sprache kommt, das die Figuren eigentlich nicht haben dürften – sei es, weil es jenseits ihres Wahrnehmungshorizontes liegt, sei es, weil es sich um ein allenfalls extradiegetisch verfügbares Wissen der Erzählung handelt –, da entsteht der Eindruck, als seien die Dinge, die einmal durch den Akt des Erzählens geäußert sind, frei verfügbar und damit Informationen, auf die, potentiell, auch alle zugreifen können: der Erzähler, die Rezipienten, die Figuren.⁴¹ Der Raum der erzählten Welt wirkt in solchen Fällen sowohl intern entgrenzt, so dass Plot- oder Handlungswissen auf der Ebene des Dargestellten scheinbar ungehindert kursieren kann; er wirkt jedoch auch nach außen entgrenzt, durchlässig in Bezug auf die Ebene der Darstellung, mit der Folge, dass histoire- und discours-Wissen ineinanderfließen können. Selbstverständlich gilt dafür eine einschränkende Bedingung: Handlungs- oder Diskurswissen ist dann nicht frei verfügbar, wenn es dem Erzählgegenstand oder -anliegen entgegensteht. Dass Tristrant und Isalde ein Liebesverhältnis pflegen, weiß Marke natürlich zunächst gerade nicht. Darum, diesbezüglich Gewissheit zu erlangen bzw. den König im Ungewissen zu lassen, kreisen ja gerade die Listepisoden des Textes. Phänomene der Entgrenzung im Hinblick auf die dargestellten Figuren zeigen sich allerdings nicht nur, wo es um Figurenwissen geht. Sie manifestieren sich

 Müller 1998, S. 127 f., weist Vergleichbares für die epische Rede des ‚Nibelungenlieds‘ nach, wo Figuren – im konkreten Fall Hagen – als „Sprachrohr eines kollektiven Wissens“ auftreten können; vgl. auch Schulz 2012, S. 28.

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noch in weiteren Grenzüberschreitungen, die heutige Leser ebenfalls leicht als perspektivische Inkohärenzen empfinden. Dazu gehört insbesondere, dass die Figuren in den Texten sich immer wieder Positionen und Perspektiven anverwandeln, die ihnen gemäß einem kohärenten, scharf umrissenen Figurenprofil nicht zustehen. Figuren äußern Dinge, die perspektivisch, das heißt hinsichtlich der darin ausgesagten Werthaltungen (im Sinne grundlegender Einstellungen, Urteile und Überzeugungen) anderen Figuren oder, noch häufiger, dem Erzähler zukommen. Anders gesagt: Sie äußern Dinge in einer Weise, die den Eindruck erweckt, hier artikuliere sich nicht eigentlich die Persönlichkeit der Figur, sondern die eines heterodiegetischen, auktorial sprechenden Erzählers. Nachdem Karl in göttlichem Auftrag den Missionskrieg begonnen hat und in das islamische Spanien eingedrungen ist, berät König Marsilie in Sarraguz mit seinen Vasallen, wie er sich gegen die Christen zur Wehr setzen könnte. In diesem Zusammenhang lässt der Erzähler ihn sagen: der keiser ist dâ her komen, daz er mich wil scenden. daz ne mac ich nicht erwenden. er hât sô getân volc, unser vechten ne touc. gesamente sich elliu heidenscaft, daz ne vrumete nicht wider sîner craft. (V. 410 – 416) Der Kaiser ist hierhergekommen, / um mich zu verderben. / Das kann ich nicht verhindern. / Sein Heer ist so schlagkräftig, / dass unser Kämpfen zwecklos ist. / Selbst wenn sich alle Heiden zusammentäten, / so würde das gegen seine Macht nichts nützen.

Das Oxforder Manuskript der ‚Chanson de Roland‘ hat an dieser Stelle: Jo nen ai ost qui bataille li dunne, / Ne n’ai tel gent ki la sue derumpet („Ich habe kein Heer, das gegen ihn in die Schlacht ziehen könnte, / Noch habe ich die Männer, die das seine zersprengen könnten“,V. 18 f.).⁴² Marsilies Problem wird hier also primär als eines der Ressourcen dargestellt: Er hat kein schlagkräftiges Heer zu seiner Verfügung. Konrad hat diesen Hinweis des Marsilie auf die überlegene Kampfkraft des christlichen Heeres ebenfalls, aber er wird bei ihm superlativisch gesteigert zu einer Aussage, die in ihrer Absolutheit das eher sachrationale Argument des Marsilie der ‚Chanson‘ ideologisch überformt: Alle Heiden dieser Welt könnten gegen Karl nichts ausrichten, denn – das ist darin impliziert – die Christen sind den Heiden per se überlegen, weil sie im Alleinbesitz der Glaubenswahrheit sind.

 Die Übersetzung nach der Ausgabe: Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig. Übers. und komm. von Wolf Steinsieck. Nachwort von Egbert Kaiser. Stuttgart 1999 (RUB 2746), S. 7.

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Das freilich ist eine Aussage, die zur Figurenperspektive Marsilies schlecht passt; sie ist die Bewertung einer aus christlicher Perspektive argumentierenden Erzählerstimme, die hier in die Figurenrede hineinverlagert ist. Das lässt sich in Konrads Bearbeitung wiederholt beobachten. Als die Boten Marsilies auf dem Weg zu Karl sind, um diesem das scheinbare Friedensangebot des sarazenischen Königs zu übermitteln, sagen sie zueinander, daz der keiser wole wære über alle dise werlt mære. wider sîner herscephte ne dörfte sich nieman behefte. (V. 637– 640) dass der Ruhm des Kaisers gewiss / über die gesamte Welt reiche. / Gegen seine Macht / könne niemand etwas unternehmen.

In die indirekt wiedergegebene Figurenrede mischt sich auch hier, genau wie in V. 415 f., die von der absoluten Superiorität des Christentums überzeugte Stimme des auktorialen Erzählers. Solche Überblendungen sind deutbar: Indem die Sarazenen selbst nicht recht an ihre Sache zu glauben scheinen, wird jenseits des tatsächlichen Konfliktgeschehens, das die Erzählung dann über mehrere Tausend Verse schildern wird, die buchstäblich unbestrittene Überlegenheit dessen, wofür der christliche Kaiser steht, ausgestellt. Insofern hat die Vermischung von Figuren- und Erzählerperspektive auch eine proleptische Funktion, doch interessiert sie hier vor allem als narratives Phänomen.⁴³ Als solches spiegelt es eine grundsätzliche Möglichkeit dieses mittelalterlichen Erzählens und findet sich demgemäß auch in anderen Texten wieder.

 Konrads ‚Rolandslied‘ kennt dafür noch einige weitere Beispiele: In V. 3095 – 3098 etwa wiederholt Genelun gegenüber Karl den Beschluss der Pairs, Roland in den spanischen Reichsteilen zum Herzog einzusetzen. Darauf entgegnet Karl: jâ dû vâlantes man, / warumbe hâst du sô getân? / […] ez ist vil wætlîche, / du getrüebest allez rœmische rîche (V. 3101– 3108; vgl. ChdR V. 743 – 748). Wegen des Textverlusts von etwa 150 Versen (ab V. 3083) ist die Lage an dieser Stelle kompliziert. Erklärungsbedürftig ist nicht nur, warum Geneluns Vorschlag, anders als in der Vorlage, im deutschen Text wiederholt wird, sondern auch, warum Karl Genelun bezichtigt, „Diener des Teufels“ zu sein, und dies mit einer fatalistischen Prophezeiung verbindet. Geneluns Vorschlag alleine, der ja zudem von den Pairs unterstützt wird, rechtfertigt das nicht. Möglicherweise sollen die beiden vorangegangenen Träume Karls (V. 3020 – 3081) Geneluns Bezeichnung als vâlantes man begründen, auch wenn dies nicht expliziert wird.Wahrscheinlicher scheint mir, dass sich in dem Verdikt und der Prophetie des Kaisers eine Wertungsperspektive zur Geltung bringt, die nicht die der Figur ist, genauer: sein kann, sondern die des Erzählers. Vgl. zu einem derartigen „Zusammenfall der Perspektiven“ im ‚Rolandslied‘ und, mehr noch, der ‚Chanson de Roland‘ auch Müller 2017, S. 215 – 220; das Zitat hier, S. 216.

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Im ‚König Rother‘ bezichtigt sich Konstantin, nachdem Rothers Heer ihn besiegt hat, seiner Frau gegenüber eines kindischen Verhaltens (grozer kintheit, V. 4516). Keinerlei Anlass habe es für die Rückentführung der eigenen Tochter (und Gemahlin Rothers) gegeben; Rother habe ihm doch hervorragende Dienste geleistet, und er habe ihn dafür bosliche mit dem Galgen belohnen wollen (V. 4513 – 4523): iz begegenit allinthalvin dicke den man, swaz he dan hat getan! (V. 4524– 4526) Es fällt oft und überall / auf den Menschen zurück, / was immer er einmal getan hat!

Ist das eine „späte Einsicht“ Konstantins?⁴⁴ Die Worte wirken in Konstantins Mund völlig unglaubwürdig, sowohl im Hinblick auf sein sonstiges Figurenprofil als auch in ihrer Sentenzhaftigkeit, die das Sprichwort paraphrasiert, das unmittelbar darauf auch anzitiert wird (die grove hetich gegravin, / ic moz dar selve in varin, V. 4527 f.).⁴⁵ Wenn es sich um einen Bewusstseinswandel handelte, dann wäre dieser im Text nicht motiviert; es würde nur sein Ergebnis mitgeteilt. Doch um einen Bewusstseinswandel geht es nicht. Die Figur wird durch die ihr in den Mund gelegten Worte zwar als geläutert markiert, aber nicht im Sinne eines psychologischen Reifungsprozesses; der sentenziöse Charakter der Worte und ihre motivationale Unterbestimmtheit verleihen ihnen den Gestus eines Erzählerkommentars, der hier in die Figurenrede einfließt. Das entspricht sehr genau dem, was man, um ein etwas späteres Beispiel zu zitieren, an der folgenden Stelle aus Wirnts von Grafenberg ‚Wigalois‘ (um 1210/ 20) beobachten kann: Lion, der Herzog von Namur, hat in einer Tjost Amire, den Gatten und Geliebten Liameres, getötet, um selbst in den Genuss von Liameres Liebe zu kommen.⁴⁶ Als Liamere daraufhin stirbt (aber erst dann!), beklagt Lion sein Handeln:

 So der Kolumnentitel in der Ausgabe von Stein, S. 341.  Das Sprichwort ist auch anderweitig in der mittelhochdeutschen Literatur belegt, u. a. in der ‚Kaiserchronik‘ (V. 7512 f.), ‚Wolfdietrich A‘ (Str. 217,2 und 219,2) und der ‚Krone‘ (V. 16287), nach Deutsches Heldenbuch. Tl. 4: Ortnit und die Wolfdietriche. Nach Müllenhoffs Vorarbeiten hrsg. von Arthur Amelung/Oskar Jänicke. Bd. 2. Berlin 1873, S. 264; auch in der Predigtliteratur findet es sich.  Ein Page berichtet das auf Wigalois’ Krönungsfest; siehe Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn übers., erl. und mit einem Nachwort vers. von Sabine Seelbach/ Ulrich Seelbach. 2. Aufl. Berlin/Boston 2014, V. 9799 – 9882.

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owê, waz hân ich getân! ich hân erslagen ir lieben man âne schulde mit mîner hant. owê dir, untriuwen bant, wie mich dîn gir verleitet hât. (V. 10040 – 10044) O weh, was habe ich getan! / Ich habe ihren geliebten Mann / ohne jeden Grund mit der eigenen Hand erschlagen. / Weh euch, ihr Stricke der Treulosigkeit, / wie hat mich euer Begehren in die Irre geführt.

Die Apostrophe an die untriuwe in Lions Worten ist nicht nur Ausdruck einer spezifisch mittelalterlichen Anthropologie, die Tugenden, Untugenden und Seelenkräfte als personifizierte Entitäten vorstellt, sondern in ihr artikuliert sich die Stimme eines wertenden Erzählers. Das wird spätestens in dem Augenblick klar, als Lion auf die Fehdeankündigung Wigalois’ mit Hochmut und Trotz reagiert.⁴⁷ Von modernen (figuren‐)psychologischen Vorstellungen ausgehend, würde man vielleicht erwarten, dass Lion aus seiner Selbsteinsicht Konsequenzen zieht. Aber das ist nicht der Fall, und dementsprechende Rezipientenerwartungen verfehlen nicht nur die anthropologische, sondern auch die narrative Logik der Textsequenz.⁴⁸ Wer hier objektivierend durch Lion spricht und die „Stricke der Treulosigkeit“ beklagt, das ist die Erzählerstimme. Lion kommentiert sein Verhalten nicht als er selbst, sondern quasi als ein Dritter. Darum bleibt seine Reuebekundung auch für die Handlung folgenlos; sie enthält keine Aussage über die Psyche der Figur. Die kategoriale Differenzierung zwischen Erzähler und Figur und damit zwischen Diskurs- und Handlungsebene kann in den Texten aber nicht nur im Hinblick auf die Wertung des dargestellten Geschehens aufgehoben sein. Meines Erachtens gehören in diesen Zusammenhang auch jene ebenfalls nicht seltenen Fälle, in denen die Perspektive der Figuren und diejenige extradiegetischer Größen wie des Erzählers oder des (impliziten) Rezipienten sich in der Wahrnehmung des dargestellten Geschehens überlagern. Nach heutigen Maßstäben führt das

 Vgl.V. 10156 f.: ôwoch! daz ich den vürsten [Amire, C. S.] sluoc, / des trûwe ich harte wol genesen; in diesem Sinne auch V. 10322– 10324, wo Lion Wigalois und dessen Mitstreitern mitteilen lässt, daz ir aller widerbot / wær sîn tägelîcher spot; / ern vörhte si ze nihte.  Die Episode hat der Forschung immer wieder Schwierigkeiten bereitet; siehe dazu Werner Röcke: Überwältigung. „Eroberungssucht“, Legitimation von Herrschaft und lineares Erzählen in Wirnts von Gravenberg ‚Wigalois‘. In: Norm und Krise von Kommunikation. Inszenierungen literarischer und sozialer Interaktion im Mittelalter. Für Peter von Moos. Hrsg. von Alois Hahn/Gert Melville/Werner Röcke. Berlin 2006 (Geschichte: Forschung und Wissenschaft 24), S. 225 – 248, bes. S. 243 – 245.

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schnell zu Inkohärenzen, besonders ausgeprägt und daher exemplarisch im ‚Münchner Oswald‘: Erzählt wird die Flucht Paugs und dreier ihrer Gefährtinnen, die ebenfalls zum Christentum übertreten wollen, aus der Burg ihres Vaters, des Heidenkönigs Aron. Die Prinzessin inszeniert zu diesem Zweck eine List der Vertretung und Verkleidung. Damit ihre Mutter nichts bemerkt, bittet sie eine ihrer Gespielinnen, ihren Mantel und ihre Krone anzulegen und an ihrer statt auf der Zinne zu stehen (V. 2489 – 2516). Sie selbst und ihre drei Gefährtinnen verkleiden sich indes als heidnische Ritter.⁴⁹ Als solche gelingt ihnen, mit Hilfe eines Marienwunders, die Flucht vor das Burgtor.⁵⁰ Dort wartet Oswald, der aber weder von der List noch dem Fluchtversuch etwas weiß. Der Erzählerstimme stellen sich Paug und ihre Gefährtinnen trotz ihrer Verkleidung als die stoltzen junkfrauen her (V. 2569) dar. Das überrascht nicht, denn Erzähler und Publikum wissen ja von der Tarnung. Aus der Perspektive Oswalds und seiner Umgebung allerdings müssten diejenigen, die da aus der Burg auf sein Zelt zugeeilt kommen, als heidnische Ritter erscheinen. Genau das aber ist nicht der Fall: Schon Oswalds Rabe sieht nicht Ritter, sondern vier junkfrauen wolgetan (V. 2590) aus der Burg kommen, und von Oswald heißt es, er habe die Prinzessin an dem goldenen Haarband erkannt, das sie als Erkennungszeichen getragen habe: si was im aus in allen erchant, wann si truog ain guldeins harpant: domit bezaichent si daz, daz si die jung kungin [selber] was. (V. 2601– 2604) Er kannte sie aus ihnen allen heraus, / denn sie trug ein goldenes Haarband: / Damit gab sie zu erkennen, / dass sie selbst die junge Königin war.

Das widerspricht vollkommen V. 2529, wo von Helmen (hüet) die Rede ist, die die vier, als heidnische Ritter, auf dem Kopf getragen hätten. Doch weist es darauf hin, dass es sich hier nicht um eine wunderbare, von Gott gewirkte Identitätsenthüllung handelt (was sonst für den Text nicht ungewöhnlich wäre): Es bedarf offenkundig der empirischen Evidenz eines materiellen Zeichens, des Haarbands; selbst der Rabe weiß zwar von vier Frauen, stellt die Identifizierung Paugs aber unter den Vorbehalt einer Sinnestäuschung.⁵¹

 die vier maid hochgeporen / gurten umb () guldein sporen / in allen den gepär[e]n, / als ob si haidnisch ritter wären (V. 2535 – 2538).  Maria bewirkt auf Bitten Paugs, dass das Schloss des Burgtors aufbricht (V. 2565 – 2568).  mich triegen dann () mein sinne, / ez ist deu jung[e] kun[i]ginne ()! (V. 2591 f.).

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Indem Oswalds und des Raben Wissen, dass hier vier Frauen auf sie zukommen – von denen eine ein goldenes Band im Haar trägt –, aber nicht providentiell motiviert erscheint, werden die handlungslogische Unstimmigkeit und damit die ihr zugrunde liegende Ebenenüberschreitung umso merklicher. Oswald und der Rabe verfügen, ohne dass dies intradiegetisch besonders motiviert werden müsste, über narrative Information, die eigentlich nur die Erzählerstimme und ihr Publikum haben (und von den Figuren innerhalb der erzählten Welt nur Paug und ihre Begleiterinnen selbst). Eine solche blitzhafte Neujustierung des Figurenhorizonts entlang des Erzählerwissens wirkt extrem final-teleologisch. Es handelt sich um eine narrative ‚Übersprunghandlung‘, die die Geschichte unmittelbar auf das zusteuern lässt, was, schemagemäß, ihr Ergebnis sein soll: dass der Werber die Braut erhält.⁵² Doch hat die final-teleologische Darstellungsweise an dieser Stelle eine erzählpragmatische Voraussetzung: Sie erscheint bedingt durch die Möglichkeit dieses Erzählens, Erzählerperspektive und Figurenperspektive in einer Weise engzuführen, dass die beiden sich nicht nur berühren, sondern quasi eins werden. Erst vermittels dieses Kurzschlusses von Erzählerund Figurenperspektive, ‚über Bande‘ also, kann dann die dargestellte Welt in der Weise umgestaltet werden, dass sie dem extradiegetisch angereicherten Figurenhorizont entspricht: An die Stelle von vier Rittern treten nun auch nach den Evidenzregeln der erzählten Welt vier Frauen, an die Stelle eines Helms auf einmal ein Haarband, an dem Oswald Paug erkennen kann. Bei Schlussfolgerungen, die die Figurencharakteristik oder die Motivierung des Figurenhandelns betreffen, sind demnach, neben der handlungsfunktionalen Gebundenheit der Figuren, auch solche Möglichkeiten der Überblendung von Figuren- und Erzählerperspektive zu berücksichtigen. Vor allem wo man den Eindruck hat, dass Figurenaussagen transparent sind auf die Wertungen einer extradiegetischen Erzählinstanz, wird man vorsichtig sein, den Figuren zu viel psychische Identität und ihrem Handeln zu viel Intentionalität zuzuweisen.⁵³ Auffällig ist dabei, dass derartige Transgressionen sich immer wieder auch an semantisch unverdächtigen Stellen zeigen, an denen ihnen kein weitergehender Bedeutungswert zuzukommen scheint (das ‚Oswald‘-Beispiel ist eine solche Stelle). Nicht zuletzt das aber spricht dafür, dass es sich um strukturelle Phänomene handelt, um solche also, die die konstitutive Verfasstheit der Texte betreffen. Zur Erklärung hat vor allem Müller auf die grundsätzliche ‚A-Perspektivität‘

 Vgl. Strohschneider 1997b, S. 48.  Was nicht heißt, dass den Figuren nicht punktuell auch Psychologie zugewiesen werden dürfte, aber eben tendenziell bezogen auf die jeweilige Handlungsfunktion oder -situation, nicht im Sinne einer handlungsübergreifend kohärenten Figurenidentität.

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dieser Art eines ‚epischen Erzählens‘ hingewiesen.⁵⁴ Demnach handelt es sich hier um ein Erzählen, das eine Perspektivierung von Sichtweisen in dem Sinne, dass „divergente Standpunkte zu Wort kommen, die jeder für sich eine subjektive Berechtigung beanspruchen können“ und auf „‚unhintergehbaren‘ individuellen Einstellungen, Denkgewohnheiten und Weltbildern“ basieren, nicht kennt.⁵⁵ Vielmehr gebe es in diesem Erzählen nur eine Stimme, letztlich die der Tradition, der ‚Kunde‘ oder auch des ‚Sagengedächtnisses‘, und damit auch nur ein Wissen. Solche Einstimmigkeit des Erzählens schließe zwar Vielzahl von Erzählerstimmen nicht aus: Es könne eine mehr oder minder begrenzte Teilhabe an diesem Wissen geben, mit der Folge, dass es sich auf den Erzähler und weitere Instanzen, die hinter ihm stünden – Figuren zum Beispiel – verteile; „jedoch ist das Wissen im Prinzip eines und dasselbe.“⁵⁶ Und eben weil solches ‚episches Erzählen‘ im Grundsatz einstimmig und a-perspektivisch sei, nur ein ‚Richtig‘ und eine Wahrheit kenne, könnten die Redeinstanzen auch immer wieder ineinander übergehen und seien Erzähler- und Figurenrede nicht streng voneinander geschieden.⁵⁷ Allerdings scheinen mir Fragen der Perspektivierung und solche der Verteilung von Redeanteilen auf Erzähler- bzw. Figureninstanzen auf unterschiedlichen Ebenen zu liegen. Dass dieses ältere Erzählen nur ein einziges Wahrheitszentrum („eine und nur eine Wahrheit“)⁵⁸ kennt und auch bei einer Vielzahl von Erzählerstimmen im Prinzip einstimmig angelegt ist, bedeutet nicht automatisch, dass Erzähler- und Figurenwissen ineinandergeblendet werden können müssten, bis hin zum Verschwimmen der Grenzen zwischen Erzähler- und Figurenrede oder indirekter und direkter Rede, wie es (nicht nur) in der vor- und frühhöfischen Epik häufig vorkommt. Und dass Fälle einer Überlagerung von Erzähler- und Figurenperspektive bzw. -wertung nicht selten auch in höfischen Texten, wie etwa Wirnts von Grafenberg ‚Wigalois‘, auftreten, die sich außerhalb jenes Corpus befinden, das das ‚epische Erzählen‘ im Blick hat (vor allem heldenepische und mit ihnen verwandte Texte), die aber doch wohl zunächst für mündlichen Vortrag gedacht waren, legt eine andere Erklärung näher:⁵⁹ Auch hier haben wir es,

 Siehe zum Folgenden Müller 2017, S. 197– 242.  Müller 2017, S. 201 und 210 f.  Müller 2017, S. 199, 201.  Müller 2017, S. 203, 212.  Müller 2017, S. 203.  Für den ‚Wigalois‘ hat Lienert 1997b, S. 266, auf die „signifikante[n] Indizien“ hingewiesen, „daß die Vorlese-Situation ganz selbstverständlich als eine übliche Rezeptionsweise des Romans angesehen wurde“. Erzählerkommentare dienten hier wie auch sonst vielfach im höfischen Ro-

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ähnlich wie bei den Besonderheiten ihrer Raumgestaltung, mit Spuren einer in die Texte eingeschriebenen textexternen Erzählinstanz und einer entsprechenden visuell-auditiven Wahrnehmungssituation zu tun. ‚Textexterne‘ Erzählinstanz bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es sich um eine Erzählinstanz handelt, die der realen Welt angehört, während textinterne Erzählinstanzen der Textwelt angehören.⁶⁰ Anders als diese können jene vom Publikum tatsächlich gesehen und gehört werden; sie sind nicht nur textvermittelt und vom Rezipienten erschlossen, sondern haben ihren ontologischen Ort außerhalb des Textes, wie etwa ein Vortragserzähler, Rhapsode oder der Autor als „Kompositionssubjekt“ des Textes.⁶¹ Transgressionen zwischen Handlungs- und Darstellungsebene, zwischen Figuren- und Erzählerwissen bzw. Figuren- und Erzählerperspektive scheinen geradezu auf der Möglichkeit aufzubauen, textinterne und textexterne Redeinstanzen ineinanderzublenden. Zumindest ist die Situation des performativen Textvortrags diejenige, die solchen Überschreitungen am meisten entspricht. Hier leiht eine Person, der Vortragserzähler, allen Äußerungssubjekten der Erzählung sein Gesicht und seine Stimme: den Figuren ebenso wie demjenigen Subjekt, das den Narrationsakt hervorbringt. Der Vortragserzähler verkörpert hier sowohl die Figuren als auch den extradiegetischen Erzähler – wenn man ihn denn in der performativen Rezeptionssituation überhaupt vom Vortragenden oder dem, gegebenenfalls unter einem Autornamen auftretenden, Kompositionssubjekt unterscheiden kann. Was nach heutigem Maßstab daher perspektivisch inkohärent erscheint, dürfte für zeitgenössische Rezipienten im Rahmen des Vortrags mit seiner Präsenzlogik durchaus kohärent prozessierbar gewesen sein: Wenn Figuren und Erzähler von ein und derselben Person im Raum verkörpert werden, muss die Vermischung jener Ebenen, die die Erzähltheorie, zumindest diejenige in der strukturalistischen Tradition, streng getrennt zu halten versucht, nicht unbedingt störend aufgefallen sein. Im Gegenteil: Auch Transgressionsphänomene wie die zu Anfang des Kapitels erwähnten, bei denen der Erzählinhalt im Erzählakt wie in

man primär dem Publikumskontakt und damit pragmatischen Funktionen, so dass „man fast von der Geburt des Erzählers aus der Vortragssituation sprechen [könnte]“ (S. 267 f. und 274).  Hier beziehe ich mich auf die terminologischen Unterscheidungen und Bestimmungen, die Glauch 2009, S. 100 f., vornimmt. Sie weist ebd., S. 100, darauf hin, dass „extradiegetische Erzähler, gleich ob homodiegetische (Ich-Erzähler) oder heterodiegetische […] bzw. die Erzählhaltungen, aus denen sie erschlossen werden, zwar definitionsgemäß außerhalb der von ihnen erzählten Geschichte [stehen] (da sie es sind, die diese im Akt der Narration hervorbringen), aber sie gehören dennoch nur der Welt des vom Autor geschriebenen Textes und nicht der realen Welt an.“  Glauch 2009, S. 101.

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einer „Epiphanie des Erzählten“ zur Erscheinung kommt,⁶² setzen die Präsenzlogik der Aufführungssituation eigentlich voraus. Das gilt sowohl für die Darstellung körperhafter Textverhältnisse, wie den narrativen Symmetrien im ‚Rolandslied‘ oder Wolframs ‚Willehalm‘, als auch für narrative Metalepsen wie in der ‚Rabenschlacht‘, wo der Gegenstand des Textes zugleich zur Form seines Vollzugs wird und die Klage der Figuren und die erinnernde Klage des Erzählers und seiner Hörer miteinander verschmelzen.⁶³ Und auch die zahlreichen fließenden Übergänge von indirekter oder auktorialer zu direkter Rede, die sich in der frühen volkssprachigen Erzähldichtung beobachten lassen, dürften durch den semioralen Charakter dieser Schriftlichkeit zumindest mitbedingt sein: Von indirekter, erzählervermittelter in direkte Figurenrede zu verfallen, liegt wesentlich näher, wenn im Fluchtpunkt von Erzähler- und Figurenrede ein und dieselbe Person steht, nämlich ein körperlich anwesender Vortragserzähler.⁶⁴ Damit ist nicht ausgeschlossen, dass die (stellenweise) Überblendung von Erzähler- und Figurenebene auch Zeugnis einer „Transparenz des epischen Raums“ ist, die auf einen kollektiv geteilten Wissenshorizont hin durchsichtig ist, an dem alle Stimmen der Erzählung (der Erzähler, die Figuren, die Tradition oder ‚Kunde‘) teilhaben.⁶⁵ Doch dass eine solche ideelle Einstimmigkeit des Erzählens sich auf die narrative Faktur der Texte in der Weise auswirkt, dass Erzähler- und Figurenebene, Erzählerrede und Rede der Figuren ineinander übergehen können, scheint mir mündliche Performanz zur Voraussetzung zu haben. Zumindest dürfte diese die Etablierung einer „a-perspektivische[n] ‚Einstimmigkeit‘“⁶⁶ der Erzählung (in Bezug auf die in ihr ausgesagten Einstellungen, Werthaltungen, Weltbilder etc.) deutlich begünstigen.

 Strohschneider 2014, S. 30.  Vgl. Müller 2013b, S. 236 f.  Einige Beispiele aus dem ‚Herzog Ernst B‘ (mit den vom Herausgeber ergänzten Anführungszeichen): sie [die Fürsten, C. S.] wisten an irm [der Herzogin Adelheids, C. S.] lîbe / über al wandelbæres niht. / „des ir diu meiste meinunge giht, / die sich wîsheit versinnen. / möhte er sie gewinnen, / ez solde uns alle dunken guot“ (V. 286 – 291); si hæte sich in ir jugent / vil wünneclîche her behuot. / si was biderbe unde guot (V. 298 – 300; hier fällt im letzten Vers die Wiedergabe der indirekten Rede der Fürsten in die auktoriale des Erzählers); dô tet er wîslîche – / „sît ichz durch nôt muoz lân“ (V. 1742 f.). Solche Übergänge aus der oratio obliqua in die oratio recta sind u. a. im ‚Hildebrandslied‘, ‚Heliand‘, ‚Tristrant‘, ‚Nibelungenlied‘, der ‚Klage‘ und frühmittelhochdeutscher geistlicher Dichtung nachweisbar; auch Wolfram hat sie noch oft (dazu Werner Schröder: Übergänge aus oratio obliqua in oratio recta bei Wolfram von Eschenbach. In: Festschrift für Ingeborg Schröbler zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dietrich Schmidtke. Tübingen 1973 [PBB 95, Sonderheft], S. 70 – 92), Hartmann, Gottfried oder auch Konrad Fleck hingegen gar nicht.  Müller 2017, S. 235.  Müller 2017, S. 205.

Vom Ende her: Finalität als Denkfigur

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Wie bei den Spezifika der Raumgestaltung in diesem früheren epischen Erzählen handelt es sich meines Erachtens auch bei den dargestellten Transgressionsphänomenen nicht um solche einer sekundären oder fingierten Mündlichkeit.⁶⁷ Natürlich können sie immer nur vermittelt auf einen oral-performativen Kontext hindeuten. Sie sind nur Spuren in bereits schriftlich komponierten Texten, aber, wie ich meine, solche, die im Hinblick auf mündlichen Vortrag ihren Weg in die Texte fanden. Nicht nur wäre nämlich bei tatsächlichem mündlichem Vortrag fingierte Mündlichkeit ein Widerspruch in sich;⁶⁸ es würde auch nicht recht einleuchten, warum solche Transgressionen, als mündliche Spuren, fingiert werden sollten, wenn sie doch bei nichtmündlicher Rezeption viel schwerer ‚lesbar‘⁶⁹ und im Übrigen wohl auch nicht in der Weise als typisch mündlich markiert waren wie etwa ein formelhafter Erzählstil.

7.3 Vom Ende her: Finalität als Denkfigur Möglichkeiten der narrativen Transgression, insbesondere der Überschreitung der Grenze zwischen Figuren- und Erzählerperspektive können, wie das Beispiel aus dem ‚Münchner Oswald‘ zeigte, den final-teleologischen Zug eines Erzähltextes befördern. Wenn solche Transgressionen als Spuren einer in die Texte eingeschriebenen Erzählperformanz zu verstehen sind, dann wäre es nicht zuletzt die mediale Pragmatik der Texte, die die Finalität sowohl der dargestellten Handlung als auch der Darstellung selbst begünstigte. Doch lassen sich die Medialität der literarischen Kommunikation, auch wenn sie den Texten nicht äußerlich ist, und die Finalität des Erzählstils nicht ohne Weiteres miteinander verrechnen. Dass vorneuzeitliche viel stärker als moderne Literatur dazu tendiert, finalteleologisch zu erzählen, ist bekannt und wurde schon früh bemerkt.⁷⁰ In der frühen mittelhochdeutschen Epik nach der Mitte des 12. Jahrhunderts zeigt sich dieser Zug in je unterschiedlicher Weise: Dass in legendarisch oder in weiterem Sinne geistlich beeinflussten Texten, wie dem ‚Orendel‘, ‚Münchner Oswald‘, aber

 Siehe dazu auch Kap. 6.4.  Vgl. Glauch 2009, S. 41.  Das ist im übertragenen wie im eigentlichen Sinne zu verstehen: Sonja Glauch hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es teilweise nahezu unmöglich ist, die Texte so, wie die Handschriften sie überliefern, zu lesen, ohne eine moderne Interpunktion zu Hilfe zu nehmen (siehe Glauch 2009, S. 70, mit einem Beispiel aus der handschriftlichen Wolfram-Überlieferung). Das gilt insbesondere für längere Wechselreden ohne Inquit-Formeln, aber wohl auch für manche Fälle eines unvermittelten Übergangs aus indirekter oder Erzählerrede in direkte Rede.  Vor allem von Lugowski 1970; dazu Kap. 5, S. 192– 194 und 252 f.

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auch ‚Salman und Morolf‘, ausgeprägt final erzählt wird, ist offensichtlich. Gott bzw. göttliche Providenz treten hier von Anfang an als handlungstreibende Kräfte auf den Plan. Wie das punktuell zu Unstimmigkeiten in der Handlungsmotivierung führen kann, insbesondere, wenn durch anderweitige Erzählschemata oder narrative Prototypen konkurrierende motivationale Vorgaben mit ins Spiel kommen, wurde gezeigt;⁷¹ doch bleibt Gott letztlich der ‚Herr über dem Schema‘.⁷² Auch in nichtlegendarischem oder von Legendenmustern geprägtem Erzählen wird Gott als Faktor der Handlungsmotivierung freilich immer wieder eingespielt. Im ‚Herzog Ernst B‘ ist Ernst sich gewiss, dass Gott seine und die Reise seiner Gefährten lenkt, bis er sie schließlich nach Jerusalem führen wird (unz uns got gewîse / ze Jêrusalêm in daz lant, V. 2434 f.). Was hier aus Figurenperspektive artikuliert wird, bestätigt wenige Verse weiter die Erzählerstimme: Gott ist es, der sie in Grippia Fleisch, Wein und Brot finden lässt (dô funden sie, als in got gebôt, / fleisch, wîn unde brôt, V. 2465 f.). Auch in der Greifenepisode wird, vermittels einer Prolepse, nicht nur der glückliche Ausgang der Reiseabenteuer angedeutet, sondern das Geschehen im Vorausblick auf das Ende als göttlich motiviert dargestellt: sît wart der herren guot rât, als got wolde und er gebôt. sô überwunden sie al ir nôt. (V. 4332– 4334)⁷³ Später wurde den Herren aufs Beste geholfen, / so wie Gott es wollte und gebot. / Auf diese Weise überwanden sie all ihre Not.

Gott, so wird immer wieder hervorgehoben, hilft den Rittern, wirkt die Dinge für sie.⁷⁴ Die finale Ausrichtung des Dargestellten hat ihren Anker hier, wie im legendarischen Erzählen, in der Erzählwelt selbst. Doch setzt Finalität nicht notwendig voraus, dass das Geschehen durch das Wirken einer allmächtigen numinosen Instanz, die Bestandteil der erzählten Welt ist, determiniert wird. Sie kann sich auch anders artikulieren, und zwar in vermittelten Bezugnahmen auf

 Siehe, am Beispiel des ‚Münchner Oswald‘, Kap. 5.1, S. 213 – 222.  Den Ausdruck verdanke ich dem Titel des Aufsatzes von Stephanie Seidl: Der Herr über dem Schema. Versuch einer Beschreibung zweier mittelalterlicher Brautwerbungstexte anhand ihrer mikrostrukturellen Erzähllogiken. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. von Florian Kragl/Christian Schneider. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 13), S. 209 – 225.  Die gesamte Episode V. 4069 – 4334.  Die Belegstellen sind zahlreich: Nicht nur erbitten die Protagonisten immer wieder Hilfe von Gott, sondern das Geschehen als solches wird auf das wunderbare Wirken Gottes zurückgeführt; vgl. nur V. 4330 f., 4442– 4444, 4666.

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ein Ende, das als solches noch nicht entfaltet ist, aber in der Referenz darauf als verdeckte Präsenz des Ganzen zum Vorschein kommt. Solche Bezugnahmen sind nicht mit narrativen Prolepsen zu verwechseln. Sie wirken zwar wie anachronische Vorausdeutungen. Aber Prolepsen stellen vielfach eher allgemeine, formelhafte und vor allem explizite Mitteilungen späterer Ereignisse dar, die die Prozessualität der Geschichte an sich nicht in Frage stellen, nur ihres (positiven oder negativen) Ausgangs gewiss sind.⁷⁵ Demgegenüber manifestieren jene Bezugnahmen sich als teilweise recht komplexe Verwerfungen in der linearen Erzählstruktur, die als kohärent erst verständlich werden, wenn man unterstellt, dass das Ganze der Geschichte von Anfang an ‚schon da‘ ist. Würde es sich dabei lediglich um eine Präsenz auf der Ebene der Darstellung handeln, wäre es also nur die Erzählerstimme, die den Eindruck erweckte, das Ganze der Geschichte bereits zu kennen, wäre das nicht weiter auffällig; kausal scheinbar unbegründete Textaussagen ließen sich dann als Effekte final-kompositorischer Motivierung verstehen.⁷⁶ Doch erscheint dieses Wissen um das Ganze der Geschichte vielfach nicht auf die extradiegetische Ebene beschränkt, sondern dringt in die intradiegetische Ebene ein. Auch Figuren partizipieren daran, und zwar nicht (nur) in der Weise, dass sie prophetisch ahnend auf ein Ende vorverweisen können, sondern indem sie hic et nunc in Bezug auf dieses – ihnen kategorial eigentlich entzogene – Ganze sprechen und handeln, eben davon zu wissen scheinen. Gerade darin zeigt sich das transgressive Potential dieser holistischen Konzeption von Erzählung; ihr handlungsseitiger Ausdruck ist die Finalität des dargestellten Geschehens. Syntagmatisch entstehen daraus immer wieder Probleme. In der GrippiaEpisode des ‚Herzog Ernst B‘ überlegen Ernst und Wetzel, wie sie der indischen Prinzessin helfen können, indem sie den König der Kranichschnäbler töten. Wetzels Vorschlag: alse wir daz haben vernomen, alsô sie von den tischen stên,

 Beispielhaft die vor allem in der Heldendichtung, etwa im ‚Nibelungenlied‘, häufigen „zukunftsgewissen Vorausdeutungen“ (Martínez/Scheffel 2003, S. 37), die der Erzählerstimme als einer Instanz, die das Ende der Geschichte bereits kennt, eine besondere Autorität zukommen lassen.  So etwa, wenn im ‚Herzog Ernst B‘ der Erzähler sagt, der Kaiser und die Königin hätten lange Zeit in Ehren und Freude gelebt, daz in dehein ungemach / von ir vetern nie geschach / an deheiner slahte dingen (V. 549 – 551). Warum, so mag man fragen, soll ihnen gerade von ihrer Verwandtschaft Kummer bereitet werden? In der Erzähleraussage offenbart sich ein Vorauswissen darüber, dass der Konflikt, den das Epos schildert, von einem intriganten Verwandten, Pfalzgraf Heinrich, ausgelöst werden wird (vgl. V. 646 – 653).

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sô beginnet der künic gên zuo den gesten in den sal, und rûment die würmelâge über al die helde gemeinlîche. sô mugen wir gemeinlîche in die kemenâten gân und slahen den künic sân. (V. 3339 – 3346) Sobald wir vernehmen, / wie sie sich von den Tischen erheben, / wird der König / zu seinen Gästen in den Saal gehen, / und alle Helden werden den Tiergarten / gemeinsam verlassen. / Dann können wir gemeinsam / ins Schlafgemach gehen / und den König sogleich erschlagen.

Wenn alle von den Tischen sich erhöben, werde der König in den Saal treten und die Krieger den Tiergarten verlassen; dann könnten sie in die kemenâten gehen und den König „sogleich“ (sân) erschlagen (gemeint ist das Edelsteinzimmer, das Ernst und Wetzel bei ihrem Streifzug durch die Burganlage entdeckt haben; vgl. V. 2568 – 2644).⁷⁷ Aber soll der König sich nicht im Saal befinden? Wie will Wetzel wissen, dass sie ihn in der Kemenate erschlagen können? Tatsächlich jedoch heißt es wenige Verse weiter: daz volc hiez er [der König, C. S.] rûmen sân. / er wolde ze kemenâten gân (V. 3385 f.). Erklärungen wie die, dass für Ernst und Wetzel schon voraussehbar gewesen sei, dass der König sich irgendwann in sein Schlafgemach werde begeben wollen, passen hier nicht. Wetzels Rede ist final perspektiviert; sie bezieht sich auf ein in die Figurenperspektive hineinverlegtes, extradiegetisches Wissen um das Ganze der Geschichte (oder zumindest der momentanen Geschehenseinheit). Ein besonders eklatantes Beispiel dieser Art enthält der ‚König Rother‘. Der Protagonist ist nach Konstantinopel zurückgekehrt, um die ihm vom Vater rückentführte Braut seinerseits wieder rückzuentführen. Geschildert wird ein Fest an Konstantins Hof. Rother hält sich unter Konstantins Tisch versteckt; neben seiner Frau sitzt Basilistium, Ymelots Sohn, mit dem sie nun verheiratet werden soll. Das quält sie: bi deme [Basilistium, C. S.] saz Rotheris wib unde qualite ir lib. do sprach Constantin: „nu swic, tochter min! mir troumite nochte von der – des saltu wol geloubin mir –,

 Siehe zu der Passage V. 2568 – 2644 auch, unter dem Aspekt erzählter Raumwahrnehmung, Kap. 6.3, S. 294 f.

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we ein valke quame gevlogin von Rome unde vorte dich widir over mere.“ (V. 3848 – 3856) Neben diesem saß Rothers Frau / und marterte sich. / Da sprach Konstantin: / „Jetzt sei still, meine Tochter! / Ich habe heute Nacht von dir geträumt / – das kannst du mir wohl glauben –, / wie ein Falke geflogen käme / aus Rom / und dich zurück über das Meer brächte.“

Die Traumerzählung ist aus dem Munde Konstantins vollkommen unlogisch: Er will sie mit der Aussicht auf eine Rückentführung durch Rother beruhigen? Als Trostworte ergibt das aus Konstantins Perspektive keinen Sinn. Peter Stein deutet die Traumerzählung in seinem Kommentar daher als „Einschüchterungsversuch des Vaters gegenüber seiner Tochter“; ansonsten müsse „eine ‚falsche‘ Zuordnung der direkten Rede zu Konstantin statt zu seiner Frau“ vorliegen, die in dieser Szene freilich erst viel später, in V. 3883, erwähnt wird.⁷⁸ Aber wie könnte die Aussicht auf eine Wiedervereinigung mit ihrem Mann die Tochter einschüchtern? Auch das textgenetische Argument scheint mir an dieser Stelle nicht überzeugend – nicht nur, weil die Königin erst in V. 3883 genannt wird, sondern weil eine andere Erklärung näherliegt: Die Kohärenz der Figurenperspektive tritt hier hinter die Finalität der Erzählung zurück. Rother, der ‚Falke aus Rom‘, befindet sich unter Konstantins Tisch, ganz in der Nähe seiner Frau, der Tochter Konstantins. Mit dieser unmittelbar vorangehenden Textinformation berührt sich die Traumerzählung thematisch. Durch sie soll deutlich gemacht werden, dass das Geschehen auf die Wiedervereinigung der Ehegatten und ihre Rückkehr in Rothers Reich zuläuft. Die Szene wäre also nicht figurenpsychologisch, sondern handlungsfunktional zu verstehen. Dabei lässt sich die syntagmatische Inkohärenz, die darin besteht, dass Konstantin etwas sagt, das nicht zu dem stimmt, was der Text zuvor über ihn mitgeteilt hat, in zweierlei Hinsicht lesen: zum einen als das Eindringen eines textexternen, mindestens aber extradiegetischen Wissens vom weiteren Verlauf der erzählten Handlung in die Figurenperspektive (und damit in die Diegese), wenngleich dieses Wissen in Konstantins Rede als Traumvision gerahmt ist; zum anderen als Ausdruck der Wucht der finalen Dynamik der Erzählung, die handlungslogische (und erst recht psychologische) Strukturen gewissermaßen überrollt und deren deterministische Qualität durch die seherische Rahmung (mir troumite) noch zusätzlich hervorgehoben wird. Gewiss ist die relativ ausgeprägte Finalität, mit der in diesen früheren mittelhochdeutschen Epen erzählt wird, auch bedingt durch Vorgaben der Gattung und des Texttyps. Dass sie in legendarischen Texten oder solchen, die sich Legendenmuster anverwandeln (wie die ‚Oswald‘-Dichtungen oder der ‚Orendel‘,  Siehe Stein/Bennewitz 2000, S. 452 zu V. 3850 ff.

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wo das Brautwerbungsschema letztlich von einem Legendenmuster abgelöst wird), eine größere Rolle spielt, ist offenkundig. Aber auch die stärker historisch begründete vor- oder frühhöfische Buchepik kann ausgeprägt final erzählen, weil sie sich einer heilsgeschichtlichen Konzeption von Geschichte verpflichtet weiß, die ebenfalls per se das Numinose als Motivierungsfaktor in die erzählte Welt hereinholt; vor allem Konrads ‚Rolandslied‘ ist dafür ein Beispiel. Auch der zweite Typ epischer Dichtung, mit der das deutsche Publikum vor (und auch nach) Veldeke vertraut war – die aus mündlich-illiterater Tradition kommende Abenteuer-, Brautwerbungs- und Heldenepik, wie ‚Herzog Ernst‘ oder ‚König Rother‘ –, hat schon textartbedingt eine Affinität zu final-teleologischem Erzählen. Hier hat diese Affinität wesentlich mit der Orientierung an Erzählmustern und -schemata zu tun, die einerseits bestimmte Handlungserwartungen seitens der Rezipienten begründen, andererseits aber finale ‚Übersprünge‘ in der Motivierung auch begünstigen: Wenn Verfasser wissen, dass ihr Publikum mit dem Schema vertraut ist, kann das, was dem Muster folgt, auch verkürzt dargestellt werden. Im Hinblick auf makrostrukturelle Geschehensverläufe – also die groben Züge einer Handlung – dürfte das auch außerhalb schemagebundenen Erzählens gelten: grundsätzlich überall dort, wo mittelalterliches Erzählen ein Wiedererzählen ist und die Verfasser mit dem Anspruch auftreten, einen vorgegebenen Stoff neu zu erzählen, und/oder wo sie sich auf ein kollektives Wissen bezüglich dessen, was Gegenstand der Darstellung ist, beziehen können.⁷⁹ Dabei könnte der Wunsch des Publikums, das, was ‚man‘ sagt und weiß, immer wieder aufs Neue zu hören, mitunter sogar zur Folge gehabt haben, dass bestimmte, in der Überlieferung zu Erzählikonen erstarrte Elemente schlicht erzählt werden mussten, auch

 Wobei es zu kuriosen Interferenzen zwischen der Bezugnahme auf das kollektive Wissen der (in diesem Fall: heroischen) Überlieferung und dem Hier und Jetzt der Handlungsdarstellung kommen kann; so in der Version E2 des ‚Eckenlieds‘, wo Dietrich soeben Ecke erstochen hat und schon ausrufen kann: so wil ich al der welt verjehen, / das ich in han erstochen. / man wais es wol und ist ch war (Str. 146,2– 4). Hier weiß also eine Figur um ihren eigenen Sagenruhm und kann sich affirmativ auf ihn beziehen – ein Fall der Selbstreflexivwerdung epischer memoria, ähnlich wie Müller 2017, S. 149 f., sie für die Wolfhart-Figur des ‚Nibelungenlieds‘ beschreibt. Zum mittelalterlichen Erzählen als Wiedererzählen siehe den grundlegenden Aufsatz von Worstbrock 1999. Dabei ist allerdings zu beachten, dass im mittelalterlichen Verständnis von artificium die Spielräume der Erweiterung oder Kürzung über das rein Rhetorische und das in den zeitgenössischen Poetiken ausgebreitete Instrumentarium weit hinausgehen, also auch Stoffliches beinhalten können, ohne dass damit schon der Anspruch der Dichter, eine vorgegebene materia wiederzuerzählen, prinzipiell aufgegeben wäre (in diesem Sinne schon Worstbrock ebd., S. 138).

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wenn sie für die Handlung und ihre Motivierung nicht nur entbehrlich waren, sondern sogar zu Widersprüchen führten.⁸⁰ Doch können diese allgemeinen poetologischen und dichtungspraktischen Voraussetzungen die grundsätzliche Tendenz der Texte, das Ganze der Geschichte – ihr Ergebnis – als von vornherein gegeben vorauszusetzen, vollständig erklären? Sie erklären sicherlich unterschiedliche Grade narrativer Finalität, aber meines Erachtens nicht Finalität als Grundprinzip dieses mittelalterlichen Erzählens. Das gilt insbesondere für jene Texte, in denen die Ganzheit, im Sinne eines a priori vorhandenen Sinnhorizonts, nicht numinos oder providentiell begründet sein muss, um sich entfalten zu können. Die zuletzt zitierte Stelle aus dem ‚Rother‘ ist dafür ein Beispiel. Die Providenz liegt hier in der Erzählung selbst, und die daraus, für heutige Begriffe, entstehende narrative Inkohärenz ist nicht eine des Handlungsmusters (denn welche schemastrukturellen Vorgaben sollten das an dieser Stelle sein?), sondern verweist, gerade indem sie sich nicht mit providentieller Fügung oder dem ‚Herrn über dem Schema‘ begründen lässt,⁸¹ auf eine Logik hinter der narrativen Logik finalen Erzählens. Was heutige Rezipienten an der Finalität mittelalterlichen Erzählens irritiert und immer wieder zur Wahrnehmung narrativer Inkohärenz führt, ist ein für unsere Begriffe unausgetragenes Verhältnis von Anfang und Ende. In einem im Wesentlichen von kausalen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen ausgehenden Weltmodell ist dieses Gegenüber nur schwer zueinander vermittelbar. ‚Neueres‘ Erzählen übersetzt ein solches Weltmodell daher, prototypisch vereinfacht formuliert, in ein linear-sukzessives Nacheinander kausal begründeter und miteinander verknüpfter Handlungs- und Erzähleinheiten. Doch könnte sich für mittelalterliche Produzenten und Rezipienten das Gegenüber von Anfang und Ende, das aufgrund der fundamentalen Sequentialität sprachlicher Äußerungen mit ihrem sukzessiven Nacheinander der Zeichen natürlich auch für sie gegeben war, gleichwohl anders dargestellt haben; und zwar nicht primär, weil sie an finales Erzählen gewöhnt oder mit anderen Formen nichtsyntagmatischer Textintegra-

 Die Ortliep-Strophe 1912 in der B-Fassung des ‚Nibelungenlieds‘ halte ich für einen solchen Fall. Ihr scheint eine archaischere Version zugrunde zu liegen, wie sie die ‚Thidrekssaga‘ bewahrt hat (siehe Die Geschichte Thidreks von Bern. Übers. von Fine Erichsen. Neuausgabe mit Nachwort von Helmut Voigt. Düsseldorf/Köln 1967 [Thule 22], S. 402 f.). In der Saga stimmig in die Handlungsmotivierung integriert, wirkt sie im ‚Nibelungenlied‘ widersprüchlich, weil hier die Kampfhandlungen an Etzels Hof durch den vorausgehenden Überfall der Hiunen auf den Tross der Burgonden bereits in Gang gesetzt sind.  Das mag vereinzelt im ‚König Rother‘ anders sein, wie Seidl 2013 argumentiert; doch würde ich im Grundsätzlichen der Einschätzung Kienings zustimmen, dass von Vertrauen in die göttliche Providenz in diesem Text eher nicht die Rede sein kann (vgl. Kiening 1998, bes. S. 221).

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tion bekannt gewesen wären (z. B. mit paradigmatischen Erzählverfahren), sondern weil narrative Finalität ein Verstehensmodell spiegelt, das ihnen in einer viel grundsätzlicheren Weise vertraut war. Wenn man einen Prototyp für dieses Verstehensmodell suchte – nicht im Sinne eines Vorbilds, aber als eines Handlungs- und Textzusammenhangs, der dieses Modell exemplarisch zur Anschauung bringt –, dann fände man es im schon angesprochenen Passionsgeschehen, wie es die Evangelien erzählen.⁸² Es interessiert hier nicht von seiner heilsgeschichtlichen, sondern von seiner logischen Struktur her, wenngleich das eine unabdingbar auf das andere bezogen ist. Um es nochmals anzudeuten: Die spezifische Dynamik dieses Geschehens besteht in der Verschränkung zweier entgegengesetzter und einander eigentlich ausschließender Geschehenslogiken: einer der objektiven Finalität, die auf die providentielle Notwendigkeit und Prädeterminiertheit des Geschehens zielt, und einer der subjektiven Handlungsfreiheit, die das Geschehen der Intentionalität und Autonomie des Subjekts anheimstellt (und dadurch im Übrigen auch Schuldmöglichkeit begründet). Auf die Struktur von Narration bezogen – und die Passionsgeschichte ist ja nicht zuletzt eine Erzählung –, lässt sich diese Verschränkung reformulieren als eine solche von Resultativität und Prozessualität: Das Ergebnis steht von Anfang an fest, und gleichzeitig muss der Weg dorthin als ein zumindest partiell ergebnisoffenes, die einzelnen Schritte verknüpfendes Progredieren ‚von vorn nach hinten‘ dargestellt werden. Dabei besteht das Drama der Judasfigur in einer letztlich tragischen Aporie: Es muss geschehen, was geschehen muss; aber wehe dem, der es in die Tat setzt. Diese Verbindung von prozessualer und resultativer Geschehenslogik, die die logische Grundstruktur des Passionsgeschehens bildet, kennzeichnet recht genau das Wechselverhältnis von Anfang und Ende, von kausal-prozessualen und finalresultativen Handlungsdynamiken, das auch mittelalterliche Erzähltexte aufweisen; Wolf Schmid hat von einem für mittelalterliche Erzählungen charakteristischen „Zwiespalt zwischen ereignishafter Offenheit für beliebige Entwicklungen und vorgegebener Determination“ gesprochen.⁸³ Explizit macht dieses Wechselverhältnis bekanntlich Konrad in seiner ‚Chanson de Roland‘-Bearbei-

 Siehe Kap. 5.3, S. 250 f.  Wolf Schmid: Mentale Ereignisse. Bewusstseinsveränderungen in europäischen Erzählwerken vom Mittelalter bis zur Moderne. Berlin/Boston 2017 (Narratologia 58), S. 105, in einer Analyse des Aspekts der Ereignishaftigkeit in Wolframs ‚Parzival‘. Schmid sieht hier einen Antagonismus am Werk – ich würde eher von ‚Spannung‘ sprechen –, den er gleichfalls auf ein christlichheilsgeschichtlich geprägtes teleologisches Denken zurückführt; ob man darin eine „Ideologie“ (S. 104 und Anm. 9) sehen muss, die derjenigen der heilsgeschichtlich geprägten Literatur des sozialistischen Realismus vergleichbar ist, sei dahingestellt.

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tung. Geneluns Verrat vergleicht der Erzähler sogar ausdrücklich mit dem Verrat des Judas: Genelûn geriet michel nôt. / den armen Judas er gebildôt (V. 1924 f.); und in eben diesem Zusammenhang wird auch die Vorstellung von der Vorgegebenheit allen Geschehens formuliert: des en was alles nehein rât, / ez was lange vore gewîssaget (V. 1934 f.). Das erzählte Geschehen ist „prophezeit“, das heißt im Vorhinein in Schrift oder Rede festgelegt.⁸⁴ Das ist eine im Kern christliche Denkfigur. Ihrer Struktur (nicht ihrem Gehalt!) nach scheint sie mir auch das nicht legendarisch oder heilsgeschichtlich perspektivierte Erzählen des Mittelalters zu prägen. Sie ist in die Faktur der Texte hineingenommen als eine charakteristische Spannung zwischen dem von Anfang an gewussten Ganzen und der Herausforderung, dieses Ganze prozessual zu entwickeln. Resultativität im Sinne eines vorgegebenen Ganzen der Geschichte kommt auch in den Texten zum Vorschein, in denen das dargestellte Geschehen nicht ohne Weiteres auf göttliche Providenz zurückführt, und die genannte Spannung kann hier sogar noch größer sein, da jener heilsgeschichtlich-transzendentale Übersprung, der das deutsche ‚Rolandslied‘, aber auch legendarisches Erzählen kennzeichnet, ihnen eben nur bedingt möglich ist. Zugleich ist es die Spannung zwischen Resultativität und Prozessualität, die diese spezifisch christliche Denkfigur von mythischen oder mythenanalogen Weltmodellen unterscheidet. Es handelt sich nicht um ein zyklisches Modell – dem steht schon die lineare, teleologische Zeitstruktur des heilsgeschichtlichen Konzepts entgegen –, sondern um eines, in dem sich statische Momente (u. a. in Form von Mustern, Schemata, scripts, frames, Prototypen) und dynamische Momente (Schemavariationen, Musterabweichungen, Konflikte zwischen unterschiedlichen Handlungs- oder Deutungsmustern etc.) überlagern. Als Denkfigur richtet sich Finalität auf eine ideelle Ganzheit des dargestellten Geschehens, nicht auf eine Ganzheit oder Geschlossenheit des Textes. ‚Ganzheit‘ und ‚Geschlossenheit‘ stellen, wie man zu Recht festgestellt hat, angesichts der Tendenz mittelalterlicher Dichtung, narrative Kohärenz von der kleinen Einheit – einer Szene, einer Episode, einem Motiv, einer figurativen Bedeutung – aus zu generieren, keine adäquaten Kategorien zu ihrer Beschreibung dar. Anders verhält es sich mit der ideellen Ganzheit der Geschichte: Sie charakterisiert das frühe

 Komplementär dazu wird auch das spätere Schlachtgeschehen in die biblische Geschichte eingebunden, sei es als Erfüllung biblischer Prophezeiung (V. 3453 – 3458, 4982– 4986, 5149 – 5154, 7707– 7714), als ein Sprechen von der Leidenserfahrung des christlichen Heeres in Worten der Heiligen Schrift (V. 4987, 5023 f.) oder als exemplarische Bestätigung biblischer Verkündigung (V. 5012– 5020, 9039 – 9042). Doch geht es mir hier nicht um die typologisch-heilsgeschichtliche Perspektivierung, die Konrad vornimmt, sondern um die dieser Perspektivierung zugrunde liegende doppelte Logik von Resultativität und Prozessualität.

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epische Erzählen – und nicht nur dieses – elementar und kann dabei nicht nur in finalen Motivationsstrukturen, sondern auch in narrativen Transgressionen zwischen intra- und extradiegetischen sowie textinternen und textexternen Ebenen zum Ausdruck kommen; nicht zuletzt zeigt sie sich in, aus heutiger Sicht, perspektivischen Inkohärenzen, die konstitutiv in die Texte eingelassen sind. Wie könnten mittelalterliche Rezipienten solche (vermeintlichen oder tatsächlichen) Inkohärenzen wahrgenommen und mental prozessiert haben? Wenn Finalität wirklich eine Denkfigur darstellt, im Sinne einer historisch spezifischen kulturellen Logik hinter der narrativen Logik der Texte, dann darf man die Vertrautheit des damaligen Publikums mit dieser Denkfigur unterstellen: Wer, überspitzt gefragt, kannte die Passionsgeschichte nicht? Mit ihrer eigentümlichen logischen Struktur steht sie stellvertretend für ein Verstehensmodell, das mit Interferenzen zwischen Anfang und Ende, Kausalität und Finalität, Prozessualität und Resultativität rechnet und es historischen Rezipienten ermöglicht haben dürfte, analoge Transgressionsphänomene in den Texten, die wir als Ausdruck mangelnder syntagmatischer Kohärenz wahrnehmen, narrativ zu integrieren.⁸⁵

 Daran anschließen ließe sich vielleicht, aber das sei hier nur angedeutet, Küppers These von der fundamentalen Zäsur, die das monotheistische Christentum für die Literaturgeschichte bedeutet habe. Joachim Küpper: Transzendenter Horizont und epische Wirkung. Zu ‚Ilias‘, ‚Odyssee‘, ‚Aeneis‘, ‚Chanson de Roland‘, ‚El Cantar de mío Cid‘ und ‚Nibelungenlied‘. In: Poetica 40 (2008), S. 211– 267, zufolge unterscheidet sich die christliche Epik von der vorchristlichen dadurch, dass sie epischem Geschehen eine transzendente Letztbegründung zuschreibt (etwa in den Rolandsepen mit ihrer Kreuzzugsthematik): „Den Gedanken einer prä-stabilierten Ordnung des Zukünftigen akzeptiert das christliche Hochmittelalter ganz und gar“ (S. 251, Anm. 138). Das mag, wie Müller 2017, S. 53 f., kritisiert, in dieser Absolutheit nicht zutreffen. Sicher ist nicht jedem Text eine christliche Sinngebung eingeschrieben oder einschreibbar. Das aber erledigt noch nicht die schon bei Küpper angedeutete Frage, inwieweit, wenn auch nicht christliche Sinngebung an sich, so doch die dieser zugrunde liegende logische Struktur – mit ihrem Modus von „Ankündigung und Erfüllung“ (der sich als ein solcher von Prozessualität und Resultativität reformulieren ließe; Küpper 2008, S. 221) – erzählstrukturbildend wirkte, auch in Texten, die keine religiöse Thematik aufweisen, und insbesondere im Hinblick auf Fragen narrativer Kohärenz und Konsistenz.

8 Ergebnisse Mittelalterliches Erzählen, zumindest das frühe, volkssprachige, ist ein Erzählen im Zeichen kleiner Einheiten und „partikularer Bindungen“ (Markus Stock). Das ist vielleicht der wichtigste Ausgangspunkt für eine historisch-systematisch und erzähltheoretisch-hermeneutisch angemessene Beschreibung der Kohärenzkriterien und -maßstäbe, die der frühen mittelhochdeutschen Epik vor 1200 zugrunde liegen. In der antik-mittelalterlichen Poetologie werden diese kleinen Einheiten stoffbezogen gefasst. Die materia einer epischen oder dramatischen Darstellung wird als aus ‚Teilen‘ bestehend verstanden, und die Gelehrten der Zeit, wie zum Beispiel um 1200 der (vermutlich) englische Rhetoriker Galfred von Vinsauf, beschäftigten sich unter anderem mit der Frage, wie unter dieser Voraussetzung die Darstellung zu ordnen sei. Ihre Gedanken zu dem, was man mit Musil die „erzählerische Ordnung“ nennen könnte, beschränken sich dabei im Wesentlichen auf die Übernahme und Weitergabe der schon in der antiken Rhetorik vorgenommenen Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Stoffanordnung. Diese Unterscheidung ist zwar kaum geeignet, den erzähllogischen Herausforderungen, vor die mittelalterliche volkssprachige Erzähltexte heutige Leser stellen, gerecht zu werden. Doch wenn Galfred in seinem ‚Documentum de modo et arte dictandi et versificandi‘ schreibt, man solle bei einer umfangreicheren Darstellung das gesamte Stoffcorpus (corpus materiae) in Augenschein nehmen und alle seine Einzelzüge entweder gemäß dem ordo naturalis oder dem artificialis verfolgen, damit bei der Behandlung der weitschweifigen Materie alle Teile des Stoffs miteinander verbunden sind (cohaereant), nämlich der Anfang, die Mitte und das Ende, und wir jenen Fehler vermeiden, der als unpassende Stellung der Teile (incongrua partium positio) bezeichnet wird (II,154 f.),¹

dann dokumentiert das: Nicht nur reproduziert die lateinische Dichtungstheorie des Mittelalters die ebenfalls schon antike Auffassung von narratio als Struktur, im Sinne einer aus einzelnen Teilen bestehenden, geordneten Ganzheit, sondern sie zeigt auch ein Bewusstsein dafür, dass es bei der dichterischen Darstellung darum geht, diese Teile in ein irgendwie kongruentes Verhältnis zu setzen; mit anderen Worten, sie so miteinander zu verbinden, dass sie „kohärieren“. Kohärenz ist demnach eine Kategorie, die nicht erst in der modernen Erzähltheorie eine Rolle spielt. Das macht sie noch nicht zu einer notwendigen

 Für das lateinische Originalzitat siehe Kap. 3.2, S. 96. https://doi.org/10.1515/9783110593105-009

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Bedingung für Textualität oder gar Narrativität – eine Frage, die in der Textlinguistik ebenso wie in der Narratologie umstritten ist.² Aber man wird sagen können, dass in jeder strukturalen Konzeptionalisierung von Erzählung, ob morphologisch, formalistisch, strukturalistisch, psycholinguistisch oder wie immer, Kohärenz zumindest implizit als eine wichtige Eigenschaft narrativer Texte betrachtet wird.³ Das gilt auch für die – letztlich auf dem organologischen Modell platonischer Prägung aufruhende – Konzeptionalisierung der epischen oder dramatischen Darstellung in der Poetik des 12. und 13. Jahrhunderts. Die Spannung, die dabei zu bewältigen ist, findet sich bei Galfred im Prinzip schon angesprochen: Es ist die zwischen der Stoffgesamtheit, dem universum corpus materiae, einerseits und seinen einzelnen Teilen andererseits, die zueinander und damit auch zum Ganzen der materia in ein stimmiges, harmonisches (congruus) Verhältnis zu setzen sind. Galfred – und mit ihm das Gros der mittelalterlichen Dichtungstheoretiker – hat dabei, neben der Lehre von den beiden ordines narrandi und einer ihr entsprechenden entweder chronologischen oder nichtchronologischen Ereignisabfolge, vor allem das aristotelische und auch von Horaz aufgenommene Anfang-Mitte-Ende-Schema im Blick, das freilich auch stiltheoretisch interpretiert werden konnte. Wo es aber nicht auf die Wahrung der durch den Stoff vorgegebenen Stilebene bezogen ist, da wird das Schema in der Regel mit einer Geschehensdarstellung gemäß dem Prinzip des verisimile in Verbindung gebracht. Zum Maßstab wird eine Darstellungsweise, die sich an einer ‚wahrscheinlichen‘, das heißt raumzeitlich stimmigen, kausalen Verknüpfung der einzelnen Elemente eines Handlungskomplexes orientiert. Mit einem modernen kognitionswissenschaftlichen Vokabular beschrieben, steht hinter dem Konzept des verisimile die Forderung an den Dichter, die Darstellung an lebensweltlich realistischen Szenarien – scripts oder frames – auszurichten, das heißt an Abläufen, die nach Maßgabe von „Sitte, Meinung und Natur“ (‚Rhetorica ad Herennium‘ I,9,16) erwartbar sind. Unter dem Eindruck der arabisch-lateinischen Aristoteles-Rezeption des 12. und 13. Jahrhunderts verschiebt sich die Interpretation des aristotelischen Mimesis-Begriffs dann hin zu einer stärkeren Gewichtung des persuasorischen Charakters der Dichtung. Dem entspricht eine Darstellungslogik, die nicht primär die Vernunft des Menschen anspricht und auf kausale Gesetzmäßigkeiten abstellt, sondern sich der Imagination und, vor allem, dem Begehren (appetitus) des Rezipienten anpasst. Aus modern-erzähltheoretischer Sicht ist damit eine wichtige Differenzierung angedeutet: dass nämlich das verisimile als Kategorie eine ontologische und eine

 Siehe Stuck 2000, S. 281.  Vgl. Toolan 2014, S. 66.

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narratologische Seite hat. Es geht nicht nur darum, ob etwas an sich wahrscheinlich ist und geschehen kann – und in diesem Sinne ‚stimmig‘, ‚folgerichtig‘, ‚kohärent‘ ist; sondern auch darum, wie erzählt werden muss, damit beim Rezipienten der Eindruck des Wahren, Stimmigen, Kohärenten entsteht. Kohärenz liegt letztlich im Auge des Betrachters, und darum habe ich für diese Untersuchung einen Ansatz gewählt, der die Frage nach historischen Formen und Verfahren der Kohärenzbildung zwar aufgrund textueller Indizien, aber von der Perspektive des (impliziten) Rezipienten und seinen Möglichkeiten der Wahrnehmung narrativer Kohärenz her aufzufächern versucht. Als Hinweise auf eine anthropologisch alteritäre Kognition haben sich die für heutige Begriffe auffälligen, weil ihre Kohärenz scheinbar oder tatsächlich irritierenden Phänomene in den frühen mittelhochdeutschen Epentexten des 12. Jahrhunderts nicht herausgestellt (was nicht bedeutet, dass solche anthropologischen Verschiebungen gänzlich ausgeschlossen sind); wohl aber als Spuren einer offenkundig in Teilen anderen narrativen Kognition – einer historisch spezifischen Art und Weise, einen narrativen Diskurs bewusstseinsmäßig so zu verarbeiten, dass er vermutlich nicht als inkohärent wahrgenommen wurde, auch wo gegen neuzeitliche, hauptsächlich an der Literatur der Goethezeit und des 19. Jahrhunderts geschulte Kohärenzmaßstäbe verstoßen zu werden scheint. Anders als in der poetischen und rhetorischen Tradition, auf die, unter anderem, Galfred sich beruft, sind als einzelne Teile oder kleine Einheiten der Erzählung dabei nicht nur partes materiae, Stoffteile also, anzusehen, sondern diskursive Einheiten in einem weiteren Sinne, aus denen die Narration besteht. Und wenn die vor- oder frühhöfischen Erzähltexte erkennen lassen, dass ihre narrative Faktur von solchen kleinen Einheiten und den für sie anzusetzenden Kohärenzbedingungen her entworfen ist, dann betrifft das zuvörderst das Verhältnis von partikularer Erzählstruktur und rezeptionspragmatischem Rahmen. Besieht man sich ihre Oberflächenstruktur näher und versucht, ihre kohäsionelle Organisation zu beschreiben, dann fällt nicht nur auf, dass sie in Handlungs- und Geschehenseinheiten fortschreiten, deren Länge sich auf durchschnittlich etwa fünfzig Verse bemisst; bemerkenswert ist vor allem, dass an den Grenzen zwischen Handlungseinheiten – jenen shifts von einer Szene oder Episode zur nächsten, die unter Kohärenzgesichtspunkten immer „moments of difficult transitions“ (Wallace Chafe) darstellen – nicht die Gestaltung eines geschmeidigen Erzählübergangs das Wichtigste war, sondern die deutliche Markierung der narrativen Progression. Dem foregrounding, das heißt der Herstellung einer Reliefstruktur, die dem Rezipienten die kognitive Prozessierung des Erzählten erleichtert, dient dabei insbesondere die häufige und für unser Empfinden vielfach überschüssige Verwendung von Diskursmarkern (vor allem der Partikel dô), die ein Kennzeichen der Vertextung in der überwiegend parataktisch organisierten

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mündlichen Rede sind. Auch die Art der in den Texten verwendeten metanarrativen Formeln spricht dafür, dass die Autoren von einem Textualitätsverständnis ausgingen, das nicht einseitig von der Buchform geprägt und an die Schrift gebunden war. Statt stärker buchschriftlich angelegter Formeln vom Typ ‚Nun lassen wir X und Y und sprechen weiter von A und B‘ oder ‚Nun lassen wir die rede‘, wie sie dann in der volkssprachigen erzählenden Prosa des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit dominieren, bevorzugen sie Wendungen, die nicht eigentlich der Korrelation von Handlungssträngen dienen, sondern ‚nur‘ der autoritätsheischenden Berufung auf die Tradition (nû kündent uns diu buoch) oder der Ankündigung fortgesetzten Sprechens (nû wil ich iu sagen). Zugleich dürften viele Fälle dessen, was wir als ‚harte Fügungen‘ wahrnehmen, Fälle also, bei denen auf den expliziten sprachlichen Ausdruck von Kohärenz ganz verzichtet wird, von den historischen Rezipienten als unproblematisch empfunden worden sein. Moderne kognitionspsychologische Studien legen nahe, dass Gehörtes kognitiv anders modelliert und visualisiert wird als Gelesenes. Wenn man die Befunde mit Vorsicht auf die kognitive Situation eines mittelalterlichen Publikums überträgt, dann spricht viel dafür, dass den damaligen Rezipienten das Vorgetragene aufgrund des Hörens sehr schnell in einer visuellen Gesamtschau kognitiv verfügbar war. Das machte lineare textgrammatische Kohäsion in einem Grade vernachlässigbar, wie wir als visuell an die Buchseite mit ihrem linear organisierten Text gebundene Leser uns das kaum mehr vorstellen können. Vor allem für Räumliches in diesem volkssprachigen Erzählen vor und um 1200 gilt, dass sich seine immer wieder auffällig amorphe, wenig wirklichkeitsförmige und in sich inkonsistente Raumdarstellung systematisch auf die Medialität der literarischen Kommunikation zurückführen lässt. Ich gehe dazu von einem funktional-pragmatischen Textverständnis aus, das ‚Text‘ bestimmt als eine „aus ihrer primären unmittelbaren Sprechsituation herausgelöste Sprechhandlung, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert wird“ (Konrad Ehlich). Es lässt sich dann zeigen, dass die Raumdarstellung in den mittelalterlichen Texten – und zwar gerade dort, wo es nicht um eine bestimmte Raumsemantik geht – fundamental geprägt ist von den kognitiv-perzeptiven Bedingungen, die für die visuell-auditive Vortragssituation gelten, als einer Situation, in der der gemeinsame Wahrnehmungsraum (der Raum des performativen Textvortrags) und der im Akt des Erzählens evozierte Vorstellungsraum (der imaginativ entworfene Raum der erzählten Welt) ineinandergeblendet werden. Demonstrieren lässt sich das sowohl an der Orientierung der Raum- und Bewegungsregie an den je handlungsbestimmenden Figuren ebenso wie am Gebrauch deiktischer statt nichtdeiktischer Arten des Referierens oder, im Fall einer quasi-bühnenräumlichen Darstellung, der Suggestion unmittelbarer Wahrnehmbarkeit des Erzählten durch Körper und Stimme des performativ agierenden Rezitators.

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So wie die mediale Pragmatik auf diese Weise die kohäsionelle Organisation der Texte und ihre Raumdarstellung beeinflusst, so dürfte sie auch das Progredieren in kleinen Einheiten begünstigt haben. Und es scheint kein Zufall, dass der Aufbau inhaltlich-thematischer Kohärenz ebenfalls von der kleinen Einheit, von Strukturen mittlerer Reichweite aus erfolgt (und eben auch immer wieder darauf, auf die kleine Einheit, beschränkt bleibt). Dabei lassen sich drei Gravitationszentren unterscheiden, von denen aus Kohärenz inhaltlich-thematisch organisiert wird: Schema, Szene und (figurative) Bedeutung. Während ‚Schema‘ die Gebundenheit mittelalterlichen Erzählens an literarisch vorgeformte Handlungsmuster – im Sinne makrostruktureller Plotverläufe – meint, erscheinen Kohärenzstrukturen szenengebunden, wo die narrative Gestaltung auf kleine Handlungsabschnitte – mit in der Regel gleichbleibendem Schauplatz und Personal – fokussiert wirkt. Aber oft beobachtet man auch, dass einzelne, makrostrukturell inkonsistent wirkende Informationen durch die Orientierung hin auf eine bezeichenunge geprägt sind, hinter der die literale Bedeutung der Proposition offenbar zurücktreten kann. Hier kann man von einem Vorrang der bezeichenunge sprechen, und die Texte lassen eine Tendenz erkennen, Kohärenz punktuell von diesem semantischen Mehrwert, nicht vom propositionalen Gehalt der jeweiligen Prädikation aus zu entwickeln. Wenn sich dann für den durchschnittlichen heutigen Leser Inkohärenzen, vor allem solche motivationaler Art, in den Texten auftun, so erklären sie sich vielfach daraus, dass die Handlungsdarstellung sich lokal an prototypischen Abfolgen oder anderen präformierten Mustern – scripts oder frames – orientiert, ohne dass diese notwendig auf das größere Ganze, die semantische oder narrative Makrostruktur oder das finale Erzählanliegen abgestimmt sein müssten (und mitunter auch gar nicht abgestimmt werden können). Es zeigte sich, wie die Annahme solcher Scripts handlungslogische Lücken, Inkonsistenzen oder Widersprüche erklären oder kompensieren kann: Das damalige Publikum dürfte hier aufgrund seines Scriptwissens in der Lage gewesen sein, entsprechende, auf uns inkonsistent wirkende Textinformationen kohärent zu prozessieren. Ebenso können einem Element der Narration, wie im Fall der IseFigur aus dem ‚Orendel‘, verschiedene Bedeutungen wie einander überlagernde Schichten zugeordnet sein, um, je nach Bedarf der kleinen, lokalen Erzähleinheit, aufgerufen zu werden. Thematische Kohärenz erscheint hier nicht nur als eine solche mittlerer Reichweite, sondern funktional bezogen auf das, was Gegenstand des einzelnen, kleineren Handlungsabschnitts oder einer entsprechenden Szenensequenz ist. Das wirft freilich ganz grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis von kleiner Einheit und dem Ganzen der Erzählung auf. Auch wenn ‚Ganzheit‘ im Sinne von ‚Geschlossenheit‘ offenkundig keine Kategorie ist, die diesem früheren

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epischen Erzählen in der Volkssprache gerecht würde,⁴ hatten die Autoren doch eine Vorstellung von ihren Werken als einem umfassenderen Ganzen. In Galfreds von Vinsauf eingangs noch einmal zitierter Bemerkung zu den ordines narrandi stellt sich diese stoffbezogen dar, als Rücksicht auf das universum corpus materiae einerseits, seine einzelnen partes andererseits. Für die mittelalterliche volkssprachige Epik scheint mir, dass sich die aus dem Gegenüber von individueller Szenenlogik und der teleologischen Logik der Gesamthandlung entstehende Spannung teilweise reformulieren lässt als eine solche zwischen Affirmationsbedürfnissen, dem Wunsch nach Weltgewissheit, und dem Unbekannten, buchstäblich Unerhörten, das die Erzählwürdigkeit (tellability) des Dargestellten begründet. Wo lokal begrenzt bestimmte Scripts aufgerufen werden, die als kognitive Muster den Rezipienten bekannt gewesen sein dürften, seien sie nun mehr alltagsweltlich oder mehr literarisch geformt (wie im Fall von Erzählschablonen oder -schemata), oder wo, wie im Fall der ‚abgewiesenen Alternative‘, das Bekannte und Erwartete eingespielt wird, um sodann im Erzählfortgang negiert zu werden, da lassen sich Unstimmigkeiten zwischen narrativer Makro- und Mikrostruktur als Intensitätsmarker lesen: Sie verweisen auf die Bedeutung, die der bestätigenden Ausstellung dessen zukam, was ‚man‘ weiß und was seit jeher gilt. Auf die einzelne Handlungseinheit bezogen – erinnert sei an den Beginn des ‚Münchner Oswald‘ mit der verdoppelten (und zu semantischen Konkurrenzen führenden) Ratszene –, stellt sich das Verhältnis von Mikro- und Makrostruktur dabei häufig als ein potentieller Antagonismus zwischen proaktiv-kausaler, an geläufigen Wahrscheinlichkeitsvorstellungen orientierter Motivation und finalretroaktiver Motivation dar, wie die Forschung sie im Anschluss an Clemens Lugowski für das vorneuzeitliche Erzählen beschrieben hat. Offenkundig waren mittelalterliche Rezipienten in viel höherem Maße gewöhnt, mit solchen Spannungen umzugehen, sie vielleicht gar nicht einmal als solche zu empfinden. Und das würde nicht wundernehmen, wenn man in Rechnung stellt, dass damit letztlich eine kulturelle Logik aktualisiert wurde, die einem Gründungsnarrativ der abendländischen Tradition entspricht: nämlich der Verschränkung von Prozessualität und Resultativität, von Offenheit und Determination im heilsgeschichtlichen Denken des Christentums. Erzähltheoretisch lassen sich solche Phänomene als Momente narrativer Transgression beschreiben. Nicht nur die Erzählerstimme kann proleptisch auf das Ende vorverweisen, sondern auch die Figuren scheinen, intradiegetisch, an einem Wissen um das Ganze der Geschichte partizipieren und in Bezug auf dieses handeln zu können. Auch sonst sind perspektivische Inkohärenzen, wie ich sie

 Müller 2007, S. 39.

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nenne, nicht selten: Figuren reagieren auf der Ebene der Diegese auf Erzähleräußerungen oder referenzieren auf ein Wissen, über das zwar der Erzähler, der (reale oder implizite) Rezipient oder eine andere Figur, nicht eigentlich aber sie selbst verfügen können. Solche Metalepsen erklären sich natürlich nicht allein aus vorgängigen mentalen Konfigurationen, in denen Kausalität und Finalität, Prozessualität und Resultativität zusammengedacht werden können. Vielmehr dürften auch hier die medial-pragmatischen Rahmenbedingungen eine erhebliche Rolle gespielt haben. Zumindest ist die Situation des performativen Textvortrags diejenige, die potentiellen Transgressionen in der narrativen Informationsvergabe am ehesten entspricht. Hier leiht eine Person, der Rezitator, allen Äußerungssubjekten der Erzählung sein Gesicht und seine Stimme: den Figuren ebenso wie demjenigen Subjekt, das den Narrationsakt hervorbringt. Was für heutige Begriffe daher perspektivisch inkohärent erscheint, dürfte für zeitgenössische Rezipienten im Rahmen des Vortrags mit seiner Präsenzlogik durchaus kohärent prozessierbar gewesen sein. Wenn Figuren und Erzähler von ein und derselben Person im Raum verkörpert werden, muss die Vermischung jener Ebenen, die gängige narratologische Beschreibungsinstrumentarien getrennt zu halten versuchen, nicht unbedingt störend aufgefallen sein. Im Gegenteil: Auch Transgressionsphänomene, bei denen der Erzählinhalt im Erzählakt wie in einer „Epiphanie des Erzählten“ (Peter Strohschneider) zur Erscheinung kommt, sind auf die Präsenzlogik der Aufführungssituation eigentlich angewiesen. Die Erzähllogik der frühen mittelhochdeutschen Epik zeigt sich so fundamental, das heißt bis in die Textkonstitution hinein geprägt von ihren medialen und situativ-pragmatischen Kontexten. Aber das ist nicht so zu verstehen, dass die mediale Pragmatik jedes Phänomen, das uns an mittelalterlichem Erzählen in erzähllogischer Hinsicht irritierend erscheinen mag, erklären könnte. Weder erklärt die Vortragsperformanz alles, noch ist sie einseitig konstitutiv für die textuelle Verfasstheit des Erzählens, um das es in diesem Buch ging. Es handelt sich um ein episches Erzählen, das, bei grundsätzlich buchschriftlicher Konzeption, noch relativ am Anfang des Übergangs von mündlicher zu schriftlicher Literaturtradition und, vor allem, -rezeption steht. Dementsprechend mischen sich in ihm Züge einer mündlich-performativen, audiovisuell gebundenen Erzähllogik mit solchen einer stärker schriftliterarisch informierten. Die Texte wirken, von Differenzierungen im Einzelnen abgesehen, weder auf das eine noch auf das andere hin konsequent durchgearbeitet. Das scheint mir, auch das sei nochmals betont, gegen die Annahme einer intentional fingierten Mündlichkeit zu sprechen, die sich Oralitäts- und Performativitätsspuren als eines literarischen Kunstmittels bedienen würde. Natürlich kann dieser Eindruck auch durch die je besondere Überlieferungssituation der Werke bedingt sein: Bei später und/oder teilweise schon stilistisch redigierter Überlieferung eines Gros des Textbestands,

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wie etwa im Fall des ‚Herzog Ernst‘ oder auch Eilharts ‚Tristrant‘, lässt sich nicht immer sicher entscheiden, was alte oder schon neuen, veränderten Bedürfnissen angepasste Textgestalt ist. Insgesamt aber entsprechen die Kohärenzprinzipien dieser frühen weltlichen Epik in deutscher Sprache dem Bild einer Literatur ‚im Werden‘. Es wirkt, als schüttele sich da eine Textualität zurecht, die allmählich ‚Literatur‘ (im Sinne einer an die littera gebundenen, dem Buchmedium verpflichteten Kulturpraxis) werden will, noch tastet und sucht, zwischen Performativität und Buchmedialität, Mündlichkeits- und Schriftlichkeitskultur steht, aber doch in eine Richtung strebt, die durch die mediale Entwicklung bedingt und durch sie vorgezeichnet erscheint.

Abkürzungen ABG ATB BdK Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. BT CIMAGL DTM DVjs Euph. FMSt GAG GRM HSK HWRh IASL JLT LexMA LiLi 2 MGG

MGH SS MPL MTU Neuphil. Mitt. NLH PBB Phil. Stud. u. Qu. QF RJb RLW

RUB stw TMP

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VL

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Register Autoren- und Werkregister ‚Accessus ad auctores‘ 76, 80 f., 100, 108, 200 f. Alber, Priester 35 Alberic de Pisançon – ‚Alexandre‘ 132, 170 Albrecht, Dichter des ‚Jüngeren Titurel‘ – ‚Jüngerer Titurel‘ 154 f. ‚Die Ältere Judith‘ 271 ‚Altsächsische Genesis‘ 170 ‚Angelsächsische Chronik‘ 304 ‚Annolied‘ 170 Anonymus Turicensis 78, 82 Anselm von Canterbury 83 Anselm von Laon 83 – Lucan-Kommentar 83 – 88 Aristoteles 43, 46 f., 50, 57, 82, 108, 111, 112, 202, 254, 346 – ‚Poetik‘ 7, 43 – 46, 54, 77, 102 – 106 – ‚Rhetorik‘ 106 Arnulf von Orléans 83 – ‚Glosule super Lucanum‘ 83 – 88 Äsop 91 Averroes (Ibn Ruschd) 102 – 105 Avicenna (Ibn Sīnā) 105 Bacon, Roger 102 Balzac, Honoré de 60, 196 Barnes, Djuna 112 ‚Bataille d’Aliscans‘ 288 ‚Battle of Brunanburh‘ 304 Beda Venerabilis – ‚Historia ecclesiastica gentis Anglorum‘ 213 Berliner Martian-Kommentar 101 f. ‚Berliner Oswald‘ 220 Bernardus Silvestris (?) 89 – ‚Aeneis‘-Kommentar 81 f. – Martian-Kommentar 101 Bernhard von Utrecht – Theodul-Kommentar 79 Béroul 75 https://doi.org/10.1515/9783110593105-012

Berthold von Regensburg 244 Bibel 58, 131 f., 241, 250 f., 285, 342 – 344 ‚Budapester Oswald‘ 221 ‚Carmina Burana‘ 182 f., 185 – 188, 305 Čechov, Anton Pavlovič 235 ‚Chanson de Roland‘ 109, 138 f., 141 – 144, 146, 171 f., 178, 234, 304, 326 f. ‚Chanson de Sainte Foy‘ 169 Chaucer, Geoffrey 128 Chrétien de Troyes 18, 203, 253 – ‚Cligès‘ 320 f. – ‚Erec et Enide‘ 158, 203, 207 – ‚Yvain‘ (‚Le chevalier au lion‘) 201, 212, 234 f., 268 Cicero, Marcus Tullius 92, 98 – 100 – ‚De inventione‘ 77, 95, 99 f. – ‚Somnium Scipionis‘ 82, 90 f. Couldrette 155 DeLillo, Don 112 Dominicus Gundissalinus 102 ‚Dresdner Heldenbuch‘ siehe ‚Heldenbücher‘ ‚Eckenlied‘ 182 – 188, 305, 340 ‚Ecloga Theoduli‘ 79 Eilhart von Oberg – ‚Tristrant‘ 197, 247, 272 f., 279, 289 f., 292, 301, 318 f., 321 f., 324 f., 325, 334, 352 ‚Encomium Emmae reginae‘ 90 Felix von Crowland – ‚Vita s. Guthlaci‘ 80 Flaubert, Gustave 196 Fleck, Konrad 334 Freytag, Gustav 51

Autoren- und Werkregister

Galfred von Vinsauf 80, 95, 98 f., 100 f., 116 f., 345 – 347, 350 – ‚Documentum de arte versificandi‘ 86, 95 – 97, 345 f. – ‚Poetria nova‘ 80 f., 95 f. Goethe, Johann Wolfgang von 46 – 49, 51, 53 – ‚Entwürfe zu einem osteologischen Typus‘ 47 f. – ‚Hermann und Dorothea‘ 7, 47 – ‚Studie nach Spinoza‘ 48 – ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ 255 Gottfried von Straßburg 34, 110, 154, 191, 334 – ‚Tristan‘ 23, 34, 75 f., 110, 190, 194, 197 f., 274 ‚Graf Rudolf‘ 35, 153 f., 161 ‚Die gute Frau‘ 35, 191 Hartmann von Aue 18, 34, 110, 154, 191, 253, 334 – ‚Der arme Heinrich‘ 28 f., 160 – ‚Erec‘ 310 – 312 – ‚Gregorius‘ 15 f., 202 – ‚Iwein‘ 17, 200, 234 f., 268, 279, 307 ‚Der Heiligen Leben‘ (‚Prosa-‘, ‚Wenzelpassional‘) 220 Heinrich von Freiberg 197 Heinrich von dem Türlin – ‚Die Krone‘ 110, 328 Heinrich von Veldeke 34, 154, 161, 340 – ‚Eneit‘ 200, 235, 258 ‚Heldenbücher‘ 187, 328 – ‚Dresdner Heldenbuch‘ 184 – 188 ‚Heliand‘ 170, 334 Hermannus Alemannus 102, 106, 108 – ‚Mittlerer Kommentar‘ (‚Poetria‘) von Averroes 102 – 104 ‚Herzog Ernst‘ 35, 161, 264, 275, 292, 301, 340, 352 – ‚Herzog Ernst A‘ 223, 286 f. – ‚Herzog Ernst B‘ 127, 154, 167, 173, 206, 208 – 210, 221, 222 – 233, 255, 286 – 290, 294 – 299, 315 f., 324, 334, 336 – 338 – ‚Herzog Ernst C‘ 222 f. – ‚Herzog Ernst F‘ 222 f.

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– ‚Herzog Ernst Vb‘ 222, 225 ‚Hildebrandslied‘ 170, 334 ‚Historia de preliis‘ 30 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 166 Horaz 83, 92, 102, 117, 346 – ‚Ars Poetica‘ 7 f., 77 – 79, 81 f., 94 – 99, 100 f. Humboldt, Wilhelm von 7, 46 – 49, 53 – ‚Essais aesthétiques‘ 48 f. – ‚Über Goethes Hermann und Dorothea‘ 7, 47, 49 f. Isidor von Sevilla 85, 88 – ‚Differentiae‘ 85 – ‚Etymologiae‘ (‚Origines‘)

85

Johannes von Garlandia 95, 97, 100, 107 – ‚Parisiana Poetria‘ 97 – 100 Johannes de Grocheo 163 Johann von Würzburg – ‚Wilhelm von Österreich‘ 155 Johnson, Crockett 307 ‚Die Jüngere Judith‘ 210 Juvenal 83 ‚Kaiserchronik‘ 35, 123, 125 – 130, 150, 153, 156, 170, 328 Keller, Gottfried 51 ‚Die Klage‘ siehe ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘ ‚König Rother‘ 23 f., 34 f., 123, 125 f., 133 – 138, 140, 153, 161, 163 – 167, 214, 238, 243, 246 f., 267, 271 f., 274 f., 279, 313 – 315, 316 – 318, 322 – 324, 328, 338 – 341 Konrad, Pfaffe 35, 109 – ‚Rolandslied‘ 20 f., 26, 30, 35, 109, 116, 123, 126, 128, 138 – 146, 148 f., 153, 163, 165, 168 – 172, 174, 177 – 179, 181, 210 – 213, 217, 232 – 234, 247 – 250, 255 f., 269 f., 279, 280 – 283, 292, 301 f., 304, 309, 318, 326 f., 334, 340, 342 f. Konrad von Mure 116 – ‚Summa de arte prosandi‘ 116 f. Konrad von Würzburg 154 – ‚Trojanerkrieg‘ 76 ‚Kudrun‘ 22 f., 27, 154, 161, 190, 247, 313

388

Register

Lambrecht, Pfaffe 35 – Alexanderroman (‚Vorauer Alexander‘) 35, 123, 125, 130 – 133, 153, 157, 170 f., 267 ‚Lancelot‘ (‚Lancelot-Gral-Prosaroman‘), dt. 155 – 157 ‚Leodegarlied‘ (‚Vie de Saint Léger‘) 169 f. Lessing, Gotthold Ephraim 52 – ‚Laokoon‘ 3 ‚Linzer Oswald‘ 213, 221 Lucan(us), Marcus Annaeus – ‚De bello civili‘ (‚Pharsalia‘) 83 – 88 Macrobius, Ambrosius Theodosius – Kommentar zum ‚Somnium Scipionis‘ 82, 90 – 92 – ‚Saturnalia‘ 90 ‚Mai und Beaflor‘ 35, 191 Malory, Sir Thomas 151 f. Martianus Capella – ‚De nuptiis Philologiae et Mercurii‘ 101 ‚Materia‘-Kommentar (‚Glose in Poetriam Horatii‘) 78, 81 f., 100, 111 Matthäus von Vendôme 80, 89, 100, 107 – 109, 116, 254 – ‚Ars versificatoria‘ 86, 89 – 95, 101, 110 f., 117, 204 ‚Münchner Oswald‘ 153 f., 213 – 222, 233, 238, 245, 255, 275, 330 f., 335 f., 339, 350 Musil, Robert 1 f., 9, 84, 345 ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘ – ‚Nibelungenlied‘ 17 f., 22, 30, 72 f., 140, 154, 157, 190, 192, 193 – 196, 205, 219, 240, 257, 266, 269, 310 f., 325, 334, 337, 340 f. – ‚Die Klage‘ 334 ‚Orendel‘ (‚Der Graue Rock‘) 221, 234, 236 – 246, 255 f., 270 f., 274 f., 278 f., 282 – 284, 335, 339, 349 ‚Ortnit‘ 292 Otmar, Johann 237, 245 f. Ovid 101, 108 f. – ‚Metamorphoses‘ 90, 94

Platon 57, 92, 346 – ‚Phaidros‘ 42 f., 45 f. Der Pleier – ‚Garel von dem Blühenden Tal‘ ‚Prosalancelot‘ siehe ‚Lancelot‘

154

‚Questio in poetriam‘ 104 – 106, 108, 111 Quintilian – ‚Institutio oratoria‘ 95 ‚Rabenschlacht‘ 40, 235, 289, 303, 308 f., 334 ‚Rhetorica ad Herennium‘ 77, 92 – 95, 98, 100, 346 ‚Ritter Galmy‘ 193 Robbe-Grillet, Alain 112 ‚Roi Horn‘ 137 Rudolf von Ems 154 – ‚Alexander‘ 200 ‚Salman und Morolf‘ 153, 238, 275, 336 Schiller, Friedrich 51 ‚Scholia Vindobonensia ad Horatii Artem Poeticam‘ 78 f. Servius Honoratus, Maurus 79 – ‚Aeneis‘-Kommentar 81, 92 Shakespeare, William 63 Sidney, Sir Philip 152 Sokrates 42 Staël, Germaine de 47 f. Der Stricker 154 – ‚Karl‘ 30, 168 f., 172, 217, 249 f., 301 f. – ‚Pfaffe Amis‘ 15, 21 ‚Tatian‘, ahd. 131 Terenz 78, 83, 101 ‚Thidrekssaga‘ 341 Thomas von Britannien – ‚Tristran‘ 75, 197 Thüring von Ringoltingen – ‚Melusine‘ 155 f. ‚Tristramssaga‘, norweg. 197 Ulrich von Etzenbach – ‚Alexander‘ 191 Ulrich von Türheim 197

Autoren- und Werkregister

Vergil 78, 87, 92, 101 – ‚Aeneis‘ 78 f., 81, 92 ‚La vie de Saint Alexis‘ 146 ‚La vie de Saint Grégoire‘ 202 Villehardouin, Geoffroy de 132 Walter von Châtillon 30 Wernher, Priester 35 Wernher der Gartenære – ‚Helmbrecht‘ 283 Wickram, Jörg 193 ‚Wiener Oswald‘ 213, 220 Wilhelm von Champeaux 83

389

Wilhelm von Conches 91 Wirnt von Grafenberg – ‚Wigalois‘ 328 f., 332 ‚Wolfdietrich‘ 252, 328 Wolfram von Eschenbach 34, 154, 191, 309, 335 – ‚Parzival‘ 21, 158, 200, 342 – ‚Willehalm‘ 25, 154, 179 – 182, 286 – 288, 291, 304 f., 308 f., 334 ‚Zuger St. Oswald-Spiel‘

213, 221

390

Register

Register der Forschungsliteratur Abelson, Robert P. 66 Althoff, Gerd 226 f. Auerbach, Erich 146, 170, 244 Baesecke, Georg 214 Barthes, Roland 54, 107 Bartsch, Karl 229 f. Bäuml, Franz H. 300 Bertau, Karl 73 f., 195 Boor, Helmut de 237 Boutet, Dominique 149 Bremond, Claude 54 Brink, Charles Oscar 97, 99 Brinker, Klaus 165 Brinton, Laurel J. 118 Brooks, Lee R. 175 Bruner, Jerome 66 Bühler, Karl 260 – 262, 285 Bumke, Joachim 200 Cassirer, Ernst 9, 71, 196 Červenka, Miroslav 53 Chafe, Wallace 118, 347 Chomsky, Noam 189 Culler, Jonathan D. 60 f., 63, 253 Curschmann, Michael 186, 214, 237 f., 280, 300 Czerwinski, Peter 267 Dahan, Gilbert 104 Dennerlein, Katrin 285 Dinkelacker, Wolfgang 292 Doležel, Lubomír 32, 46 Ebel, Kai-Peter 226 f. Eco, Umberto 61, 63 Ehlich, Konrad 260 f., 348 Eliot, Thomas S. 52 Fleischman, Suzanne 146 Fludernik, Monika 61, 118 f., 151 – 153, 156, 160 Frank, Joseph 52 Friis-Jensen, Karsten 78, 100

Genette, Gérard 23, 54, 293 f., 307, 312 Gibbs, Raymond W. 4 – 6, 63, 70 Glauch, Sonja 35, 150, 158 – 160, 263 f., 300 f. Graevenitz, Gerhart von 92 Greimas, Algirdas Julien 54, 57, 310 Gülich, Elisabeth 151 Haferland, Harald 4 – 6, 73, 172 f., 175, 194 – 196, 230, 291 f., 311 Harms, Wolfgang 225 Haug, Walter 50 Heinzle, Joachim 185, 190 f., 287 Hellmann, Manfred W. 224 Herman, David 61, 66 f. Herweg, Mathias 229 f., 244 Heselhaus, Clemens 224 f. Hjelmslev, Louis 55 Hrushovski, Benjamin 61 Hübner, Gert 291, 298 Hühn, Peter 4 Ingarden, Roman 13, 61 Iser, Wolfgang 13 f., 59 Jäger, Siegfried 225 Jahn, Bernhard 268 Jahn, Manfred 61 f. Jakobson, Roman 55 f., 198 Jauß, Hans Robert 19, 27, 112 Kampers, Franz 239 Kartschoke, Dieter 168, 248 Kiening, Christian 237 Knapp, Fritz Peter 82 Kolb, Herbert 283 Kragl, Florian 186 Kropik, Cordula 186 Kuhn, Hugo 50, 205 Kuhn, Thomas S. 53 Lienert, Elisabeth 190 Lotman, Jurij M. 197 f., 268 f. Lugowski, Clemens 71, 192 – 194, 198, 252 f., 311, 350

Register der Forschungsliteratur

Marti, Berthe M. 84 f. Martínez, Matías 55 Massmann, Hans Ferdinand 129 Mukařovský, Jan 56 Müller, Jan-Dirk 36 f., 143, 148, 191 – 194, 205, 219, 308, 331 f. Murphy, James J. 109 f. Ong, Walter J.

132

Panofsky, Erwin 267 Panzer, Friedrich 27, 313 Perry, Menakhem 60 – 62, 69 Piaget, Jean 173 Pollmann, Leo 138 Propp, Vladimir 53 f., 57, 311 Putzo, Christine 161, 276

Schröder, Edward 129 Schultz, James A. 19, 194, 205, 207 Schulz, Armin 194 f., 198 f., 230, 298 Seuffert, Bernhard 51 f. Sowinski, Bernhard 224, 229 f., 286 Stein, Peter K. 164, 339 Steinger, Hans 237 f., 240 Sternberg, Meir 3 f., 33 Stock, Markus 191, 310, 345 Störmer-Caysa, Uta 267, 275, 283, 288 Strohschneider, Peter 217, 257, 307, 351 Teuber, Ernst 237 Todorov, Tzvetan 54 Tomaševskij, Boris 54, 252 Turner, Mark 307 Vater, Heinz

Quadlbauer, Franz 107, 116 f., 190 Quasthoff, Uta M. 120 f.

Wackernagel-Jolles, Barbara 121 Warning, Rainer 196 – 198 Wenzel, Horst 160 Wiegand, Herbert Ernst 217 f. Wolf, Alois 135, 170, 210 Wolf, Jürgen 109 Wolf, Norbert Richard 147

Reichlin, Susanne 142, 148 Ruh, Kurt 253 Ryan, Marie-Laure 63 Rychner, Jean 137 Saussure, Ferdinand de 53, 55 Schank, Roger C. 66 Scheffel, Michael 55 Scheub, Harold 263 Schiffrin, Deborah 120 Schissel von Fleschenberg, Otmar Schmid, Wolf 342

284

50 – 52

Yacobi, Tamar

67, 71

Zeman, Sonja

123

391

392

Register

Sachregister abbreviatio 209 f., 274, 280 Abgewiesene Alternative 203, 257, 350 Aggregatraum vs. Systemraum 267 f., 274, 277 Aktantentheorie 54, 57, 309 f. Allegorese 58, 243 f. Allegorie 83, 243 Alterität 27 – 29, 32, 38, 199, 263, 299, 347 Anfang-Mitte-Ende-Schema 7 f., 42 – 45, 54, 80, 96, 112, 117, 202, 346 appetitus siehe Begehren Äquivalenz 56, 58, 115, 197 f. Äquivalenzprinzip 55 f. argumentum 88, 98 f. Aufführung 37, 150, 276 – 280, 284, 333 f., 351 Bedeutung 13, 31 f., 53, 55 – 57, 120, 206 f., 243 f., 255 f., 349 – figurative 38, 203, 244, 248 f., 343, 349 Begehren 105 f. Beziehung – assoziative 10, 55 f., 195, 206 f. – Bedeutungs- 51 f., 55, 58, 115, 243 – 245 – motivationale 51, 57 f., 77, 110, 112 Brautwerbungsschema 204, 214, 247, 255, 340; siehe auch Schema Buch 8, 158 – 162, 276 f., 348, 351 f. – implizites 161 Bühnenraum 280 – 293, 348 Chronologie 3, 21, 80, 83, 108, 234, 346 contextio/contextus narrationis 90 – 92, 94 f., 110 Deiktischer Ausdruck 260, 285 – 289 Deixis 114, 148, 262, 280 – 293, 348 – am Phantasma 261 f. descriptio 93 f. discours 23, 54 f., 251, 306 f. Diskursmarker 119, 120 – 150, 151, 153, 162, 171, 347 Dispositio-Lehre 1, 50, 80, 83, 95, 98, 107

Einheit 43, 51 f., 57, 59, 112, 114; siehe auch Ganzheit, Totalität – poetische 44 – 46, 48 f. Ellipse 114, 209 f. – narrative 165 enchaînement 137 – 139, 142, 145 Episode 43, 51, 115 f., 126 – 128, 132, 190, 197 f. Ereignis 4 f., 65 Ereignishaftigkeit 5, 256 f., 342 Erzählen – fortlaufendes, kontinuierliches 138, 169 – 172 – funktionales 208, 232 – 235, 268, 349 – konversationelles 11, 73, 120 f., 131, 147, 151, 302 f. – metonymisches 147, 194 – 196, 198 f., 211, 230 – paradigmatisches 147, 165, 196 – 199, 342 – prototypisches 165, 205 – 208, 208 – 233, 255 – 257, 349 – spatiales 3, 52 – strophisch-abschnitthaftes 138 f., 169 – 172 – symmetrisches 51 f., 178 – 185, 304 – 309, 334 – syntagmatisches 17, 147, 165, 197 – 199, 243 f. – unzuverlässiges 67 Erzähler 67 f., 152 – 160, 252, 292 f., 294, 308 f., 325 – 335, 351; siehe auch Wissen – auktorialer 160 f., 326 f., 334 Erzählerrede vs. Figurenrede 325 – 335 Erzählfokus 135, 140, 163, 166 – 174, 176 – 186 Erzählinstanz 23, 36 f., 152, 156 – 160, 263, 278 f., 307, 331 – 333 Erzähllogik 10 f., 16, 20, 29, 58, 71 – 74, 351 Erzählte Zeit 143, 307 – 309 Erzählübergang 24, 117 – 119, 123 – 150, 151 – 162, 162 – 188; siehe auch points of change, Szenenwechsel Erzählung 1 – 5, 7 f., 33 f., 41 – 58, 157 f., 337 – Alltags- 11, 73, 120 f., 131, 151, 302 f. – als Struktur 42 – 57, 59 f., 345 f.

Sachregister

Erzählwürdigkeit 112, 256 f., 350 Erzählzeit 143, 307 – 309 fabula 83, 85, 88, 91 f., 98 – 100 fictio 82 – 85 Figur 203 f., 238 – 246, 283, 291 – 293, 294, 298 f., 309 – 313, 325 – 335, 335 – 340, 350 f.; siehe auch Wissen – Spross- 283 Figurengedicht 306 Figurenrede siehe Erzählerrede vs. Figurenrede Finalität 228 – 233, 250 – 258, 321 – 325, 331, 335 – 344, 349, 351; siehe auch Prozessualität vs. Resultativität Fokalisierung 36, 293 f., 312 f. foregrounding 122 f., 127, 132 – 135, 144 – 147, 179 – 181, 188, 347 Formalismus 50 – 52, 65, 346 – Russischer 53 f. frame 59 – 65, 68 – 70, 71, 206, 209 f., 255, 343, 346, 349 Ganzheit 44 f., 47 – 50, 112, 191 f., 199 – 202, 343 f., 349 f.; siehe auch Einheit, Totalität Glaubwürdigkeit 88, 94, 99 f., 106, 159 f. Gleichräumlichkeit 260 – 263, 278, 299 Gleichzeitigkeit 2, 15, 52, 130, 141 – 144, 167, 179 – 182, 260 – 263, 278, 299, 307 f. Grounding-Theorie 122 f.; siehe auch foregrounding Handlung 3, 7 f., 20, 43 – 46, 54, 57 f., 62 – 70, 89 – 92, 112, 151 – 157, 192 – 194, 203 – 206, 208 – 235, 250 – 258, 274, 289 – 293, 309 – 311, 335 – 344, 347 – 350; siehe auch Progression – tragische 43 – 46 Harte Fügung 162 – 172, 176 – 188 Heilsgeschichte 145, 178, 243 f., 251, 340, 342 f., 350 histoire 23, 54 f., 251, 306 f. historia 92, 98 f. Hören 133, 135, 174 – 176, 188, 276 – 280, 291 – 293, 306 f., 348

393

Imagination 102 – 106, 346 Imaginativer Syllogismus 104 – 106 Informationsvergabe 312 f., 325, 351 Inkohärenz 16 – 26, 69 f., 240, 341 – 344 – diskursive/illokutionäre 24 f., 70, 119 – existentielle/ontologische 20 f., 70, 205, 239 – motivationale 21 – 23, 70, 205, 210, 349 – perspektivische 23 f., 70, 312 f., 325 f., 333 f., 350 f. integumentum 81, 88 Kausalität 9 f., 22, 51, 57, 94, 344, 351 Kognition 11 f., 37 f., 59 – 70, 71, 174 – 176, 278, 291 – 293, 306 f., 346 – 348 – narrative 11 f., 38, 74, 347 Kognitive Poetik (cognitive poetics) 4, 38, 41, 65, 72 Kohärenz 7 f., 16 – 20, 33 f., 45, 59 f., 62 – 70, 94 – 100, 112 – 115, 145 – 147, 162 f., 176, 186, 189 – 208, 235, 243 – 246, 343 f., 345 – 349 – grammatische 8, 113 f., 162, 189; siehe auch Kohäsion – thematische 8, 113 f., 162, 189, 255, 349 Kohärenzgewohnheiten 25 f. Kohärenzregeln 18, 25 f. Kohäsion 69, 113, 176, 187 f., 347 f.; siehe auch Kohärenz, grammatische Kompositionstheorie 50 – 52, 53, 56, 57 f., 60 Konnektor 120 – 122, 127, 130 f., 134 f., 147, 165, 176, 179, 315 Konnexion 113, 119, 135 f., 162, 173 Kontiguität 95 f., 194, 198, 205, 307 lectio auctorum 76, 87 Leerstelle 13 – 16, 31 f., 62 f., 70, 173, 324 Legendenmuster 236, 243 f., 335 f., 339 f., 343 Lesen 31, 61 f., 174 – 176, 188, 263 f., 276 f., 279 f., 291, 302, 306 f., 348 Leser/Rezipient 12 – 16, 29 – 33, 59 – 63, 67, 73, 94, 103 – 106, 111, 172, 176, 209 f., 253 – 255, 310 – 312, 346 – 348, 350 f. – impliziter 30 – 33 Literarisierung 39, 150, 186 f., 264

394

Register

Märchen 130 f., 235, 254, 266 materia 78, 96 – 98, 116 f., 158, 340, 345 – 347, 350 Medialität 36 f., 160, 174 – 176, 187, 263 f., 299 – 301, 306, 335, 348, 351 f. Metalepse 23, 152, 308 f., 334, 351 – rhetorische 308 Metanarrative Formel 119, 127 f., 131, 133 f., 141, 143, 151 – 162, 348 Mimesis 44, 54, 103, 346 mirabilia 111 miracula 111 Modell 59 – 70 – organologisches 43, 46 – 50, 53, 57, 346 – semiotisches 47, 53 – 57, 57 f. Morphologie 46 – 50, 53, 57, 346 Motivation siehe auch Motivierung – ‚von hinten‘ 71, 192 – 194, 196, 198, 252 – 254, 350 Motivierung 21 – 23, 57 f., 110 f., 112 f., 192 – 195, 204, 233 f., 250 – 258, 336 – 341 – explizite/implizite 251 – finale 67, 193 f., 203, 251 – 254, 343 f., 350 – kausale 17, 111, 112, 194 f., 204, 250 – 254, 350 – kompositorische 252 f., 337 Mündlichkeit 35, 72, 108 f., 149 f., 159 – 162, 186 – 188, 299 – 303, 351 f. – fingierte, sekundäre 35, 149 f., 159, 186, 300 f., 335, 351 – Schrift- 149 f. – virtuelle 300 Mündlichkeit/Schriftlichkeit 72 f., 108, 160, 264, 280, 299, 301, 334, 351 f. Muster 2, 11, 59 – 70, 71 f., 204 – 207, 209 f., 213 f., 219, 232 f., 235, 255 – 257, 339 f., 343, 349 f. – Deutungs- 41, 67 – 69, 71, 191, 199, 206 f., 243 – 246, 255, 343 – Handlungs- 62 f., 68, 71, 191, 199, 204, 210, 213, 230, 341, 349 Mythisches Analogon 251 f. Mythisches Denken 9, 71, 196 Name 127, 134 f., 140 f., 143 – 145, 149, 163, 191, 194, 203, 292

narratio 1, 77, 86, 92 f., 98 – 100, 107, 345 – fabulosa 82, 98 f. Narrativität 8, 66 f., 112, 147, 149, 256, 345 f. naturalization 60 f., 63, 67 f. Ordnung 15, 45 f., 52, 89 f., 96 – 98, 107, 114 – erzählerische 1 – 10, 10 f., 16, 27 f., 31, 77 – 83, 345 – räumliche 61, 276 – zeitliche 61, 77, 132, 143 f., 148 f., 276 ordo – artificialis 1, 77 – 83, 95 – 98, 107 f., 116 f., 345 – commixtus/communis 79 – naturalis 1, 77 – 83, 95 – 98, 107 f., 116 f. Paralepse 294, 299 Partikularität 39, 115 – 117, 191 f., 198, 201 f., 207 f., 219 – 222, 227, 246, 255, 257 f., 345, 347 Performanz 35 f., 37, 39 f., 159 f., 263 f., 283 f., 292 f., 299 – 303, 309, 333 – 335, 348, 351 f. Perspektive 36, 70, 118, 146, 267, 270, 293 f., 312, 317, 326 – 334, 335 – 339 Phänomenologie 13 f., 57 Poetik 7 f., 42 f., 46, 47, 53 f., 57 f., 75 – 77, 77 – 80, 87 f., 94 f., 106, 107 – 111, 116 f., 201, 340, 346 – morphologische 46 – 50, 53, 57, 346 Poetische Gerechtigkeit 254 f. Poetologie 7 f., 76 f., 94, 108 – 111, 345 point of view 118, 294, 312 points of change 118 f., 127, 131, 134, 139, 141; siehe auch Erzählübergang, Szenenwechsel Possible-Worlds Theory 63 Progression 94, 114, 162, 197 – von Handlung 23, 107, 122, 134 f. – narrative 36, 115 – 119, 163, 188, 207, 347 Prolepse 193, 327, 336 f., 350 Pronominalisierung 172 f. Protoszene 173, 205 f., 209, 219 Providenz 251 f., 255, 331, 336, 341 – 343

Sachregister

Prozessualität vs. Resultativität 39, 337, 342 – 344, 350 f. Psychologisierung 310 – 312, 319, 324 f. Raum 36, 174 – 176, 259 – 293, 299 – 303, 304 – 307, 348 – amorpher 265 – 280, 348 – Rede- 261 – 263, 276 – Sprechzeit- 261 – 263, 276, 278 – Text- 179, 181, 261 – 263, 276, 304 – 307 – Vorstellungs- 123, 149, 261 – 263, 276, 278 f., 284, 348 Raumdarstellung 267 – 269, 275 f., 280, 286 – 288, 291, 293, 297 – 299, 299 – 303 Räumliche Abbreviatur 274, 280 Raumreferenz 263, 280, 284 – 291, 298 – dynamische 284 – statische 284 Raumsemantik 197 f., 263, 268 f., 285 f., 348 Raumwahrnehmung 259 f., 262 f., 267, 288, 291 – erzählte 265, 293 – 299, 316 Rekurrenz 8, 24, 114, 145, 165 – anaphorische 135 – 139 Reliefbildung 123, 146 f., 347 Rezeptionsästhetik 6, 12 – 16, 30, 251 Rhetorik 1, 50, 58, 76, 95, 107 – 109, 254, 345 scene shift siehe Erzählübergang, Szenenwechsel Schema 61, 63 – 65, 89, 203 – 208, 210, 214, 232, 309 – 311, 322 f., 336, 340 f., 343, 349 f.; siehe auch Brautwerbungsschema – Erzähl- 205 f., 208, 254, 257, 336, 340 f. – Handlungs- 41, 199, 204 – 206, 252 Schriftlichkeit 39, 72 f., 108, 149 f., 159 f., 186 f., 202, 262 – 264, 276, 280, 299 – 303 script 61, 63 – 70, 71, 165, 173 f., 205 f., 209 – 213, 218 f., 222, 227 – 233, 235, 255, 272, 343, 346, 349 f. Script-Theorie 61, 66

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Sequentialität 2 – 4, 10, 21, 49, 57, 108, 127 f., 146, 148, 210, 341 Simultaneität siehe Gleichzeitigkeit Sprechsituation 260 – 262, 278 f., 299, 348 Stilebene 97 – 99, 346 Strukturalismus 12, 42, 53 f., 58, 60, 65, 333, 346 – Prager 12, 56, 60 Sujet 54, 197 f., 269 Symmetrie 51 f., 178 f., 181 – 185, 304 – 309, 334; siehe auch Erzählen, symmetrisches Szene 115 f., 173, 190 f., 204 – 206, 208 – 210, 219, 232 – 235, 255, 279, 283 f., 349 f.; siehe auch Protoszene Szenenwechsel 118 f., 124, 127, 152, 162, 166, 342, 347; siehe auch Erzählübergang, points of change tellability siehe Erzählwürdigkeit Textualität 58, 148 – 150, 160 f., 260, 263, 278, 280, 299, 307, 346, 348, 352 Totalität 47, 202; siehe auch Einheit, Ganzheit Tragödie 43 f., 98 Transgression 67, 149, 302, 307, 309, 313 – 325, 325 – 335, 337, 344, 350 f. – diegetische 316 – 321, 324 f. – final-teleologische 321 – 325 – perzeptorische 313 – 316, 324 f. Unbestimmtheit 6, 13 – 16, 20, 31 – 33, 59, 87, 115, 251, 269, 288 – 291 verisimile 85 f., 88, 92 – 95, 98 – 100, 100 – 106, 108, 111, 112, 152, 201, 346 f.; siehe auch Wahrscheinlichkeit Verknüpfung 2, 10, 10 f., 44 – 46, 107 f., 113 – 115, 120 – 122, 131 – 133, 137 f., 145 – 147, 158 – 162, 162 f. – paradigmatische 55 f., 165, 198 – syntagmatische 17, 55 f., 147, 165 Verschriftung/Verschriftlichung 187 Visualisierung 173 – 176, 185 f., 188, 268, 291 – 293, 306 f., 348

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Register

Vortrag, Vortragsdichtung 159 – 162, 163, 171 f., 262 – 265, 277 – 280, 283 f., 299 f., 302, 306 f., 332 – 335, 348, 351 Wahrnehmung 10, 12, 31, 45, 65, 71 f., 101, 170, 259 – 265, 275 – 280, 288 – 293, 293 – 299, 302 f., 312 f., 316, 348 – visuelle 173 – 176, 270, 277 f., 291 – 293, 293 – 299, 306 f., 333, 348 Wahrnehmungsinstanz 285, 288, 291, 294 – 298 Wahrnehmungsraum 259 – 263, 276 – 280, 283 f., 298 f., 302, 348 Wahrscheinlichkeit 21, 44 – 46, 60, 67, 82 f., 85 – 88, 92 – 100, 100 – 106, 107 f., 110 f., 112, 148, 219, 250 f., 254, 256, 319 – 321, 346 f., 350; siehe auch verisimile – objektive 45, 93 f., 96, 100 f., 104 – 106, 108 – subjektive 45, 93, 101, 104 – 106, 108 Wechselpunkte siehe points of change

Widerspruch, Widersprüchlichkeit 15 f., 20 – 23, 26 – 30, 59, 189 – 191, 198 – 201, 219, 238 – 246, 255 f., 313, 349 Wiederaufnahme siehe Rekurrenz Wiedererzählen 173 f., 340 f. Wiederholung 8, 36, 56, 114, 197 Wissen 6, 9, 61 – 66, 68, 94, 109 f., 165, 209 f., 256 – 258, 311, 340 – des Erzählers 23, 309 – 325, 331 – 334, 337 – 339, 350 f. – der Figuren 23 f., 309 – 325, 337 – 339, 350 f. Zeit

36, 73 f., 118 f., 141 – 145, 148 f., 244, 252, 276 – 278, 307 – 309; siehe auch Erzählte Zeit, Erzählzeit, Gleichzeitigkeit – Referenz- 123, 130 – Sprech- 123, 130 Zeitlichkeit 2 f., 143 f., 148 f., 179 Zustandsveränderung 4 f.