Von Heroen und Individuen: Sozialistische Mytho-Logiken in DDR-Prosa und DEFA-Film 9783839440384

The aporia of socialist individualism - In conjunction with Barthes, Blumenberg and Lévi-Strauss, Stefan Elit reads GDR

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Von Heroen und Individuen: Sozialistische Mytho-Logiken in DDR-Prosa und DEFA-Film
 9783839440384

Table of contents :
Inhalt
Sozialistische Mytho-Logiken: Vorüberlegungen
I. FURCHT UND IHRE ABWEHR
Blumenbergs Mytho-Logik und das sozialistische Heldennarrativ
In offener Konfrontation: Heldennarrativ und Furcht in den 1950er Jahren
Die begrenzte Furcht in den 1960er Jahren
II. NATURALISIERUNG
›Bürgerliche‹ und ›linke‹ Mytho-Logik nach Roland Barthes
›Bereicherung‹ und Naturalisierung in west-östlicher Konkurrenz
Schematisierte ›Pseudonatur‹ und heikle Re-Entrys
III. VERMITTLUNG
Mytho-Logiken nach Lévi-Strauss und das sozialistische Heldennarrativ
Adaptionen in DDR-Prosa und DEFA-Film
IV. VERLACHEN
Trickster und Schelme im sozialistischen Kontext?
Pikareske Mythenparodien
Schlussreflexion: Dennoch (nicht mehr)
Literaturverzeichnis

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Stefan Elit Von Heroen und Individuen

Edition Kulturwissenschaft | Band 150

Stefan Elit (PD Dr. phil.), geb. 1972, lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn und ist dort Geschäftsführer des Instituts für Germanistik. Er war an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Projekt »Goethe-Wörterbuch« beteiligt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Lyrik(theorie), Antikerezeption, Kulturpatriotismus, Empfindsamkeit, DDR-Literatur und -Film sowie Gegenwartsliteratur.

Stefan Elit

Von Heroen und Individuen Sozialistische Mytho-Logiken in DDR-Prosa und DEFA-Film

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Inhalt

Sozialistische Mytho-Logiken: Vorüberlegungen | 9

I. FURCHT UND IHRE ABWEHR | 21 Blumenbergs Mytho-Logik und das sozialistische Heldennarrativ | 23 In offener Konfrontation: Heldennarrativ und Furcht in den 1950er Jahren | 29

Eine Heldenreife: Eduard Claudius’ Menschen an unsrer Seite (1951) | 29 Leerstelle Held: BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER (1957) | 46 Die begrenzte Furcht in den 1960er Jahren | 57

Mit ›Schild und Schwert‹: FOR EYES ONLY (STRENG GEHEIM) (1963) | 60 Vertrauen statt Furcht? Herbert Nachbars Haus unterm Regen (1965) | 72 Neue Helden braucht das Land: DER FRÜHLING BRAUCHT ZEIT (1965) | 85 Die Mytho-Logik der Furcht und ihrer Abwehr nach 1965 | 90

II. NATURALISIERUNG | 91 ›Bürgerliche‹ und ›linke‹ Mytho-Logik nach Roland Barthes | 93 ›Bereicherung‹ und Naturalisierung in west-östlicher Konkurrenz | 101

Anfänge der Naturalisierung in Claudius’ Menschen an unsrer Seite | 102 Erfolgreich naturalisiert? Hermann Kants Die Aula (1965) | 110 Schematisierte ›Pseudonatur‹ und heikle Re-Entrys | 123

Wahrhaftigkeit und ›Vernunft‹: KARLA (1965/1990) | 126 Ein Neustart und ein Re-Entry: Gerti Tetzners Karen W. (1974) | 140 An den Grenzen von ›Bereicherung‹ und Naturalisierung? | 152

III. VERMITTLUNG | 155 Mytho-Logiken nach Lévi-Strauss und das sozialistische Heldennarrativ | 157 Adaptionen in DDR-Prosa und DEFA-Film | 165

Messias in eigener Sache: Siegfried Pitschmanns Erziehung eines Helden (1959/2015) | 165 Eine Dioskuren-Amalgamierung: Karl-Heinz Jakobs’ Beschreibung eines Sommers (1961) | 183 Die Triade als Ménage à trois: EPISODEN VOM GLÜCK (1965) | 197

IV. VERLACHEN | 215 Trickster und Schelme im sozialistischen Kontext? | 217 Pikareske Mythenparodien | 223

Ein fröhlicher Schelm: AUF DER SONNENSEITE (1962) | 224 Sozialistische Schelmenkarriere: NELKEN IN ASPIK (1976) | 237 Schlussreflexion: Dennoch (nicht mehr) | 247 Literaturverzeichnis | 253

Sozialistische Mytho-Logiken: Vorüberlegungen

Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. (K. MARX, »DER 18. BRUMAIRE DES LOUIS BONAPARTE« [1852])

1

Besteht überhaupt eine positive Verbindung zwischen Mythos und Sozialismus? In seiner berühmten Analyse des 1851er Staatsstreichs von Louis Napoleon, dem späteren Napoleon III., sieht Karl Marx spöttisch auf alle Revolutionäre der Weltgeschichte herab, besonders aber auf die neuesten Umstürzler in Frankreich, die sich dreist mit besseren Vorläufern gleichsetzen und insbesondere die antike (römische) Geschichte und ihre mythisierten Größen zum Selbstvergleich beanspruchen, um ihr eigenes, geringerwertiges Tun zu verbrämen. Die von Marx postulierte proletarische Revolution und ihre Akteure haben hingegen mit der politischen Nutzung von Mythen ebenso wie mit jeglichen Irrationalismen zu brechen. Ihre allerdings durchaus wie ›Poesie‹ beglückende Gestalt – in diese Richtung geht wohl die Bedeutung des Kernworts von obigem Zitat – soll diese Revolution nicht mehr durch historische Vergleiche und Entlehnungen erwirken, sondern nur durch den Appell an das große gesellschaftliche Ziel. Auf diese Weise sollte zugleich eine Selbstmythisierung und eine Nivellierung durch analoges Vorgehen wie bei den Vorgängern vermieden werden.2 Sozialismus bzw. 1

Marx 1985, S. 101.

2

Insbesondere zu dieser weiteren Deutung vgl. Striedter 1971, S. 429f.

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sozialistische Kultur und Mythen, das dürfte es insofern nach Marx gar nicht geben. Andererseits ließe sich mit demselben Zitat von der ›Poesie‹ und weiteren Analysen schon in obigem Kontext zur notwendigen Entwicklung von Sprachen der Revolution auch unterstellen, dass auf Mythenbildungen gar nicht zu verzichten ist, um das eigene Wollen und Tun verständlich zu machen und den nötigen Elan für es zu entfachen, zumal bei den nicht rein rational zu mobilisierenden Proletariern selbst. Darüber hinaus sind selbst beim rationalen Marx Ansätze zur mythisierenden Setzung der eigenen Hypothesen vermerkt worden3 – Ansätze, die im späteren Marxismus und zumal in dessen Ausprägungen im 20. Jahrhundert bekanntermaßen zu geradezu ersatzreligiösen Überhöhungen geführt haben, nicht zuletzt durch Strukturanalogien zum Christentum.4 Dieser mittlerweile nahezu trivial erscheinende Double Bind soll freilich im Folgenden nicht verfolgt werden. Wenn in den Wissenschaften Verbindungen von Mythos und DDR aufgesucht werden, ist außerdem in aller Regel nicht die zugleich anti- und quasichristliche Position des Staates gemeint. In den Blick genommen wurden und werden vielmehr sowohl die zahlreichen Adaptionen klassischer älterer und ältester mythischer Stoffe im üblichen Sinn als auch die Entwicklung neuer, vornehmlich politisierter Mythen in (Film-)Kunst und Literatur. Mythologica in der DDR scheinen daher in erster Linie auf der Ebene der Rezeption klassischer griechisch-römischer Mythen zu finden zu sein. Inwiefern spezifische Nutzungen der antiken Stoffe oder auch ihrer Mytho-Logiken stattfanden, haben schon zahlreiche Studien zu einzelnen Motiven, Themen und Figuren einerseits oder zu Gattungen und Autoren der Antike wie der DDR andererseits nachgewiesen.5 Daneben gab es ebenfalls bereits wissenschaftlich verfolgte Adaptionen mythischer bzw. mythisierender Stoffe anderer älterer Kulturkreise, etwa aus dem europäischen Mittelalter.6 Auch um alle diese Mythica in einem engeren Sinn wird es im Folgenden aufgrund der guten Forschungslage nicht gehen. Des Weiteren lassen sich neuere, gewissermaßen DDR-spezifischere Spielarten der Mythisierung bzw. von modernen Mythenbildungen finden, so etwa die

3

Vgl. ebd., S. 432f.

4

Eine für das 20. Jahrhundert besonders frühe sozialistische Mythopoetik mit christlichen Wurzeln weist Striedter durch seine Majakowski-Analysen nach, vgl. ebd. Als neuere Studie zur Frage des (pseudo-)religiösen Status des Marxismus-Leninismus vgl. Ryklin 2008.

5

Vgl. die Standardwerke Riedel 1984 und ders. 2000, S. 332-395.

6

Vgl. etwa den Sammelband Mittelalterrezeption 2014.

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Gründungsmythe des genuinen Antifaschismus und diejenige der exklusiv beanspruchten Traditionslinie des besseren Deutschlands und der richtigen Wahrung des kulturellen Erbes. Auch diese erscheinen freilich schon hinreichend beleuchtet.7 Demgegenüber interessiert sich die vorliegende Studie für ein Großnarrativ des 20. Jahrhunderts, das als solches noch nicht konsequent untersucht worden ist.8 Und zwar soll grundsätzlich und spektral verfolgt werden, wie ein systemisch zentrales und sich stetig erneuerndes ›sozialistisches Heldentum‹ in DDRGegenwartsprosa und -Spielfilmen von den späten 1940ern bis in die 1970er Jahre nach sowjetrussischem Vorbild narrativiert worden ist und zu ganz eigenen und sich weithin verbreitenden Ausprägungen einer mytho-logischen Gegenwartskunst geführt hat.9 Entsprechende Narrationen gingen nämlich in den Grundfesten recht stabil von der UdSSR auf die ›Bruderstaaten‹ über – in exemplarischen Fallstudien für verschiedene Länder und Politik- und Kulturbereiche zusammengestellt worden sind entsprechende Ausgangs- und Übernahmevarianten etwa in dem von Satjukow und Gries herausgegebenen Sammelband Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR.10 Typologisches Kernergebnis dieses Bandes ist ein basales »Heldenmuster«, das heißt ein mit Erfahrungen und Erwartungen besonders aufgeladenes »Erzählmuster« und seine epochalen Ausprägungen.11 Als ein solches »Heldenmuster« verstehen Satjukow und Gries »[d]ie Vita eines in aller Regel männlichen Musterhelden«12, dessen maximalen Ausgangsversion wie folgt ablief: Sie entwickelte sich von der familiären Herkunft in einem politisierten Arbeitermilieu über eine strebsame Jugend und erste eigene Kontakte mit der Partei, die dem Helden bald zur zweiten Familie wird, bis hin zu einer oder gleich der Sozialismus-fördernden

7

Vgl. im Kurzüberblick etwa Emmerich 2000, S. 29-39, oder Münkler 2009, S. 421454 (= Kap. »Antifaschistischer Widerstand, frühbürgerliche Revolution und Befreiungskriege. Die Gründungsmythen der DDR«) oder zum »Gründungsnarrativ Antifaschismus« Müller 2014, S. 85f.; für eine ausführlichere Untersuchung vgl. Zimmering 2000, S. 37-168.

8

Ein leider etwas wenig vertiefter Mythosbegriff mit Bezug auf das Thema Arbeit, das seinerseits nur begrenzt auf die sozialistische Ideologie bezogen wird, findet sich in Jäger 2008.

9

Für die unmittelbar nachfolgenden Überlegungen und Kurzreferate vgl. bereits Elit 2016, S. 57f.

10 Vgl. Sozialistische Helden 2002. 11 Satjukow/Gries 2002, S. 23. 12 Ebd., S. 24.

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Tat, die je nach historischer Situation unterschiedlich und auch unterschiedlich erfolgreich ausfallen kann, die den Helden jedoch auf jeden Fall zu einem symbolhaften Vorbild werden lässt. Wenn der Held sodann nicht zum Märtyrer des antifaschistischen Widerstands wird, kann er nach seiner Tat noch zum (ggf. auch noch werktätigen) Ratgeber oder Lehrer für ein Staatskollektiv avancieren, das ihm zeit seines Lebens eine verehrungsvolle Liebe entgegenbringt.13 Diese Grundmythe, ihrerseits ja auch nur ein politisch-mythischer Heldentyp14, variiert freilich sodann je nach Lebens- und Arbeitswelt einzelner Helden (sc. und Heldinnen). Die skizzierte ›Vita‹ kann entsprechend recht unterschiedlich ausfallen, und insbesondere eine punktuelle heroische Leistung ist nicht zwingend zu erwarten, aber im Regelfall ein entsprechendes Bemühen oder eine Mitwirkung in einer vorbildlich sozialistischen Arbeitssituation. Lediglich am Rande bemerken Satjukow und Gries, in dieses Helden- bzw. Erzählmuster seien »freilich auch wesentliche Strukturelemente des Märchens und christlicher Heiligenerzählungen eingeflossen«.15 Entsprechende kleinere Hinweise werden in dem Band mehrfach gegeben, es erscheint jedoch überaus lohnenswert, der Frage des Märchen- und Legendenhaften für ein reichhaltiges Korpus einmal grundsätzlicher nachzugehen. Denn dadurch erst erhellt, wie dieses Helden-Erzählmuster ideologisch als klassisches mythisches Narrativ gesetzt worden ist (und schließlich auch, wie es sich zumal im historischen Kontext aus literarästhetischen und DDR-spezifischen Gründen wieder dekonstruiert hat). Im Folgenden soll daher als prägnanter Begriff für dieses Phänomen derjenige eines sozialistischen Heldennarrativs verwendet werden. Forschungsreflexionen zur mythischen bzw. sogar noch erkennbar mythischreligiösen Heldennarrativ-Formung in der Sowjetunion der 1930er Jahre finden sich bisher nur en passant, etwa bei Robert Maier, der die so genannte Stachanov-Bewegung umfassend aufgearbeitet hat und dabei auch für den sowjetrussischen Kulturraum aufschlussreiche Überlegungen zu dem komplexen Amalgam der sozialistischen Arbeiterheldenmythisierung mit kollektiv gut abzurufenden russisch-orthodoxen Glaubenselementen angestellt hat.16 Diese ›Mixtur‹ ist für den deutschsprachigen Raum allerdings kaum anzusetzen, nicht zuletzt durch eine viel frühere allgemeine Säkularisation der Gesellschaft. Welche Elemente des sowjetischen Heldennarrativs insbesondere auf den DDR-Spielfilm übergegangen sind und welche Grundtypen von Heroismus im Laufe der Jahrzehnte ent-

13 Vgl. ebd., S. 24f. 14 Für eine entsprechende Metatypologie vgl. etwa Tepe 2006, S. 54-65. 15 Satjukow/Gries 2002, S. 24f. 16 Vgl. Maier 1990, bes. S. 177-195.

V ORÜBERLEGUNGEN

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standen, hat etwa die Oldenburger DEFA-Film-Arbeitsstelle, namentlich Klaus Finke in seiner umfassenden Dissertationsschrift, herausgearbeitet, narratologisch differenziertere Mytho-Logiken wurden dort jedoch nicht thematisiert.17 Vorbereitet wurde die spezifische Heldennarrativ-Bildung in der DDR schließlich zu einem nicht geringen Teil auch durch die Mythisierung von Arbeitsleistung und die allgemeine Helden-Fixierung in der nationalsozialistischen Zeit, eine ideologische Strukturparallele und eine Präparation des kollektiven Denkens, auf der die sozialistische Staatsführung nach 1945 sozusagen nolens volens aufbauen konnte. Die mythentypische Fokussierung des Heldennarrativs auf je einzelne solcher Helden erscheint erzählhistorisch als traditionales Erzählmodell eines identifikatorisch angelegten Helden. Dieses Modell setzte sich gewissermaßen mit der Macht des Mythos gegenüber dem zeitweise verfolgten experimentelleren ›Massenroman‹ durch, der eigentlich für das kollektivistische Gesellschaftsideologem als adäquateres Erzählmodell erscheint, aber nicht zuletzt auch von den Verfechtern des Sozialistischen Realismus als unsozialistisch angesehen wurde.18 Im Hintergrund steht hier wie so oft der Formalismus-Vorwurf wie in der bekannten Debatte zwischen Brecht, Lukács und anderen von 1937/38.19 Fernerhin sind die mythischen Einzelhelden selbstverständlich als Vorreiter gemeint für den propagierten (seinerseits: Mythos vom) ›neuen Menschen‹, der in den sozialistischen Staaten erzogen und sich allgemein verbreiten sollte.20 Das Augenmerk der vorliegenden Studie richtet sich also auf eine eigene narrative, aber auch strukturelle Mytho-Logik des Sozialistischen Realismus bzw. auch noch von dessen ästhetischem Umfeld. Dabei erscheint außerdem die Eingrenzung auf die Ebene von DDR-Gegenwartsstoffen naheliegend, weil sozialistische Heldenmythen vornehmlich und besonders diversifiziert für diese Zeit imaginiert worden sind. Allein im Bereich der DDR-Literatur der 1950er bis 1960er Jahre gab es neben dem historisch bedingt vorgängigen antifaschistischen Widerstandsmärtyrer verschiedene Pionierhelden des sozialistischen Landes, so als Erstes denjenigen auf der Mikroebene des Aufbaus eines konkreten Lebensund Arbeitsumfelds gegenüber demjenigen auf der Makroebene des gesamten Staatswesens. Es folgten Helden des fortschreitenden Aufbaus in den 1950er Jahren, denen dann neue jugendliche Helden der so genannten Ankunftphase zur

17 Vgl. Finke 2002, bes. Kap. 3-5. 18 Zur Alternative des Massenromans vgl. grundsätzlich immer noch Taschner 1981 sowie neuerdings Aumüller 2015. 19 Vgl. deren Dokumentation etwa in dem Band Expressionismusdebatte 1973. 20 Für neueste Studien zu diesem Phänomen vgl. Der ›neue Mensch‹ 2013.

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Seite traten. Alles dies hatte zur Folge, dass bereits um 1960 in einem Gegenwartsroman oder -spielfilm bis zu drei verschiedene Heldengenerationen begegnen konnten: erstens etwa der ehemalige Untergrundkämpfer der NS-Zeit, nun i.d.R. als ungebeugter und weiser alter Berater; zweitens der ruhmreiche, väterlich gewordene Aufbauheld und drittens der noch werdende Vertreter der Ankunftgeneration, dessen charakterliche ›Vorbildlichkeit‹ sich oftmals erst noch entwickeln muss.21 Ergänzend zu erwähnen wäre, neben natürlich ebenfalls dezidiert gesetzten (kapitalistisch-bürgerlichen, individualistischen etc.) AntiHelden, der Typus des hohen Parteifunktionärs, der als eine Art Großhelfer oder Deus ex machina in das Geschehen eingreifen konnte.22 Die vorliegende Studie möchte somit einen Beitrag leisten zur Erweiterung der Kenntnis von neueren Mythen bzw. mythischen Stoffen – aber auch zu einer weiteren Produktivmachung der bedeutenden Mythentheorien, die in den vergangenen Jahrzehnten entstanden und bisweilen mehr als solche thematisiert worden sind, als dass ihnen Untersuchungsgegenstände über die eingangs genannten Stoffe hinaus zugeführt worden wären. In dieser Absicht zieht die Studie einschlägige und in je anderer Hinsicht aufschlussreiche Mythentheorien der Moderne/Postmoderne (Blumenberg, Barthes, Lévi-Strauss, Luhmann) heran und entwickelt mit ihrer Hilfe verschiedene, aber durchaus aufeinander aufbauende Perspektiven auf ein repräsentativ gemeintes Prosa- und Film-Korpus. Gerade die Komplexität und Vielfalt der Theorien kann das Bedürfnis nach einem Gründungsmythos (und fernerhin: einem Aufbaumythos, einem Stabilisierungsmythos etc.) umfassend erhellen, das heißt: nach einem legitimatorischen Nukleus bzw. einem »Glutkern« nach Adorno23, möglicherweise für alle sozialen Gemeinschaften, aber insbesondere für solche, deren Ideologie sich in dauernder Gefährdung befand oder zumindest solchermaßen verstand resp. gerierte. Letzteres war und ist denn auch ein wesentlicher stabilisierender Bestandteil von Ideologien selbst, die ihre Rezipienten oftmals mit Drohkulissen zu binden versuchen. Die Heranziehung unterschiedlicher Mythentheorien ist sodann nicht allein ein Ansatz, um unterschiedlichen Aspekten und Tendenzen in den interessierenden Literatur- und Filmwerken gerecht zu werden, sondern vielmehr auch dem Konstrukt ›Mythos‹ geschuldet: Mythen entstehen in der Vielschichtigkeit, Dis-

21 Zur spezifischen Generationalität der Heldentypen vgl. Elit 2013. 22 Für erste Überlegungen dieser Art vgl. Elit 2016, S. 57. 23 Vgl. Adorno 1994, S. 143 (Brief an Benjamin v. 02.-04.08.1935), wo Adorno den Begriff des »theologischen Glutkern[s]« verwendet und sozusagen erstmals wirkungsmächtig setzt.

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parität und auch Widersprüchlichkeit von Erzählungen, die um einen ›Glutkern‹ kreisen, aber ebenso verhält es sich auch mit den unterschiedlichen Mythentheorien: Sie nähern sich dem Phänomen von ganz unterschiedlichen Ausgangsperspektiven und Weltbildern, lassen im Vergleich bzw. in ihrer parallelen Applikation auf einen Mythos aber auch Überschneidungen erkennen, die auf womöglich noch generellere Mytho-Logiken verweisen. Entsprechend mag die vorliegende Studie implizit auch einem metatheoretischen Interesse diesen, das heißt mit Blick auf verbindende Linien der Mythentheorien bzw. eine Art noch abstrakteren ›Glutkern‹ der figurativen mythischen Sinnbildung. Auf andere Weise generell ist zu veranschlagen, hier aber nicht eigens zu verhandeln, dass es sich bei jeglicher Konstruktion eines fiktional narrativierten sozialistischen Mythos um ein Sub-Verfahren im Rahmen der ideologischen Strategien des Marxismus-Leninismus resp. des so genannten Staatssozialismus handelte. Denn die basalen dialektischen Figuren dieser Diskursformationen, also die postulierten historischen Antagonismen auf dem Weg zum Kommunismus als der vermittelnden Auflösung des letzten Gegensatzpaares, waren, etwa in Lévi-Strauss’ Sinn, gewissermaßen selbst zutiefst mytho-logisch24 und auch der in der DDR vorherrschende Staatssozialismus an sich lässt sich als grundsätzlich mythisch formiert betrachten.25 Ein wichtiger Fluchtpunkt für die vorliegende Studie sind denn auch politologische Forschungen zu den Selbst-Mythisierungsstrategien und -bedingungen ›großer‹ Ideologien (vgl. hierzu die »Schlussreflexion« der vorliegenden Studie). Dass und warum insbesondere eine sozialistische Mytho-Logik sich im Bereich von Kunst und Literatur entfaltet hat, ist von hierher eine zentrale Frage der Untersuchung, und als eine erste Erklärung mag gelten: Wegen spezifischer Insuffizienzen im politisch-gesellschaftlichen Prozess der jungen DDR – wie anderer sozialistisch ausgerichteter Staaten – kam Werken der Kunst und Literatur eine zunehmende Bedeutung zu. Diese sollten nämlich eine fiktional narrativierte Idee der sozialistischen Gesellschaft propagieren, weil die realpolitisch-konkreten Ziele der staatlichen Instanzen zunehmend schwerer erreichbar erschienen. So entwickelte sich flankierend oder geradezu ersatzweise ein ideologisches Bemühen zuerst um einen Gründungsmythos sowie dann sukzessive und komplementär um einen integralen Aufbau- und Stabilisierungsmythos für die DDR, der insbesondere mit den Mitteln massenkompatibler Erzähl- und Bildmedien formiert werden sollte – daher im Folgenden die Fokussierung auf Romane und Erzählungen sowie Spielfilme, die in der Regel für den gut etablierten Kinobetrieb produziert worden waren, im Einzelfall je-

24 Vgl. etwa Koslowski 1991, S. 20f. 25 Vgl. etwa Frindte 1994, S. 119-121.

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doch auch für das sich rasch verbreitende Medium Fernsehen. Gegenwartslyrik und -drama vermochten demgegenüber nur bedingt entsprechend zu wirken: Die eine Gattung wurde allenfalls mit wenigen Texten punktuell breiter wahrgenommen, man denke etwa an Stephan Hermlins Junglyriker-Kampagne von 1962, Günter Kunerts lakonische Spruchdichtung oder Wolf Biermanns Lieder zu dieser Zeit. Die theatrale Gattung sodann hatte zwar insbesondere die Tradition des Agitprop und durchaus einige orthodox heldennarrativische Dramen aufzuweisen. Anspruchsvollere sozialistische Gegenwartsdramen, die das Publikum genuin interessierten und nicht nur pflichtgemäß geschaut wurden, erschienen den orthodoxen Ideologen jedoch schon früh so subversiv, dass ihre Aufführung alsbald wieder unterbunden wurde, selbst wenn sie nur an einzelnen Theatern aufgeführt worden waren, wie etwa die Stücke von Peter Hacks und Heiner Müller bereits seit den 1950er Jahren.26 Der sozialistische Heldenmythos und sein Narrativ sind, wie bereits angeschnitten, funktional als ›Glutkern‹ der angestrebten Gesellschaftsformation zu verstehen bzw. sollten seinerzeit als Zentrum für ein eigenes kulturelles Gedächtnis (nach Assmann) etabliert werden. Problematisch wurde jedoch alsbald, dass im gesellschaftlichen Prozess die Zeit fehlte, um überhaupt über erste Ansätze eines – gegenüber dem ›Bürgertum‹ bzw. dem ›Kapitalismus‹ – basalen neuen kollektiven Gedächtnisses (nach Halbwachs) hinauszukommen. Häufig angestoßene, eigentlich affirmativ vergleichende Generationsdebatten in Texten und Filmen, etwa bezüglich der Mühen des Anfangs und des Fortschritts seitdem in der Spiegelung um 1960, wirkten zudem rasch ambivalent. Realsozialistische Kunst und Ästhetik versuchte daher letztlich vergeblich, mit neuen Mythen künstlich systemkonforme Alltagsperspektiven zu prägen, während auch in der DDR faktisch erfolgreichere westliche ›Mythen des Alltags‹ (nach Barthes) ihre kollektive Wirksamkeit entfalteten bzw. Kunst und Literatur sich ins Utopische (freilich oft auch in gut sozialistischer Absicht) zurückzogen oder wieder auf ältere mythische Stoffe verlegten und, so oder so, vom unmittelbaren Staatsdiskurs separierten.27

26 Nicht in Abrede gestellt werden soll ansonsten freilich, dass Drama und Theater in der DDR generell ideologisch breit instrumentalisiert wurden. Etwa ein breites Publikumsinteresse am ›progressiven klassischen Erbe‹ auf der Bühne wurde so nachdrücklich identitär gefördert, vgl. exemplarisch Irmer/Schmidt 2003 oder Böhm 2015, S. 27. 27 In diesem Sinne kam es ja gemäß vielfacher Beobachtung etwa zu einer ›neuen Romantik‹ (bei Christa Wolf und anderen); vgl. dazu jüngst Decker 2015, S. 335-340.

V ORÜBERLEGUNGEN

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Um die Zeit für eine nachhaltigere Etablierung dieses sozialistischen Mythos war es aber nicht zuletzt auch darum in den weiteren 1960er Jahren schlecht bestellt. Insbesondere ein einschneidendes kulturpolitisches Ereignis verunmöglichte nämlich Ende 1965 viele Bemühungen um eine weiter ausdifferenzierende oder aktualisierende Narrativierung, sei es durch unmittelbares Verbot oder durch das allgemeine Signal, das von diesem Ereignis ausging. Gemeint ist natürlich das so genannte ›Kahlschlagplenum‹ von Mitte Dezember 1965, offiziell das 11. Plenum des ZK der SED, das nach dem ›liberalistischen‹ VI. Parteitag von 1963 (Einführung des NÖSPL u.a.) und einer wirtschafts-, gesellschafts-, und kulturpolitischen Lockerungsphase eine neue ›harte Linie‹ auf den Weg brachte.28 Die Phase der somit recht temporären größeren Lockerung unter der Ägide Chruschtschows hat Gunnar Decker als »kurze[n] Sommer der DDR«29 umfassend aufgearbeitet. Er hat dabei auch nachdrücklich verfolgt, wie der Wechsel zu Breschnew und der größere Einfluss Honeckers und seiner Leute es vermochten, dass mit dem 11. Plenum schlagartig nicht nur auf der Ebene der Wirtschaftsplanung, sondern zumal im Bereich der Kultur ab Ende 1965 viele ›Experimente‹ unterbunden wurden bzw. durch nachhaltige Frustration vieler Akteure des Kulturbetriebs gar nicht mehr aufkamen. Auf die berühmtberüchtigten Fanale wie die Niedermachung von Werner Bräunig und seinem Roman »Rummelplatz« oder die Anprangerung der ›Kaninchen-Filme‹ (nach dem gerade fertiggestellten und den Plenum-Teilnehmern vorgeführten DEFASpielfilm DAS KANINCHEN BIN ICH von Kurt Maetzig) während des Plenums braucht nicht zuletzt aufgrund von Deckers großer Rückschau nicht genauer eingegangen werden.30 Allerdings wird im Rahmen der Abschnitte zu den interessierenden Mythentheorien an geeigneten Stellen und mit teils bis heute weniger beachteten Beispielen aus Literatur und Film immer wieder auf das Plenum und seine Folgen (bis hin zu Honeckers großer Liberalisierungsgeste von 1971) rekurriert werden, um mytho-logisch konkret zu zeigen, was nach 1965 noch bzw. nicht mehr ›ging‹. Dem sozialistischen Heldennarrativ wird in den folgenden Großabschnitten gemäß auf den ersten Blick recht verschiedener Mytho-Logiken nachgegangen. Dabei werden die interessierenden zugrunde liegenden Theorien nicht strikt nach

28 Gut dokumentiert worden sind das Plenum und seine Auswirkungen in Kahlschlag 2000. 29 Vgl. bereits den Titel von Decker 2015: 1965. Der kurze Sommer der DDR. 30 Für eine Zusammenfassung und kritische Würdigung von Deckers Monographie vgl. Elit 2015a.

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ihrer Entstehung aufgegriffen, es wird also etwa Lévi-Strauss’ Mythentheorie wegen eines (knappen) historischen Primats nicht als Erstes herangezogen. Dies erscheint darum sinnvoll, weil die den Blick unterschiedlich feinstellenden Theorien als analytische Paradigmata so ertragreicher heranzuziehen sind und sich perspektivisch besser ergänzen und einen Erkenntnisfortgang erzeugen können. Dies bedeutet: Ausgehend von der philosophisch-anthropologischen Grundfragestellung, die Blumenberg im Mythos am Werk sieht, lassen sich daraufhin mit Barthes zentrale neue Mythen des 20. Jahrhunderts als besondere Form menschlicher Rede im politischen-gesellschaftlichen Kontext weiterdeuten, deren Verfasstheit struktural nach de Saussure verstanden wird. Ebenfalls auf strukturallinguistischer Basis sind sodann Mythen nach Lévi-Strauss zu deuten; allerdings verbindet sich die De-Saussure-Applikation nun mit einer anthropologischen Perspektive, die den Mythos so basal zu verstehen sucht wie auf seine Weise Blumenberg, allerdings ganz anders auf detailanalytische Momente ausgeht. Die interessierenden leitenden Annahmen der zu verhandelnden Mytho-Logiken werden in diesem Sinne möglichst auf zentrale Nenner gebracht, die für die einzelnen Analysen von Prosa und Filmen jeweils einen prononcierten Ausgangsund Fluchtpunkt bilden; das bedeutet: In Abschnitt I wird mit Hans Blumenberg das sozialistische Heldentum als Abwehr von Furcht vor verschiedensten Gefahren für das eigene Gesellschaftsmodell betrachtet. Untersuchungen am Prosa- und Film-Korpus teilen sich chronologisch-systematisch auf in einen ersten Teilabschnitt zu Heldennarrativ und Furcht in den 1950er Jahren, unter Heranziehung von Eduard Claudius’ Menschen an unsrer Seite von 1951 und am Beispiel des DEFA-Spielfilms BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER von 1957, sowie in einen zweiten Teilabschnitt, der sich der ›begrenzten‹ Furcht in den 1960er Jahren widmet, und zwar anhand des DEFA-Spielfilms FOR EYES ONLY von 1963, Herbert Nachbars Roman Haus unterm Regen von 1965 und anhand des DEFA-Spielfilms DER FRÜHLING BRAUCHT ZEIT, ebenfalls von 1965. Abschnitt II verfolgt mit Hilfe Roland Barthes’, wie in der DDR das sozialistische Heldennarrativ als ›Mythos des Alltags‹ versuchsweise einer Naturalisierung zugeführt wurde, ein Versuch, der freilich von der Konkurrenz mit dem erfolgreichen ›bürgerlichen Kapitalismus‹ und seinen Selbstnaturalisierungsstrategien bestimmt ist und der zunehmend von ideologischen Schematisierungen bzw. heiklen Re-Entrys unterminiert wird. Chronologisch-systematische Untersuchungen am Prosa- und Film-Korpus richten sich in einem ersten Teilabschnitt auf Bereicherungsbemühungen in west-östlicher Konkurrenz, und dies erneut anhand von Claudius’ Menschen an unsrer Seite sowie anhand von Hermann Kants Roman Die Aula von 1965. Ein zweiter Teilabschnitt widmet sich Sche-

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matisierungen des sozialistischen Mythos und heiklen, da leicht als ›bürgerlich‹ zu verdächtigenden Re-Entrys mit Blick auf den DEFA-Spielfilm KARLA von 1965/1990 und Gerti Tetzners Roman Karen W., entstanden seit 1965, veröffentlicht 1974. Mit Claude Lévi-Strauss’ Mytho-Logik der Vermittlung geht es in Abschnitt III um eine strukturale Charakteristik sozialistischer Heldentypen, die sich aus der kulturanthropologischen Mythenanalyse ableiten lässt. Untersuchungen an einem erneut chronologisch und systematisch ausgewählten Prosa- und FilmKorpus teilen sich entsprechend den von Lévi-Strauss postulierten Grundtypen auf in, erstens, eine Fallstudie zum messianischen Modell (am Beispiel von Siegfried Pitschmanns Kurzroman Erziehung eines Helden von 1959, erschienen allerdings erst 2015) und, zweitens, in eine zum Dioskuren-Modell (am Beispiel von Karl-Heinz Jakobs’ Beschreibung eines Sommers von 1961); es folgt, drittens, das Modell der Triade, das hier oft mit einer Ménage à trois koinzidiert (exemplifiziert an der DEFA-Produktion für den Deutschen Fernsehfunk EPISODEN VOM GLÜCK von 1965). Eine Reflexion der Frage, ob in der sozialistischen Mytho-Logik ebenso das Trickster-Modell nach Lévi-Strauss überhaupt umzusetzen war, wird in den nachfolgenden Abschnitt verlagert. Abschnitt IV widmet sich entsprechend dem Verlachen des sozialistischen Heldennarrativs, und zwar vornehmlich im DEFA-Spielfilm, da dieses Phänomen im literarischen Bereich nicht so ausgeprägt zu finden ist. Also erneut mit Lévi-Strauss, das heißt: Mit einem weitergehenden Fokus auf dessen mythologische Trickster-Figur sowie unter Bezugnahme auf einschlägige Theorie zum Trickster als Pikaro oder Schelm soll hier das Phänomen der relativ seltenen sozialistischen Mythenparodien bzw. schelmischer Versionen des Heldennarrativs näher beleuchtet werden. Genauer untersucht werden dafür die DEFA-Spielfilme AUF DER SONNENSEITE von 1962 und NELKEN IN ASPIK von 1976. Die »Schlussreflexion« richtet sich auf die Bedingung der Möglichkeit des sozialistischen Heldennarrativs. Diese Frage stellt sich insbesondere im Rekurs auf Niklas Luhmanns kategoriale Absage an die Adäquanz mythischen Kommunizierens für die Moderne, und es geht entsprechend darum, wie sozialistische Ideologieverfahren sozusagen kontradiktorisch zu Luhmanns Gegenwartsanalyse dennoch mytho-logisch operierten. Noch einmal pointiert in den Blick genommen wird in diesem Zusammenhang, wie die fiktionalisierende Umsetzung des alltagsbezogenen Heldennarrativs scheiterte.

Sozialistische Mytho-Logik (I) Furcht und ihre Abwehr

Blumenbergs Mytho-Logik und das sozialistische Heldennarrativ

Hans Blumenbergs langjährige mythologische Forschungen und seine Frage nach dem anthropologischen Movens der Mythenentstehung bieten (sc. nicht nur) für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie einen besonders basalen Ansatzpunkt. Blumenbergs Forschungen in dieser Richtung setzten spätestens in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ein und kristallisierten sich etwa in seinem anthropologisch grundlegenden Beitrag »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos« im Rahmen des vierten Treffens der Gruppe »Poetik und Hermeneutik« zum Thema »Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption« (Schloss Rheda, Sept. 1968).1 Seine zuvor nicht zuletzt in Vorlesungen entwickelten Reflexionen mündeten sodann in der 1979 erschienenen Monographie Arbeit am Mythos.2 Der Gedankengang dieser in Bekanntheit und Wirkung mittlerweile geradezu epochalen Abhandlung, die wesentlich zur rationalen Bestimmung des zuvor allzu gerne als irrational verpönten Kulturphänomens ›Mythos‹ beitrug, muss hier nicht in extenso nachgezeichnet werden.3 Die sehr prägnanten zentralen Einsichten der in ihr entfalteten Mytho-Logik bieten einzelne Kapitel des ersten Teils, von der »archaische[n] Gewaltenteilung«4, und des zweiten Teils, von der »Geschichtswerdung der Geschichten«.5 Die Bestimmung des Mythischen erfolgt dabei im Wesentlichen in Kapitel II des ersten Teils, das den programmatischen

1

Für den genannten Beitrag vgl. Blumenberg 1971 und zum Nachweis des Tagungstreffens vgl. Terror und Spiel 1971, S. 9f. (»Vorbemerkung des Herausgebers«).

2

Zu Vor- und Umfeld von Arbeit am Mythos vgl. Nicholls/Heidenreich 2014.

3

Für erste Überlegungen in der Art des Nachfolgenden vgl. bereits Elit 2016, S. 58-60.

4

Vgl. Blumenberg 2006, S. 7-162.

5

Vgl. ebd., S. 163-326.

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Titel »Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten« trägt.6 Es beginnt mit einer zugleich phänomenologischen und rezeptionsästhetischen Definition zur mythischen Narration: »Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung. Es ist das Verhältnis, das aus der Musik unter dem Titel ›Thema mit Variationen‹ in seiner Attraktivität für Komponisten wie Hörer bekannt ist. Mythen sind daher nicht so etwas wie ›heilige Texte‹, an denen jedes Jota unberührbar ist.«7

Diese im Wesentlichen für sich selbst sprechende zweiteilige Bestimmung von ›narrativem Kern‹ und ›ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit‹ ergänzt Blumenberg im weiteren Gang des Kapitels insbesondere um die Frage des Warum der mythischen Erzählung. Deren erste Antwort lautet gemäß dem einen Teil des Kapiteltitels, dass Mythen die »Furcht« vor dem »Chaos des Unbenannten« und vor der Grundsituation der »Unwissenheit als auch, noch elementarer, der Unvertrautheit« mit der Welt verringern helfen.8 Die Furcht bezieht sich dabei auf dem Menschen gegenüberstehende Kräfte der Natur oder angenommene, aber noch »namenlose« Götter, die der Mythos mit »Namen« und mit ihnen verbundene Geschichten bannt.9 Allerdings geht Blumenberg davon aus, dass mythische Geschichten nur so angelegt werden (können), dass eine relative, aber nie absolute Beruhigung stattfindet. Erzählt wird nämlich von alten Schrecken und Ungeheuern in der Absicht, mit ihnen Vergleichsmuster für stetig zu erwartende weitere Bedrohungen zu bekommen. Mythen sollen also durch die bloße Vergewisserung kalmieren, dass es eben ›schon immer so war‹, und deshalb sind für veränderte Situationen immer neue Rückbezüge und Varianten zu finden.10 Die finale mythische Hoffnung ist allerdings trotzdem, und Blumenberg hält das anscheinend auch für ein Paradox, »das Subjekt zu finden und zu benennen, von dem die letzte der richti-

6

Vgl. ebd., S. 40-67.

7

Ebd., S. 40.

8

Ebd.

9

S. 40f.

10 Vgl. ebd., S. 41-50.

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gen Geschichten erzählt werden kann«.11 Für die vorliegende Studie von Interesse ist dabei die unmittelbare Ergänzung: »Zum Namen wird auch das traditionell Abstrakteste, sobald es ins handelnde oder leidende Subjekt transformiert ist.«12 Als Beispiel, wohl mit einer polemischen Spitze gegen Heidegger, führt Blumenberg für »Romantik« erklärte Erzählungen vom ›Sein‹ als »geschichtsträchtige[s] Subjekt« und nicht mehr als »das alte Superabstraktum« an.13 Darüber hinaus ergibt sich nach einem späteren Kapitel (im zweiten Teil der Abhandlung), Titel: »Die Verzerrung der Zeitperspektive«14, die nötige »ikonische Konstanz von Mythologemen« wie folgt: »Die Grundmuster von Mythen sind eben so prägnant, so gültig, so verbindlich, so ergreifend in jedem Sinne, daß sie immer wieder überzeugen, sich als immer noch brauchbarster Stoff für jede Suche nach elementaren Sachverhalten des menschlichen Daseins anbieten.«

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Dies alles gilt freilich nur für schon lange bewährte »Grundmythen«, denen gegenüber Blumenberg im Folgekapitel des zweiten Teils den Typus des »Kunstmythos« in den Blick nimmt.16 Letzterer wird lediglich von einer kleinen Gruppe erfunden und bleibt zu seinem eigenen Nachteil on the long run »der Disziplinierung durch ein Publikum entzogen«17, das heißt einer narrativen Selektion, die erst eine Stabilisierung in besonders überzeugenden Varianten mit sich bringt. Dies exemplifiziert Blumenberg an den ›Kunstmythen‹ der »Arkanliteratur« der Gnosis.18 Zu Blumenbergs genereller Mytho-Logik nach Arbeit am Mythos und der Möglichkeit, diese analytisch auf eine dezidiert politische Mytho-Poesie anzuwenden, kann mit einer neuesten Nachlassveröffentlichung und jüngsten Forschungen vermerkt werden: Blumenberg hatte selbst durchaus Pläne für eine politische Mythentheorie und war etwa mythischem Denken im Nationalsozialismus nachgegangen, hielt es jedoch für unpassend, das Werk Arbeit am Mythos mit diesen Konkretisationen als Schlusskapitel zu versehen. ›Unpassend‹ er-

11 Ebd., S. 60. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. S. 165-191. 15 Ebd., S. 166. 16 Vgl. ebd., S. 192-238 (Kap. »Grundmythos und Kunstmythos«). 17 Ebd., S. 233. 18 Ebd., S. 233.

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schienen ihm solche Bezugnahmen auf das 20. Jahrhundert wohl nicht zuletzt, weil er sich nicht auf ein Feld begeben wollte, in dem etwa der von ihm verabscheute Carl Schmitt theoretisch bereits stark gewirkt hatte.19 Die Frage der Furcht im Allgemeinen und die Problematik der gnostischen kunstmythischen Texte im Besonderen lässt sich jedoch in der Tat sehr gut übertragen auf das in den »Vorüberlegungen« benannte Heldennarrativ, das zumal menschheitsgeschichtlich erst recht kurzfristig von Ideologen des Sozialistischen Realismus propagiert worden ist.20 Das Heldennarrativ sei daher als ein typischer Kunstmythos verstanden, und das mit allen generellen Implikationen, die Blumenbergs Mythenbegriff enthält: Auch das sozialistische Heldennarrativ weist wie in den »Vorüberlegungen« skizziert, einen festen Kern mit marginalen Varianzen auf, und das sozialistische Heldennarrativ reagiert ebenfalls auf eine Furcht. Diese lässt allerdings je nach Phase des Sozialismus eine andere ›bannende‹ Benennung des Gegenübers zu; die mytho-logische Paradoxie von Unabschließbarkeit und Finalitätsstreben begegnet somit eindeutig auch. Vom Grundsatz marxistischer Theorie her sind als Furchtauslöser natürlich zuerst der ›Feudalismus‹ und dann vor allem das ›Besitzbürgertum‹ bzw. der ›Kapitalismus‹ anzuführen, in einer dem untergeordneten Deutung auch ein ahistorisch pauschalisierter ›Faschismus‹. Für die etablierte sozialistische Gesellschaft werden sodann ›bürgerliche‹ Residuen als innere Feinde und Widerstände perhorresziert, oder – mit einem kleinen Vorausblick auf die hier interessierenden Prosatexte und Filme – ein ›bürgerlicher Individualismus‹ einzelner Figuren wird zum beargwöhnten Gegenpol des Kollektivdenkens des ›positiven Helden‹ (und natürlich der Staatsführung) aufgebauscht. Der von Blumenberg postulierte Mangel an Überzeugungskraft, den ein Kunstmythos aufweise, erscheint mit Blick auf das sozialistische Heldennarrativ tendenziell gegeben, jedoch unterschiedlich groß, und zwar je nach der ihn aufnehmenden Gesellschaft bzw. deren Kulturgeschichte: Die russische Sowjetliteratur konnte sich bei ihrer Rekurrenz auf das Heldennarrativ auf eine bereits früh im 20. Jahrhundert beginnende sozialistische Gemeinschaftsprägung beziehen,

19 Für die Nachlassveröffentlichung mit umfassender Kontextualisierung vgl. Blumenberg 2014; für prägnante Erläuterungen und Vermutungen nicht zuletzt mit Blick auf die Distanzwahrung gegenüber Carl Schmitt vgl. Nicholls/Heidenreich 2014, S. 225227. 20 Für eher allgemeine Überlegungen zur Übertragung von Annahmen Blumenbergs auf den Sozialismus/Kommunismus (ohne konkrete und zumal narratologische Operationalisierungen) vgl. Finke 2002, S. 532-536.

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und etwa in der postsowjetischen Gesellschaft Russlands nutzen Wladimir Putin und seine Leute – wenngleich in stark eklektizistischer bzw. Ideologieklitternder Manier – diesen Mythos noch heute, um das Staatsvolk hinter sich zu versammeln, etwa durch die Wiedereinführung eines urkunden- und medaillenmäßig verliehenen Ehrentitels »Held der Arbeit«.21 Für die DDR ist hingegen zu konstatieren, dass ein vergleichbarer Mythos erst nach 1945 nachhaltiger verbreitet werden konnte und wohl auch erheblich weniger Konjunktur hatte, und das heißt, mit einem generellen Blick auf die ostdeutsche Literatur und Filmkunst: dass dieser bereits für die Zeit ab Mitte/Ende der 1960er Jahre kaum mehr in mythenstabilisierender Weise umzusetzen war.

21 Vgl. Elit 2016, S. 55f.

In offener Konfrontation: Heldennarrativ und Furcht in den 1950er Jahren

Im Folgenden sollen zwei Werke der 1950er Dekade exemplarisch untersucht werden, die zwei ganz unterschiedliche Perspektivierungen des sozialistischen Heldennarrativs und auch der mytho-sozialistischen Furcht in der Zeit der offenen Konfrontation mit dem Westen bieten. Da die Bekanntheit dieser (wie vieler der nachfolgend behandelten) Werke heutzutage nicht allzu groß ist, wird hier wie in den weiteren Abschnitten bei der erstmaligen Behandlung eines Romans oder Films in aller Regel eine kurze Zusammenfassung der Handlung vorangestellt, der dann erst die genauere Analyse folgt. Im Rahmen Letzterer wird dann zunächst die Narrativierung des sozialistischen Heldenmythos verfolgt. Im analytischen Fortgang wird schließlich peu à peu die spezifische Mytho-Logik der Furcht (der Naturalisierung, der Vermittlung etc.) herausgearbeitet.

E INE H ELDENREIFE : E DUARD C LAUDIUS ’ M ENSCHEN S EITE (1951)

AN

UNSRER

Der rasch und für das Bildungswesen nachhaltig kanonisierte Zeitroman 1 spiegelt den Kleinkosmos eines Ostberliner Industriewerks kurz nach der Gründung der DDR wider. Hauptsächlich erzählte Zeit ist der Dezember 1949, der Epilog springt lediglich nach Ende Februar 1950. Thematisiert werden fast alle Personalgruppen von den Arbeitern über deren Vorgesetzte und die Ingenieure bis hin zur Werkdirektion und zu übergeordneten Parteiebenen (SED-Betriebsgruppenleitung, SED-Landesleitung). Dezidierte Seitenblicke werden auf das

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Vgl. Claudius 1951; nach dieser Ausgabe erfolgen Zitate und Verweise im Folgenden mit geklammerter bloßer Seitenangabe im Haupttext.

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Ruhrgebiet als Vergleichsmilieu hinsichtlich der politisch-ökonomischen sowie der generellen Lebens- und Arbeitsverhältnisse geworfen. Im Zentrum des Romangeschehens steht jedoch der Maurer Hans Aehre und sein am Ende glückendes Bestreben, einen hoch komplexen Ziegel-Ringofen viel schneller als zuvor zu reparieren, nämlich Ofenkammer für Ofenkammer bei fortlaufendem Betrieb der umliegenden Kammern. Er setzt sich gegen bisherige Üblichkeiten und Erfolgserwartungen durch, indem er innovativ plant und sich mit einer kleinen Maurergruppe in akkordmäßiger Höchstgeschwindigkeit aus eigenem Antrieb ans Werk macht, obwohl ihm einige Steine (in Form von Misstrauen, aber auch Intrige bzw. Sabotage) in den Weg gelegt werden. Dadurch wird eine vorbildliche Arbeitstat vollbracht, die allerdings in einigen Zügen aus romaninterner sozialistischer Sicht noch etwas ›unreif‹ angegangen erscheint, und es wird das Weiterproduzieren wichtiger Industriegüter (vgl. S. 32)2, die Arbeitsgrundlage für eine Großzahl von nicht nur im Werk tätigen Menschen, gesichert. Es handelt sich bei diesem Bemühen zum einen um eine literarische Übertragung der sowjetischen Stachanov-Bewegung3 der 1930er Jahre auf ein DDRBeispiel wie dasjenige des kurz zuvor realiter propagandistisch umjubelten Adolf Hennecke.4 Zum anderen sind als konkrete Prätexte des Romans Claudius’ reportageartige Erzählung »Vom schweren Anfang« (1950), die das reale Vorbild Hans Garbe in knapperer Form thematisierte, und der vielfach in der DDR adaptierte und allgemein als prototypisch angesehene Aufbauheldenroman Zement (1925) von Fjodor Gladkow auszumachen. Letzterer ist zwar in der russischen Gegenwart nach den Bürgerkriegen angesiedelt und somit nur bedingt mit der Situation von Garbe/Aehre vergleichbar, dürfte aber für die strukturelle Erweiterung von Claudius’ Garbe-Erzählung hin zum Aehre-Roman ein wichtiges Vorbild gewesen sein.5 Ohne alle diese intertextuellen Verbindungen hier weiter

2

Es handelt sich bei Aehres Fabrik nach einer verlässlichen Figurenaussage um »das einzige Werk diese Art in der Republik. Unsere Elektroden- und Silitstabproduktion, ganz abgesehen von unsern Kupferbürsten, wird gebraucht wie das Wasser in der Wüste.«

3

Vgl. Maier 1990.

4

Vgl. Satjukow 2002 sowie Graff-Hennecke/Nehrlich 2011.

5

Zu Gladkows Roman im strukturellen Überblick sowie zu Claudius’ Roman auch in Abgrenzung von diesem (und anderen Sowjet-Vorbildern) vgl. Aumüller 2015, S. 4250 bzw. S. 238-245. Als bekannteste DDR-Adaptionen des Garbe-Stoffes einerseits und des Gladkow-Romans andererseits sind sicherlich Heiner Müllers Dramen Der Lohndrücker (1957) bzw. Zement (1972) anzusehen, vgl. zu beiden einführend Eke 1999, S. 67-73 bzw. S. 95-103.

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verfolgen zu wollen, lässt sich mit Blick auf diese kleine Heldenreihe feststellen: Immer geht es um das mythisierte Exempel eines altruistischen Aufbauhelden, das eine generelle Erhöhung der Arbeitsproduktivität gegen zahlreiche Widerstände und durch geradezu übermenschliche Arbeitsleistungen als sozialistische Tugend (und in der Folge wie zeitüblich: Verpflichtung) propagiert. Als für die Darstellung der frühen DDR spezifisch ist zum einen anzusehen, dass Aehre sich gegen mit dem Westen paktierende Saboteure behaupten muss, Meister Matschat und andere, die typischerweise auch noch in die Bundesrepublik bzw. nach Westberlin überwechseln wollen. Zum anderen sind verschiedene Nebenakteure zwar nicht eigentlich antisozialistisch eingestellt, erscheinen jedoch noch so ›bürgerlich‹ orientiert, dass ihnen das Zutrauen in die positive Entwicklung des sozialistischen Unternehmens über geraume Zeit noch gebricht – bis sie dann doch noch das kommunistische Weltbild als das bessere erkennen, insbesondere der Kunstmaler bzw. Bautechniker Andreas Andrytzki und der Chefingenieur Dr. von Wassermann. Selbst der Protagonist muss nach den schlechten Vorerfahrungen mit kapitalistischen Vorgesetzten und mit den Verhältnissen von vor 1945 überhaupt noch mehr Vertrauen in seine ›guten‹ neuen Vorgesetzten gewinnen, um nicht mehr auf letztlich doch noch unsozialistische Weise einzelgängerisch zu agieren. Dass Aehre überdies seine Ehefrau Katrin über weite Strecken des Romans nicht als gleichrangige Mitstreiterin (sondern nur als Hausfrau und Mutter) ansehen kann, erscheint als weiteres Signum einer Romanwelt, die ein frühes Übergangsstadium in die ideologisch angestrebten Verhältnisse präsentiert.6 Was man zum Erreichen dieses Ziels braucht, formuliert Aehre zum Romanschluss gegenüber seiner Katrin: »Alte Geschichten? Auf keinen Fall! Neue, ja!« (S. 398) Dieser Ausruf ist kontextuell zwar sehr spezifisch gemeint, denn es geht um einen von der Ehefrau befürchteten Rückfall Aehres in patriarchalisches Verhalten, aufs Ganze des Romans gerechnet schließt er aber sehr gut an das in den »Vorüberlegungen« zitierte Marx’sche Diktum von der ›Poesie‹ an, die die postulierte soziale Revolution ›aus der Zukunft‹ zu schöpfen habe. In diesem Sinne – und natürlich im Bewusstsein der damit einhergehenden Mythisierung der ideologischen Grundlage, siehe ebenfalls bereits oberhalb – soll Claudius’ Roman als erstes Beispiel genauer beleuchtet werden. Hierbei kommt denn auch sogleich Blumenbergs Annahme zum Tragen, dass ein Mythos, also nun das kunstmythische sozialistische Heldennarrativ, zur repe-

6

Für eine erste, kurze Analyse von Claudius’ Roman in dieser Richtung vgl. Elit 2016, S. 62. Zu den Spezifika der Figur Aehre und weiteren zentralen Romanaspekten vgl. Aumüller 2015, S. 238-245.

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titierten Beruhigung für spezifische Zeitverhältnisse variiert wird. Bereits grundstrukturell ist der Roman nämlich Heldennarrativ-variativ angelegt: Im Zentrum steht zwar eindeutig das skizzierte Vorgehen des Protagonisten, denn es gibt dem Erzählablauf eine Gesamtspannung, die im Folgenden als nachgerade dramatisch verstanden werden kann – und damit zugleich einmal grundsätzlich daran erinnern mag, wie sehr mythische Heroik und traditionelle Dramatik ästhetisch zusammengehören, nur dass im Gegensatz zur klassischen Antike diese Koppelung vornehmlich auf Prosa und vielleicht noch mehr den Spielfilm übertragen wird. Doch was nun die grundständige Varianz betrifft: Zwei starke Nebenhandlungen ziehen sich mit deutlichem und auch mytho-logischem Eigengehalt durch den Text, und zwar zum einen die angedeuteten Bemühungen von Aehres Frau Katrin um eine autonome sozialistische Arbeitstätigkeit über Mutterschaft und Unterstützung des Gatten hinaus, und zum anderen das Ringen Andreas Andrytzkis um eine eigene weltanschauliche und produktive Position. Mit Bezug auf Katrin Aehre und ihre im Vergleich zum Gatten ›modernere‹, sprich: in sozialistischem Sinn ›fortgeschrittene‹ Haltung ist sogar postuliert worden, sie sei die eigentliche Heldin des Romans.7 Dies erscheint erzählstrukturell, in der identifikatorischen Leserlenkung und Heldennarrativ-bezogen jedoch zu hoch gegriffen, was im Folgenden in der sukzessiven Analyse nach Hauptund Nebenlinien zu zeigen sein wird. Ebenso kann Andrytzkis Entwicklung hin zu einer gefestigten sozialistischen Position als kleine Heldennarrativ-ähnliche Parallelerzählung angesehen werden, jedoch nicht als vollgültige »Heldenalternative«.8 Vielmehr stellen Andrytzki wie andere positive bzw. sich positiv entwickelnde Figuren des Romans – Altsozialisten, Parteifunktionäre, aber auch weitere Arbeiterinnen und Arbeiter und zunächst noch eher ›bürgerliche‹, sich aber ›läuternde‹ Ingenieure – eher nur flankierende kleinere Helden- und HelferTypen dar. Vor dem Durchgang durch die auf den Protagonisten-Heroismus bezogene ›dramatische‹ Handlung sei wegen dessen großer Breite das Romanpersonal um diesen herum in seiner Konstellation benannt: Der private, häusliche Bereich um den achtundvierzigjährigen, altgedienten Kommunisten Aehre, der auch bereits einen – nicht untypisch: einer Intrige geschuldeten – vorübergehenden Parteiausschluss aus der Zeit in einem anderen Werk hinter sich hat, besteht fast ausschließlich aus seiner ebenfalls gut kommunistischen Ehefrau und der gemeinsamen dreijährigen Tochter Miele. Lediglich zu Anfang des Romans (in Kapitel I) kommt außerdem kurz eine unfreundliche Nachbarin im Mietshaus der Aehres

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Vgl. Aumüller 2015, S. 243.

8

Vgl. Taschner 1981, S. 109.

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in den Blick sowie ein missgünstiger Kneipenwirt von gegenüber und späterhin (in Kapitel IV) die Leiterin von Mieles Kindergarten; zu deren jeweils kleinen paradigmatischen Rollenpositionen jedoch später. Ansonsten findet das Leben Aehres, und im weiteren Romanverlauf auch das seiner Frau, aber praktisch nur im Werk statt. Dort hat er aufgrund des unguten Wechsels aus dem anderen Werk trotz Alter, Erfahrung und Parteitreue zunächst eine bloße Hilfsarbeiterposition, in der er die Maurerbrigadekollegen zu unterstützen hat: Es sind dies vor allem Backhans, ein guter Arbeiter und lediglich zu Handlungsbeginn frustrierter Kommunist, Kerbel, ein mürrischer Skeptiker, und Reichelt, zunächst noch kaum sozialistisch eingestellt, sondern durch die alten kapitalistischen Verhältnisse von seinem Tun ›entfremdet‹. Dazu kommen als profilierte weibliche Kräfte die selbstbewusste altkommunistische Käthe Springer und die noch junge, irritierbare Genossin Suse Rieck. Eine zwielichtige Rolle haben der am Rande arbeitende Kunzel und dessen bester Kumpel, der die Brigade leitende Meister Matschat, der eigentlich langjähriger Werksangehöriger ist und offiziell Kommunist, sich innerlich jedoch auf dem Absprung zur im Aufbau befindlichen Firma des Bauunternehmers Weitler befindet. Letzterer wiederum baut gerade mehr schlecht als recht ein Kulturhaus auf dem Werksgelände und plant, sich mit einem neuen Unternehmen nach Westdeutschland abzusetzen, wofür er Matschats Hilfe bzw. von diesem besorgtes Knowhow in Form von Bauplänen benötigt. Matschat zur Seite gestellt ist zudem der erwähnte ausgebildete Kunstmaler Andreas Andrytzki, der in jungen Jahren nach Berlin gekommen war und aus einer Arbeiterfamilie im Ruhrgebiet stammte, wo diese – Mutter, Vater und angehend kommunistischer Bruder Karl – immer noch leben (in Kapitel III und IV befindet Andrytzki sich nochmals bei ihnen). Andrytzki sieht sich als Maler jedoch für gescheitert an und ist daher zu Romanbeginn als Bautechniker im Werk tätig, wo er sich alsbald in Suse Rieck verliebt, ein wichtiger Anstoß für seine innere Wandlung, die ihren Abschluss am Romanende in einer Wiederaufnahme der Malerei finden wird, dann jedoch als offizieller Künstler im Werk. Erwähnenswert für den weiteren Erzählverlauf sind sodann, in der Hierarchie des Betriebs sozusagen in der unmittelbaren Nachbarschaft von Matschats Mauerbrigade, die Brigade der werkinternen Ziegelbrennerei und ihr Leiter Fahle, der in gut kommunistischem Eifer dabei ist, eine Brigade nur aus FDJlern auszubilden (besonders hervor tritt diese dann in Kapitel IV als wichtige Unterstützergruppe für Aehre), um so besonders motivierte Kräfte zu erhalten; als aufgeschlossen gegenüber Aehres Bemühen begegnet der ansonsten ideologisch nicht hervortretende leitende Ingenieur der Brennerei Septke. In der chemischen Forschungsabteilung der Firma arbeitet fernerhin, und bald als deren Leiter (ab Ka-

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pitel II), der ehemalige NSDAP-Parteigänger und zunächst noch ›bürgerlich‹ orientierte Dr. Lauter, der sich jedoch anscheinend eine Art sozialistische Selbstbewährung zum Ziel gesetzt hat und dessen wichtigste Unterstützung bei der Arbeit und der ideologischen Festigung im Romanverlauf Katrin Aehre wird. Die Werksdirektion schließlich ist besetzt durch den leitenden Direktor Carlin, vormals einfacher Arbeiter, aber als bewährter und vorbildlicher Genosse im Alter noch hoch eingesetzt, durch den langjährigen Haupt-Werkstechniker Dr. von Wassermann, der aufgrund seiner ›bürgerlichen‹ Herkunft und den (Russen)Ängsten seiner Frau lange Zeit im Roman vor der Flucht in den Westen steht, und durch den Personalleiter, üblicherweise ja ein SED-Funktionär, der auch die ideologische Betriebsgruppenleitung besetzt. Letzteren Posten hat zunächst der wenig vorbildlich kollektivistisch, vielmehr träge und eigenmächtig tätige Bock inne, der späterhin von einer Art positivem Gegenteil, Wende, abgelöst werden wird. Noch vor Wende (der erst in Kapitel IV hinzukommt) begegnet als überaus positive Funktionärsfigur außerdem Schadow, der (in Kapitel II) von der Landesparteizentrale als Instrukteur, eine Art ideologischer und arbeitsökonomischer Betriebsprüfer, geschickt wird. Die Haupterzähllinie verfolgt die Entwicklung des Protagonisten in fünf Großkapiteln (sowie Prolog und Epilog) und dabei – wie bereits angedeutet – in der Manier eines geschlossenen Dramas, also gleichsam in Akten, denen mangels romaninterner Betitelung hier dramentechnische Kategorien zugewiesen werden können: Exposition und erregendes Moment (Ostberliner Fabrik im Winter im Prolog, obiges Personal und die Ofenbaufrage in Kapitel I), steigende Handlung (Aehres erste Bemühungen, nahende Unterstützung, aber auch Gegenhandlungen in Kap. II), erster Höhepunkt (Aehre kann aktiv werden, gegnerisches Treiben ist aber auch stark in Kap. III), weiterer Höhe- und nahender Wendepunkt (Aehre setzt sein Vorhaben an sich gut um, eine Intrige ist allerdings noch offen in Kap. IV) sowie Peripetie, fallende Handlung mit retardierendem Moment und Happy End (das Vorhaben selbst ist vollendet, bei zunächst noch wirkender Sabotage, dann aber folgt sukzessive ein guter Ausgang in Kap. V und Epilog). Der Prolog (vgl. S. 5f.) führt lediglich die bereits ältere Fabrik selbst ein und ihre periphere Lage in Berlin, um dann bedeutungsvoll zu beschreiben, dass nach einer Art ›goldenem Herbst‹ ein feuchter, ungemütlicher Winter eingezogen sei, der Schnee erwarten lasse. Mit Blick auf das Handlungsgeschehen kann hier von einer Rahmengebung im Sinne eines aufziehenden ›raueren Klimas‹, von ›härteren Tagen‹ gesprochen werden. Das erste Kapitel (vgl. S. 7-65) zeigt dann den Protagonisten zuerst im häuslichen Kreis seiner kleinen Familie, mit seiner lie-

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bevoll unterstützungswilligen Frau, die allerdings rasch bemerkt, dass ihren Mann etwas aus der Arbeit nicht loslässt, worüber er aber nicht reden möchte. Er beklagt sich auf ihr Drängen hin zunächst nur allgemein über die schlechte Behandlung durch Matschat (vgl. S. 29), spricht dann jedoch auch von seinem »Vorschlag« (ebd.), auf den dieser nicht reagiere, nämlich den immerhin letzten laufenden Ofen notwendigerweise zu erneuern, ohne ihn jedoch wie üblich zu löschen (vgl. S. 30). Diesen Vorschlag auch dem Werksdirektor zu unterbreiten, getraut sich Aehre zur Verwunderung seiner Frau nicht – hier spielt das erwähnte noch mangelnde Zutrauen in die neuen Vorgesetzten bzw. Verhältnisse eine zentrale Rolle. Zum Teil berechtigt erscheint Aehres Zurückhaltung, den mithilfe seiner Frau nun auch aufgezeichneten Reparaturplan (vgl. S. 46-54) höheren Stellen vorzulegen, immerhin dadurch, dass neben Matschat insbesondere Parteisekretär Bock wenig vertrauenerweckend wirkt (vgl. S. 50). Eine zwischengeschaltete Parallelerzählung (vgl. S. 31-37) macht demgegenüber deutlich, wie sehr das Direktorium um Carlin nach einer Lösung für das Ofenproblem sucht und was für ein vorbildlicher Charakter Carlin selbst ist, in dem man hier sogleich den sozialistischen Althelden erkennen kann. Im zweiten Kapitel (vgl. S. 67-130) wird zur Charakterisierung des Protagonisten zunächst eine bereits geleistete ›Heldentat‹ in einer Rückblende nachgeliefert (vgl. S. 73-80), Aehre nämlich hatte im Frühjahr bereits den gemauerten Rahmen für einen Ofendeckel in deutlich geringerer Zeit durch effizienteres Herangehen als werksüblich neu gemauert. Die beeindruckende Heroik der genau geschilderten Tat wird hervorgehoben durch die Beschreibung Aehres einerseits als »ruhig« und »planvoll« (S. 75), aber andererseits wird er auch als höchst erregter heldischer Körper und Geist charakterisiert, denn »sein Blut pulste freudig im Takt der Hammerschläge« (ebd.), und bei (sc. lediglich kleinen) Problemen wird er »unter der steilen, eigensinnigen Stirn« auch »böse« (ebd.). Erst als Aehre die Arbeit in lediglich einem Drittel der üblichen Zeit vollendet hat, das heißt nach netto dreizehn Stunden, sinkt er in einen längeren Schlaf (vgl. S. 76). Die erhoffte Anerkennung für diesen Beweis einer kostensparenden Effizienzsteigerung erhält er von seiner unmittelbaren Umgebung freilich so gut wie nicht: Mit Matschat an der Spitze wird er als Lohndrücker beschimpft (vgl. S. 78-80), eine Diffamierung, die die fehlende ›rechte Haltung‹ Vieler zeigen soll und die sich bis zu dem im ersten Kapitel begegnenden Kneipenwirt gegenüber von Aehres Wohnung fortpflanzen sollte, denn dieser spricht nach Katrin Aehres kurzem Gang in die Kneipe (um ihrem Mann einen entspannenden Schnaps zu holen) auf nämliche Weise von der allgemeinen Verachtung für »Akkorddrücker« und »Aktivisten« (S. 16). Obwohl Aehre gegenüber Matschat fühlt, dass er im Sinn von Partei und Staat gehandelt hat, vermag er sich hier noch nicht zu

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verteidigen. Er denkt lediglich in sozialistisch-heroischem Sinn von seiner Leistung: »Unsere Arbeit ist nicht etwas, was uns knechtet, sondern was uns befreit, was uns unsere Würde gibt, was uns stolz und erst zu wahren Menschen macht.« (S. 80) Die Wirkung dieser Gedanken auf Aehres Psyche und Physis wird zudem vom Erzähler pathetisch unterstrichen: »Wie ein feuriger Strom gehen diese Worte durch ihn, brennen in ihm mit nicht zu verlöschender Flamme ...«. (Ebd.) Sowohl die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Zweifel Aehres, ob er in dieser Atmosphäre erneut als ›Aktivist‹ hervortreten soll, als auch seine eigentliche innere Überzeugung erklären sich nicht zuletzt durch diese erste Tat. Als etwas früher Deus ex machina bzw. als unerschütterlicher Heros einer höheren Ebene tritt jedoch schon in diesem Kapitel der Landespartei-Instrukteur Schadow in die Handlung ein (vgl. ab S. 83) und läutet die Unterstützung des ihm bereits (sc. nur positiv) bekannten Aktivisten Aehre ein, denn er zollt ihm ehrliche Anerkennung für den Ofendeckel, und er interessiert sich auch für dessen neuen Plan (vgl. ab S. 96). Außerdem beschleunigt er mit Unterstützung des Ziegeleileiters Fahle die Ablösung des für Aehre buchstäblich kontraproduktiven Parteisekretärs Bock (vgl. ab S. 108). Am Ende des Kapitels ist Aehre so nicht nur ermutigt, Schadow und Carlin sein Vorhaben ein erstes Mal vorzustellen, er traut sich sogar, auf Matschats zwielichtige Zusammenarbeit mit dem Unternehmer Weitler hinzuweisen, deren statisch unzureichenden Kulturhausbau er offen als »Sabotage« (S. 129) bezeichnet. Im dritten Kapitel (vgl. S. 131-224) muss Aehre jedoch erst einmal die für sein Vorhaben nötige praktische Unterstützung im Kollegenkreis erwirken. Dafür muss ihm Carlin allerdings noch mehr Vertrauen einflößen, dass er den nötigen Rückhalt zumindest vonseiten der Direktion erwarten darf bzw. nach Ende des Kapitalismus/Faschismus im Land auch muss (vgl. S. 148-152). Der Altheld weiß aber auch, dass Aehre die heroische Kernleistung selbst vollbringen muss: »›Niemand wird dir helfen, diesen Vorschlag durchzukämpfen, und du wirst schwitzen müssen wie noch nie in deinem Leben.‹« (S. 150) – Auf Aehres trotzige Reaktion hin jedoch »lachte [Carlin] offen heraus. ›Ich schwitz ja schon mit dir!‹« (S. 151) Als Aehre ihm daraufhin den mit bzw. vor allem von der Gattin aufgezeichneten Bauplan vorlegt, durchschaut dieser schnell dessen (sc. unverschuldetes) Bildungsdefizit, und als Aehre den Raum verlassen hat, reflektiert Carlin darüber mit Blick auf den ihm hier begegnenden, als zeittypisch angesehenen Arbeiterheldentypen: »Wenn solche Kerle schreiben und rechnen gelernt hätten [sprich: wenn die höheren Klassen sie gelassen hätten] ... Mein Gott, die würden die Welt auf den Kopf stellen! Dann, mit warmem Aufzucken, dachte er: Aber stellen sie die Welt nicht schon auf den Kopf, besser

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auf die Füße? Ja! Und trotzdem, sie müssen noch schreiben lernen. Sie kommen nicht daran vorbei!« (S. 152)

Doch erst einmal beginnt Aehre die Überzeugungsarbeit unter seinen Kollegen (ab S. 167), deren Einwände gegen effizienteres Arbeiten noch mehr von ihrer ›Entfremdung‹ vom eigenen Tun zeugen (vgl. etwa S. 169f.). Aehre weckt jedoch peu à peu ein gut sozialistisches Arbeiter-»Wir«-Gefühl in ihnen (vgl. S. 172), und als er sie eine Weile allein lässt, erlangt zuerst Backhans, dann Kerbel und schließlich durch sie beide auch Reichelt die rechte Haltung (ab S. 172) – die junge Suse Rieck ist sogar bereits überzeugt, hatte sich jedoch wegen Andrytzki wohl zunächst zurückgehalten (vgl. S. 163f.), treibt die Männer aber dann umso heftiger an (vgl. S. 173). Eine weitere Voraussetzung für Aehres Mut ist dann, dass der unkooperative Parteisekretär unter anderem von Aehre selbst mit Schadows und Fahles Hilfe abgesetzt wird und Aehre und andere »Aktivisten im Betrieb« (S. 199) mehr Anerkennung durch die ideologische Personalleitung erhalten (vgl. S. 196-202). Offiziell grünes Licht erhält Aehre schließlich von einem noch unterschiedlich auftretenden erweiterten Direktorium: Carlin steht zwar hinter ihm, lässt ihn gewissermaßen aus pädagogischen Gründen jedoch allein für sich werben; von Wassermann ist weitgehend ablehnend gestimmt, weil er nur fachlich, nicht ideologisch denkt; Aehres unmittelbarer Vorgesetzter Matschat intrigiert weiter; Septke und der später hinzukommende Fahle stellen sich provokativ ermutigend hinter das vielleicht riskante, für sie aber allemal lohnenswerte Pioniervorhaben. Am Ende der Diskussion steht ein machtvolles Votum Carlins, dessen Autorität nach Rang und Würde niemand zu widersprechen wagt (vgl. S. 202-213). Unmittelbar nach den Weihnachtsfeiertagen geht Aehre mit seinen noch einmal mehr einzuschwörenden Leuten das Vorhaben dann planerisch und arbeitsmäßig konkret an, kommt – im dieses vor allem beschreibenden vierten Kapitel (vgl. S. 225-317) – jedoch nur bis zu einem letzten neuralgischen Punkt (die späterhin aufkommende Düsenstein-Problematik), dessen Überwindung man freilich als Leser erwartet. Wichtig für das Erreichen dieses weiteren Höhepunkts, der die positive Peripetie für Aehre zumindest in Aussicht stellt, ist nicht zuletzt die Anwesenheit des neuen Personalleiters und Sekretärs der SEDBetriebsgruppe, dessen Name hier fast schon holzhammerartig ominös erscheint, heißt er doch Walter Wende, der selbst Skeptiker wie Reichelt noch die rechte sozialistische Perspektive auf die neuen Verhältnisse in der alten Fabrik beibringt (vgl. S. 240-245). Bei der von Aehre vor allem zu leistenden Koordination seiner Helferinnen und Helfer zeigt er sich zwar als besser kollektiv vorgehender Leitheld als bei

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seinem Ofendeckel-Alleingang, und er kann auch eine erste Sabotage-Intrige Matschats abwehren, als dieser Kunzel falsche (noch feuchte) Ziegel an die Ofenbauer verteilen lässt (vgl. S. 260-268). Als er jedoch für einen bestimmten Bauabschnitt komplett neu anzufertigende »Düsensteine« benötigt, versucht er diese in einer Art Spontanaktion, also eher anarchistisch denn ›ordentlich‹ plansozialistisch, von Fahles Ziegelei zu erhalten. Fahles FDJ-Junghelden sind diesbezüglich zwar an sich unterstützungswillig, einige (bezeichnenderweise [?] vor allem ein Mädchen) bemängeln jedoch die fehlende Absegnung dieser Maßnahme durch die Direktion (vgl. S. 305-310), was als Kritik an Aehre anscheinend aus der Romanperspektive von einem ›fortgeschritteneren‹ Sozialismus zeugt. Diesen hatte auch Wende generell bereits vom ungeduldigen Aehre eingefordert, als er dessen Vorgehen als »Partisanenmanier« charakterisierte, die nicht vom vorhandenen »geordneten Staat« ausgeht, sondern der vorsozialistischen »alten Zeit« (S. 295) verhaftet sei. Bevor Aehre diese und andere Defizite aber grundsätzlich überwindet und sein Heldentum gewissermaßen voll-sozialistisch werden lässt, warten das fünfte Kapitel und der Epilog (vgl. S. 319-382 bzw. 383-398) noch mit einigen Hürden auf. Am Anfang steht eine kleine Heldentat en passant, denn Aehre gelingt es, den an sich ›bürgerlich‹ und aus fachlichem Dünkel reservierten von Wassermann von der guten Sache zu überzeugen, weil er die Düsensteinfertigung so unbedingt genehmigt haben möchte, sowie ihn ganz nebenher auch von einem weiteren akuten Fluchtbestreben zusammen mit der Gattin abzuhalten (vgl. S. 323-331). Von Wassermann ist von Aehre schließlich so angetan, dass er anerkennend erstaunt ausruft: »›Was sind Sie für ein Kerl!‹«, und beider Ergriffenheit in dieser Situation drückt sich wie folgt aus: »Er lächelte vor sich hin, und auch Aehre fühlte, wie es in ihm aufquoll, warm bis in den Hals hinauf.« (S. 328) Diese erfüllende Wirkung der eigenen sozialistischen Heroik auf Aehre beschreibt der Erzähler im Übrigen für den Protagonisten oder auch dessen sozialistische Kameradin/Ehefrau wiederholt (vgl. etwa bereits S. 48 oder 53) und setzt damit gleichsam eine Chiffre für die unmittelbare psychosomatische Beglückung durch sozial(istisch)es Tun. Als Aehre sodann zu der zuvor unwilligen Ziegeleibrigade zurückkehrt, ist deren Reserve gegenüber seiner eigenmächtigen Forderung bereits von gutwilligem Tun abgelöst, Aehre fürchtet aber immer noch deren Abwehrhaltung. Als er zunächst vor dem verschlossenen Ziegeleitor warten muss, wird er lediglich in gleichsam komödiantischer Manier von einer Brigadistin hingehalten (man fühlt sich an das Motiv des Paraklausityron, des vor der Tür schmachtenden Liebenden der griechisch-römischen Komödie à la Menander, Plautus oder Terenz erinnert), um dann zu seiner großen Überraschung mit einer schon fast vollendeten

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Fertigung konfrontiert zu werden (vgl. S. 348f.). Die rasch eingebauten Düsensteine sowie die ganze im Akkord renovierte Ofenkammer werden dann jedoch einem fatalen Probelauf ausgesetzt, denn nach diesem ist die ganze Kammer scheinbar aufgrund falschen Baus in sich zusammengefallen (vgl. S. 357). Matschat, Kunzel und andere Gegner des Aktivistentums jubilieren entsprechend und sehen Aehre und seine Leute als erledigt an, dieser und der bereits sozialistisch gefestigte Reichelt bleiben jedoch ruhig und vermuten einen Fehler beim Betrieb und nicht am Bau oder den neuen Düsensteinen: »Der Ofen ist überheizt worden.« (S. 361) – Einzig zu erreichen ist dafür nun noch eine fachmännische Prüfung, worum Aehre den ihm noch unsympathischen Chemiker Lauter bitten muss, der sich aber auch bereits zum kooperativen Kollegen gewandelt hat (vgl. 370-373), und dies nicht zuletzt aufgrund des Wirkens von Aehres Frau, dazu aber noch später. Für einen effizienteren Weiterbau an den weiteren zu erneuernden Ofenkammern tritt als eine Art Helden-Helfer schließlich noch der Parteisekretär Wende hinzu, der Aehres Maurerkollegen dazu animiert, ein neues sowjetisches Maurerarbeitsmodell (»Dreiersystem«, S. 376-380) zu übernehmen – die beste sozialistische Heldenleistung kommt, so scheint der Roman auszusagen, immer noch aus der UdSSR, eine konkrete Erinnerung an das ideologische Motto: ›Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen‹. Im Anschluss kann Aehre gegenüber dem Direktorium sodann bereits mit der chemisch geprüften Hypothese aufwarten, dass nur ein Sabotageakt die Zerstörung der Kammer bewirkt haben kann (vgl. S. 380), und in der Tat sitzt Matschat bereits in einer anderen Sache und diesbezüglich geständig beim Verhör (vgl. S. 382). Aehre hingegen soll zu seiner Irritation bereits vom aktuellen Ringofenbau abgezogen werden (vgl. ebd.) – warum, dass erfährt man jedoch erst im Epilog, der zwei Monate später situiert ist: Er ist zum Meister befördert worden (vgl. S. 386). Seine mittlerweile zu einem innigen Kollektiv zusammengeschweißte Brigade will Aehres und ihre Erfolge denn auch bereits für sich feiern, zum guten Schluss kommt die ganze Direktion jedoch in die Ofenhalle, und Aehre darf die heroische Gemeinschaftsleistung in einer kleinen Rede proklamieren, dazu aber auch die Aussicht auf weitere Leistungen dieser Art, »denn wir sind eine Kraft, eine große Kraft.« (S. 395) – Die Umstehenden sind mit diesem und anderen eher kurzen Ausrufen (statt einer umfassenden Rede) jedoch trotz Aehres offensichtlichem Schritt vom einzelgängerischen zum kollektivistischen Heroismus nicht ganz glücklich, sie scheinen sich viel mehr über dessen Unfähigkeit zu wundern, nun auch angemessen zu handeln. Parteisekretär Wende springt deshalb ein und hält eine ausführlichere Ansprache, die Aehres nun voll nachahmenswertes Heldentum wie folgt würdigt:

40 | V ON H EROEN UND I NDIVIDUEN »›Und Aehre‹, so sagte er, ›dieser Aehre, ein Arbeiter wie wir, er hat diese Veränderung [die Verbesserung der Betriebsverhältnisse durch Aktivistentum statt Schlendrian, S.E.] bewirkt, weil die lebendige Partei in ihm lebendig war. [...] Ein einfacher Mensch, und er hat diese Kraft in sich. Wir alle haben diese Kraft in uns, wir müssen es nur wissen ...‹« (S. 396)

Dass Aehre trotz dieser Belobigung allerdings als sozialistischer Heros ein Stück weit noch am Anfang steht, bleibt hier im Hintergrund von dessen verhaltenem Agieren selbst in dieser Situation, weshalb denn auch der vollständige Titel dieses Schlusskapitels lautet: »Ein Epilog, der ein Vorspiel ist«. (S. 383) Warum Aehre sich noch auf einen gewissen weiteren Lernweg bis zu einem vollendeten Heldentum bzw. Dasein als ›neuer Mensch‹ begeben muss, erhellt durch einen Blick auf die Heldin an seiner Seite, seine Ehefrau Katrin, der gegenüber er wie bereits ausgeführt ganz zum Schluss keine ›alten Geschichten‹ mehr verspricht (vgl. S. 398). Worin diese ›alten Geschichten‹ bestehen, hat der Roman wie gesagt als wichtige Nebenlinie gezeigt: Aehre war nicht in der Lage bzw. gewillt zu akzeptieren, dass die kluge Genossin an seiner Seite nicht nur Hausfrau und Mutter sein, sondern entsprechend den sozialistischen Gleichberechtigungsvorstellungen werktätig und auch ideologisch aktiv werden wollte. Schon in der Unterstützung von Aehres Ofenbauplanungen zeigt sie dies in einem guten Ansatz. Was Aehre jedoch längere Zeit nicht mitbekommt, ist, dass sie sogar selbst in seiner Fabrik zu arbeiten begonnen hat, sprich: in der chemischen Abteilung, wo sie den neuen Leiter Lauter nicht nur arbeitsmäßig unterstützt, sondern auch zum Sozialisten macht. Sie geht dafür sogar planhaft auf der Basis von Maßgaben Stalins zur Überzeugung der ›alten Intelligenz‹ vor (vgl. S. 269-271). Zu solchen Reflexionen ist der ganz im einfachen Tun verhaftete Aehre jedoch lange Zeit weder willens noch in der Lage, und darum versteht er das ›fortgeschrittene‹ Heldentum seiner Gattin kaum. Geradezu antisozialistisch droht er zu werden, als er die gemeinsame Tochter Miele ruppig wieder aus dem Kindergarten herausnehmen will, in den sie gehen muss, damit beide Elternteile arbeiten können. Sozusagen zu seinem eigenen Glück, zur Wahrung seines Status als sozialistischer Held, wehrt sich Miele dagegen, und eine kluge Kindergartenleiterin führt ihm vor, wie kindgerecht ihre Einrichtung ist, im Gegensatz zu denjenigen ›Aufbewahranstalten‹, die Aehre aus der vorsozialistischen Zeit kennt und immer noch für die einzige Realität hält (vgl. S. 310-316). Andere Romanfiguren, Direktion und Kollegen, bemühen sich außerdem wiederholt, Aehre zu einer Aussprache mit seiner Gattin zu bewegen, damit er ihre berechtigten Ansprüche und auch ihr eigenes vorbildliches Arbeiten anerkennt, er braucht dafür jedoch prak-

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tisch bis zum Romanschluss, und sein Gelöbnis an dessen absolutem Ende ist daher auch erst einmal ein Inaussichtstellen, dem textinterne Zuhörer und reale Leser vertrauen müssen (aber entsprechend der Happy-End-mäßigen Sympathielenkung wohl auch dürfen). Das sozialistische Heldennarrativ begegnet durch diese Defizite in einer Variante, die in gewissem Ausmaß am Rande zu einer nach Blumenberg im Grunde gefährlichen Nicht-Marginalität erscheint, die Entwicklung des Protagonisten kann jedoch auch als erzählstrategisch in geradezu marxistisch-dialektischer Weise erfolgversprechend angesehen werden: Angenommen nämlich, hier handelt es sich um eine für diese Zeit besonders verständliche, da realitätsnahe Heldencharakteristik, dann kann diese Mythenversion umso besser überzeugen. Dass die Ehefrau für manche sogar als die ›heimliche‹ bzw. eigentliche Heldin erschien bzw. erscheint, mag dabei als flankierende narrative Maßnahme angesehen werden, die durch die abschließende Harmonisierung keine mythensprengende Wirkung hinterlässt. Der sozialistischen Ideologie nach 1945 gemäß, richtet sich die Furcht im Roman in der Hauptsache auf den für extrem aggressiv gehaltenen Kapitalismus im Westen sowie die dortigen Verhältnisse überhaupt, aber auch auf ›bürgerliche‹ oder zumindest ›privatistische‹ bzw. aus altem Denken heraus unsozialistische Tendenzen Einzelner in der DDR. Dazu kommen als aktualisierendes Pendant zum eigenen antifaschistischen Gründungsmythos erwartete NS-Überbleibsel im Westen, Ende 1949 freilich auch noch in Einzelfällen im Osten selbst. Daneben wirkt in den Köpfen noch der alte Feudalismus nach. Zu beginnen ist hier nicht nur aus historischen Gründen mit dem Feudalismus, denn in Sonderheit Protagonist Aehre ist von einer Kindheit und Jugend im Dunstkreis eines für typisch anzusehenden preußischen Landjunkers und Militärs aufgewachsen. Unter diesem hat vor allem Aehres Großvater als Landarbeiter noch fast wie ein Leibeigener gelitten, er hat aber auch Aehre selbst unterdrückt, nicht zuletzt indem er ihn von Bildung ferngehalten hat (vgl. S. 46f.) – wodurch auch die (entschuldigende) Quelle für Aehres Unvermögen zu schreiben, rechnen und zeichnen dingfest gemacht erscheint. Wie sehr Aehre von diesen frühen Erfahrungen nicht nur geprägt, sondern sogar quasi traumatisiert ist, belegt eine frühe Passage im ersten Kapitel (vgl. S. 23-27); sie beginnt: »Auf dem Schlaf Hans Aehres lag seit vielen Jahren der gleiche wüste Traum.« (S. 23) Dingsymbol in deren Zentrum ist, »von einer behandschuhten Hand gehalten, die Reitpeitsche« (ebd.), das Instrument, mit dem der Großvater und andere Arbeiter vom Gutsherrn wie Vieh geschlagen wurden und das Aehre nun noch wie gegen sich selbst gerichtet verfolgt: »Er hörte das Ächzen des Großvaters, sah

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das müde, zerquälte Antlitz, die Striemen von der Stirn bis zum Mund aufgeplatzt.« (Ebd.) Zu dieser Demütigung hinzu kam, dass Aehre als uneheliches Kind ohne Vater beim Großvater und seiner Mutter aufwuchs, wofür er wie zeitüblich von der Herrschaft, aber auch den ihr folgenden Arbeiterschichten gedemütigt wurde (vgl. S. 24). Der Großvater versuchte mit christlichem Denken die Situation erträglich zu machen und auch mit entsprechenden Argumenten gegenüber dem Gutsherrn Verringerungen des Elends zu erwirken, genau dafür traf ihn jedoch auch wieder die Peitsche – was der Großvater wie ratlos ertrug, was in Aehre jedoch bereits einen freilich noch kindlich unbeholfenen Willen zur Gegenwehr weckte (vgl. S. 26f.). Bis in die Romangegenwart jedoch »begleitete ihn das Bild der Reitpeitsche wie ein Gespenst« (S. 23) und dahinter »das Gesicht des Hauptmanns« (S. 27; mit seinem militärischen Rang war der Gutsherr anzureden). Im Träumen wie Wachen überträgt sich diese Ur-Misshandlungsszene für Aehre sodann auf neue Situationen konkreter oder auch nur unbestimmter Furcht: Im Anschluss an die paradigmatische Traumschilderung etwa wird Aehre im Erwachen klar, dass sich Gesicht und Hand gerade in Meister Matschat und seine »kräftige Faust mit dicken, klobigen Fingern« (S. 27) verwandelt hatten. Entsprechend schwer fällt es Aehre bisweilen, aus der alten negativen Klassenprägung und Vorurteilen über die Eigenschaften von Menschen in übergeordneten Positionen herauszukommen – teils ja mit Berechtigung, wie im Fall Matschats u.a. (vgl. etwa bezüglich des schlechten Parteisekretärs Bock, S. 180), teils jedoch stark zu Unrecht, wie im Fall des neuen leitenden Werksdirektors Carlin. Dies bemerkt Aehre denn auch in einer Aussprache mit seiner Frau über den Traum und mögliche Verbesserungen der Situation mit Matschat, wenn er von Carlin und anderen gut sozialistischen Vorgesetzten urteilt: »[S]ie haben wirklich keine Hauptmannsgesichter mehr«, »[k]eine Gutsbesitzergesichter mehr.« (S. 29) Dass Aehre der zwanghaften Identifikation von Vorgesetzten und feudalistischem Herrencharakter dennoch nur schwer entkommen kann, zeigt sich im weiteren Romanverlauf, wenn sie ihm immer wieder unterläuft bzw. er sich zu deren Abwehr sagen muss, dass sie eigentlich falsch ist, so Aehre gegenüber Carlin: »›Ich sehe immer noch diese ... diese Gutsbesitzergesichter.‹« (S. 149) Das mit den guten neuen Vorgesetzten gemeinsam angegangene (und nicht mehr nur einzelgängerische) heroische Handeln im Rahmen des Ofenbaus dient somit schließlich auch der Bearbeitung dieses Quasi-Traumas. Zu dieser im Romankontext bereits etwas ins Idiosynkratische abgesunkenen, aber ideologisch gesehen als berechtigt paradigmatisch behandelten Furcht tritt die Sorge, dass auch der nicht zuletzt von kommunistischen Kriegshelden überwundene ›Faschismus‹ (so ja die sozialistische Standardbenennung auch des

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Nationalsozialismus trotz nicht unbedeutender Unterschiede etwa zum italienischen Faschismus) noch Urstände feiern könnte, sei es durch das Weiterwirken Einzelner, sei es durch latente Strukturen im Westen. Unmittelbar in Aehres DDR und ihren als grundständig ›antifaschistisch‹ gesetzten Verhältnissen muss zwar keine große Furcht mehr aufkommen, allerdings finden sich Residuen in Form von Mentalitäten wie derjenigen der zu Eingang des ersten Kapitels beschriebenen Nachbarin, deren Gebaren gegenüber Katrin Aehre9 an eine NSBlockwartin bzw. den alltäglichen Kontrollterror der nationalsozialistischen Epoche gemahnen soll (vgl. S. 9f.). Die allgemeine negative Prägung der Menschen durch diese Zeit gesteht ein guter Kommunist wie der Instrukteur Schadow sogar für Parteigenossen ein, wenn es etwa um Bocks Umgang mit Aehre geht: »›[...] Wir kommandieren einfach! In manchem von uns ist eben ein kleiner Faschist hängengeblieben.‹« (S. 114) Darüber hinaus finden sich auch im Werk noch reale ehemalige Sympathisanten des NS, diese erscheinen jedoch nicht mehr als Gefahr, weil sie aus Einsicht auf dem Weg sogar hin zu einer sozialistischen Welthaltung sind, wie etwa der Chemiker Lauter, den das Vertrauen Carlins in seine Fähigkeiten und wohl auch seine Wandlung zum Guten überraschen, wo er doch wisse, dass Lauter NS-Parteigenosse aus Überzeugung gewesen sei (vgl. S. 119). Carlin hätte im Übrigen Gründe, immer noch ›Faschistenhasser‹ per se zu sein, war er als Kommunist doch sogar in NS-Haft (vgl. seine Erinnerungen auf S. 37); es ist jedoch wohl als Teil seines Heroismus anzusehen, dass er die alte Furcht durch Mut und Vertrauen in die grundsätzlich neuen Verhältnisse hinter sich lässt. Mögen die benannten Einzelphänomene im Osten also als vergleichsweise kleine Sorge erscheinen, ist für den Westen aus Sicht des Romans von ganz anderen angstmachenden Dimensionen auszugehen, und diese in den Blick zu nehmen ermöglicht ein vorübergehender Aufenthalt Andrytzkis im Ruhrgebiet. Dort herrschen nicht nur kapitalistische Strukturen vor, sondern auch eine Wiederkehr ›faschistischer‹ Kräfte lauert dort noch, wie er von seinem Bruder Karl und aus eigener Anschauung erfährt. Letztere ergibt sich, als er in einer Kneipe einen reaktionären Stadtverordneten trifft. Dieser nämlich schwelgt nicht nur in Kriegserinnerungen (vgl. S. 253), sondern erwartet auch, dass Schlüsselindustrie vor Ort wieder in den Besitz alter Nazis geht (vgl. ebd.), denn: »›Sie [die Westallierten] brauchen uns wieder!‹« (S. 254) Selbstbewusste Arbeiter wie Karl werde er zudem schon noch wieder zurechtweisen: »›Bin doch einer deiner Stadtväter [...]! Kennst mich nicht, was? Nun, wirst mich noch kennenlernen‹« (S. 253),

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Außerdem war Katrin Aehres erster Ehemann zu NS-Zeiten ein Grobian und Denunziant, vgl. Claudius 1951, S. 14.

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und provokativ tritt er einen kleinen Hund in der Kneipe, den er anspielungsreich »Bolschlein« nennt (aufgelöst in ein »Bolschewiklein« auf S. 257), und erläutert dies gegenüber dem ihm unbekannten Andreas Andrytzki mit den Worten: »›Unsere Bolschlein, diese kleinen Hunde, sagen Sie, wo sind sie nur wieder hergekommen? Wir hatten Sie doch schon fertiggemacht.‹« (S. 255) – Die Szene endet sozusagen wie in den Zeiten der Weimarer Republik mit einer Prügelei zwischen dem Stadtverordneten und seinen Kumpanen mit den Andrytzkis sowie der Flucht der Letzteren aus der Kneipe (vgl. S. 256). Wo sich Andreas Andrytzki noch über die Begegnung wundert, orakelt Karl bereits für diese wohl als westtypisch beschriebene Situation: »›Ein Stadtverordneter, ein ehemaliger Feldwebel, der sich im Frieden nicht wohl fühlt, und die andern [...], Bunkerpenner, Schwarzhändler, nein, ich weiß nicht, es muß noch was anderes gewesen sein. Vor dem mit dem SS-Gesicht, der allein am Tisch saß, vor dem hab ich Angst gehabt. Irgend etwas verbirgt sich dahinter, aber ich weiß noch nicht was.‹« (S. 257)

Dass Kommunisten im Westen auch generell (wieder) verfolgt werden, befürchtet Karl zu diesem Zeitpunkt sowieso auch schon vonseiten des Staates bzw. einer als Gestapo-mäßig gesehenen Polizei (vgl. S. 246). Dementsprechend kann Karl sich nur wundern, dass sein Bruder den Osten verlassen hat, indem die von Karl selbst ersehnten Verhältnisse herrschen. Bedroht erscheinen diese jedoch nicht nur durch Altnazis, sondern auch durch den ideologischen Hauptgegner, also kapitalistische Kräfte, die hier ebenfalls besonders gut in den Blick kommen. Denn nachdem zunächst davon die Rede war, dass die britische Besatzungsmacht im Ruhrgebiet Karls Werk als Reparationsleistung demontieren werde (eine freilich objektiv eher für die Sowjetmacht passende Sorge), ist spätestens nach dem Kneipenbesuch klar, dass dies nicht geschehen wird, weil so die Aufrüstung gegen den Osten schneller zu bewerkstelligen ist (vgl. S. 258). Übertragen würde mit einer Niederschlagung der sozialistischen Staaten auf diese eine alte Unterdrückung und ein neues Arbeiterelend, wie es Andrytzki schon vor seinem anschaulichen Besuch von der Mutter in Briefen beschrieben bekommen hatte (vgl. S. 17, also erzählstrategisch auch gleich zum Romanauftakt als eine Art Angsthorizont eingeführt) und das wie selbstverständlich, aber deutlich bei seinem Besuch angesprochen wird (vgl. allgemein S. 188-194 oder mit spezifischem Bezug auf angstmachenden Lebensmittelmangel S. 217f.). In diese größte Furcht mit Blick auf einen aggressiven Kapitalismus reihen sich kleinere, aber im Konkreten ebenfalls bedrohliche Aspekte, die das im Romanzentrum stehende Ostberliner Industriewerk DDR-paradigmatisch betreffen.

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An erster Stelle ist hier die Kollaboration Matschats mit dem Unternehmen Weitler zu nennen, die bezeichnenderweise von Hans Aehre als Erstes gewittert wird (vgl. S. 74, 80, 89f.). Dazu kommt der ebenfalls von Aehre zuerst bemerkte Pfusch am Bau des Werkskulturhauses (vgl. S. 89f.), den dieser schließlich gegenüber der Direktion als »Sabotage« (S. 130) anprangert, freilich von einem schlechten (faulen) Parteifunktionär wie Bock nicht ernst genug genommen, der »Sabotagefurcht« bei Aehre sogar für einen »Komplex« hält (S. 180).10 Solche letztlich antisozialistische Sabotage bzw. Intrige als Grundfurcht selbst für einen stabilisierten Arbeiter-und-Bauern-Staat sind es denn auch, die an der Person Matschats und seiner Helfer wie Kunzel mehrfach im Roman dingfest gemacht werden, nicht zuletzt, wenn es um Aehres großes Vorhaben geht (s.o. und vgl. S. 143f., S. 260f. oder bes. S. 357 bzw. das Geständnis S. 375/382). Neben dieses Untergraben des sozialistischen Wirtschaftsaufbaus durch interne Obstrukteure tritt als immer wieder drohende Maßnahme aus dem Westen etwa der Stopp von Rohstofflieferungen, im Roman zwischenzeitlich sogar als potenziell mindestens ebenso großes Problem wie das Ofenproblem benannt (vgl. S. 127, bezüglich einer ausbleibenden Kupferpulverlieferung). Das Ausbleiben von Rohstoffen und Waren als Sorge ist darüber hinaus zu ergänzen um das ›Ausbleiben‹ bzw. den fluchtmäßigen Abgang von arbeitender Bevölkerung, wie im Roman die vorübergehende Flucht Andrytzkis, die anstehende von Matschat und die am Rande erwähnte der Chefchemikerin des Werks, Marta Glühling, deren Stellung Lauter übernimmt (vgl. S. 334). Sorgen um den Erfolg des Sozialismus bereiten dem Protagonisten und ›guten‹ Werk- und Parteivertretern fernerhin alle diejenigen Menschen, selbst Genossen sind darunter, in Fabrik und Land, die Bemühungen wie das ›Aktivistentum‹ aus mangelnder Einsicht bzw. Verharren in kapitalistisch-›entfremdetem‹ Denken als ›Akkorddrücken‹ diffamieren (vgl. S. 16 oder S. 78) oder Witze über propagierte Vorbilder wie den namentlich erwähnten Adolf Hennecke reißen (vgl. die Szene in der Kneipe gegenüber von Aehres Wohnung, S. 16). Zumindest als stille Unterstützer erscheinen darüber hinaus alle diejenigen, die weder gegen antisozialistisch Eingestellte einschreiten noch – zunächst – in irgendeiner Weise für den Protagonisten aktiv werden, sondern nur ›privatistisch‹ leben wollen, wie ein großer Teil der Werksbelegschaft bis hin zu Suse Rieck im zweiten Kapitel (vgl. S. 102f.). Am Ende des Romans steht jedoch der Eindruck einer zumindest vor Ort, im Werk, deutlichen Verringerung der Furcht, denn durch Aehres Heldentum in

10 »Sabotage« als eines von vier Grundthemen der ›Aufbauliteratur‹ wurde zuletzt grundlegend behandelt von Aumüller 2015 (passim).

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seiner verstärkten kollektivistischen Form, sowohl von ihm aus, vonseiten der gefestigt sozialistisch denkenden Brigadekolleginnen und -kollegen als auch vonseiten neu zur Ideologie bekehrter ›Bürgerlicher‹ wie Lauter und von Wassermann, sowie durch die Kaltstellung Matschats scheint eine umfassend ›beruhigende‹ Geschichte erzählt worden zu sein. Dazu kommen die Weiterentwicklung Aehres in Bezug auf seine Frau und die ›Ankunft‹ Andrytzkis als sozialistischer Künstler, alles nicht zuletzt Versicherungen für die Romanwelt und wohl auch die implizite zeitgenössische Leserschaft, was da für »Menschen an unsrer Seite« stehen. Es bleiben freilich die allgemeine Bedrohung von außen, eventuelle weitere Obstrukteure auch andernorts sowie noch nicht erreichte indifferente Zeitgenossen – gewichtige Gründe vermutlich, warum der Roman mit einem »Epilog, der ein Vorspiel ist« (S. 383), endet und warum Aehre sozusagen immer noch gut daran tut, seiner Gattin ›neue Geschichten‹ zu versprechen.

L EERSTELLE H ELD : »B ERLIN – E CKE S CHÖNHAUSER « (1957) Claudius’ Roman stellt bei aller Varianz ein besonders starkes Beispiel für einen sozialistischen Arbeiterhelden dar, dessen Taten der Abwehr eines bestimmten Furchtspektrums dienen. Der DEFA-Spielfilm BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER11 erscheint bei einem durchaus ähnlichen Furchttyp beinahe, aber auch nur beinahe, wie eine Art Leerstellen-Version, was einen vollgültigen ›positiven Helden‹ zur Verbesserung der fiktionalen Welt des Films betrifft. Dazu fügt sich ein generelles Statement des Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase zur filmischen Tradition, der sich das Filmteam (wie andere DEFA-Gruppen um 1960) am ehesten verbunden fühlte: dem italienischen Neorealismus, dessen dokumentarische Gesellschaftsbilder durchaus linke Zeitkritik bedeuteten, allerdings in aller Regel ohne eine ›mutmachende‹ Heldenfigur in deren Zentrum.12 Dennoch ist weder von Regisseur Gerhard Klein noch von Kohlhaase anzunehmen, dass sie den Boden des DDR-Sozialismus verlassen wollten, als sie diesen Film und zuvor BERLINER ROMANZE (1956) drehten, die beide aufgrund ihres quasidokumentarischen Charakters anerkannt als so genannte ›Berlin-Filme‹ in die

11 Für Grundinformationen zum Film und seinen Mitwirkenden vgl. Der geteilte Himmel [2001]. Bd. 1, S. 194-196. Zitate und Verweise auf den Film im Folgenden mit einfachen Zeitangaben in Klammern im Haupttext. Als Referenzausgabe vgl. BERLIN ECKE SCHÖNHAUSER 2005. 12 Vgl. Spur der Filme 2006, S. 121.

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Geschichte der DEFA eingegangen sind.13 Neben dieser lobenden Bewertung und bereits von der Drehbuchabnahme an auch Kritik, wurden sie freilich, ausgehend von einer ideologisch durch Hardliner geprägten staatlichen Filmkonferenz von 1958, wegen des Mangels an Sozialistischem Realismus noch ostentativ infrage gestellt. In der Folge wurde von der SED-Führung an BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER nochmals explizit das »Ausweichen vor der positiven Darstellung von Arbeitern, die schon bewußte Sozialisten« waren, kritisiert.14 Aus mindestens zwei Gründen erscheint es dennoch gerechtfertigt, den Film gerade als eine Art mythologische ›Gegenprobe‹ zu Menschen an unsrer Seite zu behandeln, und zwar zum einen weil die nämlichen mytho-sozialistischen Furcht-Aspekte und deren Abwehr eine eminente Rolle spielen, dazu im Folgenden wieder zum Abschluss der Gesamtanalyse, und zum anderen weil die Leerstelle des Arbeiterhelden bzw. die nur ansatzweise vorhandene Ausprägung im Figurentableau im Film gewissermaßen als solche thematisiert wird. Letzteres markiert bereits der Arbeitstitel des Films »Wo wir nicht sind ...«, erster Satzteil aus einer abschließenden Figurenrede im Film und von dort her zu vollenden mit: »da sind unserer Feinde« (Min. 80). Das heißt: Wo Sozialisten nicht vehement tätig sind zum Schutz der DDR-Gemeinschaft, droht ein zerstörerisches Einwirken von deren Gegnern, und darum, so sei hier thesenhaft ergänzt, braucht es heldenhaftes Einstehen für den Sozialismus in Zukunft umso mehr – Kontext und vorangegangene Sätze dieser finalen Aussage im Film werden noch belegen, warum hier sogar ganz konkret ein Defizit des Heroischen angesprochen wird. Zunächst wieder kurz zusammengefasst: So wie Menschen an unsrer Seite eine Ostberliner Industriewerk-Welt von 1949 en miniature widerspiegelte, zeigt auch dieser Roman ein ganzes Ostberliner Sozialmilieu im Kleinen, und zwar das Prenzlauer-Berg-Quartier oder berlinerisch: den Kiez rund um die großen Verkehrskreuzung von Eberswalder Straße, Danziger Straße (zur Zeit des Films: Dimitroffstraße) Pappelallee und Kastanienallee ›Ecke Schönhauser‹ (sc. Allee).

13 Hinzuzählen ist an sich noch ein dritter Film, BERLIN UM DIE ECKE, dieser schaffte es 1966 infolge des ›Kahlschlagplenums‹ vom Dezember 1965 jedoch nicht mehr, an die DDR-Öffentlichkeit zu kommen, sondern wurde wie viele andere der Verbotsfilme von 1956/66 erst 1990 uraufgeführt. Für Grundinformationen auch zu diesem Film vgl. Der geteilte Himmel [2001]. Bd. 1, S. 323-325; eine ausführliche Analyse findet sich etwa in Wrage 2008, S. 183-211. 14 [Kommission für Fragen der Kultur beim Politbüro des ZK der SED]: Für die Entwicklung der sozialistischen Filmkunst in der DDR. In: Deutsche Filmkunst 1958, S. 258. Zit. nach Gersch 2006, S. 67.

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Dabei steht im Mittelpunkt eine Gruppe von ›Halbstarken‹15, die um diese Kreuzung herum an sich noch bei ihren Eltern bzw. Verwandten leben, aber nach einem eigenen Leben streben – auch wenn dabei sie alterstypisch mehr ein Wegvon als Hin-zu antreibt. Die Gruppe trifft sich unter den Aufgängen der zentralen Hochbahnhaltestelle (damals: »Dimitroffstraße«, heute »Eberswalder Straße«) und vertreibt sich die Zeit mit Gesprächen und gemeinsamen Musikvorlieben (vgl. die Gesangs- und Tanzszene Min. 6). Wegen einer pubertären Neigung zu kleineren Randalen steht die Gruppe allerdings schon ein wenig unter Beobachtung der lokalen Polizei, die besonders von einem älteren Kommissar mit Strenge, aber vor allem mit väterlichem Wohlwollen und viel Gelassenheit, anscheinend aus Lebenserfahrung, vertreten wird. Besonders auffällig und sozusagen erziehungsbedürftig ist für ihn das Verhalten zweier junger Männer, die bezeichnenderweise keiner geregelten Arbeit nachgehen: Karl-Heinz, gespielt von Harry Engel16, immer modisch gekleideter und mondän frisierter Sohn eines selbständigen Steuerberaters, für DDRBegriffe bereits ein ›schwieriger‹ Beruf, und »Kohle«, verkörpert von ErnstGeorg Schwill, der unbeholfen geltungs- und anschlussbedürftig, ohne Lebensziel bei der Mutter und einem überstrengen, zum Alkoholismus neigenden Stiefvater in einfachen Verhältnissen lebt. Zu diesen gesellt sich Dieter, dargestellt von Ekkehard Schall, ein an sich redlicher, solide auf dem Bau arbeitender Kerl, der sich jedoch bisweilen nicht zuletzt provokativ in der Gruppe ›daneben benimmt‹, weil er als Bruder eines Volkspolizisten, mit dem er zusammen wohnt, von zwei Seiten unter besonderer Beobachtung steht. Zunächst ›umgarnt‹ von allen dreien wird Angela, gespielt von Ilse Pagé, ein ehrliches einfaches Mädchen (beruflich als Näherin in einer Fabrik tätig), das etwas unglücklich bei der alleinstehenden Mutter lebt, deren heimlicher verheirateter Geliebter (und Chef) ihr zurecht unsympathisch ist. Sie selbst strebt recht bald eine feste Verbindung nur mit Dieter an. Für die vier (alleinig namentlich eingeführten) Gruppenmitglieder entscheidende Abläufe kommen in Gang, als Karl-Heinz versucht, Dieter zur Mitwirkung an kriminellen Geschäften (Diebstahl und Hehlerei mit Ostpässen) zu überreden, die schnelles Geld von seinen Kontaktmännern am Bahnhof Zoo versprechen. Als Dieter sich um einer ernsthaften Verbindung mit Angela willen dage-

15 So der in Ost und West beliebte kritische Ausdruck der Zeit für gewaltbereite Jugendliche; vgl. für eine umfassende Studie zu dem Phänomen in der Bundesrepublik etwa Grotum 1994. 16 Hier und bei allen folgenden Filmanalysen werden lediglich die Darsteller/innen der Hauptrollen namentlich erwähnt.

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gen entscheidet, der durchaus interessierte Kohle hingegen von Karl-Heinz zurückgewiesen wird, spaltet sich die Gruppe bereits latent. Karl-Heinz tötet sodann in Westberlin versehentlich einen Passhändler, den seine eigenen Verbindungsleute dort nach ›Betäubung‹ durch Karl-Heinz ausrauben wollten, und kehrt kopflos zurück. Auf dem Dachboden seines Elternhauses, heimlicher Treffpunkt, wird er von den misstrauisch gewordenen Freunden Dieter und Kohle gestellt, und weil er eine Waffe zückt, von Kohle vermeintlich mit einem Stein erschlagen. Dieter und Kohle fliehen deshalb nach Westberlin, wo allerdings Kohle durch eigenes Ungeschick im Auffanglager tatsächlich stirbt und Dieter zu der Einsicht gelangt, dass er lieber wieder in die DDR zurückgeht. Dort erfährt er schließlich von dem Kommissar, dass Karl-Heinz lebt, aber selbst eine langjährige Haftstrafe wegen des Totschlags zu erdulden hat. Dieter hingegen darf nach Hause gehen, um fortan besser zu leben, hat sich aber immerhin Angela zu erklären, die bereits von ihm schwanger ist und die er nun wohl als ›gereifter‹ junger DDR-Bürger heiraten wird. Hilfreiche Staats(partei)vertreter begegnen hier im Gegensatz zu Menschen an unsrer Seite ansonsten kaum, abgesehen von einem rührigen, aber nur mittelbar etwas einwirkenden FDJ-Vertreter. Wenn auch wie gesagt von einem vollgültigen ›positiven Held‹ im ganzen Film nicht zu sprechen ist, so gibt es doch – in Anlehnung an das in den »Vorüberlegungen« skizzierte generationsmäßige Heldenspektrum – ›gute‹, an sich durchaus aktive Sozialisten, das heißt: der ältere Kommissar und der noch jüngere FDJ-Funktionär, und sozusagen solche, die noch auf dem Weg dahin sind. Unter Letzteren findet sich vornehmlich Dieter, der auch vom Beginn des Films an als eine Hauptfigur, Sympathieträger und jugendlicher Held in einer Art Vorstadium begegnet – und damit zum genaueren Durchgang ›mit Leerstellen‹ im Heldennarrativ-Bereich: Denn unmittelbar nach dem DEFA-typischen langen Vorspann, zu dem die Kamera in einer Kreisbewegung über die verkehrsreiche Kreuzung ›Ecke Schönhauser‹ schwenkt und so das Milieu bereits einführt (vgl. Min. 0 bis 2), sehen wir ebenfalls in einer Totalen eine Straße mit großen Hinweisschildern zum Übergang vom US-amerikanischen in den russischen Sektor, und in dieser Straße kommt Dieter aus dem US-Sektor gelaufen (vgl. Min. 2). Nach einem Schnitt steht er sogleich in der Kiez-Polizeiwache, in der der ältere Kommissar tätig ist, und meldet ihm aufgeregt, dass und wie Kohle gestorben sei, fragt nach dem Verbleib von Karl-Heinz, beschwört, dass Angela mit »allem« nichts zu tun habe, und er fügt hinzu: »Sie ist auch damals nur meinetwegen mit hier gewesen, Sie erinnern sich doch« (Min. 3). Sodann blendet der Film zurück, um erst fast gegen Ende den Zeitpunkt der beschriebenen Szene wieder eingeholt zu haben (vgl. Min. 73).

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Es handelt sich also bei der Auftaktszene um eine Prolepse vom noch fast vollständigen, aber noch rätselhaften ›Ergebnis‹ her, die in spannungsvoller Kurzform handlungsbezogen die jugendlichen Protagonisten und die Position des Kommissars einführt. Dabei erscheint Dieter in seiner ehrlichen Besorgtheit, mit der entlastenden Geste gegenüber seiner Geliebten und mit dem Appell an die Erinnerung als sympathischer Charakter, der ›reinen Tisch‹ machen will und sich bewusst dem Urteil des Kommissars aussetzt. Dieser gibt Dieter in der Prolepse jedoch erst einmal nur in nüchterner Gelassenheit gewünschte Informationen, um sich dann sozusagen mit den Zuschauern zusammen von Dieter berichten zu lassen. Die gesamte Rückblende (vgl. Min. 3 bis 73) weist allerdings keine Erzählstimme auf, und Dieter erscheint auch nur als einer der Akteure im Rahmen einer weitgehend neutralen Erzählung, die lediglich durch unterschiedlich stimmungsvolle Musik unterlegt und dadurch interpretiert wird (das heißt: mit einer gewissen Drastik werden spannungsvolle Szenen verstärkt und Handlungen ›schlechter‹ Charaktere bzw. zumal im Westen erkennbar als negativ verdeutlicht). Das ›Damals‹, auf das Dieter den Kommissar zumal zur Entlastung Angelas hinweist, wird sodann zuerst mit der Einführung Angelas auf dem Weg zur ›Ecke Schönhauser‹ und dann der ganzen Gruppe in einer Szene dort aufgelöst (vgl. Min. 4 bis 15): Im Rahmen einer kleinen Mutprobe will Kohle sich gegenüber Karl-Heinz und den anderen beweisen, indem er für eine von Karl-Heinz ausgelobte Mark West eine Straßenlaterne einwirft (vgl. Min. 6 bis 7). Dies bekommen jedoch zahlreiche Passanten mit, und als Erster will sich Karl-Heinz aus der Affäre ziehen, wird jedoch von Dieter aufgehalten. Wenig später ist auch ein Streifenwagen mit Polizisten vor Ort (vgl. Min. 7:30), die die anscheinend bereits für solche Aktionen notorische Gruppe stellen und rasch herausbekommen, dass vor allem Kohle, aber wohl auch Karl-Heinz schuldig sind. Dieters Bruder gehört zu der Streife und verwarnt seinen Bruder, der sich vor der Gruppe jedoch aus Selbstbehauptungsgründen renitent gibt. Die gesamte Gruppe wird sodann von den Polizisten auf die nahe gelegene Wache geführt, und Angela geht zögerlich hinterher (vgl. Min. 9). Es folgt ein pädagogisch-strenges Gruppenverhör durch den Kommissar, der sich vor allem für die berufliche Situation der Einzelnen und die Kenntnis der jeweiligen Eltern vom Tun der Jugendlichen interessiert, offensichtlich, weil er so die soziale Verankerung ermitteln und das Denken an Familie und Gemeinschaft ansprechen will. Bei der zuerst kurz befragten Angela stellt er nur mürrisch fest, dass sie aus Solidarität (mit für ihn zweifelhaften Freunden) da sei; vor allem Karl-Heinz nimmt er sich als Nächstes vor und appelliert an dessen Gewissen; Kohle ermuntert er, sich trotz Schwierig-

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keiten wegen erfolglosen Schulabgangs eine Lehrstelle zu suchen, worum der Kommissar sich sodann selbst zu kümmern verspricht. Dieter schließlich kann sich, mangels Schuld und Berufsproblemen, gelassen geben, erscheint dann jedoch sogar störrisch bis frech, denn er habe bereits einen Bruder bei der Volkspolizei, »der mir schon genug erzählt, was mich nicht interessiert« (Min. 12). Als eigene Lebensinteressen gibt Dieter auf eine eher väterlich-besorgte Nachfrage des Kommissars »Motorräder« und »Fußball« an, »sonst nichts, und am besten, Sie lassen uns überhaupt in Ruhe« (Min. 12:30) – dazu schaut er erwartungsvoll in die Runde seiner Freunde, um deren Gelächter zufrieden zur Kenntnis zu nehmen. Der Kommissar entgegnet darauf nur verärgert, aber wohl auch im Sinne eines Gewissensappells: »Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, warum Du Dich dümmer stellst, als Du bist.« (Min. 13) Mit der Warnung, »Na, vielleicht ein andermal« (ebd.) gibt er Dieter und Angela wie schon den anderen die zuvor von der Streife einkassierten Ausweise zurück und entlässt sie (Letzteres im Off). Noch mehr als zuvor rückt Dieter mit dieser Szene als der Protagonist in den Mittelpunkt, der im Folgenden auf seinem Weg mit Sympathie und Sorge zu beobachten ist, hat er doch am ehesten die Anlagen zu einem sozialistischen Helden, der sich aber zumindest in der Gruppe und aus alterstypischer Opposition gegenüber Älteren, nicht zuletzt seinem vorbildlichen Polizisten-Bruder, selbst im Wege steht. In einer nächtlichen Straßenszene steht die Kerngruppe zunächst noch etwas beschämt zusammen, als man sich trennt, will Karl-Heinz Dieter allerdings noch zur Mitwirkung an der Ausweis-Hehlerei animieren sowie zum Verlassen der DDR, welch Letzteres Dieter zumindest sofort ablehnt, denn er habe hier seine Arbeit und seinen Bruder (vgl. Min. 15). Dass Dieter im Grunde ein guter, allerdings noch nicht gefestigter Sozialcharakter ist, bezeugt sogleich eine nächste Szene, in der er während seiner Arbeit als Mauerhandlanger auf einer innerstädtischen Großbaustelle beobachtet wird (vgl. Min. 17:30 bis 20). Zunächst fragt er noch einen älteren Kollegen über die Folgen eines Ausweisverlusts aus (offensichtlich spielt er also mit dem Gedanken, Karl-Heinz’ Angebot anzunehmen), dann jedoch kommt es zu einem zeittypischen Zwischenfall, bei dem Dieter zumindest kleinen Heldenmut und Gemeinschaftsgeist an den Tag legt: An einer Baggerschaufel baumelt eine versehentlich aufgegabelte Weltkriegsbombe in der Luft, vor der sich sofort alle in Sicherheit bringen. Als Dieter jedoch bemerkt, dass eine Industriebahn unmittelbar auf eine Kollision mit der Bombe zufährt, springt er nochmals aus der Deckung, um den Lokführer zum Zurückfahren zu bewegen – was gelingt und die Bombe ohne Personenschaden kurz darauf an einem Anhänger explodieren lässt. Als er in einer Szene kurz darauf jedoch von einer FDJler-Gruppe zur Mitwirkung bei ihnen eingeladen wird (vgl. Min. 22f.), weil er durch die Bombenrettung an-

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scheinend einmal wieder positiv aufgefallen ist, aber wohl auch Probleme habe, reagiert er spöttisch-abweisend, da er keine Zeit habe: »Tagsüber bin ich hier, und abends habe ich Privatleben.« (Min. 22) Immerhin erteilt er in einer Folgeszene auf einem abendlichen Tanzvergnügen Karl-Heinz eine Absage in Sachen Ausweishandel um der Beziehung mit Angela willen (vgl. Min. 26) – allerdings landet er noch am selben Abend wieder vor dem Kommissar, weil Karl-Heinz (anstelle von Dieter) einer Freundin von Angela den Pass gestohlen und abgegangen ist, während der da gebliebene Dieter auch von Angela zumindest für einen Mitwisser gehalten wird (vgl. Min. 32:30). Wieder redet der Kommissar ihm streng, aber wohlwollend ins Gewissen, Dieter ist erneut vor allem renitent, doch ein weiteres Mal schickt der Kommissar ihn väterlich-gütig nach Hause (vgl. Min. 34). Noch in der Nacht söhnen Dieter und Angela sich daraufhin aus und haben ein vermutlich erstes Mal Sex (vgl. Min. 35), von dem Angela sogleich schwanger wird (vgl. Min. 58). Als er am nächsten Tag wegen des Vorfalls mit Karl-Heinz zu einem vom Kommissar angeregten Gespräch zu dem Leiter der FDJ-Gruppe vom Vortag kommt (vgl. Min. 38), reagiert Dieter nur wieder schroff. Vor allem die Frage nach der Diskrepanz zwischen seinem vorbildlichen Arbeitsverhalten bzw. Charakter bei Tage und den nächtlichen Eskapaden lässt ihn in eine Art solipsistische Abwehrhaltung verfallen (vgl. Min. 39). Eine Art Erklärung liefert Dieter am Abend im Gespräch mit seinem Bruder, indem er beklagt, die Gesellschaft bzw. der Staat (ein Subjekt nennt Dieter explizit nicht) gehe gewissermaßen nach Belieben kritisch mit Jugendlichen wie ihm um (vgl. Min. 48). Der Bruder, der sich mitgemeint fühlt, hält dem entgegen: »Aber wir bauen immerhin den Sozialismus auf.« (Min. 48:30) – Genau von diesem ›Wir‹ sieht Dieter sich und seine Altersgenossen durch die beklagte omnipräsente Kritik freilich ausgeschlossen, obschon die Jugend doch zu einem Träger des Sozialismus erklärt worden sei (vgl. Min. 49). In einer Szene zwischen dem Bruder und dem FDJLeiter sehen beide denn auch Fehler beim Umgang mit Jugendlichen wie Dieter ein: Sich kümmern muss nach Ansicht des Bruders auch zuhören heißen (vgl. Min. 61). Diese innere Distanz trägt in der Folge wohl nicht unmaßgeblich dazu bei, dass Dieter zusammen mit Kohle nach Westberlin flieht, als sie glauben, dass Kohle Karl-Heinz im Streit um dessen krumme Geschäfte erschlagen habe (vgl. Min. 50 bis 55). Der Aufenthalt im Auffanglager, die anderen (DDRfeindlichen) Flüchtlinge und die rüden Verhöre durch staatliche Stellen machen Dieter jedoch innerlich um einiges klarer, dass er die DDR dort nicht – wie für eine Erklärung der Flucht opportun – schlecht machen will, angefangen mit dem eigenen Bruder, dessen politisches Bedrängen er anscheinend in einem Fragebo-

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gen als Fluchtgrund angegeben hatte (vgl. Min. 58). Dass er gegenüber den Mitbürgern in der DDR nun zurecht als »Schwein« (Min. 63) erscheinen könne, zeigt ihn noch mehr als Sozialisten ›auf Abwegen‹. Nach Kohles tragischem Tod durch eine Selbstvergiftung, die eigentlich nur fiebrig machen sollte, damit er nicht zur Bundeswehr muss, flieht Dieter in die DDR zurück (Flucht ist es erneut, weil er auch vom Westen her einen Passierschein benötigen würde, den man ihm erst einmal verweigert hat, als er ›Heimweh‹ äußerte, vgl. Min. 65). Er begibt sich tief bekümmert auf die Wache des väterlichen Kommissars (vgl. die Prolepse und nun Min. 75), mit dem er sich nun endlich friedlich besprechen mag. Auf Dieters Frage hin: »Was soll denn nun werden?« (Min. 77) schickt dieser ihn selbst betrübt (wieder) nach Hause, um dann jedoch zu sagen: »›Angela hat sehr auf Dich gewartet, und wenn Du zu ihr gehst, dann denk darüber nach, wie das alles passieren konnte. Denn ich [!] bin schuld, und Du bist schuld. Wo wir nicht sind, sind unsere Feinde. Fang’ neu an, mein Junge.‹« (Min. 78)

Dieter tritt daraufhin in die Sonne vor der Wache, lässt sie sich entspannt ins Gesicht scheinen und geht ruhig ab – man darf also annehmen, dass er nun auf den rechten Weg gelangt ist und ein Leben als guter DDR-Bürger führen wird. Dass nicht nur er eine ‚Schuld’ abzutragen hat, sondern auch der Kommissar, spricht noch einmal dafür, dass hier gewissermaßen ein verschiedentlich nötig gewesenes sozialistisches Heldentum ausgeblieben ist. In der fiktionsinternen Zukunftserwartung liegt ferner, dass sie beide bzw. das vom Kommissar verallgemeinernd angesetzte ›Wir‹ einer Gemeinschaft von Sozialisten mehr seinen Mann stehen müsse, um Gefahr für sie alle abzuwenden: »Wo wir nicht sind ...« – muss das Vordringen von ›Feinden‹ befürchtet werden, deren Tun in diesem Film nun noch eigens in seiner Mytho-Logik zu betrachten ist. Die Befürchtungen in BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER erstrecken sich wie in Menschen an unsrer Seite vor allem auf politisch-ökonomische Gefahren, die vom Westen im Allgemeinen bzw. von Westberlin im Besonderen ausgehen, dazu kommen Sorgen bereitende Lebenshaltungen in der DDR, von sehr ›bürgerlichkapitalistisch‹ ausgerichteten Älteren über dezidiert ›renitente‹ Jugendliche bis hin zu allzu sehr ›Privatisierenden‹ unter Jung und Alt. Nicht mehr sonderlich präsent ist durch den Fokus auf die junge Generation, deren Lebenserfahrung fast nur noch von der Nachkriegszeit geprägt worden ist, die ›feudalistische‹ und NS-Vergangenheit (wenn man einmal von dem Blindgänger auf Dieters Baustelle absieht, der natürlich auch eine Art gefahrvolle Vergangenheit repräsentiert, kontextuell aber nicht zu einem entsprechenden Dingsymbol erhoben wird).

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Um von den potentiell größten äußeren Bedrohungen zu den eher begrenzten inneren zu gehen: Lediglich in kleinen Momenten, aber durchaus plakativ wird eine latente militärische Aggression der Bundesrepublik bzw. der AdenauerRegierung postuliert. Dies zeigt sich an einer Szene im Bahnhof Zoo, wo ein Zeitungsausträger die auch noch lesbar abgefilmte Schlagzeile ausruft: »Atombomben für die Bundeswehr, 55 Milliarden für die Aufrüstung« (Min. 16). Mit dieser allgemeinen Ansage verbindet sich die Mahnung des FDJ-Leiters im ersten Gespräch mit Dieter, dieser wisse doch auch, »was drüben gespielt wird« (Min. 22:30). Dieter repliziert darauf jedoch nur schroff, er sei zumal wegen des Tods seiner Eltern im Zweiten Weltkrieg auch gegen den Krieg (wolle aber trotzdem nicht bei der FDJ mitarbeiten). Dass man im Westen stark in militärischen Kategorien denkt, wird fernerhin in Szenen deutlich, die Dieter im Auffanglager erlebt und die ihn gewissermaßen stillschweigend auch einsehen lassen, dass eine aktive Haltung für ihn als DDR-Bürger vonnöten ist: Im Rahmen der »Vorprüfung A«, einem ersten Verhör interessiert man sich vor allem dafür, dass Dieter, wie er anscheinend auf Kohles Rat angegeben hat, gezwungen werden sollte, »in die Nationale Volksarmee einzutreten« (Min. 56). Kohle vergiftet sich sodann darum, weil er befürchtet, von Westberlin in die Bundesrepublik gebracht zu werden, damit er in die Bundeswehr gesteckt werden kann (vgl. Min. 67:30). Dass die anderen im Auffanglager mit dieser Aussicht sehr wahrscheinlich kein Problem haben, hatte Dieter kurz zuvor erfahren: Ein aggressiv provokanter junger Mann fragte ihn auf dem Hof misstrauisch und mit einem Knüppel in der Hand, weshalb er denn überhaupt hergekommen sei – nur um dem offensichtlich zu wenig DDR-feindlich reagierenden Dieter anzukündigen: »[W]enn wir zurückkommen, dann knallt’s« (Min. 66), sprich: Wenn der Westen und die dorthin Abgegangenen die DDR militärisch erobert haben, werden Strafgerichte folgen. Deutlich plastischer als die große politisch-militärische Bedrohung wird im Film freilich diejenige gemacht, die vom ›Kapitalismus‹ und seiner ›dekadenten‹ Lebensart ausgeht. Exemplarisch wird hier die Problematik der Hehlerei mit DDR-Ausweisen in Westberlin vorgeführt, deren Zweck der VoPo-Kommissar ›seinen‹ Jugendlichen in Erinnerung ruft, denn mithilfe solcher Ausweise werde etwa der Schmuggel von Fotoapparaten oder sogar Spionage betrieben, auch wenn Dieter und die anderen sich das vielleicht nicht vorstellen könnten (vgl. Min. 31). Welche moralische Verderbnis noch mit Karl-Heinz’ Kontaktleuten in Westberlin verbunden ist, zeigt sich kurz darauf, als Karl-Heinz brutal dabei helfen soll, vermutlich einen anderen Hehler auszurauben – den er dann ja versehentlich tötet statt ihn nur bewusstlos zu schlagen (vgl. Min. 42 bis 45). Mit Karl-Heinz’ Westaktivität und seinem Diebstahl von Ausweisen selbst im Be-

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kanntenkreis (vgl. Min. 30) ist zudem die weiter nach innen in die DDRGesellschaft wirkende Gefahr extensiv angesprochen: Von solchem ›schnellen Geld‹ des Westens verlockt, landen DDR-Bürger selbst auf Abwegen. Dabei ist freilich der engere soziale Hintergrund von Bedeutung: Während Dieter widerstehen kann (freilich gestützt v.a. von der Verbindung zu Angela), hat KarlHeinz Eltern, die ebenfalls ihr Geld mit dem Westen machen wollen, haben sie doch ein heimlich betriebenes Konto dort und transferieren anscheinend regelmäßig Beträge dorthin (vgl. Min. 20). Wie schließlich die kapitalistische Lebenskultur selbst arglose junge DDR-Bürger subkutan verdirbt, soll vermutlich der mehrfache Hinweis darauf zeigen, dass der etwas dümmliche Kohle geradezu süchtig nach West-Kinofilmen ist und entsprechend vor allem in ActionKategorien denkt (vgl. etwa beim ersten Verhör durch den davon bestürzten Kommissar, Min. 11). Gegen alle diese Furcht-erregenden Momente bedürfte es aus der Rückschau des Kommissars also eines stärkeren, sprich: heroisch aktiven ›Wir‹, das aus seiner älteren und auch der jüngeren Generation eines Dieter kommen müsste. Für die Aktivierung der Jugend als mögliche sozialistische Helden allerdings, so auch eine implizite Aussage des Films, hat die ältere Generation vom Kommissar bis zum jüngeren FDJ-Funktionär dieser Jugend mehr ›zuzuhören‹, wie Dieters Bruder sagte. Denn die nur zum Teil pubertäre, ansonsten aus Frustration angenommene Renitenz bzw. das ›Privatisieren‹, auf das namentlich Dieter sich verlegt hat, erscheint als nachvollziehbare Folge einer fehlenden Auseinandersetzung mit den Nöten und Wünschen der ersten weitgehend in der DDR sozialisierten Generation. Zu der basalen mytho-sozialistischen Furcht gesellt sich in diesem wie in zahlreichen folgenden Filmen und Romanen daher die Sorge um die weitergehende Integration der DDR-Gesellschaft – dafür werden oft nicht mehr ostentative Aufbauheldenleistungen im Fokus stehen, aber ein heroisches Ringen um die ›Ankunft‹ (und den wortwörtlichen wie innerlichen Verbleib) möglichst aller im ausgerufenen Realsozialismus.

Die begrenzte Furcht in den 1960er Jahren

Welche Formen von Furcht hatte ein sozialistischer Roman- oder Filmheld in den 1960er Jahren noch abzuwehren bzw. zu bewältigen, als die so genannte ›Aufbauphase‹ weitgehend überwunden erschien? Zum einen ist hier mit Blick auf die Errichtung des ›Antifaschistischen Schutzwalls‹ eine Phase zu identifizieren, in der sozusagen ex post noch die ›Gefahrenlage‹ zu Beginn des Jahrzehnts thematisiert wurde, die der Bau der Mauer angeblich zu bewältigen half und die ideologisch als überwunden im kollektiven bzw. noch längerfristig zu prägenden Kulturgedächtnis zu verankern war. Zum anderen, mit Blick auf die so genannte ›Ankunftphase‹ in Film und Literatur sind die zunehmend ›inneren‹ Kämpfe zu nennen, denen sich besonders junge Heldinnen und Helden noch ausgesetzt sahen, wenn es um die sozialistische Integration der DDRGesellschaft und die Auseinandersetzung mit den älteren (heroischen) Generationen ging. Für wie wichtig man, zum Ersten, die Einprägung heroischer Leistungen im unmittelbaren Umfeld des Mauerbaus angesehen hat, kann vor allem die nachfolgend erste Einzelanalyse belegen. Sie bezieht sich auf den als lebensgefährlich und kriegsverhindernd dargestellten Einsatz eines Auslandsagenten des Ostberliner Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in dem DEFA-Spionagethriller FOR EYES ONLY (STRENG GEHEIM) von 1963, der unmittelbar vor dem Bau des ›Schutzwalls‹ spielt und der unter anderem diesen Bau ex post noch mehr als solchen legitimieren sollte. Der Film verfolgt dabei die Glorifizierung eines ›Kämpfers für den Sozialismus‹, dessen Leistung das bisher fokussierte DDRArbeiterheldentum gewissermaßen ›nach hinten‹ transzendiert und auf eine Form von Kriegsheldentum zurückführt, mit dem sich die Agenten des MfS im SED-Sprachgebrauch und gemäß einem der Abzeichen des Ministeriums bekanntlich auch emblematisch identifizierten, waren sie doch »Schild und Schwert der Partei«.

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Zum Zweiten: Als neue Heldenaufgabe galt in den 1960er Jahren also viel weniger martialisch eine fortschreitende Integration der wachsenden Zahl von Alterskohorten (oder trotz der Kürze der Zeit vorsichtig gesprochen: von Generationen), die nun schon in der DDR lebten und von denen verschiedene Formen der ›Ankunft‹ im Realsozialismus erwartet wurden. Entsprechend dieser zeitgenössisch ideologisch sogar rasch und mit Nachdruck wahrgenommenen Problematik waren Kunst und Literatur aufgefordert, neue Helden zu zeigen, die für sich und andere diese Ankunft beförderten. Dafür war eine subtilere Form von Heroismus vonnöten, aber außergewöhnliche Anstrengungen blieben weiterhin gefragt. Die bekanntesten und daher an dieser Stelle nicht eigens zu thematisierenden Beispiele für jugendliche Helden dieser Art finden sich in Brigitte Reimanns Roman Ankunft im Alltag, der bereits 1961 der neu propagierten ›Ankunftliteratur‹ ihren Namen gab und in dem drei Abiturienten unterschiedlicher sozialer Herkunft unterstützt von einem väterlichen Althelden (Meister Hamann) leidvoll ihren Weg finden, oder in Christa Wolfs »Der geteilte Himmel« von 1963, dessen Heldin eine vor allem emotional aufwühlende Ankunft gegen den Widerstand ihres Geliebten, aber mit Unterstützung gleich zweier Althelden (Lehrerwerber Schwarzenbach und Industriemechaniker Meternagel) durchlebt. Die Abwehr bzw. Spannungsverringerung bezüglich der Ost-West-Teilung, also die oben genannte erste Perspektive, findet sich hier eher in indirekter Beschreibung, wirkt aber ohne Zweifel auch stark auf die Protagonistin ein (vgl. im Prolog: die unruhig-›heiße‹ Situation der Stadt im Jahr 1961, späterhin der bezeichnenderweise gewissermaßen übergangene Mauerbau selbst und schließlich die entspannte, aber auch ›abgekühlte‹ Situation im Spätherbst des Jahres). Ebenfalls eher als ein weiterer thematischer Aspekt erscheinen der Mauerbau und seine ›Entspannungswirkung‹ in Herbert Nachbars Roman Haus unterm Regen von 1965, dessen Gegenwartshandlung ebenfalls im Wesentlichen im Sommer 1961 spielt. In diesem heute wenig bekannten Roman herrscht allerdings in erster Linie ein für die Ankunftphase typischer Konflikt über mehrere Generationen hinweg. Konfliktkern ist dabei, dass ein heldischer junger NVA-Pilot nicht mehr weiter fliegen soll, wenn er eine eheliche Beziehung mit einer (an sich ebenfalls ›gut sozialistischen‹) jungen Frau eingeht, deren Vater schon vor geraumer Zeit nach dem Westen gegangen ist. Letzterer hat dazu noch eine üble Vergangenheit als NS-Luftwaffen-›Held‹, von deren ganzen Gräueln nur sein von diesem Wissen sehr belasteter Vater weiß, bei dem wiederum die junge Frau, also dessen Enkelin, geblieben ist. NS-Faschismus- und WestKapitalismus-Furcht stehen hier im Mittelpunkt, werden aber durch eine neue Position der Junghelden gekontert. Diese nämlich wünschen sich von ihrem

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Staat mehr Vertrauen aufgrund der eingeforderten Berücksichtigung ihrer persönlichen Einstellung zum Sozialismus – und daher die Erlaubnis zur Ehe. In dem als Drittes und Letztes genauer zu betrachtenden Beispiel, dem DEFA-Spielfilm DER FRÜHLING BRAUCHT ZEIT, abgeschlossen ebenfalls 1965 und nach kurzer Laufzeit in den Kinos bis 1990 ins Archiv verbannt, findet sich zum einen noch ein gewisser Reflex auf die Furcht und ihre Abwehr aus Aufbauund früher Ankunftphase (bis zur Zeit des Mauerbaus), d.h. es steht zunächst noch ein Sabotage-Vorwurf gegen einen (leicht zu verdächtigenden parteilosen) Helden, einen allerdings rundweg redlichen und erfahrenen Ingenieur, im Raum. Zum anderen und im Endeffekt wird jedoch gezeigt, wie dieser Ingenieur lediglich zum Opfer seines aus falschem Ehrgeiz die Strippen ziehenden Betriebsdirektors geworden ist. Bei Letzterem handelt es sich also um einen der ›Planer und Leiter‹, die in dieser Zeit gemäß der ›fortgeschrittenen‹ Aufbau- und Ankunft-Ideologie eigentlich als neue positive Helden zu zeigen waren.1 Der rücksichtslose Wunsch, Plannormen zu erfüllen und dabei selbst Karriere zu machen, tritt hier an die Stelle und spiegelt damit eine Form der ›Entfremdung‹ von der Arbeit, wie sie aus marxistischer Sicht eigentlich nur im Kapitalismus begegnen kann, in einen ›realsozialistischen‹ Alltag. Nicht zuletzt aufgrund dieses thematischen Schwerpunkts geriet der Film in die Reihe der Filme, die 1965 verboten wurden. Anklänge an den italienischen Neorealismus in der filmischen Ästhetik dürften die Skepsis der ideologischen Hardliner, die Lukács’ Realismuspostulat folgten, befördert haben. Nach der Mitte des Jahrzehnts findet sich die Mytho-Logik der Furcht schließlich praktisch gar nicht mehr umgesetzt. Über Gründe dafür lässt sich eher nur spekulieren: Das Aufbau-Heldentum erschien wie gesagt ideologisch schon länger obsolet, die Ankunft-Variante war eventuell rasch ausvariiert (dazu am Ende dieses Abschnittes auf der Basis der folgenden drei Analysen genauer). Als allgemeiner kulturpolitischer Faktor beeinflusste oder besser verunmöglichte die laufende Entwicklung der sozialistischen Mytho-Logiken nachhaltig wiederum das 1965er ›Kahlschlagplenum‹, dem sich daher auch u.a. die Schlussreflexion des gesamten Abschnitts widmen wird.

1

Vgl. Zimmermann 1984.

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M IT ›S CHILD UND S CHWERT ‹: »F OR ( STRENG GEHEIM )« (1963)

EYES ONLY

Der wohl erfolgreichste Agentenfilm der DEFA kam im Juli 1963 in die DDRKinos und damit nur ein Dreivierteljahr nach der Weltpremiere und ein gutes halbes Jahr nach der westdeutschen Premiere der ersten Verfilmung von Ian Flemings James-Bond-Reihe, »James Bond jagt Dr. No«.2 Der Haupttitel »For eyes only« entspricht einerseits einem englischsprachigen Aktenvermerk gemäß dem Nebentitel »streng geheim«, erscheint andererseits aber auch etwas wie eine Variante des Titels von Flemings Kurzgeschichten-Sammelband »For your eyes only« von 1960 (dt. »007 James Bond greift ein« von 1965).3 Ob der erste Ideengeber des DEFA-Films, Hans Lucke, oder die Drehbuchautoren, Harry Thürk und János Veiczi (Letzterer zugleich der Regisseur)4, allerdings überhaupt auf den Bond-Film bzw. die zugrunde liegende erfolgreiche Buchreihe reflektierten, erscheint hier gar nicht so wichtig, zumal inhaltliche Bezüge zumal zur ersten Bond-Verfilmung kaum evident sind. In Kenntnis von »James Bond jagt Dr. No« kann man, so viel an dieser Stelle vorab, allenfalls unterstellen, der MfSAgent, gespielt von Alfred Müller, sei vom bieder-moralischen Habitus her geradezu als eine Art Anti-Bond konzipiert. Das im DEFA-Film gezeichnete MIDUmfeld könnte hingegen als eine ins Negative gewendete Version westlicher Geheimdienste, wie sie auch in den Bond-Narrationen begegnen, gemeint sein. Aufschlussreicher erscheint vielmehr, dass bereits das Drehbuch des DEFAFilms in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit entstanden ist. Entsprechende (wie auch immer authentische) Insider-Informationen von Spionagevorgängen im Allgemeinen und westlichen Eroberungsbestrebungen sowie Erlebnisse eines realen Agenten im Besonderen sind daher in Drehbuch und Film eingeflossen.5 Der spannend angelegte Film und seine geschlossene Narration, die mehr oder weniger empirische Realität zu einer ›runden Sa-

2

Vgl. JAMES BOND JAGT DR. NO [1960].

3

Vgl. Fleming 1960 bzw. Fleming 1965.

4

Für Grundinformationen zum Film und seinen Mitwirkenden vgl. Der geteilte Himmel [2001]. Bd. 1, S. 389f. Zitate und Verweise auf den Film im Folgenden mit einfachen Zeitangaben in Klammern im Haupttext. Als Referenzausgabe vgl. FOR EYES ONLY – STRENG GEHEIM

5

[2013].

Vgl. zum teils fragwürdigen, aber immer propagandistisch gut passenden Wahrheitsgehalt der MfS-Informationen etwa Liebich 2014 sowie noch minutiöser Stöver 2006, S. 62-75 (= Kap. »Abschluss einer öffentlichen ›Beweisführung‹: Der Film ›For Eyes Only‹«).

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che‹ zusammenführt, konnten somit als nachdrückliche Mythisierung den bereits skizzierten Legitimationszwecken umso besser dienen. Vermutlich um den Propaganda-Erfolg noch besser sicherzustellen, wurde das Drehbuch nachträglich sogar zu einer Erzählung umgearbeitet, die zunächst als MfS-interne Schulungsunterlage aufgelegt und dann DDR-weit als Jugendbuch herausgebracht wurde.6 Das Vorwort der MfS-Ausgabe würdigt den Film übrigens ganz nachdrücklich als herausragende Leistung, für die »[v]om Minister für Staatssicherheit [...] verschiedene Mitglieder des Filmkollektivs mit der ›Verdienstmedaille der NVA‹ in Silber und Bronze ausgezeichnet [wurden].«7 Eine millionenfache Besucherzahl in der kleinen DDR kann bereits etwa ein Jahr nach der Premiere ergänzend erwähnt werden sowie auch die Weiterverbreitung des Films in sozialistischen ›Bruderländern‹.8 Übrigens wirbt noch die aktuelle DVD-Ausgabe von Progress/Icestorm (in Zusammenarbeit mit der DEFA-Stiftung) auf dem Umschlag mit folgendem, typographisch besonders herausgehobenem Hinweis für den Film als eine spannende Form der faction: »Über die Abenteuer eines direkten Mitarbeiters von Spionagechef Markus Wolf – nach authentischen Ereignissen.«9 Eine originale Texteinblendung zu Beginn der ersten Filmszene ist demgegenüber scheinbar etwas zurückhaltender, wenn auch nicht minder anspielungsreich bzw. auf die mahnende Suggestion von (sc. politischer) ›Wahrheit‹ gerichtet: »die handlung des films ist frei erfunden – ähnlichkeiten mit tatsächlichen begebenheiten und lebenden personen sind beabsichtigt.« (Min. 1) Die viel beschworenen Eroberungsbestrebungen gehen dabei etwa auf einen 1955 bekannt gewordenen Operationsplan der Bundeswehr zurück, der von der DDR-Seite schon seit Mitte dieses Jahrzehnts propagandistisch ausgeschlachtet worden war.10 Eine weitere ›Begebenheit‹, durch die für den Film zentrale ›lebende Person‹, war das Ausschmuggeln einer umfangreichen Liste westlicher Agenten in der DDR, die der Doppelagent Horst Hesse und andere 1956 aus der Würzburger Scheinfirma in die DDR brachte. Dieser Coup führte zu zahlreichen Enttarnungen, gemäß MfSPropaganda wurden jedoch hierbei vorgeblich ebenfalls weitere Invasionspläne

6

Vgl. Wipp [1964], Vermerk am Ende des Vorworts, S. 9: »Dieser interne Druck ist nur für Mitarbeiter bestimmt und darf nicht öffentlich verbreitet werden.« Gleichwohl brachte der Ostberliner Verlag Kultur und Fortschritt den Text des Autors Wipp noch im selben Jahr in zwei Teilen in der »Kleinen Jugendreihe« als H. 3/64 u. 4/64 heraus.

7

Ebd., S. 8.

8

Vgl. ebd.

9

FOR EYES ONLY – STRENG GEHEIM [2013].

10 Vgl. Liebich 2014, S. 89f. sowie Stöver 2006, S. 64-67.

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offenbar. Reale und erfundene Erkenntnisse wurden unter dem Aktionsnamen »Schlag« alsbald propagandistisch aufwändig in das kollektive Gedächtnis der DDR-Bevölkerung geprägt. Hesses MfS-Vorgesetzte scheinen übrigens diesem selbst geraume Zeit suggeriert zu haben, er habe nicht nur die Listen mitgebracht, sondern auch Aggressionspläne.11 Was der Held des Films, MfS-Agent Lorenz, unter Bezugnahme auf mehr oder weniger authentische Geschehnisse leistet: Bereits seit etwa drei Jahren ist er unter dem Namen Hansen als Maulwurf beim US-Heeres-Nachrichtendienst »Military Intelligence Division« (MID) tätig und arbeitet in Würzburg in einer Tarnfirma für Außenhandel (»Concordia-Import-Export-AG«), die MID-Spione in die DDR einschleust. Hansen freilich meldet diese gleich wieder dezent dem MfS, und in der jüngsten Vergangenheit sind viele von ihnen daher auch bereits verhaftet worden. Das macht die ganze Tarnfirma unter Hansens Vorgesetzten Major Ted Collins in den Augen der MID-Zentrale in Frankfurt/Main bereits verdächtig, und so laufen über weite Strecken des Films auch für Hansen immer brisantere Überprüfungen, ob das ›Leck‹ nicht just in Würzburg sein könnte. Als man Hansen späterhin gefährlich nahe zu kommen scheint, kann er zur Ablenkung noch seinen Würzburger Kollegen Schuck ans Messer liefern. Der ist seinerseits als Doppelagent tätig, wenn auch für den Bundesnachrichtendienst, das heißt im Film noch »[die Organisation] Gehlen«. Die eigentlich brisante Handlungslinie ist jedoch das Unternehmen »E-Day« (eine wohl nicht zufällig an den »D-Day« von 1944 erinnernde Bezeichnung), das die Westalliierten für den Frühherbst 1961 vorbereiten. Es sei bereits intensiv Unruhe durch im Osten wahrgenommene Westmedien verbreitet worden, Diversifikationsmaßnahmen unter der DDR-Bevölkerung seien getroffen und in Kürze werde das Ostberliner Telegrafenamt der DDR-Regierung besetzt sowie ein allgemeiner Verwirrungszustand in Bürgerkriegsnähe erzeugt. Sodann sollen bereits in einem Manöver befindliche NATO-Truppen zu Lande und in der Luft in die DDR einfallen und der sozialistischen Herrschaft den Garaus machen. Die Pläne insbesondere für die Gipfelaktionen werden kurz vor Beginn noch von der Frankfurter Zentrale an Collins übergeben, der von Würzburg aus den ersten Besetzer des Telegrafenamts einschleusen soll. Da das MfS jedoch gut auf dem

11 Vgl. Liebich 2014, S. 86-88. Über den im Weiteren nahezu skurril anmutenden Umgang von MfS und DDR-Führung mit dem dann bereits mit 44 Jahren wegen einer alten Kriegsverletzung pensionierten Hesse vgl. im Detail ebd., S. 93f. Hintergrund war wohl nicht zuletzt dessen begrenzte Vorbildlichkeit, vgl. Stöver 2006, S. 67f.; vgl. ferner als ausführlichere Auseinandersetzungen mit Hesse den Dokumentarfilm FOR EYES ONLY 2008 sowie die etwas ›ostalgische‹ Biographie Böhm 2016.

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Laufenden ist, kann Hansen darauf angesetzt werden, die Pläne in die DDR zu entführen, damit die Öffentlichkeit gerade noch rechtzeitig von ihnen informiert und jegliche Kriegshandlung verhindert werden kann. Dies gelingt, die Weltpresse berichtet zu Anfang August empört – und aus der Rückschau des DDRPublikums von 1963 scheint nicht zuletzt der Mauerbau als umfassende Maßnahme zur Abwehr weiterer Spionage- oder sogar Kriegstätigkeit auf dem Territorium der DDR. Als sozialistischer Held bzw. als einwandfreie Grundvariante des Heldennarrativs präsentiert sich Lorenz/Hansen – wie allerdings tendenziell auch sämtliche Figuren auf der DDR-Seite – auf verschiedensten Ebenen, und zudem schärfen die westlichen Gegenspieler sein positives Profil zusätzlich durch ihre antiheldischen bzw. unmoralischen Verhaltensweisen, was ein genauerer Handlungsdurchgang zeigen kann: In der als spannungsvoll gesetzten nächtlichen Auftaktszene schleust Hansen zusammen mit Schuck an einer stillen waldigen Stelle (sc. nördlich von Würzburg) einen neuen MID-Agenten durch einen Tunnel unter der bereits stark befestigten Zonengrenze. Sie beobachten in der Zeit auch zwei wachhabende NVA-Grenzsoldaten, die ihren Dienst natürlich gut machen, dabei aber sozusagen als ›nette Kerle von nebenan‹ gezeigt werden, denn sie unterhalten sich beim Patrouillengang locker über ein anscheinend kürzlich gesehenes Fußballspiel (vgl. Min. 3). Als Hansen und Schuck in die Würzburger Firma zurückgekehrt sind, erleben sie einen aufgeregten Major Collins, der von der neuesten Zahl in der DDR aufgeflogener MID-Agenten berichtet und der (unter anderem) deshalb für den nächsten Tag nach Frankfurt beordert worden ist. Für die Fahrt dahin benötigt er seinen Dienstwagen, den er sich von einem auf herablassende Weise als Domestiken behandelten tschechischen Mitarbeiter (František) für die Fahrt am Morgen noch rasch hat auftanken lassen. Der anscheinend auch vorbildlich nette Mensch Hansen hingegen ist zu dem jungen Tschechen sehr freundlich und gibt ihm die Erlaubnis, den Wagen auch selbst zu nutzen, um einem Mädchen zu imponieren, das an der soeben aufgesuchten Tankstelle arbeitet und das er zu einem Rendezvous fahren möchte (vgl. Min. 6). Die erste Szene des nächsten Tags zeigt ein Lagegespräch in einem nüchternen Büroturm der Frankfurter MID-Zentrale (im US-Headquarters, dem I.G.Farben-Haus), das finster-bürokratisch bis schurkisch-aggressiv dreinblickende Berichterstatter zeigt, die den »E-Day« vorbereiten.12 Psychologische Vorbereitungen (Medienkampagnen) zur Unruhestiftung und Diversifikationsmaßnahmen

12 Liebich sieht als möglichen Eindruck für die zeitgenössischen Kinobesucher hier sogar, dass: »der amerikanische Geheimdienst als eine Bande skrupelloser Cowboys« erscheint. (Vgl. Liebich 2014, S. 90)

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zur Zerrüttung der DDR sind bereits sehr erfolgreich angelaufen, ein bürgerkriegsartiger Zustand ist zu erwarten, und die Besetzung von Telegrafenämtern und Funkstationen soll den militärischen Überfall durch die NATO ermöglichen (vgl. Min 7f.). Die Gegenseite wird für ahnungslos gehalten, die Brisanz ist aber klar, und Sorge bereiten die aufgeflogenen Agenten, deren Verräter Collins endlich finden soll und der deshalb auch selbst verdächtigt und beschattet wird – die Bösen trauen sich also typischerweise selbst nicht über den Weg (vgl. Min. 10). Im szenischen Wechsel wird eine zeitgleiche Besprechung von klugen und gelassenen MfS-Mitarbeitern in einem freundlichen Besprechungsraum der Ostberliner Zentrale gezeigt13, die über die Absichten anscheinend gut unterrichtet sind. Sie benötigen nur noch die detaillierten Pläne, um sie der Weltöffentlichkeit bekannt zu machen, und Hansen, dem man das anscheinend wie selbstverständlich zutraut, soll sie nach einem nächsten Treffen in Berlin beibringen (vgl. Min. 9). Eine nächste Szene zeigt Hansen denn auch schon an Collins’ Safe, dessen innere Tür er jedoch ohne den nötigen Schlüssel noch nicht zu öffnen vermag (vgl. Min. 12). Nach Berlin gelangt Hansen dann alsbald, weil Collins ihn dorthin mitnimmt, um mit MID-Vertretern die Übernahme des DDR-Regierungstelegrafenamts vorzubereiten, von wo aus am E-Day verwirrende Nachrichten gesendet werden sollen (vgl. Min. 19f.). Sie kommen in einer konspirativen Westberliner Wohnung an, wo auch bereits ein luxuriöses Schlafzimmer auf Collins wartet, das er am Abend zu nutzen plant. Bis zum Nachmittag soll der auf diese Weise ›missbrauchte‹ Hansen jedoch für Collins auch noch etwas einkaufen. Um ihn auf eventuelle Doppelagententätigkeit zu testen, wird er dabei von zwei MID-Agenten beschattet. Das weiß aber anscheinend auch der umsichtige Hansen, und zu seiner Unterstützung ist parallel sogar eine MfSBeschatterin auf die MID-Beschatter angesetzt (vgl. Min. 22f.). Während Hansens Abwesenheit kommt ein anderer MID-Agent, der in der DDR arbeitet, zu Collins und bringt Mikrofilme, die Pläne des Telegrafenamts enthalten. Als er dafür ein Honorar in bar erhält, ist zu sehen, wie Collins in ein Protokollheft die doppelte Summe des Ausgezahlten einträgt, sprich: Er hinterzieht bei seiner eigenen Organisation nebenher auch noch Gelder (vgl. Min. 24). Hansens konkreter Einkauf für Collins zeugt ebenfalls von dessen verdorbenem Charakter, denn über private Hehler hat er sich eine in Breslau gestohlene mittelalterliche Holz-

13 Nach Liebich (vgl. ebd. S. 91) wird hier im Kontrast zu der Gegenseite sogar eine wohnzimmerartige Atmosphäre aufgebaut, die die Mitarbeiter des MfS bereits latent als eine familienartige Gemeinschaft in Szene setzt, eine ›Familie‹, die im Weiteren denn auch entsprechend miteinander und insbesondere mit dem Helden verkehrt.

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statue aus einem Altar besorgen lassen, dessen sonstige Teile er wiederum bereits komplett weiterverkauft hat (vgl. Min. 25). Am Abend sind Collins und Hansen dann auf eine von Hansen erwartete Empfehlung in einer ›dekadenten‹ Westberliner Bar mit einer neckischen Reitbahn. Hansen, nochmals für rein private Zwecke ›genutzt‹, hat dort eine Collins interessierende Frau, offensichtlich eine Art Hostess (aus Garmisch), sozusagen anzubaggern, damit Collins sie nur noch übernehmen muss – zu deren Bedauern, weil der zurückhaltend-höfliche Hansen ihr anscheinend besser gefiele (vgl. Min. 26f.). Collins zieht sich mit ihr zurück, der ›Mohr‹ Hansen darf gehen und fährt – beschattet – in ein Hotel, wo er eher bescheiden untergebracht ist. Dort schleicht er sich jedoch sogleich durch den Keller auf der Rückseite, den Lieferanteneingang, wieder hinaus, was seine weiter aktiven MIDBeschatter verpassen, weil sie den Hinterausgang zu spät observieren. Die MfSKollegin vom Vormittag kommt zu deren Bewachung auch wieder hinzu, und Hansen kann getrost mit der U-Bahn zum Alexanderplatz fahren und seinen MfS-Vorgesetzten treffen (vgl. Min. 30). Zuerst darf Hansen in Ostberlin jedoch erstaunlicherweise in das Hinterzimmer eines Schwimmbads, um von dort aus heimlich seinen Teenager-Sohn Manfred bei einem Wettbewerb zu beobachten – die MfS-Gemeinschaft sorgt sich also auch um das (sc. beruflich erzeugte) menschliche Wohl und Wehe ihrer Mitglieder. Der »prächtige Bursche« siegt, der anscheinend auch sehr liebende Vater Hansen jedoch ist betrübt, denn »drei Jahre sind doch eine lange Zeit« (Min. 34:30), sprich: So lange ist er von Manfred bereits getrennt, der zudem zu seiner eigenen Sicherheit glauben muss, sein Vater sei ein ›Republikflüchtling‹. Zu Hansens Bedauern bis Verärgerung kann Manfred nach dem Wettbewerb denn auch nur von seinem netten Onkel Willi, dem Außenhandelsvertreter Wilhelm Hartmann, beglückwünscht werden. Auch Manfreds von gleichzeitigen Schulproblemen geprägte Gegenwart kann sich Hansen nur durch seine Kollegen berichten lassen. Wie schlecht der Sohn von seinem Vater zudem denken muss, belegt Manfreds anschließendes Gespräch mit einem väterlichen Bademeister: Weil der Vater als Republikflüchtling gilt, darf der Sohn zu seiner Verärgerung nicht auch im Westen Wettkämpfe für die DDR schwimmen. Ein betrübter Hansen muss sich dann aber heroisch mit den MfS-Kollegen wieder der entscheidenden Dienstaufgabe widmen, denn Collins hat die Pläne für den E-Day erhalten und Hansen soll sie herbringen (vgl. Min. 37). Zur gleichen Zeit werden Hansens übertölpelte MID-Beschatter langsam unruhig, weil Hansen scheinbar einfach auf dem Hotelzimmer schläft, und horchen schon den Portier aus (vgl. Min. 38). Nach einer kurzen Telefonbesprechung mit Collins, der ansonsten mit seinem amourösen Treffen beschäftigt ist, geht einer von ihnen sodann selbst über den Hintereingang in den Hotelkeller.

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Der just zurückgekehrte Hansen beobachtet das aber auch bereits und schleicht sich hinterher, kann den anderen erst einmal im Fahrstuhl stecken bleiben lassen und geht selbst zurück auf sein Zimmer. Als der Beschatter schließlich ins Zimmer eindringt, stellt Hansen ihn und ruft Collins, der mit der Frau aus Garmisch gerade bei der ›Zigarette danach‹ angelangt ist, an, um den Aufgegriffenen scheinempört als MfS-Agenten zu melden: »Das ist kein Scherz, Chef!« (Min. 43:15). Collins muss widerwillig zu ihm eilen, lässt aber die Identität der Beschatter natürlich nicht auffliegen – ein Punktsieg für den smarten Hansen in der Frage, ob er ein loyaler MID-Mitarbeiter ist (vgl. Min. 44). Am nächsten Morgen fliegt man zurück nach Würzburg, und Hansen kann Collins auch noch einen ›guten Mann‹ empfehlen, der als eine Art Hauptmann von Köpenick (sc. hier »von Pankow«, Min. 45) für den E-Day ins Telegrafenamt eindringen soll. Der als NVA-Major Verkleidete wird sogleich in Würzburg instruiert und wieder des Nachts von Hansen zur Grenze gebracht (freilich nicht ohne dass Hansen auch das MfS über diese nächste anstehende Tunnelaktion benachrichtigt, vgl. Min. 46). Am Abend genehmigt sich dann Collins eine Dusche in seiner Dienstwohnung, was Hansen zum Schein für eine Besprechung nutzt, während er sich heimlich den weiteren Zugang zum Safe verschafft, indem er von dem fehlenden letzten Schlüssel einen Abdruck in Seife anfertigt (vgl. Min. 49). Kurz darauf sieht man ihn wieder in dem Spielcasino, wo der Mittelsmann ihm einen Fachmann (der aber vor allem sein Bruder ist, ein kleines Stück westlicher Vetternwirtschaft) für das Kopieren von Schlüsseln vermittelt (vgl. Min. 50). Ein nächster Tag bringt eine weitere ›Probe‹ für Held Hansen mit sich: Collins berichtet, der an sich ›gute Sozialist‹ Wilhelm Hartmann, offiziell Handelsreisender aus Ostberlin, sei festgesetzt worden, weil er in Nürnberg politische Rede vor Arbeitern gehalten habe. Hansen solle sich auf höhere Weisung – vermutlich zumindest auch eine Finte, um ihn zu testen) seiner ›persönlich annehmen‹, nachdem sein Kollege Schuck ihn nicht umzudrehen geschafft habe (vgl. Min. 52f.). Hansen vernimmt ihn also in Nürnberg, wobei seine eigene Tarnidentität des Überläufers ins Spiel kommt, die Hartmann ja alleinig kennt und enttäuschend sowie empörend findet: Beide müssen sich ›bekriegen‹, Hartmann blickt ›offiziell‹ zurecht auf Hansen herab, und verweigert sich dessen (allerdings auch recht formelhaft vorgetragenen) Argumenten für einen Wechsel zur Westspionage trotz Bedrohungen (vgl. Min. 54f.). Den US-Beobachtern hinter einem Sichtschutz ist Hartmann an sich uninteressant, sie sind vor allem skeptisch wegen Hansens zu wenig überzeugendem Vernehmungsverfahren; er sei irgendwie »fishy« (Min. 55). Zudem seien alle anderen (west-)deutschen Mitarbeiter der Würzburger Außenstelle ehemalige Nazis oder sogar SS-Angehörige, nur Han-

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sen war bloß bei der Infanterie und komme eben auch aus dem Osten. Letzterer soll daher besser noch durch einen Lügendetektor, seinerzeit hochmodernes und berüchtigtes Mittel, getestet werden (vgl. Min. 56). Er wird dafür zurück nach Würzburg geschickt, wo bereits alle anderen in der Tarnfirma getestet werden (sicherlich auch, damit er sich nicht alleinig beargwöhnt fühlt). Es herrscht eine finstere Folterkeller-Atmosphäre, und der Detektor ist angeblich so sensibel, dass er Hansen überführt (was gemäß einer späteren Nebenbemerkung eines der Untersuchenden nicht stimmt), aber ein am Ende, wie allerdings auch sein Verhörer, arg verschwitzter Hansen leugnet standhaft. Im Kellerflur unterhalten sich sodann sehr kaltschnäuzig auftretende US-Verhörer, die despektierlich über all’ die »Krautfresser« reden, also auch die Westdeutschen, mit denen sie kooperieren. Hansen lassen sie schmoren, bis ihnen Kollegen verdächtige Fotos aus dessen eigenem Safe in der Firma bringen. Diese (im Casino von Hansen gemacht, vgl. Min. 17) zeigen seinen Kollegen Schuck im Gespräch mit einer eleganten Dame. Der Test wird zunächst für beendet erklärt, »Auswertung erfolgt später« (Min. 60), und Hansen geht stolzempört ab (vgl. Min. 57 bis 61). Wie eine darauffolgende Szene vollends offenbart, trifft Schuck sich mit einer ihn rigide anweisenden und bedrohenden BNDAgentin, da er dieselben Unterlagen stehlen soll, beide werden nun von einer MID-Mitarbeiterin beschattet (vgl. Min. 62). Die westlichen Dienste sind also nicht einmal wirkliche Partner, und die bundesrepublikanischen Stellen erscheinen von der DDR-Überfall-Aktion zurücksetzend ausgeschlossen, so dass deren ›Kettenhunde‹ vom BND so hinter US-Plänen her hecheln müssen. Hansen hingegen hat spät am Abend ein Treffen mit der MfS-Agentin aus Berlin, bei dem sich beide ausgesucht freundlich austauschen – die östlichen Agenten sind also auch grundsätzlich humaner zueinander. Ein ganz dezentes wechselseitiges Liebesinteresse kann auch unterstellt werden, das aber komplett schicklich bleibt, zumal Hansen Witwer ist, weil seine Frau an Krebs gestorben war (vgl. Min. 63). Alsdann sieht man Schuck an Collins’ Safe auf der (vergeblichen) Suche nach den Plänen, er wird aber aufgrund von Hansens Fotos von Collins gestellt und abtransportiert. So kann Hansen seinerseits in aller Ruhe an den Safe, findet in ihm jedoch nicht das Gewünschte. Er steigt daraufhin in Collins’ Dienstwohnung ein, da der dortige Kühlschrank nach einer eitlen Bemerkung von Collins das Versteck sein könnte – der Kühlschrank ist jedoch auch fest verschlossen (vgl. Min. 64 bis 69). Schuck wird unterdes ausgeliefert an ›Gehlen‹, das heißt übergeben an die offensichtlich sehr hohe BND-Agentin »Madame Adelheid« (Min. 70). Von ihr erfuhr man bereits (vgl. Min. 65), dass sie Adelheid von Brosinski alias Klara Sund heißt, aber auch »Spinne« genannt wird und bereits im NS-Außenministerium tätig war – die üble Kontinuität in den westdeutschen

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Behörden wird hier also auch ein weiteres Mal beschworen. Sie lässt Schuck auf der Stelle erschießen, weil er zu viel weiß und ›verbrannt‹ ist. Zuvor wusste dieser gegenüber den MID-Leuten nur mit dem Argument um sein Leben zu flehen: »[Ich] war schon bei Himmler gegen die Russen eingesetzt – und überhaupt, wir sind doch Verbündete!« (Min. 71) Abschließend in dieser Sache ermahnt Collins seinen nun wieder für brav gehaltenen Hansen, er möge ihn zukünftig schneller warnen, wenn er solche Beobachtungen wie bei Schuck mache, und dann erfolgt die Ankündigung der unmittelbaren E-Day-Vorbereitung, wozu ein eingeblendeter Wandkalender das Datum des 29. Juni 1961 zeigt (vgl. Min. 73). Am nächsten Tag trifft Hansen wieder die quasi befreundete MfS-Agentin in einem Café, in dem ein Zeitungsausträger ausruft: »Sowjetische Note zurückgewiesen, Bundeskanzler Adenauer fährt zur Kur« (Min. 74), sprich: ein vermutlich impliziter Friedensappell erfolgte also vergeblich, und der Bundeskanzler spielt Harmlosigkeit bzw. tritt beiseite, um die Westalliierten ›machen zu lassen‹. Die MfS-Agenten sind sich einig: Die Gegenaktion muss nun innerhalb von 48 Stunden steigen, und Hansen selbst mit den Plänen in die DDR zurückkommen. Im ›privaten‹ Teil des Gesprächs sehnt sich Hansen noch einmal inniglich zu seinem Sohn zurück, und es erfolgt angesichts der gefährlichen kommenden Stunden ein besonders freundlicher Abschied ›unter Guten‹ (vgl. Min. 74f.). Am 1. Juli (ein weiteres Kalenderblatt) geht zunächst der vergnügungssüchtige Collins in eine Ablenkungsfalle, denn das MfS lässt ihm ein scheinbares Liebestelegramm aus Garmisch zukommen, wo ihn die Liebhaberin zu einem weiteren Rendezvous erwarte. Hansen soll in der Zeit für den frohgemut abfahrenden Collins die Firma bewachen, und komplett freie Bahn hat er dabei dann auch, weil alle anderen Mitarbeiter ›dekadenterweise‹ ebenfalls zu amourösen Vergnügungen ausgeschwärmt sind: Das tschechische Faktotum František darf mit Hansens erneuter Erlaubnis zum Rendezvous mit der Tankstellenfrau und Collins’ Sekretärin Peggy fährt ausgerechnet mit dem kaltschnäuzigen Lügendetektor-Bediener an einen See (vgl. Min. 76 bis 79). Kurz unterbrochen wird Hansen jedoch bei seiner finalen Aktion ein erstes (›spannendes‹) Mal, als die Sekretärin unvermittelt zurückkehrt: Ihr Ausflug ist schon gescheitert, weil der USAmerikaner ›typischerweise‹ sofort zudringlich geworden ist und auch bereits stark alkoholisiert erscheint (vor der Firma steigt er mit machistischen Sprüchen gegenüber Hansen ins Auto, vgl. Min. 80). Hansen muss die Sekretärin aus der Not mit einer präparierten Zigarette in den Schlaf versetzen, um weitermachen zu können – töten will der edle Ostagent anscheinend hier wie anderswann nicht so rasch. Sodann holt er den von seiner MfS-Kollegin bereitgestellten Wagen ab, um kurzerhand den ganzen verschlossenen Kühlschrank mitzunehmen. Doch ein weiteres Mal wird er aufgehalten, denn auch František kommt bereits wieder zu-

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rück: Sein Mädchen hat eine Waffe an ihm entdeckt und will nichts mehr mit ihm zu tun haben (vgl. Min. 82). Als František Hansen stellen will, wird er von diesem locker überwältigt, wenn auch wieder nur mit einem harmlosen Faustschlag (vgl. Min. 84). František denkt dazu laut: »Alles Verräter hier!« (Min. 84:15), und so nimmt der fürsorgliche Held Hansen den Frustrierten sogleich in seinem Fluchtwagen mit, um ihn auf der Fahrt wieder zum Osten zu bekehren. Noch einmal spannender gemacht wird die Absetzaktion dadurch, dass die freundliche MfS-Agentin mit ihrem eigenen Wagen, in den Hansen unterwegs hineinwechseln sollte, noch in Würzburg in einen Unfall verwickelt und gegen ihren Willen in ein Krankenhaus gebracht wird. Hinzu kommt, dass Collins in Garmisch seine ahnungslose Herzensdame mit einem anderen Liebhaber antrifft, und sich nun fragen muss, wer denn das Telegramm geschrieben hat. Er ruft vergeblich in Würzburg an, wo die Sekretärin noch betäubt schläft. Also muss er erst einmal dorthin zurückfahren, um festzustellen, was passiert ist. Als er den gestohlenen Kühlschrank telefonisch der Frankfurter Zentrale meldet, heißt es von dort: »Am besten, Sie erschießen sich gleich!« Man löst aber natürlich Großalarm aus, und nun wird Hansen mit Wagen und Hubschraubern verfolgt (vgl. Min 85f.). Währenddessen überredet ein fürsorglicher Hansen František zum späteren Überlaufen im eigenen Land. Dort werde er auch wieder bessere Arbeit bekommen und er werde mit »Wahrheit« nochmals neu anfangen können: »Dabei helfen Dir Deine Leute [= der tschechische Geheimdienst, der ihn ausfragen und womöglich seinerseits heuern wird?], die sind auch nicht anders als ich« (Min. 88). Schließlich fahren die beiden sogar noch durch das NATOManöver, das der Angriff werden soll, und an der bereits für Nicht-Militärs geschlossenen Grenze ertrotzen sie sich mit Waffen und Rauchbomben einen Weg durch die Absperrungen, wobei František verletzt und das Auto so beschossen wird, dass Hansen es nur mit letzter Kraft hinüber zu den DDR-Grenzern schafft (vgl. Min. 89 bis 92). Einblendungen von Titelseiten internationaler Zeitungen und TelegraphenBändern verkünden sodann, dass die US-Pläne in einer Ostberliner Pressekonferenz bekannt gemacht worden sind. Irritierenderweise ist bei genauerem Hinsehen erkennbar, dass man bereits Anfang August schreibt – einerseits ein nicht ganz plausibler zeitlicher Sprung (zuletzt muss etwa der 3. Juli gewesen sein), andererseits vermutlich der Versuch, das Geschehen noch näher an das Datum des Mauerbaus zu rücken. Eine interessante Einschränkung findet sich sehr deutlich lesbar unter den Schlagzeilen: »Der begrenzte Krieg findet nicht statt«, was wohl zur Beruhigung des DDR-Filmpublikums heißen sollte, dass man immerhin nicht vor einem atomaren Weltkrieg gestanden habe (vgl. Min. 93). Ein weiterer, doppelter Epilog (vgl. Min. 94f.) zeigt noch einmal West und Ost im signi-

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fikanten Vergleich: Collins sitzt vor seinen Vorgesetzten in Frankfurt/Main und bekommt ein Kriegsgericht avisiert, zu dem er seinen Rechtsanwalt nicht mehr benötige. Hansen bzw. nun wieder Lorenz steht vor der Schule seines Sohns, der froh auf ihn zukommt und nun die Wahrheit erfahren wird: Der Held hat seine Großtat vollbracht, nun darf er auch den letzten Schein-Makel von seiner strahlend weißen Weste entfernen. Dass ein Agententhriller aus der Zeit des Kalten Kriegs eine krasse SchwarzWeiß-Zeichnung vornimmt, verwundert nicht, da nimmt sich FOR EYES ONLY nichts mit den Bond- und zahlreichen anderen Werken aus dem Westen. Dennoch ist die Art, wie die eine Seite ›böse‹ und die andere ›gut‹ erscheint, hier mythologisch gesehen überaus signifikant – was nach der notwendigerweise bereits recht Furcht-trächtigen Heldennarrativ-bezogenen Analyse nun lediglich in Hauptperspektiven gezeigt werden muss. Die Kernbedrohung ist in diesem Fall eine militärische Aggression, die in Sonderheit den USA als führender NATONation unterstellt wird und die, ohne dass das wohl noch explizit gemacht werden muss, auf deren imperialistischen Kapitalismus zurückzuführen ist. Das Vorwort der MfS-Schulungsausgabe lobt den Film entsprechend ausführlich: »Mit ›For eyes only‹ wird erstmalig im Kunstschaffen der DDR der notwendige Kampf gegen die friedensgefährdenden Machenschaften imperialistischer Geheimdienste meisterhaft dargestellt. Mit den spezifisch-künstlerischen Mitteln des Films werden diese imperialistischen Kräfte entlarvt, deren Tätigkeit in der Organisierung von Provokationen und aggressiven Handlungen besteht.«14

Die verbündete Bundesrepublik wird dabei unmittelbar nicht einmal als Erfüllungsgehilfe dargestellt, sondern eher als Territorium, auf dem die USA nach Gusto agieren und deren Regierung (Adenauer) eigentlich nichts zu melden hat – die ›Krautfresser‹ in West- und Ostdeutschland sind eher nur lästig. Entsprechend steht als weitere Befürchtung im Raum, dass ein von den USA kontrolliertes Gesamtdeutschland ein bloßer Vasallenstaat und allenfalls ein interessantes Absatzgebiet für den amerikanischen Kapitalismus darstellt. Vor der kompletten Eroberung der DDR werden zudem psychologische Vorbereitungen durch in den Osten wirkende Medien sowie von Agenten betriebene Diversifikationsmaßnahmen beschworen, eine ideologische Zerrüttung, die laut Film in einem Bürgerkriegs-ähnlichen Zustand münden soll.

14 Wipp [1964], S. 7.

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Neben einer politischen Diversifikation ist als genuin kapitalistisches Mittel und damit weitere wichtige Furchtquelle im Film anzusehen, dass ein als ›westlicher Lebensstil‹ verbrämter Amoralismus, wie ihn zumal die MID-Mitarbeiter bereits leben, übergreifen und in einen ›dekadenten‹ Konsumismus führen soll: Wenn die MID-ler nicht gerade Schurkisches planen, sind sie mit Alkohol, (machistischen) Sex-Affären, betrügerischen Transaktionen (hier: Hehlerei von Kunstgegenständen aus einem ›Bruderland‹ der DDR), finanziellem Betrug aneinander und sonstigem unsittlichen Tun beschäftigt. Dabei wiederum sind Deutsche oder Ostflüchtlinge wie der junge Tscheche František allenfalls mehr oder weniger passabel behandelte Helfer. Dass sodann die Westdeutschen von den MID-Vertretern allenfalls pragmatisch oder auch offen zynisch ausgenutzt werden, liegt in der Perspektive des Films daran, dass die relevanten Personenkreise ehemalige NS-Schergen sind, die sozusagen in Untaten geschult und jederzeit zu weiteren bereit sind. Die Furcht vor altem und neuem Faschismus schürt der Film also auf sekundärer Ebene noch mit, die DDR und ihre Verbündeten stehen somit für die (einzige) humane, gemeinschaftliche und pazifizierende Alternative und die MfS-Agenten sind die personifizierte Furchtabwehr, die sich heroisch in Kampf und in persönliche Entsagung begibt, dabei aber moralisch sogar noch so sauber wie irgend möglich bleibt und menschlich komplett integer.15 Dass ihr exemplarischer Vertreter als eine Art sittlicher Anti-Bond erscheint, zumindest für DDR-Zuschauer, die von dem britischen Agenten mehr als gröbste Kenntnis hatten, macht ihn noch einmal mehr zum sozialistischen Heros par excellence, auch wenn seine ›Arbeit‹ natürlich nicht allgemein nachahmbar erschienen sein dürfte, wie die Leistungen eines Hans Aehre in Menschen an unsrer Seite. Die an FOR EYES ONLY kennenzulernende, archaisch-starke Variante kann jedoch mytho-logisch als gut stabilisierend angesehen werden. Dazu sollte vermutlich zudem beitragen, dass in der Welt dieses Films beide Systeme wie überzeitlich fix ›stehen‹ und nur das östliche eine gute, humane Normalität darstellt (als Thema der Selbstnaturalisierung eines Kunstmythos sc. Thema des nächsten Großabschnitts).

15 Siehe entsprechende Ausführungen auch im Vorwort zu Wipp [1964], S. 7: »›For eyes only‹ würdigt den selbstlosen Einsatz deutscher Patrioten, die mit ihrer Vaterlandsliebe, ihrer Hingabe, ihrer Furchtlosigkeit und ihren hohen moralischen Qualitäten der Erhaltung des Friedens dienen.«

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V ERTRAUEN STATT F URCHT ? H ERBERT N ACHBARS H AUS UNTERM R EGEN (1965) Darf eine typische mytho-sozialistische Furcht des Staates dazu führen, dass ihm treu dienende Helden selbst dort Entsagungen hinnehmen müssen, wo sie individuell gesehen gar keinen Anlass zur Furcht bieten? Oder kann diese Furcht überwunden werden nicht nur durch eine Abwehr in Form von Heldentaten, sondern auch durch ein größeres wechselseitiges Vertrauen in der Gemeinschaft der Helden? Diesen zwei Fragen in der Korrelation widmet sich Herbert Nachbars Roman Haus unterm Regen16 anhand einer sozialistischen Familie (sowie sc. ihrer Arbeitsstätten) in Mecklenburg und ihres ›schwarzen Schafs‹ in der Bundesrepublik im Sommer 1961. Angesiedelt ist die Handlung zum einen in dem Fischerdorf Wittikow, in dem der pensionierte Lehrer Otto Babenderärde lebt, dessen Frau Hollunde gerade verstorben ist. Bei Otto wohnen auch immer noch Brunhilde, die verbitterte Exfrau seines vor geraumer Zeit in den Westen gegangenen Sohnes Helmut, ehemaliger Major der NS-Luftwaffe, und deren Tochter Henriette, Brigade-Kranführerin in einer benachbarten Hafenanlage. Zum anderen spielt der Roman auf einem Düsenjäger-Geschwader-Stützpunkt in der Nähe, wo der Geliebte Henriettes, Christoph Babendiek, als Pilot in großer Begeisterung für das Fliegen und die DDR seinen Dienst tut. Haupthandlungsmoment ist sodann, dass Christoph in einer großen Bedrängnis landet, als er sich von Henriette besser ganz trennen soll, anstatt sie endlich zu heiraten. Denn eine allgemeine Schutzbestimmung verbietet NVA-Angehörigen in neuralgischen Positionen die Ehe mit Menschen mit Westverwandten, das heißt: Christoph dürfte nach der Heirat zumindest nicht mehr als Jagdfliegerpilot arbeiten, sondern nur noch als Bodenpersonal. Während Henriette geneigt ist, ihren sozialistischen Fliegerhelden lieber fliegen als unbedingt zum (dann bald unglücklichen) Ehemann haben zu wollen, verlegt sich Christoph auf ein anderes Argument: Er leiste seine heroisch-anstrengende Arbeit im großen Vertrauen auf seinen Staat, nun solle dieser – in Form seines Geschwader-Kommandanten und dann noch des übergeordneten Generals – ihm ein entsprechendes Vertrauen zurückgeben, also ihn heiraten und weiter fliegen lassen. Hinzu kommt als Handlungsmoment, dass Großvater Otto lange Zeit als Einziger in Wittikow von den menschverachtenden Taten Helmuts im Zweiten Weltkrieg weiß, was ihn für das Dorf rätselhaft verschämt abseits stehen lässt. Das Eheverbot für seine Enkelin erscheint ihm einerseits aus diesen Gründen in-

16 Vgl. Nachbar 1965. Zitate und Verweise auf den Roman im Folgenden mit einfachen Seitenangaben in Klammern im Haupttext.

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direkt umso verständlicher, andererseits aber auch als eine Art alttestamentarische Prolongierung von Strafe. Otto findet dann, zu Beginn des zweiten und letzten Teils des Romans, als Erster einen Weg für die persönliche Problemsituation, das heißt: die innere Barriere von Scham und Schande zu überwinden, und zwar gerade weil seine Frau gestorben ist. Denn Hollunde war ihrem faschistischheldischen Sohn unreflektiert treu geblieben, und Otto hatte zumal mit ihr in einem Grunddissens leben müssen, der ihn besonders eigenbrötlerisch gemacht hatte. Als Otto auch noch seinem ehemaligen Schüler Karl Müritz, ein Fischer im Dorf, beim Erhalt seiner Arbeit im sozialistischen Kollektiv helfen kann, findet er sogar wieder eine aktive Verbindung zu seiner bzw. Einsatzmöglichkeit für seine geliebte sozialistische Dorfgemeinschaft. Die Enthüllung von Haltung und Taten des Sohnes Helmut anhand von dessen Kriegstagebuch, das Otto lange unter Verschluss gehalten hatte, soll schließlich auch Henriette und Christoph bei der Abwägung helfen, wie sie das Eheverbot aus staatlicher Furcht vor ›Feindkontakten‹ besser verstehen könnten. Otto muss jedoch rasch erkennen, dass die beiden auch eine berechtigte weitere Perspektive auf das Verbot haben, nämlich die Erwartung, dass sie als gestandene sozialistische Persönlichkeiten individuell durch ein besonderes Vertrauen des Staates gewürdigt werden. Diese Erwartung und ihre eigene Einsicht in die grundsätzliche Notwendigkeit der Verbotsbestimmung bleibt jedoch bis zum Ende im ungelösten dilemmatischen Verhältnis zu einander. Eventuell wird der zuständige NVA-General ihnen allerdings doch eine Sondererlaubnis erteilen, zumal der zwischenzeitlich erfolgende Mauerbau um Westberlin die FeindSituation gemäß dem Roman nachhaltig entspannt hat. Dieser zeittypische Aspekt, aber auch die Gesamthandlung in heroischer Perspektive sind nun zunächst genauer zu verfolgen, bevor abschließend die spezifischen Furcht-Momente und die besondere Verbindung mit der Frage des Vertrauens, die implizit geradezu als transzendentale Bedingung für die Furcht-Abwehr diskutiert wird, in Haus unterm Regen zu betrachten sind. Ganz grundständig ist der Roman daraufhin narrativiert, drei individuelle, aber freilich stark korrelierte Sichtweisen auf das Geschehen zu präsentieren, die zugleich die drei hier zentralen sozialistischen Heldentypen konturieren: Innerhalb der zwei »Teile« des Romans sind die unnummerierten (vierzehn bzw. neun) Kapitel jeweils aus der Ich-Perspektive entweder des Althelden Otto oder der Jungheldin Henriette oder des Junghelden Christoph erzählt. Anfang und Ende machen dabei Äußerungen Ottos, einen größeren Gesamtanteil an den Erzählpartien haben jedoch Henriette und Christoph, die als Akteure insgesamt auch mehr im Fokus stehen. Die Nutzung von (wenn auch nur moderat divergierenden) Ich-Perspektiven erscheint dabei im DDR-Kontext als durchaus seltene

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moderne Erzählform, die zusammen mit dem noch etwas offenen Schluss die Eindeutigkeit und Geschlossenheit der sozialistisch-realistischen Ideologie transzendiert – freilich ohne dabei in einer Pluralität und Offenheit zu münden, wie sie einige Jahre zuvor bereits Uwe Johnson mit den »Mutmassungen über Jakob« erreicht hatte.17 Dass unmittelbar dieser Text sowohl narrativ als auch inhaltlich (mit Mecklenburg als Handlungsraum und einem Johnsons Roman gegenüber nicht-tragischen Konfliktgang) ein gewichtiger Intertext sein könnte, wäre eine eigene Untersuchung wert, erscheint bezüglich der Heldennarrativvariantenbildung und der Furcht-Frage jedoch nicht von zentraler Bedeutung.18 Der »Erste Teil« (S. 5-148) setzt ein mit Ottos Erzählung vom Tag der Beerdigung seiner Frau Hollunde, die drei Tage zuvor (am 22. Juli 1961, vgl. S. 10) nach längerer Krankheit verstorben ist und mit der Otto seit kurz vor dem Ersten Weltkrieg verheiratet war (vgl. S. 7). Ottos erster Fokus ist die große Anteilnahme der Dorfgemeinschaft von Wittikow, wie generell am »Schicksal der

17 Zu Johnsons Erzählleistung im Vergleich mit zeitgenössischer DDR-Prosa (und auch kurz zu Nachbars Roman) vgl. Elit 2011. 18 Eine weitere Konvergenz mit Johnson-Prosa findet sich in der Übereinstimmung des Nachnamens von Nachbars zentraler Familie mit demjenigen der Protagonistin von Ingrid Babenderde. Reifeprüfung 1953. Nun ist Johnsons Roman bekanntlich erst 1985 bei Suhrkamp aus dem Nachlass erschienen, Johnson selbst, der seinen in der DDR zuvor nicht zu veröffentlichenden Text anscheinend 1965 zumindest noch nicht ›aufgegeben‹ hatte, nahm jedoch unmittelbar Anstoß an Nachbars Namenswahl (und eventuell auch an Handlungsmomenten). Er schickte diesem nämlich auf eine auszugsmäßige Vorabveröffentlichung von Haus unterm Regen hin nach eigener Auskunft folgenden Brief: »Sehr geehrter Herr [...], In der ›Neuen Berliner Illustrierten‹, Nr. 28/1965, dem zweiten Juliheft, fand ich ein Stück aus Ihrem neuen Roman ›Die Liebe des Christoph B.‹ und daß darin offenbar zumeist eine Familie Babenderärde vorkommt. Vielleicht haben Sie vergessen, daß Sie vor neun Jahren für den Aufbau Verlag ein Manuskript von mir gelesen und beurteilt haben, in dem zumindest eine Familie Babendererde vorkommt, auch im Titel. Da ich auf den Titel nicht gerne verzichten möchte, fände ich es sehr nett, wenn Ihre Familie in der Buch-Ausgabe sich von meiner mehr unterscheiden könnte als durch einen Buchstaben.« (Johnson 1980, S. 330) Immerhin weist Nachbars Roman in der Komplettausgabe etwas später einen deutlich anderen Titel auf. Über den für Nachbar eventuell verlockend sprechenden und regionaltypischen Familiennamen hinaus erscheinen Überschneidungen in der Handlung gegenüber den »Mutmassungen« freilich noch weniger bzw. allenfalls ganz ansatzweise gegeben und müssen daher hier noch weniger verfolgt werden.

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Babenderärdes« (S. 7), eine Anteilnahme, die ihn jetzt wie zuvor aber eher belastet als freut. Denn wie bereits kurz erwähnt, hatte seine Frau zu dem Sohn Helmut gehalten, der Otto zumindest seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur mehr »die Last seines Ruhmes aufbuckelte« (S. 8), während er für Hollunde und das Dorf (vgl. späterhin, S. 37) immer noch der Vollbringer von »Heldentaten« war und das Dorf überzeitlich »berühmt [...] in Deutschland« gemacht hat (ebd.), also als Jagdflieger-Major der NS-Luftwaffe mit mehreren verliehenen »Ritterkreuz«-Orden (S. 18). Otto ist daher nun auch ohne Trauer über den Tod seiner Frau und sogar gegen die Betrauerung durch das Dorf, denn »weder meine Hollunde noch ich können Anspruch auf diese letzte Ehre erheben« (S. 10). Er denkt vielmehr sogar bereits orakelhaft, dass die unrühmliche familiäre Vergangenheit noch einmal über ihn und seine Familie kommen würde (vgl. S. 11 u. 14). Anlass zu dieser Befürchtung bietet ihm etwa, dass er von den jungen Sargträgern zu seinem Verdruss nochmals »Major« genannt worden ist (S. 15), was in immer noch rühmender Übertragung von Helmuts Titel zu geschehen scheint (vgl. S. 18). Otto beginnt daraufhin ein haderndes inneres Zwiegespräch mit Hollunde (vgl. S. 16f.), das nicht nur der psychischen Bearbeitung des Verhältnisses mit ihr dienen soll, sondern auch der weiteren Auseinandersetzung mit den »große[n] Sünden« des Sohns, »meine[n] Sünden« (S. 18), für die er noch »büßen [zu] müssen« (S. 19) glaubt. Für den Vater, der nach 1945 noch zum ›guten Sozialisten‹ geworden ist, handelt es sich bei den ›Heldentaten‹ nach NSMaßstäben in einer Art christlich-sozialistischen Perspektive um ›Sünden‹ oder auch anti-heroische Leistungen, deren negative Folgen immer noch zu erwarten sind. Worin diese Folgen bestehen könnten, lässt sich auch vermuten, wenn man das an sich unabhängig Berichtete aus dem zweiten und dritten Kapitel des ersten Teils in dieser Linie sieht: Christoph teilt Henriette (Perspektivgeberin für das zweite Kapitel, vgl. S. 20-30) mit: »›Ich soll mich von dir trennen‹« (S. 22), und zwar auf Anweisung seines ansonsten fürsorglich-freundlichen Kommandeurs, der das verlangen muss, weil Helmut eben in Westdeutschland lebt (vgl. S. 29). Christoph will jedoch auf keinen Fall eine Trennung (vgl. S. 23), sie versichern sich ihrer Liebe (vgl. S. 27), und Christoph erklärt erstmals, dass er heiraten und fliegen, aber zur Not das Fliegen aufgeben möchte (vgl. S. 30). Als Christoph im dritten Kapitel (aus seiner Perspektive, vgl. S. 31-36) Otto die Problematik erläutert, wünscht auch dieser die Heirat und hält die harte Einforderung der »Bestimmung« (so wird das Eheverbot im Roman primär neutralisierend bezeichnet) gegenüber Christoph für die Folge der Vergangenheit und des Abgangs von Helmut in den Westen (vgl. S. 36). Im vierten Kapitel, aus Ottos

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Perspektive (vgl. S. 37-43) zeigt sich dieser, entsprechend seiner Grundstimmung, nun auch beschämt wegen der Probleme für die Enkelin (S. 41). Wie das fünfte Kapitel aus Henriettes Perspektive (vgl. S. 44-49) zeigt, trifft die ›Bestimmung‹ mit Henriette und Christoph zwei in der Tat gut im Sozialismus ›Angekommene‹: Auch sie arbeitet in verantwortungsvoller Position, nämlich als Führerin eines großen Hafenkrans (vgl. S. 44f., wo Christoph mit seinen Kameraden ihre anscheinend vorbildliche Brigade offiziell bei der Arbeit besucht), und außerdem ist Christoph bereits Genosse, Henriette hingegen lediglich »noch nicht« (S. 47; gemessen am SED-Parteiaufnahmeverfahren lag diese Entscheidung ja bei weitem nicht allein in ihrem Ermessen). Beider Genossenschaft und Arbeiten für den Staat erscheinen akut jedoch fragil (vgl. S. 49). Als Christoph sodann, im sechsten Kapitel (aus seiner Perspektive, vgl. S. 50-63), persönlicher mit seinem Geschwader-Kommandeur über die ›Bestimmung‹ und eine mögliche Ausnahme sprechen will, antizipiert er auf dem Weg dahin bereits, dass er zum einen die Sozialismustreue von Otto und Henriette belegen müsse (was er gut zu können glaubt, vgl. S. 51-53, dazu aber unter Furcht-Aspekten noch näher, s.u.), zum anderen, für seine Personen, setzt er bereits das von ihm einzufordernde Vertrauen des Staates zentral, gesteht sich aber auch ein, dass der Kommandeur aus guten Gründen hart bleiben dürfte (vgl. S. 53). Realiter lässt der Kommandeur dann allerdings gar kein Gespräch dieser Art aufkommen, sondern berichtet aus seinem bitteren Leben als Kommunistenspross im Nationalsozialismus und als hart rangenommener Flugschüler in der Sowjetunion (vgl. S. 57-60). Er gibt Christoph also gleichsam zu verstehen, dass man für sozialistisches Heldentum durchaus einiges zu erdulden habe. In der Frage von Christophs Heiratswunsch erfolgt abschließend nur eine indirekte Mahnung (vgl. S. 64), nachdem der Kommandeur zur Beschwörung eines aus zeitgenössischer Sicht höchsten Heroismus eine Schallplatte mit Juri Gagarins Stimme aus dem Weltall aufgelegt hat (vgl. S. 63). Das siebente Kapitel, in dem wieder Henriette spricht (vgl. S. 64-71), bringt eine neue Entscheidungsperspektive für Henriette auf. Denn sie entlockt Christoph durch eine geschickte Gesprächslenkung, dass das militärische Fliegen für ihn die geliebte »große Verantwortung und wichtige Aufgabe« (S. 68) ist und dass es ihn als ganze Person verlangt (vgl. S, 69). Christoph versucht demgegenüber wieder die Frage des »Vertrauen[s] zu mir« (S. 70) durch den Staat zentral zu setzen. Henriette folgert jedoch aus Christophs heroischer Einstellung zu seinem Beruf, dass ihre Verantwortung auch darin besteht zu antizipieren, ob ihre Verbindung die Entscheidung gegen das Fliegen aushalten wird (vgl. ebd.). Jenseits davon will Henriette jedoch auch etwas zur Erleichterung einer Heirat aus staatlicher Sicht tun: Sie will ihren Vater bitten, den immer noch vorhandenen

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Briefwechsel mit ihr einzustellen, auch dies ein zumindest kleiner heroischer Verzicht, da sie Helmut durchaus noch liebt und fortan nurmehr sozusagen im Herzen mit ihm verbunden sein will (vgl. ebd.). Als sie Otto die Absicht ankündigt, offenbart sie allerdings den sehr partiellen Verzichtcharakter, denn er erwartet eine komplette Trennung vom Vater, sie hält ihre Idee jedoch vor allem für eine Art klugen Schachzug (vgl. S. 71). Was sie sich in Unkenntnis der NSGräueltaten ihres Vaters noch gar nicht vorstellen kann, ist, dass Otto eine volle Abkehr von Helmut sogar besonders gut gefiele. Während Henriette mit dem Schwebezustand noch ganz gut umgehen kann und sich auf ihrer Arbeitsstelle weiterhin als vorbildliche sozialistische Kollegin zeigt (vgl. Kap. IX, S. 72-92), wird Christoph (vgl. Kap. X, S. 93-110) zunehmend nervös und von daher unwirsch zu Kollegen, so dass der Kommandeur ihn zurechtweist und rügt, weil er immer noch keine »klare[n] Verhältnisse« (S. 95) geschaffen habe. Diese soll Christoph im Rahmen eines Kurzurlaubs schaffen, und eine Parteiversammlung kurz darauf werde die Frage dann final besprechen (vgl. S. 95). Ein guter Fliegerkollege mahnt bei Christoph zusätzlich Vernunft und sozusagen heroische Einsicht in die Staatsräson an (vgl. S. 96f.), dieser sieht jedoch weiterhin vor allem die Vertrauensfrage aufseiten des Staats als wesentlich an. (vgl. S. 99). Das elfte bis vierzehnte Kapitel (vgl. S. 111-148) zeigt Henriette und Christoph in abwechselnden Perspektiven in dem auferlegten Kurzurlaub, den Christoph Henriette als Überraschungsaktion übers Wochenende präsentiert: Er nimmt mit ihr den nächsten Nachtzug nach Berlin, um mit ihr wie mit einer Ehefrau unterwegs zu sein und sie als Erstes mit schicken Kleidern zu beschenken (vgl. S. 120f.). Die gemeinsame Freude beim Kleiderkauf ist denn auch groß (vgl. S. 121), und sie erleben sich auf neue Weise verliebt und verbunden (vgl. S. 122). Anschließend besorgt er einen Leihwagen, mit dem er sie, die das Ziel der Reise noch nicht kennt, bis zum Abend an den Rand des Spreewalds bei Lübbenau zu einem kleinen Gasthaus bringt (vgl. S. 123-127). Am nächsten Tag unternehmen sie die ortsübliche Tour mit dem Stocherkahn durch die Spreearme nach dem Motto ›kleine Flucht, kleines Glück‹ (vgl. S. 138), um dann in einem gemieteten Liebesnest auf einer Insel zu logieren (vgl. S. 138f.). Henriette genießt die Zweisamkeit, hofft aber auch etwas beklommen, sprich: schließt nicht aus, dass sie eventuell niemals heiraten und nur eine verdeckte Liebschaft führen könnten: »›Ja, es wird alles gut, und wenn ich jede Nacht auf dich warten soll, ich will warten, und du wirst immer wiederkommen.‹« (S. 141f.) Christoph pflichtet dem bei, denn er will auch seine »Arbeit gut machen« (S. 141), also wohl gegebenenfalls weiter fliegen und nur heimlich mit ihr leben. Wörtlich wie metaphorisch besprechen die Liebenden das »in diesem Haus unterm Regen«.

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(Ebd.) Eine Paddeltour in menschenleerer Gegend zu einem Rendezvous auf einer idyllischen Insel tut den beiden nochmals gut, und Christoph formuliert die Erwartung: »Die Genossen werden mich verstehen« (S. 145), also die Wichtigkeit von Henriette für ihn in die Waagschale tun. Im ersten Kapitel des zweiten Teils (S. 151-170) reflektiert Otto, wie er zu neuer Aktivität für seine Dorfgemeinschaft zurückgefunden hat, und zwar ex negativo. Henriette löst sich nämlich immer noch nicht von ihrem Vater, sondern ist mit dessen überraschend freundlicher Einwilligung in das Ende ihres Briefwechsels sofort »›vollkommen glücklich‹« (S. 156) – der Vater verspricht nicht mehr zu schreiben und gibt sie frei, unterschrieben »[i]n Liebe« (S. 157). Das findet Otto gewissermaßen nur rhetorisch »gelungen« (S. 158), aber der Gesamtproblemlage nicht angemessen (wobei er freilich Henriette wie zuvor Hollunde von den Gräueln des Kriegstagebuchs nichts sagt): »›Was dein Vater hier tut, mit diesen Zeilen, das tut der Westen Deutschland gegenüber seit Jahren. Er behandelt alle unsere Probleme in der Sphäre des Privaten. [...] Ist das, was dich und Christoph bewegt, ein privates Problem? Ist es nicht in Wahrheit ein gesellschaftliches Problem?‹« (S. 159/160)

Nach Henriettes Abgang urteilt Otto für sich noch härter, Henriette »befreit sich nicht von der Liebe zu ihrem Vater [...]. [E]s bleibt im Grunde alles beim alten, nur die Formen werden etwas geändert. Genügt das? Darf es genügen?« (S. 161) – Gleichsam als Ersatzhandlung für die Unmöglichkeit, im Rahmen der eigenen Familie etwas für den Sozialismus zu tun, bietet sich Otto jedoch sodann eine andere Gelegenheit. Ein mittelalter Genossenschaftsfischer ohne Lebensmut, der nämlich zuvor so stolz selbständig war, Karl Müritz, kommt zu ihm, weil er ihm schon einmal geholfen hat (vgl. S. 163f.): Müritz soll wegen zu viel Krankfeiern und Bummeln aus der Produktion ausscheiden und wünscht sich nun eine rettende Fürsprache durch den »Herr[n] Major« (S. 166). Die verhasste ehrfurchtsvolle Anrede bringt Otto zunächst stark auf Distanz, und er wirft Müritz hinaus. Aber dann reflektiert Otto das Gespräch nochmals und registriert an Müritz eine Besinnung zum Guten (sprich: zum Sozialismus), und lediglich eine innere Hemmung aus mindestens einem neuralgischen Kindheitserlebnis heraus, an dem Otto als Lehrer nicht unbeteiligt gewesen ist (vgl. S. 167f., inhaltlich nicht näher ausgeführt). Auf diese Weise angesprochen, sieht sich Otto wieder als Teil der Dorfgemeinschaft und geht zu Müritz, um dessen Teilhabe an ihr durch eine persönliche »Bürgschaft« (S. 169) sichern zu helfen. Er tut dies auch aus alter Verbundenheit als Lehrer, in den »Vertrauen« (170) gesetzt worden sei – Christophs zentrale Kategorie geht hier also auch auf Otto über. Der aufgesuchte Genossen-

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schaftsvorsitzende ist gegenüber Otto aufgeschlossen, beklagt aber auch zu viele »Egoisten« (ebd.) wie Müritz und stellt Entscheidung der Versammlung anheim (vgl. ebd.). Kurze Zeit später, im zweiten Kapitel (vgl. S. 171-178) darf Müritz weiter arbeiten, jedoch nur »auf Probe«, weil er sein Krankfeiern und Bummeln nicht zugeben mochte. Das eigentliche Thema des zweiten Kapitels ist jedoch Henriettes Verwunderung und Sorge über das Ausbleiben von Christoph und auch von jeglichem Lebenszeichen von diesem. Otto vermutet dazu schlicht, dass Christoph nicht aus dem Dienst konnte und Kontaktsperre hatte. Er weiß nämlich schon, dass die Berliner Mauer gebaut worden ist, und folgert, dass sich die NVA in ständiger Bereitschaft befinden dürfte (vgl. S. 176). Das dritte Kapitel, aus Christophs Perspektive (vgl. S. 179-189) offenbart genau dies, aber auch einen nochmals unzufriedeneren Christoph, der die Hoffnung aufs Fliegen bis zum Ende seiner Dienstverpflichtung überhaupt aufgeben möchte und umso frustrierter den aktuellen Dauerdienst am Boden absolviert (vgl. S. 181). Über die unselige ›Bestimmung‹ äußert er sich gegenüber den Kollegen dennoch hoffnungsvoll: »›Solche Dinge sind nicht unvermeidlich bei uns. Wenn ich das glauben wollte, hörte ich auf für meinen Staat zu sein.‹« (S. 183) Die vom Kommandeur angekündigte Versammlung (vgl. S. 95) hatte allerdings auf die Bestimmung beharrt, und der wohlmeinende Kollege von zuvor wirft »Christoph Dickschädel« nurmehr »Privatsozialismus« vor (S. 184). Der hatte zwei Tage zuvor sogar noch einen »Brief an die Parteileitung« (186) in eigener Sache geschrieben, in dem er sein Beharren auf Heirat und Dienst nochmals verteidigt hat sowie die »›Liebe zu meinem Staat und zur Partei‹« (S. 187); zudem leiste er mit dem Fliegen eine überaus förderliche (und ihn fordernde) Arbeit, weil er »Vertrauen« in Staat und Partei habe (S. 188). Die Heirat könne also keinen »Verrat« (ebd.) ergeben, und er versichert der Partei, dass er aufgrund seines umfassenden Gemeinschaftsgefühls niemals an Flucht denken würde. Er fordert daher nochmals das Vertrauen auch der Partei ein (vgl. S. 188f.). In der Perspektive von Henriette im vierten Kapitel (vgl. S. 190-198) ist Christophs Erwartung gegenüber der Partei, die er ihr in einem Brief an sie mitgeteilt hat, bei aller subjektiven Verständlichkeit jedoch letztlich ein »Wolkenkuckucksheim« (S. 195), und sie fragt sich zudem: »Wer kann uns ins Herz gucken?« Sprich: So großes Vertrauen ist vom Staat nicht zu verlangen. (S. 197) Ihr nächstes, von Christoph forciertes Zusammentreffen, im fünften Kapitel aus seiner Perspektive (vgl. S. 199-205), bringt denn auch keinen Fortschritt. Als sich Christoph kurz darauf wieder mit seinem Kommandeur unterredet, der ihn unbedingt wieder als Flieger will, nicht – wie Christoph nun erst einmal – als Steuermann (vgl. S. 202), bringt der Kommandeur jedoch eine ganz neue

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Hoffnung auf: »›Ist doch erst ein paar Tage her, daß wir Westberlin zugemacht haben. Vieles wird sich ändern, wir fangen doch jetzt erst richtig an. Verlange doch nicht alles auf einmal!‹« (S. 202) Christoph fällt es allerdings schwer, sich darein zu fügen. Die ratlose Henriette wiederum bespricht sich – im sechsten Kapitel aus ihrer Perspektive (vgl. S. 206-212) mit Otto, der mittlerweile meint: »›[I]hr solltet euch ein wenig mehr einfügen. Ihr lebt nicht allein, ihr müßt es annehmen, ob ihr wollt oder nicht.‹« (S. 210) Henriette zeigt allerdings nun ihrerseits die Grenze ihrer sozialistischen Heroik, als sie darauf erwidert: »›Das ist mir zu heroisch! Ich will meinen Christoph heiraten, es geht doch nichts dabei kaputt, wenn er weiter fliegen darf.‹« (ebd.) Otto für sich allein, im siebenten Kapitel (vgl. S. 213-228) kommt auch zu der Erkenntnis, dass Christoph und Henriette »sich ganz dieser, ihrer Wirklichkeit stellen und von einem großen Vertrauen erfüllt sind.« (S. 215) Die Härte der ›Bestimmung‹ sieht er jetzt noch deutlicher durch die Verbrechen seines Sohnes bedingt und daher als einen alttestamentarischen »Anachronismus« (S. 216), mit dem eine an sich gute Ordnung Unschuldige bestrafe (vgl. ebd.). Otto fühlt sich daher »aufgerufen« (ebd.), etwas zu tun, und sucht Henriette endlich mit Helmuts Kriegstagebuch auf, um ihr die ganze Dimension des Problems deutlich zu machen (vgl. S. 221f.) Folge ist gemäß dem achten Kapitel, aus Christophs Perspektive (vgl. S. 229-238), dass sie das Tagebuch sogleich an Christoph weiterschickt, in dem sie »›solche Schandtaten‹« (S. 229) gefunden hat, dass sie dem Vater in einem weiteren Brief bereits erklärt hat, er sei fortan »›für uns Feind‹« (S. 230) Christoph pflichtet dem bei (vgl. S. 231). Erscheinen die beiden so durch Otto einerseits etwas sensibilisierter für relevante Hintergründe der ›Bestimmung‹, beharrt Christoph andererseits doch weiter auf seinem Vertrauensargument und setzt darauf, dass der Kommandeur den übergeordneten General anruft (vgl. S. 231f.). Im Sinne der avisierten neuen Hoffnung durch den Mauerbau lässt ihn der Kommandeur zunächst auch wieder fliegen und fordert ihn im Sinne eines Wartestandes auf, er solle sich »Henriette warmhalten« (S. 238). Das neunte und letzte Kapitel, aus Ottos Perspektive (vgl. S. 239-250), zeigt den Althelden zum einen entlastet, weil er mit seinem Wissen um das Kriegstagebuch nicht mehr allein dasteht (vgl. S. 239), und zum anderen fühlt er sich über den schön entwickelten Kontakt zu Karl Müritz und der Fischereigenossenschaft (vgl. S. 239f.) wieder gut mit der sozialistischen Gemeinschaft verbunden. Dazu trägt schließlich auch ein überraschender Besuch von Christophs überaus freundlichem General in Wittikow bei (vgl. S. 241-250), der sich erst einmal allgemein mit ihm über den neuen sozialistischen Gemeinschaftsgeist in der Armee unterhält und über die wechselseitige Anerkennung von Soldaten und Vorgesetzten (vgl. S. 244f.). Aber gekommen ist der General natürlich wegen Christoph

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und Henriette, und das mit einer hoffnungmachenden Absicht in der Linie des zuvor Ausgeführten: »›Wir wollen nicht die Fehler wiederholen, die die Geschichte Deutschlands kennzeichnen. Deshalb bin ich hier. Ich kümmere mich um das Detail [statt pflichtgemäß vor allem um das große Ganze, S.E.] immer dann, wenn ich dahinter größere Zusammenhänge vermute.‹« (S. 247)

Otto nennt die Behandlung von Enkelin und Geliebtem mutig sogleich »Unrecht« (ebd.) und sieht den General als »Deus ex machina« (S. 248). Das findet dieser allerdings zu hoch gegriffen, zumal er sich zunächst vornehmlich informieren wolle, und das einerseits mit dem guten Willen, Junghelden wie Christoph und Henriette zu helfen (vgl. ebd.), andererseits deklariert er jedoch: »Ich halte Gesetze für notwendig zu unserem Schutz.« (S. 249) und mahnt die Gefahr eines Präzedenzfalles an. Der General will wiederkommen und dann auch mit Henriette reden. – Eine unmittelbare Entscheidung in die eine oder andere Richtung, sei es durch heroische Entsagung der Protagonisten, sei es durch einen sozialistischen Deus ex machina, gibt es also in diesem Ankunftsroman nicht mehr, aber eine Entwicklung, die eine fortschreitende Integration der Gemeinschaft aus Staat und Individuen zumindest in Aussicht stellt. In enger Koppelung bringt der Roman als Aspekte der mytho-sozialistischen Furcht den Faschismus alter und neuer Provenienz und den westlichen Kapitalismus auf, die zum einen durch den Staat DDR, seine Sozialistengemeinschaft und die dann errichtete Berliner Mauer auf Distanz zu halten und zum anderen durch den Junghelden Christoph berufsmäßig abzuwehren sind. Letzterer bringt anlässlich des furchtbedingten Heiratsverbots sodann die Frage des wechselseitigen Vertrauens von Staatsgemeinschaft und heroischem Individuum als transzendentale Bedingung der Furchtabwehr bzw. auch als Moment auf, das die Furcht basal verringern könnte: Das Heiratsverbot als Präventionsabwehr von Verrat würde sich entsprechend erledigen. Die beiden Furchtaspekte sowie die potenzielle dialektische Koppelung mit der Vertrauensfrage lassen sich in der Romanstruktur wie folgt besonders thematisiert finden. Der Aspekt des alten NS-Faschismus und möglicher Revivals in der Bundesrepublik wird als Erstes fokussiert, der Kapitalismus tritt dabei wie selbstverständlich hinzu. Ein erstes Mal ist dies besonders prägnant der Fall im sechsten Kapitel des ersten Teils (vgl. S. 50-63). Hier imaginiert Christoph vor dem ersten längeren Gespräch mit seinem Kommandeur bereits auf dem Weg zu diesem, worum es gehen könnte, nämlich zuerst um die Integrität von Henriette und ihre

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innere Distanz zum Vater. Christoph möchte dazu erklären: »Sie ist von ihm [Otto] erzogen worden gegen die Welt ihres Vaters [...]. Ihr Antifaschismus geht bis in die Wahl ihrer Worte.« (S. 51) Selbst einzelne Begriffe wie »schlagartig« würde sie als NS-Jargon vermeiden (vgl. S. 51f.), und: »Dies ist ihr Land, so wie es mein Land ist. [...] Henriette brachte [im Gespräch mit Christoph, S.E.] ein Beispiel, warum sie nie in Westdeutschland leben könnte.« (S. 52) Sie lehne die Ausbeutung der Arbeiter durch Unternehmer ab (S. 52) und: »Sie meint, der Egoismus macht die Menschen einsam. Der Westen ist eine Welt, auf Egoismus gegründet.« (S. 53) Wieder zurückgehend auf die Faschismusfrage ergänzt Christoph für Henriette: »Sie vermißt in Westdeutschland die ehrliche Abrechnung mit der Vergangenheit.« (S. 53) Sodann stellt sich Christoph mit Bezug auf die eigene Person vor, offensiv zu werden mit dem Argument: »Es gibt bestimmt triftige Gründe für die Bestimmung, aber sie treffen in meinem Fall nicht zu, Genosse Kommandeur. Entweder man hat Vertrauen zu mir oder man hat kein Vertrauen.« (ebd.) Als Entgegnung des Kommandeurs imaginiert er jedoch auch: »Hier geht es einfach darum, daß wir jeder, auch der geringsten Verbindung mit dem Feind vorbauen müssen ... Diese Bestimmung ist doch gewissermaßen in Bonn gemacht worden.« (S. 54) Christoph schließt seinen inneren Dialog zunächst mit der Anerkennung ab, dass der Kommandeur »uns allen überlegen, beim Fliegen, auf der Versammlung, im Gespräch« (S. 55) sei, also ein so großer ›Altheld‹, dass man seine Befürchtungen nicht einfach vom Tisch wischen kann. Das reale Gespräch zeigt den Kommandeur dann gewissermaßen noch geschickter in der ›Vorneverteidigung‹ der Furcht und möglicher Anfechtungen durch einen in der Furchtabwehr für den einzelnen ›Helden‹ harten Sozialismus: Er erzählt ausführlich von seinem harten Schicksal als Kind, das im zweiten Weltkrieg früh den großen Bruder verloren hat, der als Soldat fiel (vgl. 57) und dessen Vater in der Berliner Heimat von Nazis zu Tode geprügelt worden ist (S. 57f.). Zwischenzeitlich sei er auch »krank am Sozialismus« geworden, aber »auch wieder [an ihm] gesundet« (S. 59), als er in der Sowjetunion sehr entbehrungsreich zum Flieger ausgebildet worden ist. Er habe aber eben eingesehen: Die erlebte Härte machte widerstandsfähiger gegen den »Feind, dem wir eventuell einmal gegenüberstehen würden« (S. 60). Zu alledem gesellt sich dann eine Kindheitserinnerung Christophs an einen noch 1945 als Deserteur aufgeknüpften Soldaten, den sich die Schulkinder zur Belehrung ansehen sollten (vgl. S. 62). Die vorab imaginierte Argumentation zur Verringerung der Furcht wagt Christoph schließlich noch gar nicht vorzustellen. Gegen Ende des ersten Teils, als Christoph sich mit Henriette die Auszeit im Spreewald nimmt, denkt Christoph dann auch noch an die schweren Kriegserlebnisse des eigenen Vaters zurück, und er bemerkt im Sinne des Kommandeurs: »Und drüben marschieren sie schon

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wieder, es sind nicht mehr nur Alte, es sind auch welche nachgewachsen. [...] Tatsächlich, man denkt gar nicht, daß im alten Geist junge Menschen denken. Bei uns? Keine Frage. Wir haben die Zeit genutzt.« (S. 144) Die FaschismusFurcht erscheint also sehr berechtigt, nur dass Christoph meint, dass in der DDR nun doch andere Verhältnisse herrschten (die implizit wohl wieder für sein Vertrauensargument sprechen). Im zweiten Teil ist es zuerst Otto, dessen Reflexionen etwa im ersten Kapitel (vgl. S. 151-170) ihn immer wieder auf die faschistischen Gräuel der NS-Zeit und seinen Sohn und sich in diesem Kontext zurückführen, aber auch die fortwährende Gefahr thematisieren, die die aktuelle Geisteshaltung des Westens mit sich bringe. Er konstatiert zunächst: »[E]s bleibt ein Rest Schuld meines Sohnes an mir haften, ich bin gar zu leichtsinnig dem Rattenfänger vom Inn aufgesessen, ob ich nun besonders aktiv gewesen bin oder nicht.« Konzedieren muss er zudem: »[M]an hat mich doch auch erst zwingen müssen, mich intensiv wieder der humanistischen Tradition zuzuwenden« (S. 152). Als Henriette ›vollkommen glücklich‹ mit dem Antwortbrief des Vaters ist, der ihr ›in Liebe‹ nicht mehr schreiben wolle, findet Otto wie gesagt den Brief nur rhetorisch ›gelungen‹, denkt aber – noch ganz im Stillen – auch wieder an »einige der schrecklichen Sätze« (S. 158) im erwähnten Kriegstagebuch. Und zwar berichtete der Sohn stolz von seinen mörderisch-menschenverachtenden Flugeinsätzen und dann auch von der Aufnahme eines »›Judenbengel[s]‹« namens Stanislaus als Geschwader-Maskottchen: »›[A]ndere haben ein Schaf, einen Affen oder einen Hund. Wir haben eine Laus!‹« (S. 158) Auch wenn er Henriette dies alles noch nicht offenbaren mag, warnt er sie orakelhaft, besser nie zu meinen, »vollkommen glücklich zu sein« (S. 159). Schließlich bewertet er den aktuellen Brief des Vaters implizit als typisch antisozialistisch: »›Was dein Vater hier tut, mit diesen Zeilen, das tut der Westen Deutschland gegenüber seit Jahren. Er behandelt alle unsere Probleme in der Sphäre des Privaten. (S. 159) Als Henriette das Kriegstagebuch erhalten und es Christoph weitergegeben hat, erreicht Otto mit dieser präzisen Auskunft über die einstige und eventuell nie aufgegebene Haltung des Sohnes Helmut schließlich auch die gewünschte Furcht-Einsicht, denn sie berichtet Christoph wie ausgeführt von einem weiteren Brief an den Vater, in dem sie diesen nun zum »Feind« (S. 230) erklärt hat, und Christoph versichert ihr, er würde »auf ihn schießen, falls er und seinesgleichen unser Land überfallen«. (S. 231) Eine zumindest wachsende Rolle für die Furcht- bzw. Gefahrenabwehr (und eine mögliche Vertrauenssteigerung) spielt sodann im zweiten Teil der Mauerbau. Dieser wird zuerst von Otto bewertet (vgl. Kap. II, S. 171-178), als er Henriette informiert: »›Westberlin ist abgetrennt von uns. Es kann keiner mehr weg-

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laufen. Man hat eine Mauer gezogen.‹« (S. 175) Henriette denkt dazu ›gut sozialistisch‹: »Das wurde endlich Zeit! Das hätten wir schon vor fünf Jahren machen sollen.« (S. 176) Im dritten Kapitel (vgl. S. 179-189) wird diese spontane Bewertung ergänzt durch Christophs Kommandeur, der seinerseits Christoph und seine Kameraden informiert: »›Wir haben gegenüber Westberlin einen antifaschistischen Schutzwall errichtet. Deshalb der Alarm.‹« (S. 185) Christoph, aus dessen Perspektive hier erzählt wird, führt dazu aus: »Ich kann mir schlecht etwas darunter vorstellen; und ich sage das. Der Kommandeur lächelt. ›Ein etwas überhöhter, aber richtiger Begriff. Im übrigen höchst einfach. Wir haben Westberlin durch eine Mauer von unserem Staat abgetrennt. Jetzt können wir endlich in Ruhe unsere Pläne verwirklichen.‹ «(Ebd.)

Christoph heißt die Maßnahme dann auch explizit gut mit dem ›stolzen‹ Blickwinkel: »Wir sind endlich stark genug, uns abzuriegeln«. (S. 186) Freilich sieht er auch »Härten« für die Berliner, um derentwillen aber »das Gute und Nützliche [nicht] unterlassen« werden sollte. Außerdem habe wiederum der Westen auch dies »herausgefordert« (ebd.). Genau in diesem Kontext berichtet Christoph Henriette aber auch von seinem kürzlich abgefassten Brief an die Partei, in dem er postuliert, ihrer beider Heirat könne kein »Verrat« (S. 188) sein, zumal er aus einem umfassenden sozialistischen Gemeinschaftsgefühl heraus niemals an Flucht denken würde (vgl. S. 188f.). Diese Versicherung und die von Christophs Vorgesetzten gesehene Sicherung der Staatssituation durch den ›Schutzwall‹ führen wohl schließlich auch zu dem Willen von Kommandeur und General, die Junghelden Christoph und Henriette noch näher kennen lernen zu wollen, um ihnen das gewünschte Vertrauen entgegenzubringen und damit wohl auch irgendwann das Eheverbot aufzuheben (vgl. S. 250/Romanschluss). – Es zeigt sich an diesem Beispiel aus der Ankunftphase der DDR-Literatur somit auch eine zunehmend differenziertere Diskussion der Frage, was das Staatskollektiv von seinen zum Heroismus durchaus gewillten Mitgliedern verlangen kann bzw. welche individuellen Präsuppositionen einzubeziehen sind, wenn die Furchtabwehr gelingen soll oder auf bestimmten Ebenen schon gar nicht mehr nötig erscheint. Denn dann könnte man gemeinschaftlich schon weiter gekommen sein, als dass man noch in Grundbefürchtungen befangen bleiben müsste.

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N EUE H ELDEN BRAUCHT BRAUCHT Z EIT « (1965)

DAS

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L AND : »D ER F RÜHLING

Der von dem bedeutenden DEFA-Regisseur Günter Stahnke noch kurz vor dem ›Kahlschlagplenum‹ zur Premiere geführte Film, nach einem Drehbuch von ihm selbst, Hermann O. Lauterbach und Konrad Schwalbe19, war vermutlich als ganz staatstragend gemeinter Problembeitrag gedreht worden: Denn, wie etwa Wolfgang Gersch ausführt, er »entstand nach Materialien der Parteikontrollkommission, die einen verwickelten Fall von bloß formaler Planerfüllung sowie von perfidem Karrierismus aufgedeckt hatte.«20 Am Ende steht im Film dann zwar nicht die große Kontrollkommission, aber – was vielleicht sogar als Selbstreinigungsmechanismus hätte goutiert werden können –, das Eingreifen eines alterfahrenen Parteifunktionärs in der Betriebsdirektion, der im Verein mit anderen Gutwilligen für eine Wiederherstellung gerechter Verhältnisse sorgt. Er rettet dadurch in Sonderheit nicht nur den sozialistischen Betrieb, sondern auch die BeinaheBauernopfer resp. humanen Kollateralschäden und sichert die ideologische Grundhoffnung, dass es im Realsozialismus am Ende nicht anders als gut laufen kann. Gedreht worden ist der Film vor allem in einer Schwarz-Weiß-Optik, die wie zuvor BERLIN, ECKE SCHÖNHAUSER oder (ebenfalls 1965 entstanden und kassiert) JAHRGANG 194521 in der dokumentarischen Manier an den italienischen Neorealismus erinnert, wobei als Besonderheit von DER FRÜHLING BRAUCHT ZEIT bezüglich der überwiegend leeren und weißen Innenräume eine hoch moderne theatrale Gestaltung auffällt. Verglichen worden ist die Ästhetik des Films mit vorangegangenen Werken etwa von Michelangelo Antonioni.22 Der berüchtigte ›Formalismus-Vorwurf‹ der sozialistisch-realistischen Hardliner war deshalb auch ein Grund für die baldige Verbannung des Films ins Archiv, die ansonsten durch die kritische Darstellung von Ende 1965 nicht mehr erwünschten zwiespältigen Realitäten und in Sonderheit der so genannten mittleren Planer-

19 Für Grundinformationen zum Film und seinen Mitwirkenden vgl. Der geteilte Himmel [2001]. Bd. 1, S. 221f. Zitate und Verweise auf den Film im Folgenden mit einfachen Zeitangaben in Klammern im Haupttext. Als Referenzedition mit einem informativen neueren Interview mit dem Regisseur vgl. VERBOTEN 2015. Archiv-Nr. 2. 20 Gersch 2006, S. 110. 21 Vgl. VERBOTEN 2015. Archiv-Nr. 5. 22 Vgl. erneut Der geteilte Himmel [2001]. Bd. 1, S. 222.

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und-Leiter-Kaderebene, also der gerade erst neu ausgerufenen ›fortgeschrittenen‹ Heldennarrativ-Vertreter, verursacht worden ist.23 Für einen hier ausreichenden chronologischen Überblick (der Film hat außer einer rätselhaft-spannungsvollen Prolepse auf den absoluten Tiefpunkt für den Protagonisten [vgl. Min. 1 bis 13, siehe dann wieder Min. 56] eine strikt lineare Erzählweise) und mit einem starken Fokus auf die Hauptkontrahenten ist zusammenzufassen: Der redliche Ingenieur Heinz Solter, gespielt von Eberhard Mellies, will eine neue große Gasleitung nicht freigeben, wird jedoch von Hauptabteilungsleiter Schellhorn dazu gedrängt, weil dieser und hinter ihm Betriebsdirektor Eberhard Faber mit der innovativen Gasleitung im sozialistischen Wettbewerb punkten und auf ihre eigene Eignung für höhere Aufgaben aufmerksam machen wollen (vgl. Min. 13f.). Letztere Doppelmotivation offenbart sich jedoch nur peu à peu, als die Gasleitung im Winter eingefroren ist und nur aufwändig und bei noch ausstehender teurer Überarbeitung wieder in Betrieb gesetzt werden kann (vgl. Min. 15 bis 24). Faber versucht die wahre Schuld dann zuerst zu verschleiern, indem er den Solter zugeordneten Meister Wiesen zum Sündenbock machen will, und dafür verlangt er von dem bereits empörten Solter einen Schadensbericht (vgl. Min. 26 bis 32). Der fällt jedoch aufgrund von Hintergrundrecherchen Solters so massiv zulasten der Betriebsdirektion aus, dass nun Solter selbst von Faber inkriminiert, fristlos entlassen und dann sogar auf Anzeige Fabers verhaftet wird (vgl. Min. 36 bis 50, an diesem Punkt ist also die Prolepse aufgelöst). Wenn man im Sinne des sozialistischen Heldennarrativs von einer vorbildlichen Heldenleistung sprechen möchte, ließe sich dieser mutig erstellte und eingebrachte Bericht als eine solche bezeichnen sowie das Ertragen seiner Wirkung (und noch weitere Recherchen Solters zur Ermittlung der Hintergründe des ambitiösen Gasleitungsprojekts). Für die weitere Aufklärung unter dem dazugesetzten ›beliebten‹ Verdacht, hier habe womöglich sogar antisozialistische Sabotage stattgefunden, muss nun qua Amt der strenge, aber auch sehr wohlwollende Staatsanwalt Burger sorgen (in der Prolepse bereits eingeführt, vgl. Min. 7 bis 12, nun Min. 55 wieder). Der beißt bei dem redlichen, aber nach außen immer noch gegenüber seiner Direktion loyalen Solter zunächst auf Granit (vgl. Min. 56 bis 60), aber eine Gegenüberstellung Solters mit der Betriebsdirektion bringt für Burger alsbald mehr Licht ins Dunkel: Denn zum einen hat der alterfahrene Kommunist und frische

23 Vgl. etwa Knietzsch 1965, d.h. die Besprechung eines besonders einflussreichen linientreuen Kritikers im »Neuen Deutschland« am Tag vor der Premiere. Für aufschlussreiche Erläuterungen zur Entstehung, Kritik und Absetzung des Films vgl. das 2014 erfolgte Interview mit dem Regisseur in: VERBOTEN 2015. Archiv-Nr. 2.

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Betriebsgruppenleiter (= oberster Parteifunktionär und Personalchef des Betriebs) Kuhlmey bereits geahnt, dass die Schuld nicht bei Solter liegt und Faber entsprechend zugesetzt, zum anderen kann Burger noch eine Faber und Schellhorn stark belastende und Solter mehr als entlastende Aussage des erkrankten technischen Direktors Dr. Kranz beibringen (vgl. Min. 61 bis 66). Kuhlmey verlangt daraufhin die sofortige Wiedereinstellung Solters, nun sogar als Vertretung für Kranz, und als Faber sich einem entsprechenden Mehrheitsbeschluss des Direktoriums widersetzt, bleibt Letzterem nichts anderes, als seinen Hut zu nehmen. Burger fährt einen sich langsam entspannenden und aufheiternden Solter schließlich noch durch eine Stadt heim, die mit ihrem Sonnenschein und den fast sommerlich gekleideten Menschen sozusagen signalisiert: ›Jetzt ist der Frühling endlich da‹ (vgl. Min. 71 bis 73). In Nebenlinien der Haupthandlung begegnen die Familien von Solter und Faber, die unter dem Konflikt mit zu leiden bzw. sich zu positionieren haben: Solters Frau Ruth, Hausfrau, ist zwischenzeitlich auch gegen ihren Mann aufgebracht, weil sie bei ihm eine nur zum eigenen Schaden gereichende Prinzipientreue sieht (vgl. vor allem in der proleptischen hervorgehobenen Zeit der Entlassung und kurz vor der Verhaftung Solters). Solters Tochter Inge ist über weite Strecken im Film heimlich mit dem Jungkarrieristen Jensen liiert, der unter Faber aufsteigen möchte und dafür zu Inges Verzweiflung sogar einen weiteren Schadensbericht in Sachen Gasleitung schreibt, mit dem Faber alleinig Solter als Schuldigen dingfest machen will (vgl. insbesondere ihren Streit deshalb, Min. 51 bis 54). Inge lernt zudem als Schülerin einer Erzieherinnenschule unter der Leitung just von Fabers Ehefrau, die schon länger die Karrierefixierung ihres Mannes beklagt (vgl. Min. 33 bis 35). Sie hat daher sogar selbst mit dem ihr anscheinend bekannten Staatsanwalt Burger Kontakt aufgenommen (vgl. Min. 11), um zu erfahren, warum ihre sozialistische Musterschülerin Inge entmutigt ihre ganze Ausbildung aufgeben will, als ihr Vater gerade verhaftet worden war (vgl. Min. 9f., als Teil der Prolepse). Was die hier begegnende Heldentypik betrifft, wirkt es auf den ersten Blick so, wie bereits einleitend zu diesem Film im Rahmen der Ankunftphase skizziert (vgl. S. 59), als ob der Protagonist so gar nicht zum aktivistischen positiven Helden tauge, weil er lediglich als eine Art Verhinderer erscheint, wenn auch aus guter Absicht. Die Redlichkeit, über geraume Zeit auch noch Loyalität mit der zwiespältigen Direktion und seine Duldensfähigkeit im Ganzen lassen ihn jedoch zu einer Art Helden der Selbstverteidigung und zugleich der Verteidigung ›wahrer Werte‹ werden. Seine Heroik wird dahingehend zum Ende des Films auf den Punkt gebracht, indem er gegenüber Staatsanwalt und Direktion über das »Gewissen des Ingenieurs« (Min. 67) räsonieren darf. Dieses Ethos des verantwort-

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lich arbeitenden Fachexperten – so gewissermaßen die neue ideologische Botschaft – bringt letztlich ein größeres sozialistisches Verantwortungsgefühl mit sich als die Erfolgsorientierung des scheinbar gut sozialistischen Direktors Faber, des großen ›Planers und Leiters‹. Der Film bedeutet insofern ein Plädoyer für die Würdigung von Sachverstand gegenüber einem nur oberflächlich kollektivorientierten Fortschrittseifer, der sich im Ergebnis des Films zum einen volkswirtschaftlich vor allem als schädlich herausstellt und der zum anderen nach expliziten Aussagen Fabers zumal dem weiteren persönlichen Fortkommen dient.24 Dass bei alledem der ›wahre Held‹ auch noch einer ohne das wesentliche Parteibuch und ohne das zeitgenössisch erwartete zusätzliche gesellschaftliche Engagement ist, lässt den Film beinahe bei einer Forcierung des genannten Plädoyers, sprich: Das sozialistische Heldennarrativ hat sich womöglich mit ›neuen Helden‹ für das Land zu erfüllen, die gerade nicht mehr eingefleischte Kommunisten sein müssen, sondern aus ihrem Berufsethos heraus viel besser das Richtige für den Staatssozialismus zu tun in der Lage sind. Dies erscheint aber nur ›beinahe‹ so, denn nicht zu vergessen ist ja der besonnene Altkommunist Kuhlmey, der als in der erzählten Zeit noch recht neu höchster Parteisekretär im Betrieb auch nahezu heroisch gegenüber dem Direktionschef Faber seine Aufgabe erfüllt, ein kleiner Deus ex machina zu sein. Zwei Aspekte von mytho-sozialistischer Furcht sind es, die in diesem Film vornehmlich begegnen: der alte NS-Faschismus, inklusive befürchteter Illoyalität bei ehemaligen Nazis bis hin zur antisozialistischen Sabotage, und eine in dieser Zeit neu thematisierte Bedrohung durch sozialistische Karrieristen, deren scheinbar fortschrittliches Wirken auf einem Egoismus basiert, der als kapitalistischer Backlash oder eine Art Re-Entry von schädlicher ›Entfremdung‹ von der Gemeinschaftsarbeit erscheint. Die erste Furcht wird im Film bereits in der Prolepse mit Solter in Verbindung gebracht, um späterhin zu zeigen, wie perfide Faber sie gegen den unliebsamen Redlichen zu nutzen versteht. Und zwar rekapituliert Staatsanwalt Burger im ersten Gespräch mit Solter dessen Lebenslauf mit Stationen bzw. Signifikanten, die ihn in den Augen der Staatsnorm per se schon einmal weniger vertrauenswürdig machen: Er ist noch 1942 Kriegsfreiwilliger geworden (bei einer Jetztzeit im Film etwa 1963 war der nun 39-Jährige damals aber auch gerade einmal 18 Jahre alt!), wurde sogar noch Leutnant zur See, kam dann kurze Zeit

24 Siehe etwa Faber gegenüber seiner Frau im vertraulichen Gespräch, als er seine Hoffnung auf den nächst höheren Posten offenbart, vgl. Min. 34.

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in Gefangenschaft und hat sich in der DDR vom Arbeiter 1948 zum Ingenieur emporgebildet; er ist sozusagen nur auf schmalster Basis gesellschaftlich eingebunden, indem er einer berufsbezogenen Sektion des FDGB angehört (vgl. Min. 7f.). Solter bestätigt alles dies leicht widerwillig (vgl. Min. 9), und drückt so eventuell eine innere Reserve aus (dies wäre die Vermutung im Sinne der spannungserzeugenden Prolepse) oder auch nur eine Zerknirschtheit, weil er sich noch nicht weiter entwickelt hat (diese wohlwollende Betrachtungsweise legt der Schluss des Films nahe). Wieder aufgerufen wird der Verdacht einer Parteilosigkeit aus schlechten Gründen oder sogar fortbestehender NS-Gesittung dann von Faber, um Solter als neu ausgerufenen Sündenbock noch fundamentaler zu diffamieren. Dabei spielt ein einmaliger, für die Zuschauer gut nachvollziehbarer Zornesausbruch Solters Faber in die Hände: Als Schellhorn versucht, Solter sehr provokant und aggressiv in die Enge zu treiben, verweist Solter ihn zunächst kühl-scharf seines Büros, und als das nichts fruchtet, stößt er Schellhorn durch die Glastür nach draußen (vgl. Min. 44f.). Schellhorn wird dadurch wohl nicht ernsthaft verletzt, Faber jedoch nutzt den Vorgang zu einem gut berechneten Ausruf vor Teilen der Betriebsleitung: »Der Herr Marineleutnant a.D., wie er es bei den Nazis gelernt hat« (Min. 45), und er ›folgert‹ sogleich weiter, dass jemand wie Solter wohl nicht zufällig einen Schaden für den Betrieb verursacht habe, sondern »desorganisieren« (ebd.) wolle – eine Unterstellung, die Betriebsgruppenleiter Kuhlmey zurückweist, die Faber aber sofort zum Anlass nimmt, den herbeizitierten Solter – ohne das nötige Einverständnis des BGL, wie Solter erfragt – fristlos zu kündigen (vgl. Min. 46). Handelt es sich bei dieser ersten Furcht offensichtlich um eine im konkreten Fall, womöglich aber auch für die Jetztzeit des Films nicht mehr begründet wirkende, so scheint die mit Personen des Typs Faber verbundene neue Furcht, es könnten quasi-kapitalistische Manager unter dem Deckmantel eines besonders modernen Heroismus vielmehr egoistische Antihelden sein, hier umso ernster zu nehmen zu sein. Nicht zuletzt deshalb könnte, wie eingangs ausgeführt, die Staats(partei)führung 1963/65 ja auch zunächst genuin daran interessiert gewesen sein, eine solche unerwartete Gefahr massenwirksam in filmischer Fiktion diskutieren zu lassen. Eine solche selbstreflexive Heldennarrativ-Variante war den Hardlinern um Honecker spätestens im Herbst 1965 jedoch anscheinend nicht mehr geheuer, und so war unter anderem für einen so differenzierten Beitrag zur sozialistischen Mytho-Logik der Furcht – mutatis mutandis vergleichbar

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dem zeitgleich produzierten und ganz besonders inkriminierten DEFA-Spielfilm DAS KANINCHEN BIN ICH – fortan kein Raum mehr in der DDR-Öffentlichkeit.25

D IE M YTHO -L OGIK NACH 1965

DER

F URCHT

UND IHRER

A BWEHR

Abschließend kann mit Bezug nicht nur auf DER FRÜHLING BRAUCHT ZEIT allerdings auch gefragt werden: Haben die vorgestellten, ohne Frage sozialistisch gemeinten Kunstwerke im Zuge ihrer teils Individuum-bezogen, teils systemisch differenzierenden Variantenbildung eigentlich noch zur Stabilisierung des ›Kunstmythos‹ beigetragen? Oder hat die nach Blumenberg unabdingbare Variantenbildung hier nicht zugleich eine Destabilisierung befördert, und zwar grob gesagt, weil die Varianten in zunehmendem Maße nicht-marginal bzw. Kernkonform genug gewesen sind? Eine erste Antwort kann dahingehend gegeben werden, dass die Weiterentwicklungen des sozialistischen Heldennarrativs in diese Richtungen sicherlich ex post als potenziell recht heikel angesehen werden können. Wesentlich für die Heldennarrativ-Destabilisierung in Kunst und Gesellschaft waren freilich weniger solche Filme und Romane selbst als vielmehr deren weitgehende Verhinderung seit dem ›Kahlschlagplenum‹ vom Dezember 1965. Denn sobald gar nicht mehr zeitgemäß variiert werden durfte, erstarrte das Heldennarrativ zum Museumsstück, sei es durch die Hardliner-genehme Repetition veralteter Varianten, sei es durch das schlichte Ausbleiben produktiv gegenwartsbezogener sozialistisch-realistischer Kunstwerke, weil die Künstlerinnen und Künstler den weiteren Konflikt meiden wollten. Das sozialistische Heldennarrativ konnte – wie die weitere Entwicklung der DDR zeigte – für das kollektive Gedächtnis und damit auch für das zukunftsorientierte Selbstbild der Gesellschaft keinen breitenwirksamen Orientierungswert behalten und wurde zur sozialistischen Mär, der eine zunehmend anders geartete Realität gegenüberstand.26

25 Vgl. zur anprangernden Vorführung des zuletzt genannten Films am ersten Abend des ›Kahlschlagplenums‹ (14.12.1965) etwa die Ablaufdokumentation in Agde 2000, S. 195. 26 Dies soll wohlgemerkt nicht heißen, dass mehr Liberalität seitens der Ideologen ein auch den ganzen Staat DDR stabilisierendes Heldennarrativ hätte fortentstehen lassen, dafür waren die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Defizite viel zu bedeutend, aber eine differenzierte sozialistische Selbstreflexion wäre immerhin möglich gewesen.

Sozialistische Mytho-Logik (II) Naturalisierung

›Bürgerliche‹ und ›linke‹ Mytho-Logik nach Roland Barthes

Im Vergleich mit Blumenbergs Arbeit am Mythos diskursiv noch erfolgreicher war zuvor bereits Roland Barthes’ frühes Grundlagenwerk Mythologies (Paris 1957), das zugleich Barthes im Übergang zum Strukturalismus zeigte. Es lag auf Deutsch lange Zeit nur in einer (freilich ihrerseits sehr wirkmächtigen) Auswahlausgabe vor, die eine reduzierte Zahl an Fallanalysen bot, und zwar unter dem hierzulande rasch als Begriff etablierten Titel Mythen des Alltags (1964).1 Eine deutsche Komplettübersetzung unter demselben Titel und unter Einschluss des zweiten Vorworts von 1970 ist vor einigen Jahren erst entstanden und wird im Folgenden zugrunde gelegt.2 Im aufschlussreichen zweiten Vorwort bringt Barthes das Vorhaben seiner Mythenforschung wie folgt auf den Punkt: »[Das Werk] verfolgt zwei Ziele: einerseits das einer Ideologiekritik, die sich auf die Sprache der sogenannten Massenkultur richtet; andererseits das einer ersten semiologischen Demontage dieser Sprache. Ich hatte gerade de Saussure gelesen und daraus die Überzeugung gewonnen, man könne, wenn man die ›kollektiven Vorstellungen‹ als Zeichensysteme behandelt, darauf hoffen, vom biederen Anprangern loszukommen und en détail die Mystifikation deutlich zu machen, die die kleinbürgerliche Kultur in universelle Natur verwandelt.«3

1

Vgl. Barthes 1964.

2

Vgl. Barthes 2010 [a]. Ergänzend interessant ist aufgrund ihrer buchstäblichen Anschaulichkeit mit Bezug auf die abgebildeten Objekte von Barthes’ Analysen die französische Neuausgabe Barthes 2010 [b].

3

Barthes 2010 [a], S. 9.

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Im Sinne des ersten Ziels entfaltet Barthes in den zahlreichen kleinen Essays des Großkapitels »Mythologien«4 zunächst ein großes Spektrum von in Frankreich bzw. dem westeuropäisch-amerikanischen Raum zu findenden Massenkulturerscheinungen (aktuelle öffentliche Ereignisse und Moden, Gewohnheiten oder auch Ikonisierungen) und wie sie in den Medien bildlich und natürlich vor allem sprachlich repräsentiert werden. An diesen Erscheinungen bzw. Repräsentationen betreibt er sodann eine jeweils konkrete Kritik der durch sie subkutan erfolgenden Selbst-Naturalisierung der dahinter stehenden Ideologie – oder mit einer prägnanten Parenthese des zweiten Vorworts: »[des] Hauptfeind[s], der bürgerlichen Norm«.5 Barthes will also Sprachhandlungen der zeitgenössischen (sc. vornehmlich französischen, aber auch der einflussreichen US-amerikanischen) Medien und der von Ihnen erzeugten Öffentlichkeit beschreiben und geht dabei davon aus, dass die von ihm entdeckten ›Mythen des Alltags‹ Ausweis eines – erkennbar nach Marx analysierten6 – kapitalistischen und in Teilen noch imperialistischen Bürgertums sind. Wie subtil dieses Bürgertum seine Weltsicht propagiert, zeigt Barthes etwa mit dem hier besonders interessierenden Kurzessay »Ein sympathischer Arbeiter«7, in dem er sich Elia Kazans US-Spielfilm ON THE WATERFRONT (frz. SUR LE QUAIS, dt. DIE FAUST IM NACKEN) von 1954 vornimmt. Der Film zeigt den Weg einer Art Arbeiterheld, gespielt von Marlon Brando, in der Auseinandersetzung mit einer korrupten und verbrecherischen Gewerkschaft, deren Treiben er am Ende mit Unterstützung des Firmenchefs sowie eines Priesters Einhalt gebieten kann. Barthes kommentiert diese Handlung prägnant: »[Es] hat sich mancher gefragt, ob wir es hier nicht mit einem mutigen ›linken‹ Film zu tun haben, der dem amerikanischen Publikum die Probleme der Arbeiterschaft vor Augen führen soll. In Wirklichkeit wird uns wieder einmal jenes Wahrheitsserum verabreicht, dessen hochmoderne Wirkungsweise ich schon an anderen amerikanischen Filmen nachgewiesen habe: Man projiziert die Ausbeutungsfunktion des Großunternehmers auf eine

4

Vgl. ebd., S. 13-247. Entstanden sind die Essays Mitte der 1950er Jahre für die Zeitschrift »Lettres Nouvelles«, in der sie in einer fortlaufenden Rubrik »Petites mythologies du mois« abgedruckt wurden, vgl. Detken 2003, S. 89.

5

Ebd.

6

Vgl. bereits Striedter 1971, S. 430f. oder umfassend Brune 2003, S. 89.

7

Vgl. Barthes 2010 [a], S. 86-88. Im frz. Original gleichlautender Titel »Un ouvrier sympathique«, vgl. Barthes 2010 [b], S. 92f.

›B ÜRGERLICHE ‹ UND › LINKE ‹ M YTHO -L OGIK

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kleine Gruppe von Gangstern [hier bezeichnenderweise: die Gewerkschaft] und lenkt mit dem Eingeständnis dieses kleinen Makels [...] vom eigentlichen Übel ab.«8

Mit Blick auf die psychische Entwicklung des Arbeiterhelden von einem gleichgültigen Haudegen zu einem kämpferischen Klassenvertreter stellt Barthes zudem fest, dass diese Entwicklung vor allem »zur duldsamen Anerkennung der ewigen Herrschaft des Unternehmertums [führe]«9, und da die Sympathielenkung im Film eindeutig in Richtung auf diesen Helden geht, werde dessen innerer Wandel unter der Hand zu einer vorbildlichen Einsicht im Sinne des ›kapitalistischen Bürgertums‹. Als theoretisches Fundament solcher Analysen präsentiert Barthes in dem nachgestellten Kapitel »Der Mythos heute«10 über die marxistische Grundperspektive hinaus eine eigene Mytho-Logik, die er – wie einführend benannt – auf der Basis eines strukturalistischen Grundmodells entwickelt. Ausgehend von de Saussures Zeichenbegriff (sc. Signifikant/Signifikat) und der ergänzenden Unterscheidung von Denotation und Konnotation sieht Barthes die mythische »Rede«11 (sc. nach de Saussures ›parole‹) als ein parasitäres »semiologisches System«12 an. Dieses System setze auf den Zeichen der allgemeinen Sprache (de Saussures ›langue‹) auf und mache sie unter der Hand noch einmal zu bloßen Signifikanten, die im Sinne der ›bürgerlichen‹ Ideologie mit neuen Signifikaten gekoppelt würden, um so die Zeichen des Mythos zu ergeben.13 Die solchermaßen erfolgende Konnotierung der allgemeinlexikalischen sprachlichen Zeichen werde jedoch so verwendet, als handele es sich um deren denotative Bedeutungen. Das mytho-logische System betreibt daher eine »Deformation« der Sprache zum Zwecke seiner Selbstsetzung.14 Gemessen an dem Essay »Ein sympathischer Arbeiter« ließe sich sagen: Die zeichenhafte Sympathetik des vom Film gezeigten Arbeiterhelden wird deformativ genutzt, um mit ihr ›sympathische‹ Einsichten zu koppeln, die der mythischen Bestätigung einer ›bürgerlichen‹ Ordnung dienen: Sympathisch gemacht wird ja nicht zuletzt die Einsicht des Proletariers in die Güte eines Unternehmers und eines Kirchenvertreters, die

8

Barthes 2010 [a], S. 86.

9

Ebd., S. 88.

10 Vgl., ebd., S. 249-316. 11 Ebd., S. 251. 12 Ebd., S. 253. 13 Vgl. in der bekannten graphischen Darstellung ebd., S. 259. 14 Vgl. ebd., S. 268.

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auch noch einher geht mit dem Bild einer scheinbar alleinig ausbeuterischen Gewerkschaft. Das dieses System nutzende Bürgertum versucht nach Barthes entsprechend allgemein, seine klassenspezifische bzw. soziologisch gesehen kontingente und keineswegs ›natürliche‹ Weltsicht mithilfe solcher Deformationen zu propagieren resp. subtiler: seine eigene »Antinatur«15 mithilfe mytho-logischer Strategien in allen denkbaren Hinsichten von Leben und Gesellschaft als überzeitlich, also doch ›natürlich‹, zu behaupten.16 Die bürgerlich-kapitalistischen Positionen sollen so zugleich »entpolitisiert«, das heißt: dem politischen Wertestreit entzogen und als »Pseudonatur« gesetzt werden.17 Dies ist für Barthes um 1955 bereits in so umfassender Weise geschehen, dass die Stabilität eines Blumenberg’schen ›Grundmythos‹ erreicht zu sein scheint. Im zweiten Vorwort von 1970 sieht Barthes dann zwar eine durch die 1968er Ereignisse veränderte Situation, also gewissermaßen eine Abschwächung der Allmacht dieser Mytho-Logik, er geht aber auch davon aus, dass nun gewissermaßen feinere Varianten derselben von einer weiterentwickelten Ideologiekritik zu entdecken sind.18 Die 1970 auch erfolgte allgemeine Abkehr Barthes’ von seiner frühen strukturalen Analyse, hin zu einem späteren Strukturalismus bzw. Poststrukturalismus, wäre hier ein weiterer Aspekt, der jedoch für die vorliegenden analytischen Interessen nicht weiter verfolgt werden muss.19 Eine Art zeitgenössischen ›Kunstmythos‹ kennt Barthes in Mythen des Alltags schließlich ebenfalls, kommt er doch in dem nachgestellten Theoriekapitel unter dem Kapitelteil-Titel »Der linke Mythos«20 auch auf Ansätze zur Mythenbildung in einer sich selbst als ›natürlich‹ setzenden »Linken« (hier pejorativ anstelle der »Revolution« der »produktiven Menschen«21) zu sprechen, und zwar namentlich mit Blick auf die Sowjetunion und den Stalinkult.22 Barthes sieht hinsichtlich der Überzeugungskraft ›linker Mythen‹ jedoch eine grundsätzliche Schwäche. Diese sei in einer »wesentliche[n] Armut«23 begründet, das heißt in

15 Ebd., S. 294. 16 Vgl. ebd., S. 294f. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. ebd., S. 9. 19 Vgl. jedoch etwa Brune 2003, S. 89 sowie mit Blick auf die öfters übersehenen Kontinuitäten bei dieser Entwicklung Stivale 2002. 20 Vgl. Barthes 2010[a], S. 299-303. 21 Ebd., S. 300. 22 Vgl. ebd., S. 301. 23 Ebd., S. 302.

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einer vergleichsweise wenig ausgebreiteten (oder mit Blumenberg: ›variierten‹24) mythischen Be-Deutung menschlicher Lebensbereiche. Barthes begründet diese Schwäche abschätzig, aber auch mit einem Quäntchen Anerkennung: »Ihm [dem linken Mythos] fehlt eine wichtige Fähigkeit, nämlich die Geschwätzigkeit. Was er auch tut, er behält etwas Steifes und Wörtliches, den Beigeschmack eines Schlagworts; man nennt ihn ausdrücklich trocken. In der Tat, was wäre dürrer als der Mythos von Stalin.«25

Bei aller Distanz zu Stalin und den östlichen Staatskommunisten hat der unorthodoxe Marxist26 Barthes jedoch auch eine gleichsam honorige Entschuldigung für diese mytho-logische Armut, denn: »[D]ie Linke definiert sich immer im Verhältnis zum Unterdrückten, zum Proletarier oder Kolonisierten. Nun kann aber die Rede des Unterdrückten nur arm, monoton, auf Unmittelbares bezogen sein: Seine Sprache bemißt sich an seinem Elend; er hat nur eine, die immer gleiche, die seiner Handlungen; die Metasprache ist ein Luxus, zu dem er noch keinen Zugang hat. [...] Diese wesentliche Armut bringt wenige, dürre Mythen hervor, entweder flüchtige oder plumpe.«27

Mit Blick auf den Stalinkult bis in die 1950er Jahre ist Barthes’ Einschätzung sicherlich nachvollziehbar, und der Marxist Barthes hatte vermutlich auch kein Interesse daran (oder keine Metaebene dafür), seine eigene sozialistische Perspektive als latent mytho-logisch zu ›entlarven‹.28 Betrachtet man jedoch das größere

24 Vgl. erneut Blumenberg 2006, S. 134-138. 25 Barthes 2010 [a], S. 302. 26 Zu Barthes’ Marxismus im Kontext des Frankreichs der 1950er Jahre vgl. prägnant erneut Stivale 2002. 27 Barthes 2010 [a], S. 302. 28 Für eine grundsätzliche Kritik von Barthes’ Mythentheorie als sozusagen ›auf dem linken Auge blind‹ vgl. Hübner 2013, S. 399-404; Hübner geht allerdings sogar so weit, Barthes’ Theorie als komplett nur mit »Pseudomythen« befasste abzulehnen, da sie moderne »Mythen des Alltags« nicht von »echten Mythen« unterscheide, welch Letztere Hübner in ihrer gewissermaßen langfristigeren ›volksethischen‹ Geltung qualitativ mit großem Nachdruck über Erstere stellt (vgl. ebd., S. 404-408). Blumenbergs eher nur auf die zeitbedingte Durchsetzungskraft abzielende Unterscheidung von ›Grundmythos‹ und ›Kunstmythos‹ erscheint hier weniger subjektiv wertend, wird jedoch von Hübner anscheinend schon nicht in Betracht gezogen, weil dieser Blumen-

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Feld sozialistisch-realistischer Kunst und Literatur und insbesondere die skizzierten Filiationen ihres Heldennarrativs29, erscheint die linke Ideologie eben zutiefst mythisch und auch keineswegs so ›arm‹. Über Barthes hinaus lässt sich daher behaupten, dass die sozialistische Ideologie, verstanden wohl auch eher als ein großes mytho-logisches Pendant zum ›bürgerlichen‹ Dispositiv, sich und damit ihre Mythen doch schon ein Stück mehr zu ›naturalisieren‹ verstand – wenn auch qua politisierendem Grundanspruch nicht so leicht entsprechend zu ›entpolitisieren‹ (aber auch dieses Bemühen ist festzustellen). Hier gilt es freilich zu unterscheiden zwischen der Situation in der sich am längsten etabliert habenden Sowjetunion, im Frankreich eines Roland Barthes’ und einer DDR, die aufgrund der Blockgrenzlage, dem für sie fatal engen Kontakt mit der ›bürgerlichen‹ Bundesrepublik, gewissermaßen beiden Ideologien ausgesetzt war und die sich für den hier interessierenden Zeitraum noch in einer recht jungen Phase der Naturalisierung der sozialistischen Weltsicht befand. Blumenbergs Faktoren zur Steigerung der Überzeugungskraft, die Frage der Zeit und die rezeptionsgesteuerte Stabilisierung bzw. Selektion von sukzessive entstehenden Varianten, behalten somit überdies auch im Kontext von Barthes’ Mytho-Logik eine wichtige Bedeutung. Welche Bemühungen haben DDR-Prosa und DEFA-Spielfilme unternommen, um eine narrative Naturalisierung der sozialistischen Ideologie und die dafür nötige ›Bereicherung‹ des sozialistischen Heldennarrativs zu erreichen, und welche Probleme, bis hin zu verschiedentlichem Kollabieren des Mythos selbst, haben sich daraus wiederum ergeben? Dem gehen die folgenden zwei Beispielreihen nach, und an deren Ende wird sich zudem die Frage der Instabilität des ›armen linken Mythos‹‹ bzw. des ›Kunstmythos‹ nach Blumenberg weitergehend perspektivieren lassen. Bis auf das erste, bereits in Abschnitt I behandelte Textbeispiel werden die Texte und Filme dieses Abschnitts zunächst wieder basal vorzustellen sein. Dann werden sie bezüglich der Heldentypik eingehender analysiert, die zusammen mit der jeweiligen Lebenswelt-Repräsentation als mehr oder weniger ›bereichernd‹ zu interpretieren ist, denn jedwede romanhafte oder filmische Umsetzung mit neuen Helden diente ja implizit diesem Zweck. Spezifische Strategien der Naturalisierung im Sinne von Barthes’ strukturaler Mytho-

bergs gesamte Theorie bezogen auf die griechische Antike als anachronistisch psychologisierend vom Tisch wischen möchte (und das gerade einmal in einer Fußnote, vgl. S. 497f., Fn. 21, in der Hübner die Mytho-Logik der Furcht als inadäquat für die antike Oberschicht ablehnt – eine verlockende, aber arg zu kurz greifende Wertung, gemessen an zahlreichen mythologischen Zeugnissen aus Kunst und Literatur). 29 Vgl. in den »Vorüberlegungen« der vorliegenden Studie, S. 11.

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Logik der Deformation bilden sodann den Schlussfokus einer jeden Falluntersuchung.

›Bereicherung‹ und Naturalisierung in west-östlicher Konkurrenz

Der vorliegende Abschnitt setzt noch einmal mit Claudius’ Menschen an unsrer Seite als frühem Paradebeispiel ein, dessen Grundstruktur und stabilisierende Heldennarrativ-Variantenbildung bereits in Abschnitt I im Sinne Blumenbergs analysiert wurden. Der wesentliche Beitrag einer solchen Variation zur ›Bereicherung‹ eines ›armen‹ Mythos nach Barthes muss nicht im Einzelnen durchdekliniert werden, denn die Analogie der beiden ersten Mytho-Logiken ist in diesem Zusammenhang recht groß. Noch nicht genauer analysierte Nebenlinien des Romans sind jedoch nun als exemplarische ›Bereicherungsmittel‹ von größerem Interesse, bevor die deformative Mytho-Logik der Naturalisierung im engeren Sinne zu untersuchen ist. Der für die DDR besonders frühe Roman narrativiert das Streben der sozialistischen Ideologie nach ihrer eigenen Naturalisierung im noch unmittelbaren Kontakt mit ›bürgerlichen‹ Denkweisen. Grundständiger vorzustellen ist der zweite Text, der ebenfalls das Wirken der sozialistischen Mytho-Logik nach Barthes in der Frühphase der DDR verdeutlicht, der aber auch für die spätere Jetztzeit des Romans (1962) von Interesse ist: Die Aula von Hermann Kant. Der Protagonist und Erzähler hat den offiziellen Auftrag, anlässlich der Schließung der von ihm einst absolvierten »Arbeiter-undBauern-Fakultät« (ABF) eine Festrede zu schreiben. Um diese Rede zu verfassen, reflektiert er gewissermaßen einen exemplarischen Bereich der naturalisierenden Selbstsetzung der DDR. Diese erfolgte aufgrund der noch-›bürgerlichen‹ Haltung des universitären Umfelds der ABF für die ersten ›gut sozialistischen‹ Absolventen in einer noch recht offenen Mythenkonkurrenz. Verzeichnet wird vom Erzähler freilich ein unhintergehbarer mytho-logischer Erfolg, dessen Rühmung er am Ende jedoch gar nicht mehr vornehmen darf. Der institutionelle Auftraggeber der Rede setzt diese nämlich wieder ab zugunsten einer stärkeren Orientierung in die Zukunft anstelle von zu viel Rückschau. Vermieden wird so aber auch die mögliche Hinterfragung des mytho-logischen Deformationsprozes-

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ses und einzelner historischer ›Unwuchten‹, die auf dem Weg zur zeitgenössischen sozialistischen ›Pseudonatur‹ und ihrem überaus positiven Selbstbild liegen. Der Roman als Veröffentlichung scheint eine solche Rückschau in extensiv ausgestellter Reflexion umso mehr liefern zu sollen.

A NFÄNGE DER N ATURALISIERUNG M ENSCHEN AN UNSRER S EITE

IN

C LAUDIUS ’

Stellt die Fallgeschichte des Ofenbauer-›Aktivisten‹ Hans Aehre mit den in Abschnitt I bereits festgemachten mytho-logischen Varianzen gegenüber dem basalen Heldennarrativ (sein hartnäckiges Einzelgängertum, das patriarchalische Denken gegenüber der eigenen Familie) an sich bereits eine ›Bereicherung‹ dar, so können die unterschiedlichen ›heroischen‹ Figurenentwicklungen im Umfeld nun noch besser verstanden werden, wenn man sie als weitere narrative Mittel dieser Art deutet. In diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist zum einen der eigene Weg von Aehres Ehefrau Katrin und zum anderen derjenige des Malers und Bautechnikers Andreas Andrytzki: Während Katrin Aehre das Heldennarrativ im Roman sozusagen um ein von Anfang an bereits ›fortgeschritteneres‹ weibliches Pendant ergänzt, wie im Folgenden zuerst kurz nachverfolgt werden soll, wird mit Andrytzki die Entwicklung eines Künstler-Helden parallel geführt, die ganz andere Sphären und auch eine kleine romaninterne Spiegelung der Leistungen des Haupthelden inkludiert.1 Schon der Auftakt des ersten Kapitels fokussiert nach einer minimalen paradigmatischen Einführung von Hans Aehre (als in einer Fabrik tätigem Maurer) sogleich die kleine Familie Aehre, das Kind Miele und dessen Mutter Katrin, die am Ende eines Werktags von ihren Erlebnissen berichtet (vgl. S. 9). Hierbei kommt als Erstes ihre rechtschaffene Empörung über eine alte ›bürgerliche‹ bzw. sogar noch der NS-Zeit nachhängende Nachbarin zur Sprache (vgl. S. 9f.). In einer weiteren Abendszene begegnet dann zunächst ihr grundsätzlicher Fortschrittsoptimismus im Alltäglichen, mit dem sie auch ihren schnell verdrossenen Mann stets ermutigen will (vgl. S. 11f.). Eine bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückgehende Rückblende wiederum bringt ein, dass Katrin in erster Ehe mit einem Mann verheiratet war, der zum NS-Denunzianten geworden war und sie, die sich ihm moralisch empört schließlich verweigerte, sehr grob behandelte; dieser fiel aber zu ihrem Glück als Soldat, und Katrin hielt sich damals sogar

1

Zitate und Verweise im Folgenden wieder mit bloßer Kapitel- bzw. Seitenangabe unmittelbar im Text nach Claudius 1951.

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schon an Hans Aehre (vgl. S. 13f.). Wieder auf der Ebene von 1949 wird Katrin dann in der benachbarten Gaststätte als »Aktivistenfrau« (S. 15) beschimpft, nachdem sie dort für ihren Mann etwas eingeholt hatte; ihr sind solche Diffamierungen wohl bewusst, sie erträgt sie jedoch ihrerseits heldenhaft. An einem weiteren Abend nach getaner Arbeit ist es eine unverdrossen aufmunternde und interessierte Katrin, die ihrem Mann entlockt, welche Probleme (der Ringofen) und Widerstände (Meister Matschat) er im Betrieb hat, und sie versucht ihn dazu zu bewegen, deswegen das gute sozialistische Direktorium aufzusuchen, dem er mehr vertrauen müsse (vgl. S. 27-31). Sie ist es dann auch, die noch in derselben Nacht für ihren des Schreibens und zumal des technischen Zeichnens unfähigen Mann eine präsentable Skizze seines Ofenbauvorhabens anfertigt und ihn erneut dazu ermahnt, nicht mehr allein, sondern mit seinen Parteileuten dafür zu kämpfen; zur Not würde sie sogar an seiner Statt die Landesparteileitung kontaktieren (vgl. S. 46-53). Zeigt sich Aehre in diesem Zusammenhang nur störrisch, empört er sich jedoch abschließend spürbar, als sie ihm offenbart, dass sie ebenfalls eine (sc. gemeinschaftsförderliche) Arbeitstätigkeit aufnehmen möchte; Katrin wechselt daraufhin das Thema (vgl. S. 54) und scheint es in der Folge vermieden zu haben. In der nachfolgenden Zeit bleibt Katrin die getreue Unterstützerin ihres Mannes, sie nimmt sich jedoch auch ohne seine Zustimmung bzw. sein Wissen das Recht, arbeiten zu gehen, und zwar in einer anderen Sparte der großen Fabrik, wo sie dem angehenden Forschungsabteilungsleiter Dr. Lauter bei einem wichtigen Projekt nicht nur alsbald technisch sehr gut zur Hand geht, sondern späterhin auch ihn als vorbildliche Sozialistin peu à peu zum Staatssystem bekehrt (vgl. zuerst Kap. II, S. 124 sowie in der Rückschau in Kap. V, S. 334f.). Als Hans im dritten Kapitel davon im Rahmen einer Parteiversammlung im Betrieb erfährt, weil sie einander zufällig bzw. durch ein geschicktes Arrangement des Landespartei-Instrukteurs Schadow begegnen, will er Katrin die Tätigkeit schon um des Kindes Willen verbieten. Doch Katrin entweicht ihm am Ende der Versammlung im Gefolge von Direktor Carlin, mit dem sie anscheinend bereits auf gutem Fuße steht (vgl. S. 199-203). Die offene Auseinandersetzung über die Frage erfolgt wieder im abendlichen Gespräch, in dem Aehre zunächst seiner Tochter den nötigen Kindergartenbesuch sofort untersagen will; Katrin weiß das jedoch rhetorisch geschickt zumindest aufzuschieben (vgl. S. 213-216). Am nächsten Morgen versucht Katrin Hans unter Berufung auf den gemeinsamen Willen, als Parteisozialisten gesellschaftlich aktiv zu sein, zum Einlenken zu bewegen, das Argument verfängt bei ihrem Mann jedoch bis auf Weiteres nicht (vgl. S. 221-224).

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Auch die anschließende Weihnachtspause zu Beginn des vierten Kapitels bringt noch keine Entspannung, Aehre flüchtet sich vielmehr sobald als möglich wieder in den Betrieb zu seinem Ringofen, und gegen Ende dieses für Aehres Bauprojekt neuralgischen Kapitels will er seine Tochter sogar noch eigenhändig dem als veraltet vorgestellten Kindergarten entreißen – um dann endlich zu der ersten Einsicht zu gelangen, wie gut sozialistisch und daher für das Kind förderlich es dort zugeht. Mit seiner hinzukommenden Frau kann er sich deshalb freilich immer noch nicht wieder versöhnen (vgl. S. 310-317). Dies wird erst vorbereitet, als er ihren Vorgesetzten Dr. Lauter für eine chemische Prüfung (des beim Probelauf zusammengefallenen Ofens) benötigt und erfahren muss, wie vorbildlich seine Frau bei diesem arbeitet, so bereits eine breite Anerkennung erreicht hat (vgl. S. 334f.) und wie sehr Lauter sie auch als persönliches sozialistisches Vorbild, sogar gleichsam seine Erzieherin hin zum Parteigänger, zu schätzen weiß (vgl. S. 345). Die gemeinsame Prüfung des Ofens lässt ihn schließlich ›weich werden‹ (vgl. S. 370-374), und zum Romanschluss hat er vollends gelernt, dass er seine freilich immer noch innig geliebte Katrin als vollwertige arbeitstätige Genossin anzuerkennen hat und so auch seinen Erfolg erst wirklich genießen kann (vgl. S. 398). Katrin Aehre erscheint somit zum einen als besonders wichtige Helferfigur und als besonders gute Parteigenossin, da sie Männer wie Hans Aehre oder Dr. Lauter sogar ideologisch auf den rechten (sc. linken) Weg bringen kann. Zum anderen demonstriert ihr Charakter, in Ergänzung der primär männlich-heroischen Arbeitsleistungen im Roman, die Möglichkeiten weiblicher Protagonisten der sozialistischen Frühphase in der DDR. Sie ›bereichert‹ das Heldennarrativ wie die vorgestellte Lebenswelt somit um eine weibliche Facette, die für zeitgenössische Leserinnen wie Leser als Affirmation resp. als Mahnung intendiert gewesen sein mag (erst in der so genannten Ankunftphase der DDR-Literatur werden weibliche Protagonistinnen jedoch bekanntlich eine wirklich breite Repräsentation finden). Die erzählerische Nebenlinie, die die Entwicklung Andreas Andrytzkis verfolgt, nimmt streckenweise quantitativ so viel Raum ein, dass vermutlich auch deshalb von ihm als ›Heldenalternative‹ (Taschner) gesprochen worden ist. Es ist jedoch zu zeigen, dass Andrytzki zwar eine gute Entwicklung hin zu einem ›positiven Helden‹ in Form eines sozialistisch-realistischen Malers mit gefestigtem ideologischen Standpunkt durchmacht, dass er aber im Vergleich zu dem unmittelbaren Heroismus Aehres wohl kaum entsprechend hervortritt. Vielmehr erscheint das Geschehen um Andrytzki erzählfunktional nicht zuletzt durch den mythologischen Endzweck, also eine variative ›Bereicherung‹ der ideologisierten Lebenswelt, verständlich.

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Andrytzkis Weg lässt sich wie folgt zusammenfassen: Seine Ausgangslage im ersten Kapitel ist von der Frustration geprägt, dass er als sozialistischer Maler geraume Zeit nichts ideologisch Hinreichendes zustande gebracht hat, weil ihm sozusagen ein lebendiger Ansatz fehlte. Er hat sich deshalb lieber in eine einfache Werktätigkeit als Bautechniker für ein sozialistisches Werk begeben, zu deuten auch als eine persönliche Form von entsagungsvollem Ersatzheroismus. Genau dort wird er vom doppelgesichtigen Meister Matschat jedoch missbraucht, indem dieser ihn unter einem Vorwand den Plan des Ringofens nachzeichnen lässt, den Matschat als eine Art Einstiegsleistung dem Unternehmer Weitler für dessen heimlich geplantes Werk in Westdeutschland darbieten will. Um Andrytzki nach vollendeter Nutzung beiseite zu schaffen, spiegelt Matschat ihm im zweiten Kapitel vor, dass die Kopie des Plans in die Hände des NKWD geraten sei und Andrytzkis Hand sicherlich erkannt würde (vgl. S. 107f.). Diese Suggestion bewegt Andrytzki wunschgemäß dazu, fluchtmäßig zu seiner Familie in den Ruhrpott zurückzukehren (vgl. zuerst S. 118). Eine als zeittypisch zu verstehende Flucht mit Schleppern wird im zweiten Kapitel im kontrastiven Wechsel mit Aehres heldischen Tätigkeiten ausführlich erzählt. Andrytzkis erkenntnisreicher Aufenthalt bei der eigenen Familie mit ihren elenden Arbeitsverhältnissen und finsteren Lebensaussichten wird dann vor allem in Kap. IV parallel geführt. Andrytzkis Bruder Karl ist aufgrund dieser Verhältnisse und Aussichten bereits für die KPD tätig und wundert sich eigentlich nur über den merkwürdigen Weggang seines Bruders aus der DDR. Dessen folgerichtige Rückkehr nach Ostberlin beschleunigt im selben Kapitel der Besuch seiner Geliebten Suse Rieck, die ihn über Matschat aufklärt und nur im Osten mit ihm zusammen leben möchte. Als Andrytzki im fünften Kapitel sogar wieder im Werk zurück ist, arbeitet er sogleich erst einmal eifrig bei Aehres Vorhaben mit. Eine über das Nebenfigürliche hinausgehende Lösung ergibt sich für Andrytzki, als Matschat öffentlich die Intrige mit dem Plan zugibt (vgl. S. 382) und, im Epilog nachgetragen, Parteifunktionär Wende den Rehabilitierten überredet, »nicht mehr als Techniker ins Werk zu gehen, sondern sich an Zeichnungen über das Werk und seine Menschen neu zu überprüfen.« (S. 389) Andrytzki kann auf diese Weise eine im ersten Kapitel gemachte, zunächst letzte ›Selbsterprobung‹ als Maler fortsetzen, die sich mehr zufällig ergab. Er hatte nämlich seine frische Geliebte Suse Rieck als Arbeiterin gezeichnet, eine Skizze, die Suse im Gegensatz zu einer früheren Arbeiterinnenzeichnung Andrytzkis außerordentlich gefiel und zu der Andrytzki daher bereits die vage Erkenntnis kam, dass er wohl nur liebend malen könne (vgl. S. 64). Gemeint zu sein schien damit im Endeffekt die rechte innere Verbindung zum Objekt, das nur so sozialistischrealistisch zu ›treffen‹ ist. Eine größere Umsetzung dieser zunächst latent geblie-

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benen Erkenntnis stellt dann kurz vor Schluss des Romangeschehens, also nach Wendes Überredungsarbeit gegenüber Andrytzki, eine Reihe von Skizzen des »Fabriklebens« (S. 389) dar, der schließlich eine anscheinend überzeugende zeichnerische Dokumentation von Aehres Ringofenvorhaben folgt (vgl. die Bildbeschreibung ebd.). Die Ausstellung dieser Zeichnungen erfolgt in der Romanzeit im Epilog (also Ende Februar, vgl. S. 390) und lässt den kurz danach offiziell gefeierten Aehre staunend seinen eigenen sozialistischen Heroismus erkennen, sein »echtes Gesicht sei zum Vorschein gekommen« (S. 391). Andrytzkis Weg im Roman ist insoweit eine weitere Art der zumindest quasi-heroischen Selbstfindung eines sozialistischen Künstlercharakters, die für die impliziten Leser sicherlich eine ›Bereicherung‹ bieten soll, und seine künstlerische Arbeit wird sogar zur romaninternen Reflexion von Aehres Heroismus, indem sie zu dessen Kenntlichkeit beiträgt. Die Stalin lesende Katrin Aehre und Andrytzkis künstlerischer Durchbruch zu einer ›lebendigen‹ Perspektive im Sinne des Sozialistischen Realismus lassen sich, metareflexiv gelesen, schließlich auch als Anregung verstehen, mit einem Roman wie Menschen an unsrer Seite zur richtigen Sicht auf die ›natürliche‹ (Mytho-)Logik der DDR-Lebenswelt zu gelangen – und damit zu der anderen zentralen Ebene nach Roland Barthes. Ergänzt wird die ›Bereicherung‹ um deformative Begriffssetzungen und naturalisierende Perspektivierungen der Lebenswelt im Sinne von Barthes’ MythoLogik, dies allerdings wie gesagt in einem teils noch recht offenen Schlagabtausch mit der ›bürgerlichen‹ bzw. ›faschistischen‹ Mythenkonkurrenz, wie sie für 1950 als zeittypisch angesehen werden kann. In einigen Schlaglichtern soll diese Ebene nun noch beleuchtet werden. Die größten Möglichkeiten für die mytho-logische Deformation bietet im Roman dabei die Erzählinstanz selbst, in diesem Fall im Wesentlichen ein für den Sozialistischen Realismus auktorialer Erzähler, der die komplette Innensicht seiner Figuren hat, auf explizite Wertungen jedoch weitgehend verzichtet; vielmehr begegnet die erlebte Rede (teils im Übergang zum inneren Monolog) als hauptsächliches Mittel der Figurenausleuchtung. Was die Figuren auf diese Weise reflektieren, ist oft als stark suggestive Wertung von Handlungsvorgängen und anderen Figuren zu bezeichnen und begegnet in aller Regel so, dass man die Ansichten der ›guten‹ Figuren (in Sonderheit bei Hans und Katrin Aehre, sodann bei anderen ›guten‹ Werkangehörigen wie Direktor Carlin, den Funktionären Schadow und Wende oder auf der Ebene der einfachen Arbeiterinnen und Arbeiter, wie etwa bei Andrytzkis Geliebter Suse Rieck) sehr wohlwollend aufnehmen kann, während die Gedanken der ›bösen‹ Akteure (in erster Linie Meister Matschat und Unternehmer Weitler) stark abstoßend erscheinen; weltanschaulich ›unsichere‹ Charaktere (wie

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Andrytzkis Mutter im Ruhrgebiet oder einzelne Arbeiter um Aehre) erscheinen auch in ihren Ansichten entsprechend unzuverlässig bis offen negativ von antisozialistischen Vorurteilen bzw. westlicher/faschistischer Propaganda beeinflusst. Es ist dies eine mal mehr, mal weniger subtile Form der Sympathielenkung, die als grundständige narrative Deformation anzusehen ist: zugleich nur konnotativ und auch ganz offen (denotativ). Auf der Ebene einzelner Begriffe oder mytho-logisch genutzter Alltagserscheinungen à la Barthes sollen im Folgenden zwei für den Roman zentrale Exempla vorgestellt werden, und zwar zum einen der Umgang mit der Frage der Produktionssteigerung durch einzelne Arbeitsleistungen, sprich: das umstrittene ›Aktivistentum‹, und dessen Pendant, die Obstruktion in Form der perhorreszierten ›Sabotage‹, und zum anderen die wiederholt begegnende Rückwendung der ›gefestigteren‹ Sozialisten auf das Vorbild der Sowjetunion, wenn es weitergehender Lösungen für kritische Handlungssituationen bedarf. Die bereits mehrfach angeschnittene Frage des ›Aktivistentums‹, von den Nicht-Sozialisten sei es aus Unverständnis gegenüber der Logik des Vorgangs, sei es aus ideologischem Antisozialismus als ›Akkord-‹ oder ›Lohndrücken‹ (vgl. etwa S. 16, in der Kneipe vor Katrin) diffamiert, begegnet insbesondere in Verbindung mit der Hauptfigur Hans Aehre, der sich geraume Zeit für das für ihn immerhin ganz selbstverständliche Tun gar nicht zu rechtfertigen vermag – während seine Frau, Direktor Carlin oder die Funktionäre Schadow und Wende dieses gemeinschaftsförderliche Tun ideologisch eindeutig positiv zu bewerten wissen. Dass jedoch Aehre selbst die Produktivitätssteigerung durch seine exemplarischen Akkordleistungen schlicht praktisch vorführt statt nur zu propagieren, mag einerseits sogar fast als der narrativ geschicktere Schachzug erscheinen, würde er andererseits nicht, etwa im Kollegengespräch um die Frage des damit de facto erst einmal sinkenden Arbeitslohns, so völlig ratlos erscheinen bzw. sich von offensiven Gegnern allzu lange entmutigen lassen (vgl. etwa noch S. 78 oder 95). Es bedarf daher der den Protagonisten ›sympathisch‹ unterstützenden sozialistischen ›Dei ex machina‹ Schadow und Wende, um ihm und anderen »Aktivisten im Betrieb« (S. 199) mehr Anerkennung zu verschaffen (vgl. S. 196-202) – wofür die impliziten Leserinnen und Leser konkret, aber letztlich eben auch ideologisch-systematisch ›dankbar‹ sein dürften. Die romaninternen Debatten um das Phänomen zeigen jedoch auch, dass die sozialistische Ideologie in dieser Frage von einer nachhaltigeren Naturalisierung noch weit entfernt war; der offene, aber stark sympathiegelenkte Umgang damit erscheint jedoch zugleich als Mittel der Entpolitisierung. Politisch im Bewusstsein gehalten werden sollte das Konträrphänomen der ›Sabotage‹ in sozialistischen Betrieben, die sich im Ro-

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man wieder vor allem an der Obstruktion gegenüber Aehres Bemühungen festmacht. Matschat und seine Helfer erscheinen dabei nicht nur als Neider bzw. selbstsüchtige Verhinderer des ›Lohndrückens‹, sondern mytho-logisch deformativ viel mehr noch als Feinde des Systems, hinter denen ›kapitalistische‹ Unternehmer wie Weitler oder sogar ›faschistische‹ Kräfte im Westen stehen. Wie stark subkutan aufgeladen der Begriff ›Sabotage‹ gelesen werden sollte, zeigt sich etwa daran, dass der frustrierte Aktivist Aehre ihn das erste Mal mit Blick auf Matschats Treiben genau am Ende von Kap. II gegenüber der Werkdirektion ausspricht und damit narrativ offensichtlich eine Art spektakulärer ›Cliffhanger‹ gesetzt wird (vgl. S. 130). Bevor sich Aehres Perspektive durchsetzen kann, wird sie im Folgekapitel von dem schlechten (faulen) Parteifunktionär Bock jedoch noch pauschal zurückgewiesen, indem er »Sabotagefurcht« bei Aehre schlicht als einen »Komplex« diffamiert (S. 180) – die Sympathielenkung gegen Bock ist in dem Moment freilich so eindeutig, dass ›gut sozialistische‹ Leserinnen und Leser umso mehr geneigt gemacht worden sein dürften, selbst einen solchen ›Komplex‹ zu entwickeln. Die für die Staatsdoktrin der DDR wie andere kommunistisch ideologisierte Länder der Nachkriegszeit zentrale Verpflichtung auf das Vorbild der Sowjetunion findet sich in Menschen an unsrer Seite gerade nicht pauschal gesetzt, sondern in ausgewählten Situationen und mit konkreten Aspekten eingeflochten, und zwar, wie bereits gesagt, nur durch besonders ›gefestigte‹ Protagonisten wie Katrin Aehre oder Funktionär Wende. Auch diese denken jedoch sozusagen nicht ständig auf dieser Ebene, sondern sie ›erinnern‹ sich in besonders verzwickten oder fordernden Lagen an Beispiele aus dem ›Mutterland des Sozialismus‹ bzw. an einzelne Lehren Stalins – alles dies erscheint so nicht nur einzelsituativ begründet, sondern nicht zuletzt als geschickt deformative generelle Sympathielenkung. Beispiele sind etwa Katrins Stalinlektüre, auf die sie gegenüber ihrem Mann zu sprechen kommt, als sie von ihrer alttäglichen Überzeugungsarbeit gegenüber ihrem ideologisch ›unsicheren‹ Vorgesetzten Dr. Lauter berichtet. Katrin bewertet ihn zunächst auf ›sympathische‹ Weise pragmatisch (»Er hat ein direkt vorsintflutliches Bewusstsein, aber seine Arbeit macht er positiv.« [S. 270]), und dann schildert sie, wie sie weiter vorzugehen gedenkt, nämlich indem sie sich nicht an die Berufssozialisten im Betrieb wendet, sondern nach eigener Stalin-Exegese eine Strategie entwickelt, um Lauter von der ›guten Sache‹ zu überzeugen. Dafür legt sie ihrem Gatten frische Lesefrüchte vor, die in dem Rat an kommunistische Arbeiterinnen und Arbeiter kulminieren: »Das Verhalten zu den Ingenieuren und Technikern der alten Schule ändern, mehr Aufmerksamkeit und Sorge für sie an den Tag legen, sie kühner zur Arbeit heranziehen – das ist die Aufgabe.« (S. 271) Dem illiteraten und rein ›intuitiven‹ Sozia-

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listen Hans Aehre fehlt für diese Strategie jedoch nicht nur ein wenig das generelle Sensorium, in der konkreten Erzählsituation ist er so von seinem Bauvorhaben eingenommen und zudem zu seiner zu Gleichberechtigung strebenden Frau so auf Distanz, dass er sich dieser Problemebene weitestgehend verweigert. Die Sympathien der impliziten Leserinnen und Leser dürften jedoch auch hier umso mehr auf Seiten Katrin Aehres gewesen sein und ihre Erkenntnis im Sinne der Barthes’schen Mytho-Logik dürfte ihnen als nicht nur konkret, sondern auch generell (bezüglich der Rekurrenz auf den ›weisen‹ Stalin) quasi natürlich richtig erschienen sein. Noch mehr in einem größeren Handlungskontext steht fast schon gegen Ende des Romans ein arbeitstechnisches Beispiel nach dem Motto ›Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen‹. Konkret geht es um die Abläufe beim Mauern einer Ofenkammer, für die eine komplexe Zusammenarbeit von Maurern und Handlangern vonnöten ist, damit die angestrebte Erneuerung im laufenden Betrieb und im vorbildlichen Akkord überhaupt möglich ist. Die für Aehre vor allem tätigen Maurerbrigadekollegen Backhans, Kerbel und Reichelt haben eine solche Zusammenarbeit noch nicht optimal erreicht, da ist es wie im Fall der Stalin-lesenden Katrin Aehre wieder eine weibliche Kraft, die aufgrund von eigener Lektüre das so genannte »Dreiersystem« vorschlägt mit dem Argument, »daß die Russen es alle so machen.« (S. 368) Die Männer wollen sich zunächst sperren, denn, so der mürrische Reichelt: »Ich hör immer nur die Russen.« (S. 369) Aber dann lassen sie sich doch sofort in das effiziente System einführen (vgl. ebd). Als der Parteifunktionär Wende sich kurz darauf diese Maurerarbeiten anschaut, bewundert er sogleich ihre zwar schweißtreibend schnellen, aber eben auch sehr effizienten und geradezu schönen Bewegungen – und erinnert sich dabei selbst an einen Artikel über die »sogenannte Dreierbewegung« (S. 376). Kerbel und Reichelt bemerken sein Staunen und geben widerwillig, aber auch bereits still triumphierend zu, dass sie gerade an einer weiteren Aehre’schen Produktionssteigerung mitwirken (vgl. S. 377f.), und Kerbel kommentiert wegen des damit prolongierten Innovationsstrebens zwar noch: »Nie hat man Ruhe« (S. 378), der Kommentar ist aber wohl für sein Naturell die größtmögliche Anerkennung einer grundständig gut fortschrittlichen Arbeitswelt. Gerade diese ›knurrig‹-stolze Äußerung eines ›frisch vollends Überzeugten‹ erscheint im Sinne der Mytho-Logik nach Barthes zugleich als besonders geschickte Erzählstrategie, die eine konnotativ viel allgemeiner gültige Ansicht vermitteln kann: Auch wenn es um 1950 für manchen Deutschen noch schwer akzeptabel ist, »die Russen« sind das stete Muster, nach dem man sich ›natürlich‹ richten sollte. Der Verweis auf die Sowjetunion kann zugleich auch als Rekurrenz auf eine Gesellschaft bzw. eine Lebenswelt verstanden werden, deren sozialistische

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›Pseudonatur‹ nach Barthes vielleicht um 1950 immerhin so weit stabilisiert ist, dass sie zumindest im Vergleich zur jungen DDR keineswegs mehr ›arm‹ erscheint. Wenn Arbeiter wie Kerbel und Reichelt, aber in gewisser Weise auch noch Hans Aehre selbst, zudem die höhere Einsicht ihrer fortgeschrittenen Genossinnen und Genossen akzeptieren, dass die Sowjetunion und ein ausgebildeterer Sozialismus nach deren Vorbild anzustreben sind, mag man mytho-logisch schließlich mutatis mutandis auch eine Analogie zu der Quintessenz von Barthes’ einleitend vorgestelltem Essay »Ein sympathischer Arbeiter« erkennen: Ob ›bürgerlicher‹ oder ›linker Mythos‹, eine grundsätzliche ›Duldsamkeit‹ erscheint jeweils als das Ziel der Narration.

E RFOLGREICH NATURALISIERT ? H ERMANN K ANTS D IE A ULA (1965) Hermann Kants Romandebüt erschien zuerst 1964 im FDJ-Organ »Forum« in Fortsetzung, 1965 dann in der Buchfassung, und beide Veröffentlichungen zusammen machten den Autor durch eine breite und zeitüblich kontroverse Rezeption in Ost und West schlagartig berühmt.2 Die Buchausgabe bei Rütten und Loening trug bereits auf dem Schutzumschlag über dem Romantitel das HeineZitat »Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.«3 Die Erzählsituation wird damit gleichsam angekündigt, denn der Journalist Robert Is-

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Zu den Veröffentlichungsstufen und deren früher Diskussion in der DDR vgl. Krenzlin 1986, S. 912-936. Für einen Überblick auch über die Stellungnahmen im bundesdeutschen Feuilleton vgl. deren Auflistung im Rahmen des KLG-Eintrags zum Autor (Hermann Kant – Sekundärliteratur. In: KLG [2016] und als polemisch-kritische, aber auch würdigende West-Kritik vgl. exemplarisch Reich-Ranicki 1966 / ders. 1967. Zu Kants exorbitantem Erfolg mit dem Roman sogar bis in die Nachwendezeit (sowie für eine dezidierte Auseinandersetzung mit dessen fragwürdigem Ethos) vgl. Emmerich 2002.

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Vgl. Kant 1965. Zitate und Verweise im Folgenden wieder mit bloßer Kapitel- bzw. Seitenangabe unmittelbar im Text nach dieser Ausgabe. Das Heine-Zitat (aus einem von Heines Augsburger Zeitungsartikeln über die »Französischen Zustände« von 1832) wird unter Hinweis auf seinen Urheber auf S. 5 nochmals dem Romanbeginn vorangestellt. Für einen Artikelnachweis und Überlegungen zu möglichen weitergehenden (generell-argumentativen) Parallelen von Heines Artikel und Kants Roman vgl. Krenzlin 1986, S. 920f.

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wall, die zentrale Figur des Romans und sein personaler Erzähler, wird praktisch unmittelbar zum Auftakt um eine solche Erforschung gebeten. Wie Kant machte Iswall als Kind aus einfachen Verhältnissen und zunächst gelernter Elektriker einst das Abitur nachträglich an einer der neu gegründeten Arbeiter-und-BauernFakultäten, hier gut erkennbar die von Kant selbst besuchte an der Universität Greifswald, und er soll nun anlässlich der anstehenden Schließung eine feierliche Rede zum Resümee dieser »Vorstudienanstalt« (so hieß bereits die Protoinstitution von 1945/46 bis 1949) halten. Die Schließung erfolgt wie in der Realität im Herbst 1962 (die anderen ABF stellten dann in der Regel 1963 ihren Betrieb ein), und zwar in der ideologischen Perspektive wegen Erfüllung ihrer historischen Aufgabe, zuvor im Schulsystem vernachlässigten Arbeiter- und Bauernkindern den Einstieg in höhere Bildungswege und damit auch die Besetzung höchster Positionen durch eine neue sozialistische Elite zu ermöglichen.4 Dass die Darstellung der Gesamtsituation an einer solchen hoch politischen Einrichtung, im Rahmen gerade einer Kant’schen Rückschau in vielem verharmlosend ausgefallen sein dürfte, das heißt: mit Blick auf die durchaus thematisierte spätstalinistische Realität, ist dabei nicht zu vergessen, für die Frage des mythologischen Konstrukts erscheint jegliche Verharmlosung oder auch Harmonisierung jedoch vor allem als Teil der ›bereichernd‹-naturalisierenden Strategie.5 Die ideologisch bedeutungsvolle Ermöglichungsleistung lässt in den Augen einiger Interpreten die ABF selbst zu einer Art institutionellem bzw. echt kollektivem Helden werden.6 Das erscheint freilich etwas überzogen, da eine so starke Hypostasierung nicht vorliegt. Der Erzähler Iswall imaginiert im Verlauf seiner Vorarbeiten für die Rede sogar einen entsprechend ›heroischen‹ Film über die Anfänge seiner ABF, der in seinen Augen allerdings vor allem Gefahr liefe, hohles Pathos bzw. Kitsch ohne die nötige Detailtiefe und ohne die Erfassung von

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Zur Einrichtung und Wirkung dieser Institutionen vgl. etwa Schneider 1998; für eine exemplarische Aufarbeitung Woywodt 2009 sowie zu der von Kant besuchten und in der Aula gespiegelten Greifswalder ABF und aus einem größeren DFG-Projekt heraus: Miethe / Schiebel 2008.

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Zur allgemeinen Verharmlosungstendenz und Kants eigenem Besuch der ABF vgl. Die Akte Kant 1995, S. 16-18 u. wiederholt, etwa S. 51. Kants Studienzeit und erste Karriereschritte ebendort gerieten späterhin in ein gewisses Zwielicht, weil er vermutlich bereits in dieser Zeit (d.h. vor der langen Phase seiner stärkeren Zusammenarbeit als mutmaßlicher Inoffizieller Mitarbeiter) dem Ministerium für Staatssicherheit Informationen lieferte, die wohl in einem Fall einen seiner ABF-Kommilitonen ins sowjetische Straflager führten; vgl. ebd., S. 17f.

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Vgl. Emmerich 2000, S. 202.

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Einzelpositionen zu erzeugen (vgl. S. 285-298). Stattdessen werden von ihm peu à peu einzelne ABF-Mitglieder bzw. mit der Institution beschäftigte SEDFunktionäre als Helden fokussiert und bilden so gemäß dem HeldennarrativSpektrum eine typische Reihe von dem weisen Althelden über bereits gestandene mittelalte Kader bis hin zu angehenden Junghelden. Die Junghelden aus der Gruppe der ABF-Studenten kommen selbstverständlich aus der Arbeiter-undBauern-Klasse und waren auch bereits in typischen Grundberufen aktiv (sc. neben der jeweiligen sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung, die sie für die ABF auch aufweisen mussten), und so lässt sich bezüglich der ›Bereicherung‹ des Heldennarrativs nicht zuletzt konstatieren, dass der Roman potenzielle einfache Arbeiterhelden in der Transformation zu Helden für anspruchsvollere Tätigkeitsfelder zeigt. Diese bewähren sich freilich bereits in der ABF-Zeit als eine Art Bildungshelden, da sie sich mit teils großem Anlauf für das Abitur schulen und auch gegen verschiedene äußere Widerstände ankämpfen müssen. In den genaueren Blick kommen dabei folgende mehr oder weniger zentrale Personen: der Er-Erzähler Robert Iswall selbst, der auf persönlicher Ebene jedoch ein zunehmend moralisch zwiespältiges Bild abgibt, auch wenn er sich als Arbeitersohn, in der Kriegsgefangenschaft zum Antifaschismus bekehrter junger Wehrmachtssoldat, Elektriker, ABF-Student und studierter Journalist durchaus exemplarisch ›positiv‹ entwickelt hatte; aus Iswalls engstem ABF-KollegiatenKreis der spätere Sinologe Gerd Trullesand und dessen künftige Gattin und Fachkollegin Rose Paal; Iswalls eigene Gattin in spe Vera Bilfert, eine zukünftige Augenärztin; mit einem rätselhaften Abbruch des eigentlich großen Heroismus Iswalls Mitstudent Karl-Heinz »Quasi« Rieck, in der Romangegenwart nurmehr Kneipenwirt in Hamburg; sowie der stille ehemalige Waldarbeiter und ebenfalls Mitstudent Jakob Filter, dessen Aufstieg in eine scheinbar unspektakuläre Administrativposition im Landwirtschafts- und Forstministerium Iswall als letztlich vorbildlichste Entwicklung erscheint. Als in unterschiedlichem Umfang vorbildliche Lehrende und teils auch sozialistische Funktionäre fallen die ABF-Dozenten Angelhoff (für das Fach Latein), Riebenlamm (Geschichte) und Schika (Mathematik) auf sowie der ABFDirektor der Gründungsphase, der liebevoll »Alter Fritz« genannte Dr. Mevius Völschow, sodann Iswalls ABF-Wohnheimleiter und späterer ABF-KulturbundLeiter bzw. 1962 sogar letzter ABF-Direktor Jochen Meibaum, Letzterer wird jedoch als eine ambivalente Bürokratengestalt gezeichnet. Den regionalen SEDFunktionär Haiduck, der in der späten Stalinzeit mehrfach gegen den Übereifer anderer vorgeht, charakterisiert Iswall als mit einer vielen anderen überlegenen sozialistischen Ethik versehenen kleinen ›Übervater‹. Als latent noch anti-

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sozialistisches oder zumindest ›bürgerlich‹ reserviertes Personal stehen den ersten ABFlern in der Romanfiktion sodann weite Teile der alten Universität vor Ort gegenüber, von sich überlegen gebärdenden ›richtigen‹ Studenten bis hin zu einem sich antipolitisch und tief traditional gebenden Rektor. Aus Iswalls familiärem Umfeld als mehr oder weniger deutlicher lebensweltlicher Kontrast erwähnenswert sind seine in Iswalls Geburtsstadt Hamburg zurückgegangene Mutter und seine Schwester, die in der Romangegenwart mit dem so genannten Gangster-Gatten der Schwester ebenfalls in Hamburg lebt, sowie Iswalls erste große Liebe in Paren, dem Ort der gemeinsamen Jugend und ersten Erwachsenenzeit, Inga Bjerrelund, von der sich Iswall jedoch mit dem Eintauchen in die ABFWelt bald innerlich löst und dann auch offiziell trennt. Der Roman entfaltet das Tableau seiner Heldinnen und Helden sowie von deren weltanschaulich anders überzeugten bzw. zumindest indifferenten Gegnern in der Verschaltung von zwei großen und jeweils zeitlich fortlaufenden Erzähllinien und einer Nebenlinie. Letztere verschmilzt gegen Ende des Romans allerdings auf wesentliche Weise mit beiden Hauptlinien bzw. überbrückt und verbindet diese chronologisch und thematisch. Die rahmende Erzähllinie ist die Zeit von Iswalls Beauftragung mit der Rede im Frühjahr 1962 bis zu deren Absage im Sommer, die große narrativ verschränkte Zeitschiene ist diejenige von der Zulassung Iswalls zum ABF-Studium 1949 bis zum Abitur gut drei Jahre später; kleine Rückblenden bzw. -wendungen erfolgen vor allem von dieser Schiene aus in die NS-Zeit und die unmittelbare Nachkriegszeit, wie sie Iswall und seine Kommilitonen erlebten, und erklären die Figuren in ihrem Herkommen schlaglichtartig. Als Nebenlinie im lockeren Wechsel mit den beiden Hauptlinien erscheinen Iswalls erinnernde Überlegungen und dann auch Gespräche mit anderen Figuren zu einer Liebesintrige, die Iswall am Ende seiner ABF-Zeit gegen die ABF-Weggefährten Trullesand und Paal gesponnen hat und die sein Gewissen seitdem und bis kurz vor das Ende des Romans schwer belastet. Vor allem diese letztere Linie lässt die Persönlichkeit des Protagonisten Iswall als nur bedingt ›heldenhaft‹ erscheinen, das realsozialistische Resultat seiner Intrige in der Romangegenwart ist jedoch so positiv, dass er sich einigermaßen entlastet fühlen kann – und mit der Gesamtaufarbeitung der ABF-Geschichte auf der Hauptebene sozusagen nebenher auch einen für ihn persönlich wesentlichen Aspekt mehr oder weniger ›mutig‹ bereinigt hat. Die ›Bereicherung‹ von Heldennarrativ und Lebenswelt findet in diesem Roman vornehmlich in der erzählten Zeit der ersten ABF-Kohorte, also zwischen 1949 und 1952, statt, während die fortlaufende Jetztzeit Iswalls, also das Frühjahr und der Sommer 1962 vornehmlich die erfolgte Naturalisierung der sozialistischen Mytho-Logik thematisiert bzw. implizit zu bestätigen scheint. Die

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Zeit zwischen 1952 und 1962 wird hingegen lediglich stark resümierend mit Bezug auf weitere ›Bereicherungen‹ bzw. Naturalisierungsschübe behandelt bzw. in Form der genannten Nebenlinie fokussiert auf die Folgen der Liebesintrige. Der folgende Durchgang durch den Roman erfolgt entsprechend dieser mythologischen Schwerpunkte vornehmlich chronologisiert, das heißt unter Auflösung der sehr verwobenen Mehr-Ebenen-Narration, die zudem noch vielerlei teils recht inselartige figurenbezogene Kurzerzählungen und Anekdoten aus verschiedenen Zeiten zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gegenwart aufweist. Dem offiziellen ABF-Studienstart vorgelagert ist Iswalls Schilderung der eigenen Zulassung durch ein Gremium der späteren Dozenten, vor dem Iswall glaubt sich erst einmal noch beweisen zu müssen, das jedoch den hoffnungsvollen und begabten Jungsozialisten anscheinend vor allem persönlich kennen lernen will (vgl. S. 25-32 und S. 35f.). Iswall wiederum begegnet hier bereits ein erstes Mal freundschaftlich Gerd Trullesand, der ideologisch bereits fortgeschritten erscheint (vgl. S. 36-39). Mit Trullesand reist er dann zufällig gemeinsam zum Studienstart mit der Bahn an, beide suchen zusammen das avisierte ABFWohnheim auf und begründen eine Zimmergemeinschaft, der sich kurz darauf der selbsterklärte Organisator für alle, Karl-Heinz Riek, der aufgrund einer entsprechenden eigenen Redefloskel von allen bald nurmehr »Quasi (Riek)« genannt wird, und der stille Jakob Filter hinzugesellen (deren Hinzukommen vgl. zuerst S. 62-66, mit deutlich größeren Anteilen für »Quasi Riek«). Den offiziellen Auftakt bilden paradigmatische Begrüßungsreden durch den Universitätsrektor, der vor allem seine bildungsbürgerliche bzw. akademische Reserve gegenüber den ABF-Studenten bzw. der gesamten neuen Einrichtung vermittelt und so vor allem die Empörung des Arbeiter-und-Bauern-Nachwuchses weckt (vgl. S. 66-71), und durch den ersten ABF-Direktor Völschow, dessen Rede »den Atem verschlug und das Herz erwärmte. Er pries den Mut der jungen Leute, die zum Sturme auf eine Feste angetreten seien, eine Feste, bewehrt mit Hochmut, Vorurteilen, Angst um bedrohte Privilegien, Aberglauben und Klassendünkel.« (S. 70)

Noch vorhandenen »Widerstand und Skepsis« (ebd.) hatten die solchermaßen Angespornten also umso heldenhafter zu überwinden als Teil der neuen sozialistischen Bildungselite, wobei ihnen ihre ABF-Dozenten, die in der Folge nach und nach eingeführt werden, natürlich zur Seite stehen sollen. Der Geschichtslehrer Riebenlamm etwa ermutigt die wohl auch bedeutungsvoll so benannte »Arbeitsgruppe A 1«, der Iswall und der genannte engere Kreis angehören, gleich zu Beginn der ersten Stunde: »Ihr sollt Geschichte machen« (S. 79). An-

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dere Dozenten sind jedoch durch zu starke fachliche bzw. ideologieferne Orientierung für die Schüler nur bedingt eine Hilfe, insbesondere der Deutschlehrer Fuchs wird daher bei zu wenig ermutigendem Umgang mit einem etwas naiv argumentierend erscheinenden ABF-Studenten auch einmal von dessen Kommilitonen darauf hingewiesen, dass er es hier immerhin bereits mit einem »Aktivist« zu tun habe (S. 112). In einer späteren Szene wird auch der Mathematikdozent Schika als allzu strikt unpolitisch denkender Wissenschaftler thematisiert, dem namentlich Iswall und Trullesand ihre ›ganzheitlichere‹ ethische Bewertung etwa der Atomphysik entgegenhalten (vgl. S. 322-327). Der Lateinlehrer Angelhoff hingegen ist ein gestandener Sozialist, gerade als solcher jedoch vornehmlich auf das ›Negative‹ fixiert, sprich: entsprechend der spätstalinistischen Atmosphäre (was Iswall/Kant freilich so nicht dingfest macht) sieht er vor allem Kritikables, »die Sünden anderer« (S. 147) und wittert überall noch Feinde des Sozialismus (vgl. etwa S. 158f.). Wenn Angelhoff oder auch der ebenfalls etwas ›übersensibel‹ erscheinende ABF-Direktor die Studenten zu sehr verunsichern, gibt es immerhin noch einen kleinen sozialistischen Deus ex machina am Ort, und zwar den SED-Kreissekretär Haiduck, einen Althelden des Spanienkriegs, der deutlich gelassener und ›weiser‹ mit teils nur scheinbar politisch brisant erscheinenden Situationen umzugehen weiß (vgl. ein erstes Mal S. 161-163, als einem Arzt vorschnell unterstellt wird, er behandle Quasi Riek nicht richtig, um der ABF zu schaden; brisanter wird es bei einer implizit typisch spätstalinistischen Verfolgung des ideologisch unsicher erscheinenden ABF-Studenten Fiebach, vgl. S. 278-285). Außer in der Auseinandersetzung mit einzelnen ihrer Dozenten vollbringen die ABFler um Iswall Heldenleistungen in der Verkoppelung von Bildung und Politik insbesondere unter der Führung von Quasi Riek, etwa, als sie gegenüber den regulären Universitätsstudenten erkämpfen wollen, dass sie auch auf die Wahllisten für die Studentenratswahlen kommen. Dies scheitert zwar zunächst weitgehend an der rhetorischen Unbeholfenheit der meisten ABF-Studenten, Quasi Riek selbst aber hat sich immerhin bereits so viel altgriechisches Redemuster angeeignet, dass er selbst sich durchsetzen kann (vgl. S. 202-219). Im Umfeld der ABF wird eine weitere, zeitgenössisch anscheinend noch pionierhafte Tat der Gruppe um Iswall darin gesehen, dass man kollektiv aus der Kirche austritt und diesen Austritt sogar erfolgreich gegenüber dem Landesbischof verteidigt, der sich persönlich ins ABF-Wohnheimzimmer der vier begibt, um ihre Beweggründe zu erfahren – und sie an sich wohl auch zu einer Rücknahme des Austritts zu bewegen. Doch die hier bereits recht selbstsicher bis nonchalant auftretende Gruppe erklärt den Schritt mit einer Art bissigem Understatement wie folgt:

116 | V ON H EROEN UND I NDIVIDUEN »›Wir fanden es nicht mehr passend, Christen zu heißen und keine zu sein. Das ist ehrlicher. Und um gleichzeitig in der Partei und in der Kirche zu sein, dazu sind wir nicht gebildet genug. Wir sind froh, wenn wir den einen Text behalten.‹« (S. 399)

Der Bischof gibt sich noch vor allem Argumentieren daraufhin mit den Worten geschlagen: »›Eine bemerkenswerte Anstalt [sc. die ABF], die sich ihren Schülern so zu Bewußtsein bringt. Nun, so will ich gehen. [...]‹« (ebd.) Nach seinem Weggang resümiert die Gruppe noch, wie geschickt man sich angestellt habe und beendet das Thema ›humorig‹ (vgl. S. 400) – diese als Letzte genauer geschilderte ›Heldentat‹ gerät damit sehr nahe an die Form einer ›Schnurre‹ nach dem Motto »Wie die Studentenhelden einmal den Bischof zu Besuch hatten«, und die primäre Bereicherungsphase im Roman erscheint damit geradezu anekdotisch abgeschlossen.7 Die Zeit, als die erste ABF-Kohorte abgegangen war und ihren Weg bis in die Romangegenwart gemacht hat, könnte mytho-logisch eigentlich als große Phase der weiteren ›Bereicherung‹ thematisiert werden, wird aber im Roman wie gesagt nur schlaglichtartig verfolgt. In der figurenbezogenen Retrospektive Iswalls erscheinen freilich fast alle seine Kommilitoninnen und Kommilitonen als erfolgreiche Beispiele eines sozialistischen Bildungs- und Karrieregangs bis in die anerkanntesten Berufsebenen, sie könnten also alle als ›Helden aus der ABF‹ bezeichnet werden. Iswall reflektiert diese Frage und kommt vorübergehend auch zu dem Schluss, er könnte statt einer Rede auch schlicht alle bei der Feier anwesenden »Mitneunundvierziger« bitten, aufzustehen und ihren Berufsstand zu nennen (vgl. S. 363f.). Dann kommt er jedoch zu dem oberhalb bereits angedeuteten Schluss, der größte sozialistische Held unter ihnen sei eigentlich der stille ehemalige Waldarbeiter Jakob Filter, der mit dem mittlerweile erreichten ministerialen Abteilungsleiterposten nicht nur formal den größten Aufstieg gemacht habe, sondern auch dem 1962 zeitgenössisch ideologisch am meisten gefragten Heldentypus des sozialistischen Planers und Leiters mit ›humanistischem‹ Antlitz entspreche (vgl. die ausführliche Würdigung der Person nach Herkommen, Entwicklungsgang und erreichter Persönlichkeit, mit Unterbrechungen von S. 347 bis 368).

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Der Erzähltyp der anekdotischen Einlagen in der Aula wäre ein eigenes Thema, ist aber nicht nur bereits von der zeitgenössischen Kritik (vgl. etwa Reich-Ranicki 1966) gehörig aufs Korn genommen worden, sondern trüge wegen der oft starken Abgelöstheit (bis Dysfunktionalität) der Anekdoten vom Hauptgeschehen nicht viel zur hier interessierenden Analyse bei.

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Schon Claudius’ Menschen an unsrer Seite zeigte, wie sich um 1949 die ›bürgerlich-kapitalistische‹ und ›linke‹ Mytho-Logik auf dem Überschneidungsgebiet der DDR im noch offenen Kampf befanden. Da die Anfänge der Naturalisierung des Sozialismus in Kants Aula auf der nämlichen Zeitebene mutatis mutandis recht ähnlich vorzufinden wären (hier vor allem in Form der prolongierten Selbstsetzung des Bildungsbürgertums einer Traditionsuniversität gegen die neue Ideologie der ABF), soll an dieser Stelle wie ankündigt ein Sprung in die Jetztzeit-Phase des Romans erfolgen, die anhand ihres Aussagehalts zur Frage der bis dato erfolgten Naturalisierung besonders gut genauer in den Blick genommen werden kann. Der Beitrag der Nebenlinie der Liebesintrige und ihrer Spätfolgen wird im Anschluss noch kurz nachzutragen sein. Ausgangspunkt des Romans war wie gesagt die anstehende Feier zur programmatischen Schließung der ABF, die 1962 aus Sicht der Ideologen das Ihrige zur Naturalisierung einer komplett sozialistischen Gesellschaft beigetragen hat.8 Der für diese Feier mit der zentralen Festrede beauftragte Robert Iswall scheint dies von Anfang an auch völlig so zu sehen, er stellt diese Präsupposition jedenfalls an keiner Stelle an sich in Frage, er hat nur zum einen die Sorge, einer solchen repräsentativen Aufgabe nicht gewachsen zu sein, und zum anderen zeigt sein Reflexions- und Recherchegang im Verlauf des über 450 Seiten langen Romans, der im Endeffekt ja gleichsam an die Stelle der Rede tritt, wie vielschichtig eine angemessene Würdigung der ABF (und damit ganz wesentlich ihres Naturalisierungsanteils zum erreichten »Realsozialismus«) anzugehen ist. Grundsätzlich strukturiert sind Iswalls diesbezügliche Reflexionen und Recherchen im Ganzen nicht nur historisch-chronologisch mit Bezug auf die Zeit von 1949 bis 1952, sondern auch auf der Ebene einer Gegenwartshandlung, die grob gesagt den Roman in zwei Hälften teilt: Nach einem rein reflexiven Vorlauf von knapp 50 Seiten erhält Iswall im Rahmen seiner regulären zeitungsjournalistischen Tätigkeit nämlich eine Art Feldforschungsauftrag, der ihn genau bis zur Buchmitte nach Hamburg führt. Nach seiner Rückkehr an seinen aktuellen Wohnort Ostberlin (vgl. S. 231 von 464) erreicht Iswall sodann ein Brief vom Auftraggeber, der die Rede kontrollhalber gerne vorab bekäme, was Iswall um des Erhalts seiner eigenen Perspektive willen ablehnt und was ihn sogar zu einer Art ›Vorneverteidigung‹ veranlasst: Er überzeugt den Chefredakteur seiner Zeitung, dass er schon bald eine Artikelserie initiieren darf, die die Anfänge der ABF nach Iswalls Vorstellungen nach Berufsgruppen und mit exemplarischen Personenporträts illustrieren soll (vgl. S. 241f.). Für seine Rede und die Artikelserie

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Vgl. in diesem Sinne auf DDR-typische Weise auch realhistorisch bestätigend etwa Krenzlin 1986, S. 919.

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zugleich absolviert Iswall sodann in der zweiten Buchhälfte mehrere Recherchereisen. Insbesondere um ehemalige Kommilitoninnen und Kommilitonen ausfindig zu machen, beginnt er mit einem Besuch des lokalen ABF-Archivs (also in Greifswald), wo er allerdings auch noch Akteure von vor zehn Jahren trifft. Danach reist er, wie bereits erwähnt, zu seinem alten Zimmergenossen Jakob Filter sowie zu den Trullesands, mit deren Besuch er zugleich ein großes persönliches Aussprachebedürfnis verbindet. Nach Hamburg, die ihm noch vertraute Stadt seiner Herkunft, reist Iswall in der ersten Buchhälfte mit einem ›gut sozialistisch‹ begründeten Auftrag seines Chefredakteurs Werner Kuhlmann: »›[...] Wir müssen die Flutkatastrophe [vom 16. Februar 1962, mit über 300 Toten und Tausenden obdachlos Gewordenen] auswerten. Es gibt Signale, daß die kleinen Leute wieder einmal betrogen werden, ernste Signale. [...]‹« (S. 53) Wie Vorortbesuche Iswalls vor allem im besonders betroffenen Arbeiterstadtteil Wilhelmsburg nahe legen, sind zum einen Arbeiterwohnviertel zugunsten von Fabrikanlagen eher dem Deichbruch überlassen worden (vgl. S. 119f.) und zum anderen könnten Deichaufstockungen dort in der Zukunft unterbleiben, weil die Bundesrepublik ihr Geld eher für die Interessen der Reichen und den Wehretat ausgibt (vgl. Iswall im interessant offenen ideologischen Schlagabtausch mit einem Hamburger Kaufmann, S. 135-141). Dieser ›offizielle‹ Teil von Iswalls Reise belegt implizit mytho-logisch schon plakativ, welche Mächte im Westen herrschen und wie ›natürlich‹-gut im Umkehrschluss die Verhältnisse in der DDR gerade für ›die kleinen Leute‹ wohl sind. Die Abwehrhaltung mehrerer von Iswall angesprochener Hamburger bezeugt dabei für die implizite DDR-Leserschaft des Romans gewissermaßen nur die ideologische Verirrung selbst der Arbeiter im Westen (vgl. etwa S. 118). Da Iswall jedoch außerdem noch seine vor Zeiten wieder nach Hamburg gegangene Mutter und zumal seine Schwester besucht, ergänzt sich das Bild von den ›unnatürlichen‹ Verhältnissen nochmals plakativer: Während seine einfach lebende Mutter lediglich allgemein die wirtschaftliche und politische Situation unter Adenauer beklagt und in der Perspektive ihres Sohnes ansonsten erschreckend naiv lebt (vgl. S. 89f.), trifft er in seinem Schwager Hermann Grieper auf einen regelrechten Kriminellen, der es seit der Nachkriegszeit vom kleinen Tunichtgut zum Hehler und Wirtschaftsbetrüger ›gebracht‹ hat (vgl. S. 90-97) und davon auch prahlerisch berichtet (vgl. S. 153-157), so dass Iswall ihn zumindest im Stillen auch nur einen »Gangster« (S. 115) nennt und sich bei ihm und seiner Schwester »in einem Haus an der Milchstraße« (ebd.) wähnt. Die moralfreien Selbstauskünfte des Schwagers lassen Iswall zudem unvermittelt und gleichsam sehnsüchtig an die eigenen Landsleute in der DDR und in Sonderheit zurück an die ›guten‹ ABF-Weggefährten denken (vgl. ebd.) und damit die Richtigkeit der

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Ost-Verhältnisse nochmals bestätigen. Als die Griepers kurz vor Iswalls Abreise auch noch vom Besuch eines Polizisten berichten, der Iswall wohl unter Spionageverdacht sprechen wollte (vgl. S. 220f.), ist Iswall von den für ihn nur scheinbar freiheitlichen Unverhältnissen umso mehr überzeugt. Gerade unter den besten Freunden an der ABF, an die Iswall sich intensiv erinnert, war aber auch Quasi Riek, den Iswall während seines Hamburg-Besuchs als Letztes aufsucht, denn dort lebt dieser nach seinem plötzlichen Weggang aus der DDR zum Ende des ABF-Studiums, und zwar mittlerweile als Wirt einer einfachen Kneipe mit dem viel sagenden Namen »Zum toten Rennen« (vgl. Iswalls Reflexionen rund um und den Besuch selbst auf S. 177-220). Er lässt in diesem Zusammenhang Revue passieren, wie gut eingebunden Riek eigentlich in der ABF und in die DDR überhaupt war, und es bleibt für ihn auch nach einem längeren Gespräch mit Riek trotz dessen erklärten Ressentiments gegenüber der DDR letztlich ein Rätsel, wie dieser sich so sehr vom gemeinsamen Weg abwenden konnte (vgl. S. 220). An Iswalls sozialistischen Grundüberzeugungen nagt Rieks Weggang nicht – so ›natürlich‹ ist der Sozialismus also allemal, mag man denken sollen –, allerdings fragt er sich zwischenzeitlich, ob er eine Erfolgsgeschichte der ABF noch unverbrüchlich in seiner Rede thematisieren kann, wenn es doch solche ›Rückschläge‹ gegeben hat (vgl. S. 183). Rätselhaft bzw. hinsichtlich des Bilds von der ABF um 1952 sogar zwiespältig bleibt der Weggang Rieks im Übrigen sogar nach Iswalls Reise zum ABFArchiv (und darüber hinaus ohne weitere Erkenntnisse bis zum Romanschluss, vgl. S. 450). Rieks Studentenakte hat nämlich im Gegensatz zu anderen, vergleichbaren Fällen nicht schlicht ein Vorsatzblatt, dass die ›Republikflucht‹ brandmarkt, sondern ist nach einer dürren Auskunft des aktuellen ABF-Leiters Meibaum sogar komplett »›eingezogen worden, nachdem ...‹«. Hier wirft Iswall ein, dass wohl die Flucht die Ursache war, und Meibaum ergänzt zustimmend: »›... das ist, das war so üblich.‹« (S. 267) Mehr Reflexion der späten Stalinzeit und damit der Frühphase einer überaus harten ideologischen Naturalisierung erfolgt in diesem Zusammenhang allerdings nicht. Der Aufenthalt in der alten Universitätsstadt, weniger die dortige Archivrecherche selbst, ruft Iswall jedoch auch weitere Ereignisse und Personen in Erinnerung, die nicht nur ein gutes Licht auf die Anfangsphase der ABF bzw. die Zeit um 1950 generell werfen, so etwa als ein an sich systemtreuer ABF-Student (Fiebach) die zahlreichen und übereifrigen Fehlerdiskussionen um einen Fauxpas des »Neuen Deutschlands« bei der Wiedergabe eines Stalin-Zitats infrage zu stellen wagt und dafür u.a. vom hyperkritischen Lateindozenten Angelhoff so an den Pranger gestellt wird, dass er die ABF und vermutlich auch das Land fluchtartig verlässt (vgl. S. 279-283).

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Als Iswall sich dann endlich auf den Weg zu den Trullesands macht und sie nach reflexionsreichen Umwegen zu Hause in Leipzig antrifft (vgl. S. 403-460), will er offiziell zwar auch zwei erfolgreiche ABF-Kommilitonen befragen (die sich selbst jedoch kurzerhand für viel zu uninteressant halten, vgl. S. 449). Das schlechte Gewissen wegen der einstigen Liebesintrige gegen sie treibt ihn jedoch vor allem zu einer Aussprache mit Gerd Trullesand (Rose war ihm zuvor noch zu reserviert begegnet). Was Iswall eigentlich ins Werk gesetzt hatte, hat er im Rahmen der Nebenlinie seiner Romanerzählung zuvor quasi in einkreisenden Bewegungen schon weitgehend offenbart: Iswall glaubte gegen Ende der gemeinsamen ABF-Zeit, die von ihm geliebte, aber noch nicht wirklich erreichte Vera Bilfert liebe auch Trullesand und der sie ebenfalls (beides in dem Moment ein Irrtum, vgl. in der Auflösung durch Trullesand, S. 454-457). Deshalb sorgte Iswall im Rahmen einer offiziellen Diskussion geschickt dafür, dass Trullesand zwar einen ehrenvollen Studienplatz für Sinologie in China erhielt, dafür jedoch sofort eine für den zweiten Studienplatz mitzubringende Frau heiraten musste, weil die chinesische Seite nur ein Ehepaar als verlässliches Doppel für immerhin sieben Jahre einladen wollte. Vorgeschlagen wurde Trullesand als Partnerin Rose Paal, und Iswall hatte das Glück, dass beide sich sympathisch genug fanden, um die paternalistische Hauruckaktion mitzumachen (vgl. bes. S. 304-312). Iswall hatte so Vera Bilfert gesichert nur für sich, lebte aber fortan mit dem schlechten Gewissen, geradezu wie vom »Teufel« getrieben zwei gute Freunde misshandelt zu haben (vgl. die expliziteste Version der Intrige, S. 429-440). Er erfährt dann freilich von Trullesand, bei seinem Besuch in der Romangegenwart (dem ersten Kontakt der beiden seitdem überhaupt), dass dieser zwar von Iswalls durchschaubarem Spiel zunächst irritiert, erbost und tief enttäuscht gewesen war (vgl. S. 451-455), ihm nicht zuletzt aufgrund der glücklichen Beziehung mit Rose Paal jedoch schon lange nichts mehr nachtrug (vgl. S. 447 bzw. 452). Die ›Absolution‹, die Iswall von den Trullesands schließlich mit Blick auf die letztlich für sie glücklich ausgegangene Intrige erhält, erfolgt dann so, dass die scheinbar private Problematik zugleich zu einem gut sozialistischrealistisch optimistischen Romanschluss beiträgt, nachdem sie Iswall zuvor noch aufzuarbeitende ›negative‹ Aspekte seiner persönlichen ABF-Zeit, aber auch des spätstalinistischen Umgangs sogar mit guten Genossen deutlich gemacht hat. Die allgemein erreichte gute ›Natur‹ der Gegenwart erscheint dadurch (sc. vor allem rhetorisch) zumindest ein individuelles Stück besser gefestigt. Als dann bei Trullesand ein Brief des ABF-Leiters Meibaum eintrifft, der das geänderte Festprogramm erläutert und implizit den Wegfall von Iswalls Rede wegen des »zu rückwärtsgewandten Charakters« (S. 458), geht das Gespräch der alten Freunde nach einer gemeinsamen Empörung über Meibaums Argumentati-

›B EREICHERUNG ‹ UND N ATURALISIERUNG | 121

on in eine entspannte Plauderei über und man verabschiedet sich wie versöhnt (vgl. S. 459f.). Auf der Rückfahrt nach Berlin imaginiert Iswall nach einer letzten Empörung über Meibaum, den »Vorwärtsler, der es ablehnt, sich umzudrehen« (S. 462), noch ein letztes Mal ansatzweise seinen Auftritt mit der Rede in der ambivalent ehrwürdigen Aula der ehemals ›bürgerlichen‹ Traditionsuniversität (vgl. S. 463). Dadurch ist er jedoch in einer Unfallsituation auf der Autobahn beinahe nicht reaktionsschnell genug, hat aber großes Glück, und nach einer Vorstellung vom eigenem Unfalltod und im Ärger über die Absage der so lange vorbereiteten Rede ist Iswalls gleichsam kopfschüttelnder Schlusssatz: »Welch eine Schnurre, dachte er, und welche Übertreibung! Hier ist niemand tot, und hier ist auch niemand zornig, und hier wird schon noch geredet werden.« (S. 464)9 Im Bild des Unfalls lässt sich dazu bemerken: Iswall wie die ganze Fiktion haben so auch noch eine optimistische Schlusskurve bekommen, die dem Text einen gut sozialistisch-realistischen Ausgang mit der Hoffnung des ›positiven Helden‹ auf eine bessere Zukunft verleiht – eine Zukunft, in der letztlich seine Reflexion einer wichtigen ›Bereicherungs‹- und Naturalisierungsphase als Roman erscheinen wird. So lässt sich zumindest die auktorial kalkuliert wirkende Schlusspointe sehen, die die ›natürliche‹ Güte der Verhältnisse nochmals bestätigt. Die Aufarbeitung des großen Deformationsaktes und einiger ›Unwuchten‹, die auf dem Weg zur herrschenden sozialistischen ›Pseudonatur‹ und dem vor allem positiven Selbstbild der erreichten Gesellschaftsform liegen, findet in Ansätzen durchaus statt, freilich in Grenzen, die den mytho-logischen Grund nicht wirklich gefährden sollen.10 Das mottomäßige Heine-Zitat von Schutzumschlag und Vorsatzblatt erscheint daher weitgehend nur in Form einer rhetorischen Schaugeste gesetzt: »Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.« – Die realen Normierungs- und Ausgrenzungsprozesse werden nur so ›be-

9

Zum zeitaktuellen intertextuellen Anspielungscharakter des Schlusspassus vor allem bezüglich des Beinahe-Todes (Iswall starb nicht, im Gegensatz insbesondere zu Strittmatters Ole Bienkopp, und sollte etwa auch nicht in den Verdacht einer Selbsttötung geraten wie Rita Seidel in Christa Wolfs »Geteilter Himmel«) vgl. Krenzlin 1986, S. 912-917.

10 Wolfgang Emmerich urteilte über Kants begrenzte »Wirklichkeitsmächtigkeit und Wahrhaftigkeit«: »Seine Erinnerungs- und Reflexionsgänge brechen, nach verheißungsvollen Anfängen, regelmäßig dort ab, wo ein wirkliches Tabu gebrochen, eine festsitzende Verdrängung aufgehoben werden müßte [...]. Kant, der kluge Arrangeur, schreibt gescheit – aber glatt, souverän – aber routiniert: realsozialistischen Realismus.« (Emmerich 2000, S. 203f.)

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hutsam‹ in den Roman eingebracht, dass man von einer Zukunftsperspektive mit eminenten Lücken bzw. Kaschierungen in deren historischer Basis sprechen kann

Schematisierte ›Pseudonatur‹ und heikle Re-Entrys

›Positive‹ Helden aus dem Bildungsbereich begegnen noch in mehreren weiteren Werken von der Mitte der 1960er bis in die frühen 1970er Jahre. Mit ihnen verbinden sich Fragen der bereits erreichten mytho-logische Naturalisierung, aber darüber hinaus auch Fragen von deren Erhalt in Gegenwart und Zukunft des Realsozialismus. Ein wichtiger Zeitumstand ist dabei erneut das ›Kahlschlagplenum‹ vom Dezember 1965, einerseits bezüglich der weiteren (Un)Möglichkeit, bestimmte Heldennarrativ-Fragen zu thematisieren, und andererseits späterhin durch mehr oder weniger deutliche Reflexe auf den politischen und kulturellen Einschnitt, den das Plenum bzw. seine nachhaltige Setzung einer neuen ›harten Linie‹ bedeutete. Diese Linie wurde bekanntlich erst 1971 von Honeckers (sc. letztlich nur sehr begrenzt gemeinter) Liberalitätsgeste im Gefolge des VIII. Parteitags für ein Jahrfünft, das heißt: bis zur BiermannAusbürgerung, offiziell abgelöst und ermöglichte zumindest noch einige wenige Auseinandersetzungen mit dem Heldennarrativ im Sinne Barthes’.1 Als Erstes diskutiert werden soll in diesem Zusammenhang der wie Kants Aula 1965 zumindest weitgehend fertiggestellte Spielfilm KARLA, dessen Kinopräsentation infolge des Plenums 1966 nicht mehr erfolgen durfte. Dabei handelt es sich um einen wohl durchaus ›staatstreu‹ gemeinten Film nicht zuletzt zu der 1

Auf der 4. ZK-Tagung im Dezember d.J. zur weiteren Auswertung des Parteitags fiel bekanntlich Honeckers überraschendes Diktum: »Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben«, und vermeldet wurde es hoch offiziell im Rahmen eines Referats von Honeckers Tagungsschlusswort im »Neuen Deutschland« v. 18.12.1971, S. 3-5, zit. nach dem Auszug in Dokumente 1976, S. 287f. (Dok. 56), hier: S. 287; ob eine hinreichend ›feste Position des Sozialismus‹ vorlag, lag freilich im Ermessen der Staatsoberen.

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Frage, wie junge Menschen in der DDR-Gegenwart bestmöglich erzogen werden könnten. Dieses Bemühen treibt die Junglehrerin Karla an, für die sich die sozialistische Erziehung mit einem empathischen Wahrhaftigkeitsanspruch verbindet. Indem sie diese Verbindung öffentlich propagiert, leistet sie potenziell einen gut ›bereichernden‹ Beitrag zum sozialistischen Heldennarrativ im Bildungswesen. Karla muss jedoch erleben, dass die maßgeblichen Lehrkräfte an der Schule auf eine sehr dogmatisch-ideologische Weise vorgehen und dies auch von ihr erwarten. Folge ist, dass zumal die älteren Schülerinnen und Schüler nurmehr das ideologisch Gewünschte äußern, was mithin eine schlechte Art der Naturalisierung des Sozialismus in der Lebenswelt bzw. eine Entwicklung hin zu einem oberflächlichen Schematismus auch für künftiges Heldentum bedeutet. Karla versucht vor allem in Auseinandersetzung mit dem altheldischen Schuldirektor und einer strengen Schulrätin, an diesen Verhältnissen etwas zu ändern, agiert dabei jedoch zu impulsiv und ungeschickt. Am Ende steht ihre Versetzung an eine andere Schule, den Karla jedoch als Chance für einen Neuanfang annehmen könnte. Auch bereits seit 1965 entstand Gerti Tetzners allerdings erst 1974 publizierter Gegenwartsroman Karen W., der sich nicht nur titelmäßig an Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. anlehnt und der auf einer Höhe mit den zeitgleich erschienenen Werken Brigitte Reimanns und Irmtraud Morgners diskutiert wurde und rasch mehrere Auflagen sowie Übersetzungen erreichte.2 Die titelgebende Protagonistin Karen W(aldau) flieht in ihm mit ihrer kleinen Tochter Bettina aus einer unbefriedigenden Lebenssituation in der Stadt L(eipzig), wo sie sich vor allem von ihrem Lebensgefährten nicht mehr genug wahrgenommen fühlt. Sie versucht daher einen selbst bestimmteren persönlichen wie ›kollektivistischen‹ Neustart im Heimatdorf, wofür sie dort allerdings eine schmerzhafte Aufarbeitung der eigenen und familiären Vergangenheit und der gegenwärtigen Situation betreiben muss. Am Ende steht der Plan einer vorsichtig hoffnungsvollen Wiederverbindung mit dem ihr angemessener erscheinenden Leben in der Stadt L., und zugleich möchte sie sich als Mensch in der sozialistischen Agrarindustrie erproben. Hinzu kommt eine erzählerische Seitenlinie zu ihrem Lebensgefährten, die den Roman noch um einiges mehr vor den genannten heute bekannteren Autorinnenwerken der Zeit interessant macht und einen weiteren Helden aus dem Bildungsbereich vorstellt. Karen W.s Partner, Dr. Fritz Peters, ist nämlich Historiker an der Universität L. und hatte einige Jahre vor der Romangegenwart in sei-

2

Vgl. zum Romanerfolg und der literarischen Bedeutung der Autorin etwa Hildebrandt 1984, S. 106.

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ner Dissertation postuliert, die DDR-Geschichtswissenschaft vernachlässige die Bedeutung einzelner großer Persönlichkeiten und ihrer besonderen Subjektposition für historische Entwicklungen, eine These, die von der Historikergemeinschaft vor Ort teils begrüßt, teils vehement als ›bürgerlich‹ abgelehnt worden ist. Als Forschungsthema gibt Peters die Frage nicht auf, sie mit dem nötigen Nachdruck zu verfolgen, fällt ihm jedoch einerseits im karrieristischen Arbeitsalltag zunehmend schwer und andererseits sodann aufgrund der privaten Beziehungskrise. – Während die weibliche Hauptfigur sich also um eine Art individuellen und sozialistischen Neustart bemüht, wird im Rahmen der Nebenlinie zeithistorisch der zunehmend versandende Versuch eines ›bereichernden‹ Re-Entrys von Individualität bzw. Subjektivität auf einer basalen Theorie-Ebene thematisiert. 1974, also in dem ›liberalen‹ Zeitfenster nach dem VIII. Parteitag, konnten eine solche potentielle ›Bereicherung‹ und einige weitere Fragen des Romans an den Realsozialismus immerhin retrospektiv und metathematisch vorgestellt werden. Diese ›Bereicherung‹ mutet dabei wie eine Vereinigung von Gegensätzen in der Art eines ›Dritten Wegs‹ an, und das bezeichnenderweise für eine erzählte Zeit um 1967/68, also unmittelbar im Umfeld des ›Prager Frühlings‹. Den Abschluss des vorliegenden Teilabschnitts bildet eine bewusst hypothetische Reflexion, die mit Blick nicht zuletzt auf den zeitgenössisch nicht singulären Re-Entry danach fragt, wie viel ›Bereicherung‹ der ›linke‹ Mythos und sein Heldennarrativ eigentlich vertragen hätten, wenn durch das 1965er ›Kahlschlagplenum‹ und die von ihm ausgelöste ›harte Linie‹ nicht so vieles unterdrückt bzw. verhindert worden wäre, und welchen Stand die sozialistische ›Pseudonatur‹ erreicht hätte.

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W AHRHAFTIGKEIT (1965/1990)

UND

›V ERNUNFT ‹: »K ARLA «

Nach einer Idee des jungen Ulrich Plenzdorf entwickelte der Regisseur Herrmann Zschoche mit diesem zusammen das Drehbuch zu dem DEFA-Spielfilm KARLA, dessen Hauptrolle Zschoches damalige Ehefrau Jutta Hoffmann spielen sollte. Der Film wurde im Sommer 1965 gedreht und im Winter 1965/66 weitgehend fertiggestellt, infolge des ›Kahlschlagplenums‹ erhielt er jedoch keine Endabnahme mehr und feierte daher erst 1990 Premiere.3 Im Jahr 1978 ließ sich immerhin ein ausgeschriebenes Filmszenarium veröffentlichen – datiert auf 1964 und im Wesentlichen übereinstimmend mit dem Film –, und der 1966 selbst geschasste DEFA-Chefdramaturg Klaus Wischnewski durfte im Nachwort lapidar erwähnen, dass der Film »1965 nicht fertiggestellt [wurde]«.4 Wie Hermann Kants Die Aula aus demselben Jahr führt KARLA im Kern an eine Bildungseinrichtung in Greifswald (als Ort nicht explizit benannt, aber in diversen Einzelszenen eindeutig erkennbar), spielt jenseits von Rückerinnerungen einzelner Figuren jedoch ausschließlich in der Gegenwart der frühen 1960er Jahre. Die Erzählweise ist strikt linear, mit kleineren und größeren Zeitsprüngen, und führt von Karlas Hochschulabgang im Sommer des einen Jahres ungefähr bis zu ihrer Versetzung im Frühjahr des nächsten Jahres. Als mal mehr, mal weniger verbundene Handlungsebenen verfolgt der Film, nach einem kurzen Vorspann (Karlas Absolventenfeier), im lockeren Szenenwechsel Karlas Weg an der Schule und ihre Liebesbeziehung mit dem etwas älteren Kaspar Stein in derselben Stadt und ihrer ländlichen Umgebung. Die Gesamthandlung zerfällt dabei von der Schulebene her in zwei (von der Erzählzeit her deutlich ungleiche) Teile: Karlas Ausgangsverhalten, mit dem sie immer mehr in Konflikt mit Schuldirektor und Schulrätin gerät, bis diese sie zu einer inneren Kehre hin zu einer umfassenden Fügsamkeit bewegen (Min. 5 bis 84), und, nach einem Sprung von einem halben Jahr, Karlas Rückkehr zu ihrem alten Ideal (und der ungeschickten

3

Für Grundinformationen zum Film und seinen Mitwirkenden vgl. Der geteilte Himmel [2001]. Bd. 1, S. 259f. Zitate und Verweise auf den Film im Folgenden mit einfachen Zeitangaben in Klammern im Haupttext. Als Referenzedition mit einem informativen neueren Interview mit dem Regisseur vgl. VERBOTEN 2015. Archiv-Nr. 3. Für aufschlussreiche Erläuterungen zu Entstehung und Unterdrückung des Films vgl. das 2011 erfolgte Interview mit dem Regisseur in: VERBOTEN 2015. Archiv-Nr. 3.

4

Vgl. Plenzdorf 1978; für die Datierung vgl. ebd. S. 5, wo auch die Mitarbeit Zschoches Erwähnung findet, und für das Nachwortzitat vgl. S. 179. Zu diesem Szenarium als Veröffentlichung, aber auch inhaltlich interpretativ vgl. Mews 1984, S. 21-34.

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Impulsivität), in deren Folge sie schließlich versetzt wird (Min. 84 bis 123). Vor allem zu Beginn des größeren ersten Teils nimmt das Zusammenkommen von Karla und Kaspar auch viel Raum ein (insbesondere von Min. 8 bis 30), bereits in dieser Phase, weitaus mehr noch im weiteren Verlauf wird Karlas Privatleben mit Kaspar jedoch in immer kürzeren Sequenzen zwischengeschaltet und erscheint vornehmlich als Spiegel und als Reflexionsebene für ihre Situation an der Schule. Der genauere, Heldennarrativ-bezogene Blick auf die Filmhandlung konzentriert sich daher auf die Ebene der Schule. Für einen ersten Überblick über die hauptsächlich agierenden Personen kann jedoch mit Kaspar begonnen werden, denn Karla lernt als Erstes nach ihrer Ankunft noch in den Schulferien Kaspar kennen, und beide flirten sich sofort rau, aber herzlich in eine innige Liebschaft. Dabei trifft Karlas burschikose Direktheit, eine Mischung aus mädchenhafter Naivität, selbstbewusster Frechheit und tiefem Ehrlichkeitsbestreben, in Kaspar auf einen im liebevoll-schroffen Umgang ebenbürtigen Charakter, der jedoch durch ein Mehr an Lebenserfahrung teils abgeklärter, teils auch bereits verbittert ist. Den Grund für Letzteres erfährt man peu à peu im Laufe des Films; kurz zusammengefasst lässt sich sagen: Der zu Beginn der 1950er Jahre noch enthusiastische sozialistische Journalist war mit den opportunistischen ›Wendemanövern‹ seiner Umgebung nach Stalins Tod nicht gut klar gekommen und hat sich daher seit geraumer Zeit ganz aus dem Zeitungswesen zurückgezogen, um nurmehr als einfacher Arbeiter in einem holzverarbeitenden Betrieb tätig zu sein. Auch wenn Kaspar im Herzen Kommunist geblieben ist, hat er gegenüber staatssozialistisch politisierten Arbeitsverhältnissen eine solche Aversion entwickelt, dass er für Karla im DDRSchulwesen nur frustrierende Erfahrungen und Schlimmeres befürchtet (weitgehend implizit: politische Verfolgung, Kaltstellung oder sogar Inhaftierung). Dies entzweit Karla und Kaspar immer wieder, am Ende geht er jedoch solidarisch mit an ihren neuen Schulort, an dem eventuell auch er einen Neuanfang versuchen wird. Außer Kaspar begegnen praktisch keine Personen jenseits von Karlas Schulwelt, selbst außerhalb der Schule trifft sich Karla nur mit Kolleginnen und Kollegen oder Schülerinnen und Schülern. Hauptakteur aus dem Lehrerkreis ist der etwa sechzigjährige Schuldirektor, Alfred »Ali« Hirte, dessen Nachname als in positiver Weise sprechend zu verstehen ist: Trotz aller Karla nicht unähnlicher Ruppigkeit und eines zeitüblichen autoritativen Habitus will er für sie vom ersten Tag an ein väterlicher Begleiter sein und sie nicht zuletzt vor ihrer ihm eigentlich sympathischen, aber im Schulbetrieb auch gefährlich erscheinenden Impulsivität schützen. Hintergrund ist, neben seinem Weg als Anarchist durch die Weimarer Republik und dann wohl bereits als Kommunist im Dritten Reich, sei-

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ne Erfahrung mit dem Schulwesen, in dem er selbst bereits zahlreiche Auseinandersetzungen mit ›schwierigen‹ Schülerinnen und Schülern, aber insbesondere mit den Schulaufsichtsbehörden gehabt zu haben scheint, weil, bildlich gesprochen, der gute Hirte seine Schulherde am liebsten allein hüten möchte, zur Not auch an ›Oberhirten‹ vorbei. Repräsentativ für Letztere begegnet im Film die etwa fünfundvierzigjährige Kreisschulrätin Janson, also eine Leitungskader-Heldin mittlerer Ebene und mittleren Alters, die für das quasi-preußische Behördendenken des DDRBildungswesens steht und die immer wieder nur durch das persönliche Einwirken Hirtes zu milderen Reaktionen gegenüber Karla zu bewegen ist, weil sie mit jenem eine vertraut-zwistige Verbindung fast wie unter alten Eheleuten pflegt. Die Ebene der ›weisen‹ höheren Leitungs- bzw. Parteiebenen ist kaum präsent, eine zumindest kurzzeitige Deus-ex-machina-mäßige Hoffnung für die Protagonistin lässt allerdings der plötzliche ›hohe Besuch‹ einer Berliner Delegation und ihres ›gelassenen‹ mittelalten Leiters Lenke aufkommen. Lenke nimmt Karla situativ vor allem vor der Orthodoxie der Kreisschulrätin in Schutz – verlässt die Schule dann jedoch nicht ohne weiteres Einwirken. Das sonstige PädagogenSpektrum im Film, sprich: Karlas Kollegium, ist breit angelegt, vom ideologisch scharfen und argwöhnischen älteren Genossen mit dem sprechenden Namen »Eifert« über den das Politische eher meidenden Mathematiklehrer Jott bis zur mitfühlenden erfahrenen Kollegin Wenndorf, Mutter eines von Karlas Schülern. Nicht zuletzt über diese exemplarischen Lehrerkollegium-Mitglieder erscheint auch bereits eine grundsätzliche lebensweltliche ›Bereicherung‹ des Heldennarrativs angestrebt. Eine ähnliche ›Bereicherung‹ wird durch die Summe an Schülerinnen und Schülern erreicht, auch wenn der Film lediglich einige Mitglieder der Abiturientenklasse präsentiert, in der Karla, neben dem Direktor selbst, vornehmlich zu unterrichten hat. Aus dieser Klasse tritt etwa eine Handvoll Personen deutlicher hervor, und auch diese bilden wie das Lehrerkollegium ein zeit- und menschentypisches Tableau. Den stärksten Charakter stellt der kluge und rebellische, aber eigentlich auch sensible Sohn eines (sc. noch ›bürgerlichen‹) Apothekers dar, Rudi (Schimmelpfennig), dessen familiärer Hintergrund und Intelligenz ihn zum hauptsächlichen ›Renitenzler‹ gegenüber ihn nicht voll überzeugenden Ideologien und Schulautoritäten gemacht haben; er erkennt jedoch auch besonders gut Karlas Andersheit gemessen an der üblichen Lehrerschaft und verliebt sich späterhin sogar in sie. An seiner Seite agieren die weniger klugen und eher pubertär ›renitenten‹, aber auch schnell verängstigten Schüler Uwe (Wenndorf) und ein nur »der Kleine« genannter Kumpane. Rudi diametral gegenüber befindet sich

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die eher begrenzt kluge bzw. reife Schülerin Erna (Kleinschmidt), die aus schlichtem Eifer voll hinter den Ideologemen und jeglichem von der Schule vorgesetztem Wissen steht und die sich gegen Widerspruch von Mitschülern autoritätshörig empört; sie erscheint nahezu wie ein Zerrbild einer sozialistischen Jungheldin. Die weiteren Klassenmitglieder sind ebenfalls tendenziell im Sinne eines Tableaus angelegt, von einer ›gut sozialistischen‹ und klugen Monika über mehrere Mitläufertypen bis zu lediglich momenthaft Opponierenden; diese alle treten jedoch als Charaktere kaum näher. Um mit der chronologischen Heldennarrativ-bezogenen Handlungssichtung zu beginnen, lohnt ein Blick auf den knapp fünfminütigen Vorspann, der das Ende von Karlas Entlassungsfeier an der Pädagogischen Hochschule zeigt und der bereits gut andeutet, welches Potenzial der ›Bereicherung‹ im Folgenden zu erwarten ist. Als Erstes ist zu sehen (das heißt mit einem Sprung medias in res), wie der Hochschulrektor seine Ansprache an die Absolventinnen und Absolventen mit der Ermutigung beschließt, dass sie als »pädagogische Jugend« anscheinend anstehenden Innovationen »Ziel und Richtung verleihen« müssten, um Wissensvermittlung und Denken-Lehren besser zu vereinen (Min. 1f.). Sodann ist es bereits Karla selbst, die markiert, wie sie die Position und das kommende Tun ihrer Lehrergeneration versteht, und zwar indem sie in einer spontan von ihr verlangten Rede – die Kommilitoninnen und Kommilitonen scheinen gerade ihr das zuzutrauen – vor allem auf zweierlei Weise Dank abstattet. Sie dankt, worüber sich das Auditorium zuerst amüsiert, explizit und innig lediglich dem einfachen Personal (Sekretärin, Heizer, Koch u.a.) und bezeugt so ihre gute Verbindung mit der proletarischen Gesellschaftsbasis, und dann reflektiert sie entsprechend ›gut sozialistisch‹, dass der wahre Dank erst in der eigenen pädagogischen Arbeit bestehen wird (vgl. Min. 2). Sie legt dabei noch mehr als der Rektor den Schwerpunkt auf das Lehren des »Weiterdenken[s]«, da die Wissensbestände einem so großen Fortschritt unterworfen seien. Dies klingt wiederum ›gut sozialistisch‹, interessanterweise benennt sie als Endzweck dieser Arbeit dann jedoch nur, »daß das Leben leichter, anmutiger und fröhlicher wird.« (Min. 3) Dieses scheinbar ideologieferne Ziel lässt sich aber wohl bereits als individuelle Note von Karlas sozialistischem Heroismus verstehen und so, zusammen mit der Schwerpunktsetzung auf das Lehren des ›Weiterdenkens‹ und ihrem Wahrhaftigkeitsstreben, als ihre Möglichkeit der ›Bereicherung‹ von Heldennarrativ und gezeigter DDR-Lebenswelt. Ermutigt wird sie dazu im Folgenden von ihrer Umgebung nur sehr begrenzt, Schuldirektor Hirte sympathisiert jedoch bis zum Schluss grundständig mit seiner vor allem nicht duckmäuserischen ›Junghel-

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din‹5, und der Berliner Delegationsleiter Lenke wird immerhin – in Fernkorrespondenz mit dem Vorspann – beisteuern, dass auch im Realsozialismus eine stetige Selbstoptimierung anzustreben sei (vgl. Min. 101). Nach Karlas erstem Zusammentreffen mit dem Direktor und der Schulrätin Janson, das vor allem deren oberhalb umrissene Charaktere und Grundhaltungen gegenüber dem Schulsystem schlaglichtartig einführt und Karlas Position als Nachwuchskraft Hirtes unter (noch freundlich) kritischer Beobachtung Jansons initiiert (vgl. Min. 17 bis 21), erfährt sie sozusagen inkognito und in recht informellem Rahmen, was Schüler wie Rudi (Schimmelpfennig) und seine beiden Freunde von ihrer Schule und damit dem DDR-Schulwesen überhaupt halten (vgl. Min. 22 bis 25): Bei einem abendlichen Tanzvergnügen, das sie eigentlich Kaspars wegen aufsucht, hält Uwe (Wenndorf) sie für eine neue Mitschülerin, der gegenüber er seine Schule und namentlich den Einsatz des Direktors für diese zwar zunächst sehr lobt, um dann jedoch nachzusetzen, die Lehrer seien freilich »wie überall«, das heißt: »Sie wurschteln sich so durch. Ja was sie uns erzählen, ist sowieso alles ›für die Jugend ausgewählt und bearbeitet‹«, und weil Karla skeptisch-belustigt wirkt, setzt er nach: »Ja was denn sonst. Ich halte die Klappe, meine Mutter ist Lehrerin« (Min. 23f.).6 Wohl auch, damit Uwe sich nicht ›um Kopf und Kragen‹ redet, offenbart Karla dann allerdings, dass sie nicht als Schülerin, sondern als Lehrerin an die Schule komme (vgl. Min 24).7 Nach ihrem Abgang fragen sich Rudi, Uwe und »der Kleine« bedeutungsvoll, ob nicht gerade diese Lehrerin sie (wohl: die sich erfahren durch das Schulsystem manövrierenden Oberstufenschüler) ›schaffen‹ werde – oder umgekehrt (vgl. Min. 25). Ein solches ›Kräftemessen‹ ist sicherlich als schultypische Situation zu verstehen, gemessen an Uwes allgemeiner Einschätzung der Lehrerinnen und Lehrer könnte Karla jedoch bereits den Eindruck hinterlassen haben, dass es sich bei ihr um einen etwas anderen Typus handelt, sprich: dessen Auftreten sogleich

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Eine vorherige, von ihm wieder weggeschickte Nachwuchskraft hatte er im Gespräch mit Schulrätin Janson als »Arschkriecher« verachtet (Min. 17f.).

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Die gesamte Sequenz des Tanzvergnügens fehlt in Plenzdorf 1978, das heißt: Entweder sie war bei der Szenarium-Erstellung 1964 noch nicht vorgesehen oder sie konnte 1978 wegen zu unvermittelter Kritik nicht abgedruckt werden.

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Das zierlich-mädchenhafte Aussehen der Darstellerin Hoffmann wird, unterstützt von dem gespielten schüchternen Charakterzug, anfangs fast für eine Art Running Gag genutzt, denn nahezu jede und jeder hält sie zunächst noch für eine Schülerin; dadurch entsteht auch ein interessanter Kontrast zu dem resoluten oder auch frech-fröhlichen Zug der Figur.

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eine besondere, positive Qualität und damit Anerkennungspotenzial bzw. Vorbildcharakter verspricht. Der nächste Morgen bringt den ersten Schultag der Junglehrer-Heldin, und prompt übergibt Direktor Hirte ihr den Deutsch- und Geschichtsunterricht in der Abiturklasse von Rudi und den anderen (den politisch besonders relevanten Unterricht in Staatsbürgerkunde behält er mit Nachdruck sich vor, vgl. Min. 31). Nachdem Hirte den Raum verlassen ist, prüft die Klasse mit Albernheiten und demonstrativem Interesse bei der Verkündigung des neuen Stundenplans Karlas Durchsetzungsvermögen, die kontert jedoch nach Kräften mit Humor (vgl. Min. 32 bis 35). Als andersartigen Test lässt Rudi Uwe das Thema »Fontane« aufbringen, der besondere Aufmerksamkeit genießt, weil die Schule nach ihm benannt ist – wahrscheinlich bereits von der späterhin beiläufig erwähnten Gründung vor fünfzig Jahren an (vgl. die Schulfeier, Min. 84), aber wie Karla feststellen darf, hat Direktor Hirte den Autor zumindest ein Stück weit auch zum sozialistischen Vorbild deklariert. Die Künstlichkeit dieser ideologischen Zurechtlegung vor allem der Position des jungen Fontane ist Rudi und seinen Mitstreitern anscheinend gut bewusst, aber sie wissen wohl auch, was nun folgt: Die ›linientreue‹ Erna ordnet ihn auf Karlas Frage: »Kennen Sie Fontane?« brav »in der Front der kritischen Realisten als linke[n] Flügelmann« ein, der »die Kraft der Arbeiterklasse voll erkannt, wenn auch noch nicht gültig gestaltet [habe]«. Als Karla wissen will: »Wer hat Euch denn diesen Unsinn erzählt?«, kann Rudi nüchtern mit der Antwort auftrumpfen, dass das der Direktor getan habe (Min. 35). Für die gesamte Klasse anscheinend unerwartet erklärt Karla sodann, wie weit politisch rechts der junge Fontane einzuordnen ist und dass es nicht darauf ankomme, alles ideologisch passend zu machen, sondern richtig zu verstehen, und lässt damit vor allem eine provokative Bemerkung Rudis (»So hätten wir es doch gerne.« Min. 36) ins Leere laufen. Als sie dann auch noch feststellt, dass die Klasse von Fontanes Werken ansonsten gar nichts kennt, kann sie kontern: »Sie wissen nichts und wollen mit mir diskutieren.« (Min. 37) Zum Abschluss schlägt Karla der Klasse jedoch (erfolgreich) vor, diese Unkenntnis zu beheben und Fontane im Jahresplan vom Ende an den Anfang vorzuziehen (vgl. Min. 37f.). Vor der Klasse hat sie damit fürs Erste vermutlich sogleich auf ihre Weise heldenhaft, grundsozialistisch, aber auch wahrhaftig, ›bestanden‹, in der anschließenden Szene liest ihr Hirte im mittäglichen Zwiegespräch am Imbissstand – wenn auch in lockerer Form – die Leviten, da sie gleich in ihrer ersten Schulstunde die Autorität des Schuldirektors (der freilich seinerseits vor der Klassentür gelauscht hatte, vgl. Min. 32) untergraben habe. Seine Einordnung Fontanes hält er zwar selbst für sachlich stark anzweifelbar, sie sei jedoch nötig gewesen,

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um die »Grünschnäbel [...] politisch [nicht zu] verwirren« (Min. 38), sprich: Um die Namensgebung der Schule auch sozialistisch sinnvoll erscheinen zu lassen, biegt Hirte lieber die historische Wahrheit etwas zurecht. Die kleinlaut gewordene Karla mahnt er zum Abschluss des Gesprächs, sich in Zukunft besser an den Lehrplan zu halten und keine spontanen und potenziell Verzögerung erzeugenden Änderungen mehr vorzunehmen. Er beendet das Gespräch wohlwollend, aber auch autoritativ mit der Anweisung, dass sich Karla zudem einmal eine ›gut sozialistische‹ Unterrichtsstunde bei Hirte ansehen solle (vgl. ebd., umgesetzt in der übernächsten Szene, Min. 40 bis 42). – In der direkt nachfolgenden Szene rät ihr Kaspar: »Mit ’n bisschen Vorsicht und Überlegung wärst Du da nicht gleich am ersten Tag reingeschliddert, aber der Weg vom Denken zum Sagen ist bei Dir geradezu beängstigend kurz.« Karla versucht sich gegen zu viel »Vernunft«, die Schweigen macht, zu verwehren, Kaspar hält dies jedoch für einen realitätsfremden Allgemeinplatz (Min. 39). Die Grundspannung von umfassender (auszusprechender) Wahrheit und ›vernünftiger‹ Beschränkung ist damit exemplarisch exponiert, Karlas Heroismus wird in der Folge darin bestehen, um das ›Zusammenhalten‹ beider Aspekte im Sinne des Vorspanns und damit einer eminenten ›Bereicherung‹ zu ringen. Sie bemüht sich in diesem Sinne etwa bei einer vom Direktor und zwei Lehrerkollegen besuchten Stunde zu Fontane um eine sozialistisch ›brauchbare‹, aber auch wahrhaftige Deutung (vgl. Min. 48f.). Am Ende der Stunde lässt sie jedoch zu, dass Rudi ihr kurz noch das Heft aus der Hand nimmt, um eine vor allem für den Direktor unbequeme Richtigstellung zu einem von dessen Unterrichtsgegenständen vorzunehmen – scheinbar um der auszusprechenden Wahrheit Willen, unterschwellig jedoch vor allem um seine Opposition gegen die herrschende Ideologie zu markieren (vgl. Min. 49f.). Der Direktor lässt das zwar geschehen, im Zwiegespräch mit Karla nach Schulschluss weist er Karla jedoch scharf zurecht, weil sie mit Rudis Auftritt vor allem eine Unterminierung ihrer eigenen Autorität zugelassen habe. Bei allem Idealismus, dessen Inhalte Hirte an sich teile, solle sie sich der notwendigerweise hierarchischen und damit auch konfrontativen Schulrealität bewusst sein. Den von Karla vorgeschlagenen demokratischen Weg zur Wahrheit lehnt der Direktor zumindest für seine Institution in (systemübergreifend) zeittypischer Weise ab (vgl. Min. 51f.). Zwei weitere Handlungssequenzen beschließen den großen ersten Teil, in dem Karla insgesamt zunächst erfährt, wie wenig sie ihren umfassenden Anspruch in dieser Schulrealität zum Gelingen bringen kann. Die erste der beiden Sequenzen, die hier beide lediglich grob resümiert werden können, thematisiert, wie leicht Karla erneut von Rudi benutzt werden kann, als dieser den Direktor als Vorbild noch fundamentaler infrage stellen will: Rudi zeigt Karla vertraulich

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ein altes Foto von Hirte als SA-Mann und will, dass sie ihn diesbezüglich zur Rede stellt. Als Karla dies aus einer unbestimmten Unsicherheit heraus nicht tut, ist plötzlich auf den Lehrertisch der Abiturklasse ein Hakenkreuz geschmiert (die mytho-logische Furcht vor der Wiederkehr des Faschismus!), und ein empörter Hirte zieht mit Karla und weiteren Kollegen vor die Klasse. Als Rudi triumphierend das alte Foto zückt, belegt Hirte jedoch in extensiver Rede überzeugend und vor allem für Rudi und Karla beschämend, welcher Irrtum hier vorliegt, denn es handelt sich um ein Foto aus einer ›gut sozialistischen‹ Theaterinszenierung heraus, und zwar von Brechts »Arturo Ui«, aufgeführt 1948 vor Ort (vgl. 60 bis 68). Als Karla im Nachhinein Hirte gegenüber zugibt, dass sie seinem zuvor ›abgefragten‹ (vgl. Min. 63) Altheldentum nicht mehr ganz getraut habe, lässt dieser sie im Rahmen einer Sitzung des Pädagogischen Rats der Schule nun einmal offiziell durch die Hardlinerin Schulrätin Janson zurechtweisen, die sogar bereits eine Versetzung nahe legt – Hirte setzt jedoch immer noch auf Karlas ›Selbstbesserung‹ (vgl. Min. 70 bis 73). Im abendlichen Nachgespräch mit Kaspar erklärt Karla nun auch selbst, dass sie in Zukunft besser »vorsichtig sein [müsse]« (Min. 75). Die zweite Sequenz in der direkten Folge zeigt allerdings, dass Karla immer noch nicht ›vorsichtig‹ genug zu sein vermag: Als der lokale Zeitungsjournalist Hartmann, unterstützt von seinem alten kommunistischen Weggefährten Hirte, mit Karla in die Abiturklasse geht, um für die Mitwirkung an einer Artikelserie zu werben, landet Karla erneut ehrlich überzeugt, aber auch ›unvorsichtig‹ auf der Seite dagegen opponierender Schüler. Der Journalist erbittet Schüleräußerungen zum Artikelthema »Wer ist euer Vorbild und warum?« (Min. 78), aber als neben ›gut sozialistischen‹ Wortmeldungen von Monika und Erna auch parodistische kommen (ein Schüler mit piepsig verstellter Stimme: »Mein Vorbild sind die kühnen sozialistischen Kosmonauten«, ebd.) und von Rudi die Gegenfrage »Wozu?« und eine generelle Hinterfragung des Projekts (Min. 79f.), signalisiert Karla Verständnis und verlässt mit dem wutentbrannten Journalisten die Klasse. Als Hirte in seinem Büro zwischen Hartmann und Karla zu vermitteln versucht, distanziert sich Karla nochmals deutlicher in Rudis Sinne, indem sie erklärt: »Vielleicht haben sie [die Schülerinnen und Schüler] in diesem Alter keine personifizierten Ideale mehr.« (Min. 82) – eine Metareflexion, mit der der Film zugleich sogar an die Grundfesten der sozialistischen Mytho-Logik und ihres Heldennarrativs rührt, dessen ›Bereicherung‹ hiermit latent mit einer Art Auflösung ins Abstrakte verbunden wird. Karla möchte an der Umsetzung des Artikelprojekts zunächst entsprechend gar nicht mehr mitwirken, Hirte fordert dies jedoch so nachdrücklich ein, dass sie ihren Widerstand zumindest insoweit

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(erkennbar) aufgibt, dass sie einige ›bravere‹ Schülerinnen und Schüler zum Einzelgespräch mit dem Journalisten aus der Klasse beordert (vgl. Min. 83f.). Fügt sich Karla an dieser Stelle vielleicht nur oberflächlich, so nimmt sie in der Folgezeit, im zweiten Filmteil (Min. 84 bis 126), die ihr wieder und wieder ans Herz gelegte ›Vernunft‹, ›Vorsicht‹ und Zurückhaltung der eigenen Impulsivität doch ein ganzes Stück stärker an, sprich: Ihr persönliches Heldentum besteht nun vor allem in der entsagungsvollen Übernahme der schlichten Grundideologie bei der Behandlung von Unterrichtsstoffen und damit letztlich auch in einer Erziehung hin auf das realsozialistische Heldennarrativ. Der zweite Teil setzt dann mit einer Texteinblendung »Ein halbes Jahr später« (sowie mit still-melodischem bis melancholischem klassischem Piano, Min. 84) wieder ein und präsentiert in der ersten Szene die Schulleitung auf der Aula-Tribüne am Ende einer Preisverleihung (wohl im Rahmen einer größeren Schulfeier, an der Rückwand der Tribüne prangt »50 Jahre / Theodor-Fontane-Schule«, ebd.). Direktor Hirte leitet gerade jovial ein, dass er nun auch noch Klara mit einer Auszeichnung würdigen könne, obschon sie »gewissermaßen einen Fehlstart« (ebd.) an seiner Schule gehabt habe. Im Wechsel mit Hirte in der Halbtotalen sieht man Karla in der Großaufnahme enface, die dessen Beschreibung ihrer eigenen Person ernst und teils auch mit gesenktem Blick verfolgt. Hirtes Lob gipfelt in der Feststellung, die dann auch von Schulrätin Janson wohlgefällig in der ersten Reihe angehört wird: »Es gelang ihr in einem größerem Maß, sich in das feste Kollektiv unseres Kollegiums einzufügen, und es gelang ihr endlich auch, das richtige Verhältnis zu den Schülern zu finden. Sie führte in ihrem Unterricht eine so feste Ordnung und Lerndisziplin ein, und sie verteilte ihren Stoff so gut, dass sie im Plan voraus ist, Zeit für Wiederholungen gewonnen hat, und wir uns um das Abschneiden unserer Abiturienten in ihren Fächern nicht zu sorgen brauchen.« (Min. 85)

Schweigend nimmt Karla auf der Tribüne Gratulationen entgegen, und als sie schließlich einen eigenen Kommentar zu dem Lob abgeben möchte, eingeleitet mit einem vielsagenden »Tja«, bescheidet Hirte sie rasch und vermutlich ›sicherheitshalber‹: »Lass mal Deine Dankrede. Wir wissen ja, leicht war es nicht.« (Min. 86) – und noch während Hirtes letzten Worten läuft Karla von der Tribüne, von Hirte wiederum milde belächelt. Wie Karla dieses Resümee ihrer Selbstdisziplinierung wirklich aufgenommen hat, zeigt auf ganz andere Weise die unmittelbar folgende Szene: In einer hell erleuchteten Großgaststätte (des Hauptbahnhofs der Stadt, vgl. Min. 89), an deren Tischen aber ansonsten niemand mehr sitzt, teilt eine betrunken lallende Karla dem ihr gegenüber sitzenden Hirte

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mit: »Weißt du was, ich bin eine Leiche, eine schöne Leiche. Ich bin sogar eine ›ausgezeichnete‹ Leiche.« Und nach einer abwiegelnden Unterbrechung durch den ebenfalls betrunkenen Hirte: »Woran bin ich eigentlich gestorben? [...] Ich werde Dir sagen, woran ich gestorben bin: an der Vorsicht.« Als Hirte diese bittere »Selbstdiagnose«, wie Karla ihr Statement nennt, auf ihre Betrunkenheit schieben will, weist Karla das allerdings bedeutungsvoll zurück: »Ich bin überhaupt nicht besoffen, kein bisschen. [...] Ich bin nämlich nur scheintot«. (Min. 87f.) Nachdem sie mit der sarkastischen Frage geschlossen hat, ob Hirte eigentlich auf Schulrätin Jansons Geheiß sie, Karla, im Sarg zu bewachen habe, empört sich dieser seinerseits und beide verlassen wie resigniert die Gaststätte. Karla begibt sich sodann in ein Taxi, aus dem sie Hirte noch zuruft: »Ihr nehmt mich alle noch ernst!« (Min. 89) Die nächste Szene zeigt Karla vor Kaspars Haus (in dem sie eine eigene Mansarde hat), wo sie Einlass haben will – sie findet wohl den Türschlüssel nicht mehr –, und nachdem ein freundlich-geduldiger Kaspar sie in seine Wohnung getragen und fürsorglich, aber auch etwas amüsiert ins Bett gelegt hat, erklärt sie ihm, gewissermaßen in Fortsetzung der ›Selbstdiagnose‹: »Ich bin ausgezeichnet worden. [...] Weißt du auch wofür? [...] Man ist mit mir zufrieden. [...] Gibt es überhaupt was Schlimmeres? Es gibt was Schlimmeres. Die Klasse ist auch mit mir zufrieden, jedenfalls fast alle. Ich habe es ihnen bequem gemacht, und was das Allerschlimmste ist: Ich war schon selbst mit mir zufrieden. [...] Es fing damit an, dass ich ganz einfach keine Fehler mehr machen wollte. [...]« (Min. 91 bis 93)

Wie gegenüber Hirte schließt sie jedoch mit einer auftrumpfenden Ansage: »Es muss etwas passieren. [...] Sie sollen sehen, Karla Blum ist wieder da. Ganz egal, was mir passiert.« (Min. 93) – Ein sichtlich genervter Kaspar reflektiert darauf hin nur, wie sehr Karlas erneuerter alter Heroismus ihre Liebesbeziehung belasten wird, und er fasst seine Erwartung zusammen: »Mit einem Wort, der janze [!] Film beginnt von vorn.« (ebd.) Worin ›der janze Film‹ besteht, kristallisiert sich in einer direkt anschließend gezeigten Unterrichtsstunde, die Karla in der Abiturklasse gibt und bei der sich unangekündigter ›hoher‹ Besuch einstellt, und zwar eine Delegation in (nicht näher spezifizierten) Jugendbelangen aus der Hauptstadt (vgl. Min. 94). Von einem etwas widerwilligen Direktor Hirte und einer diesmal gelassenen Schulrätin Janson wird sie in Karlas Klasse geführt, und zwar gerade weil mit Karla dort eine »jüngere Vertretungskraft« (ebd.) unterrichtet und weil dort gerade auch nur Aufsatzarbeiten zurückgegeben werden. Zur wachsenden Verwunderung vor allem von Hirte, der die Schülerinnen und Schüler ja gut kennt, erhalten praktisch

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alle bloß eine Vier, Rudi sogar eine Fünf, denn: »Sie erschöpfen sogar auf gewisse Weise das Thema, aber den Inhalt nehme ich Ihnen am wenigsten ab.« (Min. 95) Das Aufsatzthema war: »Was mir die Schule gegeben hat«, und etwa die ›linientreue‹ Erna bemerkt, dass ihr Aufsatz ursprünglich mit einer Zwei bewertet worden war und dass die aktuelle Note ohne weitere Korrekturen erfolgt zu sein scheint. Um das Rätsel der Bewertung aufzuklären, zitiert Karla aus dem anscheinend besonders (negativ) aussagekräftigen Aufsatz von Rudi eine längere Passage, deren für sie neuralgische Worte sie jedoch gleich am Anfang des Zitats sehen dürfte: »... hat mich stets zur Aufrichtigkeit erzogen.« (Min. 96; Hervorhebung S.E.) Es folgen Einzelheiten dazu, wie die verschiedenen Lehrerinnen und Lehrer gerade ihn ›gut sozialistisch‹ unterrichtet hätten, so dass sich just Erna durch einen Zwischenruf empört, dass Rudi das sicherlich nicht ernst meine (vgl. Min. 97). Karla gesteht das sofort zu, sieht jedoch auch bei vielen anderen – abgesehen von einigen wie Erna selbst – ein unterschiedliches Maß gerade an Unaufrichtigkeit, »nach der Überlegung: Je mehr ich Schule und Lehrer lobe, desto mehr loben sie mich.« (Min. 98) Da Karla dies aber nicht bewerten könne, annulliert sie den Aufsatz im Ganzen. Dass bei vielen vor allem eine eigene »Haltung« (ebd.) fehle, bis hin zur Heuchelei, schreibt sich Karla jedoch schließlich auch nur dem eigenen Lehrerverhalten der letzten Monate zu, denn sie habe sich lediglich »am Anfang bemüht, in Ihnen die Lust und den Mut und das Bedürfnis zu einer eigenen Meinung zu wecken – und sie Ihnen der Reihe nach wieder genommen.« (Min. 99) Rudi freilich hält diese heroische Selbstbeschuldigung nicht für die komplette Wahrheit und fragt rhetorisch: »Wer hat sie [Fräulein Blum] bestärkt, ihren Kurs zu ändern? Von wem ist eine Lehrerin abhängig? Mehr frage ich nicht!« Hirte fühlt sich zurecht angesprochen und brummt, ohne aufzusehen: »Nur zu, immer feste!« (Min. 100), Karla jedoch will sich damit gar nicht entschuldigt wissen, sondern möchte mit der Klasse noch gerade rechtzeitig vor der buchstäblich für sie anstehenden ›Reifeprüfung‹ die anfängliche Erziehungslinie wieder aufgreifen (Min. 100f.). Die von Rudi ebenfalls noch in die Verantwortung gezogene Schulrätin Janson möchte den Unterrichtsbesuch nun rasch abbrechen, Delegationsleiter Lenke stellt jedoch zur Ermutigung Karlas und ihrer Abiturientinnen und Abiturienten, aber implizit auch für die anwesende Schulleitung und -aufsicht (und sc. an die Adresse des zeitgenössischen Filmpublikums) fest: »Unsere Weltanschauung ist nicht dazu da, das Bestehende [also auch den ›Realsozialismus‹8] zu verteidigen, sondern um es zu verbessern.

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Vgl. in diesem Sinne differenzierend, wenn auch mit leichter Kritik daran, Wischnewskis Nachwort in Plenzdorf 1978, S. 180.

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[...] Mut wird billiger, Verstand immer teurer!« (Min. 101) Die bereits im Filmvorspann, im Kontext der Hochschulabschlussfeier, angeregte ›Bereicherung‹ des sozialistischen Heldennarrativs scheint insofern geradezu offiziell abgesegnet. Die ›Absegnung‹ von höherer Stelle schützt Karla bis auf Weiteres davor, dass sich die auch aus eigener Sicht als schlechte »Dogmatiker« (Min. 102) hingestellten Hirte und Janson an ihr rächen könnten. Karlas Ausgangshaltung besteht freilich nicht nur aus dem Obigen, sondern auch aus einer für den Lehrerberuf allenthalben gefährlichen Impulsivität. Diese macht es in der nächsten großen Handlungssequenz (vgl. Min. 103 bis 120) doch noch möglich, dass die Unbequeme die Schule verlassen muss. Das bedeutet, kurz zusammengefasst: Weil Kaspar Karlas neu erstarkten Optimismus aus (berechtigter) Skepsis nicht sogleich teilt, lässt sie sich beim zufälligen Besuch einer Party der Abiturklasse etwas zu sehr mit dem sie umschmeichelnden Rudi ein (bis hin zu einem Kuss von seiner Seite, nachdem beide eine frühmorgendliche Spritztour ans Meer unternommen haben). Rudis zugleich dafür ›versetzte‹ Freundin empört sich über diese vermeintliche Affäre in einem Brief an Rudi, den sie fatalerweise in Hirtes Unterricht schreibt und den dieser ihr abnimmt (vgl. soweit bis Min. 110). Als Hirte und Janson am Folgetag erst noch Karlas Lehrerverhalten beim Unterrichtsbesuch beraten, will Hirte Karla zunächst wieder selbst auf den gewünschten Weg bringen. Weil Janson dies jedoch nicht genügt und sie vielmehr Hirte einen vorgezogenen Ruhestand nahe legt, zieht Hirte gegenüber der Hinzugekommenen die ›Trumpfkarte‹ des kassierten Briefs und will sie so zur spontanen erneuten Kehrtwende im Sinne der ›Vernunft‹ bewegen (vgl. Min. 115). Als diese um die Trennung der Problematiken bittet, weist Janson auf den disziplinarisch relevanten zu engen Schülerkontakt hin und beschließt Karlas Versetzung nach sofortiger Beurlaubung (vgl. Min. 119). Bei einem nachträglichen Besuch in Karlas Mansarde signalisiert ein halb amtsmüder, halb kampfesmutiger Hirte schließlich, dass er sich an Janson für die harte Entscheidung zumindest ersatzweise noch rächen möchte, Karla winkt jedoch ab: »Das ist es nicht.« Hirte ermuntert Karla daraufhin immerhin sogar: »Bleib’ so.« (Min. 120) Wie sich Karlas Heroismus allerdings an einer anderen Schule (sc. im selben Schulbezirk) noch beweisen soll, bleibt weitgehend offen, als Kaspar ihr einen seiner eigenen alten Entscheidung vergleichbaren Ausstieg nahe legt, versichert sie ihn nur tapfer, dass sie Lehrerin bleiben wolle (vgl. Min. 122). Als Karla kurze Zeit darauf ihre neue Schule genannt bekommen hat, will sie außerdem – sicherlich aus Liebe, aber wohl nicht minder zur eigenen Ermutigung – Kaspar zum Mitkommen bewegen und erklärt den weiterhin innerlich Emigrierten zum »Feigling« (Min. 123). Vor allem traurig steigt sie in der letz-

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ten kleinen Sequenz des Films sodann zunächst allein in den Zug zum neuen Dienstort (wohl auf Rügen), doch schließlich springt Kaspar noch gerade auf den anfahrenden letzten Waggon mit Karla, und nach einer innigen Umarmung sprechen sich beide kurz aus (für den Zuschauer stumm, bei darüber gelegtem klassischen Piano, nun frohgemuter als zum Übergang von Teil eins nach Teil zwei) und stehen beruhigt nebeneinander am Ende des Wagens, durch dessen geschlossene Übergangstür man die Landschaft davonziehen sieht (vgl. Min. 126f.). Zusammen mit ihrem Geliebten und womöglich auch parallel zu dessen eigener ›Rückkehr‹ in ein sozialistisches Heldenleben scheint es die heroische junge Lehrerin noch einmal versuchen zu wollen, die auch aus Sicht des Althelden Hirte sinnvolle ›Bereicherung‹ im Bildungswesen und für die sozialistische Jugend weiter zu leben.9 Dass der Film KARLA mit seinem im Ganzen beeindruckend differenzierten Plädoyer für eine Weiterentwicklung des Heldennarrativs und seiner Lebenswelt schließlich gar nicht an die Öffentlichkeit gelangen durfte, hat fiktionsextern freilich nicht nur ein Urteil über die hoffnungsvolle Einschätzung der Protagonisten gesprochen, sondern ebenso über die Möglichkeit, das Heldennarrativ in der realen Welt mit einer neuen Wahrhaftigkeit zu ›bereichern‹ und damit auch einer Denaturalisierung durch eine erstarrte ›Vernunft‹ entgegenzuwirken, die im Folgenden noch einmal gesondert verfolgt werden soll. Wie eingangs bemerkt, spielt sich die Handlung von KARLA weitgehend an demselben Ort wie Kants Aula ab, und auch die erzählte Gegenwart stimmt gut überein. Darüber hinaus gibt es jeweils Aufarbeitungen von dunklen Aspekten der späten Stalinzeit, die jedoch auf unterschiedliche Weise in Grenzen gehalten werden: Ist es bei Kant eine generelle Verharmlosung bzw. das ›rechtzeitige‹ Abbrechen der Reflexion oder ein Im-Raum-Stehen-Lassen (etwa bezüglich der rätselhaften Flucht »Quasi« Rieks), so bringt in KARLA nur die Figur des ›innerlich emigrierten‹ Ex-Journalisten Kaspar Stein diese Zeit und ihre Folgen ein, während die anderen Älteren ganz in der Gegenwart zu leben scheinen und Jüngere wie Karla oder allzumal ihre Schülerinnen und Schüler schon gar keinen Bezug mehr zu dieser Zeit zu haben scheinen. Der Anfangsmakel (auch) der DDR bzw. die Widersprüche für das sozialistische Heldennarrativ von dorther

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Dass die abschließende Hoffnungsperspektive sogar ziemlich klein bzw. vielleicht nur auf das Privatleben von Karla und Kaspar begrenzt erscheinen könnte, mutmaßte Mews anhand des veröffentlichten Filmszenariums, das freilich sogar ›optimistische‹ Ergänzungen gegenüber dem Film (den Mews natürlich seinerzeit nicht kennen konnte) bietet, vgl. Mews 1984, S. 28-31.

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werden insofern nur ein wenig in die mytho-logisch narrativierte Gegenwart eingelassen, vermutlich nach dem Motto ›so viel wie nötig und so wenig wie möglich‹, um die dargestellte Lebenswelt und ihre Urgründe plausibel genug zu zeichnen. Der Stand der sozialistischen ›Pseudonatur‹ erscheint in KARLA somit und auch ansonsten auf den ersten Blick recht ähnlich zu demjenigen in der Aula: Es hat schon so viel Zeit für ›Bereicherungen‹ gegeben, dass die MythoLogik recht breit etabliert worden ist – zumindest scheinen dies die Protagonisten so wahrzunehmen und entsprechend selbstverständlich die DDR-Realität als grundsozialistisch zu verstehen. Im Gegensatz zu Kants bei allen kleineren kritischen Reflexionen ›zufriedener‹ Gegenwartschau ist die Protagonistin von KARLA jedoch keineswegs zufrieden mit der Realität, die sie an ihrer (wohl exemplarisch zu verstehenden) Schule vorfindet. Dass sich auch der erreichte Staatssozialismus generell immer weiter entwickeln muss, hatte der Vorspann des Films bereits gewissermaßen als Impetus für eine ›Bereicherung‹ durch ›Weiterdenken‹ gesetzt, und gegen Ende wird dies durch den Hauptstadtfunktionär Lenke auch bestätigt. Konkret aber geht es für Karla gewissermaßen um ein neuralgischeres Problem: Es herrscht nicht nur ein entwicklungsfeindlicher Stillstand, sondern es hat bereits eine Schematisierung der sozialistischen Ideologie stattgefunden, die deren Naturalisierung nicht zuletzt bei der aktuell heranwachsenden Generation, den an sich nötigen nächsten Junghelden, wieder brüchig werden bzw. in die Denaturalisierung kippen lässt. Insbesondere Karlas letzte Unterrichtsstunde in der Abiturklasse zeigt das, indem die eingerissene Unaufrichtigkeit oder sogar Heuchelei der Schülerinnen und Schüler von ihr angeprangert wird. Ursächlich dafür erscheint, dass vonseiten der Schule keine Ermutigung zum Selber- und Weiterdenken und damit zu einer eigenen Haltung jeder und jedes Einzelnen mehr stattgefunden hat, die zumindest für Karla doch die Grundlage für ein (auch in diesem Film sicherlich noch als gut möglich angesehenes) Annehmen der sozialistischen Weltperspektive als ›natürlich‹ wären. Stattdessen bemerken die klügeren Schülerinnen und Schüler, dass man für ein passables Zurechtkommen mit der DDR-Gegenwart vor allem nachbeten muss, was von den herrschenden Ideologen erwartet wird – und dabei stellen doch selbst die Klügsten, auch wenn sie sogar aus latent bürgerlichen Verhältnissen stammen wie der Apothekersohn Rudi Schimmelpfennig, das sozialistische Leben als solches gar nicht infrage (etwa indem sie von einer Alternative wie der Bundesrepublik sprächen). Gerichtet nicht nur an das allgemeine Filmpublikum in der DDR, sondern viel mehr noch an die Hüter der mytho-logischen Ideologie gibt der Film KARLA damit warnend zu bedenken (bzw. hätte dies zu tun vermocht, wenn er nicht ge-

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stoppt worden wäre), dass die erreichte Naturalisierung akut gefährdet ist, wenn nicht eine ›Bereicherung‹ durch Differenzierung bzw. eine erneuerte Koppelung mit einer Wahrhaftigkeit zugelassen wird, wie sie die Protagonistin vorzuleben versucht. Dass Karla bei diesem Versuch (noch) zu ungeschickt erscheint, könnte bezogen auf eine solche Gesamtintention des Films sogar als Zugeständnis an die herrschende ältere Generation verstanden werden, da sie aufgrund ihrer größeren Erfahrung zumindest auch wichtige Ergänzungen und Korrekturen beisteuern können.

E IN N EUSTART UND K AREN W. (1974)

EIN

R E -E NTRY : G ERTI T ETZNERS

Die Anfänge von Gerti Tetzners einziger Romanveröffentlichung10 lassen sich bis in den Sommer 1965 zurückverfolgen, denn im Juni des Jahres sucht Tetzner erstmals brieflich Kontakt mit Christa Wolf und legt der bewunderten Autorin hoffnungsvoll eine bereits dem Endprodukt ähnelnde Grobskizze ihres Vorhabens und eine 36 Seiten zählende Textprobe vor. Wolf ist interessiert, vor allem an den biographischen Hintergründen, und erbittet sich (und erhält) von Tetzner Einsicht in deren Tagebuch. Aufgrund der von Wolf bemängelten erzählerischen Qualität der Romantextprobe stellt Tetzner die Arbeit am Stoff bzw. das Schreiben überhaupt sodann für fast drei Jahre ein.11 Im April 1968 wendet sich Tetzner jedoch erneut an Wolf und berichtet, dass sie nicht nur eine neue Fassung des Romans begonnen habe, sondern sogar einen Vorvertrag mit dem Mitteldeutschen Verlag in Halle a.d. Saale für den Roman besitze und als Studentin am Leipziger Literaturinstitut von dessen Leiter Max Walter Schulz selbst betreut werde. Allerdings sind weder Wolf noch Tetzner selbst mit der neuen Fassung zufrieden, denn sie halten sie immer noch für zu unausgegoren und stilistisch unreif. Im Dezember 1968 stellt Tetzner schließlich in Aussicht, dass sie sich für eine von Wolf vorgeschlagene rasche Fertigstellung des Manuskripts – um nicht

10 Für einen Kurzüberblick über Tetzners Œuvre vgl. Krauss/Elit 2011. 11 Wolf 1999, S. 213-222; der Briefwechsel der beiden in dieser sowie in der späteren Zeit ist dort allerdings nicht vollständig wiedergegeben; da dies ohne Gründe geschieht, scheint es sich um einen Ausfall in der Überlieferung zu handeln. Die Korrespondenz aus dem Jahr 1965 wurde im gleichen Umfang (und gleichsam im Nachklapp zur Romanveröffentlichung) zuerst veröffentlicht im Rahmen einer breiteren Zusammenstellung von Schriftstellerbriefen, vgl. »Alltägliche Befindlichkeiten«, in: NDL 23 (1975), H. 8, S. 121-128.

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länger an diesem Stoff zu hängen und sich stattdessen auf Neues einlassen zu können – Arbeitsurlaub vom Literaturinstitut nehmen werde und sich »nach Beendigung der Geschichte« wieder melden wolle.12 Kurz darauf bricht der Briefwechsel wiederum ab, mit einem letzten Schreiben von Wolf, und Tetzner wird noch 1969 das Literaturinstitut verlassen – nach eigener Aussage, in der Rückschau, weil sie sich dort nicht hinreichend gefördert fühlte.13 Zur Publikation gelangt der Roman erst 1974 (in der Bundesrepublik in einer Lizenzausgabe ein Jahr später)14, damit aber immerhin im selben Jahr wie Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand und Irmtraud Morgners Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz, in deren Kontext Tetzners Text in der Folge eine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden sollte.15 Dem Briefwechsel mit Christa Wolf ist zu entnehmen, dass den Nukleus der Erzählung zunächst die Auseinanderentwicklung von »Karin« und ihrem Partner »Dieter« (Peters)16 »zu ihrem Platz und ihrer Aufgabe im Leben«17 ausmachen sollte. Aufgrund ideologischer Probleme in seiner frühen Berufsphase ist Dieter in Karins Augen allzu vorsichtig geworden, während sie ›gewagter‹ leben will

12 Ebd., S. 222-237 u. für das Zitat: S. 237. 13 Vgl. Hildebrandt 1984, S. 108. 14 Vgl. Tetzner 1974; nach dieser Ausgabe erfolgen Zitate und Verweise im Folgenden in aller Regel mit geklammerter bloßer Seitenangabe im Haupttext. 15 Zum einen ist hier auf die breite, wenn auch nicht durchweg positive Rezeption durch die zeitgenössische Literaturkritik in Ost und West zu verweisen, vgl. die Auflistung im Rahmen des KLG-Eintrags zur Autorin (Gerti Tetzner – Sekundärliteratur. In: KLG [2016]). Exemplarisch ist die Kritik von Hans Kaufmann im »Neuen Deutschland« v. 24./25.05.1975 zu erwähnen, die grundsätzlich wohlwollend erscheint, jedoch vor allem noch erzählerische Unzulänglichkeiten erkennt, für einen Wiederabdruck vgl. Kaufmann 1986. Zum anderen ist auf die zahlreichen literaturwissenschaftlichen Publikationen zu verweisen, die die Autorin und ihren Roman vor allem im thematischen Fokus der ›Frauenliteratur‹ verorten, vgl. etwa Kaufmann/Kaufmann 1976, S. 193-215 (mit kritischer Distanz zu dem Fokus), Hildebrandt 1984, S. 106-111, Hilzinger 1985, S. 90-125, oder Kaufmann 1997, S. 184-190. 16 In Tetzners entscheidendem ersten Brief heißt die Protagonistin noch nicht Karen und von dem späterhin vor allem mit dem Nachnamen benannten Partner ist zunächst nur mit diesem Vornamen die Rede, vgl. Wolf 1999, S. 213; im publizierten Roman wird die Protagonistin ihn erklärtermaßen nur mit »Peters« anreden, während der Vorname nun »Fritz« bzw. »Friedrich« lautet, vgl. Tetzner 1974, S. 163. 17 Ebd.

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und sich daher von dem an sich geliebten Mann trennt.18 1968 wird brieflich von Tetzner und Wolf dann noch besprochen, dass Karin nach der Trennung notwendigerweise »nach Hause geht, an ihren Ausgangspunkt zurück«19 und dass sie – aus Sicht von Wolf: auf noch besser zu begründende Weise – von dort aber auch wieder in die Stadt (L.) und damit aus dem privatistischen ›Abseits‹ ins sozialistische Leben zurückkehrt.20 Im letzten (erhaltenen) Brief ergänzt Tetzner als generelle Schreibintention, dass sie das allgemeine vornehmlich »ökonomische Denken« in den Gegenwartsgesellschaften wieder erweitern wolle, um ein für sie zutiefst humanes Streben nach Erkenntnis und intellektueller Selbstentfaltung und so »ein kleines Quentchen zur ›Menschwerdung‹ beitragen« zu können.21 Dass hierdurch die von ihr und Wolf geteilte sozialistische Weltperspektive nicht aufgegeben werden sollte, sondern vielmehr ›bereichert‹, ist jedoch anzunehmen. Der publizierte Roman behält diese Grundelemente von Erzählintention und Handlung durchaus bei, die durchgängige Ich-Narration der Protagonistin Karen W. setzt jedoch nach einem nur sehr kurzen Vorlauf in L. (vgl. den Prolog, S. 510) sogleich mit ihrer ›Flucht‹ ins Heimatdorf Osthausen in den Sommerferien 1967 ein und verfolgt dann in zwanzig Kapiteln ihr Leben über ein knappes Jahr bis zu einer dauerhaften Rückkehr nach L., freilich ohne dass eine unmittelbare Wiederverbindung mit dem (von Karen nurmehr »Peters« genannten Lebensgefährten abzusehen wäre. In der Narration zerfällt der Roman dabei in drei große Sequenzen, die sich vom Spannungsbogen her gleichsam als klassische Dramenakte deuten lassen: In Kapitel eins bis sechs (S. 11-124) steigert sich Karen zuerst in den Neuanfangsversuch auf dem Dorf. Nach knapp einem halben Jahr, zu Weihnachten, kehrt sie jedoch noch einmal zu Peters zurück, und Kapitel sieben bis vierzehn (S. 125-255) zeigen Karen und Peters in einem höhepunktartigem Wiederannäherungsversuch, aber auch in der Peripetie: Als Peters zu Beginn des neuen Jahres mit einem Sonderurlaub mit nach Osthausen kommt, um Karens neuen alten Lebensraum selbst kennen zu lernen, wird vor allem ihm die Unmöglichkeit ihrer Beziehung umso bewusster und nun flieht er von dort, und zwar nicht nur nach L. zurück, sondern – offiziell für einen Forschungsaufenthalt – ins Ausland. In Kapitel fünfzehn bis zwanzig (S. 256-334) befindet sich Karen W. gleichsam nach der Anagnorisis in der fallenden Handlung mit Retardationen, das heißt: auf der Suche nach einer Lösung für ihren weiteren Lebensweg,

18 Vgl. ebd., S. 213f. 19 Ebd., S. 227. 20 Vgl. ebd., S. 230. 21 Ebd., S. 236.

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die ganz am Ende durch die Rückkehr nach L. und mit einem noch etwas diffusen Plan für die nächste Zeit skizziert wird. Auf diesen Weg gebracht wird Karen dabei durch eine ihrerseits quasi-dramatische Nebenhandlung um den alten Paul Werlich, dessen Leben im Gegensatz zu dem ihrigen freilich zur Katastrophe verdammt zu sein scheint. Zahlreiche Erinnerungen, in Form von größeren Rückblenden und kleineren Rückwendungen, unterbrechen die an sich linear-chronologische Erzählung; insbesondere die Kapitel 4, 9 und 17 sind solchermaßen weitgehend der Erhellung neuralgischer Vorphasen von Karen W.s Leben gewidmet. Die Erinnerungen dienen der Protagonistin nämlich dazu, einerseits ihre Beziehung mit Peters und andererseits ihre eigene Geschichte und in Teilen auch diejenige ihrer Familie in Osthausen zu klären. Mithilfe dieser Vergangenheitsreflexionen sowie durch Gegenwartsbeobachtungen zumal in der Dorfwelt gelangt Karen W. schließlich sogar zu einer eigenen neuen und ›wieder angereicherten‹ sozialistischen Heroik, die im Endeffekt sogar einen Beitrag zur Stabilisierung der von ihr grundsätzlich weiter vertretenen ›Pseudonatur‹ leisten mag, und zwar im Sinne des intendierten Erzählziels der ›Menschwerdung‹. Auch die in der Einleitung zum vorliegenden Teilabschnitt skizzierte Seitenlinie zu Peters’ metathematisch ›bereichernden‹ Forschungsinteressen (zur Bedeutung der Subjektpositionen großer Persönlichkeiten für den historischen Prozess) wird nur in der Erinnerungsperspektive der Ich-Erzählerin verfolgt, erhält dadurch jedoch zugleich eine besondere reflexive Verbindung mit Karen W.s eigener Weltwahrnehmung und ihrer mytho-logischen Position in der erzählten Gegenwart. Das Romanpersonal um Karen W. verteilt sich weitestgehend separat auf die beiden Hauptorte der Erzählung, also die Stadt und Universität L. sowie das Dorf Osthausen mit seiner Umgebung. Für Letzteres kann von konzentrischen Kreisen um die Protagonistin gesprochen werden: Die 1967 knapp Dreißigjährige ist mit ihrer achtjährigen Tochter Bettina ins unbewohnte Dachgeschoss ihres Elternhauses gezogen, dessen Hauptteile seit einigen Jahren der zweiunddreißigjährige Tierarzt Dieter Steinert gepachtet hat, um dort zu praktizieren und zunehmend in der Art eines Strohwitwers zu leben. Gepachtet hat er das am Dorfrand gelegene Haus über Karens Tante Martha, ihre Ersatzmutter (Karens Mutter war bereits 1944 gestorben und die für Karen im negativen Sinn ›klassische‹ Stiefmutter war bald danach eingezogen, um sich um den Witwer und seine Tochter zu kümmern). Die Tante selbst war etwa sieben Jahre zuvor, bald nach dem Tod von Karens Vater Curt in ein entferntes anderes Dorf (zurück)gezogen. Tierarzt Steinert wiederum steht nurmehr in losem Kontakt zu seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn Uwe, der wie Bettina etwa acht Jahre alt ist, denn beide leben in der nächsten größeren Stadt Bad Rhodetal (erkennbar angelehnt

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an Gotha). Im Nachbarhaus bzw. -hof zu Karen W. leben das alte Ehepaar Werlich, die freundliche Lina und der grantelige, eigentlich Karen aber seit ihrer Kindheit besonders nahestehende Paul. Letzterer ist in der Gegenwart ein dorfgenossenschaftlich eingebundener, aber recht eigenbrötlerisch arbeitender Hühnerzüchter. Im Vorstand der Dorfgenossenschaft wirkt auf zwiespältige Weise der 1967 gut fünfunddreißigjährige Günter Werlich, Pauls Sohn und in der ersten Hälfte der 1950er Jahre Karens erste große Liebe, nun jedoch in räumlicher wie innerer Distanz zu Eltern wie Karen stehend. Von den Dorfbewohnern ist ansonsten noch die sechsfache Mutter Ruth Merten, etwas älter als Karen, erwähnenswert, die als hochschulmäßig ausgebildete Melkerin der Genossenschaft zugleich beruflich verantwortungsvoll tätig ist und sozusagen Tag für Tag heroisch ›ihre Frau steht‹. Lediglich punktuell begegnet Karen W.s ehemalige Vorgesetzte, die mittlerweile etwas verhärmte und vereinsamte Linda Dittrich, 1967 Staatsanwältin in Bad Rhodetal, und als gut sozialistische Juristin ein altes Vorbild für Karen, als diese noch im erlernten Beruf der Notarin tätig war. Kurz vor Romanschluss werden sodann noch zwei für Karen unterschiedlich beeindruckende Arbeitsheroinnen eingeführt, und zwar die ›kluge‹ Leiterin einer Nachbargenossenschaft, Margarete (nicht zuletzt im Kontrast zu Günter Werlich positioniert), und deren Eierfabrik-Leiterin, Marlene, welch Letztere jedoch als Privatmensch ungut verhärtet erscheint. In L. hatte Karen nach dem Besuch der Oberschule von Bad Rhodetal, wo sie in der ersten Hälfte der 1950er Jahre auch gelebt hatte, Jura studiert und in dieser Zeit bereits Peters und seinen Historikerkreis kennen gelernt, ein Umfeld, das für Karen, neben kaum näher vorgestellten eigenen Kommilitoninnen und Kommilitonen bzw. dann Berufskolleginnen und -kollegen in einem Notariat, von der Mitte der 1950er bis zur Gegenwart zugleich ein wesentlicher Personenbezug war. Zu erwähnen sind aus diesem Kreis zum einen Peters’ Kommilitone und dann Kollege Martin Marker, der für Karen zugleich als (etwas übereifriger) Mitstreiter in der FDJ, späterhin aber auch als Ansprechpartner mit Bezug auf Peters von Bedeutung ist. Als mit Peters ungut konkurrierender Mitstudent und dann als Kollege ist Willmers zu nennen, und beide arbeiten am Lehrstuhl von Professor Belfing, der Peters sehr schätzt und auch dessen besondere Forschungsinteressen teilt. Im Ansatz lässt sich Belfing daher sogar als im Romansinn ›bereicherungswilliger‹ Leitungsheld mit stützender Funktion bezeichnen. Als eine Art ›Peters der nächsten Historikergeneration‹ ist schließlich der junge Student Pindus interessant, den Karen in der Gegenwart erst spät bemerkt, der jedoch als Charakter – wie auch Belfing oder Willmers – kaum genauer gezeichnet wird.

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Der wechselhafte ›heroische‹ Weg der Protagonistin einerseits und der zugleich metathematisch interessante Werdegang des Bildungshelden Peters an ihrer Seite andererseits sind im Folgenden am besten in der hier interessierenden Mytho-Logik zu fokussieren, wenn nicht die bereits umrissene Narration zum Leitfaden gemacht wird, sondern eine direkte Analyse der dahinter stehenden Historie erfolgt. Dabei soll zuerst die Heldennarrativ-›Bereicherung‹ durch Karen W. selbst und dann durch Peters und seine Forschung verfolgt werden22 und abschließend auch der Stand der sozialistischen ›Pseudonatur‹ in diesem Roman reflektiert werden. Karen W., vermutlich Jahrgang 1937, wird in die NS-Zeit hinein geboren, ihr Vater Curt lebt jedoch als Schreinermeister am Dorfrand von Osthausen und für das kleine Mädchen ist vor allem der Tod der geliebten Mutter im Jahr 1944 das prägende Ereignis der Zeit, zumal danach die ›böse Stiefmutter‹, ihre Tante Martha, das Regiment im Haus übernommen hat. Fast schon einen ErsatzelternCharakter erlangen daher für Karen die Nachbarn Paul und Lina Werlich, deren Sohn Günter in der späten Jugend, Anfang der 1950er Jahre, ihre erste große Liebe wird. Als Karen W. eine für Dorfkinder damals noch ganz seltene Oberschulempfehlung erhält, unterstützt vor allem Paul Werlich sie darin, gegen die engstirnige elterliche Skepsis dieser Empfehlung zu folgen, und Karen zieht 1951 zumal wegen Tante Martha sogleich ganz an den Schulort Bad Rhodetal, was freilich auch die Beziehung zu Günter sich etwas distanzierter bzw. für Karen emanzipierter entwickeln lässt. Als Karen 1952 sodann erfahren muss, dass Vater Curt ihr seine aktive Mitwirkung am Nationalsozialismus in Osthausen verschwiegen hat und dieser auch weiterhin nicht mit ihr darüber reden will, stellt sie den Kontakt zum Elternhaus ganz ein und wird diesen bis zum Tod des Vaters um 1960, von dem Tante Martha sie nicht einmal direkt unterrichten wird, nicht wieder aufnehmen. Kurz bevor sie Osthausen zum Studium verlässt, überwirft sie sich sogar noch mit Paul Werlich, weil er ihr als an seinem Eigentum hängender Bauer nicht ›fortschrittlich‹ genug ist – die überzeugte Jungsozialistin sieht in dieser Haltung fast schon eine Gegnerschaft zum von ihr mit Leidenschaft vertretenen Gesellschaftsmodell, wie sie sie im Nazismus des Vaters verabscheut hatte (vgl. insgesamt v.a. die Kurzrückblenden in Kap. 5, S. 80-96). Nicht zuletzt in der Überzeugung, unrechtes Tun wie das des Vaters zukünftig verhindern helfen zu müssen, entscheidet Karen sich nach dem Abitur 1955 für ein Jurastudium (und gegen ein bäuerliches Leben an Günter Werlichs Seite) – ein guter Weg als antifaschistisch-sozialistische ›Jungheldin‹ im Rechtswesen scheint eingeschlagen. Dass der Sozialismus bzw. seine selbsterklärten Verfech-

22 Für erste kurze Überlegungen in dieser Richtung vgl. Elit 2013 und 2015b.

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ter selbst nicht immer gerecht sind, hat Karen bereits gegen Ende der Oberschulzeit erfahren, als eine scheinbar vorbildliche Mitschülerin und FDJ-Vertreterin, ihre gute Freundin und Mitsozialistin Irene, sie intrigant als Diebin hinstellt und die Schulleitung Karen aufgrund ihres Vaters sogleich für gesichert schuldig erklärt (vgl. Kap. 6, S. 118-122). Ihr zu dieser Zeit noch (im Nachhinein von ihr selbst distanziert gesehener) pubertär revolutionärer Habitus (vgl. ebd., S. 116) erhält durch diese unfaire Behandlung einen ersten Knacks. Eine weitere Irritation für die an sich selbst ›gut sozialistische‹ Karen kommt hinzu, als sie an der Universität von L. erlebt, wie der Student Peters 1958 aufgrund einer etwas zu freien Meinungsäußerung und trotz seiner an sich festen sozialistischen Haltung an den Pranger gestellt wird. Als FDJlerin hat sie teilweise sogar an einer Art Verhör durch Peters’ Kommilitonen und ihren Mitfunktionär Marker teilzunehmen. Davon ist sie nicht nur abgestoßen, sondern wird auch in der Zuneigung zu Peters bestärkt, auf den sie kurz zuvor bereits ein Auge geworfen hatte. Als Peters vorübergehend sogar vom Studium ausgeschlossen wird, steht sie ihm zur Seite und beide werden ein Liebespaar, das zwar gegen die Zeitkonvention nicht heiratet, aber bald das Kind Bettina bekommt (vgl. insgesamt vor allem das Rückblende-Kap. 9, S. 144-166). Wirklich erschüttert wird Karens Wille zur heroischen Mitwirkung am weiteren Aufbau des sozialistischen Staates erst, als sie im Anschluss an ihr Studium 1959 in einer Landstadt bei L. in einem Notariat mitarbeitet. Unter der straffen Führung nicht zuletzt von Linda Dittrich soll die zunächst noch idealistisch loslegende Karen die letzten Bauern der Region überzeugen, sich zu Genossenschaften (sprich: LPGs) zusammenzuschließen und damit die zeittypische Kollektivierungsphase zu vollenden (vgl. die Rückblende in Kap. 4, S. 62-66). Dass die Bauern teils zurecht Vorbehalte haben und auch mit Herzblut an ihren Höfen hängen, während Dittrich und andere teils ›ohne Rücksicht auf Verluste‹ voranschreiten wollen, lässt Karen den Notarberuf daher 1961 an den Nagel hängen – was ihr auch darum ratsam erscheint, weil sie so den doch noch eine Historikerkarriere einschlagenden Peters besser unterstützen kann, und zwar nicht nur durch viel mehr Zeit für die Familie, sondern auch als mitdenkende heimische ›Assistentin‹ oder ›Heldenhelferin‹ für seine Forschungen (vgl. die RückblendeKap. 11, S. 192-209, und 17, S. 285-290). Als Karen jedoch merkt, dass sie fast nur noch Hausfrau und Mutter ist, weil Peters sich in Studien und Karriere mehr und mehr allein vergräbt, nimmt sie als Erstes eine einfache Berufstätigkeit (in einer Wollfabrik) auf und schließlich – Auftakt des Romans – verlässt sie zusammen mit Tochter Bettina das fragwürdig gewordene Leben gen Osthausen (ein Brief an Peters in Kap. 2, vgl. S. 37-45, erläutert ihre Sicht der Beziehungslage genauer).

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Für ein Auskommen in Osthausen lässt sich Karen zunächst für den Herbst auf den ›Knochenjob‹ einer Erntehelferin in der Genossenschaft ein und erfährt so nochmals, wie hart das Bauernleben immer noch ist, auch trotz der von ihr als Notarin seinerzeit mit verfochtenen Kollektivierung (vgl. entsprechende Reflexionen in Kap. 4, S. 67-75). In der Winterpause arbeitet Karen sodann auf Paul Werlichs Hühnerfarm mit, nicht zuletzt, um mit dem wortkargen Mann ›wieder warm zu werden‹, was jedoch nur sehr zäh gelingt (vgl. zuerst Kap. 6, S. 104ff.). Als die Farm jedoch von einem (von Werlich selbst verschuldeten) Seuchenproblem gefährdet wird, hilft sie ihm ›heroisch‹, indem sie zusammen mit Tierarzt Steinert zunächst einen Impfstoff beschafft, und als dieser auch nicht mehr die weitgehende Keulung der Tiere verhindert, setzt sich Karen noch weiter für ihn ein: Werlichs ›Betriebsunfall‹ wird polizeilich untersucht, sein Tun als Sozialismus-schädlich hingestellt, und Karen geht persönlich zu Linda Dittrich, die als Staatsanwältin für die mögliche Anklage zuständig ist. Ihr gegenüber versucht Karen Paul Werlich dadurch zu entschuldigen, dass sie ihr und einem hinzukommenden Richter einerseits Werlichs entbehrungsreiches Leben und die nicht willentlich unsozialistische ›Eigenbrötelei‹ zu erklären versucht, die an sich von einem guten Gemeinschaftsdenken geprägt seien, und andererseits gibt sie zu bedenken, dass Werlich aus einer Generation stammt, der man eine allzu rasche industrielle Vergemeinschaftung der Landwirtschaft nicht zumuten könne; es klingt hier auch die generelle Ökonomismuskritik für die Gegenwartsgesellschaften an, die Tetzner ja schon früh intendierte (vgl. insgesamt Kap. 15f., S. 256-279). Es kommt dann in der Folge nicht zu einem Gerichtsverfahren, zumal weil Werlich mit allen seinen persönlichen Ersparnissen den materiellen Schaden für die Genossenschaft ausgleichen kann. Die Hühnerfarm darf jedoch nicht wieder in Betrieb genommen werden, so dass ein zutiefst frustrierter Werlich nurmehr als Nachtwächter der anderen lokalen Landwirtschaftsbetriebe arbeiten darf. Um ihm noch einmal vor dem Ruhestand eine befriedigendere Tätigkeit zu verschaffen, bemüht sich Karen, erneut zusammen mit Tierarzt Steinert, ihm eine Jobofferte in der Genossenschaft der ›klugen‹ Margarete zu verschaffen, das heißt: in der von Marlene geleiteten Eierfabrik, die für Werlich auch interessant innovativ sein könnte (sprich: mit der aus heutiger Sicht unsäglichen industriellen Massentierhaltung in Perfektion). Doch als sie Werlich schließlich die erfolgreiche Vermittlung einer Arbeitsstelle dort verkündigen will, muss sie realisieren, dass dieser sich bereits mit Alkohol in eine unumkehrbare Frustration verabschiedet hat (vgl. insgesamt Kap. 18f., S. 291-323). Karen selbst hat zu diesem Zeitpunkt bereits die endgültige Trennung von Peters (nach dessen Flucht vom Dorf, vgl. Kap. 14, S. 255) hinter sich, und hat sich privat versuchsweise Tierarzt Steinert etwas angenähert, als dessen Quasi-

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Assistentin sie neben erneuter Feldarbeit auch tätig ist. Doch die innere Verbindung mit Peters, nicht zuletzt auf erotischer Ebene, ist noch zu stark, so dass eine Beziehung mit Steinert ihr nicht möglich ist (vgl. Kap. 20, S. 324-328). Sie entschließt sich daher, wieder in die Stadt L. zurückziehen, die sie sich nun nachholend persönlicher erschließen möchte (freilich mit einer etwas heikel erscheinenden Fokussierung auf die Lebenssphäre von Peters, vgl. ebd., S. 331) – und das auf einer neuen ökonomischen Basis. Karen hat nämlich von Marlene erfahren, dass auch in der Umgebung von L. neue Eierfabriken Arbeitskräfte suchen, und wird nun selbst bei einer solchen anheuern. Dass die Tätigkeit dort von einer gewissen »Automatenkälte« (Kap. 19, S. 313) geprägt sein dürfte, sieht Karen deutlich und fragt sich zunächst ganz allgemein, wie zumal »empfindsame und wissende Menschen« (ebd.) mit einer solchen Arbeitswelt der Zukunft klarkommen mögen. Als sie sich jedoch entschließt, in einer solchen Fabrik tätig zu werden, denkt sie vor allem, dass »es mich [...] reizt, an Werlichs Stelle in jene Welt der Automaten und Mechanismen einzudringen, mich als Mensch in ihr zu behaupten«. (Kap. 20, S. 329) Die Aufgabe, die sich Karen hier selbst stellt, kann auf der Handlungsebene des Romans wohl als finale ›Bereicherungsidee‹ für das mytho-logische Heldennarrativ bezeichnet werden, die auch eine neue Stufe der sozialistischen ›Pseudonatur‹ impliziert. Denn wie eingangs zum Briefwechsel Tetzner-Wolf erklärt, ist davon auszugehen, dass eine humane Selbstbehauptung nur im Kontext der von Karen W. nie grundsätzlich infrage gestellten Gesellschaftsordnung der DDR angestrebt wird (und die Dehumanisierung und Entfremdung von der Arbeit sind ja zudem eine der marxistischen Grundannahmen für den Kapitalismus). Sich selbst ›als Mensch zu behaupten‹ und andere wie Paul Werlich als ›Menschen‹ in der Gänze zu verteidigen, statt sie aus kollektivistischer Perspektive zu missachten oder gar zu verurteilen, dieses Ziel erscheint jedoch nicht nur als die Quintessenz der persönlichen Entwicklung der sozialistischen Heldin Karen W. auf der unmittelbaren Handlungs- und Reflexionsebene. Vielmehr durchzieht eine ähnlich ›bereichernde‹ Stoßrichtung (mit zumindest verzögert und subkutan nicht geringem Einfluss auf das Denken der Protagonistin) auch die Nebenhandlung um Fritz Peters und seine Positionen als Historiker und Denker allgemein. Dieser hatte sich schon bald während seines Geschichtsstudiums in L., etwa im Jahr 1958, in einer lokalen studentischen Zeitschrift mit wissenschaftlichem Anspruch in einem Artikel auf eine Weise geäußert, die ihn bei den ideologisch Orthodoxen verdächtig machten. Gesammelt standen solche Äußerungen dann eines Tages auf einem Wandbrett in Karens Fakultät, und unter einem dazugesetzten Profilbild von Peters wurde (wohl von Hardlinern der FDJ) gefragt: »›Was ist von solchen anderes zu erwarten als Konterrevolution?!!‹«

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(Kap. 9, S. 154, im Rahmen einer geschlossenen Rückblende auf Peters’ und Karens Kennenlernphase) Auf das Wandbrett geklebte Ausschnitte aus der Zeitschrift brachten sodann entsprechend inkriminierte Hypothesen von Peters wie: »›Ich meine, die Revolutionen vieler Jahrhunderte sind nicht vollendet mit sozialen Veränderungen. Das Wichtigste beginnt erst danach: Befreiung des Menschen als Persönlichkeit!‹« (ebd., S.154/155) oder: »›Anstatt den selbständigen Umgang mit Ideen zu erlernen, plappern wir Meinungen darüber nach, interpretieren, statt Eigenes zu entwickeln‹« (ebd., S. 155). Die außerordentliche Fakultätssitzung zum Zwecke Peters’ sofortiger Exmatrikulation darf Karen als FDJFunktionärin anfangs noch miterleben und muss zu ihrem Erstaunen feststellen, dass Peters sich von den aufgebrachten, da als solche provozierten harschen Ideologen nicht aus dem Konzept bringen lässt. Vielmehr bleibt er dabei, dass zumal er als angehender Wissenschaftler selbständig denken dürfen müsse, um das erklärte Ziel zu erreichen. Dabei scheint es für Peters nur konsequent zu sein, dass der vom Sozialismus propagierte ›Neue Mensch‹23 erst vollendet sein kann, wenn er als ›Persönlichkeit‹ frei denken, urteilen und handeln kann. Als Rahmen sieht er erkennbar den im Kommunismus mündenden Geschichtsprozess, in dem jedoch kein nur-kollektivierter Mensch am Ende stehen könne (vgl. ebd., S. 159). Fakultätsvertreter aus Lehrkörper und Parteigliederungen sehen jedoch nur eine jugendliche Arroganz, Verachtung für die nicht selbständig genug Denkenden und im Schlagwort von der ›Befreiung des Menschen als Persönlichkeit‹ die Möglichkeit, die ›proletarische Diktatur‹ DDR eben als ›Diktatur‹ anzuprangern sowie eine Rückkehr zum ›individualistischen‹ Persönlichkeitsbegriff der ›bürgerlichen‹ Ideologie zu fordern (vgl. ebd., S. 156-160). Da sich zeitgleich zu der Sitzung bereits eine Demonstration mit Peters-Sympathisanten gebildet hatte, die auf Bannern nicht zuletzt das zitierte Schlagwort aufgegriffen und – so die Sorge der Ideologen – genau deren ›bürgerliche‹ Interpretation vorgenommen hatten, hat Peters schon gar keine Chance mehr, sich erfolgreich zu verteidigen (vgl. ebd., S. 160). Er steht jedoch gleichsam selbst als Typ des sozialistischen Helden für seine ›Bereicherungsbemühung‹ ein. Nachdem Peters, ermuntert zumal von der ihn liebenden und bewundernden Karen, sein Geschichtsstudium doch noch zum Abschluss hatte bringen können, wirft er die Frage der ›Persönlichkeit‹ erneut auf. Nun aber, in der ersten Hälfte der 1960er Jahre, stellt er sie ins Zentrum seiner von seinem Doktorvater Belfing unterstützten Dissertationsschrift zur »Rolle führender Persönlichkeiten in der französischen Revolution von 1789 bis 1794« und Karen setzt in der Rückschau erläuternd hinzu: »wobei ihn, Peters, vor allem der Einfluß der Individualität ei-

23 Vgl. zu diesem Konzept jüngst etwa den Sammelband Der ›neue Mensch‹ 2013.

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niger großer Männer auf den Geschichtsprozeß interessiere«. (Kap. 10, S. 182) Im Rahmen der öffentlichen Disputation wird er von Orthodoxen wiederum sogleich fundamental angegriffen, nach Karens Referat aus der Erinnerung: »[D]er Promovent [!] ignoriere schon in der Methode seiner Untersuchung die marxistische These, die die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte in erster Linie aus ihrer Haltung zu den Klassen und Schichten herleite«. (ebd.) Peters entgegnete freilich, dass er Grundthesen dieser Art natürlich voraussetze, aber »endlich mal [...] zu noch ausgesparten Aspekten vordringen« (ebd., S. 183) wolle. Als Paradebeispiel stellte er sodann in Form einer raffinierten rhetorischen Frage in den Raum: »Ob etwa einer hier im Saal ernsthaft behaupten wolle, die Umwälzungen des russischen Oktober seien allein von den Massen abhängig gewesen und in gar keiner Weise vom Format und den Besonderheiten der Leninschen Persönlichkeit?« (ebd.) Bezieht man diese Überlegungen von Karens Lebensgefährten auf das sozialistische Heldennarrativ, besteht die potentielle ›Bereicherung‹ darin, dass ein Held, wie auch und gerade schon Lenin selbst, nicht nur als Klassenvertreter bzw. absolut typischer Einzelner zu verstehen ist, sondern als zumindest auch ganz individuelle Persönlichkeit mit subjektiven Ansichten. Postuliert wird damit gewissermaßen ein differenziert gemeinter Re-Entry von Individualität und Subjektivität in das kollektivistisch-objektivistische Weltbild des Marxismus. Wie schon bei Peters’ studentischem Zeitschriftenartikel war jedoch ein solcher Re-Entry leicht zu diffamieren, und zwar eben als Rückkehr zu ›bürgerlichem‹ Denken und damit zu der großen konkurrierenden ›Pseudonatur‹. Die erwähnte Sympathisantendemonstration ging denn vermutlich auch gleich in diese Richtung, und Peters’ Dissertation wird – trotz anscheinend erfolgreicher Disputation (das bleibt in Karens Referat etwas offen, sollte aber wohl implizit sein) – alsbald von den Hardlinern ins Archiv verbannt. Peters, Belfing und andere, nicht zuletzt der noch enthusiastische Student Pindus (vgl. ebd., S. 187f.), haben Forschungen in dieser Richtung zwar bis zur Romangegenwart nicht aufgegeben, zumal Peters selbst erscheint Karen dabei jedoch ›müde geworden‹ zu sein, einerseits wegen stetiger orthodoxer Widerstände und andererseits, weil das Gerangel um die Karriere unter den Historikerkollegen in L. und anderswo zunehmend im Bann halten. Als Karen just von dem alten Hardliner Marker wissen möchte, ob Peters’ Forschungen denn nun wirklich falsch seien, verneint er zu ihrer Überraschung zunächst, gibt aber in Erinnerung an Peters’ alten Zeitschriftenartikel zu bedenken, dass ideologische Gegner solche Forschungen weiterhin als ›bürgerlich‹ interpretieren und damit in den Reihen der Sozialisten für sie interessante Oppositionelle ausmachen wollen könnten (vgl. ebd., S. 190). Dabei sieht Marker als aktuellste Gefahr: »›Ernst wird’s erst, wenn solche Funkkommentare [sc. als zeittypisches Propagandamedium]

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von ernsthaften Kollegen in Prag [als eine Art Angelhaken] ausgeworfen werden. Als schwämmen sie nicht im selben Wasser wie wir ...‹«. (Ebd.) Marker schließt damit seine Ausführungen gegenüber Karen bedeutungsvoll ab, und man darf vermuten, dass DDR-Leser von 1974 hier noch deutlich eine Reminiszenz an die Zeit des ›Prager Frühlings‹, den dort propagierten ›Dritten Weg‹ und das Fanal der Niederschlagung dieser Entwicklung hineingelesen haben dürften – Marker warnt also gewissermaßen in der Rückschau vor einer möglichen Annäherung an eine zum Scheitern verurteilte Umformung des Sozialismus, die nicht zuletzt dessen ›Pseudonatur‹ infrage stellen könnte. Da Karen W.s Geschichte im Frühsommer 1968 endet, bleibt fast exakt ausgespart, wie Peters denn wohl auf die militärische Intervention der Staaten des Warschauer Pakts in der CSSR reagiert haben mag – diese Aussparung mag freilich noch 1974 für die Autorin Tetzner ratsam gewesen sein. Chronologisch ein letztes Mal führt Peters seine Forschungsweise und Denkmaximen auf kleiner, aber bedeutungsvoller Ebene in praxi vor, als er zu Anfang des Jahres 1968 während seines Sonderurlaubs in Osthausen Karens Familiengeschichte nachgeht (vgl. Kap. 13). Er stößt damit bei Karen vor allem in dem Moment auf Ablehnung, als es um ihren Vater in der NS-Zeit geht. Es gelingt ihm zu Karens Überraschung mit Hilfe einer Dorfchronik des örtlichen Pfarrers jedoch zumindest tendenziell zu eruieren, wie sich Curt Waldau konkret verhalten hat, und zwar im Rahmen der Möglichkeiten eines lokalen NSFunktionärs doch überaus human, indem er etwa einen vom Pfarrer versteckten verfolgten Amtskollegen nicht hat verhaften lassen. Überhaupt sei Waldau geradezu ein humanes Gegengewicht zu dem tatsächlichen NS-Fanatiker vor Ort, Rittmann, gewesen (vgl. ebd., S. 232f.). Karen muss entsprechend einsehen, dass sie ohne genaueres Wissen oder Nachfragen zur Persönlichkeit ihres Vaters diesen pauschal aus sozialistischer Sicht verurteilt hatte (vgl. ebd., S. 234) – ein Fehler, den sie nicht wieder gutmachen kann, nach dessen Bewusstwerdung sie jedoch vielleicht umso mehr darin bestärkt worden ist, selbst immer ›Mensch‹ bleiben und andere, wie späterhin im Roman Paul Werlich, aufgrund ihrer ganzen Persönlichkeit beurteilt wissen zu wollen.

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A N DEN G RENZEN VON ›B EREICHERUNG ‹ N ATURALISIERUNG ?

UND

Zschoche und Plenzdorfs Bildungsheldin in KARLA hatte sich um eine Entschematisierung der sozialistischen ›Pseudonatur‹ bemüht sowie um eine persönliche ›Bereicherung‹ um ihr Ideal von individuell getragener Wahrhaftigkeit, mit dem sie und ihre Jungheldinnen und -helden vor dem Abitur im Sinne einer besseren Zukunft agieren können sollten. Hinzu kommt ein kleiner, aber bedeutender Ansatz zur Metareflexion, mit der der Film zugleich sogar an die Grundfesten der sozialistischen Mytho-Logik und ihres Heldennarrativs rührt, dessen ›Bereicherung‹ hiermit latent mit einer Art Auflösung ins Abstrakte verbunden wird, denn wie hielt Karla dem nach Schülervorbildern fragenden Zeitungsmann entgegen: »Vielleicht haben sie [die Schülerinnen und Schüler] in diesem Alter keine personifizierten Ideale mehr.« (Min. 82). – Auch Tetzners Roman Karen W. richtet sich, diesmal sogar auf zwei Ebenen, gegen die Schematisierungen der sozialistischen ›Pseudonatur‹, nämlich einerseits durch den Neustart der Protagonistin auf ›niedrigerem Niveau‹, wo noch mehr echte Heroik zu leben ist, und andererseits durch die mytho-logisch differenzierenden Ansätze des Historikers Peters auf der Ebene der marxistischen Weltperspektive im Ganzen. Nicht zuletzt durch die Hardliner-Intervention im Rahmen des ›Kahlschlagplenums‹ vom Dezember 1965 und die starre Situation bis in die frühen 1970er Jahre wurde wie gesagt eine weitere ›Bereicherung‹ und damit auch eine nachhaltigere Naturalisierung des sozialistischen Heldennarrativs in DDR-Gegenwartsprosa und DEFA-Film generell verhindert – und danach begegnen nurmehr Rückwendungen bzw. parodistische oder burleske Varianten, auf die im Abschnitt IV der vorliegenden Studie noch eingegangen werden soll. Allerdings ist an dieser Stelle erneut auch zu fragen (vgl. bereits die Abschlussreflexion des vorangegangenen Abschnitts I, S. 90f.): Hätten Stabilisierungsbemühungen wie durch KARLA oder durch eine frühere Veröffentlichung von Karen W. eventuell nicht zugleich eine Destabilisierung befördert, und zwar grob gesagt, weil – noch einmal im Rückgriff auf Blumenberg – die jeweils gebildeten Varianten in zunehmendem Maße nicht-marginal gewesen wären? Der Fokus dieser nicht-marginalen Varianten war schließlich immer wieder ein ReEntry des Individuellen bzw. eine Würdigung individueller Einsichten (KARLA) und Leistungen (Karen W.), also eigentlich genau das Gegenteil des mythosozialistischen Kollektiven. Sieht man die Text- und Filmintentionen als gut sozialistisch an, ließen sich diese Re-Entrys als Versuche verstehen, das ursprüngliche Heldennarrativ um die Komponente eines individualen Humanums zu ›bereichern‹. Fragt man sich aber, worauf dieser Re-Entry historisch zurückgeführt

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werden bzw. wieder hinausgelaufen sein könnte, wäre wohl nicht zuletzt auf den ausgeprägten Individualismus der ›bürgerlichen‹ Moderne zu verweisen. Damit hätte – weitergedacht nach Barthes – der ›bürgerliche‹ Mythos den sozialistischen gleichsam wieder ›überwuchert‹. Die sozialistischen Hardliner und Orthodoxen sahen den Re-Entry im Übrigen ja in ähnlicher Weise, sogar in KARLA oder Karen W. selbst begegnen Figuren, die diese Bewertung vornehmen und damit, wie etwa Peters’ Kollege Marker, die Befürchtung verbinden, der ideologische Gegner könnte solche Re-Entrys propagandistisch nutzen, um eine Spaltung im Osten zu konstatieren. Oder hätte hier – wie mit Blick auf Karen W. und den Historiker Peters bereits reflektiert – ausnahmsweise tatsächlich gegolten, dass tertium datur, sprich: Mit etwas mehr Zeit und Möglichkeiten hätten DDR-Literatur und -Film ein eigenes individual-sozialistisches Heldennarrativ etablieren können, zumal ein länger akzeptierter mythischer Kern ja generell auch etwas größere Varianten verträgt? Aber wie gesagt: Das ›Kahlschlagplenum‹ und seine Folgen haben es mutmaßlich verhindert, dass ein solcher mytho-logischer ›Dritter Weg‹ weitergehend beschritten werden konnte, und gegen Mitte der 1970er Jahre hält eine Gerti Tetzner nurmehr Rückschau auf Bemühungen in dieser Richtung.24

24 Für erste Überlegungen in dieser Richtung vgl. Elit 2016.

Sozialistische Mytho-Logik (III) Vermittlung

Mytho-Logiken nach Lévi-Strauss und das sozialistische Heldennarrativ

Die von Claude Lévi-Strauss erforschten bzw. postulierten Mytho-Logiken erscheinen wegen ihres ethnologischen Hauptkopus, den so genannten ›primitiven‹ Völkern Amerikas oder des asiatischen Pazifiks, eigentlich recht weit entfernt von der hier interessierenden Mytho-Logik einer europäischen Zivilisationsmoderne. Zum einen muss dies wie im Fall der Mythentheorie Blumenbergs jedoch nicht zum Schaden sein, soweit die nötige Generalisierbarkeit gegeben ist, und davon wird im Nachfolgenden zumindest mit Blick auf zentrale Einsichten auch ausgegangen werden. Zum anderen und zuvor kann jedoch noch an einen anderen Umstand erinnert werden, der eine Inbeziehungsetzung von strukturalistischer Anthropologie und Sozialismus fast schon zu selbstverständlich werden lässt (auch wenn hier wiederum der Schein trügt). Denn mehrere Hauptwerke des Kulturanthropologen nehmen bekanntlich unmittelbar Bezug auf Marx bzw. rekurrieren mehr oder weniger implizit auf marxistische Theoreme, bisweilen sogar mit dem Anspruch, den dialektischen Materialismus auf den eigenen Forschungsfeldern nicht nur anwenden zu können, sondern sogar produktiv an ihm weiterzuarbeiten.1 Alles dies verwundert nicht, trat Lévi-Strauss doch bereits als Jugendlicher mit dem Marxismus in Verbindung, um in den 1930er Jahren, der Zeit seiner akademischen Frühphase als Philosoph, sogar bis zu einer Art eigenständigem Vordenker der Sozialistischen Partei Frankreichs aufzusteigen.2 Als Lévi-Strauss zum Soziologen bzw. dann Ethnologen wurde, in Sonderheit seit seinem Brasilienaufenthalt ab 1935, entwickelte er zwar ein auf den ersten Blick ganz anderes Forschungsinteresse, suchte jedoch immer wieder gedankliche Verbindungen zu Marx, allerdings mit sehr eigenwilligen Deutungen bzw. Behauptungen von 1

Vgl. die umfassende Sammlung entsprechender Stellen durch Lepenies 1974.

2

Vgl. Walitschke 1995, S. 197f.

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Übereinstimmungen, die etwa Lepenies bereits vor geraumer Zeit überzeugend als zumeist kaum haltbar analysiert hat.3 Es erscheint daher sehr richtig, wenn der späte Lévi-Strauss in einem Interview mit Fritz J. Raddatz stark relativierend feststellte, seine vor allem skeptizistische bis pessimistische Weltperspektive und die (sc. geschichtsoptimistischen) Marx’schen Lehren stünden weit aus einander und im Endeffekt seien ihm Letztere eher nur zu einem aufschlussreichen Denkmodell neben anderen geworden.4 Als Raddatz sogar explizit fragte: »[B]ei dem Entwurf einer Utopie von einer anderen, einer menschlicheren Gesellschaft, da haben Sie aufgehört, ihm [Marx] zu folgen?« Entgegnete Lévi-Strauss schließlich kurz und bündig: »Ja, das zählt für mich nicht.«5 Es soll daher im Folgenden nicht der heillose Versuch unternommen werden, Lévi-Strauss’ Mythentheorie als marxistische fruchtbar zu machen; dies würde im Übrigen ihren Abstand zum hier interessierenden Gegenstand auch unnötig verringern. Auch soll (und kann) das sozialistische Heldennarrativ nicht in den Gesamtzusammenhang eines über mehrere Jahrzehnte fortentwickelten kulturanthropologischen Modells gestellt werden. Vielmehr wird es um die Operationalisierung einer generellen Mytho-Logik gehen, die Lévi-Strauss schon früh und mit großer Passung für verschiedenste Gesellschaftsformen und ihre Mythen vorgeschlagen hat und die über Blumenberg und Barthes hinaus einen strukturellen Grundzug bzw. eine Kernfrage des Heldennarrativs bzw. mehrerer seiner Varianten in DDR-Prosa und DEFA-Film erhellt. Aus dem umfangreichen Werk Claude Lévi-Strauss’ ist in diesem Sinn der bekannte frühe Aufsatz zur Mythenanalyse, der zuerst 1955 auf Englisch unter dem Titel »The Structural Study of Myth«6 veröffentlicht worden ist, ganz konkret für eine strukturalistischkulturanthropologische Heldennarrativ-Interpretation heranzuziehen. 1958 wurde der Aufsatz unter dem Titel »La structure des mythes« in die Textsammlung »Anthropologie structurale«7 (dt. zuerst 1967 u.d.T. »Strukturale Anthropologie«, mit identischem Umfang und dem hier interessierenden Aufsatz u.d.T. »Die Struktur der Mythen«8) aufgenommen, geringfügig erweitert sowie mit ei-

3

Vgl. erneut Lepenies 1974.

4

Vgl. Raddatz 1983, S. 33.

5

Ebd., S. 33.

6

Vgl. Lévi-Strauss 1955.

7

Vgl. Lévi-Strauss 1958, S. 227-255.

8

Vgl. Lévi-Strauss 1967, S. 226-254. Diese Ausgabe wird im Folgenden zugrunde gelegt und im Haupttext mit einfachen Seitenangaben in Klammern herangezogen. Nach Erscheinen des Aufsatzbandes Strukturale Anthropologie II im Jahr 1975 (nach dem

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nigen Anmerkungen versehen und soll in dieser Fassung (der deutschen) zunächst kurz in Erinnerung gerufen werden. Lévi-Strauss’ Ausgangspunkt bzw. Antriebsmoment ist für ihn die unbefriedigende Situation, dass »die Anthropologie trotz einiger verstreuter Versuche zunehmend mehr die Erforschung religiöser Zusammenhänge aufgegeben« und so »Amateure[n] verschiedenen Herkommens« das Feld der »Religionsethnologie« überlassen habe (S. 226). Die mythologische Forschung erfolge dadurch auf einem entweder ›platten‹ oder ›sophistischen‹ Niveau (vgl. S. 227). Dem versucht Lévi-Strauss nun eine neue Herangehensweise an die Mythenanalyse vorzustellen, die sich an der strukturalen Linguistik nach de Saussure orientiert und deren Vorstellung von Sprache für basale Analoga zum Verständnis des Mythos nutzt (vgl. S. 228f.). Dabei ist für ihn jedoch »der Mythos gleichzeitig in der Sprache und jenseits der Sprache«. (S. 229) Für ein erstes Analogon wird die Opposition von atemporaler »Sprache« (sc. langue) und immer in der Zeit stehendem »Gesprochenem« (parole) herangezogen, denn »auch der Mythos läßt sich durch ein Zeitsystem definieren« (S. 229), das eine interne Opposition bzw. »Doppelbedeutung« (S. 230) erzeugt. Gemeint ist die gleichzeitige Bezogenheit eines Mythos auf bestimmte Vergangenheit(en) und seine »Dauerstruktur«. (Ebd.) Lévi-Strauss versucht diesen Doppelcharakter an einem Vergleich festzumachen, der im Zusammenhang der vorliegenden Studie besonders interessant ist, denn »[n]ichts ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische Ideologie. In unserer heutigen Gesellschaft hat diese möglicherweise jenes nur ersetzt.« (Ebd.) – Hier ließe sich mit Blick auf das sozialistische Heldennarrativ sogar postulieren, dass die Ähnlichkeit mit einer basalen Strukturanalogie bis hin zur Identität verbunden sei, doch zunächst sei Lévi-Strauss’ konkretes Beispiel für eine politische Ideologie, nämlich die Französische Revolution, noch etwas weiter verfolgt. Diese Revolution sei zwar für die Geschichtswissenschaft eine »Reihe von vergangenen Ereignissen«, in immer noch gegenwärtiger politischer Perspektive jedoch zugleich »ein Schema, das dauernde Wirkung besitzt«. (Ebd.) Neben diesem Langue-parole-analogen Charakter sieht Lévi-Strauss allerdings noch einen dritten Charakter des Mythos, und zwar als »absolute[s] Objekt« (ebd.), das ihn als Kulturphänomen so besonders macht und über eine übliche Verfasstheit von Erzähltem in konkreter Sprache hinausführt, denn »[d]ie Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird«

frz. Original Anthropologie structurale deux von 1973) wurde diese Ausgabe in Folgeauflagen nachträglich zu Band I erklärt.

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und deren »Sinn [...] sich vom Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag.« (S. 231) Lévi-Strauss sieht diese Substanz in Elementen, die er über den »Semantemen« normaler Sprache als »große konstitutive Einheiten« bzw. »Mytheme« (ebd.) definiert, als »Beziehungsbündel«, die wiederum »nur in Form von Kombinationen solcher Bündel eine Bedeutungsfunktion erlangen.« (S. 232) Ein Mythos ist sodann zu verstehen als ein sprachanaloges »System« mit »zwei Dimensionen: eine diachronische und eine synchronische«, wobei er – ohne dass er dies etwa wie Roman Jakobson benennen würde – die MythemBündel ›syntagmatisch‹ (diachronisch, temporal) erzählt, aber zugleich ›paradigmatisch‹ (synchronisch, atemporal) geordnet findet. Bestimmt ist die so v.a. abzulesende paradigmatische Ordnung der Mytheme von einer teils mehrfachen Kombinatorik, die in typisch strukturalistischer Perspektive von Bedeutungsoppositionen geprägt ist. Das wegen seiner Bekanntheit hier sicherlich nicht mehr zu entfaltende Paradebeispiel Lévi-Strauss’ sind die Erzählungen rund um Ödipus und seine Sippe, deren Syntagmen er paradigmatisch so anordnet, dass er zu einer doppelten Opposition gelangt (vgl. das entsprechende Vier-Spalten-Modell auf S. 235). Gegenüber stehen sich demnach »überbewertete Verwandtschaftsbeziehungen« und »unterbewertete oder entwertete« als erster Gegensatz und »Verneinung der Autochthonie des Menschen« (S. 236) versus eine behauptete »Beständigkeit der menschlichen Autochthonie« (S. 237) als ein zweiter Gegensatz, der sich wiederum als Analogon zum ersten erweist. Als Gesamtsinn dieser Oppositionsbildungen bzw. als »Strukturalgesetz« (S. 240) sieht Lévi-Strauss schließlich das Bemühen der griechischen Archaik, einen intellektuellen Grundwiderspruch mytho-logisch zu bewältigen: Wie damit umgehen, dass der anscheinend als autochthon postulierte Mensch biologisch offensichtlich ›Gemeinschaftsprodukt‹ ist? Folglich »liefert [der Ödipus-Mythos] eine Art logisches Instrument, das es ermöglicht, eine Brücke zu schlagen«. (S. 238) Das Korpus der Varianten eines Mythos schließlich hat für dieses Bemühen einen eigenen Wert, der Lévi-Strauss die gleichrangige Behandlung der ältesten wie der neuesten Fassungen fordern lässt (vgl. S. 239): »Die Wiederholung hat eine Eigenfunktion, die die Struktur des Mythos manifest machen soll.« (S. 253) Die Varianz in der Wiederholung dient sodann dazu, den »Widerspruch aufzulösen (eine unauflösbare Aufgabe, wenn der Widerspruch real ist)«. (ebd.) Dies führt zu einer Narrationskette bis hin zu einer Art ›Ermüdungsbruch‹, denn: »[d]er Mythos entwickelt sich spiralenförmig, bis die intellektuelle Triebkraft, die ihn in die Welt gesetzt hat, verbraucht ist.« (ebd.) Jenseits des Ödipus-Beispiels stützt sich Lévi-Strauss auf Mythen aus seinen primären Forschungsbereichen, das heißt: auf solche indianischen Ursprungs, und an ihnen verfolgt er mytho-logische Prozeduren der Widerspruchs- bzw.

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Gegensatz-Auflösung differenzierend weiter (vgl. S. 241-251). Hier von besonderem Interesse ist das typologisch benannte Personal der Mythen, vergleichbar den Aktanten nach Propp, Greimas und anderen strukturalistischen Narratologen, die mytho-logisch gesehen in obigem Sinn ›Brücken schlagen‹. Zu unterscheiden sind mindestens vier Typen, und zwar der »Erlöser« (S. 246; nach der englischen und der französischen Artikelfassung auch zu bezeichnen als »Messias«9), der die Gegensätze in sich ausgleichen soll, indem er eine die Pole vermittelnde Position einnimmt; »Dioskurenpaare, deren Funktion darin besteht, eine Vermittlung zwischen den beiden Polen zu bewirken« (S. 245), indem jeder von beiden einen Pol übernimmt, beide aber auch eine gemeinsame Position verbindet; die »Triade«, die »in einem Dioskurenpaar besteht, das gleichzeitig mit einem Erlöser gegeben ist« (S. 250; Hervorhebung im Orig.); sowie der »trickster[,] ein Vermittler, [d]er etwas von der Dualität zurückbehält, die zu überwinden seine Funktion ist« (S. 249) und der sich mal so, mal so positioniert. Diese Typen können im Korpus eines Mythos auf verschiedene Weise ineinander übergehen bzw. sich auseinander ergeben, so dass ganze Reihen z.B. von einem ›Erlöser‹ über ›Dioskuren‹ und einen ›trickster‹ und weitere temporäre Typen bis hin etwa zu einer abschließenden, nur freilich das Problem nicht lösenden ›Triade‹ entstehen (vgl. am Beispiel auf S. 250). Die auf diese Weise verbundenen Einzelmythen sind für Lévi-Strauss nach einer letztlich aufzufindenden Generalformel der mytho-logischen Tauschvorgänge bezüglich der jeweils bearbeiteten logischen Oppositionen korreliert (vgl. S. 251). Gemessen an dem somit zugrunde liegenden abstrakten Modell beschließt Lévi-Strauss seinen Aufsatz mit einem deutlichen Veto zur Annahme der ›Primitivität‹ mytho-logischer Operationen gegenüber »wissenschaftlichem Denken«: »Die Logik des mythischen Denkens erschien uns ebenso anspruchsvoll wie die, auf der das positive Denken beruht, und im Grunde kaum anders.« (S. 253) Er zeigt sich entsprechend auch skeptisch gegenüber dem allgemein angenommenen qualitativen »Fortschritt« durch den wissenschaftlich-logischen Erkenntnismodus und sieht stattdessen nur »immer neue Objekte« bzw. ›fortgeschrittene‹ Gegenstände des Denkens, mit denen der Mensch kämpfen müsse (vgl. S. 254). Sieht man Mythen als intellektuelles Bemühen bzw. ›logisches Instrument‹, einen nicht zu lösenden Widerspruch in der (gewünschten vs. nicht zu unterdrückenden) Weltwahrnehmung einer Gesellschaft oder Gemeinschaft durch ›Brückenschläge‹ zumindest zu ›vermitteln‹, lässt sich dem sozialistischen Heldennarrativ ein entsprechendes Bemühen unterlegen. Es ginge demnach wie in einer

9

Lévi-Strauss 1955, S. 439 bzw. ders. 1958, S. 247.

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Art Gegenentwurf zum altgriechischen Autochthonie-Wunsch um die Grundfrage nach dem Verhältnis des Einzelnen und der Gemeinschaft, oder auch: um den Mensch als Individuum und als Sozialwesen, wie ihn eine mytho-logische politische Ideologie (vgl. Lévi-Strauss’ Analogsetzung auf S. 230) in die Welt gesetzt hat.10 Das sozialistische Heldennarrativ versucht die Verhältnisfrage im Sinne des Marxismus grundsätzlich manipulativ in eine Richtung, sprich: hin zum Primat der (sc. sozialistischen) Gemeinschaft gegenüber dem Individuum zu lösen und muss also zu einem entsprechend tendenziösem Gegensatzausgleich streben, und das mithilfe des Einsatzes vor allem messianischer Arbeiterhelden, die aber auch von dioskurischen Paaren oder triadischen Gruppierungen komplementiert werden könnten. Diese mytho-logische Grundform der ›Vermittlung‹ im Sinne des Sozialistischen Realismus dürfte jedoch zu augenscheinlich sein, als dass sie im Folgenden noch mit Beispielanalysen (zumal bereits Heldennarrativ-mäßig durchgegangener Romane und Filme) nachgewiesen werden müsste. Mit Blick auf Lévi-Strauss Annahme der finalen Unauflösbarkeit eines solchen Gegensatzes bzw. Widerspruchs interessanter erscheinen demgegenüber Fälle, in denen das Grundproblem des Verhältnisses von Einzelnem und Gemeinschaft die politisch-ideologische Tendenz gewissermaßen wieder unterläuft, sprich: bei denen es sich um sozialistische Heldennarrationen handelt, die Ansprüche des Individuums vollgültiger diskutieren – und so womöglich einer Art ausgewogenerem Ausgleich gegenüber dem gesetzten kollektivistischen Gesellschaftsmodell zuzuführen bemüht sind. Folglich wird anhand des nun heranzuziehenden Teilkorpus von DDR-Romanen und DEFA-Filmen auch die jeweilige Schlussfrage der vorangegangenen zwei Abschnitte weitergetrieben: Was passiert, wenn gegenüber Mythenvarianten wie Menschen an unsrer Seite oder FOR EYES ONLY nach einem stärkeren Ausgleich gestrebt wird? Oder: Wie narrativiert sich nach Lévi-Strauss’ Modell und insbesondere seinen Aktanten-Typen eine mehr individuelle sozialistische Mytho-Logik, die eventuell sogar den ›Dritten Weg‹ in den Blick nimmt? Das solchermaßen ›fortgeschrittene‹ Strukturalgesetz wird entsprechend an Beispielen mit messianischen, dioskurischen und triadischen Heldennarrativ-Varianten verfolgt werden. Ob der Staatssozialismus in der DDR auch den ideologisch offenkundig heiklen Typus des Tricksters zugelassen

10 Für eine Mythenanalyse nach Lévi-Strauss, allerdings mit diskurstheoretischer Erweiterung, und mit politisch-ideologischem Bezug in der Moderne vgl. exemplarisch Parr 1992, in welcher Studie mythifizierte Positionsnahmen Bismarcks aufgearbeitet werden. Für eine Kurzfassung des von Parr angewandten Lévi-Strauss’schen Modells, aber mit erweitertem historischem Skopus (bezogen auf deutsche Gründungsmythen vom frühen 19. bis späten 20. Jahrhundert) vgl. Parr 2008.

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hat, wird in einer weitergehenden Perspektive im nachfolgenden Abschnitt IV behandelt werden. Mit Blick auf Lévi-Strauss’ typisch strukturalistische Komponentenanalyse für eher einfach narrativierte Mythen und die Aufstellung zahlreicher paradigmatischer Mythem-Bündel ist allerdings vorauszuschicken: Diese Herangehensweise wird bei der Untersuchung der hier interessierenden deutlich umfänglicheren und komplexeren Narrationen nicht analog umgesetzt werden, da sie rasch zu einem sehr ausufernden, aber vergleichsweise wenig ertragreichen Detailanalyseverfahren führen würde. Dass bzw. inwiefern die fokussierten Heldentypen nach Lévi-Strauss für bestimmte Mytheme einstehen, wird jedoch exemplarisch markiert werden.

Adaptionen in DDR-Prosa und DEFA-Film

Die im Folgenden präsentierte Auswahl ließe sich stark ausweiten, zumal um sehr prominente Beispiele von DDR-Prosa und DEFA-Film, so verbreitet erscheint das Typenspektrum als Basis der mytho-logischen ›Vermittlung‹. Es wird allerdings weniger eine größtmögliche Breite der Behandlung als die Analyse weniger besonders markanter Beispiele angestrebt und dabei gerade auf allgemein etwas weniger bekannte Texte und Filme rekurriert werden. Andere, bekanntere und wissenschaftlich bereits eingehender diskutierte Werke sollen allenfalls zu Eingang der Unterabschnitte kurz aufgerufen werden. – Die nachfolgenden Hauptexempla sind wieder chronologisch gereiht, und im Sinne LéviStrauss’ mag der Wechsel des jeweils zentralen Aktanten-Typus zugleich als manifestative Variation im Gesamtkontext des sozialistischen HeldennarrativMythos verstanden werden, auch wenn im Gegensatz etwa zur Korpusbildung bei einem antiken oder ›primitiven‹ Mythos der Zusammenhang der einzelnen Narrationen weniger stofflich konkret als abstrakt mythemisch gegeben ist.

M ESSIAS IN EIGENER S ACHE : S IEGFRIED P ITSCHMANNS E RZIEHUNG (1959/2015)

EINES

H ELDEN

Neben sozialistisch orthodox zum Kollektivismus strebenden Erlöserhelden wie Claudius’ Hans Aehre in Menschen an unsrer Seite oder MfS-Agent Hansen in FOR EYES ONLY begegneten zumal zu Beginn der 1960er Jahre, also mit dem Beginn des ›kurzen Sommers der DDR‹ nach Decker, auch Messias-Versionen, die stärker auch die Position des Individuums einnehmen und damit zu mehr ›Vermittlung’‹ tendieren. Als besonders prominentes (und daher nicht mehr notwendigerweise eigens zu behandelndes) Beispiel kann hier etwa Erwin Strittmatters Roman »Ole Bienkopp« von 1963 gelten, dessen Held ohne Zweifel ein ›gut so-

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zialistisches‹ Gesellschaftsziel verfolgt, dabei jedoch auch recht individuell erscheint und agiert. Sein Scheitern am Realsozialismus und als Individuum mag wie ein Mahnmal der unmöglichen Vermittlung wirken, der Roman enthält jedoch auch die Hoffnungsperspektive, dass bei besseren Kollektivierungsbedingungen und etwas mehr Einsicht des Individuums zumindest zukünftig ein besserer Ausgleich gelingen könnte. Stehen bleibt von Ole Bienkopps Wirken im Roman aber vielleicht auch eine für die hier interessierende Mytho-Logik bezeichnende paradoxale Formel; sie wird am Ende von einer entsprechend staunenden Romanfigur (die Sozialistenwitwe Emma Dürr) für Oles Habitus geprägt: »Eigensinn ohne Eigennutz – dafür gibt es noch kein Wort.«1 Für eine metathematische Reflexion möglicher individuell-sozialistischer Erlöser in der realen Historie sei schließlich noch einmal an Tetzners Roman Karen W. erinnert, dessen Nebenfigur Dr. Fritz Peters sich ausgehend von der Französischen Revolution perspektivisch Geschichtshelden widmet, die zum Fortschritt im Sinne des dialektischen Materialismus (auch) mit ihrer Subjektivität und Persönlichkeit beigetragen haben. Siegfried Pitschmann, zum eigenen Verdruss bis ins Alter bekannter als »der Partner der Reimann«2 denn für sein literarisches Schaffen, lässt die Frage der Entwicklung eines Einzelnen als sozialistischer Heros schon im Titel seines hier besonders interessierenden Kurzromans anklingen: Erziehung eines Helden heißt der 1958/59 weitgehend vollendete, aber erst jüngst aus dem Nachlass veröffentliche Text.3 Wie dessen Herausgeberin Kristina Stella berichtet (auf ihrer detaillierten Rekonstruktion der zeitgenössischen Geschehnisse rund um die Romanentstehung fußt die freilich stark geraffte Darstellung im Folgenden), war Pitschmann im Sommer 1957 nach Hoyerswerda gezogen, um »als Schriftsteller in die Produktion zu gehen«4 und auf der Großbaustelle des Gaskombinats »Schwarze Pumpe« inspirierende Erfahrungen zu machen. Aus einem Briefwechsel mit dem angehenden Lektor des Aufbau-Verlags, Günter Caspar, heraus

1

Strittmatter 2005, S. 417.

2

Pitschmann 2004, S. 116.

3

Vgl. Pitschmann 2015. Der von der Herausgeberin Kristina Stella vorgenommenen Rekonstruktion des weitestgehend vollständig erhaltenen Manuskripts (unter Zurücknahme von punktuell massiven Streichungen und Korrekturen Pitschmanns nach unterhalb noch auszuführender harscher Kritik, vgl. in den »Editorische Anmerkungen« ebd., S. 230f.) wird in der vorliegenden Studie gefolgt und auf diese Ausgabe mit einfachen Seitenangaben in Klammern im Haupttext verwiesen.

4

Ebd., S. 203-227 (= »Nachwort« der Herausgeberin), bes. S. 204.

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entwickelt Pitschmann dann Anfang 1958 die Idee zu dem Text, nachdem er, eine Art sozialistischer Hemingway-Verehrer, zuvor (wie es auch danach der Fall sein sollte) vornehmlich mit Kurzerzählungen hervorgetreten war.5 Weil Pitschmann bereits nicht mehr als Arbeiter tätig sein kann – ihn hatte eine Berufskrankheit, die so genannte Betonkrätze, ereilt –, arrangiert Caspar für ihn einen Platz in einem Schriftstellerheim, wo er den Roman rasch verfassen soll. Im Heim lernt Pitschmann jedoch bald Brigitte Reimann kennen, und es kommt zu einer intensiven Liebschaft (und späterhin sogar zu einer unglücklich endenden Ehe), die die Arbeit am Roman anscheinend stark verzögert hat.6 Reimann versucht sodann die Fertigstellung mit der Aussicht auf einen Vorabdruck in der Wochenzeitung »Sonntag« zu beschleunigen, und es beginnt die eigentliche Problematik: Die bei Günter Caspar eingereichte, noch unvollständige Manuskriptfassung wird erst nach einer für Pitschmann quälenden Verzögerung und erneuter Fürsprache Reimanns Anfang 1959 im »Sonntag« veröffentlicht.7 Weil Pitschmann und Reimann allerdings mittlerweile dringlich weitere Finanzquellen für ihr Schreiben benötigen, schließt Pitschmann mit dem Kulturministerium der DDR einen Vertrag ab, der diesem und dem Deutschen Schriftstellerverband (DSV) Einsicht in das Manuskript zubilligt, damit wiederum der DSV Pitschmann eine Unterstützung gibt. Erscheint für Letztere eine Kenntnis des Texts zunächst plausibel, wird die Überlassung des Manuskripts für Pitschmann verhängnisvoll, als er dieses just im April 1959 abgibt. Er wird dadurch nämlich zum größten Opfer einer aktuellen DSV-Kampagne gegen die so genannte ›harte Schreibweise‹ (nach dem Begriff ›hard boiled style‹ für Autoren wie Hemingway u.a.) vornehmlich von jüngeren DDR-Autoren. Kein Geringerer als Erwin Strittmatter ist es, der als Erster Sekretär des DSV auf der berühmten Bitterfelder Konferenz am 24. April 1959 eine Brandrede gegen die ›harte Schreibweise‹ hält und anscheinend in Kenntnis von Pitschmanns Romantorso, nur ohne Ross und Reiter zu nennen, genau diesen implizit als Musterbei-

5

Vgl. ebd., S. 204-207. Für entsprechende Erzählbände zu Zeiten der DDR wie Wunderliche Verlobung eines Karrenmanns von 1961 oder Kontrapunkte von 1968 und auch seinem weiteren Werk vgl. ebd., S. 246. Von Literaturlexika wie dem Killy oder dem KLG wird Pitschmann leider bis dato nicht erfasst. Zu einer Pitschmanntypischen Erzählung aus dem Band von 1968 und dem durchaus nennenswerten narrativen Können des Autors im Vergleich mit Uwe Johnson vgl. Elit 2011, S. 31f.

6

Vgl. Pitschmann 2015, S. 207-210.

7

Vgl. ebd., S. 210-212.

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spiel für mangelnden Sozialistischen Realismus (zu wenig positive Helden, ausbleibende Poetisierung der Arbeit u.Ä.) anprangert.8 Als Pitschmann erstaunlicherweise erst im Juni 1959 erfährt, dass sein Manuskript im Zentrum der immer weiter getriebenen DSV-Kritik steht, bricht für den überzeugten Sozialisten eine Welt zusammen, und noch kurz vor seinem Tod 2003 wird er sich an das Geschehen als »ein entsetzliches Abschlachten, ein Strafgericht« erinnern.9 Ein Versuch der Selbsttötung im Sommer 1959 misslingt, und Pitschmann wird die Erziehung eines Helden zu Lebzeiten nicht mehr vollenden – aber auch keinen weiteren Roman zu schreiben schaffen –, sondern lediglich einzelne Kapitel autonom überarbeiten und diese wie thematisch benachbartes Material in Form von kürzeren Erzählungen veröffentlichen.10 Die Kritik an der Erziehung eines Helden im Frühsommer 1959 ging schließlich so weit, zu konstatieren, »daß es sich um ein kleinbürgerliches Buch handle«11, ein Vorwurf, der Pitschmann über den Ruch eines zu wenig sozialistischrealistischen Stils hinaus schwer traf, zumal er die Fiktion just als Weg eines sich selbst als (sc. individualistischen) Kleinbürger scheltenden Mannes hin zu einer sozialistischen Persönlichkeit mit besonderen Idiosynkrasien konzipiert hatte. – In der Mytho-Logik der Vermittlung stellt dieser Mann zugleich den Paradefall eines Erlösers dar, der einen Gegensatzausgleich romanintern vor allem für sich selbst anstrebt, aber wirkungsästhetisch etwa auch für eine ›noch kleinbürgerliche‹ Leserschaft. Fasst man die auf der Gegenwartsebene chronologische, aber von Rückblenden durchschossene Handlung kurz zusammen, besteht der Weg bzw. die (Selbst-)Erziehung des »Helden« (S. 27 u.ö.; so nennt ihn der auktoriale Erzähler in der Regel und latent ironisch, lediglich Spitznamen treten ergänzend hinzu) in Folgendem: Bis kurz vor der Gegenwart, die zwischen August und November (mutmaßlich: 1957) anzusiedeln ist, war der ›Held‹ nach einer hoffnungsvollen Musikerausbildung lediglich als Barpianist tätig und hatte eine Geliebte, die als Lehrerin auf einem Dorf arbeitete (vgl. die Rückblenden in Kap. I, S. 10-26).

8

Vgl. ebd., S. 213-216.

9

Vgl. Pitschmann 2004, S. 78.

10 Vgl. Pitschmann 2015, S. 219-225. Zu den nach Umarbeitung veröffentlichen Kapiteln und weiteren in die Ausgabe aufgenommenen Texten Pitschmanns vgl. die »Editorischen Anmerkungen« ebd., S. 231-236, sowie das »Quellenverzeichnis«, ebd., S. 237f. Für eine Sammeledition von weiteren Erzählungen rund um das Kombinat »Schwarze Pumpe« vgl. Pitschmann 2016. 11 Pitschmann 2015, S. 219 (= Pitschmann im brieflichen Referat gegenüber Caspar nach einem Treffen mit DSV-Vertretern).

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Die Aussichtslosigkeit und Stupidität des bloßen ›Jobs‹, ein bereits fortgeschrittener Frust-Alkoholismus (vgl. vor allem die große Rückblende in Kap. V, S. 8897) und die Beendigung der Beziehung durch die Lehrerin lassen den ›Helden‹ einen existentiellen Neuanfang suchen, der eine größere Lebenszufriedenheit vor allem durch eine gesellschaftlich sinnvoller erscheinende Tätigkeit bieten soll. Daher heuert er als Hilfsarbeiter auf der Großbaustelle »Schwarze Pumpe« an, zieht in ein Arbeiterwohnheim (im Neubaugebiet, sc. von Hoyerswerda) und wird Teil einer Beton-Baubrigade (vgl. Kap. I-III, S. 9-66). Die zugewiesenen Aufgaben sind einfach, aber eine große Herausforderung, weil der ›Held‹ zunächst von künstlerhaft schwächlicher Statur ist und zumal seine Hände sich den buchstäblich harten Anforderungen schmerzvoll anpassen müssen (vgl. vor allem Kap. V, S. 80f.). In einer Großkneipe am Rande der Baustelle zeigt sich allerdings, dass der ›Held‹ selbst mit diesen Händen spontan noch einigermaßen am Klavier überzeugen kann – fortan trägt er unter den Kollegen denn auch den Spitznamen »King Klavier« und wird vom Erzähler variativ – und wohl auch leicht ironisch – »der King« genannt (vgl. insgesamt Kap. V u. VII, S. 108-119 bzw. S. 130-182). Der Kneipenabend bringt zudem eine wechselseitige Attraktion des ›Helden‹ und einer jungen Arbeiterin, die aber in der Romanzeit lediglich zu einer träumerischen Vergegenwärtigung des anderen führt (vgl. Kap. VIf., S. 121-124 bzw. S. 144f.). Den Abschluss der Erziehung eines Helden bildet eine ›heroisch‹ zu überstehende Nachtschicht im Akkord, die den ›Helden‹ um einiges stärker in die Gemeinschaft sozialistischer Arbeiterinnen und Arbeiter integriert, ihm jedoch auch seine physischen und psychischen Grenzen im Vergleich zu bewunderten Kollegen aufzeigt. Das Gefühl einer beglückten Erschöpfung steht dennoch am Ende der Erzählung (vgl. insgesamt Kap. VII, S.127-182).12 Das Personentableau rund um den ›Helden‹ ist stark ungleichgewichtig zweigeteilt, das heißt: In den Rückblenden ist es kaum nennenswert ausgefächert, und in der Romangegenwart erscheint es breit von der Baubrigade geprägt. Aus der (fast unmittelbaren) Vergangenheit ist sogar praktisch nur »das Mädchen« (S. 10) aufzuführen, die Dorfschullehrerin, mit der der ›Held‹ liiert war,

12 Der positive Schluss relativiert sich durch die thematisch korrelierte Erzählung »Ein Mann namens Salbenblatt« (vgl. Pitschmann 2015, S. 187-201), die für den sehr vergleichbaren Helden epilogartig das Ende der Baustellentätigkeit (und Weiteres) fokussiert, das wie bei Pitschmann selbst durch die so genannte Betonkrätze kam. Da diese narrative Ergänzung jedoch erst 1967 entstand und von einem aus den beschriebenen Gründen zutiefst frustrierten Autor mit zudem einigen anderen Erfahrungen stammt, soll sie hier nicht näher in die Betrachtung einbezogen werden (vgl. jedoch das »Nachwort« der Herausgeberin, ebd., S. 226).

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bis diese ihm im Frühling des Gegenwartsjahres eine neue Liebschaft und damit das Ende ihrer Beziehung verkündigte. Die junge Frau selbst ist eine gefestigte gemeinschaftsorientierte Persönlichkeit, deren pädagogische Tätigkeit der ›Held‹ bewundert (vgl. S. 93) und die die Selbstzweifel des ›Helden‹ zunächst zu verringern versucht hat (vgl. S. 14f. sowie S. 90), die ihn dann aber auch nicht mehr zu verstehen schien und vielleicht auch deshalb nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte (vgl. S. 22-26). – Die Baubrigade besteht anfangs aus zwölf Männern verschiedenen Alters, zu denen der ›Held‹ in latenter, aber narrativ nicht weiter genutzter Symbolik als Dreizehnter hinzukommt (vgl. S. 58). Konkret eingeführt und charakterlich mehr oder weniger konturiert werden allerdings nur fünf Brigadisten und der Brigadier: Letzterer wird – wie die meisten auf der Baustelle – mit seinem Vornamen, Otto, benannt und stellt einen strengen, aber verantwortungsvollen und den Einzelnen würdigenden Koordinator dar, der sich ›gut sozialistisch‹ um die Normerfüllung kümmert, zum Wohle seiner Brigade aber auch etwas an den Zahlen für die prämienträchtige Norm-Übererfüllung zu drehen weiß (vgl. S. 71). Unterstützt wird er dabei von dem erfahrenen Brigadisten Adam, der wegen seiner Raucherleidenschaft von den anderen »Zigarre« (S. 37 u.ö.) genannt wird. Adams ›Abgebrühtheit‹, aber auch seine freundlich-honorige Kollegialität bekommt der ›Held‹ alsbald in enger Zusammenarbeit positiv zu spüren. Der mittelalte Brigadist Nagel ist ein eher mürrischer Typus, der in Normwettbewerben und anderen sozialistischen Arbeitsweisen eher nur Vorteile für höhere Chargen wittert und eine gewisse ›bürgerliche‹ Distanz zum System zu haben scheint. Ein weiterer Brigadist ist der alte, bereits etwas abgearbeitete Johann, den die anderen ironisch »Johann das Aas« (S. 34 u.ö.) rufen, weil er zu selbstglorifizierenden Abenteuergeschichten neigt, die vor allem seine sexuelle Potenz betonen, ihn aber auch als »tragikomisch« (S. 79) erscheinen lassen. Nur wenig konturiert werden »der Maschinist«, einer »diese[r] hochnäsigen Spezialisten«, die »sich verdammt viel zum Zeichen ihrer Wichtigkeit [erlauben]« (S. 33), und zugleich jemand, der etwa auch üble kleine Scherze mit dem alten Johann treibt, sowie der noch junge, aber schon erfahrene Martin, an dem sich der ›Held‹ auch ein wenig misst. Späterhin stößt der große und kräftige Albrecht zu der Brigade hinzu, den die anderen etwas despektierlich »Albrecht der Bär« betiteln, der sich zumindest in den Augen des ›Helden‹ allerdings als das einzige vollgültige sozialistische Arbeiter-Vorbild erweist: stark, besonnen und klug (s.u., Kap. VII, S. 162f.). Aus dem weiteren Umfeld der Beton-Baubrigade werden punktuell vor allem zwei weibliche Brigadistinnen konturiert, die wohl jeweils auf ihre Weise für typische (grundsätzliche positive) Frauen auf der sozialistischen Großbaustelle gelten sollen: Thekla, eine große und kräftige mittelalte Frau des Typs ›hart, aber

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herzlich‹, die allerdings Männer entweder als Schwächlinge oder als Aufschneider verabscheut und wohl deshalb im Gegenzug von den grobschlächtigen Kollegen aufgrund einer entsprechenden Physis »Elefantenohr« (S. 109 u.ö.) genannt wird, sowie die mit Thekla befreundete, aber geradezu konträr sensible und wohl auch kluge Ruth (P.), eine noch junge Frau, die aber bereits den erlernten Beruf der Jugendpflegerin verlassen hat, um in der so anderen Welt der Baustelle einen Unglücksfall zu vergessen (vgl. S. 122f.). Der ›Held‹ ist gegen Ende zärtlich, aber wohl nur in Gedanken, in Ruth verliebt und nennt sie – aufgrund von Gesichtszügen, die ihm »um einen Grad ins anrüchig Verwilderte geraten [schienen]« – in Anlehnung an Gauguins Südseeschönheiten »das Barbarenmädchen« (S. 118). In dieses insgesamt eher realistische denn sozialistische Milieu begibt sich der ›Held‹ also für seine Umbildung zu einem ›wertvolleren‹ Gesellschaftsglied, ist jedoch wie wohl ebenso der Erzähler von der Baustelle als bedeutendem Bereich des kollektivistischen Gesellschaftsfortschritts zutiefst überzeugt (wie noch zu zeigen sein wird). Sein ›heroischer‹ Weg in diesen Bereich hinein ist im Folgenden genauer zu verfolgen; mytho-logisch fokussiert wird dabei sogleich die zweifache messianische Position – wie oberhalb postuliert: selbst- und Textrezipienten-bezogen – von »unserem Helden, oder vielmehr dem, was einmal ein Held werden soll« (so der Erzähler liebevoll bis onkelhaft-augenzwinkernd explizit zuerst am Ende von Kap. I, S. 27 und dann regelmäßig in metathetischen Zwischenbetrachtungen wie Kap. II, S. 66, Kap. V, S. 119 oder Kap. VII, S. 167). Kapitel I: »Ein Mann unterwegs« (vgl. S. 9-27) führt den ›Helden‹ noch neutral mit der nüchternen Bezeichnung »der Mann« (S. 9 u.ö.) ein und beschreibt einerseits die Zuganreise nach Hoyerswerda und liefert andererseits in den erwähnten Rückblenden seine Motivation für die Reise zum neuen Arbeitsund Lebensort nach. Die Zugfahrt selbst wirkt dabei in mehrfacher Weise bereits ›heroisierend‹ eingefärbt, denn zum einen stimmt schon das Reisemittel ein auf das Ziel »Schwarze Pumpe« als ein kommendes Monument der mythemisch glorifizierten sozialistischen Technikmoderne und ihrer fortschrittlichen Beschleunigung der Lebensverhältnisse. So heißt es etwa: »Pfeifend schoß der lange, schlanke Zug. [...] Signale grüßten mit erhobenen Armen.« (S. 9) Beim Umstieg in einen langsameren Regionalzug bemerkt ›der Mann‹ sodann zahlreiche »Männer [...] abenteuerlich genug anzusehen« (S. 16) und vom Betrachter »in seine romantische Vorstellung« (ebd.) vom Reiseziel eingeordnet. Er vernimmt von einigen von ihnen sodann aus einem Nachbarabteil »Fetzen einer wilden, von Gelächter zerhackten Unterhaltung« (ebd.), aus deren baustellenarbeitsbezogenen Inhalten zu erschließen ist, dass es sich hier wohl bereits um seine gleich-

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sam mythemisch eingeführten künftigen Kollegen vom Typ ›raue und gestandene Mannsbilder‹ handelt. Trotz der Fremdheit dieser Unterhaltung schließt ›der Mann‹: »Hier bist du jedenfalls richtig [...]. Hier bekommt der verkrachte Herr Kaffeehausmusiker gleich den richtigen Vorgeschmack.« (S. 18) Hinzu kommt eine Beschreibung der durchfahrenen Landschaften, zunächst eine Mischung von ländlicher Idylle, zu der jedoch zunehmend die (positiv erwartete) moderne Technik tritt: »Draußen war Kiefernheide, soweit man sehen konnte, selten ein Hügel, dann eine Schneise, durch die sich in weiten Bögen eine Überlandleitung schwang. Es fiel schwer, sich die hochgespannte Energie vorzustellen, die unaufhörlich die dicken Drähte durchraste.« (S. 11) Noch einmal mehr ›romantisch‹ begeistert sieht ›der Mann‹ sodann vor dem inneren Auge in mythemischer Aufladung: »die ungeheuer flache, eintönige Landschaft da draußen seltsam zerklüftet von imaginären Baugerüsten, – Schornsteinen, die wie phantastische Gewächse in die Höhe schossen, von Masten und Kränen, die gespenstisch herumschwenkten und, unerhörte Riesenmuskel, gewaltige Lasten irgendwohin nach oben hoben.« (Ebd.)

Lediglich als ›der Mann‹ seine eigene, für gescheitert erklärte Künstlerexistenz dem gegenüberhält, verschließt sich ihm die durchreiste Gegend und die zukünftige Kollegenschaft noch einmal etwas, weil er sich selbst noch zu sehr am Anfang einer neuen kollektivistischen Sinnsuche empfindet (vgl. S. 18). Erscheint schließlich auch der Zielbahnhof noch etwas ernüchternd (klein und alt), so ermahnt ›der Mann‹ sich sofort, dass auch hier eine gloriose Zukunft ja noch bevorstehe (vgl. S. 26), und immerhin, als er den Bahnhofsvorplatz betritt, »erhob sich, freundlicher Anblick, aus engen Baugerüsten eine doppelte geschwungene Reihe von halbfertigen und manchmal ganz fertigen Häusern, langgestreckt, mit breiten Fenstern, und mit den gewagten Aussparungen für spätere Läden in den Erdgeschossen.« (Ebd.)

Als ›der Mann‹ kurz darauf, zum Kapitelschluss, »etwas aufgeregt« (ebd.) auf den Ort zugeht, spricht der Erzähler von ihm erstmals als »unserem Helden, oder vielmehr dem, was einmal ein Held werden soll«, und in die Leserinnen und Leser kumpelhaft miteinschließender Sprachgeste endigt der Erzähler: »und vielleicht sollte man ihm eine Handvoll guter Wünsche mitgeben.« Als Gegenstand der Wünsche lässt sich formulieren, dass der bisherige Vertreter eines ›kleinbürgerlichen‹ Künstlertums verweichlicht-individualistischer Manier sich in der raueren Umgebung einer sozialistischen Aufbauwelt zu behaupten und gewis-

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sermaßen wie ein reuiger Sünder zu läutern bzw. zu ›vergemeinschaften‹ weiß. Damit strebt der angehende ›Held‹ zunächst dezidiert den Kollektivismus an und will primär sich selbst von der bisherigen Individualität befreien. Statt einer Vermittlung wird von ihm – mit Blick auf die Selbsteinschätzung des ›Helden‹ und die ›guten Wünsche‹ des Erzählers in einem erheblichen Kraftaufwand bzw. Überwindungsvorgang – eine einseitige Positionsnahme angestrebt. Mythologisch gesehen nach Lévi-Strauss wird sich eine messianische Potenz des ›Helden‹ also noch zeigen müssen. Das kontrastiv kurze Kapitel II: »Laufzettel – Nr. 7365« (vgl. S. 29-31) bestätigt das ambitionierte kollektivistische Vorhaben des Protagonisten in Form einer raffinierten kleinen Spiegelung. Dieser befindet sich nämlich mit einem ›Laufzettel‹ und als vermutlich beeindruckend gemeinte ›hohe Nummer‹ bei einer Art Musterung durch den Betriebsarzt Dr. Hummeleit, der mit einer wohl arzttypisch gemeinten, latent bürgerlichen Distanz die Bereitschaft des Protagonisten wie vieler anderer bewundert bzw. sich über diese wundert, die anstrengende Bautätigkeit auf sich zu nehmen. Die Erzählung bietet hier nur die Dialogteile und den gleichzeitigen Inneren Monolog des Arztes, wobei die quasimilitärischen Äußerungen gegenüber dem ›Helden‹ weniger interessant sind, denn erst im Inneren Monolog offenbart der Arzt seine Gespaltenheit zwischen echter Bewunderung für das sozialistische Großvorhaben einerseits und seiner Verwunderung bis Skepsis gegenüber dem Mitwirkungswillen der von ihm Gemusterten und einigen Gegebenheiten des Vorhabens; die sozialistische MythoLogik und ihre Mytheme kennt und akzeptiert er also, er kann daraus sich ergebende heroische Bestrebungen jedoch anscheinend nicht vollends nachvollziehen. So befindet er etwa mit Blick auf den Kombinatsnamen gewissermaßen ›bürgerlich‹-feinsinnig: »Übrigens ein selten blödsinniger Name für eine klug und großzügig geplante und ausgeführte Sache« (S. 29). Während er dem Protagonisten sodann grundsätzliche Tauglichkeit bescheinigt und ihn lediglich wegen seines Untergewichts vor der anstehenden Belastung warnt, macht er sich still noch einige Gedanken mehr, die sein Gegenüber noch einmal als das zeigen, was Kapitel I peu à peu erkennen ließ und was nun wie eine kleine Bespöttelung wirkt: »Natürlich bist du mir aufgefallen, Neurastheniker-Typen sind leicht herauszufischen. [...] Ich möchte wissen, was in drei Teufels Namen einen Musiker veranlaßt, plötzlich ins Kombinat zu kommen. Bißchen angeknackste Existenz, was? Bißchen Helden spielen? Oder hat man dich zur sogenannten Bewährung hergeschickt?« (S. 30)

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In der Annahme eher von Letzterem beschließt der Mediziner seine Reflexionen mit dem zumindest weitgehend systemaffirmativen Gedankengang: »[V]ielleicht ist es ganz richtig, wenn man Intellektuellen oder Halbintellektuellen von deiner Sorte das Laufen beibringt, und ich bin überzeugt, daß man es dir beibringen wird.« (ebd.) – Erscheint der Protagonist durch Bemerkungen wie »[b]ißchen Helden spielen« auf den ersten Blick einigermaßen infrage gestellt, ja fast in einem Thomas Mann’schen Sinne ›entlarvt‹ (vgl. »Tonio Kröger« u.a. frühe Künstler-Bürger-Erzählungen), so ist aufgrund der weltanschaulich uneinheitlichen Position des Arztes dessen Bewertung selbst offensichtlich etwas fragwürdig, zumal der Erzähler sich jeder zustimmenden Wertung enthält. Es handelt sich nicht zuletzt bei diesem kleinen Kapitel im Übrigen auch um ein Beispiel in der DDR seinerzeit seltener narrativer Modernität, die die Gralshüter des Sozialistischen Realismus hier wie an anderen Stellen der Erzählung auf den Plan gerufen haben dürften (vgl. die skizzierte Kritik des DSV), weil sie vermutlich sogar eine explizit ablehnende Bewertung von ›bürgerlichen‹ Äußerungen des Arztes erwarteten. Das im komponierten Wechsel wieder längere Kapitel III: »Neuling im Netz« (vgl. S. 33-66) schildert den ersten Arbeitstag des ›Helden‹ und stellt en passant die Beton-Baubrigade in Auswahl (wie oberhalb bereits ausgeführt) vor.13 Rückblenden richten sich auf die Ankunft des ›Helden‹ im Arbeiterwohnheim am Vorabend. Nüchtern werden buchstäblich die Umrisse der Baustelle und der konkreten Tätigkeiten beschrieben, und die Heroik des ›Neulings ‹ besteht zunächst vor allem darin, gegen die mutmaßlichen Erwartungen mehrerer anderer Brigadisten einen solchen Arbeitstag überhaupt zu überstehen, der zunächst den Transport schwerer Betonplatten zu einem Aufzug bedeutet. Glücklicherweise hat er mit Adam (›Zigarre‹) einen gelassenen Partner bei dieser Tätigkeit an seiner Seite, der ihm Abläufe und Kollegeneigenarten vorstellt sowie Tipps gibt, Anfänger-Faux-pas nachsieht (schwere Betonplatten rutschen von der Karre und werden Ausschuss) und ihn auch gegenüber Sticheleien anderer, etwa des Maschinisten, in Schutz nimmt bzw. diese relativiert (vgl. insgesamt S. 35-52). Ein kleiner Effekt der starken physischen Beanspruchung wird an diesem Tag bereits zum Dingsymbol der ›(Selbst-)Erziehung des Helden‹: Vom Halten der Karre mit den Betonplatten zieht dieser sich erst einmal heftige Blasen an

13 Zu der stark umgearbeiteten Version dieses Kapitels hin zu der Erzählung »Das Netz« vgl. Pitschmann 1961, S. 120-181. Im Herausgeber-Nachwort zu Pitschmann 2015 wird diese Umarbeitung treffend zusammengefasst und als »politisch viel angepasster« (ebd., S. 225) charakterisiert, sie stand also wohl noch sehr unter dem Eindruck der Kritik am Roman.

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den Händen zu, die Adam am Abend pragmatisch mit Jod zu behandeln rät (vgl. S. 45). Der ›Held‹ sieht das zuerst als eines von »euren barbarischen Hausmitteln vom Bau« an und setzt sich insofern noch in Distanz zu der ›unbürgerlichen‹ neuen Umgebung, seine weitere (stille) Reflexion zeigt ihn jedoch wieder beim angestrebten, nun: äußeren wie inneren Übergang zum heldenhaften Kollektivarbeiter: »Aber natürlich werde ich mir was draufschmieren, wenn Du meinst, daß es abhärtet. Mein Gott, früher kam es darauf an, die Hände so geschmeidig wie möglich zu machen, aber ich pfeife auf früher. Na los, sagte er sich in einer Anwandlung von Heroismus, fangen wir mit der Abhärtung der Hände an.« (Ebd.)

Später am Tag erfährt der ›Held‹ von Adam noch von einer ganz anderen hinzunehmenden Härte des realsozialistischen Baustellenalltags, nämlich dass für alle größeren Fehler jemand Verantwortliches geradezu sündenbockartig büßen muss. Adams Folgerung, dass er daher »lieber ’n hübsches kleines Licht bleibe« (S. 48), findet der innerlich noch zu Höherem strebende ›Held‹ zunächst falsch, sagt sich angesichts der Knochenarbeit und nachvollziehbaren Existenzangst des anderen allerdings dann sogleich: »Was willst du? Hast du vielleicht erwartet, hier laufen alle mit roten Nelken im Knopfloch rum, emphatisch Aufbaulieder singend?« Es waren unter anderem solche eher realistischen denn sozialistischrealistischen Aussagen im Roman, die Pitschmann in der von Strittmatter begonnenen Debatte herbe Kritik einbrachten. Als der ›Held‹ dann halb bewusst und trotzig beim Karreschieben zu singen beginnt, gleitet ihm die Last prompt halb herunter und er schilt sich selbst für die Albernheit (vgl. ebd.). Als die Brigade zur Frühstückspause in einer stickigen, aber auch sonnendurchfluteten Unterkunft zusammenkommt, kann der ›Held‹ bereits ein erstes Zwischenresümee zum Erlebten und seinen glühenden Erwartungen ziehen, denn er »erinnerte [...] seine vagen Träumereien von Baustellenromantik und moderner Goldgräberei: er belächelte jetzt seine Träumereien, und zugleich sagte er sich, daß die Wirklichkeit seine Vorstellungen übertraf, an Romantik wie an Härte.« (S. 58) Die eigene Existenz sieht er zudem bereits in einem neuen Licht, das zumindest an der sprachlichen Oberfläche allerdings noch ein wenig christlich eingefärbt ist (was vom Erzähler auch leicht distanziert betrachtet wird): »Lieber Himmel, ich habe heute zum erstenmal das Gefühl, daß ich mir mein Frühstück ehrlich verdient habe. Sein früheres Leben erschien ihm abseitig und auf jeden Fall nutzlos, und in diesem Augenblick sah er mit der selbstgefälligen Verachtung des Bekehrten darauf zurück.« (Ebd.)

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Um im Bild zu bleiben: Noch am selben Tag übernimmt er sich denn auch noch gehörig in seinem neuen Glaubenseifer an sich selbst und wird »Opfer seines beflissenen Heldengetues« (S. 62). Er lässt sich nämlich vom Brigadier zu einer anderen Handlangerarbeit einteilen, für die man jedoch schwindelfrei sein muss (um in größerer Höhe auf freien Stahlträgern laufen zu können). Das ist der ›Held‹ freilich nicht, stürzt deshalb rasch ab und wird kapiteltitelgemäß zum »Neuling im Netz«, das heißt: Er fällt zu seinem Glück in ein Sicherungsnetz und wird von den Kollegen verlacht (vgl. S. 61-66). Doch selbst dieser »Verfehlung« (S. 66) gewinnt der ›Held‹ etwas Positives ab, indem er sie als Anreiz zu einem besseren Weiter versteht. Der anschließende Erzählerkommentar zum Kapitelschluss spricht dem Protagonisten nun auch bereits zu, dass er zurecht denke, »daß er etwas geleistet hat« und »daß er seine ersten Abenteuer glücklich überstanden hat.« (ebd.) Die damit verbundene etwas realistischere Einschätzung des individuellen Könnens erscheint dabei als eine erste Ebene der mythologischen Vermittlung gegenüber dem Streben zum kollektivistischen Pol. Das wieder deutlich kürzere Kapitel IV: »Dialog über Ausnahmeleute« (vgl. S. 69-72) ergänzt ein unterschwelliges Thema des vorangegangenen Kapitels, nämlich die vor dem Neuling von Adam reflektierte virulente Frage der Norm(über)erfüllung als realsozialistisches Prinzip. Der ›Held‹ und damit auch die Leserinnen und Leser hatten zuvor nur erfahren müssen, dass die heroische Erhöhung der Arbeitsleistung für die Kollegen vornehmlich die ganz pragmatische (und damit auch individuelle bzw. egoistische) Ebene der Verdienststeigerung umfasst. Nun jedoch schildert der Erzähler weitgehend kommentarlos (für den orthodoxen DDR-Geschmack narrativ also vermutlich wieder etwas zu westlich-modern), wie sich Adam und der Brigadier Otto am Abend in der großen Baustellenkneipe Sorgen um den neuen Kollegen machen. Denn sie mutmaßen in ihm einen der »Ausnahmeleute«, deren »blanke Ehrlichkeit auf Dummheit [rauskommt]« (S. 70). Konkret befürchtet Adam, der Neue könnte aus dieser Haltung heraus nicht mitspielen, wenn er durchschaut, dass die Brigade wie viele andere auch permanent ihre Normleistung durch Schummeleien künstlich erhöht (vgl. S. 71). Kurzum: Die Arbeitshaltung des ›Helden‹ erscheint hier bereits so sozialistisch-heroisch, dass er den Kollegen gegenüber ein unerwartetes Musterbild abgibt. Vielleicht bereits auf für sich selbst noch neue Weise zur Einsicht gebracht, ergänzt Adam gegenüber Otto : »›Nimm an, daß ich an dem Neuen ’nen Narren gefressen hab. [...] Du bist Brigadier, und du hast die Verantwortung, und auf deine Rechnung kommts an ...‹« (ebd.). Adam mag damit anheimstellen, zu der sozialistischen Ehrlichkeit, die der ›Held‹ vorlebt, zurückzukehren.

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Das wieder größere Kapitel V: »Lektionen für den Langen« (vgl. S. 73-119) fokussiert einen Tag im September, an dem so schlechtes Wetter herrscht, dass die Brigade schließlich die Arbeit unterbrechen muss. Man vertreibt sich die Wartezeit mit launigen Gesprächen, und der ›Held‹, von den anderen nun schon kumpelhaft »der Lange« (S. 78 u.ö.) genannt, reflektiert nebenher im Stillen, wie weit er im neuen Leben angekommen ist und alte Krisen hinter sich gelassen hat. Er stellt zufrieden fest, dass er »sich heimisch fühlte im engen Bezirk dieser Baubude mit ihren zeitweiligen Bewohnern wie in der größeren Landschaft des ganzen Baus« (ebd.), und durch die Beschreibung seiner äußeren Erscheinung (als »braungebrannt« und mit deutlich sichtbaren Adersträngen, die »den Armen etwas Muskulöses verliehen«, ebd.) bestätigt der Erzähler, wenn auch noch mit etwas Augenzwinkern, dass der ›Held‹ zurecht einen gewissen Stolz zeigte. Zwiespältig ist für den ›Helden‹ allerdings die zunehmende »Verrohung seiner Hände«, die ihn »[zugleich] kränkte und befriedigte«. (S. 81) Das bereits bemerkte Dingsymbol kommt in diesem Kapitel somit deutlich mehr zum Tragen, denn die »dreckige, ungelenke Pfote« (ebd.) steht dem ›Held‹ nicht mehr nur für eine harte, aber erfolgreiche Integration bzw. Anverwandlung, sondern auch für die Befürchtung, nun wohl kaum noch gut Klavier spielen zu können. Der alte Beruf erscheint nicht mehr nur als ›bürgerlich‹ und wert, aufgegeben zu werden, sondern auch als an sich doch geschätzter Teil der eigenen Persönlichkeit. Integration in den Kollektivismus und alte Individualität geraten damit in ein ambivalenteres Spannungsverhältnis als zuvor. Gegen Ende des Kapitels wird sich für den ›Held‹ allerdings mytho-logisch gesehen bereits eine Perspektive des Gegensatzausgleichs bieten. Zunächst jedoch kommen auch nochmals Selbstzweifel bezüglich seines Integrationsstands hoch, die wieder in die vorherige Richtung ausschlagen. Denn der Held hält die Mutation seiner Hände aufs Ganze gesehen keineswegs für hinreichend; er denkt: »Du kannst Dir Mühe geben, du kannst dich abschinden wie du willst, du wirst kein richtiger Arbeiter werden, kein Prolet; du bleibst immer der jämmerliche, lächerliche Überläufer aus dem Kleinbürger-Panoptikum, der auszog, das Gruseln zu lernen.« (S. 83)

Dann jedoch kündigt sich eine weitere Integrationsmöglichkeit für ihn an, als Otto der um ihre Normzahlen bangenden Brigade vorschlägt, mit ein oder zwei Akkord-Nachtschichten noch etwas vor Jahresschluss herauszuarbeiten (vgl. S. 103-105; die Umsetzung vgl. Kap. VII, S. 127-169). Während die anderen Brigadisten skeptisch sind, ob sich ein entsprechender Erfolg überhaupt einstellen wird, ist der ›Held‹ sofort für diese Aktion, denn für ihn steht sie für einen weiteren Beitrag zum Aufbau des Sozialismus vor Ort (vgl. S. 105f.), mit dem er sich

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in Gedanken metaphorisch immerhin schon wie folgt verbunden sah: »Er war legitimer Teil der Armee auf dem Vormarsch. (Macht nichts, wenn du bloß ’n kleiner, dreckiger Fußlatscher bist, – Fußlatscher müssen auch sein.)« (S. 87) Woher die allgemeine Despektierlichkeit gegenüber den eigenen Fähigkeiten rührt, reflektiert der ›Held‹ in diesem Kapitel ebenfalls noch einmal weitergehend, indem er auf heikle Folgen der missglückten Pianistenkarriere zu sprechen kommt. Er war nämlich bereits seit geraumer Zeit in einem mehr oder minder stark aufflammenden Alkoholismus gelandet, der – wie eine längere Rückblende wohl zeigen soll (vgl. S. 90-97) – nicht unwesentlich zum Ende der Beziehung zu dem ›Mädchen‹, der Lehrerin, und zur eigenen Flucht aus dem alten Leben beigetragen haben dürfte. Unverhofft kommt der ›Held‹ jedoch auf die alte Profession in der letzten Sequenz des Kapitels noch einmal zurück, als die Brigade sozusagen von der Baubude gleich in die große Baustellenkneipe wechselt (vgl. S. 107-119; mit [leicht?] fragmentarischem Schluss, vgl. S. 119). Der ›Held‹ entdeckt in der belebten Bierschwemme ein Klavier, das ihn in seiner Heruntergekommenheit womöglich wie ein Abbild seiner Selbst anrührt und anzieht, denn er »sah mit einer Art zärtlichen Verachtung und zugleich mit Heimweh auf den schäbigen, alten Kasten.« (S. 108) Als seine Kollegen merken, dass er das Instrument ausprobieren möchte (vgl. S. 110f.), lässt er sich zwar nur mit großem Widerwillen und Versagensangst darauf ein, aber seine Gedanken offenbaren implizit auch eine ganz neue Motivation zu spielen. Denn als Barpianist hatte er nie Sorge, vor dem Publikum versagen zu können, es war ihm in seiner Grundfrustration sozusagen egal geworden, er hatte eine »verdammte kalte Routine inmitten [s]einer selbstgezimmerten Anonymität«. (S. 111) Nun jedoch, umgeben von der neuen Gemeinschaft, mit der er sich verbunden sieht, will er nicht versagen, zumal mit den ›verrohten‹ Händen. Mit viel Selbstüberwindung (und realen Schmerzen in den Fingern, vgl. S. 113) spielt er sich jedoch warm und begeistert die Kollegen sowie insbesondere zwei Frauen aus einer anderen Brigade, zuerst die grobschlächtige Thekla, genannt ›Elefantenohr‹, die von ihm sogar »Rock ’n Roll« fordert (S. 115), und dann das ›Barbarenmädchen‹, zu dem er in Gedanken bemerkt, »daß er die ganze Zeit nur für sie gespielt hatte.« (S. 118) Der Erzähler kommentiert in einer für den Roman typischen Kapitelschlusspassage, der ›Held‹ sei »ein bißchen benommen, ein bißchen überrascht von seinen eigenen Möglichkeiten, dabei ziemlich glücklich, (aber das wird er erst später einsehen)« (S. 119). Die vorausdeutende Klammerbemerkung dürfte sich auf das letzte Kapitel (VII) beziehen, wird jedoch nicht explizit wieder eingeholt werden. An dieser Stelle kann als positiver Effekt des Klavierspiels mytho-logisch jedoch bereits festgehalten werden, dass hier die alte Individualität und die neue Kol-

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lektivexistenz des ›Helden‹ sozusagen eine glückliche Vermittlung vielleicht sogar mit nachhaltigem Potenzial erlebt haben. Das im variativen Wechsel erneut sehr kurze Kapitel VI: »Tagebuch von Ruth P., Blatt 128« (vgl. S. 121-124) bezeugt, wer das ›Barbarenmädchen‹ wirklich ist und wie es sich in den ›Held‹ verliebt hat. Die Passung der schüchternstillen Haltung wie bei Letzterem selbst ist dabei die eine interessante Parallele, die andere besteht darin, dass auch Ruth P. im harten Leben auf der Großbaustelle Ablenkung bzw. Neuanfang nach dem Scheitern in einem ›zivilisierteren‹ Beruf sucht. Denn wie bereits angedeutet, fühlte sie sich als Jugendpflegerin mitschuldig an einem Unglücksfall, das heißt: am Tod eines Kindes durch mütterliche Vernachlässigung, die sie ihrer Meinung nach früher hätte erkennen müssen (vgl. S. 122f.). Ruth P. hatte im Gegensatz zum ›Held‹ bereits einen gut gemeinschaftsbezogenen Beruf, möchte sich jedoch nach ihrem Versagen darin nun auf einer basaleren Ebene ›bewähren‹. Das abschließende große Kapitel VII: »King Klaviers Etüden in Beton« (vgl. S. 127-182) schildert die angekündigte Akkordschicht-Nacht, ein kompletter Betonguss eines Gebäudes, bis zur frühmorgendlichen Rückkehr des ›Helden‹ in sein Wohnheim. Es setzt mit einem Gang des Bauführers über den Ort des Geschehens ein (vgl. S. 127-130), ein Gang, dessen Schilderung »am Schauplatz für die neuen Abenteuer unseres Helden« (S. 130) endet. Die Bedeutung der Sonderschicht wird mythemisch gedeutet – wie punktuell bereits zuvor –, indem der Erzähler von »eine[r] Art friedliche[m] Kriegsschauplatz« (ebd.) spricht. Der ›Held‹ wird sodann vom Erzähler mit seinem neuen Spitznamen »King Klavier« angerufen, den der junge Kollege Martin »in einem Anfall von Bewunderung in die Welt gesetzt [hatte]«, und die erlebte Rede des ›Helden‹ belegt: »[E]s war ihm recht, dass sie ihn so nannten.« (S. 130f.) Im Bild des ›Kriegsschauplatzes‹ lässt sich der Spitzname als eine Art Nom-de-guerre verstehen, der – wenngleich etwas humoristisch – die heldische Größe des so Benannten zugleich durch seine alte Individualleistung als auch durch eine potentiell herausgehobene Stellung im Kollektiv amalgamierend bestimmt. Im Weiteren ist vom ›Helden‹ bisweilen nur als von dem »King« (S. 131 u.ö.) die Rede, was wiederum sowohl auf die musikalische Ebene (sc. ein Elvis-Presley-Vergleich, vgl. als Vorlauf dazu Kap. V, S. 115) als auch auf diejenige der Baustellenarbeit abzielt. Der Miterfolg des ›Kings‹ bei der Akkordaktion wird sich am Ende eindeutig positiv zeigen, am Anfang steht jedoch nochmals ein kritischer Blick auf dessen Hände, die vom flüssigen Beton mehr denn je ramponiert werden und deren Funktionsfähigkeit zumindest im Schlaglicht bereits einigermaßen infrage steht

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(vgl. S. 132f.).14 Die weitere Reflexion der Betonbau-Situation durch den ›Held‹ fällt freilich ebenfalls ambivalent aus: »Du bist in die Mühle geraten, und du wirst erbarmungslos durchgedreht«, aber Heldennarrativ-gemäß positiv erkennt er sodann: »Jetzt erst fängst du an zu begreifen, was Arbeit heißt« (S. 137). Dieses Hin-und-Her der Bewertung fasst er kurz darauf auch zusammen, indem er die konkreten Arbeiten als »eine verfluchte, gemeine Schinderei« (S. 143) ansieht, während das Ergebnis ebenso eindeutig mythemisch gedeutet wird als »ein [...] kühn und zweckmäßig konstruierter Bau aus Spannbeton [...] großartig schön und erregend [...], glücklich gewagte Komposition auf ein neues Zeitalter, das heiter und frei heraufstieg.« (S. 142) Das Bild der ›Komposition‹ wird etwas später vom ›King‹ sogar explizit und mytho-logisch weitergedacht, denn aus dem Baustellenlärm heraus fordert er den Musiker in sich (halb im müden Scherz, aber auch halb im Ernst) auf zu einer individualen Leistung im kollektivistischen Kontext: »[N]a los, du warst doch schon immer scharf auf Töne und Geräusche und auf ihre Auslegung. Also bitte mach ’ne Ballade draus, oder eine Rhapsodie [nach dem Vorbild Gershwins, vgl. allgemein S. 117], wenn du willst. Wie wärs mit einer Rhapsodie in Beton?« (S. 147)

Der Gedanke an ein »Loblied« auf den Kombinatbau und alle seine Beteiligten, »auf ihre Arbeit und auf ihr Heldentum« (ebd.), beschließt die Reflexion pathetisch, und wenn der ›King‹ für diese große Absicht eher an jemand anderes als sich denkt, ließe sich in metapoetischer Übertragung auch postulieren, dass Pitschmann mit dem vorliegenden Kurzroman vielleicht auch bereits in einem zugleich performativen Akt eine solche Art sozialistisches (allerdings auch kritisch-realistisches) ›Loblied‹ zu komponieren bemüht war. Was für Arbeiter an dem großen Bauprojekt solchermaßen besonders zu besingen sind, zeigt sich im weiteren Verlauf der beschriebenen Nachtschicht, als der ›King‹ sich vor Überanstrengung bisweilen eher in Fluchtphantasien (hin zu dem ›Barbarenmädchen‹, vgl. S. 144f., oder ins Bett, vgl. S. 148-150) zu verlieren droht. Als der für den Betonguss zentrale Kompressor wegen einer Materialermüdung ausfällt und die Kollegenschaft sich bereits fatalistisch am jähen Ende der prämienträchtigen Nachtschicht wähnt, tritt ein Neuling in der Brigade als prototypischer sozialistischer Heros hervor. Der von den anderen eher etwas

14 Die damit verbundene ›Betonkrätze‹ wird an dieser Stelle freilich noch nicht Thema, vgl. aber in der vorliegenden Studie die vorangehende Fußnote 12 zur weiteren Bedeutung dieser Erkrankung in Pitschmanns Leben und Werk.

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spöttisch ob seiner Physis »Albrecht der Bär« genannte erfahrene Bauarbeiter weist nämlich ruhig und besonnen auf eine andere Maschine als Ersatz hin, und so kann die Schicht doch noch glücklich zu einem Ende geführt werden (vgl. S. 162f.). Dieser ›Bär‹ erscheint somit als zugleich starker, kluger und gemeinschaftsorientierter Heros (vgl. in der Nachbewertung durch den ›King‹, S. 164), und von dem sonst mürrischen, nun aber vollauf begeisterten Maschinisten erhält er das bezeichnende Lob: »Ach du dreimal verfluchter Aktivist.« (S. 163) Vergleichbar den Protagonisten früherer Aufbauromane wie Claudius’ Hans Aehre wird Albrecht nach diesem guten Einfall auch noch in seinem »konstant fließenden, exakten Arbeitsrhythmus« (S. 165) als vorbildlich beschrieben, und nicht zuletzt der ›King‹ fühlt sich zwar erneut eher klein im Vergleich, aber auch unweigerlich mitgerissen, und die ›Schinderei‹ wird nun geradezu zur frühmorgendlichen Idylle in »romantisch verklärte[r] Luft« (S. 166) – der Erzähler gerät sogar in einen entsprechenden Überschwang und spricht den Leser sozusagen mythemisch affirmativ und in die Gemeinschaft einbeziehend in einer Klammerbemerkung nach dem eben Zitierten an: »[F]ür Romantik, mein Freund, wird immer wieder gesorgt werden«. (Ebd.) Kurz darauf resümiert der Erzähler bereits das Gelingen der Nachtschicht und dass dabei auch »unser Held unverdrossen, wenn auch linkisch auf sein Ziel los [getrabt sei].« (S. 167) In einer letzten Erzählsequenz des Kapitels lässt Pitschmann die romanhafte Erzählung gleichsam musikalisch ausklingen, indem er auf die wechselvollen »Etüden in Beton« im engeren Sinn die Schilderung der Busheimfahrt und des Zur-Ruhe-Kommens des Helden in seinem Wohnheim schildert (vgl. S. 167182). Die Sequenz setzt ein mit der Beglückung des ›Helden‹ bzw. ›King Klaviers‹, als er im Bus fast die ganze Baustelle passiert; dabei ist es dem Erzähler wichtig zu betonen, dass es sich nicht um eine »ungenau schwärmerische […] Journalistenbegeisterung« handele, »die man, leicht gerührt oder verärgert, in manchen Berichten antraf.« (S. 168) Wiederum metapoetisch (und wohl auch performativ) gesehen weist der Autor damit vermutlich auch darauf hin, welche Form von sozialistischer, aber auch realistischer Perspektive und Narration er für richtiger hält. Auch die Beschreibung des weiteren Fahrtwegs des Busses, vor allem durch das im Ausbau befindliche Hoyerswerda, entspricht dieser Mischung aus Fortschrittsoptimismus und kritischem Blick (vgl. S. 170-172). Im Wohnheim angekommen, möchte der ›King‹ vor dem Schlafengehen noch ein Bad nehmen, wobei ihm eine Putzfrau vom Typ ›hart, aber herzlich‹ unverhofft zur Seite steht (sie kann die nötige Heizkohle beschaffen; vgl. insgesamt S. 174-177). Als die Frau in freundlichem Interesse die genaue Tätigkeit des ›Kings‹ auf der Baustelle erfragt, ahnt sie sogleich die damit verbundene

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dauerhafte Belastung und kommentiert: »Immer arbeiten, nicht wahr? Wie eine Maschine ... Der Mensch ist bald ’ne richtige Maschine.« (S. 178) Diese bedenklich erscheinende Reflexion wird jedoch von den Gesprächspartnern eher ›locker‹ hingenommen – eine kritischere Sicht auf die damit verbundene Dehumanisierung der Arbeitsverhältnisse auch im Sozialismus stellt sich zumindest explizit nicht ein (und wird es bis hin zu Tetzners Karen W. von 1974 nur selten tun, etwa bei Neutsch in Spur der Steine). Die Schlussperspektive des Kurzromans ist einerseits die Heldennarrativ-typische starke Erschöpfung des ›Kings‹ nach der ihn wohl vollends integrierenden Nachtschicht – er schläft und schläft – , andererseits bleibt seine Verbundenheit mit individualem Künstlertum im Blick. Denn in seinem Wohnheimzimmer hängt eine Reproduktion von van Goghs berühmtem »Schlafzimmer in Arles« (1888/89), das auf den Ermüdeten einen nahezu psychedelischen Effekt entfaltet (»[D]ie Farben [...] überfielen und entzückten das Auge wie nach dem Genuß einer gewissen Droge.« [S. 181]). Die Empfänglichkeit des ›Kings‹ für die ästhetische Leistung eines so gar nicht sozialistisch-realistischen Malers verweist abschließend vielleicht noch einmal mehr auch auf die ›Eigenheit‹ des ›Helden‹ dieses Textes, die bei aller kollektivistischen Selbsterziehung erhalten bleibt, mytho-logisch vermittelt, aber wie LéviStrauss es allgemein postulierte, in unabschließbarer Approximationsbewegung gegenüber dem Gemeinschaftsideal. – Kennenlernen konnte eine breite DDRLeserschaft dieses spannende Beispiel einer individualistisch-sozialistischen Erlöser-Figur wie späterhin noch so manche Entwürfe bzw. Werke anderer, die nicht orthodox genug positioniert waren, nicht.

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E INE D IOSKUREN -A MALGAMIERUNG : K ARL -H EINZ J AKOBS ’ B ESCHREIBUNG (1961)

EINES

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S OMMERS

Während Pitschmanns messianischer Helden-Erzählung die Publikation 1959 (und ja auch zu DDR-Zeiten überhaupt) verwehrt blieb, konnte Karl-Heinz Jakobs’ in manchem ähnlicher dioskurischer Baustellenroman Beschreibung eines Sommers15 1961 überaus erfolgreich im Verlag »Neues Leben« veröffentlicht werden. Allgemeine Aufmerksamkeit erregende Vorabveröffentlichungen waren vorangegangen16, und bis 1981, als Jakobs die DDR gen Westen verließ, erhielt der Roman zahlreiche Auflagen in insgesamt hoher sechsstelliger Höhe;17 mit der gleichnamigen filmischen Adaption wurde ab Januar 1963 sogar in kurzer Zeit ein Millionenpublikum erreicht.18 Der nüchterne bis schnoddrige Ton des Ich-Erzählers des Romans – der Film übernahm ihn im Grundsatz, nicht zuletzt in Form der markanten (Ich-Erzähler-)Stimme Manfred Krugs aus dem Off – wurde zeitgenössisch zudem wie die Erziehung eines Helden mit dem von Hemingway und anderen gesetzten Ton, also der kurz zuvor heftig inkriminierten ›harten Schreibweise‹, in Beziehung gesetzt. Dies geschah zwar erneut kritisch,

15 Als Referenzausgabe vgl. Jakobs 1995; auf den Romantext nach dieser Ausgabe wird im Folgenden mit einfachen Seitenangaben in Klammern im Haupttext verwiesen. 16 Für Nachweise, auch von noch nachträglichen Fortsetzungsveröffentlichungen in Zeitungen, vgl. Jakobs 1995, S. 237-253 (= Nachwort). 17 Zu den schnell anwachsenden und über die Jahrzehnte sogar millionenfachen Auflagenzahlen vgl. Wrage 2008, S. 67. 18 Die Verfilmung unter der Regie von Ralf Kirsten und nach einem Drehbuch von KarlHeinz Jakobs und Ralf Kirsten war sogar einer der größten Kinoerfolge des Landes, was neben der gut fokussierten Version der Romanhandlung sicherlich an den populären Hauptdarstellern Manfred Krug, hier in einer der ersten Versionen seiner Paraderolle als sozialistischer Haudegen, und Christel Bodenstein, seinerzeit beliebtester weiblicher DEFA-Star und Ehefrau von Konrad Wolf, lag. Für Grundinformationen zum Film vgl. Spur der Filme 2006, S. 181-183. Über einen heftigen, aber nur intern geäußerten Vorwurf des DDR-Kulturministers Hans Rodenberg gegenüber dem Drehbuch, die Geschichte sei geradezu parteifeindlich, durfte sich die DEFADirektion aufgrund einer vom SED-Politbüro seinerzeit zugewiesenen Entscheidungskompetenz hinwegsetzen und konnte den Film sodann zu einer breiten öffentlichen Akzeptanz führen, so der seinerzeitige Generaldirektor Joachim Mückenberger in der Rückschau, vgl. ebd., S. 182f. Für eine ausführliche Analyse des Films vgl. Wrage 2008, S. 212-230.

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allerdings auch mit positiven Wendungen bzw. einer gewissen Anerkennung für eine Anverwandlung bzw. Weiterentwicklung durch den Autor, und entsprechend zeitigte diese Stilbewertung für Jakobs glücklicherweise überhaupt nicht mehr solche fatale Folgen wie für Pitschmann.19 Der Konzeption von Jakobs’ Roman ging, ebenfalls ähnlich wie bei Pitschmann, ein Arbeits- und Literaturstudien-Aufenthalt auf einer sozialistischen Großbaustelle voraus. Aus diesem ergaben sich zuerst Kleinveröffentlichungen noch im Jahr des Aufenthalts selbst (1959).20 Die wesentliche Plot-Idee mit ihrem mytho-logischen Zentrum eines dioskurischen (Liebes-)Paares in einem sozialistischen Industriebau-Kontext scheint dem Autor jedoch erst danach gekommen zu sein.21 Jakobs’ Roman erfüllte die zeitgenössischen Standarderwartungen an einen sozialistischen Aufbauroman wiederum wie Pitschmann nur sehr bedingt und fand daher in der DDR ebenfalls zumindest zum Teil recht kritische Rezensenten, aber auch Verteidiger, so etwa in sehr differenzierter, anderweitige Kritik bereits aufnehmender Form Christa Wolf;22 diese wie die wesentliche zeitgenössische Rezeption des Romans hat Thorsten Ahrend in der hier zugrunde gelegten Neuausgabe exemplarisch referiert und gut resümierend auf den Punkt gebracht. Eine eminente Rolle spielte demnach für die Kritik, dass der ›schillernde‹ männliche Protagonist als Ich-Erzähler eine stark subjektive Sichtweise zentrierte, die orthodoxen Kritikern nicht hinreichend objektivierend, sprich: sozialistisch-realistisch, gekontert erschien. Zudem war, wie schon bei Pitschmann, die Beschreibung der Baustellensituation mit typischen Mängeln, aber auch Fehlern auf Seiten der sozialistischen Planer und Leiter offensichtlich zu wenig optimistisch (geschönt) bzw. auf die literarästhetisch geforderte nachdrückliche Hoffnungs- und Vorbild-Perspektive hin ausgerichtet. Das innige Bemühen der männlichen Hauptfigur um eine ideologisch gesehen ›positive‹ Selbstentwicklung scheint jedoch dem Roman meistenteils eine gewisse Grundsympathie erhalten zu haben.23

19 Vgl. Wrage 2008, S. 61f., mit konkreten Hinweisen auf zeitgenössische Rezensionen, sowie ergänzend Jakobs 1995, S. 250. 20 Vgl. Jakobs 1995, S. 243. 21 Nachvollziehbare Mutmaßungen zu die Romanhandlung inspirierenden Begegnungen des Autors mit Jungingenieuren gegen Ende seiner Zeit in Schwedt stellt Ahrend ebd. an. 22 Vgl. Wolf 1961. 23 Vgl. Jakobs 1995, S. 244-253. Eine Wahrnehmung durch das westdeutsche Feuilleton fand im Übrigen so gut wie gar nicht statt, vgl. Wrage 2008, S. 61.

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Was diese Figur mit ihrem weiblichen Gegenüber auf diesem Entwicklungsweg erlebt bzw. durchlebt und wie dabei die Beschreibung eines Sommers zu einer vermittlungsstarken Dioskuren-Geschichte wird, sei im Folgenden zunächst grob zusammengefasst.24 Dabei ist zu beachten, dass der Roman mit seinen nur knapp 230 Seiten in sieben ganz unterschiedlich lange Bücher zerfällt, die wiederum ganz verschieden viele der 29 (über die Bücher hinweg durchgezählten) Kapitel enthalten. Die weitestgehend lineare Chronologie der Erzählung führt vom Frühsommer bis zur unmittelbaren Gegenwart im Spätherbst (im Jahr 195925), von dessen Warte aus der Ich-Erzähler berichtet. Im ersten Buch (= Kap. 1-7 / S. 9-36) erzählt der dreißigjährige Berliner Bauingenieur Tom Breitsprecher, wie er nach einem Gigolo-mäßigen frühen Sommerurlaub von seiner Kaderleiterin überredet wird, von seiner aktuellen Bauleitungstätigkeit Ende Juni (1959, vgl. explizit S. 78) zu der Großbaustelle des Chemiewerks in Wartha (= Schwedt) zu wechseln. Auf ihr herrscht ein großer Mangel an Fachpersonal, denn sie wird im Wesentlichen von unqualifizierten FDJ-Freiwilligen getragen.26 Der Ideologie-skeptische, individualistische Tom soll dort freilich auch endlich etwas näher an den Sozialismus gerückt werden. Dies bahnt sich im zweiten Buch (= Kap. 8-12 / S. 37-74) durch dessen Grundneugier auf die jungen Menschen bereits an, überkreuzt sich allerdings schon in den ersten Arbeitstagen durch die beginnende Mesalliance mit der verheirateten FDJlerin Grit (Margit Marduk), die als überzeugte Sozialistin zugleich sein dioskurisches Pendant bildet. Das dritte Buch (= Kap. 13-17 / S. 75-119) zeigt Toms zunehmende Sympathie und Beeindruckung durch die FDJGemeinschaft zumal außerhalb der Arbeitszeiten, in denen er jedoch nun auch eine immer offenkundigere Affäre mit Grit lebt, die freilich mit ihm auch eine ›gut sozialistische‹ Beziehung anstrebt. Grits FDJ-Kameraden beäugen die beiden jedoch bereits kritisch, und nur die beginnende Serie großer sommerlicher Waldbrände verhindert ein rasches parteimoralisches Verfahren. Diese Situation prolongiert sich im vierten Buch (= Kap. 18-22 / S. 121-163), das von Toms weiterer innerer Annäherung an seine sozialistische Umgebung, einer gefestigten

24 Für eine v.a. auf die männliche Hauptfigur und dabei in Sonderheit auf ihre Generationalität und Adaptibilität als ›neuer Mensch‹ bezogene kurze Analyse des Romans vgl. bereits Elit 2013, für eine allgemeinere Interpretation vgl. Wrage 2008, S. 60-76. 25 Die Jahreszahl wird explizit gesetzt, vgl. Jakobs 1995, S. 79. 26 Die Übernahme von größeren Bautätigkeiten durch oftmals ganz ungelernte FDJGruppen war ein zeitgenössisches Phänomen vor allem aus der Not, da der noch ›offenen‹ DDR bekanntermaßen bereits zahlreiche Fachkräfte fehlten.

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Liebe zwischen ihm und Grit, aber auch Wellen von Antipathie gegen die Verliebten auf der Baustelle geprägt ist. Mit Buch Fünf (= Kap. 23f. / S. 165-184) beginnt ein Spätsommer, der buchstäblich wie übertragen dem Liebespaar eine starke äußere Abkühlung bringt. Denn verschiedene Instanzen (FDJ, SED und Kaderleitung) versuchen Tom und Grit auf Distanz zu bringen durch räumliche Separierung (Tom ›darf‹ zwei Wochen auf Ungarnreise, Grit soll sich mit ihrem Ehemann aussprechen), aber auch Maßregelverfahren. In Letzteren werden Grit und Tom nacheinander für die als unsozialistisch angesehene Verbindung gerügt, zu Selbstkritik gebracht – aber als Liebende doch nicht getrennt. Das sechste Buch (= Kap. 25-28 / S. 185-229) thematisiert dann, wie Tom durch die Moralkritik und seine innere Zerrissenheit zusammenbricht, zumal Grit sich zwar scheiden lassen, aber auch erst einmal auf Abstand von ihm gehen möchte. Das siebente Buch (= Kap. 29 / S. 231-234) trägt stark gerafft nach, wie Tom die folgenden Wochen mit einer mit dem Zusammenbruch korrelierten Hepatitis im Krankenhaus verbracht hat und nun, im Herbst, eine Art Heimaturlaub und Bedenkzeit in Berlin beginnt, bevor er eine neue Baustellenleitung an einem anderen Ort antreten wird, während Grit brieflich ihre anhaltende Liebe (die Tom auch teilt) versichert. Ich-Erzähler Tom schließt seine »Beschreibung« aber dann doch noch ›positiver‹ als die »eines Sommers« ab, indem er zu einer idyllischen (jedoch ihrerseits nicht ganz unangefochtenen) Zweisamkeitsszene zurückblendet. Das Figurentableau rund um Tom und Grit ist quantitativ stattlich, qualitativ gesehen treten jedoch nur wenige Akteure auch als Charaktere in Erscheinung, die meisten davon sind auf der Großbaustelle Tätige und so gut wie allen ist gemeinsam, dass sie im Gegensatz zu Tom getreue Sozialisten sind. Von jenseits der Baustelle sind hier lediglich zwei Personen erwähnenswert, und zwar zum einen Toms Kaderleiterin Trude Neutz und zum anderen Grits Ehemann Georg Marduk. Erstere wird gleich im ersten Buch als Führungskraft mit Durchsetzungsvermögen, aber auch ›mit Herz‹ profiliert, deren fast schon maternalistischer ideologischer Erziehungseifer sich anscheinend bereits geraume Zeit auf Tom richtet, den sie als Fachkraft schätzt, jedoch als Mensch recht kritisch sieht (vgl. S. 14-20). Später im Roman wird die Basis ihres Parteigängertums noch einmal kurz erhellt, als sie Tom den familiären Hintergrund erläutert, vor dem sie Kommunistin geworden ist (die Eltern waren von Neutz als etwas naiv bewertete Sozialdemokraten, die sie in den Spanischen Bürgerkrieg mitgenommen haben, in dem sie dann beide umkamen, vgl. S. 168). Auf seine Weise überaus vorbildlich erscheint Grits Ehemann Georg, der sich vom einfachen zum studierten Bergmann (nun: Steiger, vgl. S. 91) emporgearbeitet hat, als Parteigenosse für Grit ein übergroßes Vorbild darstellt und der auf leicht paternalistische Weise

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seine Frau von einer eigenständigen Entwicklung als Sozialistin abgehalten hat (vgl. S. 106f.). Im Zusammenhang der Scheidung wird er sich allerdings als aus Liebe sehr nachsichtiger Ehemann erweisen (vgl. S. 189). Von der Baustellenbelegschaft wird als Erstes der Gesamtleiter Genosse Senkpur vorgestellt, der mit seinen etwa 35 Jahren kaum älter als Tom ist, jedoch sehr gestanden und freundlich-souverän auftritt (vgl. S. 34f.) und im Weiteren fast schon als eine Art Altheld charakterisiert wird. Er hat nämlich bereits 1949 ein großes sozialistisches Bauprojekt vorbildlich geleitet und war dafür seinerzeit bereits vom Studenten Breitsprecher bewundert worden (vgl. S. 121f.). In der Gegenwart erscheint er nahezu bereits ›weise‹ in seinen fachlichen und ethischen Entscheidungen und verhindert so späterhin auch harsche Vorgehensweisen gegen Tom und Grit. In besonderer Beziehung zu Tom steht der kluge und gütige Maurerbrigadier Schibulla, da sich die beiden bereits von diversen Baustellen kennen und schätzen. Schibulla als Parteigenosse ist ideologisch gesehen freilich ein ganzes Stück ›weiter‹ als Tom, dessen Gesinnung er jedoch vor anderen verteidigt und demgegenüber auch die Partei moralisch kritisiert (vgl. S. 191 u. S. 211-218). Auf der von Tom selbst geleiteten Teilbaustelle sind etwa dreißig Personen tätig, kaum welche treten jedoch längerfristig als Persönlichkeiten entgegen, so etwa der Tom-kritische jähzornige FDJ-Sekretär Doberge, der freundlichere Brigadier Morlock oder die von Tom besonders geschätzten jungen Brigadisten und FDJler Anton Dschick und Joachim Grell (vgl. fast sämtlich kurz charakterisiert auf S. 67-69). Um Grit herum existiert ein Kolleginnenkreis, aus dem die mit Grit etwa gleichaltrigen (das heißt: etwa 20Jährigen, vgl. S. 47) FDJlerinnen Regina und Lilo im Laufe der Geschichte profilierter agieren: Lilo erweist sich dabei als überaus loyale Freundin (vgl. insbesondere S. 191), Regina hingegen als hypermoralische oder eventuell auch eifersüchtige Kameradin (vgl. S. 131 sowie S. 186-191). Die folgende genauere Analyse soll vor allem nachverfolgen, wie der IchErzähler und seine Geliebte als dioskurisches Paar eingeführt werden und sich entwickeln. Dabei kann als mytho-logischer Prozess nach Lévi-Strauss festgestellt werden, dass es im Romanverlauf eine Art nivellierenden Merkmalsaustausch gibt, das heißt: Die ursprünglichen Antipoden nähern sich durch das Band ihrer Liebe so einander an, dass von einer charakterologischen Amalgamierung der Dioskuren und damit von einer besonderen Form der Vermittlung gesprochen werden kann. Ebenfalls im Sinne Lévi-Strauss’ ergibt sich allerdings auf einer anderen Seite, dass die amouröse Gemeinschaft eine neue Gegensatzposition gegenüber der kollektivistischen FDJ-Gemeinschaft besetzt, wenn auch in weniger diametraler Form als die Ausgangsopposition Tom Breitsprecher vs. Margit Marduk bzw. ihre FDJ.

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Wie stark der Individualismus des Tom Breitsprecher zu Beginn der Romanzeit ist, zeigt mit Nachdruck das kurze erste Kapitel. In ihm berichtet Tom auf seinem Nachnamen Ehre machende Weise, also ›großsprecherisch‹ bzw. ›breitmäulig‹, wie er sich in seinem frühen Sommerurlaub als kleiner Gigolo an mehreren Badeorten der DDR-Ostseeküste verlustiert hat. Anfangs- und Endpunkt des Urlaubs markiert Tom mit Verweisen auf seine ›Selbstherrlichkeit‹, auch wenn diese ihre Grenzen hat, denn: »[I]ch blieb fort nach eigenem Ermessen« (S. 9), heißt es eingangs, aber schließlich muss er zugestehen: »[A]lles, was ich erlebt hatte, wog den Krach nicht auf, den ich mit meiner Betriebsleitung bekam, weil ich meinen Urlaub eigenmächtig verlängert hatte.« Da Tom allerdings wohl weiß, wie wichtig er als Fachkraft ist, schließt er als Bemerkung unmittelbar an: »Den Krach ertrug ich mit Gelassenheit« (S. 10), um dann allerdings zumindest implizit die Grundverbundenheit mit seiner Tätigkeit ebenfalls zu bekennen: »und ich stürzte mich einigermaßen erfrischt in meine Arbeit.« (Ebd.) Das zweite Kapitel, die Planung einer Eilarbeit auf seiner aktuellen Baustelle, weist dann daraufhin, dass der Reiz der Tätigkeit vornehmlich in einer Art Bestätigung der eigenen Leistungsfähigkeit besteht, die eher als Nebeneffekt der sozialistischen Gemeinschaft zugutekommt (vgl. S. 10-13). Inwiefern diese Prioritätensetzung auch an höherer Stelle gesehen wird, thematisieren das dritte und vierte Kapitel, in denen die Kaderleiterin Trude Neutz Tom zu der Übernahme einer Teilbauleitung auf der neuen Großbaustelle Wartha zu überreden versucht. Sie bestätigt nämlich zunächst Toms besondere fachliche Qualität (vgl. S. 16), und Tom denkt, dass er vor allem bereit ist, diese noch durch neu zu Lernendes zu steigern (vgl. ebd.). Allerdings reflektiert er auch sogleich, dass ihm die typische ideologische Belobigung für entsprechende Erfolge nicht wertvoll erscheint: »Ich bin zweifacher Aktivist, und das hat mich überhaupt nicht gejuckt.« (ebd.) Als Tom sich bereits verpflichtet hat, geht die Kaderleiterin jedoch noch auf eine andere, für Tom weniger erfreuliche Ebene, die den besonderen Individualismus des ersten Kapitels meint: »Wir erwarten natürlich, daß du dich dort anständig benimmst«, und sie expliziert: »Du bist unser bester Ingenieur. Moralisch aber bist du ein Dreck.« (S. 18) Die neue Aufgabe überträgt die sozialistische Gemeinschaft Tom daher auch als »Chance deines Lebens« (ebd.), sich nun einmal ethisch deutlich zu steigern, zumal er als bereits 30Jähriger auch eine pädagogische Rolle auf einer Baustelle einnehmen soll, die ideologisch als »Bau der Jugend« (ebd.) deklariert worden ist. Die Kaderleiterin macht Tom klar: »Dort wollen wir dich ganz. Mit Kopf und Herz.« (ebd.) Tom entgegnet dazu spontan: »Zum Bauen braucht man nicht Herz, sondern Verstand« (S. 19), die Kaderleiterin bringt ihn jedoch rasch zu dem Eingeständnis, dass er sich immerhin von sich aus auf sozialistischen Baustellen bewege und nicht auf kapitalisti-

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schen (vgl. ebd.). – Die wahre Ursache für seine innere Reserve erklärt Tom der Kaderleiterin allerdings nicht, sondern reflektiert dieses Desiderat nur im Stillen: Als Jugendlicher (des Jahrgangs 1929) war er im Nationalsozialismus bereits einmal so sehr den Mythemen einer für ihn aus heutiger Sicht fatalen Gemeinschaftsideologie verfallen, dass er sich emotional nie wieder so sehr involvieren möchte (vgl. S. 21-24). In einer weitergehenden Erinnerung, an seine kurze Zeit als Hitler-Soldat und wie er in der Kaserne auch zu pokern gelernt hat (vgl. Kap. 5, S. 25-27), reflektiert er schließlich explizit, wie er bzw. seine Generation zu einer Art Apolitismus gelangt ist: »[M]an hatte sich mit Tod und Teufel, mit Politik und Kunst und allerhand Demagogie und Bluff sehr intensiv beschäftigt, bevor man sagte: Mathematik, Musik [sc. sollen fortan nurmehr interessieren].« (S. 27) Eine leise Neugier auf »die in Wartha« (S. 25) muss sich Tom jedoch bereits eingestehen, und als er von der Kaderleiterin dorthin gebracht worden ist, sind es gleich die ersten persönlichen Begegnungen, die ihn für die neue Gemeinschaft zu öffnen beginnen: die imponierende Planerheldengestalt des Gesamtbauleiters Senkpur (vgl. Kap. 7, S. 33f.), die Begegnung mit dem alten Wegbegleiter Schibulla (S. 35f.) und sodann durch Letzteren das Zusammentreffen mit Grit und ihren Freundinnen Lilo und Regina in einem Café (vgl. im zweiten Buch, Kap. 8, S. 46-51). Freilich ist es auch der Gigolo in Tom, der ihn die »drei Mädchen« anfangs positiv taxieren lässt, und am Ende dieses ersten Zusammentreffens hat Tom vor allem ein Ziel erreicht, nämlich mit einer von ihnen, Lilo, allein nach Hause zu gehen und Sex zu haben (vgl. S. 51). Als Frau noch mehr zugesagt hatte ihm zuvor bereits Grit (vgl. S. 47f.), die jedoch erweist sich von den dreien zugleich als innigste FDJlerin, zum einen im Gespräch über ihre kollektivistischen Aktivitäten und für Tom noch neuralgischer durch den spontanen Versuch, ihn für die Organisation zu werben (vgl. S. 48f.). Seine ostentative Ablehnung, erst aus Altersgründen, dann aber auch aus innerer Distanz, lässt die überzeugte Sozialistin sofort in eine Gegenabwehr verfallen, der eine stille Sympathie jedoch bereits eingeschrieben zu sein scheint, denn »[v]on da an beobachtete mich Grit in einer Art von verzweifelter Feindseligkeit« (S. 50) – der dioskurische Gegensatz und Annäherungsprozess hat sogleich begonnen.27

27 Die filmische Adaption des Romans lässt Toms erste, hier: sogleich verlautbarte Reflexion seiner fatalen NS-Prägung (als kurze, schlaglichtartige Erzählung von seiner freiwilligen Meldung zur Hitler-Armee) an die Auseinandersetzung mit Grit anschließen, die über diese Selbstpositionierung Toms zunächst verstummt, vgl. BESCHREIBUNG EINES SOMMERS

1963, Min. 9f.

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Toms affektive Abwehrhaltung gegenüber dem sozialistischen Kollektivismus und seinen Mythemen bringt ihn im Weiteren vor allem mit einem älteren Fachkollegen (Kamernus) in Konflikt, der ihn zunächst vergeblich zu mehr Nachsicht gegenüber den baustellenunerfahrenen FDJlern zu bewegen bemüht ist. Tom wirft jenen nur an den Kopf: »›Sie [die FDJler] sind freiwillig hergekommen, und sie sind junge Kämpfer für den Sozialismus, und sie sind mit glühendem Herzen hergekommen ... Ich will dir mal was sagen, mein Lieber, wenn mir die glühenden Herzen helfen, die Tankfundamente in bester Güte und zackzack herzustellen, dann solln die Herzen ruhig glühn, wenn sie aber nichts verstehen ...‹« (Kap. 9, S. 54)

– »dann müssen wir es ihnen beibringen« (ebd.), entgegnet daraufhin Kamernus und stößt wohl gerade mit dieser Vehemenz bei Tom die Bereitschaft an, sich im Sinne der sozialistischen Gemeinschaftserziehung entsprechend einzubringen, zumal andere Arbeitskräfte nicht zu erhalten sind (vgl. etwa S. 56). Bevor Tom einen auf der Baustelle sogar pionierhaften Betonbaukurs beginnt und die FDJler ihm mit ihrem Lerneifer ein ganzes Stück sympathischer werden (vgl. Kap. 12, S. 66-74), trifft er jedoch ein zweites Mal mit Grit, nun in Arbeitskluft »und drunter das FDJ-Blüschen« (Kap. 9, S. 60), zusammen, und beide schäkern sich aufgrund einer nicht näher erklärten Attraktion rau und spielerisch-ironisch, aber auf diese Weise umso schneller auch erotisch in den Beginn ihrer Affäre (vgl. S. 60-64). Das dabei begegnende moralische Problem, Grit trägt einen Ehering, versucht Tom ebenfalls spielerisch zu lösen, indem er sich für weisungsberechtigt erklärt, Grit aus Gründen der Arbeitssicherheit das Tragen desselben zu untersagen. Indem Grit ihm Folge leistet, willigt sie anscheinend bereits ein erstes Stück in den Ehebruch mit Tom ein (vgl. Kap. 9-11, S. 64-66); Tom erklärt das Verhältnis der beiden zueinander zunächst entsprechend seines Individualismus als »ein gegenseitiges freiwilliges Einverständnis« auf dieser Basis: »Es war nur reine Sinnlichkeit, ernsthafte, beharrliche, starke, standhafte, gegenwartslose, unbeirrbare Sinnlichkeit.« (Kap. 11, S. 65) – Inwiefern ihre Gegensätzlichkeit und auch die kollektivistische Baustellensituation wesentlich für ihre Beziehung sind, reflektieren Grit und Tom dann späterhin freilich auch. Die allgemeine innere Annäherung an die Baustellengemeinschaft schreitet bei Tom zeitgleich voran, was sich etwa durch die vermehrte Verwendung der Redeperspektive »wir« statt »ich« zeigt, etwa wenn er anerkennend feststellt: »Von Anfang an machten die Zeitungen viel Wind um uns. Überall erschienen Artikel und Reportagen, die von den Perspektiven berichteten, die wir dem Arbeiter-und-Bauern-Staat eröffneten, und davon, was für prächtige Burschen wir

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allesamt waren.« (S. 69) Tom bemerkt allerdings auch kritisch, dass die großen Mühen und Schwierigkeiten, die die Arbeit mit sich brachte, nicht erwähnt worden seien. Der Ich-Erzähler legt den Journalisten das nicht als Lügen aus, aber als eine fehlende Nähe zur vollen Realität und als Begrenztheit in den Darstellungsmitteln (vgl. S. 70). Es sind vermutlich Feststellungen wie diese und konkrete Beschreibungen von den Mühen und (nicht zuletzt: mangelbedingten) Schwierigkeiten, die Jakobs’ Roman einem ähnlichen Vorwurf aussetzen wie Pitschmanns Erziehung eines Helden, nämlich dass hier der sozialistische etwas zu sehr zu einem kritischen Realismus erweitert werde. Jenseits der Arbeitszeiten, an den Abenden, hatte Tom sich schon früh auf der Baustelle einsam gefühlt (vgl. etwa Kap. 8, S. 39f.). Mit Beginn des dritten Buchs konfrontiert er sich jedoch zunehmend auch mit den Gemeinschaftsritualen der FDJler, die sich bei nächtlichen Lagerfeuerrunden ihrer Weltperspektive und den dafür veranschlagten Mythemen von Fortschritt und Kollektivglück versichern (vgl. Kap. 13, S. 75-87). Tom belauscht sie eines Abends und bekommt mit, dass sie sich gerade von einer Kameradin aus einem ihm unbekannten sowjetrussischen Roman vorlesen lassen, der von dem Bau eines Stahlwerks handelt.28 Er hält das Werk spontan für »meisterhaft«, weil »alles, was drin stand, stimmte« (S. 76), und er befindet die dort beschriebene Realität zugleich für »schrecklicher als das, was es bei uns in Wartha gab in jenem Sommer, als wir mit nichts begannen mitten im Wald.« (ebd.) Die mythemische Annahme, dass die stets härtere sowjetische Aufbauleistung zum Hoffnung machenden Vorbild gereichen muss, geht hier implizit auf Tom über, zugleich beeindruckt ihn die innere Ausrichtung der FDJler auf die Lektüre, und er fragt sich, ob er sich nicht eigentlich auch einen Ruck zu mehr Gemeinschaftsempathie geben will (vgl. S. 77f). Zunächst jedoch bleibt er in der Beobachterposition und hört sich die ›bunte‹ Diskussion der Gruppe an, die sich nach Abschluss des Vorlesens entspinnt: So wird überschlagen, wann die DDR im historischen Vergleich in der Entwicklung zum vollendeten Sozialismus bzw. sogar Kommunismus gelangt sein müsste (vgl. S. 79f.) oder wann der Fortschritt die Menschheit bis zu Mars oder Venus gebracht haben könnte. Ein Älterer, der Brigadier Morlock, führt die Debatte jedoch auch wieder auf unmittelbar motivationelle Ebenen zurück, indem die Gruppe an das sozialistische Heldennarrativ und den Bezug zu den FDJlern erinnert: »Ich glaube, alles Neue kann nur wachsen, wenn es genug tapfere Menschen gibt. Wer aber kann tapfer sein, wenn nicht wir es sind, die Jugend?« (S. 81) In der Folge werden noch mögliche Maßnahmen zur zivilisationsdienlichen Nutzbarmachung verschiedenster Erdteile ventiliert sowie deren energetische

28 Es handelt sich dabei um Ilja Ehrenburgs Der zweite Tag von 1933.

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Grundlagen nicht zuletzt in Form der Kernfusion (vgl. S. 82f.). Wieder unmittelbarer als Beitrag zur Stabilisation des gemeinschaftlichen Fortschritts wird schließlich die Chemie, etwa für den Hausbau (vgl. S. 86), angesehen, so dass der Kreis zum eigenen Beitrag vor Ort sich schließt (vgl. bereits S. 83). Toms Bewertung der Gesamtdiskussion fällt auf den ersten Blick noch recht distanziert aus, indem er »viel angelesenes Populärwissen« und »viel Phantasie« (S. 86) bemerkt sowie im Ganzen »so was, was man mit sozialistischer Romantik bezeichnen könnte« (S. 87), oder als »Träumen nach vorn« (ebd.) – er stellt jedoch fest, dass er sich im Gegensatz zu früher über Letzteres beides nicht mehr wirklich amüsieren kann (ebd.). Ernster wird es für Tom zudem, als die Lagerfeuerrunde sich auflöst und er mit Grit zusammentrifft, mit der er sich nun das erste Mal küsst und die ihm bereits sehr innig versichert, dass sie nicht mehr ihren ›gut sozialistischen‹ Mann liebt, sondern ihn (vgl. Kap. 14, S. 90-92). Am nächsten Abend will Grit aus ehemoralischen Gründen und weil sie ansonsten ein »bitteres Ende« (Kap. 15, S. 99) ahnt, zunächst einen Rückzieher machen, dann sichert jedoch auch Tom ihr seine Liebe zu und sie geloben sich, eine neue wahrhaftige Gemeinschaft zu bilden (vgl. ebd.). Tom gesteht ihr in der Folge sogleich das (NS-)Geheimnis seiner Gemeinschaftsskepsis (vgl. S. 103), Grit, die »›vom Sieg des Sozialismus überzeugt‹« (S. 104) ist, will jedoch von Tom darüber hinaus eine positive Überzeugung hören (vgl. ebd.), wozu dem nur seine Liebe zu Grit einfällt. Daraufhin diagnostiziert Grit, dass Tom »›nur aus dem Gleis [sei]‹«, jedoch »›bald ins richtige Gleis [komme].‹« (S. 105) – Dazu will sie vermutlich selbst nachhaltig beitragen, denn Tom wiederum sporne sie, im Gegensatz zu ihrem übervorbildlichen und paternalistischen Ehemann, zur Bildung einer eigenen (sc. verfestigter sozialistischen) Meinung an, mit der sie Tom in der Folge auch überzeugen will (vgl. S. 106f.). Zudem habe sie »›[h]ier in Wartha [...] die Partei entdeckt‹«, »›meine Aufgabe‹« (S. 108), das heißt: einen eigenen heroischen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus (vgl. S. 109). Dass Tom und Grit mit ihrer Liebesverbindung in Konflikt mit der sozialistischen Gemeinschaftsmoral geraten, zeichnet sich dann bereits gegen Ende des Folgekapitels (Kap. 13 = Abschluss des dritten Buchs) ab: Grit und Tom zeigen sich im kleinen Kreis als Paar, und am Ende eines Badevergnügens bestellt sie der FDJ-Sekretär Doberge geheimnisvoll zu einer FDJ-Leitungssitzung innerhalb weniger Tage ein (vgl. S. 118). Eine Art Gnadenfrist für die Liebenden ergibt sich allerdings dadurch, dass in den folgenden Tagen wiederholt Waldbrände auf dem Baustellengelände ausbrechen, die diese Sitzung unmöglich machen (vgl. das ganze vierte Buch, Kap. 18-22). Die Brände, hinter denen am Ende zumindest teilweise antisozialistische Brandstifter steckten (vgl. entsprechend

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mythemisch zuerst Kap. 18, S. 127 sowie dann Kap. 19, S. 133f.), schweißen in der Zwischenzeit Tom noch ein Stück mehr mit der FDJ-Baustellengemeinschaft zusammen, er spricht mehr denn zuvor von »uns« als Kollektivsubjekt, zu dem er sich zählt (vgl. S. 134), auch wenn er sich grundsätzlich immer noch eher in einer Beobachterposition sieht, wenn auch mit immer stärker sympathetischer Neugier (vgl. Kap. 20, S. 142). Ebenfalls in die Zeit vor der für Grit entscheidenden Leitungssitzung fällt ein Malheur, das Tom zu verantworten hat und das für ihn auf doppelte Weise einen starken Einbruch im eigentlich mittlerweile gewachsenen Vertrauensverhältnis zu seinen Brigadisten bedeutet: Eine von ihm gesetzte kleine Behelfsbrücke stürzt mit einem Lkw ein, entweder weil er nicht sicher genug geplant hat oder weil seine Leute nicht gut genug auf deren Belastung geachtet haben. Toms Glück besteht nur darin, dass der Gesamtbauleiter Senkpur pragmatisch genug ist, um des Baufortschritts Willen nicht viel Aufsehens zu machen, und FDJ und Partei sind fair genug, die Sache nach Toms Selbstentschuldigung zu seinen Gunsten beizulegen – eine große Erwartungsenttäuschung für diesen und indirekt eine weitere Erschütterung seines alten Weltbilds (vgl. insgesamt Kap. 21, S. 143-150). Als er Grit im Anschluss auch noch offenbart, dass er bei einer negativeren Entscheidung mit ihr hätte weggehen wollen, versichert ihm Grit wiederum, dass sie ihre »›Pflicht gegenüber Partei und dem Verband nicht verraten‹« (S. 152) hätte, sprich: aus Gemeinschaftsgefühl geblieben wäre. Vielmehr hat sie nun umso mehr den Anspruch, endlich mit ihrem Ehemann zu reden und ihre Beziehung mit Tom zu exkulpieren (vgl. ebd.). Der hitzige Hochsommer vergeht für die beiden zugleich in innigster Zweisamkeit, aber auch mit der bangen Erwartung, wie die FDJ-Gemeinschaft über sie entscheiden wird (vgl. Kap. 22, S. 153-163). Den Spätsommer behandeln die Bücher Fünf und Sechs (Kap. 23f., S. 165184, bzw. Kap. 25-28, S. 185-229): Tom ist zunächst weiterhin voll im Einsatz für den Bau, mit dem er sich mittlerweile wie die FDJler an den abendlichen Lagerfeuern identifiziert, denn er übernimmt mit Überzeugung bewusst für sich eine Formulierung aus dem vorgelesenen Sowjetroman: »Wir bauen einen Giganten.« (Kap. 23, S. 172) Unmittelbar nach diesem Bekenntnis überbringt ihm sein alter Kollege Schibulla jedoch die Nachricht, dass Grit bereits eine »›Parteirüge‹« (S. 174) erhalten habe sowie die Anweisung, sich mit ihrem Gatten auszusöhnen bzw. zumindest Tom fortan zu meiden (vgl. S. 175-177). Toms spontan doch noch individualistische Reaktion, dass die Beziehung die Partei nichts angehe, kontert Schibulla mit dem ›kollektivistischen‹ Hinweis auf die Genossenschaft von Grit und ihrem Ehemann (S. 175), aber immerhin stellt Schibulla im weiteren Gespräch fest, dass die moralische Reaktion der Partei schuldhaft verspätet gekommen sei (vgl. S. 176). Wieder etwas weniger ehrlich wirkt aller-

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dings Schibullas Reaktion auf eine andere Frage, denn Tom möchte wissen, ob seine Kaderleiterin ihm kürzlich eine zweiwöchige Studienreise durch Ungarn auferlegt habe (vgl. S. 166), um ihn von Grit zu trennen. Diese Vermutung erscheint allzu plausibel, Schibulla nutzt sie jedoch für eine Zurechtweisung Toms als außerordentlich egozentrischem Menschen: »›[G]ehst du nicht etwas zu weit in der Selbstüberschätzung, anzunehmen, der Arbeiter-und-Bauern-Staat stelle aus seinem Haushaltsplan, na, sagen wir grob, fünftausend Mark zur Verfügung, um dich von deiner Geliebten zu trennen?‹« (S. 177) Bevor Tom nach Budapest aufbricht, hält er sich noch ein Wochenende in seiner Berliner Wohnung auf, wohin Grit heimlich hinterhergereist ist, wohingegen sie eigentlich zu ihrem Ehemann (nach Oelsnitz) hätte fahren sollen (vgl. Kap. 24, S. 180f.). Die Liebenden haben sich jedoch diese absehbar letzte gemeinsame Ruhephase genommen, auch um zu überlegen, wie es für sie weitergehen kann, und schließlich steigt Tom in den vorgesehenen Zug nach Budapest, und Grit fährt tatsächlich zu einem Trennungsgespräch nach Oelsnitz (vgl. S. 181 bzw. 184). In der Folge berichtet Tom lediglich ganz summarisch von seiner Reise (vgl. Kap. 25, S. 185, in der Nüchternheit auch stark im Fernkontrast zu Toms Sommerurlaubsresümee zum Romanauftakt), breiten Raum erhält hingegen der Blick auf Wartha in seiner Abwesenheit, repräsentiert durch drei Briefe von Grit, die er nach seiner Rückkehr nach Berlin in der Post findet. In deren erstem schildert Grit insbesondere, wie sie Partei und herbeigeholtem Ehemann in der lange anberaumten Versammlung Rede und Antwort stehen musste. Ihr Gatte zeigte sich im Ganzen sehr betrübt, aber auch besonnen und ›human‹, die anderen Genossen diskutierten Grits Vergehen teils recht harsch (etwa die wohl auch eifersüchtige Regine, die sogar einen Parteiausschluss fordert, vgl. S. 190), teils freundschaftlich-verteidigend (vor allem in Person von Lilo, vgl. ebd.), im Endeffekt ist es Senkpur, der ihr Verhalten zwar auch rügte (vgl. S. 186), jedoch statt eines Ausschlusses lediglich eine einjährige Zurücksetzung in den Kandidatenstatus beschließen lässt (vgl. S. 191). Als er Grit jedoch zudem nach Oelsnitz zurückschicken wollte, erwirkte diese, dass sie in Wartha bleiben durfte, wenn sie sich von Tom fernhalten würde (vgl. S. 192). Diese Beschlüsse bittet Grit, im zweiten Brief, auch Tom zu verstehen und anzunehmen, und zwar implizit, weil sie seine Öffnung für die kollektivistische Weltsicht bzw. die Partei, ohne die sie sich ihr Leben nicht vorstellen kann, aufrecht erhalten möchte (vgl. S. 192f.). Dass sie selbst so um ihre Liebe und Tom kämpft, zeigt auf der anderen Seite, dass er auf sie gewissermaßen sein Beharren auf ein individuelles Glück übertragen hat – eine entsprechende Sehnsucht äußert sie abschließend, im dritten Brief (vgl. S. 196).

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Die Folgekapitel (vgl. Kap. 25f., S. 197-206) beschreiben Toms innere und äußere Reaktionen, die darin münden, dass auch er sich einer Aussprache mit der bzw. vornehmlich: Zurechtweisung durch die Partei stellt und schließlich zusammenbricht (vgl. Kap. 26-28, S. 206-229). Noch in Berlin stellt Tom fest, dass der Aufenthalt in Wartha ihn sozusagen nachträglich mit dem sozialistischen Kollektivismus bzw. konkret der FDJ verbunden hat, nachdem er es als junger Mann (von 17 Jahren, also 1946) lediglich bis zum antifaschistischen Anarchisten gebracht hatte (vgl. Kap. 25, S. 199) und eine erste Annäherung an die FDJ wegen partieller Meinungsverschiedenheiten (Tom schätzte etwa auch nichtsozialistische Literatur) versandet war. Tom bringt es auf die Formel: »[I]ch und tausend andere Indifferente [vergaßen], in die FDJ einzutreten«, obwohl »die Faschisten« (S. 201) der gemeinsame Gegner waren. Zurück in Wartha sucht Tom selbst die SED-Parteileitung auf, findet alle relevanten Vertreter vor, und nachdem auch Grit hinzugeholt worden ist, gehen Senkpur und weitere Genossen (Marke, Pillau) auch mit ihm bei aller baufachlicher Würdigung streng kollektivmoralisch ins Gericht (vgl. S. 206-211). Als Letzter spricht allerdings Schibulla, der aus seiner längerfristigen Erfahrung Tom umfassender einzuschätzen weiß und auch Toms Selbstbewertung noch einmal vorantreibt. Zum einen nämlich war Tom vor geraumer Zeit sogar ein solcher Egozentriker in Liebesdingen, dass er Schibulla wie zum Spaß die Freundin ausspannte (vgl. S. 212f.); Tom rügt sich dafür aktuell viel schärfer als Schibulla es tut, er sieht jedoch nun auch, dass er mit Grit eine andere Art Beziehung gesucht hat, die sozusagen auf einer sozialistischen Grundlage steht; mit der folgenden Formel bringt Tom zugleich die Amalgamierung des Dioskurenpaares auf den Punkt: »Die Erlebnisse der letzten Monate hatten mich dazu gebracht, das Erlebnis: Wartha [...]; ich wußte mit einmmal [!], daß wir – Grit und ich – nie dazu gekommen wären, uns als unentbehrlich füreinander zu halten, wenn wir uns woanders begegnet wären.« (S. 214)

Schibulla hat zum anderen jedoch auch noch mit einem positiveren Argument zur Einschätzung von Tom aufzuwarten, denn er war mit ihm auch zusammen auf einem Ostberliner Bau tätig, als der 17. Juni 1953 kam. Seinerzeit stellte sich Tom zu Schibullas Überraschung wie selbstverständlich auf die Seite der staatssozialistischen ›Verteidiger‹ gegen die westlichen ›Provokateure‹ – die Bewertung der Unruhen erfolgt mythemisch ganz orthodox – und geriet sogar mit ihm in Prügeleien und demütigenden Gewahrsam der Westberliner Polizei (vgl. S. 215-217). Dass Tom auch in der Folge nicht zum Sozialisten geworden ist, verrechnet Schibulla wohlwollend wie folgt: »Der Faschismus hat ihn zum Zyniker

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gemacht.« (S. 218) Umso mehr habe die Partei aber heute »um ihn [zu] ringen.« (Ebd.) Bestürzt und verwirrt torkelt Tom in seine Warthaer Wohnung, von wo aus er zunächst nach Berlin zurückflüchten will, dann jedoch mit Hilfe der zufällig getroffenen Lilo Grit zu sich bittet (vgl. Kap. 28, S. 218f.). In diesem Moment kommt bereits ein Fieber in ihm hoch (im Nachfolgenden als Vorbote einer Hepatitis identifiziert, vgl. Kap. 29, S. 231, jedoch wohl auch psychosomatisch zu deuten), und Tom legt sich auch ins Bett, allerdings mit zwei Flaschen Kognak, die er bis zu Grits Eintreffen weitgehend geleert hat (vgl. wieder Kap. 28, S. 225). Während Grit ihm sodann vor allem die temporäre Trennung schmackhaft zu machen versucht, befindet sich Tom in einem solchen Verzweiflungszustand, dass er nach heftigen Liebesschwüren und sogar einem halben Vergewaltigungsversuch vollends zusammenbricht (vgl. S. 226-229). »Wir fliehn in die Freiheit« (S. 228) ist sein letzter individualistischer Reflex, auf den Grit jedoch nicht mehr reagieren muss, weil Tom einschläft und dann ins Krankenhaus verfrachtet werden kann (vgl. S. 230). Dort wird er in den fünf Wochen seines Aufenthalts von mehreren Kollegen (Schibulla, Kamernus, Morlock u.a.) besucht, während sich Grit, entsprechend der Trennungsvereinbarung, nur postalisch meldet und Tom ihrer Liebe versichert (vgl. Kap. 29 S. 231). Toms Kaderleiterin Trude Neutz überbringt schließlich die Nachricht, dass er nach vollständiger Genesung, Anfang Dezember auf eine andere Baustelle wechseln soll (vgl. S. 232). In der Erzählgegenwart, Anfang November, hat Tom gerade noch »drei Wochen Schonzeit« in Berlin, um seine Gedanken zu ordnen. Statt ein Ergebnis aus dieser Phase mitzuteilen, verkündet der Ich-Erzähler jedoch, dass er mit einer (oberhalb bereits skizzierten) ›schönsten‹ Sommerphase endigen wolle (vgl. ebd.). Die entsprechende kleine Rückblende erneuert zugleich die Hoffnungsperspektive der Liebenden, aber zumindest anteilig auch die Trennungsangst – der Roman schließt also vorsichtig optimistisch im Sinne des Liebespaars, das jedoch anscheinend noch gut wird durchhalten müssen, um sich als individuelle Gemeinschaft im sozialistischen Kontext zu behaupten: Die Dioskuren mögen sich amalgamieren, ein weiterer Gegensatz ist mytho-logisch zumindest bis auf Weiteres nicht ausgeräumt.29

29 Für Wrage geht es im Roman im Ganzen um den »Status von Vergesellschaftung, die Frage nach der Zustimmung zu einem von einer totalitären Diktatur geprägten Land« (Wrage 2008, S. 61). Ersteres spiegelt die hier vorgenommene Analyse, Letzteres liegt allerdings wohl kaum im Horizont der Fiktion selbst, die mytho-logisch und rhetorisch einen Widerspruch von Individual- und Gemeinschaftsansprüchen verhandelt und gerade nicht eine abstrakte Freiheitsfrage.

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D IE T RIADE ALS M ÉNAGE VOM G LÜCK « (1965)

À TROIS :

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»E PISODEN

Auf den ersten Blick erscheint das Modell der Triade recht speziell, immerhin soll es um eine Figurenkonstellation gehen, die »in einem Dioskurenpaar besteht, das gleichzeitig mit einem Erlöser gegeben ist«.30 Erstaunlicherweise lassen sich im hier interessierenden Prosa- und Filmkorpus annähernd vergleichbare Konstellationen sogar leichter finden als ein Dioskurenpaar ohne messianischen Dritten wie im vorangegangenen Beispiel. Insbesondere in den frühen 1960er Jahren begegnen Beispiele, die (sc. aus anderen Gründen) so bekannt sind, dass sie im Nachfolgenden gar nicht eingehend behandelt werden sollen, also etwa Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag von 196131, in welchem Jugendund Betriebsroman sich der ›gut sozialistische‹ Nikolaus Sparschuh und der eher individualistische Curt Schelle gegenüberstehen, beide verbunden durch (die Liebe zu) Recha Heine, die zwischen Kollektivismus und Individualismus eine wechselnde bzw. Mittelposition einnimmt. In Reimanns Erzählung »Die Geschwister«32 von 1963 steht sodann die messianische junge Malerin Elisabeth Arendt den Dioskuren Uli Arendt, ihrem individualistischen Bruder, und Joachim Steinbrink, ihrem ›gut sozialistischen‹ Geliebten, gegenüber. Zumindest in Ansätzen weist auch Christa Wolfs Erzählung »Der geteilte Himmel«33 eine triadische Konstellation auf, wenn man die Protagonistin Rita Seidel als ›Erlöserin‹ zwischen ihrem individualistischen Geliebten Manfred Herrfurth und dem kollektivistisch orientierten Ernst Wendland positioniert sieht.34 Wieder ein Jahr später erschien Erik Neutschs Roman Spur der Steine35, heutzutage wohl bekannter noch in der filmischen Adaption durch Frank Beyer, die 1966 in die Reihe der Verbotsfilme geriet36; in dieser Fiktion stehen sich als Dioskuren der virile Hans Balla (zumal in der Verkörperung durch Manfred Krug Jakobs’ Held Tom sehr vergleichbar) und der junge Parteisekretär Werner Horrath gegenüber,

30 Vgl. Lévi-Strauss 1967, S. 250; Hervorhebung im Orig. 31 Vgl. Reimann 1961. 32 Vgl. Reimann 1963. 33 Vgl. Wolf 1963. 34 Die Figur Wendland ist allerdings deutlich weniger zentral als die anderen beiden und daher als Dioskurenpart nicht sehr ausgeprägt; die Figuren Rolf Meternagel oder Ernst Schwarzenbach nehmen hier indirekt ähnliche Positionen, kommen freilich mit Manfred noch weniger in Berührung. 35 Vgl. Neutsch 1964. 36 Vgl. Spur der Steine 2002.

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beide verliebt in die junge Ingenieurin Katrin Klee, die auch mytho-logisch eine Mittelposition einnimmt.37 Bezeichnend für die Mehrzahl der genannten Beispiele ist, dass die Triade zugleich tendenziell mit dem Liebesmodell der Ménage à trois koinzidiert oder womöglich sogar gekoppelt ist, weil die mytho-logische Frage von Einzelnem und Gemeinschaft so noch einmal ins Kleine gespiegelt bzw. potenziert wird, wiederum wie bereits bei dem voranstehenden DioskurenExemplum Beschreibung eines Sommers. Eine solche Überblendung von Triade und Ménage à trois findet sich besonders markant in einem heute deutlich weniger bekannten Spielfilm umgesetzt: EPISODEN VOM GLÜCK, eine DEFA-Produktion für den Deutschen Fernsehfunk von 1965 unter der Regie von Helmut Krätzig und nach einem Originaldrehbuch von Walter Baumert.38 Auch wenn der Film nicht für das primäre Massenmedium Kino produziert worden war, konnte er seinerzeit bereits gut in die Breite wirken, denn in der DDR war die Anzahl der Fernsehhaushalte fast schon auf dem Niveau der Bundesrepublik, sprich: Bald jede zweite Familie besaß ein Empfangsgerät, und Fernsehen als Gemeinschaftsritual hatte sich ebenfalls bereits etabliert.39 Auch unter diesem Aspekt erscheint dieser Film somit für eine ausführlichere Sichtung geeignet. Eine letzte Besonderheit der Veröffentlichung bzw. Erstausstrahlung ist außerdem erwähnenswert. Der recht lange Film wurde nämlich in zwei Teilen gesendet, und zwar just in der Woche des so genannten ›Kahlschlagplenums‹.40 Zumal beim Blick auf das Ende des zweiten Teils wird noch zu diskutieren sein, ob hier bereits in einer Art ›vorauseilendem Gehorsam‹ dezidiert die neue ideologisch orthodoxe Linie beachtet bzw. sogar gegen mögliche Erwartungen aus dem Erzählerverlauf gesetzt worden ist. Zunächst jedoch

37 Die filmische Adaption im Kontext politischer Mythenbildung in der DDR wurde bereits behandelt von Brandt 2006; dabei geht es jedoch eher global um den Mythos der SED als »einer überlegenen, geeinten und unfehlbaren Partei« (ebd., S. 193). 38 Vgl. EPISODEN VOM GLÜCK 2014. Auf den Film wird im Folgenden nach dieser DVD-Ausgabe mit einfachen Zeitangaben in Klammern im Haupttext verwiesen. 39 Vgl. Deutsches Fernsehen OST 2008, S. 50-65 (= Kap. »Sieh mal an! Zur Rezeptionsgeschichte des DDR-Fernsehens«), bes. S. 51, mit einer vergleichenden Statistik der Fernsehteilnehmer in Ost und West zwischen 1954 und 1986. 40 Der erste Teil wurde am 13.12.1965 im ersten Kanal des DDR-Fernsehens gesendet, also am Vorabend des Plenums, der zweite am 15.12.1965, also an dem Abend, an dem auf dem Plenum in diffamierender Absicht der Verbotsfilm DENK BLOß NICHT, ICH HEULE

vorgeführt wurde; zu den Fernsehsendedaten vgl. Flieher [2016], hier: Ein-

trag zum Film; zur Vorführung des DEFA-Verbotsfilms vgl. Kahlschlag 2000, S. 195.

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grob zusammengefasst, zerfällt der Film also schon rein äußerlich in die zwei Teile von jeweils etwa 100 (!) Minuten, und diese Teile bestehen aus narrativen Großsequenzen, die man mehr oder weniger mit den titelmäßigen ›Episoden‹ identifizieren mag. Was die erzählte Zeit betrifft, die strikt linear verläuft, reicht der erste Teil explizit markiert von den letzten Kriegstagen 1945 mit größeren Sprüngen bis Ende 1950, und der zweite Teil umfasst einen Zeitraum von etwa der zweiten Hälfte 1959 bis ins Jahr 1963. Der erste Teil beginnt prologartig damit, wie die gleichermaßen etwa 25jährigen männlichen Dioskuren als NS-Soldaten gemeinsam desertieren, um in einem Versteck in Kassel das Kriegsende abzuwarten; dabei hat der bereits sozialistisch verankert erscheinende Thüringer Kalle Berg, gespielt von Dieter Wien, sein Leben dem aus der Kriegserfahrung und einer Herkunft als armer hessischer Schlossersohn eher individualistisch orientierten Heiner Vontrak, gespielt von Jürgen Frohriep, zu verdanken (vgl. Min. 1 bis 19). 1947 treffen die beiden wieder zusammen, diesmal jedoch bewahrt der bereits zum ostzonalen Ingenieursstudenten und Parteigenossen gewordene Kalle Heiner davor, bei einer Bahnhofsrazzia in Kalles Studienstadt als Schmuggler aufzufliegen, mit welcher Tätigkeit Heiner Geld für ein Studium, ebenfalls des Ingenieurswesens, im Westen ersparen will. Sodann besorgt Kalle Heiner einen Studienplatz an seiner Hochschule, und Heiner wird sogar ein besonders erfolgreicher und zunehmend ›gut sozialistischer‹ Student, den Kalles Parteigruppe sogar in die Partei aufzunehmen beabsichtigt, wenn Kalle für ihn bürgt (vgl. Min. 20 bis 41). Als Kalle Heiner in den Semesterferien im Sommer 1948 jedoch in seiner Heimatstadt Hohenrode seinen alten Betrieb vorstellt, lernen dieser und Kalles langjährige Geliebte Angela Baufeld, gespielt von Christel Bodenstein, sich rasch besser kennen, als Kalle lieb ist: Angela hat Heiner als technische Zeichnerin in dem Betrieb für ein spontan von diesem übernommenes kleines Konstruktionsprojekt zu unterstützen, und Kalle ist so oft auf Reisen, dass Heiner Angela in sich verliebt machen kann. Diese ist sogar so in Liebe entbrannt, dass sie Kalle die Beziehung aufkündigt. Als Heiner das erfährt, beendet er jedoch seinerseits die Verbindung mit Angela und bittet Kalle um den Erhalt ihrer beider Freundschaft. Dieser willigt ein, zumal er neue Arbeitsaufgaben für sie beide sieht (vgl. Min. 42 bis 71). Als Heiner mutmaßlich im Sommer 1950 seinen Abschluss bravourös bestanden hat, wird er jedoch sofort zu einer herausragenden Forschungstätigkeit weggelockt, und zwar ohne dass er dies weiß, auf Betreiben einer vergangenen Liebschaft, der ›großbürgerlichen‹ Grit, deren Onkel einflussreicher Professor in Dresden ist. Von Grit charmiert, heiratet Heiner diese gern, um durch ihre Familie endgültig aus dem ärmlichen Herkunftsmilieu aufzusteigen. Kalle hingegen ist gleichzeitig darum bemüht, die verzweifelt weiter mit

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Heiner Kontakt suchende Angela von seinem Freund fernzuhalten – bis diese von der Eheschließung erfährt, zusammenbricht und von Heiner und seiner alten Vermieterin aufgenommen wird, zumal ihre Familie in den Westen gegangen ist. Kurz darauf, Ende 1950, bürgt der schweren Herzens loyale Kalle sogar noch für Heiner als Partei-Kandidaten (vgl. Min 72 bis 100). Der zweite Teil setzt knapp zehn Jahre später mit einer Großsequenz für die Jahre 1959/60 ein, als Angela gerade im Betrieb von Direktor Mühlmann den Abschluss ihrer Konstrukteurinnen-Ausbildung feiert, ihr Ehemann Kalle jedoch von Genossen in der Hauptverwaltung Bergbau gescholten worden ist, weil er zu skeptisch agiere. Als Angela am Abend desselben Tages Mühlmann allein zu einem Ministerempfang begleitet, trifft sie zufällig auf den mittlerweile einflussreichen Maschinenbau-Werkleiter Heiner und klagt über Kalles Frustration und dessen Wunsch, wieder als Ingenieur zu arbeiten. In verdeckter Weise holt sich Heiner Kalle als technischen Direktor in sein eigenes Werk, der freut sich jedoch nur solange darüber, wie er von der manipulativen Anforderung seiner Person nichts weiß – und von der eher kritischen Gesamtlage des Betriebs (vgl. Teil 2, Min. 1 bis 19). In den Folgemonaten bemüht sich Kalle mit für seine Ehe weiterhin nicht förderlicher Akribie und Skepsis, das Werk zu konsolidieren, scheitert jedoch zunächst, und das nicht zuletzt durch eigentlich von Heiner verursachte Grundprobleme. Als Kalle zudem herausbekommt, dass sein Vorgänger von Heiner geschasst worden war, weil er bereits einen für diesen unliebsamen Lösungsplan erdacht hatte, setzt Kalle in zähem Ringen dessen alten Plan doch noch durch. Obwohl Heiner sich dem fügen musste, will er im Sommer 1960 verdeckt auf alte Weise weiterproduzieren, woraus durch den für ihn unerwarteten Erfolg des durchgesetzten anderen Plans ein enormer Betriebsschaden droht. Den bemüht sich Heiner heimlich zu verhindern, dafür muss er jedoch Angela einspannen, die er zuvor noch für Kalle ins Werk geholt hatte und die ihn aus menschlichen Gründen nicht hängen lassen will. Als Kalle alles dies erfährt, schilt er Angela heftig, die sich dadurch innerlich noch mehr von ihm entfernt, und er betreibt Heiners Parteiausschluss, dem dieser durch die Kündigung und eine Flucht in ein ländliches Versteck zuvorkommt, das nur die besorgte Angela kennt (vgl. Min. 20 bis 73). Mit einem Sprung ins Jahr 1963 beginnt die dritte und letzte Großsequenz, die bis fast in die Gegenwart der Filmproduktion führt: Von Angela so gut wie verlassen, leitet Kalle nun ein Landesinstitut für Werkmaschinenbau und steckt seine ganze Energie (erneut: überakribisch) in die schwierige und teure Konstruktion eines sehr innovativen Fertigungsautomaten. Dann jedoch muss Kalle erfahren, dass Werkleiter Mühlmann ohne zentrale Genehmigung mit viel begrenzteren Mitteln eine ähnliche Maschine bauen lässt, und zwar – was für Kalle

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lange verborgen bleibt – durch Heiner, der im Herbst 1960 durch Angelas Vermittlung als Konstrukteur bei Mühlmann untergekommen war und seinen Ehrgeiz daran gesetzt hat, zumal Heiners großes Institut auszustechen. Um die volksökonomisch ungute Parallelforschung zu stoppen, hat Kalle die vermeintlich dilettantische Konkurrenz zu prüfen. Er stellt jedoch fest, dass deren Maschine besser entwickelt ist als die eigene, und bietet zu dessen immenser Überraschung Heiner die Weiterarbeit an seinem Institut an. Kalle gewinnt dadurch, ebenfalls etwas überraschend, die von der Entscheidung beeindruckte Angela als Ehefrau zurück, und Heiner wünscht wieder Kalles Freund zu sein und will sich arbeitsmäßig nun vollständig und überzeugt nach dessen Leitlinien richten (vgl. Min. 74 bis 101). Jenseits der beiden männlichen Dioskuren und der in Ansätzen messianischen Tritagonistin ist das Personaltableau des Films zwar recht breit, praktisch alle Nebenrollen sind jedoch qualitativ so gering bzw. gleichsam handlungsfunktional ausgeprägt, dass es nicht lohnt, diese vor der mytho-logischen Gesamtsichtung des Films noch genauer aufzuschlüsseln. Vielmehr kann nötigenfalls eine Kurzcharakteristik bei der Erstnennung der Person im erzählchronologischen Analysegang erfolgen. Den Prolog der einen (einzigen) Großsequenz des ersten Filmteils (vgl. Min. 1 bis 19) bildet eine eindringliche und die männlichen Protagonisten bereits in einigen Ansätzen als Dioskuren charakterisierende Handlungssequenz: Der Wehrmachtssoldat Heiner fährt einen Offizier, einen weiteren Soldaten und den mit Handschellen gefesselten Kalle durch ein dürres Waldgebiet, das eines der letzten Kampfgebiete im Frühjahr 1945 darstellt, wie bald zu erschließen ist, in Nordhessen gelegen. Als ein Jagdfliegerangriff auf das offene Fahrzeug erfolgt, springen der Offizier und der andere Soldat aus dem Wagen in die Deckung des Wegrands, Heiner jedoch fährt nach kurzem Überlegen mit Kalle weiter. Da kurz hinter ihnen eine Militärkolonne folgt, werden sie verfolgt werden, als Täuschungsmanöver lassen sie daher alsbald den Wagen wie bei einem Unfall in einen Abhang rollen und ausbrennen. Dann stellen sie sich einander vor: Kalle kommt aus Thüringen, Heiner aus dem nahen Kassel, in welche Stadt er ihnen denn auch gleich den Weg weist und wo er ein Versteck finden kann. Eine nächtliche Ankunftsszene im halb zerstörten Kassel zeigt, wie die beiden sich in einer wohl schon länger aufgelassenen Fabrik in einem halb von Bruchmaterial verdeckten Kellerraum verkriechen. Als Kalle nach der Uhrzeit fragt, ist es fünf Uhr in der Frühe, der Zeitpunkt, zu dem er erschossen werden sollte, weil er eine Gruppe Hitlerjungen nicht mehr zu Soldaten ausbilden wollte. Als beide sich fragen, wie lange sie wohl noch bis zum Kriegsende ausharren müssen und was dann werden könnte, sagt Heiner, dass er auswandern wolle, um

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endlich einmal selbstbestimmt zu »leben« (Min. 10). Kurz darauf kommt Heiner noch auf einen Jugendtraum aus seiner Zeit der Schlosser-Ausbildung zu sprechen, nämlich Ingenieur zu werden, um aus seinem ärmlichen Familienmilieu emporzusteigen. Der deutlich nüchterner wirkende Kalle erklärt sich gegen Träume, wollte aber zumal durch die Erfahrung des Russlandfeldzugs auch bereits vor allem »leben« (Min. 16), aber auch befriedigender arbeiten und eine Frau haben. Eine kurze Überblendung zeigt im Folgenden Kalle im Schlaf, wie er im Wechsel von einem jungen Mädchen (späterhin eindeutig bereits Angela) an einem idyllischen See, aber auch von Kriegserlebnissen, zumal dem Erschießungsbefehl, träumt. Als Kalle erwacht, hat Heiner gegen die von Kalle nachdrücklich verlangte Absprache den Keller verlassen. Kalle sucht ihn in der nun durch fortgesetzte Luftangriffe brennenden Fabrik und findet Heiner zitternd und hysterisiert in einer Ecke, mit einem erbeuteten Brot, Kalle kann ihn aber wieder beruhigen. Auf den ersten Blick ist es in dieser Sequenz Heiner, der geradezu heroisch sozial erscheint, denn er rettet dem vor der Hinrichtung stehenden Kalle ja das Leben. Wie er selbst in einer Nebenbemerkung auf der Flucht sagt, hatte er sich freilich auch selbst von der Wehrmacht absetzen wollen, weil er keinen Sinn mehr im Kämpfen sah. Für ihn bezeichnend nutzte Heiner für die auf diese Weise beiden nutzende Flucht eine plötzliche Gelegenheit und kann sich dann mit Glück weiter durchschlagen. Kalle hingegen hatte nach einer gemeinschaftsorientierten Moralentscheidung, also: die HJler nicht mehr für den sicheren Tod vorzubereiten, selbst die gravierendste Folge für die eigene Person in Kauf genommen. Nach Heiners eher spontaner Handlung ist es dann vor allem Kalle, der durch die Maßgabe des geduldigen Ausharrens im Keller verhindert, dass sie noch entdeckt werden. Auch Heiners und Kalles Zukunftswünsche fügen sich in ihre charakterliche Gegenüberstellung als individualistischer bzw. auf ein größeres Ganzes ausgerichteter Dioskurenpart. Dass Kalle bereits sozialistisch denkt, ist durch seine Nachfragen zu Heiners familiärer Herkunft zumindest zu vermuten (vgl. Min. 16). Die zweite Teilsequenz des ersten Filmteils ist 1947 (vgl. die Einblendung in Min. 20) situiert und führt die männlichen Protagonisten nach einem mutmaßlichen raschen Auseinandergehen am Kriegsende zufällig wieder zusammen; die unterschiedliche Sozialcharaktere werden dabei nochmals deutlicher. Eine erste Szene zeigt allerdings auch, wie Kalle tröstend eine vom Warten auf ein gemeinsames Leben enervierte Angela in einen Zug verabschiedet; die immer wieder nötige berufsbedingte Trennung des Paares und Kalles Hinhalten ist hier bereits signifikant (vgl. Min. 20). Dann begibt Kalle sich in einen zeittypisch nicht zuletzt von Schwarzhändlern gefüllten Wartesaal, will selbst freilich nur etwas

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speisen. Als die (ostzonale) Bahnpolizei eine Razzia beginnt, kommt der zurückweichende Heiner mit einer Tasche in Kalles Nähe. Letzterer freut sich zuerst schlicht über das Wiedersehen, als er jedoch merkt, wie nervös Heiner ein Paket aus der Tasche umklammert, nimmt er die Schwarzware in seine eigene Obhut. Kalle nämlich kann – wie sich rasch zeigt – darauf setzen, nicht genauer kontrolliert zu werden, weil er auf eine örtliche Ingenieursschule geht und dies ihn als braven Bürger im Sinne des neuen Regimes ausweist. Außerdem erklärt er Heiner zu seinem persönlichen Besuch, der als vom Westen bereits Frustrierter Arbeit als Schlosser vor Ort suche. Als sie in Kalles Mietzimmer angekommen sind, erläutert Heiner, dass er im Westen ohne Abitur nicht studieren könne, weshalb er sich Geld für eine dortige Privatschule erschmuggle. Gegenüber dem von der Schmuggelei abgestoßenen Kalle beharrt Heiner auf der Alternativlosigkeit seines Tuns, denn im Gegensatz zu dem im Osten für eine entsprechende Ausbildung freigestellten Genossen Kalle müsse er selbst für sein Fortkommen sorgen. Kalle jedoch lässt Heiner über seine freundliche alte Vermieterin sogleich im Zimmer neben sich einquartieren und spricht im lokalen Parteibüro bei einem Genossen vor, der helfen kann, dass Heiner ebenfalls einen finanzierten Studienplatz vor Ort bekommt. Als Kalle mit entsprechenden Papieren heimkommt, ist Heiner noch nicht überzeugt, aber eine Besichtigung von Kalles betrieblichem Arbeitsort neben dem Studium lässt ihn einwilligen – nicht zuletzt, nachdem er dort mit einer jungen Arbeiterin geflirtet hat, die er näher kennen lernen möchte. Die bis dahin noch behaltene Schmuggelware, aus Dresden stammende hochwertige Medizin, die in Kassel gut zu verkaufen gewesen wäre, übergibt er symbolisch an Heiner, der sie vermutlich einem gut sozialen Zweck zuführen wird (vgl. im Ganzen Min. 20 bis 31). Die dritte Teilsequenz beginnt mit einer Belobigung von Heiner als bestem Studenten nach dem ersten Jahr, man schreibt also etwa den Sommer 1948. Kalles Parteigruppe diskutiert bereits die Aufnahme von Heiner in die Partei, Kalle soll üblicherweise für den nahen Bekannten bürgen. Heiner befindet sich indes zu Hause, wo die Vermieterin den Charakter von Kalles Freundin Angela lobt. Dann jedoch stehen Heiners alte Hehler-Kumpanen vor der Tür und erpressen von Heiner einen wenn auch letzten Schmuggel nach Kassel, ansonsten erführen die Ostler von seiner Vergangenheit. Für die erhaltene Ware muss Heiner eine Quittung unterschreiben. Als Kalle Heiner mit dem vertrauensvollen Aufnahmevorschlag für die Partei überrascht, ist Heiner skeptisch, darf aber erleichtert feststellen, dass die Genossen von der ehemaligen Schiebertätigkeit schon informiert sind. Schnell gibt Heiner daher die Schmuggelware den alten Kumpanen in einem anrüchigen Lokal zurück, will aber auch die gegebenenfalls fatale Quittung zurückerhalten. Er wird jedoch bewusstlos geprügelt und erwacht in ei-

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ner Ruine. Eine Polizeistation passiert er anscheinend lieber nur und begibt sich in ein Krankenhaus. Dort wird er von Kalle besucht, der erneut bereits von allem weiß und Heiner auch die Treue der Partei zusichert; der will nun mithelfen, die »Lumpen« aus dem Land zu vertreiben, eine deutlich innigere Vergemeinschaftung seines Charakters scheint nun erst erreicht (vgl. insgesamt Min. 32 bis 41). Zu Beginn der vierten Teilsequenz, in den sommerlichen Semesterferien (des Jahres 1948), fährt Heiner mit Kalle in die (fiktive) Stadt Hohenrode, von wo Letzterer stammt. Herzlich begrüßt werden sie am Bahnhof durch Kalles väterlichen Freund Otto Meinicke, Kalles ehemaligen Vormund (vgl. Teil 2, Min. 64) und dessen kleine Enkelin Inge. Meinicke arbeitet immer noch in Kalles altem Betrieb, in dem Heiner nun am besten auch einmal probehalber arbeiten soll. Bei den Meinickes stößt Angela hinzu und wird freudig von Kalle begrüßt, ein wenig charmanter jedoch auch von Heiner. Bezeichnend erscheint zudem Kalles Mitbringsel für Angela, denn selbst vor allem beruflich-praktisch orientiert schenkt er der angehenden technischen Zeichnerin einen teuren Reißzeugkasten, während sie wohl eher auf Schmuck gehofft hatte. Die nächste Szene zeigt Angela bereits beim Tanz mit Heiner, wohingegen Kalle nicht tanzen kann und auch lieber mit Meinicke Schach spielt. Als Angela kurz darauf von ihrer Mutter aus dem Nachbarhaus überstreng heimbeordert wird, weist Meinicke sogleich Heiner auf die NS-Parteigängerschaft ihres Vaters hin. Angela hat sich also aus einer weltanschaulich konträr situierten Familie für den aufstrebenden Sozialisten Kalle entschieden, möchte mit ihm nun jedoch endlich auch ein eigenes Leben nach den gemeinsamen Idealen führen (vgl. Min. 42 bis 46). In einer Szene am nächsten Tag bittet Angela sogar explizit darum, dass Kalle alsbald als fertiger Ingenieur mit ihr zusammen leben soll, denn ihre Eltern wollen sie bereits an eine ›gute Partie‹ nach Hannover verkuppeln (vgl. Min. 50). An diesem nächsten Tag wohnen jedoch vor allem Heiner und Kalle im Betrieb einem Fräsmaschinentest bei, der aufgrund der zu wechselhaften Materialqualität des in der DDR gefertigten Fräsaufsatzes fehlschlägt. Ärgerlich ist für alle Umstehenden, dass ein westdeutscher Aufsatz standhalten würde. Heiner bringt spontan die Idee für einen den Aufsatz weniger belastende Maschinenmodifikation ein, darf trotz der Experimentier-Unfreudigkeit eines Mitverantwortlichen versuchen, die Idee weiter auszuplanen, und bekommt dafür eine technische Zeichnerin an die Seite gestellt. Kalle hingegen muss mit einem Arbeitsauftrag wieder nach Berlin. Während er deshalb erneut zu wenig Zeit für Angela hat, verbringt diese umso mehr davon mit Heiner, denn just sie wird im Betrieb für Heiner abgestellt und bildet mit ihm sofort ein effektives Team. Als später am Tag Kalle von Heiner am Bahnhof verabschiedet wird, lässt der sich sogar bereits die Erlaubnis geben, sozusagen in aller Freundschaft mit Angela auszu-

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gehen. Heiner lädt Angela daraufhin sogleich zu einem sonntäglichen Freiluftkonzert ein und bittet vieldeutig darum, der »Ersatzmann« sein zu dürfen (vgl. Min. 47 bis 55 und für das Zitat Min. 55). Beim Konzert ist der Charmeur vor allem mit Flirten beschäftigt, was Angela zunächst noch abwehrt. Als sie erst gegen Abend heimgehen, lenkt Heiner das Gespräch auf die Bekanntschaft von Kalle und ihr, vermutlich, um auszuloten, wie fest die Beziehung ist. So bemängelt er etwa, dass Kalle zu sehr für die Partei lebe, wofür Angela eher pflichtbewusst um Verständnis wirbt. Heiner überredet Angela dann noch zu mehr Genuss in Form eines Tanzvergnügens. Als Kalle überraschend schon am nächsten Tag zurückkehrt, wimmelt Angela ihn am Telefon ab, trifft sich jedoch abends wieder mit Heiner. Als sie heimlich vor ihrem Elternhaus landen, küssen sie sich bereits, und Angela begeistert sich für Heiner, weil er ihrer Mutter mutig Paroli bietet. Diese hatte die beiden nämlich vom Fenster aus gesehen und wollte Angela wieder einmal hineinkommandieren, Heiner gibt sich jedoch als Angelas Vorgesetzter zu erkennen, der mit ihr noch eine dienstliche Besprechung zu führen habe. Auch als Arbeitsteam sind die beiden am nächsten Tag bereits gut vorangekommen, die berufliche und private, gemeinschaftsorientierte und individuelle Verbindung scheint zu glücken (vgl. Min. 55 bis 61). Nachdem Angela Kalle mehrere Tage abgewimmelt hat, offenbart sie diesem nach kurzem Zögern die beglückende Verbindung mit Heiner, welche Nachricht Kalle wortlos aufnimmt, um zu seiner Wohnung bei den Meinickes abzugehen. Nicht einmal als ein ahnungslos über den Erfolg beim Umkonstruieren der Fräsmaschine jubelnder Heiner zu ihm kommt, lässt Kalle sich etwas anmerken. Als Heiner jedoch am nächsten Morgen wieder in den Betrieb geht, verkündigt ihm der alte Meinicke, dass Kalle zu einem Betrieb nach Leipzig gewechselt sei und stellt Heiner zur Rede, da Angela Kalle seinetwegen den Laufpass gegeben habe. Kurz darauf irritiert Heiner Angela damit, dass er vor allem ärgerlich über den Weggang des guten Freundes ist, und dann schlägt er ihr sogar kurzerhand vor, zu Kalle zurückzukehren und die Beziehung mit ihm zu vergessen. Nachdem Angela daraufhin Heiner ihrerseits traurig fortgeschickt hat, reist dieser Kalle in die gemeinsame alte Wohnung hinterher und entschuldigt sich bei ihm für die Affäre, die er um der Freundschaft willen beendet habe. Kalle ist erst empört, ist dann jedoch sogar gewillt, mit Heiner wieder vor Ort zu wohnen und zusammen zu arbeiten. Beiläufig berichtet Kalle sogar, dass der Prozess gegen Heiners alte Schmugglerkumpanen unter Aussparung des angehenden neuen Genossen begonnen habe. Die wohlwollende Partei und ihr Vertreter Kalle beschämen so den doch noch recht egozentrischen Heiner und zeigen ihm ihre gemeinschaftliche Fürsorge (vgl. Min. 61 bis 71).

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Die fünfte Teilsequenz springt mutmaßlich in den Sommer 1950 und beginnt mit dem Ende von Heiners überaus erfolgreicher Abschlussprüfung, auf die hin er noch im Prüfungsraum eine gute Stelle in Dresden angeboten bekommt. Den Ursprung dieses Angebots erfährt Heiner, als er das Gebäude verlässt, wo ihn zu seiner Überraschung seine ehemalige, mondäne »Reisebekanntschaft« Grit mit einem schicken BMW-Cabriolet in Empfang nimmt, für welche beide er nebenher spontan eine ihm hinterherlaufende neuere Geliebte stehen lässt. Als Heiner sogleich den Wagen selbst fahren darf, offenbart ihm die attraktive Grit, dass ihr Onkel, einflussreicher Ingenieursprofessor in Dresden, für den Job gesorgt habe, offensichtlich eine Art Morgengabe für die Beziehung, die Grit von Heiner wünscht. Als Heiner erst am Abend enthusiasmiert in die Wohnung mit Kalle zurückkehrt, ist dieser erneut verstimmt, denn durch die lange Spritztour mit Grit hat Heiner eine Parteileitungssitzung verpasst, auf der kurzfristig seine Parteiaufnahme Thema war. Wegen der immer besseren Aussicht darauf fordert Kalle Heiner nun auf, sein Leben zu ordnen – und wird davon überrascht, dass Heiner Grit alsbald heiraten will, obgleich Angela ihm noch verliebte und verzweifelte Briefe schreibt, auf die Heiner jedoch nicht reagiert. Bei Grits erstem Besuch in der Wohnung muss Kalle zudem realisieren, dass sie für Heiner vor allem eine ›gute Partie‹ ist, um endlich beruflich wie gewünscht ins Establishment aufzusteigen. Kalle darf dann sogar während Grits Besuch Angela abwimmeln, die sich bis auf Weiteres in der Stadt, bei ihrer Schwester, einquartiert hat, um auf Heiner zu warten (Min. 71 bis 80). Wenig später, Heiner ist mit Grit nach Dresden gereist, erreicht einen konsternierten Kalle bereits ihre Heiratsanzeige, die er Angela schließlich schweren Herzens zeigt, weil sie glaubt, es sei ein hartherziger bzw. sich rächender Kalle, der den Kontakt mit Heiner verhindere. Warum Angela auf diese Botschaft hin trotzdem nicht heim zu den Eltern fährt, erfährt Kalle zunächst nicht. Ein Arbeitskollege berichtet ihm dann jedoch, Angela verdinge sich notgedrungen und zutiefst unglücklich als Animierdame in einer örtlichen Nachtbar, in der ihre Schwester hinter dem Tresen arbeitet. Bei aller Verärgerung über Angela sucht Heiner die Bar immerhin noch am Abend auf: Mit Parteiabzeichen am Revers fällt er dem zwielichtigen Geschäftsführer sofort negativ auf und wird von dessen Mannen zum Verlassen der Bar gedrängelt, Heiner will jedoch anscheinend zuvor noch Angela aus dem Etablissement ›befreien‹ und wird schließlich in eine Prügelei gezogen. Als Angelas besorgte Schwester eigenmächtig die Polizei herbeitelefonieren will, stürmt auch schon eine Gruppe von Kalles Parteiund Arbeitskollegen die Bar und boxt ihn buchstäblich frei – die ›Guten‹ helfen einander sogar ungefragt und mit dem rechten Gespür für die Not eines der ihren! (Vgl. Min. 82 bis 93) Weil Angela jedoch in der Bar zurückgeblieben war

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und am folgenden Tag auch nicht bei ihrer Schwester zu finden ist, reist Kalle sogar zu ihrem Elternhaus in Hohenrode, wo er einen weiteren, tieferen Grund für Angelas Weggang von dort erfährt. Das Haus steht nämlich leer, weil die Eltern in den Westen gegangen sind. Ein aufgebrachter Otto Meinicke schilt sodann Kalle für die mangelnde Fürsorge für Angela, und als der wieder in seiner Wohnung in der anderen Stadt ankommt, empfängt ihn seine mütterliche Vermieterin mit der Nachricht, dass Kollegen von Kalle sie völlig erschöpft gefunden hätten und sie selbst Angela zur Pflege in das Zimmer von Heiner einquartiert habe; Letzterer solle sich vor Ort nicht mehr blicken lassen. Als Kalle Angela am Krankenbett aufsucht, sprechen sie sich ein wenig aus, von der Liebe zu Heiner ist sie jedoch noch nicht ›geheilt‹ (vgl. Min. 91 bis 97). Ein pflichtbewusster Kalle kümmert sich einige Wochen später, ein Kalender zeigt den 15. Dezember 1950 (Min. 98), freilich auch noch um Heiner, indem er ihm, wenn auch schweren Herzens, die Bürgschaft für die anstehende Aufnahme in die Partei schreibt. Während Heiner im Anschluss an die Parteileitungssitzung zum Thema zu einer Feier einlädt, geht Kalle freilich nach Hause zu Angela und verspricht in der letzten kleine Szene des ersten Filmteils der Genesenden zu ihrer Freude, dass er sie nicht mehr allein lassen wolle (vgl. Min 98 bis 101). Der zunächst vor allem auf den Feldern von Partei und Arbeit gemeinschaftsorientierte Kalle scheint an diesem Schlusspunkt auf der Mitte auch sensibilisiert für Persönlicheres, wohin ihn der mit zu verantwortende ›Irrweg‹ seiner geliebten Angela gebracht hat. Das individualistische Pendant Heiner hat hingegen zwar mehrere Erfahrungen gemacht, die ihm das Leben im sozialistischen Kollektiv näher gebracht haben, noch wird er jedoch stark von seinem persönlichen Karrierestreben geprägt, zu dem nur die Verbindung mit Kalle ein Gegengewicht bildet, Letzteres allerdings mit dem Beigeschmack der Nützlichkeit des Freundes für das eigene Fortkommen im System. Der zweite Teil des Films beginnt mit einem Sprung ans Ende des Jahrzehnts (vgl. die Vorspann-Einblendung »1959«), und fokussiert zu Anfang (= zweite Großsequenz des Films insgesamt, darin die erste Teilsequenz) zunächst einmal die bisherige reine Tritagonistin Angela, die sich nun stärker zu einer ›sozialistischen Persönlichkeit‹ wandelt und ihre zumindest latent messianische Rolle neben bzw. weiter zwischen den männlichen Dioskuren aktiver ausfüllt. Angela wird nämlich im Kollegenkreis in einer Firma in Berlin gefeiert, denn sie hat sich zur eigenständigen Konstrukteurin qualifiziert, und der freundliche ältere Direktor Mühlmann lädt seine aufstrebende Kraft für den Abend sogar zu einem Minister-Empfang ein. Als sie davor noch in der jetzt anscheinend gemeinsamen größeren Wohnung mit ihrem Ehemann Kalle Station macht, findet sie diesen jedoch anscheinend wie schon oft sehr schlecht gelaunt und auf sich konzentriert

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vor. Kalle arbeitet mittlerweile in der Hauptverwaltung Bergbau der DDR, scheint sich dort mit Übergenauigkeit und Skeptizismus (auch) bei den Genossen dort unbeliebt gemacht zu haben und wurde nun sogar für mangelndes Vertrauen in die Partei zurechtgewiesen. Kalles Bemühungen um den Fortschritt des Sozialismus orientieren sich also gewissermaßen nur an der Sache in abstracto, nicht auch an den ihn umgebenden Menschen und das mit einem Perfektionismus, der vergebliche Heroik bis Kontraproduktivität erzeugt. Er hält sich jedoch selbst bereits für zu kritisch und will nach mehreren Organisationsposten wieder praktischer in einem Betrieb arbeiten. Angela ist darüber vor allem traurig, weil Kalle sie so erneut allein zu Hause zurücklassen würde. Entsprechend dieser Stimmung geht Kalle nicht mit auf den Empfang, von dem ihm Angela gerade noch vorgeschwärmt hat (vgl. Min. 1 bis 4). Angela und ihr Direktor sind anscheinend kaum dort angekommen, da stellt ein stolzer Mühlmann ihr einen für seine Leistungen bereits berühmten Werkleiter vor: Heiner Vontrak. Der zieht Angela gleich beiseite, um von ihr und seinem Freund Kalle zu hören (von der Ehe scheint er zu wissen), und Angela schüttet ihm ihr Herz aus und berichtet von Kalles aktuellem Verdruss und Begehren. Heiner verspricht Hilfe und wird zum Gespräch mit dem Minister persönlich gebeten. Am nächsten Tag passt er Angela jedoch bereits beim Verlassen ihrer Arbeitsstelle ab und verkündigt ihr, dass ebenjener Minister Kalle als technischen Direktor in seinen alten Betrieb in Hohenrode schicken werde, wo Heiner selbst der Gesamtdirektor ist. Bereits die nächste Szene zeigt, wie Heiner freudestrahlend Kalle in Hohenrode vom Zug abholt, in ein Restaurant mitnimmt und ihm dort eröffnet, dass das Zufallstreffen mit Angela auf dem Empfang dazu führte, dass Heiner ihn direkt für seinen Betrieb angefordert habe. Am späten Abend finden die beiden sich sogar noch in Heiners großzügigem Haus ein, wo dieser jedoch erst einmal nach seiner Ehefrau Grit suchen muss, die sich im Dialog im Off recht ungehalten über den späten Besuch zeigt. Kalle schaut sich derweil einen Prachtband mit Fotos vom Betrieb an und entdeckt auch die Fräsmaschine, die Heiner seinerzeit umkonstruiert hat. Heiner kommt wieder hinzu und ist immer noch stolz auf die Maschine und den gesamten Betriebsausbau unter seiner Leitung, Kalle bemerkt jedoch, dass er die Maschine für veraltet hält. Heiner schwärmt dann von einer neuen Fertigungshalle, gegenüber der die anderen Betriebsbereiche jedoch mittlerweile sehr schlecht liefen. Kalle wird wegen dieser Lageskizze bereits so skeptisch, dass er nicht bei Heiner wohnen möchte, wie der sich das wünscht. Er schützt allerdings vor, sofort wieder bei den Meinickes einziehen zu können (realiter will er dann mit Hilfe eines Taxichauffeurs in ein Hotel und nächtigt wegen kompletter Ausbuchung der Hotels der Stadt schließlich im Betrieb). Nicht

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mehr erleben muss er dadurch den nächtlichen Ehestreit, bei dem Heiner Grit Mäkelei und ›Bürgerlichkeit‹ vorwirft, die Freund Kalle vertrieben hätten. Bei einem Betriebsgang am nächsten Tag erfährt Kalle dann noch von einem alten Kollegen, dass gerade wegen Heiners Vorzeigebereich (»Halle 6«) alles andere veraltet sei (vgl. Min. 3 bis 18). Die zweite Teilsequenz führt die zweite Großsequenz Monate später, etwa im Frühjahr 1960, fort. Kalles Bemühungen, für Heiner die Bereiche um die Halle 6 herum zu optimieren, haben bisher vor allem zu anderen Problemen geführt, über die etwa der alte Meinicke ungehalten ist, bei dem Kalle in der Tat eingezogen ist: Es gibt teilweise zu schnelle Fertigung, teilweise zu langsame, so dass unökonomisch auf Halde produziert wird. Für Heiner ist das nicht so besorgniserregend, da er gewohnt ist, mithilfe seines Hauptbuchhalters solche Fehler zu kaschieren, bis sich ein Ausgleich gefunden hat. Der perfektionistische Kalle hingegen wird von dem Problem so absorbiert, dass er am Abend immer weiter arbeiten will und Angela allein zu einem Abendessen bei Heiner schickt. Die hört dort Heiners Klage über seine Ehefrau, die er nie geliebt habe, und Heiner wiederum will zur Rettung von Kalles und Angelas Ehe Angela auch in seinen Betrieb holen. Am nächsten Tag wird Kalle vom Leitungskollektiv des Werks wegen des Produktionsstaus kritisiert und erst vom nachträglich hinzukommenden Heiner entschuldigt, der auf Kalles Vorgänger Glockner verweist. Heiners Hauptbuchhalter kann außerdem vermelden, offiziell gebe es gar keine Überplanbestände durch Stau. Nach der Sitzung ermuntert Heiner Kalle zu weiteren Korrekturen, und dann überrascht er ihn mit der bereits ins Werk versetzten Angela (vgl. Min. 19 bis 27). Doch auch in Hohenrode wartet Angela an den folgenden Abenden anscheinend immer wieder vergeblich auf Kalles Arbeitsende – die von Heiner ermöglichte größere individuelle Fürsorge für die Ehefrau ist erneut nicht in seinem Blickfeld bzw. hat keine Priorität gegenüber der ›heroischen‹ Tätigkeit für das Werk. Ergebnis von Kalles Akribie ist dann heiklerweise auch noch, dass er herausfindet, was die Ursache für die schlecht zu koordinierende Fertigung ist: Heiner persönlich hat Konstruktionen, nicht zuletzt für seine eigene Fräsmaschine, beschlossen, die viel aufwändiger zu fertigen sind als die vorherigen Konstruktionen von Kalles Vorgänger Glockner, welch Letztere ansonsten kaum schlechter waren und von Heiner also eventuell nur aus Geltungssucht aus der Produktion genommen worden sind. Als Kalle mit dieser Entdeckung vor Angela triumphiert, warnt sie ihn vor allem davor, seinen Vorgesetzten und Freund Heiner zu düpieren, sollte er diese Erkenntnis unbedacht öffentlich machen. Kalle spricht denn auch zunächst nur mit Heiner allein, der zeigt sich jedoch zum einen in der Tat gekränkt und sieht zum anderen auch einen weiteren Rufschaden für das Lei-

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tungskollektiv und ein allgemeines Unruhepotenzial im Werk, wenn zu den Glockner-Konstruktionen zurückgekehrt würde. In der Folge will Kalle dennoch das Leitungskollektiv von einer Produktionsumstellung überzeugen, wird jedoch von dem geschickt ›Strippen ziehenden‹ Heiner zunächst ›ausgebremst‹, sprich: Das Leitungskollektiv stimmt gegen Kalle. Auf der menschlichen privaten Ebene versucht Heiner dann erneut indirekt bei Kalle wieder gut Wetter zu machen, indem er Angela heimlich eine Neubauwohnung präsentiert, die er für sie und Kalle vor Ort besorgt hat. Kalle lässt jedoch um der Sache willen gleichzeitig noch viel weniger locker und sucht sogar seinen Vorgänger auf, von dem er erfährt, dass auch dieser von Heiner bereits einmal ausgebremst und sogar in die Pensionierung abgeschoben worden war. Kalle nimmt Glockners originalen Konstruktionsplan mit heim – und kann ihn am Abend sogleich Heiner vorlegen, weil eine weiterhin um Vermittlung bemühte Angela ihn mit nach Hause gebracht hat. Heiner weist den Plan als zu teuer zurück, Kalle wirft ihm egoistische Blockade (durch den Erhalt von eigenen Patenten in der Produktion) vor, und nun stehen die Prinzipien der beiden nochmals deutlich gegeneinander: Kalle sieht nur die Sache für das sozialistische Ganze, Heiner ist vor allem auf die persönliche Ebene, hier: seine eigene Integrität, aber auch die für ihn prekär gewordene Freundschaft mit Kalle, bedacht, der sich andere Interessen zumindest unterordnen sollen (vgl. Min. 28 bis 42). Als Heiner kurz darauf zunächst widerwillig den Glockner-Plan sogar per Vollversammlung diskutieren lässt, muss er schließlich registrieren, dass sich die Stimmung gegen seine Konstruktionen wendet, und so gibt er sich rasch und geschickt reuig und reformwillig. Die nächste Szene zeigt einen befriedigten Kalle mit Angela auf dem Heimweg, Angela muss jedoch auch entsetzt hören, dass Kalle jetzt auch seinen Posten wieder für den Vorgänger zu räumen hat. Kalles Altruismus stört das nicht, die Menschen um ihn herum, der alte Meinicke und auch ein ihn schätzender Kreisparteisekretär, wollen ihn jedoch im Werk behalten, und so nimmt er das ihm angetragene Amt des Ersten Parteisekretärs ebendort an. Als Kalle nun einmal selbst frohgemut Heiner zu Hause aufsucht, findet er ihn recht derangiert vor: Nach der persönlichen Niederlage im Beruf hat er auch noch feststellen müssen, dass seine Ehefrau Grit zur vermutlich noch besseren Befriedigung ihrer großbürgerlichen Bedürfnisse ihrem Vater hinterher nach Düsseldorf gegangen ist, mit dem gemeinsamen Sohn. Hilflos appelliert Kalle an Heiners Pflichtbewusstsein für das Werk, damit der sich wieder fängt (vgl. Min. 43 bis 50). Ein paar Wochen später erfährt zunächst nur Angela, warum Heiner weiteren Grund zur Frustration hat. Nach Kalles ›Sieg‹ hat Heiner dennoch Material für seine Konstruktionen gekauft, weil er zunächst nicht an den Erfolg des Glock-

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ner-Plans glaubte. Nun sind die Teile praktisch wertlos, wenn er nicht entweder seine Konstruktionen noch verbessert weiterführen darf oder diese an einem anderen Ort in Produktion bleiben. Für die erste Rettungsmöglichkeit gelingt es Heiner, die so wieder vermittlungsfähige Angela als heimliche Gehilfin einzuspannen. Doch alsbald erfährt das Leitungskollektiv und schließlich auch Kalle von Heiners verdeckten Planungen mit Angela. Wutentbrannt sucht Kalle zuerst Angela auf, die er wie irgendeine Mitarbeiterin des Missbrauchs ihrer Arbeitskraft zeiht, und Heiner legt er zunächst eine Selbstbeurlaubung nahe sowie dann, in voller Kenntnis der Situation (Angela hatte ihm die Fehlbestellungen als tiefere Ursache noch zu gestehen) setzt er jedoch sogar ein Parteiverfahren gegen Heiner an. Vergeblich bittet Angela ihn darum, mit Hilfe der heimlichen Planungen und des versierten Hauptbuchhalters für die Schadensbeseitigung statt eines Eklats zu sorgen. Heiner selbst versucht sich gegenüber Kalle auch noch zu erklären, aber auch dies geschieht vergeblich, weil Kalle nur eine »sachliche Diskussion« (Min. 65) will, wo der individualistischer denkende Heiner immer auch eine Debatte ad hominem befürchtet. Als einziges Weiteres neben der Sache des Werks sieht Kalle aber nur die Autoritätswahrung der Partei, nicht das Ansehen eines einzelnen Menschen. Als Heiner ankündigt, dann lieber seinen Posten ganz aufgeben zu wollen als sich demütigen zu lassen, findet Kalle dies unangemessen und unglaubwürdig. Doch schon am nächsten Tag muss er feststellen, dass Heiner bereits die Stadt verlassen hat, nachdem er in einem Brief an das Ministerium alles gestanden und um Entlassung gebeten hatte. Als der nun ›aufgewachte‹ Kalle überall nach Heiner sucht, landet er lediglich bei seiner Frau, die ihm Heiners Adresse nicht gibt, weil er diesen als Menschen vernichtet habe. Allein besucht sie Heiner sodann in dessen Refugium an einem See und bietet ihm an, in einem weiteren Werk ihres Chefs Mühlmann, bei der Elektroma in Frankfurt/Oder, als einfacher Konstrukteur wieder Arbeit zu finden. Heiner ist interessiert, am liebsten nähme er sogar Angela mit dorthin, die sich jedoch noch ehelich gebunden sieht. – Welchen Pyrrhussieg Kalle also errungen hat, zeigt eine letzte Szene der zweiten Großsequenz: Das Werk feiert Kalles erfolgreiche Planumsetzung, Kalle selbst sitzt jedoch traurig in seinem Büro, denn Angela ist nicht mehr bei ihm. Er zweifelt zudem allgemein an der Richtigkeit seines Tuns und nun fühlt er bezogen auf den Freund Heiner, »wie weit wir voneinander entfernt sind« (vgl. insgesamt Min. 51 bis 73 und für das Zitat Min. 73). Die Dioskuren erscheinen erneut maximal getrennt, und auch die ›Erlöserin‹ hat sich zurückgezogen. Die dritte und letzte Großsequenz ist gemäß einer Einblendung (vgl. Min. 74) im Jahr 1963 angesiedelt, also weitere drei Jahre später, und führt bis in eine Er-

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zählgegenwart. Als Erstes erfährt man, dass Kalle nun Leiter eines Instituts für Werkmaschinenbau in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) ist und eine neue automatische Fertigungsmaschine entwickeln lässt. Gerade nimmt er einen weiteren Probelauf ab und eine dazukommende Mitarbeiterin erklärt der Kreisparteileitung den Innovationscharakter der Maschine. Der perfektionistische Kalle ist freilich noch recht unzufrieden wegen einzelner Mängel, während andere sich bereits eine Maschinenserie sogar für den Westexport erhoffen. Im Nachgespräch mit der Parteileitung in einem Restaurant muss Kalle jedoch auch erfahren: Mühlmanns Firma Elektroma in Frankfurt/Oder bastelt an einem vergleichbaren Maschinentyp, allerdings ohne übergeordnete Genehmigung, und Kalle soll als eine Art Inspizient dorthin gehen, um die Firma darin zu stoppen, weil sie unökonomisch für den Staat vorgehe. Die Szene wechselt sodann offensichtlich nach Frankfurt/Oder, wo just Heiner Vontrak mit nur einem Mitarbeiter an der fraglichen Maschine werkelt, mit der er alle jene an sich erinnern will, die ihn seit 1960 gleichsam vergessen hätten. Als Mühlmann dazukommt, schlägt auch hier ein Probelauf erneut fehl, und nun muss Mühlmann vermelden: Es droht der Versuchsstopp durch den Volkswirtschaftsrat wegen der unkoordinierten Parallelentwicklung (Kalle hatte ihn bereits aufgesucht). Gegenüber Kalle verteidigt Mühlmann allerdings das Handeln auf eigene Faust, da vieles Innovative zentral verhindert werde. Kalle gibt noch drei Tage »Galgenfrist«, was Mühlmann sogleich Heiner berichtet, von dessen Beteiligung Kalle noch nichts wissen soll (vgl. Min. 74 bis 83). Eine kleinere Zwischenszene im direkten zeitlichen Anschluss zeigt Kalle bei einem Kurzbesuch in Angelas Berliner Wohnung, wobei er andeutungsweise von der »unangenehme[n] Sache« (Min. 86) mit Heiner berichtet. Als Angela für ein weiteres Gespräch noch Kaffee geholt hat, findet sie Heiner bereits in altem Arbeitseifer beim Aktenstudium und kündigt desillusioniert an, schlafen zu gehen. Kalle hingegen bitte Angela, aus Ehemoralgründen vor der Partei in eine neue Wohnung nach Karl-Marx-Stadt zu kommen, worauf Angela lediglich anmerkt, dass sie seit zwei Jahren auf die Scheidung warte (vgl. Min. 84 bis 87). Eine Vermittlung zwischen Kalles Arbeitsfixation und Angelas umfassenderen Vorstellungen von einer Lebensgemeinschaft erscheint kaum möglich. Am nächsten Morgen wiederum sucht Heiner Angela im Betrieb auf, um sie seinerseits erneut um Unterstützung zu bitten, aber auch gegenüber dem individualistischen Pendant zeigt Angela sich verärgert, weil Heiner wieder nur auf eigene Faust gehandelt hat, und das auch noch zu Ungunsten von Kalle. Eine Kollegin von Kalle hat unterdessen herausgefunden, so zeigt die nächste Kurzszene, dass Heiner, nach seiner Vermittlung zu Mühlmann durch Angela, treibende Kraft bei der Elektroma ist. Mittlerweile hat der strikt sachorientierte Kalle jedoch bereits

A DAPTIONEN IN DDR-P ROSA UND DEFA-F ILM

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ein überraschendes Urteil gefällt: Heiners Version des neuen Maschinentyps sei fertiger und er werde sich daher für sie aussprechen, selbst bei der drohenden Folge, dass Kalles eigenes, jetzt eventuell unnötig teuer erscheinendes Institut deshalb geschlossen werden könnte (vgl. Min. 87-91). Die Schlusssequenz auf Kalles Votum hin (vgl. Min. 92 bis 101) bringt zwei mehr oder weniger überraschende Reaktionen der anderen beiden Protagonisten. Als Angela nämlich über Mühlmann von der positiven Wendung für Heiner erfährt, scheint sie diese als großherzige oder endlich einmal menschlichfreundschaftliche Entscheidung Kalles zu verstehen. Daher eilt sie plötzlich zu ›dramatischer Musik‹ quer durch die Stadt zum Ostberliner Flughafen, von wo Kalle in Kürze zurück nach Karl-Marx-Stadt starten soll, erreicht ihn gerade noch auf dem Weg zum Flugzeug und umarmt ihn mit den Worten: »Ich lass dich nicht allein« (Min. 96) – ein deutliches Gegenstück zu Kalles Ansage gegenüber Angela am Ende des ersten Filmteils, die Ehe scheint also doch noch gerettet zu sein, und Kalle geht entsprechend beglückt weiter zu seinem Flieger. Heiner selbst hatte vor der frohen Botschaft, übermittelt durch Mühlmann (vgl. Min. 93), sogar schon so weit aufgegeben, dass er nur noch betrunken vor seiner Testmaschine saß. Kurz darauf aber macht er sich ebenfalls auf den Weg nach Karl-Marx-Stadt, denn er soll seine Entwicklungsarbeit in Heiners Institut fortsetzen (die Gefahr von dessen Schließung erscheint bereits gebannt). Die allerletzten Minuten zeigen, wie Heiner zunächst noch demütig vor Kalles Büro warten muss, weil in einer Institutsleitungssitzung noch um ihn gestritten wird. Dann jedoch darf er zu Kalle hinein, der ihn nüchtern fragt, ob er seinen neuen Arbeitsplatz und die eigene Wohnung gesehen habe. Als Heiner sich nach den vielen Jahren der Distanzierung hingegen persönlich erklären will, teilt Kalle ihm lediglich kühl mit, dass er Heiners »Kraftmeierei« falsch fand, gleichsam »mittelalterlich«, und dass er gegen »geniale Einzelgänger« eingestellt sei (Min. 99). Kalle verlangt daher nun vor allem »Disziplin« und die Einordnung ins Ganze von Heiner (vgl. ebd.). Ein ›geschlagen‹ dreinblickender Heiner entgegnet darauf nur: »Gib mir einen Platz in deinem System, ich nehme an, unter jeder Bedingung.« (Min. 100) In Erinnerung an das Gespräch über die jeweiligen Zukunftsvorstellungen im Kasseler Kellerversteck meint Heiner außerdem, jetzt habe er verstanden, was »sinnvolle Arbeit« sei (ebd.). Die letzte Äußerung des aufs Persönliche orientierten Vertreters ist freilich: »[V]ersuch’s nochmal mit mir, als Freund.« (Min. 101) Trotz seiner am Ende eher herben Orientierung auf den sozialistischen Fortschritt wird der kollektivistische Dioskurenpart Kalle zumal durch diese Schlussreaktionen des individualistischen Konterparts und der quasi-messianischen Figur als ›Sieger auf der ganzen Linie‹ präsentiert: Der eine gibt seine Position bis

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auf einen letzten Rest persönlichen Begehrens auf und scheint sich der kompletten Überlegenheit von Kalles »System« gleichsam domestiziert zu beugen; die andere erkennt (bzw. interpretiert) das Gute in Kalles Handeln, gleichsam in Verdrängung all der menschlich-persönlichen Defizite, die sie bei ihm in Bezug auf sich und Heiner zuvor drastisch gesehen hatte. Während Kalle im ersten Filmteil aus seiner sozialistischen Grundorientierung heraus zumindest bisweilen auch noch menschlich überlegen erschien – zumal in seinem Bemühen um Heiner –, kann man mit Blick auf den Filmschluss auch irritiert fragen, wieso die Figur Kalle derart auftrumpfen darf. Als EPISODEN VOM GLÜCK wirkt das Filmganze von dieser Warte wohl nur noch, wenn man Kalles ›Sieg‹ von ideologischer Warte als höchstes Glück bzw. die Episoden davor als ›glücklich‹ im Sinne des eigenwilligen Wirkens der Fortuna versteht. Die mytho-logische Unabschließbarkeit der Gegensatzvermittlung nach Lévi-Strauss darf hier jedenfalls möglichst nicht in Erscheinung treten. Als zeitbezogene Erklärung für diesen stark tendenziösen Schluss im Vergleich zum Gesamtbild des Films sei an das Erstausstrahlungsdatum erinnert, das mit dem ›Kahlschlagplenum‹ koinzidierte – oder eben nicht nur koinzidierte: Womöglich spiegelt der Filmschluss bereits gewollt und in einer Art ›vorauseilendem Gehorsam‹ die neue orthodoxe Linie, die seit dem neuralgischen ›Kahlschlagplenum‹ von Ende 1965 (und fortan umso mehr) von einem Spielfilm für das neue Massenmedium Fernsehen sicherlich wie von einer originären Kinoproduktion erwartet wurde.

Sozialistische Mytho-Logik (IV) Verlachen

Trickster und Schelme im sozialistischen Kontext?

Lévi-Strauss’ vierter großer Aktanten-Typus, der Trickster, ist im voranstehenden Großabschnitt nicht unter denjenigen Typen verhandelt worden, die in der Mytho-Logik des sozialistischen Heldennarrativs als Träger eines Gegensatzausgleichs in Richtung auf das ideologisch gewünschte Ideal narrativ genutzt worden sind. Beispiele für Erlöser, Dioskuren und deren Kombination in Triaden sind zwar gut zu benennen und zu analysieren, vergleichbare Trickster-Exempla zu finden fällt indes schwerer. Zu suchen wäre im interessierenden Korpus sozialistisch-realistischer DDR-Prosa und -Spielfilme nach einem »Vermittler, [d]er etwas von der Dualität zurückbehält, die zu überwinden seine Funktion ist«.1 Eine entsprechende Heldenfigur müsste also zu einem ›positiven Helden‹ führen, der gleichzeitig das kollektivistische Ideal performiert, aber auch dessen individualistisches (›bürgerliches‹) Gegenmodell vertritt. Der Trickster würde dabei die Antinomie im Gegensatz zum Erlöser-Typus nicht wirklich zu vermitteln suchen, sondern eben nur ›trickreich‹ zwischen den beiden Polen hin- und herspringen, also letztlich eine ›betrügerische‹ Schein-Vermittlung betreiben. Dass ein solcher Heros als ernsthafte Aktanten-Version im Bereich des stark ethisierten Sozialistischen Realismus zumal für ideologische Hardliner problematisch gewesen wäre, ist augenscheinlich. Dennoch ist die Frage des Tricksters damit nicht vollends erledigt, denn schon wenn man sozialanthropologische Forschung über Lévi-Strauss hinaus betrachtet, ergibt sich eine Phänomenologie dieses Aktanten, die auf eine ins Komisch-Satirische abgewandelte Umsetzungsmöglichkeit auch im sozialistischen Kontext führt. So hat etwa Klaus-Peter Koepping 1984 einen aufschlussreichen Forschungsüberblick mit eigenen weitergehenden Reflexionen vorgelegt, der schon im Titel den Weg hin zu einer anregenden Perspektive auf den Typus 1

Lévi-Strauss 1967, S. 249.

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führt: »Trickster, Schelm, Pikaro: Sozialanthropologische Ansätze zur Problematik der Zweideutigkeit von Symbolsystemen«.2 Die Inbeziehungsetzung des Tricksters mit dem literarisch bedeutenden Typus des Pikaro bzw. Schelms dient Koepping zwar vor allem als Beispiel für die Fähigkeit der Disziplin, mit ambigen Befunden überhaupt umzugehen. Dem Trickster und verwandten Figuren widmet er sich jedoch kategorial als wandelnden Paradoxien und kommt dabei auch auf den europäischen Zivilisationsraum zu sprechen (und nicht nur auf typischerweise sozialanthropologisch resp. ethnologisch betrachtete ›primitive‹ Kulturen). Koepping bestimmt zunächst den Trickster eingehend als ›unordentlichen‹ Problemfall für die strikt klassifikatorische Mythenanalyse; der Kern seiner Ausgangsdefinition sei etwas umfassender wiedergegeben: »[H]ier haben wir es mit einer Figur zu tun, die als Kulturbringer, Kulturheros, den Menschen (oder Göttern) Wohltaten zu bringen scheint, während nicht nur seine Mittel, um diese zu erreichen, nach Standard-Vorschriften das Erlaubte und Vorgeschriebene dauernd durchbrechen und verletzen, sondern der darüber hinaus auch noch in seinem Charakter nicht immer und nicht einmal vorwiegend eine positive Figur ist, sondern oft auch (bewußt oder unbewußt) durchtrieben, boshaft, ›teuflisch‹ ist [...].«3

Wenn Koepping sodann auf Lévi-Strauss’ oberhalb nochmals zitierte Kerndefinition des Tricksters zu sprechen kommt, kritisiert er sie als »zwar formal scharfsinnig [...], jedoch verliert seine Interpretation durch diese Formalisierung die semantische Vielfalt der Figur in ihren verschiedenen Verkleidungen«.4 Ferner fehlt Koepping bei Lévi-Strauss eine Explikation und Differenzierung der vorzufindenden Untertypen von Vermittlern und Vermittlungsumständen, wie er sie in anderen Forschungen bereits verfolgt sieht.5 Man kann Lévi-Strauss’ Pionierstudien jedoch wohl zugute halten, dass sie zunächst einmal das Spektrum der mytho-logischen Figuren und ihrer Vermittlungsfunktion grundsätzlich systematisiert haben und dafür innovativ strukturalistisch vorgegangen sind. Zudem hält seine Perspektive auf den Trickster dessen Verbundenheit mit zwei Seiten einer Dichotomie stärker im Blick, wo Koeppings Definitionsperspektive – empirisch sicherlich gut abgesichert – den Trickster mehr einer (ethisierten) Seite verpflichtet sieht und nur performativ zugleich von deren Kehrseite geprägt.

2

Koepping 1984.

3

Ebd., S. 198.

4

Ebd., S. 200.

5

Vgl. ebd.

T RICKSTER UND S CHELME

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Welche konkreten Ambiguitäten Trickster-Figuren in (nordamerikanisch-) indianischen oder auch in griechischen und nordischen Mythologien entfaltet haben, führt Koepping dann als Erstes vor6, um sozusagen auf die kulturhistorisch jüngste Variation des Typus in Form des spanischen Pikaros und der ihm verwandten Schelme seit dem europäischen Spätmittelalter zu sprechen zu kommen.7 Die basale Verbindung des älteren Tricksters und des freilich nicht mehr als ›Kulturbringer‹ zu verstehenden Pikaros – in der Regel ja ein sozialer under-dog – sieht Koepping mit Blackburn im »Geist der Unordnung« und der Grenzüberschreitung bei kulturellen Grunddichotomien (wie: Leben und Tod, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge).8 Im zugleich frühesten und bekanntesten Vertreter spanischer Provenienz, dem sich durch List und Gegenlist zum Pikaro schulenden »Lazarillo de Tormes« (1554 anonym erschienen), findet Koepping als Kern noch »weit mehr die Idee der krummen Gedanken, des betrogenen Betrügers als die [späterhin stärker beobachtete] chaotische Körperlichkeit repräsentiert.«9 Dieser intellektuelle Aspekt wird, im Gegensatz zu der notorischen karnevalesk-grotesken Physiologie, im Zusammenhang der sozialistischen Mytho-Logik vor allem von Interesse sein und daher im Folgenden besonders fokussiert werden. Ansonsten sei an dieser Stelle jedoch kurz in Erinnerung gerufen, welche narrativen Elemente (die sie sich in Variation auch noch in den hier interessierenden DDR-Beispielen wiederfinden lassen werden) pikareske Erzählwerke in der Linie des »Lazarillo de Tormes« enthalten: Als Erzählperspektive ist bei ihnen die Ich-Situation des Pikaros/Schelms wesentlich, und diese dient im Regelfall einer rahmengebenden Lebensrückschau, die durch ein Vorwort den expliziten Charakter eines allgemeinen Sittengemäldes sowie zugleich einer (parodistischen) Lebensbeichte erhalten kann und die auch mit einem vor der Erzählgegenwart erreichten Wandel in der äußeren Lebenssituation und einer zumindest deklarierten inneren Wende des Helden (sc. zum guten Christen) verbunden ist. Den Weg dahin bildet eine Kette abenteuerartiger Erlebnisse in einer Welt, die dem Helden aus kleinsten Verhältnissen in kindlicher Naivität noch gut erschienen sein mag. Diese Welt bzw. einzelne exemplarische Vertreter derselben haben dem Helden jedoch alsbald eine oft sogar drastische Enttäuschungserfahrung beigebracht, nämlich dass er sich in einem harten Überlebenskampf mit unfairen Bedingungen befindet, der nur durch eigenen (Gegen-)Lug und Betrug, al-

6

Vgl. ebd., S. 201-205.

7

Vgl. ebd., S. 206-208.

8

Ebd., S. 206.

9

Ebd., S. 207.

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so ›schelmisch‹, zu gewinnen ist. Notorisch wird dabei das Leben zu einer Art permanentem Rollenspiel (zugleich ja eine frühneuzeitliche Grundannahme). Die weiteren Erlebnisse und Lebensstationen, i.d.R. im Dienst eines mehr oder weniger betrügerischen Herrn, sind von situativer (und oft auch physischer) Groteske und Satire geprägt, aber teils nicht minder von der unfreiwilligen Komik und Bloßstellung der eigenen Person des eher nur ›bauernschlauen‹, prahlerischen und in seiner wertenden Perspektive auf sich und die anderen immer wieder erkennbar unzuverlässigen Erzählers. Bauer hat im Ergebnis zu Letzteren von einem reizvollen narrativen Wechselspiel von »Schelmenbeichte & Schelmenschelte« gesprochen, das sich daraus für die Leserschaft ergibt.10 Wie der Pikaro oder mitteleuropäische Schelme und Narren mit Listigkeit und (Schein-)Naivität gegen soziale Grenzen und deren Wächter angehen, erscheint insofern als (mehr oder weniger berechtigtes) eigennütziges Tricksen. Man mag aber auch an eine gesellschaftsumkehrende Rebellion als Handlungshorizont denken. Für Koepping ist jedoch letztlich mit Gluckman zentral, dass es sich hierbei insofern um ein »ritualisiertes Verhalten« handelt, »als die immer wiederkehrende Form sozialer, religiöser und politischer Handlungen, die zwar gegen die bestehende Ordnung gerichtet, aber kulturell vorgeschrieben sind, jedoch im Endeffekt natürlich auch immer ›nutzlos‹ sind. Die Welt der klassifizierten Ordnungen, der Hierarchien, der Regeln wird nicht wirklich erschüttert [...].«11

Zwar ist nach Koepping der Trickster insgesamt nicht allein »von der Idee der rituellen Rebellion her [zu] verstehen«, aber die literarisierten Varianten würden von mit dem Typus des Pikaros/Schelms vertrauten Lesern mit einer fixen Ergebniserwartung rezipiert: »[D]ie Rebellion ist fruchtlos, die Grenzen bleiben wie sie sind«12, und es »wird der Pikaro bei allem Strampeln um Vorwärtskommen doch endgültig von den – korrupten – Gesetzen der Welt betrogen.«13 In der Bestimmung der dem Pikaro gegenüberstehenden ›Gesetze der Welt‹ als ›korrupt‹, als nur scheinbar wohlgeordnet, geht Koepping schließlich konform mit

10 Vgl. Bauer 1994, S. 25-31 (= Kap. II.7). Für eine standardmäßige Einführung in die Gattung und auch einen breiten Überblick über deren europäische Entwicklung vgl. insgesamt Bauer 1994, an welchem Werk sich der voranstehende Absatz global orientiert, bei ergänzender Heranziehung des Sammelbands Transformationen des Pikarischen 2014. 11 Koepping 1984, S. 208. 12 Ebd., S. 209. 13 Ebd., S. 210.

T RICKSTER UND S CHELME

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Michail Bachtins einschlägigen Reflexionen zum Thema. Denn für Bachtin haben Erzählungen von Schelmen, Narren und Tölpeln sozusagen als narrative Vorkämpfer dem europäischen Roman ermöglicht, »jegliche Konventionalität, jegliche schlechte, verlogene Einkunft in sämtlichen menschlichen Beziehungen zu entlarven.«14 Bachtin beharrte allerdings darauf, dass entsprechende ›Entlarvungen‹ eine wirkliche emanzipative Bedeutung hatten, die sich in der Geschichte des Romans auf bedeutende Weise fortentwickeln konnte. Historisch sah er, entsprechend seinem Fokus auf europäisches Mittelalter und Frühe Neuzeit, als solchermaßen kritisierte Gesellschaftsordnung vornehmlich die feudale an.15 Implizit richtete sich sein Enthusiasmus gegenüber »Literatur und Karneval« des Volkes, so ja Bachtins in Deutschland bekanntester Buchtitel, zumal gegen das quasi-feudale, jeglicher Lachkultur abholde System des Stalinismus seiner Lebenswelt.16 Dass allzu kraftvoll anarchische Rebellen-Helden ebenso für die Ideologiewächter des DDR-Kultursystems eine latente Bedrohung der eigenen Ordnung darstellten, davon ist auszugehen. Man denke nur an den vielleicht einschlägigsten pikaresken Roman aus der DDR, der im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des ›Kahlschlagplenums‹ denn auch nicht in selbiger publiziert werden konnte: Fritz Rudolf Fries’ Der Weg nach Oobliadooh.17 Genauer zu verfolgen ist dieser Roman hier freilich nicht, weil seine beiden Protagonisten Arleq und Paasch allzu weit entfernt vom ›positiven Helden‹ des sozialistischen Heldennarrativs konzipiert sind – eher ließe sich von dezidierten individualistischen Anti-Typen sprechen – und ihr Schelmencharakter außerdem bereits hinreichend diskutiert erscheint.18 Eine nur ›rituelle Rebellion‹ in Koeppings Sinn mag man bei diesen Pikaros ebenfalls konstatieren, ihr subversives Potenzial (aber immer wieder auch ganz ernsthafte Systemkritik) ließen Fries denselben jedoch von vornherein nicht DDR-Verlagen vorlegen, sondern den Weg einer Publikation in der Bundesrepublik suchen.19 Wie in anderen Fällen war schon in der Folge dieses Aktes bis 1989 eine Veröffentlichung in der DDR nicht möglich. Aber wohl auch aufgrund seiner Inhalte enthielt man den Roman dem DDR-Publikum sicherlich lieber ganz vor, denn die Vorbehalte der sozialistischen Hardliner gegenüber jegli-

14 Bachtin 2008, S. 87-95 (= Kap. »6. Die Funktionen des Schelms, des Narren und des Tölpels im Roman«), hier: S. 90. 15 Vgl. ebd., S. 91-93. 16 Vgl. Bachtin 1990 und hier insbesondere Alexander Kaempfes Nachwort, S. 133-148. 17 Vgl. Fries 1966. 18 Als Standardwerk zu Fries’ Roman vgl. Bruns 1992. 19 Zur Veröffentlichung in der Bundesrepublik vgl. Leuchtenberger 2006.

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cher Form von Komik und Satire mit Bezug auf die gesellschaftliche Realität der DDR waren bekanntlich groß.20

20 Vgl. zu dieser Abneigung mit speziellem Bezug auf den Pikaroroman etwa Guillet 1997.

Pikareske Mythenparodien

Entsprechend den vorangegangenen transzendentalen Überlegungen finden sich eher selten Werke, deren Trickster-artige Helden sich unmittelbar im Kontext des sozialistischen Heldennarrativs bewegen, sprich: die tatsächlich eine pikareske Form des Gegensatz-Ausgleichs von kollektivistischen und individualistischen Ansprüchen umsetzen.1 Die beiden im Folgenden diskutierten DEFAKomödien, AUF DER SONNENSEITE von 1962 und NELKEN IN ASPIK von 1976, erscheinen dabei auf den ersten Blick als recht harmlose Schelmenstücke, man darf jedoch vermuten, dass nicht zuletzt dieser Anschein ihre Veröffentlichung ermöglicht hat. Der jüngere Film hatte späterhin allerdings aus äußeren Gründen sein eigenes Quasiverbot-Schicksal. Wenn hier lediglich zwei ›leichte‹ Beispiele aus dem Unterhaltungsfilmbereich gegeben werden, eines davon zudem aus der Zeit nach dem ›liberalisierenden‹ VIII. Parteitag von 1971, verweist dies indirekt darauf, dass das gesellschaftskritische Potenzial, das Bachtin Schelmenfiguren zugewiesen hat, in der DDR im hier interessierenden Zeitraum staatlicherseits wohl durchaus auch angenommen worden ist und das Entstehen bzw. zumindest die Veröffentlichung sozialistisch-realistischer Pikaresken verhindert haben dürfte.2

1

Lediglich in Ansätzen bzw. einzelnen Zügen pikaresk erscheinen so bekannte zeitgenössische Werke wie Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W., dessen erste Fassung, ein nicht realisiertes DEFA-Filmszenarium von 1968/69, noch mit einer sozialistischen Lösung als Schluss aufwartete (vgl. Plenzdorfs Neue Leiden 1982) oder die DEFA-Komödie SEINE HOHEIT, GENOSSE PRINZ von 1969.

2

Von der eher marginalen Produktion pikaresker Literatur in der DDR zeugen auch die jüngsten Überblickswerke zu der europäischen Gattungsströmung im Ganzen, vgl. Das Paradigma des Pikarischen 2007 und Transformationen des Pikarischen 2014, in welchen beiden Werken die DDR-Literatur so gut wie keine Rolle spielt.

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Das Stichwort der Parodie auf einen Mythos, die die beiden Filme betreiben, sei schließlich kurz aufgegriffen, um ein großes Desiderat zu markieren: So reichhaltig die Forschung zu den verschiedensten Mythen und ihren Variationen ist (vgl. dazu auch die »Vorüberlegungen« der vorliegenden Studie), systematische Auseinandersetzungen mit dem Phänomen der Mythenparodie, etwa im Gegensatz zur Erforschung der ›ernsteren‹ Spielart der »Mythenkorrekturen«3, stehen noch aus.4 Die nachfolgenden Analysen stellen insofern einen kleinen Beitrag zur Erhellung dieses Phänomens dar.

E IN FRÖHLICHER S CHELM : »A UF (1962)

DER

S ONNENSEITE «

Die 1961 produzierte und im Januar 1962 uraufgeführte DEFA-Komödie5 brachte vor allem den jüngeren Beteiligten, vor allem dem Regisseur Ralf Kirsten und ›seinem‹ Hauptdarsteller und kommenden Star Manfred Krug, einen Durchbruch im staatlichen Kulturbetrieb, das heißt nicht nur einen großen Publikumserfolg, sondern auch durchweg lobende Kritiken, und die Hauptbeteiligten erhielten zudem einen hochrangigen Filmpreis für sie.6 Dabei »schlägt der Film einen ungewohnt respektlosen Ton an«, bei einer, wie schon bemerkt, generell recht »leichten Gangart«7, und erlaubt sich, allerdings bei immer wieder markierter fester Verankerung im Staatssozialismus und dessen Mytho-Logik, humoristische Kritik und Satire, die just in dieser Phase der DDR, also nach dem Mauerbau und Jahre vor dem ›Kahlschlagplenum‹ möglich waren. Kurz umrissen, nimmt die Handlung ihren Ausgang darin, dass der virillebensfreudige Stahlschmelzer Martin Hoff mit einem selbst verfassten und gespielten Stück aus seinem Arbeitsleben auf der Werksbühne scheitert, aber dann immerhin an eine Theaterhochschule delegiert wird, um wenigstens das Schauspielen zu lernen. Als Pikaro wird er damit gleichsam auf das Leben als Rollen-

3

Vgl. Mythenkorrekturen 2005.

4

Für eine singuläre Studie, zum modernen englischen und amerikanischen Drama, vgl.

5

Vgl. AUF DER SONNENSEITE 2007. Auf den Film wird im Folgenden nach dieser

Fischer-Seidel 1986. DVD-Ausgabe mit einfachen Zeitangaben in Klammern im Haupttext verwiesen. 6

Für Grundinformationen zum Film und seiner zeitgenössischen Rezeption vgl. Habel 2000, S. 45f. und Der geteilte Himmel [2001], S. 218-220. Eine kurze inhaltliche Einführung und historische Einordnung bietet Gersch 2006, S. 86-88.

7

Gersch 2006, S. 86.

P IKARESKE M YTHENPARODIEN

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spiel geworfen. Weil Martin die Schulmethoden jedoch auf schelmische Weise nicht respektiert, wird er hinausgeworfen. Als er mit den Kommilitonen in einer Tanzbar seinen Abschied (von diesem ›Abenteuer‹) feiert, begeistert er sich für eine zufällig dort anwesende junge Frau, vielleicht zumal weil sie ihn smart abblitzen lässt. Da Martin weiß, dass sie auf einer Großbaustelle an einem anderen Ort tätig ist und weil er sowieso gerade in der Luft hängt, will er sie dennoch ›erobern‹, was sich spontan mit einer schwankartigen Wette mit den Kommilitonen verbindet (soweit im Ganzen die Vorgeschichte, vgl. Min. 0 bis 23). Nachdem Martin rasch auf der Baustelle angeheuert hat, findet er die Frau nach kurzer Zeit, muss allerdings feststellen, dass es sich bei Ottilie Zinn, gespielt von Marita Böhme, um die Leiterin der gesamten Baustelle handelt. Die Haupthandlung zeigt dann vor allem, wie Martin Ottilie zunächst vornehmlich im Sinne der Wette, peu à peu jedoch immer ernsthafter zu seiner Geliebten macht. Er geht dabei in erster Linie schelmisch vor, legt jedoch zunehmend auch einen ernsthaft liebenswürdigen sowie ›gut sozialistischen‹ Charakter an den Tag und kann sie nicht zuletzt dadurch für sich einnehmen, weil er die BaustellenSchauspieltruppe, in der Ottilie mitwirkt, zu einer erfolgreichen Inszenierung eines kommunistischen Stücks führt. Allerdings holt ihn dann noch seine gegenüber Ottilie despektierliche Wette ein, und er flieht beschämt, aber auch schelmentypisch, ob dieser Entlarvung (soweit im Ganzen der Hauptteil, vgl. Min. 24 bis 89). Eine kurze Schlusssequenz (vgl. Min. 90 bis 96) bringt jedoch ein komplettes Happy End mit einem zumindest weitestgehend ›geläuterten‹ Helden, der das Schauspielen nun ernsthafter lernen mag und von seiner Angebeteten angenommen wird. Wenn auch nur ansatzweise erkennbar, inszeniert der Film, der von der IchPerspektive des männlichen Helden getragen wird, aufs Ganze gesehen eine Schelmenbeichte (und damit natürlich auch eine Schelmenschelte). Die dem Schelmen begegnende realsozialistische Welt soll dabei freilich wohl nicht als basal von schlechten Gesetzen getragene verstanden werden. Einzelne Züge, Situationen und Institutionen wirken jedoch, wenn auch auf ›leichte‹ Weise, inakzeptabel oder latent lächerlich, und der Held erscheint zumindest streckenweise berechtigt, diesen gegenüber schelmisch zu agieren. Bevor das so entstehende Wechselspiel von pikaresker Parodie und ›gut sozialistischer‹ Gesamtentwicklung paradigmatisch durchgegangen wird, sei zum Personaltableau um den Helden und seine Angebetete herum bemerkt, dass es zwar – etwa wie in EPISODEN VOM GLÜCK – recht breit angelegt ist. Die Nebenrollen sind jedoch (sc. komödientypisch) so handlungsfunktional ausgeprägt, dass es weitestgehend nicht lohnt, diese vor der mytho-logischen Gesamtsichtung des Films genauer vorzustellen. Kurz vorgestellt sei einzig die Figur des Jens Krüger, ein älterer Briga-

226 | V ON H EROEN UND I NDIVIDUEN

dier auf Ottilies Baustelle, der durch seine freundlich-gelassene und ›weise‹ Haltung beeindruckt, die mit seiner andeutungsweise benannten Vergangenheit als Widerstandsheld grundiert erscheint (vgl. die Feier seines Geburtstags, Min. 51 bis 55). Es handelt sich also um einen ›Althelden‹, der den Haupthelden punktuell väterlich fördert, weil er hinter dessen schelmischen Charakterzügen einen ›guten (sozialistischen) Kern‹ erkennt. Für eine genauere Sichtung ist bereits der Vorspann von Interesse, weil er mit dem Titelsong, kraftvoll jazzig intoniert von Manfred Krug und seiner eigenen Band, unterlegt ist; die wiederkehrenden Textzeilen lauten: »Stell die Sorgen in die Ecke, nimm dir deinen Hut, Spazier nur auf der Sonnenseite, dann wird alles gut! Geh doch mal ins Kino, da verfliegt die Wut, Koche mit Liebe, würze mit Bino, Hin und wieder tut ein DEFA-Lustspiel gut!« (Min. 0 bis 1)

Die ersten beiden Zeilen stellen offensichtlich eine Aufforderung an den DDRRezipienten dar, eine optimistischere Lebenshaltung einzunehmen und Widrigkeiten auch eines realsozialistischen Alltags zumindest temporär zu vernachlässigen. Der entsprechende Gang »auf der Sonnenseite« wird in Verbindung mit dem gleichlautenden Filmtitel zugleich zu einer Anweisung, was die nachfolgende Handlung im Endeffekt repräsentieren soll und wozu sie verhelfen kann. Zudem wird die fröhliche Gelassenheit des solchermaßen sozialistisch-realistisch umgefärbten Schelmenhelden impliziert. Explizit bzw. überdeterminierend schließen sich die weiteren drei Zeilen an, in deren Mitte, passend zum Grundduktus des Films, in heiter-parodistischer Metaphorik ein zeitgenössischer Werbespruch für ein (DDR-Suppen-)Würzmittel aufgegriffen wird. Der Spruch verweist nun vermutlich zum einen auf das zentrale Liebesbegehren als gutes Lebensziel und zum anderen auf die satirische Würze der filmischen Darstellung, sprich: das wie ein beglückendes Gericht zu ›konsumierende‹ »DEFALustspiel«, das im Gegensatz zu vielen anderen Stücken der Zeit nicht belehrend daherkommt. Die Vorgeschichte beginnt mit einer pathetischen Halbtotale auf die Deckenkonstruktion eines Stahlwerks und von dort schwenkt die Kamera hinunter auf einen Mann beim Stahlschmelzen – beide Motive könnten auch den Anfang eines Aufbaufilms machen. Es handelt sich bei dem Arbeiter jedoch um Martin, der alsbald von einem Kollegen ermahnt wird, zur Bühne des Kulturhauses zu eilen. Während Martin sich in Windeseile umkleidet und durch das Werk zur

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Bühne läuft, lädt er komödientypisch mit einer kurzen direkten Anrede das Publikum ein, ihn zu begleiten, und dann setzt seine Stimme aus dem Off fort: »Es war einmal ein Schmelzer, und das war ich, und außerdem war ich ein Dichter. Ich hatte im Stahlwerk ein Stück über das Stahlwerk geschrieben, in dem Stahlwerker am Stahle werkten. – Ich spielte die Hauptrolle, einen Stahlwerker.« (Min. 2)

Der Erzählduktus ist auf den ersten Blick der eines Märchens, legt jedoch auch die retrospektive Ich-Situation des von seinen Abenteuern berichtenden Schelms an. Aus dessen Mund deutet das »War-ich« implizit den inneren Wandel an, der sich seitdem vollzogen hat, und macht diesen Auftakt zur Schelmenbeichte. Der stilistische Pleonasmus, die Figura etymologica, gibt dem Selbstbericht einerseits einen schelmentypisch humoristischen Zug, der andererseits, bezogen auf das Thema »Stück über das Stahlwerk«, eine kleine Parodie auf das sozialistische Heldennarrativ bzw. das Schreiben darüber im Rahmen des Bitterfelder Wegs einflicht. Als Martin hinter der Bühne eintrifft, kommt es zu einem komödienhaft inszenierten Wortgefecht mit dem Kulturhausleiter wegen seines knappen Eintreffens, und dann berichtet Martins Stimme aus dem Off vom gezeigten Publikum im Saal: »Die Stahlwerker empfingen uns begeistert.« (Min. 3) Die Inszenierung wird daraufhin allerdings wie im Zeitraffer, stumm und erkennbar parodistisch gezeigt, alsbald tritt jedoch ein bedrohlich-dissonanter Ton hinzu, der die Zuschauerreaktionen charakterisiert: Man ist offensichtlich gelangweilt bis ungehalten, Unruhe kommt auf, viele gehen, und die Schauspieler bleiben ratlos zurück. Sie erkennen ihren eigenen Dilettantismus aber vermutlich nicht, und Martin spricht aus dem Off nur von einer Enttäuschung (vgl. Min. 4 bis 6). Mitgefühl mit den ein schlechtes Stück unzulänglich spielenden Arbeitern kommt durch den satirischen Blick der Kamera auf das Geschehen und das vorherige Prahlen des Schelms nicht auf. Sodann wechselt Martins Tonlage jedoch jovial wieder ins Frohgemute (also ›auf die Sonnenseite‹) und leitet zum zweiten Teil der Vorgeschichte über wie zu einem neuen Abenteuer. Er kann nämlich berichten, dass er nach dem Desaster vom Kulturhausleiter auf die Schauspielschule delegiert worden ist. Er empfand das als eine Wunscherfüllung, weil er sowieso lieber Schauspieler als Stahlwerker sein wollte (vgl. Min. 6). Der ›gut sozialistische‹ Arbeiter-Dichter gibt mit diesem Kommentar zumindest ansatzweise erneut seinen schelmisch-egozentrischen Grundcharakter zu erkennen. Der zweite Part der Vorgeschichte setzt ein mit Martins stolz-gelassenem Gang, mit feinem Anzug und Gitarre, zur »Theaterhochschule Leipzig« (Ein-

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blendung in Min. 7), an deren Tor er sich gegenüber einem kumpelhaften anderen Studienbewerber forsch als der Gitarrenlehrer ausgibt und Respekt verlangt (vgl. ebd.). Im Park um die Hochschulvilla passiert er jedoch zunehmend eingeschüchtert viele andere Bewerber beim nervösen Gespräch oder beim stupide bis lächerlich wirkenden Wiederholen einstudierter Szenen für das Vorsprechen. Martin selbst rezitiert vor der Aufnahmekommission dann zunächst Lessing, und im Anschluss wird er um eine »Etüde« gebeten.8 Dieser wohl als Zumutung empfundenen bzw. auch naiv unverstandenen Aufgabe verweigert er sich mit kleinen schelmischen Frechheiten. Statt Martin durchfallen zu lassen, beschließt die Kommission jedoch, ihn ersatzhalber zu seiner Phantasie zu befragen. Diese Befragung selbst fällt allerdings so untauglich aus (Martin muss lediglich bestätigen, dass er sich ihm komplett vorphantasierte Alltagsszenen vorstellen kann), dass die Kommission beinahe so unprofessionell wirkt wie der Kandidat. Grotesk satirische Folge dieser Parodie einer Aufnahmeprüfung ist denn auch, dass Martin zumindest probehalber aufgenommen wird (vgl. Min. 7 bis 12). In einer nicht minder parodistischen raschen Szenenfolge wird Martins Ausbildungsalltag präsentiert, beginnend mit einer Fechtprobe, während der sich Martin vor allem kaputtlacht, weil er vom Gegner gekitzelt wird. Es folgt ein sehr simples Üben mit Rhythmusinstrumenten, bei dem der sichtlich gelangweilte Martin, dieses Talent hat er immerhin, lieber gleich richtige Musik machen möchte; das aber ist noch unerwünscht. Ironisch gesprochen: Gekrönt wird das Schulungswesen für Martin von Stimmübungen bei einer dümmlich-blasierten älteren Lehrerin, die von ihm fordert: »Gehen Sie doch mal vom Empfinden her mit Ba-la-li [sc. zum Schein] die Treppe herunter.« (Min. 17) Er nimmt daraufhin wie irre pfeifend seine Gitarre und verlässt den Raum, um realiter die Treppe herunterzugehen. Er steigert sich dabei hüpfend in einen Gesang zur Gitarre, von dem Kommilitonen aus umliegenden Räumen angelockt werden: Man singt und tanzt spontan gemeinsam wie befreit (es handelt sich hierbei zugleich um die erste von mehreren locker eingestreuten musicalmäßigen Unterhaltungseinlagen). Als ein erstaunt-empörter Lehrer hinzukommt, flüchtet Martin aus dem Gebäude und damit gleichsam aus der Ausbildung. Er muss dann jedoch noch eine Vollversammlung der Hochschule über sich ergehen lassen, auf der ein stark näselnder und sich verhaspelnder Leiter von ihm die zeitübliche Selbstkritik in sozialistischer Verantwortungsübernahme fordert – Martin bittet jedoch nur darum, gehen zu dürfen. Die ebenfalls karikaturesk verknappt gezeigte Versammlung erhält eine besondere kleine Spitze dadurch, dass die Stimme des Lei-

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Das heißt: um ein emotional überdeutliches ›Etüdenspiel‹ nach dem seinerzeit indoktrinär genutzten Stanislawski-System, vgl. Gersch 2006, S. 88.

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ters stark an Walter Ulbrichts Tonfall erinnert, der hier freilich recht harmlos parodiert erscheint (vgl. insgesamt Min. 12:30 bis 20). Zu Beginn des dritten und letzten Teils der Vorgeschichte sitzt Martin, der eigentlich ja nur delegierte Arbeiter, wie ein betrübter Schelm vor der nächsten Abenteuer-Station in einem kleinen Park vor dem Hauptgebäude des »VEB Spezialbau Leipzig« (Einblendung Min. 20:30), das eine junge Frau betritt. Seine Stimme aus dem Off, und damit wieder der Schelm aus der Rückschau vom Ende her, kommentiert sodann, dass er die Frau (Ottilie Zinn) in diesem Moment leider nicht beachtet habe, dass sie aber noch bedeutsam für ihn werden würde. Die Szene wechselt dann zu Ottilie, die wutentbrannt in das Zimmer des ihr übergeordneten Direktors stürmt. Sie will endlich die Bestätigung der von ihr erbetenen Entlassung aus der Baustellenleitung in Eulenhain, weil Männer auf dem Bau eine Frau als Vorgesetzte immer noch nicht akzeptierten. Sie will stattdessen das zudem besser bezahlte Stellenangebot eines Konstruktionsbüros wahrnehmen. Der Direktor möchte sie aber in der Stellung halten, weil sie wisse, dass das aus sozialistischer Perspektive heraus vernünftiger (sprich: ›heroischer‹) sei. Die kollektivistisch orientierte Ottilie willigt ein, bis für sie Ersatz gefunden ist. Komödienhaft aufgelockert wird die an sich ernste Szene davon, dass der Direktor die ganze Zeit leise über Zahnschmerzen jammert und so wohl auch ein Mitleid von Ottilie erheischt, dass ihr Nachgeben in der Jobfrage beeinflusst (vgl. Min. 21 bis 23). Die sich anschließende Szenensequenz bildet zugleich den Abschluss der Vorgeschichte und bereitet den Übergang zur Haupthandlung vor: Ottilie schlendert durch eine Einkaufspassage bis in die Nähe der Tanzbar »Oase«, wo sie jetzt von dem herbeikommenden Martin bemerkt wird. Der geht zielstrebig auf den Eingang der »Oase« zu und versucht Ottilie mit einladender Geste dazu zu bewegen, mit hineinzukommen; Ottilie ist jedoch wohl noch unentschlossen. Die Szene wechselt in die Bar und zeigt Martin bei seinen dort bereits sitzenden ehemaligen Kommilitonen, vor denen er wie bei einer Trauerfeier, aber natürlich ironisch, ein Glas Rotwein auf die Schauspielschule erhebt. Er flirtet dann zunächst mit der Barsängerin und geht zu einem Kommilitonen an die Bar. Nun betritt Ottilie ernst den Raum und wird sogleich wieder von Martin entdeckt, der spontan an das Klavier der Bar geht und selbstbewusst ein amerikanisches Blues-Traditional im Original (»Careless Love«) zu singen beginnt. Die Band steigt ein, das (gegenüber der Westmusik skeptische?) Publikum bleibt zunächst distanziert, vor allem Ottilie. Dann geht Martin jedoch von der Bühne und erhält Zwischenapplaus, während die Band weiterspielt. Er bittet die beeindruckte Ottilie erfolgreich zum Tanz und fragt sie ein wenig aus, stellt sich aber auch selbst vor. Ottilie erscheint geschmeichelt und zugewandt, blockt im Laufe des Ge-

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sprächs jedoch immer bestimmter, wenn auch weiter freundlich, ab. Immerhin gibt sie noch (gerne) preis, dass sie ledig ist, bevor ihr Martin offensichtlich zu forsch geworden ist und sie ihn stehen lässt – woraufhin der Charmeur anscheinend ausnahmsweise einmal ratlos ist. Einer seiner Kommilitonen, die das Geschehen beobachtet haben, wettet mit Martin alsdann um zehn Flaschen Sekt, dass er bei Ottilie nicht ankommen werde. Als Beweis wird komödienartig vereinbart: »Sie soll dich vor uns allen küssen« (Min. 31:30), und dann bittet Martin alle, in einer Stunde auf den Bahnhof zu kommen, da Ottilie in Eulenhain auf einer Baustelle arbeite und er zur Einlösung der Wette ebenfalls dorthin fahren wolle, also gleichsam für ein weiteres Abenteuer (vgl. Min. 24 bis 32). Die nächste kleine Sequenz macht den Übergang zur Haupthandlung perfekt: Martin steigt mit Gepäck die Treppe zum Gleis hoch, hilft – hier einmal sehr ehrbar – einer Mutter mit Kleinkind die Treppe hoch, und besteigt den Zug. Als seine Kommilitonen auf das Gleis kommen, lehnt sich Martin allerdings wieder frech mit einer kleinen Trompete aus dem Fenster, improvisiert zum Verdruss des strengen Schaffners (und zur Belustigung junger weiblicher Mitreisender) ein Abschiedslied, und die Kommilitonen verabschieden ihn theatralisch vom Bahnsteig aus. Aus einem Nickerchen im Zug wird Martin von mehreren jungen Frauen geweckt, und eine von ihnen nimmt die Gitarre, um beschwingt ein Lied anzustimmen: »Zwei, die sich lieben, genau wie du und ich [...]«. Martin entgegnet jedoch sofort: »Kennt ihr die englische Fassung?« und singt, beschwingt, aber ernst, seinerseits zur Gitarre den Antikriegssong »Down by the Riverside«, zuerst im Original, auf Wunsch der Mädchen aber auch in deutscher Übersetzung. Der singende Charmeur zeigt sich gegenüber der Szene in der Tanzbar mit seiner guten Kenntnis dieses Lieds zugleich als gemeinschaftsorientierter Kriegsgegner (immerhin im Jahr 1961) und erregt so auch das Wohlgefallen eines weiteren Mitreisenden. Denn ein älterer Mann, der später als sozialistischer Altheld profilierte Jens Krüger, nickt freundlich und anerkennend. Instinktiv erfragt Martin von diesem sodann den Weg zu Großbaustelle von Eulenhain und darf feststellen, dass der Mann selbst dort arbeitet. Keck überredet Martin ihn gleich dazu, dass der ihn einstellt, wobei Martin um seines egozentrischen Ziels willen hinsichtlich seiner Berufsqualifikation lügt (vgl. Min. 32 bis 36). Der Pikaro steht am Ende dieser besonderen Szenenfolge also wieder im Vordergrund, aus sozialistischer Sicht ethischere Züge Martins sind jedoch ebenfalls konturiert worden. Da letztere Charakterzüge eher unwillkürlich hervorzutreten scheinen (also das Helfen auf der Treppe, das Anschlagen des Antikriegssongs), möchte man an dieser Stelle vermuten, dass der Schelm trickstergemäß durchaus auch als kollektivistischer Kulturheros fundiert ist, seine individualistischen Interes-

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sen jedoch immer wieder durchschlagen und zu unlauterem weiterem Handeln führen. Die Haupthandlung bzw. deren Auftaktsequenz setzt ein mit einem kleinen Fokuswechsel. Der Rumpelstilzchen-artig auftretende Brigadier Felix Schnepf9 erstürmt wütend Ottilies Bauleitungsbüro, weil er zum wiederholten Male zu ungelernte Arbeiter erhalten habe und damit erneut (und für ihn unverständlich) als Person nicht anerkannt werde. Er will zudem die Frau als Vorgesetzte nicht weiter akzeptieren, was diese sich jedoch harsch verbittet. Dann wechselt die Szene zurück zu Jens Krüger, der Martin auf den Bau geleitet, was ohne Kenntnisnahme von Ottilie in ihrem Büro geschieht, wie Martins Stimme aus dem Off in der Rückschau bedauernd feststellt. Denn Folge ist, wie die weiteren Szenen der Sequenz zeigen, dass er sie erst einmal blind suchen muss. In schelmischkomödiantischer Manier klettert er dafür zuerst auf einen Großkran, weil dieser von einer auf die Distanz nicht zu erkennenden Frau geführt wird. Dann springt er auf das Dach des Waschhauses und linst frech durch ein Oberlicht auf duschende Frauen – wie zur Strafe stürzt er von dort aber alsbald ab, wenn auch nur auf einen Sandhaufen. Als er sodann im Gemeinschaftshaus Frauen singen hört, schleicht er in ihrem Rücken selbst hinein und dreht jede einzelne kurz nach hinten, um Ottilie unter ihnen zu finden. Schließlich ist Martin in Schnepfs Brigade mit Erdaushubarbeiten beschäftigt, aber sobald er auch nur eine Frau aus der Ferne sieht, läuft er zu ihr. Schnepf ist darüber verständlicherweise erbost, regt sich aber erneut allzu sehr auf, und deshalb schubst Martin den nicht für voll genommenen Vorgesetzten mal eben nach hinten in eine Sandgrube. Die komödienmäßige Folge ist, dass der stets einer höheren resp. auch physisch größeren Autorität bedürftige Schnepf ihn zur Bauleiterin schickt und Martin somit endlich Ottilie findet. Als er sie zuerst von hinten an ihrem Schreibtisch sieht, hält er sie in ebenjener Manier, die Ottilie bei ihrem Leipziger Vorgesetzten beklagt hatte, allerdings erst einmal für die Sekretärin des Bauleiters. Ottilie scheint den bei ihrer Umwendung nach hinten erschrocken verstummenden Leipziger Charmeur jedoch schon an seiner Stimme wiederzuerkennen, und begrüßt ihn erfreut. Dann freilich wird sie ernster und maßregelt ihn wegen der Ungebührlichkeit gegenüber seinem Brigadier. Bei einem anschließenden Ortstermin demonstriert Letzterer das Geschehene jedoch so ungeschickt, dass

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Er wird als stark komödienmäßige Charge eines unfreiwillig komischen Möchtegernegroß gespielt von dem etwas kleinwüchsigen Heinz Schubert, der nach seinem Weggang in die Bundesrepublik in den 1970er Jahren als »Ekel Alfred« (Tetzlaff) in Wolfgang Menges satirischer TV-Familienserie EIN HERZ UND EINE SEELE bekannt werden sollte.

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Schelm Martin mit seiner Behauptung, Schnepf sei von selbst in die Grube gefallen, zumindest oberflächlich durchkommt (vgl. Min. 36 bis 43). Eine zweite Sequenz des Hauptteils zeigt Martin in weiteren Bemühungen um Ottilies Gunst, wobei schelmisch-komödiantisches Streben und gemeinschaftsorientiertes Handeln sich hier (und im Fortfolgenden) zunehmend überkreuzen; eine Läuterung des Schelms und ein Rückgang auch der Mythenparodie ist zu verzeichnen, obschon eine Art pikaresker Rest bis zum Ende zu bleiben scheint. Nach einem eher unbeholfenen Kontaktversuch in der Kantine, bei dem Martin von dem jungen Kollegen Matthias Wind, der Ottilie ebenfalls attraktiv findet, neidvoll beobachtet worden ist, flirtet Martin an ihrem Bürofenster weiter und wittert seine Chance, als er von einem akuten Arbeitskräftemangel erfährt: Den gesuchten Planierraupenfahrer verspricht er zu finden. Dann setzt er sich allerdings ohne Anleitung selbst auf die Raupe, und diese stürzt dem (noch: pseudoheroischen) Angeber fast in eine Ausschachtung, die er dabei halb wieder zuschüttet. Dafür wird Martin selbst vom gütigen alten Krüger gemaßregelt und muss den Schaden in einer Sonderschicht beheben. Als er am Abend immer noch eine entsprechende Extraschicht schiebt, kommt Krüger jedoch wieder freundlich dazu und erinnert ihn kollegial an die Notwendigkeit, im Sozialismus auf ernsthafte Weise mehr als nur normal zu arbeiten. Aus dem Off sinniert Martins Stimme nun auch bereits darüber, dass ihm die Wette schon nicht mehr so wichtig war. ›Wahre Liebe‹ und sozialistischer Ernst scheinen zusammengekommen zu sein. Wie in zwischengeschalteten Szenen zu sehen ist, verlangen der eifersüchtige Matthias Wind und andere derweil von Ottilie, dass sie Martin hinauswirft. Sie tun dies allerdings selbst so ungebührlich, dass Ottilie die Forderung geradezu wütend ablehnt. Wind bringt en passant freilich noch seine Ahnung ein, dass Martin eine obskure Wette eingegangen sei (vgl. Min. 44 bis 51). Am nächsten Tag will Martin anscheinend zugleich den alten Krüger beeindrucken und sich Ottilie sozusagen als liebenswerter Sozialist präsentieren. Auf der Geburtstagsfeier für Krüger nämlich stimmt er zur Gitarre ein altes Arbeiterlied an, das den alten Widerstandskämpfer denn auch rührt. Dann lässt sich Martin jedoch in einen albernen Reimwettbewerb mit dem sich ebenfalls für einen Dichter haltenden Schnepf ziehen, und unglücklicherweise kommt Ottilie erst jetzt hinzu und bemerkt indigniert im Rückblick auf Martins eigenmächtige Handlung am Vortag: »Bei mir Frösche [= die Planierraupe] verschütten, aber rumdichten. War das Ihre Abschiedsvorstellung?« (Min. 55) Ein bedröppelter Martin verlässt die Feier und läuft planlos mit der Gitarre durch den Wald und die Heide rund um die Baustelle. Er stimmt sodann melancholisch zur Gitarre ein altes Abschiedslied an (»Es geht eine dunkle Wolk herein«, eine frühneuzeitliche Volksdichtung; vgl. Min. 57). Die Kamera zeigt dazu in der Totale zuerst

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den Himmel und eine Luftaufnahme von der Baustelle mit einer leicht pathetischen Perspektive im Stil eines Aufbaufilms, dann schwenkt sie jedoch zoomend hinunter auf Martin, der wie eine Art Minnesänger an einen Baum gelehnt sitzt und singt. Der immer ernsterer Liebende (freilich immer noch: Individualist) hebt sich ab und verschmilzt zugleich mit dem kollektivistischen Rahmen, der nun nicht mehr parodistisch zitiert erscheint (vgl. Min. 51 bis 57). In einer letzten einerseits de facto ›gut sozialistischen‹, andererseits aber auch schelmisch unlauteren (also weiterhin: trickstermäßigen) Bemühung wird Martin in der letzten Szenenfolge dieser zweiten Sequenz gezeigt: Er bekommt mit, dass Ottilies Bauarbeiter nicht gut das Plansoll erfüllen können, weil der Bus, den alle zu Schichtende nehmen müssen, in einem zu frühen Takt verkehrt. Während Ottilie deshalb bereits vergeblich telefonisch die Verkehrsbetriebsleitung in Leipzig zu erreichen versucht, fährt Martin kurzerhand zum zuständigen Leiter vor Ort und überzeugt ihn, den Takt zu ändern. Dieses an sich honorige Unterfangen hat jedoch den ›Schönheitsfehler‹, dass sich Martin um der Autorität willen in Leipzig als Bauleiter Zinn ausgibt. Kaum hat er die Verkehrsbetriebe verlassen, wird endlich auch Ottilie selbst zum Telefon des Verkehrsleiters durchgestellt und kann nur durch ihre Geistesgegenwart verhindern, dass der wohlmeinende Schwindel auffliegt. Noch verärgert will sie Martin am nächsten Tag entlassen, muss aber feststellen, dass Martins Intervention Erfolg gehabt hat, denn just fährt der erste Bus im späteren Takt vor (vgl. Min. 58 bis 64). Die dritte Sequenz des Hauptteils erreicht eine neue Handlungsebene und stellt dramaturgisch gesehen den ersten Höhepunkt für den Helden dar: Auf der einen Seite finden Martin und Ottilie als Liebende zueinander, auf der anderen erfährt Ottilie vollends von der Wette bezüglich ihrer Gunst. Dass Ottilie Martin ihr Herz wirklich öffnet, ergibt sich dadurch, dass Martin sich noch einmal als gemeinschaftsförderlich Handelnder erweist. Und zwar hat er gesehen, wie Ottilie, Krüger, Schnepf und andere im Gemeinschaftshaus der Baustelle ein modernes chinesisches Volksstück über die Zeit der japanischen Besetzung proben. Dabei handelt es sich um »Hirse für die Achte [sc. kommunistische Armee]« nach einer ursprünglich für Brechts Inszenierung angefertigten deutschen Übersetzung.10 Die Laientruppe deklamiert jedoch allzu laut und agiert ungelenk, und so schaltet Martin, mit seiner basalen Theatererfahrung sozusagen der Einäugige unter

10 Vgl. Loo/Chang/Chu 1954, hier immer wieder im Wortlaut genutzt; die deutsche Uraufführung fand 1954 am Berliner Ensemble statt, danach wurde das Stück auf anderen Bühnen der DDR nachinszeniert. Dass die Laientruppe im Film gerade dieses Stück spielen will, erscheint zeitgenössisch etwas erstaunlich up-to-date.

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den Blinden, sich ein. Er springt auf die Bühne, kann Ihnen die Stücklogik näherbringen und spielt dann selbst eine wesentliche Rolle, das heißt: den Verräter Sse. Von einer parodistischen Perspektive auf ein dilettantisches Geschehen, wie zu Eingang der Filmkomödie, kann nicht mehr die Rede sein, soweit ernster zu nehmen ist das Bemühen des Baustellenkollektivs anscheinend. Insbesondere Ottilie erklärt Martin dann freilich gerne im Detail, wie sie besser spielen könnte, und nochmals lieber lädt er sie nebenher auf ein Rendezvous am Abend ein, demgegenüber sich eine auffällig ›sanftere‹ Ottilie nicht abgeneigt zeigt (vgl. Min. 69). Als sich Ottilie später für das Treffen fertig macht, kommt ein (bereits wiederholter, verdächtiger) Anruf von Martins Leipziger Kommilitonen über ihr Diensttelefon, vermutlich der einzige Apparat auf der Baustelle, und sie erfragt listig den vollen Gehalt der Wette. Ottilie erfährt allerdings auch, dass Martin immerhin nicht verheiratet ist; bestürzt ist sie jedoch, zumindest für den Augenblick, über den Wetteinsatz. Die nächste Szene zeigt Ottilie mit Martin beim nächtlichen Spaziergang: Sie spricht ihn andeutungsvoll auf den Anruf an – ohne ihre Kenntnis der Wette zu offenbaren –, und er lügt sie diesbezüglich lieber an. Als er jedoch mit ihr Wein trinken möchte, schützt sie Kopfschmerzen und Fieber vor. Immerhin kann Martin sie noch an die Hand nehmen, zu ihrem Zimmer begleiten und frech-charmant mit einem Kuss verabschieden. Im schnellen Wechsel sieht man sodann, wie Ottilie nicht schlafen kann und Martin listig auf den Wetteinsatz ansprechen will, während er seinerseits in seinem Bett sitzt und eher verzweifelt ein Gespräch mit Ottilie imaginiert. Schließlich nimmt er seine Gitarre und improvisiert ein Liebeslied (das er aber erst später zu singen wagen wird). Als Ottilie schließlich das Licht ausschaltet, steht Martin vor ihrem offenen Fenster und gibt schüchtern vor, noch einmal wegen der Stückprobe gekommen zu sein. Ottilie gesteht, dass sie nicht krank ist und lässt ihn herein, ein inniger, ›vielversprechender‹ Kuss beschließt die Szene (vgl. insgesamt Min. 65 bis 76). Mit einem undefinierten Sprung über mehrere Tage oder sogar Wochen hinweg setzt die vierte und letzte Sequenz des Hauptteils ein und bringt den endgültigen Wendepunkt hinsichtlich der Ernsthaftigkeit von Liebe und gemeinschaftsorientiertem Handeln des Helden, allerdings noch nicht die Erkenntnis für ihn, dass die ›gut sozialistische‹ Ottilie die despektierliche Wette keineswegs (mehr) als Hinderungsgrund für ihre Liebesbeziehung ansieht. Die Zuschauer erleben hingegen bereits in der ersten Szene, wie Ottilie ihrem Leipziger Vorgesetzten am Telefon freudig verkündet, dass kein Ersatz mehr für sie als Baustellenleiterin gefunden werden müsse. Sie will offensichtlich bleiben, weil sie nun zufrieden mit ihrer Position und wohl nicht zuletzt mit Martin ist. Eine letzte kleine

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Stückprobe in der Mittagspause mitten auf der Baustelle zeigt bereits begeistert zusehende Kollegen, und gegen eine echte Aufführung spricht nichts mehr. Martins Stimme aus dem Off kommentiert die dann anlaufenden Ausschnitte der Aufführung jedoch bedeutungsvoll: »Himmelfahrt war Premiere, Va-ter-tag« (Min. 80:30). Gegen weitere Szenenteile des Stückes wird sodann eine andere Handlung geschnitten, die das Stichwort »Vatertag« aufgreift: Vor dem gut zu identifizierenden neuen Leipziger Schauspielhaus startet ein Traktor mit Gesellschaftswagen, auf dem eine Musikkombo mit Frack und Zylinder fröhliche Festtagsmusik, unter anderem »Glory, Glory, Halleluja« (Min. 85), spielt, eine vatertägliche »Kremserpartie« (ebd.), die schließlich vor dem Baustellen-Theatergebäude von Eulenhain ihren Zielpunkt erreicht. In dem kleinen Theater geht derweil die Premiere glücklich zu Ende, die Laientruppe lässt sich fröhlich feiern, und ein entspannt sich abschminkender Martin bekommt sogar Besuch vom Intendanten des Schauspiels Leipzig, der ihn zum Vorsprechen einlädt. Abgelöst wird Letzterer von Ottilie, die Martin küsst und mitteilt, die ganze Laientruppe sei sogar zum Gastspiel bei ihm eingeladen. Dann jedoch bemerkt Ottilie spröde, dass Martins Freunde aus Leipzig angekommen seien. In der nächsten Szene laden diese die ihnen attraktiv erscheinende Ottilie gleich an ihren Tisch, sie gibt sich jedoch nicht zu erkennen. Als Martin dazukommt, bleibt er auf Distanz zu den Leipzigern, so dass Ottilie wissen will warum – er verrät aber lieber nichts. Schließlich will sie, dass sie beide aus der Gaststube laufen, und auf ihrem Zimmer präsentiert Martin endlich zur Gitarre das selbst gedichtete, humoristischfreche Liebeslied: »Ottilie / du bist süß wie Petersilie / komm, wir gründen ’ne Familie. / Ich habe dich so lieb.« (Min. 89). Als Ottilie auf den Theatererfolg und wohl auch auf sie beide anstoßen will, zieht sie eine Gardine zurück: Auf dem Fensterbrett stehen neben zwei Sektgläsern zehn mit Zetteln nummerierte Flaschen. Der an sich schon geläuterte Schelm Martin flieht umso beschämter aus dem Zimmer, während Ottilie gelassen den Kopf schüttelnd stehen bleibt (vgl. Min. 77 bis 89). Der Schlussteil des Films, das Happy Ending, beginnt mit einem Sprung in Martins Selbstvorstellung auf einer kleinen Bühne des Schauspiels Leipzig: Er spricht eine Szene aus Shakespeares »Was ihr wollt«, in der bezeichnenderweise der Narr über Tugend und Laster reflektiert (vgl. Min. 90). Im Gegenschnitt sieht man Ottilie mit dem alten Krüger von hinten auf die Bühne kommen, und als Martin kurz hinter die Kulisse muss, ruft sie ihm freundlich zu: »Du dummer Kerl!« (Min. 91) Aber Martin muss zunächst noch einmal nach vorne, um zur Gitarre das Liebeslied des Narren aus der zuvor angespielten Szene zu singen

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(vgl. im Stück: 2. Akt, 3. Szene / hier: Min. 93), das im Film zugleich auf Martins eigene Liebe und deren Glück gemünzt erscheint. Dann bedanken der Intendant und die weiteren Aufnahmeprüfer sich, und Martin kommentiert zufrieden aus dem Off: »Sie nahmen mich als Eleven.« (Min. 94) Die letzte kleine Szenenfolge zeigt, wie der Intendant Martin, Ottilie und Krüger bereits durch die Schulungsräume des Schauspiels führt. Manches wirkt dabei wie an der Leipziger Theaterhochschule, und als sogar die nämliche dümmlich-ältliche Stimmlehrerin aus einem der Räume tritt, versteckt sich Martin rasch. Für einen Moment mag man denken, er sei spontan wieder in Schelmenmanier geflohen. Er kehrt jedoch zurück und tritt auf Ottilie zu, bleibt also eventuell um ihrer Liebe willen. Die allerletzte Szene wird noch einmal komödienhaft wie der Anfang des Films, als Martin das Publikum zum Mitkommen einlud – nun jedoch ist es eine schamhafte Ottilie, die leicht peinlich berührt auf die Kinozuschauer hinweist, als Martin sie im Überschwang küssen will (vgl. Min. 95). Das letzte Wort hat jedoch der Held selbst, der sich seinerseits an die Zuschauer wendet: »So bin ich doch noch Schauspieler geworden, hintenrum. Tschüss!« (Min. 96) Dass Martin durch die Liebe zu einer ›guten Sozialistin‹ und die Erfahrungen mit der Baustellengemeinschaft zu einem vollgültigen ›positiven Helden‹ resp. zu einem geläuterten Schelm geworden ist, vielleicht sogar in nach Lévi-Strauss messianischer Manier, lässt sich durch den globalen Handlungsausgang zwar abschließend unterstellen. Doch der saloppe Schluss lässt sich vielleicht auch auf andere Weise aus dem Schelmennarrativ und dessen immer wieder möglicher finaler Kippfigur heraus interpretieren: Zum einen könnte Martin vor allem um des erreichten individualistischen Liebesglücks willen zumindest nicht sofort wieder in ein neues Abenteuer fliehen, zumal er als ein grundsätzlich optimistischerer Sonnyboy-Schelm gesetzt worden ist. Zum anderen hat das Erreichen des Schauspielerstatus etwas verdächtig Doppelbödiges, denn das Leben nur als Rollenspiel zu verstehen ist ja zutiefst schelmisch. Die neue Theaterschule mit den alten merkwürdigen Gestalten wäre dafür als kleiner parodistischer Rahmen für weiteres Tricksen latent passend, selbst wenn die umgebende sozialistische Welt mytho-logisch wohl als ernsthaft und gut anzusehen wäre. Gerade die ›Leichtigkeit‹ der Komödie AUF DER SONNENSEITE hält so aber womöglich eine kleine Tür in den pikaresk-parodistischen Abgrund offen – bei einem Dreh nach 1965 wäre diese, um im Bild zu bleiben, von den Hardliner-Ideologien vermutlich geraume Zeit nicht einmal mehr einen Spalt breit aufgelassen worden. Das nächste Filmbeispiel datiert nicht ohne Grund auf über ein Jahrzehnt später.

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S OZIALISTISCHE S CHELMENKARRIERE : »N ELKEN A SPIK « (1976)

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Der im September 1976 in Erfurt uraufgeführte, gut besetzte Film nach einem Drehbuch von Kurt Belicke und Günter Reisch unter der Regie des Letzteren erregte zunächst keinen Anstoß bei den ideologischen Hardlinern und erhielt sogar eher Kritiken, die den Film für allzu harmlos und klamaukig befanden, zumal im Vergleich mit der sowjetischen ›exzentrischen Komödie‹, die in manchen Zügen beerbt erscheint.11 Als harmlos-satirischer Unterhaltungsfilm folgte NELKEN IN ASPIK aber nicht zuletzt der Kriminalkomödie EIN LORD AM ALEXANDERPLATZ von 1967 nach, die ebenfalls unter Reisch und Belicke entstanden war.12 Als allerdings in der Folge der Biermann-Ausbürgerung zahlreiche Mitwirkende von NELKEN IN ASPIK, nicht zuletzt der Hauptdarsteller Armin Mueller-Stahl, in Protesthaltungen gegen den Staat gingen, wurde der Film bald wieder aus den Kinos genommen.13 Die Phase der ›Liberalisierung‹ seit dem VIII. Parteitag war auch für diesen Film beendet, der bei aller Harmlosigkeit doch immerhin einen beachtlichen parodistischen Charakter aufweist. Denn während in AUF DER SONNENSEITE weitgehend die Schelmenfigur für sich im Vordergrund steht, erscheint in NELKEN IN ASPIK14 der Trickster, der zwischen Schelm, Narr und Tölpel changiert, stark eingebunden in eine satirische Parodie auf die Staatsideologie zumal in ihrer omnipräsenten floskelhaften Sprache, auf Varianten des Heldennarrativs und nicht zuletzt auf typisch realsozialistische Behörden.

11 Für Grundinformationen zum Film und seiner zeitgenössischen Aufnahme vgl. Habel 2000, S. 433f. Zur benannten sowjetrussischen Filmtradition vgl. einführend etwa Cyrkun 2002; es handelt sich um eine Genre-Erscheinung mit Anfängen in den 1930er Jahren, einer Hochphase in den 1950/60ern und späten Vertretern bis in die 1980er Dekade. Nennenswert sind nach Cyrkun ein anfangs formalistisch-exzentrischer Ansatz und in der Hochphase eine entwickelte Breite grotesker Sujets auch mit schelmischen Helden sowie stark sprachparodistischen Einschlägen. Anregungen könnten Belicke und Reisch etwa bei dem erfolgreichen Leonid Gajdar (vgl. zu diesem ebd., S. 20-23) und seinen Komödien auf realsozialistische Alltagsverhältnisse erhalten haben; dies ist im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter zu verfolgen, aber im Sinne des generellen Vorbildcharakters der UdSSR bemerkenswert. 12 Vgl. EIN LORD AM ALEXANDERPLATZ 2006. 13 Vgl. ebd., S. 434. 14 Vgl. NELKEN IN ASPIK 2008. Auf den Film wird im Folgenden nach dieser DVDAusgabe mit einfachen Zeitangaben in Klammern im Haupttext verwiesen.

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In den Blick genommen werden dabei vornehmlich Institutionen der Konsumwerbung, und im Mittelpunkt steht mit dem Protagonisten Wolfgang Schmidt (Armin Mueller-Stahl) ein Werbezeichner, der überhaupt kein Talent hat, aber durch kompensative sozialistisch-›heroische‹ Tätigkeiten (den BetriebsUnterhalter spielen, in zahlreichen Gremien mitwirken bzw. kollektivistische Ehrenämter ausüben) auffällt und daher sowie aufgrund grotesk-komischer Umstände in eine verantwortliche Position befördert wird (vgl. Min. 0 bis 37). Da er sein berufliches Unvermögen kennt und außerdem gerade frisch verliebt ist, versucht er den neuen Leitungsposten zwar so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Aufgrund unfreiwilliger großer Erfolge und paradoxer Deutungen seiner Handlungen durch Dritte stolpert er jedoch immer höher auf der Karriereleiter. Behördliche Einrichtungen, in denen das möglich ist, und deren eigentlich heroische zu zeichnende ›Planer und Leiter‹ im Allgemeinen sowie die Werbebranche im Besonderen geben dadurch teils selbst ein Bild krasser Inkompetenz ab. Nur mit Ach und Krach kann Schmidt schließlich ein Ende seiner Karriere bewirken, die Branche wechseln und sogar eine Vorzeigefamilie gründen (vgl. Min. 37 bis 91). Den heldenbezogenen Handlungsabläufen kann insgesamt eine klassische fünfaktige Struktur zugrunde gelegt werden, die die folgende Analyse strukturieren soll. Das Figurenspektrum um den Protagonisten und seine Angebetete herum ist sehr breit angelegt, erneut sind die Nebenchargen allerdings (vor allem situations-)komödientypisch bzw. handlungsfunktional gesetzt und werden daher allenfalls im Handlungszusammenhang kurz charakterisiert. Nur exemplarisch ausfallen wird die nachfolgende Analyse außerdem bezüglich der stegreifkomödienmäßigen Komik, die fast alle Situationen bestimmt und die in ihrer bisweilen überbordenden Albernheit auch nicht stets zum interessierenden mythenparodistischen Charakter des Films beiträgt, sondern allenfalls die umfassende ›Narretei‹ des Protagonisten herausstellt. Eine erste Form der Parodie entfaltet der Film durch seinen exzessiven Vorspann mit prologartigen Elementen (vgl. Min. 0 bis 7). Die in der DEFATradition besonders ausführliche Nennung aller an der Produktion Beteiligten wird hier sehr in die Länge gezogen, indem so gut wie jeder Name filmthemengemäß auf einem eigenen Werbeschild präsentiert wird und das zum Teil eingebunden in kleine Handlungssequenzen. Ein Running oder gewissermaßen Cycling Gag für den gesamten Film wird dabei ebenfalls angelegt, da von der ersten Minute (und fast bis zur letzten) ein Fahrradbote durch das Bild radelt, der mit spöttischen Anmerkungen »Nelken in Aspik« (die seltsame Junktur wird späterhin als typisch untauglicher Werbeslogan des Protagonisten für Blumen in modischer durchsichtiger Folie entlarvt) verteilt. Daneben sieht man bereits den Be-

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ginn eines typischen Arbeitsalltags im »Haus der Werbung«, den Wolfgang Schmidt nicht mit der Fortsetzung von Werbezeichnungen beginnt, sondern mit freundlichen, aber auch enervierend hektischen Plaudereien mit den Kolleginnen und Kollegen sowie mit Reflexionen über anstehende ehrenamtliche Aufgaben, also lauter Ablenkungen von seiner basalen Inkompetenz (vgl. Min. 4). Während der närrisch-schelmische Held so gleich in actu begegnet, etabliert der Vorspann/Prolog allerdings auch einen schelmischen Erzähler bzw. Kommentator, der zumindest in neuralgischen Momenten wieder begegnen wird, und zwar handelt es sich um eine Art Alleinunterhalter an der Hammondorgel (Reinhard Lakomy, Verfasser der gesamten Musik des Films), der in satirischmokanter Weise das Geschehen begleitet. Während des Prologs singt er etwa sogleich einen metathematischen Song über das Werbungswesen unter realsozialistischen Bedingungen, etwa mit der offenherzigen kleinen Spitze: »Werbung für den Wartburg / Ist der reinste Hohn, / Willst Du einen kaufen, / Kriegt ihn erst dein Sohn« (Min. 4:30). Aber um das Parodistische des Vorspanns selbst einzufangen: Er reflektiert – mit einem humorigen performativen Widerspruch – auch ausführlich über exzessive Vorspanne von DEFA-Filmen, die die Zuschauer nur langweilen, für die er freilich aus Gründen der individuellen wie sozialistisch kollektivorientierten Würdigung Verständnis hat (vgl. Min 2). Warum der Prolog so selbstironisch ausfällt, ergibt sich schließlich auch dadurch, dass der Film gemäß einer Texteinblendung ein ›gut sozialistisches‹ Geschenk der Filmmacher an die DEFA ist, denn: »Ewig lebe der 30. Jahrestag der DEFA« (Min. 3). Das zweigeteilte Logo DE/FA wird zur Untermalung des parodistischen Charakters der Beglückwünschung sodann wie zwei Fensterläden geöffnet, und zwar von einem Comic-Hasen, der mit weit aufgerissenem Maul wie der MGM-Löwe brüllt. Dass der Film durch einen solchen heiter-frechen Umgang mit der eigenen Branche Spielraum für eine ebenso parodistische Behandlung weiterer Sphären des realsozialistischen Alltags erwirtschaften bzw. sich selbst eine Art Generaldispens vorab erteilen möchte, bezeugt eine zweite, den Vorspann abschließende Texttafel ironischen Charakters: »Dargestellte Betriebe und Institutionen sind nicht identisch mit irgendwelchen Betrieben oder Institutionen der DDR. Die geschilderten Ereignisse könnten sich allenfalls im Bereich des Filmwesens abspielen.« (Min. 7) Vor dieser Einblendung liegt allerdings eine letzte kleine Handlungssequenz, mit der der Prolog inhaltlich zur Haupthandlung übergeht, das heißt: dramaturgisch gesehen bereits zum erregenden Moment. In seinem Dienstwagen fährt Siegfried Huster, der Direktor des Kombinats »Leichte Druckerzeugnisse« heran und ist auf der Suche nach einem neuen leitenden Mitarbeiter für seine Hauptverwaltung. Huster doziert während der Fahrt pseudogelehrt über die gesuchte

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Persönlichkeit (de facto das Gegenteil von Wolfgang Schmidt, vgl. Min. 5) und legt auch dar, wie er sich den Einzelnen und seine Entwicklung sozusagen im Rahmen einer realsozialistischen Straßenverkehrsordnung vorstellt: »Jeder Mensch an sich ist unbegrenzt entwicklungsfähig, wenn er sich an die Vorschriften und an die Zusatzverordnungen hält. Jede persönliche Entwicklung kann bei uns ablaufen wie ein Straßenverkehr auf der Grünen Welle.« (Min. 5:45)

Unmittelbar nach dieser These ›mit Ampelgebung‹ passiert der Wagen jedoch einen Lattenzaun, an dem Wolfgang Schmidt dilettantisch mit Sprühfarbe eine Werbung anbringt – um sogleich die Windschutzscheibe von Husters Wagen rot (!) einzusprühen, ein tollpatschiges und ›ominöses‹ Missgeschick des in diesem Moment für Huster freilich noch völlig Unbekannten. Als parodierter sozialistischer Typus ist der die Handlung in Gang setzende ›Planer und Leiter‹ Huster fernerhin für sich genommen interessant, wird er doch wiederholt als ein (sc. vom Protagonisten eigentlich nicht gewünschter) Deus ex machina tätig und zeigt zugleich selbst eine krasse Unfähigkeit in Werbungsfragen. Er erscheint insofern als Apparatschik-Karikatur der mittleren bis höheren Führungsebene. Den ersten Akt (vgl. Min. 7 bis 18) bildet Husters Visite im »Haus der Werbung«, die damit endigt, dass er just in Wolfgang Schmidt den gesuchten ›Führungskader‹ gefunden zu haben glaubt. Huster nimmt dies zum einen an, weil Schmidt so viele interessante Einträge über diverse Tätigkeiten in seiner Kaderakte hat, mit denen er ein sozialistischer Vorzeige-Kader zu sein verspricht. Die Akte wird ihm von Schmidts Vorgesetzter Kühn freilich nur unter Murren vorgelegt, weil sie dessen eigentliche Inkompetenz kennt. Zum anderen nimmt Huster Schmidt selbst in Augenschein und überzeugt sich von seinen Fähigkeiten, indem er ihn stichprobenartig befragt. Als Clou für eine positive Deutung von Schmidts Reaktion hier wie in der Folge erweist sich, dass der Plapperer erstaunlicherweise schweigt und damit die rechte Antwort zu geben scheint. Er agiert dabei nolens volens schelmisch, weil Huster ihn zuvor erstmals zum Schweigen gebracht hat. Er hat ihm nämlich bei der Begrüßung so sehr die durch eine tollpatschige Selbstverletzung wundgebrannte Hand gedrückt, dass Schmidt sich einen oberen Schneidezahn ausbeißt und nurmehr peinlich zischend sprechen könnte. Den Tipp, durch Schweigen klug zu erscheinen, hat Schmidt im Übrigen von der neuen Abteilungssekretärin Cilly erhalten, in die er sich kurz zuvor in einer melodramatisch-komischen Szene verliebt hat (und sie sich in ihn). Der Handlungsstrang der ›jungen Liebe‹ zwischen Schmidt und seiner Cilly wird im Folgenden allerdings nur berücksichtigt werden, insoweit er mythenparodistisches Potenzial an den Tag legt.

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Die Posse steigert sich wie in einem überlangen bzw. von Schelmenabenteuern zweiten Akt (vgl. Min. 18:30 bis 53) mit mehreren Handlungsschüben, die wieder vornehmlich mit Blick auf Mythenparodistisches und Schelmereien durchgegangen werden sollen. Den ersten Schub erzeugt (nach hier zu vernachlässigenden ›Umwegen‹), dass Schmidt wegen der Zahnlücke zu einem Zahnarzt geht, der anhand einer Röntgenaufnahme eine für ihn sensationelle Entdeckung macht. Im Zahnfleisch nicht nur dieses einen Schneidezahns steckt nämlich die Anlage zu einer dritten Zahngeneration. Parodistisch gefasst wird, wie der Zahnarzt zum einen als Sozialist darüber jubiliert, dass just unter DDR-Bürgern eine solche Besonderheit zu finden ist, und wie er zum anderen als Wissenschaftler Schmidt sofort in einem Hörsaal präsentiert. Flugs zieht er ihm dort noch den zweiten oberen Schneidezahn, damit desto schöner zu beobachten ist, wie die Dritten nachwachsen (vgl. Min. 27). Das wird allerdings seine Zeit brauchen, und so sieht man in der nächsten Szene einen einigermaßen verzweifelten Schmidt im Bad bei der Betrachtung der vergrößerten Lücke. Der Elektrorasierer in der Hand bringt ihn auf die Idee, sich einen kaschierenden Vollbart wachsen zu lassen. Der Tölpel lässt jedoch nebenher den Rasierer am eingesteckten Kabel in die gefüllte Badewanne fallen, greift danach und verpasst sich einen Elektroschock (sc. mit slapstickartiger Wirkung). In einer ärztlichen Untersuchung deklariert er als Gesundheitszustand allerdings vornehmlich eine Depression (vgl. Min 28). Die nächste Szene zeigt ihn daher bei einem selbst klischeehaft leicht irre aussehenden Psychiater, der als Ursache der Depression die Unfähigkeit nach Bedarf zu sprechen erfragt und als Rezept erteilt: »einmal täglich 24 Stunden schweigen« (Min. 29:30). Als sich Schmidt konsequent eine berufliche Auszeit gönnt und angeln geht, kommt alsbald ein Wagen seines Betriebs angefahren, mit dem Cilly nach ihm sucht, weil er am nächsten Tag als stellvertretender Abteilungsleiter anzufangen hat (vgl. Min. 30). Die Szene wechselt zu einer kleinen Feier in seiner alten Wirkungsstätte, mit der man Schmidt verabschiedet, und das in etwas doppelbödiger Weise recht freudig. Im Anschluss fährt Cilly den tapfer schweigsamen Schmidt heim, bringt ihn allerdings zu sich nach Hause, wo sich ihre Liebesverbindung weiter entwickelt, wenn auch mit komödienmäßigen Hindernissen, und zwar vor allem in Gestalt eines von Cilly vorgeschobenen abwesenden Verlobten. Am Ende des Abends landet man nur kurz auf dem Bett, aber immerhin hat Cilly für Schmidt bereits einen neuen Aktenkoffer als Geschenk, mit dem er in der nächsten Szene die neue Arbeitsstelle (die Hauptverwaltung) aufsucht. Er platzt dort – jedoch weiter still – mitten in eine Leitungssitzung, auf der er sogleich eine wichtige Entscheidung treffen soll, indem er zwischen zwei Modellen für den Stand der DDR auf einer Elektronikmesse in San Francisco wählen soll. Schmidt

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kann sich mangels Urteilsvermögen nicht entscheiden und simuliert schelmisch eine kritische Prüfung. Huster interpretiert das jedoch als kühne Ablehnung beider Entwürfe, eine Position, die sich kurz darauf als geradezu visionär, da konform mit der übermittelten Haltung des zuständigen Ministers erweist. Schmidt wird darum sogar selbst auf die Messe geschickt, um dort nach Prüfung der Konkurrenz einen neuen Stand zu entwerfen (vgl. Min. 31 bis 40). Eine entsprechende ›abenteuerliche‹ Handlungssequenz für den Helden beginnt mit einem parodistischen Blick auf den Ostberliner Flughafen Schönefeld, dessen zeitgenössische Erweiterung als systemtypische nicht enden wollende ›Rekonstruktion‹ (so ja der DDR-Ausdruck für Renovierung) auf die Schippe genommen wird. Schmidt und zahlreiche andere Fluggäste müssen vom Haupteingang zum Flugsteig einen verwirrenden Hindernisparcours zurücklegen, um schließlich über eine bloße Gangway von »DDR Air« das neue (noch fensterlose) Abfluggebäude zu erreichen. Im Gebäude selbst wird insbesondere noch an der Elektrik gearbeitet, und als Schmidt im Gewirr Cilly nicht finden kann, die ihn verabschieden will, nutzt er die allgemeine Hektik, um auf die Abflugtafel – eine ansonsten längst nicht funktionstüchtige ›neueste Errungenschaft‹ – eine Liebeserklärung zu fabrizieren und so auf sich aufmerksam zu machen. Das entscheidende Moment dieses ›gut sozialistischen‹ Chaos ergibt sich allerdings, als Schmidt erfahren muss, dass er in San Francisco nicht die Bauteile und Exponate für die Elektronikmesse vorfinden wird, sondern eine Puppenbühne mit den Figuren der DDR-Sandmännchen-Sendung. Der zugehörige Puppenspieler, ein stark sächselnder kleiner Spaßmacher, dem Schmidt noch auf dem Flughafen begegnet, ist unterdessen auf dem Weg zu einer Puppenspielmesse in Tokio, wo er Schmidts Materialien vorfinden wird (vgl. Min. 40:30 bis 45). Die nächste Szene zeigt einen in San Francisco über die Messeflure schlendernden reichen Viehzüchter (!) aus Texas in einem weißen Anzug mit Cowboyhut und gespornten Stiefel, »W.W. Fitzgerald« (Min. 46), dessen Näherkommen von Schmidts Stimme aus dem Off ehrfürchtig kommentiert wird, denn er habe sich bereits in Leipzig (sc. auf der dortigen Messe) für DDR-Computer interessiert. Ihm, aber auch einem großen Schaupublikum preist Schmidt die Elektronikprodukte seines Landes freilich überaus albern mithilfe einer großen Puppenbühne und den von ihm eifrig und natürlich dilettantisch in Gang gesetzten Figuren Sandmännchen, Pittiplatsch, Fuchs und Schnatterinchen an; dabei kommt zumindest einige Budenzauber-Technik zum Einsatz. Die Belustigung des Publikums ist kindlich groß, das Sandmann-Lied wird mitgesungen, und ein begeisterter Fitzgerald ordert im Anschluss bei Schmidt Hundertausende Puppen. Schmidt ist darüber zwar etwas in seinem sozialistischen Stolz gekränkt, da es nicht mehr um Computer geht, aber ein Erfolg ist immerhin zu verzeichnen,

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und durch sein fortgesetztes Schweigen erscheint er zudem als beeindruckend harter Verhandler. In Ostberlin zeigt sich Huster sogar derartig beeindruckt über die Aufträge, dass er Schmidt mitteilt, er habe seine alte Vorgesetzte Kühn aus dem Amt gelobt und Schmidt leite nun selbst das ganze »Haus für Werbung« – der Schelm steigt also nochmals höher auf der sozialistischen Karriereleiter (vgl. Min. 45 bis 53). Dass sein Erfolg potenziell ein recht peinliches Licht auf die DDR als Exportland in der westlichen Welt wirft, versucht die Parodie als Bild dabei wohl etwas zu kaschieren, indem der Blick eher auf den etwas dümmlichen US-Kapitalisten und ein leicht zu manipulierendes Messepublikum gelenkt wird. Der kurze dritte Akt der Komödie (vgl. Min. 54 bis 68) beginnt mit Schmidts Wirken als Werbehaus-Direktor, der weiterhin erfolgreich durch scheinbar führungskompetentes Schweigen agiert. Um die eigentlich überfordernde Position loszuwerden, berät er sich allerdings mit seinem Psychiater, der ihm vorschlägt, seine Institution durch Rationalisierungsmaßnahmen auf der Leitungsebene so zu ›verschlanken‹, dass er vor allem seine eigene Stelle wegrationalisieren kann (vgl. Min. 55). Schmidt setzt diesen Plan sofort um und beginnt bereits wieder als einfacher Zeichner in seiner alten Abteilung zu wirken, doch erneut hat der tölpelhafte Trickster schon das Gegenteil erreicht. An der ministerialen Spitze ist man von seiner ökonomischen Maßnahme und den vorherigen Erfolgen so beeindruckt, dass er kurz darauf von Huster zum Leiter eines neu eingerichteten zentralen Werbekombinats ernannt wird (vgl. Min. 56). Ein schier verzweifelter Schelm erhält daraufhin von seinem Psychiater den Rat, sich durch einen kompletten Stopp der Tätigkeit des Kombinats unmöglich zu machen: »Arbeit einstellen, klares Weiß« (Min. 62). Aus dem Schlagwort ›Weiß‹ als metaphorischer Opposition zur Buntheit der Werbung macht Schmidt allerdings eine »weiße Werbewoche« (Min. 64), das heißt: Jegliche Werbung wird nicht nur eingestellt, sondern es wird ein ostentatives Weiß an die Stelle gesetzt. Die Öffentlichkeit ist erst erstaunt, dann aber erkennbar begeistert – was werden da Schmidts Vorgesetzte sagen? Der Höhe- und dann auch Wendepunkt ist erreicht (Min. 68). Den gewünschten Abschluss des gesamten Karriere-Abenteuers bringt die nächste Handlungssequenz, gleichsam der vierte Akt (vgl. Min. 68:30 bis 79), jedoch wiederum nicht. Zunächst rügt Huster Schmidt zwar ›gut sozialistisch‹ wegen »Bonapartismus« und »nicht abgestimmte[r] Initiative« (Min. 72), dann holt er jedoch Cognac aus seinem Aktenkoffer und bietet ihm das Du an, so begeistert ist er immer noch von seinem Schützling. Im Rahmen eines gemeinsamen Besäufnisses setzt Schmidt dann zunächst seine baldige Ablösung durch, doch kurz darauf verkündigt Huster zu Schmidts Entsetzen pathetisch, sie machten zusammen weiter, »bis dass der Tod uns scheidet« (Min. 79). Diese bedeu-

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tungsvolle Ankündigung konterkariert zudem Schmidts und Cillys Wunsch, nach der Ablösung ein gemeinsames Leben zu beginnen. Ihr hatte Schmidt auch bereits gestanden, dass er nur wegen der Zahnlücke geschwiegen hatte, was sich jetzt erledigt, weil die dritten Zähne endlich durchbrechen (vgl. bereits Min. 68:30 bis 70). Der fünfte Akt (vgl. Min. 80 bis 86) scheint statt einem Komödienende, also einer Hochzeit des Protagonisten, eine katastrophische Verzweiflungstat zu bringen, denn als Erstes sieht man, wie sich Schmidt mit einem »Adieu« an die Welt am Abend (sc. schlecht) theatralisch zur letzten Ruhe auf ein Bahngleis bettet und wie dann alsbald ein Zug heran- und vorüberrollt. In einem Abteil des Zugs sitzt sodann Schmidts leicht irre feixender Psychiater, der bei einem Holperer des Waggons davon ausgeht, dass da wohl jemand auf den Gleisen gelegen haben muss (vgl. Min. 80f.). Die nächste Einstellung zeigt freilich einen sich ausgeschlafen streckenden Schmidt, der zwar zunächst erschrocken ein scheinbar durch ihn vom Gleis geworfenes Zugwrack vor sich sieht, der dann aber feststellt, dass er auf einem winzigen Abstellgleis zwischen zwei Absperrungen genächtigt hat (vgl. Min. 82f.). Dann läuft ein kleiner sprechender (!) Hund vor ihn und ermutigt ihn weiter zu leben, was Schmidt jetzt überaus gerne tut, weil er entdeckt, dass die dritten Zähne endlich da sind und er wieder nach Wunsch plappern kann. Das übt er sogleich fleißig, und zwar nicht zuletzt, indem er sein Direktorenbüro stürmt und mit einer Kaskade sozialistischer Floskeln seine wahre Inkompetenz zur Schau stellt. Die nächste Szene zeigt ihn sowie seine Weggefährten Huster, Cilly und die alte Vorgesetzte Kühn entsprechend dem Vorangegangenen bei einer Generalabmahnung im »Roten Haus« (de facto das Rote Rathaus von Berlin, hier aber vermutlich als Sitz der Werbe-Hauptverwaltung in Szene gesetzt; vgl. Min. 84), auf die hin alle rasch wieder von dannen ziehen. Huster tut dies bezeichnenderweise nicht mit seinem Dienstwagen, sondern mit dem kleinen Klapprad, mit dem Cilly zu dem Termin gekommen war. Die höhere bzw. höchste Leitungsebene hat also ›weise‹ sozialistisch alles gerichtet und wird vom die Handlung begleitenden Sänger Lakomy bestätigt; sein Lied über den Aufstieg und notwendigen Abstieg eines Ungeeigneten untermalt die ganze, ansonsten tonlose Szene im Roten Haus (vgl. Min. 84 bis 86). Als Signal für die Beendigung des von Huster ermöglichten ›Abenteuers‹ des Schelmen zeigt die Kamera außerdem, wie vom »Haus der Werbung« das Signet »Z[entrales] W[erbe-] K[ombinat]« ab- und der Name einer neuen Institution anmontiert wird. Ein »Zentralinstitut für Früherkennung von Fehlentwicklungen« (Min. 86) tritt an die Stelle und soll wohl nicht zuletzt weitere Schelmen-Karrieren verhindern – für die zeitgenössischen Zuschauer vermutlich eine ›gut sozialistische‹ Maßnahme, die ihrerseits parodistisch inszeniert erscheint.

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Einen epilogartigen, zugleich schelmenberichtmäßigen Abschluss mit Blick auf den Protagonisten leitet wiederum der Sänger-Erzähler ein, indem er sich aus dem Off unmittelbar ans Kinopublikum wendet: »Nein, bitte behalten Sie noch Platz! Eine Geschichte ohne Perspektive, das werden Sie sich und uns doch nicht zumuten.« (Min. 87) Offensichtlich wird auf die sozialistisch-realistische ›positive Handlungsperspektive‹ angespielt, ohne die der Film nicht ausgehen kann und soll. Das poetikgemäße Zeigen einer solchen Perspektive rundet die Mythenparodie ab, wobei Erzähler und Zuschauer hier eine augenzwinkernde Gemeinschaft bilden, die die Pflichtübung über sich ergehen lässt. Die Perspektive besteht allerdings in zweierlei: Zum einen sieht man Schmidt, Cilly und vier adrette Kinder »fünf Jährchen später ...« (Min. 87) aus einem großen Plattenbau, damals ja noch Signum neuen Wohnglücks schlechthin, treten, eine ordentliche sozialistische Familie befindet sich auf dem Weg zum Tagwerk. Dazu kommentiert Lakomy allerdings noch einmal in der Gesamtrückschau und mit (sc. parodiert wirkender) ›gut sozialistischer‹ Fortschrittsemphase: »Was Sie jetzt sahen, war natürlich ein einmaliger Fall, nicht gesetzmäßig. Was die vielen Millionen Lehrgangsteilnehmer unseres Landes gewiss bestätigen können. Also die Schmidts heute. [...] Heute ist Ähnliches gar nicht mehr möglich.« (Ebd.)

Schmidt, der eine zunächst etwas irritierende Kapitänsuniform trägt, erweist sich in der nächsten Szene sozusagen endlich passend eingesetzt, da er als Stadtführer in einem Touristenbus wirken, das heißt: entsprechend seinem Naturell schnell plappern und mit reichlich sozialistischen Floskeln die ›Hauptstadt der DDR‹ vorstellen darf. Zum anderen aber, was die ›Perspektive‹ betrifft, sitzen in Schmidts aktuellem Bus versehentlich zwei staatliche Kaderleiter, also höherrangige Personaler, die von Schmidt zutiefst begeistert sind, weil er mit in ihren Augen anspruchsvollen ideologischen Redewendungen zu parlieren weiß, besonders beeindruckt sind sie etwa von der »Frage nach der Rolle der Bedeutung« (Min. 88), von der Schmidt immer wieder spricht. Da es sich hierbei um eine völlige Leerformel, also eine Wendung ohne konkreten Bezug, handelt, entlarvt der Film ein letztes Mal in parodistischer Weise, mit was für ›Leistungen‹ man im Realsozialismus hervorstechen kann. In Schelmenbericht-typischer Weise deutet sich insofern unversehens auch nochmals eine neue Abenteuer-Runde für Schmidt an, denn die Personaler überlegen sofort, wie Schmidt höherrangig einzusetzen sei (vgl. Min. 89). In der Gesamtschau lässt sich festhalten: Mag der Staat auf den höchsten institutionellen Ebenen auf ernstzunehmende Weise sozialistisch funktionieren und nur echte Heroen zulassen, wie der Termin im Roten Haus wohl klarstellen soll;

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auf vielen Ebenen darunter sind Verhältnisse vorzufinden, in denen entweder Menschen mit närrisch-schelmischem Verhalten gut durch- bzw. sogar als Pseudoheroen hochkommen oder in denen ›Planer und Leiter‹ schalten und walten, die von Schelmen, Narren oder Tölpeln leicht zu blenden sind. Beide Typi und die unteren bis mittleren Institutionen, in deren Rahmen sie agieren, erscheinen daher immer wieder wie Parodien auf die ideologisch propagierte Ordnung und ihre Mytheme. So viel Selbstreflexion war 1976 in einer humoristisch-leichten Manier immerhin möglich (zumindest für diesen Film allerdings auch nur einige Monate, siehe die einleitenden Bemerkungen zu selbigem). Und außerdem: Genau eine solche Reflexion fand zugleich als eine Art letzte Stufe der sozialistischen mytho-logischen Narration und auch bereits geraume Zeit nach dem Versiegen ›ernsthafter‹ Heldennarrativ-Variationen statt. Nach der ideologisch erzwungenen Erstarrung des Heldennarrativs (vgl. bereits abschließend in den Abschnitten II und III der vorliegenden Studie zu der quasi verunmöglichten Entwicklung nach 1965) blieb vielleicht auch nur die Parodie als ›Nutzungsform‹ übrig – keine absolut destruktive immerhin, denn sie geht zwar ›schelmisch‹ mit zentralen Elementen des Mythos um, die höchsten Gesellschaftsebenen und damit die Letztbegründung scheint sie jedoch nicht infrage stellen zu sollen.

Schlussreflexion: Dennoch (nicht mehr)

»Brauchen wir einen neuen Mythos?«1 lautete die Titelfrage eines 1987 von Niklas Luhmann veröffentlichten Aufsatzes. Es überrascht nicht, dass der ›soziologische Aufklärer‹2 für unsere heutige Welt keine positive Antwort gibt, wenn er die spezifische Leistungsfähigkeit von Mythen bewertet. Er geht zwar von einem allgemein menschlichen Bedürfnis nach »Entparadoxierung«3 der wahrgenommenen Welt aus, auf das die alten Mythen jedoch mit einem Verfahren reagierten, das in der evolutionierten, binär codierenden Kommunikationsgesellschaft von heute nicht mehr in der ursprünglichen Ganzheitlichkeit wirken kann und somit für Luhmann ähnlich obsolet geworden ist wie das verwandte Sinngebungsverfahren von Religionen.4 Als die vier wesent lichen »Merkmale mythischer Entparadoxierung« sieht er an: erstens ein schlichtes Analogieverfahren »zur Abdämpfung einer kognitiv nicht erfaßbaren Welt, zur Wiedereinführung der Unterscheidung von vertraut/unvertraut in die vertraute Welt und zur alternativen oder kumulativen Verwendung in Situationen«; dabei wurde, zweitens, durch Metaphorik ein »zweites Reich dicht über bzw. unter der Erde [gebildet], das im Verhältnis zur Sequenz Alltagserfahrung in der Form von Analogie zugleich Differenz und Identität, Unverwechselbarkeit und Entsprechung behauptet«; unterstützend genutzt wurden, drittens, Rituale und Tabus, die eine konkret »verhaltensleitende Bedeutung« hatten, wo der Mythos selbst nur eine rahmende Beschreibung lieferte; diese Beschreibung wiederum organisierte der Mythos in Form von »Erzählung« als Entpa-

1

Vgl. mittlerweile Luhmann 2009, S. 269-290.

2

Vgl. den entsprechenden Gesamttitel von Luhmann 2009: Soziologische Aufklärung

3

Ebd., S. 278 u.ö.

4

Vgl. pointiert ebd., S. 284-287.

(Bd. 4).

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radoxierungstechnik durch »Verschiebung des Problems in ein plausibles Nacheinander« sowie in eine spezifische Raumsituation.5 In der in jedem Punkt komplexeren Kommunikationssituation von heute könnten, allenfalls, entsprechende »mythenartige Semantiken wie Subkulturen gepflegt werden«6, eine Positionierung, die freilich der holistischen Ursprungssituation von Mythenbildungen widerspreche bzw. »als gesellschaftlich beobachtete Absonderlichkeit eine völlig andere Qualität als der Mythos älterer Gesellschaften« habe. Es ließe sich nurmehr von einem je »gruppenspezifische[n] Mythos« sprechen, der von anderen als eine »›Weltanschauung‹ zugerechnet« werde. Was der alte Mythos noch leisten sollte und für archaische Gesellschaften auch vermochte, stellt Luhmann schließlich für Moderne und Postmoderne dezidiert in Abrede: »Weder empirisch noch theoretisch haben wir [...] Hinweise darauf, daß auf diese Weise eine Definition der Welt gelingen könnte, die dem heutigen Menschen seinen Platz zuweist.«7 Die Platz-Zuweisung entspräche letztlich ja einer umfassenden Entparadoxierung mit Bezug auf die »Zentralprobleme der modernen Gesellschaft«. Da diese auf mytho-logischem Weg nicht mit der ansonsten erreichten kommunikativen »Genauigkeit« anzugehen sind und die für ihn nur so genannte »neue Mythologie« von vornherein defizient ist, verharrt der ›soziologische Aufklärer‹ sozusagen in ehrlicher Aporie, sprich: »Halten wir es lieber noch eine Weile mit dem Problem aus!«8 Gemessen an dieser Analyse, die sich in vielem übrigens an Blumenbergs Vorstellung von ›Grundmythen‹ orientiert, aber dessen ›Kunstmythen‹-Perspektive gewissermaßen stark relativiert (und auch eine ›Arbeit am Mythos‹ mehrfach explizit verwirft9), erscheint das mytho-logische Bemühen sozialistischer Provenienz kategorial heillos, zumal in seinem Anspruch auf umfassende Akzeptanz. Es steht jedoch de facto zugleich in einer großen Reihe moderner ›Kunstmythen‹ mit eigenen Stabilisierungsfaktoren10 sowie nicht zuletzt von gesellschaftspolitischen Mythenbildungen der Moderne, wie sie die neuere politologische Forschung beobachtet und als nahezu ubiquitäre Ideologie-unterstützende Verfahren erkennt.11 Die

5

Ebd., S. 281-283.

6

Ebd., S. 286.

7

Alle letzten Zitate ebd., S. 287.

8

Ebd., S. 283.

9

Vgl. am dezidiertesten ebd., S. 279f.

10 Vgl. hierzu jüngst: Inflation der Mythen 2016. 11 Vgl. aus der reichhaltigen neueren politologischen Forschung zunächst als grundlegend Flood 1996 sowie etwa Bizeul 2006 für allgemeine Fragen des Verhältnisses von Mythen, Ideologie und Utopie; vgl. sodann z.B. Tepe 2006 für ein besonders komple-

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großen Ideologien der Moderne mit ihrem oftmals quasireligiösen Impetus versuchen ja auch eine dekomplexivierte Geschlossenheit und Totalität der Weltbeschreibung zu erreichen, für die verschiedene Mytho-Logiken durchaus in Luhmanns Sinn als metaphorisch-narrative Entparadoxierungsstrategien in einer nahen Parallelwelt vonnutzen sind. Die Ausblendung störender externer Beobachtungen zählt dabei bekanntlich zu den Grundbemühungen der Ideologien. Allen gemeinsam ist letztlich implizit ein großes Dennoch gegenüber in klassischem Sinne aufklärerischen Absagen à la Luhmann. Die in der vorliegenden Studie analysierten sozialistischen Mytho-Logiken stellen insofern ein vielleicht besonders umfassendes Bemühen dieser Art dar, das mit seinem Dennoch geraume Zeit zumindest Ideologie-subjektiv recht erfolgreich verfahren ist, dann jedoch aus spezifischen Gründen scheiterte. Das besondere Selbstbewusstsein der sozialistischen Ideologen ergab sich dabei durch das Vertrauen auf die eigene ›Wissenschaftlichkeit‹, sprich: eine gemäß Luhmanns Modernitätspostulat genaue, sogar besonders streng binär codierende Weltbeobachtung, auf der auch die mythischen Unterstützungsverfahren bzw. das sozialistische Heldennarrativ mit seinem kollektivistischen ›Glutkern‹ (nach Adorno) gut abgesichert aufsetzen können sollte. Es soll an dieser Stelle nicht im Detail rekapituliert werden, welche Ausprägungen das sozialistische Heldennarrativ mytho-logisch nach Blumenberg, Barthes und Lévi-Strauss sowie in schelmischer Parodisierung chronologisch und systematisch gezeitigt hat. Doch mag in der Gesamtschau der Mytho-Logiken festgestellt werden, dass dieser ‚Mythos auf wissenschaftlicher Basis’ eine ganzheitliche Gesellschaftsnorm zu etablieren und dann natürlich auch zu erhalten helfen sollte. Dies geschah, indem (I., nach Blumenberg) eine basale, anthropologische Furcht propagiert wurde, für die freilich die sozialistischen Heroen Abwehr versprachen, und diese Junktur sollte mit variativen Narrationen stabilisiert werden. Das sozialistische Heldennarrativ konnte in politisch-strukturalistischer Perspektive (II., nach Barthes) zugleich der eigenen Naturalisierung und ›Bereicherung‹

xes theoretisches Bemühen auf der Basis von dessen literarisch-mythologischen Arbeiten; für einen historisch konkreten Überblick für den deutschsprachigen Raum vgl. Münkler 2009 sowie für Reflexionen und Fallstudien in europäischer Dimension Mythos 3 (2011); für Bezugnahmen auch auf neueste utopistische und mythisierende Narrationen vgl. Rohgalf 2015 und für einen metathematischen Forschungsüberblick Camić 2011; mit spezifischem DDR-Bezug vgl. Zimmering 2000 (zu Antifaschismus, Bauernkrieg/Reformation und Preußenmythos).

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der Ideologie im Konkurrenzverfahren mit ›bürgerlichen‹ Alltagsmythen dienen. Im Weiteren erschien die zentrale Variations- bzw. ›Bereicherungs‹-Problematik von Kollektiv-Heroismus und Individualität gleichsam in struktural figurierten Vermittlungsformen auf anthropologischer Basis verhandelt, Vermittlungsformen, die zuletzt sogar in parodistischen Versionen begegneten (III. und IV., nach Lévi-Strauss). Es scheiterten jedoch einerseits bekanntermaßen die Ideologie als solche an unzureichenden (ökonomistischen, anti-individualistischen) Problemlösungsverfahren12 und andererseits deren Mytho-Logiken. Letztere spiegelten in ihrem Scheitern die gesamtideologischen Aporien, erreichten aber auch eigene neuralgische Punkte bzw. narrative Konstellationen, an denen eine sie selbst stabilisierende Weiterentwicklung (Variation, ›Bereicherung‹, Vermittlung) nicht mehr möglich erschien. Wie in den vorangehenden Abschnitten der vorliegenden Studie bereits reflektiert, handelte es sich, je nach mytho-logischer Perspektive, sowohl um narrative Differenzierungseffekte als auch um deren Gegenteil. Gescheitert sind die betrachteten Narrationen womöglich gleichermaßen an dem weiterentwickelten und dem unterbundenen Bemühen, von (kollektivistischen) Heroen und (sozialistischen) Individuen zu erzählen. Im Einzelnen bedeutete dies, dass, erstens, eine an sich unabdingbare Variantenbildung gemäß Blumenberg nach 1960 zugleich eine Destabilisierung beförderte, und zwar grob gesagt, weil die individualitätsorientierten Varianten in zunehmendem Maße nicht-marginal bzw. mit dem kollektivistischen ›Glutkern‹ konform genug gewesen sind. Nach Barthes ließ sich, zweitens, bei den Differenzierungen auch von einer ›Bereicherung‹ um ein individuales Humanum sprechen. Das Heldennarrativ geriet damit jedoch letztlich in die Nähe des genuinen Individualismus der ›bürgerlichen‹ Moderne, und mit diesem Re-Entry hatte der ›bürgerliche‹ den sozialistischen Mythos gleichsam latent wieder eingeholt und ›entmachtet‹. Nur mit deutlich mehr temporalem und narrativem Spielraum hätten DDR-Literatur und DEFA-Film vielleicht ein eigenes individualsozialistisches Heldennarrativ zu entfalten und in abgrenzender Weise zu stabilisieren vermocht. Dabei wäre, drittens, die mytho-logische Unabschließbarkeit dieser Gegensatzvermittlung (nach Lévi-Strauss) freilich nie zu überwinden gewesen; die schelmisch-parodistischen Varianten belegen dies auf ihre Weise. Was demgegenüber die Seite der Unterbindung betrifft: Die auch aus den obigen ›Gefährdungen‹ bzw. Unwägbarkeiten heraus oktroyierte Stillstellung des Heldennarrativs (in der Folge des ›Kahlschlagplenums‹ Ende 1965) verhinderte ei-

12 Zum historischen Scheitern, aber auch einem zukunftsträchtigen Reformulierungspotenzial des Sozialismus vgl. jüngst Honneth 2015.

S CHLUSSREFLEXION

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ne experimentelle Weiterentwicklung sowieso in jeglicher Perspektive und machte es auf diese Weise zunehmend schlicht gegenwartsuntauglich. Insbesondere diese Verpflichtung auf Invarianz hat denn auch wesentlich dazu geführt, dass die mangelnde Problemlösungskompetenz des Heldennarrativs eklatant wurde. Luhmanns kategoriale Absage bestätigt sich an diesem Punkt ohne Zweifel, die analysierten Mytho-Logiken in Filmkunst und Prosaliteratur aus der Zeit davor (und auch noch etwa im Nachklapp) bezeugen aber ›dennoch‹ ein avancierteres Bemühen, als es systemtheoretisch postuliert wird. Ernste Schlussanekdote: Wie sich das gescheiterte sozialistische Heldennarrativ, wie sich der Mythos vom ›neuen Menschen‹ aus der Literatur der DDR an deren faktischem Ende noch einmal verabschiedet, imaginierte 1990 Volker Braun markant mit einem paradigmatischen kleinen Text, der sozusagen einen allerletzten Arbeiterhelden in Szene setzt. Dieser steht in einer annähernd apokalyptischen Trümmerszene mit »Spuren heroischer Tätigkeit«13 und reflektiert die Trostlosigkeit der Nach-Wende-Zeit, in der er verdammt ist, handfest und brutal an der Beseitigung seines alten Arbeitsbereichs mitzuwirken. Er steht bei der Reflexion zunächst als »sein eigenes Denkmal«14 da, dann jedoch, »auffahrend aus seiner antikischen Haltung«15, entmannt er sich mit seinem Spaten und kippt voller Schmerz, aber – für »eine Sekunde«16 – wie befreit nach vorn auf den Boden. Was bleibt bzw. kommen wird, wirkt wie ein neues mytho-logisches Chaos.17 Für den zum sozialistischen Apokalyptiker gewordenen Volker Braun erscheint der sozialistische Heros gemäß dem Titel des kleinen Prosatexts in einen »Antikensaal« verbannt und damit mytho-logisch wohl ›erledigt‹ – vielleicht schwingt aber auch ein klein wenig Hoffnung auf einen Grundmythos-artigen Erhalt desselben genau dort mit.18

13 Braun 1992, S. 30. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 32. 16 Ebd. 17 Vgl. ebd., S. 33. 18 »Antikensammlung« erschien als letztes Stück des Bands Iphigenie in Freiheit (Braun 1992). Dessen Applikationen des mykenischen Sagenkreises auf den Untergang der DDR und ihres Weltbilds legen freilich noch eine andere Erkenntnis nahe: Wenn ein neuer Mythos ausgedient hat, stehen gleich die starken alten wieder parat. Aber dieses bereits geraume Zeit vor dem Ende der DDR und ihrer ideologisierten Kultur zu beobachtende Phänomen wäre Gegenstand einer anderen Untersuchung.

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L ITERATURVERZEICHNIS

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Literaturwissenschaft Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)

Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3

Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)

Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2

Stefan Hajduk

Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 € (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8

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Literaturwissenschaft Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)

Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3078-7 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1

Tanja Pröbstl

Zerstörte Sprache — gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3179-1 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 2: Transiträume 2016, 220 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3567-6 E-Book PDF: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3567-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de