Literaturbetrieb. Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft 9783770552962

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Literaturbetrieb. Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft
 9783770552962

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Theisohn, Weder (Hrsg.) Literaturbetrieb

Philipp Theisohn, Christine Weder (Hrsg.)

Literaturbetrieb Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft

Wilhelm Fink

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Mercator Schweiz sowie der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich Umschlagabbildung: Neuer Setzersaal der Buchdruckerei Stämpfli in Bern, aus: Hans Bloesch, Die Buchdruckerei Stämpfli in Bern 1799–1924. Denkschrift zum 125jährigen Bestehen des Hauses, Bern 1924, Kunstdruckbeilage, o. S.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2013 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5296-2

Inhaltsverzeichnis Philipp Theisohn/Christine Weder Literatur als/statt Betrieb – Einleitung ..........................................................

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Exponenten des Betriebs Angelika Overath Aporien der Gefälligkeit .............................................................................

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David Marc Hoffmann Das prosaische Verlagsgeschäft – ein Praxisbericht .........................................

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Alexandra kedves Ist das Feuilleton relevant für die Entstehung guter Bücher? ..........................

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Barbara Basting Das Ende der Kritik, wie wir sie kannten ......................................................

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Anja Johannsen Stroh zu Gold oder Gold zu Stroh? Zur Ambivalenz öffentlicher Autorenlesungen..............................................

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Irmgard M. Wirtz Der Eigensinn der Nachlässe. Zur Poetik des Archivs .................................................................................

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Werner Stauffacher Braucht der Literaturbetrieb ein Urheberrecht? .............................................

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Anna Auguscik Lost in Translation: Literaturpreise im nationalen Literaturbetrieb ...............................................

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Geschichte(n) des Betriebs Olaf Simons Literaturbetrieb – ein Konzept staatsnaher Auseinandersetzung mit Literatur? ........................... 115 Alexander Honold Das zweite Buch. Der Autor als Markenzeichen ...................................................................... 133

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| Inhaltsverzeichnis

Edith Anna Kunz Der andere Goethe: Die Maskenzüge als Auftragsdichtung für den Weimarer Hof ........................ 155 Reto Sorg »Wir leben in plakätischen Zeiten.« Robert Walser und der Literaturbetrieb seiner Zeit ....................................... 167 Karl Wagner Der Großschriftsteller. Robert Musils projektierter Versuch über den Ruhm..................................... 187 Heinz Drügh Simple Sätze. Überlegungen zu Max Goldts (de-)emphatischer Ästhetik ............................. 197 Andreas B. Kilcher Kafka im Betrieb. Eine kritische Analyse des Streits um Kafkas Nachlass.................................... 213 Ute Schneider Literatur auf dem Markt – Kommunikation, Aufmerksamkeit, Inszenierung .......................................... 235 Die Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes ....................................... 249

Philipp Theisohn und Christine Weder

Literatur als/statt Betrieb – Einleitung 1.

Die Warengestalt der Literatur

»Der alte Buchhandel besaß, ich will nicht sagen mehr Geld, aber ein wenig mehr Stolz als der jetzige. Mit verschränkten Armen stand er an der Thüre seines Ladens, noch lockten keine Plakate und große Kupferwerke an den Aushängefenstern das vorübergehende Publikum, der alte Buchhandel griff die Leute nicht gewaltsam an.«1 Damit ist es vorbei, wie Karl Ferdinand Gutzkow 1836 unter der Überschrift Literarische Industrie sinniert. Warum ist es vorbei? Gutzkows Antwort lautet: »Die Journalistik hat den alten Buchhandel zu Grund gerichtet; denn die Journale veranlaßten die Lesezirkel und die Lesezirkel absorbirten die Kauflust der Privatleute. So wurden denn zwei Dinge nothwendig: neue Käufer zu gewinnen und die Waare selbst von Außen in eine andere Gestalt zu bringen.«2 Wer von der ›Poetik des Literaturbetriebs‹ sprechen will, muss von dieser ›anderen Gestalt‹ ausgehen, die Gutzkow beschwört. In der Tat: Man wird nicht bezweifeln können, dass die Gestaltung von Literatur als »Waare« und ihre Einbindung in einen expandierenden, ›angriffigen‹ Markt auch für die poetische Verfassung der Literatur Folgen haben muss. Wenn Hegel 1820 in den Grundlinien der Philosophie des Rechts konstatiert, der »allergrößte Teil der deutschen Literatur« sei mittlerweile »Fabrikwesen, bare Industrie geworden«,3 dann nährt dies den pessimistischen Verdacht, dass der Anfang des Literaturbetriebs mit einer Art ›Ende der Kunst‹ zusammenhängen könnte. Und selbst wenn wir einräumen, dass sowohl Hegels Diagnose der literarischen Industrialisierung wie auch Gutzkows Lamento über die Überschwemmung der Belletristik durch die »Pfennigliteratur«, dass das messianische Hoffen auf das Genie, »das mitten unter den Papierfluten der literarischen Fabrikation um die Anerkennung unbekümmert bleiben« würde,4 ja: dass die ganze Diskreditierung der literarischen Warengestalt zweifellos von der Selbstwahrnehmung der Nachgoethezeit und der Kategorie der Epigonalität mitgetragen wird,5 – selbst dann scheint die Gleichung von literarischer Marktfähigkeit und literarischer Kunstlosig1 2 3

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Karl Ferdinand Gutzkow, »Literarische Industrie«, in: ders., Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur, 2 Bde., Stuttgart 1836, Bd. I, S. 1–22, hier S. 1. Ebd., S. 2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1820, vordatiert auf 1821], in: ders., Werke, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, 20 Bde., Frankfurt a. M. 1979, Bd. 7, S. 150. Gutzkow, »Literarische Industrie« (wie Anm. 1), S. 22. Zum mentalitätsgeschichtlichen Einschnitt der Betriebswahrnehmung vgl. den von Christian Liedtke herausgegebenen Band zu Literaturbetrieb und Verlagswesen im Vormärz, Bielefeld 2011, darin bes. den Beitrag von Christoph Schmitt-Maaß, »›Ein nothwendiges Product dieser Zeit und

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| Philipp Theisohn und Christine Weder

keit bis heute eine intuitive Plausibilität zu besitzen. Die Formen, in denen uns diese Korrelation nahe gebracht wird, haben sich verändert, und Gutzkows unindustrialisierbares Ingenium mag der Einsicht gewichen sein, dass niemand dem Betrieb entflieht, der womöglich »eine Krätze« ist, »die man keinesfalls wieder loskriegen« kann, wie es Wolfgang Hilbig im Roman Das Provisorium (2000) den Schriftsteller C., ein von Schreibhemmungen geplagter »Angestellter des Literaturbetriebs«, formulieren lässt.6 Auch wird das negative Verhältnis nicht fraglos hingenommen, wie etwa der Titel einer Diskussion im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft zeigt: Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? – so wird in Anknüpfung an jene finstere Diagnose gefragt, die der im Juni 2007 verstorbene Hilbig dem westdeutschen Literaturbetrieb mit seinem Protagonisten gestellt hat.7 Die Antworten sind verschieden, beleuchten Rolle und Funktion des Betriebs mit Blick auf die gegenwärtige literarische Produktion durchaus ambivalent. Dennoch wird bezeichnenderweise zunächst nach dem Verderben gefragt, und generell tauchen immer wieder neue Versionen der negativen Korrelation auf, gegenwärtig nicht zuletzt in literarischer Form; als jüngste Beispiele seien hier nur Thomas Glavinics Das bin doch ich (2007) und Rainald Goetz’ Loslabern (2008) genannt.8 Suggeriert wird, Betrieblichkeit korrumpiere die Literatur, auch und gerade wenn diese Korrumpierung selbst offenbar glänzend literarisierbar ist. Eine poetologische9 Auslotung des Literaturbetriebs kann dieser Suggestion nicht blind folgen, deren historische Ausgestaltungen, Gründe und Effekte sich jedoch im Einzelnen zu verfolgen lohnen würde. Der analytische Blick basiert vielmehr auf einem Zweifel an der uneingeschränkten Gültigkeit der Opposition von ›Literatur‹ und ›Betrieb‹, einem Zweifel, der sich durchaus seinerseits historisch begründen lässt. So konstatiert etwa – noch vor Hegels Verdikt zur Industrialisierung des Geistes – das 367. Athenäumsfragment: Man glaubt Autoren oft durch Vergleichungen mit dem Fabrikwesen zu schmähen. Aber soll der wahre Autor nicht auch Fabrikant sein? Soll er nicht sein ganzes Leben dem Geschäft widmen, literarische Materie in Formen zu bilden, die auf eine große Art zweckmäßig und nützlich sind? Wie sehr wäre manchem Pfuscher nur ein ge-

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der eigentliche Spigel ihrer selbst‹ (Robert Prutz). Die poetologische Reflexion der Vormärzliteratur auf geänderte Produktionsverfahren«, in: ebd., S. 39–59. Wolfgang Hilbig, Das Provisorium, Frankfurt a. M. 2000, S. 242 f. Vgl. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 11–14, wo Jens Jessen die Frage aufwirft, auf die dann Jörg Drews, Beatrice von Matt, Rainer Moritz, Angelika Overath, Johannes Saltzwedel und Uwe Wittstock in Kurzbeiträgen antworten im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 481–507. Philipp Theisohn: »Das Recht der Wirklichkeit. Plagiarismus als poetologischer Ernstfall der Gegenwartsliteratur«, in: Maik Bierwirth, Anja K. Johannsen, Mirna Zeman (Hg.), Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen und Automatismen in der Forschung zur Gegenwartsliteratur, München 2012, S. 219–239. ›Poetologisch‹ meint hier, ganz im Sinne Joseph Vogls, dass das Auftauchen und Erkennen neuer Phänomene – in unserem Fall: neuer literarischer Produktionsverhältnisse – immer schon als »Form ihrer Inszenierung« begriffen wird ( Joseph Vogl, »Einleitung«, in: ders. [Hg.], Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7–16, hier S. 13).

Literatur als/statt Betrieb | 9 ringer Teil von dem Fleiß und der Sorgfalt zu wünschen, die wir an den gemeinsten 10 Werkzeugen kaum noch achten!

Unter Vermischung älterer Produktionsvorstellungen mit dem neuen Begriff des »Fabrikwesens« schwimmt Schlegel erklärtermaßen gegen den Strom der disqualifizierenden Vergleichsabsicht, indem er den »Autor« als »Fabrikanten« im positiven Sinn von den »Pfuschern« abhebt.11 Neben der Abwertung – die sich im identischen Vorstellungsfeld endgültig erst über den historistischen Kulturpessimismus einstellt, in dessen Namen Jacob Burckhardt das Verkommen der bedeutendsten Schriftsteller zu »Fabrikanten« beklagt12 – gibt es offensichtlich gerade unter den Autoren auch Ansätze zu einer affirmativen Perspektivierung der literarischen Fabrik und des Bewusstseins der eigenen Industrialisierung – besonders in dieser frühen Phase. Erst nach und nach scheint die Denunziation des ›Fabrikanten-Autors‹ überhandgenommen zu haben. Eine analoge Entwicklung zeichnet sich in der Begriffsgeschichte des Literaturbetriebs ab. Mit Blick darauf, dass die Entstehung einer institutionellen Orchestrierung massenhaft produzierter Literatur mithilfe von Verlegern, Lektoren, Rezensenten, Agenten, Übersetzern und – nicht zuletzt – Autoren in der Mitte des 18. Jahrhunderts verortet werden kann, erweist sich der Begriff zunächst als verspätet. Die Verspätung dürfte auch dadurch bedingt sein, dass der Terminus ›Betrieb‹ davor noch nicht in der heutigen Bedeutung einer Einheit von zusammenwirkenden Personen und Produktionsmitteln zur Hervorbringung von Gütern und Leistungen verwendet wurde.13 Jedenfalls bezeichnet ›Literaturbetrieb‹ infolge dieser Verspätung weniger ein völlig neues Phänomen denn in erster Linie eine veränderte Wahrnehmung literarischen Schaffens. In Verbindung mit der Produktion von Literatur taucht der Begriff erstmals Mitte 1820er Jahre auf14 und etabliert sich dann ab den 1840ern allmählich.15 Anfänglich geschieht dies ganz wertfrei, etwa in der Altphilologie, die beispielsweise vorbehaltlos vom »Literaturbetrieb der Antoninenzeit« spricht.16 In der Publizistik des Vormärz verknüpft sich dann der Begriff 10 11

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Friedrich Schlegel, Athenäumsfragmente, in: ders., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von E. Behler, München u. a. 1958 ff., Abt. I, Bd. II, München u. a. 1967, S. 232. Ähnlich interpretiert Sandra Richter Schlegels Verfahren als Vermischung des älteren Begriffs von der ›Industrie‹ mit den neuen Erscheinungen des Fabrikwesens vor der Industriellen Revolution zum Zweck der Polemik gegen die dilettantischen Schnellschreiber (vgl. Sandra Richter, Mensch und Markt. Warum wir den Wettbewerb fürchten und ihn trotzdem brauchen, Hamburg 2012, S. 69 ff.). Jacob Burckhardt, „Historische Fragmente aus dem Nachlaß“, in: ders., Gesamtausgabe, hg. von A. Oeri, E. Dürr, 14 Bde., Basel 1929–1934, Bd. 7, S. 425. Vgl. z. B. Renate Wahrig-Burfeind (Hg.), Wahrig. Deutsches Wörterbuch, 8. vollst. neu bearb. Aufl., Gütersloh, München 2006, Bd. 1, S. 264. Noch bei Grimm (1854) wird die Bedeutung nur mit »trieb, antrieb, pflege« u. ä. angegeben ( Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde., bearb. von Karl Weigand u. a., Leipzig 1800–1971, Bd. 1, Sp. 1714). Vgl. im Volksblatt Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, 13. 10. 1826, S. 824. Vgl. den Beitrag von Olaf Simons in diesem Band. Rheinisches Museum für Philologie 84–86 (1835), S. 299.

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bei Robert Eduard Prutz mit der Kritik an einer unpolitischen Literatur: Der Literaturbetrieb ist hier »harmlos[ ]«17 oder – im Komödien-Kontext – »anständig[ ]«;18 ›Literaturbetrieb‹ meint diejenige Literatur, die man ›betreibt‹, um keine Scherereien mit der Polizei zu bekommen. Der Aspekt des seelenlosen »[M]echanischen« tritt bald als Bedeutungsaspekt hinzu,19 und erst ein halbes Jahrhundert später verankert schließlich die sozialdemokratische Literaturkritik den Begriff dort, wo Gutzkow mit seiner »literarischen Industrie« von 1836 schon längst angekommen war: in einer ›kapitalistisch verseuchten‹ Welt.20 Die Engführung von Betriebsamkeit und heteronomer Entgeistigung der Literatur ist demnach weder notwendig noch ursprünglich. Neben den denunziatorischen Traditionslinien des betrieblichen Metaphernfeldes gibt es immer wieder produktive Annäherungen an die Vorstellung der ›Verwarung‹ von Literatur. So hat auch Gottfried Keller die Industrie-Metaphorik positiv gewendet, wenn er im Jahr 1855 Johann Jakob Sulzer für dessen finanzielle Unterstützung dankt und ihm seinen Entschluss mitteilt, Berlin nun baldmöglichst zu verlassen, »um in Zürich eine ordentliche und geregelte Industrie zu betreiben«, habe sich doch »Rohstoff [...] genug angesammelt während der sieben Jahre in der Wüste«.21 Keller schreibt von seiner schriftstellerischen Tätigkeit, als handelte es sich um die ersehnte Rückkehr in die zivilisierte Fabrik, wo die gesammelten rohen Erlebnisse und Erfindungen zu Literatur verarbeitet würden. Sobald der Dichter als ›Industrieller‹ nicht zwangsläufig disqualifiziert ist, kann sich der Entwurf einer betrieblich organisierten Literatur mit der Einsicht in die Produktionsbedingungen modernen Schreibens und den sich aus diesen ergebenden neuen Rollenmustern der literarischen Akteure – vom Fabrikanten bis hin zum Angestellten – verbinden. Solche Reflexion zielt letztlich auf eine Poetologie des Betriebs, auf einen Versuch, das Verhältnis zwischen Poiesis und Warenform genauer zu bestimmen, es offensiv aufzunehmen und zu steuern. Weil es sich um ein Verhältnis handelt, wäre umgekehrt auch kurzschlüssig, Literatur in Zeiten des neuen oder neusten Buchhandels einfach als Betrieb, als reinen Effekt des Betriebes zu beschreiben. Vielmehr ist zwischen der Literatur als Kunstform und ihrer betrieblichen Prozessualisierung ein komplexes Beziehungsgeflecht entstanden, das es verunmöglicht, die eine Seite von der anderen zu trennen oder die eine mit der anderen zu identifizieren. 17 18 19 20 21

Robert Eduard Prutz, »Die politische Poesie, ihre Berechtigung und Zukunft« (1845), in: ders., Kleine Schriften: Zur Politik und Literatur, 2 Bde., Merseburg 1847, Bd. 2, S. 91–135, hier S. 113. Robert Eduard Prutz, Nach Leiden Lust. Komödie in fünf Akten (1847), in: ders., Dramatische Werke, 4 Bde., Leipzig 1847–1849, Bd. 1, S. 167. So in einer anonymen Kurzrezension zu Alphonse Karrs Mélanges philosophiques in der Zeitschrift Die Grenzboten 12 (1853), S. 517 f., hier S. 518. Robert Grötzsch, »Robert Saudek, Dämon Berlin (Rezension)«, in: Die Neue Zeit 26/1 (1908), S. 454–456, hier S. 454. Gottfried Keller, Briefe und Tagebücher 1830–1861, hg. von E. Ermatinger, 5. und 6., stark vermehrte Aufl., Stuttgart, Berlin 1924, S. 386 (Brief an Sulzer, 16. 11. 1855).

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Für eine kybernetische Perspektivierung des Literaturbetriebs

Entsprechend ist der Schrägstrich in der Formel ›Literatur als/statt Betrieb‹ ernst zu nehmen. Es geht nicht um eine schlichte Aufdeckungsgeste, die hinter einem vordergründigen ›statt‹ ein tatsächliches ›als‹ zum Vorschein bringt – oder umgekehrt. Auch erschöpft sich das Verhältnis von Literatur und Betrieb nicht in einer hierarchischen Partnerschaft, bei der etwa die ökonomischen Gesetze und Produktionsverhältnisse den harten Boden der Tatsachen, die handfeste Basis für das luftig-geistige literarische Schaffen bilden. Die Ordnungen und Mechanismen jener Gesetze und Komponenten haben in jüngster Zeit insbesondere Steffen Richter,22 Bodo Plachta,23 Werner Heinrich24 und Renate Grau25 als Literaturbetrieb systematisch dargestellt. Jenseits von solchen Phänomenologien der Exponenten und von Definitionen beispielsweise als »Ensemble von Begriffen wie ›Literarisches Leben‹, ›Literaturszene‹, ›Literaturmarkt‹ oder ganz allgemein ›Literatur‹«,26 enthält der Begriff des Literaturbetriebs samt seinem metaphorischen Potenzial eine poetologische Dimension, deren Erkundung und Vermessung in den letzten Jahrzehnten nicht (mehr) im Fokus der Literaturwissenschaft stand. Letzteres dürfte unter anderem darin gründen, dass die Ausleuchtung der Interdependenzen von literarischer Schöpfung und deren Produktionsbedingungen bzw. »Produktionssphäre« das programmatische Zentrum der Literatursoziologie lukácsscher Prägung gewesen ist,27 die ihren Geltungsanspruch Mitte der 1970er Jahre verloren hat und in ihrer Affinität zum Neomarxismus historisierbar geworden ist.28 Im Umfeld der ästhetischen Theorien um 1968 klingt der Begriff ›Literaturbe-

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Steffen Richter, Der Literaturbetrieb. Texte – Märkte – Medien. Eine Einführung, Darmstadt 2011. Bodo Plachta, Literaturbetrieb, Paderborn 2008. Werner Heinrichs, Der Kulturbetrieb. Bildende Kunst – Musik – Literatur – Theater – Film, Bielefeld 2006. Renate Grau, Die Verbreitung belletristischer Titel im Literaturbetrieb – Soziale Strategien und Praktiken zur Werk- und Wertschöpfung fiktionaler Bücher, Bamberg 2006. Die wirtschaftswissenschaftliche Untersuchung fokussiert die organisatorischen Vorgänge und sozio-ästhetischen Handlungspraktiken der »Buchindustrie«, die dazu führen, dass ein belletristischer Titel auf dem Markt erscheint. Plachta, Literaturbetrieb (wie Anm. 23), S. 9. Als paradigmatisches Dokument dieser Perspektivierung wäre etwa Leo Löwenthal, Literatur und Gesellschaft. Das Buch in der Massenkultur, Neuwied, Berlin 1964, anzuführen. Zur historischen Einordnung vgl. Stefanie Lethbridge, »Literatursoziologie«, in: Ralf Schneider (Hg.), Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis. Eine anglistisch-amerikanistische Einführung, Tübingen 2004, S. 163–187. Vgl. hierzu Karl Eibl: »Autonomie und Funktion, Autopoiesis und Kopplung. Ein Erklärungsangebot für ein literaturwissenschaftliches Methodenproblem mit einem Blick auf ein fachpolitisches Problem«, in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.), Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 175–190.

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trieb‹ inklusive seiner Verschärfung zu ›Literaturindustrie‹29 oder ›Kulturindustrie‹ gewöhnlich besonders kritisch, und die Rede von der Macht des Marktes dient nicht als Werbeslogan. So formuliert etwa Karl Markus Michel, einer der Anstachler der Debatte um den ›Tod der Literatur‹ im berühmten Kursbuch 15 (1968), eine Art Natur- bzw. Kulturgesetz des unmöglichen künstlerischen Ausstiegs aus dem Betrieb: »Man«, d. h. der Schriftsteller, »arbeitet für den Konsum und zugleich dagegen«; selbst »Anti-Literatur« folgt einer »Logik«, die mindestens ebenso sehr eine des »Marktes« ist wie eine immanente der »Form«.30 Zeittypisch versiert in dialektischem Denken, sind solche Diagnosen ihrerseits auf die janusköpfige Figur von ›Literatur als/statt Betrieb‹ sensibilisiert, lassen dabei jedoch in der Regel das ›als‹ gewinnen und übergehen das individuelle Konzeptions- und Leistungsvermögen der Betriebsarbeit zugunsten der abstrakten Größen ›Markt‹ und ›Kunst‹. Die poetologische Perspektive auf den Literaturbetrieb kann Beobachtungen der Literatursoziologie aufnehmen und fortführen, ohne jedoch den Ansatz insgesamt wiederzubeleben. Ihre zentralen Fragestellungen bezieht sie vielmehr aus einem anderen Horizont, dessen Leitlinien durch Bourdieus »Grundlagen einer Wissenschaft von den Kulturprodukten«31 – welche die Agenten auf dem literarischen Machtfeld als Konstrukteure einer »Objektivität« der Kunst begreifen lehren32 –, und durch Luhmanns Vorstellung vom Gesellschaftssystem der Kunst als komplexer Steuerung einer »Paradoxieentfaltung« (im Sinne eines momenthaft hervortretenden »Zusammenhang[s] der Unterscheidungen« am Kunstwerk)33 vorgezeichnet sind. An die Stelle der Dialektik von Kunst und Markt tritt damit eine ›Literaturkybernetik‹.34 Es handelt sich dabei um keinen gänzlich neuen Gedanken. Dass literarische Ästhetik als ein kybernetischer Prozess, als ein komplexes Steuerungsverfahren gelesen werden kann, dass Texte auch und gerade in ihrem performativen Anspruch immer noch Informationsträger bleiben, wir beim Lesen beständig mit Ein- und Ausgangswerten konfrontiert sind (die sich womöglich sogar berechnen lassen) – das findet sich bereits in der Informationsästhetik Max Benses. Während Bense allerdings sein Beobachtungsfeld ausdrücklich auf das literarische ›Objekt‹ beschränkt, jeden »Be29

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Diesen etwas selteneren Begriff verwendet etwa Günter Zehm in seinem Artikel Kollege Dichter im Berliner Blatt Die Welt vom 14. Juni 1969, worin er anlässlich der Gründung des Verbandes deutscher Schriftsteller vor der Illusion warnt, die »bürokratische Organisation der Literatur-Industrie könnte auf die Dauer ohne unheilvollen Einfluß auf die Inhalte und Meinungen der Literatur selbst bleiben«, zitiert nach Friedhelm Kron, Schriftsteller und Schriftstellerverbände. Schriftstellerberuf und Interessenpolitik 1842–1973, Stuttgart 1976, S. 355. Karl Markus Michel, »Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These«, in: Kursbuch 15 (1968), S. 169–186, hier S. 175 f., vgl. bes. auch S. 182 und 184. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (franz. 1992), übersetzt von B. Schwibs, A. Russer, Frankfurt a. M. 1999, S. 283–448. Ebd., S. 330 f. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 75. Zu den Chancen und Risiken einer solchen Kybernetisierung von Ästhetik und Poetik vgl. bes. den Sammelband: Hans Esselborn (Hg.), Ordnung und Kontingenz. Das kybernetische Modell in den Künsten, Würzburg 2009.

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zug auf den Konsumenten, den Betrachter, Käufer, Kritiker usw.« kappt, um letztlich von einer »Gefallensästhetik« zu einer »Konstatierungsästhetik« zu gelangen,35 liegt in der Ausweitung des literaturkybernetischen Untersuchungshorizonts auf die ›Black Box‹ der sozialen Prozesse, aus denen die Textwelt hervorgeht, vermutlich eine der zentralen Aufgaben der kommenden Literaturwissenschaft. Diese wird einerseits danach fragen, in welchen historischen Organisationsformen der Literatur innerhalb des Betriebs ›Selbstverwaltung‹ möglich ist, andererseits aber auch ausloten, inwiefern sich jene Organisationsformen, von denen die Literatur abhängig ist, verselbständigen, uneinsehbar und eigenmächtig werden. Während die literatursoziologische Betrachtungsweise das Augenmerk vornehmlich auf die Determination der literarischen Ausdrucksformen durch ihre Funktion in einem arbeitsteilig organisierten Gemeinwesen richtete, könnte sich dem ›kybernetischen‹ Blick der Literaturbetrieb zudem in seinen informationsästhetischen und kreativen Details eröffnen und als Feld einer gemeinschaftlichen Poetik sichtbar werden. Dies wäre insofern von besonderer Bedeutung, als gerade besagte Fähigkeit zur literarischen Gemeinschaftsproduktion, die Entwicklung neuer Arbeitsformen und Eigentumsverhältnisse gegenwärtig der Buchkultur abgesprochen und ganz dem digitalen Raum, in dem die ›creative commons‹ ihren Schaffensort finden, überantwortet wird. Der Literaturbetrieb wird von dieser Seite nicht selten im Sinne einer Maschinerie der kreativen Entfremdung verstanden, welche jeder kollektivistischen Poetik juristische (sprich: urheberrechtliche) und technologische Beschränkungen entgegensetzt. Dass die Literatur in ihrer Betrieblichkeit indessen immer schon eine Kollektivpoetik ist, dass es nicht erst die Administratoren des worldwide web benötigt, um das Schreiben von der Tyrannei der Vereinzelung zu befreien – das ist eine Wahrheit, deren historischen Manifestationen nachzugehen sein wird. So interessieren auch die reflexive Wahrnehmung und die Fiktionalisierung des Betriebs durch die Literatur selbst. Betriebliche Vorkommnisse und Akteure in der Literatur bilden eine zentrale Möglichkeit literarischer Selbstverhandlung und nutzen das Verhältnis zum Betrieb insofern doppelt produktiv, als jener dabei direkt zum Stoff wird und nicht nur beschrieben, kommentiert oder kritisiert, sondern zugleich ganz neu erfunden werden kann. Daher lohnt sich der Blick darauf, zumal man hier bisweilen auf Figuren jenseits der Standard-Betriebskomponenten trifft. So gibt es etwa in Arthur Schnitzlers Einakter Zum großen Wurstel (1904/06) unter den Personen nebst ›Dichter‹ und (Theater-)›Direktor‹ einen ›ersten‹ und ›zweiten Skandalmacher‹, als handelte es sich um eine weitere feste Funktionsstelle im Betrieb.36 Schnitzler, der dann später bei den Aufführungen seines Reigen selber einschlägige Erfahrungen mit Skandalisierungen machen sollte, karikiert durch diese

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Max Bense, Einführung in die informationstheoretische Ästhetik. Grundlegung und Anwendung in der Texttheorie (1969), in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. von E. Walther, 4 Bde., Stuttgart, Weimar 1998, Bd. 3, S. 251–418, hier S. 258. Vgl. Arthur Schnitzler, »Zum großen Wurstel« (= »Marionetten« III.), in: ders., Gesammelte Werke, hg. von H. Scheible, 3 Bde., Düsseldorf 2002 f., Bd. 2, S. 871–894.

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professionellen Skandalmacher den Skandal als Selbstzweck des Betriebs unabhängig vom betreffenden literarischen bzw. theatralischen Werk. Schnitzlers Burleske liefert einen witzig-bissigen Kommentar zu einem Phänomen, das für das Doppelverhältnis von Literatur und Betrieb (›als/statt‹) immer wieder aufschlussreich ist.37 Literaturskandale im Sinn von öffentlicher bzw. öffentlich beschworener Entrüstung über Literatur entstehen, wenn Literatur in irgendeiner Weise gegen die Regeln des Betriebs, gegen dessen rechtliche oder sittliche Normen verstößt. Gleichzeitig bildet der Literaturbetrieb mit seinen Kritikern und Veröffentlichungsorganen die Bühne, auf der ein Skandal erst produziert und Literatur skandalös werden kann. Der Betrieb mag dabei manchmal als Fälschungs- und Unterdrückungsmaschinerie erscheinen, als Agentur profanster Zwecke; er folgt dem Zeitgeist, ist oft blind für das eigentlich Interessante oder macht biedere Texte begehrenswerter, als sie es sind – einerseits. Andererseits ist Aufmerksamkeit eine universale Währung der Kultur, und die Erlangung von Aufmerksamkeit ist womöglich gerade im Bereich der Literatur im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte mehr und mehr zu einer Kunst geworden, die untrennbar zu den Werken selbst gehört. Wenn Literatur in ihrer neuen Abhängigkeit, die Begriff und Vorstellungsfeld des Betriebes evozieren, zunehmend darauf angewiesen ist, sich zu vermarkten bzw. vermarkten zu lassen und so den Betrieb zu bedienen, betrifft dies offenbar auch den poetischen Prozess selbst. Umgekehrt fügt der Betrieb der Literatur stets etwas hinzu, was dieser nicht eigen ist, was aber hinzutreten muss, um einen Text überhaupt marktfähig erscheinen zu lassen. So erscheint der Literaturbetrieb auf der einen Seite als eine Einschränkung bzw. Einmischung in die ›reine‹ Poiesis, auf der anderen Seite aber zugleich als eine massive Ausdehnung der Poiesis auf Gestaltungsbereiche, die außerhalb des Textes angesiedelt sind und die mit der eigentlichen literarischen Arbeit auf den ersten Blick wenig zu tun haben. Die Frage nach einer Poetik des Literaturbetriebs richtet sich an beide Seiten dieser eigenartigen Produktionsgemeinschaft.

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Zu den Beiträgen des vorliegenden Bandes

Die Frage nach einer solchen Betriebspoetik, auf die der Band schlaglichtartig Antworten zu geben sucht und zu deren Weitertreiben er anregen möchte, kann nicht ohne diejenigen diskutiert werden, die tatsächlich ›Literatur betreiben‹. Weil sie im Folgenden das erste Wort haben sollen, ist die erste Sektion des Bandes einzelnen Exponenten des Literaturbetriebs gewidmet, die hauptsächlich aus selbstreflexiver Sicht der Akteure beleuchtet werden: Während die Autorin Angelika Overath poetischen Profit aus den Reibungen mit dem (Auftrags-)Markt schlägt, behandelt Da37

Für systematische Einblicke und historische Fälle vgl. bes. den Sammelband von Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hg.), Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen 2007.

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vid Marc Hoffmann, nicht ganz unpoetisch, die prosaischen Aspekte des Verlegens. Die Kritikerinnen Alexandra Kedves und Barbara Basting fragen nach dem Einfluss der Rezension auf die Produktion ›guter‹ und ›schlechter‹ Bücher bzw. umgekehrt nach dem Einfluss der Ästhetikgeschichte auf das Verständnis und die Konzeption von Literatur- und Kunstkritik. Anja Johannsen verfolgt die ambivalenten Möglichkeiten und Wirkungen der Literaturveranstaltung wie insbesondere der Autorenlesung in der noch jungen Institution Literaturhaus. Dass und inwiefern nicht nur literarische ›Events‹, sondern auch Archive ihre eigene Poetik haben, indem sie mitbestimmen, was einen Platz erhält in der Aufbewahrungsstätte für Literatur, führt Irmgard M. Wirtz mit plastischen Beispielen aus ihrem Verhandlungsalltag vor. Der Jurist Werner Stauffacher erklärt, weshalb der Literaturbetrieb das Urheberrecht braucht und im Medienwandel weiterhin brauchen wird. Ergänzt werden die Perspektiven der Praktiker und Praktikerinnen in dieser Sektion um einen extern-beschreibenden Beitrag zur Betriebskomponente der Auszeichnung, die Anna Auguscik anhand eines Vergleichs zwischen deutschen und englischen Buchpreisen untersucht. Ohne geschichtliche Reflexe auszuschließen, liegt so der Schwerpunkt des ersten Teils des Bandes bei der betrieblichen Gegenwart, die sich durch die Digitalisierung in einem tiefgreifenden Umbruch befindet. Die zweite Sektion, beigesteuert von Angehörigen des Wissenschaftsbetriebs, ist dagegen historisch akzentuiert und liefert in ungefährer chronologischer Reihenfolge Einblicke in die Geschichte des Verhältnisses von Literatur und Betrieb, die ihrerseits zuletzt bis in die Gegenwart reicht. Dabei bildet Olaf Simons’ begriffsgeschichtliche Fahndung nach dem ›Literaturbetrieb‹ den Auftakt und fördert Zusammenhänge zwischen Wissenschaftsbetrieb, Kulturpolitik und produktionsästhetischer Vorstellungswelt zutage. Alexander Honold erzählt anhand weltliterarischer Fallbeispiele eine Geschichte des zweiten Buches, dessen Veröffentlichung als institutionelle Begründung von Autorschaft gelten kann. Darauf folgen Studien zu den Betriebsbeziehungen und -ansichten einzelner Autoren: Zunächst wirft Edith Anna Kunz einen Blick auf den ›anderen Goethe‹, nämlich den Auftragsdichter des Weimarer Hofes, der den Angestelltenstatus der Literatur zugleich in seinen Maskenzügen reflektiert. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts halten die von Gutzkow beklagten Plakate und weitere Strategien zur Vermarktung von Literatur mit solcher Macht Einzug, dass ein Dichter der Moderne dann allgemein von »plakätischen Zeiten« sprechen kann. Die Kennzeichnung stammt von Robert Walser, der – wie Reto Sorg zeigt – jenseits des einseitigen Außenseiter-Images zu diesem Charakterzug seiner Schriftsteller-Epoche durchaus ein Doppelverhältnis unterhält: Zwar distanziert er sich einerseits bei aller Verstrickung ins FeuilletonGeschäft vom literarischen »Cliquenbetrieb« seiner Zeit, nimmt aber andererseits zugleich aktiv am Literaturbetrieb teil – und diesen als Thema in seine Literatur auf. Ebenfalls innerhalb und außerhalb des literarischen Texts zeichnet Karl Wagner die Spur einer speziellen Figur des Betriebs nach, wenn er Robert Musils projektiertes Porträt des erfolgsversessenen Großschriftstellers mit Führer-Affinität im Rahmen eines sozioanalytischen Interesses im Sinne Bourdieus rekonstruiert. Die Gegenwart erhält ihr Recht durch Heinz J. Drüghs Analyse der ›(de-)emphatischen

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| Philipp Theisohn und Christine Weder

Ästhetik‹ Max Goldts, die dem ›Branding‹, dem Verkommen der Kultursprache zu marktgerechten Hülsen, welches durch die Amalgamierung von Literatur und Betrieb droht, nicht die Verachtung des Betriebs, sondern dessen permanente verbale Selbstreinigung entgegensetzt. Andreas B. Kilcher erweitert die zeitgenössische Diagnose mit einer Analyse des jüngsten und immer noch anhaltenden Streites um den sich in einem Zürcher Banksafe befindenden Nachlass Max Brods resp. die zu diesem Nachlass gehörenden Kafka-Manuskripte – und lässt dabei deutlich werden, in welchem Ausmaß der Literaturbetrieb immer auch als eine harte Verhandlung über kulturelles Kapital, dessen Mehrung und Minderung gedacht werden muss. Somit langt der Band schließlich bei den aktuellen Veränderungsprozessen im Verhältnis von Literatur und Markt an, die Ute Schneider zum Abschluss schildert und dabei besonders die verschärfte Konkurrenz um Aufmerksamkeit – mit Gutzkow gesagt: das ›gewaltsame Angreifen‹ um die Wette – infolge Ausdifferenzierung des Medienangebots fokussiert. Die Prozesse selbst sind freilich nicht abgeschlossen, sondern in vollem Gang. Der gegenwärtige mediale Umbruch dürfte für die literarische Produktion eine umfassende Reorganisation bedeuten, die von der einen Seite als Möglichkeit einer Emanzipation der Literatur vom herkömmlichen Betrieb, von der anderen Seite aber als rücksichtslose Usurpation der Literatur durch Lizenznehmer und Datenverwalter erscheinen mag. Und sofern sich der Literaturbetrieb im Totalumbau befindet, wird auch die Frage auftauchen, ob die Rede vom ›Betrieb‹ überhaupt noch Zukunft hat – oder ob für die sich augenblicklich abzeichnenden Marktformen der Literatur nicht bald ein anderes Wort gefunden werden muss. *** Der vorliegende Band geht auf eine 2011 an der ETH Zürich abgehaltene Tagung zurück. Für die finanzielle Unterstützung von Veranstaltung und Publikation bedanken wir uns herzlich bei der Stiftung Mercator Schweiz, dem Schweizerischen Nationalfonds sowie der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich.

Exponenten des Betriebs

Angelika Overath

Aporien der Gefälligkeit Wir alle sind Teil einer literarischen Betriebsamkeit: als Literaturwissenschaftler, Veranstalter, Verleger, Buchhändler, Kritiker, Lektoren, als Autoren und als Leser. Die Einleitung des vorliegenden Bandes fragt, ob und wie sich die literarische Produktion in Zeiten ihrer zunehmenden Vermittlung durch mediale Inszenierungen verändert. Der Stachel: »Literatur als/statt Betrieb« zielt auf das Schillern der Kunst zwischen Autonomie und Marktgängigkeit. Vom Produzenten aus gesehen könnte die Frage heißen: Wie abhängig ist der Autor? Und in welcher Weise? Ändert die Abhängigkeit sein Schreiben? Im folgenden soll zunächst an eine kleine Diskussion, geschrieben vor über 200 Jahren, erinnert werden, die das verquere Problem der Gefälligkeit von Kunst in bewundernswürdiger Klarheit ausführt. Es ist Goethes Vorspiel auf dem Theater. Der Text (wir kennen ihn heute als Eröffnung des Faust) ist vermutlich 1798 entstanden. Ursprünglich war die Szene gedacht als Teil der Einweihungsfeier des neu eingerichteten Weimarer Theaters. Goethe war hier Theaterdirektor, Dramenschreiber und manchmal auch Schauspieler, und er erlaubte sich aus dieser Trias heraus ein grundsätzliches Gedankenspiel. Im Anschluss daran würde ich gerne einige Schlüsselszenen aus meinem Berufsleben erzählen. Ich arbeite als Reporterin, Kritikerin, Schreiblehrerin und Romanautorin, ich war einige Male Jurorin für Literaturpreise und habe, zusammen mit meinem Mann und Haus-Lektor, dem Literaturwissenschaftler Manfred Koch, Anthologien herausgegeben. Als eine Art literaturbetriebsames Chamäleon durfte ich verschiedene Bereiche von Literaturvermittlung und Literaturvermarktung kennenlernen. Zunächst also Goethe. Erinnern wir uns an das Streitgespräch zwischen dem empfindsamen Dichter, dem geschäftstüchtigen Theaterdirektor und der klugen Lustigen Person. Hemdsärmelig feuert der publikumsorientierte Theaterdirektor den Dichter an: »Ich wünschte sehr der Menge zu behagen,/ Besonders weil sie lebt und leben läßt./ Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen,/ Und jedermann erwartet sich ein Fest« (vv. 37 ff.1). Es geht dem Direktor ganz klar in erster Linie nicht um das Gute, Schöne, Wahre, sondern um das Spektakel, den Event. Der aber gelingt gar nicht so leicht, denn das Publikum, das der Direktor erwartet, ist anspruchslos und verwöhnt zugleich: »Zwar sind sie an das Beste nicht gewöhnt,/ Allein sie haben schrecklich viel gelesen./ Wie machen wir’s? daß alles frisch und neu/ Und mit Bedeutung auch 1

Goethes Vorspiel auf dem Theater Johann Wolfgang von Goethe, Faust, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, hg. von F. Apel u. a., 40 Bde., Frankfurt a. M. 1986 ff., Abt. I, Bd. 7/1, hier S. 15.

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gefällig sei« (vv 45 ff.). Und nun imaginiert er schamlos, mit derb-sexuellen Untertönen, das gierige Heranströmen der Schaulustigen: Denn freilich mag ich gern die Menge sehen, Wenn sich der Strom nach unsrer Bude drängt, Und mit gewaltig wiederholten Wehen Sich durch die enge Gnadenpforte zwängt, Bei hellem Tage, schon vor Vieren, Mit Stößen sich bis an die Kasse ficht Und, wie in Hungersnot um Brot an Bäckertüren, Um ein Billet sich fast die Hälse bricht (vv. 49 ff.).

Darauf schreckt der zart empfindende Dichter indigniert zurück: »O sprich mir nicht von jener bunten Menge,/ Bei deren Anblick uns der Geist entflieht« (vv. 59 f.). Gegen das Wort »Menge» und dann »Gedränge« setzt er das polare Reimwort von der stillen »Himmelsenge,/ Wo nur dem Dichter reine Freude blüht«. Er sieht seine Kunst ganz als gefährdete Empfindung, in seiner tiefen »Brust« ist etwas »entsprungen,/ Was sich die Lippe schüchtern vorgelallt«. Und wo der Schauspieldirektor an den Augenblickserfolg, die volle Kasse denkt, hat dieser Dichter die langsame, mühsame Genese des Werks und den ewigen Ruhm, die Nachwelt, im Sinn. Eigentlich können diese beiden nicht zusammenkommen: der in der Versenkung aus sich heraus destillierende Poet und der schaumschlägernde Theatermacher. Aber es gibt eben noch die Lustige Person, die jetzt ganz pragmatisch den Gedanken an die Nachwelt beiseite schiebt und fragt: »Wer machte denn der Mitwelt Spaß?« (v. 77) Goethe kannte zwar unseren Horizont der Spaßgesellschaft noch nicht. Aber das Unterhaltungsbedürfnis der Leute nahm er als Leiter einer wichtigen Institution des Literaturbetriebs sehr ernst. Direktor Goethe hatte keine Lust auf ein leeres Theater. »Man bedenke [...]«, schreibt er 1808, »daß der Hauptzweck unseres Theaters sei, dreimal die Woche bedeutende, gefällige Vorstellungen zu geben. Darauf muß man losgehen, alles andere sind Nebensachen.«2 Und in den Worten der Lustigen Person klingt dieser »Spaß« auch nicht schlecht: »Laßt Phantasie, mit allen ihren Chören,/ Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft,/ Doch, merkt euch wohl! nicht ohne Narrheit hören« (vv. 85 ff.). Und die Lustige Person will dabei nicht bloße Gefühligkeit, sondern eine wilde Mixtur, in der Frische der Phantasie, kritischer Geist und Lust, Hingabe und Kontrolle zusammenkommen, und zwar in der Freiheit jener Distanz, die in die eigene Produktion auch den Widerhaken der »Narrheit« setzt. Aber nun geht der Direktor wieder auf den armen Dichter los, er fordert ihn zu einer regelrechten Materialschlacht auf: »Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen,/ Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus./ Wer Vieles bringt, wird manchem etwas bringen;/ Und jeder geht zufrieden aus dem Haus« (vv. 95 ff.). Er rät zum Ragout, nicht zum edlen ganzen Bratenstück, sondern zum Gemisch, in dem sich vieles zusammenkochen und vermengen lässt. Dann wird schon für jeden etwas 2

Johann Wolfgang von Goethe an Christian Gottlob Voigt, 9. 12. 1808, in: ders., Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 19, S. 406 f.

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drin sein. So etwas sei Pfuscherei, kontert der Dichter, und eines echten Künstlers unwürdig, was wiederum den Direktor überhaupt nicht irritiert. Er argumentiert rein vom Markt, von der Nachfrage aus. Er kennt sein Publikum und hat keine besonders hohe Meinung von ihm: »Und seht nur hin für wen ihr schreibt!« Die einen seien nur gelangweilt, die andern übersatt und: »Gar mancher kommt vom Lesen der Journale«, so der Seitenhieb gegen das neue Medium Zeitung, das den Publikumsgeschmack noch ganz verderbe. »Man eilt zerstreut zu uns, wie zu den Maskenfesten,/ Und Neugier nur beflügelt jeden Schritt;/ Die Damen geben sich und ihren Putz zum besten/ Und spielen ohne Gage mit./ Was träumet ihr auf eurer Dichter-Höhe?« (vv. 117 ff.) Und dann auch noch betriebskritisch: Was macht ein volles Haus euch froh? Beseht die Gönner in der Nähe! Halb sind sie kalt, halb sind sie roh. Der, nach dem Schauspiel, hofft ein Kartenspiel, Der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen. Was plagt ihr armen Toren viel, Zu solchem Zweck, die holden Musen? (vv. 122 ff.)

Spätestens jetzt reicht es dem Dichter, er ist doch keine Betriebsnudel, er wird sich nicht für diesen absurden Marktschreier hier einspannen lassen: »Geh hin und such dir einen andern Knecht!«, sagt er und schwingt sich pathetisch auf: »Wer sichert den Olymp, vereinet Götter?/ Des Menschen Kraft im Dichter offenbart« (vv. 156 f.). Da fällt erneut die Lustige Person ein mit dem zweiten Reim, der die Pole der ganzen Diskussion (das Thema unseres Kongresses) hart aufeinanderprallen lässt: »So braucht sie denn die schönen Kräfte/ Und treibt die dicht’rischen Geschäfte« (vv. 158 ff.). Auch hier geht es nicht einfach nur um den komischen Absturz des Göttlichen, das der ätherische Dichter in seinem Inneren findet, in die Trivialität der Unterhaltungsindustrie. Die Lustige Person ist erneut darin ernst zu nehmen, dass sie dem Dichter auferlegt, sein »Geschäft« – wohlgemerkt »Geschäft« – auch auf Erden und für die Irdischen zu betreiben. Er soll zeigen, was er kann. Und es ist interessant, dass die Lustige Person jetzt ein kurzes Stück unabhängig vom Betrieb argumentiert. Der Dichter soll die poetische Produktion, und das ist dann doch überraschend, wie ein ›Liebesabenteuer‹ angehen, sich zufälligen äußeren Reizen aussetzen, neugierig, was sich daraus entwickeln könnte. Ich zitiere: Zufällig naht man sich, man fühlt, man bleibt Und nach und nach wird man verflochten; Es wächst das Glück, dann wird es angefochten, Man ist entzückt, nun kommt der Schmerz heran, Und eh man sich’s versieht, ist’s eben ein Roman (vv. 161 ff.).

Poetik als eine aufregende Liebesgeschichte zwischen dem Gewimmel und den Worten, jedenfalls mitten aus dem bunten Dasein genommen. Hineingreifen müsse der Dichter »in’s volle Menschenleben!/ Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,/ Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant« (vv. 167 ff.).

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Der Stoff also, aus dem die Dichtung ist, speist sich nicht allein aus dem ›Gemüt‹, sondern aus der sozialen Umwelt, aus den Kreisläufen des Alltags, aus den Reibungen mit dem vollen Menschenleben. Es geht hier nicht um die Ansprüche des Theaterdirektors, sondern um Weltempathie und Sprachkönnen. Die Lustige Person erwartet vom Dichter, die poetische Produktion als erotischen Flirt mit dem Alltagsleben anzugehen. Der Dichter hat mit dieser Leichtigkeit nichts im Sinn und hält gleich wieder zu auf die großen Gefühle. Wenn er sich, sagt er, auf die ganze bunte Welt wie auf ein Liebesabenteuer einlassen soll, wenn er »[d]as tiefe schmerzenvolle Glück,/ Des Hasses Kraft, die Macht der Liebe« gültig darstellen soll (vv. 195 f.), dann benötigt er dazu doch die frühere staunende Intensität des Fühlens: »Gib meine Jugend mir zurück!«, sagt er. Und es ist wunderbar, wie die Lustige Person auch hier das Pathos aus der Situation nimmt, indem sie ihm klarmacht, dass man das nicht alles noch einmal durchleben muss. Der alte Dichter soll sich nicht so anstellen, schließlich müsse er nicht in den Krieg ziehen, für eine Schlacht braucht man Jünglinge; Jünglinge braucht man auch, »Wenn mit Gewalt an deinen Hals/ Sich allerliebste Mädchen hängen« (vv. 200 f.). Aber fürs Schreiben doch nicht! Da reicht es, wenn der alte Herr »ins bekannte Saitenspiel/ Mit Mut und Anmut« eingreife (vv. 206 f.). Das hat er schließlich gelernt. Und in diesem ganz handwerklichen Sinn endet auch der Direktor: »Gebt ihr euch einmal für Poeten,/ So kommandiert die Poesie« (vv. 220 f.). Wie Jonglierbälle fliegen die Argumente hin und her und zeichnen ein Muster in die Luft zwischen Empfindung und Machen, geübtem Können und unabsehbarer Kreativität, Spaß und Wahrheit der Kunst, Teilhabe an der Welt und intimer Produktion, Kalkulation und Gnade. Und in etwa ist dieses alte bunte Muster auch unser Problemfeld. Ich würde nun ausgehend vom Goethes Vorspiel auf dem Theater, in dem der Direktor als Marktstratege und die Lustige Person als Verfechter einer Poetik der Unterhaltung dem Dichter zusetzen, gerne ins 20. und 21. Jahrhundert springen und konkret im Bereich der Auftragsarbeiten beginnen mit einer ersten These: Auftragsarbeiten für den Markt und Literatur müssen keine Gegensätze sein. Wenn ich als Reporterin Reportagen für Zeitschriften schreibe, bediene ich ganz klar einen Markt. Ich habe einen Auftrag, der in einer bestimmten Zeit auf einem gewissen sprachlichen Niveau in einer vertraglich ausgemachten Zeichenzahl zu erledigen ist. Eine Reportage für Brigitte sieht anders aus als eine für mare oder für du, und wieder anders, wenn sie in Merian erscheinen soll. Die Themen sind unterschiedlich, der Umfang, aber auch die stilistischen Möglichkeiten variieren. Sie werden auf der Montagsseite der NZZ etwa andere sprachliche Bilder finden als in GEO. Ich schreibe ausgesprochen gerne Reportagen. Ich freue mich, wenn ich einen Auftrag bekomme und schlage auch verschiedenen Redaktionen immer wieder Themen vor. Ich reise und recherchiere gerne. Und ich stelle mich beim Schreiben bewusst auf das Medium bzw. den Markt ein. Das ist für mich weder handwerklich noch moralisch ein Problem. Ich sehe darin meine Autonomie als Autorin nicht angegriffen. Vielleicht ist das ein wenig wie in der Musik. Man kann Stücke in verschiedenen Tonarten spielen. Es ist trotzdem mein Lied. Ich muss allerdings aufpas-

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sen, dass es mein Lied bleibt. Ich war einmal eine relativ erfolgreiche GEO-Autorin, habe dann aber entschieden, nicht mehr für das Magazin zu schreiben. Es ist bei GEO üblich, dass eine so genannte ›Textpflegeinstanz‹ in die Texte der Autoren eingreift. Das heißt, dass Texte umgeschrieben werden. Der Autor wird darüber nicht informiert. Wenn man Pech hat, schlägt man das gedruckte Heft auf und muss sich die Augen reiben. Ich habe sehr lange um meine Position bei GEO gekämpft. GEO hat damals, als ich in den 90er Jahren dort schrieb, Reportagen mit bis zu 9'000 Mark honoriert. Dazu kam, dass alle Spesen vom Magazin getragen wurden. (Magazinreportagen sind extrem teuer. Zum Honorar und zu den Spesen des Autors kommen immer noch die Kosten für den Fotografen hinzu. Für das Geld, das eine einzige Reportage mit Bildern kostet, können Sie leicht ein bis zwei Bücher herstellen. Das ist den Lesern von Magazinen selten bewusst.) Ich wusste damals also, ich darf hier als Reporterin Reisen unternehmen, die ich nie und nimmer selbst hätte bezahlen können. Aber ich dachte, ich ertrage es nicht, dass meine Texte verstümmelt werden. Ich werde krank dabei. Wenn ich so weitermache, brauche ich einen Therapeuten und der ist langfristig teurer als ein GEO-Honorar. Als ich von GEO wegging, habe ich zunächst für die Frankfurter Rundschau Reportagen geschrieben. Dort konnte ich vom Honorar dann eine Null abziehen, statt 9'000 waren es 900 Mark, und die Reisespesen musste ich selbst übernehmen. Aber dann habe ich eben nicht mehr über Fetischeusen an der Elfenbeinküste geschrieben, sondern etwa über Walter Benjamins Flucht durch die Pyrenäen. Die Fahrt nach Port Bou konnte ich finanzieren. Mein erstes Buch ist aus dem Grund entstanden, dass ich auch meine GEOReportagen in unverstümmelter Form haben wollte. Das Buch heißt Händler der verlorenen Farben, es enthält Reportagen, die zuvor in verschiedenen Magazinen und Zeitungen erschienen waren; das Buch wurde mein Entrée als literarische Buchautorin. Ich weiß, dass in diesem Moment jetzt einige von Ihnen denken: was sagt sie da? Sie schreibt Reportagen und redet von Literatur. Ja, das meine ich schon genau so. (Im englischsprachigen Raum gibt es übrigens die Trennung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Autoren nicht; Vorbehalte gegen Reporter, die nicht als Erzähler gesehen werden, sind eine Eigenheit des deutschen Literaturbetriebs.) Gerade im Rückblick, nachdem ich zwei Romane geschrieben habe, kann ich für mich sagen, dass in meinen Reportagen mindestens so viel Arbeit, wenn nicht oft mehr Arbeit, steckt und mit Sicherheit die gleiche sprachliche Aufmerksamkeit wie in meinen fiktionalen Texten. Also: das Problem ist nicht die Auftragsarbeit an sich. Ich kann sehr gut einem Format gefällig sein. Ja, ich kann auch damit spielen, ein Medium durch Qualität zu unterlaufen. Das Problem beginnt, wenn der Autor nicht mehr die Oberhoheit über seinen Text hat. Aber in diesem Fall kann sich der Autor für den Text und damit gegen den Markt entscheiden. Er kann seine Arbeit schützen und Nein sagen. Und seine ökonomische Situation? Damit käme ich zu meiner zweiten These.

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Angelika Overath Um seine Arbeit vor dem Markt zu schützen, muss ein Autor Vermarktungs-Strategien entwickeln.

Erinnern wir uns zunächst daran, dass viele grosse Autoren nicht auf die Idee kamen, von ihrer literarischen Arbeit finanziell leben zu wollen: Keller war Zürcher Stadtschreiber, Kafka hat für eine Versicherung gearbeitet und mit dieser Tätigkeit seinen Lebensunterhalt verdient. Döblin war praktischer Arzt, Benn hat sich um Haut- und Geschlechtskrankheiten gekümmert. Friedrich von Hardenberg hat ein Salzbergwerk verwaltet und Goethe war Minister. Die deutschen Nachkriegsliteraten haben finanziell durch das damals fortschrittlichste Medium überlebt; sie schrieben Auftragsarbeiten für den Rundfunk. Ingeborg Bachmann hat mit Reportagen Geld verdient. Und ein Jahrhundertlyriker wie Hans Magnus Enzensberger war Lektor, Übersetzer, Verleger, Literaturagent, Unternehmensberater. Unter anderem. Offensichtlich verdirbt der Broterwerb nicht den Vers. Nachdem ich meine Texte nicht mehr von einer GEO-Textpflegeinstanz verstümmeln lassen wollte und dann bei der Frankfurter Rundschau sehr geringe Honorare bekam, begann ich, Reportagen für den Rundfunk umzuschreiben. Der SWR Baden-Baden hatte damals eine zweistündige Soiree, das Honorar lag bei 8'000 Mark. Das war zum einen finanziell ein Segen, zum andern, und vermutlich war das wichtiger: ich habe dabei einfach sehr viel gelernt. Ein gesprochener Text muss rhythmisch eindeutiger, sicherer oder klarer gebaut sein als ein Text, der nur im Stillen gelesen wird. Das Radiofeature braucht andere Sätze. Ist dieses Bewusstein aber einmal da, prägt es auch das Schreiben für Printmedien. Es hat mir dann Spaß gemacht, Reportagen, die vielleicht eine Leselänge von 30 oder 40 Minuten hatten, zu überarbeiten, aufzubrechen und mit historischen Zitaten, Sachtexten oder Stellen aus literarischen Fremdtexten zu collagieren. Ein solches Manuskript hatte dann schon so viele Seiten, dass es fast ein kleines Buch war. Der Schritt zur Anthologie lag nah. Eine Produktionsphase der Zweit- oder Drittverwertung von Arbeiten oder Ideen begann. Die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, hatte dabei aber den Nebeneffekt, dass ich lernte, souveräner mit Texten umzugehen. Auch als Dozentin oder Schreiblehrerin habe ich nicht nur Geld verdient (übrigens sehr viel leichter als mit dem Schreiben), sondern ich war im Umgang mit den Studierenden und durch ihre Fragen ständig gezwungen, meine eigene Arbeit zu überprüfen. Ich bin sicher, meine Studenten haben von mir einiges gelernt, aber ich von ihnen auch. Ähnliches, wenn auch in anderer Weise, gilt für die Arbeit als Literaturkritikerin. Natürlich lernt man, wenn man sich handwerklich auf fremde Texte einlässt (und das muss man als ernsthafte Kritikerin ja), immer etwas dazu. Die Reibungen mit dem Auftragsmarkt machten mich in jedem Fall zur besseren Autorin. Anfang der 90er Jahre wurde ich mehr oder minder zufällig Schreiblehrerin und Kritikerin der NZZ. Hinter diesen Karrierezufällen aber standen immer einzelne Personen. Und damit bin ich bei meiner dritten These.

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Wichtiger als eine nicht zu überschauende Literaturbetriebsamkeit sind der Zufall und einzelne Menschen, die gut finden, was ein Autor macht. Ich nehme jetzt eine kleine Passage aus meinem letzten Buch Alle Farben des Schnees auf, ein Tagebuch aus dem Dorf, in dem wir seit drei Jahren leben. Es kommen in diesem Buch auch Reisen oder Lesereisen vor. Hier geht es um eine Szene in München; im November 2009 bin ich zu Besuch bei Hans Magnus Enzensberger und erinnere mich, wie ich das erste Mal 1980, als 23jährige Examens-Studentin, bei ihm in Schwabing war: Wie oft bin ich in diesem Raum gesessen? Das erste Mal gegen Ende des Studiums. Ich schrieb an meiner Abschlußarbeit über den »Untergang der Titanic«; das Gedicht aus Gedichten war gerade erschienen. Ich hatte es in einer Nacht gelesen und wie im Rausch ein zweites Mal gelesen, und vielleicht noch einmal; erst gegen Morgen war ich schlafen gegangen. Brieflich hatte ich um einen Besuch gebeten. Eine Postkarte kam zurück: »Wenn Sie einmal in München sind...« Natürlich war ich nie »einmal in München«. Ich fand eine Mitfahrgelegenheit mit griechischen Studenten aus meinem damaligen Tübinger Studentenwohnheim. Sie hatten einen alten schwarzen Mercedes. Ohne Anlasser. Wir fuhren zu fünft. Alle rauchten. Wir mußten bei jedem Halt anschieben. Wir schafften es bis München. Ich kam gerade noch pünktlich. Wann machst du denn Abitur? fragte er mich an der Tür. Er erzählte, daß er ein Magazin »TransAtlantik« plane. Ich assoziierte sofort ein Schiff und sagte, daß bei ihm immer Schiffe vorkommen und daß ich sein Gedicht »Hurtigrute« liebe. Er überlegte, dann sagte er, ja, er habe Angst vor Wasser, er könne nicht richtig schwimmen. Er fragte, ob ich schreibe. Klar, sagte ich, Schwäbisches Tagblatt. 3 Da fragte er, ob ich bei der TransAtlantik mitmachen wolle.

Es war in meiner Biographie weniger ein wie auch immer wirkender Literaturbetrieb oder Literaturmarkt, auf den ich mich bezogen habe. Aber es gab immer wieder einzelne Autoren, Redakteure, Lehrer, Professoren, die mich aufgefordert haben, bei einem Projekt mitzumachen oder mir einen Auftrag gaben. Wenn ich es heute ganz zugespitzt ausdrücken würde, könnte ich sagen: so etwas wie ein Literaturbetrieb war mir im Grunde egal. Ich lebte in Tübingen, hatte zwei, dann drei Kinder. Ich schrieb meine Texte für Zeitungen und das Radio. Und es ging immer auf eine fast zufällige (und dann doch nicht ganz zufällige) Weise weiter. Ich erzähle jetzt, wie ich zur NZZ kam. Die von mir verehrte ehemalige SpiegelReporterin Marie Luise Scherer bekam 1994 den Börne-Preis in Frankfurt verliehen. Ich war bei der Preisverleihung dabei und hörte die schöne Dankesrede. Ich rief eine befreundete Redakteurin der Schaffhauser Nachrichten an und fragte, ob sie nicht einen Beitrag über die Autorin und die Preisverleihung wolle. Sie sagte, für ihr Lesepublikum sei das zu abgehoben. Ich solle es bei der NZZ versuchen, die würden manchmal solche Sachen machen. Ich kaufte mir also eine NZZ und schlug das Impressum auf. Unter all den Namen kam mir der Name Beatrice von Matt bekannt vor. Ich rief die Zentrale an und bat, mich durchzustellen. Frau von Matt war interessiert an einem Beitrag. Ich schrieb ihn, schickte ihn ab: Und hörte nichts mehr. 3

Angelika Overath, Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch, München 22010, S. 44 f.

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Vielleicht zwei oder drei Wochen später rief ich an. In schönstem Schweizerdeutsch sagte Frau von Matt nun ganz verwundert, was ich denn wolle, sie hätten den Beitrag doch gedruckt. Die Abrechnung würde dann Ende des Monats kommen. Ich dankte und legte auf. Zehn Minuten später läutete das Telephon. Beatrice von Matt fragte, ob ich nicht einen Text zu Else Lasker-Schüler schreiben wolle. So wurde ich NZZ-Kritikerin. Ich könnte für die verschiedenen Lebens- und Schreibabschnitte sehr genau Namen und Begegnungen nennen, die für das, was man Karriere oder Erfolg nennt, entscheidend und zufällig waren. Jetzt vielleicht das kurioseste Beispiel: Wir lebten noch in Tübingen; mein Mann musste tanken. An der Tankstelle traf er eine entfernte Bekannte, eine ehemalige Studienkollegin, die, wie sie ihm nun erzählte, neu in einer Jury für einen Literaturpreis sei. Zwischen Zapfsäule und Getränkekasse habe diese entfernte ehemalige Studienkollegin ihn dann gefragt, ob er denn niemanden wisse, der einen guten Text fertig hätte. Und mein schüchterner Mann sprang tatsächlich über seinen Schatten und sagte, seine Frau habe gerade das Manuskript für ihren ersten Roman abgeschlossen. Wäre mein Mann nicht an diesem Tag und zu dieser Stunden tanken gewesen, hätte ich für Nahe Tage nicht den Thaddäus-Troll-Preis bekommen. Immerhin ist das eine Geschichte, die Thaddäus Troll gefallen hätte. Ich versuche eine vierte These: Es gibt Autoren, die brauchen die Bühne, und andere, die wünschen sich eine Tarnkappe. Ich wollte keinen Roman schreiben. Als Literaturkritikerin hatte ich zu oft zu seltsame Texte auf dem Schreibtisch, als dass mir der Beruf der Romanautorin prinzipiell attraktiver erschienen wäre als der der Reporterin. Ich war glücklich mit meinen Berufen (Reporterin, Kritikerin, Schreiblehrerin); es gab keinen Grund, etwas zu ändern. Nach dem Tod meiner Mutter beobachtete ich dann, dass ich am Computer saß und, mitten in der Arbeit an einem Text, auf einmal ein Fenster aufmachte und etwas ganz anderes schrieb, etwas, das offensichtlich nicht in eine Kritik, eine Reportage, ein Radiofeature, einen Essay passte. Aber es war etwas, das erzählt werden wollte. Es waren Bilder aus der Kindheit, flimmernde Szenen, komische, nicht ganz sichere Dinge. Aber sie tauchten auf, wollten gesagt, ernst genommen werden, aufgeschrieben sein. Ich sammelte sie. Ich witterte, dass sich etwas Fiktionales anbahnte, das autobiographisch geprägt war, aber als Fiktion erzählt werden wollte. Oder besser: nur als Fiktion erzählt werden konnte. Mein Vater starb anderthalb Jahre nach meiner Mutter. Am Tag der Urnenbestattung meines Vaters auf dem Tübinger Bergfriedhof begann ich mit meiner ersten Erzählung. Ein Erinnerungstabu war gefallen. Mit dem Tod der Eltern hatte ich auf einmal eine neue Stimme. Ich schrieb dann relativ schnell Nahe Tage. Das Buch erschien 2005. Es wurde kaum beworben, und doch hatte es bald eine zweite Auflage, als Hardcover wurden etwas mehr als 4'000 Stück verkauft, mittlerweile

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ist das Taschenbuch in der dritten Auflage da. Vor Nahe Tage hatte ich drei Bücher mit Reportagen und Essays veröffentlicht. Ab und an war ich damit zu Lesungen eingeladen worden. Aber erst mit dem Roman wurde ich in der literarischen Öffentlichkeit wahrgenommen. Nun war ich also Schriftstellerin. Meine Romane sind Reportagen aus der Intimität, sagte ich, um meinem alten Berufsethos treu zu bleiben. Ein Kollege, mit dem ich mich viel gestritten habe, erklärte gerne, das wichtigste sei, sich als ein Schriftsteller zu bekennen. Zu sagen: Ich bin Schriftsteller und ich werde von nun an als Schriftsteller leben, das sei mutig, mehr noch, das sei der erste poetische Akt. Dann könne man beginnen zu schreiben. Mich überzeugt das nicht, ich weiß aber, dass diese Haltung verbreitet ist: Schriftstellersein als forcierte Lebensform. Etwas anderes kommt hinzu. Es gibt wunderbare Autoren, die die Bühne brauchen, das Publikum, die aus einer Lesung eine zauberhafte Performance machen können. Ich gehöre eher zu denen, die eine Tarnkappe vorziehen würden. Natürlich freue ich mich, wenn ich zu Lesungen eingeladen werde, nicht zuletzt wegen des Honorars. Und wenn das Publikum reagiert, wenn eine Beziehung entsteht zwischen mir und denen, für die ich lese, dann ist es in Ordnung und manchmal auch schön. Aber im Grunde lese ich nicht so gerne eigene Sätze vor. Denn ich muss dann noch einmal mit meinem Atem in den Text hineingehen, in den Text, den ich schon losgelassen habe, der fertig ist und nun alleine sein Dasein fristet. Jeder kann ihn ja lesen, mit seiner Stimme und mit seiner Imagination und Intimität. Und manchmal gibt es ungute Raumverhältnisse, wenn der Autor etwa angestrahlt wird und nur vage Schemen von Köpfen im Dunkeln wahrnimmt, wenn er also ins Unsichere hineinspricht. Und in solchen Situationen frage ich mich dann schon, warum ich das mache. Und manchmal denke ich dann, das geht jetzt haarscharf an der Prostitution vorbei: das ist Hingabe gegen Geld. Das ist jetzt natürlich schon wieder snobistisch, ja vermutlich zynisch übertrieben. Aber ein Spurenelement davon trifft für mich zu. Autoren, die die Bühne brauchen, die gerne auftreten, werden sich vielleicht stärker an der öffentlichen Vermarktung von Literatur, am Literaturbetrieb orientieren müssen. Sie wollen dabei sein. Tarnkappenautoren sind da naturgemäß etwas freier. Und doch - und jetzt komme ich zu meiner fünften These: Jeder Autor, der erfolgreich veröffentlichen möchte, braucht heute eine Agentin. Vorweg: kein Autor ist gezwungen zu veröffentlichen. Hölderlin wurde zu Lebzeiten kaum zur Kenntnis genommen. Erst im 20. Jahrhundert wurde sein Werk entdeckt. Auch Kafka hat zu Lebzeiten wenig publiziert. Weltliteratur haben sie trotzdem geschrieben. Manche der Großen konnten und wollten zwar veröffentlichen, blieben aber erfolglos. Denken wir im Jahr 2011 nur einmal an Heinrich von Kleist. Die Aufführung des Zerbrochenen Krugs in Weimar (unter Direktor Goethe) war eine solche Katastrophe, dass es zu Aufständen im Publikum kam. Oder Proust:

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Er hat, weil niemand das drucken wollte, den ersten Band der Recherche auf eigene Kosten verlegt. Beckett hat Murphy an 42 Verlage gesandt, bis einer das (vielleicht beste) Buch des späteren Nobelpreisträgers drucken wollte. Sie alle haben sich nicht abschrecken lassen zu schreiben, vermutlich, weil sie eben nicht anders konnten. Ich wollte immer veröffentlichen. Es war für mich wichtig, dass meine Texte zu lesen waren, und zwar so, wie ich sie geschrieben hatte. Vielleicht ist es die Idee, über Reportagen (diese Flaschenpost aus der Welt), über Bücher so etwas wie Gemeinschaft zu stiften, ein heimliches Zusammensein von Menschen, die sich gar nicht kennen müssen und die sich doch mit etwas gleichsam verbindend Heimatlichem beschäftigen. Ich singe gerne (wenn auch nicht sicher). Aber wenn ich den Wunsch für ein zweites Leben hätte, dann würde ich mir nie die Karriere einer Solistin wünschen, sondern immer lieber Mitglied in einem sehr guten und möglichst großen Chor sein. Ich bin nicht gerne allein. Ich finde das Ich-Sein oft mühsam und möchte es nicht noch durch die Aura der Dichterin vergrößern. Nun sind Autoren leider meist Solisten, und doch bleibt die Illusion, man sei nur eine Stimme im Chor derer, die das Buch dann lesen. (Dann wäre das Buch ja vielleicht schon eine Art Tarnkappe.) Seit ich eine Agentin habe, habe ich aber einen Schutz. Ich muss mit Verlagen nicht mehr über Verträge und Geld diskutieren. Ich kann mich aufs Schreiben konzentrieren. Ich habe eine sehr gute Agentin, und wir sind uns oft nicht einig, aber ich kann mich auf sie verlassen. Sie kennt den Markt sehr viel besser als ich, es ist auch ihr Beruf, ihn zu kennen. Der meine ist es nicht. Nachdem ich meiner Agentin das Manuskript meines zweiten Romans Flughafenfische geschickt hatte, rief sie mich nach drei oder vier Wochen an. In ihrer Stimme lag eine gewisse Vorsicht, die nichts Gutes verhieß. Ich habe dein Manuskript gelesen, sagte sie. Das ist ja das mindeste, dachte ich und schwieg. Ja, sagte sie, das hast du wieder sehr gut recherchiert, mit den Fischen und so. – Begeisterung klingt anders, dachte ich. Und, sagte sie, also das mit den beiden, mit diesem Aquaristen und dieser Fotografin, das ist prima, da merkt man schon, da knistert was. – Jetzt kommt es, dachte ich. Und es kam: Angelika, sagte sie, aber hör mal, kannst du das nicht noch ein bisschen anders schreiben, also: mehr Liebesgeschichte und weniger Fisch! – Ich hätte gern noch etwas mehr über die Fische geschrieben, sagte ich leise. Also gut, sagte sie, wenn das so ist, dann weißt du aber, dass ich dieses Manuskript keinem der großen Publikumsverlage anbieten kann. – Wo kannst du es anbieten, fragte ich? Da nannte sie vier Verlage; von zweien bekam ich ein Angebot. Natürlich will eine Agentin mit ihrer Arbeit Geld verdienen. Und je besser sich ein Buch verkauft, um so mehr verdient sie. Liebesgeschichte verkauft sich besser als Fisch, das weiß sie. Aber eine gute Agentin wird kaum weiter gehen, als das zu erwähnen. Es liegt dann immer noch am Autor, ob er mit ihr zusammen den Bestseller entwickeln möchte oder nicht.

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Meine Agentin bekommt, und das ist üblich, 15 % des Verlagsvorschusses. Da sie diesen Vorschuss aber besser aushandelt, als der Autor es (in der Regel) könnte, sind diese 15 % immer schon draufgeschlagen. Mindestens. Zusammen mit Manfred Koch und unserer Tochter Silvia entwickeln wir seit nun 10 Jahren wöchentlich das Rätsel »Abgründe« in der NZZ am Sonntag. Manfred Koch und Silvia recherchieren, ich schreibe. Manche Rätsel finde ich sehr schön, und ich habe versucht, die besten als Buch unterzubringen. Es ist mir nicht gelungen. Keiner der Verlage, denen ich die Rätsel schickte, wollte sie. Als ich dann eine Agentin hatte und sie die Sache in die Hand nahm, fand sie nicht nur schnell einen Verlag, sie handelte auch noch einen Vorschuss aus. Ich konnte es zunächst nicht glauben. Es lag aber einfach daran, dass ihr die Verlagsszene vertraut war; sie wusste, welcher Verlag sich interessieren könnte. Im Fall der Rätsel war es ein Verlag, den ich nicht kannte. Das Buch erschien als Hardcover, dann als Taschenbuch, Manfred sprach es noch als Hörbuch. Es wurde ins Italienische und Koreanische übersetzt. Mittlerweile ist ein zweiter Band herausgekommen. Kleine Rechenaufgabe zwischendrin. Was verdient ein Autor am Verkauf eines Buches? In der Regel bekommt der Autor pro verkauftes Exemplar 10 % des Nettoladenpreises. Machen wir die Rechnung einfach und sagen, er bekommt 3 Franken für jedes verkaufte Buch. Nehmen wir weiter an, er ist ein mittel-erfolgreicher Autor, der in zwei, drei, vier Jahren etwa 5'000 Exemplare der Hardcoverausgabe verkauft. Dann sind das 15'000 Franken. Dazu kommen die Lesungen. Nehmen wir etwas optimistisch an, dieser mittel-erfolgreiche Autor hat in dieser Zeit 30 Lesungen zu 500 Franken, dann sind das noch einmal 15'000 Franken. Das wären dann 30'000 Franken Einkommen in zwei, drei, vier Jahren. Aber nicht jeder Autor ist so ein mittel-erfolgreicher Autor. Und nicht jedes Buch eines mittel-erfolgreichen Autors ist ein mittel-erfolgreiches Buch. (Von meinem dritten, 2004 erschienenen Reportagenband Das halbe Brot der Vögel, den ich sehr gern mag, haben sich bis heute keine 800 Stück verkauft.) Mit den Flughafenfischen kam ich also zum Münchner Luchterhandverlag. Im Münchner Stadtcafé lernte ich meinen neuen Lektor kennen. Ich wusste, dass ich es ihm zu verdanken hatte, dass ich zum Verlag kam. Meine Agentin hatte mir geraten, beim Verlag von Nahe Tage zu bleiben. Dort, hatte sie gesagt, spielst du in der ersten Reihe. Bei Luchterhand wirst du dich daran gewöhnen müssen, in der vierten oder fünften Reihe zu spielen. Ich habe nichts gesagt, aber gedacht: vierte oder fünfte Reihe ist prima, und ich bin gerne in guter Gesellschaft. Die Presseabteilung bei Luchterhand ist dir gegenüber skeptisch, hatte meine Agentin gesagt, der Vertrieb auch. Und warum hat der Verlag ein Angebot gemacht, fragte ich. Da hatte sie gesagt: der Lektor will dich. Nun saß ich im Münchner Stadtcafe meinem neuen Lektor gegenüber. Wenn er sich für mich eingesetzt hat, dachte ich, ist das eine Vertrauensperson. Ich kann also direkt sein. Und nach etwas Konversation über meine Anreise und das Münchner Wetter fragte ich: Wenn sich nun die Flughafenfische nicht verkaufen, muss ich mir dann gleich wieder einen neuen Verlag suchen? Da hat er in seine Espressotasse hineingelächelt und ganz ru-

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hig gesagt: Frau Overath, der Verlag kann es sich leisten, dass sich ihr Buch nicht gut verkauft. Nun war ich also mit dem paradoxen Fall konfrontiert, dass ich ausgerechnet in einem Riesenkonzern, Luchterhand gehört bekanntlich zur Randomhouse-Gruppe, eine Nische gefunden hatte, in der ich erst einmal machen konnte, was ich wollte. Auch Fische, die sich vielleicht nicht so gut verkaufen. Ich weiß übrigens nicht, ob mein Lektor mein Manuskript gelesen hätte, wenn es ihm nicht über eine gute Agentin angeboten worden wäre. Er bekommt täglich mehrere Zusendungen. Wenn ein Manuskript von einer verlässlichen Agentur kommt, ist das für einen Lektor schon ein Filter. Kommen wir zur sechsten These: Ein guter Verlagslektor schützt den Autor vor dem Markt. Das Erscheinen von Alle Farben des Schnees war im Verlagsprospekt auf Anfang Oktober 2010 angekündigt. Aber ich kam mit dem Manuskript ganz schlecht zurecht. Das Buch hätte 160 Seiten haben sollen, aber das Projekt hatte sich unter der Hand verselbständigt, es war nicht nur, wie geplant, ein »lockeres Tagebuch« geworden, sondern irgendwie mehr, und ich musste mir schreibend erst klar machen, was es war und was ich wollte und konnte. Es fiel mir schwer, an der Grenze zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion zu schreiben. Ich musste eine Haltung, ein Ich erfinden. Früher als ich bemerkte der Lektor, dass da etwas aus dem Ruder lief und schlug mir vor, den Erscheinungstermin zu verschieben: Obwohl der Prospekt gedruckt war, obwohl ich für die Frankfurter Buchmesse eingeplant war, obwohl schon Interviews und Lesungen ausgemacht waren. Ich war verzweifelt und fragte: Klaus, du zweifelst an dem Projekt (mittlerweile duzten wir uns)? Nein, sagte er, aber ich zweifle daran, dass du das Buch jetzt übers Knie brechen solltest. Und er hatte Recht gehabt, ich hätte den Termin eingehalten. Ich kann Termine einhalten. Aber das Buch wäre schlechter geworden, als es jetzt ist. Ein Mann des Betriebs hatte sich also gegen den Betrieb für den besseren Text eingesetzt und durchgesetzt. Die übergangslose siebente These lautet: Klagenfurt kann sehr schön sein. Suchte man ein Szenario, um dem Thema ›Literaturbetrieb‹ nachzugehen, dann wären die »Tage der deutschsprachigen Literatur« in Klagenfurt kein schlechtes Beispiel. Offiziell geht es dort um die Autoren, die ihren Text lesen und einer Jury vorstellen. Doch dann bricht über oft harmlose Texte ein vehementes Geistesblitzgewitter der Juroren nieder, das das von den Autoren Geschriebene vor laufenden Kameras in den Schatten stellt. Denn während die Autoren ihren Text ›nur‹ ablesen, also nichts aus dem Augenblick heraus entwickeln müssen, sind die Juroren gezwungen, spontan zu reagieren und ihre (unter Umständen lange vorbereiteten) Pointen – sie kennen die Texte ja seit Wochen – möglichst sicher zu plazieren. Für

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Kenner ist Klagenfurt ein Wettbewerb der Juroren; die Autoren sind nur Spielbälle, die sie sich saisonal zuwerfen. Ich wäre immer gerne Jurorin in Klagenfurt gewesen (es hätte mich interessiert, ob es mir gelingen würde, Autoren zu schützen), ich wurde aber leider nie gefragt. Als ich dann als Autorin nach Klagenfurt eingeladen wurde, habe ich mich auch gefreut. Ich habe mir im Internet die jüngsten Lesungen angesehen und versucht, genau zu verstehen, was einem dort als Autorin passieren kann. Es kann einem schon einiges geschehen. Ich habe mir daraufhin eine individuelle Schutztruppe zusammengestellt: meinen Mann, meinen kleinen Sohn, eine gemeinsame Freundin und einen gemeinsamen Freund, die sich beide auch mochten. Wir haben bei Pörtschach direkt am See eine Ferienwohnung gemietet (wenn man in Klagenfurt liest, bekommt man 1'000 Euro, das hat für die Miete gereicht), und zwar für eine ganze Woche. Wir waren also schon einige Tage vor Beginn der Lesungen vor Ort, genossen den seidigen See, die guten Fische, das Zusammensein bei vermutlich nicht wenig gutem Wein aus der Wachau oder Slowenien. Ich habe mir ein Fahrrad gemietet, und als die Tage der Literatur begannen, bin ich am See entlang nach Klagenfurt geradelt und habe dann dort mit den anderen Eingeladenen im Hotel gewohnt. Es war schön, mit Autoren, die man nur vom Lesen kannte, nun einmal frühstücken zu können. Aber wenn mir der Rummel zuviel wurde, bin ich mit dem Rad wieder in die Ferienwohnung gefahren und habe mit meiner Familie und meinen Freunden gegessen; und wir sind im See geschwommen. Ich weiß nicht, wie ich diese Geschichte heute erzählen würde, hätte ich damals keinen Preis bekommen (es war der vierte und damit letzte, aber immerhin). Aber mir ist das literaturbetriebliche Klagenfurt in freundlicher, auch in lustiger Erinnerung geblieben. Ein Bild, das ich gerne habe: meine Agentin und mit mir noch drei ihrer Autoren saßen in Maria Loretto, das ist das einschlägige und sehr schöne Ausflugslokal am See. Im Aquarium, in das wir sahen oder an dem wir vorbeisahen, schwammen die Fische, die wir gleich essen würden. Wir waren früh dran. Und meine muntere Agentin mit den noch feuchten dunklen Haaren fragte mich, ob ich nicht auch schwimmen gehen wolle, und sie streckte mir ihren nassen Badeanzug über den Tisch entgegen. Der Begriff ›Literaturbetrieb‹ hat viele Farben. Den Literaturbetrieb, als ein einheitliches Phänomen, gibt es so wenig wie die Literatur, so wenig wie den Autor oder die Autorin, die Agentin und den Lektor oder den Verlag und die Leserin. Man muss nur in einen anderen Bus steigen, und die Bedeutungen und Spielregeln ändern sich. Es gibt Bewegungen der Betriebsamkeit an den unterschiedlichen Schauplätzen, zwischen Klagenfurt und Solothurn vielleicht, und all den literarischen Quartetten, Quintetten, Sextetten und SternschnuppenStunden. Kein Autor ist Angestellter eines Literaturbetriebs!

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Es sei denn, er will es sein. Dann muss er aber auch an ihn und einen Literaturbetriebsdirektor glauben und ihm gehorchen – was wäre ein Knecht ohne seinen Herrn. Und ein Herr ohne einen, der sich von seiner Autorität etwas erhofft? Zugegeben: wenn Autoren die Arenen der Literaturvermittlung, des Literaturkonsums, der Literaturinszenierung thematisieren, dann werden diese als literarische Räume in den Texten auftauchen. Eine Poetik (eine Dichtungstheorie), die sich an literarischer Betriebsamkeit entzündet, sehe ich weniger, auch wenn ich sie nicht ausschließen will. Sie ginge dann vermutlich in Richtung Literaturdesign. Im Zweifelsfall interessiert mich persönlich die Poetik der Lustigen Person aus Goethes Vorspiel auf dem Theater mehr. Sie rät, einen Text als ein ›Liebesabenteuer‹ anzugehen. Mit Mut und Anmut und ein wenig Leichtsinn. Eine Liaison also zwischen dem seltsamen Ich und den wundersamen Worten, aus dem ›Menschenleben‹ geschöpft. »Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt/ Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.« Die entschiedene Parole des Schauspieldirektors: »Gebt ihr euch einmal als Poeten,/ So kommandiert die Poesie«, diese Parole klingt zwar rabiat, aber gutes Handwerk schützt mit Sicherheit vor jedem unpoetischen Literaturbetrieb, ob man sich nun mehr oder weniger auf das Gefälligsein einlassen muss oder möchte. Zum Abschluss eine thesenlose Coda: Anfang März 2011 durfte ich in Sils Maria in der vor 50 Jahren von einer jüdischen Fabrikantenwitwe gestifteten Biblioteca Engiadinaisa die romanische Lyrikerin Leta Semadeni moderieren. Ihr wurde vor wenigen Tagen der Graubündner Literaturpreis zugesprochen. Leta Semadeni ist die Tochter von Jon Semadeni, der das romanische Theater revolutioniert und ihm einen eigene Weg in die Moderne geöffnet hat. Ich gehe davon aus, dass den wenigsten hier im Raum diese Namen auch nur irgend etwas sagen. Und ich verkneife mir ein vorlautes »Sehen Sie!« Jedenfalls, und ich weiss nicht mehr, in welchem Zusammenhang, auf einmal zitiert Leta Semadeni Wilhelm Busch mit den Worten: »Wie wohl ist dem, der dann und wann/ Sich etwas Schönes dichten kann.« Wenn ich ehrlich bin, fällt mir zum Thema Literaturbetrieb jetzt auch kein besseres Ende mehr ein.

David Marc Hoffmann

Das prosaische Verlagsgeschäft – ein Praxisbericht Im Verlagsleben geht es meist eher prosaisch als poetisch zu. Freilich finden sich dabei massive Unterschiede. Es gibt auch heute noch letzte Überlebende des grandseigneurialen Verlegertyps mit Zigarre und Whisky à la Samuel Fischer oder Ernst Rowohlt. So heißt es etwa, alle, die einmal beim Suhrkamp-Verleger und -Besitzer Siegfried Unseld gearbeitet hätten, litten an einem ›Unseld-Komplex‹ und versuchten großspurig in den Fußstapfen ihres Vorbilds zu gehen. Das sind dann auch diejenigen, die mit ihrem Verhalten das bittere Vorurteil nähren, die Verleger bereicherten sich schamlos und ›tränken den Champagner aus den Hirnschalen ihrer Autoren‹. Daneben gibt es aber den anderen Verlegertyp, der hart an der Front des Marktes arbeitet, oft nah am Abgrund der Zahlungsunfähigkeit und des Konkurses. Das ist eine Art Gegenbild der Verlegerrealität. Denn Verlegen bedeutet heute in vielen Fällen, auf kostendeckende Erträge zu verzichten und die Lücken mit viel Idealismus und Enthusiasmus zu füllen. Ein Verleger-Bonmot bringt es auf den Punkt: »Wie kommt man zu einem kleinen Vermögen? – Indem man zuvor ein großes Vermögen hat und dann einen Verlag begründet.« Die folgenden Ausführungen versuchen, einen Einblick zu geben in den langen, verschlungenen Weg vom ersten AutorInnenkontakt bis hin zur Präsentation und Rezeption des Buches.1 Dabei wird das Schwergewicht aufgrund meiner verlegerischen Herkunft (Schwabe Verlag Basel) auf dem Sach- und Fachbuchverlag liegen, einige Seitenblicke auf die belletristischen Verlage werden das Bild ergänzen.

1.

Der Erstkontakt

Das Manuskriptangebot ist gewöhnlich Anlass für den ersten Kontakt von Autorinnen und Autoren mit einem Verlag. Weit weniger häufig ist die Auftragserteilung von Verlagsseite. Die Anzahl der Schreibenden, die ihr Manuskript als Buch 1

Als Literatur zum Thema sei empfohlen: Ernst Rowohlt, »Fingerzeige für den Umgang mit Autoren« (1933), in: Hermann Gieselbusch, Dirk Moldenhauer, Uwe Naumann, Michael Töteberg (Hg.), 100 Jahre Rowohlt. Eine illustrierte Chronik, Reinbek 2008; Siegfried Unseld, Der Autor und sein Verleger, Frankfurt a. M. 1985; Verleger als Beruf. Siegfried Unseld zum fünfundsiebzigsten Geburtstag, Frankfurt a. M. 1999; Siegfried Unseld, Briefe an die Autoren, Frankfurt a. M. 2004; Rainer Groothuis, Wie kommen die Bücher auf die Erde? Über Verleger und Autoren, Hersteller, Verkäufer und das schöne Buch, Köln 2007; Nicola Steiner, Daniel Kampa (Hg.), Lustig ist das Verlegerleben, Briefe von und an Daniel Keel, Zürich 2010; Thedel von Wallmoden, Seiltanz. Der Autor und der Lektor, Göttingen 2010.

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David Marc Hoffmann

in den Buchhandlungen sehen möchten, ist Legion. Dementsprechend werden die Verlage von Angeboten überhäuft, selbst kleinere Verlage erhalten gut und gerne ein Angebot pro Woche, bei Großverlagen kann das leicht in die Dutzende gehen. Brauchbar ist meist nur ein kleiner Bruchteil der Angebote, 5 bis 10 Prozent, wenn es hoch kommt. Dem Rest kann oft gleich nach einem ersten Augenschein abgesagt werden: Pauschalzusendungen ohne vorgängige Abklärung des Verlagsprogramms (z. B. wenn einem Wissenschaftsverlag selbst illustrierte Gedichte angeboten werden), gut gemeinter Dilettantismus (etwa ein vierseitiger Leitfaden für Diabetiker, verfasst von einem Juristen), Vanity-Press Texte oder – ein sehr verbreitetes Genre – ›Weltformel-Texte‹. So nennen wir in unserem Verlag Manuskripte, die Antworten auf alle Fragen geben und z. B. das Rätsel hinter Freuds Psychoanalyse restlos entziffert oder den endgültigen Zusammenhang von 9/11 mit der Freimaurerei und der ›Klimalüge‹ entdeckt haben wollen. Nicht selten werden Manuskriptzusendungen begleitet von einer ›Empfehlung‹ renommierter Persönlichkeiten, d. h. anderer AutorInnen oder WissenschaftlerInnen. Diese Empfehlungen liegen dann freilich oftmals nicht im Originalwortlaut vor, sondern werden frei zitiert, nach dem Muster »Professor XY hat mein Manuskript gelesen und es sehr gut gefunden«. Solcherart Gefälligkeitsäußerungen werden bei der Begutachtung entweder bei der Gewährsperson direkt nachgeprüft oder eben als Gefälligkeiten nicht wirklich ernst genommen.

2.

Begutachtung des Manuskripts

Auch die wenigen Manuskripte, die es bis zu einer ernsthaften Prüfung durch das Lektorat schaffen, haben es nicht leicht. Die meisten Manuskripte sind umfangreich, und die Angebote sind selbst nach Aussortierung der unbrauchbaren 90% immer noch zu zahlreich, als dass jeder Text vollständig durchgelesen werden könnte. Oft entscheidet die Lektüre der ersten Seiten oder eine diagonale Durchsicht. Bei der Begutachtung spielen nicht bloß Qualitätskriterien eine Rolle, sondern auch die formale Gestalt des Manuskripts und die damit verbundenen redaktionellen und technischen Herstellungsvorgaben sowie seine Marktchancen. In unserem Verlag hat sich folgende Praxis eingebürgert: programmlich oder vertrieblich keine Chance hätten, werden mit einer anerkennenden Bemerkung und oft mit Angabe anderer, geeigneterer Verlage an die AutorInnen zurückgeschickt. kästen‹ gleichen, d.h. eine Ansammlung von Textblöcken, Zitaten und Bildern sind, oder die als maschinengeschriebene Typoskripte (oft mit handschriftlichen Ergänzungen und Korrekturen) eintreffen, bedürfen eines derart großen redaktionellen Aufwands, dass die Umsetzung von den

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Verlagen kaum geleistet werden kann, weshalb solche Manuskripte zur Überarbeitung zurück an die Absender gehen. lehnt, weil dafür der Markt zu klein ist bzw. die Erlöse für den Verlag und den Autor zu mickrig wären. Das ist der typische Fall bei Lyrik. Verlage, die beharrlich Gedichte verlegen, sind entweder allerbestens eingeführt oder machen dies als Überzeugungstäter und ›gegen den Markt‹. Die meisten Verlage sehen sich aber heute aus administrativen und finanziellen Gründen außerstande, die eingesandten Manuskripte zurückzusenden und schicken als Absage bloß einen Brief oder eine E-Mail. Viele Angebote gehen auch auf dem E-Mail-Weg ein, wobei hier der Verfall der Kommunikationssitten besonders sichtbar wird. »Hallo« oder gar keine Anrede sind fast üblich geworden, stellen aber oft schon einen Absagegrund dar. Eine andere Form von Publikationsangeboten sind Projektpläne: Entwürfe für erst noch zu verfassende Texte, Lehrbücher, Lexika oder Text- und Bildbände. Hier ist das Lektorat gefordert, das Potenzial eines Projekts und seine Umsetzungschancen einzuschätzen. Gegebenenfalls wird daraus ein Werk, das gemeinsam von Autorschaft und Lektorat erarbeitet und realisiert wird. Bei der Praxis der Zu- und Absage zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den belletristischen Verlagen und den Sachbuch- oder Wissenschaftsverlagen. Belletristische Autoren suchen oft eine ›verlegerische Heimat‹ und Belletristikverlage versuchen, ihre erfolgreichen Autoren langfristig an sich zu binden. So gibt es typische Suhrkamp-, Hanser- oder Stroemfeld-Autoren, die ihren Häusern treu bleiben. Jedenfalls spielt hier die persönliche Beziehung zwischen VerlegerInnen und LektorInnen einerseits und den AutorInnen andererseits eine zentrale Rolle. Ein beeindruckendes Beispiel ist hierfür das Bekenntnis Siegfried Unselds zum Werk Paul Celans anlässlich der Vertragsunterzeichnung für Atemwende: ein Engagement über Jahre hinaus, ein Versprechen, ja fast eine geistige Eheschließung: Damit gehen wir eine Verbindung ein, die mir bedeutsam erscheint und die ich äußerst wichtig nehme. [...] Ich versichere Sie meiner wirklichen Treue Ihrem Werk gegenüber für die kommenden Jahre. [...] Es mehren sich ja gelegentlich die Stimmen, die Ihre Art zu denken und zu dichten nicht mehr ganz in ein modernes ›pattern‹ eingefügt sehen. Das weiß ich sehr genau, aber Sie auch sollen wissen, daß ich mich von diesen Auffassungen nicht berühren laße und daß ich entschlossen bin – wenn auch Sie es wollen und Sie meiner Arbeit vertrauen – meinen Weg mit Ihnen zu gehen. (Brief 2 vom 06. 01. 1967)

Dieses Treuegelöbnis eines Verlegers zu einem Autor und seinem Werk ist (oder eher: war) kennzeichnend für die belletristischen Verlage. Tiefe Freundschaften und große Liebschaften sind entstanden zwischen Verlegern und ihren Autorinnen und Autoren. Ernst Rowohlt warnte zwar in seinen Fingerzeigen über den Umgang mit Au2

Unseld, Briefe an die Autoren (wie Anm. 1), S. 53.

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toren (1933): »Bist du mit einem Autor menschlich befreundet, so empfiehl ihn einem anderen Verleger, denn das sicherste Mittel, deinen Freund zu verlieren ist, ihn zu verlegen.«3 Dass aber Freundschaften aus dem Verlagsgeschäft hervorgehen können, war ihm auch klar und dagegen hatte er keinen warnenden Fingerzeig zur Hand. In der Wissenschaftswelt sieht es anders aus. Hier werden zuvörderst Bücher verlegt, nicht Autoren und ihr Gesamtwerk. Je nach Fachrichtung oder Genre eines Manuskripts ist ein anderer Verlag zuständig oder wird sogar angefragt. Die Autobiographie eines Historikers muss nicht im selben Verlag erscheinen wie seine geschichtswissenschaftlichen Studien. Während Zusagen leicht hymnisch werden können (siehe Unselds Brief an Celan), sind Absagen eher prosaisch, ja oft wortkarg. Je mehr Begründungen in Absagen stehen, desto schneller ist der Autor beleidigt und desto leichter kann er Nachbesserungen anbringen und mit dem Manuskript schon wenige Wochen später wieder vor der Verlagstür stehen. Vor allem: Autorinnen und Autoren sind ein eitles Volk. Sie sind vom eingereichten Manuskript normalerweise höchst eingenommen, sonst würden sie es ja nicht einreichen. In unserem Verlag verzichten wir bei Manuskriptabsagen soweit wie möglich auf inhaltliche Begründungen. Dort, wo uns ein Manuskript aber inhaltlich überzeugt und einfach programmlich nicht zu uns passt, verweisen wir die Autorinnen und Autoren auf andere Verlage, gegebenenfalls nennen wir gar uns dort persönlich bekannte Ansprechpartner und fordern die AutorInnen auf, sich auf unsere Empfehlung zu berufen. Die hier beschriebene Absagepraxis ist allerdings am Aussterben. Viele Verlage reagieren heute nur auf überzeugende Publikationsangebote, und Absagen werden gar nicht erst aufgesetzt.

3.

Konfliktfälle bei Absagen

Delikate Situationen ergeben sich, wenn ein im Auftrag verfasster Text nicht den Erwartungen entspricht, z. B. bei Lexikonartikeln, die nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung sind oder am Thema vorbei geschrieben wurden. Deswegen empfiehlt es sich für den Verlag, in den Publikationsvertrag eine Klausel zur Rückweisung eines Beitrags mit Nennung einer Nachbesserungsfrist und mit Angabe des allfälligen, so genannten Ausfallhonorars aufzunehmen. Sind solche Worst-case Szenarien nicht vertraglich festgehalten, kann es leicht geschehen, dass sich ein Verlag mit einem Großteil des Honorars (oder gar dem ganzen vertraglich vereinbarten Honorar) von der Veröffentlichung des missliebigen Manuskripts loskaufen muss. In gewissen Fällen ist eine Absage nicht mehr möglich: Das Buch ist bereits angekündigt, der Autor ist zu renommiert, die Absage ist aus gesellschaftspolitischen oder finanziellen Gründen nicht opportun etc. Solche Situationen habe ich zweimal erlebt: In beiden Fällen haben wir eine ›Schreibassistenz‹ organisiert, um das Ma3

Rowohlt, »Fingerzeige« (wie Anm. 1), S. 59.

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nuskript überarbeiten bzw. abschließen zu lassen. Im einen Fall ist diese zunächst anonym geplante Assistenz zu einem öffentlich deklarierten Mitautor geworden, im anderen Fall hat der Assistent den Autor aus seiner Schreibhemmung befreit und zeitweilig eine Art Ghostwriter-Rolle übernommen. Eine andere Situation besteht im Zensurvorwurf. Bei der Ablehnung eines Manuskripts bin ich einmal im hitzigen Gespräch zu einer inhaltlichen Begründung genötigt worden, worauf ich Klartext über die unpassende Ausrichtung und den problematischen Stil des Manuskripts geredet habe. Darauf wurde mir prompt der Vorwurf der Zensur gemacht, wogegen ich mich natürlich empört verwahrt habe. Zensur kann man allenfalls einem monopolistischen Staatsverlag vorwerfen oder einer staatlichen Behörde, die über die Veröffentlichung eines Textes abschließend befindet. Ein privatwirtschaftlicher Verlag, der mit den Erträgen seines Buchverkaufs die Herstellungskosten des Buches und die Gehälter seiner Mitarbeitenden bezahlen muss, kann legitimerweise ganz allein über die Aufnahme eines Manuskripts in sein Verlagsprogramm entscheiden, und zwar aus inhaltlichen, stilistischen und sogar aus Gesinnungsgründen.

4.

Das Lektorat

Der Weg vom Manuskript bis zum Buch führt nicht bloß über Satzabteilung, Druckerei und Buchbinderei, sondern zuerst durchs Lektorat. Dass ein Manuskript überhaupt ein Lektorat braucht, ist heute vielen Autoren nicht mehr selbstverständlich. »Ein Lektorat können Sie sich sparen, ich habe meinen Text mehrfach gelesen, und ein Freund von mir auch«, hören wir nicht selten. Dabei sind die Gesichtspunkte des Verlags doch ganz andere als diejenigen des Autors. Zunächst gilt, dass ein Autor seinen Text nicht selbst kontrollieren kann, weil jeder, gemäß Freuds Theorie des Unbewussten, seine eigenen Fehler am leichtesten überliest. Lektorat heißt zuallererst Prüfung des Textes auf allgemeine Qualität und Publikationsreife, dann auf seine Eignung im Hinblick auf das Programm, die Verkaufbarkeit und die Finanzierbarkeit im eigenen Verlag. Danach beginnt die Arbeit am Text, d.h. das Ringen um Formulierungen, Redundanzen, Widersprüche und Argumentationen, um Stringenz, Plausibilität, Stil, Syntax und Grammatik. Dann gilt natürlich die Aufmerksamkeit objektiven Fehlern oder Ungenauigkeiten wie Datierungen und Zuordnungen, und schließlich geht es um die Berichtigung von Orthographie und Interpunktion. Dabei müssen die Lektorinnen und Lektoren jeweils das richtige Maß treffen: Was kann als Eigenheit des Autors durchgehen, wo ist ein Eingriff unerlässlich? Die Texte können normalerweise im Lektorat nicht neu geschrieben werden, gewisse schreien aber danach. Bitter ist, wenn sich das erst mit fortschreitender Arbeit zeigt. Ein erster Blick ins Manuskript hat getäuscht, man hat den Text angenommen und bereits für das nächste Programm angekündigt, und nun zeigt sich, dass der Autor zwar ein guter Fachwissenschaftler, jedoch ein schwacher Stilist ist.

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Oder er ist ein inhaltlich kompetenter und arrivierter, aber formal oberflächlicher Wissenschaftler (der sich ›schnelles Schreiben‹ leisten kann), was große Nachbesserungsarbeit in den Formulierungen des Textes sowie in den Anmerkungen und der Bibliographie mit sich bringt. In der Belletristik stehen dagegen eher Prüfung des Stils, der Zeitenfolgen, der Erzählebenen und -perspektiven sowie der Stringenz des Plots im Vordergrund. Mehr und mehr ist heute das Lektorat zu einem umfassenden Projektmanagement geworden: Nicht nur das Lektorieren der Texte gehört dazu, sondern ebenso die Bildredaktion, d.h. Abbildungen kontrollieren und inhaltlich verifizieren (seitenverkehrt oder -richtig, Bildausschnitt, vertauschte Bilder), Legenden in Bezug auf Übereinstimmung von Text und Bild und richtige Zuordnung prüfen (ist der Zweite von links wirklich Bismarck?) und die Bildnachweise kontrollieren und gegebenenfalls korrigieren oder erst einholen. Weiter gehört zum Projektmanagement die Betreuung eines Titels in der Herstellung, im Marketing und Verkauf bis hin zu Veranstaltungen mit dem Autor oder der Autorin. Durch diese intime inhaltliche und formale Auseinandersetzung zwischen Schreibenden und Lektorierenden entstehen oft Vertrauens- und Freundschaftsverhältnisse (bisweilen sogar mehr), und der Lektor wird zum Anwalt des Autors gegenüber seinem Verlag. Nicht selten folgt ein Autor seinem Lektor, wenn dieser zu einem anderen Verlag wechselt. Ein gutes Lektorat ist für den Leser unsichtbar, über ein schlechtes – oder gar keines – stolpert man unweigerlich. Solches gilt auch bei Rezensionen: Kaum je wird die Lektoratsarbeit gelobt, weil sie eben unsichtbar ist und der Text scheinbar ganz auf das Konto des Autors geht, wogegen Fehler und Ungereimtheiten gerne genannt und meist dem Lektorat angerechnet werden.

5.

Verträge, Finanzierung, Verkaufsrisiko

Vollends prosaisch wird es bei Kalkulations- und Vertragsfragen: Verlegen kommt von ›Geld vorlegen‹, d. h. der Verleger investiert in die Herstellung und Verbreitung eines Textes und versucht, durch den Verkaufserlös seine Kosten wieder zu decken. Das bedeutet, dass Geld verdient werden muss, und zwar massiv, wenn die Kosten für Lektorat, Satz, Druck, Papier, Buchbinder, Lager, Werbung und Auslieferung wieder eingespielt werden sollen. Um die Kosten eines ›normalen‹ Buches decken zu können, müssen – je nach Herstellungsaufwand und Ladenpreis – zwischen 3'000 und 5'000 Exemplare verkauft werden. Erst nach diesem Breakeven, d. h. nach dem Erreichen der Deckungsauflage beginnt die Gewinnzone. Dann erst ist es sinnvoll und möglich, Autorenhonorare auszuzahlen. Erreicht der Verkauf die Deckungsauflage nicht, fährt der Verlag Verluste ein, bisweilen enorme, existenzbedrohende Verluste. Die Deckungsauflage liegt zudem nur bei einem ›Durchschnittsbuch‹ bei den genannten 3'000 bis 5'000 Exemplaren; je nach Produktions- und Werbeaufwand kann sie bei mehreren hunderttausend Exemplaren liegen. Der vermeintliche

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Bestseller eines Belletristikverlages mag etwa trotz 250'000 verkauften Exemplaren zum finanziellen Flop werden – weil die Ausgaben für Marketing und Werbung so hoch waren, dass sie lediglich mit 500'000 verkauften Exemplaren hätten gedeckt werden können. Im Wissenschaftsverlag liegen die Auflagen dagegen oft nur bei einigen hundert Exemplaren, was es unmöglich macht, aus dem Verkaufserlös die Herstellung zu finanzieren. Deshalb sind für solche Publikationen so genannte Druckkostenzuschüsse unerlässlich. Dafür kommen glücklicherweise meist Stiftungen und Wissenschaftsorganisationen auf. Diese bei Wissenschaftstiteln eingeworbenen Zuschüsse ermöglichen eine Senkung des Ladenpreises, was die Titel für Privatpersonen meist erst erschwinglich macht. Dort, wo keine Zuschüsse vorliegen, müssen die Ladenpreise in astronomischen Höhen angesetzt werden (oft einige hundert Euro), um die Herstellungskosten decken zu können.

6.

»Warum liegt mein Werk nicht bei Thalia neben der Kasse?«

Autoren sind, wie erwähnt, gewöhnlich eitel und haben ein Sendungsbewusstsein, sonst würden sie nicht schreiben. Entsprechend anspruchsvoll sind sie auch in Bezug auf die Verbreitung und öffentliche Wahrnehmung ihrer Bücher. Selten sind jene Autoren, die die bescheidene Markteinschätzung der Verlage teilen. Immerhin muss sich jeder neue Titel heutzutage neben 100'000 anderen jährlichen Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt behaupten. Viele Autorinnen und Autoren hoffen, dass die Welt auf ihr Werk wartet, und dementsprechend gehen sie davon aus, dass die Verlage ihr Buch in Zeitungen und Zeitschriften (zumindest in NZZ, FAZ, SZ, Zeit, Spiegel) bewerben können und dass es bei Thalia vorhanden oder gar ›neben der Kasse‹ liegt. Auch bei Amazon muss es lieferbar sein. Dass aber diese großen Händler privatwirtschaftlich organisiert sind und über die Aufnahme und Präsentation eines Titels in ihrem Sortiment selbst bestimmen, wird bei ihrer Monopolstellung leicht vergessen. Gerne würden die Verlage in den einschlägigen Tages- und Wochenzeitungen inserieren, aber ein halbseitiges Inserat kann leicht so teuer sein wie die ganze Produktion einer Taschenbuchausgabe.

7.

Leser, Autoren und Verlage

Wer das neu erschienene Buch kauft und ob bzw. wie er es liest, das alles liegt weit außerhalb des Einflussbereichs des Verlags. Selbst bei Titelwahl und Umschlagsgestaltung tappen die Verlage manchmal im Dunkeln. Entscheidend sind häufig unberechenbare Faktoren wie Rezensionen oder Besprechungen in Radio und Fernsehen, Bestsellerlisten, Zeitgeist, Themenhypes. Ein verlässlicher Kom-

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David Marc Hoffmann

pass für Autoren und Leser ist immer noch das Verlagsrenommée: Ein Lyrikband bei Hanser verspricht ebenso Qualität wie ein historisches Werk aus dem C.H. Beck Verlag. Und ein Kriminalroman bei Diogenes ist geradezu ein Garant für spannende Lektüre. So bekannte einmal ein Journalist im Norddeutschen Rundfunk freimütig: »Der Diogenes Verlag ist zur Zeit für mich der Verlag, nach dessen Produkten ich in Bahnhofsbuchhandlungen blind greife, wenn ich nur zwei Minuten Zeit für einen Kauf habe, aber keinesfalls ohne Buch zum Zug eilen will.« Deshalb gehören die sorgfältige Programmpflege und die kontinuierliche Konturierung des Verlagsprofils zu den vornehmsten Aufgaben eines Verlagsleiters. Das langfristige Kapital eines Verlags ist sein Programm, daraus erschließt sich alles Weitere: Autoren kommen zum Verlag oder bleiben ihm treu, Leser vertrauen dem Verlag und kaufen dessen Bücher, qualifizierte Mitarbeiter suchen eine Anstellung und bleiben langfristige Angestellte. Der große Schriftsteller, Sprachforscher und Verleger der Aufklärung Joachim Heinrich Campe (1746 –1818) hat einmal gewarnt: »Das intellectuale Gewissen des Verlegers ist das höchste Gut. Rühre an seine Freiheit und du erschütterst die feste Burg seines Verlags.«4

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Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und für die mit ihm verwandten Geschäftszweige, hg. von den Deputirten des Vereins der Buchhändler zu Leipzig, amtliches Blatt des Börsenvereins, Nr. 64 (1837), S. 211.

Alexandra Kedves

Ist das Feuilleton relevant für die Entstehung guter Bücher? Als Kulturjournalistin, als Praktikerin im Literaturbetrieb, die viel Lebenszeit damit verbringt, Rezensionen zu bauen, muss ich mir die Titelfrage naturgemäß stellen; und als Praktikerin will ich sie auch beantworten – mit Blick auf Verrisse und ihre Folgen, mit Blick auf die Großkritiker und ihre Fehden, mit Blick auf die Zweifel an unserer Zunft und ihre Selbstzweifel. Selbst da, wo das Genre Literaturkritik nicht prinzipiell in Zweifel gezogen wird, bleiben die Rezensenten in der Schusslinie. Die gängigen Argumente lauten: Erstens seien die Kritiker inkompetent; zweitens sei Buchkritik in der Zeitung irrelevant, weil sie nur ein kleines Publikum erreiche; drittens läsen gerade jene, die von der Kritik profitieren sollten oder könnten – die Autoren und Autorinnen –, laut eigenem Bekunden oft keine Buchkritiken. Allerdings hat, trotz all dieser Zweifel, bis heute jede ernst zu nehmende Zeitung mindestens einen Literaturredakteur und legt Wert darauf, bei allen für relevant gehaltenen Neuerscheinungen rechtzeitig eine eigene, gut begründete Kritik präsentieren zu können. Außerdem drängen selbst die Kritik-kritischen Verleger und Autoren darauf, im Feuilleton vorzukommen, und sie kämpfen darum, dass die Literaturkritik möglichst viel Platz einnimmt und nicht zum winzigen Buchtipp neben der großen Popkonzert-Besprechung schrumpft. Jeder Literaturkritiker kennt die Bemühungen von Verlagen und Schriftstellern aus der eigenen Praxis: Verlagsprogramme, Rezensionsexemplare, gar Telefonate und persönliche Anschreiben sollen zum Schreiben einer Kritik anregen und ermuntern. Ist die Kritik dann erschienen, bleiben Reaktionen oft nicht aus und reichen vom netten Kärtchen bei einem positiven Urteil bis zum erbosten Anruf am frühen Morgen bei einem negativen. Aber gleichgültig, ob der Literaturkritik mit professionellem Schweigen begegnet wird, mit Argumenten, Invektiven oder gar mit kleinen Präsenten – einen Fall habe ich bis dato noch nie erlebt: dass sich ein erfreuter Autor meldet, sich für die konstruktive Kritik, die nützlichen Tipps bedankt, die er in Zukunft, im nächsten Buch, definitiv beherzigen wolle. Ist das Feuilleton also relevant für die Entstehung guter Bücher? Oder, anders gefragt, was leistet die Literaturkritik? Werfen wir einen Blick auf die typischen Argumente zum Thema Literaturkritik und betrachten wir einige exemplarischen Fälle. Eine schöne Zusammenfassung gibt es in Kurt Tucholskys Artikel Kritik als Berufsstörung aus dem Jahr 1931, wobei schon der Titel bezeichnend ist.1 Was Tucholsky hier pointiert als Kritik an der Kri1

Kurt Tucholsky, »Kritik als Berufsstörung (Peter Panter in Die Weltbühne Nr. 46, 17. 11. 1931)«, in: ders., Gesamtausgabe. Texte und Briefe, hg. von A. Bonitz u. a., 23 Bde., Reinbek 1996–2011, Bd. 14, S. 439–443 (im Folgenden unter dem Kürzel KaB mit Seitenangabe direkt im Text).

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tik resümiert, sind jene Vorwürfe, die der Gilde der Literaturkritiker heute noch gerne entgegengehalten werden. Aus diesem Artikel sei im Folgenden auszugsweise zitiert. Zur Wirkung von Literaturkritik hält Tucholsky fest: Das Lobgehudel, das sich über die meisten der angekündigten Bücher ergeusst, hat denn auch zur Folge gehabt, dass die Buchkritik kaum noch irgend eine Wirkung hervorruft: das Publikum liest diese dürftig verhüllten Waschzettel überhaupt nicht mehr, und wenn es sie liest, so orientiert es sich nicht an ihnen. Die einzige sichtbare Wirkung, die wir noch ausüben, ist die Wirkung auf […] den Verleger. Der wiederum beachtet die Kritik […] viel zu sehr, er läuft den gelobten Autoren nach und den getadelten aus dem Wege. Die unmittelbare Wirkung dieser Kritiken auf den Absatz der Bücher veranschlage ich nach meinen Erfahrungen als sehr gering. (KaB 440)

Literaturkritiker des 21. Jahrhunderts werden diese Beobachtung bestätigen. Zum einen offerieren immer mehr Printmedien Waschzettelkritiken für den eiligen Leser. Aber auch die ausführliche und wohl abgewogene Zeitungskritik hat selten einen entscheidenden Einfluss auf die Verkaufszahlen, wie die Buchhändlergilde bestätigt. Ein Dan Brown verkauft sich ohne Feuilletonkritik, und einer Lyrikerin wie Wisława Szymborska hilft selbst der Literaturnobelpreis und das nachfolgende Rauschen im Blätterwald kaum – zumindest nicht an der Buchladenkasse. Die Mund-zu-Mund-Propaganda ist, laut Buchhändlern, noch immer die effektivste Form von Werbung für ein Buch. Zur Funktion von Literaturkritik resümiert Tucholsky: Ich glaube aber, dass, wenn sich Absatzwirkungen zeigen, sie dann eben Wirkungen der Kritik sind, die mit der Besprechung aufs Innigste zusammenhängen und von leidenschaftlichen Kritikern mit vollem Recht beabsichtigt werden. Der Kritiker will eine bestimmte Literaturgattung fördern, also bearbeitet er Publikum und Verleger; er will eine andre Gattung schädigen, dann tadelt er sie. […] Ich kann darin nichts Unerlaubtes sehn. (KaB 440)

Kurt Tucholsky betrachtet den Literaturkritiker demnach tatsächlich als Hebamme guter Literatur – obwohl er daran zweifelt, dass er diese Rolle auch ausfüllen kann; und obwohl er davon ausgeht, dass die Vertreter des Buchmarktes vom Literaturkritiker nichts erwarten als Unterstützung beim Verkauf. »Doch sind wir leider soweit gediehn, dass Kritik nur noch als Berufsförderung oder Berufsstörung angesehn wird, und so wird denn auch der Kritiker gewertet. Lobt er, ist er für den Belobten ein großer und bedeutender Kritiker; tadelt er, so ist er für den Getadelten ein Ignorant und taugt nichts.« (KaB 441) Allerdings sieht Tucholsky selber auch fragwürdige Momente im Betrieb der Literaturkritik, als da wären der »Machttrieb« einerseits (»Fast jeder Kritiker hält sich in der Viertelstunde, wo er seine Kritik aufpinselt, für einen kleinen Herrgott« [KaB 441]) und die allzu enge Verbandelung, der Filz, andererseits (»[E]s ist ja so schwer, jemand zu verreißen, mit dem man öfter zu Abend gegessen hat.« [KaB 441]). Trotz all dieser Bedenken habe aber der Kritiker das Recht und die Pflicht, sich gegen ein Buch auszusprechen, so es seinen Begriff von guter Literatur nicht erfüllt:

Ist das Feuilleton relevant? | 43 Und da meine ich: wenn getadelt wird, dann mag jedes Argument gegen den Tadler gelten: du hast den Autor nicht verstanden; du hast den Übersetzer unterschätzt; du bist nicht legitimiert, zu tadeln – alles, alles. Aber ein einziges Argument gilt nun mal bestimmt nicht: deine Kritik kann dem Getadelten wirtschaftlich schaden […] Also das geht nicht. Ich will dem Mann schaden, wenn ich ihn tadle. Ich will die Leser vor ihm warnen und die Verleger auch – ich will aus politischen, aus ästhetischen, aus andern offen anzugebenden Gründen diese Sorte Literatur mit den Mitteln unterdrücken, die einem Kritiker angemessen sind. Das heißt: ich habe die Leistung zu kritisieren und weiter nichts. Aber die mit aller Schärfe. (KaB 442f.)

Kurt Tucholsky hält an der Idee fest, dass der Kritiker als Unparteiischer, Unbestechlicher und genauer elegantiae arbiter eine wichtige Rolle auf dem Buchmarkt zu spielen hätte – dass er dies nur meistens nicht tut. Er solle verhindern, dass sich schlechte Bücher verkaufen und dass schlechte Autoren weiterhin Verleger finden. Er wolle bestimmte Literatur »unterdrücken« und auf andere Literatur wiederum aufmerksam machen, ihre Produktion fördern. Ist das Feuilleton relevant für die Entstehung guter Bücher? Kurt Tucholsky würde antworten: Wenn es gutes Feuilleton ist, dann ja. Verleger und Autoren dagegen erwarten vom ›parasitären‹ Kritiker, der ja von der Buchproduktion lebt, dass er den Verkauf, in welcher Form auch immer, ankurbelt. ›Unterdrücken‹ ist nicht vorgesehen. Dass die Wirkung des Feuilletons de facto so groß gar nicht ist, wird allerdings auch eingeräumt. Zwar gebe es Leser, die mit dem Zeitungsausschnitt in der Hand zum Buchhändler kämen – doch das sei die Minderheit, so heißt es. Und bei den Bestsellern ist es eher so, dass die Kritik den großen Namen hinterherläuft (zum Beispiel bei der gerüchteumwobenen Neuerscheinung des letzten Harry Potter-Bandes), nicht umgekehrt. Ein J. M. Coetzee verkauft sich bei Verrissen mindestens so gut wie bei Hymnen. Damit soll zu einem ersten Fallbeispiel übergeleitet werden. Es geht um einen Großkritiker der Gegenwart, der, bei der Verteidigung einer seiner umstrittenen Kritiken, die Funktion des Feuilletonisten klar umrissen hat.

Reich-Ranicki, Fall I Mit Jenseits der Literatur überschrieb Marcel Reich-Ranicki 1976 seine Kritik von Martin Walsers Roman Jenseits der Liebe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er machte damit seinen Anspruch deutlich, bestimmen zu können, was gute, was schlechte, was gar keine Literatur ist. Reich-Ranicki schreibt, besagter Roman sei »ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman«, und es lohne sich nicht, »auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen«. Es sei lauter »Müll«, eben ein Buch »jenseits der Literatur«.2 2

Marcel Reich-Ranicki, »Jenseits der Literatur«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 03. 1976, zitiert nach der Nachpublikation unter http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_ id=14427 (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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Gegen diese typische Ranicki-Suada wurde dann beispielsweise von Rolf Becker im Spiegel gekontert: Der Erzähler Walser formuliert individual- und sozialpsychische Befindlichkeiten, Strategien des Lustgewinns und -verzichts, der Herrschaft, Anpassung und Unterwerfung – etwa in Familien, etwa unter Kollegen – so intelligent und konzentriert wie eh. […] Und er kommt dabei, schaut man sich um in deutscher Gegenwartsliteratur, wenn auch nicht ans Ziel aller literaturpäpstlichen Wünsche, so doch ganz schön weit. […] ›Jenseits der Literatur‹? Der dies schrieb, blieb damit, meine ich, nur knapp dies3 seits der Literaturkritik.

Auch Kollegenschelte darf also sein, selbst – oder gerade? – bei einer so weichen Wissenschaft (wenn man überhaupt von Wissenschaft sprechen will) wie der Literaturbewertung. Der eine hält dem anderen Unfähigkeit vor; letztlich beweisbar ist weder die eine noch die andere Lesart, wenn Geschmacksrichter sich streiten. Aufschlussreich im Rahmen unserer Fragestellung ist allerdings Ranickis eigene Kehrtwende. Martin Walsers nächsten Roman Ein fliehendes Pferd, erschienen 1978, lobt Reich-Ranicki in höchsten Tönen als Walsers »reifstes, sein schönstes und bestes Buch«.4 Und er kommt auf seinen früheren Verriss zurück. Er begründet ihn mit genau jener Motivation, die schon Tucholsky als die einzig wahre anführte: nämlich gute Literatur fördern und schlechte an den Pranger stellen zu wollen. So hält Reich-Ranicki später über seine Jenseits-Kritik fest: [S]oviel gegen Jenseits der Liebe einzuwenden war und ist – denn ich kann von meiner damaligen Rezension auch heute nichts zurücknehmen –, so sicher erscheinen in der Bundesrepublik alljährlich unzählige Bücher, die in jeder Hinsicht erheblich schlechter sind als jenes, das mit einem so rabiaten Protest bedacht wurde. Wozu sollte also dieser Protest gut sein, was wollte er bewirken? Jede Literaturkritik bezieht sich auf einen konkreten Gegenstand – und nie auf diesen Gegenstand allein. Indem der Kritiker ein Buch befürwortet oder zurückweist, spricht er sich für oder gegen einen Autor aus und zugleich für oder gegen eine literarische Richtung. Er sieht also das Buch, das er behandelt, immer in einem bestimmten Zusammenhang. Er wertet es als Symptom. (WG)

So erklärt der Großkritiker seinen erbarmungslosen Verriss mit seiner Rolle als Richter und Förderer der richtigen, der guten Literatur. Und er begründet seinen rüden Ton mit seiner Liebe zum Werk Walsers, das er seit langen Jahren begleitet hat. Rückblickend meint er: »Die Kritik […] war ein zorniger und verzweifelter Versuch, auf Martin Walsers schriftstellerischen Weg einen Einfluss auszuüben.« (WG) In seiner ausführlichen Rezension zum Fliehenden Pferd zwei Monate später legte er nach, Walser habe »die Geschwätzigkeit überwunden und die Beredsam3 4

Rolf Becker, »Der Sturz des Franz Horn«, in: Der Spiegel, 05. 04. 1976, zitiert nach http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-41279967.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Marcel Reich-Ranicki, »Walsers Glanzstück«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 01. 1978, zitiert nach der Nachpublikation unter http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_ id=14428 (letzter Aufruf 11. 02. 2013), Verweise im Folgenden unter der Sigle WG direkt im Text.

Ist das Feuilleton relevant? | 45 keit wiedergewonnen«.5 Er behauptet also, dass die pädagogischen Bemühungen, die hinter seiner Kritik gestanden hätten, angeschlagen hätten. Damit beantwortet Marcel Reich-Ranicki die Ausgangsfrage nach der Relevanz des Feuilletons für die Genese guter Bücher selbstbewusst mit »Ja«.

Reich-Ranicki, Fall II Derselbe Kritiker verriss bekanntlich Günter Grass’ Roman Ein weites Feld aus dem Jahr 1995 im Spiegel buchstäblich. Man erinnert sich an die vieldiskutierte Fotomontage, auf der er das Buch zerfetzt.6 Die beiden waren lange unversöhnt. Im Jahr 2002 reagiert aber dann der Literaturkritiker auf zarte Annäherungsversuche des Autors, die er zu erkennen glaubt, öffentlich wie folgt: Ich verstehe das als Angebot, und ich nehme es gern an. […] Ihre erste und wichtigste Bedingung [zur Versöhnung]: Ich soll meine am 21. August 1995 […] erschienene Kritik Ihres Romans Ein weites Feld zurücknehmen. […] Warum sollte ich, frage ich ganz bescheiden, meine Kritik revidieren? Weil sie einen ›horrenden Fehler‹ mit einer ›Kränkung‹ Ihrer Person verbinde. Die Kränkung bedauere ich, doch bisweilen ist, was Sie Kränkung nennen, in der Kritik leider unvermeidbar. Und der Fehler? Meinen Sie wirklich, dass Sie berufen und imstande sind, das Fehlerhafte einer Kritik zu erkennen, die Ihrem Buch gewidmet ist? […] Sie sagen auch, ich hätte vor vielen Jahren Ihren Roman Die Rättin mit meiner Kritik getötet. Mein Lieber, ich muss Sie noch einmal belehren: Wieder einmal überschätzen Sie mich und meinen Einfluss. Halten Sie es denn für ganz ausgeschlossen, dass der Misserfolg Ihrer Rättin einen anderen Grund 7 hatte?

Reich-Ranicki bleibt also stolz auf seine Pädagogik und sein Urteil als Kritiker, selbst wenn auch er eingesteht – und sei’s aus strategischen Gründen –, dass die marketingstechnische Außenwirkung von einzelnen Rezensionen gering ist. Dass Rezensionen nicht völlig wirkungslos verpuffen, lässt sich womöglich leichter am ›schlechten‹ Buch zeigen als am ›guten‹. In der Schweiz heißt es etwa, dass Zoë Jenny kaputt geschrieben worden sei mit zu viel Lob für ihren Erstling Das Blütenstaubzimmer (1997). Ihr Zweitling Der Ruf des Muschelhorns (2000) galt als eine herbe Enttäuschung, und den Medien wurde der Vorwurf gemacht, zu viel (Erwartungs-)Druck aufgebaut zu haben. Dadurch sei sowohl die Autorin belastet worden wie auch das Feuilleton selbst, das die Messlatte von Vornherein so hoch ge5

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Marcel Reich-Ranicki, »Martin Walsers Rückkehr zu sich selber«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 03. 1978, zitiert nach der Nachpublikation unter http://www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=14426 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Marcel Reich-Ranicki, »›…und es muß gesagt werden‹: Ein Brief von Marcel Reich-Ranicki an Günter Grass zu dessen Roman Ein weites Feld«, in: Der Spiegel, 21. 08. 1995, zitiert nach http:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-9208344.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Marcel Reich-Ranicki, »Ich muss Sie noch einmal belehren«, in: Der Spiegel, 09. 10. 2002, zitiert nach http://www.spiegel.de/kultur/literatur/reich-ranicki-an-grass-ich-muss-sie-noch-einmalbelehren-a-217611.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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legt habe, dass sie für die junge Autorin kaum zu meistern gewesen sei. Bei Melinda Nadj Abonji befürchtete man im Vorfeld ihrer beiden Buchpreise für Tauben fliegen auf (2010) ebenfalls, dass sich die Laudationen im Feuilleton negativ auf ihr Schaffen und die Bewertung ihres Schaffens auswirken könnten (das zweite Buch steht noch aus). Damit wäre das Feuilleton zumindest relevant für die Entstehung schlechter Bücher. Nicht zuletzt gibt es in der Geschichte der Literaturkritik durchaus auch Fehlurteile – neue Trends werden verkannt, schlechter Stil wird zementiert, Epigonales gefördert und Revolutionäres unterdrückt, ›herunter geschrieben‹. Manche Autoren gehen schlicht vergessen wie etwa Richard Yates (Revolutionary Road; Disturbing the Peace; The Easter Parade). Der Amerikaner wurde erst 1999 – 7 Jahre nach seinem Tod – wiederentdeckt. Durch einen literarischen Essay, wohlgemerkt, verfasst von Stewart O’Nan, seinerseits Romancier.8 Zu behaupten, dass das Feuilleton gar keinen Einfluss habe, wäre verkehrt. Aber welche Rezension wie einschlägt, lässt sich nicht steuern. Zwei grundsätzliche Aspekte sind hier nicht beleuchtet worden: Zum einen ist das Zeitungsfeuilleton bekanntlich an und für sich eine bedrohte Spezies, noch mehr als der Printjournalismus ohnehin schon. Das Daseinsrecht des Feuilletons wird regelmäßig in Zweifel gezogen, die Leserzahlen auch dieses Zeitungsteils sinken, das Leserpublikum ist mehrheitlich nicht jung und für Inserenten unattraktiv. Dass die Titelfrage der vorliegenden Überlegungen immer noch gestellt und trefflich über sie gestritten wird, ist daher als Silberstreif am düsteren Horizont zu werten. Aber vor ihrer Erörterung müssten im Grunde die Formen und Funktionen des gegenwärtigen Feuilletons noch einmal generell untersucht werden. Zum andern unterstellt die Frage nach der Genese guter Bücher, dass klar zwischen guten und schlechten Büchern unterschieden werden kann. Dies ist aber keineswegs eine ausgemachte Sache; und die Grundsatzdiskussion über Kanonbildung, über ›E‹- und ›U‹-Genres sowie über den Sinn und die Methode der Bewertung literarischer Qualität bricht nicht ab. Aber es ist Axiom und notwendige Voraussetzung des Literaturkritikers, dass solche Qualitätsunterscheidungen möglich sind und dass er – oder sie – sie zu treffen versteht und zu treffen hat, unabhängig davon, welche Auswirkungen dies allenfalls für den einzelnen Autor oder Verleger zeitigt. Denn damit wird, so das Rollenverständnis dieses Berufsstands, die Literatur als Kunst gefördert, vorangetrieben und zudem im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert. Die Vorstellung, Autoren auf den rechten Weg und zum guten Buch antreiben zu können, grenzt allerdings tendenziell an Größenwahn (Ausnahmen bestätigen die Regel); die Spezies Autor lässt sich ohnehin höchst ungern ins Handwerk reden. Eine Förderung des guten bzw. eine Unterdrückung des schlechten Buchs im Sinn von Konsumentensteuerung ist gleichfalls nur begrenzt zu leisten – obwohl dies 8

Stewart O’Nan, »The Lost World of Richard Yates«, in: Boston Review (October/November 1999), zitiert nach http://bostonreview.net/BR24.5/onan.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

Ist das Feuilleton relevant? | 47 erklärtermaßen eine, wenn nicht die Funktion von Literaturkritik ist. Aber trotz allem: Literaturkritik hält den Diskurs über gutes Schreiben wach; sie behauptet gegen alle Trends dessen Bedeutsamkeit, und sie bleibt ein wichtiger Faktor im Networking der literarischen Szene. Kurz, das Feuilleton hat klimatische Auswirkungen, selbst da, wo sich ein Autor ganz abseits von jeder publizistischen Anerkennung im Feuilleton entwickelt. Das Feuilleton ist nicht unmittelbar relevant für die Entstehung guter Bücher – es gab und es gibt sie auch ohne das Rauschen im Blätterwald. Aber das Feuilleton spricht guten Büchern Relevanz zu, hält den Literaturbetrieb am Laufen, das Handwerk am Klappern. Und das ist schon eine ganze Menge.

Barbara Basting

Das Ende der Kritik, wie wir sie kannten Kultur- und Feuilletonredaktionen sind wichtige Akteure im Kulturbetrieb. Sie verstehen sich in erster Linie als Kritiker und Vermittler kultureller Hervorbringungen, sind aber auch selber Kulturproduzenten. Dabei blicken vor allem Kunst- und Literaturkritik auf eine lange gemeinsame, in der philosophischen und ästhetischen Theorie fundierte Tradition zurück. Diese Kritik versteht kulturelle Artefakte als wesentlichen Ausdruck wie auch als Kommentar der jeweiligen Gesellschaft und mithin als zentralen Bestandteil jeglicher gesellschaftlichen Entwicklung. Seit einigen Jahren wandelt sich die Rolle der Kultur- und Feuilletonredaktionen. Auch die bisherige Rolle der Kritik wird dadurch grundlegend infrage gestellt. Ein treibender Faktor dabei ist der rasante Medien- und Strukturwandel durch Medienkonzentration und das Internet in den letzten beiden Jahrzehnten.1 Hinzu kommen strukturelle Veränderungen der Kritik, die mit Veränderungen des Stellenwerts ihres Gegenstands in der Gesellschaft zu tun haben. Der folgende Beitrag geht einigen dieser Veränderungen nach. Er tut dies vor dem Hintergrund der These, dass das traditionelle Paradigma der »Kritik« (sprich des in einem ästhetischen Diskurs fundierten Werturteils) in der Literatur- und Kunstkritik, die historisch an der Ausbildung dieses Paradigmas entscheidend beteiligt waren, zunehmend abgelöst wird durch Strukturen des Marketing. Durch den vergleichenden Blick auf Literatur- und Kunstkritik kann eine Vertiefung der spezifischen Profile der beiden Kritikgattungen in diesem Rahmen zwar nicht geleistet werden; dafür soll der übergreifende Kontext besser sichtbar werden, in dem sich beide bewegen. Nüchtern ließe sich von der Entstehung neuer Sortier- und Filterfunktionen für künstlerische Erzeugnisse sprechen. Sie folgen den Bedingungen einer neuen Ökonomie der Aufmerksamkeit.2 Sichtbare Indizien dafür sind die heute üblichen Ranking- und Bestsellerlisten, aber auch die Zunahme der (etwa durch den Onlinehändler Amazon geförderten) Laienkritik im Internet. Das frühere Kritik- und Informationsmonopol bestimmter medial repräsentierter Eliten wird dadurch systematisch ausgehöhlt. Hype und Skandal sind neben dem Ranking die neuen Formen der Bewirtschaftung von Aufmerksamkeit. Das hat, so eine weitere These, Folgen für die klassische, an ästhetischen Werturteilen orientierte Kritik: Sie hat künftig noch am ehesten Überlebenschancen, wenn sie sich Richtung Meta-Betriebskritik und Entwicklung differenzierter Filterungsmechanismen neu definiert. 1

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Hierzu z. B. Ignacio Ramonet, L’explosion du journalisme. Des médias de masse à la masse de médias, Paris 2011; Bernard Poulet, La fin des journaux et l’avenir de l’information, Paris 2009; André Schiffrin, L’argent et les mots, Paris 2010. Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998.

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Kunst- und Literaturkritik als Erbe der Aufklärung

Das bisher vorherrschende, durch die erwähnten Umbrüche infrage gestellte Modell der Kritik wurzelt in der ästhetischen Theorie der europäischen Aufklärung. Es entwickelt sich im späten 18. Jahrhundert parallel zur Ablösung absolutistischer Regimes durch ein Bürgertum, das an politischer Teilhabe interessiert ist. In dieser Phase entstehen Medien – wie Zeitungen und Zeitschriften – sowie Paradigmen und Methoden der Kritik, die bis heute gelten. Ein detaillierter Blick auf die spezifische Geschichte der Kulturkritik der letzten 250 Jahre zeigt, wie eng bei der Entwicklung eines kritischen Diskurses Literatur und Kunst aufeinander bezogen waren. Auf beiden Feldern wurde Kritik als Instrument zur Verbesserung der kulturellen Produktion verstanden. Sie war Teil eines ästhetischen Diskurses, der wiederum dazu dienen sollte, die Entwicklung eines fortschrittlichen, demokratischen Gesellschaftssystems zu fördern. Im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte Denis Diderot mit seinen Salons ein viel imitiertes literarisches Modell der Kunstkritik geschaffen. Diese literarisch ambitionierten Salon-Kritiken fanden ihre Fortsetzung im 19. Jahrhundert dann etwa bei Charles Baudelaire oder Emile Zola, die sich als Schriftsteller auch via Kunsturteil zeitkritisch artikulieren. Grundlage dieser Kritik war die Herausbildung einer bürgerlichen und intellektuellen Schicht in Frankreich, die nach der französischen Revolution als Auftraggeber für die Künste den Adel und die Kirche abzulösen begann. Parallel dazu schwand die Autorität der königlichen Kunstakademie. Das spätere 19. Jahrhundert steht denn auch künstlerisch im Zeichen der Sezessionen, der »Salons des refusés«, der »Indépendants«, der Abspaltungen aller Art. Und die Dynamik dieser Abspaltungen reicht bis weit ins 20. Jahrhundert. Sie führt zum Reigen von Kubismus, Dadaismus, Expressionismus, Surrealismus. Immer rascher aufeinanderfolgende Innovationen und auch Tabubrüche in der Kunst kennzeichnen das Zeitalter der klassischen Avantgarden und der Moderne. Das Ende der Moderne in den 1960er Jahren ist hingegen gekennzeichnet durch die Erschöpfung dieser Avantgarde-Dynamik samt ihres Fundaments, eines geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenkens. Blenden wir nochmals zurück. Zur Durchsetzung dieser fortschrittsorientierten Ästhetik dienten unter anderem Texte von Literaten. Auf die erwähnten Salonkritiken und programmatischen Texte wie etwa Charles Baudelaires berühmte Überlegungen zu den Eigenschaften eines Malers des modernen Lebens folgte im 20. Jahrhundert eine wachsende Zahl polemischer Pamphlete und Traktate (etwa die Manifeste der Futuristen, Dadaisten, Surrealisten) in Zeitschriften und Zeitungen. Filippo Tommaso Marinettis Futuristisches Manifest etwa erschien 1909 auf der Aufschlagseite der französischen Tageszeitung Le Figaro. Die progressiven Kritiker, die als Autoren oft Teil der Avantgarde-Bewegungen waren (Guillaume Apollinaire, Tristan Tzara oder André Breton) verstanden sich dabei als intellektuelle Komplizen der Künstler. Sie waren aber nicht selten auch den entsprechenden Galeristen eng

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verbunden – eine Allianz, die schon damals die problematische Nähe der Kunstkritik zur einer mehr oder weniger unverhohlenen, literarisch verbrämten Werbung für einen Künstler und sein Werk mit sich brachte. Auch in Deutschland wächst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, seit der Aufklärung und Frühklassik also, das Interesse bürgerlicher Kreise an der Kunst. Da es wegen der deutschen Kleinstaaterei kein mit Paris vergleichbares künstlerisches Zentrum gibt, setzen sich die Schriftsteller und Philosophen von Lessing und Winckelmann über Kant, Schiller, Goethe, Tieck, Wackenroder und die Schlegels bis Hegel vor allem mit antiken Kunstformen auseinander. Diese dienen als Messlatte für die gegenwärtige und erhoffte künftige Kunstproduktion.3 Kaum einer der Literaten zwischen Frühklassik und Romantik hat sich nicht zur bildenden Kunst geäußert. Zentral ist dabei die Wiederbelebung des seit der Antike bekannten Wettstreits der Künste (Paragone); Lessings berühmte Schrift Laokoon (1766) trägt nicht umsonst den Untertitel »Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie«. Lessing arbeitet darin die Unterschiede zwischen bildender Kunst und Literatur heraus – und das ist symptomatisch für die deutsche Diskussion, in der es vor allem um die Entwicklung und Schärfung allgemein verbindlicher ästhetischer Begrifflichkeiten, etwa das »Erhabene« oder das »Schöne« (Kant), am Gegenstand der Kunst geht. Den größeren Rahmen bildet hierbei die Frage nach der Gestalt und moralischen (oder gesellschaftlichen) Rolle der Kunst in einem bürgerlich geprägten Zeitalter.

2.

Wechselwirkung von Kritik und gesellschaftlichen Entwicklungen

Wichtig für unsere Perspektive ist vor allem die früh stattfindende Verklammerung von ästhetischer und gesellschaftlicher Theorie und Kritik. Diese wird verstanden als Anwendung dieser Theorien auf je spezifische künstlerische Gegenstände. Das 20. Jahrhundert wird hier anknüpfen und eine Frage neu formulieren, die schon Karl Philipp Moritz oder Friedrich Schiller beschäftigte: Sind die Künste autonom oder heteronom? Mit anderen Worten: Gehören sie einer Sondersphäre jenseits der banalen Wirklichkeit an, sind sie also autonom und nach ›immanenten‹ Regeln zu messen? Oder sind sie nicht vielmehr heteronom, also immer schon kontaminiert durch ihre vielfältigen Verflechtungen mit der Gesellschaft, was dann auch die Kritik berücksichtigen muss? Diese zentrale Diskussion spielt sich im 20. Jahrhundert bis weit in die 60er Jahre als Kampf zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit ab, und zwar in Literatur wie Kunst. Ideologisch aufgeladen wird er nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Konstellation des Kalten Krieges. Die Länder in der Einflusssphäre der kommunistischen Sowjetunion, in deren Frühphase die abstrakten Avantgarden noch auf Durchsetzung ihrer ästhetisch begründeten Weltverbesserungs-Visionen hofften, 3

Umfassende Textsammlung mit Kommentar: Bibliothek der Kunstliteratur, hg. von G. Boehm, N. Miller, Bd. 2–4, Frankfurt a. M. 1995.

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bald darauf aber enttäuscht wurden, propagierten einseitig einen ›sozialistischen Realismus‹, der eine ideale Wirklichkeit abbilden sollte. Der Konstruktivismus verschwand in sowjetischen Depots. Die westlichen Demokratien, angeführt von den USA, forcierten eher die Entwicklung einer scheinbar unpolitischen Abstraktion in der Kunst. Die Kritiker im Westen folgten dieser Linienziehung. So bahnte beispielsweise der amerikanische Kunstkritiker-›Papst‹ Clement Greenberg ab den 40er Jahren dem abstrakten Expressionismus und damit einer vordergründig unpolitischen Kunst den Weg (repräsentiert durch die Werke eines Jackson Pollock oder Barnett Newman). Im Rückblick fällt der autoritäre Gestus dieser Kritik auf. Wer der propagierten KunstMeinung nicht folgte, wurde als ›Banause‹ denunziert, ein Schema, das schon im 19. Jahrhundert vom kritischen Diskurs rund um die Avantgarde etabliert wurde.4 In der Literatur präsentiert sich die in der Kunst so deutliche Gegenüberstellung von ›Abstraktion‹ und ›Figuration‹ in Form der schon erwähnten Realismusdebatte. Es ist kein Wunder, dass im Nachkriegseuropa der Nouveau Roman oder die Gruppe 47 den Ton angaben. Als experimentelle, sprachskeptische Gruppierungen reagierten sie auf den Missbrauch der Sprache durch totalitäre Regimes und riefen eine Art ›Stunde Null‹ der Literatur aus. Dagegen feierte man im Einflussbereich der Sowjetunion den realistischen Sozialismus als Neuauflage des Realismus des 19. Jahrhunderts. Die Postmoderne und erst recht die Phase unmittelbar nach dem Mauerfall 1989, in der gar das ›Ende der Geschichte‹ ausgerufen wurde (Francis Fukuyama), hat all diese Gegensätze in ein ›anything goes‹ (Paul Feyerabend5) aufgelöst. Es ist eine der Ursachen jener Malaise der zeitgenössischen Kritik und ihres oft beschworenen Endes. Denn sie weiß, so diagnostiziert etwa der Soziologe Bruno Latour, nicht mehr so richtig, was ihre Zielscheibe ist – und zwar auch deswegen, weil es eine künstlerische Avantgarde im einstigen Sinn nicht mehr gibt.6 Man könnte hinzufügen: nicht mehr geben kann, weil sich die entsprechende weltpolitische Konstellation geändert hat. Der nun folgende Trend zur »postmodernen Beliebigkeit«7 schwächte wo nicht das Gewicht, so doch zumindest den Unterhaltungswert einer betont kämpferischen oder polemischen Kritik. In den Medien, die weiterhin auf Attraktivität fürs Publikum angewiesen sind, wurde sie allmählich ersetzt durch Strategien der Skandalisierung und Personalisierung. 4 5 6

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Christian Demand, Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte, Springe 2003. Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt a. M. 1975. Bruno Latour, »Why Has Critique Run Out of Steam?«, in: Critical Inquiry 30, no.2. (Winter 2004), online abrufbar unter http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/89-CRITICALINQUIRY-GB.pdf (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Latour schreibt: »It has been a long time, after all, since intellectuals have stopped being in the vanguard of things to come. Indeed, it has been a long time now since the very notion of the avant-garde – the proletariat, the artistic – has passed away, has been pushed aside by other forces, moved to the rear guard, or may be lumped with the baggage train.« Diese Kritik an der Postmoderne brachte etwa Noam Chomsky vor. Siehe http://cscs.umich. edu/~crshalizi/chomsky-on-postmodernism.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

Das Ende der Kritik 3.

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Ankunft in der Postmoderne: Die Entmachtung des Kritikmonopols der Moderne

Betrachten wir die Folgen der postmodernen Auflösung polarer Weltbilder und Werthaltungen mit Blick auf die Literatur(kritik). Spätestens seit den 80er Jahren galt plötzlich nach Jahrzehnten, in denen experimentelle Literaturformen von der Kritik gefördert wurden, in Westeuropa die Devise ›Es darf wieder erzählt werden‹. In diesem Rahmen wurden die als besonders ›welthaltig‹ gepriesenen Romane lateinamerikanischer Autoren wie Gabriel García Márquez’ Hundert Jahre Einsamkeit8 Bestseller und neue Vorbilder; ihr ›magischer Realismus‹ wurde beklatscht. Einen symptomatischen Einschnitt markierte auch Umberto Ecos Name der Rose (1980). Ein Literaturwissenschaftler und Semiotiker, der das populäre Krimi-Genre und den nicht minder populären historischen Roman miteinander verschmolz, landet damit einen Bestseller: das war eine Sensation. Kein Wunder, dass die Kritik auf den Geschmack kam und plötzlich immer häufiger die Selbstbezüglichkeit der bisher von ihr als Avantgarde verteidigten, aber auf einmal als spröde geltenden ›Literatenliteratur‹ und ihrer sprichwörtlichen ›Bewohner des Elfenbeinturms‹ (Peter Handke) beklagte. Die weitere Entwicklung ist bekannt: Längst haben inzwischen Rezensionen populärer Bestseller wie Harry Potter oder Stephen Kings Romane auch im ›Hochfeuilleton‹ Einzug gehalten. Dabei folgt die heute gängige popkulturelle Kritik der Devise, dass alles Gegenstand einer kritischen Betrachtung sein kann, auch Produktionen, die sich selber gar nicht als ›Kultur‹ oder ›Avantgarde‹ im einstigen Sinne verstehen, sondern ›Trash‹ sind oder das, was man früher als ›Unterhaltung‹ rubrifizierte.9 Hinzu kommt in der Literatur eine andere wichtige Entwicklung, die sich ebenfalls erstmals am ›Lateinamerika-Boom‹ der 70er Jahre beobachten ließ: Die postkoloniale Globalisierung führt zu einem neuen Exotismus. Hier gibt es eine spannende Parallele zum Kunstbetrieb: Bestimmte Weltregionen werden systematisch ›abgegrast‹ nach Autoren oder Künstlerinnen, deren Werke sich als international kompatible Exportartikel mit exotischem Touch vermarkten lassen, etwa in Zusammenhang mit Themenschwerpunkten an Buchmessen. In der Kunst gibt es zwei Bewegungen: neben der ›Entdeckung‹ bestimmter Kunsttopografien, wie derjenigen Russlands, Chinas oder Indiens, von Ländern also, die auch wirtschaftlich oder politisch im Fokus stehen, wurde in den letzten 20 Jahren auch systematisch das Modell der Kunstbiennale international implantiert.10 8

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Der Roman erschien 1967 im Original, 1970 auf Deutsch. Der Literatur-Nobelpreis für Márquez 1982 machte ihn populär. Bis heute wurde er – wie uns Wikipedia wissen lässt – 30 Millionen mal verkauft. In der angelsächsisch geprägten Medienwelt heißen Kulturseiten dementsprechend oft »Arts & Entertainment«, »Arts & Leisure«. Hierzu: Global Studies. Mapping Contemporary Art and Culture (Essayband zur Ausstellung The Global Contemporary am ZKM Karlsruhe 2011), hg. von H. Belting, J. Birken, A. Buddensieg, P. Weibel, Ostfildern 2011.

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Die Folge ist für Literatur wie Kunst gleich: Kritiker sind kaum noch in der Lage, all diese Autorinnen oder Künstler aus diversen Ländern seriös zu verfolgen, zu kontextualisieren und entsprechend zu beurteilen. Aber darum geht es auch gar nicht mehr. Die Verlage halten notfalls entsprechende Experten zur Konsultation parat, und in der Kunst dienen längst die Jet-Set-Kuratoren als Vermittler. Der Kritik bleibt nur noch die Aufgabe, dem Trend zu folgen und ihn gegebenenfalls zu verstärken. Dabei muss der Kritiker in den gängigen, nicht spezialisierten Publikumsmedien immer mehr auf den vermeintlichen Publikumsgeschmack schielen. Das Stichwort in den Redaktionen hieß im letzten Jahrzehnt ›Service‹ statt Bildung oder Belehrung. Letztere wurde rasch einmal als ›oberlehrerhaft‹, elitär, intellektuell und also unerwünscht abgekanzelt. Das Publikum bevorzugt, das wird den Redaktionen durch die Bestsellerlisten eingehämmert, den ›easy read‹ mit evasiver Funktion statt einer von Experten erkorenen literarischen Avantgarde. Der enorme Aufschwung von Genreliteratur wie Krimis und Fantasyromanen in den letzten beiden Jahrzehnten belegt diesen Trend.11 Wer da noch ›elitäre‹ Kritiken produziert, bugsiert sich selber ins mediale Off. Diese Meinung hat sich, unter dem Druck von Chefredaktionen, die auch mit dem Feuilleton nicht mehr nur wie früher vor allem das Image der Zeitung polieren, sondern ein möglichst breites, aber dadurch auch zwangsläufig weniger informiertes und weniger spezialisiertes Publikum ansprechen wollen, in den letzten Jahren mit Abstufungen in nahezu allen Kulturredaktionen durchgesetzt.12 Die einflussreiche Bestenliste des Südwestrundfunks etwa, Resultat einer Juryumfrage unter bekannten Literaturkritikern, trägt dieser Tendenz zum Service Rechnung, indem sie die mutmaßliche Lektüreschwierigkeit ihrer (immerhin noch an den hochstehenden Maßstäben der Zunft orientierten) Empfehlungen wie ein Gastroführer mit Sternchen markiert. Deutlicher als je zuvor wird heute, dass die schon von den 68ern geforderte Demokratisierung und breitere Partizipation an Kultur das Ende der klassischen ›Kritiker-Päpste‹ besiegelt haben. Vollzogen wurde inzwischen eine am populären Geschmack orientierte Ausweitung des Kulturbegriffs, die mitnichten zu dessen Schärfung und Profilierung beigetragen hat und eher die Partikularisierung der Gesellschaft abzubilden versucht. Sie wird durch die zentrifugalen Kräfte des Internets noch unterstützt. Es bietet einer wachsenden Zahl von Akteuren leicht zugängliche Distributions- und Kommunikations-Plattformen. Doch zugleich sind die früher viel beklagten Hierarchien einer Unübersichtlichkeit gewichen, die das Individuum schnell überfordert und nach neuen Ordnungsfunktionen Ausschau halten lässt. Halten wir also als bündiges Zwischenergebnis fest: Das postmoderne ›anything 11

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Eine Hypothese sei formuliert: Die zunehmende Komplexität des Alltags mag dazu führen, dass Lektüre in der Freizeit eher evasive Funktionen hat; das würde den Aufschwung entsprechender Genres wie Fantasy erklären. Spannend wäre unter diesem Blickwinkel ein Vergleich von Kultur- und Feuilletonseiten verschiedener Blätter im Laufe der letzten drei Jahrzehnte.

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goes‹ zerstört zusammen mit Ökonomisierung und Medienwandel einstige Kritikermonopole in Kunst wie Literatur. Es bereitet aber auch, darauf wird zurückzukommen sein, den Boden für neue Sortiermanöver.

4.

Kanon, Quote und Ranking als Ersatz der Kritik in Literatur und Kunst

Nun könnte man das anzitierte ›anything goes‹ Feyerabends interpretieren als eine Folge der konsequenten Umsetzung des ästhetischen Programms der Moderne. Demnach sollte ein Tabubruch den nächsten ablösen und so eine immer größere Freiheit der künstlerischen Ausdrucksformen erkämpft werden. Dies führte in der Konsequenz zu einer Beseitigung aller Tabus. Damit wurde aber eben auch jener Unverbindlichkeit der Weg geebnet, die sich inzwischen als zwiespältige Freiheit entpuppt. Das Programm der Moderne hat sich selbst erledigt, sie ist gewissermaßen Opfer des eigenen Erfolgs. Mit der Entwicklung eines popkulturellen Kulturbegriffs, der pragmatisch dem Kultur-Konsumverhalten der Menschen folgt und auch bisher verpönte Gattungen und Genres wie Comics umfasst, wird auch das Werteraster, auf das die traditionelle Kritik sich beruft, instabil13 – und damit diese Kritik selbst. Auslöser für diese Entwicklung war unter anderem die Kritik am Kanon, die besonders bei Kunst und Literatur ansetzte, weil sie anders als die populären Gattungen Film oder Popmusik mit etablierten ›bürgerlichen‹ Werten assoziiert wurden. Im Fall der Kunst kam noch der Kampf für die zeitgenössische Kunst hinzu, die unter anderem auch eine bildungsbürgerliche Verklärung der ›alten Meister‹ infrage stellte. Die Kanondiskussion machte ab den 1960er Jahren sichtbar, wie brüchig die von der Moderne forcierten ästhetischen Maßstäbe geworden waren. Ihren Ausgang nahm sie an US-amerikanischen Universitäten, wo unter dem Einfluss der Bürgerrechtsbewegung für die Schwarzen der Kanon als westliches, weißes und männliches Konstrukt einer herrschenden Elite kritisiert wurde. In diesem Kontext muss auch die sehr einflussreiche Orientalismus-Kritik von Edward Said erwähnt werden,14 die die langdauernde Begeisterung des Westens für den Osten, den ›Orient‹, negativ als Ausdruck der kolonialen Aus- und Abgrenzung interpretierte. Saids Studie wurde in Literatur wie Kunst gleichermaßen intensiv rezipiert. Die entsprechende Kanonkritik in der Kunst äußerte sich zeitversetzt und mit etwas anderem thematischen Akzent in viel beachteten, heute als bahnbrechend geltenden Ausstellungen wie High and Low – Modern Art and Popular Culture 1990 im New Yorker Museum of Modern Art, die ›trashige‹ Kunstformen wie Comics ernst 13

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Eine frühe theoretische Auseinandersetzung mit der Öffnung der Ästhetik hin zur populären Kultur bot Richard Shusterman, Kunst leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1994 (engl. Originalausgabe: Pragmatist Aesthetics, Living Beauty, Rethinking Art, Oxford 1992). Edward Said, Orientalism, New York 1978.

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nahm, oder Les Magiciens de la Terre 1989 im Pariser Centre Pompidou, wo außereuropäische Kunst als Herausforderung des geltenden europäischen Kunstbegriffs präsentiert wurde. Konsequent wurde also der Kanon infrage gestellt, korrigiert, zum Teil auch neu bekräftigt;15 und paradoxerweise wurde er durch diese Verbesserungsmanöver insgesamt vor allem geschwächt. Als Ersatz schlichen sich vermeintlich objektive Ratings und Rankings sowie ›Charts‹ ein, beides Begriffe aus der (Pop-) Musikindustrie. Heute sind in der Literatur Bestsellerlisten allgegenwärtig. Sie strukturieren längst eine immer uniformere Auswahl und Präsentation in den großen Buchhandelsketten, die kleine, individuelle geführte Buchhandlungen verdrängen. Dabei ist das Problem der Rankings das typische Problem jeder Statistik: Sie spiegeln Objektivität vor, obwohl ja auch sie, ähnlich wie vormals der Kanon, konstruiert werden. Nur ist ihre Grundlage nicht mehr das Werturteil einer dominierenden intellektuellen Elite, sondern ein banaler Datensatz. Aber Daten und die daraus produzierten Statistiken kann man hervorragend manipulieren. Noch schwerer wiegt, dass die Zahlen und Quoten die Frage nach Inhalt und Qualität verdrängen: Das Buch, das auf dem Markt erfolgreich ist, bedarf demnach keiner weiteren Legitimation mehr.16 Die Kanon-Diskussion, so gerechtfertigt sie aus ideologischer Sicht war, bereitete somit auch den Boden für die folgende neoliberale Revolution in der Kultur. Die neoliberale Leitidee war die kapitalistische Gewinnmaximierung sogar in Bereichen der Gesellschaft, die zuvor als Gemeingut galten – Kultur, Bildung, Infrastruktur. Camoufliert wurde diese private Verwertung gemeinnütziger Güter, die von vielen Generationen mit öffentlichen Mitteln aufgebaut worden waren,17 durch das Versprechen größerer Freiheit für das Individuum – also durch die Erfüllung oder 15

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Wichtige und damals sehr breit und kontrovers diskutierte Beiträge stammten von Allan Bloom, The Closing of the American Mind, New York 1987, der ab 1982 den aufgeweichten Kanon in Literatur und Philosophie kritisierte, in dem Klassiker eine schwindende Rolle spielten. Er sah dadurch die Qualität des Studiums gefährdet. Der Literaturwissenschaftler Harold Bloom kam in verschiedenen seiner Essays und Buchpublikationen auf diese Kanonfragen immer wieder zurück, namentlich in: Harold Bloom, The Western Canon. The Books & School of the Ages, New York 1994. Sogar für die Kunst, in der gerne auf die Bedeutung des singulären, also per definitionem unvergleichlichen Artefakts gepocht wird, gibt es mittlerweile solche quantitative Messmethoden als Anhaltspunkte für Sammler und Museen. Das Modell ist hier der Kunstkompass der Wirtschaftszeitschrift Capital (heute Manager Magazin). Er wurde 1970 ins Leben gerufen, und zwar ironischerweise von einem Journalisten namens Willi Bongard. Er war allerdings schlau genug, nicht die Qualität des Einzelwerks messen zu wollen, sondern die Resonanz, die ein Künstler im Kunstbetrieb findet. Zu diesem Zweck bewertet der Kunstkompass die Zahl und den Rang der Ausstellungen gemessen an der (mutmaßlichen) Bedeutung der ausstellenden Institution, die Nennung in angeblich wichtigen Publikationen etc. nach einem Punktesystem. Damit bildet der Kompass perfekt das Koordinatensystem der Macht im Kunstbetrieb ab. Entscheidend für unsere Betrachtung ist, dass sich die Kriterien der Beurteilung von einer Diskussion des Werks zu einer Bewertung seiner Beachtung und Resonanz verschieben, weil Marktwert und Ausstellungshäufigkeit mehr zählen als Kritikerurteile. Dies bestätigt die eingangs erwähnte neue DefinitionsMacht der Kuratoren und Sammler, die jene der Kritiker ablöst. Im Bereich der Kultur zählt zum Beispiel die Digitalisierung von öffentlichen Bibliotheken durch den Google-Konzern dazu. Auch die in den letzten Jahren viel propagierte Public-Private-

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besser gesagt Usurpation genau jener Forderungen, für die sich die künstlerische Avantgarde einsetzte. Zu den Auswirkungen gehörte die Ökonomisierung der Kultur, die oft unter dem Deckmantel der ›Professionalisierung‹18 propagiert wurde; in der Kunst sei etwa an die symptomatischen Diskussionen zur ›Guggenheimisierung‹ in den 90er Jahren erinnert. Das Guggenheim-Museum New York war die erste Institution ihrer Art, die sich die zuvor im Kulturbereich unbekannte Idee des ›Return on Investment‹ auf die Fahnen schrieb. Sie war damit Vorläuferin einer zweifelhaften Kulturrevolution oder besser gesagt Instrumentalisierung der Kultur zwecks wirtschaftlicher Ausbeutung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.19 In diesen Rahmen gehört auch der bis heute anhaltende Siegeszug der Quote und der Bestseller-Listen mit ihren Rückwirkungen auf die Situation der Kritik.

5.

Axolotl Roadkill – Hypes, Skandale und Lemmingrennen

Während der breitere Kunstgeschmack abhängig ist von den Trends, die potente Marktteilnehmer setzen, wird der Literaturgeschmack heute von diversen Bestseller-Listen geprägt. Verlage unternehmen einiges, um ihre Titel auf diese Listen zu katapultieren (die sich ihrerseits sprunghaft vermehren).20 Insbesondere gilt dies für Titel, für die in Erwartung besonders hoher Verkaufszahlen von den Verlagen opu-

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Partnership von Kulturinstitutionen und Privaten ist nicht selten ein Versucht Privater, eigene Interessen in öffentlich finanzierten Institutionen durchzusetzen. Barbara Basting, »13 Thesen zur Professionalisierung der Kunst«, Vortrag anlässlich des Symposiums »Professionalisierung – Fluch oder Segen«, Kartause Ittingen 2005, http://www.kunstmuseum.ch/xml_1/internet/de/application/d12/f114.cfm?action=text.show&id=19 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). H. Hoffmann (Hg.), Das Guggenheim-Prinzip, Köln 1999. Stichwörter wie ›Standortfaktor‹ und ›Umwegrentabilität‹ zwecks Rechtfertigung von Kulturausgaben begannen gleichzeitig ins Vokabular von Bürgermeistern und Kulturdezernenten einzuwandern. Die neueste neoliberal inspirierte Legitimation von Kultur ist in der Vokabel ›Kreativwirtschaft‹ enthalten. Hier sei kurz an ein paar weitere wichtige strukturelle Unterschiede zwischen Literatur- und Kunstbetrieb erinnert: Im Literaturbetrieb geht es um die Zahl der Kopien eines Textes. Der Gewinn eines Verlags und das Renommee eines Autors hängt von der Auflage ab. Im Kunstbetrieb hingegen geht es in erster Linie um Unikate, um die Verknappung des Angebots. Der hohe Preis vieler Werke ergibt sich vor allem aus dem Wettbewerb um künstlich limitierte Artefakte. Der Verkäufer ist daran interessiert, dass eine ausreichende Zahl von Interessenten (Sammler, Museen) um ein rares Gut konkurriert. Buchkritiken dagegen sind eine Vorselektion durch die Kritiker, die ihrerseits zum Teil gesteuert werden durch PR-Mechanismen. Und während die Verlage auf den Publikumsgeschmack reagieren, es also Rückkopplungseffekte gibt, beruhen die neuesten Tendenzen in der Kunst auf der Auswahl einer Elite. Der hinterherhinkende Massengeschmack beeinflusst indirekt vor allem die Ausstellungsprogramme großer Institutionen, weil diese selber unter dem Druck der Quote stehen und sich am tatsächlichen oder vermeintlichen Massengeschmack orientieren (in dessen Gunst z. B. die Impressionisten oder Picasso in den letzten Jahren ganz oben rangierten). Und zwar gleich von zwei Seiten: Politiker erwarten von öffentlichen Häusern heute immer häufiger Erfolgsausweise in Form hoher Besucherzahlen, und Sponsoren bevorzugen zumeist publikumswirksame Institutionen und Veranstaltungen.

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lente Vorschüsse gezahlt wurden – eine Praxis, die seit den 90er Jahren ausgehend von den USA um sich greift, allerdings ihren Höhepunkt überschritten hat, weil die Rendite oft ausblieb und die Erwartungen sich nicht erfüllten.21 Dass sich der Erfolg dabei manchmal ein stückweit steuern lässt, zeigt exemplarisch der kometenhafte Aufstieg von Axolotl Roadkill, dem Roman-Erstling von Helene Hegemann, der im Frühjahr 2010 erst für einen Hype und dann für einen Plagiatsskandal sorgte. Für uns ist hier zunächst interessant, wie der Hype entstand: Erst haben ein Magazin (das der Zeit) sowie ein paar so genannte Leit-Feuilletons22 die blutjunge Autorin in einer Art Homestory als Teil einer Berliner Bohème mit Ankerplatz in der Diskothek Berghain lanciert, was Teilhabe an einer Insider-Kultur versprach. Die Grundlage für solche Stories bilden meist brancheninterne Gerüchte und Informationen.23 Nach dem Erscheinen des Romans kam ein Plagiatsvorwurf hinzu, der dann Axolotl Roadkill ganz nach oben auf die Redaktions-Agenda rückte. Der Mechanismus ist absehbar: Ein Skandal, meist rund um Plagiate, Fälschungen, Diebstähle, Auktionen wird heute als ›Kultur-News‹ wahrgenommen und damit zum ›Pflichtthema‹ stilisiert. Man überbietet sich in der Folge gegenseitig mit Kommentaren und Analysen. Mit Literaturkritik im engeren Sinn haben diese meist wenig zu tun. Ähnliches konnte man beobachten bei Jonathan Franzens Roman Freedom oder bei Thilo Sarrazins polemischem Sachbuch Deutschland schafft sich ab. Im Grund wiederholt sich das Spiel jede Saison mit einer begrenzten Anzahl von Titeln, die aus verschiedensten Gründen ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit geraten. Die geballte Aufmerksamkeit schürt die Neugierde selbst bei einem Publikum, das sonst den Titel kaum wahrgenommen, geschweige denn gekauft hätte. Der Skandal ist nicht in allen Fällen von Vornherein kalkulierbar, aber doch immer häufiger ein Marketinginstrument. So werden tonangebende Redaktionen gezielt auf Titel hingelenkt, die sie dann exklusiv vorbesprechen dürfen. In diesem Zusammenhang spielt das von den Verlagen eingeführte Instrument der Sperrfrist für die Besprechung mancher ›hypeverdächtiger‹ Titel eine wichtige Rolle. Sogar die vereinzelte Ahndung des Brechens der Sperrfrist24 ist Teil des PR-Kalküls, auch wenn das kein Verlag je zugeben wird. Als jüngstes Beispiel einer Skandalisierungs-Strategie zu nennen wäre Charlotte Roche, Verfasserin des viel diskutierten Romans Feuchtgebiete, der seinen Erfolg wesentlich dem Spiel mit dem Ekel verdankte, offenbar einem der letzten großen Tabus. Interessant war, was mit ihrem folgenden Titel Schossgebete passierte: Hier wurde die PR systematisch auf den vorhergehenden Erfolg aufgebaut, und das Tingeln 21 22 23 24

Kritische Darstellung hierzu: André Schiffrin, Verlage ohne Verleger. Über die Zukunft der Bücher, Berlin 2000. Als solche gelten zumindest FAZ, Süddeutsche Zeitung, Spiegel. Im Fall Hegemann spielte sicher eine Rolle, dass der Vater der Autorin, Carl Hegemann, ein bekannter Dramaturg ist. Beispielsweise im Sommer 2009, als der Rowohlt-Verlag in Zusammenhang mit einem neuen Titel von Daniel Kehlmann gegen den Spiegel vorging, der die Sperrfrist gebrochen hatte.

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der Autorin durch diverse Magazine und Fernsehshows gehörte von Vornherein zum Marketingkonzept. Eine Kritik, die sich ernsthaft an Schossgebete abarbeitete, sozusagen ›nur‹ den Text las und beurteilte, übersah etwas ganz Wesentliches: Hier geht es um ein popkulturelles Gesamtkunstwerk, das als Marketingkonstrukt, als Einheit von Text, Autorin und deren öffentlicher Selbstdarstellung (Kokettieren mit dem autobiografischen Charakter des Stoffs) analysiert werden muss, will man ihm auch nur annähernd gerecht werden. Diese eher extremen Beispiele stehen stellvertretend für die Tendenz zum Hype, der die sachlich fundierte Kritik ablöst. Die Zutaten des Hypes sind Behauptungen und Setzungen; subjektive Behauptungen von Bedeutung, die man auch als Ablenkungsmanöver einer perspektivlosen Kritik interpretieren darf. Hypes nützen den Umstand aus, dass in einer globalisierten und stark partikularisierten Welt niemand mehr einen Überblick haben kann, weder in der Kunst noch in der Literatur. Sie nützen auch aus, dass der einst dominante kritische Diskurs keine tragende Rolle mehr spielen kann, denn er setzt eine abgegrenzte, endliche Gemeinschaft mit gemeinsamem Wertehorizont voraus, in der er geführt und wahrgenommen wird. Genau diese Gemeinschaft existiert nur noch in Form von kleineren, versprengten communities, wie sie sich etwa bei Facebook abbilden. Hypes sind nicht einflussreich wegen ihrer überzeugenden Argumentation, sondern weil ihre Absender ernst genommen werden und vor allem weil sie erfolgreich Bedeutsamkeit suggerieren. Ein interessanter Aspekt ist dabei, dass die Glaubwürdigkeit der entsprechenden Akteure zum Teil noch über ihre Prominenz in der ›klassischen‹ Medienlandschaft (Zeitungen, TV) aufgebaut wurde (man denke an Marcel Reich-Ranicki, Elke Heidenreich, Roger Willemsen). Doch selbst hier ist mittlerweile ein Wandel festzustellen, da im TV Prominenz heute andern Regeln folgt als noch vor zwei Jahrzehnten. Der Image-Transfer aus den Printmedien (Reich-Ranicki als Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tritt im TV auf ) und der Rückgriff auf Experten mit dem im Verlauf einer langen Kritikertätigkeit gefülltem Rucksack an Sachwissen spielt anders als damals heute kaum noch eine Rolle.

6.

Die Zukunft der Kritik ist die Metakritik

Welche Chance hat in diesem Umfeld Kritik im herkömmlichen Sinn noch? Sie muss regelmäßig auch als Meta- und Strukturkritik auftreten, falls sie weiterhin auf ihrer historisch tradierten gesellschaftlichen Verantwortung besteht und sich nicht nur als Konsumentenwegweiser versteht. Sie sollte also möglichst transparent machen, welches beispielsweise die (ökonomischen oder sonstigen) Bedingungen von Kritik sind oder wie Trends entstehen, ja gemacht werden. Das erfordert Hintergrundwissen und analytisches Vorgehen. Scheitern kann die Metakritik daran, dass sie teils quer steht zu den Bedürfnissen der Publikumsmedien. Denn diese müssen, wie skizziert, unter dem Druck der Quote und der Auflagenhöhe agieren und sich nach wie vor hauptsächlich durch

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Werbung finanzieren. Dass die Publikumsmedien dabei seit längerem immer stärker auf Personalisierung und gerade in ihren Online-Portalen auch auf das ›Hype‹Potenzial zugespitzter Thesen setzen, um Leser mit Leserblogs zu binden, hat für metakritische Strategien Vor-und Nachteile: Die Personalisierung steht der kritischen Analyse eher entgegen, doch die niederschwellige Debattierkultur in den social media respektive der Versuch von Online-Medien, Debatten mit offenen Blogs zu lancieren, begünstigt meinungsstarke Darstellungen. Begünstigt werden die metakritischen Beiträge auch durch den schon länger anhaltenden Trend zum heutigen ›Debattenfeuilleton‹, das sich (als Gegenmodell zum ›Rezensionsfeuilleton‹) seit dem Historikerstreit25 in deutschsprachigen Medien entwickelt hat und durch die Online-Auftritte der Zeitungen nochmals Schub erhält, da man online mit provokativen Thesen am ehesten user zu binden hofft. Doch längst nicht jedes Thema aus Literatur und Kunst eignet sich für ein solches Manöver, und zu befürchten ist, dass Themen, die keine hohe ›Klickrate‹ erzeugen, unter heutigen Bedingungen wenig Chancen haben. Und es entstehen auf diese Weise auch enorme Verzerrungen der Aufmerksamkeit, weil Medien heute aufgrund der rasanten Verbreitung von Neuigkeiten aller Art im Internet heute kaum abseits stehen können, wenn ›alle anderen‹ ein Thema behandeln. Ähnliches gilt auch für das öffentliche, aus Gebührengeldern finanzierte Radio. Lange konnte es eine gewisse Distanz zu stärker markt-, sprich werbeabhängigen Medien markieren, sich als Alternative präsentieren. Doch sind die öffentlich-rechtlichen Sender durch die Konkurrenz der privaten Radios seit den 80er Jahren (ursprünglich eine Sezession als Alternative zu den öffentlich-rechtlichen Funk-Monopolen) und Printmedien sowie durch die Gebührendiskussion in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten. Eine ausdifferenzierte Gesellschaft zieht eine Ausdifferenzierung der Angebote im Medienbereich nach sich, und das Publikum entscheidet am Schluss, wofür es sich interessiert. Wobei die Urteilsgrundlagen dafür wiederum zum Teil durch die Medien geschaffen werden – ein folgenreicher Zirkel.

7.

Kritik im Zeitalter der Databases

Fassen wir nochmals zusammen: Das seit dem 18. Jahrhundert entstandene Rollenmodell des traditionellen Kritikers, der in seinen Texten nachvollziehbare, intersubjektive Geschmacks- und Werturteile fällt, ist zwar nicht völlig zum Untergang verurteilt. Das Zeitalter der Reich-Ranickis oder Greenbergs ist aber definitiv vorüber. Dafür ermöglichen neben den schon angeführten Gründen insbesondere die Kommunikationsstrukturen im Zeitalter des Web 2.0 eine allgemeine Partizipation am kritischen Diskurs und damit an den Auswahl- und Bewertungsverfahren für Kultur. 25

Ausgetragen im deutschen Feuilleton 1986/87, hatte er sich an den Thesen des Historikers Ernst Nolte entzündet, der den Holocaust mit dem Gulag verglich; der Philosoph Jürgen Habermas bezichtige ihn daraufhin des Revisionismus.

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Man kann darin eine positive Entwicklung sehen: Das Web 2.0 bietet zumindest für dessen Teilnehmer eine radikale Form der Umsetzung von einst aufklärerischen Forderungen nach einer Demokratisierung der Künste und des Kunsturteils. Ein Blick auf die Geschichte der Kritik könnte den Enthusiasmus allerdings etwas dämpfen: Die Diskurshoheit ist bis in die jüngste Gegenwart immer in den Händen einflussreicher Eliten oder Machtgruppen geblieben. Das sollte hellhörig machen und das Sensorium dafür schärfen, wer diese Eliten und Machtgruppen jeweils sind, welche ideologischen und ökonomischen Ziele sie verfolgen. Vielleicht tritt künftig noch klarer hervor, dass selbst im Zeitalter der social media mit der dort geförderten ›Schwarmintelligenz‹ nicht alles Freiheit oder Basisdemokratie ist, was danach aussieht.26 Unfreiheit kann sein, von Bestsellerlisten manipuliert zu werden. Unfreiheit kann sein, seine Zeit zu verlieren im von Nutzern erzeugten (user-generated) Inhalt(sdickicht) der Blogs und Kundenrezensionen. Unfreiheit kann auch sein, über Google oder andere Suchmaschinen eine zunehmend verengte, durch Nutzerprofile gefilterte Auswahl von Informationen zu bekommen.27 Unfreiheit kann sein, zukunftsprägende Kunsttrends zu übersehen, weil die Publikumsmedien fixiert sind auf die Berichterstattung über Auktionsrekorde, Kunstskandale, Literaten oder Künstler mit Glamour-Faktor, die für Homestories taugen. Kurzum: Unfreiheit wird künftig weniger mit Informationsmangel zu tun haben als damit, falsche, ungeeignete, irreführende Filter für die Informationsflut zu verwenden. Der Medienwissenschaftler Peter Lunenfeld hat jüngst darauf hingewiesen, dass in der jetzigen Kultur der Überschwemmung mit Informationen eine zentrale Überlebenstaktik nicht nur für die Kultur darin bestehen wird, ›Figur und Hintergrund‹ voneinander zu trennen: »When the whole of popular culture from the last hundred years is finally brought under the disciplinarity of the universal database, it all becomes ground, and the refiguration of its parts becomes a veritable economic necessity«.28 Das derzeit von Medienexperten heraufbeschworene ›Ende des Internets‹29 in seiner bisherigen Gestalt dürfte sich in einer Zunahme geschlossener oder nur teilweise, gegen Gebühr oder Codes für eingeschränkte Kreise zugänglicher Informationsangebote manifestieren. Damit entstehen ganz neue Herausforderungen für die Beschaffung und Verbreitung von Information30 – und für deren Bewertung und Kritik. Unter diesen Vorzeichen wirkt die Idee der Kunst- und analog der Literaturkritik mit aufklärerischem Selbstverständnis gar nicht mehr so hoffnungslos antiquiert, 26 27 28 29 30

Kritisch zur ›Schwarmintelligenz‹: Jaron Lanier, You Are Not A Gadget. A Manifesto, New York 2010. Ken Auletta, Googled. The End of the World as We Know it, New York 2010. Peter Lunenfeld, The Secret War between Downloading & Uploading. Tales of the Computer as Culture Machine, Cambridge (Mass.) 2011, S. 48. So http://blog.slate.fr/frederic-filloux/2010/05/14/nuages-sur-le-web/ (letzter Aufruf 11. 02. 2013), zitiert nach Poulet, La fin des journaux (wie Anm. 1), S. 280. Poulet, La fin des journaux (wie Anm. 1), S. 279 ff.

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Barbara Basting

wie das angesichts ihrer Schwächung durch den Prozess der Ökonomisierung der Kultur und dem Verlust ihrer Autonomie zugunsten ihrer Funktionen als PR und Werbung in den letzten Jahrzehnten zunächst den Anschein macht. Allerdings dürfte sie künftig dann am ehesten noch Chancen haben, wenn sie neben der kritischen Auseinandersetzung mit dem einzelnen Artefakt immer wieder auch als Meta-Betriebskritik auftritt. Sie muss den Ehrgeiz haben, regelmäßig die Funktionsweisen und auch den derzeit eklatanten Strukturwandel des Betriebs nachvollziehbar zu machen. Denn nur so können einseitige Instrumentalisierungen von Kunst und Literatur und die Interessen der Akteure, die auf dem Feld der Kultur auftreten, transparent gemacht werden. Wer diese Kritik künftig leisten soll, wer sie sich leisten kann, weil er dafür noch die ökonomische Basis hat, ist derzeit alles andere als klar. Hier müssten sich Überlegungen anschließen zu den ökonomischen Bedingungen einer künftigen Kritik. Denn ob und wie sie stattfindet, hat jenseits aller idealistischen Vorstellungen und theoretischen Ideale vor allem damit zu tun, welche gesellschaftlichen Gruppen an welcher Art von Kritik interessiert sind und wer bereit ist, diese Kritik zu bezahlen. Klar scheint nur, dass die Frage nach den Bedingungen einer Autonomie des kritischen Diskurses wie auch die Frage nach der Kunst und der Literatur, an der dieser Diskurs sich noch entzünden kann, unter diesen Vorzeichen neu gestellt werden muss.

Anja Johannsen

Stroh zu Gold oder Gold zu Stroh? Zur Ambivalenz öffentlicher Autorenlesungen Ausgerechnet das Märchen vom Rumpelstilzchen, erklärt Felicitas Hoppe in ihren Augsburger Poetikvorlesungen, lasse sich als eine Art Patronatstext für den Literaturbetrieb in all seinen Facetten lesen, die Rollen können dabei, wie im wirklichen Leben, beliebig wandern und auf unterschiedliche Weisen verteilt werden. Wer ist in dieser Geschichte der Agent, der Zwischenhändler, wer der Verleger, wer der Verkäufer und wer der Käufer? Steckt nicht irgendwo auch noch ein Kritiker? Mit was wird gehandelt? Mit Luft, mit Liebe, mit Stroh? Mit Versprechungen und Verheißungen? […] Schließlich und endlich: Wer ist 1 der Künstler? Die Müllerstochter oder das Rumpelstilzchen?

Kein vollkommen neuer, aber gegenwärtig zunehmend raumgreifender Handelsschauplatz für Luft, Liebe und Stroh in der Branche ist die Literaturveranstaltung. Autorenlesungen – z. B. in Buchhandlungen – hat es freilich lange schon gegeben, erst aber mit dem Aufkommen großer Literaturfestivals und der Literaturhäuser in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist eine Institutionalisierung der Literaturveranstaltung in großem Maßstab diagnostizierbar. Die Klassiker unter den jährlichen Festivals entstanden zwar bereits zwischen 1970 und 1980;2 die ganz großen Publikumsmagneten wie das – sich selbst so bezeichnende – größte »Lesefestival« Europas Leipzig liest (1991), die lit.Cologne, das internationale literaturfestival berlin (beide 2001) oder Hamburgs Harbour Front (2009) sind aber weitaus jüngeren Datums. Mittlerweile umfasst die Liste der Literaturfestivals, die Wikipedia führt, über fünfzig Festivals im deutschsprachigen Raum. Und ähnlich verhält es sich mit den Literaturhäusern: Die ›Urmutter‹ all dieser Häuser, das Literarische Colloquium Berlin am Wannsee, gibt es zwar schon seit 1963, war allerdings immer auch Stipendiatenhaus und somit kein reiner Veranstaltungsort; das erste Literaturhaus im strengeren Sinn, mit dem auch die Bezeichnung geboren war, wurde erst 1986 in Berlin-Charlottenburg eröffnet. Drei Jahre darauf zog Hamburg nach, in den 1990ern folgten Wien, Frankfurt am Main, Rostock, Salzburg, Leipzig, München, Köln und Zürich, 2001 Stuttgart, 2003 Graz, und seither sind in diversen anderen Städten meist mittlerer Größe weitere entstanden bzw. im Aufbau begriffen, u. a. in den ostdeutschen Bundesländern.3

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Felicitas Hoppe, Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009, S. 62. Namentlich die österreichischen Rauriser Literaturtage (1971), die Solothurner Literaturtage in der Schweiz (1978) und das Erlanger Poetenfest (seit 1980). Die von Stephan Porombka und Kai Splittgerber im Auftrag des Netzwerks der Literaturhäuser erarbeitete und mittlerweile nachgebesserte »Studie zur Literaturvermittlung in den fünf neuen Bundesländern zu Beginn des 21. Jahrhunderts« gibt hierüber Auskunft. Nachzulesen ist sie unter: http://www.literaturhaus.net/projekte/projekt.htm?p=229 (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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Die Leseveranstaltung kann sich bei der Bevölkerung großer Beliebtheit erfreuen; unter Literaturwissenschaftlern aber trifft man in Alltagsgesprächen auffällig häufig auf Skepsis dem gesamten Veranstaltungsbetrieb gegenüber. Die Gründe scheinen zunächst auf der Hand zu liegen. »Zwischen Gottesdienst und Rummelplatz« siedelt Thomas Wegmann in seinem vielzitierten Text die Leseveranstaltung an,4 und natürlich finden sich zu beiden in diesem Zusammenhang durchaus abschreckenden Begriffen reichlich Beispiele aus der Branche. Das Stichwort ›Gottesdienst‹ ruft sofort die altbackene weihevolle ›Dichterlesung‹ ins Gedächtnis, deren ungute Ingredienzien wahrscheinlich nirgends besser eingefangen sind als in Loriots Frohwein-Episode in Pappa Ante Portas, in der das Publikum zu Sonettenkränzen in tiefen Schlummer sinkt. Das ›Rummelplatz‹-Szenario lässt sich hingegen vielleicht am besten anhand einer Episode verdeutlichen, von der der Oldenburger Autor Klaus Modick bei einer Podiumsdiskussion in Göttingen zum Veranstaltungsbetrieb5 berichtete: So sei ihm das Schlimmste in Sachen ›Eventisierung‹ in Hamburg widerfahren, als man anlässlich eines Lesefestivals in Planten un Blomen die geladenen Autoren in den Bäumen des Parks zu platzieren und sie von dort lesen zu lassen gedachte. Modick verzichtete auf diese Verdienstmöglichkeit. Vergleichbare Anekdoten – vom einen wie vom anderen Pol der Schreckensskala – ließen sich zahllose finden. Allein, die Skepsis dem Veranstaltungsbetrieb gegenüber rührt m. E. nicht allein von solcherlei Kuriositäten her. Auch, wo Autoren nicht zum Affen gemacht und das Publikum nicht mehr in eine Form der vermeintlichen Andacht gezwungen werden soll, bleiben meiner Beobachtung nach vielfach Vorbehalte gegenüber der Leseveranstaltung als solcher bestehen. Im Folgenden möchte ich versuchen, diesen auf den Grund zu kommen, auch um zu prüfen, inwieweit sie sich entkräften lassen. Die kritischen Bemerkungen lassen sich grob in zweierlei Themenfeldern verorten. Zum einen ist es in der Tat das »marktähnliche Geschehen«, wie Wegmann formuliert, das zu missfallen scheint: die Tatsache, dass Veranstalter »mehr oder weniger obskure Ware feilbieten, etwa ein ansonsten eher selten erhältliches Kompositum aus Zucker und Watte«,6 sprich: dass sie Geld machen, indem sie Autoren auf die Bühne schicken. Der Verdacht, es würde hier vornehmlich mit Stroh, das sich als Gold ausgibt, gehandelt, sitzt tief. Entsprechend nah beieinander werden die Schmähwörter Eventkultur und Kommerzialisierung im Mund geführt – und dies, das sei gleich angefügt, nicht ganz ohne Grund. Wichtig scheint mir allerdings, die oft etwas unglückliche Melange aus kapitalismuskritischen Impulsen, Elitismus und einem eingefleischten Kulturkonservativismus achtsam zu entmischen und die reflexartigen Invektiven zu unterscheiden von der gut begründeten Kritik. 4

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Thomas Wegmann, »Zwischen Gottesdienst und Rummelplatz: Das Literaturfestival als Teil der Eventkultur«, in: http://www.lesungslabor.de/html/modules.php?name=News&file=articl e&sid=16 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Zuerst erschienen in: Erhard Schütz, Thomas Wegmann (Hg.), literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing, Berlin 2002, S. 121–136. http://www.literarisches-zentrum-goettingen.de/programm/fruehjahr-2011/hauptprogramm/ literaturverteiler-lesebuehne (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Wegmann, »Zwischen Gottesdienst und Rummelplatz« (wie Anm. 4).

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Der zweite Themenbereich, in dem sich skeptische Anmerkungen von literaturwissenschaftlicher Seite zum Veranstaltungsbetrieb oftmals bewegen, hat – wiederum zunächst sehr grob formuliert – mit dem flüchtig, simpel und naiv wirkenden Charakter der dort in Szene gesetzten Form der Textrezeption zu tun, die den Eigenheiten der konzentrierten, stillen Lektüre genau entgegengesetzt scheint. Gerade in den 1980er und 1990er Jahren, also interessanterweise ausgerechnet in jener Zeitspanne, in der sich Literaturhäuser und -festivals zu etablieren begannen, war im akademischen Kontext nichts so verpönt wie die Frage nach der Autorintention und kaum etwas so gefürchtet wie der Biografismusverdacht. Zur selben Zeit also saßen – und sitzen noch – Abend für Abend Autoren auf Lesebühnen, geben Auskunft über sich und ihre Bücher, d.h. sie werden bedenkenlos als privilegierte Interpretatoren ihrer eigenen Texte herangezogen und lassen sich nach den biografischen Anteilen ihrer Texte befragen. Damit setzt sich die Literaturveranstaltung per se erst einmal fraglos dem Generalverdacht einer immensen theoretischen Naivität aus. Bislang liegt kaum Forschungsliteratur zum Veranstaltungsbetrieb vor.7 Das ist insofern erstaunlich, als doch zumindest zwei Jahrzehnte Zeit gewesen wären, sich die zunehmende Institutionalisierung dieser Rezeptionsform genauer anzusehen. Zwar sind Literaturhäuser meiner Beobachtung nach mittlerweile zu einem relativ beliebten Bachelor- oder Masterarbeitsthema avanciert. An größeren Studien ist mir allerdings nur eine einzige bekannt:8 die Dissertation von Sonja Vandenrath, heute Literaturreferentin in Frankfurt am Main, die vor allem den Zusammenhang von konzeptionellen und – gerade auch die Finanzierung betreffenden – strategischen Fragen beleuchtet und entsprechend Aufschluss über den Balanceakt zwischen unternehmerischem Risiko und kulturellem Auftrag gibt.9 Auf die benannte Skepsis reagiert weder diese Arbeit noch die – ohnehin recht überschaubare – Menge an kleineren Publikationen, die vom Führungspersonal aus dem Veranstal-

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Vgl. Gunter E. Grimm, »›Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.‹ Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation«, in: ders., Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008, S. 141–167. Grimm konstatiert dort, »dass es bis heute weder eine wissenschaftliche noch eine populäre Darstellung der Dichterlesung gibt [...].« (S. 143). Sonja Vandenrath, »Die bundesdeutschen Literaturhäuser«, in: dies., Private Förderung zeitgenössischer Literatur. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2006, S. 169–200. Vgl. auch: dies., »Zwischen LitClubbing und Roundtable. Strategien von Literaturhäusern«, in: Erhard Schütz, Thomas Wegmann (Hg.), literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing, Berlin 2002, S. 172–188. In dem einschlägigen Kapitel ihrer Doktorarbeit (wie Anm. 8) zeigt Vandenrath – was in kulturpolitischer Hinsicht natürlich hochgradig spannend ist –, welche Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Modellen der Mischfinanzierung und der jeweiligen Programmarbeit der Literaturhäuser bestehen und wie unterschiedlich groß die Spielräume für konzeptionelle Arbeit sind. Anders als Mitte der 2000er, als Vandenraths Studie entstand, gilt heute als die große Gefahr, der Literaturhäuser ausgesetzt sind, nicht mehr die, elitistische »Refugien innovationsresistenter Minderheitenprogramme« zu sein, als vielmehr die, zum verlängerten Arm der Marketingabteilungen der Verlage zu verkommen. Gerade bei den Häusern (Hamburg, Frankfurt am Main und – in allerdings weitaus geringerem Maß – auch Berlin-Charlottenburg), die in dem Ruf standen, wenig an Breitenwirksamkeit interessiert zu sein, hat sich das Profil in den letzten Jahren jeweils durch einen Leitungswechsel in die andere Richtung verändert.

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tungsbetrieb verfasst wurde.10 Ebenfalls nicht zur Schärfung eines kritischen Blicks auf Literaturveranstaltungen tragen m.E. feuilletonistische Debatten wie die von Stephan Porombka initiierte um Ab- oder Weiterleben der Wasserglaslesung bei.11 Die Tauglichkeit von Veranstaltungsformaten immer wieder zu überprüfen, ist für Veranstalter fraglos eine notwendige Angelegenheit; aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gibt es wesentlich interessantere Fragen an den Veranstaltungsbetrieb, deren Diskussion noch aussteht: Fragen beispielsweise nach Heteronomie bzw. Autonomie der Literaturveranstalter, nach den Auswirkungen der Etablierung des Veranstaltungsbetriebs auf die Textproduktion selbst, Fragen nach den im Veranstaltungsbetrieb dominierenden Literaturbegriffen, nach Fremd- und Selbstinszenierung von Autoren auf Lesebühnen etc. Ich will im Folgenden versuchen, zumindest einen Teil dieser Fragen anzureißen und mögliche Antworten zu skizzieren. Lenken lassen werde ich mich dabei weiterhin von den beiden Polen Konsumismus/Kommerzialisierung einerseits und dem Vorwurf der theoretischen Naivität andererseits, um die sich die Kritik am Veranstaltungsbetrieb, wie angesprochen, gruppieren lässt. Leitend ist also die Absicht, den Veranstaltungsbetrieb aus wissenschaftlicher Perspektive besser in den Blick zu bekommen. Die Überlegung, wie der Veranstaltungsbetrieb zu gestalten ist, um weniger Skepsis hervorzurufen bzw. der vorhandenen Skepsis klug zu begegnen, läuft wie ein weitaus kleineres Nebengleis parallel mit.

Verdachtsmoment Nr. I: Eventkultur und Kommerzialisierung Aber zunächst zurück zum Zusammenhang von Eventkultur und Ökonomisierung des gesamten Literaturbetriebs. Die vielfach beklagte Kommerzialisierung ist ja durchaus nicht dem Veranstaltungsbetrieb vorbehalten, im Gegenteil: Die gesamte Buchbranche wird mittlerweile dominiert von der enormen Beschleunigung des 10

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Vgl. z. B. Rainer Moritz, »Ein Forum für die Literatur«, in: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.), Literaturbetrieb in Deutschland, 3., völlig veränderte Aufl., Neufassung, München 2009, S. 123–129; Thomas Böhm, Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichte, Ideen, Köln 2003. (Moritz ist Leiter des Literaturhauses Hamburg, Böhm war Programmleiter des Literaturhauses Köln). Interessant sind diese Texte ohnehin v. a. als Dokumentationen eines institutionellen Selbstverständnisses. Auch der vorliegende Beitrag – das soll nicht verschwiegen werden – ist in genau jener Hinsicht von Befangenheit geprägt (ich leite das Literarische Zentrum in Göttingen) und sollte entsprechend mit der nötigen Skepsis gelesen werden. Den Ausschlag gaben Porombkas Invektiven gegen das traditionelle Veranstaltungsformat in diesem Interview: http://www.buchreport.de/nachrichten/verlage/verlage_nachricht/datum/0/0/0/ hat-die-lesung-ausgedient-herr-porombka.htm (letzter Aufruf 11. 02. 2013); auf die Gegenrede Rainer Moritz’, Leiter des Literaturhauses Hamburg (http://www.buchreport.de/nachrichten/ buecher_autoren/buecher_autoren_nachricht/datum/2010/04/07/die-verteidigung-des-wasserglases.htm [letzter Aufruf 11. 02. 2013]), reagierte Porombka, indem er seine Bemerkungen geringfügig relativierte: http://www.buchreport.de/nachrichten/buecher_autoren/buecher_autoren_nachricht/datum/2010/04/12/sturm-aufs-wasserglas.htm (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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Markts, den Konzentrationsprozessen im Buchhandel und im Verlagswesen und stark gestiegenen Renditeerwartungen, gerade auch in den Verlagen. Wo vor zwanzig Jahren noch Umsatzrenditen von 2–5% üblich waren, liegen die Zielvorgaben in den Verlagskonzernen mittlerweile weitaus höher.12 Die kleineren Verlage haben es zunehmend schwer, den Entwicklungen auf dem von Großkonzernen beherrschten Markt etwas entgegenzusetzen. Gute alte Werte des Literaturbetriebs wie die Autorenbindung gelten in den großen Verlagen oft nicht mehr viel, der Einfluss von Literaturagenten und Scouts dagegen wächst.13 Der Leser schließlich, so wird oft moniert, ist mit einer vielfach als Überproduktion gescholtenen Masse an Neuerscheinungen konfrontiert und findet die einzig mögliche Orientierung in Bestseller- und Bestenlisten oder in einer Literaturkritik, die gewöhnlich nur das ohnehin schon Erfolgreiche absegne, so konstatiert beispielsweise Sigrid Löffler in einem Rundumschlag, abgedruckt als Leitartikel im ersten Literaturen-Heft des Jahres 2008, über den gegenwärtigen Zustand des Literaturbetriebs.14 Der Veranstaltungsbetrieb ist zwar nur ein kleineres Rädchen im Gesamtgetriebe der Branche, steht aber durchaus in dem Ruf, deren Tendenz zum Mainstreaming Vorschub zu leisten. Und nicht nur das: Zuweilen scheint der Veranstaltungsbetrieb gewissermaßen als die Klimax der Kommerzialisierung des Literaturbetriebs zu gelten. Angesichts der Bandbreite dessen, was der Lesungsbetrieb bietet – von der kleinen Lyrikveranstaltung in der Off-Szene bis hin zu Frank Schätzings Show in Mehrzweckhallen –, lässt sich ein solches Pauschalurteil aber nicht aufrechterhalten. Geschuldet sind diese Negativreflexe auf die Veranstaltungsbranche m. E. der Ablösungsbewegung vom Buch, die jede Literaturveranstaltung vollzieht. Natürlich reden Veranstalter wie Verlage immer gerne darüber, wie schön sich die stille Lektüre zuhause (die normalerweise den Buchkauf voraussetzt) und der Besuch öffentlicher Lesungen ergänzen. Faktisch stellt die Veranstaltung neben dem Produkt Buch allerdings ein eigenes, zusätzliches Produkt dar. Insofern rangiert sie bei manchem Buchliebhaber eher unter den wenig brauchbaren Byproducts wie dem Poster zum Film o.ä. Und wie man die wachsenden »Nonbook-Bereiche« in den Filialen der Buchhandelsketten beklagt, betrachtet man auch die flächendeckende Ausbreitung des Veranstaltungsbetriebs mit Argwohn: Die zunehmend konsumistische Erlebnisgesellschaft will beschäftigt sein, ohne sich mühen zu müssen. Hören ist leichter als lesen – mag man meinen. Gerade angesichts des diffusen Argwohns lohnt es sich, genauer darüber nachzudenken, was für ein Produkt das ist: die Literaturveranstaltung. Eine Verkaufsveranstaltung im eigentlichen Sinne – wie die Signierstunde in Buchhandlungen, die im 12

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Den immer noch besten Überblick über die Veränderungen in der Buchbranche liefern m. E. André Schiffrin und – für den deutschsprachigen Bereich – Klaus Wagenbach im Nachwort selbigen Buchs: André Schiffrin, Verlage ohne Verleger. Über die Zukunft der Bücher, mit einem Nachw. von Klaus Wagenbach, aus dem Amerik. von Gerd Burger, Berlin 2000. Vgl. Renate Grau, Ästhetisches Engineering. Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb, Bielefeld 2006. Sigrid Löffler, »Im Sog der Stromlinie«, in: Literaturen 1/2 (2008), S. 6–13, hier S. 8.

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Großteil des (auch europäischen) Auslands nach wie vor das einzige Veranstaltungsformat darstellt, das die Buchbranche kennt – ist die öffentliche Lesung entgegen der landläufigen Meinung nicht. Sollte sie dies je sein, dann würde sie ihren Zweck mit erschreckender Regelmäßigkeit verfehlen. Befragt man Buchhändler, die Büchertische bei Veranstaltungen stellen, nach ihren Verkäufen, ist die Antwort fast immer ernüchternd: Werden fünf Bücher veräußert bei einer von fünfzig Leuten besuchten Lesung, gilt das als viel. Zwar werden sowohl in den Literaturhäusern als auch auf den meisten Festivals dennoch Büchertische organisiert, um dem Besucher die Option zum Blättern und zum Kauf zu bieten – es geht aber tatsächlich vor allem um die Möglichkeit. Genutzt wird diese weitaus seltener als man annehmen möchte. Auch wenn Lesungen also nur selten direkt zum Buchkauf führen, sind sie durchaus als ein Marketinginstrument zu begreifen. Verlage sind mittlerweile so stark interessiert daran, ihre Autoren an möglichst vielen Orten zu möglichst vielen Gelegenheiten auftreten zu lassen, dass sie seit den 1990er Jahren eigens Stellen zu diesem Zweck geschaffen haben. In jedem großen Publikumsverlag sind heute mindestens ein, zwei Personen – fast immer Frauen – angestellt, um die Lesereisen der Verlagsautoren zu organisieren und bei den Veranstaltern für Lesungen mit selbigen zu werben.15 Das zeigt sehr klar, dass sich die Verlage selbstverständlich von Lesungen versprechen, gute ›Reklame‹ zu sein – Reklame im alten, im Vergleich zur heutigen Verwendung noch deutlich weniger ausdifferenzierten Wortsinn, wie ihn Thomas Wegmann in Dichtung und Warenzeichen verwendet und folgendermaßen erläutert: Schließlich erfasst er [der Begriff ] nicht nur, was aktuell und dezidiert als ›Werbung‹ bezeichnet wird, sondern darüber hinaus auch Marketingstrategien, Public Relations etc., kurz: all das, womit gezielt und intentional Aufmerksamkeit auf bestimmte Produkte, Personen und Dienstleistungen gelenkt werden soll, um so ökonomisches und/ 16 oder symbolisches Kapital einzunehmen.

In exakt diesem Sinn ist die Literaturveranstaltung eindeutig ein Reklameinstrument – für Verlage, für Autoren und für die Veranstalter selbst. Sie ist angesichts der Aufmerksamkeitskonkurrenz in der gegenwärtigen Medienkultur ein sehr willkommenes Mittel, zunächst schlicht aufmerksam zu machen – auf ein Buch, auf eine Autorin – und somit ökonomisches und/oder, mit Bourdieu gesprochen, symbolisches Kapital anzuhäufen. In den Buchwissenschaften wird seit jeher vom Doppelcharakter des Buchs als Handels- und Kulturgut gesprochen,17 d. h. auch das Buch selbst ist natürlich im15

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In den 1980ern, als sich das Lesungswesen erst auszubreiten begann, wurden diese Aufgaben – wie heute noch in kleinen Verlagen – nebenbei von einer Mitarbeiterin erledigt, die vornehmlich mit anderem, meist PR-Arbeiten, beschäftigt war. In der Zwischenzeit ist das Pensum an Lesungen jedoch so gewachsen – bei Suhrkamp beispielsweise von jährlich ca. dreihundert Mitte der 1980er auf ca. zweitausend Veranstaltungen Mitte der 2000er Jahre –, dass es der entsprechenden Personaldecke bedarf. – Ich danke Adrienne Schneider herzlich für die Informationen. Thomas Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000, Göttingen 2011, S. 19. Den Doppelcharakter des Buches mache, so die Definition des Begriffs, die materiell definierte Differenz zwischen Text und Buch bzw. zwischen geistigem Erzeugnis und Handelsware aus.

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mer auch Handelsware. Das Wissen um den Warencharakter des Buchs wird durch dessen Stilisierung einzig als unbezahlbares Kulturgut jedoch deutlich zurückgedrängt. Das Reklamehafte der Literaturveranstaltung dagegen weist gerade auf den Warencharakter eines jeden Stücks Literatur hin und ruft damit Misstrauen hervor – ein Misstrauen, das auf eine lange Tradition zurückblicken kann. In seiner Einleitung zu dem Band Warenästhetik geht Heinz Drügh den Weg nochmals ab, der auch zu diesen Vorbehalten geführt hat. Drügh erinnert an Marx’ Unterscheidung in Gebrauchswert und Tauschwert einer Ware und dessen Feststellung, im kapitalistischen Warenverkehr dominiere der Tauschwert den Gebrauchswert; der Tauschwert werde einer Fetischisierung unterzogen. Der Philosoph Wolfgang Fritz Haug, auf den der Begriff der Warenästhetik zurückgeht, wies 1971 – auch daran erinnert Drügh – darauf hin, die Systemlogik des Konkurrenzkampfes im Kapitalismus mache es zunehmend erforderlich, dass Marketingmaßnahmen grundsätzlich einen Gebrauchswert nur mehr verheißen; es gehe um das Versprechen selbst, nicht um dessen Einlösung. Haug war der Ansicht, durch den Warenverkehr werde die menschliche Bedürfnisstruktur so konditioniert, dass jene Verhaltensmuster, die der Kapitalismus uns andressiert, auf alle Lebensbereiche des Menschen durchschlagen und das Individuum seinerseits zur Ware verdinglicht wird. Die Kultur verkommt damit zur ›Kulturindustrie‹. Die Denkfigur ist aus Adorno/Horkheimers Dialektik der Aufklärung bekannt, und immer noch, so Drügh, sei die Ansicht weit verbreitet, die Selbstständigkeit des ästhetischen Scheins werde vom Reklamecharakter der Kultur verdrängt.18 In die Debatte um Warenästhetik ist in den letzten Jahren aber Bewegung geraten. So gilt mittlerweile – zurückgehend auf die wiederum bereits aus den 70er Jahren stammende Annahme einer Subversivität des Genießens, d. h. auch des Warengenusses – als unumstritten, dass der Warenästhetik eine nicht zu umgehende Ambivalenz innewohnt: Konsum ist eben auch, so zitiert Drügh Hartmut Böhme, eine Praktik, die »das kreative Zentrum der Kultur« bilde – einer Kultur, die ein »Land der tausend Fetische« sei.19 Dieser Hintergrund, d.h. das Wissen um die Ambivalenz eines jeden Konsums, scheint mir unerlässlich, will man den Literaturveranstaltungsbetrieb mitsamt seinem Reklamecharakter nicht in Bausch und Bogen als Auswuchs einer ohnehin verkommenen Kulturindustrie verwerfen, sondern in seiner ganz spezifischen Ambivalenz verstehen. Und zu dieser spezifischen Ambivalenz trägt vor allem bei, dass es bei den Waren, für die hier Reklame gemacht wird, nicht allein um materielle Waren, sprich: Bücher geht, sondern auch um Figuren: um Autoren. Und damit bin ich bei meinem zweiten Cluster skeptischer Fragen an die Literaturveranstaltung angelangt.

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Vgl. hierzu das Lemma Buch in Ursula Rautenberg (Hg.), Sachlexikon des Buches, Stuttgart 22003, S. 82–86. Vgl. Heinz Drügh, »Einleitung: Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst«, in: ders., Christian Metz, Björn Weyand (Hg.), Warenästhetik, Frankfurt a. M. 2011, S. 10 f. Ebd., S. 20.

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Verdachtsmoment Nr. II: Theoretische Naivität In einem Text mit dem schönen Titel »Nichts ist widerlicher als eine sogenannte ›Dichterlesung‹.« Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation – das Zitat im Titel stammt aus Thomas Bernhards Alte Meister20 – zeichnet Gunter E. Grimm die Historie der öffentlichen Lesung nach. Sehr zu Recht hält Grimm den Vorbehalten gegenüber Leseveranstaltungen entgegen, dass es die mündliche Präsentation literarischer Texte immer schon gegeben hat: angefangen bei den Gesängen der Rhapsoden über die Sänger und Epiker des Mittelalters über Lesungen in so genannten Herrenclubs, Lesegesellschaften und bürgerlichen Salons im 17. und 18. Jahrhundert sowie dem öffentlichen Vorlesen bei den Weimarer Klassikern bis hin zu den ersten Lesereisen, beispielweise den Hof-Reisen Hans Christian Andersens oder den Rezitationstourneen von Charles Dickens.21 Grimm zitiert aus den Blättern für literarische Unterhaltung von 1865: Die Dichter dürfen in einer der Poesie nicht allzu holden Zeit [...] sich nach anderen Mitteln der Oeffentlichkeit umsehen, um die Theilnahme des Publikums zu erregen und wach zu halten. Das gedruckte Wort hat den unbegrenzten Kreis der Verbreitung voraus; aber das gesprochene Wort bleibt immer die lebendigste Vermittlung zwischen 22 der schaffenden und aufnehmenden Phantasie.

Gleich, in welchem historischen und sozialen Kontext, hat die laute Lektüre vor Gesellschaft stets andere Bedürfnisse erfüllt als das stille Lesen. Die optische, akustische, haptische Präsenz eines Autors hebt die sinnlichen Dimensionen auch der Literatur selbst in den Vordergrund. Der jeweilige Text wird auch körperlich in einem ganz anderen Maße erfahrbar als beim einsamen Lesen. Außerdem – das scheint mir auch im Bezug auf den gegenwärtigen Veranstaltungsbetrieb nicht genug betont werden zu können – unterstreicht die öffentliche Lesung die soziale Dimension von Literatur; die Lesung führt nicht nur Autoren und Leser, sondern eben auch Leser und Leser bzw. Hörer und Hörer in einem Raum zusammen und befördert die Unterhaltung über den gehörten Text. Zu einem festen Bestandteil der literarischen Kultur seit Gutenberg, das bestätigt auch Grimm, ist die öffentliche Lesung dennoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg geworden. Die skeptischen Stimmen zur Literaturveranstaltung haben sich seither vermutlich proportional zum Anwachsen des Veranstaltungsbetriebs gemehrt. Interessant ist m. E. aber weniger, die Legitimation oder Sinnhaftigkeit öffentlicher Lesungen grundsätzlich in Frage zu stellen, als nach den jeweiligen Umständen und Bedingtheiten zu forschen. Besonders beschäftigt mich hierbei die Überle20

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Interessant sind ergänzend hierzu die Briefe Bernhards an seinen Verleger zu lesen, in denen er wieder und wieder beteuert, nur unter Androhung von Höchststrafe Lesungen zu machen. Vgl. Thomas Bernhard, Siegfried Unseld, Der Briefwechsel, hg. von R. Fellinger, M. Huber und J. Ketterer, Frankfurt a. M. 2009. Vgl. Grimm, »Dichterlesung« (wie Anm. 7), S. 143–146. Ebd., S. 147.

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gung, in welchem Verhältnis Literaturwissenschaft und -betrieb hier stehen. Wie erwähnt, wuchs der Literaturveranstaltungsbetrieb im deutschsprachigen Raum just in jenen Jahrzehnten so gewaltig, als in der literaturwissenschaftlichen Lehre und Forschung postrukturalistische und dekonstruktivistische Literaturtheorien dominierten, die eine prinzipielle Vorsicht im Umgang mit dem Autorbegriff empfahlen. Der Veranstaltungsbetrieb scheint, indem er die Autoren wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, den Literaturbegriff des Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus komplett zu konterkarieren, und vermutlich hätte Barthes tatsächlich keine große Freude an einem Literaturhaus gefunden. Aber ist die Rückbindung des Textes an den Autor im Veranstaltungsbetrieb zwingend so naiv und ungebrochen, wie es auf den ersten Blick scheint? Das derzeit vorherrschende Veranstaltungsformat in Literaturhäusern wie auch bei Festivals – wenngleich dort häufig auch die ›reine‹ Lesung geboten wird – ist die moderierte Autorenlesung, d.h. die Lesung aus dem jeweiligen Text wird ergänzt durch einen oder mehrere Gesprächsblöcke meist mit einer Literaturkritikerin oder einem -wissenschaftler; normalerweise wird das Zweiergespräch gegen Ende des Abends für Fragen aus dem Publikum geöffnet. Was die Rezeption einer solchen Veranstaltung u. a. maßgeblich von der stillen Lektüre zuhause unterscheidet, ist also, den Verfasser des Textes zu sehen, zu hören etc., aber eben auch, ihn im Gespräch zu erleben. In der Unterhaltung mit Moderatorin und Publikum erweisen sich fast alle Autoren der Gegenwart als alles andere als naiv im Sprechen über ihren Text. Autoren sind selbstredend fast immer professionelle Leser, oft auch ihres Zeichens Literaturwissenschaftler, an den wenigsten sind die literaturtheoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte ganz spurlos vorbeigegangen – und in noch weitaus geringerem Maße an denjenigen, die als Moderatoren engagiert werden. Dementsprechend gehört die Frage nach der Autorintention (»wie haben Sie denn dies oder jenes gemeint?«) sicher nicht zum Standardrepertoire eines Fragenkatalogs auf einer Lesebühne. Das wenn auch oft leicht gehaltene, aber professionelle Gespräch über Texte bietet im besten Fall dem im Publikum sitzenden Laienleser Anlässe, an Grundfragen des Verhältnisses von Text und Autor, Fiktion und Wirklichkeit etc. zu geraten. Natürlich befördert (und befriedigt) der Veranstaltungsbetrieb das Interesse an den Personen hinter den Büchern. Die Annahme, das leiste zwangsläufig platt biografistischen Lesarten der präsentierten Texte Vorschub, ist m.E. aber überzogen. Tom Kindt und Hans-Harald Müller weisen darauf hin, dass nicht jede Form der Bezugnahme auf die Biografie des Autors zwingend biografistisch sein muss, d. h. in eine unterkomplexe, theorieferne Eins-zu-eins-Setzung von Text und Leben münden muss.23 Selbst Boris Tomašewskji – russischer Formalist und somit über jeden Verdacht erhaben, Vertreter eines naiven Biografismus zu sein –, gesteht ein, offensichtlich könne »die Frage nach der Biographie in der Geschichte der Literatur 23

Vgl. Tom Kindt, Hans-Harald Müller, »Was war eigentlich der Biographismus – und was ist aus ihm geworden?« in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar 2002, S. 355–375.

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nicht in gleicher Weise für die ganze Literatur entschieden werden«,24 d. h. auch, dass man die Biografie nicht konsequent aus der literaturwissenschaftlichen Forschung verbannen kann. Zwar beklagt Tomašewskji das immense Interesse seiner Zeitgenossen an Biographien und Briefwechseln; man habe »nicht die Literatur und ihre Geschichte« im Blick, »sondern den Autor als Menschen – und man kann noch froh sein, wenn es um den Autor geht und nicht um seine Brüder und Tanten.«25 Dennoch zeichnet Tomašewskji in einem grobem Abriss am Beispiel der russischen Literatur nach, inwiefern die jeweilige Epoche diktiert, ob und inwiefern die Biografie des Autors eine Rolle bei der Lektüre seiner Texte spiele.26 Entsprechend gebe es »Schriftsteller mit Biographie« und »Schriftsteller ohne Biographie«. Bei einem Schriftsteller mit Biographie sei auch in der Forschung, die Berücksichtigung seiner Lebensfakten notwendig, weil die Gegenüberstellung der Texte und der Biographie dagegen des Autors wie auch das Spiel mit der potentiellen Realität seiner subjektiven Herzensergüsse und Bekenntnisse in seinen Werken eine 27 konstruktive Rolle spielen.

Auch die Herausgeber der Bände Rückkehr des Autors28 und Texte zur Theorie der Autorschaft29 betonen, Textlektüren setzten schließlich immer schon »bestimmte Auffassungen über den Autor voraus, die maßgeblich darüber bestimmen, auf welche Weise der Text interpretiert wird«.30 Man muss die Häme nicht teilen, mit der die Herausgeber den Poststrukturalismus überziehen, um ihnen darin Recht zu geben, dass die literaturwissenschaftliche Diskussion um die Brauchbarkeit des Autorbegriffs keineswegs beendet, sondern die »Wiederaufnahme eines Verfahrens, das schon abgeschlossen schien«,31 durchaus angebracht ist. An die Stelle sich stereotyp gegenüberstehender poststrukturalistischer und hermeneutischer Positionen sollte besser ein historisches Wissen um immer schon konfligierende Konzepte und die 24 25 26

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Boris Tomašewskji, »Literatur und Biographie«, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 49–61, hier S. 61. Ebd., 49. Eine erste Hinwendung zur Autobiographie entdeckt er in der Romantik; im 18. Jahrhundert werde »der Autor zum Zeugen und lebendigen Teilnehmer seiner Romane, zum lebendigen Helden«; in der Mitte des 19. dagegen löse der »professionelle[ ] Dichter, de[r] Geschäftemacher, de[r] Journalist[ ]«, der keine Einblicke in sein Privatleben zulässt, den Dichter-Helden ab, wohingegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Interesse am Autor wieder erblühe: Der Symbolismus und in dessen Folge v. a. der Futurismus zögen die letzte Konsequenz aus der romantischen Hinwendung zur Autobiographie, indem der Autor sich selbst zum Helden seiner Bücher mache. Vgl. ebd., S. 54–60. Ebd., S. 61. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. Jannidis, Lauer, Martínez, Winko, Theorie der Autorschaft (wie Anm. 24). Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko, »Einleitung. Autor und Interpretation«, in: dies., Theorie der Autorschaft (wie Anm. 24), S. 7–29, hier S. 24 f. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko, »Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven«, in: dies., Rückkehr (wie Anm. 28), S. 3–35, hier S. 35.

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Gleichzeitigkeit konkurrierender Modelle treten und ein Bewusstsein für die vielfältigen Funktionen des Autors wachsen. Dieser Aufgabenstellung zu entsprechen versucht der recht junge Forschungszweig zu Autor-Inszenierungen, innerhalb dessen vielfach auf Genettes Theorie der Paratexte zurückgegriffen wird.32 Besonders brauchbar für die wissenschaftliche Erkundung des Veranstaltungsbetriebs scheint mir der in diesem Rahmen von Christine Künzel vorgeschlagene Rückgriff auf Foucaults – somit gewissermaßen vor der Schelte der Rückkehr-Herausgeber geretteten und rehabilitierten – Begriff der Autorfunktion.33 Anders als Barthes hatte Foucault nie behauptet, der Autor existiere nicht; vielmehr hatte er darauf hingewiesen, dass nicht die empirische Person des Autors, sondern sein Name und die an diesen Namen geknüpften Funktion für den literarischen Diskurs relevant ist. Dirk Niefanger schlägt nun vor, die Autorfunktion nicht allein auf der Diskursebene zu untersuchen und »sich im Akt der Semiose keineswegs nur auf die autorisierten Texte« zu beziehen,34 sondern, so ließe sich ergänzen, auch gerade das öffentliche Auftreten eines Autors u. a. im Veranstaltungsbetrieb einzubeziehen. Kombiniere man Foucaults Theorem mit Bourdieus Habitustheorie, wie Niefanger weiter empfiehlt,35 könne man durchaus zu neuen, gerade in der gegenwärtigen Medienkultur relevanten Ergebnissen und Erkenntnissen über das, was Niefanger »Autor-Label« nennt, gelangen. Womit wir wiederum bei den je historischen Spezifika angekommen sind. »Seit der viel beredeten Krise des Buchmarkts«, schreiben Beilein, Stockinger und Winko in ihrem Band zur Literatur in der Wissensgesellschaft, »ist derzeit klarer denn je, dass Literatur unter Marktbedingungen stattfindet, dass Autorennamen Marken darstellen [...], dass also im Verbund vielfältiger Vermittlungsinstanzen Images kreiert werden müssen.«36 Und bei der Kreation dieser Images spielt der Veranstaltungsbetrieb keine zu vernachlässigende Rolle. Wollen Autoren heute wahrgenommen werden, können sie sich selbigem kaum entziehen. Denn das öffentliche Lesen ist mittlerweile auch zu einer finanziellen Notwendigkeit für Autoren geworden. Wirklich nur die Bestsellerautoren können von den Buchverkäufen leben; alle anderen sind auf Stipendien, Preisgelder und eben auf die Einnahmen aus Leseveranstaltungen angewiesen. Entsprechend wagen es nur sehr wenige – im deutschsprachigen Raum ist der bekannteste Lesungsverweigerer Peter Handke, im englischsprachigen Tho32

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Vgl. Christine Künzel, Jörg Schönert (Hg.), Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg 2007; Gunter E. Grimm, Christian Schärf (Hg.), SchriftstellerInszenierungen, Bielefeld 2008; Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg 2011. Vgl. Christine Künzel, »Einleitung«, in: dies., Schönert (Hg.), Autorinszenierungen (wie Anm. 32), S. 9–23, hier S. 10. Dirk Niefanger, »Der Autor und sein Label«, in: Detering (Hg.), Autorschaft (wie Anm. 23), S. 521–539, hier S. 523 f. Ebd., S. 526. Matthias Beilein, Claudia Stockinger, Simone Winko, »Einleitung. Kanonbildung und Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft«, in: dies. (Hg.), Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft, Tübingen 2011, 1–15, hier S. 11.

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mas Pynchon –, sich nicht auf die Bühnen von Literaturhäusern und -festivals zu begeben. Man erinnere sich noch einmal der Unterscheidung, die Tomašewskji getroffen hatte, in »Schriftsteller mit Biographie« und »Schriftsteller ohne Biographie«. Ausschlaggebend war dort die Frage, ob die Texte des jeweiligen Autors Bezug auf die eigene Biografie nehmen oder nicht. Im gegenwärtigen Literaturbetrieb ist es nicht die Literatur, die darüber entscheidet, ob die Verfasser derselben sich im Verborgenen halten oder nicht. Auch wenn sie Texte schreiben, die jeglicher biografischer Bezüge entbehren, nötigt der Betrieb sie, ihr Gesicht der Menge zu zeigen. Das ist nicht innerliterarisch, sondern institutionell, betriebsökonomisch bedingt. Diese Entmachtung birgt das Potenzial einer enormen Kränkung der Autorenschaft in sich, die auf Seiten der Schriftsteller durchaus einen immensen Überdruss und Widerstand gegen die Leseveranstaltung zeitigen kann, wie – um zum Ende hin einer ›Betroffenen‹ das Wort zu geben – beispielsweise in Monika Marons Essay »Der Schriftsteller als Wanderzirkus« nachzulesen: Für die nächste Woche läuft über beide Seiten meines Kalenders ein diagonaler Strich, darüber das Wort Lesereise; Montag bis Freitag durchgestrichen wie ausgefallene Tage. Ich verabscheue Lesereisen. Trotzdem werde ich fahren. Ich werde mit dem Veranstalter essen gehen, ich werde den gleichen Text lesen, den ich immer lese [...]. Ich werde nach der Lesung geduldig und zähneknirschend die immergleichen Fragen beantworten [...]. Später wird mir diskret das Honorar zugesteckt werden, wodurch mein seelisches Gleichgewicht für den Augenblick wieder hergestellt sein wird, denn dafür und nur dafür bin ich hergekommen. Am nächsten Morgen werde ich meine Zahnbürste einpacken, in den nächsten Ort, von dem ich bis dahin nie gehört habe, fahren, wo mir der nächste Veranstalter den Ring mit der Kette daran durch die Nase zieht, um mich dem nächsten Publikum wie einen Tanzbären vorzuführen, nach einem guten Essen 37 selbstverständlich.

Hermann Bahr hatte bereits 1909 Ähnliches notiert: Ich war jetzt drei Wochen in Deutschland, als Vorleser »gastierend«, in Bayern und am Neckar und am Rhein und in Sachsen und bis nach Hamburg hinauf. Anfangs kommt man sich da zuweilen recht wunderlich vor. Als sein eigener Hagenbeck sozusagen. Wirklich, man hat das Gefühl, zur Schau zu stehen, wie ein gefährliches fremdes Tier, von dem die Leute reden gehört haben und das sie nun neugierig sind einmal in der Nähe zu sehen; und fast wär’s oft nötig, sich eine Tafel umzuhängen, worauf steht, wie 38 in den Museen: das Berühren der ausgestellten Gegenstände ist verboten.

Anders aber als zu Marons Zeiten war eine Lesereise zu Beginn des 20. Jahrhunderts eher noch ein Kuriosum, ein Wagnis, das man einmal einging, wenn es sich nicht bewährt hatte, aber nicht wiederholte. Der Literaturbetrieb der 1900er Jahre verlangte seinen Autoren den öffentlichen Auftritt nicht als eine Selbstverständlichkeit ab – ein Zustand, den Maron sich wieder herbeiwünscht: 37 38

Monika Maron, »Der Schriftsteller als Wanderzirkus«, in: dies., Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft, Frankfurt a. M. 1995, S. 54–56, hier S. 54 f. Zitiert nach Severin Perrig, Stimmen, Slams und Schachtel-Bücher. Eine Geschichte des Vorlesens. Von der Rhapsoden bis zum Hörbuch, Bielefeld 2009, S. 118.

Zur Ambivalenz öffentlicher Autorenlesungen |

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Wenn allerdings eines Tages Autoren tatsächlich das Geld für ihre Arbeit bekämen wie Automechaniker, Zahnärzte, Busfahrer, Musiker und die meisten anderen Menschen (außer Politikern und Millionären), wenn sie sich nicht mehr als Schausteller verdingen müssten, um ihre eigentliche Arbeit zu finanzieren, dann, ach, dann würde ich nur 39 noch vor Analphabeten und Blinden lesen und auf das Honorar verzichten.

Dieses Kränkungspotenzial des Lesungsbetriebs scheint mir sein einzig wahrhaft heikler Aspekt zu sein. Veranstalter stehen zwangsläufig immer in der Gefahr, Autoren auf ihre Bühnen zu bitten, die diesen »Zirkus« eigentlich verabscheuen. Damit droht der Veranstaltungsbetrieb – als Teil des großen Getriebes der gesamten Literaturbranche – immer wieder, wenn auch ungewollt, die Beteiligten in Rollen zu drängen, die sie nur mehr spielen und nicht ausfüllen. Im Märchen vom Rumpelstilzchen, schreibt Felicitas Hoppe, entstehe ein dramatisches Beziehungsgeflecht, aus dem letztlich keiner mehr aussteigen kann: Es geht um die Vortäuschung falscher Tatsachen und Gefühle: Der Müller spielt den sorgenden Vater, der in Wahrheit nur auf Prestige aus ist, die Tochter eine Schatzproduzentin, die in Wirklichkeit nichts vom Spinnen versteht, der König den liebenden 40 Ehemann, der dahinter seine Goldgier versteckt.

»Nur das Rumpelstilzchen«, resümiert sie, »die unwirklichste und fantastischste Figur in der Geschichte« und »die einzige, die wirklich im handwerklichen Sinn eine Kunst beherrscht, spielt keine Rolle, sondern ist, tatsächlich, mit seinem Wünschen und Handeln, ganz bei sich.«41 Dort, wo der Veranstaltungsbetrieb versagt, d.h. wo das ernsthafte Interesse an den Texten zurückgedrängt wird vom Pekuniären, wo aus Reklame also schlicht Werbung wird und wo kein Bemühen mehr zu erkennen ist, auch den Autoren selbst nicht nur eine Verdienstmöglichkeit, sondern interessante Abende mit anregenden Gesprächspartnern zu bieten, dort laufen wir Gefahr, aus Autoren samt und sonders Rumpelstilzchen zu machen – Gestalten, die sich lieber die Haare raufend im Wald verbergen als uns gern ihr Gesicht zu zeigen.

39 40 41

Maron, »Wanderzirkus« (wie Anm. 37), S. 56. Hoppe, Sieben Schätze (wie Anm. 1), S. 62 f. Ebd., S. 63.

Irmgard M. Wirtz

Der Eigensinn der Nachlässe. Zur Poetik des Archivs 1.

Literaturarchiv und Literaturbetrieb

Die Adressen der Literaturarchive veranschaulichen der Öffentlichkeit, welches symbolische Kapital diese Institutionen verwalten: Das Deutsche Literaturarchiv residiert in Marbach auf der Schillerhöhe, das Österreichische Literaturarchiv in der Michaelerkuppel der Hofburg und das Schweizerische Literaturarchiv betritt man der republikanischen Tradition und dem Neuen Bauen geschuldet über eine steile Betonstiege, die im Zuge der letzten Gebäudesanierung der Nationalbibliothek eigens errichtet wurde. So hatte bereits der alte Meister aus Weimar in seinem Wohnhaus am Frauenplan für die Besucher den Weg auf den Parnass inszeniert: Man muss ihn erklimmen.

Treppenaufgang des Schweizerischen Literaturarchivs Bern (Copyright S. Schmid, NB).

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Irmgard M. Wirtz

Anders verläuft der Weg der Autoren ins Literaturarchiv: Wie kommen die Vorund Nachlässe ins Archiv? Wie kommen die Autoren rechtlich zu einer Übernahmevereinbarung und materiell in die Bestandessammlung, ins Tiefmagazin? Wenn der Zugang zum Archiv für die Benutzenden steil ist, so gilt das erst recht für den Eintritt in die Sammlung, also für die Autorinnen, Autoren, Gelehrten und Institutionen. Damit sind nicht die Aufnahmekriterien, die Kanondiskussion und das Erwerbsbudget, sondern die materiellen Ordnungen und die kulturellen Praktiken gemeint. Die Praktiken des Archivs haben sich in den letzten 60 Jahren stark verändert und damit auch der Zugang ins Archiv. Die jüngeren Literaturarchive haben diesen Wandel unterschiedlich vollzogen.

2.

Die Sammlungen der Nachkriegsjahre: Das Entlastungsargument oder das Ritual der Gabe

In den Nachkriegsjahrzehnten verfolgte das Deutsche Literaturarchiv in Marbach eine Bestandesbildung, die auf die Literatur von 1890 bis zur Gegenwart ausgerichtet war. Durch die Nazizeit, den Krieg und die Nachkriegszeit wurde die Frage, was mit dem Nachlaß eines Autors zu tun sei, verhältnismäßig spät, meist erst nach dem Tod der Autoren, gestellt. Im wesentlichen waren die Verhandlungspartner in den ersten 30 Jahren des Deutschen Literaturarchivs, also 1955 bis 1985, die Witwen und Nachkommen der Dichter. […] Ihnen wurde mit dem Angebot, das Deutsche Literaturarchiv zu wählen, meist auch eine Last abgenommen. Daher in jener Zeit das Überwiegen der 1 Fälle, in denen Nachlässe gestiftet wurden.

Ein Erwerbsmodell, das heute im Bereich der Gelehrtennachlässe nach wie vor aktuell ist. In diesen Jahren orientierte sich die Bestandesbildung eingestandenermaßen am Angebot, und dieses war reichhaltig. Das entnehme ich den Berichten der Gründer des Deutschen Literaturarchivs, das betrifft erst recht die Sammlungen der Handschriftenabteilungen der Universitäts-, Kantons- oder Landesbibliotheken. Die Bestände konstituierten sich bis in die 1980er Jahre nicht über Budgets, sondern über Schenkungen, in den bedeutenden Fällen begleitet durch Stiftungen; diese Schenkungen waren an Auflagen geknüpft und erzielten so Einstandspreise, auf die man sich heute nicht mehr einlassen könnte: Eine Gedenktafel als bescheidenste Form der Anerkennung, aber auch ein dem Autor oder der Autorin gewidmeter Saal, ein persönlicher Nachlassverantwortlicher oder sogar eine Arbeitsstelle oder eine Gesamtausgabe lagen durchaus im Verhandlungsspielraum der Erben. Das Ritual der Gabe ist gemäß Marcel Mauss eine Tauschhandlung mit verzögerter Reziprozität. 1

Ulrich Ott, »Probleme der Literaturarchive und -museen«, in: Angelika Busch, Hans-Peter Burmeister (Hg.), Literaturarchive und Literaturmuseen der Zukunft. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Rehburg-Loccum 1999 (Loccumer Protokolle 18/99), S. 30–48, hier S. 39.

Der Eigensinn der Nachlässe |

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Im Magazin des Schweizerischen Literaturarchivs (Copyright S. Schmid, NB).

Die Handschriftenabteilung der Schweizerischen Landesbibliothek übernahm den Nachlass Carl Spittelers in den 30er Jahren als ersten literarischen Nachlass von des-

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sen Töchtern und verband dies mit dem Versprechen eines bald realisierten Inventars und einer umstrittenen Gesamtausgabe.2 Weitere Schenkungen wie die Briefsammlungen Hermann Hesses in den 1940er Jahren, denen auch das selbst gezimmerte, recht frugale Mobiliar folgte, waren mit der Auflage verbunden, einen repräsentativen Hessesaal zu führen. Noch geschickter verhandelte Blaise Cendrars‘ Tochter Mirjam in den siebziger Jahren mit der Schweizerischen Landesbibliothek: Sie verkaufte den Nachlass des Vaters, verlangte einen persönlichen Nachlassverwalter, erhielt vertraglich eine eigene Equipe für die Aufarbeitung zugesichert und langfristig die Einrichtung einer Arbeitsstätte, in der bis heute das Centre d’études Blaise Cendrars arbeitet und die Pléiade-Edition vorbereitet.3 Derlei Zusagen, die retardierenden Wirkungen der Schenkungen, formieren den Betrieb des Literaturarchivs bis heute. Joseph Kruse (Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf ) hat die Sammlungsprinzipien dieser Jahre resümiert, indem er sich zunächst nicht scheut, den Germanisten Benno von Wiese zu zitieren: »nehmen, was man kriegen kann«, um sich sogleich mit dem pragmatischen Argument der »hedonistischen Überlastung« von einer solchen policy zu distanzieren.4 Dennoch verdeutlicht der Rat den Anspruch und die Erwartung der Literaturwissenschaft an die Literaturarchive: Das Literaturarchiv stemme als Atlas das Gewicht der literarischen Überlieferung. Darüber hinaus hat Ulrich Ott, damals Direktor in Marbach, die Nachbarinstitutionen in seiner Loccumer Rede 1999 auf drei eherne Prinzipien verpflichtet: Keine Zersplitterung der Nachlässe, keine Zerstreuung durch Auflösung und keine Überbietung von Ankaufspreisen.5 Die stete Wiederholung dieser Grundsätze zeigt, dass deren Einhaltung bis heute ein Problem darstellt. Das Begehren nach Ruhm, also nach symbolischem Kapital, motiviert gerade die nicht kanonisierten Autoren, ans Archiv heranzutreten, während die Autoren mit gesicherter Reputation, die also bereits zu Lebzeiten auf dem Parnass sitzen, nach individuellen Lösungen suchen. Sie verhandelten damals (und heute) am archivalischen Ehrenkodex vorbei. Die Bereitschaft zum Sündenfall ist archivseitig groß, wie jüngst die Teilung des Nachlasses von Peter Handke zwischen Marbach und Wien zeigte. Dass es nicht allein um symbolisches Kapital, sondern um Handfestes geht, zeigt die Entscheidung Peter Turrinis 2

3

4

5

Die Problematik der Spitteler-Werkausgabe hat Rätus Luck quellenkritisch aufgearbeitet. Vgl. Rätus Luck, »Carl Spitteler und Jonas Fränkel. Ein Fall und ein Plädoyer«, in: Quarto 4/5 (1995), S. 150–161. Der Nachlass Jonas Fränkels befindet sich nach der entzogenen Herausgeberschaft durch Erben und Bund nach wie vor in Privatbesitz. Convention zwischen dem Bund und der Erbin Mirjam Cendrars von 1977 und die Erweiterungen derselben aus den Jahren 1989 und 2004. Das Originaldokument befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv, Bern. »Nehmen was man kriegen kann, eine Lebensmaxime, die der Germanist Benno von Wiese dem Berichterstatter einmal mit auf den Weg geben wollte, ist denn doch in der Realität von hedonistischer Überlastung gekennzeichnet und im Archivwesen eine reine Manie, die mit Herz und Verstand nicht zu vertreten ist.« Josef A. Kruse, »Woher und Wohin – Nachlaßsammlungen nach dem Zufallsprinzip?«, in: Busch, Burmeister, Literaturarchive (wie Anm. 1), S. 49–62, Zitat S. 60. Ott, Probleme (wie Anm. 1), S. 37.

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für St. Pölten,6 das in einer kulturpolitischen Geste als Landeshauptstadt Niederösterreichs für den aus Kärnten stammenden Autor an Mitteln aufbringen konnte, was weder die Stadt und das Land Wien noch die Nationalbibliothek Österreichs anzubieten vermochte. Der Wettbewerb spielt nicht nur zwischen den nationalen Einrichtungen, Bibliotheken und Archiven, er besteht neuerdings auch zwischen den deutschen Eliteuniversitäten, die über außergewöhnliche Mittel verfügen, und den etablierten Archiven.7

3.

Der Paradigmenwechsel der 1980er Jahre: die Poetik des Archivs

Für Marbach konstatierte Ulrich Ott ebenfalls in Loccum einen Paradigmenwechsel: »Von etwa 1980 an begannen die Autoren selbst, noch zu Ihren [sic] Lebzeiten, zu disponieren«,8 und das gilt insbesondere für die in den 1990er Jahren gegründeten jüngeren Literaturarchive in Österreich und der Schweiz. Das hat nicht nur budgetäre Folgen, sondern beeinflusst auch die Überlieferung selbst. Neben der Institution des Archivs, dem die Betreuung der Materialien obliegt, versuchen die Autoren nun selbst, ihren Status im Archivgedächtnis zu kontrollieren. Ein spezieller Fall solcher Kontrolle bzw. Übergabe liegt mit dem Gründungsakt des Schweizerischen Literaturarchivs vor. Es verdankt seine Existenz dem Dispositiv eines gut beratenen Autors. Friedrich Dürrenmatt, unterstützt vom Germanisten Peter von Matt und dem Anwalt Peter Nobel, besaß die Kühnheit, dem Bund einen Tauschhandel vorzuschlagen: Der Autor bot seinen Nachlass der Eidgenossenschaft unter der Bedingung an, dass diese ein Nationales Literaturarchiv gründe. Peter von Matt hat die Geschichte in brillianter Dramaturgie anlässlich des 20. Geburtstags des SLA vorgetragen, und nachlesen kann man sie im Quarto-Heft Literaturarchiv.9 Damit wird deutlich, dass das Ritual der Gabe Dimensionen erreicht hatte, die einem phantastischen Plan zur Verwirklichung verhalfen. Oder: Der Literatur zum Betrieb. Mit diesem Handel hat Friedrich Dürrenmatt, Personal, Räume und Ausstattung eingerechnet, wohl international den Bestpreis für seinen Nachlass erzielt. Und dieser steigt mit jedem Nachlass, den das Literaturarchiv bis heute erwirbt. Ein Prozess von anhaltender Reziprozität, auch eine Konsequenz von Dürrenmatts Denken, wie sie sich in der Poetik seiner Alterswerke manifestiert: Durcheinanderthal, Der Auftrag, Midas und Die Gedankenfuge Konfliktlösungen kompromisslos, durchdacht und folgenschwer. 6 7

8 9

Peter Turrini hat seinen Lebensmittelpunkt seit Jahrzehnten im niederösterreichischen Waldviertel. Auch der Erwerb des Suhrkamp-Archivs durch das Deutsche Literaturarchiv in Marbach war ein Rennen zwischen der Universität Frankfurt und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. Vgl. hierzu Ulrich Raulff im Gespräch mit Ijona Mangold, »Warum Suhrkamp nach Marbach muss«, auf: Die ZEIT online (30. 10. 2009), abrufbar unter http://www.zeit.de/2009/22/InterviewRaulff (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Ott, Probleme (wie Anm. 1), S. 39. Peter von Matt, »Vom literarisches Gedächtnis der Schweiz«, in: Quarto Nr. 33/34 (2011), S. 20–26.

82 | 4.

Irmgard M. Wirtz

Vorlass, Nachlass und Archiv: Eine Option auf die Utopien

Heute erfolgen die meisten Verhandlungen direkt mit den Autorinnen und Autoren, oder den Gelehrten, als Schenkung, Kauf und ganz selten als Depot. Für alle gilt, dass prospektive Pläne wie Ausstellungen, Arbeitsstellen oder Gesamtausgaben nicht mehr Gegenstand von Verhandlungen sind. Das Archiv hat aus den vollmundigen und folgenreichen Versprechen seiner Vorgänger gelernt. Aus den erworbenen Vorlässen erwachsende Verpflichtungen sollten heute kalkulierbar sein, damit sie sich nicht zu posthumen Verhängnissen auswachsen. Eine Besonderheit in den Erwerbungen des Schweizerischen Literaturarchivs liegt in der Verhandlung des Utopischen. Im Unterschied zu den Nachbarländern verpflichten sich die Autorinnen und Autoren der Schweiz in ihren Vereinbarungen, auch die künftigen Werke, die im Moment der Vertragsunterzeichnung also noch gar nicht existieren, dem Archiv zu übergeben. Das geschieht im wechselseitigen Risiko, dass ein künftiger Nobelpreisträger sein Werk unter seinem dereinstigen Wert verkauft oder dass der Autor nach dem Vertragsabschluss zu schreiben aufhört. Die Option auf die Zukunft ist gut schweizerisch spekulativ und pragmatisch zugleich. Kaum beachtet wird indessen, dass die Autorinnen und Autoren parallel zu den Verhandlungen und Vereinbarungen Hand an ihre Privatarchive legen. Der Autor hebt materialiter eher mehr als weniger auf, er druckt alles aus, er beginnt wieder von Hand zu schreiben. Er richtet Ablagen und Abgaberituale ein; wer es sich leisten kann, stellt eine Sekretärin ein, sendet oder überbringt Teillieferungen und kommentiert diese. Er betreibt aber auch selbständige Bestandesbildung und arbeitet unaufgefordert für das Archiv, etwa indem er Kollegen oder Partnerinnen zur Rückgabe von Briefen auffordert oder Aufträge zu deren Beschaffung erteilt. Die Autoren verändern ihre Dokumentation konsequenter und präziser als ehedem: Sie datieren Briefe, bringen Bleistiftvermerke und Heftklammern an, heben Terminkalender und Notizbücher auf. Insgesamt wollen sie ihre Lebens- wie Schaffenskontinuität bezeugen und den Archivaren die Arbeit erleichtern. Die Dokumente der privaten Sammlung sind fortan identifiziert. Noch ist es nicht so weit, dass wir die Autoren zu Archivaren schulen, doch wird das SLA bereits als Ratgeber beigezogen. Wir kennen andererseits immer noch zahlreiche Autoren, die nicht hinschauen und nicht wissen wollen, was sie hinterlassen, aus ganz verschiedenen Gründen: Jugend oder Alter, stete Produktivität oder Krankheit lenken hiervon ab, lassen dafür weder Zeit noch Raum. Sie wollen vom Archiv nichts wissen. Die von den Autoren präparierten Dokumente und angelegten Vor-Ordnungen bilden eine Summe kultureller Praktiken, und hieraus resultiert der Eigensinn der Nachlässe. Autorseitig und archivseitig liegt der Nutzen solcher Praxis im Arbeitsund Erkenntnisgewinn: Die Autoren wissen, was sie weitergeben, und das Archiv weiß, was es erhält. Zum einen erstellen die Autoren Vor-Ordnungen nach ihrem Ermessen, lange bevor ein Kontakt zum Archiv besteht, zum anderen ergibt sich eine instruktive Interaktion zwischen Autoren und Archiv: Die Autoren teilen dem

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Archiv zu, was für die Nachwelt und ihr Nachleben bestimmt ist, und definieren so die Überlieferung, die sodann die künftigen Forscher, aber auch Biographen oder Editoren antreffen – oder vergeblich suchen. Auch auf das Schaffen der Autoren wirkt sich eine Vereinbarung zur Übergabe des Nachlasses zu Lebzeiten aus, und zwar ganz unterschiedlich. Die Reflexion über das eigene Nachleben begleitet fortan die tägliche Arbeit. Das kann beflügeln oder bremsen. Hugo Loetscher sagte von sich ziemlich lakonisch, mit dem Vertragsabschluss habe sich sein Verhältnis zum Papierkorb verändert. Josef Haslinger hat es 2006 anlässlich des Kolloquiums zum 10-jährigen Bestehen des Österreichischen Literaturarchivs faustisch formuliert: Das Archiv habe mit ihm einen Pakt geschlossen und er habe dem Archiv seine Seele verkauft. Zunehmend befördert das Archiv die Entstehung von Literatur: Es entsteht eine selbstreflexive Korrespondenz über das Archiv oder mit dem Archiv, mit dem persönlichen Nachlassbetreuer, aber auch mit Dritten: Der Eintritt ins Archiv markiert einen Lebensabschnitt und dieser will besprochen sein. Der Vorlass eines Autors ist das Ergebnis eines kommunikativen Prozesses, von Verhandlungen und Verordnungen. Das Archiv versucht seine Ordnungskategorien frühzeitig überzustülpen: A die Werkmanuskripte, B die Korrespondenzen, C die Sammlungen und Dokumente, D die Lebenszeugnisse. Das Raster der RNA (Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen) ist grob, darin walten die Gattungen, die Chronologie und das Alphabet. Allein die Entscheidung darüber, was aus den vorhandenen Materialien zum Nachlass gehört, ergibt eine Bewertung: Was gehört zum Werk, was nicht. Bei allem Bemühen um einheitliche Kriterien ist der Ermessensspielraum groß. Der Regelfall ist das Ordnen, Vernichten, Beschriften, Datieren, Auseinanderlegen und neu Zusammenführen. Was aus diesen kulturellen Praktiken resultiert, ist der Eigensinn des jeweiligen Archivs. Er gerät zunehmend in Kontrast zum Eigensinn der Nachlässe selbst.

5.

Der Eigensinn der Nachlässe

Unabhängig davon, ob die Autoren das Leben und Schreiben nach der Vertragsunterzeichnung gelassener oder gespannter erleben, sie entwickeln alle ein Verhältnis zu ihrem dereinstigen Nachlass und verleihen diesem eine Gestalt. Ihre hinterlassenen Papiere lagen vormals oft unterhalb der eigenen Wahrnehmungsschwelle in Abstellkammern und Kellern. Jetzt greift der Schaffensprozess auf diese Bereiche zu. Neben dem autorisierten Werk, der autorisierten Ausgabe steht neu der autorisierte Nachlass. Auch dem Begriff des Vorlasses ist die Autorisierung inhärent. In Einzelfällen, so geht zumindest das Gerücht um, sortieren und schreiben Autoren eigens für ihr Archiv: Wird die nie publizierte Jugendlyrik mitgeliefert? Gehen die Zeugnisse und Schulhefte mit? Sind die Prozessakten der Scheidung archivrelevant? Mitunter ist die Selbstkonfrontation und Selbstoffenbarung schmerzhaft, oft ein langwieriger Prozess. Wird das Selbstbild narzisstisch bestärkt

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Ludwig Hohls Nachlasskoffer (Copyright: SLA)

oder masochistisch demontiert? Was ist der Nachwelt zumutbar, was nicht? Die Skala der Inszenierung ist nach oben offen: Es soll (selbstverständlich nicht in der Schweiz) einen Autor geben, der Manuskripte zu bereits publizierten Texten nachträglich anfertigt, um sie dem Archiv zu übergeben. Und das erzählen Schweizer Autoren der Institution Literaturarchiv mit Genugtuung. Es gibt – in der Schweiz – zumindest zwei Autoren, die wiederholt betont haben, sie hätten aufgehört zu schreiben, die aber dennoch ihre fortlaufende Produktion regelmäßig dem Schweizerischen Literaturarchiv übergeben. So erhält das Archiv die Autoren nicht nur im Gedächtnis, sondern mitunter auch am Schreiben, und sei es im Status des Selbstkommentars, denn in Extremfällen kompensiert die begleitende Pflege der Archivalien das Schreiben eines Autors. Ich versuche in einer nicht abschließenden Typologie eine kleine Phänomenologie der kulturellen Praktiken zu geben und damit den Eigensinn der Nachlässe zu fassen.

5.1 Der Nachlass als Registratur Der Erblasser fungiert als sein eigener Archivar, sein eigener Eckermann. Die Disposition hierfür ist im Schreibprozess angelegt, in dem das Recherchieren, Sammeln und Ordnen einen wichtigen Bestandteil der Werkgenesen darstellt. Die entstehenden Dokumentationen und Materialsammlungen werden in Ablagen systematisch

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verwaltet, thematisch und/oder chronologisch abgelegt. Jedes Projekt zeitigt eigene Skizzen auf Zetteln und in Heften, Entwürfe und Fassungen, später auch Lektoratsfassungen und Fahnen, Coverentwürfe, künstlerische Unikate, oft wertvoller als die gedruckte Letztfassung. Dazu kommt die Korrespondenz mit dem Verleger und Lektor, die Verlagsvorschau sowie zuletzt die Dokumentation der Lesereisen, Leserbriefe und Rezensionen, also eine ganze Reihe unterschiedlicher Erscheinungsformen des Epitextes im Sinne Gérard Genettes.10 Das wird im Falle archivalisch denkender Autoren genau in Evidenz gehalten. Die unterschiedlichen Träger von Notizen sind dort genauso wie die Terminkalender über Jahre nachgeführt und lückenlos überliefert, der Autor führt ein ebenso übersichtliches wie komplettes Archiv, auf das er jederzeit zurückgreifen kann. Lückenlose Vollständigkeit, Übersichtlichkeit und säuberliche Verzeichnung erlauben eine rasche Orientierung. Ich skizziere hier kein archivarisches Wunschdenken, sondern beschreibe mit dem Verfahren der disziplinierten und anhaltenden Registratur Phänomene, die zu meinem Erstaunen bei den heute 60–80-jährigen Autoren, deren Privatarchive bisweilen ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte im Mikrokosmos zeigen, sehr viel häufiger sind, als ich vormals vermuten konnte. Gerade dass diese Autoren keine Verzeichnisse anlegen und ihre Ordnung nirgends explizit ausformuliert haben, sondern nur als eine internalisierte Regel praktizieren, unterscheidet derartige Autoren-Archivare von der Institution Archiv. Es wäre jedoch ein Fehlschluss zu glauben, diese Übersichtlichkeit würde dem Archiv zuarbeiten, die Autoren würden zu selbsternannten Gehilfen des Archivs. Ganz im Gegenteil: Die Vor-Ordnungen entspringen einem individuellen Schaffensprozess und dieser entspricht nicht dem Regelwerk zur Erschließung von Nachlässen in Archiven. Und somit stellt gerade die Harmonisierung der eigensinnigen Dispositive mit diesen Standards für die Inventare und Datenbanken eine harte Herausforderung dar.

5.2 Der Nachlass als Ausschnitt der Lebenswelt Wenn der Autor oder die Autorin seine unmittelbare Lebenswelt als musealen Raum organisiert, in dem Gegenstände, Bilder und medienübergreifende Schrift- und Tondokumente auf unterschiedlichen Trägern, sogar Kryptonachlässe versammelt sind, wirkt sich das ebenfalls auf die Vor-Ordnung aus. Mit der Übergabe seines Privatarchivs muss er eine Auswahl treffen: Er wird zunächst die Werkmanuskripte übergeben, dann aber einsehen, dass diese mit der Lebenswelt verbunden sind. Nun überführt er diese in den künftigen Nachlass: Er wählt aus, ohne seinen Lebensraum zu zerstören. Die Objekthaltigkeit der Nachlässe ist wünschenswert, gelangt aber archivseitig relativ schnell an natürliche Grenzen. Die Seesäcke und Seifensamm10

Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übersetzt von D. Hornig, Frankfurt a. M., New York 1989, Studienausg. 1992, zum Begriff S. 12 f., zum »privaten Epitext« S. 354 ff.

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lungen von Hugo Loetscher, das Architekturmodell von Hermann Burgers Hundeheim, die Pantoffel und die Schneckenhaussammlung von Patricia Highsmith waren willkommen, weniger jedoch der stinkende Scheitblock von Hermann Hesse.11 Hier helfen, so erzählt man sich unter Archivaren, nur mehr nachhaltige Umorganisationen im Haus und insbesondere Umzüge in andere Räumlichkeiten, wo sich Gelegenheit bietet, Missliebiges zu kassieren.

5.3 Der Nachlass als Korrespondenzen-Netzwerk Doch vielfach sind neben den Erstausgaben kaum Entwurfshandschriften oder Fassungen überliefert. Wenn die Manuskripte vernichtet, verstreut, verschenkt oder verloren sind, wenn der Nachlass nur fragmentarisch vorliegt, kann sein Zusammenhang als Netzwerk beschrieben werden, weil erst durch die Dislozierung seiner Knoten ein Netz zustande kommt. In einigen bedeutenden Fällen besteht der Hauptnachlass des Autors aus seinem Korrespondenz-Werk: Er umfasst Briefe von Zeitgenossen, Kollegen und Künstlern, seinen Lesern oder Mäzenen. Komplementär im Sinne des Netzes gehören hierzu die Briefe des Autors bei den Adressaten, die mitunter privat oder auf Auktionen angeboten werden. Gerade in diesem Bereich besteht ein lebhafter Markt, der es erlaubt, auch die Wertschöpfung der Archive sehr präzise zu bestimmen. Die ›Briefhaltigkeit‹ eines Nachlasses ist ein wichtiger Indikator bei deren Schätzung, weil im Einzelnachlass zugleich ein Netzwerk materiell überliefert wird. Die Vor-Ordnung besteht hier im Korrespondenten-Netzwerk. Die Brautgaben der Landesbibliothek an das Schweizerische Literaturarchiv waren solche Briefsammlungen, etwa die Rilke-Briefsammlung von Nanny Wunderly-Volkart.12 Weil Rilke seine Mäzene reichlich mit Gedichtabschriften und übersetzten Gedichten bedacht hat und diese mitunter hiervon Faksimiles und Nachdrucke angefertigt haben, ist die Korrespondenzsammlung bibliophil unterfüttert. Zu diesem Typus gehören auch die Briefsammlungen Hermann Hesses, auch dies eine Brautgabe der ehemaligen Handschriftensammlung. Sie besteht aus 20'000 Briefen, die er von seinen Leserinnen, hier ist die weibliche Form die repräsentative, erhalten hat. Dazu kommen diverse Sammlungen von Hesses Briefen aus der Aquarell-Manufaktur in Montagnola, die auch den protoindustriellen Charakter dieses Korrespondenzvertriebs zeigen. Die oft gestellte Frage, ob der Brief im digitalen Medium für das Archiv verloren ist, kann nicht generell beantwortet werden. Auch das bestimmt die kulturelle Praxis, nicht das Medium. Denn die E-Mail-Korrespondenz erlaubt ja gerade, dass Brief und Gegenbrief auf dem selben Schriftstück erhalten bleiben, hält also zusam11 12

Ein weiteres Beispiel wäre das Laufenburger Wohn-Museum von Christian Haller, dessen Sammlung eine ganze Reihe werkrelevanter Kunst- und Alltagsgegenstände umfasst. Die Briefsammlung begründet das Schweizerische Rilke-Archiv.

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men, was ehedem getrennt war. Es ist durchaus verbreitet, und das ist sicher weniger bekannt, dass Autoren ihre elektronische Korrespondenz ausdrucken und chronologisch oder alphabetisch ablegen.13 Ein sehr eindrückliches und außergewöhnliches Beispiel ist die Korrespondenz von Matthias Zschokke, die den Anlass für seine Aufnahme ins Literaturarchiv im letzten Jahr gab. Zschokke bedient damit ein intensives Netzwerk von Kritikern und Verlegern. Seine Korrespondenz zeichnet sich durch Kontinuität und Dialogizität aus und verfolgt Fragen der schriftstellerischen Existenz wie des Literaturbetriebs spielerisch, polemisch, hartnäckig, oft launig, immer selbstbewusst und subversiv. Dieser E-Mail-Verkehr ist dank des langjährigen Kölner Brieffreunds Niels Höpfner (die beiden verbindet seit zwanzig Jahren ein tägliches Exerzitium des verschriftlichten Gesprächs) in doppelter, in papierener und digitaler Vor-Ordnung erhalten, es ist als zentraler Bestandteil des Vorlasses ins Archiv eingezogen. Vor kurzem ist unter dem Titel Lieber Niels ein fast zehn Jahre umfassender Ausschnitt der E-Mail-Korrespondenz Zschokkes mit Höpfner erschienen, der nicht nur Korrespondent, Verehrer, sondern auch selbsternannter Bibliograph des Autors ist.14 Die Korrespondenz hat das Begehren des Briefpartners nach dem Archiv im Sinne von Wertschätzung und Wertschöpfung und nach der Publikation als eine Art Nachlass zu Lebzeiten erzeugt.

5.4 Der Nachlass Typus Midas Bei diesem Typus lässt sich kaum von einer Ordnung oder Sammlung sprechen, eher von einem magischen Effekt. Alles, was der Autor berührt, wird zum Werk, das sich nicht mehr ein- oder abgrenzen lässt. Es herrschen die Lebensumstände, es waltet der Zufall, nicht der Wille zur Systematik. Insofern der Autor nichts entsorgt, sondern alles aufhebt, wächst der Bestand, solange Platz ist, er führt ein Eigenleben, die Unübersichtlichkeit und die Wucherung macht den Autor zum Opfer dieser Wucherungen. Der Autor schafft sich einen Bau, der ihn vor dem Betrieb schützt und isoliert. Angebote zur Übernahme erfolgen nicht erst nach dem Ableben durch die Erben, sondern vermehrt auch zu Lebzeiten, als Notruf. Solches Wuchern währt einige Jahrzehnte, dann muss es der Mülldeponie oder Herkules übergeben werden. Solche Einladungen sind unsittlich, aber durchaus eine Verlockung für den Archivar, weil sie an die der Ordnung abgewandte Seite appellieren. Die Ordnung braucht das Chaos. Die Zähmung der Wildnis, die Aussicht auf den sensationellen Fund, das zu lüftende Geheimnis – hier fühlt sich der passionierte Archivar herausgefordert. Hier ist seine Kompetenz gefordert, die Scheidung von 13

14

Franz Hohler druckt Brief und Gegenbrief aus, kommentiert das Blatt handschriftlich und legt den Ausdruck ab. Klaus Merz hat sein enormes Korrespondenzwerk (dieses ist handschriftlich) gesperrt. Matthias Zschokke, Lieber Niels, Göttingen 2011.

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Werthaltigem und Abfall vorzunehmen. Der Eigensinn ist derjenige des wuchernden Myzels, des Rhizoms der Bedeutsamkeit.15 Die Interaktion zwischen Archiv und Archiviertem, zwischen dem institutionalisierten Literaturpfleger und dem Literaturproduzenten ist vielgestaltig und reziprok geworden. Der Eigensinn der Nachlässe kollidiert mit dem Eigensinn der Archive, die Verfahrensweise der einen Seite mit jener der anderen. Spannend ist das allemal und jedenfalls ein Zeichen dafür, wie lebendig die vermeintlich vom Archivstaub ausgetrocknete Institution des kulturellen Gedächtnisses die kulturellen Praktiken auch des literarischen Schreibens beeinflusst.

15

Ein sprechendes Beispiel für diesen Typus ist Ludwig Hohl (vgl. Abb. 3) mit Zettelsammlungen, Wäscheleine und kuriosen Lebensdokumenten wie Bart- und Schamhaaren in Zündholzschachteln. Maurice Chappaz ist bekannt für die Eigenart, selbst Elektrikerrechnungen und Einkaufszettel aufzubewahren. Die Beispiele ließen sich nahezu beliebig vermehren.

Werner Stauffacher

Braucht der Literaturbetrieb ein Urheberrecht? 1.

Fragestellung

Die Frage, ob der Literaturbetrieb ein Urheberrecht brauche, ist zugegebenermaßen eine provokante. Ohne differenziert darüber nachzudenken, lautet die schnelle Antwort wohl klar: »Nein, der Literaturbetrieb braucht das Urheberrecht nicht!« Es liegt auf der Hand, dass auch ohne die Regeln eines Urheberrechtsgesetzes Texte jederzeit geschrieben, abgeschrieben, vorgelesen und veröffentlicht werden können. Die Frage ist nur, wie und für wie lange. Eine solche Antwort kann jedoch nicht überzeugen, weil sie zu kurz greift und vor allem weil sie vom Standpunkt des Urheberrechts aus betrachtet falsch ist. Daher wird im Folgenden dargelegt, wieso der Literaturbetrieb eben doch ein Urheberrecht braucht.

2.

Kurzer Abriss der Geschichte des Urheberrechts

Die Geschichte des modernen Urheberrechts, wie wir es kennen, ist noch jung.1 Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts begann man das geistige Eigentum mit einem Urheberrecht zu schützen. Texte wurden selbstverständlich schon weit früher verfasst und weitergegeben. Mönche im Mittelalter zum Beispiel waren auf ihre Weise Schrift-Steller. Ihre Texte wurden in mühsamer Arbeit abgeschrieben, in diesem Sinn kopiert und dadurch weiterverbreitet. Mit der Erfindung des Buchdrucks ging es aber nicht mehr nur um das kunstvolle und zeitaufwendige Abschreiben von Texten. Dadurch wurde es möglich, eine große Zahl langer Texte in Form von Nachdrucken als Bücher herzustellen und zu verbreiten. So waren es zunächst nicht etwa die Verfasser der Texte, sondern die Drucker, die um ihr Geschäft fürchten mussten, weil auch andere diese Bücher herstellen und vertreiben konnten. Als dann im Zeitalter der Aufklärung und während der Französischen Revolution das Individuum und dessen Rechte ganz allgemein gestärkt wurden, realisierten – endlich – auch die Autoren, dass sie an ihren Texten Rechte geltend machen konnten.

1

Näheres zur Geschichte des Urheberrechts vgl. Reto M. Hilty, Urheberrecht, Bern 2011, S. 10 ff.

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Das schweizerische Urheberrechtsgesetz

Das erste gesamtschweizerische Urheberrechtsgesetz (URG) stammt aus dem Jahre 1883. Das heute geltende Gesetz entstand nach einer 30 Jahre dauernden Totalrevision, die zum Teil in einen erbitterten Kampf um die Rechte der Urheber einerseits und der Nutzer andererseits mündete. Es wurde auf den 1. Juli 1993 in Kraft gesetzt. Doch schon im Juli 2008 musste es den modernen, digitalen und internationalen Erfordernissen angepasst werden und ist seitdem in dieser teilrevidierten Form anwendbar.2

4.

Das Copyright

Seit längerem ist weltweit der Begriff des Copyright gebräuchlich. Genau genommen ist damit das Abdruck- oder Kopierrecht gemeint. Doch der Begriff ist missverständlich: Das kontinental-europäische Rechtssystem orientiert sich vornehmlich am Grundgedanken des droit d’auteur, d. h. es belässt im Zweifelsfalle die Urheberrechte bei den Werkschaffenden, wogegen das anglo-amerikanische UrheberrechtsSystem des Copyright davon ausgeht, dass die Rechte im Regelfall dem Produzenten oder dem Verlag zustehen. Wenn also in Europa in einem Vertrag nichts Explizites zur Abtretung von bestimmten Urheberrechten steht, gehen Lehre und Gerichtspraxis davon aus, dass diese bei den Urhebern verbleiben – grundsätzlich gerade umgekehrt verhält es sich in solchen Fällen im anglo-amerikanischen System.

5.

Der homo oeconomicus

Es entspricht wohl allgemein dem menschlichen Wesen, dass es sich generell möglichst frei und ohne gesetzliche Zwänge entfalten will, und das gilt im besonderen Masse in der Wirtschaft für den homo oeconomicus. Nicht anders geht es dem Menschen im Literaturbetrieb, da er sich möglichst ›rechtsfrei‹ produzieren, zeigen, vermarkten und verkaufen lassen möchte. Doch sobald Rechte und Gesetze dem Einzelnen nicht mehr ausschließlich als Hinderungsgründe und Einschränkungen erscheinen, sondern ihm vielmehr Vorteile, Profite, Sicherheiten oder gar Machtpositionen zugestehen, ist der Mensch durchaus bereit, die entsprechenden Rechtsregeln zu akzeptieren – und möglichst für seine Interessen zu nutzen.

2

Bundesgesetz über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (URG) vom 9. Oktober 1992, in der Fassung vom 5. Oktober 2007, in Kraft seit 1. Juli 2008. Die jüngsten internationalen Abkommen, die zur Teilrevision von 2007 führten, sind die beiden World Intellectual Property Organization (WIPO)-Abkommen WCT (WIPO Copyright Treaty) und WTPP (WIPO Performances and Phonograms Treaty) vom 20. Dezember 1996.

Braucht der Literaturbetrieb ein Urheberrecht? | 6.

91

Elemente und Aspekte des Literaturbetriebs

Was ist unter ›Literaturbetrieb‹ genau zu verstehen? Alle in diesem Betrieb Tätigen befassen sich natürlich mit weit mehr als nur dem Vertrieb von Büchern und Texten. Grob umrissen geht es um folgende Aspekte:

Autorinnen;

Für all dies braucht es selbstverständlich Geld, damit der Rohstoff – also die Texte – im Kreislauf des Systems in Bewegung gehalten werden können. Als Ergebnis wiederum sollten die Texte als Rohstoffe durch dieses In-Bewegung-Halten im Kreislauf Geld (und idealerweise Gewinne) generieren.

7.

Der Rohstoff des Literaturbetriebs

Unbestrittenermaßen kann es ohne das Verfassen von Texten keine Literatur geben. Ohne Literatur kann es ebenso wenig einen Literaturvertrieb geben. Ohne Literaturvertrieb wiederum kann es auch keinen Literaturbetrieb geben. Mit anderen Worten: Ohne Geld kann es den (Literatur-)Betrieb nicht geben – ohne Geldfluss kann kein Betrieb ›betrieben‹ werden. Demnach stellt sich die berechtigte Frage, woher das Geld kommt. Die Autoren bringen sich und ihre Texte in diesen Betrieb ein. Das ist das Verdienst der Autoren. Zu welchen Bedingungen sie das tun, können sie selber bestim-

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men. Dies betrifft beispielsweise das gemäß URG den Autoren zustehende Erstveröffentlichungsrecht, wonach sie alleine bestimmen können, wann und zu welchen Bedingungen ihre Texte erstmals unbestimmt vielen Personen zu Verfügung gestellt werden können.3 Aber – und das ist das Entscheidende – die Verfasser von Texten brauchen nicht nur Anerkennung als Autoren; sie wollen und benötigen auch die Auszahlung von Honoraren und Tantiemen. Diese sollen ihren Lebensunterhalt sichern, damit sie (weiter)schreiben können. Genauso braucht ein Verlag – neben dem Verkauf seiner Ware – Einnahmen aus Tantiemen und dem Verkauf von Rechten, die er wiederum vom Autor im Verlagsvertrag übertragen erhält. Dasselbe gilt selbstredend auch für die ›neuen‹ Anbieter von Texten im Internet – in welcher Form auch immer das geschieht.4

8.

Woher kommt das Geld und wohin fließt es?

Heute – und schon seit einiger Zeit – muss man zunehmend konstatieren, dass die Preise nicht nur für die gedruckten, sondern auch für die digitalen Bücher zu tief sind und dass diese den Autoren, die vom Schreiben leben müssen, keine ausreichenden Einkünfte sichern können – einmal abgesehen von den wenigen Shooting Stars in den renommierten Verlagen.5 Das gilt im Übrigen generell auch für die meisten Verlage und alle anderen professionellen Anbieter von Texten. In der Tat kann heute kaum jemand im Literaturbetrieb vom Verkauf der Ware allein leben. Das Urheberrecht für sich genommen vermag seinerseits nicht genügend Einnahmen zu generieren. Daher sieht sich der Literaturbetrieb gezwungen, weitere finanzielle Quellen anzuzapfen. Wie gut also, dass es auch heute noch Formen des ›Mäzenatentums‹ – das reicht bis hin zu Förderungen durch Stiftungen – gibt, wie wir es bereits aus der vor-urheberrechtlichen Zeit kennen. Heute werden literarische Texte immer mehr in digitaler Form angeboten und vertrieben, sei es für den Gebrauch auf dem Mobiltelefon oder in Form von elektronischen Büchern auf dem iPad. Wie weit solche Vertriebsmodelle auf lange Sicht zu positiven Zahlen führen, kann zur Zeit niemand schlüssig beantworten. Bekanntlich besteht heute in den meisten etablierten Verlagen im Idealfall ein Modell mit einer Querfinanzierung des zeitgenössischen Programms durch die 3 4

5

Art. 9 Abs. 2 URG. Das Recht zur Nutzung von geschützten (Text-)Werken im Internet ist in Art. 10 Abs. 2 lit. c URG explizit erwähnt und steht den Berechtigten als so genanntes Ausschließlichkeitsrecht zu. Es ist also – entgegen einer weitverbreiteten Meinung – nicht so, dass sich das Verwenden von geschützten Werken im Internet in einem rechtsfreien Raum bewege und dass in solchen Fällen keine Urheberrechte zu beachten seien. Gemäß der Studie Soziale Sicherheit von Kunstschaffenden aus dem Jahre 2006 (hg. vom Verband Autoren der Schweiz, AdS, von Suisseculture Sociale und ARF/FDS) verdienen lediglich knapp 20% (19,8%) der Autoren ihr gesamtes Erwerbseinkommen aus ihrer rein literarischen Tätigkeit. Und nur gerade 25,5% aller Autoren verdienen aus der literarischen Tätigkeit über CHF 19'350 pro Jahr.

Braucht der Literaturbetrieb ein Urheberrecht? |

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Urheberrechtseinnahmen von gestandenen Autoren (bei Suhrkamp beispielsweise durch die Werke von Hermann Hesse, Max Frisch oder Bertold Brecht). Die Einnahmen aus dem Vertrieb von deren Bücher ermöglichen so etwas wie Solidarität unter den Generationen, so dass junge oder unbekannte ›Talente‹ ihre Texte in den Programmen dieser Verlage publizieren können. So bleibt eine literarische Vielfalt mit möglichen Neuentdeckungen zukünftiger großer Autoren gewährleistet.

9.

Literaturbetrieb ohne Urheberrechtsgesetze?

An dieser Stelle ist – einmal mehr – der irrigen Annahme entgegenzutreten, dass ohne Urheberrechtsgesetze die ganze Literatur und Literaturszene freier, interessanter, effizienter und schneller wäre. Die Erfahrung zeigt, dass jeder rechtsfreie Raum (so es denn wirklich einen solchen gibt, was mehr als fraglich ist) sofort von Rechtsordnungen und Regeln besetzt wird. Niemand vermag vorauszusagen, wer die neuen Regeln für den Literaturbetrieb aufsetzen würde und wie sie genau aussähen. Würden sie zum Beispiel von Google oder ähnlichen Anbietern als digitale Weltbibliothek aufgestellt? Dabei ist nicht einzusehen, wieso heute auf das geistige Eigentum verzichtet werden soll, nur weil es jedem möglich ist, seine Texte selber digital anzubieten und zu vertreiben. Es ist juristisch unbestritten, dass Texte – und selbstverständlich auch alle anderen Werkarten!6 – im Internet ebenfalls urheberrechtlich als Werke geschützt sind, denn die Form der veröffentlichten Werke bzw. der Werkexemplare – analog oder digital – ist für die Frage des Urheberrechts unerheblich. Insgesamt bleibt doch die Hoffnung, dass die Leser nach wie vor nach qualifizierten Texten verlangen, was eben ohne Knowhow sowohl der qualifizierten Autoren wie auch der Literaturvertreiber gar nicht möglich ist. Alle professionell im Literaturbetrieb Tätigen sollen für ihre Arbeit entlöhnt werden. Dafür braucht es urheberrechtliche Tantiemen!

10. Zur Frage der Qualität Gibt es dort, wo alles frei ist und wo jeder sofort alle Texte für die ganze Welt verfügbar machen kann, überhaupt eine editorische Kultur und Qualität? Die schiere Menge wird zunehmend gar nicht mehr wahrgenommen – geschweige denn, der einzelne Text.

6

Unter geschützte Werke fallen gemäß Gesetz neben Texten aller Art auch Werke der Musik, der bildenden Kunst (Malerei, Bildhauerei), der Fotografie, der Baukunst, der angewandten Kunst, Filme sowie choreografische Werke; vgl. dazu die – nicht abschließende – Aufzählung in Art. 2 Abs. 2 URG.

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Man kann noch weitergehen: Wenn niemand mehr etwas für Texte bezahlen will, dann verschuldet er sich auch nicht (gemeint ist damit nicht ein ›Verschulden‹ im Sinne des Konkursrechts, sondern im Sinne von finanziellen Leistungen im Hinblick auf eine bestimmte Qualität). Das heißt, weil niemand mehr für Leistungen bezahlt, wird auch von niemandem mehr etwas erwartet – kurz: es gibt kein do ut des mehr. Dies gilt sowohl für den Autor und für den Produzenten wie auch für die Konsumenten, die Texte lesen. Denn ohne System der urheberrechtlichen Entschädigungen ist es weder dem Autor möglich, weiterhin zu schreiben, noch kann der Produzent oder der Verlag neue Produktionen vertreiben und so dem Leser immer wieder neue und qualifizierte Texte garantieren – ergo hilft das Urheberrecht dem gesamten Literaturbetrieb. Damit sei nicht gesagt, dass es ohne Entgelt nur schlechte oder gar keine Texte mehr gäbe, aber sie werden auf die Dauer wohl an Qualität einbüßen. Nachdenklich stimmt allein die Tatsache, dass heute dieses System zunehmend erklärt und gerechtfertigt werden muss. Denn wie jedes Eigentumsrecht sind auch die Ansprüche aus dem geistigen Eigentum in der Bundesverfassung unter dem Titel Eigentumsgarantie als Grundrechte verbrieft und schon aus grundsätzlichen Überlegungen unantastbar.7

11. Was bringt die Zukunft? Seit einiger Zeit sind verstärkt Tendenzen festzustellen, die sich gegen das Urheberrecht stellen. Nachfolgend seien einige der aktuellsten Beispiele kurz erwähnt: Als erstes ist die Firma Google zu nennen, die vor einiger Zeit begann, systematisch Texte einzuscannen, und dies flächendeckend. Als es darum ging, die digitalisierten Vorlagen auf dem Netz weltweit – gegen Entgelt – zur Verfügung zu stellen, reagierten die berechtigten Autoren und Verlage und deren Verbände zunehmend kritischer und wehrten sich gegen ein bereits vorbereitetes Agreement, welches in den USA vor dem zuständigen Gericht hätte genehmigt werden sollen. Google stellte sich auf den Standpunkt, dass diejenigen Autoren, die mit der Nutzung nicht einverstanden wären, sich melden und ihre Ansprüche geltend machen müssten (so genanntes opt-out), wogegen das hiesige Rechtsverständnis von einem opt-in ausgeht, d. h. der Nutzer muss sich in aller Regel vorab um die Rechte kümmern und diese regeln.8 Ebenfalls aus den USA stammt das Geschäftsmodell der Creative Commons Licence. Danach sollen alle diesem Modell angeschlossenen Autoren9 aufgrund von prinzipiell drei verschiedenen Lizenz-Typen die Rechte an ihren Werken nach gemeinsa7 8 9

Art. 26 BV. Das erwähnte Agreement ist immer noch nicht genehmigt; es ist nicht auszuschließen, dass der Fall in einem ordentlichen Gerichtsverfahren entschieden wird. Das Creative Commons Licence Modell ist nicht auf Textwerke beschränkt, sondern steht auch den Urhebern aus allen anderen Repertoires (Bild, Musik, Film) offen.

Braucht der Literaturbetrieb ein Urheberrecht? | 95 men Vorgaben regeln können. An sich ist das nichts Neues, denn diese Möglichkeit besteht schon in den Urheberrechtsgesetzen. Neu ist höchstens, dass solche Regeln explizit auch Werkbearbeitungen in jeder Form ermöglichen sollen und dass die Werke, die in diesem System eingebracht wurden, auch darin verbleiben. Der Begriff des Free flow of information, mit dem das Grundrecht des Einzelnen auf ungehinderten Zugang zu Informationen gemeint ist, hat an sich nichts mit dem Urheberrecht zu tun, denn die Information als solche ist nicht geschützt, höchstens der Text, der die Information in einer ganz bestimmten Form weitergibt. Auch Open Access betrifft eher die wissenschaftliche Nutzung und fordert den freien Zugang zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ergebnissen. Ein wissenschaftliches Ergebnis als solches ist aber urheberrechtlich ebenfalls nicht geschützt. Am radikalsten fallen wohl die Forderungen der Copyleft-Bewegung aus. Ihr Ansinnen zielt letztlich darauf, möglichst ohne urheberrechtliche Regeln auszukommen; daher die Umkehrung des Begriffes Copyright in Copyleft.

12. Besonderheiten des Urheberrechts Aufgrund des Begriffs von urheberrechtlich geschützten Werken10 sind zwei Aspekte hervorzuheben: Zum einen ist das Urheberrecht als solches in seiner Anwendung wertfrei, zum anderen endet es 70 Jahre nach dem Tod des Autors.11 Was heißt das? Weil generell das Urheberrecht die Literatur und deren Texte weder wertet noch bewertet (geschützte Werke sind gemäss der Legaldefinition in Art. 2 URG zweckund wertfrei), also nicht sagt, ob ein Text gut oder schlecht, verwirrend oder klar, langweilig oder interessant, politisch oder unpolitisch, persönlich oder verletzend ist, braucht es den Literaturbetrieb, der solche Rollen übernehmen kann. Als Beispiele dafür seien etwa die nach wie vor wichtige Literaturkritik bzw. die Literaturbesprechungen, die Preisverleihungen im Rahmen von Events, die unterschiedlichen Talkserien und nicht zuletzt die markttechnisch wichtigen wöchentlichen Bestsellerlisten, die allerorts publiziert werden, genannt. Weil der Urheberrechtsschutz 70 Jahre nach dem Tod des Autors erlischt, muss auch kein Urheberrecht mehr an den Texten dieser Autoren beachtet werden. Solche Werke befinden sich im Domain public und können ohne (urheberrechtliche) Einschränkungen verwendet werden – gleichgültig ob innerhalb oder außerhalb des Literaturbetriebs. Immerhin stellt sich von Zeit zu Zeit in diesem Zusammenhang die Frage nach dem ›Domain public payant‹ – oder auf Deutsch des ›Goethegroschens‹. Damit sind Vergütungen gemeint, die trotz Ablauf der Schutzfrist eingenommen werden und dann lebenden Autoren zugutekommen. Das zeigt, dass das Urheberrecht sehr wohl einen Beitrag an den Literaturbetrieb zu leisten im Stande ist. 10 11

Siehe die gesetzliche Definition in Art. 2 Abs. 1 URG. Art. 29 Abs. 2 lit. b URG.

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13. Rechtliche Grenzen im Literaturbetrieb Wenn aber der Literaturbetrieb gewisse Grenzen überschreitet (genannt seien nur gerade drei Fälle der jüngsten Plagiatsvorwürfe und Persönlichkeitsverletzungsklagen in der Literatur: Helene Hegemann mit Axolotl Roadkill, Michel Houellebecqs La Carte et le Territoire und Maxim Billers Esra12), dann wird gerne auf das Urheberrecht oder auf das Persönlichkeitsrecht zurückgegriffen, und es werden entsprechende Klagen eingereicht. Genau dadurch erfährt der Literaturbetrieb jeweils eine weitere urheberrechtliche bzw. persönlichkeitsrechtliche Regelung. Dasselbe gilt für die Bearbeitungsrechte an Texten, die schnell einmal zu urheberpersönlichkeitsverletzenden Entstellungen eines Werkes führen können und gegen die sich der Autor wehren kann – und muss.

14. Schlussfolgerung Obwohl sich auf den ersten Blick Literaturbetrieb und Urheberrecht als Antipoden gegenüber zu stehen scheinen, zeigt es sich, dass Letzteres ein zentrales Element innerhalb des Betriebs ist und dass dieser nicht zuletzt vom Urheberrecht lebt. Abschließend lässt sich feststellen, dass dieses Recht ein ganz entscheidender monetärer und struktureller Faktor im Literaturbetrieb ist, der wie jeder andere Betrieb Geldflüsse genieren kann und muss. Es trägt dazu bei, dass alle seine Akteure leben und überleben können und so den Betrieb – mit neuen Texten – auch für die Zukunft aufrecht erhalten.

12

Analog selbstverständlich auch im Bereich der wissenschaftlichen Literatur, wie es die jüngsten Beispiele von Plagiatsvorwürfen über Dissertationen in Deutschland zeigen.

Anna Auguscik

Lost in Translation: Literaturpreise im nationalen Literaturbetrieb 1.

»Swept up into a dance of death with literary prize culture«:1 Literaturpreiskultur und Literaturkultur

Im Jahr 2005 wurde ein neuer Literaturpreis für den deutschsprachigen Raum verliehen: Der erste Deutsche Buchpreis ging an Arno Geigers Roman Es geht uns gut. Der neue Preis entfachte eine Diskussion, die sich die Frage nach dem ›Wohlbefinden‹ der deutschsprachigen Literatur stellte und so auch zu einer Diskussion der die Literatur vermittelnden Institutionen führte. Die Position und Funktion des neuen Literaturpreises wurde erörtert, hinsichtlich seiner eigenartigen Einbettung im Literaturbetrieb, hinsichtlich seiner Konkurrenz zu anderen Instanzen der Würdigung und bereits bestehenden Auszeichnungen, bei denen die Legitimation über ein Dichtergenie läuft, etwa dem Bachmann-, Büchner- oder Kleist-Preis. Die Kritik teilte sich in befürwortende Lager und solche, die den Preis am liebsten gleich wieder abgeschafft hätten. Die Heftigkeit der Debatte ist besonders erstaunlich, da der Preis mit dem französischen Prix Goncourt und dem britischen Man Booker Prize for Fiction zwei sehr renommierte Vorbilder hat, die zwar nicht ohne Kontroversen, aber nach langen Jahren mit einer gewissen Abgeklärtheit betrachtet werden.2 Überrascht über die Kritik am Deutschen Buchpreis, spricht Friedmar Apel gar von »einem deutschen Sonderweg des literarischen Lebens«: Das Verfahren des Buchpreises ist ja doch lediglich eine Kopie von Preisverleihungen, die in Frankreich, England, Italien und Spanien eine lange Tradition haben. Auch dort gibt es jedes Jahr eine Menge Zirkus darum, gleichwohl werden solche Preise als Herstellung von Aufmerksamkeit und eines Horizonts für Diskussionen unter Kritikern 3 und Lesern geschätzt.

Ist diese Auseinandersetzung um die positiven und negativen Implikationen des Deutschen Buchpreises womöglich gerade diesem Wissen um die Literaturpreiskultur verschuldet? James F. English hat die widersprüchliche Haltung aus Verachtung 1 2

3

Robert McCrum, »It’s time to ditch the prize guys«, in: The Observer, 21. 10. 2007, http://www. guardian.co.uk/books/2007/oct/21/bookerprize2007.thebookerprize (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Diese Abgeklärtheit von Seiten der Kommentatoren beschreibt James F. English mit Pierre Bourdieu als »strategy of condescension« ( James F. English, »Winning the Culture Game: Prizes, Awards, and the Rules of Art«, in: New Literary History: A Journal of Theory and Interpretation 33.1 [2002 Winter], S. 109–35, hier S. 215.). Friedmar Apel, »Ehrwürdige Stereotypen der Kritik der Kulturindustrie«, in: FAZ Lesesaal, 24. 09. 2008, http://lesesaal.faz.net/deutscherbuchpreis/leser_forum.php?rid=2 (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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und Ernstnehmen beschrieben – eine Spannung, die sich die Preise durchaus zunutze machen: Under these circumstances, cultural prizes can be, at one and the same time, both more dubious – more of a joke – than they used to be, and more symbolically effectual, more powerfully and intimately intertwined with processes of canonization. That is 4 the central paradox of our contemporary awards scene.

Welche Implikationen hat die Übertragung eines Literaturpreistyps mit seinen Regeln, seiner Dramatisierung, aus einem nationalen Kontext in einen anderen? Welche Bedeutung hat er in seinem ursprünglichen Diskurs gehabt und wie verändert sich das Spektrum der Einflussmöglichkeiten in einem anders gewachsenen Feld, das anders geregelt ist und dessen Teilnehmende andere Diskurstraditionen befolgen? Diese Fragen bedürfen einer näheren Betrachtung der nationalen Literatur- und Preiskultur. Anhand ausgewählter Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Deutschen Buchpreis und seinem Vorbild, dem Man Booker Prize, werde ich die spezifischen Positionierungen und Wirkungspotenziale der beiden Preise beschreiben. Über die diskursive Verortung der Preise und der an der Diskussion Teilnehmenden werde ich die entscheidenden nationalen Spezifika herausarbeiten und so einen Einblick in die jeweilige literarische Kommunikation geben. Was ich zeigen möchte, ist, dass sich die Kritik um den Deutschen Buchpreis trotz struktureller Ähnlichkeiten von den Vorgängern unterscheidet und den Preis zum Problemobjekt macht. Es soll die Annahme von zwei Gebieten – einem Bereich der Literatur und einem des Betriebs – und der strategische Einsatz dieser Begrifflichkeiten untersucht sowie dessen Effekte beschrieben werden.

2.

»Der Markt kommt ohne uns aus«:5 Vorüberlegungen zur strategischen Begriffsverwendung

Die nationalen Unterschiede in den Buchmarktstrukturen, im Sprechen über Literatur, vor allem aber die Unübersetzbarkeit bestimmter Begriffe wie dem des Literaturbetriebs, deuten auf andere Literaturtraditionen, andere Rahmenbedingungen und einen anderen Umgang unter den produzierenden und rezipierenden Agenten im jeweiligen literarischen Feld hin. Sie lassen aber auch vermuten, dass diese Begriffe keine universalen – seien es historische oder geographische – Realia beschreiben, sondern mit bestimmten strategischen Vor- und Nachteilen für die unterschiedlichen Sprecher behaftet sind, Allianzen schaffen und Positionierungen begründen.

4 5

English, »Winning the Culture Game« (wie Anm. 2), S. 216. Eberhard Falcke, »Literaturbetrieb: Der Markt kommt ohne uns aus«, in: Die Zeit, 06. 12. 2007, http://www.zeit.de/2007/49/KA-Muenchen (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

Literaturpreise im nationalen Literaturbetrieb

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2.1 »Ich fühle mich im Literaturbetrieb auch gar nicht so wohl«:6 Zum Begriff des Literaturbetriebs und seiner spezifisch nationalen Verankerung In seinem Lehrbuch zum Literaturbetrieb erörtert Bodo Plachta den konfusen und pejorativen Charakter des Begriffs ›Literaturbetrieb‹ und zitiert verschiedene Definitionen, die sich ihm zu nähern versuchen, darunter diejenige von Ralf Schnell, der behauptet: »Der Literaturbetrieb, verstanden als die Summe der Erscheinungsformen literarischen Lebens in der Bundesrepublik, ist […] der vielfältige und vielschichtige Markt, auf dem sich Autor und Werk zu bewegen und zu bewähren haben.«7 Die Verwendung des Begriffs ›Literaturbetrieb‹ scheint nicht nur eine spezifisch deutsche, sondern hier auch eine besonders markierte zu sein. Plachta selbst zeichnet eine »Historische Entwicklung: Literaturbetrieb seit der Antike« (PL, 16) und insinuiert damit eine zeitliche und räumliche Kontinuität. Dagegen möchte ich argumentieren,8 dass der Begriff ›Literaturbetrieb‹ keinen historisch universalen Literaturmarkt bezeichnet. Er schafft einen besonderen Umgang mit dem, was er zu beschreiben versucht, und ist somit selbst historisch spezifisch. Auch wird er nicht von allen Teilnehmenden der Literaturdiskussion verwendet. Er stellt diejenigen, die ihn gebrauchen, vor die Wahl sich als Teil des Literaturbetriebs wahrzunehmen, oder aber in einem Bereich außerhalb zu positionieren, in der Sphäre der ›unabhängigen Kunst‹. Häufig wird wie bei Ralf Schnell der Begriff im Zusammenhang mit und in Abgrenzung zu den Autoren benutzt und impliziert eine gewisse Distanz, die es entweder zu überbrücken, oder auszubauen gilt. Ob man nun von ›Literaturbetrieb‹, ›Buchmarkt‹, ›Literaturszene‹ oder ›Literarischem Leben‹ spricht – all dies sind Begriffe, die eine vermeintliche Realität zu fassen suchen. Sie alle konstruieren das, was sie beschreiben, auf eine eigene Art. Anstatt den Begriff des Literaturbetriebs neu zu definieren oder nach einem adäquateren Begriff zu suchen, scheint es sinnvoller, die Begriffe selbst, diejenigen, die sie verwenden, und ihre Kontexte zu untersuchen. Dann stellt sich nicht die Frage, ob zum Beispiel das Magazin der Frankfurter Buchmesse, über:blick, mit den Rubriken Literary Scene, Publishing Industry und Marketplace eine korrekte Einteilung vornimmt. Es handelt sich um den Versuch einer Verortung derjenigen, die sich mit dem Gegenstand Buch beschäftigen bzw. über Literatur sprechen. Gleichzeitig beteiligt sich das Magazin an der grundsätzlichen Unterscheidung einer unabhängigen Kunst und einer sie vermarktenden Industrie. Diese Versuche der Ordnung des Diskurses über Literatur möchte ich zum Anlass nehmen, im Folgenden nicht an 6

7

8

Clemens Meyer im Interview mit Katharina Bendixen, »Überraschung des Frühjahrs«, in: jetzt. de, 08. 03. 2006, http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/279670 (letzter Aufruf 19. 08. 2011, mittlerweile offline). Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart, Weimar 1993, S. 2, zitiert nach Bodo Plachta, Literaturbetrieb, München 2008, S. 13. Verweise auf Plachtas Buch von nun an mit der Sigle PL im Text vermerkt. Vgl. auch den Beitrag von Olaf Simons in diesem Band.

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dem auf Inklusion und Exklusion basierenden Definitionsspiel teilzunehmen und mich stattdessen auf ein Modell literarischer Kommunikation zu beziehen, das die Benutzer dieser verschiedenen Begriffe beschreibt.

2.2 Ein pluralistisches Modell multifunktionaler Gesprächsteilnehmender Das Modell der literarischen Kommunikation erlaubt eine pluralistische statt einer polarisierenden Sicht auf das literarische Feld.9 In der literarischen Kommunikation gibt es kein außerhalb wie es der Begriff des Literaturbetriebs suggeriert: Alle Sprechenden sind an diesem Diskurs beteiligt, ob Autoren, Kritiker, Verleger, oder Leser. Die Frage, ob sich ein Autor dem Literaturbetrieb verschreibt oder ob er ihm fernbleibt, wird folglich als bloße Gesprächsoption betrachtet. Es gibt nicht den Autor auf der einen Seite, der über vermittelnde Instanzen zu seinen Lesern auf der anderen Seite spricht. Stattdessen können sich alle, die über Literatur sprechen, im Kommunikationsmodell wiederfinden, nicht als Personen sondern eben als Sprecher, die eine Vorstellung von ihren Diskurspartnern haben. »Institutionen können Literatur machen« (PL, 13), stellt Plachta versöhnlich fest und hat damit nicht Unrecht. Die spezifischen Gesprächssituationen werden von Repräsentanten solcher Institutionen mit unterschiedlichen Perspektiven auf ihren Gegenstand bestritten: Autoren, Literaturagenten, Verleger, Rezensenten, Literaturwissenschaftler, Buchwissenschaftler, Urheberrechtsanwälte, Archivare, Literaturhausbetreiber. Diese Akteure des literarischen Feldes sind jedoch zum großen Teil multifunktional. Je nach Position nehmen sie eine bestimmte Rolle ein, aber auch mehrere sind möglich. Es gibt folglich keinen ›natürlichen‹ Autor, stattdessen gibt es Personen, die als Autor sprechen, aber auch zugleich Rezensent, Literaturwissenschaftler etc. sein können. Die literarische Kommunikation ist in erster Linie national angelegt. An den Universitäten werden nationale Philologien unterrichtet, aus denen Lehrer hervorgehen, die dann nationale Literaturgeschichten an den Schulen unterrichten. Autoren melden sich zu Wort, wenn es um nationale Diskussionen geht. Die nationale Kommunikation erlaubt aber auch Schnittstellen mit anderen, national geordneten Kommunikationen. So können englischsprachige Bücher in Deutschland verkauft, rezipiert und kritisiert werden, im Original oder in Übersetzung; deutsche Bücher wiederum im Ausland wirken. Diesbezüglich könnte man meinen, dass sich die Diskurse überlappen. Sprachliche Gemeinsamkeiten erleichtern scheinbar die Kommunikation innerhalb eines deutschsprachigen oder englischsprachigen Raums, 9

Das Modell literarischer Kommunikation findet sich in diesem Band auf S. 130 abgebildet. Es basiert auf den Untersuchungen von Olaf Simons in Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde (Amsterdam 2001, insbesondere S. 84–114), der Oldenburger Vorlesung Introduction into Literary Studies von Olaf Simons und Anton Kirchhofer und den Vorgesprächen zu Anna Auguscik, »Aravind Adiga, The White Tiger (2008): Zwischen Repräsentanz und Kontroverse«, in: Medienobservationen ( Juli 2011), http://www.medienobservationen.lmu.de/artikel/kontrovers/ auguscik_tiger.pdf (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

Literaturpreise im nationalen Literaturbetrieb

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doch die national gewachsenen Kommunikationen überbrücken sie nicht; weswegen Aussagen zum deutschen Feld nicht einmal automatisch für die Schweiz oder Österreich gelten, nur weil im gleichen Sprachraum dieselben Begriffe verwendet werden können.

3.

Der Deutsche Booker und sein britisches Vorbild

Bei einem Vergleich der beiden Preise muss beachtet werden, dass der deutschsprachige Preis sich zunächst an ein geographisch und sprachlich bedingt kleineres Publikum richtet und folglich gar nicht die Dimensionen erreichen kann, wie es ein englischsprachiger Preis mit einer sehr viel höheren Dissemination vermag. Während es dem Booker Prize nach wenigen Jahren gelang, seinen Vorgänger, den Prix Goncourt, im Diskurs zu überholen, und selbst die französische Zeitung Le Figaro vom renommiertesten Preis Frankreichs als dem »französischen Booker«10 sprach, wird es wohl nie dazu kommen, dass der Booker als englischer Deutscher Buchpreis bezeichnet wird. Und das nicht wegen einer für immer festgeschriebenen Hierarchie, sondern bereits wegen des Titels, der einen anderen Legitimitätsanspruch erkennen lässt. Der Name ist Programm: Während der Deutsche Buchpreis den nationalen Charakter im Titel trägt, wird die Frage einer (trans)nationalen Implikation des Booker Prize erst an ihn herangetragen werden.

3.1 The Man Booker Prize for Fiction Die Geschichte des Booker Prize ist je nach Beobachter- bzw. Sprecherposition eine andere. Die ursprüngliche Idee und ihre Umsetzung sind geradezu zu einem Mythos in der neueren englischen Literaturgeschichtsschreibung geworden – ein Mythos, der durchaus von seinen Machern unterstützt und als solcher explizit in die Diskussion eingebracht wird. Dabei werden mehrere Stränge des Booker Narrativs gepflegt, von denen im Folgenden drei skizziert seien: die koloniale Vergangenheit und das postkoloniale Mäzenatentum; die institutionelle und individuelle Basis; die Kontinuität des Preises, trotz und mit den teils eingeplanten diskontinuierlichen Elementen wie der jährlich wechselnden Jury und den ständigen Regelveränderungen. Der Entstehungsmythos beginnt laut Booker mit einem Wiedergutmachungsprozess des Großhändlers Booker plc und dessen damaligem Direktor Jock Campbell, der das Image des Unternehmens von der ausbeuterischen Kolonialmacht in Guayana zum englischen household name und Kulturmäzen wandelte.11 Die neu 10 11

Michael Caine, »The Booker Story«, in: Booker plc (Hg.), Booker 30: A Celebration of 30 Years of the Booker Prize. 1969–1998, 1998, S. 6–12, hier S. 6. Die Geschichte des Preises aus Sicht seiner Macher findet sich bei Martyn Goff, »Introduction«, in: ders. (Hg.), Prize Writing: An Original Collection of Writings by Past Winners to Celebrate 21 Years of the Booker Prize, London 1989, S. 11–23,); sowie Michael Caine, »The Booker Story«, in: Booker plc (Hg.), Booker 30: A Celebration of 30 Years of the Booker Prize. 1969–1998, 1998, S. 6–12.

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eingerichtete Booker Authors Division begann mit einem steuerlichen Vorteil, als das Unternehmen zunächst Ian Flemings Copyright an James Bond aufkaufte, später auch die Rechte am Werk Agatha Christies und anderer erwarb. Als Tom Maschler, ein junger Verleger bei Jonathan Cape, die Idee eines Literaturpreises vorstellte, war der Vorstand durchaus zu begeistern und sah darin eine Win-win Situation.12 Der Booker-McConnell Prize wurde im Jahr 1968 von Booker plc als Sponsor und der Publishers Association als Organisatorin ins Leben gerufen und im Jahr darauf zum ersten Mal verliehen. Von da an zogen sich die Verleger zurück; das Booker Prize Management Committee wurde gegründet, dessen Aufgabe es war, Regelveränderungen vorzunehmen und die jährlich wechselnde Jury zu berufen. Die übrige jährliche Organisation wurde der National Book League übertragen (seit 2002 Booktrust). Das Management Committee bestand aus einem Autor, zwei Verlegern, einem Buchhändler, einem Bibliothekar, dem Vorsitzenden der Booker plc, einem weiteren leitenden Angestellten des Sponsors und dem Administrator des Preises, Martyn Goff. Neben Jock Campbell, Tom Maschler und später auch Michael Caine ist und war Goff der wichtigste Mann hinter dem Booker Prize. Richard Todd hat die Bedeutung Goffs nicht überschätzt, als er ihn als Doyen und gar als den eigentlichen Gründer des Preises bezeichnete.13 Ausschlaggebend für die Entwicklung des Preises waren schließlich die 1980er Jahre. Durch die Wahl britischer und Commonwealth-Autoren wurde der Preis schnell zu einem Barometer des alten Empire. Der Preis konnte nicht nur ökonomische, sondern auch literarische Erfolge im Sinne der Kanonbildung verzeichnen: Die Wahl des Romans Midnights’ Children von Salman Rushdie zum Gewinner des Jahres 1981 wurde in mehrfacher Hinsicht zum Wendepunkt in der Geschichte des Bookers. Nicht nur wurde die rasche Kanonisierung des Romans als Markstein des postkolonialen Romans akademisch bestätigt; der Preis selbst hat ebenfalls für die Konsekrierung Rushdies gesorgt durch die zweifache Wiederwahl zum Booker of Bookers (1993) und später zu The Best of Booker (2008).14 So sieht Richard Todd im Booker Prize den Grund für die Transformation der britischen »serious fiction« in eine globale Literatur.15 Ein weiterer Einschnitt kam mit dem Sponsorenwechsel im Jahr 2001. Um eine glimpfliche Übergabe zu garantieren, wurde die Booker Prize Foundation gegründet, 12

13 14

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Vgl. Gina Thomas, »Der Booker Prize: James Bond stand Pate,« in: FAZ.net Lesesaal, http:// http://lesesaal.faz.net/deutscherbuchpreis/article.php?aid=12&bl=%2Fdeutscherbuchpreis%2Fa rticle_list.php%3Ftxtgrp%3D3 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Richard Todd, »How Has the Booker Prize Changed since 1996«, in: Wolfgang Görtschacher, Holger Klein (Hg.), Fiction and Literary Prizes in Great Britain, Wien 2006, S. 8–19, hier S. 11. Graham Huggan hat die positive Wirkung des Literaturpreises als Propagator postkolonialer Literatur hinterfragt, indem er die Wahl englischsprachiger Autoren aus Großbritannien und dem Commonwealth gegen die Bedingung liest, dass die eingeschickten Romane bei einem Verlag des Vereinten Königreichs erschienen sein muss (vgl. Graham Huggan, The Postcolonial Exotic: Marketing the Margins, London / New York 2002, S. 111). Richard Todd, Consuming Fictions: The Booker Prize and Fiction in Britain Today, London 1996, S. 309 – von nun an mit der Sigle TCF im Text vermerkt.

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deren Hauptaufgabe es war, die Verwaltung des Preises zu übernehmen und einen neuen Sponsor zu finden. Der neue Sponsor, der britische Anbieter alternativer Investmentprodukte, Man Group, hat die Kontinuität des Preises mit einer Namenserweiterung gewahrt, aber auch Änderungen eingeführt. Unter anderem wurde der Man Booker Prize for Fiction mit einem höheren Preisgeld ausgestattet, das zum ersten Mal über die Inflation hinaus auf die Summe von 50'000 £ angehoben wurde. Ein Großteil der Kontinuität des Preises wird über die verflochtene Gewaltenteilung der drei Hauptgremien geregelt. Die Booker Prize Foundation besteht aus einem Vorsitz, dem ehemaligen Vorsitzenden der Booker plc, und sieben weiteren Mitgliedern, darunter auch Autoren. Martyn Goff ist ihr Präsident. Die Foundation bestimmt die Mitglieder des Advisory Committee, das in Fragen von Regeländerungen und Jurywahl berät, möglichst viele Perspektiven vereint und aus einem Vorsitzenden, dem Literary Director der Man Booker Preise, Ion Trewin, und 13 weiteren Mitgliedern besteht: darunter eine Autorin, zwei Verleger, ein Literaturagent, zwei Buchhändler, ein Bibliothekar, zwei Literaturredakteure und Repräsentanten der beiden Sponsoren. Auch die Zusammensetzung der seit 1977 fünfköpfigen Jury soll möglichst heterogen sein: ein Literaturkritiker, ein Akademiker, ein Feuilletonredakteur, ein Autor, eine Person öffentlichen Interesses. In Absprache mit dem zunächst gewählten Vorsitzenden, dessen Name jeweils im November verkündet wird, und unter Berücksichtigung einer heterogenen Zusammenstellung werden vier weitere Mitglieder gewählt, deren Namen aus einer langen Liste der möglichen Kandidaten stammen, die dem Advisory Committee bereits vorliegt. Jurymitglieder werden nur selten mehrmals ernannt. Ihre alleinige Aufgabe ist es »the best […] novel, in the opinion of the judges« zu wählen.16 Die Geschichte des Bookers ist gleichzeitig eine der Regelveränderungen und Anpassungen, die schließlich in dem Regelwerk kulminierte, das ihm zu seinem Erfolg und zu seiner Funktion als Vorbild für andere Preise verhalf. Die Regelveränderungen sind als Antworten auf die Kritik in den Medien und die Veränderungen des Buchmarkts zu sehen und entstanden teilweise aus dem Druck heraus, sich innerhalb der literarischen Kommunikation gegen andere Institutionen, aber auch andere Literaturpreise zu behaupten. Immer wieder wurde die Macht der Jury gegenüber den Verlagen getestet. Statt der ursprünglich drei Titel kann nun ein jeder Verlag nur zwei Titel einschicken (TCF, 68). Zudem kann die Jury zusätzlich weitere Titel ihrer Wahl anfordern, mittlerweile jedoch auch aus einer von den Verlagen angefertigten Liste.17 Dieser Zusatz zur Erstauswahl sorgt zudem für einen Spekulationsraum bei den Verlagen, die es riskieren können, zwei ihrer Autoren ins Rennen zu schicken und dabei zu hoffen, dass ein weiterer nachzieht. 16 17

The Man Booker Prizes, »FAQs«, http://www.themanbookerprize.com/node/21 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). The Man Booker Prizes, »Entering the Awards«, http://www.themanbookerprize.com/node/20 (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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Der Zyklus wurde ebenfalls mehrfach angepasst, so dass das Kalenderjahr zugunsten des so genannten Booker-Jahres sukzessive weichen musste. Die eingesandten Titel müssen zwischen dem 1. Oktober des Vorjahres und dem 30. September des Verleihungsjahres publiziert worden sein, so dass auch Manuskripte zugelassen sind. Von der Ernennung der Jury an, über die Veröffentlichung der Longlist, der Shortlist und schließlich der Gewinner, kommuniziert der Booker mit der Öffentlichkeit und lässt sie am Prozess der Entscheidungsfindung teilhaben. Der Spannungsbogen wurde mehrfach angepasst. Die Einführung der Longlist im Jahr 2001 geht auf den Einfluss des Orange Broadband Prize zurück, der sich erstmals diese zweite Vorauswahl neben der Shortlist zunutze machte.18 Mit zu den wichtigsten Veränderungen im Zuge des öffentlichen Spannungsaufbaus gehörte die Verlängerung des Zeitraums zwischen der Bekanntmachung der Shortlist und des jeweiligen Gewinners (TCF, 73). Schließlich sorgte die Verlegung der letzten Entscheidungsrunde der Jury von einem Monat vor der Bekanntgabe des Gewinners auf wenige Stunden vor die Verleihungszeremonie für eine sehr viel kleinere Gefahr eines vorzeitigen Informationslecks. Der Gewinner wird jeweils im Oktober bei einem feierlichen Dinner vor laufenden Kameras nach einer kurze Rede des Vorsitzenden der Jury, in der er konventionelle Danksagungen mit einem kurzen status quo der Literatur, Kunst, Menschheit vermengt, Oscar-like verkündet.19 Der Booker Prize stand von Anfang an im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit, zunächst noch als Kuriosität, dann zunehmend mit einem Repertoire an Skandalen. Die Kooperation mit dem britischen Fernsehen seit 1981 hat dem Preis ein breites Publikum gesichert. Ein ganz neues Publikum verdankt der Preis den lukrativen Wetteinsätzen in den Wettbüros. Die odds der jeweiligen Autoren und ihrer Romane sind Teil der jährlichen Booker Prize Berichterstattung. Diese lange Geschichte der Kontinuität und der Veränderungen steht im direkten Gegensatz zum jungen Deutschen Buchpreis. Letzterer profitiert zwar einerseits von dieser Erfahrung, andererseits jedoch wurde die besonders heftige Diskussion teils auch durch die unvermittelte Einführung ausgelöst. Vor allem aber waren es die ganz unterschiedlichen Voraussetzungen, die beim Deutschen Buchpreis ausschlaggebend sind.

3.2 Der Deutsche Buchpreis Der erste Versuch des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels die deutschsprachige Literaturpreiskultur zu reformieren, war ein außerordentlicher Misserfolg. Der 2002 initiierte Deutsche Bücherpreis wurde im Frühjahr zum Auftakt der Leipziger Messe verliehen und brachte es lediglich auf drei Verleihungen. Der Preis wurde in mehreren Kategorien verliehen und widmete sich sowohl deutschsprachigen als 18 19

Claire Squires, Marketing Literature: The Making of Contemporary Writing in Britain, Basingstoke, New York 2009 (2007), S. 168. Vgl. John Carey, The 1982 Booker McConnell Prize Speech, London 1983.

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auch internationalen Titeln. Die Auswahlkriterien der Redaktion waren den Kritikern nicht transparent genug.20 Nachdem auch die TV-Gala des MDR floppte, war klar, dass das Modell à la Pulitzer Prize in Deutschland nicht funktionierte. Im September des Jahres 2004 wurde das Projekt Deutscher Buchpreis in Anlehnung an das französische Vorbild des Prix Goncourt (seit 1903) und das britische Pendant des Booker Prize vorgestellt. Wie bei den Vorbildern wird der Deutsche Buchpreis in mehreren Schritten der Selektion an den besten Roman des Jahres verliehen; bis dato jedoch ohne Fernsehübertragung. Der Deutsche Buchpreis wurde von Anfang an »von Partnern außerhalb der Branche unterstützt« [Hervorh. A.A.]:21 Seit 2008 sind es Paschen & Companie, die Stiftung der Frankfurter Sparkasse, die Stadt Frankfurt am Main und die Frankfurter Buchmesse. Der Börsenverein hat zunächst selbst als Stifter fungiert. Die Führung des Preises übernahm mit dem Jahr 2009 die fünfköpfige Stiftung Börsenverein des Deutschen Buchhandels, bestehend aus dem Vorsitzenden des Börsenvereins, den Vorsitzenden der Verleger-, Sortiments- und Zwischenbuchhandel-Ausschüsse und dem Schatzmeister des Börsenvereins.22 Die Stiftung beruft die Mitglieder der Akademie des Deutschen Buchpreises. Die elfköpfige Akademie besteht aus je einem Vertreter der Sponsoren, der Bundesregierung23 (!), des Goethe-Instituts, der Verlage, des Buchhandels, der Literaturkritik, sowie aus dem Stellvertretenden und dem Vorsteher im Börsenverein, der auch den Vorsitz der Akademie innehat.24 Ihre Hauptaufgabe ist es, eine jährlich wechselnde siebenköpfige Jury zu benennen, die sich zum großen Teil aus Vertretern der Medien und Autoren, aber auch Buchhändlern, Verlegern und Hochschullehrern zusammensetzt. Mit der Auswahl der Jury Mitte Februar jedes Jahres bis zur Wahl des Gewinners im Oktober entfaltet sich eine spezifische Dramaturgie, die sich weitgehend am britischen Vorbild ausrichtet. Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz schicken bis Ende März maximal zwei zwischen Oktober und September erschienene oder noch erscheinende Titel ein.25 Diese müssen »der Art und Länge nach ein Roman« und »deutschsprachige Originalausgaben« sein.26 Zur jährlich steigenden 20

21 22 23 24 25

26

Anonym, »Niederlage für Leipzig: Frankfurter Buchpreis statt ›Deutscher Bücherpreis‹«, in: Spiegel Online, 16. 09. 2004, http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,318323,00.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013). »Über den Preis«, in: Deutscher Buchpreis 2011, http://deutscher-buchpreis.de/de/414218 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Vgl. »Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung«, in: Börsenverein des Deutschen Buchhandels, http://www.boersenverein.de/de/portal/Stiftung/295152 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). In der Präsenz eines Repräsentanten der Bundesregierung manifestiert sich das nationalstaatliche Interesse an dem Preis und seiner Funktion in der Literaturdebatte. Vgl. »Akademie Deutscher Buchpreis«, in: Deutscher Buchpreis 2011, http://www.deutscher-buchpreis.de/de/414257 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Vorausgesetzt sie sind Mitglieder der jeweiligen Verleger- und Buchhändlerverbände, vgl. »Teilnahme«, Deutscher Buchpreis 2011, http://deutscher-buchpreis.de/de/414226 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Ebd.

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Anzahl von Titeln kann die Jury bis zu 20 weitere Bücher anfordern. Wie beim englischen Modell wird die Liste der eingesandten Titel nicht veröffentlicht. Im Gegensatz zum Booker wählt die Jury selbst Mitte April einen Jury-Sprecher. Dieser hat eine weniger medienrelevante Rolle als die Jury-Vorsitzenden des Booker Prize, die in Gestalt einer kontroversen Persönlichkeit wie des früheren MPs Michael Portillo (2008) oder der ehemaligen MI5-Direktorin Stella Rimington (2011) Spekulationen bezüglich der Romanauswahl einleiten und eine Kontinuität gerade durch die Unberechenbarkeit schaffen. Die 20 Titel der Longlist werden in einem dritten Schritt Mitte September nochmals zu einer Shortlist von sechs Titeln kondensiert. Schließlich wird jeweils am Tag vor Beginn der Frankfurter Buchmesse der Gewinner des Deutschen Buchpreises bekannt gegeben. Wie beim Booker, kommt ein Teil des Gesamtpreisgeldes in Höhe von 32'500 Euro auch den Autoren auf der Shortlist zugute, die jeweils 2'500 Euro erhalten, so dass für den Gewinner eine Summe von 25'000 Euro verbleibt. Dies mag hoch erscheinen, beträgt aber nur die Hälfte des Georg-Büchner-Preises. Die Ausrichtung auf Aufmerksamkeit – das Ziel ist es »über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch«27 – gepaart mit der anfangs gelobten Eindeutigkeit und Kompromisslosigkeit hinsichtlich der Festlegung auf »die Buchgattung Roman, auf die deutsche Sprache, auf die Unabhängigkeit des Urteils und die Frankfurter Buchmesse«28, löste eine heftige Debatte aus. Im Jahr 2008 gab die Frankfurter Allgemeine Zeitung der Kontroverse mit einem speziell eingerichteten Online-Forum Raum zur Entfaltung. Schon die von der FAZ gestellten Fragen lenken die Diskussion.29 Zum einen positionieren sich die Sprecher, indem sie sich entweder als Teil eines Literaturbetriebs wahrnehmen oder aber sich in der Sphäre der ›unabhängigen Kunst‹ angesiedelt sehen. Der Graben verläuft zwischen der Befürwortung der ›Zusammenarbeit‹ der Literatur mit ihrer betrieblichen Seite oder dem Postulat, diese möglichst abzutrennen, ja eine Kontaminierung der Literatur durch den Markt zu verhindern. Zum anderen erkennen geübte Gesprächsteilnehmende die jährlich wiederkehrenden Diskussionsmuster. Grundsätzliche Kritik zieht die Gleichsetzung von Buch und Roman, wie der Name des Preises suggeriert, auf sich.30 Ein weiterer wunder Punkt ist die Suche

27 28

29 30

»Über den Preis« (wie Anm. 21). So Florian Langenscheidt in der Pressemitteilung »Die besten Romane des Jahres – Börsenverein vergibt Deutschen Buchpreis erstmals 2005 zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse«, Deutscher Buchpreis 2005, http://www.deutscher-buchpreis.de/de/81831?meldungs_id=81887 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Vgl. FAZ.net Lesesaal, http://lesesaal.faz.net/deutscherbuchpreis/leser_forum.php (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Die folgenden Zitate finden sich in diesem Forum. Olaf Trunschke, »Der Name des Preises«, 18. 09. 2008.

Literaturpreise im nationalen Literaturbetrieb

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nach dem besten31 und folglich die Wahl eines einzigen Romans.32 Das Konzept des Wettbewerbs ist der große Stein des Anstoßes.33 Wiederholt wird bemängelt, der Preis setze die Kunst mit Sport gleich und bediene sich außerliterarischer Kriterien. Die Kritik reicht bis hin zum Verdacht auf verschwörungstheoretische Machenschaften, die nur dem Literaturbetrieb, vielleicht noch dem Preis selbst, aber mit Sicherheit nicht den Autoren oder den Lesern zu Gute kommen.34 Den Höhepunkt dieser Debatte bildet ein Austausch zwischen Daniel Kehlmann und dem Vorsteher des Börsenvereins, Gottfried Honnefelder. In seinem Brief beschwert sich Kehlmann über »die Wertungen der Jury [, die] trotz unterschiedlicher Teilnehmer immer wieder nach den außerliterarischen Mechanismen eines zwar nicht korrupten, aber doch sehr verfilzten Milieus erfolgen«.35 Seine Hauptsorge gilt den Opfern der (ent)würdigenden Prozedur: »Ein solches Spektakel mag die Umsätze des Buchhandels erhöhen, für die Literatur ist es bedauerlich, und für die Schriftsteller, die ja niemand gefragt hat, ob sie sich einer solchen Prozedur unterwerfen möchten, eine Quelle der Sorge und der Depression.«36 Folglich ruft Kehlmann dazu auf, den Preis abzuschaffen oder aber zumindest von einer Longlist abzusehen, die dazu führe, dass nur noch diese Titel rezensiert werden. Der Preis als Verknappungsinstanz des Marktes? Gottfried Honnefelder betont in seinem Antwortschreiben gerade die internationale Resonanz, die der Preis den prämierten Romanen sichert. Vor allem aber ortet er den Literaturpreis als eine von vielen Instanzen, die mit Selektion arbeiten und so als Wegweiser für den Leser fungieren: Alle Formen der Kanonisierung, ob Reich-Ranickis Literarisches Quartett, ob Elke Heidenreichs Lesen-Sendung, ob der Deutsche Buchpreis, ob alle anderen Literaturpreise, alle Bestsellerlisten, Fernsehsendungen und Talkrunden, alle bringen Bewertungen in das literarische Leben, ohne deren Transparenz und Maßstab wir heute wohl 37 nicht mehr auskommen.

Den übrigen Diskussionsteilnehmenden bleibt, sich entweder auf die Seite der Autoren zu schlagen oder die Sicht des Betriebs einzunehmen und mit der langen Tradition des Wettbewerbs, des Mäzenatentums und der Literaturvermittlung zu argumentieren. Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Aufmerksamkeit,38 aber nicht zentral für die prämierten Bücher, sondern vielmehr für die Literaturdebatte als solche. Die 31 32 33 34 35 36 37 38

Julia Schröder, »Ist Schulze wirklich besser als Walser?«, 17. 09. 2008. Bodo Kirchhoff, »Die Geister, die ich rief«, 18. 09. 2008. Literarisches Café Wolfgang Brammen, »Literaturpreise sind unverantwortlich«, 18. 09. 2008. Julia Schröder, »Ist Schulze wirklich besser als Walser?«: »[E]in Sieger steht von vornherein fest: der Börsenverein des deutschen Buchhandels. […] Dem Leser hilft das allerdings wenig.« Daniel Kehlmann, »Entwürdigendes Spektakel«, 20. 09. 2008. Ebd. Gottfried Honnefelder, »Wir werden den Deutschen Buchpreis nicht abschaffen«, in: boersenblatt. net, 23. 09. 2008, http://www.boersenblatt.net/259616/ (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Hubert Spiegel, »Sündenfreiheit für Juroren«, 17. 09. 2008: »Aber der Deutsche Buchpreis ist ja viel mehr als der Versuch, den besten deutschsprachigen Roman des Jahres zu bestimmen. Er ist

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Relevanz liegt in der Wichtigkeit, die das Sprechen über Literatur erhält. Das Produktive des Literaturpreises liegt damit nicht nur in der Navigation für den Leser oder der Selbstdarstellung des Preises, sondern gerade darin, eine solche Debatte über das Wesen der Literatur zu provozieren. Die Agierenden in der literarischen Kommunikation erhalten eine Möglichkeit, ihr Tun und ihre Institutionen zu thematisieren und zu positionieren. Sie bekommen einen Anlass, konzentriert und öffentlich darüber zu verhandeln, was als Literatur verstanden wird.

4.

Markt versus Betrieb: Zur Verortung der Preise

Neben dem Mangel eines bereits etablierten Mythos und kleinen Abweichungen im Regelwerk, besteht der größte augenscheinliche Unterschied zwischen dem englischen und dem deutschen Preis in den Institutionen, die ihre Existenz ermöglichen. Während sich die Kritik am corporate Booker Prize genau daran ereifert, dass die ›Macher‹ außerhalb des literarischen Bereichs insgesamt verortet werden (Lebensmittelgigant Booker bzw. Finanzriese Man Group), zielt die Kritik am deutschen Buchpreis darauf ab, dass seine Lancierer (der Börsenverein des Deutschen Buchhandels) auf der Seite des Literaturbetriebs stünden, fern des Künstlerischen. Der Booker Prize entleiht sich lediglich das Know-how aus der literarischen Kommunikation; der Börsenverein bringt das Know-how scheinbar mit. Die Zuordnung zum Literaturbetrieb kann ihm jedoch die Legitimation, Qualitätsfragen des Literarischen entscheiden zu können, jederzeit entziehen. Welche Position können diese im Regelwerk ähnlichen, aber in ihrer Einbettung doch verschiedenen Preise im institutionellen Sprechen über Literatur demnach einnehmen? Das jeweilige Sprechen über Literatur hat unterschiedliche Traditionen, die zu unterschiedlichen Rahmenbedingungen führen. Die zentralen Unterschiede der beiden Diskurse, in welche die Preise eingebettet sind, lassen sich unter den Begriffen der Ökonomisierung und Zentralisierung skizzieren. Die Relevanz der Wettbüros für die Booker Prize-Berichterstattung verschafft einen guten Einblick in die »im englischsprachigen Raum stärker am Markt ausgerichtete interne Organisation des literarischen Feldes (keine Buchpreisbindung, weniger Verlage, große Buchhandelsketten etc.)«.39 Andere Indizien für die Ökonomisierung, die in Deutschland vielleicht noch nicht so flächendeckend ist, aber doch zunimmt, ist die hohe Professionalität der Autoren (geschult durch ›creative writing‹-Studiengänge); die Relevanz der PR und des Marketing (ablesbar an der Verkleinerung der Feuilleton- zugunsten der PR-Redaktionen); Preisdumping im Buchhandel (Wühlkörbe, Drei-für-zwei-Angebote, steigender Verkauf in Supermärkten); Werbestrategien im Verlagswesen (Werbung mit hohen Auflagenzahlen,

39

vor allem ein Spiel, ein Marketing- und Literaturbetriebsspiel mit Fiktionen und um Fiktionen, und die Währung, in der hier Gewinne und Verluste berechnet werden, heißt Aufmerksamkeit.« Stefan Neuhaus, Literaturvermittlung, Konstanz 2009, S. 84.

Literaturpreise im nationalen Literaturbetrieb

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Cover mit Auszeichnungsstickern und aufwändigen blurbs); und der steigende Zeitdruck in den Kulturredaktionen (Sperrfristen-Unterlaufung durch pre-publishing alerts). Eine weitere Besonderheit des englischen Buchmarkts ist die zentrale Rolle Londons im Vergleich zum föderalistisch gewachsenen deutschen Markt. Letzterer war mit Frankfurt und Leipzig seit den ersten Buchkatalogen der Buchmessen im 16. Jahrhundert schon immer zwischen diesen beiden Buchzentren aufgeteilt. Die Aufteilung, die mit den Buchmessen einhergeht, reicht so weit, dass man die beiden Jahresprogramme der Verlage, das Frühlings- und Herbstprogramm, an die jeweiligen Events in Leipzig und Frankfurt bindet. Dagegen spielt die London Book Fair keine strukturierende Rolle für die britischen Buchpreise. Während die Messe in London im Frühling stattfindet, haben sich die meisten Literaturpreise – und so auch der Booker, der durch die lange Dramaturgie sowohl das Sommergeschäft als auch das Vorweihnachtsgeschäft dominiert – im Herbst konzentriert. Dagegen überrascht es wenig, dass der Börsenverein zunächst die Leipziger, dann die Frankfurter Messe als Preisverleihungszeit und -raum gewählt hat. Der Einfluss der Buchmessen zeigt sich, wenn im Regelwerk des Deutschen Buchpreises ganz explizit das Frühlingsund Herbstprogramm angesprochen wird und die Transparenz auch in die Press Releases vordringt.40 Wie stehen diese Marktüberlegungen mit den Literaturpreisen im Zusammenhang? Neben der Suche nach den besten Romanen haben sich die beiden Preise das Ziel der Verkaufsförderung gesetzt. Nimmt man das Jahr 2010 als Beispiel, so wird deutlich, dass der Unterschied nicht die messbaren Auswirkungen betrifft. Die Preisträgerin Melinda Nadj Abonji konnte sich mit ihrem Roman Tauben fliegen auf41 über einen ähnlichen ökonomischen Erfolg freuen wie Howard Jacobson mit The Finkler Question.42 Demzufolge wäre es falsch anzunehmen, dass der Booker Prize im ökonomisierteren englischen Raum aufgrund der dort selbstverständlicheren Marktnähe auf Akzeptanz stößt. Vielmehr ist dies ein weiteres Indiz dafür, den Unterschied im Literaturdiskurs zu suchen. Wäre man nun versucht, die beiden Preise in einem jeweils nationalen Kommunikationsmodell zu verorten, wo würde man diese ansiedeln? Fast alle der im Modell sichtbaren Agenten haben ihre eigenen Auszeichnungen: Es gibt Publikumspreise, Buchhandelspreise, Preise von Autoren für Autoren. Der Preistyp 40

41

42

»173 Titel eingereicht«, in: Deutscher Buchpreis 2011, 05. 04. 2011, http://deutscher-buchpreis.de/ de/437463/ (letzter Aufruf 11. 02. 2013): »Von den eingereichten Romanen stammen 77 Titel aus dem aktuellen Frühjahrsprogramm der Verlage, rund ebenso viele Bücher (80) werden in diesem Sommer oder Herbst erscheinen. 16 Titel sind bereits seit Herbst 2010 lieferbar.« Ulrich Rüdenauer, »Melinda Nadj Abonji – Winner of the German Book Prize 2010«, in: über:blick: German Book Industry Insight 2 (2011), S. 3–4, hier S. 3, http://www.buchmesse.de/images/fbm/dokumente-ua-pdfs/2011/ueberblick_-_second_issue_26174.pdf (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Victoria Gallagher und Neill Denny, »Bloomsbury pushes button on 50'000 reprint of Booker winner«, in: TheBookSeller.com, 13. 10. 2010, http://www.thebookseller.com/news/bloomsburypushes-button-50000-reprint-booker-winner.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

110 | Anna Auguscik Booker oder Deutscher Buchpreis lässt sich jedoch nicht so einfach verorten, da in beiden Fällen die Objektivierung gerade durch die Vielfalt der Aufstellung erreicht wird, wie an der multifunktionalen Zusammensetzung der verschiedenen Gremien, vor allem aber der jährlich wechselnden Jury deutlich wird. Dennoch hat die Legitimierung der Preise im deutschsprachigen und im englischsprachigen Feld eine je andere Tradition. Die Gründung des Booker Prize wie auch des Deutschen Buchpreises trifft auf ein bereits bestehendes Preissystem. In Großbritannien war die Preislandschaft bis in die 60er Jahre von nur wenigen, nicht sehr einflussreichen Preisen gekennzeichnet, von denen sich keiner speziell dem Roman widmete. Der Booker Prize hat dieses Feld revolutioniert und die Bedeutung der London Literary Scene genutzt und geweitet. Sein Erfolg lud dazu ein, weitere Preise zu gründen, die sich in direkter Konkurrenz zu diesem verstehen oder aber eigene Nischen besetzen.43 Dagegen traf der Deutsche Buchpreis im Jahr 2005 auf eine feste Preislandschaft. Plachta zählt allein in Deutschland 300 Preise mit einer Preissumme von etwa 1,5 Mio. Euro (PL, 11) – mit langer Tradition als »Werkzeug staatlicher Literaturpolitik« (PL, 110). Der Deutsche Buchpreis mit englischem Regelwerk und Zielsetzung traf hier auf eine Tradition der Dichterkrönung, auf ein System, das daran gewöhnt war, sich aus seiner Mitte gleichsam von unten zu würdigen, wie Christoph Schröder in seinem Artikel über den Büchner-Preis-Träger des Jahres 2010, Reinhard Jirgl, schreibt: In seiner Rede würdigte der Schriftsteller die Opposition des Einzelnen gegen die Obrigkeitswillkür. Fast hat es den Anschein, als sei es der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in den vergangenen Jahren bei der Auswahl der Büchnerpreisträger in erster Linie darum gegangen, Zeichen zu setzen – gegen den Trend, gegen Moden oder die Profanisierung des literarischen Raums. Das ist nicht nur das gute Recht der Akademie, sondern möglicherweise sogar ihre Pflicht. Schließlich ist der mit 40'000 44 Euro dotierte Büchnerpreis nicht der Deutsche Buchpreis, also kein Verkaufspreis.

Während also in Großbritannien mittlerweile fast alle Gruppen – nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Religion – einen Preis haben und der Booker eine Art Auszeichnung des Besten unter diesen ist, inklusive der Commonwealth-Länder, muss sich der Deutsche Buchpreis innerhalb einer ganz anderen Preislandschaft behaupten. Er muss sich mit Kleist, Büchner und Bachmann messen; als Auftakt-Event der Frankfurter Buchmesse, aber auch mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und den vielen Stadtpreisen.

43

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Vgl. Squires, Marketing Literature (wie Anm. 18), S. 168: »One of the implications of this [growth of cultural prizes] has been the increasing competitiveness of book awards, in order to gain and retain sponsors, to attract optimum media attention, and to acquire the leading reputation for their quality of judgment.« Christoph Schröder, »Für eine Literatur von unten«, in: Zeit Online, 25. 10. 2010, http://www. zeit.de/kultur/2010-10/jirgl-buechner-preis (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

Literaturpreise im nationalen Literaturbetrieb 5.

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»Wer zwingt uns denn, den Zirkus mitzumachen [...]?«:45 Rückblick und Ausblick

Nach Plachta sind Literaturpreise »an die Stelle traditioneller Dichterauszeichnungen […] getreten« und erfüllen drei Funktionen: Sie gelten erstens als Indikatoren für literarisch-ästhetische, kulturpolitische und weltanschauliche Auffassungen über Literatur. Zweitens haben sie die Funktion, einen Autor durch ein entsprechendes Preisgeld finanziell bzw. sozial zu unterstützen und drittens kann sich die Institution, die den Preis vergibt, in der Öffentlichkeit darstellen und für ihre Ziele werben. (PL, 107)

Stefan Neuhaus sieht seinerseits einen zweifachen Nutzen der Auszeichnungen: Sie »strahlen nicht nur auf die Preisträger und Stipendiaten, sondern auch auf die preisverleihenden Institutionen aus.«46 Der Vergleich der beiden Literaturpreise und die Analyse ihrer unterschiedlichen Kontexte haben gezeigt, dass diese genannten Funktionen durch solche erweitert werden können, die sich aus dem langen Prozess der Würdigung und der Interaktion mit den anderen Teilnehmenden der literarischen Kommunikation ergeben: Sie bieten Gelegenheit zur Visualisierung der literarischen Kommunikation und machen Angebote für eine eigene Literaturgeschichtsschreibung, die mit jener der anderen Gesprächsteilnehmenden konkurriert. Der Booker Prize ist ein besonders mächtiger Anbieter eines solchen Narrativs, das er durch zyklisch wiederkehrende Selbstprophezeiungen behauptet. Der Deutsche Buchpreis ist im deutschsprachigen Raum gerade durch die Länge der dramatisierungsbedingten Medienpräsenz, durch ein Spiel mit der Transparenz der Selektionsschritte und durch die Flexibilität einer jährlich wechselnden Jury für die neuen Veränderungen auf dem Buchmarkt besonders gut aufgestellt. Diese Flexibilität hat der Börsenverein mit dem Umzug nach Frankfurt, mit der Gründung der Stiftung und mit dem Beginn eines eigenen Mythos – ob dieser nun ausgeht von Gottfried Honnefelder als dem deutschen Martyn Goff oder von der Prämierung eines Romans, der den Deutschen Buchpreis selbst als Thema hat –, vorerst bewiesen. Sein großes Problem ist aber, dass er als Fremdkörper wahrgenommen wird in einem Diskurs, der von der Dualität des Literarisch-Künstlerischen und des Betrieblichen ausgeht. In diesem muss er sich gegen den Vorwurf »autorenfeindlicher als andere Preise«47 zu sein, behaupten. Der scheinbare Vorteil des Börsenvereins, seine Insider-Legitimation, seine Erfahrung im Sprechen über Literatur, wird zum Nachteil. Umgekehrt formuliert: Der grundlegende Unterschied beruht darauf, dass der Booker nicht als Teil eines ›Literaturbetriebs‹ im deutschen Sinne diskutiert wird, der Deutsche Buchpreis dagegen in einem Diskurs des ›Literaturbetriebs‹ verhaftet ist, in einem Diskurs der den Betrieb eben doch als etwas Gegensätzliches versteht, etwas das die ›echte Poiesis‹ verhindert. 45 46 47

Julia Schröder, »Peinlichkeit ist keine Erfindung des Buchpreis-Zeitalters«, 21. 09. 2008. Neuhaus, Literaturvermittlung (wie Anm. 39), S. 136. »Zusammenfassung, offene Fragen«, in: FAZ Lesesaal (wie Anm. 3), 26. 09. 2008.

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Diese Verortung führt dazu, dass der Deutsche Buchpreis trotz struktureller Ähnlichkeiten mit dem Man Booker Prize einer Kritik ausgesetzt ist, welche die grundsätzliche poetische Qualität der von ihm ausgezeichneten Werke von Vornherein in Frage stellt. Das verschwörungstheoretische Argument der Kritiker, der Buchpreis möge dem Betrieb nützlich sein, aber bestimmt nicht den Autoren oder den Lesern, kann so nur deswegen vorgebracht werden, weil die ›Macher‹ hinter dem Buchpreis, die Exponenten des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, als Teil eines Literaturbetriebs verstanden werden. Dieses Argument kann den Booker Prize so nicht treffen, da die Sponsoren als ›außerliterarisch‹ betrachtet werden. Der scheinbare Nachteil des Bookers, ein Entscheidungsinstrument von Uneingeweihten in Qualitätsfragen zu sein, entpuppt sich als der eigentliche Vorteil.

Geschichte(n) des Betriebs

Olaf Simons

Literaturbetrieb – ein Konzept staatsnaher Auseinandersetzung mit Literatur? Ohne Zweifel organisiert sich das literarische Leben wie ein großer Betrieb. Jährliche Produktions- und Geschäftszyklen bestimmen den Alltag im Buchhandel wie das Leben der Autoren, die sich auf diesen Betrieb einlassen. Ineinandergreifende arbeitsteilige Prozesse richteten sich ein. Im großen Medienkonzern übernehmen Imprint-Verlage die Erstvermarktung neuer Titel: Verlage, die nur noch nach außen eigenständig erscheinen, werden mit Katalogen ausgestattet. Verlagsvertreter werden auf internen Seminaren vorbereitet, die neue Produktion in den folgenden Wochen in Buchhandlungen und Feuilletonredaktionen vorzustellen. Für Autoren, die sich auf diesen Betrieb einlassen, verändert sich die Arbeit: Konzentrationsphasen des Schreibens wechseln von nun an mit Phasen des Kontakts mit dem Publikum. Der Betrieb, der sich ihnen gegenüber entfaltet, legt ihnen seit einigen Jahrzehnten die Nutzung von Agenten nahe, die im Literaturbetrieb besser vernetzt sind. Dass der Literaturbetrieb das Schreiben verändert, das anzunehmen, liegt nahe. Er verändert das Selbstverständnis des Autors, wenn er ihn in erweitertem Kontakt zum Publikum bringt, zu Kritikern und Stars der Medienbranche. Forderungen an den Autor stellt dieser Betrieb absehbar eher indirekt, indem er Handlungsspielräume erweitert. Die folgenden Erwägungen sollen der historischen Grenze des Begriffs nachgehen und werden nur in zweiter Linie dem Geflecht selbst gelten. Die Frage nach der strukturellen Grenze des Literaturbetriebs wird sich dabei im Verlauf stellen: Was gehört zu ihm und was nicht? Es ist letztlich nicht so klar, inwieweit das Wort ›Literaturbetrieb‹ dem Aufkommen des Gegenstands Rechnung trägt. Eine polemische Option entstand hier, und sie gewann im deutschsprachigen Raum eine tiefere Bedeutung, der merkwürdigerweise eine Parallele in dem Raum fehlt, in dem sie, sucht man den Literaturbetrieb selbst, beheimatet sein müsste: im angelsächsischen – das wird zu erklären sein. Die Trennung zwischen dem Literaturbetrieb als organisatorischer Gegebenheit und dem polemischen Konstrukt wird am Ende bis auf die Ebene der Autoren durchschlagen. Es dürfte den größten Unterschied ausmachen, ob Autoren in diesem Betrieb mit oder ohne den Begriff im Hinterkopf schreiben. Es ist kaum klarer, welche Macht die Kritik hat, sie seien diesem Betrieb verhaftet.

116 | Olaf Simons 1.

Freiraum eher denn Betrieb: Wo noch nicht von Literatur zu sprechen war

Dass die Begriffsfügung ›Literaturbetrieb‹ sich erst in den 1830ern verbreitet, hat einen Grund, der in seiner Tragweite nicht so schnell zu erfassen ist: Das Wort Literatur wird erst in den 1830ern zum Inbegriff dessen, was heute Literatur ist.1 Man hätte von einem ›Betrieb der schönen Wissenschaften‹, der ›Belles Lettres‹, der ›Poesie‹ oder der ›Dichtung‹ sprechen müssen, um das Spannungsfeld aufzumachen, um das es mit dem Begriff seit etwa 1830 geht – ein Spannungsfeld zwischen der Verpflichtung gegenüber der Literatur als Raum der Kunst und einem sie vermarktenden Betrieb. Auf einem anderen Blatt steht die Frage, seit wann man vom Betrieb im Blick auf Unternehmensformen sprechen kann – hier macht die Industrialisierung Vorgaben.

Abb. 1

Gab es einen Betrieb der Belles Lettres (der Poesie oder der Dichtung) vor dem 19. Jahrhundert, und wenn ja, warum sprach man nicht von einem solchen? Bereits die puren Zahlenverhältnisse sollten hier skeptisch stimmen. Schlägt man die deutschen 1

Siehe Rainer Rosenberg, »Eine verworrene Geschichte. Vorüberlegungen zu einer Biographie des Literaturbegriffs«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77 (1990), S. 36–65.

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Messkataloge vor 1759 auf, so findet man in ihnen Literatur im heutigen Sinn in marginalen Anteilen von weniger als zwei Prozent präsent, hauptsächlich Romane. Ganze zwölf Titel notieren die beiden Kataloge des Jahres 1712, um hier ein zufälliges Jahr herauszugreifen, unter den 1001 Meldungen des Jahres, und dabei bilden die Messkataloge nur einen Teil des Gesamtmarktes ab (vergl. Abb. 1). In den gut 3'500 jährlich verlegten Titeln finden sich noch einmal eine Handvoll Romane und ein billiger Markt von Volksbüchern (der Begriff der Romantik), bei denen man erahnen muss, dass ihre Kunden sie nicht als Literatur im heutigen Sinne lasen, sondern für bare Münze nahmen. Belles Lettres, der Vorgänger heutiger Belletristik, schlossen das Billige aus wie die wissenschaftliche Fachliteratur, die im deutschsprachigen Raum fast den halben Markt ausmacht. Elegante Bücher sind um 1700 Kerngebiet der Belles Lettres, alles vom Kochbuch bis zum Roman, von der politischen Autobiographie bis zum Buch neuer Tanzschritte, wissenschaftliche Journale in den Landessprachen eingeschlossen. Der Leser des eleganten Marktes wird französische Titel in diesem Segment neben deutschsprachigen gesucht haben und sich insgesamt mit 200 bis 350 Titeln bedient gesehen haben. Selbst das schuf um 1700 kaum einen ›Betrieb‹. Die Produktion, um die es hier geht, ist zersplittert. Einzelne überregionale Verleger legen hier im Jahr ein bis zwei Dutzend Titel insgesamt auf, und unter diesen selten mehr als eine Handvoll Titel des eleganten Marktes. Theologica und wissenschaftliche Publikationen bauen am ehesten einen Betrieb auf. Wechseln wir die Perspektive auf die Seite des Autors im Feld der Belles Lettres, so sieht die Lage geringfügig anders aus. Es gibt um 1700 Autoren, die von diesem Segment leben. Übersetzungen aus dem Französischen sind dabei eine gute Einnahmequelle. Romane zu schreiben, wird insbesondere unter Studenten vorübergehend eine Form modischer wie riskanter Studienfinanzierung. Die heutige Verknüpfung der literarischen Gattungen besteht noch nicht. Wer nebenher Dramen produziert, schreibt vor 1730 für die Oper – bei Hofe oder im städtischen kommerziellen Betrieb. Die gedruckten Operntexte bleiben außerhalb der Kataloge bis man Ruhm genug gesammelt hat, einen Sammelband vorzulegen. So weit kommt kaum eine Handvoll Autoren.2 Der höfische Poet ist im größeren Segment der Belles Lettres eher die Ausnahme. Weitaus interessanter ist es, sich als Autor aus dem akademischen Feld einen Zugewinn zu sichern. Man kann diese Arbeit ergänzen, indem man zu Beerdigungen und Hochzeiten Auftragscarmina verfasst – all dies schafft keinen Betrieb, eher verstreute Optionen des Zugewinns. Christian Friedrich Hunold demonstriert um 1700 noch am ehesten wie der Betrieb aussehen könnte: Er verfasst zwischen 1700 und 1706 mit bahnbrechendem Erfolg ohne jede weitere wirtschaftliche Absicherung Romane, Gedichte, Operntexte, Kantatentexte und Auftragslyrik, Übersetzungen

2

Zur Situation des bellettristischen Marktes vor 1730 eingehender Olaf Simons, Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde, Amsterdam 2001.

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französischer Belletristik und, für sehr kurze Zeit, ein politisches Journal.3 Über Benjamin Wedel, der Korrespondenzen aus dem beiderseitigen Verkehr 1731 veröffentlichte und zeitweilig als Agent und Verleger agierte, sind wir ausnehmend gut über das informiert, was an dieser Stelle der ›Belles-Lettres-Betrieb‹ hätte sein müssen. Kein solcher empfängt den Autor, der hier Karriere macht. Hunold bleibt sich unsicher, ob der große Profit mit Romanen zu machen ist. Schnelles Geld lässt sich mit Seminaren in galanter Conduite verdienen. Die Kundschaft dazu gewinnt Hunold als Autor von Romanen und Poesie – eine Ware, deren Potenzial sein Verleger Liebernickel in Hamburg 1700 noch verblüfft. Für die Oper zu schreiben, scheint insbesondere im Blick auf das Netz der Kontakte profitabel, die sich hier (in Hamburg wie in London und Wien) ergeben. In gewisser Weise bietet die Oper noch am ehesten dem Autor von Belletristik betriebliche Strukturen an. Der Buchmarkt wird von Autoren, die Hunold folgen, dagegen eher – wie von ihm selbst – als Freiraum wahrgenommen. Man publiziert unter Pseudonymen, erhält das Honorar für das Manuskript und muss dem Verleger dazu nicht weiter bekannt werden. Ein Betrieb erfasst Autoren bei Hofe. Als Anton Ulrich von Braunschweig Hunold 1706 das Angebot macht, ihm bei der weiteren Publikation der Octavia zu dienen, lehnt dieser dankend ab. Aus den Korrespondenzen mit Wedel wird ersichtlich, dass selbst der Autor, der seine Existenz riskierte, noch immer gelassen damit umging, dass ihn die Belles Lettres weit bequemer finanzieren konnten als die höfische Anstellung. Vom Betrieb ist dabei nicht die Rede, eher von einem Freiraum, der sich Hunold eröffnet, nachdem er sein Pseudonym Menantes bekannt genug machte – deutlich erfindet hier ein Autor den Namen und den Betrieb, von dem er selbst exemplarisch lebt. Einen sekundären Diskurs finden die Belles Lettres erst im Lauf des 18. Jahrhunderts. Zuvor befehden sich Autoren im Gebiet selbst. Damit vor allem dürfte zu tun haben, dass niemand das Wort vom ›Belles-Lettres-Betrieb‹ aufbringt. Mitte des 18. Jahrhunderts ändert sich die Lage mit dem Aufkommen erster, den ›schönen Wissenschaften‹ gewidmeter Rezensionsorgane. Erst mit ihnen baut sich die Distanz gegenüber dem Markt auf, die das Wort im Verlauf spannend machen wird.

2.

Der Konflikt zwischen Literatur und ihrer Vermarktung ist eine Errungenschaft des Wissenschaftsbetriebs

Nicht in den Belles Lettres, in den Lettres, auf dem Gebiet der Literatur, im Feld der Wissenschaften entwickelt sich ab den 1660er Jahren das Problembewusstsein für die Frage, wie die Literatur dem Buchmarkt gegenübersteht – Literatur verstanden als 3

Siehe Benjamin Wedel, Geheime Nachrichten und Briefe von Herrn Menantes Leben und Schriften, Köln 1731. Zu Hunold vgl. ausführlich Dirk Roses Dissertation Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes), Berlin, Boston 2012); daneben meine eigenen beiden Artikel »Christian Friedrich Hunold alias Menantes«, in: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen 13 (2005), S. 6–29 und 14 (2006), S. 8–30.

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das Feld der Wissenschaften. Der Konflikt zeichnet sich dabei verwirrend früh auf dem deutschen Markt ab. 1665 kommt in Paris die erste Nummer des Journal des Sçavans auf den Markt. Eine Welle von Journalgründungen geht über Europa in den nächsten fünf Jahren hinweg.4 Im deutschsprachigen Raum scheinen anfangs kaum die Bedingungen für den Aufbau eines Organs erfüllt, das fortlaufend wissenschaftliche Publikationen rezensieren soll. Es gibt hier keine nationale Akademie, die sich als Herausgeberin hervortun könnte. Die Wissenschaften sind in katholische und protestantische getrennt. Der Buchmarkt verfügt über kein Zentrum, von dem aus kontinuierlich zu berichten wäre. Als Leibniz 1668 vom Kaiser das Privileg für das erste deutsche Rezensionsorgan erbittet,5 plant er noch mit der jugendlichen Selbstüberschätzung eines 22jährigen, im Alleingang ein Zentralwerk herauszugeben, das dem deutschen Markt Rechnung tragend die Gesamtproduktion erfassen muss, wie sie zu den Messen zwei Mal im Jahr vorgelegt wird. In Frankfurt wolle er die Titel durchgehen, in Leipzig drei Wochen später einen Nucleus der Inhalte vorlegen. Das Ziel ist das Organ, das besser informiert als die Messkataloge. Das Privileg will Leibniz dabei (so seine Erklärung am 11. Januar 1669 gegenüber Christoph Gudenus, den er bat, für ihn zu intervenieren) wichtig sein, da er auf der Messe Buchhändler sprach, die ihm abrieten, ihnen und ihrem Katalog Konkurrenz zu machen. Die Geschichte wirft ein Schlaglicht auf die Konfliktzone, die 1668 zu Beginn des kometengleichen Aufstiegs der Literaturdebatte zu befürchten stand. Der Buchhandel tritt hier noch als möglicher Gegenspieler auf. 1670 kommt mit den Miscellanea Curiosa die erste deutsche wissenschaftliche Zeitschrift auf den Markt – ein naturwissenschaftlich medizinisches Organ, das die Gründung einer kaiserlichen Wissenschaftsakademie vorantreibt. 1682 folgen ihr die Acta Eruditorum als erstes deutsches Rezensionsorgan vom Stile des Journal des Sçavans. Was danach geschieht, stellt binnen weniger Jahrzehnte den Markt auf den Kopf: Einzelne Akteure entdecken Ende der 1680er das neue Medium und nutzen es, um in ihm monatlich Bücher zu rezensieren und ihre persönlichen Meinungen zu verbreiten. Der Buchhandel tritt nicht als Gegenspieler auf, er entdeckt das neue Rezensionswesen als Marketingplattform und ermuntert Autoren nirgends so explizit wie im deutschsprachigen Raum, Journale herauszugeben. Klarer als irgendwo besteht hier eine enge Verknüpfung zwischen Wissenschaften und den zentralen Publikationsstandorten. Im engen Geflecht der Universitäten bildet sich um 1700 eine erste universitätsnahe Blogosphäre heraus, getragen von renommierten Professoren und mit ihnen konkurrierenden wissenschaftlichen Jungautoren, die vorwiegend anonym agieren. Die wissenschaftliche Buchrezension füllt dabei im deutschsprachigen 4

5

Siehe Christian Juncker, Schediasma historicum de ephemeridibus sive diaris Eruditorum, Leipzig 1692 sowie für den größeren Überblick Thomas Habel, Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts, Bremen 2007. Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 8 Reihen, Darmstadt 1923 ff., 1. Reihe, Bd. I, S. 3–5.

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Raum Lücken. In ihr kann ein Räsonnement um sich greifen, das auf dem internationalen Markt der Niederlande und in London eher das politische Traktat als Medium sucht. Der Rezensent der Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen hält das 1715 für Londons Markt fest, von dem soeben vom Untergang der einzigen Literaturzeitschrift zu berichten ist, die sich hier hielt – der Memoirs of Literature. ›Chartequen‹, Kleinschriften bestimmen diesen Markt und überschwemmen ihn. Eine Literaturzeitschrift könne in diesem Angebot kaum bestehen.6 Die Bibliographen, die 1716 und 1718 den deutschen Markt erfassen, scheitern demgegenüber in Anbetracht der Flut exakt solcher Projekte.7 Journale florieren in ganz Europa. Literaturzeitschriften, Journale, die primär wissenschaftliche Publikationen rezensieren, werden zur besonderen Errungenschaft des deutschen Marktes – und zur Problemzone:8 Ein Streit um den Missbrauch der Journale kommt im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in Deutschland auf und führt zu einer Diversifikation der Unternehmungen. Überblick sollte das neue Medium bieten – man gewann stattdessen mit ihm ein Stimmengewirr großenteils inkompetenter Akteure. Dem Buchhandel wollte man von Seiten der Wissenschaften und der Literatur eine objektive Warte gegenüberstellen. Es geschah das Gegenteil: Die Verleger kaperten die Literaturrezension und machten sie sich gefügig. Wie sich neue Wissenschaften noch etablieren sollten, fragt Julius Bernhard in seiner Einleitung zur Staats-Klugheit 1718 mit Sorge um die Ökonomie als neuem Fach. Die kritischen und philologischen Schriften als die am besten rezensierbaren Schriften würden absehbar am Ende die Literaturdebatte für sich gewinnen. Missbrauch bestimme das Gros der Titel, Plagiat und vollkommen wissenschaftsferner Kampf: Sie nehmen offtermahls die Recensiones und Urtheile der Bücher aus andern Journalen heraus, ihre Autores sind mehr vor Pasquillanten zu achten, die andere ehrliche Leute durchziehen, denn glimpfflich von den Schrifften raisoniren. Wenn sie den Autoribus ihre Fehler zeigen, welches an sich sehr gut ist, und keinem vernünfftigen Autori zuwider seyn wird, so mischen sie entweder Personalien mit ein, die gar nicht zur Sache gehören, oder bringen dabey entweder solche tölpische und ungeschliffene expressiones, oder aber solche höhnische Redens-Arten vor, daß alle Leute sehen, wie ihr Raisonement nicht auf die Untersuchung der Wahrheit gegründet ist, sondern aus Neid, einem Autori, deßen Schrifften, ihrer üblen Vorstellungen ungeachtet, dennoch Approbation gefunden, Tort zu thun. Sie haben desto bessere Gelegenheit zu calumniren, weil sie ihre Nahmen vor die Journale nicht setzen, und sich auch hernach ihrer eigenen Arbeit schämen, wenn andere Leute sie als Autores kennen lernen. […] Manche Autores loben nur diejenigen Schrifften, die von ihren Herrn Verlegern in Verlag genommen werden, oder wenn die Gelehrten etwan sonst ihre guten Camera6 7

8

Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, Leipzig 1715, Erstes Supplement, S. 417–418. [Marcus P. Hunold?] Curieuse Nachricht von denen heute zu Tage grand mode gewordenen JournalQuartal- und Annual-Schrifften [...] von M. P. H., Freiburg i. B. 1716 und Gründliche Nachricht von den frantzösischen, lateinischen und deutschen Journalen, Ephemeridibus, monatlichen Extracten, oder wie sie sonsten Nahmen haben mögen [...] von H. P. L. M., Leipzig 1718. Wiebke Hemmerling, Wozu Journale? Die Journaldebatte des frühen 18. Jahrhunderts in Deutschland, Magisterarbeit der Universität Greifswald, Fachbereich Germanistik betreut von Herbert Jaumann und Reimund Sdzuj. Sommersemester 2009.

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Abb. 2

Abb. 3

Abb. 4

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den sind, oder ihnen ein schön gebunden Exemplar zu geschickt. Hingegen machen sie die andern herunter, manchmahl aus keiner andern raison, als weil ihre Verleger mit einem andern Buchführer, der die Schrifft, die sie recensiren in Verlag genommen, nicht wohl dran sind, oder etwan sonst aus einiger Partheylichkeit. Es nehmen sich solche Leute vor, von Büchern aus allen Facultäten zu judiciren, da sie manchmahl zu der Zeit, wenn sie anfangen, Journale zu schreiben, nicht in einer Wissenschafft einer eintzigen Facultät recht gegründet sind. Ein anders ists, wenn einige gelehrte Leute zugleich an einem gewissen Journal arbeiten, und da ein jeder diejenigen Schrifften, die in sein Metier lauffen, recensiret; Sie machen manchmahl grosse Extracte von Büchern, die etliche Bogen starck sind, und die ein jeder selbst gleich lesen und kauffen kan; Hingegen trifft man bißweilen kostbahre Bücher in Buchläden an, davon viel Journalisten nichts gesagt; Der oeconomischen Schrifften erwähnen sie gantz und gar 9 nicht und hingegen excediren sie bey den critischen und philologischen.

Metajournale, Journale, die Journale rezensieren, werden 1714 und 1715 als Lösung des Problems wahrgenommen. Christian Gottfried Hoffmann bietet mit seinen Aufrichtigen und unpartheyischen Gedancken über die Journale, Extracte und MonathsSchrifften ab 1714 ein solches und nutzt es zur breiten satirischen Abrechnung mit dem gesamten Gebiet der Literaturdiskussion. Eine Serie von polemischen Titelkupfern untermalt seine Analysen (vergl. Abb. 2–4). Das Verhältnis zwischen sekundärem und primärem Diskurs habe sich verkehrt. Die Rezensenten übten sich nicht im sekundären Diskurs, sie hielten die Wissenschaften wie einen Vogel im Käfig, und schickten sich an, ihnen beizubringen, was sie zu schreiben hätten. Mit der Literaturdebatte eroberten die Wissenschaften den Markt, auf dem sie das Schauspiel der »Iactantia Scientarium Humanorum«, der Prahlerei der menschlichen Wissenschaften zum Besten gäben. Das ungebildete Publikum könne kaum anders, als dem Angebot gläubig, mit modischem Skeptizismus oder mit ebenso modischem Eklektizismus zu begegnen. Den drei Gruppen böte das neue Journalwesen die Wissenschaften rezeptionsgerecht aufbereitet an. Die Welt wolle betrogen sein und werde darum betrogen – die Journalisten erbitten hier unter Masken die private Audienz. Hinter den Kulissen ist klar, dass sie eher als Durchlauferhitzer arbeiten. Von der einen Seite werden dem Journalisten die Nachrichten gereicht, auf seinem Tisch ordnet er sie nach Ländern und Orten. Passend neugeordnet kann er sie zur anderen weitergeben, auf dass sie als neueste Informationen ausposaunt werden. Das Wort ›Literaturbetrieb‹ fällt bei alledem nicht. Die Diffamierung fällt härter aus, wenn da von Possenreißern, Schaustellern und Betrügern gesprochen wird.

3.

Von der fabrikmäßigen Produktion neuer Titel lässt sich im deutschsprachigen Raum ab etwa 1760 sprechen

Mitte des 18. Jahrhunderts bricht im deutschsprachigen Raum die wissenschaftliche Ordnung des Buchmarktes auseinander. Bis 1759 sind die Messkataloge noch 9

Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Staats-Klugheit, Leipzig 1718, S. 455–458.

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nach den vier Fakultäten und ihre Fächerfolge Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Philosophie geordnet. Als der Katalog Michaeli 1759 in die Weidmannsche Buchhandlung wechselt, scheint das überholt. Die meisten Buchhandlungen hätten in den letzten Jahren die alphabetische Ordnung eingeführt. Wohin solle man ein Werk wie Klopstocks Messias rechnen? Zu den ›Historischen und philosophischen Schriften‹ und damit zu politischen Skandalhistorien und Kochbüchern? Zur Theologie (welcher Konfession soll es angehören)? Das Gelände der Literatur im heutigen Wortsinn bleibt ungebildet. In den nächsten 40 Jahren erhält der Leser nur noch die einheimische von der Importware getrennt. Das ist besonders bei Romanen unpraktisch. Selten haben sie einen Autor, meistens muss man nach dem Hauptwort des Titels suchen. 1797 will es den Herausgebern des Messkatalogs dann plötzlich überfällig scheinen, wieder vier Sparten zu bieten: eine allgemeine alphabetische, eine zweite für Romane, eine dritte für Dramen, eine vierte für ausländische Bücher. Die Quantitäten allein legen das nahe. Man findet in den beiden Katalogen zusammen 265 Romane und 84 Dramen – jeweils Angebotssegmente von mehreren Seiten. Der eigentliche Prozess der Neuorganisation des Marktes vollzieht sich in den Rezensionsorganen. Als Johann Christoph Gottsched 1732 seine Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit in den Handel bringt, reklamiert er zwar noch nicht das Wort Literatur für die Poesie. An die Liebhaber der Literatur, will er sich indes wenden mit der Ermahnung, ein Interesse an Poesie zu entwickeln, da diese den Wissenschaften erst eine gediegene Sprache zur Verfügung stelle. Das ist 1732 ein waghalsiger Versuch, die Poesiediskussion in den Wissenschaften zu verankern. Als Gotthold Ephraim Lessing 1759 die erste Nummer seiner Briefe, die neueste Litteratur betreffend in den Handel bringt, liegen die Dinge anders. Die Literatur wird ostentativ für das beansprucht, was kaum als Wissenschaft zu verkaufen ist. Es gelte, den Geschmack der Nation zu bilden und dabei steht für den Adressaten der Briefe fest, dass die ›schönen Wissenschaften‹ hier zuvörderst zu rezensieren sind. Lessings Angebot, Literatur derart selektiv anzugehen, bleibt umstritten. Markant äußern sich hier konservative Autoren wie Johann Carl Conrad Oelrich in seinen Beyträgen zur Geschichte und Literatur 1760: Nicht der Buchmarkt sei das Problem, der Markt der Rezensionsorgane sei es. Wissenschaftliche Zeitschriften berichteten plötzlich von einer Materie, für die jeder Begriff fehle. Von »Stultitiensachen« sollte man hier sprechen für das, was nun Literatur wird: Wenn man gleich auf eine kurze Zeit nachgelassen hat, die Buchläden mit verzweifelten Liebes- und jämmerlichen Mordgeschichten zu spicken; so siehet man bald an deren Stelle wiederum eine Menge abentheuerlicher Lebens- und Reisebeschreibungen verirrter Ritter, Bayern, Tyrolerinnen und dergleichen. Man sollte billig in den Bücherverzeichnissen der Buchhändler solche Art Schriften unter einem Haupttitel, z.E. Stultitiensachen bringen, damit die Liebhaber derselben sie beysammen finden und die Gelehrten mit etwas weniger Zeitverlust, die Bücherverzeichnisse durchlesen könnten. Wenn man ferner die Kunst- und Trauerspiele, Fabeln, Lieder, Hirten- und Schäfergespräche, moralischer Schildereyen, welche sich in den Buchläden schon zu drängen anfangen, ausnähme; so würde der Überrest von Büchern sehr mäßig und

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eine einzige Monatsschrift, wenn sie gehörig eingerichtet würde, wohl im Stande seyn, solche zu fassen. Ich bin aber deshalb, so viel die letztere Art Schriften betrifft, gar nicht der Meynung, daß solche bekannt gemacht zu werden nicht verdienten; sie haben bey Kennern und Liebhabern derselben ihren Großen Werth; weil sie aber zur ernsthaften Gelehrsamkeit eigentlich nicht gehören; will ich hier nur so viel zu verstehen geben, ob es nicht besser seyn möchte, wenn man vor solche eine eigene Monaths10 schrift einführete, welche die Erzählung und Beurtheilung allein enthielte.

Ein lateinisches Rezensionsorgan für Literatur, ausgerichtet auf Deutschland und die östlichen Anrainer, sei die Problemlösung. Ein zweites Organ möge sich mit den Liebesromanen und Mordgeschichten befassen. Das Gegenteil tritt ein: Friedrich Nicolai bringt 1764 auf Deutsch die erste Ausgabe seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek in den Handel – ein zentrales Rezensionsorgan, das die Wissenschaften noch im Vordergrund behält, doch den ›schönen Wissenschaften und Künsten‹ sowie dem Roman dabei eigene Sparten öffnet. Wenig später kann Johann Gottfried Herder in seinen Fragmenten Über die neuere deutsche Litteratur fragen, ob man hier nicht zu kurz griff. Den Wissenschaften sei doch kaum mit einer allgemeinen Literaturbesprechung gedient. Die Gründung von Fachzeitschriften empfiehlt er ihnen. Der Nation könne im selben Moment eine Literaturdebatte nützen, wie Lessing sie andachte. Es ist dies der größere Kontext, in dem sich das »Projekt zu einer Bücherfabrik« plausibilisiert, mit dem am 30. November 1764 das Hannoverische Magazin seinen Lesern aufwartet. Dass man Maschinen erfunden habe, an denen selbst Anfänger drechseln können, nähre die Hoffnung, dass man auch Produktionsprozesse erfinden könne, mit denen »ein ganz Unwissender durch eine einförmige Bewegung, ein Buch zu Stande bringen könnte.« Das Problem sind dabei nicht die letzten Schritte der Buchfabrikation; die sind seit Jahrhunderten in betriebliche Routinen zerlegt. Die Schreibprozesse gelte es nun der Massenfabrikation zu unterwerfen. Ein Betrieb von 400 Arbeitern gewinnt Gestalt: Im Souterrain exzerpieren Auszubildende in einer Bibliothek. Aus den Exzerpten werden neue Bücher generiert. Mit Wörterbüchern aller Wissenschaften werde man den Anfang machen. Im Erdgeschoss wird ausschließlich übersetzt – von arbeitslosen aus dem Ausland heimkehrenden Soldaten. Im ersten Stock arbeiten die Autoren. Die Abteilung Philosophie und Dichtung werde kostensparend mit Geisteskranken arbeiten. In der Medizinabteilung verfassen Genesende Berichte ihrer Krankheiten mit Analysen der anschlagenden Kuren – Erfahrungswissen dringe erstmalig in die Medizin ein. In einer eigenen Abteilung unter Sicherheitsverwahrung schreiben Zuchthäuslerinnen neue Romane von Moral und Sex. Qualitätsstandards senke man, da der Markt lehre, dass sich gerade die anspruchslose Ware verkaufe. Schließlich werde man sich hausintern um das Rezensionswesen kümmern. Auch hier gehe es darum, neue Texte aus vorfabrizierten Versatzstücken zusammenzumontieren:

10

Johann Carl Conrad Oelrich, Beyträge zur Geschichte und Literatur, Berlin, Stettin, Leipzig 1760, S. 178–179.

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Oben unter dem Dache wäre, um das Ganze zu krönen, vor allen Dingen eine Zeitungsexpedition anzulegen, welche die herausgegebenen Schriften mit gewissen vorgeschriebenen Formuln ankündigte. Z. E. Unsere Bücherfabrik, welche noch immer fortfähret, mit ihren gelehrten Arbeiten zu nützen und zu belustigen, hat abermals ein prosaisches Heldengedicht zu Stande gebracht, welches an Tiefsinnigkeit, Erfindung, Lebhaftigkeit der Bilder Reinigkeit der Sprache Neuigkeit des Ausdrucks, alle bisher herausgekommenen Epopeen weit übertrifft, u.s.w. Unser geschickter Mitarbeiter hat zur Aufklärung der Weltweisheit eine neue Metaphysik verfertiget, in welcher er von allen bisher angenommenen Säzzen abgeht. Sie führt den Titel: – – Wir zweifeln nicht, daß der gelehrte Herr Verfasser dem Publico noch viele Jahre, durch seine geist11 reichen Schriften nützlich sein möge.

Der Artikel wird über eine abstruse Rahmenfiktion eingeführt. Niemand will ernsthaft eine solche Fabrik vom Schlage Mosse, Hugenberg, Ullstein oder Bertelsmann für möglich erachten: ein all in one media conglomerate. Jenseits der Rahmenfiktion – und hier nimmt der Artikel Nachdenken über den Literaturbetrieb vorweg – ist das Projekt Realsatire auf einen Literaturmarkt, der sich umformt. Das Spektrum der Bücher, das man produziert, öffnet sich von den Wissenschaften aus dem Unwissenschaftlichen. Die Mechanisierung der Produktion fällt auf – Fabrikware greift in der Literatur und der Belletristik um sich. Das Ineinandergreifen des primären und des sekundären Diskurses fällt auf. Das hatte Rohr 1718 beklagt, dass die Verleger begännen, das Rezensionswesen zu steuern. Ein halbes Jahrhundert später führt an dieser Wahrnehmung kein Weg mehr vorbei. 1795 ist dem Schweizer Verleger Johann Georg Heinzmann klar, dass die ganze Aufklärung ein Projekt der Integration von Bereichen ist, die sich kritisch gegenüberstehen sollten. Über die Pest der deutschen Literatur titelt seine unendliche Invektive (Abb. 5), die die Institutionen des deutschen Literaturbetriebs einzeln durchgeht. Aus Hoffmanns Satire auf die Rezensenten als Possenreißer und galante Betrüger ist jetzt das Porträt des geheimen Aufwieglers geworden, der für den Mob schreibt. Wo Amors Pfeil das Herz des Literaturliebhabers durchbohren sollte, durchbohrt er dessen Kopf. Mit gigantischer Brille tut der Rezensent sein Bestes, Fehler zu vergrößern. Schlägt man dieser Hydra einen Kopf ab, wachsen hundert andere nach, so versprechen es die Schlangen, die sein Haupt gebiert. Der Autor bleibt, wo es um die Literatur geht, außen vor. Eine Mafia aus Verlegern und ihnen botmäßigen Rezensenten steuert, wer als Autor überhaupt auch nur wahrgenommen wird: Die Wahl der Rezensenten hängt doch einzig vom Unternehmer ab; so waren ehemals Klotz, dann Nikolai, dann Bahrdt, dirigierende Herren über die herrschenden allgemeinen Journale. […] Jetzt sind es in Jena und Weimar 2 oder 3 Herren, die den Ton angeben. Und jedesmal hat ein solcher Unternehmer seinen Privatplan, seine allgemeinen Grundsätze, sein eigenes System, dem alle Mitarbeiter huldigen müssen, oder ihre Arbeiten werden abgeändert, oder gar zurückgewiesen; wo kann da Freyheit im 12 Urtheil […] seyn? 11 12

[Anonymus], »Projekt zu einer Bücherfabrik«, in: Hannoversches Magazin, 96. Stück. Freitag 30. November 1764, Sp. 1529. Johann Georg Heinzmann, Über die Pest der deutschen Literatur, Bern 1795, S. 184.

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Olaf Simons Die Wissenschaftler, die so lange die Richtung vorgaben, sieht man auf den Messen den Verlegern »hinterherrennen«, dass man einen »Eckel und Widerwillen gegen sonst sehr berühmte Namen von Gelehrten« bekomme.13 Die Verleger reißen sich um die Autoren von »Romanen, Comödien, Reise und Modeschriften« und »überschwemmten« mit deren »Fabrikartikeln« den Markt: Seitdem die Buchhändler Bücher bestellen, anordnen, Plane vorschreiben, und das edelste Geschäft, Menschen zu lehren, zu bessern und zu erfreuen, zu dem allerniedrigsten Geschäfte herabgewürdigt haben, seitdem ist die deutsche Litteratur zu Profeßion und Pfuscherey herabgesunken; und nichts ist bald verächtlicher als das Autormetier. – Eben daher entspringen so viele Mißgeburten, so viele zwecklose, elende, heillose Charteken und Zeitschriften. Fast die ganze Menge von Romanen, Comödien, Reisen und Modeschriften, womit alle Jahre die Lesewelt überschwemmt wird, 14 sind solche Fabrikartikel.

Abb. 5

Wie die Krankheiten mit den Ärzten sich mehrten, ginge die Literatur mit der Zahl der Kritiker nieder, die sich ihr zuwandten.15 Und über deren Zahl kann Heinzmann Auskunft geben. Das Vokabular ist bemerkenswert. Hier rekrutiert ein anonymer Betrieb »Mitarbeiter«: Man rechnet jetzt in Deutschland 123 kritische Journale, Blätter und Hefte, worinn nichts gethan wird, als anders Schriften recensieren, das heißt: sie zerlegen, den Geist auflösen, das Fleisch von den Knochen trennen, die Eingeweide herausnehmen und über das todte Skelet die Urgicht halten. [….] An diesen 123 kritischen Journalen […] arbeiten nach einem mäßigen Ueberschlag, (auf jedes nur 20 Glieder gerechnet), wenigstens 2500 Hände. Diese zählen nach ihrem eignen Geständnisse zu 100 bis 150 Mitarbeiter; und in zehn Jahren wandeln sie sich wenigstens dreymal um, also kann man immer 7500 Rezensenten auf 10 Jahre rechnen. Welche charakterliche Schönheit der 16 deutschen Litteratur ganz eigenthümlich ist.

13 14 15 16

Ebd., S. 421. Ebd., S. 424. Ebd., S. 182. Ebd., S. 386–388.

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Das Wort ›Literaturbetrieb‹ liegt 1795 in der Luft, ist dann jedoch viel zu edel. »Pfuscherei« werde hier betrieben, die »Pest« grassiere hier. Gegenüber solchen Optionen wird sich das Wort vom Literaturbetrieb wenige Jahre später geradezu als Loblied auf die wirtschaftliche Ordnung ausnehmen.

4.

Die Begriffsfügung »Literaturbetrieb« wird erst mit der nationalstaatlichen Literaturförderung spannend

Als das Wort ›Literaturbetrieb‹ in den 1830ern aufkommt, ist noch nicht ganz klar, wofür genau es steht – dass Betrieb für wirtschaftliche Unternehmen steht, klärt sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Julius Krebs leitet seine Reisenovelle Das Grab der Arbesan 1842 mit den Worten ein: »Annalen des Narrenthums und Irsinnes zu schreiben, wäre verdienstvoller, als mancher andere Literaturbetrieb.«17 Literaturbetrieb steht hier neutral für die interessengeleitete Arbeit des Autors – er selbst kann das Wort ohne Scham benutzen. Der Rezensent der Grenzboten führt 1853 einen Seitenhieb auf die Romantik im Blick auf deren Schreibpraxis – die pejorative Fremdzuschreibung: Die neue Romantik ist fast zu einem Mechanismus geworden, der lügenhafte Abenteuer und immense Empfindungen massenweise abspinnt […]. Gegen diesen mechanischen Literaturbetrieb erhebt sich jetzt, Gott sei Dank! von allen Seiten eine starke 18 Reaction.

Vergleichbar lässt sich das Wort 1880 noch im Blick auf Routinen des Schriftstellers verwenden. Michael Georg Conrad notiert unter dem Begriff abschätzig, dass sein Autor zuzeiten auch im Kollektiv schrieb: Um wieder auf unseren Augier zurückzukommen, so ist zu bemerken, daß er nur einen mäßigen Gebrauch von dieser Art des Literaturbetriebs gemacht hat. Dreimal hat er mit Iules Sandeau, zweimal mit Edouard Foussier und einmal mit Alfred de Musset 19 zusammengearbeitet.

Eine zweite am Ende übrig bleibende Wortbedeutung entwickelt sich parallel. Die Allgemeine Kirchenzeitung spricht sich im Leitartikel ihrer Ausgabe vom Sonntag dem 17. Juni 1834 gegen Bestrebungen aus, das Verlagswesen durch ein neues Lizenzrecht abzuschotten. Man will andererseits aber auch nicht dafür stimmen, dass jeder ganz ohne eine Lehre in den ›Literaturbetrieb‹ einsteigen könne. Es ist dies die moderne Begriffsverwendung, bei der an ein institutionelles Geflecht gedacht ist, in dem der Verlag im Zentrum steht.

17 18 19

Julius Krebs, »Das Grab der Arbesan«, in: Bohemia. Ein Unterhaltungsblatt, 4. Februar 1842. Rezension von Alphonse Karrs Une poignée de vérités, in: Die Grenzboten, 12 (1853), S. 518. Michael Georg Conrad, Parisiana, Plaudereien über die neueste Literatur und Kunst der Franzosen, Breslau 1880, S. 82.

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Ganz ostentativ denkt 1843 N. Loewenthal20 in seiner Physiologie des freien Willens über den Literaturbetrieb als eben diese organisatorische Struktur nach. Dem Autor geistiger Werke bescherten die neuen Urheberrechtsregelungen unangenehme Zwänge, sich mit dem Literaturbetrieb zu arrangieren. Oberflächlich betrachtet emanzipieren sie ihn. Effektiv spekuliere man jedoch darauf, dass dem Autor das Monopol am geistigen Eigentum kaum nütze. Der Literaturbetrieb – der »ihm fremde, geräuschvolle Verkehr des Marktes« – zwinge ihn letztlich, sein Monopol an den »Verleger als Mittelglied zwischen Autor und Publikum« abzutreten.21 Die Gewinnspekulation des Verlegers greift im nächsten Moment zu Lasten der Gesellschaft – und hier fällt das Wort explizit: »das eigentliche Opfer dieses kaufmännischen Literaturbetriebes wird […] das Publikum«. Auf der einen Seite bieten die Verlage die Verbreitung des intellektuellen Guts an, auf der anderen Seite betreiben sie als Rechtewahrer gerade dessen Verknappung: Das eigentliche Opfer dieses kaufmännischen Literaturbetriebes wird […] das Publikum. Es muß hinnehmen und entbehren, was ihm die Buchhändlerindustrie aufdringt, oder anzubieten nicht rathsam findet, und wird zuletzt noch in der leichten Aneignung der dargebotenen werthvollen Geistesprodukte wieder durch die Privatwillkühr des Verlegers beschränkt, da er allein für die Dauer des Monopols den Preis der Exemplare zu bestimmen das Recht hat. Diesen Mißverhältnissen kann nur in der Weise abgeholfen werden, daß wir wieder allmählig umlenkend zu dem System früherer Zeiten zurückkehren, wo es noch keine Monopole, keine Verleger gab, und deshalb die sittliche Bedeutung der Literatur und Kunst sich noch nicht in Privatinteressen aufgelöst und verflüchtigt hatte. Die Gesellschaft als solche muß das Preiswürdige unmittelbar aus dem gemeinsamen Vermögen belohnen, und dann die weitere Benutzung des so für 22 Alle gewonnenen Produkts ganz der freien Concurrenz überlassen.

Es ist schwierig, Löwenthal in dieser Problemanalyse von heute aus politisch einzuordnen. Das Plädoyer für Gemeinfreiheit aller geistigen Arbeit mutet nach linker Kapitalismuskritik an. Die Beweisführung, mit der Löwenthal das Plädoyer unterfüttert, ist deutscher Idealismus mathematisch durchwirkt: Das geistige Werk habe einen potenziell unermesslichen Wert, der allein mit der Möglichkeit der unbegrenzten Vervielfältigung adäquat gewürdigt werde. Nicht für die Diktatur des Proletariats als neuen Rechteinhaber tritt Löwenthal ein, sondern für eine Gesellschaft, die den Autor von den Niederungen des Geschäfts befreit und seinen natürlichen Idealismus belohnt. Man gelangt von Loewenthal in die linke Kritik am kapitalistischen Literaturbetrieb. Man gelangt mit ihm in den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts, der hohe Kultur im öffentlichen Interesse subventioniert. Loewenthals Darlegungen sind eher exzeptionell. Die Kontroverse des 20. Jahrhunderts ist sehr viel einfacher einem idealistischen Konsens verhaftet, in dem die 20

21 22

Weder die Allgemeine deutsche Biographie noch die Neue deutsche Biographie noch die von mir eingesehenen Bibliothekskataloge geben einen Hinweis auch nur auf den Vornamen Loewenthals oder weitere Publikationen seiner Hand. N. Loewenthal, Physiologie des freien Willens, Glogau, Leipzig 1843, S. 184. Ebd., S. 184–185.

Ein staatsnahes Konzept?

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Frage ist, ob der Autor Kunst um der Kunst willen schreibt, oder Belletristik nach Interessen des Marktes. Mit dem Begriff geht es um die Rettung der Literatur vor dem Betrieb. Hans Jürgen Heise schreibt so in Einen Galgen für den Dichter 1986 unter der Überschrift »Störfaktor Literaturbetrieb«:»Beides hat es immer gegeben: Literatur und Literaturbetrieb. Freilich hat immer auch eine Literatur existiert, die unabhängig vom Literaturbetrieb wirkte.«23 Der Literaturbetrieb ist hier zwar als Universalie eingeführt – es hat ihn immer schon gegeben. Dann jedoch ist ihm die Literatur selbst als ideale Sphäre gegenübergestellt mit einer geteilten Produktion – einer, die sich dem Betrieb ergibt und einer, die sich ihm verweigert. Wo ein ideelles Konstrukt und eine irdische Realität aufeinanderstoßen, lassen sich GutsBöse Paritäten prognostizieren: »Anders als die Literatur geht der Literaturbetrieb den Weg des geringsten Widerstands.«24 »Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur?«25 fragte Hans Jenssen im SchillerJahrbuch von 2007 – und hat die spezielle Macht des Betriebs damit bereits behauptet, bevor er auch nur an die Antwort geht.

5.

Das Konstrukt, das gerade nicht aus dem Literaturbetrieb selbst kommt

Der Literaturbetrieb, um den es in Darstellungen des 20. Jahrhunderts geht, mag sich als wirtschaftliche und organisatorische Gegebenheit betrachten lassen. Die Frage ist, ob die Betrachtung an diese Realität gekoppelt sein muss, und was dort geschieht, wo diese Realität benannt wird. Man wird da eingehendere Fragen stellen müssen. Wer spricht im 19. und 20. Jahrhundert vom Literaturbetrieb? Wer ist dabei Adressat der Kritik? Wer behält sich in diesem Diskurs vor, erahnen zu können, wie die Literatur aussähe, wenn sie nicht vom Literaturbetrieb erfasst würde? Ist dort, wo vom Literaturbetrieb gesprochen wird, bereits sehr viel mehr als eine ideelle Gegenoption gegeben, die Option von staatlicher Literaturförderung statt vom Markt zu leben? Die Antwort auf diese Fragen könnte im größeren historischen Bogen die sein: Die Literaturbesprechung entwickelt sich im frühen 18. Jahrhundert – als wissenschaftsinterner Austausch – im deutschsprachigen Raum zum Betreiber eines funktionierenden Rezensionswesens unerwarteter Öffentlichkeit. Die Wissenschaften gehen dabei eine prekäre wie fruchtbare Liaison mit dem Buchmarkt ein, eine Liaison, die es Mitte des 18. Jahrhunderts nahelegt, die Literaturbesprechung auf Dramen, Romane und Gedichte auszuweiten. Im deutschsprachigen Raum entsteht an dieser Stelle etwas Bahnbrechendes: ein wissenschaftlicher sekundärer Diskurs für den sich staatliche Bildungseinrichtungen gewinnen lassen, dessen Gegenspieler der Buchmarkt und seine Öffentlichkeit wird. Eine Konfliktlage, die die Wissenschaf23 24 25

Hans Jürgen Heise, Einen Galgen für den Dichter, Weingarten 1986, S. 163. Ebd., S. 166. Hans Jenssen, »Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur?«, in: Schiller-Jahrbuch 51 (2007), S. 8.

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ten für sich selbst im frühen 18. Jahrhundert ausmachten, übertragen sie in den 1780ern und 1790ern auf die Belletristik. Eher spät – in den 1860ern – erfasst dieser Austausch den anglophonen Raum.26 Das Problem ist hier nicht, dass dieser über keine Literatur verfügte (das ist ab 1790 das Problem der Staaten Osteuropas und Skandinaviens). Das Problem ist, dass der angelsächsische Markt über seine eigene in den MeAbb. 6 dien verankerte Kritik verfügt und kaum Verwendung für das kontinentaleuropäische Konzept einer hohen akademischen Kritik hat. Wesentliche Sensibilitäten bleiben in der Folge im angelsächsischen Raum unterentwickelt: Zwischen akademischer Literaturwissenschaft und öffentlicher Literaturkritik zu unterscheiden, ist hier bis heute eher ungebräuchlich. Die kontinentale Unterscheidung zwischen ›hoher Literatur‹ und ›Trivialliteratur‹ bleibt hier unterentwickelt. Vom Literaturbetrieb zu sprechen, setzt sich Mitte des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum durch, da hier eine institutionell verankerte akademische Kritik zentral die Frage stellen kann, wie weit Autoren sich auf den von ihr angebotenen Austausch über ›hohe Literatur‹ einlassen, und wie weit sie demgegenüber ›für den Markt‹ schreiben. In Markierung dieser Wahl gewinnt das zunehmend abschätzig gebrauchte Wort vom Literaturbetrieb Trennschärfe. Man wird ein komplexes Kommunikationsmodell (Abb. 6) benötigen, um die eingehenderen Fragen zu stellen – die Fragen danach, wer mit dem Wort wen vor welche Entscheidungen stellt. Man wird der Begriffsfügung ›Literaturbetrieb‹ im selben Moment zugestehen können, dass sie eher polemisch fungiert, Autoren auseinanderzudividieren. Die spannende Frage ist im selben Moment, welche Flexibilität das Wort als Konzept entwickelt. Thomas Mann notiert 1913 im Blick auf seinen Autor Gustav Aschenbach im Tod in Venedig, wie dessen Schreiben, ja sein Charakter sich veränderten, als der Staat sein Werk entdeckte. Die Passage ist abgründig formuliert. Das Wort ›Literaturbetrieb‹ fällt in ihr nicht. Es geht hier nicht um einen Autor, der sich der Verlagswelt überlässt – es geht hier um den Autor, der erfasst, was die Gesellschaft und die Nation an idealer Leistung von ihm erwarten. Nicht Verrat an der Literatur steht darum zur Debatte, sondern das Erreichen des Ideals – die Entfaltung einer Wesensvoraussetzung: 26

Eingehender dazu das Vorwort zu Hippolyte Taines History of English Literature [1863/1864], Edinburgh 1871.

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Etwas Amtlich-Erzieherisches trat mit der Zeit in Gustav Aschenbachs Vorführungen ein, sein Stil entriet in späteren Jahren der unmittelbaren Kühnheiten, der subtilen und neuen Abschattungen, er wandelte sich ins Mustergültig-Feststehende, GeschliffenHerkömmliche, Erhaltende, Formelle, selbst Formelhafte, und wie die Überlieferung es von Ludwig XIV. wissen will, so verbannte der Alternde aus seiner Sprachweise jedes gemeine Wort. Damals geschah es, daß die Unterrichtsbehörde ausgewählte Seiten von ihm in die vorgeschriebenen Schul-Lesebücher übernahm. Es war ihm innerlich gemäß, und er lehnte es nicht ab, als ein deutscher Fürst, soeben zum Throne gelangt, 27 [...ihm] zu seinem fünfzigsten Geburtstag den persönlichen Adel verlieh.

Josef Nadler schlägt 1928 bei einer Vorstellung seiner idealen Literaturgeschichte in der Zeitschrift Hochland vor, von einer Trias Kirche, Staat, Literatur auszugehen – eine deutlich idealistische Option, bei der zwei Organisationsstrukturen, die von Kirche und Staat, einer idealen Entität, der Literatur, gegenüberstehen. Vier voneinander unabhängige Interessenssphären will er dabei definieren: »1. Volk, 2. Dichter, 3. Dichtung, 4. Literaturbetrieb«. Was zum »Literaturbetrieb« gehören soll, notiert Nadler mit einer Ausweitung, die im oben skizzierten Modell auffallen muss: »Literaturbetrieb heißt hier das gesamte Gerät, das alle geistigen Bedürfnisse literarisch bedient, das die Literatur geschäftlich erfaßt und verteilt. Vor allem geht es um den Staat.«28 Es ist klar, warum Nadler den Staat zum Literaturbetrieb hinzurechnen will. Seine neue Literaturgeschichte wird den Autor vor neue Optionen stellen. Wie bisher steht er vor der Wahl, sich der Literatur oder dem Literaturbetrieb zu verpflichten. Kein Widerspruch ist im System, das Nadler aufmacht, indes gegenüber dem Volk, der Rolle des Dichters und den Anliegen der Dichtung aufgemacht. Schon die Worte Dichtung und Literatur taugen, um die Differenzen zu benennen: Der Literaturbetrieb kann Literatur erfassen, der Dichter kann sich demgegenüber der Dichtung und seiner Verwurzelung im Volk bewusst zeigen – und Staat und Markt entsagen. Brisant wird Nadlers idealistisches Angebot indessen in jenem Moment, in dem der nächste Staat es zur Propaganda nutzt, ostentativ die Seite wechselt und sich der völkischen Dichtung verschreibt und dem Bruch mit dem Literaturbetrieb und den Großstadtliteraten. Die interessante Frage ist am Ende, in welcher Tradition wir das Wort verwenden, und wie weit wir dabei ein Ideal gegenüber einer Marktrealität ausspielen? Spannend wird in jedem Moment sein, wo wir selbst stehen, wenn wir das Wort benutzen – es ordnet Personen und Institutionen einander zu und erzeugt blinde Flecken jeweils in der Position dessen, der den Literaturbetrieb sich gegenüber ausmacht. Das Wort wird so besehen eine historische Grenze haben, und zwar eine Grenze im kritischen Diskurs mehr denn im Betrieb, der hier bezeichnet wird. Es hat im selben Moment eine strukturelle Grenze: eine Grenze aus dem blinden Fleck des Sprechers, der sich selbst ausnimmt und dem Horizont seiner Wahrnehmung, die Bereiche erfasst, beides sind komplexe Grenzen. 27 28

Thomas Mann, Der Tod in Venedig, Berlin 1913, S. 29–30. Josef Nadler, »Kirche, Staat, Literatur«, in: Hochland 26 (1928), S. 115 ff., hier S. 119.

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Das zweite Buch. Der Autor als Markenzeichen Wenn, irgendwo in der Gutenberg-Galaxis, ein Mensch den hochstaplerischen Wunsch in die Tat umsetzt, Erfinder seines eigenen Lebenslaufes und fiktiver Autor eines selbstverfassten Œuvres zu sein, so stempelt ihn dies möglicherweise in der Wissenschaft zum Scharlatan und vor Gericht zum Betrüger, oder es macht ihn in der Politik als einen gefährlichen Hasardeur verdächtig. Derselbe Vorgang würde in der Literatur hingegen als ein Fiktionsphänomen unter vielen erscheinen und ihr Täter als Opfer derjenigen weitverbreiteten Illusion, bei der Autoren ernsthaft glauben, durch Sprache eine Welt zu erzeugen, während sich in Wirklichkeit unter ihrer schreibenden Hand Texte aus Texten speisen.

1 Wer auf die methodisch reflektierte, theoriegeleitete Beobachtung der Literatur als ›Betrieb‹ setzt, betreibt Literaturwissenschaft als eine Soziologie (oder ›Systemtheorie‹) der Institution, optiert mithin für die Betrachtung von Literatur als einer Institution bzw. eines ›Funktionssystems‹. Bei der Betrachtung funktionaler Systeme steht deren zunehmende Ausdifferenzierung und Verselbständigung im Blickpunkt, die Betonung ihres institutionellen Charakters hingegen trennt schärfer zwischen den festen und den flexiblen Bestandteilen des Betriebes. Institutionen lassen sich als relativ dauerhafte soziale Gefüge von hardware und software beschreiben, als (in unserem Falle) Verbindungsweisen von materieller und geistiger Produktion. Das Funktionssystem Literatur integriert sich in das ›Gesamtsystem‹ durch die Anlage der Möglichkeit von ›Beobachtung zweiter Ordnung‹;1 man kann – und nur dann sieht man nicht Literatur selbst, sondern den ›Betrieb‹ als solchen – beobachten, wie oder was die Literatur beobachtet, indem man die Produktion, Zirkulation und Rezeption von Texten observiert und beschreibt. Zugleich aber entzieht sich das ›Institutionelle‹ des Literaturbetriebs für die internen Operationen und Akteure (die in ihrer Tätigkeit Beobachtungen erster 1

Hier gilt, aus der Perspektive der Systemtheorie jedenfalls, in vergleichbarer Weise, was Luhmann für das funktionale System Wissenschaft und seine Verbindungsmöglichkeiten der Beobachtungen erster und zweiter Ordnung ausgeführt hat: »Das Vermittlungsinstrument, das die strukturelle Kopplung der Beobachtung erster und zweiter Ordnung sicherstellt, sind Publikationen, die in der Perspektive erster Ordnung, als Texte, produziert und gelesen werden, aber zugleich zum Durchblick auf die Beobachtungsweise anderer Wissenschaftler (und reflexiv dann auch auf die eigene) führen und erst darin ihren eigentlich wissenschaftlichen Sinn gewinnen.« (Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 105.)

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Ordnung anstellen und verarbeiten) tendenziell der reflektierenden Analyse und der rekonstruierenden Herleitung. Die Institution ist, wörtlich genommen, das ›Eingesetzte‹, aber wann, wo und von wem eine Institution einst eingesetzt wurde, diese Frage ist meistens schwer zu beantworten.2 Riskieren wir sogar die These: Der Umstand, dass sich die Gründung, Bildung oder Entstehung einer Institution nachträglich – dann nämlich, wenn die Existenz der Institution selber beobachtet werden kann – kaum mehr in die Anfangsgründe oder gar bis zur Phase vor ihrer Entstehung zurückverfolgen lässt, dürfte auf die Arbeitsweise und die Geltungsbedingungen von Institutionen eine durchaus begünstigende Wirkung haben. Je weniger man über den Akt der Einsetzung (sollte es ihn denn je gegeben haben) im Nachhinein noch weiß, desto besser für das Eigenleben und die Fortdauer der Institution als solcher. Diese Feststellung gilt unbeschadet der Bemühungen zahlreicher Institutionen, über ihre eigene Geschichte gleichsam im Modus der Selbstzeugung zu verfügen und eine offizielle Gründungslegende über ihre eigenen Ursprünge in Umlauf zu setzen. Im Falle vieler Religionen etwa oder auch bei der Begründung von Nationalhistorien sind solche ex post gesetzten Anfänge im Schwange. Mit derlei mythofiktionalen Formen von institutionseigener Geschichtsschreibung, die durch Selbsthistorisierung auf Enthistorisierung abzielen, kann sich das Interesse an der Beobachtung von Institutions-Emergenz naturgemäß nicht zufrieden geben. Kommen wir zur Literatur. Wie bei anderen diskursgenerierten Institutionen (beispielhaft etwa die Wissenschaft, das Recht, die Politik) ist bei Literatur ein asymmetrisches kommunikatives Verhältnis der beteiligten Akteure zur anonymen, kollektiven Öffentlichkeit im Spiel. Die Geltung individuell vorgebrachter Meinungen, Ansprüche, Leistungen usw. muss sich behaupten, indem sie unter besonderen Regeln der Veröffentlichung unterzogen wird. Die Institution Literatur impliziert subjektive Äußerungsakte in einem kollektiv dominierten Feld. Aus heutiger Sicht haben wir es bei institutionalisierter Literatur mit Autoren, ihren Werken und dem Publikum zu tun, ferner mit einigen dieses Dreieck flankierenden Hilfseinrichtungen (wie der Druck- und Verlagsindustrie, den Kritikern, der Kulturpolitik und Autorenförderung etc.). Als mediale Darbietungsform, die an Schrift (und für die längste Zeit auch an Druck) gebunden ist, steht Literatur in einer genealogischen Reihe mit den ihr voraus gehenden Akteurs-Positionen: Aus Sprechern werden Erzähler, werden Autoren; aus Mithörenden werden Zuhörer, werden Leser; aus Mitteilungen werden Geschichten, werden Texte bzw. Werke. 2

Der Begriff der Institution wird in der anthropologisch fundierten Soziologie Arnold Gehlens auf die ontogenetische Mängelstruktur des nicht zu Ende geborenen Menschen zurückgeführt, womit der Institutionenbildung die sozialbiologische Funktion zugeschrieben wird, die organische Ausstattung durch ausgelagerte Behelfe zu ergänzen (vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 1956; ders., Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957). Auch wenn die kompensative Ausrichtung dieses anthropologischen Konzeptes unübersehbar ist, bringt Gehlen mit seiner Betonung der stabilisierten Handlungsentlastung ein wichtiges Merkmal der Funktionalität von Institutionen ins Spiel, an welche die kommunikationstheoretisch orientierte Auffassung von Institutionsbildung als System-Emergenz anknüpfen kann.

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Statt aber diese mediengeschichtliche Genese ein für allemal vollzogen zu haben (in einem ja logisch immerhin unterstellbaren Ursprung der Institution), spielt Literatur diesen Gestaltwandel, so meine zweite These, immer wieder aufs Neue durch.3 Die Institution Literatur erzählt nicht nur, wie manche Religionen und Staaten auch, mythische Ursprungsgeschichten ihrer selbst (etwa in der Orpheus-Gestalt), sondern sie ist bestrebt, ihre Herausbildung aus ihr vorausgesetzten kommunikativen Rollen (insbesondere der Sprecher-Hörer- und der Schreiben-Lesen-Beziehung) als Wandlung je aktualiter zu vollziehen, wann immer sie als Literatur sich ereignet. In einem rezeptiven Kanal von Sprechen und Hören oder von Schreiben und Lesen zusammengeschlossen, stellt sich diejenige Kommunikationsbeziehung, auf der Literatur basiert, als reine Dualität dar, als supponierte Unmittelbarkeit einer von beiden Enden des Mitteilungsstranges geteilten ästhetischen Erfahrung. Sprechender Mund und lauschendes Ohr, schreibende Hand und lesendes Auge stehen in spürbar innigem Verhältnis zueinander, auch wenn die Lebenswelten von Autor und Publikum geschichtlich oder sozial denkbar stark differieren. Diese Suggestion von Unmittelbarkeit ist, unter anderem, die Voraussetzung dafür, von Literatur emotional berührt zu werden.4 Sieht man in demjenigen, was man gerade als Buch oder Theaterstück vor sich hat, nur ein Destillat des Betriebs, dann kann der ästhetische Transport von der Denk- und Gefühlswelt der einen zur anderen Seite nicht greifen, weil die dazwischentretende institutionelle Kopplung zu übermächtig wird und selber den größten Teil der investierbaren Aufmerksamkeit verschlingt. Aber auch das umgekehrte Defizit kann es geben; ein spontaneistischer Mitteilungsakt ist so lange nicht literaturfähig, wie ihm der Eintritt in die Institution und ihre Verstärkungsmöglichkeiten verwehrt bleibt. Erst durch die Ablösung von einmaligen Hörens- und Sagens-Bedingungen kann eine Mitteilung Literatur werden; nur das Wiederholbare ist im systemrelevanten Sinne beobachtbar, d. h. eben auch begutachtungsfähig, kritisierbar, unter mehreren Teilnehmenden über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg zitierfähig. Es ist die Institution, die sanktioniert, was als Literatur gelten kann, indem sie seine Distribution und Reproduktion in die Hand nimmt.

3

4

Zu einzelnen Aspekten der Herausbildung literarischer Formen aus den Experimenten poetischen Sprachhandelns vgl. die Beiträge des Bandes von Heinrich Bosse, Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i. B. 1999. Auch hier argumentiert die Systemtheorie Luhmanns historisch-generativ, indem sie die prinzipielle Empathie-Möglichkeit gegenüber literarischen Werken als spezifische Errungenschaft moderner literarischer Kommunikation beschreibt und diese an den Vorgang der Ablösung des moralisch-didaktischen Erzählens durch individuelle und subjektive Selbsterfahrung gebunden sieht, d.h. an einen ästhetisch induzierten Transfer des fiktionalen Weltentwurfs in die je eigene Lebenswelt der Rezipienten. Nach Luhmann »stellt sich die Erzählkunst im 18. Jahrhundert von der Darstellung des Exemplarischen auf Aktivierung der Selbsterfahrung des Lesers und der Leserin um. Mit einem Riesenaufwand an Details (etwa in Richardsons ›Pamela‹) wird Lebensnähe suggeriert; und zugleich wird das Exemplarische in Motivstrukturen verlagert, die schwer bewußt zu machen sind.« (Luhmann, Kunst der Gesellschaft [wie Anm. 1], S. 283) Vgl. ferner Fritz Breithaupt, »Narrative Empathie«, in: ders., Kulturen der Empathie, Frankfurt a. M. 2009, S. 114–175.

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Wenn zutrifft, dass Literatur ihren Weg von der Unmittelbarkeit zur Vermittlung permanent aufs Neue nachvollzieht und aus diesem mediengeschichtlichen Nachvollzug ihren aktuellen ästhetischen Ereigniswert bezieht, dann sind ihre wesentlichen Ingredienzen vermutlich einer vergleichbaren Permanent-Transformation unterworfen. Was ein Schreibender unter Ausschluss von Lesern – und noch vor dem Dazwischentreten einer Vermittlungsinstanz – fabriziert, löst sich hernach aus dieser Bindung wieder, um Literatur zu werden. Während Text und Leser einander auf dem Rücken des abwesenden Autors sehr nahe kommen können, verschwenden sie kaum einen Gedanken an dasjenige, was diese Nähe, genauer: die Kontemporaneität von Buch und Lektüre, erst ermöglicht hat. Es ist bekanntlich – schon das gewaltsame und zugleich wunderbare Ende des Sängers Orpheus suggeriert diesen Zusammenhang – nur der Tod des Autors, der sein Überleben in der Autorschaft sichert. Von der schreibenden Person hin zum Autor eines Werkes führt zwar eine textgenetisch meist gut rekonstruierbare Verbindungsbrücke, dennoch findet auf dem Wege dazwischen eine wunderbare Wandlung statt. Die Autorschaft eines Autors ist ein kultureller Status, der nicht mit einer empirischen Person in Übereinklang zu bringen ist, auch wenn es der empirischen Person bedurfte, diesen Status hervorzubringen und ihn zu einem Überlieferungsvehikel für ein distinktives Bündel von Texten und stilistischen Merkmalen werden zu lassen. Die Funktion Autorschaft ist von Roland Barthes und Michel Foucault in ihrer geschichtlichen und institutionellen Bedingtheit diskursanalytisch gründlich durchleuchtet worden bis hin an den Rand ihrer Invalidierung.5 Als Ertrag der Debatte, die bemerkenswerterweise mit der Devise vom Tod des Autors erst richtig aufzuleben begann, kann zumindest festgehalten werden, dass Autorschaft ein komplexes Verhältnis von sich äußerndem Subjekt, Schreibtätigkeit, Publikation und öffentlich dokumentierter Rezeption des Publizierten verlangt. Als Diskursfunktion also beschreibt Autorschaft ein Zusammenspiel von gesellschaftlichen Regeln und Akteuren im Hinblick auf eine Vergegenständlichung des schöpferischen Aktes in seinem Resultat, in einer Hervorbringung von bleibender Wirkungskraft. Ist es der Literaturbetrieb, der den Autor zum Autor macht? Ist es der selbsterhobene Anspruch, als Autor anerkannt zu werden? Oder sind es die Produkte, die als Erzeugnisse für ihren Erzeuger sprechen und diesen stellvertretend verkörpern dürfen, ja müssen? Wo übrigens Bezeugen und Erzeugen ein derart enges Verhältnis eingehen, wie im Existenzbeweis des literarischen Schöpfungsaktes, scheint es fast unausweichlich, die Rede vom Autor in ihrer stereotyp männlich markierten Sprachgestalt aufzugreifen. Die männliche Form von des Autors Autorschaft nämlich hat in einem phantastisch zurechtgebogenen Modell biologischer Vaterschaft ihr wirkmächtigstes Vorbild gefunden, bei dem eine vermeintlich autarke Selbst5

Roland Barthes, »La mort de l’auteur« (1968), in: ders., Œuvres complètes, Bd. 2: 1966–1973, Paris 1994, S. 491–495; Michel Foucault, »Qu’est-ce qu’un auteur?« (1969), in: ders., Dits et écrits 1954– 1988, Bd. 1: 1954–1969, Paris 1994, S. 789–821. Vgl. zusammenfassend und mit dem Plädoyer für eine systematische Aktualisierung des »Autor«-Konzepts Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko, »Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern«, in: dies. (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, S. 3–35.

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Fortzeugung des Schöpfers im Werk gekoppelt ist an die gleichzeitige Möglichkeit der Verleugnung ebendesselben Werkes. Ein schlagendes Beispiel für diese Doppelstrategie ist jenes Vorwort, das Cervantes im Jahr 1605, also zur ersten großen Blütezeit neuzeitlicher Buchdruckkultur, seinem Don Quijote mit auf den Weg gab. Dort nämlich versichert er dem direkt angesprochenen Leser, wie sehr er, Cervantes, sich »wünschte«, so wörtlich, »dies Buch, dies Kind meines Geistes, wäre das schönste, stolzeste und klügste, das man sich nur denken kann«. Ginge es aber bei dieser Art Vaterschaft dem Gesetz der Natur zufolge, »nach dem ein jedes seinesgleichen zeugt«, so könnte er, Cervantes, ja wohl nichts besseres erwarten als »die Geschichte eines spröden, knorrigen, launischen Sohnes, den Kopf voll wirrer Gedanken, auf die kein anderer verfallen könnte«. Das Dilemma ist offenkundig: Erweist sich das Buch als ein echter Spross seines Erzeugers, dann hat es zwar unnachahmliche Sonderbarkeit für sich, aber nicht gerade eine makellose Gestalt und eine glanzvolle Zukunft. Um zwischen sich und das Werk eine genealogische Differenz einzubauen, setzt der Autor wenig später die Bemerkung hinzu: »Mag man mich auch für den Vater des Don Quijote halten, so bin ich doch nur sein Stiefvater […].«6 Ist es überhaupt der Autor, der hier spricht? Ist derjenige, der im Text selber die Vaterschaft annimmt und verkörpert, nicht immer schon eine Art Statthalter, eine Ersatzfigur? Die Widmung des Buches an den Herzog von Béjar hatte Cervantes als juristische Person und als königlicher Untertan mit seinem vollen und tatsächlichen Namen unterschrieben. Schon diesen Prolog aber lässt er ungezeichnet; der hier als Sprech- oder Schreibinstanz agiert, ist selber auf der Schwelle zu einer literarischen Figur, indem er in literarischer, fiktionalisierter Form von den Schwierigkeiten des Autors mit dem Vorwort erzählt. Die berühmte Bücherverbrennung, die sodann zu Beginn des Handlungsganges mit Quijotes eigener Sammlung von Ritterromanen veranstaltet wird, führt denselben Cervantes dann nochmals und gleichsam von der komplementären Seite des literarischen Kommunikationsvorgangs ein, indem dabei »die Galatea von Miguel de Cervantes«, als eines der bis dahin bekanntesten Werke des Schriftstellers, namentlich aufgeführt und dann gnadenhalber zu den vom Feuer verschonten Büchern einsortiert wird – mit der Begründung übrigens, man müsse von besagtem Werk erst »den zweiten Teil abwarten, den er [i. e. der Autor] uns versprochen hat«.7 6

7

»Desocupado lector: sin juramento me podrás créer que quisiera que este libro, como hijo del entendimiento, fuera el más hermoso, el más gallardo y más discreto que pudiera imaginarse. Pero no he podido yo contravenir al orden de la naturaleza; que en ella cada cosa engendra su semejante. Y así, ?qué podrá engendrar el estéril y mal cultivado ingenio mío sino la historia de un hijo seco, avellanado, antojadizo y lleno de pensamientos varios y nunca imaginados de otro alguno […]. Pero yo, que, aunque parezco padre, soy padrastro de don Quojote […].« (Miguel de Cervantes Saavedra, El ingenioso hidalgo Don Quijote de La Mancha, hg. von J. J. Allen, Madrid 1983, Bd. 1, S. 67; dt.: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha, hg. u. übersetzt von S. Lange, München 2008, Bd. 1, S. 7) Cervantes, Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 69. »Su libro […] propone algo, y no concluye nada: es menester esperar la segunda parte que promete« (Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quijote de La Mancha [wie Anm. 6], Bd. 1, S. 125).

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Durch sein zweifaches Auftreten mittels Autorname und Werktitel löst sich »Cervantes« im eigenen Text markant von derjenigen Erzählinstanz, die für die fortlaufende Erzählung des Romans verantwortlich ist; diese wiederum muss nach wenigen Kapiteln schon eine Unterbrechung der Diegese durch das vorzeitige Ende des zugrunde liegenden Manuskriptes beklagen, woraufhin sich ebenso zufällig rasch ein zweiter Quelltext eines arabischen Verfassers findet, welchen dann wiederum der diensthabende Erzähler als den »segundo autór«, den zweiten Verfasser des Quijote, vorstellt. Die Verwirrung scheint komplett. Klar ist immerhin, dass die Figuration von Autorschaft das Fiktionsbewusstsein eines sachkundigen Literaturpublikums anregen soll, und dies sowohl mithilfe der Vervielfältigung der erzählenden und textvermittelnden Instanzen wie auch durch die metafiktionale Erwähnung von externen Quellen und bereits vorliegenden Romanprodukten. Wie es des zweiten Autors bedarf, um Autorschaft als begrenzte, beobachtbare Größe in den Text einzuführen, so befördert die Nennung eines zweiten Manuskriptes und/oder eines bereits publizierten Werkes die implizite Einordnung auch des aktuell Gelesenen in die Mechanismen der Buchkultur. Da sich in der entwickelten Buchkultur des 16. und 17. Jahrhunderts immer mehr das Modell der warenförmigen Distribution von Produkten gegenüber den in persönlichem Rahmen erfüllten Auftragsarbeiten durchsetzte, kam dem Buch selbst respektive seiner ›Aufmachung‹ zunehmend die Funktion eines werbenden Appells an ein anonymes Publikum zu. Insofern dienten Maßnahmen wie die bildkünstlerisch ausgebaute Gestaltung der Titelseite sowie die Erzeugung von Interesse durch Spannung verheißende Inhaltsangaben und expositorische Informationen dem Aufbau eines abstrakten literarischen Kommunikationsraumes durch den medialen Träger selbst.8 Indem wir, wie an diesem Beispiel, exponierte Partien literarischer Werke selbst auf ihre Darstellung des Verhältnisses von Autor zu Werk und Leserschaft hin befragen, spielen wir die institutionssoziologische Frage nach den Kommunikationsbedingungen von Literatur in die Binnenkommunikation der Texte zurück.9 Diese Vorgehensweise vollzieht gleichsam die Probe aufs Exempel der oben formulierten These, dass Literatur ihre Institutionalisierung in einem unmittelbar rezeptiven Appell phantasmatisch aufheben muss, um sie dann selbst mit textbasierten Mitteln nochmals ab ovo herzuleiten und wieder aufzubauen. Die Suggestion von Unmittelbarkeit ist hierbei ihrerseits ein fast schon zuverlässiges Symptom für deren Fehlen, d. h. für die Anerkennung der von der Institution Literatur gesetzten Rahmenbedingungen. Das je konkrete Buch erheischt, als einziges anders zu sein als der Rest des Betriebes. Wie diese Doppelreferenz funktioniert – auch dafür taugt die zitierte Cervantes-Stelle zum Exempel. In ihr spricht der Verfasser authentisch, wo andere 8

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Vgl. hierzu Margaret M. Smith, The Title-Page. Its Early Development 1460–1510, London 2000. Ferner: Frieder von Ammon, Herfried Vögel (Hg.), Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen, Münster 2008. Niklas Luhmann, »Literatur als Kommunikation«, in: ders., Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von N. Werber, Frankfurt a. M. 2008, S. 372–388.

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bloße Rhetorik auffahren, so jedenfalls die Fiktion. Als pseudo-spontane Mitteilungsgeste nimmt sie sich das Recht heraus, in ein quasi-intimes Vertrauensverhältnis zum (per definitionem unbekannten) individuellen Leser einzutreten. Das Buch als literarisches Kommunikat zeigt sich in zweifacher Gestalt, geht auf doppelte Weise vor; es fingiert vor-institutionelle Direktheit und Spontaneität und bedarf zum Gelingen dieser Fiktion zugleich der Verabredetheit literarischer Konventionen. Ebenso, wie das literarische Werk es eigentlich mit zweierlei Autorschaft zu tun hat, mit einem faktischen Urheber und einem diskursmoderierenden Begleiter, erweist sich der materielle Träger des Werks, das Buch, seinerseits als ein doppeltes, zwiegesichtiges Medienereignis, ist zweierlei Buch zugleich. Diese Konsequenz ist in Cervantes’ Don Quijote ebenfalls schon vorgebildet, in dessen zweitem Band die Figuren ihren eigenen, frisch aus der Druckerei gelieferten Abenteuergeschichten des ersten Bandes nun als staunende Leser gegenüberstehen. Dass Don Quijote dabei sich selbst (Don Quijote) als einem Gegenstand und Buchtitel wird begegnen können, setzt der von Cervantes systematisch angelegten Verbindung von Außen- und Innensicht des Romans, also von Warenform und Abenteuer, die selbstreflexive Krone auf. Wenn es zutrifft, dass dem Sprachspiel Literatur wesentlich ist, basale Systementwicklungs-Operationen seiner eigenen jahrtausendelangen Institutionalisierungsgeschichte für je neue Nutzergenerationen stets wieder aufs Neue nachzubilden und zu ästhetischen Binnenereignissen werden zu lassen, dann können Beobachtungen zum Literaturbetrieb der Gegenwart auch an jahrhunderteweit zurückliegenden literarischen Selbstreferenz-Konstrukten wie dem soeben besichtigten angestellt werden. Auf diesem Rückweg fortfahrend, nehmen wir nun nochmals einen Zwischenanlauf im Fundus der klassischen Moderne.

2 Autorschaft, so eine erste Zwischenbilanz, ist Selbstkundgabe unter bestimmten Sicherheitsvorkehrungen, mit Maskerade und Stellvertretern.10 Der da sprechend auf die eigene Person aufmerksam macht, hält sich schreibend seltsam bedeckt, bleibt quasi in der Hinterhand. Man kann diese Wendung beim Wort nehmen. Unter dem Decknamen Joe Hinterhand gab sich im privatesten seiner Erzählwerke der Schriftsteller Uwe Johnson als einen »Verunglückten« zu erkennen. Sein Autoren-Double entlehnte er einem Skatausdruck, das »jenen Partner« bezeichnet, »der seine Karten als letzter ausspielt«.11 Noch die kunstvollste literarische Camouflage führt letztlich 10 11

Vgl. Alexander Honold, »Die zwei Körper des Autors. Hofmannsthal, Thomas Mann und die Politik der öffentlichen Einsamkeit«, in: Das Argument 247 (2002), S. 523–534. Uwe Johnson hat dieses Double der Autor-Funktion in metafiktionaler Mehrdeutigkeit inszeniert, wobei die im Schreibprozeß der Jahrestage eingeschaltete, für Max Frisch geschriebene Skizze eines Verunglückten in den Figurenhaushalt der Jahrestage eingreift (vgl. Rolf Michaelis, Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York: ein Register zu Uwe Johnsons Roman »Jahrestage«, Frank-

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zur Frage nach dem wortführenden Subjekt. Im Namen des Autors: Wer spricht? Oder, mit Thomas Mann gefragt: »Wer läutet die Glocken?«12 Die Suche endet immer wieder bei denselben Platzhaltern, die in ungebrauchtem Zustand wie ein leerer Mantel bereitliegen. Die Funktion Autorschaft verwandelt einfache Subjekte in mehrwertige Körper, während sie umgekehrt auch der mehrfachen Beglaubigung durch literarische Verdoppelung bedarf. Seit sich die Erzählkunst vom versgebundenen homerischen Epos löste und mit Herodots Historien die nur schriftgestützte Existenz der Prosaform annahm, war der diensthabende Erzähler für die Leser nicht mehr greifbar – außer im fiktiven Doppelgänger seiner Textpräsenz. »Dies ist die Darlegung der Erkundung des Herodot aus Halikarnaß«, erklärt der erste Satz dieses Geschichten-Werkes, mit dem eine scheingegenwärtige Sprecherinstanz die Abwesenheit des empirischen Autors überspielt.13 Doch ist mit einer solchen in den Text selbst eingearbeiteten Autoren-Signatur der textexterne Status dieser Autorschaft keineswegs referenziell gesichert. Die »Erwähnung des authentischen oder fiktiven Autorennamens«, die aus heutiger Sicht so selbstverständlich wie unentbehrlich erscheint, hat in Antike und Mittelalter, wie Gérard Genette bemerkt, noch keinen etablierten textvermittelnden Ort, da entsprechende paratextuelle Konventionen und auch die medialen Möglichkeiten hierfür noch fehlen.14 Im Präsentationsvorgang, als welchen man den Auftritt eines neuen literarischen Werkes betrachten kann, spielt die Namensnennung des Autors neben derjenigen des Werktitels eine für das Gelingen der intendierten Mitteilung ganz entscheidende Rolle. Das Buch muss einen Namen haben, sein Verfasser ebenso. Jedes literarische Kommunikat ist Signifikationsakt und Signifikationseffekt gleichermaßen. Zur Institutionalisierung des doppelten Kommunikationsraumes der Literatur gehört, dass sich die Existenz des Autors in seinem Autornamen manifestiert, unabhängig von seiner Urheberschaft je konkreter, einzelner Werke. Etwas orakelhaft hierzu Genette: »Die paratextuelle Stellung des Autornamens oder dessen, was als ein solcher fungiert, ist heute gleichermaßen äußerst diffus und fest umrissen.«15 Das kann

12 13 14 15

furt a. M. 1983, S. 125 ff.). Die Figur des als mecklenburgischer Dichter eingeführten Joachim de Catt nimmt in ihre Vita einige, gleichsam rückwärts gespiegelte Züge des empirischen Autors auf: die Herkunftsregion, die Autorschaft sowohl wissenschaftlicher wie literarischer Texte, die Übersiedlung nach Nordamerika und sogar den Wohnsitz am Riverside Drive – mit dieser Disposition versehen, kann Johnson der Figur die Indiskretion seiner Lebenstragödie anvertrauen. Joachim de Catt musste sich zu diesem Zwecke ein »Pseudonym« zulegen, ein »mehrwertiges« (Uwe Johnson, Skizze eines Verunglückten, Frankfurt a. M. 1981, S. 14): Er verfiel auf eine Anleihe bei der Skatsprache, jenen Partner nämlich, der »seine Karten als letzter ausspielt; ›J. Hinterhand‹ nannte sich der Autor« (ebd., S. 16). Thomas Mann, Der Erwählte, in: ders., Gesammelte Werke, 13 Bde., Frankfurt a. M. 1974 f., Bd. 7, S. 9. Herodot, Historien, übersetzt von W. Marg, 2 Bde., München 1983, Bd. I, S. 1 (I, 1). Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, aus dem Franz. von D. Hornig, Frankfurt a. M. 2001, S. 41. Genette, Paratexte (wie Anm. 14), S. 42.

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man wohl sagen. Denn es handelt sich, wie schon bei Cervantes, um eine reichlich paradoxe Angelegenheit. Ein Autor muss einen Namen haben. Das reicht aber nicht. Er muss vielmehr durch Autorschaft sich bereits einen Namen gemacht haben, um überhaupt antreten zu können. Um die Funktionsweise des paratextuell exponierten Autornamens nachvollziehen zu können, unterstellt Genette (und wir folgen ihm hierbei) zunächst einmal den Fall, dass »eine bereits berühmte Person ein Buch hervorbringt, dessen Erfolg auf dieser bestehenden Berühmtheit aufbauen kann. Der Name ist dann nicht ein bloßes Ausweisen der Identität […], sondern stellt seine Identität in den Dienst des Buches«, so Genette weiter. Vorsorglich bemerkt er nebenbei, dass die Deklaration des Autorennamens auf dem Wege der paratextuellen Erwähnung mehr »in den Bereich der juristischen Verantwortung« falle »als in den der faktischen Urheberschaft«.16 Wie dem konkret jeweils auch sei, der Modus paratextueller Autoren-Nennung impliziert eine Reihe starker und folgenreicher Behauptungen, als deren einzige referenzielle Deckung der zu diesem Paratext-Auftritt mitgelieferte Text zur Verfügung steht. Wenn das Werk sich für den Autor verbürgt, so umgekehrt auch dieser für jenes, und damit stellt sich im Effekt jene zirkuläre Form der petitio principii ein, die für die autoreferenzielle Schließung der Begründungswege und Geltungsansprüche von Institutionen hochgradig charakteristisch ist. Da jedoch eine gut im Leben verankerte Institution wie die Literatur fähig sein muss, die Gegenrechnung aufzumachen, stellt diese Rekursionsschleife ihre beiden einander wechselseitig bedingenden Glieder zwischenzeitlich auch je einseitig auf null, um die prinzipielle Eigenständigkeit der je anderen Hälfte suggestiv zu betonen. Nur wenn ein Text auch ohne Ansehung des Autors zu überzeugen vermag, ist er in der Lage, den Nimbus einer hochrangigen Autorschaft zu bestätigen oder allererst zu kreieren. In der Umkehrung dessen wäre ein Autornamen wiederum nur dann wirklich als solcher bedeutend zu nennen, wenn er der jederzeitigen Bestätigung durch zusätzliche Beweise in Gestalt weiterer vorgelegter Werke entraten könnte. ›Große‹ Autorennamen fungieren so gesehen als Werke eigenen Rechts, die empirisch weder falsifiziert noch substanziell untermauert werden können. Diesen Status zu erlangen, bedarf es nun wiederum einer Überwindung der institutionell signifikanten Hürde des so genannten zweiten Buches. Ab dem zweiten Buch nämlich stehen Autor und Werk je für sich alleine, weil sie nicht genötigt sind, einander wechselseitig zu stützen. Diesmal nicht mehr, das vorige Mal hingegen schon. Für Antike und Mittelalter ist das Anonymat meist auf den Mangel an Informationen zurückzuführen, weniger auf eine gewollte Ausblendung des Autornamens. Das 18. Jahrhundert hingegen kennt die paratextuelle Stelle der fälligen Namensnennung gut genug, um zur Verfasserfrage einfach zu schweigen; statt dessen keimt die Mode der anstandsbedingten respektive politisch motivierten Geheimhaltungstechniken auf. Mit ihr umgehen Autoren das Problem, für ihre Verfasserschaft zur Verantwortung gezogen zu werden. Wieder anders, nämlich aus gegenteiligen Mo16

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tiven, kann die Zurückhaltung des Autornamens geradezu die Neugier auf seine Preisgabe stimulieren. Oder zur ästhetischen Botschaft gehören, indem diese das Sprudeln einer authentischen Quelle verheißt. Der pseudo-autobiographische Roman Robinson Crusoe musste anonym erscheinen (bzw. eben unter dem der Diegese entlehnten Pseudonym seiner Hauptfigur), um die rezeptionsleitende Fiktion des authentischen Schiffbruch-Berichts nicht zu desavouieren. So können manche Bücher ihre moralische Wirkung desto besser entfalten, je weniger ihnen das literarische Artefakt schon prima vista anzumerken ist. Defoe spielt aber zugleich auch mit ›seiner‹ Autorschaft, indem er sie als Leerstelle markiert und durch andere seiner Publikationen in ein sowohl binnenliterarisches wie literaturbetriebliches Verweissystem integriert.17 Einen beachtlichen Musterfall stellt der (nach späterem allgemeinen Kenntnisstand von Jane Austen verfasste) Roman Sense and Sensibility aus dem Jahre 1811 dar, dessen Anonymat der dahinter verborgen bleibenden Verfasserin dazu dient, diesen eingängigen Romantitel hernach durch eine raffinierte Verschiebung aus einem Buchnamen in einen Autornamen umzuwandeln.18 Denn nur zwei Jahre nach diesem Erfolgstitel (die kurze Zeitdistanz ist hierbei durchaus von Belang) erscheint aus derselben Feder der wiederum breite Aufmerksamkeit findende und mit eingängigem Titel versehene Roman Pride and Prejudice, und dieser trägt anstelle des Autornamens im Paratext die formelhafte Paraphrase »By the Author of Sense and Sensibility«.19 Damit sind wir beim Kern des mit diesen Überlegungen vorzutragenden Arguments, bei der Frage nach Sinn und Funktion der Kategorie des zweiten Buches. Warum und inwiefern bedeutet die umschreibende Benennung mithilfe des Vorgängertitels eine Errungenschaft im Prozess der Institutionalisierung des Kommunikationssystems Literatur? Was der Verweis auf den früheren Romanerfolg als erstes signalisiert, ist die Durchsetzung eines bestimmten Personalstils, der durch diese objektivierende Rekurrenz mittels eines Zweit-Vorkommens schon zu einer Art Markenzeichen werden kann, zumindest zu einem Faktor der die Rezeption positiv verstärkenden Wiedererkennung. Zweitens aber bekundet das Zurücktreten (oder vielmehr: die vollständige Ausblendung) des bürgerlichen Verfassernamens als publikatorische Geste einen intendierten Hinlenkungseffekt der öffentlichen Aufmerksamkeit auf 17

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Autorname und literarische Publizität sind in Defoes schriftstellerischer Karriere ohnehin aufs Engste miteinander verwoben. So veranlassten die zahlreichen Nachauflagen und Raubdrucke seines satirischen Gedichtes über The True-Born Englishman (1701) den Verfasser, hinfort seinem Nachnamen Foe das nobilitierende »De« hinzuzusetzen, unter dem seine Autorschaft dann kanonisiert wurde (vgl. Philip Nicholas Furbank, William Robert Owens [Hg.], The canonisation of Daniel Defoe, New Haven u. a. 1988). Sense and Sensibility. A novel. By a lady, printed for the author, by C. Roworth, Bellyard, Templebar, and published by T. Egerton, Whitehall 1811. Vgl. Jane Austen, Sense and Sensibility: authoritative text, contexts, criticism, hg. von C. L. Johnson, New York, Norton 2002. Pride and Prejudice. A novel. In three volumes. By the Author of »Sense and Sensibility«, London, printed for T. Egerton, 1813. Vgl. Jane Austen, Pride and prejudice: an annotated edition, hg. von P. Meyer Spacks, Cambridge (Mass.) 2010.

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die Bücher selbst. Sie sollen die kommunikative Gemeinschaft zwischen der Autorin und ihrem Publikum stiften, nichts sonst. Nun würde man vielleicht spekulieren wollen, die Autorin hätte durch ein gendertechnisch unmarkiertes Publishing den seinerzeit möglicherweise stigmatisierenden Konnotationen weiblicher Autorschaft entgehen wollen – aber weit gefehlt, trug doch das Vorgängerwerk in seiner anonymisierenden Verfasserzeile den eindeutigen Hinweis »By a Lady«.20 Klar ist jedenfalls auch, dass Jane Austen als Frau eine erhöhte Sensibilität für diejenige Diskursschwelle haben musste, über die hinweg ihre empirische Person als Urheberin im textgenetischen Sinne erst zur autorschaftlichen Instanz im institutionellen Sinne sich transformieren konnte. Eine formalisierte Diskursposition innerhalb des institutionalisierten Betriebes, nämlich diejenige als »the author«, das ist es, was sie mit der deiktischen Referenzkette vom zweiten Buch auf das erste zurück anstrebt. Da die Verweiskette von Buch zu Buch aber von einer personalen Paraphrase zu einem Anonymat führt und dort endet, kann es weder zur fremdreferenziellen Erdung der literarischen Kommunikation kommen noch zu ihrer selbstreferenziellen Schließung. Weiterhin bleibt also die Diskursurheberschaft innerhalb der Institution ungeklärt und schickt daher unablässige implizite Aufforderungen an die Umwelt (das Publikum), die doppelt markierte Lücke endlich zu füllen. Die metonymische Substitution von Autor durch Werktitel und vice versa wird zum offenen Rate- oder Maskierungsspiel, an dem sich Wissende, Ahnende und Nichtsahnende gleichermaßen beteiligen können. Dem System Literatur eignet eine kommunikative Unschärfe, die ihrerseits freilich ebenfalls nach einer gewissen Institutionalisierung verlangt. Diese ist spätestens dann erreicht, als Walter Scott, seines Zeichens in der Doppelrolle von geachtetem Anwalt und anerkanntem Dichter längst im bürgerlichen Leben etabliert, den ersten seiner publikumswirksamen Historien-Romane vorlegt und dabei auf die von Austen etablierte Form der paratextuellen Verweiskette zurückgreift. Waverley also erscheint, um es angemessen paradox zu formulieren, mit demonstrativem Anonymat, die folgenden Romane signiert der Verfasser mit der »offenbar von Jane Austen übernommenen, nun aber ruhmesträchtigeren und imitationsgefährdeteren Formulierung« »Vom Autor des Waverley«.21 Damit hat Scott eine zweite Diskursschwelle überschritten, diejenige nämlich von dem die Autorschaft bestätigenden Zweitbuch zu der ein literarisches Markenzeichen festsetzenden Serienproduktion. Scott fügte dieser eher simplen Form des Anonymats ab 1816 ein, so die Einschätzung Genettes, »recht kompliziertes Zusammenspiel von Pseudonymen, unterschobenen Autoren oder imaginären Vorwortverfassern hinzu«.22 Wiederum ist es bei Scott das Ereignis des zweiten Buches, das dieses intrinsische Marketing mithilfe der einander die Stafette weiterreichenden Texte erst möglich macht. Wie schon bei Austen wird mithilfe des zweiten Buches als einer publizistischen Wiederholungstat ein Katapult bedient, von dessen freigesetzter Federspan20 21 22

Vgl. zu Austens Autorschafts-Camouflage u. a. auch Ian Watt, »On Sense and Sensibility«, in: ders. (Hg.), Jane Austen. A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs, NJ 1963, S. 41–51. Genette, Paratexte (wie Anm. 14), S. 47. Ebd.

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nung eine Reihe von Folgeproduktionen wegschnellt, die sich systemisch in einem Markennamen stabilisiert und dies dadurch zum Ausdruck bringt, dass sie ohne bürgerliche Identitäts-Bekundung und damit ohne literaturexterne Beglaubigung auskommt. Anstelle der paratextuellen Funktion, den Kontakt zwischen Buch und Umwelt zu schließen, tritt die systemimmanente Verweiskette von Literatur auf Literatur. Das zweite Buch ist das für diese Umstellung von Fremd- auf Selbstreferenz entscheidende. Warum das so ist, dafür lassen sich, wie gesehen, sowohl institutionssoziologische (außengeleitete) als auch poetologische (intrinsische) Gründe oder zumindest Plausibilisierungsaspekte angeben.

3 Zur textanalytischen Konkretisierung des Ausgeführten will ich nun die skizzierten Überlegungen zur institutionellen Begründung von Autorschaft durch Literatur (und das meint eben: durch das je zweite unter den veröffentlichten Büchern) an zwei epochal differierenden Fallbeispielen verdeutlichen, in welchen auf je unterschiedliche Weise die nachträgliche literarische Geburt des Autors vom Text selbst in Szene gesetzt wird. Für Dante Alighieri (mein erstes Beispiel), den aus der Vaterstadt Florenz verbannten Dichter, ist die Commedia, die seit Boccaccio die ›göttliche‹ genannt wird, im numerischen Sinne nicht erst das zweite Buch. Dantes Weltgedicht besteht aus drei großen Abteilungen, die Höllenwanderung, Fegefeuer und himmlische Erhöhung des Protagonisten in bizarr ausgestalteten Szenen schildern. Dante selbst hat sich als Figur und Icherzähler in die Gesänge seiner Jenseitswanderung hineingesetzt und nutzt die Jenseitsfiktion unter anderem dazu, die eigene persona, und damit auch seine in Ungnade gefallene soziale Existenz, mit den berühmtesten Dichtergestalten der Vergangenheit in Kontakt zu bringen und dadurch symbolisch zu rehabilitieren.23 Eine besondere Bedeutung hat dabei Vergil, der dem in der Jenseitswelt orientierungslosen Dante beisteht und ihn kundig durch die Welt des Inferno, hernach sogar noch durch das Purgatorio begleitet. Der antike poeta vates Vergil, der dem spätmittelalterlichen Poeten Dante auf der abenteuerlichen Jenseitserkundung vorangeht, gibt in der Commedia die für die gesamte Literatur der Neuzeit folgenreiche Mustergestalt des Dichters als Führer ab. Indem Dante diese narrative Konstruktion der gemeinsamen Jenseits-Wanderung wählt, rückt er nicht nur die eigene Person, sondern auch das hierbei sich darstellende Werk in einen denkbar engen Konnex zum großen Dichterheros der lateinischen Antike und zu Vergils für das Selbstverständnis des imperialen Rom konstitutivem Gründungs-Epos, zur Aeneis, deren geschichtliches Telos gleichfalls durch eine an entscheidender Scharnierstelle unternommene Exkursion in die Unterwelt fundiert 23

Vgl. Heinz-Willi Witschier, Dantes Divina Commedia. Einführung und Handbuch, Frankfurt a. M. 2004.

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wird. In diesem Sinne sieht sich Dante – und so verortet die gesamte Komposition ihn – als Autor des zweiten Buches, als Nachfolger und Fortsetzer der vergilschen Aeneis. Vergil wiederum erscheint in dieser typologischen Konstellation nicht nur als Führer und Vorläufer Dantes, sondern seinerseits als legitimer Nachfolger des Stammvaters der abendländischen Literatur, als Fortsetzer Homers und der beiden homerischen Epen. Wie die Aeneis den Sachgehalt und die Narrationsformen von Ilias und Odyssee in ihrer zweiteiligen Werkanlage zu vereinigen sucht und dadurch eine epochale und kulturgeographische »translatio« von der Ägäis nach Latium vornimmt, so bekräftigt Dante mit seinen strukturellen Anleihen an die Aeneis den eigenen Anspruch und denjenigen seiner Zeit, mit dem Weltgedicht seiner Commedia einer neuen Sinnordnung Ausdruck und Geltung zu verleihen. Die Commedia steht in ihrem dreiteiligen Gang unter dem figurierenden Mehrwert der vierfachen Exegese und der eschatologisch zielgerichteten Heilsgewissheit.24 Sie weist zu jeder Zeit und an jeder Stelle ein synchrones topologisches Sinngefüge auf, und von Beginn an war dem in seiner Lebensmitte vom Wege abgekommenen Wanderer das Ziel der Läuterung und des Aufstieges als leuchtende Zukunftsverheißung vor Augen. Erst nach seinem Durchgang durch das Inferno – mithin erst im zweiten, mittleren Buch der Commedia – darf der Wanderer Stück für Stück seines sündhaften Lebens ablegen. Schon aus der Aufteilung der Jenseits-Regionen ergibt sich, dass für den Vorgang der reuevollen Umkehr nur der mittlere Bereich, das Purgatorio, in Betracht kommt, da in der Hölle die Tugenden, im Paradies die Laster als Gegenkräfte fortfallen. Die erzählerische Durchgestaltung der Läuterung bei Dante nimmt mit dem Besteigen des terrassenartig angelegten Läuterungsberges handlungskonstitutive Form an. Dante ist weiterhin mit seinem schon seit der Durchquerung des Höllentrichters bewährten Begleiter Vergil unterwegs. Allerdings ist der antike Dichter wie alle Gestorbenen schattenlos, was nun, wieder am Tageslicht, deutlich hervortritt. Während das System der Höllenstrafen die begangenen Sünden ahndet, geht es im stufenweisen Ritual der Läuterung um das Bereuen verderbter Neigungen.25 Unter

24

25

Vgl. Erich Auerbach, »Figura«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, Bern, München 1976, S. 55–92. Auerbach setzt die »figurale Methode« der Deutung (wie auch der ihr vorausgehenden mehrschichtigen Konzeption) von Texten geistesgeschichtlich als eine »christlich-mittelalterliche« Errungenschaft von der antiken und paganen Form der Allegorie deutlich ab. Da die figurale Auffassung sich am Status »realprophetischer« Aussagen des Alten Testaments orientiere, d.h. diese als »Vorformen und Figurationen Christi« (S. 76) interpretiere, ohne ihren ursprünglichen geschichtlichen Bezugsrahmen aufzugeben, sei die figura als Sinn- und Deutungsmodell der Sache nach sowohl von der allegorischen (den Wortsinn ins Begriffliche auflösenden) wie von der symbolischen (den Wortsinn ins Magische rückübersetzenden) Bedeutungsgebung abzugrenzen. Von Dantes Commedia kann unter diesen Voraussetzungen gesagt werden, dass sie die »mannigfachsten Kreuzungen aus figuralen, allegorischen und symbolischen Formen« ins Werk setzt und zu einem synchronen Gebilde vereinigt, das »die mittelalterliche Kultur abschließt und zusammenfasst« (S. 84). Zur narrativen Gestalt der »moralischen Ordnung« in Dantes Divina Commedia vgl. Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt (1929), Berlin u. a. 22001, S. 131 ff.

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den ambulierenden Seelen des Fegefeuers ist Dante der im physischen Sinne einzige Mensch, der Rest besteht aus Geistererscheinungen, oder sagen wir: aus Literatur. Die Läuterungsprozedur mit ihren spektakulären Aufstiegsriten hat etwas genuin Theatrales; sie vollzieht sich wie auf einer Bühne, bei der man um die symbolische Platzhalterfunktion der Akteure und vollzogenen Handlungsschritte weiß. Den dogmatisch relevanten Unterschied zwischen pagan-antiker Jenseitstopographie und christlichem Heilsweg hat Dante, darauf jedenfalls zielt meine Lektüre hier ab, in einen szenischen und narrativen modus operandi transformiert. Anders gesagt: Zu Dantes Zeit besteht die poetische Herausforderung darin, die Eigenlogik des Ästhetischen und die hegemoniale theologische Sinnordnung politisch schadlos und möglichst ohne literarische Einbußen miteinander in Einklang zu bringen. Die mehrfachen allegorischen Deutungsebenen der Darstellung bewegen sich in einem kommunikativen Rahmen, der seinerseits wiederum einem typologischen Konzept der »zwei Bücher« aufruht. Das erste und wichtigste Buch ist die Bibel mit ihrem heilsgeschichtlichen Geltungsanspruch (wiederum kulminierend im zweiten Teil, dem Neuen Testament), doch korrespondiert der biblischen Wahrheit als deren weltzugewandte Seite das ontologische Reich des zweiten Buches, des Buchs der Natur. Dieses zweite Buch ist, um in der Denkwelt des Purgatorio zu reden, dasjenige, welches Schatten zu werfen vermag, denn es besteht aus »bodies that matter« ( Judith Butler). Das Buch der Natur umfasst die ganze in die Wirklichkeit empirischer Dinge und ihren Gestaltreichtum sich entfaltende Gottesschöpfung. Sowohl allegorisch wie epochal nimmt Dantes Purgatorium mehr und mehr die ästhetische Verfassung eines solchen zweiten Buches an, das sowohl zur Antike wie zur Theologie eine eigenständige Replik aufbietet. Als guter Christ kann Dante nicht umhin, die Erlangung des Seelenheils an das exklusive Kriterium der Taufe zu binden, die insofern als eine Wasserscheide im Wortsinne zwischen paganer Antike und katholischer Gegenwart fungiert – und ausgerechnet den treuen Begleiter vom weiteren Avancement auf der Skala von Läuterung und Erlösung kategorisch ausschließt. Während Dante mit seinem Schatten eine unfreiwillig komische Figur abgibt, ist Vergil, so gesehen, der tragische Held des Läuterungsberges. Im Unterschied zum Schicksal Vergils genießt der Poet Statius (Publius Papinius Statius, 40–96 n. Chr., Dichter der Thebais) den aus christologischer Sicht wichtigen Vorteil, dass er sich noch zu Lebzeiten hat taufen lassen können. Das ermöglicht ihm, die Sühnestationen des Purgatoriums selbst zu durchmessen, die Vergil per definitionem verwehrt sind. Das Wanderer-Paar Dante und Vergil hatte Statius angetroffen, nachdem es im 20. Gesang zu Zeugen eines beträchtlichen Erdbebens geworden war, das, wie die beiden hernach erfahren, auf dem Läuterungsberg immer dann ausgelöst wird, wenn ein Bußfertiger eine Ebene der Sündentilgung erfolgreich durchlaufen hat und in die nächst höhere Terrasse des Berges aufgenommen wird. »Hier bebt es nur«, erklärt ihnen der Ortskundige im 21. Gesang des Purgatoriums, »wenn eine Seele rein

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/ Und sich erhebt und strebt aus ihrem Kreise«.26 Statius versichert den beiden, in der Welt des Purgatoriums geschehe nichts, was nicht von einer alles umgreifenden Sinnordnung so vorgesehen sei: »Des Berges Religion / Kennt nichts, drum nicht der Ordnung Band geschlungen«.27 Modern und geradezu säkular interpretiert, enthält diese Kernpassage zur Beschreibung des Purgatoriums eine Art autopoetisches Manifest, deklariert sie doch die Eigengesetzlichkeit der Stufenordnung und ihrer Permeabilität als das Grundprinzip der hier obwaltenden topologischen Konsekution. »[N]ichts, drum nicht der Ordnung Band geschlungen«: Keinerlei Schwankungen und Zufällen unterworfen soll der Läuterungsberg sein. Gleichwohl kommt es in der Folge zu einer Szene von bemerkenswerter Kontingenz; rezeptionsästhetisch gesehen, kann man auch von Komik sprechen. Denn als Vergil und Dante mit Statius näher ins Gespräch kommen, zeigt sich, dass Statius, wiewohl er den Fast-noch-Zeitgenossen Vergil als sein unerreichtes Vorbild rühmt, offensichtlich gar nicht weiß, wen er da gerade vor sich hat. Dante, der die Peinlichkeit der Situation empfindet, beginnt, trotz eines streng verweisenden Seitenblicks des Lehrmeisters Vergil, hemmungslos zu lachen.28 Es ist dies die einzige Stelle im Fegefeuer, an der Heiterkeit aufkommt. Diese Heiterkeit hat jedoch eine weitreichende entlastende Funktion; sie ermöglicht es Dante später, kurz und schmerzlos in die Nachfolge Vergils zu treten, ohne hierüber Gram oder Scham zu empfinden. Und genau dann, als im 30. Purgatorio-Gesang Vergil, Dantes »dolcissimo patre«,29 entschwindet, wird der Icherzähler und Protagonist dieser Jenseitswanderung von einer hilfreichen Engels-Figur beim Namen gerufen und fürsorglich weitergeleitet in Richtung des irdischen Paradieses. »Dante«, so nennt man ihn an dieser einzigen Stelle des Gedichts,30 ist folglich eben dadurch zu einem Autornamen eigenen Rechts geworden, dass er den paganen Dichter definitiv abgelöst hat und selber zum kreativen Organ eines neuen Gründungsgedichts geworden ist. Seine Autorschaft der Commedia ist hierdurch nicht nur pragmatisch und äußerlich, sondern textintern legitimiert und auf diese Weise als zweites Buch ans Diskursuniversum zeitloser Literatur angeschlossen.

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Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, übertragen von W. G. Hertz, München 1982, S. 250 (Purgatorio XXI, vv. 58–60). Vgl. Dante Alighieri, La Commedia – Die göttliche Komödie, italienisch/ deutsch, in Prosa übersetzt und kommentiert von H. Köhler, Bd. 2: Purgatorio – Fegefeuer, Stuttgart 2011, S. 416 f. Dante, Die göttliche Komödie, Übertragung Hertz (wie Anm. 26), S. 249 (Purgatorio XXI, vv. 40–42). »Solang wie einer blinzelt, mußt ich lachen« (ebd., S. 251 [Purgatorio XXI, v. 109]). Dante, Die göttliche Komödie, Übersetzung und Kommentar Köhler (wie Anm. 26), Bd. 2, S. 592 (Purgatorio XXX, v. 50). Ebd., Bd. 2, S. 594 f. (Purgatorio XXX, v. 55).

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4 Weniger epochal, dafür klar im germanistischen Kanon der Moderne verankert, präsentiert sich mein zweites Fallbeispiel. »Es gibt ein trauriges Künstlerschicksal, vor dem jeder sich fürchten muß, dem es auch nur von weitem droht: nämlich bis zum Tode und in die Unsterblichkeit hinein der Autor eines erfolgreichen Erstlingswerkes zu bleiben.«31 Wer ist gemeint? Diese Sätze von Thomas Mann stammen aus einem Beitrag über Gabriele Reuter, eine Autorin, von der heute allenfalls noch ihr verwichener Erfolgstitel Aus guter Familie erinnerlich ist – ihr Erstling, dem sie in der Tat kein zweites, gleichwertiges Werk mehr an die Seite zu stellen vermochte. Manns einfühlsame Sätze des Jahres 1904 konnten zu jener Zeit aber durchaus ebenso als ahnungsvolle Klage in eigener Sache verstanden werden, musste doch der Verfasser selbst damals und sogar für geraume Zeit befürchten, als der Autor eines erfolgreichen, aber unübertrefflichen Erstlingswerkes in die Literaturgeschichte einzugehen. Ex post erscheint diese Besorgnis zwar kaum vorstellbar freilich angesichts eines Œuvres, das in der neuen Großen Frankfurter Ausgabe samt Tagebüchern und Briefen stolze 38 Bände umfassen wird, darunter sieben ausgewachsene Romane und eine Roman-Tetralogie. Für den hoffnungsvollen, noch nicht einmal dreißigjährigen Nachwuchsautor des S. Fischer Verlags galt in den Jahren nach 1900: ein Mann, ein Buch. Aber erst das zweite Werk ›macht‹ den Autor, kann einen vom singulären Produktionsakt ablösbaren Anspruch auf Autorschaft begründen. Nach den Buddenbrooks ließ der erhoffte nächste große Wurf lange auf sich warten, ihm gingen etliche Fehlversuche, gescheiterte Projekte und pflichtschuldigst zu Ende gebrachte Ausflüge ins Halbgelungene voraus. Der Ruhm seines zur Jahrhundertwende erschienenen Romanerstlings drohte dem Autor zur Bürde, seinem weiteren Schaffen zum Hemmnis zu werden. Hatte der angehende Bohemien jene kragensteife Welt der hanseatischen Kaufleute, der Handelskontore und Familienstammbücher nicht in Italien endgültig hinter sich gelassen, indem er sie seinem Roman einverleibte? Die Eindrücke aus der Kindheit und mehr noch die Erzählungen der Altvorderen hatten die Buddenbrooks zu einer frühreifen, an sozialer Wirklichkeit reichhaltigen Milieustudie gemacht; nach diesem Stoffe hatte der Autor nicht lange zu suchen brauchen. Tonio Kröger, aus den folgenden Erzählungen herausragend, wirkt in manchem wie eine Dublette der Leidensgeschichte Hanno Buddenbrooks. War der autobiographische Vorrat damit bereits aufgezehrt? Zwar mochte mit dem Familienroman die Befreiung von der Familie gelungen sein, doch wer oder was konnte den Autor sodann von der literarischen Hypothek des Familienromans befreien? Noch die schwedische Verleihungsurkunde zum Nobelpreis von 1929, in der »förnämligast« (»vornehmlich«) der Roman des Fünfundzwanzigjährigen als preiswürdige Leistung 31

Thomas Mann, »Gabriele Reuter«, in: ders., Werke, Briefe, Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, hg. von H. Detering u. a., Frankfurt a. M. 2002 ff., Bd. 14.1: Essays I. 1893–1914, S. 61–72, hier S. 61.

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angeführt wird, verlängerte den Schatten des Erstlings.32 »Was ist der Ruhm?«, seufzte Thomas Mann im Reuter-Beitrag von 1904: »Ein Mißverständnis.«33 Die Fama formt den Autor nach fremdbestimmtem Bilde zur öffentlichen Person, wovon dann wiederum Imaginationskraft und Schreibweise nicht unbeeinträchtigt bleiben. Zumindest ließ die Vorgabe der Buddenbrooks völlig offen, wie und womit es nun weitergehen sollte, nachdem der Autor zu einer Größe des literarischen Lebens geworden war. Wo würde er nun seine Sujets finden, welchen Habitus künftig einnehmen, welche Kunsttendenz vertreten? All das eröffnete tausend Fragen, Möglichkeiten und Irritationen zugleich. Gewiss war nicht einmal, ob er weiterhin das Genre des Romans und die Formen der novellistischen Prosa als seine eigentliche Domäne betrachten sollte. Im Nachhinein freilich lassen sich solche Probleme nur gegen die übermächtige Vorstellung des arrivierten Großschriftstellers aufwerfen, gegen die starke Suggestivität des stets so gelassen wirkenden, typischen Thomas-Mann-Tones, der anscheinend selbst nach den grundstürzenden Erfahrungen zweier Weltkriege seine Figuren mit der gleichen ironisch-mokanten Behaglichkeit in Szene zu setzen beliebt wie im Frühwerk. Der Werdegang und die Schreibweise Thomas Manns sind, wie könnte es anders sein, von gewaltsamen Einschnitten und inneren Krisen durchzogen. Dennoch hat der Schriftsteller, allen Brüchen und Zäsuren zum Trotze, dem Faktor äußerer Kontinuität ein hohes Gewicht beigemessen. Im Werke scheinen sich die Verwerfungen der Zeit zu glätten; tun sie es wirklich? Den Zauberberg, im Sommer 1913 begonnen, mehrfach von Kriegsbeiträgen unterbrochen und im Herbst 1915 dann ganz beiseite gelegt, nahm sich Thomas Mann zu Ostern 1919 erneut und in feierlicher Geste vor. Im Falle der im letzten Vorkriegsjahr abgebrochenen Arbeit am Felix Krull sollte sich die bis zur Wiederaufnahme vergehende Zeitspanne gar über mehrere Jahrzehnte erstrecken. Das Schicksal dieser Werke, deren Schaffensprozess nicht geradlinig verlief, sondern durch Abbrüche und Reprisen bestimmt ist, zeigt jedenfalls eines ganz deutlich: dass in der Biographie dieses Schriftstellers die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg von besonderer Bedeutung waren; auf sie kommt der Autor immer wieder zurück. Thomas Mann experimentierte, war auf der Suche nach neuen Formen und Wirkungsräumen. Im Hintergrund schwebte, die Venedig-Novelle verrät es, die Vorstellung des neuen Nationalautors. Da gab es neben dem missglückten Debüt als Bühnenautor allerlei Novellenprojekte und Romanpläne, deren Themen und Stoffe ins Große zielen: eine Fürstengeschichte, der Faustus-Stoff, die Karriere eines Hochstaplers. Manche von ihnen hat Thomas Mann später fertiggestellt, andere, ihre Unrealisierbarkeit eingestehend, der Figur des Schriftstellers Gustav von Aschenbach übereignet. Da war ferner der Roman Königliche Hoheit, eine in ihrem Narzissmus allzu offensichtliche Imagination der symbolischen Selbsterhöhung. Ei32 33

Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: ders., Werke (wie Anm. 31), Bd. 1.2.: Kommentar von E. Heftrich, S. Stachorski unter Mitarb. von H. Lehnert, S. 225. Mann, »Gabriele Reuter« (wie Anm. 31), S. 62.

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ner glücklichen Übereinkunft von Geist und Macht, von Tradition und Geld wird hier der Boden bereitet auf eine Weise, die mit merklichen Einbußen an logischer Plausibilität und erzählerischer Spannung verbunden ist. Aber die Hauptlast der Ambitionen tragen in dieser Zeit Thomas Manns nichtfiktionale Wortmeldungen, seine verstreut publizierten Artikel und Aufsätze, vor allem die großangelegten Notizenkonvolute, deren umfänglichstes sich unter dem Banner des nie realisierten Buchprojekts über Geist und Kunst ansammelte. Die Dokumentation der essayistischen Beiträge unterstreicht das Verzweigte und Verzettelte, die ratlosen Suchbewegungen jener Jahre. Die Essays und Notizen sind »Teil jener Orientierungsversuche [...], die Thomas Mann in der krisenhaften Phase nach dem Erfolg der Buddenbrooks und um die Zeit seiner Eheschließung unternahm.«34 Das letzte Jahrzehnt vor dem Krieg war für Thomas Mann eine Zeit der sozialen Stabilisierung und Etablierung, zugleich allerdings eine Phase der künstlerischen und geistigen Verunsicherung. Vorerst war allenfalls daran zu denken, dem Zwiespalt dadurch etwas Luft zu verschaffen, dass man ihn an fiktive Existenzen wie die des Münchner Schriftstellers Gustav von Aschenbach delegierte. Die Venedig-Novelle erscheint am Höhepunkt und zum Ende eines Krisenjahrzehnts, für das eine bemerkenswerte Diskrepanz von überschießenden Projekten und vorweisbaren Resultaten zu verzeichnen ist. »Aus keiner Phase haben wir so viel Liegengebliebenes, nie Fertiggestelltes«, konstatiert Hermann Kurzke in seiner Thomas-Mann-Biographie.35 Heinrich Detering betont in seinem Kommentar des ersten Essay-Bandes den Bruch, der, mit der Weltkriegsprosa einsetzend, die Orientierungsversuche des frühen Thomas Mann von den flagranten patriotischmilitanten Verlautbarungen des mittleren trennt.36 Es ist allerdings die Frage, inwiefern solche geschichtlichen Abschnitte oder auch ›organologische‹ Periodisierungen nach dem Muster des Dreischritts von Frühzeit, Reife und Spätwerk auf die Werk- und Lebensgeschichte Thomas Manns überhaupt sinnvoll anwendbar sind. Dagegen spricht nicht nur der lange Atem der epischen Großprojekte, sondern, etwa im Falle des Zauberberg, auch die bewusste Wiederaufnahme des Liegengebliebenen über die doppelte Zeitschwelle von Krieg und Republikgründung hinweg. Dagegen sprechen vor allem die zahlreichen Kontinuitäten im Detail, die Entlehnungen und Übernahmen prägnanter Formulierungen und bedeutungstragender Motive aus früheren eigenen (und natürlich auch fremden) Texten. Oft handelt es sich um Anklänge und Reprisen, die sogar zwischen Klartext und Fiktion die Seite wechseln. So werden dem Zauberberg-Philosophen Settembrini, ganz Aufklärer und Menschheits-Pädagoge, Phrasen in den Mund gelegt, deren rhetorische Überdrehtheit Thomas Mann selbst in dem Zeitschriftenbeitrag Der Literat Ende 1912 noch nicht als solche gebrandmarkt hatte, sondern mit eigener Verve vertrat; es bedurfte hier nur einer geringen Drehung des tendenziell schon Angelegten, um die Suada zur Überzeichnung 34 35 36

Thomas Mann, Essays I. 1893–1914, in: ders., Werke (wie Anm. 31), Bd. 14.2: Kommentar von H. Detering unter Mitarb. von S. Stachorski, S. 134. Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999, S. 178. Vgl. Mann, Essays I (wie Anm. 34), S. 134, S. 179.

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geraten zu lassen. Andersherum gesehen, wirft das spätere Schicksal der Phrase im Munde Settembrinis einen rückwärtigen Schatten auf den frühen Essay, entlarvt des Autors Plädoyer für die Literaten-Seite als nur halbgare Geste und unverbindlich intonierte Meinung. Rollenprosa eben, hier wie dort. Der prinzipielle Literatur-Vorbehalt gilt selbst dann (und gerade dann), wenn es ernst wird. Es gebe »nur einen wirklich ehrenhaften Platz« in dieser Kriegszeit, so teilte Thomas Mann in der Guten Feldpost vom Oktober 1914 mit, und zwar jenen im Schützengraben.37 Stolz führt der Schriftsteller Briefzeugnisse junger Soldaten an, die ihm versicherten, erst im Felde sei ihnen die innere Wahrheit der Novelle vom Tod in Venedig wirklich aufgegangen. Als »Geschichte vom Tode« war die Heimsuchung des Schriftstellers Gustav von Aschenbach offenbar auf die existenzielle Grenzsituation der Fronterfahrung übertragbar;38 jedenfalls beteuerte das die erhaltene »gute Feldpost«. Thomas Mann nimmt die Zuschriften zur Bestätigung dafür, »daß mein Denken und Dichten nicht ohne Beziehungen zu den Ereignissen war und ist«.39 Die Nation brauchte einen Dichter – und hier hatte sie ihn doch bereits. Die Größe des geschichtlichen Augenblicks erheischt den Vergleich mit dem Vorbild Goethes, der dank seiner Sensibilität nicht nur »den Barometerstand unmittelbar empfinden« konnte,40 sondern eines Nachts in seinem Weimarer Schlafzimmer »auf irgendeine natürlich-mystische Art das Erdbeben von Messina«41 verspürt haben wollte – so Thomas Mann in seinem Kriegsbeitrag für das Novemberheft 1914 der Neuen Rundschau. Der Dichter als Seismograph, der das fernste Beben vermerkt: So hatte schon Hofmannsthal das zeitgemäße Amt des Poeten beschrieben.42 Wie so viele Autoren war auch Thomas Mann im Taumel der Mobilmachung der schmeichlerischen Suggestion erlegen, nicht nur gebraucht zu werden, sondern beauftragt zu sein. Sein Publikum, das waren nun die »Kämpfer für Deutschland, freiwillige Schützen, [...] adelige und gelehrte Jugend, die sich täglich riskiert«43 – Jünglinge, nur um weniges älter als der Knabe Tadzio, der schöne Fremde vom Meeressaum der Lagunenstadt. Aus dem Schützengraben widerfährt dem Part des Geistes endlich das Glück, vom Leben wiedergeliebt zu werden. »Aber wie lächelte nun gar die Natur, wenn das 37 38 39 40

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Thomas Mann, Gute Feldpost. Essays II. 1914–1926, in: ders., Werke (wie Anm. 31), Bd. 15.1, S. 47–50, Zitat hier S. 49. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50. Thomas Mann, »Gedanken im Kriege«, in: ders., Gute Feldpost (wie Anm. 37), S. 27–46; vgl. ders, Werke (wie Anm. 31), Bd. 15.2: Kommentar von H. Kurzke unter Mitarb. von J. Stoupy, J. Bender, S. Stachorski, S. 600. Ebd., S. 28. »Er ist der Ort, an dem die Kräfte der Zeit einander auszugleichen verlangen. Er gleicht dem Seismographen, den jedes Beben, und wäre es auf Tausende von Meilen, in Vibrationen versetzt.« (Hugo von Hofmannsthal, »Der Dichter und diese Zeit«, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von R. Hirsch u. a., 10 Bde., Frankfurt a. M. 1975 ff., Bd. 8: Reden und Aufsätze I. 1891–1913, S. 54–81, hier S. 72.) Mann, Gute Feldpost (wie Anm. 37), S. 49.

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Leben sich huldigend vor dem Geiste neigte, – weil es sich in ihm wiedererkannte!«44 Gedacht ist hier an eine Beziehung zwischen Autor und Lesern, die ins Erotische spielt, eine Beziehung, wie es jene zwischen Aschenbach und Tadzio nicht hatte werden können. Im Falle der liebenden Schriftsteller-Figur blieb dieses Begehren, der antiken Grundierung entsprechend, asymmetrisch und unerwidert.45 Von der Venedig-Novelle aus gesehen mag sich der Enthusiasmus zu Kriegsbeginn als »ausphantasierte Homoerotik«46 darstellen; doch so fließend die Grenzen zwischen Imagination und Realität auch sein mochten, der Platz am Schreibtisch war unumstößlich. Dem Schriftsteller selbst blieb, da er bei der Musterung gnädig als »ungedienter Landsturm«47 zurückgestellt worden war, nur das Künstlerschicksal, »im Gleichnis zu leben«, hier etwa: »Soldatisch zu leben aber nicht als Soldat.«48 Die vermeintliche Ad-hoc-Konstruktion, mit der sich Thomas Mann pflichtschuldigst militärischen Dispens erteilt, ist gleichfalls keine spontane Eingebung, sondern ein variiertes Felix Krull-Zitat. Im Eifer der publizistischen Mobilmachung griff Thomas Mann ausgerechnet auf die fulminante Musterungsszene jenes Schelmenromans zurück, die dem Durchhalte-Pathos der Kriegsbeiträge denkbar fernstand. Kaum jemals war der kleine Grenzverkehr zwischen den Texten und Diskursen intensiver als im Jahrzehnt des Krieges und Nachkriegs, als Mann noch »fabrikmäßiger« mit »Textbausteinen« arbeitete denn zuvor schon.49 Naheliegend, aber auf Dauer unhaltbar war der zwischenzeitlich beschrittene Weg, kurzerhand den patriotischen, militanten »Gedankendienst mit der Waffe«50 zum zweiten großen Hauptwerk zu deklarieren, also den Ernstfall des Krieges an die Stelle eines sich selbst stabilisierenden literarischen Œuvres treten zu lassen. Musterhaft ist die von Thomas Mann zwischen 1904 und 1924, dem Abschlussjahr des Zauberberg, elaborierte literarische Recycling-Technik allerdings darin, dass sie auf den leer bleibenden Platz des einen, singulären Zweit-Werkes die Sekundarität der eigenen Selbstverwertung setzt, bei der das repräsentative Leben des Großschriftstellers als fassadenhafte Wunscherfüllung seiner Opus-Phantasien fungiert und vice versa im sich fortzeugenden Textarchiv hochmögender Künstlerfiguren der Dominanzanspruch des (noch nicht) führenden Schriftstellers deutscher Nation zum Ausdruck kommt. 44 45

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Ebd., S. 48. Die Einseitigkeit der Rollenverteilung wird, bei gleichzeitiger symbolischer Erhöhung des Liebenden, dem im Tagtraum erlebten Sokrates in den Mund gelegt – und mit deutlichen Indizien willkommenen Selbstbetrugs versehen. »Und dann sprach er das Feinste aus, der verschlagene Hofmacher: dies, daß der Liebende göttlicher sei als der Geliebte, weil in jenem der Gott sei, nicht aber im andern, – diesen zärtlichsten, spöttischsten Gedanken vielleicht, der jemals gedacht ward und dem alle Schalkheit und heimlichste Wollust der Sehnsucht entspringt.« (Thomas Mann, Tod in Venedig, in: ders., Gesammelte Werke, 13 Bde., Frankfurt a. M. 1974, Bd. 8, S. 492.) Kommentarband (wie Anm. 40) zu Mann, Gute Feldpost (wie Anm. 37), S. 869. Brief an Paul Amann, 1. Oktober 1915, zitiert nach Kurzke, Thomas Mann (wie Anm. 35), S. 243. Mann, Gute Feldpost (wie Anm. 37), S. 48. Kommentarband (wie Anm. 40) zu Mann, Gute Feldpost (wie Anm. 37), S. 874. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, in: ders., Werke (wie Anm. 31), Bd. 13.1, S. 11.

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Was ist ein Autor? In immer neuen Anläufen variiert Thomas Manns Novelle Tod in Venedig im Jahre 1912 diese Frage; ihr Porträt des Schriftstellers als alterndem Liebhaber setzt den Protagonisten einer im Effekt unbarmherzigen Mehrfach-Belichtung aus. Anfangs wird Gustav von Aschenbach als »Schriftsteller«51 apostrophiert, sodann dicht aufeinanderfolgend als »Autor«, »Künstler«, »Schöpfer«, »Verfasser« und »Dichter«.52 Die hierarchische Skala dieser Berufsbezeichnungen bildet zwar den tradierten Mehrwert des Dichterbegriffs ab, doch verrät sie in der Pluralität zugleich etwas von der zeitgenössischen Auflösung dieser Dichter-Imago. Charakterisiert wird Aschenbach zunächst über sein Œuvre, sodann über seine familiäre Herkunft, über die von ihm geschaffenen Figuren, seine poetologischen Prinzipien, seine Tageseinteilung, Lebensführung und Produktionsweise (sie alle entsprechen weitgehend dem Vorbild des realen Verfassers), schließlich und fast wie im Nachtrag endlich über seine Physiognomie, die leibhaften Züge seines Erscheinungsbildes. Dass das Werkverzeichnis von Aschenbachs aus abgelegten, gestrandeten Literaturprojekten ihres realen Erfinders Thomas Mann besteht, macht diesen gegenüber dem alter ego zu einem Autor zweiter Ordnung und verlagert zugleich die Problematik der ausbleibenden Bestätigung durchs eigene Werk auf den fiktionalen, insofern leichter zu kontrollierenden Schauplatz. Nicht minder bemerkenswert (und werkgeschichtlich vorausweisend) an dem Dichterporträt der Novelle ist, dass es sich dabei um eine Werkreihe handelt, bei der eins das andre ergibt und erst die Folge aller ein aus nicht-tragenden Teilen montiertes Gesamtbild. Das also wird der Ausweg sein: nicht ein, sondern mehrere zweite Bücher ins Rennen zu schicken, denn im Verhältnis zu jenem ersten, mit dem der Autor hervortrat, erfüllen sie alle den Tatbestand der Sekundarität, in diesem Falle sogar denjenigen der Zweitverwertung. How can we know the dancer from the dance? Während einer tanzt, ist er, für die Zuschauer sichtbar, ein Tanzender. Mit gewissem Recht könnten wir ihn darum auch einen Tänzer nennen. Aber sicher ist das eben nicht. Die scheinbar ›rhetorische‹ Frage des Gedichts von W. B. Yeats53 ist keineswegs redundant, sie verweist, wie Paul de Man in einer beispielgebenden Lektüre auseinandergelegt hat,54 auf ein zweifaches erkenntnistheoretisches Problem. Braucht es, wo wir den Tanz sehen, zwingend den Tänzer dazu? Und was wäre der Tänzer, wenn nicht ein jetzt gerade Tanzender? Wie jeder einzelne Autor eine Art Zwittergestalt ist, definiert durch persönliche und durch institutionelle Merkmale, so verbinden sich in der literarisch inkorporierten Autorschaft jeweils eine werkchronologisch markierte und eine ästhetischkommunikative Dimension. Das zweite Buch legitimiert den Verfasser nachträglich in seinem Anspruch, Autor des vorangegangenen zu sein. By the way: Literarische 51 52 53 54

Mann, Tod in Venedig (wie Anm. 45), S. 444. Ebd., S. 450. William Butler Yeats, Among School Children. The Collected Poems, hg. von R. J. Finneran, New York 1996, S. 215–217, hier S. 217. Paul de Man, Allegories of Reading (1979), dt.: Allegorien des Lesens, aus dem Amerik. von W. Hamacher, P. Krumme, Frankfurt a. M. 1988, S. 40 ff.

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Selbstreferenz und akademische Konventionen scheinen sich hier auf ähnlichen Bahnen zu bewegen. Wie erst das zweite Buch den Autor macht, so lässt eben auch erst die zweite Promotion einen Wissenschafts-Darsteller für die universitäre Gemeinschaft habilis erscheinen, das bedeutet: ›geschickt‹ oder auch ›leicht zu handhaben‹. Aber das ist dann wieder eine andere Geschichte.

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Der andere Goethe: Die Maskenzüge als Auftragsdichtung für den Weimarer Hof Goethe ist nicht als Auftragsdichter in die Literaturgeschichte eingegangen. Im Gegenteil: Er wird gerne und immer wieder erwähnt, wenn von Genie und Geniekult, von Kunstautonomie und moderner Künstlerauffassung die Rede ist. Nicht zu unrecht, hielt er doch gerade eines seiner bedeutendsten Werke, den zweiten Teil seines Faust zu Lebzeiten unter Verschluss und verfügte, dass dieses erst nach seinem Tode gedruckt werden solle.1 Es lag ihm daran, sein irritierend heterogenes und für die damalige Zeit ausgesprochen modernes Werk von der Literaturkritik fernzuhalten und so vor Unverständnis und Missbilligung zu bewahren. Kurz vor seinem Tod schreibt er an Wilhelm von Humboldt: Ganz ohne Frage würd es mir unendliche Freude machen, meinen werten, durchaus anerkannten, weitverteilten Freunden auch bei Lebzeiten, diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzuteilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich so absurd und konfus, daß ich mich überzeuge meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden […] ich habe nichts angelegentlicher zu tun als dasjenige was an mir ist und geblieben ist wo möglich zu steigern und meine Eigentümlichkeiten zu kohobieren, wie Sie es, würdiger Freund, auf Ihrer Burg ja auch 2 bewerkstelligen.

Gerade in Hinblick auf seinen Faust lief Goethe, der sich hier als Dichter im Elfenbeinturm darstellt, mit seiner literarischen Produktion und der Verwaltung dieser Produktion den Normvorstellungen des Literaturbetriebs entgegen. Und doch gibt es auch den anderen Goethe: Der ›Dichterfürst‹ war ja – was allgemein immer noch wenig bekannt ist und das traditionelle Goethe-Bild etwas verändert – über viele Jahre hinweg auch Auftragsdichter. Zu seiner Funktion als Minister unter Herzog Carl August gehörte auch diejenige des Hofpoeten und Maître de plaisir. Obwohl Goethes Haltung zu Auftragsarbeiten stets ambivalent war und immer ambivalenter wurde, hielt er die Funktion bis 1818 inne. Zwischen 1781 und 1818, während nahezu vierzig Jahren, war er für den Weimarer Kulturbetrieb verantwortlich, verfasste und inszenierte im Auftrag des Hofs über zehn Maskenzüge3, 1

2 3

Vgl. dazu Albrecht Schöne, in: Johann Wolfgang Goethe, Faust. Kommentare, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, hg. von F. Apel u. a., 40 Bde., Frankfurt a. M. 1986 ff., Bd. 7/2, S. 391. Im Folgenden wird diese Ausgabe mit der Sigle FA sowie Abteilungs-, Band- und Seitenzahl ausgewiesen. 15.03.1832. Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe und Briefe an Goethe, hg. von K. R. Mandelkow, 6 Bde., München 31988, Bd. IV, S. 481. Vgl. dazu Gerhard Sauder, »Maskenzüge«, in: Goethe Handbuch, 4 Bde., hg. von B. Witte u. a., Stuttgart 1996 ff., Bd. 2, S. 309–333.

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die meisten davon zum Geburtstag der Herzogin Louise am 30. Januar, zur Zeit des Karnevals. Dass die Ausführung des Dienstbefehls Goethe Überwindung kostete, hat er immer wieder verlauten lassen, besonders deutlich in einem Brief an Lavater vom 19. Februar 1781, in dem er seine Aufträge – und gleichzeitig auch diejenigen des Zürcher Pfarrers und Schriftstellers – sarkastisch kommentiert: Die letzten Tage der vorigen Woche hab ich im Dienste der Eitelkeit zugebracht. Man übertäubt mit Maskeraden und glänzenden Erfindungen offt eigne und fremde Noth. Ich traktire diese Sachen als Künstler und so gehts noch. […] Wie du die Feste der Gottseeligkeit ausschmückst so schmück ich die Aufzüge der Thorheit. Es ist billich 4 daß beyde Damen ihre Hofpoeten haben.

Die thematisch ausgerichteten Maskenzüge tragen zum Teil einfache Titel wie Ein Zug Lappländer (1781), Aufzug des Winters (1781) oder Die weiblichen Tugenden (1782), mitunter aber auch solche – wie etwa die Romantische Poesie (1810) –, die auf eine poetologische Dimension hinweisen und anzeigen, dass Goethe die Sache »als Künstler« behandeln und den Festzügen »einen über die ephemere Feier hinausweisenden Sinn«5 zuschreiben will. Die Gattung Maskenzug, die Goethe in Weimar einführte und institutionalisierte, verbindet die Tradition des populären Karnevalsumzugs mit der barocken Selbstinszenierung des Hofes.6 Unter Goethes Regie sollte die höfische Gesellschaft Theater spielen, vor sich selber defilieren und sich amüsieren. Die Beteiligten waren dabei Schauspieler und Zuschauer zugleich. Bei einem Aufzug mit über hundert Figuren waren fast alle Angehörigen des Hofs auf die eine oder andere Art an der Aufführung beteiligt, wie etwa das lange Rollenverzeichnis in der Druckfassung des Maskenzugs von 1818 dokumentiert.7 Die Aufzüge waren multimediale Gesamtkunstwerke, die Text, Musik, Tanz und Pantomime integrierten und nicht zuletzt durch festliche Kostüme und üppige Dekorationen an Reiz gewannen. Sie wurden, wie Ulrike Landfester hervorgehoben hat, erst durch die Inszenierung vollendet.8 Die Maske »als Erbteil antiker Theaterkultur«9 ist Goethe vor allem in Rom begegnet, wie sein Aufsatz Das Römische Carneval10 aus dem Jahr 1789 dokumentiert. Gegenüber der Live-Inszenierung wirken die überlieferten Texte zu den Maskenzügen, wenn sie denn überhaupt überliefert sind, auf Anhieb etwas fad und eher unattraktiv. Goethe war anfänglich gar nicht daran interessiert, seine Auftragsdichtungen zu drucken; er versuchte auch hartnäckig zu vermeiden, dass Bilder zu den 4 5 6 7

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Goethes Briefe und Briefe an Goethe (wie Anm. 2), Bd. I, S. 344. Ulrike Landfester, Der Dichtung Schleier. Zur poetischen Funktion von Kleidung in Goethes Frühwerk, Freiburg i. B. 1995, S. 189. Vgl. dazu FA I, 6, S. 1209. Johann Wolfgang Goethe, Maskenzug 1818, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, 33 Bde., hg. von K. Richter u. a., München 1985 ff., Bd. 11.1.1, S. 321–363, hier S. 360–363. Landfester, Der Dichtung Schleier (wie Anm. 5), S. 191. Sauder, »Maskenzüge« (wie Anm. 3), S. 310. Johann Wolfgang Goethe, Das Römische Carneval, in: MA 3.2, S. 217–270.

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Aufführungen entstanden. Als der Herzog 1782 einen Theatermaler mit der Nachbildung eines Maskenzugs beauftragte, wendet sich Goethe mit Entschiedenheit dagegen: Sie haben […] Schumannen aufgetragen, den Aufzug zu malen […] Erlauben Sie, daß ich einige Remonstrationen vorbringe. Diese Feierlichkeit war an sich ein gewagter Scherz, ist glücklich abgelaufen, hat gute Wirkung getan und Freude gemacht, und wird jedem Zuschauer als eine abenteuerliche und angenehme, vorübergehende Erscheinung Zeitlebens vor Augen schweben. Bei hellem Tage, mit nüchternem Mute muss man so was nicht betrachten. Sollte es daher wohlgetan sein, mit Schuhmannischen Figuren auf ’s Papier zu heften, was nur als Traum vorbeiziehen sollte, und was weder gemalt, noch beschrieben werden kann? Ich wünschte sogar, daß Sie verböten, etwas davon in’s Wochenblatt zu setzen. Lassen Sie die Zuschauer sich untereinander davon unterhalten und es Fremden, es künftig ihren Kindern erzählen; der größte Reiz wird bei aller Überlieferung das Unaussprech11 liche bleiben […].

Später veränderte Goethe seine Einstellung zu den aus Anlass von Festlichkeiten entstandenen Produktionen und versuchte zunehmend, den Maskenzügen eine ästhetische Dimension abzugewinnen. 1808 hat er die Auftragsarbeiten in die CottaWerkausgabe aufgenommen und damit »poetisch legitimiert«.12 Zum Teil ließ er die Textvorlagen als Einzelpublikationen drucken, wie etwa diejenige zu seinem letzten Maskenzug von 1818, die ein Jahr darauf als kleines Büchlein bei Cotta erschien. Der komplexen Verschränkung von öffentlichem Auftrag und Kunst, von höfischer Betriebsamkeit und künstlerischem Selbstanspruch will ich im Folgenden in der Textvorlage zu diesem letzten Maskenzug nachgehen. Aspekte der Inszenierung lasse ich im hier gegebenen Zusammenhang weitgehend außer Acht. Goethe konnte sich zur Ausführung und Inszenierung seines letzten Festzugs einerseits gerade noch überwinden,13 ging damit aber andererseits an die Grenzen oder über die Grenzen der Gattung Maskenzug hinaus – ähnlich wie er mit seinem monoperspektivischen Werther an die Grenzen des Briefromans geht, mit Wilhelm Meister an die Grenzen des Bildungsromans und mit Faust an die Grenzen des Dramas des 19. Jahrhunderts. »Indessen haben wir die alte Ehre Weimars gerettet, ich aber, will’s Gott! von solchen Eitelkeiten hiedurch für immer Abschied genommen«14 – mit diesen Worten kommentiert Goethe am 26. Dezember 1818 in einem Brief an Knebel das Ende seiner Rolle als Hofpoet. Man muss sich dabei vor Augen führen, dass Goethe schon 69 Jahre alt und seit Jahrzehnten ein renommierter Dichter war, als er sich von den Auftragsarbeiten für den Hof befreite; seine Auftragsdichtung verlief also – wie im Übrigen auch seine Tätigkeit als Naturwissenschaftler – stets parallel und in Verschränkung zu seiner Tätigkeit als autonomer Dichter. 11 12 13 14

Zitiert nach FA I, 6, S. 1210 f. Dieter Borchmeyer, Weimarer Klassik: Portrait einer Epoche, Aktualisierte Neuausgabe, Weinheim 1998, S. 495. Vgl. dazu ebd., S. 495. Zitiert nach MA 11.1.1, S. 681.

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Der Maskenzug vom 18. Dezember 1818 ist schon deshalb von besonderem Interesse, weil er die Dichtung und Wissenschaft Weimars und damit auch Goethes ›Kerngeschäft‹ vorführen soll. Er wurde angeordnet und konzipiert zu Ehren der Kaiserin Mutter Maria Feodorowna – Gattin des russischen Zaren Paul I. und Mutter Maria Pawlovnas, der Weimarer Erbprinzessin –, die sich Ende 1818 in Weimar aufhielt. Es handelt sich bei diesem Maskenzug also auch um eine Art Tourismusprogramm für ein gebildetes Publikum, um eine Vorführung Weimars und seiner vom Herzog geförderten Kultur im besten Lichte. In der Druckversion des Maskenzugs hält Goethe eingangs noch einmal fest, was als Auftrag an ihn herangetragen wurde. Der Vorspann weist diese Dichtung explizit als Auftragsdichtung aus: Als Ihro Kaiserliche Hoheit die Frau Erbgroßherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach hiernächst beschriebenen Festzug gnädigst anordneten, befahlen Höchst Dieselben: daß dabei einheimische Erzeugnisse der Einbildungskraft und des Nachdenkens vorgeführt und auf die vieljährig und mannigfaltig gelungenen Arbeiten beyspielsweise hingedeutet werden solle. Hiernach wäre denn der Inhalt des nunmehr summarisch 15 verzeichneten Charakter-Zuges aufzunehmen und zu beurtheilen.

»[B]eyspielsweise« – exemplarisch – sollten die literarischen Werke und wissenschaftlichen Leistungen Weimars der Kaiserin Mutter und dem höfischen Publikum vorgeführt werden. Es handelt sich bei der Unternehmung in Bezug auf die Dichtung also auch um eine kleine Weimarer Literaturgeschichte um 1800 und damit in gewisser Weise auch schon um eine Art Kanonisierung. Dieter Borchmeyer fasst die Abfolge des Maskenzugs prägnant zusammen: »Figuren aus den Werken der drei großen Toten Wieland, Herder und Schiller sowie des großen Überlebenden: aus Goethes eigenem Faust bilden zusammen mit dem allegorischen Personal der Tagesund Jahreszeiten, Künste und Wissenschaften sowie der dramatischen Genres den illustren Reigen des Personals.«16 Mit diesem Personal erfüllt Goethe seinen Auftrag und kann entsprechend Erfolg verbuchen. Seinem Freund, dem Komponisten Zelter berichtete er nachträglich über das festliche Ereignis: Der Zug bestand aus beinahe 150 Personen; diese charakteristisch zu costumieren, zu gruppieren, in Reihe und Glied zu bringen und bei ihrem Auftritt endlich exponieren zu lassen, war keine kleine Aufgabe […] Dafür genossen wir jedoch des allgemeinsten Beifalls, welcher freilich durch den großen Aufwand von Einbildungskraft, Zeit und Geld, […] der denn doch aber zuletzt, in kurzen Augenblicken, wie ein Feuerwerk in 17 der Luft verpuffte, teuer genug erkauft wurde.

Für Goethe bedeutet die Arbeit am Maskenzug von 1818 ein Wiederlesen der Werke seiner verstorbenen Dichterfreunde sowie ein Weiterschreiben daran, vor allem aber auch eine Konfrontation mit seiner eigenen dichterischen Produktion, die er – weit über seinen Auftrag hinausgehend – wiederliest, aufnimmt, transformiert und interpretiert. Oder anders: Der Auftragsdichter Goethe inszeniert den autonomen 15 16 17

Goethe, Maskenzug 1818 (wie Anm. 7), S. 321. Dieter Borchmeyer, Der späte Goethe, http://www.goethezeitportal.de/wissen/dichtung/ schnellkurs-goethe/der-spaete-goethe.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Johann Wolfgang Goethe, Briefwechsel mit Zelter, in: MA 20.1, S. 549.

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Dichter Goethe. So sind denn die »Geister«, von denen der im Maskenzug auftretende Mephistopheles spricht, auch die Geister seiner Vergangenheit: Gefährlich ist’s mit Geistern sich gesellen! Und wenn man sie nicht stracks vertreibt, Sie ziehen fort, ein und der andre bleibt In irgend einem Winkel hängen, und hat er noch so still gethan, 18 Er kommt hervor in wunderlichen Fällen –

Die hervortretenden »Geister« erinnern an die »schwankende[n] Gestalten«19 im Gedicht Zueignung, das Goethes Faust vorangestellt ist. Gemeint sind damit – so Albrecht Schöne – die »noch nicht im vollendeten Werk verfestigten Figuren der Faust-Dichtung«.20 Demgegenüber bezeichnen die »Geister« im hier gegebenen Kontext die verfestigten Figuren bereits abgeschlossener und gedruckt vorliegender Werke, die im Maskenzug auf zwei Ebenen wieder in Bewegung, ins Schwanken geraten: in der Inszenierung als auftretende Figuren und im Text als Figuren mit neuformulierten Repliken. Die Frage ist nun, welche »Geister« bei Goethe – der 1818 an den Heften Zur Morphologie arbeitet und daran ist, den West-östlichen Divan fertigzustellen – hängen bleiben. Die Antwort ist erstaunlich: Keiner seiner Romane, nicht einmal sein erfolgreichstes Frühwerk Die Leiden des jungen Werther, keines seiner bekannten Gedichte, keines der Dramen, die man als klassisch zu bezeichnen pflegt wie etwa Iphigenie. Was Goethe von sich selber »beyspielsweise« vorführt, sind sein erstes Sturm- und Drang-Drama Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand21 und Faust. Das sich an Shakespeare22 orientierende Götz-Drama wird im Maskenzug explizit als Beispiel einer »freyere[n] Dichtart«23 vorgeführt und so von Voltaires Mahomet, dem »Musterbild dramatischer Beschränkung«24 – gemeint sind hier die vor allem im klassischen französischen Theater geforderten Einheiten von Ort, Zeit und Handlung – abgegrenzt. Goethe scheint 1818 sehr daran gelegen zu sein, sich von der klassischen Dramenform zu distanzieren und den antiklassischen, oder anders: den vor- und den nachklassischen Goethe aufleben zu lassen. Vor diesem Hintergrund 18 19 20 21

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Goethe, Maskenzug 1818 (wie Anm. 7), S. 350. Johann Wolfgang Goethe, Faust, in: FA I, 7/1, hier S. 11. FA I, 7/2, S. 152. Johann Wolfgang Goethe, Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1973), in: MA 1.1, S. 549–653. Die erste Fassung (1771) trägt den Titel Geschichte des Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand (in: MA 1.1, S. 387–509). Vgl. dazu die Aussage Goethes in Dichtung und Wahrheit: »Durch die fortdauernde Teilnahme an Shakespeares Werken hatte ich mir den Geist so ausgeweitet, daß mir der enge Bühnenraum und die kurze, einer Vorstellung zugemessene Zeit keineswegs hinlänglich schienen, um etwas Bedeutendes vorzutragen. Das Leben des biedern Goetz von Berlichingen […] trieb mich in die historische Behandlungsart, und meine Einbildungskraft dehnte sich dergestalt aus, daß meine dramatische Form alle Theatergrenzen überschritt« (MA 16, S. 604). Siehe auch den Kommentar von Gerhard Sauder in MA 1.1, bes. S. 920–922. Goethe, Maskenzug 1818 (wie Anm. 7), S. 323. Ebd.

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ist Dieter Borchmeyers Postulat, der Maskenzug sei eine »Selbstfeier der Weimarer Klassik«,25 nicht nachvollziehbar. Als solche mag sie von den Auftraggebern intendiert worden sein, aber von Goethe in keiner Weise ausgeführt. Erstaunlicherweise eröffnet Goethe seinen Festzug nicht mit einem bereits bekannten literarischen Text, sondern mit einem Zitat aus dem 1818 noch unveröffentlichten Gedicht Geheimstes aus dem Buch der Liebe des West-östlichen Divan: Wenn vor deines Kaisers Throne Oder vor der Vielgeliebten, Je dein Name wird gesprochen; sey es Dir zum höchsten Lohne. Solchen Augenblick verehre; 26 Wenn das Glück dir solchen gönnte!

Das Gedicht zeichnet den Maskenzug als Medium der Erinnerung aus: Benannt und genannt werden, im Maskenzug zum Zuge kommen, heißt erinnert werden und lebendig bleiben. Besonders lebendig in diesem Maskenzug bleibt Goethes Faust, und insbesondere die Teufelsfigur Mephistopheles, der die schönsten und prominentesten Auftritte gegönnt werden und die – als offensichtlich privilegierte Rolle – von Goethes Sohn August in rotem Kostüm gespielt wurde.27 Mephistopheles ist es denn auch, der im Maskenzug die Faust-Figur vorstellt, die ihrerseits nicht zur Sprache kommt. In einer Mischung aus der für ihn typischen, gleichzeitig saloppen und weisen Redensart, fasst er für das Publikum die ersten Szenen des 1808 erschienen Faust I zusammen, von Fausts großem Monolog in der Szene »Nacht« über das Zusammentreffen Fausts mit Mephisto bis hin zur Verjüngung des resignierten alten Doktors in der Hexenküche und seiner Verkuppelung mit Margarethe. Goethe unterzieht seinen Faust-Text im Maskenzug einer Metamorphose, indem er ihn, wie es die Gattung Maskenzug erfordert, kondensiert und – was erstaunlicher ist – vom Dramatischen ins Epische transformiert. Um die unterschiedlichen Tonlagen zu verdeutlichen, sei hier der berühmte Eingangsmonolog Fausts noch einmal zitiert: Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh’ ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor; Heiße Magister, heiße Doktor gar, Und ziehe schon die zehen Jahr, Herauf, herab und quer und krumm, 28 Meine Schüler an der Nase herum – 25 26 27 28

Borchmeyer, Der späte Goethe (wie Anm. 16). Goethe, Maskenzug 1818 (wie Anm. 7), S. 334. Vgl. das Gedicht in Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan, in: FA I, 3/1, S. 41 f. Vgl. dazu FA I, 6, S. 1442. Goethe, Faust (wie Anm. 19), S. 33.

Der andere Goethe

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Und so klingt die für den Maskenzug konzipierte mephistophelische Variante: Hier steht ein Mann, ihr seht’s ihm an, In Wissenschaften hat er g’nug gethan, Wie dieses Vieleck das er trägt Beweist, er habe sich auf vielerlei gelegt. Doch da er Kenntniß g’nug erworben, Ist er der Welt fast abgestorben. Auch ist, um resolut zu handeln, Mit heiterm Angesicht zu wandeln, Sein Äußeres nicht von rechter Art, 29 Zu lang der Rock, zu kraus der Bart [...].

Die Auflösung und Neuformulierung festgeschriebener Werke und Passagen scheint zu einem der bestimmenden Konzepte des Maskenzuges aus dem Jahr 1818 zu werden, ein Konzept, das in der Gegenwart der Aufführung und im Rausch des Spiels kaum als solches wahrgenommen wurde. Friedrich Wilhelm Riemer bemängelte denn auch an der Unternehmung, »dass das Ganze etwas buntscheckig« sei, dass »das Erhabenste neben dem Plattesten und Unbedeutendsten Platz finde« und »das Ganze doch zu reflexiv« sei.30 »[Z]u reflexiv« – mit dieser Einschätzung hat er, insofern man das negative Werturteil außer Acht lässt, zweifellos Recht: Der 69-Jährige reflektiert und bearbeitet in diesem Maskenzug immer wieder sein eigenes Werk – sowohl das Vergangene wie das in Entstehung Begriffene – und schreibt dem Auftragswerk so eine poetologische Dimension ein. »Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet«31 – den vielzitierten Satz schreibt Goethe 1806 in der Einleitung zum 1817 erschienen ersten Heft Zur Morphologie in Bezug auf organische Gestalten. Das Konzept stellt bekanntlich eine Leitlinie für seine naturwissenschaftlichen und insbesondere seine morphologischen Studien dar. Goethe hat sich als Naturwissenschaftler – erinnert sei etwa an seinen Aufsatz Die Metamorphose der Pflanzen (1790)32 – bekanntlich immer für dynamische Prozesse der Metamorphose interessiert. Im Maskenzug von 1818 wird das Prinzip der stetigen Umbildung auch auf die Dichtung bezogen. Die Morphologie, die allgemeine Formenlehre, wird hier zu einem Leitprinzip für dichterische Form und Formenwandel. Das heißt konkret, dass festgeschriebene und im Druck fixierte Werke wieder aufgelöst und umgeschrieben werden, womit den klassischen Idealen der Abgeschlossenheit und der Dauerhaftigkeit eine Absage erteilt wird. Goethe unterstellt 1818 sowohl seine eigenen dichterischen Figuren wie diejenigen seiner Weimarer Dichterkollegen dem Prinzip der Metamorphose und schließt damit an seine morphologischen Grundsätze an: »Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgends ein bestehendes, nirgends ein Ruhendes, ein Abgeschloßenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer 29 30 31 32

Goethe, Maskenzug 1818 (wie Anm. 7), S. 346. Ebd., S. 684. Goethe, Schriften zur Morphologie, in: MA 12, S. 13. Ebd., S. 29–68.

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steten Bewegung schwanke.«33 Unterstrichen wird das organisch-metamorphotische Konzept des Maskenzugs auch dadurch, dass die Ilme, die Allegorie des Weimarschen Flusses Ilm, als Ansagerin durch den Maskenzug führt und »den Feyerzug durchschlängelt«.34 Immer wieder wird in der Beschreibung des Maskenzugs auf ihre starke Präsenz verwiesen: »Die Ilme tritt auf«,35 »Die Ilme tritt abermals hervor«,36 »Die Ilme kann sich nicht versagen noch einmal zu erscheinen«.37 Die Flussallegorie, die von Goethes »Neigung zu ihr«38 spricht, kann auf einer poetologischen Ebene auch als Allegorie des dynamischen Textkonzepts Goethes, das sowohl in seiner Morphologie wie im West-östlichen Divan und in seinem Spätwerk überhaupt zentral ist, gelesen werden. Im West-östlichen Divan, in dem Goethe sich vom Vorbild der klassischen Antike abwendet und dem Osten und dessen Dichtung zuwendet, huldigt das Gedicht mit dem Titel Unbegrenzt paradigmatisch dem Konzept des Flüssigen und Unabgeschlossenen und damit dem Lebendigen: »Daß du nicht enden kannst das macht dich groß, / Und daß du nie beginnst, das ist dein Loos«.39 Vor dem Hintergrund des West-östlichen Divan ist die Ilme auch eine Art kleiner Euphrat; sie steht, wie der orientalische Fluß im Gedicht Lied und Gebilde für das flüssige Element, dem sich der Dichter verschreibt, und für die »offene Form der orientalischen Dichtung«:40 Aber uns ist wonnereich In den Euphrat greifen, Und im flüßgen Element 41 Hin und wieder schweifen.

Zentral ist auch hier wieder die Bewegung des Hin- und Wiederschwankens, die der endgültigen Fixierung entgegenläuft. An einem Punkt geht Goethe in seinem Maskenzug mit der Verflüssigung der »einheimische[n] Erzeugnisse der Einbildungskraft«42 sogar so weit, dass er in grotesker Weise die Grenzen einzelner Werke auflöst und verschiedene Werke ineinander verschränkt. Er lässt Mephistopheles, die Figur aus seinem Faust-Drama mit den Soldaten aus Schillers Wallensteins Lager in einen Dialog treten. Goethe selbst bezeichnet die Szene als »heitersten Punkt«43 des Maskenzugs:

33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Ebd., S. 13. Goethe, Maskenzug 1818 (wie Anm. 7), S. 334. Ebd., S. 322.. Ebd., S. 323. Ebd., S. 326. Ebd., S. 323. Goethe, West-östlicher Divan (wie Anm. 26), S. 31. Vgl. dazu den Kommentar von Hendrik Birus in: FA I, 3.2, S. 950. Goethe, West-östlicher Divan (wie Anm. 26), S. 21. Goethe, Maskenzug 1818 (wie Anm. 7), S. 321. Ebd., S. 325.

Der andere Goethe

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Ich kenn’ Euch wohl, ihr seyd die Wallensteiner, Ein löblich Volk, so brav wie unser einer, Ihr kennt auch mich, wir sprechen frei: Mit einem Wort, daß ich das Lob vollende: Da wo nichts ist da habt ihr reine Hände. 44 Doch das war damals und ich war dabey.

Mephisto, der Teufel gibt vor, bei den in Wallensteins Lager geschilderten Raubzügen und in den von Wallenstein geführten Kriegern dabei gewesen zu sein. Die Rollen als Räuber und Kriegstreiber, die er sich hier selber zuschreibt, sind aus dem zweiten Teil des Faust, der damals noch nicht veröffentlicht war, hinlänglich bekannt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang etwa an die Szenen »Hochgebirg«45 und »Auf dem Vorgebirg«46 des 4. Akts, in denen Mephisto die Raub und Krieg propagierenden Helden Raufebold, Habebald und Haltefest aufmarschieren lässt. Bei genauem Hinsehen wird deutlich, wie feinmaschig Goethe Schillers Wallenstein und seinen Faust vernetzt. Mit dem im Maskenzug ausgesprochenen Satz »Doch das war damals und ich war dabey«, zitiert Goethe sich nämlich selber. »Ich war dabei, als noch da drunten, siedend, / Der Abgrund schwoll und strömend Flammen trug«,47 sagt Mephisto im vierten Akt zu Faust, und postuliert, bei der Entstehung der Erde dabei gewesen zu sein. Und später proklamiert er noch einmal variierend: »Natur sei, wie sie sei! / ’s ist Ehrenpunkt! – der Teufel war dabei!«48 Mit diesen scheinbar harmlosen und fast überhörbaren Bezügen interpretiert Goethe seine Mephisto-Figur. Mephisto, der Teufel ist immer dann zugegen, wenn etwas in Entstehung begriffen ist, wenn etwas – wie gewaltsam auch immer – in Bewegung versetzt wird. Er ist, wie Johannes Anderegg gezeigt hat, der »große Ermöglicher«,49 und »seiner Wirkkraft ist das zuzuschreiben, was wir Fortschritt zu nennen gewohnt sind.«50 Die Anspielungen auf den zweiten Teil des Faust machte Goethe wohl zu seinem eigenem Vergnügen und zu demjenigen seiner Nachwelt; das höfische Publikum hätte die Verweise auf den noch unveröffentlichten Faust selbst außerhalb des berauschenden Spektakels gar nicht verstehen können. Wie die Wallensteinschen Soldaten spricht Mephisto die höfische Gesellschaft von gleich zu gleich an: Wie wag’ ich’s nur bei solchem Fackeln Schimmer! Man sagt mir nach, ich sey ein böser Geist, Doch glaubt es nicht! Führwahr ich bin nicht schlimmer Als mancher der sich hoch fürtrefflich preist. 44 45 46 47 48 49 50

Ebd., S. 350. Goethe, Faust (wie Anm. 19), S. 391–401. Ebd., S. 402–416. Ebd., S. 393. Ebd., S. 394. Johannes Anderegg, Transformationen: Über Himmlisches und Teuflisches in Goethes »Faust«, Bielefeld 2010, S. 76. Ebd., S. 75.

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Verstellung sagt man sei ein großes Laster, Doch von Verstellung leben wir; Drum bin ich hier, ich hoffe nicht verhaßter 51 Als andre jene, vor und hinter mir.

Mephisto, der Teufel, der Meister der Verstellungskunst52 reiht hier die Kunst der höfischen Verstellung und Verkleidung in die Tradition des Teuflischen ein. Das mag ein Seitenhieb Goethes gegen die höfischen Eitelkeiten sein, ist aber gleichzeitig mehr als das. Mephisto erscheint in diesem Maskenzug nicht nur als Geselle der Banditen – und das macht seine Ambivalenz aus – sondern auch als Begleiter der Reichen, Erfolgreichen und Einflussreichen. Er wird dargestellt als Motor von Reichtum, Erfolg und Einfluss. Damit interpretiert Goethe in seiner Auftragsarbeit wiederum seinen Faust II, an dem er bis kurz vor seinem Tod arbeiten wird. Er verweist auf die Präsenz des Teufels in der Welt, eines Teufels, oder vielleicht besser: eines teuflischen Prinzips, das nicht nur ein paar Böse ergreift, sondern die gesamten ökonomischen und sozialen Prozesse seiner Gegenwart dominiert. Der Maskenzug von 1818 ist, wie ich zu zeigen versucht habe, für Goethe weit mehr als die Erfüllung einer Dienstflicht. Er macht die ihm zu dieser Zeit widerwillige Aufgabe zu einem konstruktiven Experimentierfeld für neue post-klassische poetische Prinzipien, und, wie Gerhard Sauder im Anschluss an Emrich bemerkt, auch zum Experimentierfeld »für die Erprobung allegorisch-symbolischer Figurationen«.53 Goethes Erfahrung mit den Maskenzügen fließt denn schließlich auch wieder in sein dichterisches Werk, konkret: in seinen Faust II ein, wo er am Kaiserhof, in der »Mummenschanz«-Szene54 einen großen und schillernden Maskenzug ins Werk setzt, in dem Mephisto ebenfalls eine Hauptrolle zukommt und der sich als Echo auf seine Maskenzüge für den Hof lesen lässt. Das Gefüge Das Römische Carneval, Weimarer Maskenzüge und »Mummenschanz« im zweiten Teil des Faust erweisen sich in Goethes Schaffensprozess als produktives Geflecht zwischen Auftragsarbeit, die Goethe auf seine Weise mitdiktiert, und autonomer Dichtung. So verweist der Maskenzug von 1818 gleichzeitig zurück auf Das Römische Carneval und vorwärts auf Faust II. In immer neuen Konstellationen, die gestaltend Form annehmen und sich wieder auflösen, bearbeitet Goethe eine Thematik, die ihn über Jahrzehnte beschäftigt. Während Goethe seine Maskenzüge anfänglich nicht verewigen wollte, hat er unter anderen den Maskenzug von 1818 in die Ausgabe letzter Hand aufgenommen und der Nachwelt hinterlassen, die ihn, jenseits von berauschenden Festivitäten »mit nüchternem Mute« betrachtet und so in ein anderes Licht zu rücken vermag. 51 52 53

54

Goethe, Maskenzug 1818 (wie Anm. 7), S. 345. Zu Mephisto als Verwandlungskünstler siehe Edith Anna Kunz, »Zur Darstellung des Ungreifbaren. Goethes Mephistopheles«, in: Colloquium Helveticum 36 (2005), S. 143–164. Sauder, »Maskenzüge« (wie Anm. 3), S. 311. Vgl. dazu auch Christoph Siegrist, »Dramatische Gelegenheitsdichtungen: Maskenzüge, Prologe, Festspiele«, in: Goethes Dramen. Neue Interpretationen, hg. von W. Hinderer, Suttgart 1980, S. 226–243, hier S. 227. Goethe, Faust (wie Anm. 19), S. 217–246.

Der andere Goethe

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In diesem Sinne hat Goethe seinen letzten Maskenzug, zumindest was dessen poetologische Dimension anbelangt, ebenso wenig für seine höfischen Zeitgenossen geschrieben wie den zweiten Teil seiner Faust-»Tragödie«. Die enge Verschränkung zwischen Auftrag und dem, was er im eingangs zitierten Brief an Humboldt seine »Eigentümlichkeiten« nennt, verdeutlicht, dass der andere Goethe, der Auftragsdichter und Kulturmanager am Weimarer Hof, eigentlich gar kein anderer war. In seinem letzten Maskenzug überträgt er sowohl seine morphologischen Prinzipien wie seine Auseinandersetzung mit der orientalischen Poesie auf die »einheimischen Erzeugnisse der Einbildungskraft«. Die ungeschriebene Devise lautet: Aber uns ist wonnereich In die Ilme greifen, Und im flüßgen Element Hin und wieder schweifen.

Reto Sorg

»Wir leben in plakätischen Zeiten.« Robert Walser und der Literaturbetrieb seiner Zeit Bald waren die eigenen Produkte, die den direkten Menschen offenbaren sollten, den Dichtern entfremdet. Carl Einstein

1.

Kein Doppelleben

Ein eigentliches ›Doppelleben‹ wie Gottfried Benn, Alfred Döblin oder Franz Kafka, die neben dem Schreiben alle einem bürgerlichen Beruf nachgingen, hat Robert Walser (1878–1956) keines geführt. Nach einer Ausbildung zum kaufmännischen Bankangestellten und anschließenden Wanderjahren, in denen das literarische Schreiben mit Gelegenheitsarbeit einherging, widmete er sich ab 1905 fast ausschließlich der Schriftstellerei – bevor er 1933 aufgrund einer persönlichen Krise und wegen der erzwungenen Überführung aus einer psychiatrischen Heilanstalt in Bern in eine solche in Herisau (Appenzell) das Schreiben vollständig aufgab. Dass Walser in seinem Spätwerk, das ab den 20er Jahren entsteht, die bürgerliche Vorstellung vom freien Schriftsteller als trügerisch entlarvt, verbindet ihn mit kritischen Zeitgenossen wie Karl Kraus, Carl Einstein, Joseph Roth oder Bertolt Brecht. Das idealistische Konzept der poetischen Berufung wird bei Walser identisch mit der Ausübung eines Berufs, denn sein autofiktionales Schreiben bezieht den emphatischen Selbstentwurf des Dichters auf die pragmatisch-nüchternen Produktionsbedingungen der modernen Schriftstellerexistenz. Dabei nährt die Darstellung, die Walser seinem ›Poetenleben‹1 verleiht, den Verdacht, das evozierte Schriftsteller-Ich sei in Wirklichkeit ein Angestellter des Literaturbetriebs.2 Die erste Publikation, die man von Robert Walser kennt, erfolgte 1898 sinnigerweise in einer Zeitung.3 Als ob ihm dafür ewiger Dank gebührte, zauberte das Feuilleton auch noch ungedruckte Walser-Texte aus seinen Schubladen, als der Autor 1

2

3

Vgl. SW 6 (Poetenleben, 1917). Die Texte Robert Walsers werden nach der folgenden Ausgabe zitiert: Robert Walser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hg. von J. Greven, 20 Bde., Zürich, Frankfurt a. M. 1985/86, und zwar unter der Verwendung der Sigle SW, der Angabe von Bandnummer und Seitenzahl(en) sowie der Anführung des jeweiligen Texttitels und des Erscheinungsjahres in Klammern. – Für Hinweise und Unterstützung danke ich herzlich Gelgia Caviezel, Bernhard Echte, Lucas Marco Gisi, Barbara Loop, Peter Stocker und Peter Utz. Zur ambivalenten Bedeutung der Angestelltenkultur in Walsers Werk vgl. Reto Sorg, Lucas Marco Gisi, »›Er gehorcht gern und widersetzt sich leicht.‹ Zur Figur des Angestellten bei Robert Walser«, in: Robert Walser, Im Bureau. Erzählungen, hg. u. mit einem Nachw. von R. Sorg, L. M. Gisi, Berlin 2011, S. 129–143. Am 8. Mai 1898 erschienen Walsers Lyrische Erstlinge im Sonntagsblatt des Bund, der Wochenendbeilage der Berner Tageszeitung Der Bund.

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Reto Sorg

längst zu schreiben aufgehört hatte.4 Dabei hatte Walser dieses Medium keineswegs gesucht. 1907, als er bald dreißig war, wollte er noch lieber »›unter die Soldaten‹« gehen, als »Zeitschriftenlieferant«5 zu werden, um jedoch schon 1912 resigniert zu konstatieren, es habe ihn »das barsche Leben in die Bahnen eines exekutierenden Feuilletonisten«6 geschleudert. 1928 zögerte Walter Benjamin nicht, Robert Walser weniger für seine Bücher als für die »zarten oder stachligen Blüten« der Feuilletonbeiträge zu loben, mit denen er wie Alfred Polgar und Franz Hessel »der Öde des Blätterwaldes« entgegenwirke.7 Das Bild des Feuilletonisten Walser, das man gewinnen konnte und das auch Walser selber aktiv beförderte, darf nicht verdecken, dass er nebst seiner Tätigkeit als »›Zeitungsschreiber‹«8 und »›Journalist‹«9 liebend gern der gestandene »Schriftsteller«10 und Buchautor geblieben wäre, der zwischen 1904 und 1925 fünfzehn Bücher vorgelegt hat, die nebst Kurzprosa auch Romane, Gedichte, Erzählungen, Dramolette und dramatische Szenen umfassten.11 Es trifft zu, dass Walser bei aller Verstrickung im Feuilletonismus12 seiner Zeit »vom literarischen Cliquenbetrieb«13 Abstand hielt und in mancherlei Hinsicht der Außenseiter14 blieb, der er von Anfang an gewesen war.15 Dabei war er aber keines4

5 6 7 8 9 10 11

12

13 14

15

Im Prager Tageblatt, dessen Redaktor Max Brod Walser besonders zugetan war, wurden bis 1938 vereinzelt unveröffentlichte Walser-Texte gedruckt, obschon der Autor seit Mitte 1933 nichts mehr geschrieben hatte. Robert Walser, Briefe (1975), hg. von J. Schäfer unter Mitarb. von R. Mächler, Frankfurt a. M. 1979, S. 49 (Brief vom 18. Januar 1907 an Christian Morgenstern). SW 15, 73 f., hier 73 f. (Was aus mir wurde, 1912). Walter Benjamin, Robert Walser (1929), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt a. M. 1991 ff., Bd. II,1., S. 324–328, hier S. 324. SW 20, 427–430, hier 429 (Meine Bemühungen, 1928/29). SW 18, 59–110, hier 61 (Das »Tagebuch«-Fragment von 1926). Ebd. Vgl. Reto Sorg, Lucas Marco Gisi (Hg.), »Jedes Buch, das gedruckt wurde, ist doch für den Dichter ein Grab oder etwa nicht?« Robert Walsers Bücher zu Lebzeiten, Bern 2009 (Schriften des Robert WalserZentrums 1). – Walser konnte seine Bücher in renommierten Verlagshäusern wie Insel, Cassirer oder Rowohlt unterbringen, es war ihm aber nicht gegeben, sich an einen Verlag zu binden; vgl. dazu Bernhard Echte, »›Wer mehrere Verleger hat, hat überhaupt keinen.‹ Untersuchungen zu Robert Walsers Verlagsbeziehungen«, in: Rätus Luck (Hg.) unter Mitarb. von Peter Edwin Erismann, Peter Kraut, Geehrter Herr – lieber Freund. Schweizer Autoren und ihre deutschen Verleger. Mit einer Umkehr und drei Exkursionen, Basel, Frankfurt a. M. 1998, S. 201–244. Zum Stellenwert des Feuilletons bei Walser vgl. Peter Utz, Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«. Frankfurt a. M. 1998, S. 295–368; zum Boom der Kurzprosa nach 1900 vgl. Reto Sorg, »Kurze Prosa«, in: Sabine Haupt, Stefan Bodo Würffel (Hg.), Handbuch Fin de Siècle, Stuttgart 2008, S. 369–414. Carl Seelig, Wanderungen mit Robert Walser (1957), neu hg. u. mit einem Nachw. von E. Fröhlich, Frankfurt a. M. 1984, S. 10. Vgl. Dieter Fringeli, Dichter im Abseits. Schweizer Autoren von Glauser bis Hohl, Zürich, München 1974, Jochen Greven, Robert Walser. Figur am Rande, in wechselndem Licht, Frankfurt a. M. 1992 und ders., Robert Walser – ein Außenseiter wird zum Klassiker. Abenteuer einer Wiederentdeckung, Lengwil 2003, S. 42–45. Zu Walsers kleinbürgerlicher Herkunft und seiner autodidaktischen Bildung vgl. Robert Mächler, Das Leben Robert Walsers. Eine dokumentarische Biographie (1966), Frankfurt a. M. 1978, S. 13–48.

»Wir leben in plakätischen Zeiten«

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wegs der weltabgewandte Sonderling, als den ihn Carl Seelig und andere gezeichnet hatten,16 sondern ein ausgewachsener Autor seiner Zeit, der den modernen Literaturbetrieb in gewisser Hinsicht sogar mustergültig verkörperte. Walser hatte im Laufe seiner »Schriftstellerexistenz«17 Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien mit hunderten von Beiträgen beliefert, beständig mit Redakteuren, Lektoren und Verlegern korrespondiert, um Honorare gestritten, die Schriftstellerei auch im Rahmen der privaten Korrespondenz erörtert, mit literarischen Agenturen kooperiert, Bücher in über einem Dutzend verschiedener Verlage erscheinen lassen, zeitweilig dem Schweizerischen Schriftstellerverband angehört, als Vorleser eigener Texte gewirkt, sich um das Erscheinen von Fotoporträts seiner Person gekümmert, seine Texte an den Rundfunk gegeben, Kinos, Kabaretts, Konzerte und Kaffeehäuser frequentiert, sich bei Redaktionen für Kollegen verwendet, Leihbibliotheken konsultiert, Heftchenromane verschlungen, sich mit Fragen der Konzeption, Illustration und Typografie von Zeitschriften befasst, als Sekretär der Berliner Sezession die Kunstszene aus allernächster Nähe verfolgt, in Berlin als Bruder und Wohnpartner des Bühnenbildners Karl Walser Tuchfühlung mit dem Theater gehalten und sich im Berner Staatsarchiv vorübergehend als Hilfsbibliothekar betätigt. Es ist ein zentrales Merkmal von Walsers Schreibweise, dass sie am Literaturbetrieb, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts endgültig als ein von der Literatur selbst zu unterscheidendes Phänomen erscheint,18 nicht nur aktiv partizipiert, sondern dessen Implikationen auch poetisch reflektiert. Die Einflussmomente der Landschaftserfahrung, der Schul- und Bildungseindrücke, des Angestelltendaseins und des Kunst- und Literatur-Kanons, die in Walsers schriftstellerischen Anfängen maßgeblich waren, werden sukzessive durch das Bewusstsein für das starke Gewicht der Rahmenbedingungen des Schreibens ergänzt und überlagert. Wie Karl Kraus, Walter Benjamin, Alfred Döblin oder Bertolt Brecht gehört Robert Walser zu denjenigen Autoren, welche die literarischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen im Zeitalter der Rotationspressen und Rundfunkanstalten zu einem zentralen Thema ihrer Literatur erheben.

2.

Ein modernes Poetenleben

Wie sehr Walser als Schriftsteller in die merkantile Logik des Markts und des Literaturbetriebs seiner Zeit verstrickt war, zeigt sich unverblümt in seinen Briefen. Und zwar nicht nur in der umfangreichen Verlags- und Redaktionskorrespondenz, wo er als Anwalt in eigener Sache auftritt, sondern auch im privaten Verkehr. Als vertrau16

17 18

Vgl. Carl Seelig, »Robert Walser. Zum 60. Geburtstag am 15. April«, in: National-Zeitung, 14. April 1938 (Robert Walser-Zentrum, Signatur F-02-n-02), und ders., Wanderungen mit Robert Walser (wie Anm. 13). Robert Walser in einem Brief an Frieda Mermet vom 7. August 1918, unpubliziert, Robert Walser-Zentrum, Signatur RW-MSB1-MER-048. Vgl. die Einleitung der Herausgeber in diesem Band.

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Reto Sorg

liche Gesprächspartnerin diente dabei vornehmlich Frieda Mermet, die Frau, die in Walsers Wunschdenken als Heiratskandidatin durchaus in Frage kam. Was er ihr gegenüber in den 20er Jahren von seinen »kleinen bescheidenen Literaturgeschäfte[n]«19 mit schöner Regelmäßigkeit berichtet, fügt sich über die Jahre zu einer eigentlichen Typologie der heteronomen Umstände seines Schreibens: Meine Schriftstellergeschäfte wickeln sich, wenn auch eher langsam als eilig, doch im Allgemeinen fortwährend zu meiner Zufriedenheit ab, was hauptsächlich daher rührt, daß ich mich mit verhältnismäßig kleinen Erfölgelchen begnüge. […] Gott, wie viele neue Bücher man gegenwärtig in den Schaufenstern der Buchhandlungen sieht. Ich darf mir jedenfalls sagen, daß ich eine Menge von Kollegen habe, die emsig bestrebt zu 20 sein scheinen, dem Publikum Vergnügen zu machen.

Neben der heranwachsenden Konkurrenz21 durch jüngere Autorinnen und Autoren hatte der nun schon bald 50-jährige Walser auch notorische Absatzprobleme, auf die er mit einer Verknappung des Angebots zu reagieren gedachte: Das Geschäft geht übrigens momentan flau, d.h. blau, d.h. blöd, d.h. faul. Ich gehe alle Tage im zur Zeit entzückend frischen Aarewasser baden, um nicht zu viel zu produzieren. Die literarischen Zustände zwingen mich, so langsam wie möglich zu arbeiten. 22 Schriftsteller wachsen aus dem Boden heraus.

Ende der 20er Jahre war indes nicht nur Robert Walser von Absatzproblemen geplagt, denn die strukturell bedingte Überproduktion auf dem Buchmarkt hatte eine eigentliche »Bücherkrise«23 bewirkt, unter der insbesondere ältere etablierte Autoren litten, die weder von einem Novitätenbonus profitieren konnten noch dem Massengeschmack entsprachen. Gemäß Carl von Ossietzky befand sich der deutsche Verlagsbuchhandel damals in einer »miserable[n] Lage«.24 Der Herausgeber der Weltbühne machte dafür die zu hohe Anzahl schwacher Autoren, ein generelles Überangebot an Titeln und eine Entfremdung der Literatur vom Publikum etwa durch die Konkurrenz des Films verantwortlich. Die Folgen waren eine noch nie da gewesene Übersättigung und Orientierungslosigkeit: 19 20 21

22 23 24

Walser, Briefe (wie Anm. 5), S. 326 (Brief vom 17. April 1928 an Frieda Mermet). Robert Walser in einem Brief an Frieda Mermet vom 13. November 1928, unpubliziert, Robert Walser-Zentrum, Signatur RW-MSB1-MER-155. Vgl. dazu Jan Brandt, »Springende Fohlen. Die junge Generation um 1930 als Marketingkonzept«, in: Thomas Wegmann (Hg.): Markt: literarisch, Bern u. a. 2005 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 12), S. 151–169, hier S. 152: »Die Jahre 1925 bis 1932 waren eine gute Zeit für junge Autoren. Rückblickend entsteht der Eindruck, als ob sich nach Jahren der Depression und Lethargie ein Überdruck endlich entladen hätte. Ein Dutzend Anthologien […] mit Titeln wie 24 neue deutsche Erzähler, Junge deutsche Lyrik, Junge deutsche Dichtung oder Dreißig neue Erzähler des jungen Deutschland, dokumentierten den Aufstieg eines literarischen Jugendtrends.« Walser, Briefe (wie Anm. 5), S. 304 (Brief vom 31. August 1927 an Frieda Mermet). Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 1991, S. 325. Carl von Ossietzky, »Ketzereien zum Büchertag«, in: ders., Sämtliche Schriften. Oldenburger Ausgabe, hg. von B. Boldt, U. Maack, G. Nickel, 8 Bde., Reinbek 1994, Bd. V (1929–1930), S. 73–78, hier S. 73 (ursprünglich in: Die Weltbühne, 25. Jg. [1929], Heft 12, S. 441–445).

»Wir leben in plakätischen Zeiten«

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Schnell sind seit zehn Jahren literarische Moden gekommen und gegangen, und geblieben ist nur ein riesiger unsortierter Bücherhaufen. Grade unter den geistigen Menschen herrscht eine ungeheure Überfressenheit an Literatur, ein Mißtrauen gegen 25 Werdendes, eine spöttisch verneinende Haltung gegen alte Bildungswerte.

In seiner Korrespondenz wie in seinen Texten zeichnet Walser von sich selbst das Bild eines Schriftstellers, der die – durch die forcierte Feuilletonaktivität noch deutlicher hervortretende – Kommerzialisierung seiner Tätigkeit ironisch bis sarkastisch bedenkt und die Rückkopplungsmomente auf die Literatur reflektiert. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten um die Spekulationswut an den Börsen26 verwandeln sich auch für Walser die Worte in potenzielle Werte: »Mein Prosastückligeschäft geht zur Zeit recht schlecht; ich lasse mich aber durch die Baisse meiner Prosa-Aktien nicht entmutigen.«27 Der Zusammenhang von literarischer Fiktion und kapitalistischer Spekulation faszinierte Walser generell. Schon 1909 hatte er in seinem Tagebuchroman Jakob von Gunten eine nähere Verwandtschaft der beiden Sphären in Betracht gezogen. Als die Handlung die Peripetie erreicht, ironisiert der Protagonist seine blühende, ihn konstituierende Phantasie wie folgt: Ich kann mit all meinen Ideen und Dummheiten bald eine Aktiengesellschaft zur Verbreitung von schönen, aber unzuverlässigen Einbildungen gründen. Kapital, scheint mir, ist genug da, an Fonds wird es nicht fehlen, und Abnehmer solcher Papiere kommen überall vor, wo der Gedanke und Glaube ans Schöne noch nicht ganz ausgestor28 ben ist. Was stellte ich mir nicht alles vor!

In einem früheren Brief an Frieda Mermet hatte Walser sein ›Krämerdasein‹ scherzhaft ad absurdum geführt und zu erkennen gegeben, dass er auch vor dem Graumarkt nicht zurückschreckt und bereit ist, persönliche Freiexemplare gewinnbringend zu veräußern: Ich habe jetzt auf Lager noch zwei Exemplare, die ich geneigt wäre, an erwähnte beide Tischdamen für je 15 Franken abzugeben. Proponieren Sie ihnen den Preis aber nur, wenn es Ihnen scheint, verehrte Frau, daß sie darauf eingehen. Sie müssen nämlich ja wissen, daß der Handel, den ich da betreibe, eigentlich ein bißchen frivol, von geschäftlich-usueller Seite nicht ganz frei von etlichem Einwand ist, indem die Exemplare sogenannte Freiexemplare darstellen, die es nicht üblich ist zu verkaufen. Ich schätze nun aber Bellelay so sehr und die dort befindliche Damenwelt, daß ich unwill29 kürlich darob zum Kaufmann und Kriegs- oder Friedensgewinnler wurde. 25 26 27 28

29

Ebd., S. 75. Vgl. Urs Stäheli, Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt a. M. 2007, S. 9–34. Walser, Briefe (wie Anm. 5), S. 322 (Brief vom 6. Januar 1928 an Frieda Mermet). SW 11, 131 (Jakob von Gunten. Ein Tagebuch, 1909). – Zu Walsers Fähigkeit, ökonomische Phänomene poetologisch zu wenden, vgl. auch Jan Loop, »›Gott ist das Gegenteil von Rodin.‹ Walsers Markt und das Phänomen der Vermischung«, in: Wolfram Groddeck, Reto Sorg, Peter Utz, Karl Wagner (Hg.): Robert Walsers »Ferne Nähe«: neue Beiträge zur Forschung, München 2007, S. 195–202. Walser, Briefe (wie Anm. 5), S. 324 f. (Brief vom 23. Februar 1925 an Frieda Mermet). Bei dem erwähnten Buch handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Walsers letzte Buchpublikation Die Rose, die 1925 bei Rowohlt erschien und sich besonders schlecht verkaufte.

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Das Bewusstsein für die umfassende Kommerzialisierung der Lebensumstände und des Denkens hatte bereits in den realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts eine ebenso differenzierte wie pathetische Ausprägung erfahren.30 Da immer größere Bevölkerungsschichten diese Wahrnehmung teilten, gibt es auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Generation von Schriftstellern – zu der Walser zählt –, deren Vertreter emphatisch ›rekapitulieren‹, dass man einem Zeitalter angehöre, in dem »fast alle Einwohner oder Bürger […] Nationalökonomen sein« wollten und »Wirtschaftsfragen […] in geradezu krankhaftem Maß in den Vordergrund des Lebens getreten« seien.31 Das Prosastück Für die Katz, das 1928/29 entstand und zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht wurde, überformt die Prinzipien des Ökonomischen und Kommerziellen, die Robert Walser seit seiner Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter bei Banken und Versicherungen vertraut waren, zu einem hyperbolischen, fast allegorisch anmutenden Bild einer ›totalen‹ Betriebsamkeit. Der Ich-Erzähler hält zwar am Glauben fest, dass es noch »Meisterwerke der Kunst« gebe, »die hoch über das Summen und Brummen, Sausen und Brausen des Tages hinausragen« würden, zählt sich selber aber zu denjenigen Schriftstellern, die nicht »für die Nachwelt«, sondern »für die Katz, will sagen, für den Tagesgebrauch« schreiben.32 Die Katz, das ist für ihn »eine Art Fabrik oder Industrieetablissement, für das die Schriftsteller täglich, ja vielleicht sogar stündlich treulich und emsig arbeiten oder abliefern«.33 Die Katz erscheint in der Folge als der »Kommerzialisiertheitsinbegriff«34 überhaupt: [Sie] ist die Zeit selbst, in der wir leben, für die wir arbeiten, die uns Arbeit gibt, die Banken, die Restaurants, die Verlagshäuser, die Schulen, das Immense des Handels, die phänomenale Weitläufigkeit des Warenfabrikationswesens, alles dies und noch mehr […] ist Katz, ist Katz. Katz ist für mich nicht nur das, was für den Betrieb taugt, was für die Zivilisationsmaschinerie irgendwelchen Wert hat, sondern sie ist, wie ich be35 reits sagte, der Betrieb selber […].

Das, was man als ›Literaturbetrieb‹ bezeichnen könnte, ist also nichts, was außerhalb oder abseits stehen würde, sondern geht seinerseits im allumfassenden Betrieb auf. Diesem Betrieb fühlt sich auch das erzählende Ich zugehörig, jedoch mit einem Anspruch auf reflexive Distanz, der die entscheidende Differenz markiert. Die Pointe des Textes ist dialektisch: Nur wer sich dem Betrieb verschreibt und ihn dabei auch 30

31

32 33 34 35

Vgl. Jan Loop, »Mammons unheimliche Propheten. Die Figur des Spekulanten in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts«, in: Reto Sorg, Stefan Bodo Würffel (Hg.), Utopie und Apokalypse in der Moderne, Paderborn 2010, S. 143–160; zur Vorgeschichte vgl. Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich, Berlin 22004. Robert Walser in einem Brief an Frieda Mermet vom 26. Dezember 1927, unpubliziert, Robert Walser-Zentrum, Signatur RW-MSB1-MER-148. – Vgl. Franziska Schößler, Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Emile Zola, Bielefeld 2009 (Figurationen des Anderen 1). SW 20, 430–432, hier 430 f. (Für die Katz, 1928 f.). Ebd., 430. Ebd. Ebd., 430 f.

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schreibend durchdringt und erfasst, kann damit rechnen, dereinst »im Hafen fernliegender Nachwelt« zu landen.36 Wer dagegen versucht, sich schöngeistig vom Betrieb fern zu halten, um »äußerst anspruchsvoll« zu dichten und zu schreiben, der läuft besondere Gefahr, dass er ins Leere läuft.37 Wenn es für Walser in der Gegenwart kein Jenseits des Betriebs mehr gibt, so fehlt auch jeder idealistischen Genieästhetik die Grundlage.

3.

Plakätische Zeiten

Der umkämpfte Markt und die anhaltend hoch bleibende Zahl der Publikationen38 ist das eine, das andere sind die Autorinnen und Autoren, die den Literaturbetrieb verkörpern. Traten Schriftsteller früher vornehmlich mittels ihrer gedruckten Werke hervor, so werden sie nun zunehmend zu multimedial vermittelten Figuren. Auf Plakaten kann man »in weithin sichtbarer Schrift«39 ihre Namen lesen, im Blätterwald ihr Gesicht sehen, im Rundfunk ihre Stimme hören und bei öffentlichen Auftritten ihrer leibhaftigen Person begegnen. Die rapide Intensivierung dieser neuen Art der Präsenz, die Walter Benjamin als den »Ausstellungswert«40 des Autors deklarierte, trug in den 20er Jahren zur Formierung eines neuen Autorenbilds bei. Wie dramatisch der Wandel wahrgenommen werden konnte, beschreibt ein Text, den Walser 1925 in sein letztes Buch Die Rose aufnahm: An der Wand eines Speiselokals zu hängen. Welch unangenehmes Los! Auf einem Plakat zu florieren, um zu verschwinden. Ein Plakat löst das andere ab, eine Vorlesung aus eigenen Werken die nächste. Wehmut faßt mich bei diesem Auftreten und Abhuschen an. Bald ist’s ein Herr, bald eine Dame. Wie sie sich Mühe geben müssen und gewiß auch gern geben. Nachher folgt jeweilen ein achtungeinflößender Artikel. Doch stimmt bei all dem etwas nicht. Wie sie mit ihrem jüngsten Buch in der Hand herbeispringen, um wieder abzutanzen. Jede Nummer ist sich bewußt, ihr folge eine neue. Immer künden frische Plakate frisches Futter für Leute an, denen man Gelegenheit bietet, einen bildenden Abend zu verbringen. Wohin führt das? Einige kommen mehrmals, sie sind en vogue, aber der Dichter und Dichterinnenvorrat hört eines Tages auf. Was dann? Wir leben in plakätischen Zeiten. Die Kerls mit der Fülle von Ideen im Kopf machen sich ganz ordinär. Keiner von ihnen bleibt noch irgendwie umwoben. Seltsames schrumpft von Tag zu Tag mehr ein. Eine Fabrik zur Gewöhnlichmachung des Ungewöhnlichen scheint im Gang. Schüchterne Poeten gehören der Vergangenheit an. Werde auch ich am Vortragstisch erscheinen und entweiht sein? 36 37 38

39 40

Ebd., 431 Ebd. Vgl. Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels (wie Anm. 23), S. 301: »Sieben Jahre später [1927, R.S.] war nach Deflation und Inflation mit 37’886 Titeln ein Kulminationspunkt erreicht, doch trotz der Wirtschaftskrise konnte sich die Produktion auch in den Folgejahren bei rund 34'000 Titeln halten.« SW 8, 15–17, hier 16 (Genf, 1925). Walter Benjamin, »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Zentralpark«, in: ders., Gesammelte Schriften (wie Anm. 7), Bd. I,2, S. 665.

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Bis dahin glaub’ ich steif und fest, ich tu es nie. Hölderlin, der edle, ging am Lieben und Großsein und dichtenden Verstummen zugrunde. Ich bin bei so guter Laune, daß ich mich schäme. Werd’ auch ich eines Tages mein Plakat haben? Wird mich dasselbe überwältigen? Soll ich eine Weile an der Wand prangen, um einem folgenden Platz zu machen? Eine Plakäterin, die man soeben angeheftet und abgenommen hatte, spazierte mit mir, der Nachmittag war herrlich, die Zweiglein, wie rührend sie in die Luft ragten! »Wie kommt’s«, fragte sie, »daß Sie leben können, ohne daß Plakate von Ihnen sichtbar werden?« Ich schaute zu Boden und erwiderte: »Mir ist um mein bißchen 41 Glück bang.«

Der in sich abgeschlossene Text bezeugt nicht nur das tiefe Unbehagen, das einen ob öffentlicher Zurschaustellung befallen kann, sondern veranschaulicht auch die autofiktionalen Freiheiten, die Walser sich herausnimmt. Während das Ich im Text bisher weder ›Vorleser‹ noch ›Plakat‹ gewesen sein will, hat Walser selber beides bereits am eigenen Leib erfahren. So wissen wir von einer Lesung aus dem Jahr 1922 in Zürich, über die er an Frieda Mermet berichtet, er habe dort vorgelesen, »indem [er] öfters ein bischen anhielt, um einen Schluck Rotwein zu trinken, worüber die Zuhörer hörbar räusperten und schmunzelten«.42 In den Worten der Neuen Zürcher Zeitung, die über den Anlass berichtete: »Im Klub las er selbst, sehr eigenwillig, jedenfalls nicht schulgerecht, manches wunderlich, anderes ganz ausgezeichnet anpackend.«43 Laut dem Rezensenten erntete Walser für seinen unorthodoxen Auftritt »[w]ärmsten Beifall«.44 Legendär ist eine frühere Autorenlesung von 1920, ebenfalls in Zürich, an der Walser gar nicht selbst gelesen hatte, sondern sich kurzfristig vertreten ließ,45 um während der Lesung als Zuschauer »wie irgendein Beliebiger«46 unerkannt im Publikum zu sitzen – dies, nachdem er sich zwei Jahre lang vom Veranstalter, dem damaligen Präsidenten des Schweizerischen Schriftstellerverbandes, zu der Lesung hatte bitten lassen.47 In dem 1921 veröffentlichten Prosastück Der Leseabend brachte Walser die grotesk anmutende Situation auf den Punkt: »Ich war es nicht und war’s doch, und es war nicht mein und doch wieder niemand anderes Werk als meines.«48 Der 41 42 43

44 45

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SW 8, 49–65, hier 58 f. (Eine Ohrfeige und Sonstiges, 1925). Walser, Briefe (wie Anm. 5), S. 200 (Brief von Ende März 1922 an Frieda Mermet). Anonym, »Literarischer Klub«, in: Neue Zürcher Zeitung, 145. Jg., 20. März 1922, Nr. 370, Abendblatt, S. 1 f., zitiert hier S. 1 (im Rahmen einer wohl vom zuständigen Redaktor Eduard Korrodi verfassten Sammelbesprechung in der Feuilleton-Rubrik Kleine Chronik). Ebd. Wobei umstritten ist, ob Walser sich freiwillig oder unfreiwillig vertreten ließ; vgl. dazu Reto Sorg, »›Doch stimmt bei all dem etwas nicht‹. Robert Walser als Vorleser eigener Texte«, in: Wolfram Groddeck, Reto Sorg, Peter Utz, Karl Wagner (Hg.), Robert Walsers »Ferne Nähe« (wie Anm. 28), S. 61–74, hier S. 67–71. SW 16, 99–75, hier 75 (Der Leseabend, 1921). Vgl. dazu die Briefe Robert Walsers an Robert Faesi, in: Mitteilungen der Robert Walser-Gesellschaft (1998), Nr. 3, S. 11–13. SW 16, 99–75, hier 75 (Der Leseabend, 1921). – Zu Walsers Haltung gegenüber dem damals immer beliebter werdenden Gefäß des öffentlichen Vorlesens vgl. Sorg, »Robert Walser als Vorleser eigener Texte« (wie Anm. 45).

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von Walsers Text beschworenen Panik des Schriftstellers, auf Plakaten öffentlich vorgeführt zu werden, schien in Walsers Lebenswirklichkeit also eine weitgehende Anonymität zu entsprechen, jedenfalls sobald er sich außerhalb von Biel oder Bern bewegte, wo er damals lebte. Vollkommen ›gesichtslos‹ war Robert Walser zu jener Zeit allerdings nicht, waren doch einige wenige Abbildungen seiner Person im Umlauf, so 1911 bzw. 1914 in den bibliophilen Zeitschriften Pan und Kunst und Künstler eine Zeichnung49 und ein Gemälde50, auf denen der Autor freilich nicht wirklich zu erkennen ist. Beide Werke stammten aus der Hand von Roberts älterem Bruder Karl Walser, der ab 1901 in Berlin lebte und sich rasch einen Namen als Buchillustrator, Bühnenbildner und Maler gemacht hatte. 1919 erschien von Robert Walser zum ersten Mal überhaupt eine Fotografie, die in der Folge eine interessante Karriere machen sollte (vgl. Abb. 1). Das klassische Fotoporträt, das zusammen mit zehn anderen Autorenporträts in der Leipziger Illustrierten Zeitung publiziert wurde,51 um den im Rahmen eines Überblicksartikels gegebenen Querschnitt durch die jüngere zeitgenössische Literaturszene zu veranschaulichen, ist zwar definitiv kein Plakat, muss auf Walser aber trotzdem ›überwältigend‹ gewirkt haben, denn er hat noch dreißig Jahre später von dem Ereignis 49 50

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Die Abbildung illustriert Max Brods Beitrag Kommentar zu Robert Walser, in: Pan. Halbmonatsschrift, 2. Jg., Nr. 2, 15. Oktober 1911, S. 53–58, hier S. 53. Die Abbildung illustriert Karl Schefflers Artikel Karl Walser, in: Kunst und Künstler, 12. Jg., Heft 8, April 1914, S. 355–372, hier S. 360; das Gemälde entstand nach einer Fotografie Walsers von 1899 (vgl. Abb. 2). Die Fotografie ist Teil des ganzseitigen Artikels von Kurt Martens Deutsche Erzähler der Gegenwart, in: Illustrierte Zeitung, 3. Juli 1919, 153. Bd., Nr. 3966, S. 17. – Walser hatte die Aufnahme 1905 in einem Berliner Kaufhaus in Auftrag gegeben und die ihm offenbar wichtige Angelegenheit 1909 in den Roman Jakob von Gunten einfließen lassen (vgl. SW 11, 23, 25, 48, 60). Als Quelle gibt die Illustrierte Zeitung das »Phot. Atelier Globus, Berlin« an. In Jakob von Gunten geht der Held für die Aufnahme in ein »Warenhaus«, während in einem Brief an Therese Breitbach von 1925 steht, er habe die Aufnahme »einst in Berlin im Kaufmann Wertheim machen« (Walser, Briefe [wie Anm. 5], S. 245 [Brief vom 1. November 1925 an Therese Breitbach]) lassen. Das Atelier Globus wie auch ein Atelier Wertheim befanden sich 1905 in der Leipziger Straße, es kann also gut sein, dass es im Nachhinein zu einer Verwechslung kam. – Nach 1919 erschien die Aufnahme 1920 in Der Lesezirkel, 8. Jg. (1920/21), 2. Heft, November 1920: Robert Walser – Karl Stamm, o. S., und nochmals am 9. Oktober 1925 in der bei Rowohlt verlegten Zeitschrift Die literarische Welt, als Beigabe zu Walsers Beitrag Über eine Art von Duell (im Brief an Breitbach hatte Walser die Publikation der Fotografie angekündigt, vgl. Walser: Briefe [wie Anm. 5], S. 245 [Brief vom 1. November 1925 an Therese Breitbach]). Auf diese Fotografie spielt wohl auch das Prosastück Marktbericht an, das im Januar 1926 in der Prager Presse erschien. Hinter dem erwähnten Fräulein verbirgt sich aller Wahrscheinlichkeit die 17-jährige Therese Breitbach, mit der Walser seit Mitte September 1925 korrespondierte: »Ein rheinländisches Fräulein, das Töchterchen eines Schullehrers, eine noch überaus junge Dame, mit der ich in ständiger Korrespondenz bin, ließ mich zu meinem Vergnügen wissen, sie habe nie gedacht, daß ich ein so ordentlicher, korrekter Mensch sei. ›Wie kommen Sie mir auf Ihrer Abbildung vor‹, rief sie in ihrem letzten Briefe aus. Ich hatte ihr nämlich ein Zeitungsblatt eingesandt, das eine Photographie von mir veröffentlichte. ›Werden Sie nur nie übermütig‹, glaubte das Mädchen in allerliebster Ernsthaftigkeit das Kompliment ergänzen zu sollen, das sie mir in bezug auf die Sauberkeit meines Aussehens machen zu dürfen geglaubt hatte« (SW 17, 101–104, hier 101 f. [Marktbericht, 1926]).

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Abb. 1: Die von 1905 stammende Aufnahme erschien 1919 in der »Illustrierten Zeitung« (4,3 x 6 cm) und 1920 in »Der Lesezirkel« (8,9 x 12,5 cm). Foto: Berlin 1905, Fotostudio © Copyright: Keystone/Robert Walser-Zentrum.

gesprochen.52 Der eigentliche Clou, der dem durchschnittlichen Leser der Illustrierten damals entgangen sein dürfte, besteht darin, dass die Abbildung Robert Walser zwar darstellt, aber nicht als die Person von 1919, als das Foto in der Zeitung steht, sondern als jene von 1905, als die Aufnahme entstanden war. Wie bei der erwähnten Autorenlesung, als Walser unerkannt im Publikum saß, handelt es sich auch in diesem Fall um eine ›PseudoPräsenz‹,53 denn der Dargestellte ist eigenartig an- und abwesend zugleich. Die auf den ersten Blick verblüffende Tatsache, dass Walser bei einer eigenen Lesung inkognito blieb, ist weniger erstaunlich, wenn man weiß, dass es exakt das ›Tarnbild‹ aus der Leipziger Illustrierten war, das 1920 das Programmheft der Zürcher Lesung schmückte.54 Erneut eine Art von Camouflage ist, was Walser einige Jahre später in die Wege leitet, als in der neu gegründeten Zeitschrift Individualität eine zweite Fotografie seiner Autoren-Persönlichkeit veröffentlicht werden soll. Im Juni 1926 bittet er Frieda Mermet, ihm in der Sache behilflich zu sein:

Und dann noch folgendes: die Basler Zeitschrift: Individualität wünscht zur Reproduktion in der Sommernummer eine Photographie von mir. Nun hängt bei Lisa, neben Karl’s Portrait meines, das mit dem vielen Haar. Dieses Bild, das ich einst in Biel machen ließ, möchte ich den Baslern einsenden. Natürlich erhält es Lisa später wieder. Darf ich Sie bitten, es mir auch mit einzusenden? Ich wäre für sofortige 55 Übersendung dankbar.

Die Rede ist hier von der bekannten, bereits 1899 entstandenen Fotografie, die dann auch prompt an vorgesehener Stelle erschien. Walser hat also in dem Fall eine noch 52

53 54 55

Walser erwähnt die Fotografie 1925 gegenüber Therese Breitbach (vgl. Walser, Briefe [wie Anm. 5], S. 245 [Brief vom 1. November 1925 an Therese Breitbach]) und noch 1948 gegenüber Carl Seelig (vgl. Seelig, Wanderungen mit Robert Walser [wie Anm. 13], S. 115). Vgl. Susan Sontag, Über Fotografie (1977), aus dem Amerikan. von M. W. Rien, G. Baruch, Frankfurt a. M. 2000, S. 22: »Ein Foto ist zugleich Pseudo-Präsenz und Zeichen der Abwesenheit.« Vgl. Der Lesezirkel (wie Anm. 51), o. S.; die Fotografie erschien als ganzseitiges Tafelbild, mit dem Hinweis, dass sie aus Walsers Berliner Zeit um 1905 stamme. Walser, Briefe (wie Anm. 5), S. 278 (Brief Anfang Juni 1926 an Frieda Mermet). Die Fotografie findet sich als ganzseitige Tafel-Reproduktion in Individualität. Vierteljahresschrift für Philosophie und Kunst, 1. Jg., 2. Buch, o. S. (zw. S. 32 und 33); der Name des Fotografen wurde nicht erwähnt. In der Nummer ist Walsers Prosaskizze Der Kuss veröffentlicht, vgl. ebd., S. 29–31.

»Wir leben in plakätischen Zeiten« viel ältere Aufnahme zur Publikation gebracht als 1919. Die schon 1911 von Max Brod in seinem Kommentar zu Robert Walser angemerkte Vorliebe Walsers, sich in der literarischen Selbstdarstellung als »Knaben, als halberkennenden Reifenden zu verkleiden«,56 schlägt offensichtlich auch auf die fotografische Erscheinungsweise des Autors im Literaturbetrieb durch. Es ist nicht erstaunlich, dass dies nicht allen als passend erschien.57 So beschließt Willy Storrer, der Herausgeber der Individualität, als er Walser 1928 für einen weiteren Beitrag gewinnen will, ihn zu einer neuen Aufnahme zu bewegen: »In dem Heft sollten wir auch ein neues Bild von Ihnen bringen. Ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn wir wieder ihr Jugendbildnis abdrucken. Haben Sie eine Fotografie aus der letzten Zeit?«58 Eine Bitte, die Storrer fünf Wochen später wiederholen und mit der Rücksendung der alten Aufnahme verbinden sollte, die Walser ihm offenbar hatte zukommen lassen:

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Abb. 2: Die 1926 in der Zeitschrift »Individualität« erschienene Aufnahme zeigt den zu der Zeit bald fünfzigjährigen Walser als 21-jährigen Jüngling. Foto: Biel 1899, 9,5 x 14,1 cm, Paul Renfer, © Copyright: Keystone/Robert Walser-Zentrum.

[…] ich schicke Ihnen hier die kleine Fotographie zurück. Sie ist, wenn ich nicht irre, aus dem Jahre 1905. Es wäre nötig, dass wir ein Bild von Ihnen aus der Gegenwart bringen. Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? In Thun ist unser redaktioneller Mitarbeiter, Walter Kern. Ich möchte ihn gerne bitten, Sie in Bern aufzusuchen und 59 mit einem Foto-Apparat eine Liebhaberaufnahme zu machen.

Walser hat sich an dem Treffen, das schon am 3. April 1928 an seiner damaligen Wohnadresse an der Luisenstraße 14 in Bern stattfand, offenbar kooperativ verhalten, wohl weil ihm hinsichtlich des bevorstehenden 50. Geburtstags eine aktuelle Aufnahme unausweichlich schien. Am 5. April 1928 jedenfalls berichtet Walter Kern in die Redaktion: Das Interview mit Walser ist glänzend abgelaufen. Einliegend drei Aufnahmen, von denen die Frontalansicht die beste ist. Walser wäre einverstanden, dass ich anlässlich 56 57

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Brod: Kommentar zu Robert Walser (wie Anm. 49), S. 55. Keine Probleme damit hatte indes Die literarische Welt (4. Jg., Nr. 16, 20. April 1928, S. 1); Franz Bleis Gratulationsnotiz zu Walsers 50. Geburtstag wurde von einem Jugendbild des Dichters begleitet (vgl. Abb. 2). Willy Storrer an Robert Walser, Brief vom 24. Februar 1928, in: Der Kreis der »Individualität«. Willy Storrer im Briefwechsel mit Oskar Schlemmer, Hermann Hesse, Robert Walser und anderen, hg. von R. Lienhard, Bern u. a. 2003 (Schweizer Texte, Neue Folge 21), S. 201 f., hier S. 201. Ebd., S. 205 (Willy Storrer an Robert Walser, Brief vom 30. März 1928).

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seines 50. Geburtstages ein Bild auch an einige Illustrierte schicke. Ich dachte nun, dass wir das Frontalbild für die Individualität reservieren, damit wir ein eigenes, noch 60 unveröffentlichtes Bild bringen können.

Beschwingt von dem als angenehm empfundenen Treffen, hatte Walser Kern bereits am Folgetag, noch bevor er die Aufnahmen zu Gesicht bekam, eine Verwendung zugesichert: Gerne gebe ich Ihnen bezüglich dessen, was Sie mir von der Veröffentlichung meines Bildes in einer Illustrierten sagen, einstweilen grundsätzlich meine Einwilligung. Um welche Zeitschrift würde es sich da handeln? Darf ich das wissen? Zunächst fragt es 61 sich nun, wie die Photo ausfällt.

Wiederum einen Tag später hat Walser die Bilder gesehen und postwendend abgesegnet: »Sie sandten mir drei Photos. Für die Mühe, die Sie sich in der Sache geben, danke ich Ihnen. […] Mir kommen übrigens Ihre drei Photos wirklich soweit ganz gelungen vor. Ich sende heute zwei davon nach Prag.«62 Anlässlich von Walsers Geburtstag ist in der Individualität dann wie vorgesehen eine der Fotografien als Beigabe zu Kerns Artikel Der fünfzigjährige Robert Walser erschienen – allerdings nicht die von Kern bevorzugte ›Frontalansicht‹, sondern eine Variante, die Walser mit gesenktem Blick im Halbprofil zeigt (vgl. Abb. 3).63 Die Mechanismen, denen Walser in den 20er Jahren ausgesetzt war, als er nolens volens zum Feuilletonisten wird, formieren einen gleichzeitig boomenden und kriselnden Literaturbetrieb, der sich rasant multimedial erweitert.64 ›Kommerzialisierung‹, ›Spekulation‹, ›Konkurrenzkampf‹, ›Innovationsdruck‹, ›Bilder- und Reklameflut‹, ›Überproduktion‹, ›Inflation‹, ›sinkende Nachfrage‹ – das sind die Begriffe, die den Autor zu einem Handelsbeflissenen in Sachen Literatur stempeln, der als freier Schriftsteller langsam, aber sicher wieder dem ›Commis‹ gleicht, der er als abhängiger Angestellter einst gewesen war.65 Walsers Selbstdarstellung gleicht dabei 60 61 62

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Walter Kern an Willy Storrer, Brief vom 5. April 1928, in: ebd. S. 205 f. Robert Walser an Walter Kern, Brief vom 4. April 1928, in: Mitteilungen der Robert Walser-Gesellschaft (1998), Nr. 3, S. 16. Robert Walser an Walter Kern, Brief vom 5. April 1928, in: ebd., S. 17. – Kerns Aufnahmen von Robert Walser vom 3. April 1928 erschienen erstmals vollzählig in: Werner Morlang, Robert Walser in Bern, Bern 1994 ( Jahrring 1994), S. 79–81. Vgl. Walter Kern, »Der fünfzigjährige Robert Walser«, in: Individualität. Vierteljahresschrift für Philosophie und Kunst, 3. Jg., Buch 1/2, S. 151 f. (Sonderband: Die Schweiz im 20. Jahrhundert); die Abbildung findet sich auf einer separaten Tafelseite, auf der sich auch andere Illustrationen befinden (vgl. ebd., o. S. [zw. S. 88 und S. 89]); der Name des Fotografen wurde nicht erwähnt. – Zur Auswahl der Fotografie vgl. den Kommentar in: Der Kreis der »Individualität« (wie Anm. 58), S. 206. Zum Begriff der ›medialen Umwelt‹ vgl. Matthias Bickenbach, Das Autorenfoto in der Medienrevolution. Anachronie einer Norm, München 2010, S. 231. Vgl. Sorg, Gisi, »Zur Figur des Angestellten bei Robert Walser« (wie Anm. 2), S. 135 f.: »Es ist eine der Pointen seiner Auseinandersetzung mit dem Thema [der subalternen Tätigkeit, die Hg.], dass er sich in den zwanziger Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Produktivität als freier Schriftsteller, erneut als Angestellter vorkommt. Indem er viel für das Feuilleton schreibt, sieht er sich als Schriftsteller immer mehr als einen Angestellten des Literaturbetriebs, der einem regen

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Abb. 3: Anlässlich von Robert Walsers 50. Geburtstag am 15. April 1928 erscheint in der Basler Zeitschrift »Individualität« erstmals eine Aufnahme des Autors, die seinem aktuellen Alter entspricht. Foto: Bern 1928, 9,1 x 7 cm, Walter Kern, © Copyright: Keystone/Robert Walser-Zentrum.

in mancherlei Hinsicht dem Porträt von Charles Baudelaire, dem ›ersten‹ Dichter im Zeitalter des Hochkapitalismus, das Walter Benjamin in den 30er Jahren im Zuge seines ›Passagen-Werks‹ zu zeichnen beginnt.66 Die nach dem Ersten Weltkrieg plastischer denn je ins Bewusstsein tretenden Mechanismen der freien Literaturwirtschaft, zu denen ab 1927 schon periodisch publizierte Bestsellerlisten gehören,67 prägen also nicht nur das Selbstbild der Autoren, sondern präfigurieren auch die Vorstellungen, die sich die Zeitgenossen von der unmittelbar zurückliegenden Geschichte der Literatur machen. An Walsers Sicht auf den Literaturbetrieb ist bezeichnend, dass sie sich in dem Moment schärft, als er als Autor auf dem Weg ist, aus ihm auszutreten. Mit Hölderlin führt seine satirische Darstellung der ›plakativen‹ Schriftstellerei einen dialektischen Gegenpart an, dem die »wunderbaren Töne«68 einer unbedingten Dichtung nur um den Preis des »dichtenden Verstummen[s]«69 und der »Zerstörung und

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›Prosastückligeschäft‹ nachkommt. Walser hat mit dem Schreiben als Commis begonnen, um sich in dem Moment, als er ein anerkannter Autor ist, erneut als Commis zu erfahren.« Vgl. Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, hg. u. mit einem Nachw. von R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1974. Vgl. Ernst Fischer, »Marktinformation und Lektüreimpuls. Zur Funktion der Bücher-Charts im Literatursystem«, in: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.), Literaturbetrieb in Deutschland, Neufassung, München 32009, S. 200–218, hier S. 200. Hölderlin (1915), in SW 6 (Poetenleben, 1917), 116–120, hier 118; Friedrich Hölderlin zählt zu Walsers Leitautoren. SW 8, 59 (Eine Ohrfeige und Sonstiges, 1925).

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Zertrümmerung seines Lebens«70 gelangen. Der romantische Außenseiter dient Walser als Rollenmodell, zu dem er sich nicht flüchten kann, ohne es zugleich zu fürchten. Wie entschieden der ›edle Hölderlin‹71 bei Walser für Distanz zum Literaturbetrieb steht, erweist eine von Carl Seelig überlieferte Episode. 1944, auf einem ihrer gemeinsamen Spaziergänge, habe es Walser abgelehnt, eine in der Nähe gelegene HölderlinGedenktafel zu besichtigen: »Nein, nein, um solches Plakatgeschrei kümmern wir uns lieber nicht!«72 Der Inbegriff eines poetischen Dichters ist aber nicht nur seines tragischen Schicksals wegen kein veritables Vorbild mehr, sondern auch weil Walser erkennen muss, dass für ihn ein zeitgenössischer Dichter nur noch ›entweiht‹ vorstellbar ist. Walsers Rollenverständnis als Autor im Literaturbetrieb seiner Zeit kommt in der Publikationsgeschichte der Fotografien, die von ihm in seiner Zeit als aktiver Schriftsteller veröffentlicht wurden, anschaulich zur Geltung. Walser stilisierte sich gerne als Jüngling, und es hat bis 1928 gedauert, bis von ihm eine fotografische Darstellung erschien, die im Moment ihrer Publikation dem aktuellen Alter des Autors entspricht. In der Zeit zwischen 1919, als das erste Jugendbild erscheint, und der Veröffentlichung des Erwachsenenbildes entsteht Walsers Spätwerk, in dem sich der autofiktionale Prozess der Selbst-Darstellung intensiviert. Zu dem Walsers Poetik charakterisierenden Wechselspiel von Offenbaren und Verbergen,73 das die im Mittelpunkt stehende Schriftsteller-Figur konstituiert, gehört die produktive Spannung zwischen der Erzählgegenwart und den erinnerten Etappen ihres Werdegangs. Im fortgeschrittenen Alter fällt es Walser zunehmend schwer, das im Bild des romantischen Jüngling verkörperte utopische Potenzial für die eigene Lebenswirklichkeit fruchtbar zu machen. Diese wird für ihn immer unmissverständlicher zu derjenigen eines gescheiterten Autors: »Er wurde Schriftsteller und blieb als solcher bodenlos erfolglos«, schreibt er 1926 im Prosastück Die Ruine.74 Gemessen an Walsers Jugendbildern von 1899 und 1905, die den Autor dekontextualisiert wie eine Statue präsentieren, wirkt die ›Liebhaberaufnahme‹ von 1928 authentischer und fängt den Autor in seinem Arbeitszimmer ein. Das erste Foto, das Walser in der Medienöffentlichkeit ›unverstellt‹ zur Darstellung bringt, ist ironischerweise zugleich das letzte, das ihn als aktiven Schriftsteller zeigt. Walsers psychische Krise Ende der 20er Jahre, die durch die aufreibende Arbeitsbelastung, das Gefühl grassierender Erfolglosigkeit, den hohen Alkoholkonsum und die zunehmende Vereinsamung und Marginalisierung befördert wurde, führte am 24. Januar 1929 zum Eintritt in die stadtbernische Heil- und Pflegeanstalt Waldau. 70 71 72 73

74

Hölderlin (1915), in SW 6 (Poetenleben, 1917), 118. Vgl. SW 8, 59 (Eine Ohrfeige und Sonstiges, 1925). Seelig: Wanderungen mit Robert Walser (wie Anm. 13), S. 72. Vgl. Bernhard Echte, »›Etwas wie Personenauftritte auf einer Art von Theater‹. Bemerkungen zum Verhältnis von Biographie und Text bei Robert Walser«, in: Runa. Revista Portuguesa de Estudos Germanisticos 21/1 (1994), S. 31–59, insbes. S. 35 f., und Werner Morlang, »Nachwort«, in: Robert Walser, Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1924–1925, Bd. 2: Gedichte und dramatische Szenen, entziffert u. hg. von B. Echte, W. Morlang, Frankfurt a. M. 1985, S. 506–522, insbes. S. 516 f. SW 17, 127 (Die Ruine, 1926).

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Walser blieb in der Berner Klinik, in der er bis zu seiner erzwungenen Verlegung nach Herisau im Jahr 1933 im offenen Vollzug lebte, vorerst literarisch aktiv, wenn auch in reduziertem Ausmaß. Aus der Zeit von 1930/31 stammt der Nachlasstext Eine Art Bild, in dem ein Ich-Erzähler mit sprachlichen Mitteln »eine Art Bildnis zu zeichnen« sucht, das von einer alten, seine Person in jungen Jahren darstellenden Fotografie ausgeht.75 Die zwischen dem erzählenden und dem erzählten Ich waltende Distanz scheint für Walser in dem Fall kaum noch zu überbrücken – was darin zum Ausdruck kommt, dass das erzählende Ich von seinem fotografischen Abbild in der 3. Person spricht: Im Alter von zirka fünfzehn Jahren ließ er sich von einem begabten Photographen photographieren. Er sieht auf diesem Bild, das mir gelegentlich zu Gesicht kam, verhältnismäßig verschlossen, schweigsamkeitverkündend aus, so, als wünsche er es weit zu bringen und wolle lieber wieder weiter nicht viel Besseres erreichen als etwas Ein76 faches, Nichtssagendes.

Walsers um die Bildbetrachtung kreisender Text zelebriert einen eigentlichen Abschied von einem, der einmal »zarte Hände und träumerische Augen« besaß und »um seines Sehnens willen, etwas Schönes und Nützliches aus sich zu machen«,77 von den Menschen geliebt wurde: Wär’s nur auf mich angekommen, so würde es ihm nicht am Emporkommen gefehlt haben. Mit Vergnügen hätte ich ihn überall gefördert. So aber, ich meine, auf vielerlei Einflüsse, Verhältnisse angewiesen, blieb ihm der Eintritt ins Haus des dauernden 78 Glückes verwehrt.

Mediengeschichtlich kann man Walsers Bildbetrachtung auch als Gestaltung der unheimlichen Erfahrung lesen, die resultiert, wenn ein Subjekt realisiert, dass es zum medialen Objekt wird. Roland Barthes zufolge besteht ein maßgeblicher Effekt der Fotografie genau im Bewusstmachen dieser Transformation.79

4.

»Hier können Sie den Schriftsteller Robert Walser sprechen hören«

Der Schriftsteller Robert Walser hat es nie bei kulturkritischen Bemerkungen oder melancholischen Betrachtungen bewenden lassen, sondern aus den angespannten Bedingungen des modernen Schreibens heraus seine Poetologie entwickelt. Die intermedialen Rückkopplungen verstärkten dabei den Widerspruch zwischen der 75 76

77 78 79

SW 20, 274–275, hier 275 (Eine Art Bild, 1930/31). Ebd., S. 274. Der Text bezieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine erhalten gebliebene Fotografie von 1892/93, die Robert Walser als Konfirmand zeigt; vgl. Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten, hg. u. gestaltet von B. Echte, Frankfurt a. M. 2008, S. 30. SW 20, 275 (Eine Art Bild, 1930/31). Ebd. Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie (1980), übersetzt von D. Leube, Frankfurt a. M. 1989, S. 21.

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Unlust, persönlich in Erscheinung zu treten, und dem Wunsch, sich unmittelbar auszudrücken, der in Walsers Werk von Anfang an produktiv ist. Auf der einen Seite steht die Erfahrung der ›Unmöglichkeit‹, öffentlich vorzulesen, die im Prosastück Der Leseabend (1921) zum Ausdruck kommt und zur persönlichen Überzeugung Walsers führt, er sei »Dichter, nicht aber ein ausdrücklicher Sprecher«.80 Zu dieser Form der Zurückhaltung gehört auch die Empfindlichkeit gegenüber der ›plakativen‹ Darstellung von Autoren, die sich in Walsers satirischer Darstellung des Lesebetriebs ebenso zeigt wie in der ambivalenten Haltung gegenüber seinen fotografischen Porträts. Obwohl Walsers mediale Präsenz insgesamt mehr als diskret ist, veranschaulicht sein Verhalten, wie das Bewusstsein der Autoren wächst, dass ihre Abbilder als paratextuelle Illustration,81 Verkaufsargument82 oder imagestrategisches Mittel83 immer größere Bedeutung erlangen. Auf der anderen Seite steht der in Walsers Texten waltende Wunsch, schreibend »zu plaudern«84 und sich auszudrücken. Die ›fingierte Mündlichkeit‹85 bildet eines von Walsers Leitmotiven, das in der topischen Tradition von totem Buchstaben der Schrift und lebendigem Geist der Rede steht, aber auch die »sekundäre Oralität«86 der neuen Lautsprecher-Kultur der Apparate aufgreift.87 Bei aller Scheu vor dem öffentlichen Auftritt legt Walser sein literarisches Werk als ein großes »Selbstbildnis«88 an, als »mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch«,89 wie er es einmal nannte. Im Rahmen des (auto-)biografischen Diskurses erlangt das Fotoporträt des Autors eine zunehmend prominente Rolle,90 da es Authentizität91 verspricht und 80 81

82

83 84 85 86 87 88 89 90 91

Walser, Briefe (wie Anm. 5), S. 308 (Brief vom 28./29. September 1927 an Adolf Schaer-Ris). Zum Phänomen der visuellen Para- oder Epitexte vgl. Gunter E. Grimm, »›Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.‹ Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation«, in: ders., Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008, S. 141–167, hier S. 149, und Bickenbach, Das Autorenfoto in der Medienrevolution (wie Anm. 64), S. 231. Vgl. ebd., S. 255; der Verfasser weist darauf hin, dass bereits Baudelaire gegenüber seinem Verleger argumentiert hatte, ein in die Werkausgabe eingedrucktes Fotoporträt des Autors diene als »Verkaufsgarantie« (ebd.); vgl. auch Brandt, »Die junge Generation um 1930 als Marketingkonzept« (wie Anm. 21). Vgl. Gert Mattenklott, Bilderdienst: Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, München 1970 (Reihe Passagen). SW 2, 32 (Der Greifensee, 1899); vgl. auch SW 20, 11–14 (Hier wird geplaudert, vermutl. 1930). Vgl. Roser, Fingierte Mündlichkeit und reine Schrift. Zur Sprachproblematik in Robert Walsers späten Texten, Würzburg 1994 (Epistemata; 133) und Utz, Tanz auf den Rändern (wie Anm. 12), S. 243–294. Walter Jackson Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes (1982), aus dem Amerik. von W. Schömel, Opladen 1987, S. 136. Vgl. allg. Karl-Heinz Göttert, Geschichte der Stimme, München 1998, insbes. S. 399–460, zu »Walsers Ohralität« im Besonderen: Utz, Tanz auf den Rändern (wie Anm. 12), S. 243–294. SW 20, 427 (Meine Bemühungen, 1928/29, aus dem Nachlass). SW 20, 322 (Eine Art Erzählung, 1928/29, aus dem Nachlass). Das bestätigt ein Blick in: Gero von Wilpert, Deutsche Literatur in Bildern, mit 861 Abb., Stuttgart 1957. Zum gespannten Verhältnis von Authentizität und Künstlichkeit vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt a. M. 2001, S. 281–291 und 391–397.

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dazu tendiert, als prägnante ›Marke‹ metonymisch für den Autor und sein Werk zu stehen. Allerdings wächst das Bewusstsein rasch, dass auch die Fotografie ein Stilisierungsmittel erster Güte ist. Das ambivalente Selbstverständnis als Autor, das Walser charakterisiert, formt ein bezeichnendes stilistisches Merkmal aus. Der Scham vor der unmittelbaren Präsenz und Repräsentation seiner Person und des erzählenden Ich entspricht ein Gestus der Produktion, der die Vermittlungsdimension der Darstellung betont. Immer unverblümter legt Walser seine Texte als »durchschaute[ ] Kulturwaren«92 an, die ihre Bedingungen und Möglichkeiten zum Thema erheben: den Schreibanlass, den Autor, das Finden des Erzählgegenstands, den Schreibprozess und die zu erwartende Reaktion des Publikums. So wird der Text zu einem Medium, das die eigene Genese inszeniert und zur Schau stellt, und das Schreiben nimmt Züge eines existenziellen Rollenspiels an, in dem der Autor sich selber mimt. Das Mittel, den Konflikt zwischen Zurückhaltung und Selbstdarstellung zu lösen und auf literarischem Weg eine Form der persönlichen Präsenz zu entfalten, bietet Walser der »autofiktionale Pakt«,93 der den Autor als einen anderen seiner selbst ›schamlos‹ zur Darstellung zu bringen vermag. Das Musterbeispiel einer poetologischen Pointe, die veranschaulicht, wie Walser die Verstrickung im Literaturbetrieb und die autofiktionale Projektion zu einer ureigenen Schreibweise amalgamiert, ist das Prosastück Walser über Walser, das 1925 in der Neuen Zürcher Zeitung und im Prager Tageblatt erschien und wie folgt beginnt: »Hier können Sie den Schriftsteller Robert Walser sprechen hören.«94 Auch hier geht es um das Paradox, sich zu exponieren und zugleich zu verbergen. In den Worten Walsers: »Ich wünsche also unbeachtet zu sein. Sollt man mich trotzdem beachten wollen, so werde ich meinerseits die Achthabenden nicht beachten.«95 Der Text endet schließlich mit dem vertrackten Wunsch, »den lebenden Walser wolle man versuchen, zu nehmen, wie er sich gibt«.96 Die ironische Überblendung des ›wirklichen‹ 92 93

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Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a. M. 1988, S. 176. Lucas Marco Gisi definiert den autofiktionalen Pakt bei Walser wie folgt: »Als Pakt, dass die Verpflichtung auf die Realität, wie sie die Autobiographie kennt, so weit Geltung hat, als sie den Ausgangspunkt für eine fiktionale Darstellung bildet. Es ist der Konsens, dass der, der ›Ich‹ sagt, der Autor ist, aber dass dieses Ich nicht faktual, sondern fiktional von und über sich sprechen wird. Der Pakt ist nötig, denn es besteht immer die Gefahr, dass der Text rein als Autobiographie oder rein als Fiktion gelesen wird. Der Pakt wird also geschlossen, wenn der Leser im Text die Merkmale findet, die ihn veranlassen, weder ganz der einen noch ganz der anderen ›Lesart‹ zu vertrauen. Er eröffnet aber damit gerade die Möglichkeit, das ›Ich‹ als Rolle einer Figur und die Figur als Maske des ›Ich‹ zu identifizieren, kurz: die Autofiktion ermöglicht und bezeichnet somit letztlich eine komplexe Ausgestaltung des Spannungsfelds zwischen Autobiographie und Fiktion.« (Lucas Marco Gisi, »Der autofiktionale Pakt. Zur [Re-]Konstruktion von Robert Walsers ›Felix‹-Szenen«, in: Elio Pellin, Ulrich Weber [Hg.], »... all diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs«. Autobiographie und Autofiktion, Göttingen 2012 [Sommerakademie Centre Dürrenmatt Neuchâtel; 3], S. 55–70, hier S. 57.) SW 17, 182 (Walser über Walser, 1925). Ebd., S. 184. Ebd.

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mit dem ›unwirklichen‹ Walser macht aus der Erzählinstanz wie aus dem Autor eine ebenso plastisch wie phantomatisch anmutende Figur. Die hohe Affinität seiner Prosa zum Theater war dem »Shakespeare des Prosastückli’s«97 selber bewusst. Die genuin gestische Dimension verbindet Walsers Prosa mit dem »Performativierungsschub«,98 der die Künste im 20. Jahrhundert zu erfassen beginnt, und macht deutlich, wie der Tendenz zur Verfremdung und Virtualisierung ein Wunsch nach Unmittelbarkeit und Authentizität entspricht. Die selbstbezügliche Poetik des ›Zeigens‹,99 in der die »materiellen Substrate der literarischen Kommunikation«100 immer mehr ins Gewicht fallen, neigt zur »Stofflosigkeit«101 und zum Phänomen, dass die Texte hinter ihrer Inszenierung zurücktreten: »Der ernsthafte Schriftsteller fühlt sich nicht berufen, Anhäufungen des Stofflichen zu besorgen«, meinte Walser lakonisch.102 Je weniger Stoff vorhanden ist, desto größer wird das Ereignis, das der Text selber darstellt. Im Endeffekt erscheint der Text als die Partitur seiner Performanz oder als der Prätext seiner Vermarktung. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts trägt die literarische Welt längst die Merkmale einer ausgewachsenen ›Kulturindustrie‹.103 Wenn Walser 1926 an Frieda Mermet schreibt, dass sein »Schriftstellereigeschäft […] von einer nicht übertriebenen Betriebsmäßigkeit« sei, so meint er damit, dass »die Herren Verleger« nicht so viel drucken wollten, wie er zu produzieren in der Lage war.104 Er hatte in diesen Jahren derart intensiv gearbeitet, dass er sich »total ausgeschrieben« und »[t]otgebrannt wie ein Ofen« fühlte.105 Es zeichnet Walser aus, dass sein Anspruch an die Literatur, als ›Ereignis‹ zu funktionieren, nicht nur Bedingung und Motiv seines Schreibens bildet, sondern auch dessen Form bestimmt. Je schwerer sich Walser mit den Ansprüchen des modernen Literaturbetriebs tut, desto mehr verlegt er seine Auftritte in den geschützten und von ihm auktorial kontrollierten Raum des Schreibens. Auch Walsers singuläre »Bleistiftmethode«106 entspricht genau dieser Tendenz. 97

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Offenbar hat Max Rychner, der Redaktor von Wissen und Leben, Walser so betitelt; vgl. Walser, Briefe (wie Anm. 5), S. 237 (Brief vom September 1925 an Max Rychner). – Vgl. Jochen Greven, »Die Geburt des Prosastücks aus dem Geist des Theaters« (1987), in: ders., Figur am Rande (wie Anm. 14), S. 21–34. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 24. – Auf die Affinität von Walsers Prosa zum Theater ist früh hingewiesen worden; vgl. Greven, »Die Geburt des Prosastücks« (wie Anm. 97), S. 21–34. Zur Geste des Zeigens vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, »›Zeigen‹ als philosophische Irritation«, in: Karen van den Berg, Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Politik des Zeigens, München 2010, S. 195–202. Rainer Rosenberg, »Die Sublimierung der Literaturgeschichte oder: ihre Reinigung von den Materialitäten der Kommunikation«, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988, S. 107–120, hier S. 107. Carl Einstein, Bebuquin (1912), Stuttgart 1985, S. 49. SW 5, 74 (Der Spaziergang, 1917). Vgl. Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung (wie Anm. 92), S. 128–176. Walser, Briefe (wie Anm. 5), S. 288 (Brief vom 29. November 1926 an Frieda Mermet). Seelig, Wanderungen mit Robert Walser (wie Anm. 13), S. 26. SW 19, 122 (Bleistiftskizze, 1926/27).

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Durch die extrem verkleinerte und verschliffene Schrift, in der Walser ab Mitte 1924 seine Texte zu Papier bringt, schafft sich der Autor einen ihm allein zugänglichen persönlichen Schreibbereich, der ihn zum Ausprobieren und Ausagieren einlädt.107 Mit der ›Mikrographie‹ entwickelt Walser eine »Arbeitsweise«, die ihm ein »eigentümliche[s] Glück« beschert, da in ihr eine Art ursprüngliches traumwandlerisches Schreiben wieder möglich scheint.108 Die spezifische Literarizität der Texte und die ihr entsprechenden medialen Erscheinungsformen der Autor-Person machen deutlich, dass Robert Walsers literarische Selbstdarstellung einer Selbstbehauptung gleicht, die einer intensiven Reflexion der heteronomen Bedingungen der Literatur entspringt und die Fremdbestimmung poetisch aufzuheben versucht. Ob die ironisch-experimentelle Erzählhaltung Walsers Spielraum gegenüber dem Literaturbetrieb letztlich vergrößert oder verkleinert hat, bleibt eine offene Frage.

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Vgl. dazu das Nachwort in Robert Walser, Mikrogramme, hg. von L. M. Gisi, R. Sorg, P. Stocker, Frankfurt a. M. 2011, S. 202–212, hier S. 211 f. SW 19, 122 (Bleistiftskizze, 1926/27).

Karl Wagner

Der Großschriftsteller. Robert Musils projektierter Versuch über den Ruhm Ich habe 1931 Wien verlassen, weil Rot und Schwarz darin einig gewesen sind, in Wildgans einen großen österr. Dichter verloren zu haben. Robert Musil

Musils Versuch über den Ruhm gibt es nicht. Es gibt aber eine offene Versuchsreihe mit Aspekten, Exzerpten, Personen und Begriffen, die ein derartiger Versuch zu berücksichtigen hätte bzw. gehabt hätte. Nicht zuletzt, und wohl am drängendsten, hätte das Buch eine kritische Selbstbeschreibung umfasst, etwas also, das ein entscheidendes Problem des Mann ohne Eigenschaften betrifft und dort im berühmten Heimweg-Kapitel in aller Deutlichkeit exponiert worden ist, ohne dass das Erzählproblem für den Autor damit erledigt war. In den Tagebüchern gibt es zahlreiche Einfälle, Skizzen und Entwürfe, die bezeugen, dass Musil nicht aufgehört hat, über das Darstellungsproblem (s)einer Lebensgeschichte nachzudenken. Dies hat auch mit einem anderen theoretischen Problem zu tun: Eine Analyse des Literaturbetriebs war für Musil ohne eine ›Sozioanalyse‹ seiner eigenen Beteiligung daran nicht denkbar. Der bourdieusche Begriff ist mit Bedacht gewählt, weil der französische Soziologe in zentralen Kategorien an das Werk von Ernst Cassirer anknüpft, dessen Philosophie der symbolischen Formen – und andere Werke – auch Musil beschäftigt haben. Was Bourdieu wie Musil daran interessiert hat, war, kurz gesagt, ein Denken in Relationen, nicht in Substanzen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die beiden berühmten Ansichten des ›Großschriftstellers‹ im Mann ohne Eigenschaften frappante Ähnlichkeiten mit Bourdieus Analysen des literarischen Feldes haben; Ähnlichkeiten, die sprachlich bis in die Metaphorik des Spiels reichen. Letztere reizt Bourdieu bis zum Äußersten aus mit seiner Rede vom Einsatz im Spiel und allen Schattierungen desselben bis hin zum Glücksspiel; das semantische Potenzial, das diese Bildlichkeit eröffnet, wird auch von Musil genutzt. »Darum weist die Rolle des Großschriftstellers«, schreibt Musil, »auch nicht etwa auf eine bestimmte Person hin, sondern stellt eine Figur am gesellschaftlichen Schachbrett dar, mit einer Spielregel und Obliegenheit, wie sie die Zeit ausgebildet hat.«1 Dies steht wohlgemerkt in einem Roman, und das berührt nun in der Tat die Frage einer Poetik des Betriebs: Musil entwickelt eine Vielfalt des fiktionalen wie nichtfiktionalen Sprechens über ein Problem, um deutlich zu machen, dass es nicht eine bestimmte Theoriesprache (oder auch nur Redegattung) gibt, die dafür ein für alle Mal zuständig sei und das Patent besitze. Diese 1

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von A. Frisé, Reinbek 1978 (= Gesammelte Werke, Bde. 1–5), S. 430. Im Folgenden mit der Abkürzung MoE und Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert.

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Freizügigkeit setzt ihrerseits die Spezialdisziplinen voraus, in unserem Fall also zum Beispiel die Soziologie. In rigoroser Selbstbezichtigung führt Musil seine Arbeitshemmungen und die Schwierigkeiten beim Abschließen des Mann ohne Eigenschaften auf seine mangelnden Kenntnisse des ›Soziologischen‹ zurück: Meine geistige Ausrüstung für den Roman war dichterisch, psychologisch, u. z[.] T. philosophisch. In meiner jetzigen Lage bedarf es aber des Soziologischen u. wessen dazugehört. Darum verlaufe ich mich immer hilflos in Nebenprobleme, die auseinander=, statt zusammengehn. Oft habe ich den Eindruck, dass meine geistige Kraft 2 nachlässt; aber eher ist wahr, dass die Problemstellung über sie hinausgeht.

Zwar ist hier eine Theorie der Gesamtgesellschaft gemeint, doch gilt für die Literatur als gesellschaftliches Teilsystem Analoges. Diese alles andere als narzisstische Reflexivität weist nachdrücklich darauf hin, dass für Musil das Phänomen des Ruhms, der Größe und des Großschriftstellers ohne die historisch-sozialen Dimensionen und Kontexte nicht zu begreifen ist. Schärfer noch: Der Großschriftsteller wird von Musil nicht poetologisch, sondern soziologisch-gesellschaftskritisch gefasst; er begreift ihn anhand der gesellschaftlichen Funktionen, die der Großschriftsteller einnimmt und affirmiert. Diesem gehe es nicht um einen emphatischen Begriff von Dichtung, sondern um einen populären, d.h. um den Erfolg beim Publikum. Damit eröffnet sich eine Konvertierbarkeit von symbolischem und ökonomischem Kapital, von Geist und Macht, die den Großschriftsteller in eine Reihe von Führern stellt, die der von Thomas Carlyle beschriebenen Typologie entspricht, vor allem aber dessen Formen der Heldenverehrung. Die Frage: »Wann führt man?« hat Musil einmal so beantwortet: »1) durch Gewalt 2) durch Schmeichelei, zum Munde Reden, zumindest niemand Abschrecken. Beispiel: Großschriftsteller.«3 Die prägnanteste Kurzbeschreibung seines Projekts steht in Musils Tagebuch und spricht diesen Zusammenhang direkt an: »Ruhm wäre der Titel eines Büchleins, das zu Unterabteilungen den Großschriftsteller u. den Zirkus Mann haben könnte. Es hätte auch Beziehung zu H.[itler].« (Tb I, 766) Allerdings liefert gleich die nächste, umfangreiche Notiz eine andere Unterabteilung (»Humus u Posthumus«) bzw. eine »andere funktionelle Beschreibung«: Beim Tode tritt üblicherweise ein Gipfel der Überschätzung in Erscheinung. Dann werden noch Versuche mit Gesamtausgaben und Nachlässen gemacht; u. dann wächst langsam Gras darüber. Was geschieht da eigentlich? Denke an Hofmannsthal u Geor2

3

Robert Musil, Tagebücher, hg. von A. Frisé, 2 Bde., Reinbek 1983, S. 963 f. Im Folgenden mit der Abkürzung Tb I bzw. Tb II im fortlaufenden Text zitiert. – Siehe dazu Franz Schuh, »Das Zittern des Geistes. Über Thomas Mann, Robert Musil und andere Größenverhältnisse«, in: ders., Der Krückenkaktus. Erinnerungen an die Liebe, die Kunst und den Tod, Wien 2011, S. 14–49. Robert Musil, Gesammelte Werke, hg. von A. Frisé, 9 Bde., Reinbek 1978, Bd. 7, S 831. Im Folgenden mit der Abkürzung GW, Band- und Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. – Thomas Carlyles Vorlesungen On Heroes, Hero-Worship, and The Heroic in History im Jahre 1840 erschienen zur Jahrhundertwende auch auf Deutsch: Thomas Carlyle, Helden und Heldenverehrung, bearbeitet von A. Luntowski, Berlin 1912. Ein Reprint des englischen Originals erschien Teddington 2007.

Der Großschriftsteller | 189 ge. Eine Gemeinde verläuft sich; d.h. eine von verschiedenen Inter.[essen] in gleicher Richtung zusammengehaltene Interessengemeinschaft. Gemeinsam war ihr wohl: Sich an diesem Mann »emporranken«, der Dichter als Kletterstange des Kritikers, Historikers, Verlegers usw. Auch der mehr oder weniger politischen u sozialen (zb. Th M u Bourgeoisie) Gruppe. (Tb I, 766)

Nebst anderen Phänomenen des »posthume[n] Gras wachsens« stellt sich nach dem Verschwinden des Mannes die Frage: »Wie aber beginnt nun seine zweite Karriere.« (Ebd.) Musil gibt eine persönliche Antwort: »Ich stelle mir vor, daß ich Hofm. od. Georg. von neuem lese«, und fragt sich: »Greift das nun in eine tiefere Schichte? Sondert sich da die Gestaltung vom Inhalt? Ich weiß es nicht. Bei Hofm. könnte ich mir denken, daß sein ganzes Bemühen, ein großes Glied der Tradition zu sein, als unzulänglich, ja snobisch wegfällt; aber Stellen des unwillkürlichen Gelingens übrig bleiben.« (Ebd.) Schon dieses Beispiel kann zeigen, warum das Büchlein über den Ruhm nicht zustande kam; es ist die Vielfalt der Perspektiven und Argumente Musils, die das Unternehmen hintertreiben, es zugleich aber immer attraktiver erscheinen lassen. Die bisher genannten Autornamen lassen einen ideologischen Verdacht Musils erkennen, der am Beispiel der Dichtergemeinde strukturelle Analogien zu politischen Vorgängen erkennt, wobei Musil das »Führerverhältnis« (Tb I, 766) selbst noch beim Lesen entdeckt. Goethe ist sein Beispiel, generell aber ist es »die Bewunderung für die Vollkommenheit eines Exemplars« (Tb I, 766), worin sich fragwürdige Identifikationen und Bedürfnisse der Lesenden offenbaren. Im Mann ohne Eigenschaften wird dies vor allem an der Figur Arnheim gezeigt. Deren Verehrung Goethes als großer Mann ist nicht nur Selbstfeier, Harmoniebedürfnis und Indiz für falsche Synthesen; Arnheims Goethekult indiziert auch die Aporien jüdischer Assimilation, dergestalt, dass die Darstellung der illusionären und instrumentalisierten Berufung auf Goethe seitens Arnheims auch den Gegnern Arnheims satirische Lichter aufsetzt. In der historischen Realität, also gegenüber dem deutschen Konzernchef und späteren Außenminister Rathenau, dem Vorbild für die Romanfigur Arnheim, hat sich Musil, im Unterschied zu seinem literarischen Protagonisten Ulrich, sehr korrekt verhalten. Er war sogar bereit, trotz seiner Aversion einen Protest gegen die Ermordung Rathenaus zu unterstützen. Vergleichbares war etwa Robert Walser zu jener Zeit nicht möglich. Der Protagonist seines Räuber-Romans klatscht Beifall, als er von der Mordtat erfährt; in zwei unveröffentlicht gebliebenen Mikrogrammen hat Walser Rathenau ressentimentgeladen als Symptom seiner kranken feuilletonistischen Epoche dargestellt. Nachfolgend ein kurzer Auszug aus einem dieser Texte, der als Druckfahne im WalserArchiv vorhanden ist (er wurde vom Suhrkamp-Verlag im letzten Moment vor der Drucklegung der ersten beiden Bände zurückgezogen und in späteren Supplementen nicht wiederaufgenommen): Rathenau war kaum viel anderes als ein Vertreter von seiner Zeitgenossen angelesener Bildung. Insofern er sehr viel las, schrieb er auch sehr viel, und weil er viel schrieb, wird man so ziemlich bereits aufgehört haben, ihn zu lesen. […] Rathenau war ein

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wahres Prachtexemplar des für brutale Kraft schwärmenden, zerstückelten, über und über von Bildung angegossenen, sentimentalen Industrialmenschen, der entzückt war, wenn unter den Fenstern seiner Achtzehnzimmerwohnung Kavallerie vorbeiritt. Blaue Augen verwirrten ihn, und sein Semitentum verachtete er auf ’s Unvorsichtigste. Seine hinterlassenen Werke sind besseres Feuilleton und darum nicht im tieferen Sinn aufbewahrenswert. Alles Feuilletonhafte ist in sich krank, wie denn auch dieser Damenhöschenfink, der den Minister zu spielen wagte, als eine recht sehr artige Krankheitserscheinung aufzufassen ist. Ein typischer Sohn einer geringen Epoche. Eine seufzende Literaturpflanze, tugendhafter Sumpf. Lasterbefangener Idealismus. Es 4 gibt Tausende, wie er war. Er war unoriginell, wie es alle lediglich Gebildeten sind.

In diesem prekären Porträt verschränken sich homophobe Züge und eine Krankheitsmetaphorik, die dem Feuilletonhaften und Essayistischen das gesunde Original entgegensetzt. Walsers Antipathie betrifft sowohl das eigene Metier, das Feuilletonschreiben, als auch Rathenaus literarischen Geschmack, der sich u. a. durch eine Vorliebe für Hesse auszeichnete. Einige von Hesses Büchern hat Karl Walser illustriert, dem auch die Innengestaltung des von Rathenau erworbenen Schlosses Freienwalde in der Mark Brandenburg oblag sowie der Villa Rathenaus in Berlin Grunewald. Diese lag direkt neben der von Samuel Fischer, der seit 1912 Rathenaus Verleger war und für den Musil 1914 die Redaktion der Neuen Rundschau besorgte und dortselbst auch einen Verriss von Rathenaus (im Übrigen erfolgreichem) Werk Zur Mechanik des Geistes. Der Maler Max Liebermann sagte 1931 in einem Interview über den Mann ohne Eigenschaften: Ein furchtbares Buch. Aber hoch interessant! Wissen Sie, da kommt doch der Rathenau vor, das war ja mein Vetter, ich habe ihn gut gekannt. Mich wundert bloß, woher dieser Musil das hat. Er beschreibt ihn so eindringlich und rücksichtslos, wie nur je5 mand schreiben kann, der selbst den gleichen Charakter hat.

Im Mann ohne Eigenschaften ist Rathenau durchwegs Objekt der Ironie; als Inbegriff des Großschriftstellers (wie Thomas Mann, Stefan Zweig oder Hermann Hesse und noch ein paar andere Namen, die bei Musil auftauchen, etwa Emil Ludwig oder, kurz, Egon Erwin Kisch) repräsentiert er den Antitypus zum Intellektuellen Ulrich. Musil hat, wie Norbert Christian Wolf gezeigt hat,6 alle Vorkehrungen getroffen, dass der studierte Mathematiker Ulrich dem Schreiben gegenüber eine äußerst reservierte Haltung einnimmt und es, gegenüber Arnheim, als »ein übertriebenes Bedürfnis« (MoE, 417) darstellt. Ulrich kommt dem Begriff des Dichters nahe, den Musil in der Skizze der Erkenntnis des Dichters präsentiert, welche darunter eine Erkenntnishaltung und damit sogar die Vorstellung vom Dichter ohne Werk umfasst. Ulrich beginnt gleichwohl spät, und mit höchstem existenziellem Ernst, heimlich zu schreiben, und zwar ein »Tagebuch« mit aphoristischen Aufzeichnungen. Das 4 5 6

Robert Walser, Mikrogramme, 480a/IV und 480b/I (unveröffentlichte Mikrogramme, RobertWalser-Archiv, Bern). Der Querschnitt 11 (1931), S. 707 f. Norbert Christian Wolf: »Robert Musil als Analytiker Robert Musils. Zum ›Mann ohne Eigenschaften‹«, in: Markus Joch, Norbert Christian Wolf (Hg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, S. 207–229, hier bes. S. 228 f.

Der Großschriftsteller

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alles läuft auf eine Negation dessen hinaus, was der moderne Großschriftsteller Paul Arnheim gar nicht erst zu denken wagt: Er müßte herzliche Einladungen ablehnen, Menschen zurückstoßen, Lob nicht wie ein Belobter, sondern wie ein Richter bewerten, natürliche Gegebenheiten zerreißen, große Wirkungsmöglichkeiten als verdächtig behandeln, nur weil sie groß sind, und hätte als Gegengabe nichts zu bieten als schwer ausdrückbare, schwer zu bewertende Vorgänge in seinem Kopf und die Leistung eines Schriftstellers, worauf ein Zeitalter, das schon Großschriftsteller besitzt, wirklich nicht viel Wert zu legen braucht! Würde ein solcher Mann nicht außerhalb der Gemeinschaft stehen und sich mit allen Folgen, die das hat, der Wirklichkeit entziehen müssen?! (MoE, 432)

Die Ironie des Begriffs »Großschriftsteller« besteht darin, dass er per definitionem gerade »kein großer Schriftsteller« (Tb I, 802) ist. Musil operiert mit derselben Verkehrung wie die Rede von der »großen Zeit«, mit der Karl Kraus seine Zeit im Weltkriegsjahr 1914 satirisch gefasst hat. Wobei, um dies hier gleich anzufügen, Karl Kraus und seine Anhänger für Musil Bestandteil des zu untersuchenden Problems sind: Lange vor den Diktatoren hat unsere Zeit die geistige Diktatorenverehrung hervorgebracht. Siehe George. Dann auch Kraus und Freud, Adler u. Jung. Nimm noch Klages u. Heidegger hinzu. Das Gemeinsame ist wohl ein Bedürfnis nach Herrschaft u Führerschaft, nach dem Wesen des Heilands. Gibt es auch gemeinsame Züge der Führer? zb. Feste Werte, bei denen sich trotzdem Verschiedenes denken läßt. (Tb I, 896)

Arnheim und seinesgleichen ersetzen, angesichts der Schwierigkeiten, das Große bzw. Größe bestimmen zu wollen oder auch zu können, »die unmeßbare Wirkung der Größe durch die meßbare Größe der Wirkung«. »Groß ist nun, was für groß gilt; allein das heißt, daß letzten Endes auch das groß ist, was durch tüchtige Reklame dafür ausgeschrien wird, und es ist nicht jedermann gegeben, diesen innersten Kern der Zeit ohne Beschwernis zu schlucken […].« (MoE, 433) In Musils virtuellem Buch über den Ruhm ist die Messbarkeit der Wirkung, konzeptuell gesehen, äußerst wichtig; nicht nur deshalb, weil mit dem zeitgenössischen Fetisch des Erfolgs unverzichtbare polemische Potenziale anfallen, was zeitgenössische Ruhmeskarrieren, Erfolge und daher auch persönliche Kränkungen betrifft: »Wenn ich bedenke, welche Erfolge ich mit angesehen habe! Von Dahn u Sudermann bis George und Stef. Zweig! Und da erklären sie es für Snobismus oder Dekadenz, wenn man das Publikum verschmäht!« (Tb I, 931) Die unmittelbar sich anschließende Selbstaufforderung lautet indes: »Erklär dir, wie es wirklich ist.« (Ebd.) Damit ist klar, dass Musil nicht an Kulturkritik, sondern an deren empirischer Fundierung sowie an Selbstobjektivierung interessiert ist. Sein Festhalten von Daten zur Buchproduktion, Auflagenzahlen, ›Netzwerken‹ und dergleichen verraten ein Interesse an Wirkungsgeschichte, das er in den 20er/30er Jahren mit Intellektuellen wie Benjamin, Kracauer oder Leo Löwenthal teilt und wie diese methodisch aus den Fängen der bloßen Stoffgeschichte befreien möchte. Angesichts dieser überpersönlichen Interessen mehrerer an einer Soziologie des Kunstwerks und seines Publikums nimmt sich Canettis Kritik an Musils Tagebüchern als un-

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Karl Wagner

freundlicher Akt aus; er dient ihm wohl auch als Gegengewicht zu seiner sonstigen emphatischen Musil-Verehrung. Unter den Notizen zu Canettis nicht fertiggestellter Studie über Musil findet sich nämlich auch diese: Er ist käuflich […]. Er ist auf eine erschreckende Weise vom Erfolg fasziniert: unaufhörliches Ins-Auge-Fassen der Erfolgreichen. Der Krieg beschäftigt ihn kaum. Seine Bettel- und Drohbriefe haben nicht genug Würde. Mit der Veröffentlichung der Tagebücher hat man ihm einen sehr schlechten Dienst erwiesen. Wirklich existiert er nur 7 in seinem großen Werk.

Gegen Musils Individualpathologie sprechen zeitgenössisch u. a. Löwenthals Arbeiten zur Wirkungsgeschichte Dostojewskis und Hamsuns, Kracauers Essays Über Erfolgsbücher und ihr Publikum bzw. Die Biographie als neubürgerliche Kunstform oder Benjamins Hörmodell Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben. Sie wurden, lange Zeit unbeachtet geblieben, zu Vorbildern einer kritisch reflektierten Wirkungsgeschichte, die anderes im Sinn hatte, als Marktforschung zu betreiben. Nur am Rande sei erwähnt, dass, unabhängig von Musil, Ludwig Hohl ebenfalls über Ruhm und Erfolg nachdachte und zu ganz anderen Schlüssen kam, wenn er schrieb: Der höhere Geist verachtet den Ruhm nicht, obgleich er um seine Nichtigkeit weiß; er nimmt ihn in gewissem Maße doch an und zwar ganz einfach der äußeren Lebensermöglichung wegen. Er nimmt das falsche Gebilde an, gewisser seiner Komponenten wegen, die wenigstens in der äußern Wirkung jenes Wahre und Simpelste ersetzen, das 8 er nie erlangen kann: die Anerkennung.

Musil war also kein Einzelgänger mit seinen Interessen; wie Benjamin suchte er nach Anknüpfungspunkten in den zeitgenössischen Kulturwissenschaften. Benjamin verweist, gegenüber Löwenthal, mit deutlicher Distanz auf Julian Hirschs Die Genesis des Ruhms: Ein früher und interessanter Vorstoß, der freilich mit Ihrer Betrachtung nicht viel zu tun hat, wäre allenfalls Julian Hirschs ›Genesis des Ruhms‹, die Ihnen bekannt sein wird. Hirsch bleibt vielfach im Schematischen stecken. Bei Ihnen hat man es mit der 9 konkreten geschichtlichen Situation zu tun.

Der Großschriftsteller ist fasziniert vom Erfolg, von der Wirkung; er ist ja auch »keineswegs einfach das gleiche wie ein Schriftsteller, der viel Geld verdient. Das 7 8 9

Zitiert nach Sven Hanuschek, Elias Canetti, München, Wien 2005, S. 572. (Hanuschek zitiert aus dem unveröffentlichten Nachlass, Zentralbibliothek Zürich.) Ludwig Hohl, Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung, Frankfurt a. M. 1981, S. 163; ferner S. 175 f. und 548. Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, hg. vom Theodor W. Adorno-Archiv, 6 Bde., Frankfurt 1995–2000, Bd. IV, S. 444 (an Leo Löwenthal vom 1. Juli 1934). – In Bd. II, S. 204 in einem Brief an Scholem vom 27. 10. 1921 geht Benjamin mögliche Mitarbeiter für seine geplante Zeitschrift Angelus durch: »Ich meinerseits habe Holzmanns Vetter [Julian] Hirsch und den Bildhauer Freundlich aufgesucht […] Otto Freundlich [kommt] nicht [in Frage] durch seine erstaunliche Unreife, Hirsch dagegen überhaupt in gar keiner Weise. Sein Buch über die ›Genesis des Ruhmes‹ [Leipzig 1914] ist mit einer ziemlichen Menge Stumpfsinn ausgestattet.«

Der Großschriftsteller

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›gelesenste Buch‹ des Jahres oder Monats braucht er niemals selbst zu schreiben, es genügt, dass er gegen diese Art der Bewertung nichts einzuwenden hat« (MoE, 429). Mit polemischer Lust entwirft Musil immer andere Listen von den Erfolgreichen seiner Zeit. Er bekennt sich zum »polemischen Charakter des Buchs. Wie blöd die Zeit ist. Neid, Ehrgeiz und dergleichen Bedenken treten zurück« (Tb I, 472). Zu den Namen (u. a. Spengler, Kraus, H. Mann, George, Schönherr […] Expressionismus) notiert sich Musil die Maxime: »Nicht aufgenommen werden bedeutet nicht Schätzung. Aufgenommen werden nicht Mißachtung, sondern Prinzip.« (Ebd.) Mit dem Großschriftsteller kommt noch eine andere Kategorie ins Spiel, die Musil mit mindestens ebensolcher ironischer Insistenz verfolgt hat: das Genie; insbesondere die Übergänge von ›Großschriftsteller‹, ›großer Mann‹ und ›Genie‹ im zeitgenössischen Wortgebrauch und die Anwendung dieser Begriffe. Unter dem Stichwort »Bezeichnend« notiert Musil: »Es gibt heute aufs weiteste eine geradezu geniale Artistik in allen Lebensgebieten, in Sport, Tanz, Akrobatik, Abenteuern aller Art (s. den Tierfänger im Film, der Wildkatzen u Schlangen in einem Sack fängt); u. es gibt sehr wenig geniale Kunst.« (Tb I, 742) Die »geniale Artistik« erinnert nicht zuletzt an den Bildbereich des Zirkus, mit dem Musil Thomas Mann unter negativen Vorzeichen in Verbindung bringt. Dass mit der Ausweitung des Wortes ›Genie‹ bzw. ›genial‹ dessen Inflation einhergeht, hat Musil im Mann ohne Eigenschaften am Beispiel der Prägung ›geniales Rennpferd‹ höchst ironisch vermerkt: Es hatte damals schon die Zeit begonnen, wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub, aber auf mindestens zehn geniale Entdecker, Tenöre oder Schriftsteller entfiel in den Zeitungsberichten noch nicht mehr als höchstens ein genialer Centrehalf oder großer Taktiker des Tennissports. Der neue Geist fühlte sich noch nicht ganz sicher. Aber gerade da las Ulrich irgendwo, wie eine vorverwehte Sommerreife, plötzlich das Wort ›das geniale Rennpferd‹. Es stand in einem Bericht über einen aufsehenerregenden Rennbahnerfolg, und der Schreiber war sich der ganzen Größe des Einfalls vielleicht gar nicht bewußt gewesen, den ihm der Geist der Gemeinschaft in die Feder geschoben hatte. (MoE, 44)

Harald Weinrich hat als einer der ersten darauf hingewiesen, dass Ulrichs Studium des Wortes ›Genie‹ im Wörterbuch der Brüder Grimm einem der wenigen Fremdwörter gilt, die Eingang in deren Deutsches Wörterbuch gefunden haben – ein indirekter Beweis für die besondere Wertschätzung dieses Konzepts in der deutschen Bildungs- und Literaturtradition.10 Musils Kritik an der inflationären Verbreitung des Geniebegriffs lässt sich ohne weiteres mit Anliegen des Wiener Kreises der Philosophie verbinden, dem er sich auch aus erkenntniskritischen wie sozialstatistischen und kommunalpolitischen Gründen verbunden fühlte. Edgar Zilsels Arbeiten über Die Entstehung des Geniebegriffs (1926) und Die Geniereligion (1918) berühren sich in der Diagnose wie vor allem auch im Vorbehalt gegen die Genieverehrung mit Musils Intention; wie Zilsel 10

Vgl. Harald Weinrich, »Das Wörterbuch als Walfisch«, in: ders., Sprache, das heißt Sprachen, Tübingen 32006, S. 157–167.

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Karl Wagner

rekurriert auch Musil auf Carlyles und Emersons Untersuchungen zur Verehrung des Großen Mannes. Ein Rätsel ist ihm nicht die »Helden-, Hypnotiseur- und Charlatansverehrung«; sie sei vielmehr »natürlich und ursprünglich: wir Menschen sind Heldenverehrer«.11 Zilsels Frage lautet hingegen, »ob wir Heldenverehrer auch bleiben können« (169). Die von ihm postulierte Verneinung setzt auf das bei der immer größeren Zahl der Helden notwendig einsetzende Differenzierungsbedürfnis. Suggestionskonflikte seien gut für die Sachen, zumindest aber für eine »farblose und formale Persönlichkeitsbewertung« (174). Diese könne »in unsachlichen und ästhetischen Menschen« immer noch eine »beträchtliche Stärke« erreichen, ohne dass sie sich jedoch die Ziele der »machtvollen Persönlichkeiten« (174) nahegehen lassen. Der Kunstliebhaber habe hierin, solange er nicht selbst künstlerisch tätig werde, die größten Lizenzen. Allerdings hat auch diese formale, »bewundernde Freude« jeglicher Kraftentfaltung ihre Grenzen: »[D]ie völlig parteilose Bewunderung jeder herrlichen Persönlichkeit [ist] ein Standpunkt, auf dem sich wohl stehen, aber nicht gehen läßt« (175). Ulrichs Urlaub vom Leben ist auch als ein solches Moratorium für einen ästhetischen Zuschauer denkbar. Für den Autor Musil war dieses ästhetische Zuschauen in dem Maße attraktiv, wie ihn die zeitgenössischen Erscheinungsformen des Geniekults in seiner Existenz massiv bedrohten. Von dieser Bedrohung aber heißt es: Es ist gar nicht zu sagen, wie viele Roms es gibt, in deren jedem ein Papst sitzt. Nichts bedeutet der Kreis um George, der Ring um Blüher, die Schule um Klages gegen die Unzahl der Sekten, welche die Befreiung des Geistes durch den Einfluß des Kirschenessens, vom Theater der Gartensiedlung, von der rhythmischen Gymnastik, von der Wohnungseinrichtung, von der Eubiotik, vom Lesen der Bergpredigt oder einer von tausend anderen Einzelheiten erwarten. Und in der Mitte jeder dieser Sekten sitzt der große Soundso, ein Mann dessen Namen Uneingeweihte noch nie gehört haben, der aber in seinem Kreis die Verehrung eines Welterlösers genießt. Ganz Deutschland ist voll von solchen geistigen Landsmannschaften; aus dem großen Deutschland, wo von zehn bedeutenden Schriftstellern neun nicht wissen, von was sie leben sollen, strömen ungezählten Halbnarren Mittel zur Entfaltung ihrer Propaganda, zum Druck von Büchern und zur Gründung von Zeitschriften zu. Ich habe die Zahlen von heute nicht zur Hand, aber vor dem Kriege sind in Deutschland jährlich über tausend neue Zeitschriften und weit über dreißigtausend neue Bücher erschienen, und wir haben uns natürlich eingebildet, daß dies ein weithin leuchtendes Zeichen unseres geistigen Hochstandes sei. Man darf vielleicht ebensogut vermuten, daß dieses Übermaß ein unbeachtetes Zeichen eines sich ausbreitenden Beziehungswahns ist, dessen Grüppchen das ganze Leben an einer fixen Idee befestigen, so daß ein echter Paranoiker es heute wirklich schwer haben muß, sich bei uns des Wettbewerbes der Amateure zu erwehren (GW 8, 1163 f.).

Das Genie als vielfacher Doppelgänger des Großschriftstellers zeugt in dieser hier ausgestellten pathogenen Variante nachhaltig von Musils Schwierigkeit, die Frage 11

Edgar Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung, hg. u. eingel. von J. Dvorak, Frankfurt a. M. 1990, S. 169. – Im Folgenden nur mit Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. Zilsel beruft sich mehrfach auf die Arbeit von Julian Hirsch, von dem er auch viele Beispiele übernimmt.

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seiner Epoche zu beantworten: Was ist bzw. wie wird man ein großer Mensch? In seinen Essays und im Mann ohne Eigenschaften werden die verschiedensten Vorstellungen von Größe im Doppelsinn des Wortes vorgeführt, wobei allerdings auch die Diskurse über das, was groß sei, je andere Aporien zeitigen. Das satirische Verfahren Musils verschiebt diese Vorstellungen dergestalt, dass sie zumindest partiell den Geist der Demokratie zum Ausdruck bringen: Größe ist in die Funktionale gerutscht und wird post festum am Erfolg gemessen. Im Roman enthält sich der zum Regierungsrat beförderte Journalist Meseritscher angesichts der Gerüchte über den als Genie oder als großen Dichter gehandelten Friedel Feuermaul des Urteils. Er misstraut den Kritikern im Feuilleton und den Sachverständigen, die sich widersprechen, heute dies und morgen das behaupten; ja er fragt sich, ob es überhaupt auf sie ankomme. Seine enttäuschende, wenngleich in enttäuschungsresistenter Absicht vorgebrachte Gewissheit lautet hingegen: »Was wirklich ein Ruhm ist, muß schon bei den Unverständigen angelangt sein, dann ist er erst verläßlich! Wenn ich Ihnen sagen soll, was ich denke: Von einem bedeutenden Mann darf man nicht wissen, was er macht, außer daß er ankommt und abreist!« (MoE, 1001)

Heinz Drügh

Simple Sätze. Überlegungen zu Max Goldts (de-)emphatischer Ästhetik 1.

Perfekte Syntax und die trüben Zonen der Kultur

Literaturpreise sind ein wichtiges Instrument des Literaturbetriebs, wie dieser selbst sind sie aber von einer gewissen Janusköpfigkeit.1 Denn einerseits bestimmen Auszeichnungen und Preise die Wahrnehmung von Literatur oder das Verständnis eines Dichters im Hinblick auf ihren ästhetischen Wert ebenso wie auf ihren kulturellgesellschaftlichen Rang und tradieren somit die ehrwürdige Zeremonie der Poetenbekränzung. Andererseits sind Literaturpreise, nüchterner betrachtet, nichts anderes als ein kulturpolitisches Steuerungsmittel, durch das sich öffentliches wie privates Mäzenatentum effektvoll zum Ausdruck zu bringen wissen. Insbesondere ist jene Aufmerksamkeit,2 welche durch Preise geschaffen wird, aber auch eine ökonomische Größe, die den Wert eines Autors am Markt bestimmt. Systematisch können Literaturpreise folglich als Schnittpunkt eines Begriffs von hoher, d.h. autonomer Kunst und deren heteronomer, politischer wie ökonomischer Indienstnahme begriffen werden. Die Literaturkritik, auch sie ein wichtiges Ingrediens des Literaturbetriebs, hebt freilich, wenn es um Literaturpreise geht, in der Regel nur den ersten Aspekt hervor. »Endlich«, ruft etwa die Süddeutsche Zeitung wie erleichtert aus, als die Verleihung des Kleist-Preises an Max Goldt bekannt wird: »›Titanic‹-Autor Max Goldt erhält den Kleist-Preis 2008«.3 Dass es überhaupt solange dauern konnte, liegt dabei wohl in jenem ›Titanic‹-Label begründet, mit dem auch die Süddeutsche Zeitung Goldt sogleich bedenkt. Denn als regelmäßiger Beiträger dieses ›satirischen Magazins‹ stellt Goldt nach konservativerem Verständnis eher keinen genuinen Kandidaten für einen seriösen Literaturpreis dar. Für jene Goldtschen Texte, die besonders gelungen sind – dabei handelt es sich um überarbeitete Fassungen eben solcher Titanic-Beiträge, aber auch veritable Popsongs des Duos Foyer des Arts, dessen Mitglied Max Goldt gewesen ist, werden erwähnt –, wählt die Süddeutsche Zeitung denn auch die emphatische Kategorie des Werks: »Werke wie ›Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens‹, ›Wissenswertes über Erlangen‹ oder ›Ä‹ warten schon lange auf Würdigung«.4 1

2 3 4

Vgl. Réné Kegelmann, »Literaturpreise«, in: Ralf Schnell (Hg.), Metzler Lexikon – Kultur der Gegenwart, Stuttgart 2000. Sonja Vandenrath, »Literaturpreise«, in: Erhard Schütz u. a. (Hg.), Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen, Reinbek 22010, S. 236 ff. Vgl. Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998. Süddeutsche Zeitung, 07. 04. 2008. Ebd.

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Heinz Drügh

Auf ähnliche Weise wird Goldt auch von Daniel Kehlmann oder Gustav Seibt an die kanonische Hochkultur angedockt. Wer Goldts »perfekte Syntax« lese, so Kehlmann in seiner Laudatio, die er als Vertrauensmann der Jury bei der Verleihung des Kleist-Preises zu halten hatte, werde »nicht durch Zufall oft an Thomas Mann erinnert«.5 Und laut Gustav Seibt schreibt Max Goldt sogar »das schönste Deutsch aller jüngeren Autoren«.6 Die Prosa literaturbetrieblicher Verhältnisse bleibt in solchen Einlassungen freilich als eine Art ›Anderes der Kunst‹ außen vor.7 Max Goldts Poetik wird nun aber in ihren stärksten Momenten durch eine eigentümliche Mixtur aus ästhetischer Feinfühligkeit und stilistischer Ambition bei gleichzeitiger Offenheit für die vermeintlichen Untiefen der Alltagskultur charakterisiert. »Meine Lieblingslektüre sind Lebensmittelverpackungen«, so der von Moritz Baßlers Studie zum Archivismus der neueren Popliteratur gewürdigte erste Satz des Textes Drei Knusperdosen, drei Schicksale, der mit seiner Häufung von lKonsonanten durchaus das Prädikat der »überstrukturierten Prosa« verdient, dessen ästhetisch Innovatives aber eher darin begründet ist, dass er seinen Gegenstand aus »den trüben Zonen der hochkulturell (noch) nicht kodierten Kultur«8 fischt und en detail die Beschriftung einer Cornflakes-Packung zitiert. Die These von einem ausgerechnet durch das noch nicht Kanonisierte bewirkten kulturellen Energieschub ist von Boris Groys‘ Essay Über das Neue inspiriert. Dort wird dargelegt, dass ästhetische Innovation insbesondere durch den Import nicht kanonisierter Gegenstände aus der Alltags- oder Populärkultur in die Kunst bewirkt werde, ein Vorgang, durch den umgekehrt vermeintlich banale Dinge überhaupt erst ins kulturelle Bewusstsein erhoben werden. In ähnlicher Form findet sich dieser Gedanke schon in frühen Texten zur Pop Art. So schreibt das Architektenpaar Alison und Peter Smithson in 5

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Daniel Kehlmann, »Der Seitlich-Vorbei-Geher. Kleist-Preis für Max Goldt«, in: Süddeutsche Zeitung, 26. 11. 2008. http://www.sueddeutsche.de/kultur/kleist-preis-fuer-max-goldt-derseitlich-vorbei-geher-1.379413-2 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Gustav Seibt, »›Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens‹. Prosa- und Dialogstücke von Max Goldt«, Rezension im Deutschlandradio Kultur, 11. 04. 2005. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/365014/ (letzter Aufruf 11. 02. 2013), Hervorh. H.D. Dass ein solcher Superlativ sich möglicherweise gerade dann aufdrängt, wenn es um einen umkämpften Autor geht, also etwa um jemand, dessen Wirken großen Teilen des Literaturbetriebs überhaupt erst als Kunst begreifbar gemacht werden muss, lässt sich an Gustav Seibts Rezension zu Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten beobachten, in der ebenfalls zu lesen steht, dieser Text sei »im schönsten, elegantesten Deutsch« verfasst, »das derzeit zu lesen ist« (Gustav Seibt, »Die Sowjetrepublik von Schweizerisch-Salzburg«, in: Süddeutsche Zeitung, 20./21. 09. 2008, S. 13). Für die Literatur ist der entsprechende Betrieb freilich schon lange ein Thema, man denke etwa an Maupassants Bel Ami oder an Heinrich Manns satirische Zuspitzung Im Schlaraffenland. Ein Roman wie Thomas Glavinics Das bin doch ich (2007) wird geradezu als Exponent einer neuen »Literaturbetriebs-Literatur« gesehen (vgl. David-Christopher Assmann, »Das bin ich nicht. Thomas Glavinics Literaturbetriebs-Szene«, in: Thomas Wegmann, Norbert Christian Wolf [Hg.], ›High‹ und ›Low‹. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur, Berlin, Boston 2012, S. 121–140; Anja K. Johannsen, »›In einem Anfall von Widerwillen‹. Die Romane Thomas Glavinics im Geflecht des Literaturbetriebs«, in: Paul Brodowsky, Thomas Klupp [Hg.], Wie über Gegenwart sprechen? Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft, Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 105–118). Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 94.

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einem programmatisch But Today We Collect Ads betitelten Text aus dem Jahr 1956: »It has been said, that things hardly ›exist‹ before the fine artist has made use of them, they are hardly simply part of the unclassified background material against which we pass our lifes.«9 Und Lawrence Alloway, der mutmaßliche Erfinder der Bezeichnung Pop Art, ergänzt dies um eine ebenso kultursoziologische wie medienästhetische Überlegung: The Aesthetics of plenty oppose a very strong tradition which dramatizes the arts as the possession of an elite. These ›keepers of the flame‹ master a central (not too large) body of cultural knowledge, meditate on it, and pass it on intact (possibly a little enlarged) to the children of the elite. However, mass production techniques, applied to accurately repeatable words, pictures and music, have resulted in an expendable multitude of signs and symbols. To approach this exploding field with Renaissance-based ideas of the uniqueness of art is crippling. Acceptance of the mass media entails a shift in our notion of what culture is. Instead of reserving the word for the highest artefacts and the noblest thoughts of history’s top ten, it needs to be used more widely as the 10 description of ›what a society does‹.

2.

»und Uniformen, äußerst dezente freilich« – Max Goldts »eigene kleine konservative Revolution« Your endless gentle nudging, left us polarised Robert Wyatt, »Alliance«

Eine ›Keeper of the flame‹-Attitüde legt allerdings auch Goldt mitunter an den Tag. Denen, die seine Thomas Mannschen Qualitäten rühmen, gilt er als »arbiter elegantiarum«,11 als Sachverständiger in Sachen guter Geschmack, dessen Prosa sich geradezu Anweisungen für die praktische Lebensführung entnehmen lassen, und dies nicht zu knapp: Max Goldts Texte haben die fürs literarische Gelingen keinesfalls notwendige, aber für das Dasein des Lesers sehr hilfreiche Eigenschaft, dass seine Urteile in praktisch allen Fällen stimmen. Seinetwegen achte ich streng darauf, niemals zu früh am Ort der Einladung zu erscheinen, seinetwegen denke ich gar nicht daran, mich bei Vorstellungen 12 welcher Art immer in die erste Reihe zu setzen […].

Doch will man Goldt als einen solchen Benimmratgeber in den literarischen Kanon einziehen lassen? Er selbst liefert dafür zweifellos so manches Argument. Nimmt man etwa einen Text wie Der Sprachkritiker als Unsympath und Volksheld versiegender 9 10 11 12

Alison Smithson, Peter Smithson, »But Today We Collect Ads«, in: Mark Francis, Hal Foster (Hg.), Pop, London, New York 2005, S. 194 f. Lawrence Alloway, »The Long Front of Culture«, in: Francis, Foster (Hg.), Pop, (wie Anm. 9), S. 200 f. Kehlmann, »Der Seitlich-Vorbei-Geher« (wie Anm. 5). Ebd.

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Minderheiten,13 dann liegen dessen Wertungen klar zutage: Für eine dort beklagte »Kulturschwäche der Deutschen« zeichne »der viel zu rasant vollzogene Übergang von einer christlichen zu einer atheistischen-konsumistischen Gesellschaft« verantwortlich. Der damit einhergehende Sprachverfall sei in der »debakulöse[n] Einführung des kommerziellen Fernsehens« begründet. Und »klar und fest […] Guten Tag« scheint auch niemand mehr sagen zu können, stattdessen lasse sich allerorten nur noch – als lautgewordene »größtmögliche[] Anbiederung« – ein windelweiches »Hallo« vernehmen. Das scheint nun nicht mehr in jenem leisen Ton »dezenter Distanziertheit und spöttischer Milde, sanfter Ironie und freundlicher Belehrung«14 gehalten zu sein, den das Feuilleton zu Recht an Goldts Texten gerühmt hat. Jedoch vermag Goldt seine Wertungen mit solch gut dosierten Übertreibungen zu durchsetzen, dass kulturkritische Erstarrung fürs Erste vermieden wird. So etwa, wenn von einem Bündnis zu lesen ist, das Goldt während des Aufenthalts in einem Sanatorium – einer wahren Hallo-Hölle – mit der dort regierenden Oberschwester schmiedet: Täglich gegen sieben trat ich in ihr Blutdruckstübchen und sagte: ›Guten Morgen, Frau Horowitz!‹, und auf entsprechend klassische Weise wurde mir erwidert. Wenn sie mir nun die Meßmanschette anlegte und zu pumpen begann, schauten wir einander leicht verschwörerisch an wie Geschwister im Geiste und dachten: ›Ja, wir beiden Hübschen machen hier unsere eigene kleine konservative Revolution‹ – ja sogar ein winziger 20. Juli schien uns zu verbinden, und Uniformen, äußerst dezente freilich, hätten uns nicht schlecht gestanden. Gewiß, der 20. Juli mag eine zu vermessene Assoziation sein, schließlich planten wir keineswegs die wunderwunderschönen HalloSager draußen auf den Gängen tötend zu entmachten und einen Guten-Morgen-Staat zu errichten. Widerstand ist jedoch kein zu großes Wort: Dem, was mißfällt, Besseres entgegensetzen, nicht nur auf politischem Terrain, sondern auch auf sprachlichem.

Es geht also im Kern nicht nur um humanistische »Herzensbildung«,15 sondern um einen durchaus mit Nachdruck zu kultivierenden Geschmack, mithin um einen zentralen Bestandteil bürgerlichen Selbstverständnisses. Dass diese kulturkonservative Attitüde von exklusivem oder elitärem Dünkel geprägt sei, bestreitet Goldt jedoch: Die bürgerliche Welt ist sehr entspannt und liebenswürdig. Den klassischen Dünkel, also denjenigen von oben nach unten gibt es nur noch in Seifenopern. In der Realität werden die ›einfachen Menschen‹ stets in Schutz genommen: ›Die müssen doch den ganzen Tag hart arbeiten, warum sollen sie sich am Abend nicht fünf oder sechs Stunden bei unserer Ansicht nach degoutantem Talmi entspannen?‹

Ekkehard Knörer ist da anderer Ansicht: Die größte Gefahr freilich lauert da, wo seine Kritik positiv zu werden droht. Dann nämlich stürzen sich die Wertkonservativen drauf und wollen, was der Autor nicht 13 14

15

Max Goldt, »Der Sprachkritiker als Unsympath und Volksheld versiegender Minderheiten«, in: ders., Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens, Reinbek 2005, S. 151–166 (dort alle Zitate). Erhard Schütz, »Kindercowboy und Unscheinbarkeitsdandy. Maxim Biller, Wiglaf Droste, Max Goldt oder: die Literatur der Kolumnisten«, in: ders., Echte falsche Pracht. Kleine Schriften zur Literatur, hg. von J. Döring und D. Oels, Berlin 2011, S. 233–242, hier S. 240. Georg Stanitzek, Essay – BRD, Berlin 2011, S. 152.

Simple Sätze

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festlegen will, als gültige Regel, Vorschrift und Moral begreifen. Als käme es auf die gefällten Urteile an und nicht auf die Fähigkeit, sie hellwach je für den Moment aus 16 eigener Urteilskraft im Angesicht aktueller Sprachsituationen zu fällen.

Nicht einmal diese letzte Wendung lässt sich ganz unumwunden unterschreiben. Denn jedes ästhetische Regime, das statt auf Genie auf Geschmack setzt und damit eine »soziale Kategorie« ins Spiel bringt, ein Vermögen, »das alle ausbilden können«, steht doch, wie Christoph Menke argumentiert, in engem Rapport mit einer »Disziplinargesellschaft«, in der jedes Individuum nur durch »Prozeduren der Übung und Prüfung« zu einem Subjekt wird. »Erst und nur im ästhetischen Subjekt des Geschmacks«, führt Menke aus, »erfüllt sich die Teleologie der Disziplinargesellschaft, die Heteronomie der Disziplinierung in der autonomen Selbstdisziplinierung von Subjekten zum Verschwinden zu bringen. Das ästhetische Geschmackssubjekt ist der Inbegriff der bürgerlichen Idee der Autonomie«.17 So vehement Goldt seine kulturkritischen Positionen in der Sache auch vertritt, so ist er doch keineswegs unsensibel für die genannten Formen der Autorität, wie sich der amüsanten Anekdote von Mein preußischer Nachmittag entnehmen lässt.18 Dort erzählt Goldt von einem Treffen mit der betagten Chanson-Sängerin Blandine Ebinger, das in »der späten Punk- und New-Wave-Zeit«, also in den späten 1970er oder frühen 1980er Jahren, stattgefunden habe. Auf Ebingers Werk ist Goldt19 durch einen »Stapel Schallplatten« in einer »offenstehenden Mülltonne« aufmerksam geworden, den »ein Journalist […] wohl ausgemistet« hatte. »Von einem befreundeten Schallplattensammler« erfährt er, »daß ›die Ebinger‹ als Legende gelte […] und ›seinerzeit‹ mit Friedrich Hollaender verheiratet gewesen sei, der ihr in den frühen Zwanzigern den Chansonzyklus ›Lieder eines armen Mädchens‹ auf den Leib geschnitten habe. Dieser wiederum sei zweifelsohne eines der bedeutendsten Musikwerke der Weimarer Republik.« Besonders ein Lied, »Das Currendemädchen«, gefällt Goldt so gut, dass er beschließt, davon eine Coverversion mit »einem ›elektronischen Arrangement‹« aufzunehmen. Er bittet Blandine Ebinger mit einer Postkarte um Erlaubnis für dieses Projekt. Umgehend ruft diese ihn zurück: Da ich damals – was sich kaum geändert hat – nur selten Anrufe von Leuten bekam, die mit Bertolt Brecht, Marlene Dietrich und weiß Gott mit wem noch allem persönlichen Verkehr gepflegt haben, war ich recht verdattert und wußte nicht, was ich sagen 16 17

18 19

Ekkehard Knörer, »Kleistpreis für Max Goldt. Höflich zubeißen«, in: Tageszeitung, 25. 11. 2008, abrufbar unter http://www.taz.de/!26291/ (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Christoph Menke, »Ein anderer Geschmack. Weder Autonomie noch Massenkonsum«, in: ders., Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010, S. 226–239, hier S. 229 f. Max Goldt, »Mein preußischer Nachmittag«, in: ders., Ein Buch namens Zimbo. Texte von 2007– 2008, einer von 2006, vier von 2009, Berlin 2009, S. 67–76 (dort alle Zitate). Wenn ich hier »Goldt« schreibe, und nicht »der Erzähler« oder das »Sprecher-Ich«, dann nicht, um die gängigen Theorien über Autorschaft und Fiktionalität außer Kraft zu setzen, die natürlich auch für Goldts erzählende Feuilletons oder Essays gelten, sondern allein um eine Fülle staksiger Formulierungen zu vermeiden. Zur Gattungsfrage in Bezug auf Goldts Texte vgl. auch Stanitzek, Essay – BRD (wie Anm. 15), S. 151.

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sollte; mir war nur klar, ich darf auf keinen Fall erwähnen, daß es eine Mülltonne war, die mir die Bekanntschaft mit ihrem Œeuvre vermittelt hat, und muß wohl irgend etwas wie »Ich finde ihr Material echt gut« gesagt haben, denn aus der Muschel kam es ziemlich scharf zurück: »Ma-te-ri-al!« »Wie bitte?« »Ma-te-ri-al! Sie haben ›Matrial‹ gesagt. Wenn Sie etwas singen wollen, dürfen sie keine Silben verschlucken!« Ich dankte für den unerwarteten, aber bei genauer Betrachtung durchaus angebrachten Rat und nahm ihre Einladung an.

Es geht also um den Kontakt mit einer Chansonsängerin, deren ›ausgemistetes‹, eher ganz als halb vergessenes Werk an der Grenze von U- und E-Kultur situiert ist und sich in der Rückschau aus Goldts Punk und New-Wave-Zeit erstaunlicherweise als große, beeindruckende Kunst darstellt, ganz auf der Höhe Brechts, aber eben auch auf derjenigen Marlene Dietrichs. Respekteinflößend oder sogar einschüchternd genug ist diese Künstlerin für Goldt allemal, so dass er vor Verlegenheit nichts als den dümmlichen Musikproduzentenspruch »Ich finde ihr Material echt gut« über die Lippen bringt. Daraufhin wird er von der Sängerin streng zu präziserer Artikulation ermahnt, ein Ratschlag, der ihn ziemlich kalt erwischt, den er sich aber dennoch zu Herzen nimmt. Entsprechend zur Selbstdisziplin angehalten, erscheint Goldt dann zu der Verabredung mit der alten Dame: Ohne Rosen und Krawatte, doch selbstverständlich ordentlich gebürstet und gewaschen, stand ich wenig später vor einer Apartmentanlage in Berlin-Wilmersdorf und schärfte mir ein allerletztes Mal ein: nicht die Mülltonne erwähnen und auf gar keinen Fall »Matrial« sagen! Und schon gar nicht »Matajahl«. Wenn ich »Matajahl« sage, schmeißt sie mich glatt raus.

Nach einem retardierenden Intermezzo, während dessen Goldt sich eine vom Lebensgefährten der Sängerin kredenzte, nicht enden wollende musikethnologische Kassette mit Trommelmusik anhören muss, kommt der Text dann zu seinem Höhepunkt, einer harten, von Goldt »nicht gewünschte[n] Prüfung«: »Kommen Sie ruhig noch ein Stück näher! Und nun tragen Sie mir ›Das Currendemädchen‹ vor.« Ach du Schreck! Einer greisen Diseuse mit baumelnden Beinen in einem Abstand von einem halben Meter ihr eigenes legendäres Chanson vorsingen! Das hatte mir gerade noch gefehlt! Doch ich sang: »Auf den Höfen, Geldes wegen, singen wir Currendemeechen…« »Lauter!« »Auf den Höfen, Geldes wegen, singen wir Currendemeechen…« »Ich habe gesagt: lauter!« »Okay. Auf den Höfen, Geldes wegen, singen wir Currendemeechen…« »Warum singen Sie ›Meechen‹? Es heißt ›Mädchen‹.« »Das ist Alt-Berliner Dialekt! Sie singen es doch auch so.« »Nein. Ich singe es nicht so.« »Doch! Sie singen es genau so! Ich habe die Platte ja fünfzigmal gehört«, sagte ich nicht und fuhr fort: »Also gut: Mädchen. Auf den Höfen, Geldes wegen…« »Lassen Sie Ihre Arme aus dem Spiel! Und stehen Sie gerade!«

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Wie man sieht, wurde auch in den Zeiten vor Erfindung der Castingshow durchaus ruppig mit angehenden Sternchen umgesprungen. Dieser »Geist des alten Preußen«, der da »im Seniorensessel vor ihm sitzt«, herrscht den Helden aber für sein Empfinden deutlich zu hart an: »In den labbrigen siebziger und achtziger Jahren war man ein solches Treatment einfach nicht gewöhnt«, kommentiert er mit milder Ironie, »ich war damals einfach noch nicht so weit, solcherlei künstlerische Strenge für schätzenswert halten zu können«. Man könnte meinen, dass der Text nun, von der Warte der vielleicht nicht mehr so labberigen Nuller Jahre, zu einer Coda neobürgerlichen Lobs der Disziplin anhöbe, doch mit seinen letzten Worten kratzt er so gerade noch die Kurve: Mittlerweile denke ich wieder mit Wärme an Blandine Ebinger zurück, an meine erste und letzte Begegnung mit dem wahrhaftigen Preußen. Irgend etwas Wichtiges habe ich bestimmt von ihr gelernt. »Matrial« sage ich allerdings noch immer, immerhin aber nicht »Matajahl«. Menschen, die heute in dem Alter sind, in dem ich vor einem knappen Vierteljahrhundert war, haben keinerlei Gelegenheit mehr, solche Menschen kennenzulernen. Sie sind unwiederbringlich verschwunden, was gewiß sehr schade ist. Die Frage, ob es darüber hinaus auch ein kleines bißchen wunderbar ist, wollen wir aus Respekt vor dem kulturellen Erbe hintanstellen.

Arbiter elegantiarum oder Wertkonservativer? Wie immer man Goldt auch bezeichnen möchte, kann doch nicht geleugnet werden, dass es bei ihm ein Schielen nach jenem Bereich gibt, der im feuilletonistischen Diskurs häufig mit neokonservativer Tönung als ‚Sehnsucht nach Werten‘ bezeichnet wird. Dennoch bleibt Goldt sensibel für die damit verbundenen Disziplinierungen, eine Sensibilität, die ihre Wurzeln mutmaßlich nicht zuletzt in jenem Pop- (bzw. Punk- oder New Wave-) affinen »Zweifel an der protestantischen Arbeitsethik und den mit ihr verbundenen Disziplinarregimes« sowie in der »Ablehnung von Institutionen, Hierarchien und Autoritäten«20 hat. Deshalb schlägt er aber nicht den Weg zu einer Ästhetik der Postmoderne ein, die eine Absetzbewegung vom Elitarismus des ästhetischen Regimes und seiner Leitwährung, dem kultivierten Geschmack, inszenierte, »Geschmack von einem bürgerlichen Privileg zu einem egalitären Besitz der Masse« transformierte und damit, wie Christoph Menke polemisch formuliert, eine »Apologie des konsumistischen Geschmacks« hielte.21 Goldt nutzt die Fundstücke des profanen Raums vielmehr, um Sand in das Getriebe eines gerne auch einmal »selbstgerecht Ästhetische[n]«22 zu werfen. Resultat ist ein Verfahren der ständigen »Wendung des Geschmacks gegen sich selbst«,23 das im folgenden Abschnitt noch ein wenig deutlicher konturiert werden soll, um dann anhand von Max Goldts Dankesrede zum

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Diedrich Diederichsen, »Die 90er, und dahinter die Unendlichkeit«, in: ders., Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln 1999, S. 273. Menke, »Ein anderer Geschmack« (wie Anm. 17), S. 234. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1987, S. 191, zit. bei Menke, Ein anderer Geschmack (wie Anm. 17), S. 236. Menke, »Ein anderer Geschmack« (wie Anm. 17), S. 236.

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Kleist-Preis darzustellen, welche Konsequenz dies für die Verhandlung des Literaturbetriebs hat.

3.

»auch nicht übel« – De-Emphase als ästhetische Strategie

Mit einem Beispiel jener für Goldt charakteristischen Techniken der Assoziation, eines Scharfsinns oder Witzes, der gerne auch einmal tiefer in die mit Banalem gefüllten Schubladen des Alltags hineinlangt und dabei, wie Jean Paul wusste, als »verkleidete[r] Priester« noch »jedes Paar kopuliert«,24 sieht man sich in einer jener ebenfalls ursprünglich der Titanic entstammenden Text/Bild-Collagen aus dem Band Gattin aus Holzabfällen konfrontiert (Abb. 1). Zu sehen ist dort die abgelöste und vergilbte Banderole einer Mandarinendose, als emblematische Pictura versehen mit einer In- und einer Subscriptio. Die Inscriptio wird, wie in emblematischer Tradition nicht unüblich, von einem Klassikerzitat gebildet: »O Deutschland, bleiche Mutter! / Wie sitzest du besudelt / Unter den Völkern?« Wie aber, wenn nicht als vordergründige oder gar geschmacklose Blödelei, lässt sich die Kombination einer Mandarinendosenbanderole mit Brechts pathosgeladenem, geradezu sprichwörtlich gewordenem Kommentar zur Machtergreifung der Nazis bewerten? Man könnte diese Kombination als Kontrastkomik verstehen, als »plötzliche Wahrnehmung einer Inkongruenz«, wie Schopenhauer das nennt, die über etwas lachen lässt, über das man eigentlich nicht lachen darf. Das ist auf gewisse Weise ein Gestus »verlängerte[r] Kindheit«,25 wie ihn Erhard Schütz in Bezug auf Goldt treffend genannt hat, schülerhaft in der Art und Weise, wie Brechts Text nicht in seiner Aussage selbst, sondern eher als Trittbrett deutsch- oder gemeinschaftskundelehrerhaften Autoritätsgebahrens verballhornt wird. Vollends pikant wird die Angelegenheit in der Subscriptio, in welche der Text, lediglich abgetrennt durch ein Komma und ein Spatium, hinüberfließt: »…schrieb Bertolt Brecht 1933. Viele Jahre später, 1980, kam Helma Sanders-Brahms‘ Film ›Deutschland bleiche Mutter‹ in die Kinos. Der war auch nicht übel«. Zur Sprache kommt also ein weiteres Kunstwerk, das sich mit seinem Titel auf Brecht beruft. Wofür steht nun dieser Film? Der Kritik galt er als Reflexion über Familiengeschichten, die sich durch eine kompromittierte Vätergeneration ergeben, als mit reichlich »Pathos« inszenierte Studie über die »Weigerung der Frau […], in ein wiederhergestelltes Patriarchat zurückzukehren«.26 Wenn Goldt diesen Film nun als »auch nicht übel« bezeichnet, dann vergiftet die Litotes das Lob beider Kunstwerke gründlich. Denn weder eine Inkunabel des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus noch eine »viele Jahre später« entstandene, feministisch inspirierte Auseinandersetzung mit demselben Phänomen, die es vielleicht mit dem Pathos ein wenig übertreibt, ist mit der Understatement-Figur der 24 25 26

Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, in: ders., Werke, hg. von N. Miller, Bd. 9, München 1975, S. 173. Schütz, »Kindercowboy und Unscheinbarkeitsdandy« (wie Anm. 14), S. 235. Thomas Elsaesser, Der Neue Deutsche Film. Von den Anfängen bis zu den Neunziger Jahren, München 1994, S. 360 f.

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Abb. 1: Mandarinendosenbanderole, aus: Max Goldt, Gattin aus Holzabfällen. Mit Text versehene Bilder, Berlin 2010, o. S.

Abb. 2: Andy Warhols Campbell’s Soup (1962). Mönchengladbach, Museum Abteiberg, zitiert nach Klaus Honnef, Andy Warhol 1928–1987. Kunst als Kommerz, Köln u. a. 1999, S. 31.

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Abb. 3: Andy Warhols Del Monte-Box (1964). Brüssel. Privatsammlung, zitiert nach Honnef, Andy Warhol (wie Abb. 2), S. 36.

Abb. 4: Andy Warhols Peach Halves (1962). Stuttgarter Staatsgalerie, zitiert nach Honnef, Andy Warhol (wie Abb. 2), S. 28.

Abb. 5: Andy Warhols The Two Marilyns (1962). New York. Privatsammlung, zitiert nach Honnef, Andy Warhol (wie Abb. 2), S. 14.

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Litotes adäquat gewürdigt, bekundet diese doch eher »mangelndes Engagement« des Sprechers.27 »Nicht übel« bedeutet hier nicht etwa – im Sinne einer doppelten Verneinung – ›großartig‹, sondern eher so etwas wie ›ganz o.k.‹. Die Temporalangabe »viele Jahre später« lässt sich zudem als subtile Ironisierung der Sanders-Brahmsschen Prätention begreifen. Der Verdacht lautet auf öffentliche Selbstverkitschung, was im Goldtschen Universum eine Kardinalsünde darstellt. Goldt ist zwar alles andere als ein Revisionist, aber kaum etwas scheint ihm mehr zuwider als eine sich aufplusternde Großtuerei oder -sprecherei. Denn »auch wer recht hat, spricht«, bringt es Moritz Baßler auf den Punkt, »und ist daher potentiell immer Gegenstand der Sprachkritik. Jedes Sprachspiel, sobald es als solches ausgestellt wird, hat irgendwelche Stellen, an denen es leicht müffelt – und Goldt findet sie«.28 Dies ist der Hintergrund, vor dem die überraschende Schlusswendung von Goldts Text zu lesen ist: »Der sehr speziellen Schönheit ausbleichenden Offset-Drucks auf Konservenbüchsenbanderolen sind bislang hingegen kaum je hervorragende Kunstwerke gewidmet worden«. Es lohnt sich, Goldt nicht nur als »Dichter«29 zu preisen, es lohnt sich in der Tat auch, ihn genau zu lesen. Die zitierte Wendung lässt sich nämlich nicht bloß als Ausdruck einer kindlichen Lust an der Erniedrigung des Hohen, sondern auch noch auf zweierlei andere Art begreifen – Ambiguität ist dabei im Übrigen auch durch den Produktauftritt markiert, handelt es sich doch um »ganze Segmente« so genannter »Mandarin Orangen« (nach Konsultation der Firmenhomepage ist das gegen die Konventionen deutscher Kompositumbildung eine Mandarinen- und nicht etwa eine Orangensorte). Und kaum je ein hervorragendes Kunstwerk sollte sich dieser Schönheit, diesem Sinnreichtum angenommen haben? Aber klar doch, scheint Goldts Text zu appellieren, wenn man nur ihn selbst (endlich!) einmal als solch hervorragendes Kunstwerk begriffe. Goldt ist und bleibt natürlich viel zu klug für eine solche auch noch auf indirektem Weg verbiesterte Selbstanpreisung, was zur zweiten Lesart führt: einer gründlichen Dementierung der These, dass sich kein Kunstwerk bislang solchen Objekten zugewandt habe. Denn dies ist, besinnt man sich auf die Verfahren der Pop Art, ein eklatantes, vom Text bewusst kalkuliertes Fehlurteil. Da wäre etwa Campbell’s Soup (1962) (Abb. 2) zu nennen, eines von Warhols berühmtesten Motiven, das er zunächst in Öl auf Leinwand malt, um es später im Siebdruckverfahren, der Schwester des Offset-Drucks, wieder und wieder zu variieren. Siebdruck verwendet Warhol auch für seine berühmten Boxes, etwa die Del Monte-Box (1964) (Abb. 3), womit wir uns dem ObstkonservenGenre nähern. Nun stellen diese Arbeiten in ihrer maschinellen Präzision und ihrem knalligen Kolorit eher das Gegenteil von ausbleichender Hinfälligkeit dar. Doch auch Zustände des fadings finden sich bei Warhol, etwa in den nun schon sehr an die Mandarinen-Segmente erinnernden Peach Halves (1962) (Abb. 4) oder in programmatisch die Todverfallenheit als Kehrseite des Glamours vorweisenden Arbeiten 27 28 29

Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse, zitiert nach Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Frankfurt a. M., Basel 1995, S. 225. Baßler, Pop-Roman (wie Anm. 8), S. 20. Vgl. Stanitzek, Essay – BRD (wie Anm. 15), S. 150.

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wie The Two Marilyns (1962) (Abb. 5). Die Schlussthese des Goldtschen Textes wird also von ihm selbst unterlaufen, damit aber auch jedes künstlerische Auftrumpfen unterdrückt, das sich mit Überbietungsgeste an die Stelle jener beiden ein bisschen in die Jahre gekommenen bleichen Mütter setzte. Denn genau genommen trifft das Urteil, nicht gerade der dernier cri zu sein, auch die KonservenbüchsenbanderolenKunst selbst. Was aber im Gegenzug nicht heißt, dass die genannten Gegenstände doch wieder gleichrangig wären. Goldts sympathisch gebrochene Zuneigung gilt sehr wohl jenen Nicht-Gegenständen des profanen Raums, die, wie die Smithsons schreiben, kaum existieren, bevor die künstlerische Darstellung sich ihnen annimmt.30 Mit Gegenständen dieser Art erhebt Goldts Ästhetik der De-Emphase Einspruch gegen die mitunter allzu große Prätention auf dem Feld der Kunst. Zum einen ist es daher für ›den Dichter‹ Max Goldt (und für die vielen Feuilletonisten, die das immer schon so gesehen haben) sicherlich ein schönes Ereignis, ›endlich‹ einmal einen renommierten Literaturpreis zu erhalten und damit die Weihen der Kanonisierung zu erfahren. Zum anderen lugt dabei die Prätention schon begierig um die Ecke. Aber auf die Avancen der Mandarins des Literaturbetriebs lässt sich ja mit einer entsprechend de-emphatischen Preisrede reagieren.

4.

»Paßt schon« – Dankes- als Erwiderungsrede

Nicht immer, klagt Ekkehard Knörer, wehre Max Goldt die »Umarmungen von neobürgerlicher Seite« ab. Was man indes »in den Texten des unbedingt verehrenswerten Autors selbst […] jederzeit lernen« könne, sei, »auch denen zu misstrauen, die ihn verehren, und sogar denen noch, die ihm bedeutende Preise verleihen«.31 Gut gesagt, und so legt Max Goldts Dankesrede zur Verleihung des Kleist-Preises – die Buchausgabe nennt sie eine »Erwiderungsrede«32 – auch gleich mit einer Verneigung vor dem ehrenwerten Gremium los, die kalkuliert aus dem Gleichgewicht gerät: Es gibt ziemlich gute Gründe, manch einen Preis nicht anzunehmen, seien es entwürdigende Programmpunkte bei der Verleihungszeremonie, seien es fragwürdige Leute in der Liste der vorherigen Preisträger, schwatzhafte Liedermacher etwa, oder sei es auch nur die Befürchtung, daß man durch die Annahme des Preises in ein Establishment einheiratet, aus dessen Würgegriff man sich späterhin nicht mehr befreien kann. Ebenfalls nicht zur Ehre gereichen Preise, die reine Marketing-Instrumente einer Stadtverwaltung oder der Verlagsbranche sind. Etwas ganz anderes ist der Kleist-Preis. Der wird weder vom Heilbronn-Marketing noch von Frankfurt an der Oder verliehen und auch nicht von Hamm in Westfa30

31 32

Solche Nicht-Gegenstände sind mitunter von einer höchst beachtenswerten (Waren-)Ästhetik geziert. Vgl., thematisch naheliegend, die Sammlung der Seidenpapiere, in die seit mehr als hundert Jahren Orangen eingewickelt werden: Dirik von Oettingen, Verhüllt um zu verführen. Die Welt auf der Orange, Potsdam 2007. Für den Hinweis danke ich Christian Metz. Knörer, »Höflich zubeißen« (wie Anm. 16). Max Goldt, »Erwiderungsrede zur Verleihung des Kleist-Preises«, in: ders., Ein Buch namens Zimbo (wie Anm. 18), S. 184–198 (dort alle Zitate).

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len, welches sich neuerdings ebenfalls als Kleist-Stadt zu fühlen scheint, sondern von einem schicken, spinnenumwobenen, von natürlich sehr schicken Spinnen umwobenen Traditionsgremium. Wer den Kleist-Preis bekommt, der macht ein Gesicht, als ob er gerade besonders gut gegessen hätte, und Leute, die sich auskennen, raunen ihm zu, daß dies eigentlich der feinste aller Preise sei, feiner gar noch als jener andere ganz tolle Preis, derjenige, den Insider den B-Preis nennen, der allerdings inzwischen etwas überpolitisiert sei und daher gar nicht mehr so fein, jedenfalls verglichen mit dem Kleist-Preis. Peinliche vorherige Preisträger habe ich beim Kleistpreis keine gefunden, zumindest keine, deren Peinlichkeit mir bekannt ist. Hermann Essig und Paul Gurk kenne ich gar nicht, ihre Namen klingen auch etwas ausgedacht, genauer gesagt: wie von Dr. Erika Fuchs ausgedacht, wenigstens, wenn man sie nebeneinanderstellt.

Die Verneinung, so weiß man von Sigmund Freud, macht als »Abweisung eines eben auftauchenden Einfalles«33 das Verdrängte unter dem Tarnmantel der vermeintlichen Abweisung sichtbar. Goldt will uns also sagen: Fraglos ist jeder Literaturpreis auch ein Marketing-Instrument. Und zumindest ist nicht auszuschließen, dass man als Literaturpreisträger, wenn nicht in den Würgegriff, so doch in die Fänge des Establishments, d. h. »jener sehr schicken Spinnen« des Literaturbetriebs gerät, auf die der Text auch auf Signifikantenebene mit auffälliger Wiederholungsenergie weist (»von einem schicken, spinnenumwobenen, von natürlich sehr schicken Spinnen umwobenen Traditionsgremium«). Eine solche instance de la lettre,34 der zufolge Verdrängtes sich auf der Ebene der Signifikanten bemerkbar macht – weniger theoretisch könnte man auch von einem inszenierten Sich-um-Kopf-und-Kragen-Reden sprechen –, lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Liste vormaliger Preisträger. Hier zieht zunächst einmal die unterschiedliche Schreibweise »Kleist-Preis«/»Kleistpreis« die Blicke auf sich, und die Häufung des assonierenden Dipthongs ›ei‹ macht die Äußerung »Peinliche vorherige Preisträger habe ich beim Kleistpreis keine gefunden« im Hinblick auf ihren propositionalen Gehalt verdächtig, zumal dieser mit der Einschränkung »zumindest keine, deren Peinlichkeit mir bekannt ist«, versehen wird. Damit wird ein Ton der Ignoranz angeschlagen, der sich auch im nächsten Satz Gehör verschafft. »Hermann Essig und Paul Gurk kenne ich gar nicht, ihre Namen klingen auch etwas ausgedacht, genauer gesagt: wie von Dr. Erika Fuchs ausgedacht, wenigstens, wenn man sie nebeneinanderstellt«. Mit Dr. Erika Fuchs nennt der Text den Namen der ersten Chefredakteurin der deutschsprachigen Micky-Maus-Hefte und insbesondere der Übersetzerin von Carl Barks’ Donald Duck-Comics. Bewusst wird also wieder die Popkultur ins Spiel gebracht, ergänzt durch das Bekenntnis, »dass ich mich in der Literatur nicht besonders gut auskenne«: »Und das«, so fügt Goldt zur Erklärung an, »obwohl ich als älteres Kind und jüngerer Jugendlicher regelmäßig die Stadtbüchereien aufsuchte, wofür man damals übrigens noch nicht so schräg angesehen wurde wie Lisa Simpson« – womit freilich eine weitere Größe des 33 34

Sigmund Freud, »Die Verneinung«, in: ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, hg. von A. Freud, 18 Bde., Frankfurt a. M. 1999, Bd. 14, S. 9–15, hier S. 11. Vgl. Jacques Lacan, »L’instance de la lettre dans l’inconscient ou La raison depuis Freud«, in: ders., Écrits, Paris 1966, S. 493–428.

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populären Animationsfilms bemüht wird. Goldt haspelt sich also mit seiner Rede dorthin, wo literaturbetriebliche Preiswürdigkeit im Allgemeinen nicht vermutet wird, und kultiviert im Folgenden genüsslich weiter das Image der Unwissenheit. Das Preisträger-Glück wird als Plaisir eines, mit Freud gesagt, beschränkten »LustIch[s]« karikiert, das sich die Auszeichnung und die Zugehörigkeit zum Kreis der Preisträger – Essig, Gurk – mit kleinbürgerlicher Freude »introjizier[t]«: »In der Sprache der ältesten oralen Triebregungen ausgedrückt: das will ich essen«,35 oder: »Wer den Kleist-Preis bekommt, der macht ein Gesicht, als ob er gerade besonders gut gegessen hätte«. Noch ist bis zu dieser Stelle der Rede kein einziges Wort über den Namenspatron des Preises, Heinrich von Kleist, gefallen, da meldet sich Goldts kleinbürgerlichmuffiges Rollen-Ich schon wieder in Form einer prätendiert ahnungslosen Anspielung auf eine (spätere) Hitler-Verehrerin, die der Liste der Preisträger und einmal mehr auch deren jüngstem Eintrag nicht zur Ehre gereicht: »Immerhin kenne ich Agnes Miegel, die Preisträgerin des Jahres 1916. Sie war die Lieblingslyrikerin der Schwiegermutter der Schwester meiner Mutter, und wenn grüne und blaue Liköre gereicht wurden, gab sie gern einige ostpreußische Verse von Agnes Miegel zum besten«. »Von Marcel Reich-Ranicki stammt das Diktum, daß Schriftsteller von Literatur soviel verstehen wie Vögel von der Ornithologie«, fügt Goldt entschuldigend an, nur um diese Bemerkung zum Anlass für einen weiteren, im Stil einer unschuldigen Digression vorgetragenen Affront gegen die Selbstbezogenheit des Literaturbetriebs zu nehmen. Denn womöglich wäre der Welt laut Goldt durchaus gedient, wenn sich die Gebildeten, die auf ihr herumspazieren, etwas weniger für Literatur interessierten und etwas mehr für Ornithologie und alle anderen Naturwissenschaften«. Zu dem »Taxonom« oder »Artenbestimmer«, der er angeblich im Alter von 14 Jahren werden wollte, hat es Goldt allerdings nicht gebracht. Oder doch, zumindest indirekt? »Alltagsbeobachter« ist nämlich neben »Satiriker«, »Kolumnist« oder »Kultautor« eines jener Prädikate, mit denen Goldt gerne geziert wird, sehr zu seinem Unwillen natürlich, landen sie doch ebenso wie die nuanciert geschilderten und bewerteten Alltagssituationen auf der sprachlichen Goldt-Waage: Der Alltag ist eine inzwischen etwas abgenutzte essayistische Kategorie – ich wußte nie genau, was damit eigentlich gemeint ist. Als ich einmal in Definitionslaune war, sagte ich, unter Alltag sei heutzutage wohl so etwas wie die gleichzeitige Abwesenheit von großer Liebe, Weihnachten und Krieg zu verstehen. Mehr als am Alltag allerdings stoße ich mich am Beobachter: Ein Beobachter ist doch jemand, der auf der Lauer liegt, mit einem Fernrohr oder einer Zeitung mit Loch drin. Einem Ornithologen oder einem Detektiv wird man zugestehen, daß sie zu beobachten haben; ich aber beobachte nicht gern. Ich nehme wahr, was geschieht, gucke aber auch gern einmal weg, wenn das Personal des Alltags allzu schnöde meine Wege säumt. Noch nie bin ich irgendwo extra hingegangen, um später darüber schreiben zu können. Man muß doch nicht seine Nase an jeder Schaufensterscheibe plattdrücken, um zu erfahren, was das Leben feilbietet.

35

Freud, »Die Verneinung« (wie Anm. 33), S. 13.

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Wer seine Sinne pflegt und sie nicht mit zuviel Drogen, zuviel Lärm oder zuviel Lektüre malträtiert, dem zeigt sich das Leben von ganz allein.

»Noch nie bin ich irgendwo extra hingegangen, um später darüber schreiben zu können«. Geschenkt, aber darüber schreiben, bevor die Literaturpreiszeremonie schnöde seine Wege säumt, ist ja auch nicht verkehrt. Aber wann ist dieser Goldt denn endlich einmal derart von der Muse geküsst worden, dass von nun an die Bahn zur großen Auszeichnung vorgezeichnet war? Eine solche Inszenierung verweigert Goldt konsequent und formuliert als Antidot eine diätetische Ästhetik de-emphatischer Coolness. – Man verzeihe das Sperrfeuer der Labels, die selbstverständlich nur bedingt zutreffen, ist Goldt doch zumindest in moralischen Fragen ein eher warmherziger Emphatiker, und natürlich ist es gerade der besondere Kniff seiner Ästhetik, ihre spezifische Emphase aus der de-emphatischen Pose zu generieren. Das »Lesen längerer literarischer Texte« ist entsprechend für Goldt aufgrund von »Konzentrationsschwäche« ausgeschlossen. Gewiss, gegen solche »Aufmerksamkeitsdefizite« könne man neuerdings auch Pillen nehmen: »Ehe man sich jedoch tablettenabhängig macht, nur um ›Die Strudlhofstiege‹ lesen zu können, sollte man bedenken, daß eine naheliegende, unschwer ergriffene Alternative zur Tablettensucht in der Nichtlektüre der Strudlhofstiege besteht«. Was aber fällt dem Preisträger zu Kleist ein? Zunächst einmal so gut wie nichts. Erst ganz zum Schluss seiner Rede kommt er auf diesen zu sprechen, allerdings in der bewährten Form der De-Emphase durch – Essig, Gurk; grüne und blaue Liköre – überraschende oder ganz naheliegende Konstellationen: Mit Kleist verbinde ich in meinem Langzeitgedächtnis übrigens weniger den Titel eines berühmten Werkes als einen Farbton und eine Zahl. Auf der dunkelroten 80-Pfennig-Briefmarke der Dauerserie ›Bedeutende Deutsche‹ war Heinrich von Kleist abgebildet. Circa 1966 stand ich als Volksschüler oft vor dem BriefmarkenSchaukasten eines Postamtes und schaute mir die Köpfe der großen Deutschen an. Die Kleist-Marke galt zumindest in den Augen eines Achtjährigen als selten und schwer erreichbar. Der Achtjährige war darüber hinaus der festen Überzeugung, daß die Köpfe innerhalb der Serie nach dem Grad ihrer Bedeutung gestaffelt waren, weshalb Kleist also achtmal so wichtig sein mußte wie Albrecht Dürer, welcher die Zehn-PfennigMarke zierte.

Die Politik kultureller Bedeutsamkeit, die Aufmerksamkeitsökonomie, aber natürlich auch der Wunsch nach Anerkennung – exemplifiziert in dem sich im Briefmarken-Schaukasten bespiegelnden Achtjährigen – werden, statt in Kleist den Literaten zu würdigen in den Vordergrund geschoben und milde veralbert.36 Milde deshalb, weil der »Herr Preisträger« sich bei allem Spott nicht anmaßt, eine lautere Position jenseits des Establishments beziehen zu können oder auch nur zu wollen. Sicher, man könnte einen solchen Preis auch ablehnen. »Glauben heutige Schriftsteller eigentlich, man wird öffentlich ausgepeitscht, wenn man mal Nein sagt?«. »Der Künstler ist doch wohl der letzte Souverän, der einzige, der machen darf und kann, 36

Schroffer ließe sich dies z. B. durch den Verweis auf die Sondermarke der Deutschen Bundespost zu Agnes Miegels 100. Geburtstag zu 60 Pfennig erledigen.

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was er will und muß«. Einerseits ja. Andererseits ist eine solche Formulierung ein Exemplar jener von Goldt ohne falsche Scheu als »nobeltuende Schleimsprache«37 gegeißelten Ausdrucks- und Denkform, mit der sich das Establishment als autonomes Subsystem stilisiert (und verkennt). Folglich bleibt Goldt in seiner Rede durchweg im Register des Understatements, welches das Betriebliche der Literatur anerkennt, wenngleich nicht vorbehaltlos affirmiert: »Nun, was ist denn unser Herr Preisträger für einer […]? Dem Finanzamt sagt der Herr Preisträger, er sei Schriftsteller […]. Schriftsteller bin ich also. Eigentlich auch kein richtig toller Beruf«. Aber wenigstens einträglicher als Taxonom. Denn »wer bezahlt eigentlich einen Taxonomen? Man entdeckt einen neuen Pilz, fotografiert und beschreibt die Art nach dem aktuellen Stand der Kunst, aber wem schickt man die Rechnung? Dem Bundespräsidenten vielleicht?« Nein, es ist »gut, kein hungernder Taxonom zu sein«. Lieber ein Schriftsteller, der »gerade besonders gut gegessen hat«. Die entsprechende Gier nach dem Kleist-Preis kann man indessen mit der bewährten Doppelstrategie durch hübsche Konstellationen mit anderen Komposita wie »brennend-scharfem Mapo-Tofu« ebenso kaschieren wie selbstironisch ausstellen. [A]m kalten Ostermontag des Jahres 2008 [] fragte mich Daniel Kehlmann, gebeugt über eine dampfende Schüssel mit brennend scharfem Mapo-Tofu, ob ich etwas dagegen hätte, den Kleist-Preis zu kriegen. ›Paßt schon‹, sagte ich.

Freilich: »Mit Understatement sollte man sparen«, so der durchaus ernstgemeinte »Rat« des Preisträgers »an den rotwangigen Nachwuchs«, denn »es wird oft nicht richtig verstanden«, will heißen, für bare Münze genommen. »Privat« nämlich, sagt eben jener Preisträger, wie er sich von sich selbst distanzierend nennt, »auch, er sei Dichter, was aber eine heikle Auskunft ist, da in der Alltagssprache sonderbarerweise nur noch Lyriker Dichter genannt werden«. Und damit ist es – endlich! – mal raus. »Daß die Menschen bald einen simplen Spatz nicht mehr erkennen und somit zu würdigen wissen, scheint« (Hervorh. HD), so muss der »alte[] Öko« Goldt einräumen, »noch eine übertriebene Prophezeiung zu sein«. Die Qualität simpler Sätze zu erkennen und zu würdigen, sollte indes stets die Aufgabe des Literaturbetriebs sein. Und Goldts simple Sätze, will sagen, seine brillante Stilistik, sein Wechsel der Töne, sein Witz, summa summarum: seine literarische Ästhetik ist gerade ein Produkt der (De-)Emphase; verdankt sich dem Eintauchen in jenes Betriebliche nicht nur der Literatur, sondern des Lebens, in jenen profanen Raum, den zu meiden die Legende von der autonomen Literatur nach wie vor anrät, bzw. den zu betreten die Warnrufe vor einem postmodernen Konsumismus geradezu verbieten.

37

Max Goldt, »Nachwort«, in: ders., ›Mind-Boggling‹ – Evening Post. Kolumnen 96–108, some other stuff, acht paginierte Farbseiten, etliche s/w-Abbildungen sowie zwei Zeichnungen von Katz und Goldt, Zürich 1998, S. 152.

Andreas B. Kilcher

Kafka im Betrieb. Eine kritische Analyse des Streits um Kafkas Nachlass Kein Beispiel zeigt so nachdrücklich wie dasjenige Kafkas, dass Literatur nicht nur der idealistischen Sphäre eines ästhetischen Freiraums angehört, sondern auch reales und symbolisches Objekt dessen ist, was sich mit Blick auf ihre sozioökonomischen und kulturpolitischen Funktionszusammenhänge als Betrieb bezeichnen lässt. Deutlich wird an Kafka, dass Literatur stets in einem komplexen Spannungsverhältnis zwischen dem Autor und seinen Texten auf der einen Seite sowie den Verlagen, Medien, Bibliotheken, Literaturhäusern bzw. allen Instanzen der Öffentlichkeit auf der anderen Seite steht, – kurzum: das Verhältnis von Literatur und ihrer weitverzweigten betrieblichen Zirkulation. Das verlangt allemal eine kritische Perspektive. Ein Missverständnis wäre es allerdings, daraus eine kulturpessimistische Schlussfolgerung zu ziehen und das Verhältnis von Literatur und Betrieb als einen Fall aus Eigentlichkeit, Unberührtheit und Freiheit in die verstrickten Niederungen des Geschäfts, ja als Degeneration von Literatur zu bloßer Ware zu werten. Eine derart idealistische Gegenüberstellung einer sublimen Sphäre des puren Geistes einerseits und eines allzu weltlichen profanen Betriebs andererseits wäre ein klischeehafter Antagonismus, der die Einsicht in die tatsächlichen, auch notwendigen Zusammenhänge von Literatur und Betrieb nur aufs Neue trüben würde. Es kann daher weder darum gehen, gegen die sozioökonomischen und kulturpolitischen Verstrickungen der Literatur in der Öffentlichkeit eine private, ideale Sphäre des Schreibens und des Buches zu halten, noch umgekehrt die vorgängige Determination der Literatur durch soziale Parameter zu behaupten, wie es die Literatursoziologie getan hat.1 Ein Zusammenhang zwischen Literatur und Betrieb muss daher jenseits ideologischer Antagonismen wie auch der Prämissen der Literatursoziologie gedacht werden. Fruchtbar scheint mir in dieser Hinsicht eine kritische kulturanalytische Herangehensweise. Eine solche Analyse behauptet keine Dichotomie von Literatur und Betrieb, sondern wird diese vielmehr als zwei auf komplexe, formale wie funktionale Weise verflochtene Teile eines kulturellen Zusammenhangs untersuchen, der nicht nur metaphorisch als ›Narrativ‹ verstanden werden kann.2 Eine solche 1 2

Vgl. dazu Jürgen Scharfschwerdt, Grundprobleme der Literatursoziologie. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Überblick, Stuttgart 1977. Diese Analytik lehnt sich an den New Historicism an, der Kultur in ihrer Poetik versteht und folglich kulturpoetische Analysen erfordert. Vgl. dazu etwa Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Einleitung und Auswahlbibliographie, Tübingen 2 2001; Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie, Tübingen 2005. Vgl. auch Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 2012.

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kulturpoetische Lektüre dreht die Verhältnisse der Literatursoziologie um: Nicht mehr wird die Literatur reduktiv als Produkt oder Effekt sozialer Verhältnisse gesehen, sondern umgekehrt die Kultur selber als schaffende, poetische, erzählende, in welche die Literatur eingebettet ist, wenn auch keineswegs bloß bruchlos und affirmativ, sondern in einem Spannungsverhältnis, das kritisch zu analysieren bleibt. In diesem Sinne lässt sich unter Literaturbetrieb eine kollektive Erzählung verstehen, die die Literatur nicht eindimensional bestimmt, sondern sie in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Instanzen mit ausbildet, ebenso wie der Betrieb in der Literatur kritisch verhandelt werden kann. Der Betrieb lässt sich insofern als eine kulturpoetische Funktion verstehen: als eine soziale Entfaltung von Literatur in kulturellen und gesellschaftlichen Räumen und Instanzen. Das wird am Beispiel Kafkas besonders deutlich. Kaum ein anderer Autor hat in den vergangenen Jahrzehnten weltweit so große öffentliche Aufmerksamkeit erlangt. Signifikant ist das Beispiel auch deshalb, weil das Verhältnis von literarischem Text und seiner kulturpoetischen Entfaltung in kaum einem anderen Fall so weit zugunsten des Betriebs verschoben ist. Dem schmalen Œuvre – zu Lebzeiten waren es wenige Bändchen mit Kurzprosa und Erzählungen teils in überdimensional großen Lettern gedruckt – steht eine stetig wachsende, längst nicht mehr überschaubare weltweite Bibliothek wissenschaftlicher Forschung, publizistisch-feuilletonistischer Kommentierung und pädagogischer Vermittlung gegenüber, die ihren Gegenstand ›Kafka‹ immer weiter formt und umformt, konstruiert und rekonstruiert. Dieser Befund ist auch in historischer Hinsicht aufschlussreich: Während Kafkas zeitgenössische Öffentlichkeit sehr begrenzt war – was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er zu Lebzeiten nur gerade zwei öffentliche Lesungen gehalten hatte und sein Verleger Kurt Wolff 1923 die Unverkäuflichkeit seiner Bücher gewärtigen musste3 –, stehen wir seit 1945 einer unablässig hohen Aufmerksamkeit für Kafka gegenüber, die alle Instanzen öffentlicher Auseinandersetzung mit Literatur durchzieht. So wurde aus der Literatur Kafkas Kafka-Literatur. Diese betriebliche Expansion wird – sowohl in narrativen als auch in kritischen Aspekten – beispielhaft am jüngsten Streit um Kafkas Nachlass manifest, der seit 2008 in Gerichtssälen durch Richter und Anwälte ebenso wie in den Medien durch Journalisten und Wissenschaftler ausgetragen worden ist: Beim Disput über Brods Nachlass geht es vordergründig um Erb- und Besitzverhältnisse – auch bezüglich eines Teils von Kafkas Nachlass –, hintergründig aber um große kulturelle, historische und politische Narrative der deutsch-jüdischen Literatur. Das hat der Mediendiskurs schon an sich selber beobachtet, wenn etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 13. Januar 2010 von jenem Prozess als Fortsetzungsroman sprach.4 Entsprechend gilt das Interesse dieses Beitrags weniger den bloßen Fakten wie der Geschichte von

3 4

Vgl. Jürgen Born (Hg.), Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten, Frankfurt a. M. 1979; Andreas Kilcher, Franz Kafka, Frankfurt a. M. 2008, S. 72 f. Jakob Hessing, »Der Prozess als Fortsetzungsroman«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 01. 2010, S. 29.

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Kafkas Nachlass seit seinem Tod 19245 oder den Ereignissen des Prozesses am Familiengericht in Ramat Gan, der 2008 eröffnet und am 12. Oktober 2012 in erster Instanz entschieden wurde. Das Interesse gilt vielmehr der kulturellen Deutung dieser Sachverhalte, ihrer hermeneutisch-narrativen Entfaltung im Literaturbetrieb, mithin der kulturpolitischen Konstruktion und Appropriation ›Kafkas‹ in den gerichtlichen wie publizistischen Verhandlungen jenes Prozesses. Eine solche Analyse wird zudem eine kritische Perspektive entfalten müssen, indem das Funktionieren des Betriebs auch das Machtgefüge von Grenzziehungen und Aneignungen erkennen lässt. Dennoch ist der Betrieb darin nicht als Antithese zur Literatur zu verstehen. Vielmehr ist die Literatur stets affiziert von solchen Machtverhältnissen. Der konkrete Untersuchungsgegenstand dieses Falls von Literaturbetrieb besteht in zwei aufeinander bezogenen diskursiven Formationen, die die Frage von Kafkas Zugehörigkeit in unterschiedlichen institutionellen und formellen Zusammenhängen aushandeln: zum einen der zunächst nicht-öffentliche judikative (rechtsprechende) Diskurs, der seiner Natur nach bestimmend, definierend, festlegend ist und mit dem Text des Gerichtsurteils manifest wurde, zum zweiten der vielstimmige und heterogene publizistische Diskurs, der den gerichtlichen Fall in zahllosen Medienbeiträgen öffentlich und streitbar kommentiert, interpretiert und in kulturelle und nationale Narrative einbettet. Eine Analyse dieser beiden diskursiven Formationen ist – als Interpretation von Interpretationen – auf einer Metaebene angesiedelt: Sie fragt nach den Prämissen und Implikationen dieser Festschreibungen sowohl in kulturpoetischer Hinsicht (mit Blick auf die Techniken, d. h. die Argumentationsweisen und Narrative) als auch in kulturkritischer Hinsicht (mit Blick auf die Tendenzen, d. h. die mehr oder weniger offen artikulierten Ansprüche und Aneignungen).

1.

Das Urteil

Wenn zuerst der judikative Diskurs in der Verhandlung von Brods und Kafkas Nachlass analysiert werden soll, geht es bereits hier weniger um objektive Sachverhalteals um Darstellung und Interpretation – aber durch die Instanz des Gerichts selbst. Dieser Diskurs ist analysierbar, seitdem jenes am 12. Oktober 2012 mit dem Urteil in erster Instanz an die Öffentlichkeit getreten ist.6 Zwar haben sich die Anwälte der beiden Konfliktparteien im Verlauf des Prozesses wiederholt mit Kommentaren geäußert, doch erst mit dem 59-seitigen Urteil liegt ein Dokument vor, das eine juristisch autorisierte Interpretation der Zugehörigkeit von Brods und Kafkas Nach5 6

Vgl. Ulrich Ott, »Kafkas Nachlass«, in: Franz Kafka. Der Proceß. Die Handschrift redet, Marbacher Magazin 52 (1990), S. 61–99. Die Ausführungen zur Urteilsbegründung bauen u. a. auf folgendem Artikel auf: Andreas Kilcher, Alexander Alon, »Kafka im Osmanischen Reich. Zum Urteil des Tel Aviver Familiengerichts im Prozess um Max Brods Nachlass«, in: tachles 48 (2012), S. 20–22. Von Alexander Alon stammt die deutsche Übersetzung des hebräischen Gerichtsurteils, die Formulierungen des Artikels stammen zum größten Teil von mir, A.K.

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lass leistet. Das Urteil der Richterin Talia Kupelman-Pardo, das auf der Homepage des israelischen Justizministeriums in hebräischer Sprache publiziert ist,7 bedeutet einen ersten Endpunkt nicht nur des mehrjährigen gerichtsinternen Prozesses, sondern auch der gleichzeitigen kontroversen öffentlichen Debatte darüber. Von diesem vorläufigen Ende des Urteils aus –eine Revision ist aktuell noch möglich – ist jene Debatte der letzten vier Jahre aufzurollen. Es ist jedoch zu betonen, dass dieses Urteil tatsächlich nur ein vorläufiges Ende der gerichtlichen wie öffentlichen Debatte darstellt, ist doch inzwischen ein Revisionsgesuch von Hoffes Seite vom Tel Aviver Bezirksgericht (Bet Hamischpat Ha'esori) angenommen worden.8 Damit wird der Prozess in die nächste Instanz gehen, die juristische Argumentation ebenso wie die öffentliche Debatte fortgesetzt. Die juristische Frage des Prozesses betrifft nicht primär Kafkas Nachlass, sondern denjenigen seines am 20. Dezember 1968 verstorbenen Freundes Max Brod bzw. die in seinem Besitz befindlichen Teile des Kafka-Nachlasses, die in Banksafes in Zürich liegen. Diese bilden allerdings bloß einen Bruchteil des gesamten Kafka-Nachlasses, befindet sich doch dieser seit 1961 zur Hauptsache in Oxford, wohin auf Veranlassung von Kafkas Nichte Marianne Steiner ein Großteil der Kafka-Handschriften aus Zürich transferiert wurde. Es gehört zu den Eigenheiten des aktuellen Prozesses, dass die juristische wie die öffentliche Aufmerksamkeit primär dem kleinen Rest des in Zürich liegenden Kafka-Nachlasses in Brods ehemaligem Besitz gilt – und dabei zweierlei unterschlagen wird: erstens, dass sich der ungleich viel umfangreichere Kafka-Nachlass, welcher der Familie gehört, in Oxford befindet, und zweitens, dass Brods Nachlass bei Weitem nicht nur aus den Zürcher Kafka-Manuskripten besteht, sondern zur Hauptsache aus seinen eigenen Manuskripten und seiner umfangreichen Korrespondenz mit zahlreichen Zeitgenossen. Zum juristischen Streitfall wurde der Umstand, dass Brod seiner Sekretärin Ilse Ester Hoffe schon zu Lebzeiten die in seinem Besitz befindlichen Kafka-Manuskripte geschenkt sowie in seinem Testament 1968 sein gesamtes Vermögen wie auch seinen gesamten literarischen Nachlass vererbt hatte. Ins Rollen kam der aktuelle Prozess jedoch erst mit dem Tod von Brods ehemaliger Sekretärin, die am 2. September 2007 im Alter von 101 Jahren verstarb. Denn damit sollte diese Erbschaft eine Generation weitergegeben werden: an die Erbinnen der Erbin, also an ihre Töchter Eva Hoffe und Ruth Wiesler (letztere ist Anfang Mai 2012 verstorben). Auf der einen Seite des Konflikts stehen damit die Hoffe-Töchter sowie ihre Anwälte, darunter Oded Hacohen, sowie der Verwalter des Hoffe-Nachlasses – Schmulik Cassuto –, die beanspruchen, den Brod-Nachlass sowie die darin enthaltenen Kafka-Manuskripte qua Erbe rechtmäßig zu besitzen und damit auch veräußern zu können. Auf der anderen Seite stehen die Hebräische Nationalbibliothek in Jerusalem und ihre Anwälte, darunter Meir Heller, die ihrerseits Anspruch auf diesen ge7

8

Das Urteil ist einsehbar unter: http://elyon1.court.gov.il/heb/dover/3979234.pdf (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Die im Folgenden zitierten deutschen Übersetzungen aus dem Urteil stammen von Alexander Alon, dem ich hierfür danke. Ein nächster Verhandlungstermin ist für Juni 2013 vorgesehen.

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wichtigen literarischen Nachlass erheben, indem sie Brods Letzten Willen in ihrem Sinne interpretieren – wie sich gezeigt hat: mit Erfolg. Der Entscheid des Tel Aviver Familiengerichts vom 12. Oktober 2012 fiel zugunsten der Klägerin aus: Der Brod/ Kafka-Nachlass soll in den Bestand der Nationalbibliothek an der Hebrew University in Jerusalem übergehen. Die Urteilsbegründung besteht, kurz gesagt, darin, dass Brods Schenkung des Kafka-Nachlasses an Ester Hoffe als ungültig erklärt und sein Letzter Wille zugunsten der Bibliothek gedeutet wird. Um diesen juristischen Entscheid und seine implizite Interpretation zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf die Ausgangslage des Prozesses nötig: auf Brods Regelung seines Nachlasses sowie der in seinem Besitz befindlichen Kafka-Manuskripte, und hernach genauer darauf, was Brod a) zu Lebzeiten Ester Hoffe schenkte und b) nach seinem Tod 1968 testamentarisch an sie vererbte.9 Gegenstand der Schenkung waren zunächst die Kafka-Manuskripte, soweit sie im Besitz von Max Brod waren. Tatsächlich hatte Brod einen beträchtlichen Teil der Kafka-Manuskripte nicht nur zweifach – erstmals 1924 vor Kafkas testamentarischer Verfügung, ein zweites Mal dann 1939 vor der Vernichtung durch die Nazis – gerettet. Er hat die davon ihm gehörenden Teile bereits zu seinen Lebzeiten an Ester Hoffe als Schenkung übergeben: ein erstes Mal am 12. März 1947 und ein zweites Mal am 2. April 1952, wobei er auf den entsprechenden Mappen mit Datum und Unterschrift notierte: »Dies ist Eigentum von Ester Hoffe.« Hoffe wiederum quittierte jeweils mit Datum und Unterschrift: »Ich nehme diese Schenkungen an.« Während die erste Schenkung bloß »vier Mappen meiner Kafka-Erinnerungen« enthielt, umfasste die zweite »alle Manuskripte und Briefe Kafkas, die mir gehören«, wobei Brod, »um alle Unklarheit auszuschliessen«, die »Hauptstücke« nannte: »Kafkas Manuskripte Prozess, Beschreibung eines Kampfes, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande«.10 Demnach war dieses Material seit 1947 bzw. 1952 nicht mehr in Brods Besitz, sondern gehörte seiner Sekretärin, die ihm zugleich Freundin war – in seinen Worten: »meine schöpferische Mitarbeiterin, meine strengste Kritikerin, Helferin, Verbündete, Freund«.11 Brods persönliche Gründe für diese Schenkung sowie die Frage, wie klug diese für die Aufbewahrung und Nutzung des Nachlasses war, stehen dabei auf einem anderen Blatt. Wohl aber wollte er sich mit einer großen Geste für ihre Hilfe und Arbeit erkenntlich zeigen, die er besonders nach dem Tod seiner Frau Elsa Taussig 1942 nötig hatte. Die Übergabe seines gesamten Nachlasses wiederum regelte Brod in seinem Testament, wobei er auch hierzu zweimal ansetzte: 1948 und 1961. Schon im ersten Testament übergibt er Hoffe im § 2 seinen »gesamten literarischen Nachlass« einschließlich der Kafka-Manuskripte. Im zweiten, bindenden Testament vom 9

10 11

Für eine ausführlichere Darstellung der Faktenlagen von Kafkas Nachlass vgl. Andreas Kilcher, »Die Akte Kafka. Der Zürcher Banksafe birgt zahlreiche neue Erkenntnisse«, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. 07. 2010, S. 53 f. Für die Quellen (Scans der beiden Schenkungsbriefe von Max Brod) danke ich Hans Gerd Koch. Max Brod, Streitbares Leben 1884–1968, vom Autor überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Berlin 1969, S. 303.

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7. Juni 1961 erscheint sie noch umfassender: als Testamentsvollstreckerin, Nachlassverwalterin und Alleinerbin. Im § 7 hält Brod fest, dass sie »mein ganzes Vermögen jeder Art und woimmer es sich befinden mag, erhalten« soll.12 Darauf folgt der entscheidende § 11, der erneut Brods gesamten literarischen Nachlass einschließlich der Kafka-Manuskripte betrifft, dabei aber nun auch für die künftigen Erben der Erbin, also Hoffes Töchter, präzisiert: Auch dieser Teil meines Nachlasses soll auf Frau Ilse Ester Hoffe uebergehen. Sie soll aber verpflichtet sein, Vorsorge zu treffen, dass nach ihrem Tode ihren Erben […] zwar die materiellen Rechte und Ansprüche (Honorare, Tantiemen und so weiter) weiterhin zustehen sollen, dass aber die […] Manuskripte, Briefe und sonstigen Papiere und Urkunden der Bibliothek der Hebraeischen Universitaet Jerusalem oder der Staedtischen Bibliothek Tel Aviv oder einem anderen oeffentlichen Archiv im Inland oder Ausland zur Aufbewahrung uebergeben werden sollen, […] falls Frau Ilse Ester 13 Hoffe zu ihren Lebzeiten nicht anderweitig ueber sie verfuegt hat.

Bemerkenswert ist, dass sowohl die Schenkung als auch das Testament bereits im Jahr 1974 durch das Kreisgericht Tel Aviv unter Richter Shilo sowie den damaligen israelischen Staatsarchivar (»Ganas Hamedina«) Paul Alsberg bestätigt wurde, damit auch der Umstand, dass die Kafka-Manuskripte seit der Schenkung von 1947 Ester Hoffe gehörten und nicht mehr Teil des Brod-Nachlasses waren. Alsberg bekräftigte am 8. Februar 1974 in einem Brief gegenüber Ester Hoffe: »Ich habe zur Kenntnis genommen, daß sich die Manuskripte Kafkas nicht im Nachlass des Schriftstellers Max Brod befunden haben, sondern Ihnen schon viele Jahre vor dessen Ableben zum Geschenk gemacht wurden.«14 Diese rechtliche Bestätigung der Schenkung erst gab Ester Hoffe die Möglichkeit, über die besagten Kafka-Manuskripte zu verfügen, und so begann sie 1975 damit, Teile des Geschenkten zum Verkauf anzubieten, zuerst 22 Briefe Kafkas an Brod, sodann die Beschreibung eines Kampfes, die der Verleger Siegfried Unseld erwarb und die heute seinem Sohn Joachim Unseld gehört,15 schließlich das Manuskript der Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande sowie das Process-Manuskript, welches das Deutsche Literaturarchiv in Marbach 1988 für die Rekordsumme von 3,5 Mio. Mark ersteigerte, nachdem es die zuvor durch Frau Hoffe angebotenen KafkaHandschriften wegen ihrer Preisvorstellungen stets abgelehnt hatte.16 Eine generelle Regelung für den Nachlass von Brod sowie die restlichen Kafka-Manuskripte, wie sie Brods Testament eigentlich vorgesehen hatte, traf sie damit freilich nicht. Sie schien vielmehr den Passus des Testaments auszuschöpfen: »falls Frau Ilse Ester Hof-

12 13 14 15

16

Brods Testament befindet sich im Besitz der Hebräischen Nationalbibliothek. Zitiert in: Kilcher, »Die Akte Kafka« (wie Anm. 9). Zitiert in: Stefan Koldehoff, Florian Illies, »Wem gehört Kafka?«, in: Die Zeit, 19. 11. 2009, S. 47. Das inzwischen im Besitz seines Sohnes Joachim Unseld befindliche Manuskript wurde faksimiliert. Vgl. Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes, Gegen zwölf Uhr […], hg. von R. Reuß in Zusammenarb. mit P. Staengle und J. Unseld, Basel 1999. Weitere Details vgl. Koldehoff, Illies, »Wem gehört Kafka?« (wie Anm. 13).

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fe zu ihren Lebzeiten nicht anderweitig ueber sie verfuegt hat« – was sie offensichtlich dahingehend interpretierte, die Manuskripte veräußern zu können. Das bedeutete aber auch, dass die Aufgabe einer archivalischen Regelung des verbleibenden Kafka-Nachlasses sowie des Brod-Nachlasses weder von Brod selbst noch von seiner direkten Erbin Ester Hoffe geleistet wurde, sondern nach ihrem Tod 2007 auf ihre Töchter fiel. Dabei gingen diese davon aus, auf derselben rechtlichen Grundlage über jene Erbschaft frei verfügen zu können. Das Marbacher Literaturarchiv, mit dem Ester Hoffe seit 1979 im Gespräch war, zeigte sich in dem Fall als primärer Interessent, nicht nur am verbleibenden Kafka- sondern auch am Brod-Nachlass, zu dem es mit den 1986 von Hoffe erworbenen 40 Briefen von Stefan Zweig an Brod einen Grundstock besitzt. Auch vor diesem Hintergrund war das Marbacher Archiv mit einem Beobachter (einem Anwalt) beim Prozess um Brods Nachlass präsent. Sowohl den Regelungen von Brod und dem Gerichtsentscheid von 1974 als auch den Plänen der Hoffe-Erbinnen wie den Interessen Marbachs – all dem widerspricht das Gerichtsurteil vom Oktober 2012: Es erklärt Brods Schenkung als ungültig, deutet das Testament zugunsten der Hebräischen Nationalbibliothek um und spricht damit den Erbinnen von Hoffe die Möglichkeit ab, über den Nachlass zu verfügen, um ihn statt dessen in staatliche israelische Hand zu legen. Nun basiert dieses Urteil weniger auf eindeutigen Fakten und daraus resultierenden Beweisführungen. Vielmehr arbeitet es mit Indizien und besteht aus Interpretationen von Texten wie Gesetzen, Schenkungen, Testamenten und Briefen. Dabei schöpft es insbesondere deren Zweideutigkeiten und Offenheiten aus und konstruiert auf diese Weise eine spezifische Lesart von Brods Letztem Willen. Bemerkenswert ist zum einen das Argument zur Schenkung: Das Gericht erklärt Brods Schenkung mit der Begründung als ungültig, dass zu ihrem Zeitpunkt in Israel das im 19. Jahrhundert eingeführte osmanische Zivilgesetzbuch galt, die sogenannte Mecelle. Tatsache ist, dass diese in Israel bis zum »Gesetz zur Aufhebung der Mecelle« vom 28. Juni 1984 in Kraft war, wobei einzelne Teile zuvor schon ersetzt wurden, darunter das Schenkungsrecht.17 Doch auch dieses galt bis Oktober 1968, womit Brods Schenkung formal unter die Geltung der Mecelle fällt. Das osmanische Schenkungsrecht, so wird im Urteil darauf bauend weiter argumentiert, war besonders penibel und verlangte eine faktische Übergabe der Schenkung. Im Fall Brods aber habe diese nie wirklich stattgefunden, weshalb die Schenkung nichtig sei. Im § 86 des Urteils heißt es dazu: Die Mecelle setzt weitaus genauere Schenkungsbedingungen voraus als das [gegenwärtige israelische] Schenkungsrecht. […]: »Eine Schenkung wird angelegt durch Angebot und Annahme und ist mit dem Empfang vollzogen.« Solange die beiden Handlungen des Gebens und des Empfangs nicht vollständig vollzogen wurden, ist die Schenkung noch nicht zustande gekommen; sie erlischt mit Brods Tod. […] Es ist hervorzuheben, dass die Mecelle in Angelegenheiten des Vertrags und der Schenkung 17

Vgl. Hilmar Krüger, »Zum zeitlich-räumlichen Geltungsbereich der osmanischen Mejelle«, in: ders. (Hg.), Liber amicorum Gerhard Kegel, München 2002, S. 43–63.

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pedantisch ist. Prof. G. Tadski […] stellt fest, dass die Mecelle keine Möglichkeit aner18 kennt, eine verpflichtende Schenkung bereits vor dem Empfang zu vollziehen.

Das Argument der nicht ganz vollzogenen Schenkung schöpft eine spezifische Ambivalenz aus: Auf der einen Seite habe Ester Hoffe diese zwar schriftlich angenommen, mehr noch: die geschenkten Kafka-Manuskripte im Herbst 1956 (angesichts der Suez-Krise) physisch nach Zürich in Banksafes des Schweizerischen Bankvereins (heute UBS) gebracht.19 Auf der anderen Seite aber, so das Urteil weiter, sei die Übergabe zu Lebzeiten Brods nie vollauf vollzogen worden, indem sie den Banksafe offensichtlich gemeinsam geführt haben, was im Urteil als ungenügend für den Empfang einer Schenkung eingestuft wird. Das Urteil bestreitet den Vollzug und damit die Rechtsgültigkeit von Brods Schenkung zudem mit zwei weiteren Argumenten: zum Ersten sei Brod ungeachtet der Schenkungsbriefe namentlich gegenüber Dritten »wie ein Eigentümer« der Manuskripte aufgetreten und habe entsprechend auch über diese verfügt; zum Zweiten wäre dies von Hoffe zumindest indirekt dadurch respektiert worden, dass sie zu Brods Lebzeiten ihr Eigentumsrecht, etwa durch Verkäufe, nicht ausgeübt habe. So lässt sich das im § 85 des Urteils nachlesen, der in die Schlussfolgerung mündet: »Derjenige, der das Kafka-Archiv bis zu seinem letzten Tag verwaltete, war Brod.«20 Die Konsequenz des Urteils aus dieser somit als unvollständig und (gemäß der Mecelle – und gegen den Entscheid von 1974) nicht rechtsgültig eingestuften Schenkung besteht darin, die Kafka-Manuskripte als Teil des Brod-Nachlasses zu werten und ergo dem aktuellen Erbvorgang zuzurechnen. Auf dieser Grundlage ruft das Urteil ein zweites Hauptargument auf den Plan, das Brods Letzten Willen betrifft, indem es diesen neu interpretiert, namentlich den zitierten § 11. Tatsächlich ist insbesondere dieser Paragraph keineswegs eindeutig lesbar: Er kann zugunsten von Hoffes Erbinnen und deren angestrebtem Verkauf nach Deutschland gedeutet werden, aber auch zugunsten der von Brod angeführten Hebräischen Universität – und darauf eben zielt das Urteil. Dazu greift das Urteil Brods Unterscheidung zwischen »materiellen« und »geistigen« Vermögenswerten auf: Auf der einen Seite stehen die »materiellen« Einkünfte aus der Verwertung von Texten (Honorare, Tantiemen), die den Hoffe-Erbinnen zugesprochen werden, auf der anderen Seite die Manuskripte selbst, als »geistige Vermögenswerte«. Diese aber werden ihnen abgesprochen, indem Brods Testament dahingehend interpretiert wird, dass er Hoffes Erbinnen damit beauftragt hatte, die Manuskripte der Hebräischen Universität in Jerusalem zu übergeben: Aus dem Studium von § 11 des Testaments geht hervor, dass der Verstorbene eine klare Trennung zwischen den geistigen Vermögenswerten und den materiellen Rechten, die aus diesen abgeleitet werden können, vollzogen hat. Was die materiellen Rechte angeht, so bestimmte der Verstorbene, dass sie den Erben der Verstorbenen hinterlassen werden sollen. Was die Manuskripte, die Briefe und andere Dokumente angeht (bei diesen handelt es sich um geistige Vermögenswerte), so bestimmte der Verstorbene, 18 19 20

§ 86 des Urteils, zitiert nach Ott, »Kafkas Nachlass« (wie Anm. 5). Vgl. dazu Ott, »Kafkas Nachlass« (wie Anm. 5), S. 96. Ebd.

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dass diese der Hebräischen Universität in Jerusalem oder der städtischen Bibliothek in Tel Aviv oder einem anderen öffentlichen Archiv in Israel oder im Ausland zur Aufbe21 wahrung übergeben werden sollen.

Ein dritter Argumentationsschritt des Urteils besteht sodann darin, Brods Aufzählung möglicher Archive als Priorisierung zu lesen. Dadurch erst erscheint die erstgenannte Nationalbibliothek als bevorzugtes Archiv: »[D]ie Reihenfolge der in § 11 des Testaments des Verstorbenen ist hierarchisiert und es ist dieser Gewichtung des Verstorbenen zu folgen. Als erstes legte der Verstorbene die Bibliothek der Hebräischen Universität in Jerusalem fest […].« Als Beleg für diese Lesart von Brods Testaments von 1961 wird u. a. seine erste Testament-Fassung von 1948 herangezogen, die bloß eine beliebige »jüdische öffentliche Bibliothek oder ein Archiv in Palästina« nennt, sowie auch Hoffes langjährige Korrespondenz mit der Hebräischen Nationalbibliothek. Die spätere Ausweitung auf Archive im Ausland wird dabei ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass Hoffe seit 1979 zugleich mit dem Marbacher Archiv verhandelte und Teile dorthin verkaufte. All diese Argumente machen deutlich, dass das Gerichtsurteil nicht auf eindeutigen Fakten beruht, sondern auf Indizien und Interpretationen von Zweideutigkeiten in Dokumenten, die die Übergabe des Brod-Kafka-Nachlasses regeln sollten. Doch noch ein Zweites wird deutlich, das im folgenden genauer zu analysieren ist: dass diese Interpretation auch von einer Intention geleitet ist, einem kulturellen Anspruch, ja einem politischen Willen: Der Brod- und Kafka-Nachlass sollte in Israel bleiben und dort einer staatlichen öffentlichen Institution übergeben werden. Dies jedenfalls warf der beobachtende Anwalt des Marbacher Literaturarchivs in seinem Schlussplädoyer dem Gericht vor. Im § 65 des Urteils ist seine kritische Position wiedergegeben: »Das Verfahren ist nichts anderes als der Versuch des Staates Israels, ein Eigentum, das rechtmäßig erworben wurde, zu verstaatlichen und es auf indirektem Weg zum Eigentum des Staates zu machen.« Spätestens mit diesen mehr oder weniger erkennbaren Intentionen beim Verfahren stellt sich die Frage, inwiefern es dabei auch, wenn nicht gar hauptsächlich, um ein hintergründiges kulturpolitisches Narrativ geht, dessen kontroverse Leitfrage die Zugehörigkeit ›Kafkas‹ ist: Kafka als kulturelles Kapital.

2.

Verhandlung des Prozesses

Das Urteil leistet zwar faktisch eine solche Appropriation. Doch tut es dies auf der Basis der Auslegung von Dokumenten zu privaten Besitzverhältnissen, während die Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit Kafkas eher hintergründig aufscheint. In den Vordergrund tritt sie jedoch in den öffentlichen publizistischen Verhandlungen des Prozesses in den Massenmedien. Tatsächlich fand der Prozess um Brods und Kafkas Nachlass nicht nur hinter den verschlossenen Türen des Familiengerichts 21

Übersetzung aus dem § 94 des Urteils, zitiert nach Ott, »Kafkas Nachlass« (wie Anm. 5).

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in Ramat Gan statt. Er wurde vielmehr zu einem öffentlichen Ereignis, an dem die zentralen Instanzen des Literaturbetriebs beteiligt sind: Bibliotheken, Wissenschaftler, Dokumentarfilmer, vor allem aber die öffentlichen Instanzen der Meinungsbildung, die Massenmedien zwischen Tel Aviv, Zürich und New York. Dabei beschränken sich erst recht diese Instanzen der Meinungsbildung keineswegs auf sachliche, berichtende oder analytische Darstellung. Vielmehr interpretieren sie das Geschehen, ja ergreifen Partei und betreiben dabei eine Art Kulturkampf um Kafka. Besonders weit gingen dabei die Artikel der israelischen Tageszeitung Haaretz sowie der Dokumentarfilm des israelischen Regisseurs Sagi Bornstein Kafka’s Last Story (2010) auf der einen Seite, die die Sichtweise der hebräischen Nationalbibliothek profilieren, und die London Review of Books auf der anderen Seite, die sich äußerst kritisch zu den Ansprüchen einer ( juristischen, kulturellen, nationalen) Aneignung Kafkas überhaupt stellen. Zu den öffentlich auftretenden Akteuren im Disput um Brods und Kafkas Nachlass gehören des Weiteren Experten, darunter Kafka-Philologen, die an unterschiedlichen Stellen der Debatte kommentierend auftreten, aber auch die Anwälte der beiden Parteien, deren tendenziöse Positionen wiederholt zitiert werden. Wenn in diesem öffentlichen Disput – als sekundäre Verhandlung und Interpretation des Prozesses – Zugehörigkeiten hergestellt werden, so erfolgt dies durch die Zuschreibung von Bedeutungen und Werten. Diese Wertkonstruktion ist nicht nur im metaphorischen Sinn ökonomisch; vielmehr geht es um eine Aneignung, die am materiellen Geldwert Kafkas bzw. seiner Handschriften ansetzt. Das Medienereignis des Prozesses kreist zudem auch und vor allem um den symbolischen Wert Kafkas, um seine kulturelle und nationale Aneignung, mithin um das imaginäre ›Kapital Kafka‹. So lassen sich im Disput zum Prozess zwei Narrative der Appropriation unterscheiden: ein ökonomisches zu Kafkas Geldwert und ein symbolisches zu seiner kulturellen resp. nationalen Zugehörigkeit. Verbunden sind beide in der plakativen Schlüsselfrage »Wem gehört Kafka?«, die wiederholt in den Feuilletons aufgeworfen wurde, etwa im Zeit-Titel vom 19. November 2009,22 in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 26. September 2010,23 sowie prominent in dem Essay von Judith Butler Who Owns Kafka? am 3. März 2011 in der London Review of Books, aber auch in zahlreichen weiteren Medien.24 Die ökonomische Erzählung, um damit zu beginnen, kreist um die scheinbar profane Frage des Geldwerts von Kafkas Handschriften. Gerade daran aber zeigt sich die Logik der Wertzuschreibung, die wesentlich auch die Behauptung kultureller Zugehörigkeit leitet. In der Kapitalbildung Kafkas ist eine Zahl herausragend: 1,9 Mio. 22 23

24

Koldehoff, Illies, »Wem gehört Kafka?« (wie Anm. 13). »Ein Gespräch mit dem Philologen Andreas Kilcher über die strittigen Besitzverhältnisse von Kafkas Manuskripten im Nachlass seines Freundes Max Brod«, Interview Lothar Müller, online unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/nachlass-von-franz-kafka-wem-gehoert-kafka-1.1004762 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Vgl. etwa den Radiobeitrag von Margarethe Steinhausen, »Als wär’s ein Stück von ihm. Oder: Wem gehört Franz Kafka?« vom 20. Dezember 2011 auf NDRInfo (»Das Forum«).

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Dollar bzw. 3,5 Mio. Mark – die Summe, die Marbach im Jahr 1988 für das ProzessManuskript bezahlte, als das Archiv den Zuschlag bei Sotheby’s in London erhielt. Nachdem Ilse Ester Hoffe die Beschreibung eines Kampfes für 200'000 DM sowie die Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande für 350'000 DM angeboten hatte, war das Prozess-Manuskript nicht nur ihr größter Verkaufserfolg, sondern auch das teuerste Einzelmanuskript, das Marbach je erworben hatte.25 Zunächst mit diesen Zahlen wurde die Frage des Geldwertes zu einer spektakulären Geschichte im öffentlichen Diskurs um den Prozess. Charakteristisch für den Sensationswert ist eine Anekdote, die Die Zeit kolportierte. Sie demonstriert die steile Konjunktur der Kafka-Aktie um 1980: Als Michael Krüger, der Hanser-Verleger, 1981 in Israel war, besuchte er Hoffe in ihrer Wohnung im Apartmenthaus in der Spinoza-Straße – doch sie ließ ihn nicht in die Wohnung, sondern führte das lange Gespräch im Treppenhaus. Krüger wollte mit ihr über die Abdruckgenehmigung der Zeichnungen aus dem Kafka-Nachlass sprechen, also die bis dato angeblich unveröffentlichten Kritzeleien des jungen Studenten. Sie 26 sagte ihm, dass dies sehr teuer werde. Elio Fröhlich, der Zürcher Anwalt, der auch das Erbe von Robert Walser streng behütete und den er anrufen sollte, um zu erfahren, wie teuer »sehr teuer« ist, erklärte Krüger dann am Telefon: »Es kostet 100’000 Mark, wenn Sie sich die Zeichnungen anschauen wollen.« Über die Kosten der Druckgeneh27 migung könne man dann später reden. Krüger lehnte dankend ab.

Überboten wurden solche Anekdoten durch neuste Spekulationen um den Wert des im Brod-Nachlass befindlichen Kafka-Restnachlasses im Zuge des Prozesses selbst. Der Anlass dafür waren Mutmaßungen über den Inhalt der Banksafes in Tel Aviv (Bank Leumi) sowie in Zürich (Schweizer Bankverein bzw. heute UBS), nachdem das Gericht im Frühjahr 2010 angeordnet hatte, die Safes der Hoffes zu öffnen und von einer von ihm bestimmten israelischen Expertengruppe auf ihren Inhalt zu untersuchen. Während es dem Gericht bzw. den Experten primär darum ging, die Safes bzw. darin liegende Dokumente und Briefe auf Hinweise zu Erb- und Besitzverhältnissen des Nachlasses zu prüfen, spekulierte die Öffentlichkeit über bislang unbekannte Kafka-Texte. Dabei wurde die entscheidende Tatsache fast völlig ignoriert, dass der Inhalt der Safes mit Brods Kafka-Nachlass in Zürich seit der Entstehung der kritischen KafkaAusgabe im Fischer-Verlag in den 1980er Jahren sehr wohl bekannt, d. h. nicht nur inventarisiert, sondern auch im Wesentlichen – bis auf einige Zeichnungen Kafkas – ediert ist.28 Unerachtet dessen pflegten insbesondere die israelische Zeitung Haaretz 25 26

27 28

Vgl. dazu die Ausstellung sowie den Marbacher Katalog Franz Kafka. Der Proceß. Die Handschrift redet (wie Anm. 5). Elio Fröhlich war auch Gründer. Die Carl Seelig-Stiftung wurde am 23. Dezember 1966 von Dr. Elio Fröhlich, dem Testamentsvollstrecker des am 15. Februar 1962 in Zürich verstorbenen Schriftstellers, Journalisten und Mäzens Carl Seelig, im Einverständnis mit dessen Erben gegründet. Koldehoff, Illies, »Wem gehört Kafka?« (wie Anm. 13). Vgl. dazu Kilcher, »Die Akte Kafka« (wie Anm. 9). Der Inhalt der Zürcher Safes entspricht zum größeren Teil den beiden Bänden Malcolm Pasley (Hg.), Franz Kafka, Max Brod. Eine Freundschaft, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1987–1989.

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sowie der Dokumentarfilm von Sagi Bornstein die Vorstellung eines ungehobenen Schatzes unbekannter Kafka-Texte. So wusste Haaretz schon am Tag der Safeöffnung in Zürich am 22. Juli 2010 von einem angeblich bisher unbekannten Manuskript Kafkas: »The safe deposit boxes contained a huge number of Kafka and Brod’s letters and manuscripts, including a never before seen handwritten manuscript of a previously published short story by Kafka.«29 Am Tag danach doppelte die Zeitung nach: Newly discovered Kafka texts may never have been published, um über den Inhalt, aber auch den fiskalischen Wert dieser »story« zu spekulieren: A number of experts and jurists involved in the case believe that at least some of the manuscripts have not been published before and were hidden in safe deposit boxes for decades. One expert suggested that the manuscripts were deliberately stashed away to 30 raise their value in a future sale.

Die spektakuläre Fiktion eines der Öffentlichkeit über Jahrzehnte vorenthaltenen millionenschweren Kafka-Schatzes an der Zürcher Bahnhofstrasse hielt die Zeitung über Monate hinweg aufrecht, während die Expertenkommission und das Gericht ihre Durchsuchung der Safes abseits der Öffentlichkeit auswertete. Noch Mitte September 2010 erzählte Haaretz die Fortsetzungsgeschichte jenes verborgenen ›Kafka treasure‹, unbeeindruckt davon, dass sachlichere Medienbeiträge diese Nachricht inzwischen entzaubert hatten:31 »The quantity is incomprehensible. The material here is worth a fortune. It is a treasure,« said one source, recently, who is close to the ongoing legal battle over the Franz Kafka estate. He was referring to the manuscripts that turned up this past summer in the vaults of several banks in Tel Aviv and Zurich. […] Many more months will be needed to methodically go over all the material. Collectors estimated the manuscripts’ initial value at hundreds of thousands of dollars. If Kafka’s handwriting is found on a 32 new manuscript, its value would soar to millions.

Als der Prozess Anfang 2011 auf einen Erfolg der Erbinnen Ilse Ester Hoffes hinzudeuten schien, ließen diese – gemäß Haaretz – über ihren Anwalt verlauten, dass der Verkauf des Nachlasses nicht in Einzelstücken erfolgen soll, sondern nach Gewicht. Die Idee bestand offensichtlich darin, unbesehene Papierbündel zu versteigern: »They’ll say: ›There’s a kilogram of papers here, the highest bidder will be able to approach and see what’s there.‹«33 Das wäre vielleicht die konsequenteste Ökonomisierung von Archivmaterial gewesen. Angesiedelt zwischen Aktien und Lotterielo29

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Ofer Aderet, »Kafka correspondence with other writers discovered«, in: Haaretz, 22. 07. 2010, online unter: http://www.haaretz.com/jewish-world/kafka-correspondence-with-other-writers-discovered-1.303495 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Ofer Aderet, »Newly discovered Kafka texts may never have been published«, in: Haaretz, 23. 07. 2010, online unter: http://www.haaretz.com/print-edition/news/newly-discovered-kafkatexts-may-never-have-been-published-1.303507 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Vgl. Kilcher, »Die Akte Kafka« (wie Anm. 9). Ofer Aderet, »Kafkaesque conundrum«, in: Haaretz, 17. 09. 2010, online unter: http://www.haaretz.com/weekend/week-s-end/kafkaesque-conundrum-1.314307 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Ofer Aderet, »The case of the other K.«, in: Haaretz, 07. 01. 2011, online unter: http://www.haaretz.com/weekend/week-s-end/the-case-of-the-other-k-1.335744 (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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sen, wurde Kafkas Handschrift in dieser Erzählung auf ihren spekulativen Papierwert reduziert, der – in der Logik der Spekulation – umso höher liegt, je weniger bekannt ihr Inhalt ist. Auch in deutschen Medien wurde die Wertfrage verhandelt, dies nicht nur anlässlich des Tel Aviver Prozesses, sondern auch – allerdings dadurch sensibilisiert – mit Bezug auf einen anderen Teil von Kafkas Nachlass: die Briefe an Ottla, die am 19. April 2011 im Berliner Auktionshaus Stargardt im Auftrag der Kafka-Erben – ebenfalls unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit – zur Versteigerung kommen sollten. Der Ausrufpreis sollte 500’000 € betragen, doch Experten wurden in Zeitungen zitiert, wonach dieses Konvolut problemlos das doppelte erzielen könnte. Nachdem sich das Marbacher Literaturarchiv zunächst für außerstande erklärt hatte, diese Summe für die 111 Autographen aufzubringen, reagierten deutsche Medien empört, etwa Hubert Spiegel in der FAZ am 24. Januar 2011: »Aber Marbach hat kein Geld für Kafka. […] Das wäre ein Trauerspiel. Eines, das nicht jeder verstehen und akzeptieren kann.«34 Wenige Tage später, am 27. Januar 2011, druckte die Süddeutsche Zeitung (veranlasst durch Peter-André Alt und Hans-Gerd Koch) einen Spendenaufruf – mit Erfolg: das Bundeskulturministerium, das Land Baden-Württemberg, die Kulturstiftung der Länder, aber auch private Stifter wie die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck und die Friends der Bodleian Library konnten als Spender gewonnen werden. Die Auktion wurde abgewendet, Marbach erwarb das Konvolut gemeinsam mit der Oxforder Bodleian Library. Bezeichnend ist, dass der Geldwert dabei verschwiegen wurde: »Über den Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart«, so die offizielle Wendung.35 Wohin der Kurs von Kafkas Handschrift tendiert, lässt sich allerdings an den jüngsten Auktionen absehen: Am 20. April 2012 wurde im Berliner Auktionshaus Bassenge ein einzelner, wenn auch bis anhin unbekannter Brief Kafkas an Robert Musil für 47’000 € (netto) verkauft.36 Kurz darauf versteigerte das New Yorker Auktionshaus Swann einen leeren Briefumschlag Kafkas an Felice Bauer für 10’800 $; und im Salzburger Auktionshaus Kaupp ersteigerte das Deutsche Literaturarchiv Marbach am 7. Dezember 2012 einen einzelnen Brief Kafkas an Max Brod; der Zuschlag von 96’000 € wurde mit Hilfe privater Spenden ermöglicht.37

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36 37

Hubert Spiegel, »Die Frau, bei der Kafka ein anderer war«, in: FAZ, 24. 01. 2011, S. 25. Vgl. Gregor Dotzauer, »Ottla für alle. Marbach und Oxford erwerben Kafka-Briefe«, in: Der Tagesspiegel, 04. 04. 2010, S. 23, online unter: http://www.tagesspiegel.de/kultur/ottla-fuer-allemarbach-und-oxford-erwerben-kafka-briefe/4023518.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Vgl. Andreas Kilcher, »Nachrichten von Kafka. Ein unbekannter Brief an Robert Musil«, in: Neue Zürcher Zeitung, 03. 05. 2012, S. 49. Vgl. die Pressemitteilung aus Marbach: »PM 79/2012. Kafkas ›Mäuse-Brief‹ geht an das Deutsche Literaturarchiv Marbach«, online unter: http://www.dla-marbach.de/aktuelles/pressemitteilungen/2012/index.html?tx_ttnews[tt_news]=14787&tx_ttnews[backPid]=60981&cHash=8045 6d9454 (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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Kulturelle Territorialisierung

Anlässlich dieser Auktionen, insbesondere aber des Tel Aviver Prozesses wurde dennoch nicht primär der steigende materielle, sondern vor allem der exponentiell zunehmende symbolische Wert der Aktie ›Kafka‹ verhandelt. Symptomatisch dafür ist schon die Begründung des Spendenaufrufs für Kafkas Briefe an Ottla. Der emphatische Appell für den Standort Marbach haushaltet mit einer symbolischen Wertbildung, die die kulturelle Zugehörigkeit – als Besitzanspruch – legitimiert: »Die Unterzeichnenden sind der festen Überzeugung, dass diese kostbare Sammlung in die Bestände des Deutschen Literaturarchivs Marbach gehört.«38 [Hervorh. A.K.] Die Frage der kulturellen Zugehörigkeit stand erst recht im Zentrum des Medienprozesses um Brods/Kafkas Nachlass. Sie wurde hier noch einmal von Grund auf verhandelt, auch mit Blick auf den zivilisatorischen Bruch des Holocaust. Dabei war Kafka schon zu Lebzeiten mit eben dieser Frage der kulturellen Zugehörigkeit konfrontiert – ob er ein ›deutscher‹ oder ein ›jüdischer‹ Dichter sei, so etwa anlässlich des Erscheinens der Verwandlung 1916. In einem Brief an Felice Bauer vom Juli 1916 beobachtete dies Kafka mit Ironie: Willst Du mir übrigens nicht auch sagen, was ich eigentlich bin. In der letzten Neuen Rundschau wird die ›Verwandlung‹ erwähnt, mit vernünftiger Begründung abgelehnt und dann heißt es etwa: »K’s Erzählkunst besitzt etwas Urdeutsches.« In Maxens Aufsatz dagegen: »K’s Erzählungen gehören zu den jüdischsten Dokumenten unserer 39 40 Zeit«. Ein schwerer Fall. Bin ich ein Zirkusreiter auf 2 Pferden?

Kafka ironisiert diese konkurrierenden kulturellen Festschreibungen auch damit, dass er sich selbst demgegenüber vielmehr zwischen jenen beiden Kulturen positioniert: »Leider bin ich kein Reiter, sondern liege am Boden.«41 Solche Zweifel an den Möglichkeiten wie am Sinn kultureller Zuschreibung sind im jüngsten Disput um Brods und Kafkas Nachlass weitgehend ausgespart. Der juristische Konflikt ist vielmehr von einem Kulturkampf um die Ikone Kafka begleitet, nach dessen Logik der deutsche Schriftsteller ins Deutsche Literaturarchiv nach Marbach, der jüdische in die Hebräische Nationalbibliothek nach Jerusalem gehörte. Ein Argument für eine deutsche Kulturalisierung Kafkas gab etwa der Kafka-Biograph Reiner Stach in der FAZ am 7. August 2010, indem auch er die Frage stellte: »Wem gehört Kafka?« Zwar gibt der Beitrag die einzig angemessene Antwort auf diese Frage: Er zielt darauf, Kafkas Manuskripte als »Weltkulturerbe« zu verstehen und damit nationalkulturellen Besitzansprüchen gerade zu entziehen. Dennoch wendet sich der Artikel nicht nur gegen eine Vereinnahmung Kafkas durch Israel, 38 39 40 41

»Rettet dieses bedeutende Kulturerbe! Ein offener Brief zur geplanten Versteigerung der Briefe an Ottla von Franz Kafka«, in: Süddeutsche Zeitung, 27. 01. 2011, S. 14. Kafka bezieht sich auf Brods Aufsatz: »Unsere Literaten und die Gemeinschaft«, in: Der Jude 7 (1916), S. 457–464. Franz Kafka, Briefe 1914–1917, hg. von H.-G. Koch, Frankfurt a. M. 2005, S. 250. Ebd.

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sondern hält dagegen auch Argumente für eine letztlich deutsche kulturelle Verortung, ja Verpflichtung von Kafkas Literatur: »Kafka identifizierte sich in seinen frühen Jahren als deutsch-jüdischer Böhme, dann eher als deutsch-böhmischer Jude, er war Staatsbürger Österreich-Ungarns, hatte ab Anfang 1919 einen tschechischen Pass und starb 1924 in der Republik Österreich. Literarisch fühlte sich Kafka der deutschsprachigen Moderne verpflichtet […].«42 Mit diesem kulturellen Argument wird, so differenziert sie für den Kafka der Dreivölkerstadt Prag vorgetragen ist, dennoch der Anspruch Marbachs als bevorzugter Ort der deutschsprachigen jüdischen Moderne gestützt: »Raulff verfügt über die materiellen und personellen Ressourcen, um einen Nachlass auch dieses Umfangs zügig zu erschließen und der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, und sein Haus hat jahrzehntelange Erfahrung mit deutsch-jüdischen literarischen Nachlässen. Das sind starke Argumente, die für Marbach sprechen.«43 Diese Position unterstrich, was Stach bereits am 26. Januar 2010 in einem Interview im Berliner Tagesspiegel vertreten hatte: Marbach wäre sicher der richtige Ort für den Brod-Nachlass, weil man dort die Wissenschaftler und die Erfahrung hat im Umgang mit Kafka, Brod und der deutschjüdischen Literaturgeschichte. Dass die Hoffe-Töchter mit Marbach jetzt ernsthaft verhandeln, hat im Israelischen Nationalarchiv irgendwelche Ressentiments oder Begehrlichkeiten geweckt. Dort jedoch fehlen für diese deutschsprachigen Texte aus dem einstigen Kulturraum zwischen Wien, Prag und Berlin die sprach- und milieukundigen Leute. Brod hatte ja schon als junger Mann zahllose Kontakte geknüpft, zu Heinrich Mann, zu Rilke, Schnitzler, Karl Kraus, Wedekind oder zu Komponisten wie Janacek, und er besprach diese Korrespondenzen mit Kafka. Aber das war Jahrzehnte, ehe er nach Palästina kam – hier von israelischem Kulturgut zu sprechen, erscheint mir ganz abwegig. In Israel gibt es heute weder eine Kafka-Gesamtausgabe noch eine einzige Straße, die nach Kafka benannt wäre. Und suchen Sie Brod auf He44 bräisch, müssen Sie ins Antiquariat gehen.

Zwar ist diese Position bereits eine Antwort auf eine gleichzeitige israelische Kulturalisierung Kafkas, die von Beginn an die Besitzansprüche der hebräischen Nationalbibliothek geleitet hatte. Doch gewann diese erst nach diesem Interview im Tagesspiegel an Schärfe. Darauf nämlich reagierte eine Gruppe israelischer Wissenschaftler, indem sie am 9. Februar 2010 eine Erklärung im Internet publizierten – überschrieben mit dem Postulat: »Wir verlangen, dass das Archiv von Max Brod in Israel bleibe!« Darin erklärten sie, gegen Stach gerichtet: Das Archiv des zionistischen Philosophen und Schriftstellers Max Brod, das während 40 Jahre verschlossen war und das sowohl Teile der Werke von Franz Kafka als auch Tagebücher, Briefe und bisher unveröffentlichte Werke von Max Brod enthält, steht dabei im Mittelpunkt eines Gerichtsverfahren, das über seine Zukunft entscheidet – bleibt es in Israel und wird der Nationalbibliothek in Jerusalem übergeben, so wie es 42 43 44

Reiner Stach, »Der Process gehört uns allen«, In: FAZ, 07. 08. 2010, S. 31. Ebd. »Kafkas letztes Geheimnis. Interview mit Reiner Stach geführt von Peter von Becker«, in: Der Tagesspiegel, 26. 01. 2010, S. 22, online unter: http://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/interview-kafkas-letztes-geheimnis/1670718.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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Brod in seinem Testament wünschte, oder bekommt ›das Archiv der deutschen Nationalliteratur‹ in Marbach die Sammlung, wie es die Töchter und Erben von Frau Esther Hoffe, Brods Sekretärin, verlangen. Diese behaupten, dass ihre Mutter das ganze Archiv von Brod geschenkt bekommen habe und sie deshalb damit tun können, was sie wollen. Das Archiv in Marbach hat sich ganz auf die Seite der Hoffe-Töchter gestellt, hat seinen eigenen Rechtsanwalt bestellt und ist heute direkt am Verfahren beteiligt, weil die zwei Töchter beabsichtigen, das Archiv ihm zu übergeben. Die deutsche Presse veröffentlicht Artikel, die verlangen, dass das Max Brod Archiv nach Deutschland komme, denn in Israel fehle das akademische Wissen, um das Max Brod Archiv zu bearbeiten, denn dieses ist ganz auf deutsch geschrieben und ausserdem gäbe es in Israel eigentlich niemand, der sich für Max Brod wirklich interessiere. So schrieb zum Beispiel Reiner Stoch [!], der Biograph von Max Brod [!], im Tagesspiegel vom 26 Januar 2010: »Marbach wäre sicher der richtige Ort für den Brod-Nachlass […].« Wir, die Unterzeichneten, israelische Akademiker und Forscher die sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte befassen, sind entsetzt über die Art wie die israelische Akademia in der deutschen Presse dargestellt wird, als ob wir weder Interesse, noch das historische Wissen und sprachliches Können hätten, um das Max Brod Archiv zu erforschen. Max Brod ist ein Teil der Geschichte des Staates Israel, ein Schriftsteller und Philosoph, der unzählige Artikel über den Zionismus geschrieben hat und der sich, nach seiner Flucht vor den Nazis aus Prag, in Israel (damals Palaestina) niederliess und hier über dreissig 45 Jahre bis zu seinem Tod lebte.

Organisiert hatte diesen Aufruf u. a. Nurit Pagi, die an der Universität Haifa an einer Doktorarbeit zu Brod arbeitet. Ihre Position – Kafka und Brod gehören nach Israel – vertritt sie entschieden, sowohl in Bornsteins Dokumentarfilm zum Tel Aviver Prozess wie auch in einem Artikel im Yakinton im Frühjahr 2011, dem letzten israelischen Organ der deutschen Juden, wobei sie mit einer politischen Mission vorgestellt wird: »Sie zählt zu denjenigen, die sich kämpferisch für den Verbleib des Brodund Kafka-Nachlasses in Israel einsetzen.«46 Im Artikel berichtet sie, wie im Tel Aviver Prozess unter großem Aufsehen eine besondere Zeugin dem Besitzanspruch der Nationalbibliothek Nachdruck verliehen hatte: die ehemalige Sekretärin Martin Bubers und Mitarbeiterin in der Handschriftenabteilung der Hebräischen Nationalbibliothek Margot Cohen.47 Bemerkenswert sind aber vor allem Pagis Schlussfolgerungen aus der zweistündigen Gerichtssitzung mit Margot Cohen, bemerkenswert im kulturkämpferischen Gestus wie in der bellikosen Rhetorik: »[…] im Verlauf des langen Gefechts hat die Nationalbibliothek in Jerusalem an diesem Tag eine wichtige Schlacht gewonnen. […] Der Verbleib des Brod-Archivs in Israel könnte beweisen, dass wir an unsere Existenz und unsere Zukunft hier im Land glauben. Dass wir wissen, die zionistische Bewegung hat sich noch lange nicht verwirklicht 45

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»Wir verlangen, dass das Archiv von Max Brod in Israel bleibe!«, veröffentlicht am 09. 02. 2010, online unter: http://www.hagalil.com/archiv/2010/02/09/brod-archiv/ (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Online unter: http://www.irgun-jeckes.org/?CategoryID=451&ArticleID=2538 (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Vgl. Nurit Pagi, »Brod und Kafkas Nachlass – und unsere Zukunft in Israel«, in: Yakinton, Mitteilungsblatt der Vereinigung der Israelis Mitteleuropäischer Herkunft 249 (2011), online unter: http:// www.irgun-jeckes.org/?CategoryID=451&ArticleID=2538 (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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und dem Erbe des mitteleuropäischen Judentums fällt bei ihrer Verwirklichung eine wichtige Aufgabe zu. In der Tat, auch der Kampf um den Verbleib des Archivs von Max Brod in Israel ist einer der wichtigen Kämpfe, die wir für unsere Zukunft in unserem Land austragen.«48 An diesem kulturellen ›Kampf‹, der hier zur zionistischen Mission stilisiert wurde, beteiligte sich, wie schon deutlich wurde, auch die Tageszeitung Haaretz bzw. der Journalist Ofer Aderet, der die meisten einschlägigen Artikel zum Prozess verfasste. Er hatte zudem – wie Pagi – einen gewichtigen Anteil an Bornsteins Film. Während sie darin als ›Expertin‹ auftritt, bleibt er als Berater des Regisseurs im Hintergrund. Im Abspann wird dennoch deutlich, dass seine Rolle gewichtig war: als Verantwortlicher für »Recherche und inhaltliche Betreuung«. Der kulturellen Germanisierung Kafkas stellen vor allem seine Artikel in Haaretz eine Hebraisierung Kafkas entgegen, dies mit zwei komplementären Tendenzen: durch symbolische Integration Kafkas in den Zionismus sowie durch symbolische Bewahrung Kafkas vor dem Holocaust. Der israelische Anspruch auf Kafka wurde durch den Nachweis seines Zionismus innerjüdisch begründet: durch die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Geschichte, einem gemeinsamen Volk. So argumentierte Aderet am 17. September 2010 anlässlich seiner Mutmaßungen über den Inhalt der Banksafes in Zürich und Tel Aviv – mit Berufung auf Pagi. Während die Doktorandin Kafka zum Zionisten erklärte, sah der Journalist darin einen Beleg für unbekannte Kafka-Handschriften: The Zionist idea preoccupied Kafka and Brod. »Kafka learned Hebrew and dreamt of immigrating to Palestine,« says Nurit Pagi, a doctoral student in literature at the University of Haifa. »Brod fought bitterly over Kafka’s Jewish identity and the materials found in the safes, the diaries and the letters, might finally confirm his interpretations 49 of Kafka’s writings.«

Unterstützung fand diese Annahme bei zahlreichen Mitarbeitern der Hebräischen Nationalbibliothek in Jerusalem, die in Haaretz zitiert wurden. So sind für den Kurator der Judaica-Sammlung der hebräischen Nationalbibliothek Dr. Aviad Stollman die Zugehörigkeiten klar: Kafka gehört nach Israel nicht nur, weil dies Brods Letzter Wille war, wie das Gericht argumentiert, sondern auch, weil es sein genuiner Ort ist: »›We hope the archives of Brod and Kafka, which are of great national and international importance, will soon reach Jerusalem,‹ Stollman says. ›Not just because Brod asked for that in his will, but also because these archives are the only ones that can provide the overall context of these documents.‹«50 Auch der Direktor der Nationalbibliothek, David Blumberg, leitete aus Kafkas kultureller Zugehörigkeit den Besitzanspruch seiner Institution ab, ebenfalls mit kulturkämpferischem Gestus: »The library does not intend to give up on cultural assets belonging to the

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Ebd. Vgl. Aderet, »Kafkaesque conundrum« (wie Anm. 31). Ebd.

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Jewish people.«51 Prägnant brachte dies auch der Professor für deutsche Literatur an der Ben-Gurion Universität in Beer Sheva, Mark Gelber, auf den Punkt, der Pagis Erklärung mitunterschrieb und seinerseits im Jahr 2000 in Israel einen Kongress zu Kafka und der Zionismus veranstaltet hatte. Seine Antwort auf die Frage: »Why does Kafka belong here?« lautet schlicht: »Because the Zionist enterprise was important to him.«52 Als Argument für diese Politisierung ›Kafkas‹ galt insbesondere ein sprachliches: seine Hebräischstudien, auf die schon Pagi verwies. Kafka, der tatsächlich Versuche unternommen hatte, Hebräisch zu lernen und – allerdings wenig ernsthaft – mit dem Gedanken der Einwanderung nach Palästina spielte, wird vorzüglich damit zum entschiedenen Zionisten erklärt.53 So zeigt Bornsteins Film eine Szene mit Haggai Ben Schammai, dem akademischen Leiter der hebräischen Nationalbibliothek, wie er Nurit Pagi ein im Besitz der Bibliothek befindliches hebräisches Vokabelheft Kafkas als Beleg für seinen Zionismus zeigt, wobei sie darin das hebräische Wort hagana etzmit entdeckt und erklärt: »Selbstverteidigung, das hat wirklich mit Israel zu tun.« »Jaja«, bekräftigt Ben Schammai und erklärt: »Er hatte ernsthaft vor, nach Israel einzuwandern und hier ein neues Leben zu beginnen.« In seinem Kommentar im israelischen Radio zum Prozessausgang im Oktober 2012 führte Ben Schammai dieses Argument weiter aus: »Franz Kafka hatte die Absicht, ins Land Israel einzuwandern. Wir haben in der Nationalbibliothek ein Heft, in dem er Worte auf Hebräisch aufgeschrieben hat, mit deutscher Übersetzung, in den Unterrichtsstunden bei einer jungen Frau aus Israel, die ihm Privatstunden in Prag gegeben hatte, als Vorbereitung für seine Einwanderung.«54 Die zionistische Heimholung Kafkas wird durch ein historisch-moralisches Argument flankiert: den Bezug zum Holocaust. Das Grundmuster formulierte Ilana Haber, zu der Zeit Leiterin der Handschriftenabteilung der Jerusalemer Nationalbibliothek. Sie verwies nicht nur auf die große Zahl deutsch-jüdischer Nachlässe in der Bibliothek, um so das kulturelle Umfeld und Erbe für Kafka zu umschreiben. Sie forderte die Dislozierung Kafkas nach Israel auch mit dem historischen Argument, wonach Kafka, dessen drei Schwestern in Auschwitz ermordet wurden, förmlich noch einmal von den Deutschen zu erretten sei. Aderet zitiert sie im Oktober 2010 in Haaretz: »I want to ask the Germans,« says Haber, rhetorically: »If Kafka who died in 1924, had lived longer, what would have happened to him?« She immediately answers her 51

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Vgl. Aron Heller, »Lost Kafka writings resurface, trapped in trial«, in: Southeast Missourian, 22. 07. 2010, online unter: http://www.semissourian.com/story/1651296.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Zitiert nach: Elif Batuman, »Kafka’s Last Trial«, in: The New York Times, 26. 09. 2010, S. 34. Vgl. etwa Andreas Kilcher, »Kafka, Scholem und die Politik der jüdischen Sprachen«, in: Christoph Miething (Hg.), Politik und Religion im Judentum, Tübingen 1999, S. 79–115; ders., »Nachrichten aus der Ferne. Franz Kafkas ›hebräische Kraftanstrengung‹«, in: Neue Zürcher Zeitung, 08. 04. 2000, S. 53–54. Zu hören ist der am 15. 10. 2012 publizierte Beitrag von Sebastian Engelbrecht unter dem Titel »Kafka-Nachlass geht an Israels Nationalbibliothek«, online unter: http://www.tagesschau.de/ ausland/kafka-nachlass100.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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own question: »He would have been sent to Auschwitz like his sisters and many of his 55 family members. It was his luck that he died of tuberculosis.«

Bornsteins Dokumentarfilm folgt dieser historisch-moralischen Argumentation: Die filmische Inszenierung von Interviews und Dokumenten erzählt nicht nur eine Privatgeschichte, wonach die Hoffes, die über Jahrzehnte hinweg die Brod-KafkaManuskripte unter Verschluss hielten und mit dem Verkauf einzelner Stücke Kafkas ins deutsche Ausland Millionen erlösten, dieser Verantwortung zu entbinden seien. Erzählt wird auch das große historische Narrativ, wonach Kafka noch einmal vom Holocaust zu erretten sei. Was das technische Auge des Films u. a. mit der wiederholten Einblendung der NS-Bücherverbrennung suggeriert, bestätigt neben Nurit Pagi auch der Anwalt der Hebräischen Nationalbibliothek Meir Heller: Es gehe darum, »historisches Unrecht zu korrigieren«. Damit wird nicht nur in Zweifel gezogen, dass Hoffes Verkauf des Prozess-Manuskripts nach Marbach rechtens war und so faktisch die Rückforderung des Prozess-Manuskripts in den Raum gestellt – was wiederum in deutschen Medien heftig debattiert wurde.56 Es wird auch gefragt, ob Marbach überhaupt das moralische ›Recht‹ auf jüdische Nachlässe wie die von Brod und Kafka habe. Pagi zitiert dazu Margot Cohen, die diesen historisch-moralischen Zusammenhang zum Holocaust herstellt: Von der Nationalbibliothek für Aufbewahrung, Pflege und Zugänglichmachung seines Archivs eine Zahlung zu verlangen, war für einen zionistischen Künstler, der in Israel Zuflucht vor den Nazis gefunden hatte, besonders in jenen Jahren undenkbar. Fast genauso undenkbar wie die Vorstellung, Max Brod, dessen geliebter Bruder Otto mit seiner gesamten Familie in der Schoa den Tod fand, könne dessen literarischen Nachlass dem Deutschen Literaturarchiv Marbach übergeben. Das gilt ebenfalls für die Schriften Franz Kafkas, dessen drei Schwestern von den Nazis ermordet wurden. Diese Haltung war für Juden wie Buber, Brod und viele andere Angehörige jener Kultur, 57 Zeit und Denkweise selbstverständlich.

Im deutschen Sprachraum sekundierte dieses Argument die Wiener Zeitung mit dem Hinweis auf die NS-Vergangenheit des Marbacher Literaturarchivs, wobei sie dies allerdings vieldeutig kommentierte: »Zwischen rechtlichen Grundlagen und moralischen Bedenken klafft mitunter ein breiter Spalt.«58 Auf israelischer Seite jedenfalls wurden die moralischen Bedenken mit Blick auf den Holocaust auch zur Maxime der rechtlichen Entscheidung im Jahr 2012. Der »Spalt«, der sich dabei allerdings auftut, ist ein historischer: der zwischen dem NS-Deutschland und dem gegenwärtigen, das die Verantwortung für den Holocaust übernommen hat. 55 56

57 58

Aderet, »Kafkaesque conundrum« (wie Anm. 31). Vgl. etwa Der Spiegel vom 26. 10. 2009, online unter: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/streitum-prozess-handschrift-israel-fordert-von-deutschland-kafka-manuskript-a-655521.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Nurit Pagi, »Brod und Kafkas Nachlass – und unsere Zukunft in Israel« (wie Anm. 46). Edwin Baumgartner, »Ein ganz und gar kafkaesker Fall«, in: Wiener Zeitung, 27. 08. 2010, S. 13, online unter: http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/mehr_kultur/49332_Ein-ganzund-gar-kafkaesker-Fall.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

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Andreas B. Kilcher

Der unzugehörige, exterritoriale, transnationale Kafka

Das Marbacher Literaturarchiv selbst hat, trotz Interessekonflikt, als Institution keine analoge Politisierung jener Nachlässe vorgenommen. Vielmehr zeigten sich die Verantwortlichen gerade demgegenüber kritisch. In Bornsteins Film antwortet Ulrich Raulff auf die Frage der Zugehörigkeit Kafkas: »Nirgendwo ist er zu Hause – also, und überall.« Diese kosmopolitische Antwort auf Frage von Kafkas »Zugehörigkeit« verschärfte die jüdisch-amerikanische Philosophin Judith Butler zu einer denkbar kritischen Sicht auf die Möglichkeiten eines Staates in der Aneignung von Kultur überhaupt. In einem ausführlichen Artikel in der London Review of Books vom März 2011 weist sie unter dem Titel Who Owns Kafka? jegliche kulturelle oder politische Appropriation, ob von israelischer oder deutscher Seite, als Versuche nationaler Instrumentalisierung zurück. Dabei sieht sie auf israelischer Seite nicht nur den Versuch am Werk, Kafka zu nationalisieren, sondern auch die jüdische Diaspora überhaupt, die Galut, zu territorialisieren. Nach dieser politischen Logik, so Butler, gehört das ganze weltweit zerstreute jüdische Kulturgut letztlich dem Staat Israel; die Diaspora ist heteronom, ihrem nationalen Zentrum verpflichtet: The position of the National Library relies on a conception of the nation of Israel that casts the Jewish population outside its territory as living in the Galut, in a state of exile and despondency that should be reversed, and can be reversed only through a return to Israel. The implicit understanding is that all Jews and Jewish cultural assets – whatever that might mean – outside Israel eventually and properly belong to Israel, since Israel 59 represents not only all Jews but all significant Jewish cultural production.

Butler sieht in der Haltung der Nationalbibliothek nicht zuletzt auch einen Zusammenhang zu der israelischen Besatzungspolitik: Die Aneignung werde damit auf das Gebiet der Kultur übertragen bzw. umgekehrt die Kultur zu einem Instrument der Territorialisierung politisiert: Perhaps Kafka might be instrumentalised to overcome the loss of standing that Israel has suffered by virtue of its ongoing illegal occupation of Palestinian land. […] The Kafka trial not only takes place against this political backdrop, but actively intervenes in its reconfiguration: if the National Library in Jerusalem wins its case, to have access to the unpublished and unseen materials of Franz Kafka one will have to defy the boycott and will have implicitly to acknowledge the Israeli state’s right to appropriate cultural goods whose high value is assumed to convert contagiously into the high va60 lue of Israel itself.

Zugleich kritisiert Butler auch die Versuche einer deutschen Kulturalisierung Kafkas, die sie bei »several German scholars« beobachtete. Damit meint sie eine kultu59

60

Judith Butler, »Who Owns Kafka«, in: London Review of Books 33 (2011), S. 3–8, hier S. 3, online unter: http://www.lrb.co.uk/v33/n05/judith-butler/who-owns-kafka (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Ebd., S. 3 ff.

Kafka im Betrieb |

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relle Eingliederungen Kafkas zur deutschen Literatur, wie sie etwa Peter-André Alt nach dem Prozessurteil in einem Radiointerview am 15. Oktober 2012 im Deutschlandradio bekräftigte: »Es sei unumstößlich«, wird er zitiert, »dass die Papiere nach Marbach gehörten, weil dort der richtige Kontext existiere. ›Hier kann man die Texte in ihrem Zusammenhang studieren, hier sind andere große Nachlässe von Autoren der literarischen Moderne versammelt, nicht zuletzt zahlreiche Manuskripte Kafkas [...]. Das ist der richtige Ort, wo man über die Literatur deutscher Sprache forscht und arbeitet.‹«61 Butler sieht eine solche Argumentation als kulturelle Aneignung, in deren Zuge Kafka zum erfolgreichen deutsch-akkulturierten jüdischen Immigranten erklärt werde. Auch bei dieser Kulturalisierung spielt die Sprache eine zentrale Rolle. Wie Kafka in Israel aufgrund seiner Hebräischstudien zum Zionisten erklärt wird, so werde er in Deutschland als deutsch schreibender Autor eingemeindet: Kafka could be a model of the successful immigrant, though he lived only briefly in Berlin, and clearly did not identify even with the German Jews. If Kafka’s new works are recruited to the Marbach archive, then Germany will be fortified in its effort to shift its nationalism to the level of language; the inclusion of Kafka takes place for the very same reason that less well-spoken immigrations are denounced and resisted. Is it 62 possible that fragile Kafka could become a norm of European integration?

Butler sieht Kafka somit als Objekt, ja als Opfer zweier kultureller und politischer Territorialisierungen, einer israelischen und einer deutschen. Beiden widerspricht sie zum einen mit Kafkas eigener Poetik und Politik des »non-belonging« und des »non-arrival«, die sie als leitend für seine Stellung zum Zionismus wie auch zur deutschen Kultur einstuft: »[I]f we turn to his writing to help us sort through this mess, we may well find that his writing is instead most pertinent in helping us to think through the limits of cultural belonging, as well as the traps of certain nationalist trajectories that have specific territorial destinations as their goal.«63 Dem Prozess um Besitz und Zugehörigkeit hält sie Kafkas eigene Poetik der Deterritorialisierung entgegen – und damit gewissermaßen dem Betrieb die Literatur. Doch argumentiert sie dabei nicht nur mit Kafka selbst, sondern auch mit jüngeren politischen Kulturkonzepten: nicht (wie vielleicht erwartbar) mit Deleuze und Guattari, sondern vor allem mit postnationalen Diasporatheorien. Mit Rekurs auf den Postkolonialismus (Edward Said) wie den Postzionismus (Amnon Raz-Krakotzkin), sieht sie in Kafkas Texten eine elementare Widerständigkeit gegen jede nationale Verortung von Kultur überhaupt. Butlers kritische Interpretation des Streits um Kafkas Nachlass lässt somit ein alternatives Narrativ zu demjenigen der Nationalisierung erkennen: die Geschichte des diasporischen Judentums, das sie als das eigentliche und ursprüngliche Judentum behauptet: »[T]he exilic is proper to Judaism 61

62 63

»Hoffnung auf Revision des Urteils zu Nachlass des Schriftstellers Max Brod«, Gespräch mit Peter-André Alt, publiziert am 15. 10. 2012, online unter: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/1894374/ (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Butler, »Who Owns Kafka« (wie Anm. 58), S. 5. Ebd., S. 6.

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and even to Jewishness.«64 Indem Butler Kafka in eben diese Gegengeschichte einschreibt, bewahrt sie »poor Kafka«65 vor allen nationalen Appropriationsversuchen. Seine deutsch-jüdische Transkulturalität baut vielmehr auf einer Ökonomie von Leihen und Gaben, in deren Licht jeder (nationalkulturelle) Anspruch auf Besitz als abwegig erscheint. Butlers Essay leistet damit einerseits eine kritische Analyse des Betriebs um Kafka. Die Analyse der Politik der Besitzergreifung erhellt die Prämissen und Konsequenzen des Betriebs, seine politischen Werte und moralisch-historischen Argumente. In diesem kritischen Licht erscheint der Betrieb in einer monströsen Gestalt: als Kampfplatz von monetärer, kultureller und nationaler Appropriation. Andererseits ist Butlers Analyse selbst wiederum nicht außerhalb, sondern innerhalb des Betriebs zu lesen: als Teil desselben. Ihre Geste, die schützende Hand über »poor Kafka« zu halten, ist ihrerseits einer bestimmten Lektüre Kafkas verpflichtet, ja einer bestimmten Lektüre von deutsch-jüdischer Kultur überhaupt. Es ist die Geschichte des gewissermaßen unschuldigen, reinen Diasporischen, Exterritorialen, das außerhalb eindeutiger Zugehörigkeiten steht und damit den Kategorien von ›Nation‹ und ›Kultur‹ ebenso wie dem von ihnen ausgehenden Begehren der Aneignung widerstrebt. Auch und gerade mit dieser Antithese zu den nationalen und kulturellen Aneignungen gehört Butlers kritische Analyse ihrerseits mit zur diskursiven Poiesis des Betriebs. Gerade ihre kritische Analyse zeitigt den Betrieb zugleich als Teil der Literatur, deren Dynamik sie entspringt und die sie – ausdrücklich im Namen Kafkas – fortschreibt.

64 65

Ebd., S. 3. Ebd., S. 5.

Ute Schneider

Literatur auf dem Markt – Kommunikation, Aufmerksamkeit, Inszenierung Das Buch als Trägermedium literarischer Texte und somit literarischer Kommunikation positioniert sich seit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern im jeweils epochenspezifischen Medienkontext: von den Flugschriften und Flugschriften der frühen Neuzeit bis hin zur aktuellen, facettenreichen Medienlandschaft des 21. Jahrhunderts, stets stand und steht das Medium Buch in fruchtbarer Wechselwirkung mit anderen Medien. Spätestens Ende des 20. Jahrhunderts setzte allerdings der im Vergleich mit früheren Entwicklungen rapide verlaufende Prozess der kontinuierlichen Ausweitung und gleichzeitigen Ausdifferenzierung des Medienangebots ein. Diese quantitative wie auch qualitative Veränderung der Medienvielfalt korrespondiert aktuell keineswegs mit dem Zeit- und Finanzbudget der potenziellen Rezipienten. Obwohl gegenwärtig zunehmend medienkonvergente Prozesse beobachtet werden können, wird doch eine gewisse Konkurrenzsituation deutlich, in der die unterschiedlichen Medienanbieter um die Zeit, um das Geld und um die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer, ihrer Zuhörer, ihrer Zuschauer, ihrer User konkurrieren.1 Das meist nicht beliebig vermehrbare Freizeitbudget des potenziellen Mediennutzers müssen sich die zahlreichen Medien außerdem noch mit anderen Freizeitangeboten teilen. Die Nutzer wiederum müssen permanent Entscheidungen treffen, aus welchem Medium sie Nachrichten, Informationen und Unterhaltungsangebote beziehen wollen: sie können zwischen zahlreichen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen, Radiosendern und Fernsehkanälen sowie rund 255'000 lieferbaren Buchtiteln allein in der Belletristik und im Sachbuch wählen. Die Medienmärkte sind von einer enormen Dynamik gekennzeichnet, der auch die Literatur im Buch unterliegt. Literatur und Markt bilden spätestens seit der Entstehung eines nach kommerziellen Zielen ausgerichteten Literaturbetriebs im 18. Jahrhundert eine spannungsgeladene Kombination. Autonome Kunst und Markt scheinen sich zu widersprechen, aber zu »den Branchen, die traditionell an den Schnittstellen zwischen der Aufmerksamkeitsökonomie und der Geldwirtschaft angesiedelt waren, gehört auch das Verlagswesen«.2 Der Volkswirtschaftler Georg Franck hat mit seiner schon 1998 formulierten Theorie der Aufmerksamkeitsökonomie3 den Impuls geliefert, die Frage nach der Regeln 1 2

3

Vgl. dazu auch Wulf D. von Lucius, Verlagswirtschaft. Ökonomische, rechtliche und organisatorische Grundlagen, Konstanz 22007, S. 60–62. Georg Franck, »Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit. Zu den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb«, in: Markus Joch, York-Gothart Mix, Norbert Christian Wolf (Hg.), Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literaturbetrieb der Gegenwart, Tübingen 2009 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 113), S. 11–21, hier S. 20. Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998.

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der Aufmerksamkeit auch im Hinblick auf die Marktmechanismen im Literaturund Kulturbetrieb zu stellen. Zur Beantwortung dieser Frage sind von literatur- und medienwissenschaftlicher Seite in den letzten Jahren einige Studien publiziert worden, die die drei plakativen Schlagworte von der Kommunikation, der Aufmerksamkeit und der Inszenierung aufgegriffen und anhand von Fallbeispielen diese Dimensionen im aktuellen Marktgeschehen untersucht haben. Kristina Nolte, Joan Kristin Bleicher und Knut Hickethier haben jeweils die Theorie der Aufmerksamkeitsökonomie auf das Gebiet der Medien übertragen,4 und im Kontext der Forschungsdebatte über den aktuellen Literaturbetrieb wurde das theoretische Modell auf Erklärungsversuche über das Zusammenwirken von Medien und Literatur angewandt und die Frage nach den Medialen Erregungen5 gestellt. Grundsätzlich zielt dies alles auf die Frage nach der Autonomie der Literatur. Marc Reichwein hat in einem wegweisenden Beitrag gezeigt, dass Aufmerksamkeit im Literaturbetrieb vor allem durch drei Strategien erzielt wird: durch Personalisierung, durch Emotionalisierung oder durch Provokation.6 Die Personalisierung des literarischen Werks wird meist flankiert von der Inszenierung des Autors, was zunehmend in den Blick der Forschung geraten ist. Schnell aufeinander folgend sind 2006, 2007 und 2008 Sammelbände zu dieser Thematik erschienen,7 die alle Autorschaft im Kontext der Medien (so einer der Untertitel) thematisieren. Der medienkompatible Autor scheint ein Garant buchhändlerischen Erfolgs auf dem Markt zu sein. Was passiert also mit dem Buch, was passiert mit der Literatur auf dem Markt? Dazu sind zunächst ein paar Bemerkungen über die Rahmenbedingungen angebracht, denn die Quantitäten in ökonomischer Hinsicht wie im Produktionsvolumen erfordern zunehmend ein im Vergleich mit früheren Jahrzehnten verändertes verlegerisches Agieren und bestimmten den Wandel und die Neuausrichtung von Handlungsprozessen.

4

5 6

7

Kristina Nolte, Der Kampf um Aufmerksamkeit. Wie Medien, Wirtschaft und Politik um eine knappe Ressource ringen, Frankfurt a. M. 2005; Joan K. Bleicher, Knut Hickethier (Hg.), Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie, Münster 2002 (Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte. 13). Joch, Mix, Wolf (Hg.), Mediale Erregungen, (wie in Anm. 2). Marc Reichwein, »Diesseits und jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Inszenierung von Paratexten«, in: Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hg.), Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen 2007, S. 89–99. Ilse Nagelschmidt (Hg.), Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin 2006 (Literaturwissenschaft. 4); Christine Künzel, Jörg Schönert (Hg.), Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg 2007; Gunter E. Grimm, Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008.

Literatur auf dem Markt | 1.

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Der Buchmarkt – Größenordnungen, Strukturen und Phänomene

Volkswirtschaftlich gesehen ist die deutsche Buchbranche ein eher kleiner Wirtschaftszweig mit einem Gesamtumsatz, der seit Jahren im Bereich von 9 bis 10 Milliarden Euro pendelt.8 Dennoch sind die Größenordnungen im deutschsprachigen belletristischen Buchmarkt, die ein Verleger oder ein Lektor bei der Titel- und Programmplanung im Blick haben muss, beachtlich. Wie in den letzten Jahren kamen auch 2009 weit über 90'000 deutschsprachige Neuerscheinungen auf den Markt, davon entfallen rund 14'000 Titel auf die unterhaltende Belletristik. Addiert man die Warengruppe »Deutsche Literatur« hinzu, kommt man für die Gruppe der literarischen Titel auf ungefähr etwa ein Viertel der jährlichen Gesamtproduktion. Allein schon angesichts dieser Titelvielfalt und des Produktionsvolumens der Buchbranche wird schnell ersichtlich, dass jede verlegerische Bemühung, für einen einzelnen Titel anhaltende Aufmerksamkeit in der literarischen Öffentlichkeit (zu der auch die Literaturkritik gehört) und beim Käuferpublikum zu provozieren, einem enormen Konkurrenzdruck ausgesetzt ist. Die Produktion von Novitäten in deutschen Buchverlagen stieg kontinuierlich mit nur leichten Schwankungen in den letzten zehn Jahren um fast 24 Prozent. Dem dauerhaften Anstieg der jährlichen Titelproduktion steht kein entsprechender Zuwachs bei den Leserzahlen gegenüber. Dadurch ist ein Käufermarkt entstanden, auf dem die Nachfrage nach literarischen Büchern geringer ausfällt als deren Angebot. Daraus resultieren tendenziell immer niedrigere Durchschnittsauflagen, und die Verlage konzentrieren sich mit ihrem Marketingbudget auf einige wenige Spitzentitel mit Bestsellerpotenzial. Der gebundene Ladenpreis macht so immerhin die lange gepflegte Mischkalkulation in literarischen Verlagen weiterhin möglich, die absatzstarken Titel können die absatzschwachen mitfinanzieren. Wenn man sich diese quantitativen Kontexte ansieht, wird relativ schnell klar, auf welches Ziel hin die verlegerischen Handlungen ausgerichtet sein müssen: nämlich darauf, die Aufmerksamkeit des Käuferpublikums für einen Titel oder eine Reihe oder vielleicht sogar für ein Programm zu wecken. Ein unternehmerisches Ziel ist oft die Platzierung eines oder vielleicht sogar mehrerer Titel auf der Bestsellerliste. Die Listenplätze garantieren die Aufmerksamkeit des Publikums wie auch des Sortimentsbuchhandels. Die Buchhändler kaufen von Listentiteln eine relativ hohe Anzahl von Exemplaren ein, die dann, um Spontankäufe anzuregen, im Ladengeschäft an prominenter Stelle präsentiert werden. Obwohl Bestseller als Massenware stets unter Trivialitätsverdacht stehen, stellt die Bestsellerliste eine nicht zu unterschätzende Instanz im Literaturvermittlungsprozess dar. Es besteht oft eine unmittelbare Wechselwirkung zwischen der Platzierung eines Titels auf der Bestsellerliste und 8

Zu den aktuellen exakten Zahlen und denen der letzten zehn Jahre, auch der folgenden Angaben, vgl. Börsenverein des deutschen Buchhandels (Hg.), Buch und Buchhandel in Zahlen, Frankfurt a. M. 2000 ff.

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der medialen Berichterstattung. Dies gilt nicht nur für das politische Debattenbuch wie jüngst Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab (2010), sondern lässt sich auch im Falle literarischer Titel und generell im populären Sachbuchbereich nachweisen. Aus der Platzierung auf der Liste resultiert manchmal sogar eine länger andauernde Debatte gesellschaftspolitischer oder kulturpolitischer Inhalte. Diese Abfolge funktioniert allerdings auch umgekehrt. So kritisch man Bestsellerlisten, ihre Wirkung und ihr Zustandekommen sehen mag: »Jeder von ihnen [den Bestsellerlisten] erzeugte mediale Wellenschlag stellt, aufmerksamkeitsökonomisch betrachtet, einen Glücksfall für das Medium Buch dar.«9 Verblüffenderweise werden die großen gesellschaftspolitischen Themen und ihre kontroverse, transmediale Diskussion noch immer häufig von Büchern ausgelöst und nicht von Online-Medien wie Blogs oder Internet-Magazinen bzw. -Portalen. Bestsellerlisten kanalisieren die Aufmerksamkeit, lenken die Wahrnehmung auf einzelne Titel im Bücherwald. Neben der Quantität der literarischen Titel ist zweitens zu beobachten, dass sich der traditionelle, der stationäre Sortimentsbuchhandel seit einigen Jahren zu einem höchst stabilen Machtfaktor im literarischen Feld entwickelt hat. Diese Entwicklung ist zwar mittelfristig möglicherweise ein nur flüchtiges Phänomen, aber noch werden knapp über 50 Prozent des Umsatzes von den etwa 6'000 Verkaufsstellen des deutschen stationären Sortimentsbuchhandels generiert (vor 25 Jahren waren es allerdings noch 65 Prozent). Der Buchabsatz über den Internethandel liegt jedoch schon bei 17 Prozent10 und wird sich in nicht allzu ferner Zukunft mit Sicherheit noch höhere Umsatzanteile erobern, ebenso wie die Verlage zukünftig mehr und mehr Bücher unter Umgehung des Sortiments über das Internet absetzen werden, zumal E-Books keinen Zwischenhändler benötigen. Die aktuell herrschenden ökonomischen ›Machtverhältnisse‹ auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erfordern es, für eine erfolgreiche Durchsetzung eines literarischen Titels nicht nur zwingend die Aufmerksamkeit des literarischen Publikums zu gewinnen, sondern es ist vielleicht in noch größerem Maß zielführend, die Aufmerksamkeit des Sortimentsbuchhandels zu wecken. Die Titel, die gut sichtbar in Stapeln an der Kasse oder auf dem Novitätentisch liegen, haben eine ungleich höhere Chance vom Käufer angenommen zu werden als solche, die es erst gar nicht in das Ladengeschäft schaffen. Die hohen Umsatzzahlen der großen Filialisten, die im deutschsprachigen Buchhandel relevant sind,11 beweisen im Vergleich mit denen der Verlage die Dominanz des Sortiments auf dem Markt: 1. die Thalia Holding mit knapp 300 Filialen, auch in Österreich und der Schweiz, und dem Internethändler buch.de war im Geschäftsjahr 2010 mit ca. 1002 Mio Euro die umsatzstärkste deut9

10 11

Ernst Fischer, »Marktinformation und Lektüreimpuls. Zur Funktion von Bücher-Charts im Literatursystem«, in: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.), Literaturbetrieb in Deutschland, Neufassung, München 32009, S. 200–218, hier S. 214. Zahlen für 2010. Vgl. die jährlichen Angaben der Zeitschrift Buchreport zu den 50 größten deutschen Buchhandlungen. In ihrer Online-Ausgabe zu finden unter: http://www.buchreport.de/analysen/50_groesste_buchhandlungen/details.htm (letzter Aufruf 11. 02. 2013).

Literatur auf dem Markt |

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sche Buchhandelskette, gefolgt von 2. der Deutschen Buch Handels GmbH (DBH), die Weltbild, Jokers, Hugendubel, Weiland, Wohlthat’sche und DBH Warenhaus vereint. Sie ist mit knapp 500 Filialen die größte deutsche Buchhandelskette. Diese beiden Ketten erwirtschafteten 2010 alleine einen Anteil von einem Drittel am gesamten Sortimentsumsatz. Weitere 10 Prozent vom Umsatz werden zusammen von acht anderen Sortimentsketten erzeugt. Ihr Kerngeschäft bewältigen diese großen Häuser mit nur ca. 50 Verlagen bzw. Verlagsgruppen.12 Der ›Rest‹ fällt durchs Raster. Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist es einleuchtend, dass Literatur, die in ›kleineren‹ Verlagen erscheint oder Nischeninteressen bedient, es ungleich schwerer als Mainstream-Titel hat, über die gängigen Vertriebswege ihr Käufer- und Leserpublikum zu finden. Die Machtposition des Sortimentsbuchhandels wird umso anschaulicher wenn man seinen Marktanteil mit dem der großen Verlage in Beziehung setzt: Nach Marktanteilen ist der größte deutsche Verlag der Wissenschaftsverlag Springer Science + Business Media, ein Global Player mit einem Umsatz 2010 von 482 Millionen Euro.13 Erst auf Platz 4 folgt ein General-Interest-Verlag, das ist die Verlagsgruppe Random House mit einem Umsatz von ›nur‹ 319 Mio Euro. Thalia als größte Sortimentskette hatte 2010 einen Umsatz von mehr als 1'000 Mio Euro erwirtschaftet, und damit einen mehr als dreimal so hohen Umsatz wie Random House. Ökonomisch handelt es sich hierbei um eine ganz außerordentliche Gewichtsverschiebung der Größenverhältnisse, denn noch vor ein paar Jahrzehnten lagen die Umsatzzahlen im Sortimentsbuchhandel weit unterhalb der der großen Verlage. Thalia und ähnliche Unternehmen stellen somit einen gewissen Machtfaktor dar, der beispielsweise in der Höhe der vom Verlag geforderten Rabatte und in der Zuteilung von Regalmetern, die die Verlage belegen dürfen, seinen Ausdruck findet. Die Zugangsbedingungen diktiert also der Sortimenter, und nicht der Verlag. Für den einzelnen (literarischen) Titel wettbewerbsverschärfend kommt noch hinzu, dass die großen Ketten erheblich weniger Titel im Laden vorhalten als vor Jahren noch die traditionellen Buchhandlungen, wobei besonders die so genannten ›Schnelldreher‹ aufgenommen werden, die keine oder nur geringe Beratung vom Buchhändler erfordern. Nach Angaben von Renate Grau hält Weltbild nur ca. 1'000 Titel im Ladengeschäft vor, während traditionelle Buchhandlungen bis zu 40'000 Titel anbieten.14 Diese Sortimentsentwicklungen sind vor allem für die großen General-InterestVerlage, die früher so genannten Publikumsverlage relevant, die unter kommunikationspolitischen Aspekten auch weiterhin auf den Sortimentsbuchhandel und auf die Massenmedien angewiesen sind. Dominiert wird dieser Verlagstyp, der für die 12

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Siehe dazu Torsten Brunn, Eva Blömeke, »Buchhandel«, in: Michel Clement, Eva Blömeke, Frank Sambeth (Hg.), Ökonomie der Buchindustrie, Herausforderungen in der Buchbranche erfolgreich managen, Wiesbaden 2009, S. 191–204, hier S. 193. Vgl, die Angaben zu den 100 größten deutschen Verlagen nach Umsatz in der Online-Ausgabe der Branchenzeitschrift Buchreport: http://www.buchreport.de/analysen/100_groesste_verlage/ details.htm (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Vgl. Renate Grau, Ästhetisches Engineering. Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb, Bielefeld 2006, S. 67.

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Publikation der literarischen Titel maßgebend ist, von den drei großen Konzernen Random House, Holtzbrinck und Bonnier. Anders sieht es aus bei den so genannten Special-Interest-Verlagen wie zum Beispiel Kochbuchverlagen, die auf jeweils spezifischen Märkten agieren und dort besonders von den so genannten Multiplikatoren abhängig sind. Entsprechendes gilt in abgewandelter Form für die EducationalInterest- und die Professional-Interest-Verlage, die hier aber keine Rolle spielen.15 Diese Kontexte sind wichtige Rahmenbedingungen verlegerischer Strategien. Wer als interessierter Leser in die einschlägige Branchenpresse wie das Börsenblatt des deutschen Buchhandels, den BuchMarkt oder den Buchreport schaut, wird sofort mit folgenden aktuellen Schlagwörtern konfrontiert: Produktportfolio, Wettbewerbsanalyse, Konsumentenstruktur, Wertschöpfungskette, Multichannel-Marketing, Corporate Design, Markenbildung und Markenmanagement. Von Literatur ist da gar keine Rede, allenfalls vom Sachbuch, vom Debattenbuch, das Trends generiert oder aufgreift. Daneben werden elektronische Lesegeräte wie immer wieder Apples iPad oder seit neuestem auch Thalias Oyo als zukunftsweisende Herausforderungen angeführt. Diese Schlagworte umschreiben die Problemstellungen der Buchindustrie und die ökonomischen Rahmenbedingungen, die das aktuelle Marktgeschehen und den aktuellen Literaturbetrieb charakterisieren und auf die ein Verlag reagieren muss. Zur unüberschaubaren Quantität auf dem Buchmarkt und der Macht des Sortimentsbuchhandels kommt ein dritter Faktor hinzu, der bei einer erfolgreichen Marktpositionierung eines Buches beachtet werden muss: der Buchmarkt ist nicht nur dynamisch, er ist vor allem äußerst schnelllebig geworden. Die Umschlagsgeschwindigkeit hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die kurzen Laufzeiten, der nur sehr kurze Lebenszyklus eines literarischen Titels erfordern nicht nur die Zuspitzung von Werbeaktivitäten, sondern auch die temporär, auf einen festgelegten Zeitpunkt zulaufende Konzentration der Marketingmaßnahmen. Unter dem deutlichen Anstieg der Remittendenquote hat sich in den letzten Jahren eine »Spirale der Kurzfristigkeit«16 gebildet, eine solch fatale Kurzfristigkeit, die die ohnehin nicht sehr hohen Verkaufschancen für den einzelnen Titel nochmals rapide sinken lässt. Verlagen bleibt nur ein relativ kurzes Intervall von manchmal nicht mehr als einem Vierteljahr, um auf ihre Produkte aufmerksam zu machen, bevor diese in der Angebotsvielfalt endgültig untergehen. In der Regel stellt im literarischen Buchsegment die Halbjahresfrist zwischen dem Frühjahrs- und dem Herbstprogramm auch die Lebenszeit einer Neuerscheinung dar. Als Folge davon müssen Verleger und Lektoren unentwegt neue inhaltliche Trends aufspüren, neue Autoren akquirieren und sich nach neuen Themen umsehen: »Verlage stehen daher unter ständigem Innovationszwang.«17 15

16 17

Vgl. zu diesen Verlagstypen Andreas Meyer, »Markenmanagement in der Buchindustrie«, in: Michel Clement, Eva Blömeke, Frank Sambeth (Hg.), Ökonomie der Buchindustrie (wie Anm.12), S. 159–176, hier S. 165 f. Von Lucius, Verlagswirtschaft (wie Anm. 1), S. 69. Tim Prostka, Christina Schmidt-Stölting, »Management und Erweiterung des Produktportfolios bei Verlagen«, in: Michel Clement, Eva Blömeke, Frank Sambeth (Hg.), Ökonomie der Buchindustrie (wie Anm. 12), S. 109–119, hier S. 110.

Literatur auf dem Markt |

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Damit ist nicht ausgeschlossen, dass es auch auf dem aktuellen Markt literarisch hoch ambitionierte Verleger und Verlegerinnen gibt, deren primäres Unternehmensziel nicht der ökonomische Profit, sondern beispielsweise die Einleitung oder Stabilisierung eines literarisch-ästhetischen Diskurses ist und die in Anlehnung an die Strategien der großen Kulturverleger des 20. Jahrhunderts wie Samuel Fischer, Kurt Wolff, Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, eine Autorin oder einen Autor eng an den Verlag binden, sein/ihr Gesamtœuvre publizieren und auch bei nur zögerlichem Buchverkauf am Autor festhalten. Ein solch traditionelles Handeln ist auch auf dem aktuellen Buchmarkt nicht ganz falsch, denn trotz hohem Innovationspotenzial muss ein Verlagsprogramm im günstigsten Fall das inhaltliche Verlagsprofil sichtbar machen und stabilisieren und den Wiedererkennungseffekt beim Käufer und beim Sortimenter wach halten. So kann es auch heute langfristig durchaus rentabel sein, ökonomisch wenig profitable Bücher um ihres kulturellen Kapitals Willen in der Backlist weiterzuführen und sie nicht aus dem Programm zu nehmen. Der Begriff ›Literaturbetrieb‹ wird seit einigen Jahren gerne synonym mit dem von Bourdieu theoretisch aufgestellten literarischen Feld gebraucht, in dem Akteure aufgrund ihrer unterschiedlichen Kapitalsorten positioniert werden.18 Diese Erkenntnis hat dazu geführt, den Verlag nicht mehr ausschließlich als Literatur-Vermittlungsinstanz zu sehen, die eine Vermittlungsfunktion im Kommunikationsprozess zwischen Autor und Publikum einnimmt. Neuere buchwissenschaftliche Theorien heben diese Reduktion des Verlags auf die reine Vermittlerrolle auf und erweitern seine Funktion dahingehend, dass der Verlag als Institution begriffen wird, die kulturelle Werte in das Wirtschaftssystem, in Geld, konvertiert.19 Andererseits wird Geld im Verlag wiederum eingesetzt, um kulturelle Werte zu konstituieren oder zu stabilisieren, denn der Verlag lässt zwar betriebswirtschaftliche Überlegungen bei kulturellen Entscheidungen zum Tragen kommen, er lässt aber auch kulturelle Aspekte in seine ökonomischen Entscheidungsprozesse einfließen. In dieser Wechselbeziehung erarbeitet ein Buchverlag sowohl ökonomisches als auch kulturelles Kapital. Darüber herrscht allgemein Konsens. Wesentlich ist allerdings, dass der Literaturbetrieb oder das literarische Feld, das den Markt ebenso umfasst wie die Literatur selbst, nicht nur ein Kräftefeld ist, sondern vor allem auch ein medialer Kommunikationsraum.20 In diesem Kommunikationsraum agieren die Akteure des Literaturbetriebs, die Verleger, Lektoren und Autoren zielgerichtet auf Positionierung.

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20

Zum Überblick vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999. Vgl. dazu Georg Jäger: »Keine Kulturtheorie ohne Geldtheorie. Grundlegung einer Theorie des Buchverlags«, in: Monika Estermann, Ernst Fischer und Ute Schneider (Hg.): Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann, Wiesbaden 2005, S. 59–78. Vgl. Anke Vogel, Der Buchmarkt als Kommunikationsraum. Eine kritische Analyse aus medienwissenschaftlicher Perspektive, Wiesbaden 2011.

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Ute Schneider Verlegerische Strategien – Kommunikation, Medialisierung, Inszenierung

Verlegerisches Handeln äußert sich aktuell nicht nur in der programmplanerischen Arbeit und der strategischen Ausnutzung von Wertschöpfungsketten, sondern wird konkret in Kommunikationsleistungen. Die neue empirische Studie von Walter Hömberg zu den aktuellen Arbeitsbedingungen und der Berufsauffassung des Lektors heißt im Untertitel daher auch ganz richtig Repräsentative Studie über einen unbekannten Kommunikationsberuf.21 Denn wenn es – was sich als These durchaus verifizieren lässt – für die Literatur auf dem Markt vor allem um die Erlangung von Aufmerksamkeit geht, dann hängt der Erfolg dieses Kampfes im literarischen Feld vor allem von der Kommunikationspolitik der Verlage ab, die unter den Marktentwicklungen der letzten Jahre auch deutlich erweitert und professionalisiert worden ist, sodass seit den 1990er Jahren eine »Phase des Kommunikationswettbewerbs«22 in der Buchbranche beobachtet werden kann. Kommunikation soll Aufmerksamkeit beim Publikum und beim Sortimentshandel erzeugen, soll Aufmerksamkeit lenken und in entsprechenden Verkaufserfolgen münden: »Mit der Aneignung und Umsetzung einer systematischen Kommunikationspolitik gelingt es den Unternehmen, sich nachhaltig auf einem informationsüberlasteten Markt zu präsentieren und zu behaupten und sich so der dynamischen Entwicklung auf den Medienmärkten anzupassen.«23 Im Kampf um Aufmerksamkeit haben sich gerade die anderen Medien, die mit dem Buch um Zeit und Geld der Mediennutzer konkurrieren, zu Vermittlungsinstanzen zwischen Verlagen und potenziellen Käufern und Lesern entwickelt.24 Es ist auch buchhandelshistorisch sehr interessant zu beobachten, dass das Buch bzw. ein Titel immer sehr stark über die anderen Medien im Markt oder im literarischen Leben positioniert wurde. Aktuell bedeutet dies, dass das potenzielle Aufmerksamkeitsdefizit, das zum Beispiel durch ein verhältnismäßig geringes Werbebudget der Verlage entstehen kann, über andere Medienkanäle ausgeglichen werden muss. Georg Franck hat 2009 in seiner Abhandlung Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit darauf hingewiesen,25 dass in den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb Aufmerksamkeit als Währung verstanden werden kann, die direkt in Geld konvertiert werden kann.

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Walter Hömberg, Lektor im Buchverlag, Repräsentative Studie über einen unbekannten Kommunikationsberuf, Konstanz 2010. Nicola Schnell, »Kommunikationspolitik«, in: Erhard Schütz u. a. (Hg.), Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen, Reinbek 22010, S. 173–176, hier S. 174. Ebd., S. 176. Nochmals sei hier auf den von Joch, Mix und Wolf herausgegebenen Sammelband Mediale Erregungen? (wie Anm. 2) hingewiesen, der eben just dieses Phänomen extensiv verhandelt. Wie Anm. 2.

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Welche Strategien verlegerischen Handelns scheinen nun erfolgversprechend zu sein, um Literatur auf dem Markt durchzusetzen, zu positionieren, welche Mechanismen lassen sich im Kampf um Aufmerksamkeit beobachten? Die Tendenzen auf dem Markt erfordern auch auf Autorenseite neue Strategien, die von Verlegern oder Lektoren eingeleitet, forciert und stabilisiert werden können, um die Aufmerksamkeit des Publikums sowie des Sortimentsbuchhandels auf den Autor zu ziehen. Ein Phänomen, das seit einigen Jahren beobachtet werden kann, ist die strategische Personalisierung auf dem Buchmarkt, die empirisch nicht messbar, aber doch signifikant ist. Es geht neben der Positionierung von Titeln auf Bestsellerlisten oder auch im Feuilleton der überregionalen Tageszeitungen mehr und mehr um die Vermarktung der Bücher über die Person des Autors oder der Autorin. Eine der auffallendsten Strategien ist die Inszenierung von Autoren, und zwar sowohl im Buch durch entsprechende verlegerische Paratexte als auch in den Medien. Die buchhändlerischen Erfolg versprechende allgemein, besonders aber im Sachbuchbereich zu beobachtende Entwicklung geht hin zum medienkompatiblen Autor, der die Aufmerksamkeit der Mediennutzer erregen soll. Diese Inszenierung dient auch immer seiner oder ihrer Positionierung im literarischen Feld. Über einen oft gezielt gerichteten Imageaufbau eines Autors, der medienwirksam in Szene gesetzt wird, erreichen Autor und Verlag ihr Zielpublikum leichter als über die klassischen Werbewege. Diese strategische Ausrichtung ist schon seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert sichtbar. Charakteristisch für den Buchmarkt und seine Konsumenten in den 1990er Jahren war die Aussichtslosigkeit, allgemein nutzbare Käuferprofile zu erstellen, die es den Verlagen und den Sortimentern hätten erleichtern können, sich auf die Bedürfnisse, inhaltlichen Interessen und Budgets ihrer Kunden einzustellen und die Buchprogramme nach soziologisch fundierten Merkmalen zusammenzustellen. Die vorherrschende Tendenz beim Käuferpublikum verlief »vom genormten Verbraucher zum individuellen Käufer«. Ein Erklärungsmuster für diesen Trend lautete: Die Pluralisierung und Individualisierung der Lebensstile in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und die Differenzierung in unterschiedliche soziale Milieus machten eine aufgrund schichten- und bildungsspezifischer Besonderheiten vorzunehmende Lektürezuordnung unmöglich. Ein weiteres Symptom, nämlich das gleichzeitig zu beobachtende zunehmende Desinteresse der literarischen Öffentlichkeit an der neuen zeitgenössischen deutschen Literatur, musste in der Buchbranche berücksichtigt werden. Während noch in den sechziger und siebziger Jahren literarische Texte kontroverse gesellschaftsund kulturpolitische Debatten auslösen konnten, und nach der ästhetischen, politischen oder sonstwie maßstabssetzenden Wirkung von Literatur gefragt wurde, sorgten diese Fragen gegen Ende des 20. Jahrhunderts kaum noch für Diskussionsstoff im Feuilleton. Der Empörungsgrad im Feuilleton über den Funktionswandel der deutschen Literatur war hoch, so wurde die zeitgenössische Literatur als »minoritär und museal« stigmatisiert, gleichzeitig wurde aber ihre unersetzbare Funkti-

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on als gesellschaftliches Gedächtnis betont.26 Da die literarischen Texte selbst kaum noch Impulse für Debatten in der interessierten Öffentlichkeit, dem Publikum lieferten, andererseits auch literarische Trends zügig wechselten, übernahmen ihre Autoren diese öffentliche Funktion und provozierten kontroverse Debatten. Fortan wurden Autoren mehr als in den Jahren zuvor üblich über Interviews und Talkshows in Szene gesetzt, und sie nutzen die Chancen der Selbstdarstellung auch planmäßig für ihre Interessen. Nach Gunter E. Grimm sind Selbstinszenierungen »Steuerungsstrategien, die der jeweiligen gesellschaftlichen Positionierung des Berufs angepaßt sind.«27 Danach handelt es sich um ein Phänomen, das zum Teil vom Autor selbst ausgeht, das gezielt gesteuert wird und dessen bestimmende Faktoren in der Verknüpfung von Beruf und Gesellschaft zu finden sind. Die Inszenierung des Autors wird von verschiedenen Seiten beeinflusst, er befindet sich in einem kommunikativen Spannungsfeld von Verlag, Massenmedien und Lesern. Will er wahrgenommen werden und Aufmerksamkeit auf sich ziehen, muss er sich so präsentieren, dass er alle diese Kommunikationskanäle bedient und ihnen auch gerecht wird. Das primäre Ziel seiner Inszenierung ist die Ansprache an die Öffentlichkeit, um bekannt zu werden und sein Buch dadurch gut zu vermarkten. Dies gilt auch auf Daniel Kehlmann, der sich – wie Wilhelm Haefs in seiner Untersuchung ausgeführt hat – »durch permanente Distanzierung vom literarischen Markt« inszeniert.28 Auch in der Abgrenzung vom Betrieb als vermeintlich autonomer Autor liegt natürlich eine Inszenierung, auch in der Entwicklung eines »Habitus kultureller Distinktion gegenüber den Marktmechanismen der Literaturverwertung, den Literaturvermittlungs- und Verwertungszwängen [...].«29 Der gesamte Rahmen der Autorinszenierung ist in den letzten Jahren zunehmend professionalisiert worden. Manche Autoren werden über gezielte Verlags-PR vermarktet, über Medien, Lesereisen und andere Veranstaltungen in Szene gesetzt.30 Autoren, die bereits Erfahrung im Umgang mit Medien gesammelt haben, durch TV-Auftritte u.ä. oder überhaupt aus den Medien bekannt sind, haben einen entscheidenden Vorteil in der Konkurrenz um die Aufmerksamkeit beim Buchkäufer. Man denke nur an die Erfolgsgeschichte von Hape Kerkelings Pilgerbuch. Dass Medienstars die Aufmerksamkeit lenken, muss nicht wortreich erklärt werden. Ähnlich 26

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Hubert Winkels, »Was ist los mit der deutschen Literatur? Im Schatten des Lebens. Eine Antwort an die Verächter und die Verteidiger der deutschen Literatur«, in: Andrea Köhler, Rainer Moritz (Hg.), Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Leipzig 1998, S. 42–52, hier S. 51. Gunter E. Grimm, »›Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.‹ Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation«, in: Grimm, Schärf (Hg.), SchriftstellerInszenierungen (wie Anm. 7), S. 141–167, hier S. 167. Wilhelm Haefs, »›Deutschlands literarischer Superstar‹? Daniel Kehlmann und sein Erfolgsroman Die Vermessung der Welt«, in: Joch, Mix, Wolf (Hg.), Mediale Erregungen (wie Anm. 2), S. 233–252, hier S. 248. Ebd. Hubert Winkels, Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995–2005, Köln 2005, S. 353 f. und 372, Reichwein, »Diesseits und jenseits des Skandals« (wie Anm. 6), S. 92.

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wie im Filmgeschäft, das das Starprinzip des Theaters aufgriff und radikalisierte,31 geht nun die Literaturbranche den gleichen Weg, um Authentizität und Identifikationsmöglichkeiten zu erleichtern. Georg Franck hat den »Markt der Beachtung und den Kurswert der Beachtlichkeit« mit Blick auf die vielschichtigen Konzepte Ruhm, Prominenz, Reputation und Prestige durchdekliniert.32 Schließlich herrscht ein gewisser Konsens in allen Untersuchungen zum aktuellen Literaturmarkt, und zwar in der Hinsicht, dass der Kulturbetrieb »nur ein Ausschnitt aus dem System der Kapitalmärkte der Beachtlichkeit«33 ist. Norbert Bolz hat die Inszenierung von Autoren als »literarisches Kultmarketing«34 beschrieben. Autorschaft ist Marketing und Bestsellerautoren sind Kultmarken.35 Eine Marke ist für den potenziellen Leser ein Qualitätssignal und damit auch ein Kaufanreiz. Der Erfolg eines Buches ist eng an die Prominenz seines Verfassers gebunden. Insbesondere im Marktsegment des populären Sachbuchs kristallisiert sich recht schnell beim Blick auf die aktuellen Sachbuchbestsellerlisten heraus, dass die an der Spitze dieser Listen stehenden Titel von Autoren geschrieben wurden, die in hohem Maß der Medienöffentlichkeit entstammen und durch ihre Medienpräsenz, z. B. im Fernsehen oder in den Printmedien dem Publikum bekannt sind. Dazu zählen beliebte TV-Moderatoren ebenso wie (Reportage-)Journalisten. Als Beispiel wäre Frank Schirrmachers neuestes Buch Payback zu nennen, dessen Inhalte in allen Medien diskutiert werden, wie zuvor schon sein Methusalemkomplott; dies gilt schon seit Jahrzehnten auch für die Reportagebücher aus Südostasien von Peter SchollLatour. In der Person des Autors, der auf mehreren Medienmärkten agiert, scheinen sich unterschiedliche mediale Strategien zu vereinen, die auf erfolgreiche Vermarktung zielen. Bestsellerautoren im belletristischen wie im Sachbuchbereich können als »Kultmarken« aufgefasst werden, die Kommunikationswelten um sich herum bilden, wie Norbert Bolz feststellt. Und Bolz blickt schon 1998 zugleich auf einen wissenschaftsinternen Prozess, der heute, mehr als ein Jahrzehnt später noch nicht abgeschlossen ist, sich aber deutlich verfestigt und gerade institutionalisiert hat: die »Fluchtbewegung« der Germanisten und Literaturwissenschaftler in die Medienwissenschaft. Darin – so Bolz – reflektiere sich »die Notwendigkeit einer radikalen Theoriesanierung der Germanistik«.36 Tatsächlich wird das Buch durch seinen Medienkontext, durch medienkonvergente Prozesse und mediale Vernetzungen positioniert. Aus dieser Erkenntnis wird eine weitere verlegerische Strategie erforderlich, um in den angesprochenen Kom31

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Vgl. Knut Hickethier, »Das Kino und die Grenzen der Aufmerksamkeitsökonomie«, in: Joan K. Bleicher, Knut Hickethier (Hg.), Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie (wie Anm. 4), S.149–166, hier S. 157. Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit (wie Anm. 3), S. 115 ff. Ebd., S. 140. Norbert Bolz, »Literarisches Kultmarketing«, in: Andrea Köhler, Rainer Moritz (Hg.), Maulhelden und Königskinder (wie Anm. 26), S. 245–254. Ebd., S. 248. Ebd., S. 252.

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munikationswelten präsent zu sein. Zu diesen Kommunikationswelten gehört natürlich auch das Internet, wo die Kommunikationsstränge einzelner Medien, ihrer Akteure und Rezipienten zusammenlaufen. Leseempfehlungen werden über verschiedene Formate vermittelt. In Literaturcommunities wie zum Beispiel in dem von Holtzbrinck betriebenen Bücherportal Lovely Books oder literaturbezogenen Blogs werden Bücher empfohlen, in virtuellen Lesekreisen besprochen usw. In unserer Gesellschaft wird das soziale Kapital, das der einzelne besitzt, also soziale Kontakte, Netzwerke, zunehmend wichtiger, damit werden auch Bücher und andere Medien zwangsläufig nach ihrer Leistung bei sozialen Kontakten und privater Kommunikation beurteilt. Je höher Kommunikation und gemeinsame Interessen gesellschaftlich bewertet werden, je weiter der Kommunikationsraum wird, desto fester wird das Buch Bestandteil der Kommunikationskultur, denn Bücher werden nicht nur in Rezensionsportalen öffentlich diskutiert, sie zirkulieren in der virtuellen Wildbahn des Internets wie in der realen Welt, und mit ihnen zirkulieren Ideen. Eine Untersuchung der Nutzerstrukturen und der Motive, Book Communities beizutreten, ergab, dass neben dem Austausch über das Gelesene ganz ähnlich wie in der realen Welt das individuell einzurichtende Bücherregal auch dazu genutzt wird, die eigene Persönlichkeit auszudrücken: »Für Besucher gilt: Ein Blick ins Bücherregal spricht Bände. Natürlich muss man heutzutage dafür nicht mehr aus dem Haus. Man trifft sich auf deutschsprachigen Internetseiten wie Lovely Books, Booktick oder Buechertreff. Dort zeigen Bibliophile ihre private Büchersammlung, geben Empfehlungen ab und diskutieren Werke ihrer Lieblingsautoren.«37 Auch sind die sozialen Netzwerke wie Facebook und andere mittlerweile als Multiplikatoren in der Verlagsbranche angekommen. Die Buchbranche hat die Bedeutung von Facebook durchaus erkannt, und etliche Verlage versuchen ihre Titel in entsprechenden Einträgen zu lancieren, um die Aufmerksamkeit der User zu kanalisieren. Ob aus ihnen auch Buchkäufer oder gar Leser werden, ist nicht sicher, und wie und ob sich dies zukünftig ökonomisch systematisch kapitalisieren lässt, steht noch nicht gesichert fest. Schließlich bewirkt die Eingebundenheit der Verlage in den Medienbereich eine Öffnung des Mediums Buch gegenüber anderen Medienformaten – das hat schon eine lange Tradition. Buchinhalte werden aus ihrem ursprünglichen Format gelöst und als Film, als Hörbuch usw. inszeniert und verwertet. »Ein Buch jedenfalls kommt immer seltener allein und immer öfter im Verbund mit einer Lesereise, einer Website, einem Film etc.[...].«38 Die Eventisierung der Buchkultur ist auch eine Folge der an »Konsum, Marken, Life-Style und Selbst-Erleben«39 gewöhnten Medien37

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Julia Roebke, »Buch-Communities. Wer hat das längste Regal?«, in: faz.net vom 20. 06. 2008. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/buch-communities-wer-hat-das-laengste-regal-1548830.html (letzter Aufruf 11. 02. 2013). Erhard Schütz, Thomas Wegmann (Hg.), literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing, Berlin 2001, S. 8. Ebd.

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generation. Damit erweist sich der Buchmarkt als Teil eines medialen Kommunikationsraumes, der sich durch wechselseitige Einflüsse der Medien ständig verändert. Literatur wird auf dem Markt vor allem durch andere Medien in der literarischen Öffentlichkeit, im literarischen Feld positioniert. Die Akteure des Buchmarktes und der Massenmedien sind miteinander vernetzt und wirken gemeinsam auf den Prozess der Kommunikation über ein Buch. Allerdings wird es im Rahmen einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Medienlandschaft immer schwieriger, das Interesse vieler Rezipienten zu wecken. Die Kommunikationsmöglichkeiten und die Kommunikationsfähigkeiten der Verlage können sich heute – wollen sie erfolgreich sein – nicht nur in Marketingstrategien niederschlagen. Kommunikationsleistungen sind heute für die erfolgreiche Durchsetzung eines literarischen Werkes auf dem Markt vielleicht noch wichtiger geworden als ein großer Werbeetat der Verlage. Die richtigen Kommunikationsstrategien sind zukünftig entscheidend für die Positionierung von Literatur auf dem Markt und damit in unserer Gesellschaft.

Die Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes Anna Auguscik studierte Anglistik, Komparatistik und Slavistik in München und Padua. Seit 2006 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin für Englische Literaturwissenschaft an der Universität Oldenburg. Ihre Forschung konzentriert sich auf den zeitgenössischen Roman und jene, die über ihn sprechen. Ihre Dissertation zum Booker Prize (Prizing Debate: Literary Awards and Contemporary Literary Communication in the UK) steht kurz vor dem Abschluss. Barbara Basting studierte an der Universität Konstanz sowie an der Pariser Sorbonne Romanistik, Germanistik und Philosophie. Von 1989 bis 1999 war sie als Redaktorin der Zeitschrift du, danach frei tätig. Ab 2001 war sie Redaktorin im Kulturressort des Tages-Anzeigers Zürich. Nach einer Anstellung als Redaktionsund Teamleiterin bei SRF/DRS2 arbeitete sie als Redaktorin in der neuen Kulturabteilung von SRF (Schweizer Radio und Fernsehen). Seit April 2013 leitet sie den Bereich ›Bildende Kunst‹ in der Präsidialabteilung der Stadt Zürich. Gastlehraufträge nahm Barbara Basting an der Hochschule für Gestaltung Basel und an der Zürcher Hochschule der Künste wahr. Heinz Drügh studierte Germanistik, Philosophie und Politische Wissenschaft in Bonn, Tübingen und Göttingen, promovierte 1997 an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. mit einer Arbeit zur Allegorie (Anders-Rede. Zur Struktur und historischen Systematik des Allegorischen, Freiburg i. B. 2000) und habilitierte sich 2004 an der Universität Tübingen mit einer Arbeit zur Ästhetik der Beschreibung (Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte [1700–2000], Tübingen 2006). 2005 war er Gastprofessor an der Université Aix en Provence, seit 2006 ist er Ordinarius für Neuere deutsche Literatur und Ästhetik an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Jüngst erschienen: Warenästhetik. Neue Perspektivem auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011 (Mhg.); Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M. 2009 (Mhg.). David Marc Hoffmann studierte Germanistik und Geschichte in Basel und Paris und promovierte 1990 mit einer Arbeit über Nietzsche. Bis 2011 arbeitete er als Verlagsleiter des Basler Schwabe Verlags, seit 2012 steht er dem Rudolf Steiner Archiv in Dornach vor. Hoffmann ist Präsident der Stiftung Nietzsche-Haus in Sils Maria, Gründungsmitglied des Basler Literaturhauses und der Nietzsche-Stiftung Naumburg und war bis 2011 Mitglied des Zentralvorstands des Schweizerischen Buchhändlerund Verlegerverbands. Seit 2009 nimmt er an der Universität Basel Gastlehraufträge wahr. Publikationen u. a. zu Nietzsche, Goethe, Jacob Burckhardt, Rudolf Steiner. Alexander Honold ist Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Er studierte Germanistik, Komparatistik, Philosophie und Lateinamerikanistik in München und Berlin und promovierte 1994 an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über Robert Musil und den Ersten Weltkrieg.

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Die Beiträger und Beiträgerinnen

2002 habilitierte er sich an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Studie über die Astronomie im Werk Friedrich Hölderlins. Lehrtätigkeit u. a. an der FU Berlin, an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Universität Konstanz; Forschungsaufenthalte an der New York University und an der Stanford University, Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen in Essen. Zahlreiche Buchpublikationen, Aufsätze, Zeitungsartikel und Literaturkritiken. Zuletzt erschienen: Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart 2004 (Mhg.); Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800, Berlin 2005; Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen, Göttingen 2009 (Mhg.); Das erzählende und das erzählte Bild, München 2010 (Mhg.); Kilimandscharo. Die deutsche Geschichte eines afrikanischen Berges, Berlin 2011 (zusammen mit Christof Hamann). Anja Johannsen studierte Germanistik und Philosophie in Berlin, Freiburg i. B. und Providence, R. I., USA. Von 2003 bis 2005 war sie Stipendiatin am Graduiertenkolleg »Reiseliteratur und Kulturanthropologie« in Paderborn, 2005/06 am HII, UCD, Dublin. Sie promovierte 2007 mit der Arbeit Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller (Bielefeld 2008). Im Anschluss war sie Postdoc-Stipendiatin in Paderborn und nebenbei freie Mitarbeiterin am Literaturhaus Zürich. Diverse Publikationen zur deutschund englischsprachigen Gegenwartsliteratur und zum Literaturbetrieb; zuletzt erschienen: Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen (Mhg.), München 2012. Seit 2010 ist sie Geschäftsführerin und Programmleiterin des Literarischen Zentrums Göttingen e. V. Alexandra Kedves studierte an den Universitäten Konstanz, Oxford und Freiburg i. B. Germanistik, Anglistik und Philosophie. Seit 1995 war sie als freie Mitarbeiterin u. a. für die Neue Zürcher Zeitung, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Text und Kritik tätig. Von 1996 bis 1998 war sie Mitglied der Redaktion der Schweizer Monatshefte, zwischen 1998 und 2007 nahm sie verschiedene Funktionen in der Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung wahr, zuletzt als Redaktorin für Zürcher Kultur (2000–2007). Seit 2007 ist sie Kulturredaktorin des Tages-Anzeigers. Gastlehraufträge nimmt sie u. a. an der Universität Basel wahr. Kedves ist Mitglied in diversen Literaturjurys, Moderatorin bei Lesungen und Literaturkritikerin in Radiogesprächen. Andreas B. Kilcher ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich und Mitglied des Zentrums für Geschichte des Wissens der ETH und der Universität Zürich. Gastprofessuren übernahm er in Jerusalem, Berlin, Bern, Princeton. Seine Arbeitsschwerpunkte sind jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Literatur und Wissen sowie literatur- und kulturwissenschaftliche Wissensforschung, Esoterikforschung. Jüngste Buchpublikationen: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur (Hg.), Stuttgart, Weimar 22012; Franz Kafka, Frankfurt a. M. 2008; Max Frisch, Berlin 2011.

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Edith Anna Kunz studierte Germanistik und Romanistik in Genf und Wien. Seit 2013 ist sie Förderprofessorin SNF an der Universität Lausanne mit dem Projekt »Interieur und Innerlichkeit. Zur Darstellung von Innenräumen in Literatur, bildender Kunst und Film (1850–1950)«. Sie promovierte 2003 (Verwandlungen. Zur Poetik des Übergangs in der späten Prosa Friederike Mayröckers, Göttingen 2004) an der Universität Genf. Von 1993 bis 2003 war sie wissenschaftliche Assistentin für Deutsche Sprache und Literatur an der Kulturwissenschaftlichen Abteilung der Universität St. Gallen und von 2004 bis Anfang 2012 Maître-Assistante für Neuere deutsche Literatur an der Universität Genf. Von April bis Dezember 2012 arbeitete sie als Koordinatorin des SNF-ProDoc »Das unsichere Wissen der Literatur«. Publikationen in Auswahl: Figurationen des Grotesken in Goethes Werken (Mhg.), Bielefeld 2012; Metropolen der Avantgarde / Les métropoles des avant-gardes (Mhg.), Bern, Berlin 2011; Goethe und die Bibel (Mhg.), Stuttgart 2005. Verschiedene Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert. Angelika Overath hat an der Universität Tübingen über die Farbe Blau in der modernen Lyrik promoviert. Sie arbeitet als Reporterin, Kritikerin (Neue Zürcher Zeitung), Essayistin und Romanautorin. Regelmässig unterrichtet sie Kreatives Schreiben (u. a. an der Schweizer Journalistenschule MAZ, Luzern). Seit elf Jahren erscheint ihre wöchentliche Kolumne »Abgründe« in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag. Neben Bänden mit Essays und Reportagen hat sie zwei Romane veröffentlicht (Nahe Tage, 2005, und Flughafenfische, 2009). Zuletzt erschienen: Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch (2010) und Fliessendes Land. Geschichten vom Schreiben und Reisen (2012). Angelika Overath lebt im Unterengadin. Ute Schneider studierte Buchwissenschaft, Germanistik und Soziologie, promovierte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1994 über Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik, Wiesbaden 1995, und habilitierte sich 2001 über die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag (Der unsichtbare Zweite, Göttingen 2005). Seit 2007 ist sie apl. Prof. am Institut für Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie publiziert zu den Forschungsschwerpunkten Verlags- und Buchhandelsgeschichte des 18.–20. Jahrhunderts, Wechselwirkungen zwischen Wissenschafts- und Buchgeschichte, Lesergeschichte der Frühen Neuzeit und der Moderne. Sie ist Herausgeberin von Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde (2002 ff.) und Mitherausgeberin des Archivs für Geschichte des Buchwesens (2012 ff.). Sie ist darüber hinaus Korrespondierendes Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des deutschen Buchhandels. Olaf Simons studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in München und Canterbury und promovierte im Bereich der Buchhandelsgeschichte mit einer komparatistischen Arbeit zu Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde, Amsterdam 2001. Von 1999 bis 2002 war er Mitautor der verlagshistorischen Kapitel am Bertelsmann-Kommissionsbericht – eine Tätigkeit, der auch eine Anschlusspublikation zur Korruption im deutschen Buchhandel während des Zweiten Weltkriegs entsprang (Die blendenden Geschäfte des Matthias Lackas. Korruptionsermittlungen

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Die Beiträger und Beiträgerinnen

in der Verlagswelt des Dritten Reichs, Köln 2004, gemeinsam mit Hans-Eugen Bühler). Von 2006 bis 2009 arbeitete Simons als Dozent für englische Literaturgeschichte an der Universität Oldenburg; gegenwärtig ist er am Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien mit einem Buchprojekt zur Entwicklung des modernen Literaturbegriffs beschäftigt. Reto Sorg studierte Neuere deutsche Literatur, Geschichte und Kunstgeschichte in Bern und Berlin. Neben gelegentlichen journalistischen Arbeiten für die Neue Zürcher Zeitung, Weltwoche, Der Bund, Der Freitag und Der Monat tritt er auch als Herausgeber von literarischen Anthologien, als Organisator von literarischen Lesungen und als Veranstalter von Literaturfestivals in Erscheinung. Sorg unterrichtet Neuere deutsche Literatur an der Universität Lausanne und leitet das Robert Walser-Zentrum in Bern. Buchpublikationen: Aus den »Gärten der Zeichen«. Zu Carl Einsteins »Bebuquin«, München 1998; Nationalliteraturen heute – ein Fantom? (Mhg.), München 2004; Die satirische Muse – Hans Bloesch, Paul Klee und das Editionsprojekt »Der Musterbürger« (zusammen mit Osamu Okuda), Zürich 2004; Robert Walsers ›Ferne Nähe‹. Neue Beiträge zur Forschung (Mhg.), München 2007; Utopie und Apokalypse in der Moderne (Mhg.), München 2010; Robert Walser: Im Bureau. Aus dem Leben der Angestellten (Mhg.), Berlin 2011; Robert Walser: Mikrogramme (Mhg.), Berlin 2011; Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst-)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview (Mhg.), München 2013; zahlreiche Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur- und Kulturgeschichte der Moderne. Werner Stauffacher studierte Rechtswissenschaft in Zürich und Bordeaux. Nach seinem Lizenziat arbeitete er als Assistent am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich und promovierte 1980 mit einer Arbeit zur Teilnahme am fahrlässigen Delikt. Nach einer Tätigkeit als Gerichtssekretär am Bezirksgericht Zürich arbeitete er von 1984 bis 1989 als Journalist und Leiter der Rechtsberatungsstelle beim Brückenbauer, bevor er 1989 juristischer Mitarbeiter einer Zürcher Anwaltskanzlei wurde. 1992 trat er in den Rechtsdienst der ProLitteris ein, seit 1994 ist er Vizedirektor und Leiter der Rechtsabteilung. Zahlreiche Publikationen in Fachzeitschriften zu Fragen des Urheberrechts, zuletzt Mitarbeiter am Lehrbuch Kulturrecht – Kulturmarkt (Zürich, St. Gallen 2012). Daneben praktiziert Stauffacher seine eigene Malerei; seit 1987 werden seine Werke in Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt, so 2007 und 2010 in der Galerie Schlesinger in Zürich und 2011 im staatlichen Skulpturenmuseum in St. Petersburg. Philipp Theisohn studierte Neuere deutsche Literatur, Mediävistik und Philosophie in Tübingen, Zürich und Jerusalem. Er promovierte 2004 (Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur – eine andere Poetik der Moderne, Stuttgart, Weimar 2005) in Tübingen und habilitierte sich 2011 in Zürich (Die kommende Dichtung. Geschichte des literarischen Orakels 1450–2050, München 2012). Bis 2008 war er als Akademischer Rat am Deutschen Seminar der Universität Tübingen tätig, seit 2008 ist er Oberassistent für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. Weitere Buchpublikationen (in Auswahl): Literarisches Eigentum. Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter,

Die Beiträger und Beiträgerinnen |

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Stuttgart 2012; Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte, Stuttgart 2009; Totalität des Mangels. Carl Spitteler und die Geburt des modernen Epos aus der Anschauung, Würzburg 2001; zahlreiche Aufsätze zur deutschen und europäischen Literaturgeschichte vom 13. bis zum 21. Jahrhundert. Karl Wagner studierte Anglistik und Germanistik an der Universität Wien und war dort seit 1976 als Assistent, Dozent und a.o. Professor tätig. Seit 2003 ist er Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Er promovierte 1978 mit einer Arbeit über Robert Walsers Der Gehülfe und habilitierte sich 1989 mit einer Arbeit über die Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Zahlreiche Publikationen und Editionen zu Franz Michael Felder, Adalbert Stifter, Peter Rosegger, Ferdinand von Saar, Robert Walser und zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; zuletzt u. a. (Mit-)Hg. von Moderne Erzähltheorie, Wien 2002; Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in Literatur und Kunst, München 2005; Peter Handke. Poesie der Ränder, Wien 2006; Robert Walsers ›Ferne Nähe‹, München 22008; Figuren der Übertragung. Adalbert Stifter und das Wissen seiner Zeit, Zürich 2009; Tradition als Provokation. Gottfried Keller und Robert Walser, Zürich 2012; Transatlantische Verwerfungen – Transatlantische Verdichtungen, Göttingen 2012. Als neueste Monographie erschien Weiter im Blues. Studien und Texte zu Peter Handke, Bonn 2010. Christine Weder studierte Germanistik, Philosophie und Religionswissenschaft in Zürich und Tübingen. Nach einem komparatistischen Nachdiplomstudium in Cambridge promovierte sie in Zürich (Erschriebene Dinge. Fetisch, Amulett, Talisman um 1800, Freiburg i. B. 2007) und war als Postdoc-Assistentin an der Universität Basel tätig, im HS 2008 Gastwissenschaftlerin am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Nach einer Lehrstuhlvertretung im Frühlingssemester 2011 an der Universität Genf ist sie seit Sommer 2011 SNF Ambizione-Stipendiatin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der ETH Zürich, 2012–2013 zugleich als Visiting Scholar an der University of Berkeley, USA. Weitere Buchpublikation: Luxus. Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne (Mhg.), Göttingen 2011; Aufsätze u. a. zu Lessing, Wieland, Novalis, E.T.A. Hoffmann, Brentano, Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Alexander Kluge; zu Literatur und Wissensgeschichte um 1968; zu Literatursemiotik und Konstellationsforschung. Irmgard M. Wirtz studierte Germanistik und Geschichte in Bern, promovierte dort mit einer Arbeit zu Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, Berlin 1998, und habilitierte sich 2007 mit einer Studie zu Affekt und Erzählung. Zur ethischen Fundierung des Barockromans nach 1650. Sie arbeitete als Lehrbeauftragte für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik Wien und für Judaistik an der Fakultät für christkatholische und evangelische Theologie Bern. Seit 2006 ist sie Leiterin des Schweizerischen Literaturarchivs, seit 2008 zudem Privatdozentin am Institut für Germanistik der Universität Bern. Zahlreiche Aufsätze zur Schweizer Literatur des 20./21. Jahrhunderts, Herausgeberin von Sammelbänden zur Textgenetik, Schreibprozess- und Archivforschung, Beratung und Leitung von Forschungsprojekten zu Fragen der Textgenetik und Editionswissenschaft (Friedrich Dürrenmatt, Rainer Maria Rilke, Hermann Burger).