Sprichwörter - Analyse einer einfachen Form: Ein Beitrag zur generativen Poetik 9783110838596, 9789027931191

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Sprichwörter - Analyse einer einfachen Form: Ein Beitrag zur generativen Poetik
 9783110838596, 9789027931191

Table of contents :
VORWORT
INHALT
1. Probleme der Methodologie in der Literaturwissenschaft
2. Zur Frage der Einfachen Form und des Sprichworts - Forschungslage und methodologische Voraussetzungen
3. Die Tiefenstruktur und einige allgemeine grammatische Bestimmungen der Sprichwörter
4. Exkurs über semantische, pragmatische und stilistische Fragen
5. Rhetorische Transformationen
6. Der poetische Kode
Bibliographie
Liste der im Text angegebenen Regeln
Namenregister
Sachregister

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Sprichwörter Analyse einer Einfachen Form

Approaches to Semiotics 62 Editorial

Committee

Roland Posner Alain Rey Thomas A. Sebeok

MOUTON PUBLISHERS THE HAGUE PARIS • NEW YORK

Sprichwörter Analyse einer Einfachen Form Ein Beitrag zur generativen Poetik

Zoltân Kanyó

MOUTON PUBLISHERS THE HAGUE PARIS NEW YORK

ISBN: 90-279-3119-4 Jacket design by Jurriaan Schrofer © 1981, Akademiai Kiado, Budapest Gemeinschaftsausgabe zwischen Mouton Publishers, Den Haag Akademiai Kiado, Budapest Printed in Hungary

Sándor Szabó gewidmet

VORWORT

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um einen Versuch, bestimmte grundlegende Zusammenhänge der Poetik mit Hilfe einer strengen Methodologie, die in der linguistischen und logisch-semiotischen Sprachuntersuchung herausgearbeitet wurde, systematisch zu erfassen und zu explizieren. Daß dabei nicht auf die Poetik schlechthin, sondern auf eine bestimmte Einfache Form, das Sprichwort, Bezug genommen wird, ergibt sich aus der Ansicht, daß poetische Systeme letzten Endes auf verschiedenen historisch-gesellschaftlich bestimmten Kommunikationsformen beruhen und daß sich für den Gegenstand einer systematischen Untersuchung von poetologischen Zusammenhängen gegenwärtig am ehesten eine Gattung eignet, die durch eine allgemein verbreitete und stark konventionalisierte Kommunikationsform bestimmt und deren sprachliche Form relativ einfach ist, so daß sie sowohl logisch als auch historisch eine primäre Stufe der möglichen sprachlich-literarischen Äußerungen darstellt. Das bedeutet soviel, daß die Sprichwörter hier als literarische Vorformen in Betracht gezogen und ausschließlich in bezug auf ihre sprachliche Formulierung untersucht werden, spezifische Fragen der Volkskunde bleiben dabei unberücksichtigt. Die Forderung nach systematischer Behandlung der sprachlichen Formulierung dieser Einfachen Form macht allerdings notwendig, neben rein poetischen auch auf andere, vor allem linguistische Probleme einzugehen, so könnten die Konsequenzen, die sich aus der Untersuchung ergeben, nicht nur für die Poetik, sondern auch für die Linguistik und Volkskunde von Interesse sein. Die Vorarbeiten zu dieser Arbeit waren das Ergebnis zweier Studienaufenthalte in der Deutschen Demokratischen Republik, an dieser Stelle soll für die freundliche Unterstützung dem Ministerium für Fach- und Hochschulwesen der DDR, der E. M. Arndt-Universität Greifswald sowie der Leitung der A. Jözsef-Universität Szeged mein aufrichtiger Dank ausgesprochen werden. Weiterhin muß ich der Alexander von Humboldt-Stiftung für die freundliche Unterstützung eines weiteren Studienaufenthaltes in Bielefeld danken, der mir die Gelegenheit bot, den Text neu zu bearbeiten. Für Anregungen und Korrekturen bin ich manchen Kollegen in Ungarn, in der DDR und in der Bundesrepublik verbunden, Dr. Manfred BIERWISCH, Dr. Käroly CSÜRI, Dr. Hans KOLBE, Prof. Dr. Rudolf RÜZICKA, Sändor SZABÖ und Dr. Vilmos VOIGT möchte ich für ihre kritischen Hinweise und Vorschläge besonders herzlich danken. Meine Mutter war mir bei der redaktionellen Arbeit und der Manuskriptherstellung behilflich, ihr gebührt ebenfalls mein innigster Dank.

7

INHALT

1. 1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.3. 1.3.1. 1.3.1.1. 1.3.1.2. 1.3.1.2.1. 1.3.1.2.2.

1.3.2. 1.3.2.1. 1.3.2.1.1. 1.3.2.1.2. 1.3.2.1.3. 1.3.2.2. 1.3.2.2.1. 1.3.2.2.2. 1.3.2.2.3. 1.4. 2. 2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 3.

Probleme der Methodologie in der Literaturwissenschaft Allgemeine theoretisch-methodologische Konzeptionen hinsichtlich der Sprache in der Logik, der Semiotik und in der Informationstheorie Historischer Überblick Das System der Semiotik Linguistische Methoden Historischer Überblick Die generative Transformationsgrammatik Anwendung exakter Methoden in der Literaturwissenschaft . . . Statistisch-informationstheoretische Methoden in der Literaturwissenschaft Anwendung statistischer Methoden auf heuristischer Basis . . . . Informationstheorie als theoretische Grundlage der Poetik . . . . Die informationstheoretische Ästhetik von B E N S E M O L E S ' Informationsästhetik Linguistische Methoden in der Literaturwissenschaft Strukturalistische Methoden in der Literaturwissenschaft Das Modell der Poetik bei JAKOBSON Glossematische Poetik Versuche zur Literatursemiotik Ansätze zu einer generativen Poetik Abweichung, Stil, Rhetorik Der poetische Kode Modelle der generativen Poetik Die neuen theoretisch-methodologischen Ansätze in der Literaturwissenschaft und der Marxismus

13 14 14 19 22 22 28 33 34 34 37 37 41

44 44 44 47 50 54 54 57 59 65

Zur Frage der Einfachen Form und des Sprichworts - Forschungslage und methodologische Voraussetzungen Das Sprichwort als Einfache Form. Zur Forschungslage Theoretisch-methodologische Überlegungen Anmerkungen zum Modell der literarischen Kommunikation Zur Frage der Beschreibung der Struktur von Sprichwörtern .. Zur Frage des zu untersuchenden Materials

92 98 104

Die Tiefenstruktur und einige allgemeine grammatische Bestimmungen der Sprichwörter

108

70 71 92

9

3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3 3.2. 3.2.1.

Die logische Grundstruktur der Sprichwörter Logische Sprichwortformeln Zweifelsfalle und spezifische Bestimmungen Ergebnisse der logischen Analyse Die grammatischen Strukturen der Sprichwörter Die Abbildung der Sprichwortformeln auf grammatische Strukturen Grammatische Beschränkungen bei der Ableitung von Sprichwörtern Eigennamen im Sprichwort Egozentrische Partikeln Zeitbestimmung im Sprichwort Ergebnisse der grammatischen Analyse

109 110 125 132 133

Exkurs über semantische, pragmatische und stilistische Fragen. Der Wandel von semantischen und pragmatischen Bestimmungen der Implikation in der Sprichwortstruktur Über Fragen des Stils

159

Rhetorische Transformationen Permutationsregeln Nachstellung des Adjektivs Permutation des Genitivkomplexes Permutation des Verbs bzw. des Auxiliarkomplexes Endstellung des Verbs im Hauptsatz Permutation verbaler Elemente von der Endstellung in eine andere Position 5.1.3.2.1. Verb-Umstellung im Nebensatz 5.1.3.2.2. Die Umstellung von Inj im Hauptsatz 5.1.3.2.3. Permutation von Präf im Hauptsatz 5.2. Regeln der Ellipse 5.2.1. Ellipse der von N gen abhängenden Konstituenten und des implikativ-konnektiven Elementes 5.2.1.1. Ellipse des generalisierenden Artikels 5.2.1.2. Ellipse des unbestimmten Artikels mit inklusivem Charakter... 5.2.1.3. Eliminierungen im Relativsatz 5.2.1.4. Eliminierungen im wenn-Satz 5.2.2. Eliminierung weiterer Konstituenten 5.2.2.1. Eliminierung verbaler Konstituenten 5.2.2.2. Ellipse des existentiellen Artikels 5.2.2.3. Eliminierung der Endung des adjektivischen Attributs 5.3. Adjunktionen und Substitutionsregeln 5.3.1. Die rhetorische Frage 5.3.2. Rhetorischer Imperativ und die Einführung der egozentrischen Partikeln 5.3.3. Nominalisierungen

175 177 177 178 179 179

3.2.2. 3.2.2.1. 3.2.2.2. 3.2.2.3. 3.2.3. 4. 4.1. 4.2. 5. 5.1. 5.1.1. 5.1.2. 5.1.3. 5.1.3.1. 5.1.3.2.

10

133 152 153 154 155 157

160 166

180 180 181 182 183 183 186 189 191 192 195 195 198 199 200 200 203 205

5.4. 5.5.

Rhetorische Transformationen in der morphophonologischen Struktur Abschließende Bemerkungen zu den rhetorischen Transformationen

6. 6.1. 6.2. 6.2.1. 6.2.2.

Der poetische Kode Einige theoretische Grundfragen der generativen Poetik Der poetische Kode der Äquivalenz und der Opposition Parallelismus Zusätzliche - syntaktische, morphologische, semantische, lexikalische - Bestimmungen zum Parallelismus 6.2.2.1. Dje Identität von Konstituenten in parallelen Sequenzen 6.2.2.2. Die Opposition von semantischen Merkmalen in parallelen Sequenzen 6.2.3. Wiederholung prosodischer und phonologischer Merkmale . . . . 6.2.3.1. Metrische Fragen 6.2.3.2. Wiederholung phonologischer Merkmale 6.2.3.2.1. Reim 6.2.3.2.2. Alliteration 6.3. Weitere poetische Kodes 6.3.1. Auf der Homonymie beruhende poetische Kodes 6.3.1.1. Ambiguität 6.3.1.2. Kontrastierung von Homonymien 6.3.2. Intertextuelle Kodes 6.3.2.1. Verfremdung durch Substitution 6.3.2.2. Ironische Erweiterung 6.4. Abschließende Bemerkungen zum poetischen Kode

212 213 215 215 219 223 233 234 242 248 248 261 261 266 268 269 269 272 273 274 275 276

Bibliographie

279

Liste der im Text angegebenen Regeln

299

Namenregister

301

Sachregister

305

11

1.

PROBLEME DER METHODOLOGIE IN DER LITERATURWISSENSCHAFT

Fragen der literaturwissenschaftlichen Methodologie stehen seit einiger Zeit im Mittelpunkt theoretischer Diskussionen. Das ist kein Zufall: Dem Literaturwissenschaftler stehen zwar manche bewährten praktischen Verfahren hinsichtlich der Registrierung bestimmter literarisch relevanter Fakten zur Verfügung, aber kein methodologischer Apparat, der ihm erlauben würde, von seinen Beobachtungen jeweils zu verbindlichen, intersubjektiv kontrollierbaren Aussagen über literarische Texte zu kommen. Bekanntlich wurde bzw. wird noch in der an der Hermeneutik orientierten bürgerlichen Literaturwissenschaft eine der naturwissenschaftlichen analoge literaturwissenschaftliche Verfahrensweise von vornherein für unmöglich erklärt und statt dessen einer auf der Intuition basierenden irrationalistisch-unerklärbaren „Kunst der Interpretation" das Wort geredet. Die marxistische Literaturwissenschaft hat diesen Standpunkt scharf kritisiert, wobei vor allen Dingen auf den dahinter stehenden philosophisch-ideologischen Gehalt - auf den Agnostizismus, Irrationalismus, subjektiven Idealismus - und dessen Zusammenhang mit bürgerlichen Klasseninteressen hingewiesen wurde. Sie hat aber diese agnostizistische Haltung nicht nur abgewiesen, sondern mit Hilfe des ihr zugrunde liegenden historischen und dialektischen Materialismus, dessen Stärke sich u. a. in der Erfassung objektiver Gesetzmäßigkeiten im gesellschaftlichen Bereich zeigt, positive Anhaltspunkte zur systematischen Aufarbeitung der historisch-gesellschaftlich bestimmten komplexen Erscheinung „Literatur" gegeben. Man muß aber trotz der mannigfaltigen theoretisch-methodologischen Ergebnisse in der marxistischen Literaturforschung feststellen, daßmanche grundlegenden Probleme offengeblieben sind.1 Ein wesentlicher Teil der offenen Fragen hängt damit zusammen, daß der Aspekt der sprachlichen Konstitution der literarischen Texte lange Zeit hindurch als sekundäre Formfrage in den Hintergrund gedrängt wurde bzw. verhältnismäßig unerforscht blieb. Eine Betrachtungsweise, die einseitig nur die historisch-gesellschaftliche Determiniertheit der literarischen Texte hervorhebt und die durch deren besondere sprachliche Konstitution bedingte Spezifik mehr oder weniger außer acht läßt, wird der realen Dialektik der Zusammenhänge nicht gerecht; es erweist sich auf jeden Fall als notwendig, mehr über diese Spezifik in Erfahrung zu bringen. Sprache und sprachliche Konstitution erscheinen somit als wichtige theoretischmethodologische Probleme für die Literaturwissenschaft. Selbstverständlich stellt 1

In dieser Hinsicht verdient die von Seiten der analytischen Wissenschaftstheorie ausgegangene, vor allem methodologisch orientierte Polemik gegen die Hermeneutik Beachtung; vgl. GÖTTNER (1973), IHWE ( 1 9 7 2 ) , S . J. SCHMIDT ( 1 9 7 5 ) , FREUNDLIEB ( 1 9 7 5 ) .

13

sich die Frage für die Literaturwissenschaft nicht in der von dem vorausgehenden Satz intendierten Allgemeinheit, sondern nur in bezug auf die in den literarischen Texten vorkommende Sprachverwendung bzw. sprachliche Struktur, aber die Beantwortung dieser spezifischen Frage setzt im Prinzip Kenntnisse hinsichtlich der allgemeinen Fragestellung voraus. Wenn man also mit der Literatur zusammenhängende sprachliche Probleme lösen will, muß man auf allgemeine theoretisch-methodologische Erkenntnisse über Sprache und Sprachverwendung Bezug nehmen. Sprachliche Probleme standen nach der „sprachlichen Wendung" der bürgerlichen Philosophie im Vordergrund der Tätigkeit mancher philosophischen Richtungen. Auf die ideologischen Gründe und Konsequenzen dieser Wendung wurde in der marxistischen Philosophie vielfach hingewiesen.2 Wenngleich aber sich die dort vertretenen philosophischen Verallgemeinerungen und Schlußfolgerungen mit grundlegenden Thesen des Marxismus-Leninismus nicht vereinbaren lassen, so gibt es doch - wie es u. a. von K L A U S eindeutig nachgewiesen wurde 3 - eine Reihe von konkreten theoretisch-methodologischen Lösungsvorschlägen und Thesen, die dem Marxismus-Leninismus nicht nur nicht widersprechen, sondern auf seine Grundlage gestellt und entsprechend bestimmt die Erfassung mancher realen Zusammenhänge ermöglichen. So sprach sich K L A U S mit anderen marxistischen Philosophen wie A L B R E C H T , R E S N I K O W , S C H A F F U. a. dafür aus, die in den verschiedenen sprachphilosophischen, semiotischen u. a. Richtungen erreichten Ergebnisse einer sorgfaltigen Untersuchung zu unterziehen und die dabei ermittelten positiven Vorschläge für die marxistische Forschung - die gesellschaftswissenschaftliche mit eingerechnet - nutzbar zu machen. Wir möchten hier im Sinne dieses Vorschlags vorgehen, indem wir zunächst auf einige allgemeine sprachphilosophische Konzeptionen eingehen, dann bestimmte linguistische Modelle in Betracht ziehen, weiterhin die Anwendungsmöglichkeit der einzelnen Konzepte auf die Literatur bzw. auf literarische Erscheinungen untersuchen, um nach dieser kritischen Durchsicht der verschiedenen theoretisch-methodologischen Vorstellungen einen eigenen Standpunkt beziehen und einen entsprechenden methodologischen Apparat zur Lösung der später zu bestimmenden literarischen Fragen formulieren zu können. 4

1.1.

Allgemeine theoretisch-methodologische Konzeptionen hinsichtlich der Sprache in der Logik, der Semiotik und in der Informationstheorie

1.1.1.

Historischer

Überblick

Die Sprache stellt sich heute in einer Reihe verschiedener Disziplinen als grundlegendes theoretisch-methodologisches Problem dar, so daß sie praktisch von verschiedenen Gesichtspunkten aus unterschiedlich untersucht wird. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Untersuchungen zu, die auf Allgemeinheit 2 V g l . NEUBERT ( 1 9 6 2 ) , ALBRECHT ( 1 9 6 7 b ) , KLAUS ( 1 9 6 3 ) , ( 1 9 6 4 a , b ) , ( 1 9 6 5 ) , ( 1 9 6 9 ) . 3 V g l . KLAUS ( 1 9 6 9 ) S . 2 5 ff. 4

14

V g l . ALBRECHT ( 1 9 6 7 a , b ) , RESNIKOW ( 1 9 6 4 ) , SCHAFF ( 1 9 6 0 ) .

abzielen, es ist nämlich anzunehmen, daß ihre Ergebnisse mutatis mutandis in speziellere Untersuchungen eingehen sollen; zu den letzteren wollen wir auch die Untersuchung der Verwendung der Sprache in literarischen Werken rechnen. Allgemeine Überlegungen hinsichtlich der Sprache und der Sprachverwendung waren sozusagen von Anfang an ein integrierender Bestandteil der Philosophie. Ohne hier auf die Entwicklung der Sprachphilosophie näher eingehen zu wollen, 5 möchten wir daran erinnern, daß in der Geschichte der europäischen Philosophie die zunächst von den Sophisten mit Nachdruck aufgeworfene Frage nach dem Wesen der Sprache und den Möglichkeiten der Sprachverwendung eine große Zahl von Philosophen stark beschäftigt hat - es sei hier nur auf Piatos Untersuchungen hinsichtlich der Bedeutung der Namen, auf die Logik von Aristoteles, die semiotisch orientierten Analysen der Stoa, die logisch-sprachlichen Studien der Scholastik, die Leibnizschen Gedanken von einem universellen System der Zeichen (characteristica universalis) und von einem auf beliebige gedankliche Operationen anwendbaren formalen Kalkulus (calculus rationator), auf den reichen sprachphilosophischen Ertrag der deutschen idealistischen Philosophie, auf den Marxschen Nachweis des Zusammenhanges zwischen Denken und Sprache bzw. zwischen Sprache und Gesellschaft hingewiesen. Die heutigen komplexen logisch-semiotischen u. a. Konzeptionen beruhen auf dieser langen sprachphilosophischen Tradition bzw. wurden z. T. durch diese ermöglicht. Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an nahmen allerdings die allgemeinen Untersuchungen der Sprache im Hinblick auf die Methodologie eine Wendung, die weitreichende theoretische Konsequenzen nach sich zog, Durch die Entwicklung der Mathematik, genauer durch die Herausbildung der Mengentheorie und durch die Anwendung ihrer Gesetze und Verfahren auf die Logik, stand den Forschern nunmehr ein verläßlicher Apparat zur Verfügung, der eine strenge Analyse bestimmter sprachlicher Zusammenhänge möglich machte. Er wurde zunächst auf die Sprache angewandt, um die in der natürlichen Sprache verfaßten Axiome dieser Disziplin weiter zu präzisieren. Der Apparat erwies sich als geeignet, grundlegende Bezüge der Sprachsysteme zu erfassen und entsprechend abzubilden, was natürlich nicht gleichbedeutend damit ist, daß er gleich alle im Laufe der sprachphilosophischen Untersuchungen gewonnenen Einsichten in eine strikt formalisierte Sprache zu überführen vermochte. Die der Sprachuntersuchung durch den strengen Apparat auferlegte Beschränkung, die nur historisch, durch die entsprechende Erweiterung des theoretisch-methodologischen Apparats aufgehoben werden konnte, und der dadurch verursachte Widerspruch zu bestimmten Ergebnissen der früheren sprachphilosophischen Forschung war neben der eingangs erwähnten ideologischen Problematik ein weiterer Umstand, der diese Richtung in den Augen mancher als suspekt erscheinen ließ. Diese Wendung zeigte sich aber im Laufe der späteren Entwicklung als ein positiver, notwendiger Schritt: Die Einführung strenger formaler Kriterien ermöglichte die systematische Erhellung der Zusammenhänge auf dem durch diese Kriterien festgesetzten Gebiet; die Konfrontierung der erreichten Abbildungen mit dem abgebildeten Forschungs5

Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf (1975).

ALBRECHT

(1967b),

KALISH

(1967),

STEGMÜLLER

(1965),

15

gegenständ bzw. seinen realen Funktionen machte zwar im Prinzip jeweils eine entsprechende Erweiterung des theoretisch-methodologischen Systems notwendig, aber dies konnte durch Hinzunahme weiterer Kriterien bzw. Gesichtspunkte erfolgen, indem die Bearbeitung bestimmter elementarer Bezüge die Grundlage für die Lösung komplexerer Fragen legte. Die ersten Arbeiten in dieser Richtung stammen von F R E G E , der gezeigt hat, wie bestimmte Kategorien der natürlichen Sprache logisch-mathematisch interpretiert werden können. Bei F R E G E und seinen Nachfolgern - bei R U S S E L L , W I T T G E N S T E I N , C A R N A P sowie bei anderen Vertretern des Wiener Kreises - standen zunächst die Erforschung und die entsprechende Erklärung der Zusammenfügung von elementaren sprachlichen Einheiten im Vordergrund, d. h. Fragen der Syntax. Die Sprache selbst, die mit Hilfe der mathematischen Logik beschrieben werden sollte, war keineswegs eine natürliche Sprache, sondern eine abstrakte, von allerlei Mehrdeutigkeiten gereinigte „ideale" Sprache. Schon in dieser Phase wurden aber bestimmte Bezüge der natürlichen Sprachen mit Hilfe von logisch-mathematischen Mitteln sorgfaltig untersucht, 6 und die mit logischen Mitteln entwickelte logische Sprache stimmte mit den grundlegenden Bestimmungen der natürlichen Sprache überein, so daß die in der Untersuchung der formalisierten „idealen" Sprache erreichten theoretischmethodologischen Erkenntnisse einen paradigmatischen Wert für die Erklärung der natürlichen Sprachen hatten. Dies wurde u. a. in der „Logischen Syntax der Sprache" von C A R N A P klar zum Ausdruck gebracht: „Die Methode der Syntax . . . wird auch der logischen Analyse der Wortsprachen [dienen können], . . . die syntaktischen Begriffe und Regeln können dann - nicht im einzelnen, aber ihrem allgemeinen Charakter nach - auf die Analyse der ungeheuer komplizierten Wortsprachen übertragen werden . . . So wird sich die syntaktische Beschaffenheit einer bestimmten Wortsprache . . . am besten durch den Vergleich mit einer als Bezugssystem dienenden konstruierten Sprache darstellen und untersuchen lassen." 7 Neben rein syntaktischen Fragen wurden in diesen logischen Untersuchungen schon von Anfang an Probleme der Bedeutung und der Bezeichnung, d. h. Probleme der Semantik, berücksichtigt, aber eine systematische Behandlung dieser Fragen im Rahmen eines strengen formalen Systems wurde erst dann möglich, als es T A R S K I gelang, den Wahrheitsbegriff, dem in der Semantik eine grundlegende Bedeutung zukommt, entsprechend zu formalisieren, bzw. einen formalen Apparat zur Erfassung des Zusammenhanges zwischen bedeutungsvollem sprachlichen Ausdruck und bezeichnetem, abgebildeten Objekt auszuarbeiten. Wir möchten mit KLAUS darauf hinweisen, daß das von T A R S K I formalisierte Wahrheitskonzept letzten Endes auf einer materialistischen Auffassung der Wahrheit beruht, die von T A R S K I U. a. wie folgt formuliert wird: „Die Wahrheit einer Aussage besteht in ihrer Übereinstimmung (oder Korrespondenz) mit der Wirklichkeit". 9 Dies bedeutet 8

6

Vgl.

FREGE

(1962), (1966),

RUSSELL

(1905),

WITTGENSTEIN

(1921).

^ CARNAP ( 1 9 3 4 ) S. 8. 8

„Tarskis Werk ist grundlegend für die Mathematik, aber auch für jede moderne Wahrheitstheorie". KLAUS ( 1 9 6 9 ) S . 10.

(1944) S. 57. Die genaue Darlegung des semantischen Wahrheitsbegriffes findet sich in TARSKI (1935).

' TARSKI

16

allerdings nicht, daß semantische Fragen im Bereich der in Frage stehenden logischen Untersuchungen jeweils materialistisch interpretiert worden wären, wir wollten damit nur soviel andeuten, daß die Methode bzw. der methodologische Apparat eine solche Auffassung keinesfalls ausschließt, sondern sie ganz im Gegenteil als folgerichtig erscheinen läßt. Die Einbeziehung des kontextabhängigen Aspektes der Sprache in diese strenge Untersuchung erwies sich als eine überaus komplexe Aufgabe, die in vollem Maße bis heute nicht bewältigt werden konnte. In den theoretischen Überlegungen tauchte er schon bei P E I R C E auf, der die Logik bzw. ihre Methode auf die Behandlung und Beschreibung von Zeichen beliebiger Art anwenden wollte und somit zum Begründer der modernen Semiotik wurde. 10 Im Zusammenhang mit einer Klasse von Zeichen, zu der die meisten Zeichen der natürlichen Sprache gehören, spricht er von dem Interpretantenbezug als von einem grundlegenden Aspekt dieser Zeichen, aber sein Ansatz war weit davon entfernt, die Grundlage für ein formales System abgeben zu können. 11 Der PEmcEsche Gedanke, daß der Kontextbezug ein integrierender Bestandteil eines logisch fundierten abstrakten Sprach-, genauer: Zeichensystems ist, wurde von M O R R I S aufgegriffen, der versuchte, die Zeichentheorie auf die theoretischen Grundlagen des Behaviorismus zurückzuführen, 12 wodurch nicht nur die Bestimmung des Interpretantenbezuges, sondern der im Sinne der „unification of science" als wünschenswert erachtete Anschluß der logischen Theorie an die empirische Forschung gewährleistet werden sollte. Allerdings erwies sich seine Grundthese - „a science of signs can be most profitably developed on a biological basis and specifically within the framework of the science of behavior" 1 3 - als irrig: Der Behaviorismus war keine solide theoretische Grundlage, sondern vielmehr ein Hemmschuh für die Semiotik. 14 Andere Überlegungen wurden hinsichtlich der Erfassung des fraglichen pragmatischen Aspektes in den späteren Werken von RUSSELL 15 und WITTGENSTEIN 16 sowie in der Richtung der Ordinary Language Philosophy angestellt. Das wichtigste theoretische Ergebnis, das durch diese Untersuchungen erreicht wurde, ist die Sprechakttheorie, 17 die in die Linguistik schon Eingang gefunden hat. Vom allgemeinen methodologischen Gesichtspunkt aus sollen aber besonders die in den letzten fünfzehn Jahren besonders stark entwickelten Teildisziplinen der Logik hervorgehoben werden, die - wie die modale, die deontische, die epistemische, die temporale, die Kontextlogik usw. 18 - über den Rahmen der klassischen formalen '0 Vgl. PEIRCE ( 1 9 3 2 ) . 11

Vgl. unsere Ausführungen hierüber in KANYÖ (1971b).

12 V g l . MORRIS ( 1 9 4 6 ) .

13 Ebd., S. 2. ' 4 Die behavioristische Grundlage der MoRRisschen Konzeption wird in KLAUS (1961) S. 35-69 sowie KLAUS (1964b) S. 22 ff. einer marxistischen Kritik unterworfen; auf bestimmte Widersprüche, die sich aus ihrer Anwendung auf sprachlich-literarisches Material ergeben, wird in KANYÖ (1971b) hingewiesen. 15 Vgl. RUSSELL (1940), (1948). Ein allgemeiner Überblick über seine sprachphilosophische Tätigkeit wird in RUSSELL (1959) gegeben. V g l . WITTGENSTEIN ( 1 9 5 3 ) . •7 Vgl. AUSTIN ( 1 9 5 8 ) , ( 1 9 6 2 ) , SEARLE ( 1 9 6 9 ) , ( 1 9 7 1 ) .

• 8 Einen Überblick über diese logischen Forschungsrichtungen gibt STEGMÜLLER (1975) S. 147 ff. 2 Sprichwörter

17

Logik hinausgehen und bestimmte, z. T. pragmatisch charakterisierbare Zusammenhänge mit Hilfe eines formalen Systems beschreiben bzw. explizieren. Darüber hinaus liegen in M O N T A G U E (1974) und STALNACKER (1970) wichtige Ansätze zu einer allgemeinen Pragmatik vor. In diesem letzten Zusammenhang möchten wir hinzufügen, daß neben den erwähnten Untersuchungen logisch-semiotischer Prägung auch die Informationstheorie manche wesentlichen Einsichten in den Prozeß der Zeichenvermittlung gewährte und einen nicht weniger strengen mathematischen Apparat zur Behandlung der Probleme der Information zur Verfügung stellte, der im wesentlichen auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Statistik beruht. Die zwei Methoden stehen keinesfalls in Widerspruch zueinander, sie erfassen aber verschiedene Aspekte der Zeichen bzw. der Zeichenvermittlung: Während sich die Informationstheorie mit Zeichen jeglicher Art, genauer, mit Signalen und Nachrichten beschäftigt, untersucht die Semiotik nur Zeichen, die eine Bedeutung haben, genauer, die eine Relation von Zeichengestalt und Bedeutung, bezeichnetem Objekt oder Sachverhalt und Zeichenverwendung darstellen. In der Informationstheorie wird also von diesen Unterscheidungen abstrahiert und es kommt vor allem auf die Untersuchung der quantitativen Verteilung der abstrakten Zeicheneinheiten in einer aus (verschiedenen) solchen Zeicheneinheiten bestehenden Botschaft an. Aus diesem unterschiedlichen Interesse folgt, daß die beiden Methoden für die Erfassung bestimmter sprachlicher Zusammenhänge unterschiedlich relevant sind - auf diese Frage kommen wir im Zusammenhang mit der Besprechung der Anwendungen von verschiedenen theoretisch-methodologischen Ansätzen auf literarische Texte weiter unten zurück. Die strenge Untersuchung der „idealen" Sprache führte nicht nur zu einer genaueren Kenntnis von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in der Sprache und der Sprachverwendung, sondern sie führte zur Aufstellung von Normen und allgemeinen Forderungen, die in der Fachsprache einer Wissenschaft, die sich im Prinzip an der „idealen" Sprache und nicht an der mehrdeutigen und vagen Umgangssprache orientieren sollte, erfüllt werden müssen. Wenngleich sich bestimmte allgemeine Postulate, die im Neopositivismus oder in der analytischen Wissenschaftstheorie u. a. gerade im Hinblick auf diese logisch-sprachlichen Untersuchungen aufgestellt wurden, in der Praxis als irrig oder unakzeptabel erwiesen haben, so kann man doch den großen theoretischen und praktischen Wert von bestimmten Lösungsvorschlägen wie z. B. den der Definitionslehre des formalen Aufbaus von Theorien usw. 19 nicht übersehen. Wir möchten in diesem Zusammenhang nochmals darauf hinweisen, daß die semiotische Forschung heutzutage nicht mehr in der Obhut von bürgerlichen philosophischen Schulen steht, in den letzten zwanzig Jahren hat sich die marxistische Philosophie in zunehmendem Maße mit semiotischen Fragen beschäftigt und sich bemüht, die von dieser Forschungsrichtung aufgeworfenen Fragen auf der Grundlage des dialektischen Materialismus zu beantworten. Wir möchten vor allem die Werke von K L A U S hervorheben, in denen sich eine umfassende marxistische Konzeption der Semiotik abzeichnet, indem auf alle Teilgebiete von der Syntax bis zur Pragmatik ausführlich i» Vgl. E S S L E R (1970), (1971), (1973). 18

eingegangen wird und die sich dabei ergebenden erkenntnistheoretisch-philosophischen Fragen aus der Sicht des Marxismus-Leninismus behandelt werden. 20 Eine ausführliche Darstellung all der theoretisch-methodologischen Fragen, die in diesem kurzen Überblick erwähnt wurden, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Wir wollen allerdings im Interesse eines besseren Verständnisses unserer späteren Ausführungen bestimmte Grundbegriffe der abstrakten Semiotik in ihrem Zusammenhang näher bestimmen, wobei wir uns vor allem auf die Arbeiten von K L A U S beziehen.

1.1.2.

Das System der Semiotik

Unter Semiotik wollen wir zunächst eine allgemeine logisch orientierte Theorie der Zeichen verstehen. Wegen der Mehrdeutigkeit des Begriffs „Zeichen" sowie wegen seiner verschiedenen Verwendungen in der Wissenschaft heißt es nun, diesen Begriff genau zu definieren. Wir gehen dabei von einer klassisch gewordenen Formulierung aus: „Wie schon der dänische Logiker Jörgen Jörgensen festgestellt hat," schreibt K L A U S , „wird das Zeichen durch eine dreistellige Relation festgelegt. Die syntaktisch richtige Zeichenrelation lautet: x ist ein Zeichen für y im Sprachsystem z." 21 In dieser Formel sind aber nicht alle Konstituenten explizit ausgedrückt, die für die semiotische Bestimmung des Zeichens wesentlich sind; wir wollen deshalb die einzelnen Glieder der obigen Relation einer weiteren Untersuchung unterziehen. Dieses x, das im Sprachsystem z ein Zeichen für y sein soll, erscheint zunächst als ein materielles Gebilde („Schallwellen, .. .Kreidekügelchen auf der Tafel, . . . Druckerschwärze auf dem Papier"22 usw.). Diese physikalischen Gebilde, die die konkrete Realisierung und Vermittlung von Zeichen ermöglichen, werden Zeichenträger genannt. In der Semiotik geht es aber nicht um diese materiellen Zeichenträger, sondern um die dahinterstehenden abstrakten Zeichengestalten, die als die Äquivalenzklasse all der Zeichenträger aufzufassen sind, die die gleiche Bedeutung haben bzw. das gleiche Objekt, den gleichen Sachverhalt usw. bezeichnen. Zeichen kommen nicht einzeln, sondern miteinander verkettet, und zwar in bezug auf ein bestimmtes Zeichensystem realisiert vor. Für die Beschreibung eines konkreten Zeichensystems ist von grundlegender Bedeutung die Klärung der Frage, welche Verbindungen in dem gegebenen System überhaupt erlaubt sind und welche nicht. „Bei ihrer Untersuchung wird vom gesellschaftlichen Bezug von Sprachen, von den Beziehungen zwischen Zeichen und Bezeichneten usw. abstrahiert."23 Die Erforschung dieses grundlegenden Aspektes des Zeichens bzw. Zeichensystems fällt einer Teildisziplin der Semiotik zu, der Syntaktik. Die Syntaktik hat demnach die Aufgabe, die Verkettungsregeln von Zeichen {die Syntax) in einem bestimmten Zeichensystem genau anzugeben, und zwar in einer möglichst einfachen, widerspruchsfreien Form. 20 Seine semiotisch orientierten Werke sind KLAUS (1963), (1964a, b), (1965), (1969), (1971). 21 KLAUS ( 1 9 6 3 ) S. 4 7 . 22 KLAUS ( 1 9 6 9 ) S. 58.

23 Ebd., S. 64.

2"

19

Die geschlossenste Form der Darlegung der Syntax eines bestimmten Zeichensystems ist die axiomatische, d. h. diejenige, die alle möglichen Zeichenverbindungen des gegebenen Systems auf eine endliche Menge von Axiomen zurückführt. Die Relation, die zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung besteht, legt einen weiteren wichtigen Aspekt des Zeichens bzw. des Zeichensystems, den semantischen Aspekt bzw. die Semantik des Zeichensystems, fest. „Ihre Untersuchung setzt die syntaktischen Beziehungen voraus, abstrahiert aber von der Rolle des Zeichenbenutzers, also von der Beziehung zum Menschen." 24 Die Bedeutungsrelation ist von der Bezeichnungsrelation zu unterscheiden: In der letztgenannten Relation geht es um die Eigenschaft des Zeichens, daß es auf ein reales Objekt, einen Sachverhalt usw. verweist, in der ersten Relation stehen jedoch nicht Zeichen und Objekt usw., sondern Zeichen und gedankliches Abbild eines Objekts usw. im Zusammenhang. Die Untersuchung der Beziehung zwischen einem Objekt und seinem Abbild gehört in den Bereich der Widerspiegelungstheorie, deren Erkenntnisse - so z. B., daß in der obigen Relation das reale Objekt und nicht das gedankliche Abbild bestimmend ist - von grundlegender Bedeutung für eine materialistische Auffassung der Semiotik sind. In der Semiotik wird diese grundlegende Beziehung dadurch kompliziert, daß sie auch in bezug auf die Zeichenproblematik gestellt wird, d. h. in die Beziehung auch das Zeichen als konstituierendes Element aufgenommen wird. Die Einbeziehung des Zeichens ändert selbstverständlich nichts an dem Charakter der Widerspiegelungsrelation; indem hier das Problem des Zeichens in den Vordergrund tritt, geht man aber bei der Untersuchung nicht vom Objekt, dessen bestimmende Rolle - zumindest in den marxistischen Arbeiten - anerkannt wird, sondern vom Zeichen aus. Während nun das Zeichen immer eine Bedeutung hat, verweist es nicht immer auf real existente Objekte bzw. Sachverhalte. Diese Tatsache läßt sich am Beispiel der folgenden sprachlichen Zeichen nachweisen: „Kentaur", „Engel", „Teufel" usw. 25 Besonders problematisch wird die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, wenn wir es nicht mit einzelnen Zeichen, sondern mit Zeichenverbindungen (z. B. Sätzen) zu tun haben: Hier muß auf Grund der Bezeichnungsfunktion nachgeprüft werden, ob die Zeichenkette in der Wirklichkeit eine Entsprechung hat oder nicht, d. h. ob sie wahr oder falsch ist. „Daraus ergibt sich, daß zumindest für Sprachen der ersten Stufe und Abbilder der Nullstufe die Relation R (Z, O) [die Relation zwischen Zeichen und bezeichnetem Objekt - Z. K.] ebensowenig eine direkte Relation ist wie die Beziehung zwischen Abbild und Signal. Die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Objekt ist vielmehr ein Relationsprodukt aus R (Z, A) [Relation zwischen Zeichen und Abbild, d. h. Bedeutung - Z. K.] und R (A, O) [Relation zwischen Abbild und Objekt - Z. K.]." 2 6 Das reale Objekt wird also in der Semiotik als das Bezeichnete untersucht und wird mit dem Terminus „Denotat" bezeichnet. „Die Zeichenfunktion s e t z t . . . nicht nur zwei Gegenstände voraus, von denen der eine Objekt, der andere Zeichen für dieses Objekt ist, sondern auch ein Erkenntnissubjekt, das diese Relation zwischen Objekt und Zeichen gedanklich

25

26

Ebd., S. 67. Vgl. K L A U S (1963) S. 6 ff., K L A U S (1969) S. 69.

20

QUINE

(1953) S. 7 ff.

herstellen und benutzen kann; erst dann liegen ,Zeichen' im eigentlichen Sinne vor." 27 Die Beziehung des Zeichenverwenders zum Zeichen bzw. die des Zeichens zum Zeichenverwender legt einen weiteren grundlegenden Aspekt - den pragmatischen Aspekt - der Zeichenrelation fest. „Der pragmatische Aspekt der Sprache ist ein umfassender Aspekt, der in sich selbst subtile Unterteilungen verschiedenster Art möglich und notwendig macht. Die Notwendigkeit solcher Unterteilungen ergibt sich aus der Tatsache, daß der Bereich der menschlichen Aktivitäten, in denen die Sprache eine Rolle spielt, selbst außerordentlich differenziert ist. Religion, Philosophie, Rechtsprechung, Politik, Ökonomie usw. haben es alle mehr oder weniger mit dem pragmatischen Aspekt der Sprache zu tun, doch nimmt er in jedem dieser Fälle eine etwas andere Gestalt an." 28 Der pragmatische Aspekt des Zeichens bezieht sich auf eine konkrete zeitlich-räumliche, gesellschaftliche, psychologische Bestimmung und wirft solche Probleme auf, wie die Parteilichkeit, die Nützlichkeit, die Adäquatheit der Zeichenvermittlung, die in ihr wirksamen Normen, Werte usw.29 Im Prozeß der Zeichen Vermittlung soll die Rolle des Zeichenverwenders einerseits als die des Senders, der den Text der Kommunikation formuliert und „sendet", und andererseits als die des Empfängers, der ihn „empfängt" und für sich verarbeitet, spezifiziert werden. Die Tätigkeit des Senders bei der Formulierung des Textes wird Kodierung genannt; die Verarbeitung des Textes durch den Empfänger heißt Dekodierung. „Als eine wichtige Erkenntnis der Semiotik muß die Theorie der semantischen Stufen angesehen werden. Sie geht davon aus, daß es Dinge, Eigenschaften, Beziehungen usw. gibt, die der objektiven Realität angehören und selbst keine sprachlichen Zeichen sind. Diese Objekte bilden die sogenannte Nullstufe. Die Zeichen, durch die die Objekte der Nullstufe bezeichnet werden, gehören einer Objektsprache oder der Sprache der ersten Stufe an. Eine Metasprache oder Sprache der zweiten Stufe enthält alle Zeichen, die zur Bezeichnung der objektsprachlichen Zeichen notwendig sind. Wird nun über eine solche Metasprache gesprochen, so geschieht das in einer Sprache der dritten Stufe, usw." 30 Im Sinne der obigen Ausführungen können wir nun die Semiotik nach K L A U S „als allgemeine Theorie der sprachlichen31 Zeichen und ihrer Beziehungen untereinander, zum Denken, zur objektiven Realität und zum Menschen . . . definieren. Eine systematische Analyse, Katalogisierung usw. der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Kategorien wird nicht nur ein wertvolles Hilfsmittel für die allgemeine Sprachwissenschaft und die Erkenntnistheorie erarbeiten, sondern auch zugleich ein allgemeines Kategoriengefiige für viele Formen der wissenschaftlichen 27

(1968) S. 29. (1971) S. 26. » Vgl. K L A U S (1964b) und (1971) sowie K A N Y Ö (1972a). SO K L A U S (1964a) S. 82. 31 Im Gegensatz zu K L A U S würden wir den Geltungskreis der Semiotik nicht auf die sprachlichen Zeichen einengen. Vgl. hierzu R E S N I K O W : „Wir definieren die Semiotik als die Wissenschaft von den sprachlichen und den nicht-sprachlichen Zeichensystemen und meinen, daß der Gegenstand der Semiotik zu eng gefaßt wird, wenn man sie nur als Theorie der sprachlichen Zeichen oder als allgemeine Sprachtheorie a u f f a ß t . . . " R E S N I K O W (1968) S. 13. Da in der vorliegenden Arbeit nur von sprachlichen Zeichen die Rede ist, erscheint hier die Erörterung der Frage, welche Zeichen außer den sprachlichen Zeichen in den Bereich der Semiotik gehören, als belanglos. RESNIKOW

28 K L A U S

21

Arbeit ergeben." 32 Wir sind der Meinung, daß die Kategorien und Methoden der Semiotik auch der literaturwissenschaftlichen Arbeit geeignete theoretische und methodologische Ansatzpunkte bieten, und zwar vor allem in den folgenden Beziehungen: - in der sprachlichen Analyse der literarischen Texte; - in der entsprechenden Formulierung der literaturtheoretisch-poetischen Fachsprache, die in bezug auf die Sprache, in der der jeweilige literarische Text formuliert ist, eine besondere Metasprache darstellt; - in der theoretisch-methodologischen Klarstellung und Präzisierung bestimmter poetologischer Probleme. Wie dies konkret durchgeführt werden könnte, soll weiter unten an Hand der Analyse des Sprichwörtermaterials gezeigt werden.

1.2.

Linguistische Methoden

1.2.1.

Historischer

Überblick33

Wenn man die in der Linguistik erarbeiteten Methoden und theoretischen Konzeptionen mit den im vorausgehenden Abschnitt behandelten logischsemiotischen Überlegungen vergleicht, so läßt sich ihre Konvergenz nicht verkennen : In den Vorlesungen über die allgemeine Sprachwissenschaft, 34 die als die Grundlage der modernen Linguistik gelten, forderte F. DE S A U S S U R E , die Sprache als Zeichensystem und die Sprachwissenschaft als eine Teildisziplin der von ihm als Semiologie bezeichneten allgemeinen Zeichentheorie aufzufassen. Diese Semiologie kann zwar nicht mit der vorhin behandelten logischen Semiotik in jeder Hinsicht gleichgesetzt werden - S A U S S U R E faßt ja seine Semiologie als einen Bestandteil der Sozialpsychologie bzw. der allgemeinen Psychologie und nicht der Logik 35 auf und beschränkt sich auf die Untersuchung nur zweier grundlegender Konstituenten des Zeichens, auf die von signifiant (Bezeichnendes oder Ausdruck) und signifié (Bezeichnetes oder Inhalt), usw. - dennoch stimmt sie mit ihr in manchen entscheidenden Punkten überein. Die Zunahme an Übereinstimmungen im theoretisch-methodologischen Gerüst vom SAussuRESchen Ansatz bis etwa zur Montague-Grammatik, die die Beschreibung der natürlichen Sprachen schlechthin auf Logikkalküle zurückführt, läßt sich nicht übersehen. Auf der anderen Seite kann man eine Reihe von spezifischen Problemen nachweisen, die nur für die Linguistik charakteristisch sind bzw. nur dort auftauchen. Sie hängen nicht mit dem oben erwähnten unterschiedlichen theoretischen Ansatz, sondern mit der Tatsache zusammen, daß trotz des gemeinsamen Anliegens von Semiotik und Semiologie, die verschiedenen sprachlichen Fakten auf Grund von abstrakten (1969) S. 80. Im Zusammenhang mit der Herausbildung der modernen, im wesentlichen semiotisch orientierten Konzeption der Sprachtheorie vgl. B I E R W I S C H (1966a), A P R E S J A N (1966), R ( J 2 I C K A (1968), A N T A L (1964), H E L B I G (1971), L Y O N S (1968), A R N O L D - S I N E M U S (Hrsg.) (1974). S A U S S U R E (1916) La sémiologie „formerait une partie de la psychologie sociale et par conséquant la psychologie générale... C'est au psychologue à déterminer la place exacte de la sémiologie." Ebd. S. 33.

32 K L A U S 33

3" 35

22

Gesetzmäßigkeiten des Zeichens zu erklären, zwischen den beiden Disziplinen im Hinblick auf ihren Abstraktionsgrad und ihre Abhängigkeit von einem vorgefundenen empirischen Material ein erheblicher Unterschied besteht. Dieses Thema haben wir schon im vorausgehenden Abschnitt berührt, indem wir als Forschungsgegenstand der logischen Semiotik die „ideale" Sprache angegeben haben; im Gegensatz dazu ist klar, daß wir es in der Linguistik mit der Untersuchung von gegebenen natürlichen Sprachen zu tun haben. Dieser Unterschied wird in der Gegenüberstellung von „reiner" bzw. „abstrakter" und „deskriptiver" Semiotik 36 ausgedrückt, wobei die erstere durch die logische Grundlagenforschung zur „idealen" Sprache repräsentiert wird und die Linguistik mit vielen anderen empirisch orientierten Forschungen über Zeichen in den Bereich der letzteren gehört. Dieser Unterschied bringt es mit sich, daß die methodologischtheoretische Fragestellung in der Linguistik und in anderen deskriptiven semiotischen Disziplinen (somit auch in der Literaturwissenschaft) keinesfalls pauschal auf die Anwendung der in der abstrakten Semiotik ermittelten Erkenntnisse reduziert werden darf, sondern durchaus eigene Aspekte besitzt: Es soll ja ein Apparat formuliert werden, der die systematische Erklärung von konkreten, empirischen sprachlichen Daten und nicht nur die der Zusammenhänge der Kalkülsprachen ermöglicht. Sicherlich sollen zwischen dem zur Bearbeitung einer natürlichen Sprache dienenden Apparat und der zur Explikation der abstrakten „idealen" Sprache entworfenen Methodologie - vorausgesetzt, daß diese „ideale" Sprache bestimmte allgemeine Charakterzüge der natürlichen Sprachen darstellt und unter einem bestimmten Aspekt als ihre Abstraktionsklasse anzusehen ist - verschiedene Isomorphie- und Homomorphierelationen bestehen, von einer Übereinstimmung zwischen den beiden kann aber angesichts der Unterschiede im Forschungsgegenstand ab ovo nicht die Rede sein. Es steht außer Zweifel, daß unter den deskriptiven semiotischen Systemen heute die Linguistik über die entwickeltste Methodologie verfügt. Für unsere methodologischen Überlegungen hinsichtlich der Erfassung der sprachlichen Spezifika von literarischen Texten scheint es deshalb angebracht zu sein, neben allgemeinen logisch-semiotischen Konzepten auch die theoretisch-methodologischen Ergebnisse der Linguistik in Betracht zu ziehen, dies um so mehr, da die linguistischen Regeln mehr oder weniger auch für die besondere Klasse der literarischen Texte gültig sind. Wenn auch die spezifisch literarischen Bezüge dieser Texte mit Hilfe von rein linguistischen Mitteln nicht erfaßt werden können, so sollten sie doch nicht losgelöst von ihrer linguistischen Basis, sondern gerade im Hinblick darauf untersucht werden. In unserem kurzen Überblick werden wir vom methodologischen Gesichtspunkt aus zwei Arten von Grammatiken unterscheiden: strukturalistische Grammatiken einerseits und Produktionsgrammatiken andererseits. Es handelt sich dabei selbstverständlich um eine starke Vereinfachung, aber wir können hier auf Einzelheiten nicht eingehen. 37

37

Die Unterscheidung zwischen reiner und deskriptiver Semiotik wurde zunächst von MORRIS vorgenommen - vgl. u. a. MORRIS (1946) S. 220 ff.: sie wurde u. a. von KLAUS entsprechend begründet, vgl. KLAUS (1969) S. 61 ff. und ist heute allgemein akzeptiert. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf die unter Anm. 33 angeführte Literatur. Im Zusammenhang mit der nachfolgenden Darstellung des Strukturalismus haben wir außerdem vor a l l e m a u f SAUSSURE ( 1 9 1 6 ) , HJELMSLEV ( 1 9 2 3 ) , ( 1 9 4 3 ) u n d T h è s e s ( 1 9 2 9 ) B e z u g g e n o m m e n .

23

Unter Strukturalismus wollen wir verschiedene linguistische Schulen - so die Genfer Schule von SAUSSURE, den Prager Strukturalismus, die Glossematik und den amerikanischen Deskriptivismus, sowie die in verschiedenen Ländern gegründeten ähnlichen Forschungsrichtungen - zusammenfassen. Trotz mancher hier nicht zu behandelnden Unterschiede wurde die theoretisch-methodologische Auffassung dieser Schulen im wesentlichen durch den Ansatz von SAUSSURE geprägt. Der grundlegende Gedanke von SAUSSURE ist, daß die Sprache ein System von Relationen ist, jedes sprachliche Element nur in bezug auf seine Relation zu anderen Elementen seinen eigenen Wert hat. Dieses System - als langue bezeichnet liegt den einzelnen konkreten Sprachäußerungen (parole) zugrunde, seine Erklärung soll die primäre Aufgabe der Sprachwissenschaft sein. Die grundlegende Einheit dieses Systems, das sprachliche Zeichen, stellt eine Relation zwischen signifiant und signifié dar, d. h. zwischen Ausdruck und Inhalt, somit ist die Zeichenfunktion an die grundlegende Unterscheidung von Ausdrucks- und Inhaltsebene gebunden. Die Bestimmung dieser Zeichenrelation wurde in den späteren Arbeiten von HJELMSLEV dahingehend präzisiert, daß sich sowohl der Ausdruck als auch der Inhalt im Hinblick darauf, wie Ausdrucks- bzw. Inhaltsabsicht (purport) in der gegebenen Sprache strukturiert werden, in Ausdrucks- bzw. Inhaltssubstanz und -form zerlegen lassen; die Zeichenrelation besteht demnach zwischen Inhaltsform und Ausdrucksform. 3 8 Die in der Zeichenfunktion manifestierte Relation zwischen Ausdruck und Inhalt wird im allgemeinen als willkürlich (arbitraire) charakterisiert. Der Wert (valeur), den eine bestimmte Zeichenfunktion innerhalb des Sprachsystems in einem gegebenen Sprachzustand einnimmt, beruht - wie oben angemerkt - auf seinem Verhältnis zu anderen Einheiten, indem die Glieder des Sprachsystems einander gegenseitig bedingen und der Wert des einen sich aus dem gleichzeitigen Vorhandensein eines anderen ergibt. In diesem Sinne ist eine Sprache ein System von Werten. Die in einer Sprache vorkommenden Zeichenfunktionen, deren Zahl im Prinzip unbegrenzt ist, können in bezug auf ihre Wertrelationen in eine Hierarchie von Zeichenrelationen zerlegt werden, die letzten Endes auf einer beschränkten Zahl von Entitäten (figurae) basiert, die keinen Zeichencharakter aufweisen, d. h. keine ein-eindeutige Entsprechung zwischen Ausdruck und Inhalt aufweisen. Diese hierarchische Einteilung der Zeichenrelationen bzw. die darauf gegründete Taxonomie gilt als ein Hauptziel der Untersuchung der Sprache. Dabei werden - auf Grund der Wertrelationen der Zeichen - zwei verschiedene Klassen von Hierarchisierungen in Betracht gezogen, die eine wird durch Relationen im virtuellen System selbst, die andere hingegen durch Relationen im linearen Prozeß bestimmt ; die in den beiden verschiedenen Sphären vorkommenden Relationen werden als paradigmatische und syntagmatische voneinander unterschieden. Eine weitere Unterscheidung wird dadurch gegeben, ob das Sprachsystem im Hinblick auf einen bestimmten Sprachzustand oder auf die Entwicklung von einem Sprachzustand zu einem anderen untersucht wird. Die erstere Betrachtungsweise, der im Sinne der skizzierten Auffassung gegenüber der anderen ein Vorrang zugesprochen wird, wird als die synchronische, die andere als die diachronische bezeichnet. Vom 38

Vgl. H J E L M S L E V ( 1 9 4 3 ) S. 58.

24

literaturtheoretisch-poetologischen Gesichtspunkt sind H J E L M S L E V S Ergänzungen zu dem hier umrissenen denotativen Zeichenmodell sehr wesentlich.39 H J E L M S L E V spricht auch von semiotischen Systemen, deren Ausdrucks- oder Inhaltsebene selbst eine Semiotik darstellt; im ersten Fall spricht er von konnotativen Semiotiken, im zweiten von Metasemiotiken. Zu den konnotativen Semiotiken rechnet er u. a. die stilistisch-literarischen Erscheinungen im Sprachgebrauch Literatur wird hier also als ein komplexes (konnotatives) semiotisches System eingeführt, dessen Ausdrucksebene ein „normales" denotatives semiotisches System ist. Auf die Interpretation dieses Konzeptes kommen wir im Zusammenhang mit der Anwendung strukturalistischer Konzeptionen auf die Literatur bzw. die Poetik weiter unten zurück. Die hier skizzierte strukturalistische Theorie war für die Sprachwissenschaft von außerordentlich großer Bedeutung: sie ermöglichte grundlegende sprachliche Zusammenhänge innersprachlich, d. h. ohne Zuhilfenahme außersprachlicher Faktoren, zu erklären und dabei exakte, mathematische bzw. mathematisierbare Methoden anzuwenden. 40 Dieser theoretische Rahmen erwies sich jedoch in mancher Hinsicht als unzureichend, was auch für die Methodologie entsprechende Folgen hatte. Vergleicht man die SAussuRESche Zeichenkonzeption mit dem unter 1.1.2. behandelten Modell der Semiotik, so wird klar, daß im Strukturalismus manche grundlegenden Aspekte des Zeichens - so der der Denotation und der Pragmatik - nicht oder theoretisch nur in unzureichendem Maße berücksichtigt wurden. Ein weiteres theoretisch-methodologisches Problem stellt der im Strukturalismus angenommene statische Charakter der Zeichensysteme dar. Man geht praktisch von der Hypothese aus, das Zeichensystem sei gegeben, und es hieße nun, die in ihm vorhandenen verschiedenen Relationen durch Segmentierung und durch Untersuchung der Distribution der bestimmten Einheiten induktiv zu bestimmen. Die Beschränkung der linguistischen Untersuchung auf die Aufstellung einer Taxonomie wird jedoch in dem Augenblick problematisch, wenn man einsieht, daß die Zahl der möglichen Relationen im Zeichensystem unendlich ist. Man kann aber nur Elemente eines geschlossenen Korpus taxonomisch voll erschließen, was zur Folge hat, daß man sich entweder auf die Untersuchung von sprachlichen Entitäten beschränkt, deren Zahl begrenzt ist (vgl. figurae), oder aber - wenn man über dieses Gebiet hinausgeht - sich mit einer sich auf einen empirisch angegebenen Korpus stützenden Lösung zufriedengibt, die im Prinzip jeweils durch die Berücksichtigung weiterer Fakten relativiert werden kann. Der zuletzt erwähnte Mangel der strukturalistischen Konzeption wurde in den Produktionsgrammatiken aufgehoben. Die grundlegende methodologische Frage besteht hier nämlich gerade darin, die Tatsache zu erklären, daß man von einem beschränkten Repertoire von Elementen im Prinzip unendlich viel sprachliche Äußerungen herstellen kann. Für die Modellierung dieses Prozesses wurden verschiedene Vorschläge gemacht, der erste von ihnen stammt von N. C H O M S K Y . 4 1

39 Vgl. ebd. S. 114 ff. "0 V g l . BRAINERD ( 1 9 7 1 ) , ARNOLD-SINEMUS ( H r s g . ) ( 1 9 7 4 ) . «I V g l . CHOMSKY ( 1 9 5 7 ) .

25

Im Mittelpunkt der Untersuchungen von C H O M S K Y liegt die Syntax. Die von ihm ausgearbeitete generative transformationelle Grammatik setzt sich das Ziel, einen streng formalen Mechanismus anzugeben, der im Prinzip alle grammatikalischen, d. h. von dem native Speaker als wohlgebildet empfundenen Sätze einer Sprache und nur solche Sätze - herstellen und sie mit Hilfe einer Strukturbeschreibung spezifizieren kann. C H O M S K Y stützt sich einerseits auf die von den Strukturalisten ermittelten Ergebnisse, andererseits auf verschiedene Methoden der Mathematik und der Automatentheorie. Der Ausbau des theoretisch-methodologischen Apparats erfolgte in verschiedenen Etappen, genauer gesagt, präsentierte C H O M S K Y im Laufe der vergangenen 20 Jahre verschiedene Vorschläge im Hinblick auf die Formulierung der generativen Transformationsgrammatik. Der grundlegende Gedanke blieb jedoch beibehalten: Die grammatikalischen Sätze einer natürlichen Sprache sollen einerseits mit Hilfe eines formalen Apparats, der aus einem Axiom (genauer: aus einem ausgezeichneten Terminus des formalen Systems) alle Konstituenten des Satzes auf Grund von allgemeinen Regeln in endlichen Schritten ableitet, andererseits durch Transformationsregeln, welche die durch die Ableitungsregeln festgesetzten Beziehungen zwischen den Konstituenten weiteren Umformulierungen unterziehen, formal, auf eine eindeutige Weise bestimmt werden. 42 Die so erhaltenen Strukturbeschreibungen sollen mit Hilfe der interpretativen phonologischen Komponente in eine phonetische Repräsentation überfuhrt und - in der späteren Phase der generativen Transformationsgrammatik - auch semantisch interpretiert werden. Auf diese Weise stellt die generative Transformationsgrammatik ein Modell dar, das im Prinzip die Explikation beliebiger Sätze ermöglicht. Der große methodologische Vorteil dieses Ansatzes gegenüber den traditionellen und strukturalistischen Versuchen ist offensichtlich, dies erklärt die Tatsache, daß diese Grammatik innerhalb kurzer Zeit eine weltweite Verbreitung fand. Vom Gesichtspunkt unserer Arbeit sind die von B I E R W I S C H , H Ä R T U N G , HEIDOLPH, ISENBERG, ISACENKO, M Ö T S C H , L A N G , R . STEINITZ u n d

WURZEL43

vorgenommenen generativ-grammatischen Untersuchungen der deutschen Sprache von besonderer Bedeutung, die dort vorgelegte Grammatik des Deutschen soll die grammatische Grundlage unserer Analyse bilden. Die Bedeutung von C H O M S K Y S theoretisch-methodologischen Neuerungen wird heute allgemein anerkannt, über manche seiner Thesen wird jedoch heftig diskutiert. Zu diesen gehört u. a. die sog. /«wa/eneM-Hypothese, d. h. die Annahme von angeborenen Ideen bzw. sprachlichen Fähigkeiten. Ausgehend von seinem Sprachmodell, dessen grundlegende Regeln und Verfahren seiner Meinung nach universelle Eigenschaften der Sprachkompetenz darstellen, stellt er die These auf, Spracherwerb erfolge nicht induktiv-empirisch, das menschliche Gehirn sei von der Geburt an im Hinblick auf bestimmte allgemeine sprachliche Strukturen vorprogrammiert, so daß Spracherlernung eigentlich der Auswahl einer von den 42

Die generative Transformationsgrammatik von CHOMSKY wird unter 1 . 2 . 2 . etwas ausfuhrlicher behandelt. « Vgl. Thesen (1962), BIERWISCH (1963), (1965b, c), (1966b), (1967a, b), (1969a, b), (1970), (1975), MÖTSCH (1964), (1965), (1975), HÄRTUNG (1964), R. STEINITZ (1968), (1969), WURZEL (1970), P. KIPARSKY (1966), ISACENKO (1965), ISENBERG (1968), (1970), (1974), LANG (1973) (1976), (1977).

26

möglichen Grammatiken gleichkomme, wobei diese die einfachste zu den in der Erfahrung dargebotenen sprachlichen Daten passende Gramatik sein sollte. 44 Wir möchten hier auf diese Frage nicht weiter eingehen, aber soviel festhalten, daß diese Hypothese eine mögliche, aber keinesfalls notwendige Konsequenz der C H O M S K Y schen Sprachtheorie ist, sie ist gegenwärtig empirisch nicht verifizierbar. Aber selbst wenn sie sich - wie es scheint - als irrig erweisen sollte, wäre dadurch die Theorie und Methodologie der generativen Transformationsgrammatik noch bei weitem nicht in Frage gestellt. Anders verhält es sich mit bestimmten Vorstellungen C H O M S K Y S und seiner Nachfolger über einige konkrete Fragen des Aufbaus der Grammatik: Die Kontroversen führten zu einer regelrechten Spaltung im Lager der generativen Linguistik. Die am meisten umstrittene Frage der von C H O M S K Y umrissenen Theorie der generativen Grammatik ist die der Semantik. C H O M S K Y nahm in der zweiten Phase seiner generativen Transformationsgrammatik eine interpretative semantische Komponente auf, die auf grundlegenden syntaktischen Strukturen operieren sollte; eine diesen Vorstellungen entsprechende semantische Theorie wurde von K A T Z und J. A. F O D O R erarbeitet. 45 Diese Theorie erwies sich jedoch in mancher Hinsicht als unzulänglich. 46 Die kritische Auseinandersetzung mit dieser interpretativen Semantik führte dann bei einigen Linguisten dazu, daß verschiedene Alternativen zum gesamten Chomsky-Modell ausgearbeitet wurden. 47 Man nahm an, daß es nicht die Syntax ist, die letzten Endes die Struktur der Äußerungen bestimmt, sondern die Semantik; die Sätze sollten demnach nicht mehr von syntaktischen Regeln, sondern von logisch-semantischen Beziehungen ausgehend generiert werden. Die Vertreter dieser Richtung, die als generative Semantik bezeichnet wird, postulieren eine natürliche Logik; die den sprachlichen Äußerungen zugrunde liegende Struktur sollte mit ihrer Hilfe formuliert werden. Die generative Semantik behält zwar in manchen Einzelfragen gegenüber C H O M S K Y recht, jedoch ist sie in einem entscheidenden Punkt zweifellos im Nachteil: es gelang ihr nicht, einen dem syntaktischen Apparat C H O M S K Y S vergleichbaren zuverlässigen Mechanismus auszuarbeiten, so daß ihre Lösungsversuche vielfach nur einen AdAoc-Charakter haben. Die Entwicklung im letzten Jahrzehnt hat aber auf jeden Fall gezeigt, daß der syntaktische Ansatz C H O M S K Y S unbedingt erweitert werden muß, eine adäquate Modellierung der sprachlichen Zusammenhänge erfordert nicht nur die Einbeziehung des semantischen Aspektes, sondern die der pragmatischen Faktoren (Sprechakte, soziolinguistischer Zusammenhänge) 48 sowie der Fragen der Textkonstitution. 49 Diese Erweiterungsversuche des Forschungsfeldes laufen ** Hinsichtlich der Innateness-Hypothese und ihrer Diskussion vgl.

CHOMSKY

(1965), (1967a),

PUTNAM

( 1 9 6 7 ) , G O O D M A N ( 1 9 6 7 ) , KUTSCHERA ( 1 9 7 1 ) S . 2 8 3 f f . , STEGMÜLLER ( 1 9 7 5 ) S . 1 f f . «S V g l . K A T Z - J . A . F O D O R

(1964)

* Eine Kritik gegen K A T Z F O D O R (1964) im Rahmen der Chomsky-Grammatik wurde u. a. in W E I N R E I C H (1966), BIERWISCH (1967a), (1969a, b) formuliert. 47 Vgl. die Aufsätze in den Sammelbänden B A C H - H A R M S (Hrsg.) (1968), A B R A H A M - B I N N I C K (Hrsg.) (1972) sowie L A K O F F (1970a), (1971), M C C A W L E Y (1970), K E E N A N (1972). « W U N D E R L I C H (1970a), (1968), K L E I N - W U N D E R L I C H (Hrsg.) (1971), W U N D E R L I C H (Hrsg.) (1972). « Vgl. ISENBERG (1968), (1970), (1974), L A N G (1973), (1976), (1977), G Ö R N Y (1961), B R I N K E R (1971), H A R T M A N N (1970), P E T Ö F I (1969), (1971), (1973), (1976a, d), P E T Ö F I - R I E S E R (Hrsg.) (1973), (1974), VAN D I J K (1972a, d), K U M M E R (1971), (1972), K A L L M E Y E R et al. (1974), E. A G R I C O L A (1970), D R E S S L E R (1972), S . J . S C H M I D T (1973), G Ü L I C H - R A I B L E (Hrsg.) (1972), K A N Y Ö (1975b, d), (1977).

27

aber zur Zeit so sehr auseinander, daß von einer integrierten Theorie bzw. Methodologie vorläufig nicht die Rede sein kann. Vom methodologischen Gesichtspunkt aus müssen wir aber auf die Tatsache hinweisen, daß in den neueren Versuchen die im vorausgehenden Abschnitt kurz behandelten logisch-mathematischen Verfahren eine immer größere Rolle spielen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den logischen Grammatiken von MONTAGUE ( 1 9 7 4 ) , LEWIS ( 1 9 7 0 ) , CRESSWELL ( 1 9 7 3 ) zu, die gegenüber der generativen Transformationsgrammatik und der generativen Semantik den Vorteil besitzen, daß sie - allerdings nur innerhalb des Satzrahmens - den semantischen und den pragmatischen Bezug systematisch zu erklären vermögen; auf der anderen Seite sind sie gegenwärtig nicht in der Lage, manche Aspekte des Sprachsystems entsprechend zu erfassen, die durch die generative Transformationsgrammatik gut bearbeitet werden können. Nach den neuesten Untersuchungen scheint eine Verbindung der logischen Grammatik mit dem generativ-transformationellen Modell nicht ausgeschlossen zu sein.50 Wir haben also zur Zeit verschiedene miteinander konkurrierende Produktionsgrammatiken in der gegenwärtigen Linguistik; es fallt schwer, eine Wahl zwischen ihnen zu treffen, da sie jeweils verschiedene Vorzüge und Nachteile haben. Bei der Entscheidung spielen in unserem Fall neben allgemeinen theoretischen Überlegungen auch praktische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle: Wir brauchen zu unseren empirischen Untersuchungen an einem spezifisch organisierten sprachlichen Material eine linguistische Methode als Basis oder Vergleichsbasis, mit deren Hilfe das primäre sprachliche Material mehr oder weniger aufgearbeitet wurde; sonst müßten wir ja die doppelte Aufgabe der linguistischen und der poetologischen Sprachanalyse auf uns nehmen. Wie wir weiter unten sehen werden, sprechen eine Reihe von Gründen dafür, neben allgemeinen logischen Überlegungen die Methoden der generativen Transformationsgrammatik in Anspruch zu nehmen. Um das Verständnis unserer Analyse zu erleichtern, wollen wir ihre wichtigsten Thesen kurz zusammenfassen.

1.2.2.

Die generative

Transformationsgrammatik

Wir nehmen hier auf das sog. Aspects-Modell51 Bezug, das die zweite Phase in der Entwicklung der generativen Transformationsgrammatik darstellt. Wie vorhin schon angedeutet wurde, soll die Grammatik die Fähigkeit eines native speakers modellieren, unbegrenzt viele Sätze zu verstehen bzw. zu produzieren. „Daher muß eine generative Grammatik ein System von Regeln sein, die iteriert werden können, um eine unbegrenzt große Zahl von Strukturen zu erzeugen. Dieses Regelsystem kann in die drei Hauptkomponenten einer generativen Grammatik zerlegt werden: in die syntaktische, die phonologische und die semantische Komponente." 52 Die 50 Vgl. P A R T E E (1975). 51 Unsere Darstellung der generativen Transformationsgrammatik stützt sich vor allem auf (1965) sowie C H O M S K Y (1961), (1962), (1964a, b), (1967b). 52 CHOMSKY (1965) S. 24-25.

28

CHOMSKY

grundlegenden Informationen werden von der syntaktischen Komponente geliefert, allerdings durch die beiden anderen Komponenten interpretiert. Die syntaktische Komponente der Grammatik zerfallt in eine Basiskomponente und in eine Transformationskomponente. „Die Basis der syntaktischen Komponente ist ein Regelsystem, das eine hochgradig beschränkte (möglicherweise finite) Menge von Basisketten generiert, jede mit einer dazugehörigen Struktur-Beschreibung, die wir einen Basis-P-Marker nennen wollen." 53 Das in der Basiskomponente wirksame generative Regelsystem beruht auf einem Vokabular, das aus Formativen und Kategoriensymbolen besteht. Die Formative sind lexikalische (z. B. sincerity, boy) und grammatikalische Einheiten (z. B. Perfekt, Possessiv), die Kategoriensymbole sind hingegen abstrakte Einheiten der Basisstruktur. Der Prozeß der Generierung bzw. der Ableitung erfolgt auf der Grundlage von Ersetzungsregeln, die die folgende allgemeine Form haben: (1)

„A-»Z/X —Y,

wobei X und Y (möglicherweise leere) Ketten von Symbolen sind, A ein einfaches Kategoriensymbol und Z eine nicht-leere Kette von Symbolen ist. Diese Regel wird so interpretiert: Die Kategorie A wird als Kette Z realisiert, wenn sie in der Umgebung vorkommt, die zur Linken aus X und zur Rechten aus Y besteht. Die Anwendung der Ersetzungsregel (1) auf eine Kette . . . X A Y . . . überführt diese in die Kette . . . X Z Y . . . " 5 4 Diese Ableitung setzt mit einem ausgezeichneten Anfangssymbol S ein und wird so lange fortgesetzt, bis die auf der rechten Seite der Ersetzungsregel stehende Kette ausschließlich aus Formativen besteht. Diese Kette wird als terminale oder Endkette bezeichnet. Eine Grammatik heißt kontext-frei, wenn in jeder Regel der Form (1) X und Y leer sind, und kontext-sensitiv, wenn die Ersetzung von der Bestimmung von X oder Y abhängt. Die Ersetzungsregeln sind in linearer Folge geordnet, die Ableitung einer Kette ist nur in dem Falle gestattet, wenn diese Ordnung strikt eingehalten wird. Um den Satz (2)

Sincerity may frighten the boy

ableiten zu können, ist z. B. diese Folge von Ersetzungsregeln notwendig: (3)

(I)

S - N P + A u x + VP V P - V + NP NP (Det) N Det -» the Aux —> M (II) M -» may N -» sincerity, boy V -* frighten wobei NP = Nominal-Phrase, Aux = Auxiliar-Komplex, VP = Verbal-Phrase, V = Verb, Det = Determinator, N = Nomen, M = Modalverb, + = Zeichen der Verkettung, ( ) = Z e i c h e n der Fakultativität bedeutet.

53 Ebd., S. 26. 5" Ebd., S. 70-71.

29

Die durch dieses Regelsystem bestimmte Ableitung kann wie folgt veranschaulicht werden: (4)

S NP + Aux + VP NP+Aux + V + N P N +Aux+V+Det + N N + M + V +Det + N N + M + V + the + N N + m a y + V +the + N sincerity + may + V + the + N sincerity -I- may + V + the + boy sincerity + may + frighten -I- the -I- boy

Die gleiche Ableitung kann mit Hilfe des folgenden repräsentiert werden:

sinccrity

may

frighten

Baum-Diagramms

Det

N

thc

boy

Dieses Baum-Diagramm, das die strukturellen Zusammenhänge zwischen den Konstituenten besonders anschaulich darstellt, ist die oben als (Basis)-P-Marker bezeichnete Strukturbeschreibung. Die Ersetzungsregeln werden in bezug auf dieses Diagramm auch als Verzweigungsregeln bezeichnet. Die P-Marker legen die sog. Tiefenstruktur fest, d. h. eine Struktur, die den empirisch feststellbaren Oberflächenstrukturen im Hinblick auf die Ableitung zugrunde liegt. Das Regelsystem (3) läßt zwar die Ableitung des erwünschten Satzes (2) zu, aber auch die von Sätzen wie z. B. (6)

boy may frighten the sincerity,

die nicht als grammatikalisch gelten; es müssen also weitere Bedingungen angegeben werden, die die Ableitung von solchen Sätzen nicht erlauben. Abweichungen dieser Art hängen mit distinktiven Merkmalen zusammen, die Nomina wie „boy" und „sincerity" voneinander unterscheiden. Statt der Regeln (II) in (3), die Kategorien in Formative überführen, werden sog. Subkategorisierungsregeln eingeführt, die „die Symbole für lexikalische Kategorien (N, V, usw.) . . . in komplexe Symbole (analysieren), wobei jedes komplexe Symbol eine Menge von spezifizierten syntaktischen Merkmalen ist" 55 wie + Appellativum, ± 55 E b d . , S. 85.

30

Individuatum, ± Belebt, ± Menschlich, ± Abstraktum usw. Die Subkategorisierung kann kontextfrei und kontext-sensitiv erfolgen. Innerhalb der kontextsensitiven Subkategorisierungsregeln werden „zwei wichtige Untertypen unterschieden, nämlich strikte Subkategorisierungsregeln . . . , die eine lexikalische Kategorie durch die sie umgebenden Kategoriensymbole subkategorisieren, und Selektionsregeln, die eine lexikalische Kategorie in bezug auf syntaktische Merkmale subkategorisieren, die an markierten Positionen des Satzes erscheinen". 5 6 Diese Subkategorisierungsregeln sind nicht von dem gleichen Typ wie die Ersetzungsregeln, sie sind vielmehr als Transformationsregeln aufzufassen, indem sie nicht eine Kategorie, sondern eine (Teil-)Kette mit einer bestimmten Strukturbeschreibung in eine andere überführen. Sie sind also von den kontextfreien Regeln vom Typ (3), die die kategoriale Komponente der Basis bilden, zu unterscheiden, sie gehören zu der anderen Komponente der Basis - zum Lexikon. Genauer gesagt, sollen diese Subkategorisierungen in den einzelnen Lexikoneintragungen erscheinen und ihre inhärenten bzw. Kontextmerkmale spezifizieren. Die Einsetzung einer Lexikoneinheit in die präterminale Kette der Ableitung kann demnach dann erfolgen, wenn die auf Grund der Subkategorisierung festgelegten Merkmale der Eintragungen von den Bestimmungen der präterminalen Kette nicht distinkt sind. Diese neuen Bestimmungen bedeuten im Hinblick auf die Ableitung unseres Beispielsatzes folgendes : Wir müssen ein Lexikon mit den folgenden Eintragungen haben: (sincerity, [ + N, + A p p , — Ind, + A b s t r , . . . ]) (boy, [ + N, + A p p , + I n d , -(-Belebt, + Mensch, . . . ] ) (frighten, [ + V , + — N P , + [ + A b s t r ] . . . — . . ,[+Belebt], . . . ] ) (may, [ + M, . . . ] ) Diese Formalisierungen sollen ausdrücken, daß z. B. sincerity zur Kategorie der Nomina gehört und die syntaktischen Merkmale +Appellativum, -Individuum, +Abstraktum aufweist; daß frighten ein Verb ist, das im Kontext einer nachfolgenden Nominalphrase steht (d. h. transitiv ist) und sein Kontext näher so charakterisiert werden kann, daß ihm eine Konstituente mit dem M e r k m a l + Abstraktum vorausgehen und eine mit dem Merkmal + Belebt folgen muß. Die Merkmale-I-App, —Ind, + Abstr, usw. bei den Nomina sind inhärente Merkmale, die auf kontextfreier Subkategorisierung beruhen, die Bestimmung -I— N P bei frighten geht auf eine strikte Subkategorisierungsregel zurück, während das Selektionsmerkmal von Jrighten [+Abstr] . . . — . . . [ +Belebt] durch eine Selektionsregel bedingt ist. Die in (5) bzw. (4) angegebene Einsetzung dieser Lexikoneintragungen in die präterminale Kette der Ableitung ist dadurch gewährleistet, daß kein Widerspruch zwischen den in den Eintragungen festgesetzten Bestimmungen und der präterminalen Kette besteht: Die Einheiten werden durch die lexikalische Kategorie dominiert, die in der Eintragung vorgeschrieben ist, und auch die Kontext- und Selektionsbedingungen stimmen überein. Das wäre in (6) nicht der Fall, dort sind die Selektionsmerkmale von frighten verletzt, indem u. a. boy nicht-I-Abstrakt ist und sincerity die Bedingung 56 Ebd., S. 112.

31

+ Belebt nicht erfüllt. Die mit der Subkategorisierung zusammenhängenden neuen Bestimmungen ermöglichen u. a., daß man verschiedene Grammatikalitätsgrade unterscheidet. Die bei der Subkategorisierung in Frage kommenden Regeln stehen nämlich in einer Dominanz-Ordnung, was bedeutet, daß „die durch Regeln der strikten Subkategorisierung eingeführten Merkmale die Merkmale dominieren, die durch Selektionsregeln eingeführt werden; und . . . alle lexikalischen Merkmale von den Symbolen für lexikalische Kategorien dominiert werden". 57 Demnach kann man „über der Skala der Abweichungen drei verschiedene Haupttypen einteilen. Typen nämlich, die sich ergeben aus (i) (ii) (iii)

Verletzung einer lexikalischen Kategorie Verstoß gegen ein Merkmal der strikten Subkategorisierung Verstoß gegen ein Selektionsmerkmal". 58

Als Beispiele für die drei Typen können die folgenden Sätze gelten: (7)

a) sincerity may virtue the boy b) sincerity may elapse the boy c) sincerity may admire the boy.

Zu den in (3) aufgezählten Ersetzungsregeln müssen wir eine Ergänzung machen: Diese Regeln sind rekursiv, indem das Anfangselement S an bestimmten Stellen auch der rechten Seite der Regel vorkommen kann. Auf dieses Vorkommen von S werden die Basisregeln selbstverständlich wiederum angewandt. So wird ein generalisierter P-Marker erzeugt, der alle Basis-P-Marker enthält, die die Basis bzw. die Tiefenstruktur eines Satzes konstituieren. Von diesem generalisierten PMarker erhalten wir die Oberflächenstruktur des Satzes, wenn wir auf die in ihm enthaltenen Basis-P-Marker eine Folge von Transformationen anwenden. Transformationen sind grammatische Regeln, die einen P-Marker in einen anderen PMarker überführen, wobei Konstituenten der Ausgangskette permutiert, eliminiert bzw. neue Konstituenten adjungiert werden können. Die Anwendbarkeit einer Transformation ist von dem Strukturindex der Ausgangskette abhängig. Transformationen werden auf den generalisierten P-Marker „von unten an aufwärts" angewandt, d. h. die Regelfolge wird auf eine Konfiguration nur dann angewandt, wenn sie bereits auf alle in diese Konfiguration eingebetteten Basis-P-Marker angewandt worden ist. „Eine Tiefenstruktur wird in die semantische Komponente eingegeben und erhält eine semantische Interpretation." 59 Die durch die Transformationsregeln abgeleitete Oberflächenstruktur bildet die Grundlage der phonetischen Interpretation. Auf die Darstellung dieser Abbildungen der syntaktischen Struktur wollen wir nicht näher eingehen, da wir in unseren Untersuchungen hauptsächlich die syntaktische Komponente der generativen Transformationsgrammatik behandeln werden. Der große theoretisch-methodologische Vorteil des hier skizzierten Modells besteht darin, daß mit seiner Hilfe grundlegende sprachlich-grammatische Ebd., S . 146, vgl. 58 Ebd., S. 146. 5« Ebd., S. 136. 57

32

CHOMSKY

(1964d).

Zusammenhänge systematisch beschrieben und expliziert werden können. Dieses Modell bietet auch wichtige Ansatzpunkte zur Behandlung von literarischpoetologischen Fragen, dies werden wir im folgenden Abschnitt bzw. in der Analyse des Sprichwörtermaterials ausführlicher nachzuweisen versuchen.

1.3.

Anwendung exakter Methoden in der Literaturwissenschaft

Am Anfang unserer Ausführungen sind wir von der These ausgegangen, daß die Erfassung sprachlich-poetologischer Bezüge von literarischen Texten ein aktuelles Problem der Literaturwissenschaft ist. Dies bedeutet aber nicht, daß dieses Problem erst jetzt aufgetaucht wäre, ganz im Gegenteil : Es existiert eine lange Tradition von Bemühungen um eine exakte und entsprechende poetologische Methodologie, die sehr wesentliche Ergebnisse aufweisen kann. In dieser Hinsicht müssen wir vor allem auf die Versuche des Russischen Formalismus, des Prager und des Polnischen Strukturalismus sowie auf die in den letzten zwanzig Jahren in beinahe allen Ländern immer intensiver gewordenen, u. a. an der Linguistik, der Semiotik, der Informationstheorie orientierten Forschungen hinweisen. Eine detaillierte historische Darstellung dieser Untersuchungen können wir hier nicht geben, 60 wir möchten uns in dem folgenden kurzen Überblick unserem methodologischen Interesse entsprechend auf eine allgemeine Charakterisierung einzelner theoretischmethodologischer Konzepte beschränken, die für eine Klasse von konkreten Untersuchungen repräsentativ sind. Diese Konzepte beruhen nachweislich auf Verfahren bzw. Theorien, die sich in anderen Disziplinen - in der Mathematik, der Informationstheorie, der Linguistik, der Semiotik usw. - bewährt haben, so daß sich die Möglichkeit ergibt, sie danach zu klassifizieren, mit welchen umfassenderen Konzeptionen sie in Verbindung stehen. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man grob von der Anwendung statistischer, informationstheoretischer, semiotisch-mathematischer und verschiedener linguistischer (strukturalistischer und generativ-grammatischer) Methoden auf literarisches Material sprechen. Eine systematische Behandlung all dieser Anwendungsmöglichkeiten wäre eine Arbeit für sich, wir werden uns hier im Hinblick auf unsere Analyse hauptsächlich mit linguistisch orientierten poetologischen Versuchen befassen und nur einen kurzen Überblick über einige statistische und informationstheoretische Ansätze geben. Da semiotische Überlegungen in den einzelnen Anwendungen von linguistischen oder informationstheoretischen Bestimmungen kaum zu trennen 60

In Zusammenhang mit der Entwicklung und der ausfuhrlicheren Darstellung der in Frage stehenden literaturwissenschaftlichen Richtungen verweisen wir auf I H W E (1972), M A R K I E W I C Z (1965), W E L L E K - W A R R E N (1942), K A Y S E R (1948), E R L I C H (1955), STRIEDTER (1969), N Y I R Ö (1967), (1970), T O D O R O V (1965), È O L K O V S K I J - S C E G L O V (1962), (1967), V A J D A (1970), K R E N Z L I N (1968), K Ö P E C Z I ( 1970), ( 1972),I. F O D O R ( 1970), SZILI ( 1970), C S E T R I ( 1970), SZIKLAY ( 1970), S C H M I D ( 1970), D O L E Z E L (1965), B A U M A N N (1969), SCHIWY (1971), P E Y T A R D (1968), A R R I V É (1968), M I L L E T - V A R I N D A I N V I L L E (1970), SCHOBER (1968), H O P P A L (1970), (1973), SALONI (1970), BOJTAR (1970), SZABOLCSI (1967), S Z E G E D Y - M A S Z A K (1970), K A N Y Ö (1970), (1972b), PETÖFI (1967a, b), (1968), E I M E R M A C H E R (1969), (1972), G R A N I T Z (1970), C H R A P C E N K O (1972). 3 Sprichwörter

33

sind, sollen sie im Anschluß an diese kurz besprochen werden. Dieses Vorgehen wird u. a. auch dadurch gerechtfertigt, d a ß es sich bei den meisten literatursemiotischen Versuchen nicht so sehr u m einen Rückgriff auf den unter 1.1. skizzierten strengen logisch-mathematischen Apparat, sondern u m die Übernahme einiger grundlegender zeichentheoretischer Unterscheidungen von P E I R C E , SAUSSURE oder M O R R I S handelt, die an sich kein selbständiges methodologisches Gefüge darstellen.

1.3.1.

Statistisch-informationstheoretische in der Literaturwissenschaft

Methoden

Statistische und informationstheoretische Methoden lassen sich in der Mehrzahl der neueren Anwendungen prinzipiell nicht trennen, da in informationstheoretischen Untersuchungen vielfach auf Ermittlungen statistischen Charakters Bezug genommen wird. Eine Unterscheidung in diesem Bereich kann vielmehr im Hinblick darauf getroffen werden, o b die statistische oder informationstheoretische Methode gleichsam heuristisch in konkreten Detailuntersuchungen angewandt wird oder aber die Grundlage für eine umfassende Theorie der literarischen oder gar ästhetischen Prozesse abgibt.

1.3.1.1.

Anwendung statistischer Methoden auf heuristischer Basis

Statistische Methoden werden schon seit langer Zeit in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen angewandt: B A I L E Y (1969) zufolge war DE M O R G A N der erste, der 1851 die Idee suggeriert hat, stilistische Merkmale statistisch zu erfassen, und die erste solche Untersuchung wurde von dem amerikanischen Geophysiker MENDENHALL 1887 durchgeführt. Eine große Bedeutung wurde den statistischen Methoden in den Versuchen der Russischen Formalisten u n d der Prager Strukturalisten beigemessen. 6 1 N a c h dem zweiten Weltkrieg kann man schon von einer beinahe selbständigen Forschungsrichtung in der Literaturwissenschaft einer Reihe von Ländern sprechen, die sich die Aufdeckung von statistischen Regelmäßigkeiten vor allem auf dem Gebiet der Verslehre, der Stilistik, der Phonetik der Dichtersprache als Ziel gesetzt hat. D a s methodologische Vorgehen dieser Untersuchungen kann allgemein so beschrieben werden: Der Text wird auf die in ihm enthaltene spezifische Verteilung bestimmter Elemente hin untersucht; die Spezifik des Textes wird in der charakteristischen Abweichung der so ermittelten Werte von Durchschnittswerten gesehen, die aus einer entsprechend großen Zahl von Texten empirisch ermittelt worden sind. Die Verteilung bzw. die Häufigkeit der Elemente läßt sich weiterhin unter dem Aspekt der Wahrscheinlichkeit der realisierten Verteilung untersuchen, indem m a n etwa die Frage stellt, welche bzw. wie viele Entscheidungsschritte zum Hervorbringen des Textes aus einem vorgegebenen Repertoire nötig waren, wie groß der Wert der im Text realisierten Information bzw. der Entropie ist. Dieses « Vgl. L E V Y ( 1 9 6 5 ) , D O L E Z E L (1965).

34

Vorgehen weicht von den Anwendungen der gleichen Verfahren auf andere - z. B. physikalische - Erscheinungen nicht im geringsten ab; die Bedingung der Anwendung kann allgemein so formuliert werden, daß die Elemente, deren Verteilung statistisch untersucht wird, im Text tatsächlich vorhanden und eindeutig definierbar sein sollen. Was die Definition dieser Einheiten sowie ihre Funktion in der Organisierung des Textes anbelangt, sagt die statistisch-informationstheoretische Untersuchung an sich nichts aus: Diese Einheiten werden praktisch als gegeben vorausgesetzt. Die meisten statistisch-informationstheoretischen Untersuchungen beziehen sich auf die Verteilung von relativ einfachen Elementen, die sich grammatisch oder im Sinne der Verslehre bestimmen lassen: auf die Verteilung von Phonemen, von Lexemen, die in einer bestimmten Hinsicht auch ausgezeichnet werden können, von syntaktischen Kategorien, von logisch-syntaktischen Kategorien, von rhythmischen Einheiten, von Reimen 62 usw. Da die Anwendung der statistisch-informationstheoretischen Methode von der Bestimmung der spezifisch literaturtheoretisch untersuchten Elemente unabhängig ist, ist die festgestellte statistische Beziehung für die Literaturtheorie meistens nicht unmittelbar relevant. Von allgemeinen Hinweisen mathematischen Charakters abgesehen, enthält die statistische Untersuchung an sich keine Auskunft darüber, wie die nachgewiesenen Zusammenhänge zu interpretieren sind. Es besteht kein Zweifel darüber, daß die im Werk objektiv vorhandenden statistischen Zusammenhänge, und zwar Zusammenhänge beliebiger Art, für das Werk im Prinzip charakteristisch sind. Sie sind jedoch in verschiedenem Maße charakteristisch, und die Entscheidung der Frage, in welchem Maße bzw. in welchem Sinne eine statistisch nachweisbare Beziehung literaturwissenschaftlich von Belang ist, kann nur auf Grund einer entsprechend formulierten Theorie erfolgen, zu deren Ausarbeitung die statistischinformationstheoretischen Untersuchungen der erwähnten Art unmittelbar nicht beitragen können. Diese Frage der Anwendung statistisch-informationstheoretischer Methoden in der Literaturwissenschaft läßt den Zweifel entstehen, ob manche auf diese Weise festgestellten Beziehungen überhaupt eine literaturtheoretische Relevanz haben können. Dieser Zweifel wird mit aller Entschiedenheit in den folgenden Worten von B I E R W I S C H zum Ausdruck gebracht: Die statistische Methode „unterwirft. . . jeden Text in gleicher Weise strikt formulierten Prozeduren und Kriterien, um so gewisse generelle Eigenschaften - Textcharakteristika wie etwa Entropie der Wörter pro Satz oder der Silben pro Wort usw. - zu ermitteln. Dadurch werden beliebige Texte unter gewissen Gesichtspunkten vergleichbar, die Gesichtspunkte können präzis formuliert werden, sie sind vom einzelnen Forscher völlig unabhängig und generellen theoretischen Betrachtungen zugänglich. Nur erfassen sie fast nichts von der spezifischen Struktur poetischer Texte". 63 Die in den statistischen Untersuchungen eingeführten Gesichtspunkte und Kategorien scheinen also zu allgemein, zu weit gefaßt zu sein, um die Spezifik « Vgl. F Ö N A G Y (1958), (1961), (1965), (1974), W O R O N C Z A K (1961), B A C H (1960), L E V Y (1965), L Ü D T K E (1965), K N A U E R (1965), G R A N I T Z (1969), G R O E B E N (1970), K O L M O G O R O V - K O N D R A T O V (1967), K O N D R A T O V (1962), M A R C U S (1971), W . L . F I S C H E R (1965), (1970), H E R D A N (1965), F U C K S - L A U T E R (1965), H . F I S C H E R (1965), U L R I C H (1965), D O L E Z E L (1960), (1965), (1966), (1971), F . S C H M I D T (1965), W A C H A L (1966), K R O E B E R (1967), Z S I L K A (1970). « BIERWISCH (1965a) S. 50.

3'

35

der poetischen Struktur erfassen zu können. Dieses Problem wurde auch von einem der besten Vertreter dieser Richtung, J. LEVY, erkannt. Er gibt zu, die mathematisch-statistisch ermittelten Daten „erfassen manche Relationen in den literarischen Texten und der Wirklichkeit überhaupt, aber nicht ihre Essenz ; sie erklären manche Voraussetzungen und Ursachen, aber nicht immer die Gründe, manche Folgen, aber nicht immer die Affekte". 6 4 Der Grund dafür scheint darin zu liegen, daß die in den literarischen Texten realisierte Ordnung statistisch nicht ausreichend charakterisiert werden kann, sie erfordert die Berücksichtigung weiterer Gesichtspunkte. Mit Recht weist P. GUIRAUD auf die Tatsache hin, daß ein grundlegender Mangel der Anwendung von statistisch-informationstheoretischen Methoden in der Literaturwissenschaft in ihrer Unfähigkeit besteht, die für die sprachlichliterarischen Texte charakteristische funktionale Relation zwischen Quantitativem und Qualitativem klar herauszuarbeiten.65 Aus dieser Nichtbeachtung der spezifischen Strukturierung von sprachlich-literarischen Texten folgt, wie S. ULLMANN feststellt,66 daß die statistischen Verfahren einerseits zu grob sind, um viele qualitative, kontextgebundene Eigenschaften der literarischen Texte erfassen zu können, und andererseits oft einen großen mathematischen Apparat nur deshalb in Bewegung setzen, um Zusammenhänge nachzuweisen, die ohnehin, sozusagen auf den ersten Blick, festzustellen sind. Auf Grund dieser Überlegungen wollen wir unsere Bedenken hinsichtlich einer theoretisch-methodologischen Erweiterung der Literaturwissenschaft ausschließlich auf dem Wege der Anwendung statistisch-informationstheoretischer Methoden anmelden. Das bedeutet aber nicht, daß wir solche Untersuchungen literarischer Texte für völlig irrelevant erklären: Es gibt in der Tat bestimmte Bereiche in der Aufarbeitung von literarischen Texten, in denen solche Methoden von Bedeutung sein können. Es handelt sich dabei nicht so sehr um die tatsächliche Beschreibung einer konkreten sprachlich-literarischen Struktur, sondern um die Klärung bestimmter Aspekte, die im Prozeß der literarischen Kommunikation eine bestimmte Rolle spielen. So stellt z. B. LEVY in seinen Untersuchungen67 über die Reimlexik bestimmte allgemeine, durch das jeweilige sprachliche System bedingte paradigmatische Beziehungen fest, die wichtige objektive Bedingungen für die Herstellung von gereimten Texten darstellen. Ähnliches läßt sich von seinen Untersuchungen über den Rhythmus und den Strophenbau sagen. In manchen Fällen kann man zunächst nur mit Hilfe von statistischen Methoden eine sehr allgemeine Regelmäßigkeit in den Texten nachweisen, die dann später unter Umständen mittels anderer Methoden genauer erfaßt werden kann. So lassen sich z. B. auf Grund von Häufigkeitswörterbüchern bzw. durch entsprechende

° Ebd., S. 52.

43

literaturpsychologischen bzw. soziologischen Ergebnisse behoben werden. 91 In diese Richtung weist die informationstheoretische Behandlung des Phänomens „Erwartung" oder der Rezeptionsanalyse. 92 Eine entsprechende Konkretisierung der allgemeinen Informationstheorie auf die am literarischen Kommunikationsprozeß teilnehmenden Faktoren kann demnach im Prinzip zur genauen Bestimmung der (pragmatischen) Beziehungen, in die der literarische Text eingebettet ist, wesentlich beitragen; die reine statistisch-informationstheoretische Methode ist aber zur Beschreibung der tatsächlichen Struktur literarischer Texte nicht geeignet: wegen ihrer Allgemeinheit kann sie nur eine Vorlage zu einer weiteren Untersuchung liefern, die nicht mehr die Wahrscheinlichkeitswerte und die statistischen Verteilungen der Elemente, sondern die im Text vorhandenen syntaktischen, semantischen, pragmatischen Beziehungen zu ermitteln versucht. 1.3.2.

Linguistische Methoden in der Literaturwissenschaft

Sprach- und Literaturwissenschaft stehen von jeher in einer engen Verbindung zueinander: Es genügt, wenn wir hier auf den in der klassischen Rhetorik bzw. Poetik formulierten Zusammenhang dieser Disziplinen mit der Grammatik oder auf die Berücksichtigung grammatischer Tatsachen in den literaturwissenschaftlichen Analysen des Positivismus, der „explication de texte" usw. hinweisen. Seit der Entstehung einer modernen Sprachwissenschaft können wir aber nicht bloß von der Berücksichtigung sprachlich-grammatischer Fakten, sondern auch von der Übernahme theoretischer Überlegungen und spezifisch linguistischer Überlegungen und Methoden sprechen. Dieser Prozeß setzt etwa mit dem Russischen Formalismus ein, er wird später in Polen und im Prager Kreis fortgesetzt und gewinnt nach dem zweiten Weltkrieg - dank dem Aufschwung der linguistischen Forschungen in Amerika und in den meisten Ländern Europas - eine immer größer werdende Bedeutung. Wir können in diesem Prozeß zwei große Phase unterscheiden, je nachdem, ob die verwendeten linguistischen Methoden im Sinne unserer Darstellung unter 1.2. als strukturalistisch oder als generativ-transformationell zu charakterisieren sind. Die wichtigsten Ergebnisse dieser theoretischen Überlegungen sollen im folgenden kurz zusammengefaßt werden. 1.3.2.1.

Strukturalistische Methoden in der Literaturwissenschaft

1.3.2.1.1.

DAS MODELL DER POETIK BEI JAKOBSON

Die grundlegenden linguistisch orientierten theoretisch-methodologischen Untersuchungen des Russischen Formalismus und des Prager Strukturalismus wurden von J A K O B S O N (1960) auf klassische Weise zusammengefaßt; 9 3 sein Modell hat die 91 92

93

Vgl. HANKISS (1970) und K. V A R G A (1970). Vgl. in diesem Zusammenhang Osgood ( 1 9 6 0 ) . Z A R E C K I J ( 1 9 6 5 ) , L O T M A N ( 1 9 7 0 ) S . 3 6 F T . , R . U L L M A N N (1970), W I E N O L D (1969), (1972a, b), S . J . S C H M I D T (1975), (1976a, b), K I N D T - S . J. S C H M I D T (1974), W I R R E R (1976). Als Vorstufen der poetischen Funktion JAKOBSONS sind vor allem das Verfremdungs- und das Desautomatisierungsprinzip der Russischen Formalisten und der Prager Strukturalisten an-

44

poetologische Forschung bis in unsere Tage weitgehend beeinflußt. Auch unsere Ausführungen im 6. Kapitel sind teilweise durch diesen wichtigen Ansatz bestimmt. Die Problematik der Poetik bzw. der Literatur wird hier in ein allgemeines kommunikationstheoretisches Modell eingebettet. Dieses Modell weist die folgenden Bestandteile auf: Addresser (Sender), Addressee (Empfanger), Message (Mitteilung), Context (Kontext), Code (Kode), Contact (Kontakt), d. h., um eine Botschaft zu vermitteln, müssen ein Empfänger und ein Sender vorhanden sein, die miteinander in einem bestimmten Kontakt stehen und über einen mehr oder weniger übereinstimmenden Kode verfügen, und die Mitteilung soll über einen bestimmten (außersprachlichen oder u. U. sprachlichen) Kontext referieren. Diese Zusammenhänge lassen sich durch das folgende Schema94 abbilden: (8)

C O N T E X T

A D D R E S S E R

M E S S A G E

A D D R E S S E E

C O N T A C T

CODE

Jeder dieser sechs grundlegenden Faktoren bestimmt eine Funktion der Sprache, die eigentlich einen Bezug der Botschaft auf diesen Faktor bedeutet. So entspricht der Einstellung zu dem Kontext die referentielle Funktion, dem Senderbezug die emotive, dem Empfängerbezug die konative, dem Kontaktbezug diephatische, dem Kodebezug die metasprachliche und schließlich der Einstellung zu der Mitteilung selbst die poetische. Dem obigen Schema der Konstituenten der Kommunikation kann demnach das folgende Abbild der kommunikativen Funktionen der Sprache95 zugeordnet werden: (9)

REFERENTIAL

EMOTIVE

POETIC

CONATIVE

PHATIC METALINGUAL

Es wird angenommen, daß ein Kommunikationsakt jeweils durch mehrere Funktionen der beschriebenen Art dominiert werden kann, daß diese Funktionen dann aber hierarchisch geordnet sind, die hierarchisch oben stehende Funktion soll den Charakter der Kommunikation bestimmen. Damit wurde die poetische Funktion zu einer Funktion der sprachlichen Äußerungen schlechthin erklärt, woraus folgt, daß einerseits die Beschreibung der poetischen Erscheinungen zusehen, vgl.

S T R I E D T E R (1969), SKLOVSKIJ (1925), (1974), M U K A R O V S K Y (1936), (1948). 9t J A K O B S O N (1960) S . 353. 95 Ebd., S . 357.

TYNJANOV

(1929),

TYNJANOV-JAKOBSON

(1928),

ÉJCHENBAUM

45

unmittelbar an die Beschreibung der sprachlich-grammatischen Beziehungen geknüpft ist und andererseits das Kunstwerk selbst nicht bloß durch eine - die poetische - Funktion, sondern durch mehrere andere Funktionen zugleich charakterisiert ist, wobei beim Kunstwerk allerdings die poetische Funktion im Gegensatz zu den anderen entschieden überwiegt. Eine nähere Bestimmung der poetischen Funktion erfolgt auf der Grundlage der unter 1.2.1. erwähnten Unterscheidung zwischen paradigmatischen und syntagmatischen Relationen in der Sprache. Die schon von SAUSSURE formulierte Annahme hinsichtlich der im Sprachprozeß wirksamen Operationen besagt, daß eine Selektion eines Elementes eines Paradigmas erfolgt und die selektierten Elemente auf Grund der syntagmatischen Relationen miteinander kombiniert werden. „The selection is produced on the base of equivalence, similarity and dissimilarity, synonymity and antonymity, while the combination, the build up of the sequence, is based on contiguity. The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination,"96 Es werden also solche Elemente in einer Sequenz kombiniert, zwischen denen Äquivalenzrelation besteht; die virtuelle Äquivalenzrelation der sprachlichen Paradigmen wird also in der linearen Folge realisiert. Die poetologische Konzeption von JAKOBSON, von der hier nur einige grundlegende Gedanken hervorgehoben wurden, enthält zweifellos Thesen, die Für die Erfassung poetischer Regularitäten ausschlaggebend sind. Dazu gehört die Forderung, daß die poetischen Zusammenhänge im Hinblick auf die Kommunikation festzustellen sind; auf die Bedeutung dieser These kommen wir unter 1.4. zurück. Es muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß die von JAKOBSON vorgeschlagene Einbettung der poetischen Funktion in die sprachliche Kommunikation in mancher Hinsicht problematisch ist. Die Annahme, daß die poetischen Regularitäten auf spezifische Formulierungen der sprachlichen Mitteilung zurückzuführen und letzten Endes durch besondere Anwendungen der auch in den nicht-poetischen Texten wirksamen grundlegenden sprachlichen Operationen begründet sind, scheint uns richtig zu sein, hingegen stellen die Einfügung der literarischen Kommunikation in das angegebene allgemeine Kommunikationsschema und die dadurch implizierte Subsumtion der poetischen Fragestellungen unter die Linguistik eine Reduktion dar, die keinesfalls gerechtfertigt werden kann. 9 7 Die angegebenen Funktionen selbst sind ziemlich vage bestimmt, und auch über die postulierte hierarchische Ordnung bzw. ihre genauere Ermittlung wird nichts näheres ausgesagt. Die These von der Äquivalenzrelation zwischen den in linearer Folge erscheinenden sprachlichen Elementen bzw. ihren Eigenschaften stellt einen grundlegenden Charakterzug der poetisch-literarischen Texte in * Ebd., S. 358. 91 „ . . . the linguist whose field is any kind of language may and must include poetry in his s t u d y . . . " JAKOBSON (1960) S. 377. Es sei erwähnt, daß JAKOBSON in seinem Vortrag in Budapest am 21. Oktober 1972 die Unterordnung der Literaturwissenschaft unter die Linguistik kategorisch zurückgewiesen und sich gegen die weitverbreitete Meinung energisch gewehrt hat, er habe jemals eine solche Auffassung vertreten. Wir müssen auf jeden Fall zugeben, daß JAKOBSON in dieser Hinsicht keinen extremen Standpunkt bezog, der etwa durch folgende Aussagen charakterisiert werden kann: „We have defined poetry as a subclass of language", SAPORTA (1960) S. 84, „ . . . linguistics is also the scientific study of poetry." Ebd. S. 86.

46

verallgemeinerter Form fest und muß in jeder poetologischen Arbeit berücksichtigt werden, sie ist aber vom methodischen Gesichtspunkt aus gesehen mit bestimmten Einseitigkeiten der strukturalistischen Methodologie behaftet. In ihrer von JAKOBSON festgesetzten Form ermöglicht sie nur ein taxonomisches Vorgehen. Die Mängel der strukturalistischen Methode treten in den Gedichtinterpretationen von JAKOBSON 98 klar zutage. Er beschränkt sich dabei entsprechend dem phonologischen Interesse des früheren Strukturalismus vorwiegend auf die Analyse der rhythmischmetrisch-phonetischen Feinstruktur der Gedichte und nimmt an, daß auf den anderen sprachlichen Ebenen, genauer auf der semantischen Ebene, eine isomorphe oder zumindest homomorphe Einteilung vorliegen müsse." Diese These von der Übereinstimmung der verschiedenen Ebenen (meist als Ausdrucks- und Inhaltsebene definiert) wird von vielen anderen Forschern, die dem Strukturalismus verpflichtet sind, vertreten, so von HJELMSLEV, von den Forschern des Russischen Formalismus, der Prager Schule, und neuerdings von FÖNAGY, LOTMAN USW.100 In der Kritik der Interpretation von Baudelaires „Les Chats" von JAKOBSON und LEVISTRAUSS weist POSNER 1 0 1 mit Recht darauf hin, daß die auf den verschiedenen Ebenen auffindbaren Äquivalenzklassen verschiedene, voneinander abweichende Einteilungen suggerieren; wenn JAKOBSON die einheitliche Struktur des ganzen Gedichts festlegen will, wählt er in der Tat intuitiv eine Einteilung von den möglichen aus. Dieser These von JAKOBSON liegt die Auffassung zugrunde, daß zwischen Laut- und Bedeutungsstruktur ein notwendiger, innerlich motivierter Zusammenhang bestehe. Wenngleich in natürlichen Sprachen das sprachliche Zeichen nicht als völlig arbiträr gesetzt werden kann, ist die Hypothese von der Symmetrie zwischen den beiden Ebenen im Lichte der modernen linguistischen Forschung einfach unhaltbar. 1 0 2

1.3.2.1.2.

GLOSSEMATISCHE

POETIK

Wie schon unter 1.2.1. erwähnt wurde, bietet die von HJELMSLEV ausgearbeitete Glossematik bestimmte Ansatzpunkte zur Bearbeitung poetisch-literarischer Probleme. Auf der Grundlage der Glossematik ist tatsächlich eine Forschungsrichtung in der Poetik entstanden, die vor allem von skandinavischen und französischen Forschern vertreten wird und eine besondere theoretische Note trägt. Die glossematische Poetik gründet sich im wesentlichen auf die unter 1.2.1. skizzierte Auffassung der konnotativen semiotischen Systeme, wonach der literarische Text ein spezifisches konnotatives semiotisches System darstellt, das auf dem denotativen semiotischen System der natürlichen Sprache beruht. Auf diese Weise 98 J A K O B S O N - L É V I - S T R A U S S ( 1 9 6 2 ) . JAKOBSON ( 1 9 6 5 ) , 99

(1967).

„Briefly, equivalence in sound, projected into the sequence as its constitutive principle, inevitably involves semantic e q u i v a l e n c e . . . " JAKOBSON (1960) S. 368, vgl. noch in dieser Beziehung JAKOBSON (1948) S. 125 fT.

100 H J E L M S L E V ( 1 9 2 8 ) S . 1 7 1 ff., F Ó N A G Y ( 1 9 6 1 ) S . 2 0 0 ff. u n d ( 1 9 6 5 ) S . 2 4 3 ff, L O T M A N ( 1 9 6 4 ) S . 9 1 ff. u n d

(1970) S. 135 ff, T O P O R O V (1963) usw. 101 Vgl. P O S N E R (1971) S. 256 ff. 102 Vgl. WOTJAK. (1971) S. 25 ff. und S. 79 ff.

47

wird der sekundäre (abgeleitete) semiotische Charakter der Literatur sowie ihre innere Bindung an die Sprache von vornherein klar dargestellt, so daß in den glossematischen poetologischen Versuchen von einer einseitigen Unterordnung poetologischer Zusammenhänge unter die Grammatik nie die Rede sein konnte. Die grundlegende These der glossematischen Poetik wird von Ad. STENDERPETERSEN in dem folgenden Schema 103 formuliert: Kunstsprache Ausdruck

Inhalt

(Sprache)

(Nicht-Sprache)

Ausdruck =

Inhalt

In diesem Schema wirft die Bestimmung des als nicht-sprachlich definierten Inhalts der Kunstsprache einige Probleme auf: er wird laut Ad. STENDER-PETERSEN „als Emotion zu betrachten sein. Unter Emotion aber müssen alle Arten von Gefühl und Empfindung verstanden werden: Lust und Unlust, Freude und Sorge, Heiterkeit und Niedergedrücktheit, Sympathie und Antipathie, etc. Es ist dabei eine Eigentümlichkeit des Wortkunstwerkes oder der Kunstsprache, daß es belanglos ist, ob sie primär im Dichter oder in seinem Bewußtsein vorhanden sind oder sekundär im Leser erzeugt oder erregt werden, relevant dagegen ist, daß sie im Wortkunstwerk semiologisch solidarisch mit ihrem Ausdruck, nämlich der Sprache, sind". 1 0 4 Die literarischen Texte mit Emotionen in Beziehung zu setzen, wobei sowohl die Literatur als auch die Emotion als Konnotation eines denotativen semiotischen Systems aufgefaßt werden, hat ohne Zweifel einiges für sich. Aber diese Beziehung läßt sich theoretisch nicht einwandfrei formulieren, wie auch die Definition von Emotion äußerst unpräzis, einseitig und mehrdeutig ist; methodologisch öffnet diese Konzeption Tür und Tor für allerlei spekulative und intuitive Überlegungen mit geringem praktischen Wert. Diese Auffassung von Ad. STENDER-PETERSEN über den Parallelismus von Literatur und Emotion wird übrigens nicht von allen Glossematikern geteilt, so spricht z. B. JANSEN in diesem Zusammenhang von einer literarischen Bedeutung, die mit Deutung bzw. Interpretation gleichgesetzt wird und ebenfalls ein sehr verschwommener und vager Begriff ist. 105 Die glossematische Theorie bringt demnach zunächst nur die Möglichkeit mit sich, die literarischen Texte als sekundäre semiotische Systeme im Sinne der Konnotation zu beschreiben, aber sie kann wichtige Kategorien, die dieses semiotische System theoretisch bestimmen sollten, vorläufig noch nicht eindeutig und adäquat formulieren. Die glossematischen Versuche werden weiterhin durch den taxonomischen Charakter der Methode beeinträchtigt: sie ermöglichen nicht so sehr die Herausstellung 103 S T E N D E R - P E T E R S E N ( 1 9 5 8 ) S . IM 105

48

467.

Ebd., S . 4 6 7 . „Die Substanz des Inhalts . . . würde vom Gesamt ihrer (literarischen) Bedeutungen gebildet. Dieses stellt eine von Deutungen anderer . . . Werke durch die gemeinsame Invariable (den T e x t . . . ) klar unterschiedene Gruppe dar." JANSEN (1968a) S. 395, vgl. noch in dieser Beziehung die Verwendung dieser glossematischen Theorie in der konkreten Analyse in JANSEN (1968b).

bestimmter, spezifisch poetischer Zusammenhänge im literarischen Text als vielmehr die Einteilung bzw. Interpretation der Zusammenhänge auf Grund der HjELMSLEvschen Sprachtheorie. 106 Im Gegensatz zu dieser „orthodoxen" Auffassung der Glossematik kann man bei einigen französischen Forschern die Ergänzung der HjELMSLEvschen Ideen durch andere, u.a. in der generativen Grammatik ausgearbeitete Konzeptionen und Methoden feststellen. Die Bemühung, die Prinzipien der Glossematik operativ zu machen, ist vielleicht bei 107 G R E I M A S am stärksten ausgeprägt. Bezeichnenderweise sieht er, was die Substanz des Inhalts anbelangt, keinen Unterschied zwischen Literatursprache und natürlicher Sprache. 108 Literatur wird bestimmt durch die metasprachliche Stellung bestimmter allgemeiner Eigenschaften der Sprache im literarischen Text, wobei diese die Formen des Inhalts ausmachen. 109 Der Poetik bzw. der Literaturtheorie stehe nach G R E I M A S ' Meinung ausschließlich die Untersuchung der Form des Ausdrucks bzw. der Form des Inhalts zu. Auf jeder Ebene werden poetische Einheiten bestimmt, die letzten Endes nichts anderes sind als die von J A K O B S O N nachgewiesenen Äquivalenzschemata : Auf der Ausdrucksebene ist von phonematischen und prosodischen, auf der Inhaltsebene von grammatikalischen und narrativen Schemata die Rede. Damit wird die poetische Formgebung als ein Prozeß definiert, in dessen Verlauf die sprachlichen Einheiten in bezug auf ihre bestimmten paradigmatischen Eigenschaften zusätzlich strukturiert werden, wobei hier diese Eigenschaften den metasprachlichen Charakter einer Vorschrift besitzen. Diese Auffassung ermöglicht die Beschreibung des poetischen Kodes im glossematischen Begriffsrahmen, die praktisch größtenteils durch die Aufnahme der Ergebnisse der nicht glossematisch orientierten linguistisch-poetologischen Forschung erfolgt. Hinzu kommen noch einige neue Erkenntnisse, die auf konkreten linguistischen bzw. poetologischen Untersuchungen beruhen. Auf Grund seiner semantischen Analysen schreibt G R E I M A S der textuellen Geschlossenheit (clôture) eine zentrale Bedeutung zu. 110 Dieser Begriff führt u. a. zu einer konkreten Bestimmung der Konnotation, indem die erwähnte Geschlossenheit bzw. Isotopie der Texte darauf zurückgeführt wird, daß die einzelnen Sememe nur unter der Bedingung zu größeren Sequenzen (Klassemen) zusammengezogen werden, daß die in jedem Semem vorhandenen kontextabhängigen Elemente (sèmes contextuels) miteinander kompatibel sind. Die Kommunikations-Isotopie soll auch den narrativen Schemata als Grundlage dienen, 111 und durch die Vermittlung des BARTHEsschen Begriffs „écriture" 1I2 soll auch die rhetorische Problematik berücksichtigt werden. G R E I M A S verwendet in seinen Ausführungen weiterhin eine Reihe von Termini der 106 Vgl. BUSSE (1971) S. 449 ff. i» Vgl. SOLLERS (1968a, b), JEAN-(1968). NO Vgl. CHOMSKY (1964b) S. 142 ff., PUTNAM (1961), KATZ (1964), ZIFF (1964).

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des oben Gesagten unmittelbar auf literarische Texte anzuwenden. 1 3 1 Dabei ging es vor allen Dingen darum, im Hinblick auf das grammatische Regelsystem nachzuweisen, durch welche Regelverletzung die in literarischen Texten vorkommenden abweichenden Formulierungen bestimmt werden können. In bezug auf die hierarchische Stellung der betreffenden Regeln konnten mehr oder weniger abweichende Strukturen festgestellt werden, die auf der Skala der graduierten Grammatikalität entsprechend eingestuft werden konnten. Auf Einzelheiten können wir hier nicht eingehen, wir möchten nur einige allgemeine Bemerkungen über diese Versuche machen. Wir möchten zunächst feststellen, d a ß die erwähnte Erweiterung des Forschungsfeldes der generativen Transformationsgrammatik sich keinesfalls allein auf abweichende literarische Strukturen bezog, es wurden vielmehr abweichende Strukturen schlechthin mit einbezogen. Erweist sich also die Grammatik im eigentlichen Sinne des Wortes als zu eng, um die in den literarischen Texten vorkommenden sprachlichen Strukturen zu erfassen, so ist hingegen eine Abweichungsgrammatik der semi-sentences einerseits zu weit, andererseits aber immer noch zu eng, u m die poetisch-stilistischen Regeln genau zu erfassen. Sie ist zu allgemein, weil sie nur die Abweichung von den grammatischen Regeln berücksichtigt, aber eine Differenzierung innerhalb dieser Kategorie - von der Graduierbarkeit abgesehen - nicht zuläßt: Ein und dieselbe abweichende Struktur kann in unterschiedlich qualifizierten Texten - in einem poetischen Text, in dem Text eines Ausländers oder in einem besonderen Idiolekt usw. - vorkommen, mit Hilfe der Abweichungsgrammatik wird sie aber in jedem Fall auf die gleiche Weise, und zwar nur als Abweichung festgelegt. Es wird also davon abstrahiert, d a ß die abweichende Struktur Teil eines spezifischen sprachlichen Systems ist, das nicht mehr allein grammatisch festgelegt werden kann. Diese Abstraktion kann im Hinblick auf eine allgemeine Untersuchung grammatischer Zusammenhänge durchaus sinnvoll sein, aber das gleiche Vorgehen ist vom Gesichtspunkt des zu untersuchenden Teilsystems aus nicht gerechtfertigt, es läuft doch letzten Endes auf eine unzulässige Reduktion der zu beachtenden Zusammenhänge hinaus. Die Abweichungsgrammatik ist gleichzeitig auch zu eng, da sie nicht berücksichtigt, daß in den poetisch-literarischen Texten eine eigenständige N o r m wirksam ist, die keinesfalls negativ, d. h. durch Verstöße gegen grammatische Regeln, entsprechend formuliert werden kann. Sie erfaßt darüber hinaus nur einen Bruchteil der in den literarischen Texten nachweisbaren sprachlichen Besonderheiten, über deren systematischen Zusammenhang sie folglich nichts zu berichten weiß. Wir halten infolgedessen den Versuch, die sprachlichen Zusammenhänge der literarischen Texte ausschließlich durch eine Abweichungsgrammatik zu bestimmen, f ü r unzulänglich, sind jedoch der Meinung, daß die Abweichung von den grammatischen Regeln ein durchaus reales Problem der Poetik darstellt und das methodologische Prinzip, das den einschlägigen grammatischen und poetologischen Untersuchungen zugrunde liegt, kurz so zusammengefaßt werden k a n n : Abweichende 131

Eine umfassendere und teilweise kritische Einschätzung der poetisch-stilistischen Verwendung der A b w e i c h u n g s g r a m m a t i k findet sich u. a . in STEUBE (1966), IHWE (1972), ENKVIST (1971), (1973), SANDERS (1973), SPILLNER (1974), TRABANT (1974).

55

Strukturen sollen auf Grund nachweisbarer Zusammenhänge auf regelrechte Strukturen abgebildet und mit Hilfe der letzteren erklärt werden, ein begründetes methodologisches Vorgehen ist. Wir wollen deshalb im Laufe unserer Untersuchung versuchen, die in den erwähnten Arbeiten erreichten theoretischmethodologischen Erkenntnisse hinsichtlich der Abweichung zu übernehmen und die Problematik auf einer theoretischen Grundlage zu formulieren, die frei von den kritisierten Einseitigkeiten ist. Die Abweichung stellt ohne Zweifel einen wichtigen Begriff der Stilistik dar, aber der Stil läßt sich durch sie bei weitem nicht definieren. Obwohl die Beschäftigung mit ihr lange Zeit hindurch im Mittelpunkt der mit Hilfe der generativen Grammatik durchgeführten stilistischen Versuche stand, kann der Einfluß der generativen Grammatik auf die Stilistik nicht auf dieses Thema reduziert werden. Von den anderen Forschungsrichtungen soll vor allem die von O H M A N N und H A Y E S eingeführte Explikation stilistischer Unterschiede durch Transformationsregeln hervorgehoben werden. 132 Auf der Grundlage der früheren Fassung der C H O M S K Y sehen generativen Transformationsgrammatik, in der noch zwischen obligatorischen und fakultativen Transformationen unterschieden wurde, werden hier bestimmte stilistische Varianten auf die Anwendung bzw. Nicht-Anwendung fakultativer Transformationsregeln der Grammatik zurückgeführt. Es wird also die Tatsache, daß gleiche Einheiten der Tiefenstruktur unter Zuhilfenahme von unterschiedlichen transformationellen Ableitungen in verschiedene Oberflächenstrukturen überführt werden können, für stilkonstituierend erklärt; anders ausgedrückt, wird ein Typ der sprachlich-stilistischen Varianz durch strikte Regeln der Transformationsgrammatik erfaßt. Es muß betont werden, daß dadurch nicht die sprachliche Varianz schlechthin - geschweige denn der Stil expliziert wird, sondern nur ein durch das grammatische System selbst festgelegter Typ der sprachlichen Varianz, für diesen Typ scheint dieser Erklärungsversuch auf jeden Fall relevant zu sein. Wir halten diese Explikation gleich E N K V I S T ( 1 9 7 3 ) trotz der Tatsache für sehr bedeutsam, daß die Unterscheidung zwischen obligatorischen und fakultativen Transformationen seit dem Aspects-Modell hinfällig zu sein scheint und der wichtigste Vertreter dieser Richtung in seinen neueren Arbeiten mit seiner Orientierung auf die Sprechakttheorie einen völlig anderen Weg eingeschlagen hat. 1 3 3 Wenngleich sich die genannte Unterscheidung - genauer gesagt: die Bestimmung „fakultative Transformation" - in der konkreten Ableitung als problematisch erweist, indem sie keinen Ansatzpunkt für die Entscheidung bietet, ob die gegebene Transformation in dem gegebenen Fall angewendet werden soll oder nicht, so handelt es sich doch um eine wesentliche theoretische Unterscheidung metagrammatischen Charakters, die für die Stilistik relevant ist, sie ermöglicht nämlich eine Klassifikation der Transformationsregeln in bezug auf ihre varianz-konstituierende Leistung hin: Fakultative Transformationen legen eine Klasse von Regeln fest, die den genannten Typ der sprachlichen Varianz bestimmen bzw. erklären.

132

V g l . O H M A N N ( 1 9 6 4 ) , ( 1 9 6 7 ) , HAYES ( 1 9 7 1 ) .

133

V g l . OHMANN ( 1 9 7 1 a , b ) .

56

Transformationsregeln können aber nicht nur in diesem grammatischen Bereich, sondern auch auf dem Gebiet der Abweichungen für die Erklärung stilistischer Phänomene in Anspruch genommen werden. Diese Einsicht ist weniger der eigentlichen generativ-stilistischen Forschung, die sich - wie wir gesehen haben der Abweichungsgrammatik verschrieben hat, als vielmehr den in den letzten Jahren wieder aufgenommenen rhetorischen Untersuchungen zu verdanken. Sie nehmen zwar theoretisch nicht auf das System der generativen Grammatik Bezug, ihre Explikation der untersuchten sprachlich-stilistischen Regeln läßt sich aber vielfach mit den Grundkonzeptionen bzw. Verfahren der letzteren in Zusammenhang bringen. Das gilt besonders für die „Rhétorique générale" 1 3 4 , in der die einzelnen rhetorischen Figuren mit Hilfe von Transformationen eingeführt werden, die ohne weiteres im Sinne der generativen Transformationsgrammatik aufgefaßt werden können. Es wird hier davon ausgegangen, daß die Sprache der Literatur nicht als bloße Abweichung von der Normalsprache aufgefaßt werden darf, denn der Unterschied in der sprachlichen Formulierung wird durch bestimmte „procédés de langage" bedingt, die in der inneren Struktur der Sprache selbst verankert sind und die in bezug auf ein bestimmtes „Ethos" verwendet werden. 1 3 5 Die Abweichungen werden also als das Ergebnis bestimmter rhetorischer Operationen verstanden, die auf die N o r m („degré zéro") der Sprache wirken und die im wesentlichen den in der generativen Grammatik verwendeten vier grundlegenden Transformationen entsprechen: sie sind nämlich als suppression ( = Ellipse), adjonction ( = Adjunktion), suppression-adjonction ( = Substitution) und permutation bestimmt. 1 3 6 Es wird zugleich der Versuch gemacht, den Bereich dieser rhetorischen Abweichungen (métaboles) entsprechend zu bestimmen: Sie definieren an sich noch nicht die Sprache der Literatur, sie können nämlich einerseits auch in einem größeren Kreis verwendet werden und enthalten andererseits noch nicht die spezifisch poetischen Regeln, die eine zusätzliche Ordnung in den poetischen Text einführen. Rhetorik wird im Sinne der klassischen Auffassung als ein Bindeglied zwischen Grammatik und Poetik aufgefaßt. 1 3 7 Eine entsprechende Explikation der rhetorischen Zusammenhänge auf der Grundlage der generativen Sprachtheorie sowie die Bestimmung des Abhängigkeitsverhältnisses, das zwischen Rhetorik und Poetik besteht, sind grundlegende Aufgaben dieser Arbeit, so daß wir auf diese Fragen in den späteren Kapiteln des öfteren zurückkommen müssen.

1.3.2.2.2.

D E R

P O E T I S C H E

K O D E

Neben den Problemen der Formulierung der spezifischen Oberflächenstruktur von poetischen Texten stand die Erforschung poetischer Regularitäten bzw. einer poetischen N o r m von Anfang an im Mittelpunkt der linguistisch-poetologischen Untersuchungen. Den Ausgangspunkt für diese Untersuchungen bildete die oben '3"

et al. et al. 13« Vgl. ebd., S. 137 Vgl. ebd., S. DUBOIS

US DUBOIS

(1970), vgl. noch (1970) S. 14 ff. 45 ff. 23 ff.

DUBOIS

et al. (1972),

KLINKENBERG

(1968).

57

besprochene Konzeption von J A K O B S O N , die in der Folgezeit auf verschiedene Weise mit dem linguistischen Beschreibungsmechanismus verknüpft, d. h. auf verschiedene Weise konkretisiert werden sollte. Einen solchen Versuch stellt S. R. L E V I N S Theorie der couplings dar, die den jAK0BS0NSchen Begriff des Parallelismus teils im Sinne H J E L M S L E V S , teils nach den Prinzipien der generativen Grammatik begründen möchte. Er schreibt: „Poetic coupling.. . derives its force not merely from its appearence in the message, but from the relation to each other in the code of the members appearing in the message. The individual items occuring in the coupling are positionally equivalent in the message and naturally equivalent in the code. The code h e r e . . . is not the ordinary language code, in which the clauses are formed purely on the basis of positional equivalence, but a separate or subcode, in which the classes are formed on the basis of . . . natural equivalences. The subcode is the code of the poetry and functions within or alongside the ordinary language code." 1 3 8 Das entscheidende Moment in der Theorie S. R. L E V I N S scheint die Annahme eines spezifischen poetischen Subkodes zu sein, der mit dem sprachlichen Kode zusammen, diesen gleichsam ergänzend, operiert und die einzelnen poetischen Strukturen bzw. ganz konkret die couplings hervorruft. Der Standort dieses Subkodes im sprachlichen System, die Art und Weise seiner Verbindung mit dem sprachlichen Kode werden zwar nicht genau bestimmt, die Theorie lenkt aber die Aufmerksamkeit auf Momente hin wie die Position in der linearen Struktur, die Äquivalenzrelation usw., die wichtige Ansatzpunkte zur Formulierung dieses Subkodes liefern. Weniger kann man mit der Unterscheidung von zwei verschiedenen couplings einverstanden sein, L E V I N spricht nämlich von syntagmatischen und konventionellen couplings, die letztere „derives not from the syntagmatic system of the language, but rather from the body of conventions which a poem, as an organized literary form, observes". 139 Ein Beispiel dafür sei der metrische Rahmen, der poetische Rhythmus. Weder die Einschränkung auf die syntagmatischen Beziehungen, noch die Trennung der poetischen Konventionen von den sprachlichen Gegebenheiten scheint gerechtfertigt zu sein. Die auf Grund der Theorie ausgeführten konkreten Analysen sind - wie B A U M G Ä R T N E R bemerkt - zu grob, 140 sie liefern nur die im Sinne der generativen Grammatik vollzogene Transkription der Oberflächenstruktur von poetischen Texten und den Nachweis der Übereinstimmung der in den gleichen Positionen vorkommenden abstrakten syntaktischen Einheiten wie N, NP usw., ohne den Grund dieser Übereinstimmung entsprechend zu motivieren, geschweige denn verschiedene semantische Bezüge mit zu berücksichtigen. Die Einseitigkeit der Theorie und der Analyseverfahren von L E V I N hängt übrigens auch mit der damaligen Entwicklungslage der sprachwissenschaftlichen Forschungen zusammen, eine ernstere Beschäftigung mit semantischen Fragen auf der Grundlage der generativen Grammatik setzte erst nach dem Erscheinen von L E V I N S Buch ein. Die Bemühung um die genaue linguistische Fassung des JAitoBsoNSchen Parallelismus zieht sich wie ein roter Faden durch B A U M G Ä R T N E R S Arbeiten. Er spricht in 138 S. R . LEVIN ( 1 9 6 2 ) S. 38.

'39 Ebd., S. 42. 140 V g l . BAUMGÄRTNER ( 1 9 6 5 ) S. 71. E i n e ä h n l i c h e K r i t i k f i n d e t s i c h in GREENFIELD ( 1 9 6 7 ) .

58

diesem Zusammenhang zunächst von einem (syntaktischen) Muster und unterscheidet positiven und antithetischen Parallelismus. 1 4 1 In dem Aufsatz „ F o r m a l e Erklärung poetischer T e x t e " wird der Parallelismus mit der Frage der grammatischen Komplexität in Verbindung gebracht und zur Grundlage der parallelen Struktur die Gleichheit bzw. die Ähnlichkeit der Kernsätze und die Gleichheit der Transformationsprozesse erklärt 1 4 2 - eine Bedingung, die - wie wir es im 6. Kapitel der Arbeit sehen werden - allzu streng ist und eine Reihe von Parallelismen nicht erklären kann. In einem späteren Aufsatz schreibt er: „ M i r scheint . . . dieses Prinzip [JAKOBSONS Äquivalenzprinzip - Z. K . ] Überlagerungen der Umgangssprache zu verlangen, die der F o r m nach Abweichungen s i n d . " 1 4 3 Diese These läßt sich - wie wir im 6. Kapitel an Hand von konkreten Beispielen sehen werden - in dieser allgemeinen F o r m nicht aufrechterhalten: Die Realisierung eines parallelen Musters zieht nicht notwendigerweise die Verletzung grammatischer Regeln nach sich. B A U M G Ä R T N E R S Ausführungen über poetologische Fragen bilden kein kohärentes System, sogar die Standpunkte, die er in seinen verschiedenen Aufsätzen vertritt, unterscheiden sich erheblich voneinander. F ü r den Ausbau einer entsprechenden semiotischen Poetik scheint vor allem sein a u f S T A N K I E W I C Z 1 4 4 und JAKOBSON zurückgehender Vorschlag, die linguistisch-semiotische Analyse in ein allgemeines kommunikationstheoretisches Modell einzubetten, sowie die Hervorhebung der Bedeutung pragmatischer Faktoren in der Bestimmung der poetischen Struktur von Bedeutung zu sein. W a s die linguistisch-theoretische Bestimmung des Parallelismus anbelangt, finden wir in den Aufsätzen von A U S T E R L I T Z , J O N E S , H E N D R I C K S , R U W E T , S T E U B E U. a . 1 4 5 weitere theoretischmethodologische Hinweise; vom theoretischen Gesichtspunkt ist die von P O S N E R vorgenommene mengentheoretische Verallgemeinerung bzw. Interpretation des Parallelismusbegriffes besonders wichtig; 1 4 6 all diese Einsichten sollen im 6. Kapitel bei der Behandlung des Äquivalenzprinzips verwertet werden.

1.3.2.2.3.

MODELLE

D E R

GENERATIVEN

POETIK

Die Beschäftigung mit dem Parallelismus und mit anderen spezifischen Erscheinungen im poetischen T e x t führt notwendigerweise zu der Annahme eines spezifischen poetischen Kodes. D e r Standort dieses Kodes bzw. Subkodes ist in den bisherigen Arbeiten unbestimmt geblieben. D e r Versuch, a u f der Grundlage der Ergebnisse der linguistischen Forschung eine zwar in mancher Hinsicht ergänzungsbedürftige, aber in ihren Grundsätzen kohärente poetologische Theorie zu formulieren, wurde

V g l . BAUMGÄRTNER ( 1 9 6 0 ) i « V g l . BAUMGARTNER ( 1 9 6 5 ) S . 7 8 . 113 V g l . BAUMGARTNER ( 1 9 6 9 ) S .

384.

I i * Vgl. STANKIEWICZ ( 1 9 6 0 ) u n d ( 1 9 6 1 ) . I « V g l . AUSTERLITZ ( 1 9 6 1 a ) , BLOOMFIELD ( 1 9 6 7 ) , ( 1 9 7 1 ) , C H A T M A N - S . R . L E V I N ( 1 9 6 5 ) , F O W L E R ( 1 9 6 9 ) , HENDRICKS ( 1 9 6 9 ) , K L O E P F E R - O O M E N ( 1 9 7 0 ) , S . R .

LEVIN ( 1 9 6 3 ) , ( 1 9 6 5 ) ,

LEVY ( 1 9 7 0 ) ,

QOMEN

( 1 9 7 3 ) , RUWET ( 1 9 6 3 ) , ( 1 9 6 8 ) , JONES ( 1 9 6 1 ) , STEUBE ( 1 9 6 6 ) und ( 1 9 6 8 ) , SZABOLCSI ( 1 9 6 8 ) , THORNE (1969), (1970). 146 V g l . POSNER ( 1 9 6 9 ) .

59

zunächst von M. B I E R W I S C H vorgenommen. 147 Die poetische Theorie setzt im Sinne B I E R W I S C H S einerseits die (generative) Grammatik als Eingabe voraus, andererseits ist sie völlig nach dem Modell dieser Grammatik gebaut. Für den grundlegenden Begriff der Poetik wird demnach die im großen und ganzen der Funktion der Grammatikalität entsprechende Poetizität erklärt: sie ist einerseits ein Mechanismus, „der . . . von je zwei SB [strukturelle Beschreibungen - Z . K.] feststellt, welche in größerem Maße bestimmte poetische Regularitäten erfüllt," 1 4 8 der also Regularitäten spezifiziert, „die in einem literarischen Text zusätzlich zu den grammatischen Regularitäten auftreten". 1 4 9 „Die Regeln, aus denen P [Poetizität Z. K.] besteht, operieren auf linguistischen Strukturen, sind aber selbst außerlinguistisch." 150 Die Poetizität wird folglich durch ein System von Regeln, durch die zwischen diesen Regeln bestehenden Beziehungen und durch den Algorithmus, der sie einem gegebenen literarischen Text zuordnet, definiert. Sie ist andererseits - ihrem Inhalt nach - diejenige Eigenschaft eines sprachlichen Textes, die nur von solchen erkannt, verstanden und gewürdigt werden kann, die mit dem System P vertraut sind. B I E R W I S C H S Ausführungen ermöglichen die systematische Bearbeitung poetischer Erscheinungen auf einer kohärenten theoretischen Grundlage. Das Regelsystem der Poetizität wird zwar im einzelnen nicht ausgeführt, aber dies ist - wie u. a. einige von B I E R W I S C H selbst dargebotene Beispiele beweisen prinzipiell möglich. Der wesentliche Vorteil der Konzeption von B I E R W I S C H gegenüber den früheren poetologischen Versuchen besteht darin, daß sie den poetischen Erscheinungen einen Systemcharakter zuschreibt und das poetische System als ein dem grammatischen System übergeordnetes, mit diesem jedoch organisch zusammenhängendes System behandelt. Diese Konzeption läßt sich mit der in 1.3.2.1.3. erwähnten Auffassung von der Literatur als einem sekundären semiotischen System in Einklang bringen, sie kann sogar als deren methodologisch am weitesten und am konkretesten ausgearbeitetes Modell gelten. Der generativtransformationelle Standpunkt erweist sich hier methodologisch in viel höherem Maße produktiv als in den früher erwähnten Untersuchungen, indem hier nicht mehr die Grammatikalität als Oberbegriff fungiert, d. h. das Literarische nicht mehr bloß als ein Sonderfall des Grammatischen betrachtet wird, sondern die Einwirkung von Regeln paragrammatischen Charakters auf die Sprache prinzipiell für möglich erklärt wird. Es erfolgt also eine entsprechende Erweiterung der Prinzipien der generativen Sprachtheorie, die in ihren Konsequenzen zu einer komplexeren und den Tatsachen besser entsprechenden Auffassung von Sprache und konkreter Anwendung der Sprache führt. In dieser Hinsicht ist die Einführung eines von der Grammatikalität unterschiedenen, aber mit ihr theoretischmethodologisch verträglichen Begriffes der Poetizität theoretisch ein positives Ergebnis. Was die genaue Bestimmung dieses Begriffs anbelangt, tauchen einige Probleme auf, die sich vor allem aus der Mißachtung pragmatischer Zusammenhänge ergeben. Die von B I E R W I S C H vorgenommene Erweiterung der "" i« i« '50

60

Vgl. B I E R W I S C H (1965a). Ebd., S. 56. Ebd., S. 60. Ebd., S. 58.

generativen Sprachtheorie bringt nämlich neue, von der (generativen) Sprachtheorie nicht untersuchte Probleme mit sich: „Trotz aller Komplexität ist eine natürliche Sprache ein genügend geschlossenes System, so daß ein Sprecher eindeutige Urteile darüber fallt, was in seiner Sprache normal ist, was in verschieden starkem Maße abweicht. Ähnliches läßt sich im poetischen Bereich nur bei vergleichsweise einfachen Formsystemen . . . oder für einzelne Aspekte . . . eines Textes sagen." 151 Mit anderen Worten, das abstrakte und allgemeine Konzept des native speakers bzw. der Grammatikalität kann nicht automatisch auf den poetischen Bereich angewendet werden, da Poetizität faktisch nicht auf die gleiche Weise bewertet wird wie Grammatikalität. Es ist unleugbar, daß Poetizität mit Kompetenz zusammenhängt und daß die Sprecher einer Sprache das Vorhandensein des Poetischen in den literarischen Texten im Prinzip feststellen können, aber ihre Meinungen darüber gehen, und zwar in einem vergleichsweise höheren Maße als bei der Beurteilung der Grammatikalität, weit auseinander. Daraus folgt, daß entweder verschiedene Poetizitäten bzw. verschiedene Formen der poetischen Kompetenz anzunehmen sind oder aber die verschiedenen Meinungen über Poetizität angemessenere oder weniger angemessene Ausdrücke einer allgemeinen und abstrakten poetischen Kompetenz sind. B I E R W I S C H nimmt für die letztere Lösung Partei; darin folgt er den Bestimmungen der generativen Sprachtheorie hinsichtlich der Grammatikalität und der Sprachkompetenz. Während aber die Annahme eines abstrakten Bezugspunkts in der Sprachtheorie methodologisch zu rechtfertigen ist, erscheint die gleiche Hypothese in diesem von pragmatischen Faktoren weitgehend bestimmten Bereich der Literatur als recht fragwürdig. Mit Recht bemerkt B A U M G Ä R T N E R , „daß der Begriff des Poetischen allein gesellschaftlich definierbar ist, weil er in seiner heutigen Freiheit von spezifischen sprachlichen Formen auch nur gesellschaftlich sanktioniert werden k a n n . . . Danach ist einer gesonderten poetischen Kompetenz, wie sie Bierwisch vorschlägt, kein eigener Status mehr einzuräumen. Was sich in der gesellschaftlich sanktionierten Poesie niederschlägt, sind Ausdrucksformen unterschiedlicher Herkunft." 1 5 2 Die Poetizität könnte demnach nur auf einen Kompetenzbegriff gegründet werden, der nicht abstrakt, sondern durch historisch-gesellschaftliche Momente determiniert und folglich je nach seinen jeweiligen pragmatischen Bestimmungen verschieden ist. Nur auf diese Weise kann man die Sterilität der von B I E R W I S C H vorgeschlagenen abstrakten Skala der Poetizität überwinden und das durch sie unberechtigt und einseitig gestellte Problem der Wertung auf eine historisch-gesellschaftliche Basis zurückführen. Eine solche Konzeption beeinträchtigt nicht die positiven Ergebnisse der Theorie von B I E R W I S C H : Beim Vorhandensein einer entsprechenden Kompetenz ist die Beschreibung des in bestimmten Texten vorhandenen spezifisch poetischen Regelsystems weiterhin möglich, nur wird dieses Regelsystem nicht in bezug auf eine abstrakte und allgemeine Poetizität hin definiert, sondern in bezug auf die für den Textproduzenten bzw. den Empfänger charakteristische, pragmatisch bestimmte Kompetenz, 151 Ebd., S„ 58-59. (1969) S. 389, vgl. noch in dieser Beziehung unsere Auseinandersetzung mit der generativen Poetik von BIERWISCH in K A N Y Ö ( 1 9 6 9 ) .

1 5 2 BAUMGÄRTNER

61

wobei natürlich die Suche nach allgemeinen Zusammenhängen auch hier wie in allen wissenschaftlichen Untersuchungen nicht ausgeschlossen wird, sondern in allen theoretisch begründeten Fällen ihre Berechtigung hat. Im Gegensatz zu B I E R W I S C H S Zweistufenmodell, das die poetischen Strukturen durch Grammatik und poetisches Sondersystem bestimmt, schlägt B E Z Z E L (1970) ein Einstufenmodell vor, das die vorhin unterschiedenen zwei Stufen - Grammatik und Poetik - in einem einzigen für die literarischen Texte gültigen System im Sinne einer poetischen Grammatik zusammenfaßt. Im Unterschied zur Theorie von B I E R W I S C H will B E Z Z E L eine spezifisch poetische Grammatik (GP) schaffen, auf deren Basis sich die poetischen Sequenzen - wie auf Grund der generativen Grammatik die grammatikalischen Sätze - beschreiben bzw. generieren lassen. Eine G P sollte nicht nur die Sequenzen erzeugen, die in poetischen Texten tatsächlich erscheinen, sondern „sie muß all die (well-formed) Sequenzen erzeugen und eine strukturelle Beschreibung von ihnen geben, die zur Sprache der M D L [modernen deutschen Dichtung - B E Z Z E L schränkt seine Untersuchung auf dieses Thema ein - Z. K.] gehören, ,over and above those contained' . . . in den Gedichten", 1 5 3 d. h. alle denkbar möglichen poetischen Sequenzen wären also als sprachliche und poetische Gebilde durch das gleiche generative Regelsystem, sozusagen auf einen Schlag hergestellt. Diese Ableitung erscheint auf den ersten Blick einfacher als die vorige, die in zwei Phasen - in eine grammatische und eine poetische - geteilt ist, diese Vereinfachung ist jedoch theoretisch-methodologisch keinesfalls gerechtfertigt: Diese Sondergrammatik könnte nicht mehr auf der Grammatikalität bzw. der Sprachkompetenz beruhen, ihre zentrale Kategorie wäre gerade die vorhin besprochene Poetizität bzw. die poetische Kompetenz. Da nun - wie wir es oben nachzuweisen versuchten - die Idee einer abstrakten und allgemeinen Poetizität theoretisch nicht aufrechterhalten werden kann, sondern in Abhängigkeit von pragmatischen Bestimmungen von einer Reihe von Poetizitäten gesprochen werden soll, kann G P als ein einheitliches System nicht angegeben werden. Man könnte höchstens von einer Reihe von verschiedenen GP-s sprechen, in diesem Fall wäre diese Beschreibung nicht mehr einfacher, sondern beträchtlich komplizierter: Man hätte hier eine Vielzahl der vom grammatischen System unterschiedenen Systeme, deren Beziehungen zueinander sowie zum grammatischen System zusätzlich zu bestimmen wären, im anderen Fall hingegen wären die verschiedenen poetischen Systeme von dem gleichen sprachlichen System durch die Anwendung verschiedener, aber hinsichtlich ihres Status im Gesamtsystem ähnlicher bzw. gleicher Regeln abzuleiten. Die Ausarbeitung solcher Sondergrammatiken erfordert viel Arbeit, und dabei ist ihre explikative Wirkung im Gegensatz zu der vorhin skizzierten Theorie gering: diese kann das Poetische von dem Nicht-Poetischen nicht unterscheiden, indem sie den poetischen Charakter auf das ganze System dieser Sondergrammatik ausdehnt. Von den skizzierten beiden Modellen erweist sich also das Zweistufenmodell als begründeter und vorteilhafter, es stimmt in seiner Anlage mit den grundlegenden positiven Erkenntnissen der glossematischen und der LoTMANSchen literatursemiotischen Auffassung überein, ihnen gegenüber weist es zugleich wesentliche Vorteile 153

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BEZZEL

(1970) S. 10.

auf, indem es einen generativen Apparat zur Beschreibung und zur Explikation von literarischen Zusammenhängen bereitstellt. Die weitere Entwicklung der generativen Poetik kann als eine Bemühung um den entsprechenden Ausbau dieses Zweistufenmodells charakterisiert werden. Von den verschiedenen Versuchen sollen vor allem die theoretischen Arbeiten VAN D I J K S und IHWES 1 5 4 hervorgehoben werden, die aber in dem gegebenen Rahmen nicht ausführlich besprochen werden können. Ihre wesentlichen Neuerungen gegenüber dem Modell von B I E R W I S C H sollen im folgenden kurz zusammengefaßt werden: - Es wird hier statt der CHOMSKYSchen generativen Grammatik auf eine Textgrammatik bzw. Texttheorie Bezug genommen, die sie - zumindest in der hier zu behandelnden ersten Phase ihrer Tätigkeit - im wesentlichen nach den Prinzipien dieser Satzgrammatik aufbauen wollen. Diese Erweiterung des Apparates ist im Hinblick auf die Tatsache, daß „there are no literary sentences, only literary texts", 155 zweifellos berechtigt, sie wirft jedoch eine Reihe von theoretischmethodologischeij Fragen auf, die bis jetzt nicht entsprechend gelöst werden konnten. Diese komplexen Probleme der Texttheorie, die in der Behandlung unseres Themas, d. h. in der Sprichwortanalyse, höchstens indirekt eine Rolle spielen, sollen hier nicht erörtert werden. Auf der Grundlage der pragmatischen, soziolinguistischen usw. Forschung der letzten Jahre wird versucht, dem zentralen Begriff der generativen Poetik, der poetischen Kompetenz, eine neue Deutung zu geben, die der geschichtlich-sozialen Gebundenheit dieses Begriffes besser gerecht wird. Die verschiedenen Lösungsversuche sind jedoch in mancher Hinsicht unbefriedigend und widersprüchlich. So hält VAN D I J K einerseits an einer Auffassung des Kompetenzbegriffs im Sinne von 156 C H O M S K Y fest, andererseits will er ihn mit einer allgemeinen, pragmatisch verstandenen Text- bzw. Kommunikationskompetenz in Verbindung setzen, 157 ohne jedoch den Zusammenhang zwischen diesen hinsichtlich der pragmatischen Bestimmung widersprüchlichen Auffassungen theoretisch begründen zu können, sein vager Verweis auf einen Mechanismus, der die Kompetenz in einem Lernprozeß zu verändern erlaubt, 158 reicht in dieser Hinsicht nicht aus. Nicht weniger problematisch ist I H W E S Auffassung, daß „P [Poetik - Z. K.] als Modell der Kl [literarische Kompetenz - Z. K.] gilt und . . . auf der Ebene der Ps [Sprachperformanz - Z. K.] situiert ist", 159 denn es ist im wesentlichen nichts anderes als eine explizitere Neuformulierung des oben dargestellten Standpunktes 154 Vgl. VAN DIJK (1970), (1972a, d), (1973), (1975), IHWE (1970), (1972), (1973a, b), (1975). 155 VAN DIJK (1972a) S. 176.

156 „This competence was defined as the internalized ideal ability to produce and interpret the wellformed literary texts of a given language." VAN DIJK (1972a) S. 337. 157 „one important part of this ability, which may be called .literary competence', is pragmatic and defines the knowledge of native speakers about the general properties underlying the process of literary communication, that is the relation between textual properties and their appropriateness in certain communicative situations. This pragmatic part of our competence . . . is clearly a part of the pragmatic component of our general textual competence, which enables us to relate texts with their possible functions." VAN DIJK (1972a) S. 192. 158 Vgl. VAN DIJK (1972c) 109 f.

159 IHWE (1972) S. 291.

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von B I E R W I S C H (1965). Die Poetik wird auch hier auf eine „angeborene Anlage (eine ,implizite Definition des SKW' [sprachliches Kunstwerk - Z. K.]: die Literaturfähigkeit des Menschen)" 1 6 0 zurückgeführt, die allerdings ziemlich verschwommen und empirisch kaum bestimmbar bleibt. Die Verbindung dieser ungenau eingeführten allgemeinen menschlichen Kompetenz mit der Sprachperformanz, einer weitgehend durch pragmatische Faktoren bestimmten Sphäre, wird auch nicht ausführlich dargestellt, sie wird einfach postuliert: „Auch wenn das poetische Verhalten unter dem Gesichtswinkel des Linguisten Performanzcharakter hat, schließt das ja nicht nur unterliegende Regularitäten nicht aus, . . . sondern auch nicht eine unterliegende abstrakte Kompetenz analog zur Kompetenz des Linguisten." 161 Eine ausführliche Behandlung der Thesen beider Autoren würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, 162 wir müssen uns hier mit diesen kurzen Hinweisen begnügen. Auf die Problematik der literarischen Kompetenz kommen wir im Laufe unserer Untersuchung weiter unten zurück, hier wollten wir kurz darauf hinweisen, daß dieser zentrale Begriff der generativen Poetik trotz der verschiedenen theoretischen Bemühungen in mancher Hinsicht anfechtbar bzw. ungeklärt blieb. Dieser Umstand veranlaßte übrigens einige Forscher wie W I E N O L D , S . J. S C H M I D T U. a., die Konzeption der generativen Poetik aufzugeben und eine alternative Forschungsrichtung in der Literaturtheorie zu formulieren, die statt der spezifischen Organisation des literarischen Textes dessen Verarbeitung seitens des Rezipienten in den Mittelpunkt stellt; 163 von der Behandlung dieser Problematik müssen wir in dem gegebenen Zusammenhang ebenfalls absehen. Im Gegensatz zu den globalen und in mancher Hinsicht unspezifischen Andeutungen von B I E R W I S C H präsentieren die neueren Arbeiten zur generativen Poetik - hierbei denken wir nicht nur an die Untersuchungen von I H W E und VAN D I J K , sondern an eine Reihe von verschiedenen Aufsätzen von Autoren, die etwa in der repräsentativen Auswahl I H W E S (Hrsg.) (1971), (1972) enthalten sind - eine eingehende Analyse von konkreten literarischen Erscheinungen und bieten zur Behandlung dieser Fragen einen verfeinerten theoretisch-methodologischen Apparat an. Es erübrigt sich jedoch, diese Entwicklung bzw. die erreichten theoretisch-methodologischen Erkenntnisse im einzelnen darzulegen, da wir im 6. Kapitel, bei der Behandlung der in den Sprichwörtern wirksamen poetischen Regeln ohnehin darauf Bezug nehmen müssen. Soviel läßt sich auf jeden Fall feststellen, daß in diesen generativpoetologischen Arbeiten eine Reihe von konkreten literaturtheoretischen Fragen einer in der Literaturwissenschaft bisher ungewöhnlich strengen und systematischen Untersuchung unterworfen und dabei beachtliche Ergebnisse erreicht worden sind.

IM 161 162

I «

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Siehe I H W E ( 1 9 7 2 ) S. 1 0 3 . Siehe I H W E (1972b) S. 288-289. Im Zusammenhang mit der Behandlung der literarischen Kompetenz bei den genannten Autoren außer den angeführten Arbeiten vgl. noch V A N D I J K (1972b), I H W E (1971). Vgl. W I E N O L D (1972a, b), S . J . S C H M I D T (1975), (1976a, b).

1.4.

Die neuen theoretisch-methodologischen Ansätze in der Literaturwissenschaft und der Marxismus

Zum Abschluß unseres allgemeinen Überblicks über die neuen theoretischmethodologischen Ansätze in der Poetik wollen wir uns kurz mit der Frage beschäftigen, wie sich diese Versuche zum Marxismus verhalten. Es handelt sich dabei um ein komplexes Problem, das wir hier keinesfalls in Einzelheiten untersuchen können, wir beschränken uns vielmehr auf eine eher thesenhafte Darstellung unseres Standpunktes. Die Beurteilung der vorhin besprochenen theoretisch-methodologischen Versuche ist im Kreis der marxistischen Literaturwissenschaftler umstritten. Einerseits gibt es - wie wir es im vorausgehenden Überblick gesehen haben - manche marxistischen Forscher, die der Anwendung bzw. Herausbildung exakter, an der Mathematik, Semiotik bzw. Linguistik orientierter Methoden und Theorien in der Poetik bzw. in der Literaturwissenschaft eine zentrale Bedeutung beimessen und praktisch in diesem Sinne arbeiten, andererseits sind manche der Meinung, daß es sich hier um eine formalistische, mit den Grundthesen des Marxismus unvereinbare Richtung, um eine durch die Interessen der spätbürgerlichen Gesellschaft bestimmte vorübergehende Modeerscheinung, genauer um eine ideologisch nicht ungefährliche sterile szientistische Konzeption handelt, die im wesentlichen nichts zur Lösung der vor der Literaturwissenschaft stehenden konkreten Aufgaben beitragen kann und somit im Grunde genommen abwegig ist; schließlich schreiben einige diesen Versuchen eine bedingte, sekundäre Relevanz in Formfragen zu, ohne dabei den theoretischen Anspruch dieser Bemühungen zu akzeptieren. 164 Die Ursachen für diese unterschiedliche Einschätzung der Problematik sind mannigfaltig, wir können davon hier nur einige erwähnen. Erstens soll klar gesehen werden, daß die in Frage stehenden strengen Theorien gegenwärtig nicht in der Lage sind, für die Lösung mancher aus marxistischer Sicht als entscheidend geltenden Zusammenhänge (etwa der Verbindung zwischen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen und Literatur) entsprechende methodologische Ansatzpunkte zu liefern, sie abstrahieren ja gerade in mancher Hinsicht davon. Die Frage, die im Hinblick auf diese Tatsache auftaucht, ist, ob es sich hier um eine unzulässige Reduktion oder aber um eine durch die Forschungslage bedingte vorübergehende Einschränkung der Forschung auf einfache Zusammenhänge handelt, deren Bearbeitung zur Zeit möglich ist und die Grundlage für die spätere Einbeziehung komplexerer Beziehungen sichert. Wir wollen hier die letztere Auffassung vertreten. Dazu gibt nicht nur die unter 1.1. bzw. 1.2. skizzierte Entwicklung der allgemeinen Semiotik sowie der neueren Sprachwissenschaft Anlaß, sondern der in den literaturtheoretischen Versuchen abgesteckte theoretische Rahmen selbst. Wir teilen nämlich nicht den von manchen Kritikern oft geäußerten Vorwurf, diese Theorien seien generell unhistorisch, undialektisch und mit einer marxistischen Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung prinzipiell unvereinbar; die Theorien 164

Im Zusammenhang mit dieser Diskussion verweisen wir auf die folgenden Aufsätze: L O T M A N (1963), (1967c), SAPAROV (1967), K O Z I N O V (1965), G E Y R H O F E R (1968), L A N T £ R I - L AURA (1968), H U N D (1969), K R A U S S (1970), B A R A B A S (1971), C H R A P C E N K O (1972).

5 Sprichwörter

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enthalten oder implizieren manche Thesen, die für die Bearbeitung soziokultureller und poetischer Zusammenhänge relevant und in mancher Hinsicht von großer Bedeutung sind. Was die Historizität anbelangt, so muß man klar sehen, daß das Postulat, literarische Werke bzw. poetische Ausdrucksmöglichkeiten sollen im Sinne eines spezifischen Systems aufgefaßt werden, an sich nicht unhistorisch ist, es ermöglicht nicht nur die Beschreibung synchroner Zustände, sondern auch die systemhaften Beziehungen in den diachronen Folgen. Somit sind die in den strukturalistischen und den generativen poetologischen Versuchen ausgearbeiteten Methoden durchaus geeignet, bestimmte, sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung zeigende Zusammenhänge zwischen literarischen Werken zu erfassen bzw. bestimmte Aspekte der Entwicklung zu modellieren. Sicherlich ist der methodologische Apparat noch nicht fein genug, um alle Beziehungen, die im Sinne der marxistischen Auffassung wesentlich sind, in den Griff zu bekommen, aber wie IHWE (1972) und H E M P F E R (1973) im Zusammenhang mit den Konzeptionen der Russischen Formalisten von der literarischen Entwicklung nachgewiesen haben ist diese an sich durchaus nicht in jeder Hinsicht befriedigende Lösung wissenschaftsgeschichtlich sehr bedeutend, da sie im Gegensatz zu den idealistischen Vorstellungen einen nachprüfbaren materialistischen Ansatz bietet und auf klaren methodologischen Überlegungen beruht. Welch weitgehende Übereinstimmung mit marxistischen Grundsätzen auf dieser theoretischen Grundlage zu erzielen ist, das beweist u. a. die folgende Darstellung der literarischen Entwicklung durch M U K A R O V S K Y : „Jede Veränderung der künstlerischen Struktur wird in irgendeiner Weise von außen her angeregt (motiviert), sei es direkt durch die Entwicklung der Gesellschaft, sei es durch die Entwicklung eines der Kulturbereiche (Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Sprache u. ä.), die freilich auch, ebenso wie die Kunst selbst, vom gesellschaftlichen Zusammenleben getragen werden; indessen beruhen die Art, wie ein äußerer Impuls liquidiert wird, und die Richtung, mit der er auf die Entwicklung der Kunst einwirkt, auf Voraussetzungen, die in der künstlerischen Struktur selbst enthalten sind." 165 Dieses Zitat zeigt, daß die Auffassung der Literatur im Sinne eines spezifischen Systems ihre Einbettung in historisch-gesellschaftliche Zusammenhänge sowie ihre Bestimmung durch letztere keineswegs unmöglich macht, ganz im Gegenteil diese von einem historischmaterialistischen Gesichtspunkt aus gesehen logischerweise erfordert. Die volle Bewältigung dieser Probleme ist jedoch u. a. auch von dem methodologischen Apparat abhängig. Strukturalistisch-taxonomische Verfahren sind hierfür nur in einem beschränkteren Maße geeignet, und auch die generativen Methoden können nur einen Teil der dabei wirksamen Faktoren explizieren; es ist wohl die systematische Bearbeitung weiterer pragmatischer Bezüge der Kommunikation notwendig, um entsprechende Hypothesen über Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Literatur im historischen Prozeß formulieren bzw. überprüfen zu können. Die Möglichkeit dieses weiteren Ausbaus scheint vom theoretischen Ansatz her keinesfalls illusorisch zu sein, das wichtigste Moment ist hierbei darin zu suchen, daß die den erwähnten poetologischen Versuchen zugrunde liegenden semiotisch-linguistischen Modelle letztlich auf einer objektiv realen Abbildung der >M MUKAROVSKY (1948) S. 19.

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Kommunikation beruhen. Diese Schlüsselposition der Kommunikation sichert u. E. die potentielle Verbindung der Beschreibung linguistisch-poetologischer Zusammenhänge mit den diese bestimmenden historisch-sozialen Fakten, indem Kommunikation nicht nur eine sprachlich-literarisch, sondern auch historischgesellschaftlich relevante Relation darstellt. Mittels der gegenwärtig zur Verfügung stehenden semiotisch-linguistischen bzw. poetologischen Methoden lassen sich nur ziemlich abstrakte Bezüge der Kommunikation beschreiben und erklären, aber es steht der Herausarbeitung von feineren Methoden zwecks adäquater Erfassung dieses Komplexes theoretisch nichts im Wege, und die Entwicklung verläuft augenscheinlich in diese Richtung. 166 Wir möchten auf die zentrale theoretischmethodologische Bedeutung der Kommunikation besonders vom Gesichtspunkt des Marxismus aus großes Gewicht legen: Die historisch-gesellschaftliche Bedingtheit der Literatur kann u. E. nur auf diesem Wege explizit dargestellt werden. 167 Daraus folgt, daß wir die erwähnten theoretisch-methodologischen Versuche, die zumindest bestimmte Teilaspekte der Kommunikation exakt und nachprüfbar zu erfassen erlauben, auch vom Gesichtspunkt des marxistischen Standpunkts in der Literaturwissenschaft für wesentlich halten. Damit wollen wir nicht die verschiedenen strukturalistischen oder generativen Arbeiten generell als marxistisch erklären, wir meinen nur, daß der diesen Versuchen zugrunde liegende theoretisch-methodologische Ansatz prinzipiell so erweitert werden kann, daß er den Forderungen des Marxismus-Leninismus weitgehend Rechnung trägt und schon in seiner heutigen Form grundlegende objektive Zusammenhänge in 166

167

5'

Es muß hier auf den wesentlichen Einfluß hingewiesen werden, den verschiedene pragmatische Überlegungen wie die Sprachpragmatik, die Sprachsoziologie, die Sprechakttheorie usw. seit einigen Jahren auf die sprachwissenschaftliche und z. T. auch auf die literaturwissenschaftliche Forschung ausüben, vgl. W U N D E R L I C H (1968), (1971), K L E I N - W U N D E R L I C H (Hrsg.) (1971), W U N D E R L I C H (Hrsg.) (1972). M Ö T S C H (1975), IHWE (1973), S . J. S C H M I D T (1976a, b). Wenn auch die Berücksichtigung von pragmatischen Gesichtspunkten allein keine Gewähr für die Formulierung eines marxistischen Standpunktes bietet, so begünstigt dieser Prozeß auf jeden Fall die zu diesem Zweck unternommene Arbeit. Es ist von diesem Gesichtspunkt aus in hohem Maße interessant, welche Rolle der Kommunikation in verschiedenen ästhetisch-literarischen Konzeptionen zuerkannt wird. Bekanntlich beruht die antike Rhetorik auf einem Kommunikationsmodell, während die klassische idealistische Ästhetik diesen Bezug mehr oder weniger radikal eliminierte. Ohne den fortschrittlichen Charakter der idealistischen Ästhetik gegenüber der im 18. Jahrhundert meist unproduktiv gewordenen Rhetorik in Zweifel ziehen zu wollen, soll darauf hingewiesen werden, daß diese Preisgabe des kommunikativen Ansatzes mit all den daraus folgenden theoretisch-methodologischen Konsequenzen keineswegs recht behält. Auf eine Analyse dieser Zusammenhänge können wir hier nicht eingehen, es sei hier nur auf eine interessante Tatsache eingegangen: Wie in B R E U E R (1974) nachgewiesen wurde, hat die idealistische Ästhetik im deutschen Schulbetrieb des 19. Jahrhunderts immer mehr und mehr eine apologetische Funktion erfüllt und die rhetorische Tradition, die ihr gegenüber ein demokratischeres literarisch-pädagogisches Modell bewahrte, im Interesse der herrschenden Klassen zu verdrängen versucht. In diesem Zusammenhang wäre eine Untersuchung der Frage, wie die Kommunikation in verschiedenen marxistischen Beiträgen zur Literaturtheorie und Ästhetik behandelt wurde, von großer Bedeutung. Den Unterschied, der in dieser Hinsicht zwischen G. LUKACS, der im wesentlichen auf die klassische Ästhetik zurückgreift, und B R E C H T besteht, haben wir in K A N Y Ö (1975e) darzustellen versucht. Sicherlich spielen diese verschiedenen Traditionslinien in der unterschiedlichen Beurteilung der in Frage stehenden theoretisch-methodologischen Versuche eine nicht unwesentliche Rolle.

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literarischen Werken erkennen läßt. Es erscheint uns in dieser Hinsicht durchaus bemerkenswert, daß es - wie in M A Y E R (1966), S T R I E D T E R (1969) und in K A N Y Ö (1975e) nachgewiesen wurde - wesentliche prinzipielle Berührungspunkte zwischen derartigen Versuchen und den marxistischen Konzeptionen von Brecht, Benjamin und Eisler gibt. Die angedeuteten positiven Möglichkeiten sollen aber uns nicht dazu veranlassen, die gegenwärtige Leistungsfähigkeit dieser Methoden bei der Lösung der Aufgaben der Literaturwissenschaft zu überschätzen; es besteht doch eine wesentliche Diskrepanz zwischen den auf diese Weise erklärbaren und den prinzipiell zu erklärenden Problemen. So sehr wir also vor einer Verabsolutierung der genannten Versuche im Sinne der einzig wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur 168 warnen, so müssen wir auch gegen ihre Unterschätzung Stellung nehmen. Eine Kritik, die das Noch-nicht-Erreichte einseitig hervorhebt, wird den realen Verdiensten dieser Richtung ebenso wenig gerecht wie eine, die diese Untersuchungen nur als metaphysisch-formalistische Spielereien abtun will. Im Laufe unserer Ausführungen haben wir wiederholt nachzuweisen versucht, welche große Bedeutung der Ausarbeitung einer wissenschaftlich fundierten Methodologie in der Literaturwissenschaft zukommt. Wenngleich man heute noch weit davon entfernt ist, ein umfassendes System mit einem entsprechenden methodologischen Apparat zur Lösung aller wesentlichen Fragen der Literaturwissenschaft präsentieren zu können, so sind doch relevante Ergebnisse erreicht worden, über die wir unter 1.3. zusammenfassend referiert haben. Die Auffassung, hierbei gehe es einseitig um bestimmte Probleme der Form, ist falsch und übersieht einen gerade vom dialektisch-materialistischen Gesichtspunkt sehr wesentlichen Fortschritt, der in dieser neuen Methodologie erzielt wurde, daß nämlich „der unfruchtbare Gegensatz von Form und Inhalt" 1 6 9 hier in der Einheit-Struktur dialektisch aufgehoben wurde. 170 Diese Einheit bezieht sich in den semiotischen und linguistischen (vor allem in den generativen) Konzeptionen nicht auf den formalen Aspekt, sondern stellt sich als ein wohl organisiertes Ganzes von „inhaltlichen" und „formalen" Bestimmungen dar, wobei diese Bestimmungen eindeutig als syntaktische, semantische, pragmatische usw. festgelegt sind und die Erhellung ihrer Wechselbeziehung eines der grundlegenden Ziele dieser Untersuchungen ist. Gleich der Struktur wird auch der damit eng verknüpfte Begriff der Invarianz in seiner methodologischen Bedeutung oft verkannt und als Beweis für die unhistorische Betrachtungsweise angesehen. Es ist jedoch die Voraussetzung für die Feststellung jeglicher Gesetzmäßigkeit oder Regel, daß es in dem untersuchten Forschungsbereich invariante Elemente gibt, und die Ermittlung von objektiven Zusammenhängen ist doch das Ziel jeder wissenschaftlichen Tätigkeit. Sicherlich wurde durch die Vorrangstellung des Systemaspektes, durch die Suche nach V g l . z. B. IHWE ( 1 9 7 2 ) . > = Zeichen der logischen Implikation; (x) vor den Klammern das Vorhandensein eines Alloperators ausdrückt, der alle Argumente x in den Klammern bindet, und ' über dem Zeichen der Implikation die Tatsache ausdrückt, daß es sich hier um eine konnektive Implikation handelt, d. h. der Wahrheitswert der mit Hilfe dieser Operation gebildeten Aussage durch eine Beobachtung der Wahrheitswerte der Konstituentensätze allein nicht verifiziert, nur falsifiziert werden kann. 108

Der durch das Schema ausgedrückte Sachverhalt könnte folgendermaßen in die natürliche Sprache übersetzt werden: (8)"'

Für ein beliebiges Ding x gilt: wenn dieses Ding Wasser und still ist, dann ist dieses Ding tief.

Die Zurückfuhrung der sprichwörtlichen Formeln auf diese abstrakte logische Ebene hat gegenüber der vorhin angegebenen linguistisch-syntaktischen Explikation den Vorteil, daß einmal die für das Sprichwort charakteristische Allgemeinheit der Aussage von der Partikularität anderer Aussagen klar unterschieden und zum anderen eine Vielzahl der linguistischen Tiefenstrukturen auf eine kleinere Zahl von noch abstrakteren logischen Strukturen zurückgeführt werden kann. So wird z. B. der Satz (9) auf Grund seiner logischen Struktur klar von (8) abgegrenzt: (9)'

(3x)f(x)-g(x)-h(x) wobei/ = Vater; g = arm; h = krank; (3x) = Zeichen des Existentialoperators, der die in dem Schema vorkommenden Variablen x bindet. Die Übersetzung der Formel lautet:

(9)"

Es existiert ein x, das Vater, arm und krank ist.

Auf der anderen Seite läßt eine Formel wie (8)" im Prinzip nicht nur die von der syntaktischen Tiefenstruktur (8)' ermöglichten Ableitungen zu - so etwa (10)

a) Die stillen Wasser sind tief b) Die Wasser, die still sind, sind tief c) Tief sind die stillen Wasser

- , sondern auch solche, die eine von (8)' abweichende syntaktische Tiefenstruktur voraussetzen, wie z. B. (11)

a) Wenn die Wasser still sind, sind sie (auch) tief b) Was ein stilles Wasser ist, ist tief.

Auf diese Weise zeigt die logische Analyse zugleich Zusammenhänge, die durch die übliche Explikation in der generativen Transformationsgrammatik verschleiert ios Vgl. Reichenbach (1947) S. 28 ff.

101

blieben. Deshalb werden wir so vorgehen, daß wir vor der eigentlichen linguistischen Analyse die Sprichwörter einer logischen Untersuchung unterziehen. 109 Diese logische Untersuchung soll aber nur einen heuristischen Wert haben, indem ihre Ergebnisse in den linguistischen Apparat organisch eingebaut werden sollen. Der letztere Umstand muß besonders betont werden, weil die logische Analyse in ihrer hier zu verwendenden Form sicherlich nicht sprachadäquat ist. Die logische Analyse hat hier die Funktion, bestimmte Zusammenhänge explizit zu formulieren, die dann durch entsprechende Erweiterungen des Apparats der generativen Transformationsgrammatik linguistisch erfaßt werden sollen. Die sich auf die Logik stützende Korrektur der Transformationsgrammatik geht keinesfalls so weit wie das radikale Programm der logischen Grammatik, letzteres ist ja mit der Aufgabe der in der Transformationsgrammatik verwendeten Analyseverfahren verbunden, auf die wir jedoch in der Explikation sprachlich-poetologischer Zusammenhänge nicht verzichten möchten. Unser 109

Unsere Arbeitshypothese weicht also von der Konzeption B I E R W I S C H S über die Beziehung zwischen linguistischer Tiefenstruktur und logischer Struktur ab. Es heißt bei B I E R W I S C H : „Jeder, der einen gegebenen Logikkalkül beherrscht, kann sofort angeben, ob und wie ein Satz seiner Muttersprache in diesem Kalkül ausgedrückt werden kann. Mit Hilfe des sogenannten Prädikatenkalküls kann zum Beispiel der Satz Hunde, die bellen, beißen nicht - über die Stufen (ii) und (iii) - in die Formel (iv) übertragen werden: (i) Hunde, die bellen, beißen nicht (ii) Für alle Hunde gilt: wenn sie bellen, beißen sie nicht (iii) Für alle Objekte x gilt: wenn x ein Hund ist, gilt: wenn x bellt, so beißt x nicht (iv) Vx Axr>(Bx=> ~ C x ) wobei die einstelligen Prädikate A, B, C für Hundsein, Bellen und Beißen stehen, ~ für Negation, 3 für die Implikation, V für die Angabe Alle. Jeder Logiker kann solche Übertragungen ganz generell vornehmen, und Carnap hat gezeigt, daß auf diese Weise Doppeldeutigkeiten, Unkorrektheiten, Sinnlosigkeiten der natürlichen Sprache in bezug auf einen gegebenen Kalkül aufgedeckt werden können. Wäre die natürliche Sprache wirklich alogisch, oder wären die Kalküle unabhängig von ihr, dann bliebe diese Tatsache unerklärlich. Denn die Formeln eines Kalküls werden zwar nach strengen Regeln gebildet, es werden aber keine Regeln angegeben, die sie mit der Alltagssprache verbinden. Die Beziehung zwischen beiden muß also auf der immanenten Struktur der natürlichen Sprachen beruhen. Diese Tatsache bleibt so lange verschleiert, wie man nur die Oberflächenstruktur betrachtet, die unterm Gesichtspunkt der Logik weitgehend irregulär und zufällig erscheint. Die systematische Aufdeckung der Tiefenstruktur hat aber die logische Struktur natürlicher Sätze greifbar gemacht und gezeigt, daß sie in ganz regulärer Beziehung zu entsprechenden logischen Ausdrücken stehen. Das legt folgende Konzeption für die Beziehung zwischen natürlichen Sprachen und logischen Kalkülen nahe: Die Tiefenstruktur eines Satzes, durch die seine Bedeutung - oder seine Bedeutungen - vollständig determiniert ist, erhält durch die Transformationsregeln und die phonologische Komponente der Grammatik eine konkrete Lautgestalt. Der gleichen Tiefenstruktur kann aber durch eine andere Serie .sekundärer Transformationen' ein Ausdruck in einem speziellen Kalkül zugeordnet werden, falls dem Satz überhaupt eine Formel des Kalküls entspricht. Der Tiefenstruktur des Satzes (i) entspricht nach solchen Regeln zum Beispiel die Formel (iv) des Prädikatenkalküls. Die Tiefenstruktur natürlicher Sprachen erscheint nun als allgemeinster Logikkalkül, aus dem alle künstlichen Sprachen nach Maßgabe spezieller Zwecke abgeleitet werden." B I E R W I S C H (1966a) S. 80-81. Im Unterschied zu B I E R W I S C H nehmen wir an, daß die logische Struktur - zumindest bei der jetzigen Forschungslage - die abstrakteste Formel des Satzes darstellt, die durch .sekundäre Transformationen' von der grammatischen Tiefenstruktur nicht abgeleitet werden kann, sondern ganz im Gegenteil die Grundlage dieser grammatischen Tiefenstruktur bildet.

102

Festhalten an der generativen Transformationsgrammatik schränkt die Untersuchung im wesentlichen auf syntaktische bzw. morphophonemische Zusammenhänge ein, wir werden zwar bestrebt sein, einige grundlegende semantische und pragmatische Bezüge zu berücksichtigen bzw. herauszuarbeiten, aber eine detaillierte Behandlung des Sprichwörtermaterials im Hinblick auf diese Bezüge scheint gegenwärtig mangels entsprechender theoretischer Vorarbeiten illusorisch zu sein. Auf diese Weise ist das eingangs erwähnte größte Problem prinzipiell gelöst: Eine prädikatenlogische Untersuchung, die der logischsemiotischen in dem System von P E R M J A K O V entspricht, wird als organischer Bestandteil der linguistischen Analyse verstanden und mit dem methodologischen Apparat der generativen Grammatik in Verbindung gesetzt. Was die weiteren Aspekte anbelangt, ist die Explikation der Oberflächenstruktur ab ovo eine Aufgabe, die zu lösen die generative Grammatik berufen ist, und im vorausgehenden Kapitel haben wir auch gesehen, daß die gleichen Prinzipien auch in der Behandlung von poetisch-literarischen Texten mit Erfolg verwendet werden können. Diese Prinzipien scheinen also nach entsprechender Erweiterung eine einheitliche Grundlage für die Bearbeitung der Sprichwortstruktur zu bieten. Für unsere Analyse ergibt sich demnach die folgende Gliederung: 1. Wir wollen uns zunächst mit der Problematik der Tiefenstruktur der Sprichwörter beschäftigen. Den Ausgangspunkt soll die Untersuchung von logischen Formeln bilden, die auf Grund der logischen Analyse für die Sprichwörter charakteristisch sind. Die sich dort ergebenden Erkenntnisse sollen in die linguistische Explikation überführt werden, wobei bestimmte allgemeine, für das Sprichwort als Gattung bzw. als Einfache Form gültige Regeln ermittelt werden sollen. Das Sprichwort wird hier als ein beliebiger Text behandelt, d. h., auf seine eventuelle spezifisch poetische Strukturierung wird keine Rücksicht genommen; es erscheint hier noch nicht als realer, sondern nur als potentialer Text, untersucht werden nur die allgemeinen Bedingungen, unter denen eine Textsequenz als Sprichwort betrachtet werden kann. Eine große Bedeutung kommt demnach der Untersuchung der Frage zu, welche Beziehungen - gemeint sind vor allem syntaktische, sonst grammatikalische Beziehungen - in den Sprichwörtern faktisch unerlaubt sind: diese Verbote bzw. Begrenzungen spezifizieren grammatischsyntaktisch die zunächst festgestellten logischen Strukturen. 2. Das Sprichwort soll weiterhin in seiner konkreten sprachlichen Verwirklichung, d. h. in bezug auf seine Oberflächenstruktur untersucht werden. Es interessieren uns dabei wiederum einige für die Gattung spezifische Regeln, d. h. einige „Abweichungen" von der sprachlichen Norm, die in einer verhältnismäßig großen Zahl von Sprichwörtern nachzuweisen sind und die einen Erzeugungsmechanismus voraussetzen, der von dem der generativen Grammatik in mancher Hinsicht abweicht. Es soll versucht werden, diese Abweichungen von einer grammatikalischen Oberflächenstruktur transformationeil abzuleiten. Anders ausgedrückt, es wird hier angenommen, daß die Oberflächenstruktur der Sprichwörter außer den üblichen grammatischen Transformationsregeln durch eine Reihe von paragrammatischen - sog. rhetorischen - Regeln bestimmt werden kann. Die rhetorischen Regeln sind für die Gattung charakteristisch, indem sie 103

eventuell mit anderen, von der Grammatik der Normalsprache abweichenden Regelsystemen (Dialekt, Idiolekt usw.) die stilistische Eigenart der sprachlichen Formulierung der Gattung bestimmen. 3. Der spezifisch poetische Aspekt des Sprichworts wird weder in der vorgeschlagenen allgemeinen Beschreibung der Tiefenstruktur noch in der Darlegung der rhetorischen Oberflächenstruktur voll erfaßt bzw. erklärt. Eine poetische Strukturierung der Texte, die sich beim Sprichwort im Rhythmus, in der Verwendung von Reimen, in parallelen Konstruktionen, semantischen Oppositionen usw. äußert, ist in der Oberflächenstruktur nachweisbar, aber sie kann nicht durch Transformationsregeln von der Tiefenstruktur abgeleitet werden, besser gesagt, stößt ein solches Unternehmen auf beinahe unüberwindliche Schwierigkeiten. Es erscheint viel zweckmäßiger, die poetischen Strukturen durch die Wirkung spezifischer Filtermechanismen zu erklären, die in die Tiefenstruktur eingebaut werden und die Auswahl bestimmter Lexikoneinheiten und/oder die lineare Ordnung der Oberflächenstruktur garantieren. Wir nehmen also an, daß die poetische Strukturierung durch die Einführung eines spezifischen poetischen Kodes ermöglicht wird; dieser Kode baut sich unmittelbar auf dem normalsprachlichen Kode auf, er setzt diesen nicht außer Kraft, sondern strukturiert nur die vom Apparat der Grammatik hergestellten Ketten weiter, indem er Bedingungen aufstellt, denen nur ganz bestimmte Ketten genügen können. Die Aufnahme eines poetischen Kodes stellt somit eine spezifische Erweiterung des Systems der Grammatik dar, die nur für Texte ganz bestimmter Art - eben für poetische Texte charakteristisch ist. Was den Standort anbelangt, den der poetische Kode im erweiterten Gesamtsystem einnimmt, ist er zweifellos vor den Transformationsregeln anzusetzen, so daß die Darstellung dieser Problematik der Beschreibung der Oberflächenstruktur vorausgehen sollte. Der Grund dafür, daß wir die hier angegebene Reihenfolge bevorzugen, ist darin zu suchen, daß die Explikation der rhetorischen Zusammenhänge das Verständnis bzw. die Formulierung der poetischen Regeln in macher Hinsicht erleichtert und auf diese Weise auch die innere Beziehung bewahrt bleibt, die hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Regeln zwischen Grammatik, Rhetorik und Poetik besteht.

2.2.3.

Zur Frage des zu untersuchenden

Materials

Es herrscht keine Einigkeit darüber, welche Texte als Sprichwörter angesehen werden sollen; wie A. M. C I R E S E neuerdings in einem Aufsatz nachgewiesen hat, gibt es erhebliche Unterschiede nicht nur zwischen den verschiedenen Definitionen des Sprichworts, sondern auch zwischen den Kriterien, nach denen die Sprichwörtersammlungen redigiert werden. 110 Wir können deshalb die Frage nach dem zu untersuchenden Material nicht einfach mit dem Hinweis abtun, unser Forschungsgegenstand, d. h. das Sprichwort, werde als die Menge der Texte definiert, die in Sprichwortsammlungen enthalten sind; es ist durchaus möglich, daß diese Sammlungen außer Sprichwörtern auch andere Einfache Formen u. dgl. mit 110

V g l . CIRESE ( 1 9 7 2 ) S. 1 ff.

104

anführen, so daß es uns als notwendig erscheint, einige formale Kriterien für die Auswahl des uns näher interessierenden Materials auf Grund der Ergebnisse der parömiologischen Forschung und texttheoretischer Überlegungen vor der eigentlichen Analyse dieser Einfachen Form aufzustellen. In Anlehnung an die Arbeit von 11 PERMJAKOV 1 wollen wir festsetzen, daß die Sprichwörter einen abgeschlossenen Text darstellen. Die Abgeschlossenheit soll hier mehr bedeuten als bloße rechtsbzw. linksseitige Begrenzung, von der ISENBERG spricht 112 und deren Verletzung durch die folgenden Beispiele veranschaulicht werden kann: (12)

a) Peter sah Hans in b) Folglich ist Peter ein Lügner.

Die linguistischen Überlegungen sollen auch hier durch logische ergänzt werden. So kann die vielfach hervorgehobene Unabgeschlossenheit der Redewendungen 113 gegenüber den Sprichwörtern auf die Tatsache zurückgeführt werden, daß den Redewendungen eine logische Struktur zugrunde liegt, in der mindestens eine freie Variable als Argument vorkommt. So geht die Redewendung (13)

(Er) hat das Pulver nicht erfunden

rein syntaktisch, d. h. wenn man die Metaphorisierung nicht berücksichtigt, auf die folgende Formel zurück: (13)'

&y)7(x,y)-g(y)

wobei / = erfinden; g = Pulver. Die Metaphorisierung ändert übrigens nicht am unabgeschlossenen Charakter der Redewendung. Faßt man nämlich den Ausdruck „das Pulver erfinden" als ein einziges durch die Metaphorisierung hervorgebrachtes Prädikat - etwa im Sinne von „klug"- auf, so lautet die Formel (13)"

fix)

wobei / = das oben angegebene komplexe Prädikat.

In dieser Formel ist x nicht näher bestimmt; wird das Klischee in einem Text verwendet, so muß diese Unbestimmtheit aufgehoben werden, was entweder so erfolgen kann, daß für x ein individuelles Argument Xj gewählt wird, z. B. (13)"'

Herr Schmidt hat das Pulver nicht erfunden

oder aber so, daß das Argument durch den außersprachlichen Kontext, deiktisch oder - in der semiotischen Terminologie ausgedrückt - pragmatisch bestimmt wird: (13)""

Er ( = der, von dem die Rede ist) hat das Pulver nicht erfunden.

Die Abgeschlossenheit des Sprichworts bedeutet u. a., daß man, um ein Sprichwort zu verwenden, keiner solchen zusätzlichen Operationen bedarf. Die Aktualisierung eines Sprichworts bedingt zwar semantisch immer eine Spezifikation und ein In" 1 V g l . PERMJAKOV ( 1 9 7 0 ) S. 9 ff. H 2 V g l . ISENBERG ( 1 9 7 0 ) S . 8. i n V g l . SCHIRMER ( 1 9 3 4 ) S. 9 f f . , SEILER ( 1 9 2 2 ) S. 11 f f . , TAYLOR ( 1 9 3 1 ) S.

184.

105

Beziehung-Setzen des allgemeinen Bedeutungsinhalts zu einem konkreten Vorfall bzw. einer Situation, aber es handelt sich hier immer um die Konfrontierung einer fertigen sprachlich-logischen Struktur mit dem außersprachlichen Kontext, nicht um die Ergänzung eines Prädikats durch ein entsprechendes Argument. Auf diese Weise können wir als erste Mindestforderung festsetzen, daß ein Sprichwort ein abgeschlossener Text sein soll, d. h. ein Text, der rechts- und linksseitig begrenzt ist und in seiner logischen Tiefenstruktur keine freie Variable als Argument aufweist. Diese Forderung grenzt das Sprichwort von der Redewendung ab, von einer anderen Art von „Klischee", das literarisch nicht weniger interessant ist als das Sprichwort, aber von dessen Behandlung wir hier absehen müssen. Ein zweites allgemeines texttheoretisches Kriterium des Sprichworts soll darin bestehen, daß das Sprichwort nur einen einzigen außersprachlichen Sender voraussetzen kann. Diese Bestimmung sagt zunächst soviel aus, daß das Sprichwort nicht dialogisch artikuliert wird, es ist seinem Wesen nach monologisch. 114 Auf diese Weise können wir die Sprichwörter von den Rätseln, aber auch von formelhaften witzigen Antworten abgrenzen, die man auf einige stereotype Fragen gibt (14)

a) Was? Altes Faß, wenn's regnet, wird's naß b) Was fehlt ihm? Die Gesundheit.

Auf der anderen Seite soll diese Bestimmung das Sprichwort von dem Sagwort eindeutig unterscheiden, im letzteren wird nämlich der Sender sprachlich bestimmt, wenngleich der ganze Text selbstverständlich auch hier einen außersprachlichen Sender voraussetzt, der meistens mit dem sprachlich formulierten nicht übereinstimmt. Die sprachliche Bezeichnung des Senders erfolgt auf die Weise, daß sein Name als Argument mit einem Prädikat „sagen", „denken", „meinen" usw. in Verbindung gesetzt wird; dadurch wird der vorausgehende Textteil zum Zitat. Einige Beispiele: (15)

a) „Sterben ist mein Gewinn", sagte der Totengräber b) „Man muß einen alten Pelz nehmen, daß man einen neuen damit kaufen kann", sagte die junge Magd und heiratete einen alten Mann c) „Ich züchtige meine Frau nur mit frommen Worten", sagte der Ehemann und warf die Bibel nach ihr.

Wenn man auch die in Anführungszeichen stehenden Sequenzen für Sprichwörter erklären könnte, so stellen diese Texte in ihrer Gänze keine Sprichwörter dar, sondern sie sind als eine besondere Klasse von Texten - eben als Sagwörter aufzufassen, die übrigens - wie T A Y L O R nachweist - nicht so allgemein verbreitet sind wie das Sprichwort. 115 Der entscheidende Unterschied zwischen Sagwort und Sprichwort wird durch das oben angegebene zweite Kriterium erfaßt, die beiden Strukturen können auf Grund ihrer Formulierung rein formal voneinander H4 Es ist eine andere Frage, daß es prinzipiell nicht ausgeschlossen ist, Sprichwörter - wie die meisten Monologe überhaupt - in Dialoge zu verwandeln; vgl. MUKAROVSKY (1948) S. 108-109 und HARWEG (1971). " 5 Vgl. TAYLOR (1931) S. 200 ff.

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abgegrenzt werden. Weitere Kriterien wollen wir vor der eigentlichen Analyse nicht aufnehmen, wenngleich die Parömiologie noch eine Reihe Bestimmungen - u. a. die Metaphorisierung, 116 thematische Momente, Verbreitung unter dem Volk 117 - zur Definition des Sprichworts verwendet; es handelt sich aber um Bestimmungen, die sich gegenwärtig kaum formalisieren lassen und deren Nachweis folglich nicht immer eindeutig erbracht werden kann. Das bedeutet soviel, daß wir das Sprichwort nicht von vornherein gegenüber Sentenzen, geflügelten Worten, Bauernregeln, Rechtssprichwörtern, historischen Sprichwörtern usw. abgrenzen wollen; Unterscheidungen innerhalb der durch die zwei allgemeinen Kriterien bestimmten Klasse von Texten sollen im Laufe der Untersuchung vorgenommen werden. Die Untersuchung soll an deutschen Sprichwörtern ausgeführt werden. Da wir uns in der Analyse auf die Methodologie der generativen Grammatik stützen wollen und ein ihr entsprechendes Regelsystem nur für die deutsche Gegenwartssprache ausgearbeitet wurde, so erscheint es zweckmäßig, die Untersuchung auf Sprichwörter zu beschränken, für deren sprachliche Explikation dieses Regelsystem zuständig ist, d. h. auf Sprichwörter, die im Kreise von deutschen Sprechern auch heute verwendet bzw. verstanden werden können. Die Ausarbeitung von diesem allgemeinen Regelsystem in einigen Beziehungen abweichender grammatischer Systeme, die z. B. das Funktionieren von Dialekten erklären könnten, ist nicht unsere Aufgabe, so werden Probleme, die damit zusammenhängen, nur allgemein besprochen, Sprichwörter mit starkem dialektalen Einfluß werden auf die Spezifik ihrer mundartlichen Formulierung hin eingehender nicht untersucht. Das eigentliche Material unserer Arbeit wurde nach den erwähnten Gesichtspunkten aus einer Vielzahl von Sprichwörtersammlungen 118 zusammengesucht, wobei die Mehrzahl der Beispiele der Sprichwörterkunde von 119 S E I L E R und der letzten Sprichwörtersammlung entnommen wurde; auf diese Weise läßt sich einerseits der Fortschritt, der durch die Einführung der neuen Methoden in der Beschreibung erreicht wurde, gut demonstrieren, und andererseits wird der Gegenwartsbezug der Sprichwörter mehr oder weniger sichergestellt. Neben deutschen Sprichwörtern wurden gelegentlich — besonders im Zusammenhang mit der (logischen) Tiefenstruktur der Sprichwörter - Vergleiche mit Sprichwörtern anderer Sprachen angestellt mit der Zielsetzung, daß bestimmte theoretische und methodologische Ergebnisse unserer Untersuchung in der Analyse von Sprichwörtern anderer Sprachen verwendet werden bzw. eine allgemeine Gültigkeit haben können. Es soll nochmals mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß das Sprichwort hier als Einfache (literarische) Form untersucht wird, die Zielsetzung unserer Arbeit besteht in letzter Konsequenz darin, bestimmte allgemeine methodologische Prinzipien für die Beschreibung und die Explikation literarischer Texte zu formulieren, wobei hier nur von einer Art Vorarbeit die Rede sein kann, die entsprechend ergänzt und weitergeführt werden muß, wenn man sich von komplexeren literarischen Gebilden ein adäquates Bild verschaffen will. » « V g l . G R E I M A S ( 1 9 6 0 ) S . 3 1 0 , PERMJAKOV ( 1 9 6 8 ) S . 11 f f . u n d ( 1 9 7 0 ) S . 11 f f . I N V g l . SEILER ( 1 9 2 2 ) S . 1 f f . , T A Y L O R ( 1 9 3 1 ) S . 3 ff., C I R E S E ( 1 9 7 2 ) S . 2 f f .

" 8 WANDER ( 1 8 6 7 a ) , LIPPERHEIDE ( 1 9 0 7 ) , PLAUT ( 1 8 9 7 ) , HALDY ( 1 9 2 3 ) , SMITH ( 1 9 3 5 ) , MALOUX ( 1 9 6 0 ) ,

DALITZ ( 1 9 6 5 ) , KRAUSS ( 1 9 4 6 ) , O . NAGY ( 1 9 6 6 ) , PERMJAKOV ( 1 9 6 8 ) u n d ( 1 9 7 0 ) , HULSTAERT ( 1 9 5 8 ) . II« MÜLLER-HAGEMANN-OTTO ( 1 9 6 5 ) .

107

3.

DIE T I E F E N S T R U K T U R U N D EINIGE ALLGEMEINE G R A M M A T I S C H E BESTIMMUNGEN DER SPRICHWÖRTER

Die Einfache Form Sprichwort ist nicht an eine bestimmte Sprache oder an eine bestimmte Zeit oder Kultur gebunden: von einer primitiven kulturellen Stufe an kann man sie praktisch überall, in den verschiedensten Sprachen und Kulturen vorfinden. Wenn es auch gewisse Unterschiede unter den in verschiedenen Zeiten entstandenen, in verschiedenen Sprachen formulierten Sprichwörtern gibt, so ist es für uns viel wichtiger, daß diese Texte doch eine gewisse Gemeinsamkeit, eine bestimmte Invarianz aufweisen, auf Grund deren wir sie als zu einer bestimmten Klasse - zu der der Sprichwörter - gehörend auffassen. Eine grundlegende Aufgabe der Parömiologie besteht gerade darin, diese intuitiv empfundene Invarianz wissenschaftlich zu begründen, die Lösung dieser Aufgabe stand in der Tat immer im Mittelpunkt der parömiologischen Theorien. Trotz der vielfachen Entlehnungen kann diese Invarianz generell nicht genetisch erklärt werden. Wie PERMJAKOV überzeugend nachgewiesen hat, gibt es völlig parallel gebaute, inhaltlich gleiche Sprichwörter auch in solchen Sprachen, die miteinander in keinerlei Berührung standen. 1 Die Invarianz soll demnach in der spezifischen Konstruktion und in der Funktion dieser Einfachen Form selbst gesucht werden. Wir werden die allgemeinen Bestimmungen dieser Einfachen Form gemäß unseren methodologischen Vorbemerkungen in der (logischen) Tiefenstruktur bzw. in einigen texttheoretischen Bedingungen des Sprichworts zu ermitteln versuchen. Nehmen wir nämlich an, daß die Tiefenstruktur zumindest in ihren tiefsten Schichten nicht nur für die gegebene Einzelsprache charakteristisch ist, sondern mit dem entsprechenden Teil aller anderen Sprachen übereinstimmt, d. h. universaler Natur ist, dann löst sich der scheinbare Widerspruch zwischen dem übereinzelsprachlichen Charakter des Sprichworts und dem vorgeschlagenen, an eine bestimmte Einzelsprache gebundenen methodologischen Vorgehen: Der übereinzelsprachliche Charakter der Tiefenstruktur der Sprache soll neben anderen Faktoren der Grund für den besagten Aspekt des Sprichworts sein. Die Problematik der sprachlichen Universalien ist sehr umstritten, und heute kann man noch nicht mit Entschiedenheit sagen, welche Teile der Sprachstruktur als universal gelten können. Wir können keinen Nachweis dafür bringen, daß die mathematische Logik, mit deren Terminologie im folgenden die logische Tiefenstruktur der (deutschen) Sprichwörter beschrieben werden soll, tatsächlich geeignet ist, die Tiefenstruktur aller natürlichen Sprachen zu erklären; ihre Zuständigkeit kann heute wohl mit Sicherheit nur auf die indoeuropäischen Sprachen ausgedehnt werden. Trotz der theoretischen Ungeklärtheit mancher Aspekte der Tiefenstruktur in den natürlichen Sprachen schien uns die Berücksichtigung der logischen > Vgl.

108

PERMJAKOV

(1968) S. 31 ff., (1970) S. 19 ff.

Konstruktion unerläßlich: Die Logik hat ihren heuristischen Wert schon in den bisherigen parömiologischen Untersuchungen gezeigt, jetzt heißt es, sie systematisch auszunutzen und mit dem linguistischen System in Beziehung zu setzen. Dies wird uns ab und zu zwingen, ein linguistisches Neuland zu betreten, wobei wir selbstverständlich keinen Anspruch darauf erheben können, alle sich so ergebenden Fragen theoretisch zu lösen. Wie schon in den methodologischen Vorbemerkungen skizziert wurde, besteht unsere Hypothese hinsichtlich der Tiefenstruktur der natürlichen Sprachen darin, daß die grundlegende Schicht der Tiefenstruktur durch prädikatenlogische Strukturen gebildet wird, die eigentliche syntaktische Tiefenstruktur beruht demnach auf einer abstrakteren logischen Grundlage. Im folgenden Kapitel wollen wir zunächst diese Schicht beschreiben und dann die Verbindung dieser Strukturen zu Konstituenten der linguistischen Tiefenstruktur herstellen. Neben diesen Fragen der Tiefenstruktur sollen in diesem Kapitel weiterhin einige allgemeine texttheoretische Bestimmungen des Sprichworts untersucht werden. Auf diese Weise wollen wir uns ein Bild von den allgemeinen Möglichkeiten dieser Einfachen Form verschaffen; dieses Bild soll dann in den weiteren Kapiteln an Hand der Analyse der sprachlich-poetischen Realisationsregeln des deutschen Sprichworts weiter spezifiziert werden.

3.1.

Die logische Grundstniktur der Sprichwörter

Unter 2.2.2. haben wir gesehen, welche theoretischen und praktischen Überlegungen uns dazu zwingen, in der Behandlung der Sprichwörter das Standardmodell C H O M S K Y S im Hinblick auf logische Grundstrukturen zu erweitern. Wir haben dort erwähnt, daß unser Versuch von den ähnlichen Bemühungen der generativen Semantiker und der Vertreter der logischen Grammatik abweicht und eher durch die spezifische Forschungslage in der parömiologischen Forschung motiviert ist. Wir müssen nun den genauen Standort der logischen Strukturen in dem im folgenden anzuwendenden Modell genau präzisieren. Wir haben oben wiederholt der Meinung Ausdruck gegeben, daß logische Strukturen einer Reihe von syntaktischen Tiefenstrukturen, die im ChomskyModell generiert werden, zugrunde liegen, d. h. eine abstraktere, „tiefer" liegende Schicht in der Ableitung darstellen. Dies ist jedoch nicht in dem Sinne zu verstehen, daß wir die Ketten der natürlichen Sprache - so wie es in der generativen Semantik und in der logischen Grammatik der Fall ist - in mehreren Schritten letzten Endes aus logischen Grundstrukturen ableiten wollen. Für dieses - übrigens, wie die logische Grammatik zeigt, durchaus legitime - Vorgehen ist die hier angewendete logische Sprache nicht spezifisch genug, d. h., sie läßt die Bildung auch solcher Strukturen zu, die keine Entsprechung in der natürlichen Sprache haben. Anstatt daß wir diese logische Sprache soweit spezifizierten, daß sie die Funktion der Tiefenstruktur für die natürliche Sprache ausüben kann, 2 soll die logische Sprache 2

Diesen Weg haben die Vertreter der logischen Grammatik beschritten. Wir haben auch versucht, eine ähnliche Spezifikation vorzunehmen, vgl. KANYÖ (1977) sowie die dort erwähnten unveröffentlichten Versuche. Von der Behandlung dieser Problematik müssen wir aber in dem gegebenen Rahmen absehen.

109

in ihrer Allgemeinheit belassen und ihre sprachliche Relevanz im Hinblick auf den üblichen Ableitungsmechanismus der generativen Grammatik festgelegt werden. Hier werden also die Sätze der natürlichen Sprache bzw. die Sprichwörter durch die Regeln der generativen Grammatik generiert, die logischen Grundstrukturen stellen keinen selbständigen Ausgangspunkt in der Ableitung, sondern vielmehr abstrakte Merkmale von syntaktischen Tiefenstrukturen dar. Anders formuliert, bildet nur eine Teilklasse der in der logischen Sprache formulierbaren Ausdrücke eine logische Grundstruktur für normalsprachliche Ketten, und zwar die Klasse der Ausdrücke, die auf Grund der Übersetzungsregeln in eine syntaktische Tiefenstruktur überführt werden können. Man kann sagen, daß der CHOMSKYSche Regelmechanismus samt den Übersetzungsregeln die Gewähr für die Ableitbarkeit bietet bzw. die verschiedenen logischen Formeln linguistisch interpretiert und nur die Einbeziehung linguistisch interpretierbarer Formeln zuläßt. Auf diese Weise sind die in der logischen Sprache des Prädikatenkalküls angegebenen Ausdrücke nur bedingt als logische Grund- oder Tiefenstrukturen von normalsprachlichen Ketten anzusehen, genauer gesagt, sie sind es unter der Bedingung, daß sie linguistisch interpretierbar sind. Es muß betont werden, daß nur der syntaktische bzw. morphophonemische Teil des Standardmodells übernommen wird, auf die interpretative semantische Komponente wird verzichtet. Statt dessen wird versucht, semantische Probleme mit der - linguistisch interpretierbaren - logischen Grundstruktur in Verbindung zu setzen. Eine umfassende Behandlung semantischer Probleme kann allerdings auf dieser Grundlage nicht angeboten werden, auf ähnliche Weise werden pragmatische Probleme nur partiell berücksichtigt. Diese durch den angewendeten methodologischen Apparat bedingten Mängel machen auf die Grenzen unserer Analyse aufmerksam, unter den gegebenen Umständen erscheint die Zielsetzung, eine in jeder Hinsicht vollständige und ausgewogene systematische Erklärung von sprachlich-poetischen Strukturen zu geben, als illusorisch. Eine Einführung in die mathematische Logik und in die Praxis der Transkription normalsprachlicher Texte in die logische Sprache kann hier nicht gegeben werden, es wird auf die einschlägige Fachliteratur hingewiesen. 3 Die folgende Darstellung der logischen Grundstrukturen, die für Sprichwörter in Betracht kommen, ist stark deduktiv und mag deshalb manchen Lesern als willkürlich erscheinen, sie beruht aber auf empirischen Untersuchungen und wird als ihre Verallgemeinerung präsentiert.

3.1.1.

Logische

Sprichwortformeln

Im folgenden wollen wir allgemeine Regeln, die für die logischen Grund- oder Tiefenstrukturen der Sprichwörter charakteristisch sind, in gedrängter Form aufzählen. Wir fuhren zunächst einige terminologische Bestimmungen ein. Wir nennen eine logische Formel, die eine logische Grundstruktur eines oder mehrerer Sprichwörter im oben ausgeführten Sinne ist, eine Sprichwortformel. Eine 3

Vgl.

110

REICHENBACH

(1974),

QUINE

(1950),

TARSKI

(1936) usw.

Sprichwortformel ist keineswegs für Sprichwörter allein charakteristisch, eine Reihe von sprachlichen Formulierungen, die nicht Sprichwörter sind - so z. B. wissenschaftliche Gesetze, Werbeslogans 4 usw. - können auf die gleiche logische Formel zurückgeführt werden. Die logische Grundstruktur kann also nur als notwendige, aber keineswegs als ausreichende Bedingung für die Charakterisierung der Einfachen Form Sprichwort in Anspruch genommen werden. Zweitens soll eine bestimmte Präzisierung der REicHENBACHSchen Notation vorgeschlagen werden. R E I C H E N B A C H 5 unterscheidet neben den üblichen Argumenten zwei spezifische Klassen der Argumente, namentlich Zeit- und Raumargumente. Wie in K A N Y Ó (1976) nachgewiesen wurde, können normale (Objekt-) Argumente und Raumargumente im Hinblick auf ihre linguistische Abbildbarkeit als eine gemeinsame Klasse behandelt werden, während die Zeitargumente eine Klasse für sich darstellen. Die Abbildung der logischen Grundstrukturen auf die grammatische Tiefenstruktur erfordert u. a., daß im Anschluß an die übliche logische Notation jeweils der Zeitindex in Form eines quantifizierten Zeitarguments vermerkt wird. Wir müssen also die unter 2.2.2. eingeführte logische Analyse der Sprichwörter etwas ergänzen. Wir wollen deshalb auf die unter 2.2.3. behandelte Gegenüberstellung von Sprichwörtern und Redewendungen nochmals zurückgreifen und an Hand eines Beispiels einerseits die Notation erklären, andererseits bestimmte grundlegende Charakterzüge der Sprichwortformeln herausarbeiten. Die Redewendung (1)

(Er) überspannt den Bogen

ist mit dem folgenden Sprichwort verwandt: (2)

Wer den Bogen überspannt, sprengt ihn.

Auf Grund unserer Analyse unter 2.2.3. kann die logische Struktur von (1) wie folgt angegeben werden: (1)'

m n * , y ) - g ( y )

wobei / = überspannen;

g—Bogen.6

Wegen der freien Variablen x kann dieser Ausdruck nicht als abgeschlossener Text gelten: x muß referentiell bestimmt werden, damit aus dem Klischee ein Text wird. Wird das ausgeführt, so muß daraus bei weitem nicht folgen, daß der Text zugleich ein Sprichwort darstellt; die unter 2.2.3. erwähnten zwei Konkretisierungsmöglichkeiten der freien Variablen - die Einsetzung eines individuellen Arguments bzw. die referentielle Konkretisierung - ergeben noch keine Sprichwörter, wie dies auch den folgenden Beispielen zu entnehmen ist: * V g l . FLADER ( 1 9 7 2 ) S. 3 6 0 f f .

5 Vgl. REICHENBACH (1947) S. 259 ff. Nach ihm auch VAN D I J K (1972a) S. 86 ff. und (1973) S. 55 f. 6 Das Beispiel wird hier in wortwörtlichem, d. h. nicht in metaphorischem Sinne erläutert. Auch im weiteren werden wir die Beispiele so explizieren; wie unter 2.2.3. nachgewiesen wurde, beruht die Transkription der metaphorisch aufgefaßten Sätze methodologisch auf den gleichen Prinzipien, die Behandlung der Metaphorik würde aber die Darstellung wesentlich komplizieren, so daß wir hier davon absehen werden, vgl. unsere Erklärung unter 2.2.2.

111

(1)"

a) Peter überspannt den Bogen b) Er ( = der, von dem die Rede ist) überspannt den Bogen.

Gewiß stellt auch das Sprichwort (2) einen abgeschlossenen Text dar, aber das Objektargument ist hier nicht konkret, sondern allgemein bestimmt, es hängt hier von einem logischen Alloperator ab, d. h., der Satz gilt für beliebige Menschen, das gleiche läßt sich auch von dem Zeitargument sagen. Dies kann in der folgenden Formel ausgedrückt werden. (2)'

(*) ( 0 (3y) [f(x, y,t)-g{y,t)±>h (x, y, f)] wobei/, g = wie oben; h = sprengen; t=Zeitargument.

Im Gegensatz zu (1)' sind hier jedem Prädikat / , g, h neben Objektargumenten jeweils Zeitargumente t zugeordnet. Die Analyse in (1)' erscheint im Hinblick auf die Zeitbestimmung ergänzungsbedürftig, sie sollte korrekterweise lauten: (1)'"

mn*,y,t)-g(y,i).

Im Laufe der referentiellen Konkretisierung wird neben x auch t bestimmt bzw. durch einen Operator gebunden, der in den Beispielen (1)" a)-b) einerseits als ein Alloperator, andererseits als ein pragmatischer Operator (der eine Beziehung zu der Jetzt-Zeit ausdrückt) 7 festgelegt werden kann, in einem Beispiel wie (1)"

c) Peter überspannte den Bogen

hingegen wird t durch einen anderen (referentiellen) Operator gebunden. Auf die Behandlung der verschiedenen Operatoren wollen wir hier nicht eingehen, für das Sprichwort ist ja das Vorkommen eines bestimmten Operators, des Alloperators, charakteristisch, eine andere wesentliche Bestimmung scheint die Implikationsstruktur zu sein. Die in dieser kurzen Analyse ermittelten Charakterzüge halten wir für Sprichwortformeln schlechthin für verbindlich und wollen sie als Ausgangspunkt für die folgende axiomatische Behandlung der Sprichwortformeln wählen, die sowohl den systematischen Zusammenhang als auch die Varianz dieser Formeln entsprechend demonstrieren soll. Wir gehen dabei von der einfachsten Realisierungsmöglichkeit der Sprichwortformeln aus und geben schrittweise verschiedene Erweiterungsmöglichkeiten an. (A 1)

Eine materielle (konnektive) Implikation zwischen zwei Prädikaten der ersten Stufe, die im Skopus eines Alloperators für Objektargumente und eines Alloperators für Zeitargumente steht, ist eine Sprichwortformel, vorausgesetzt, daß alle Argumente durch All- bzw. Existentialoperatoren gebunden sind und die Formel linguistisch interpretierbar ist. 8

7 Vgl. K.ANYÖ (1977). 8

Die Zurückfiihrung von Strukturen der natürlichen Sprache auf die logische Formel der materialen Implikation ist in der Fachliteratur umstritten. CRESSWELL(1973)S. 137 spricht sich Z. B. gegen eine solche Auffassung aus, aber sein Lösungvorschlag berücksichtigt den tatsächlichen Zusammenhang zwischen logischer Implikation und „wenn . . . , dann . . . "-Struktur in der natürlichen Sprache nicht und kann folglich einzelne sprachliche Regularitäten, die weiter unten besprochen

112

Die einfachste Formel, die diesem Axiom (A 1) entspricht, ist die folgende: (3)

( x ) ( t ) \ f ( x , t ) ± g ( x , /)].

Ein Beispiel, das auf dieses Schema zurückgeht, ist (3)'

Wer neidet, leidet.

Die in der Formel vorkommenden Prädikate dürfen im Sinne von (A 1) auch mehrere Objektargumente haben, wenn diese durch einen All- oder einen Existentialoperator gebunden sind. Die Zahl der Argumente mit in der natürlichen Sprache verwendeten Prädikaten ist begrenzt, 9 aber selbst wenn wir nur mit drei Objektargumenten rechnen, erhalten wir eine ziemlich große Liste von möglichen Sprichwortformeln: (4)

a) ( * ) ( 3 > 0 ( 0 [ / ( * , . m ) = s ( * , . m ) ] b) C)

( * ) ( 0 B y ) f ( x , y, 0 = ( 3 z ) (X, z, t)] (x)(y)(t)[f(x,y,t)±g(x,y,t)]

d) W W I W / f c M ) e)

i(3z)g(x,z,i)]

(x)(t)[(3y)f(x,y,t)^(z)g(x,z,t)]

Ein Beispiel, das sowohl im Sinne von (4) a) als auch im Sinne von (4) b) interpretiert werden kann (4)

a/b)' Wer sucht, der findet. ">

Aus diesen einfachen Sprichwortformeln erhalten wir komplexere Formen, wenn wir im Vorder- bzw. im Hintersatz der Implikation zusammengesetzte Ausdrücke auftreten lassen, statt in einer einfachen Implikation Operationen zuzulassen, die die Implikation mit enthalten bzw. implizieren oder einfache Formeln miteinander verbinden. Diese Erweiterungsmöglichkeiten sollen in den folgenden Axiomen systematisch besprochen werden. Wir wenden uns zunächst der Bestimmung der Struktur des Vorder- und Hintersatzes zu. (A 2)

9

Formeln, die aus Sprichwortformeln unter der Bewahrung der formulierten Bedingungen dadurch entstehen, daß die einzelnen Prädikate im Vordersatz bzw. im Hintersatz der Implikation durch eine Konjunktion von einer endlichen Zahl von Prädikaten der ersten Stufe und eventuell von höheren Funktionen ersetzt werden, sind Sprichwort-

werden sollen, überhaupt nicht erklären. Wir sind der Meinung, daß im Sinne der Ausführung von REICHENBACH (1947) S. 28 ff. über die konnektive Implikation die hier vorgenommene logische Analyse von sprachlichen Strukturen durchaus vertretbar ist. Die logischen Argumente entsprechen den sprachlichen Kategorien „Valenz" bzw. „Kasus", vgl. HELBIG-SCHENKEL ( 1 9 6 9 ) , FILLMORE ( 1 9 6 8 ) , PETÖFI ( 1 9 7 3 ) , ( 1 9 7 6 ) , HEYDRICH ( 1 9 7 6 ) ,

BALLWEG

(1975). 10

Hier möchten wir bemerken, daß wir in unserer Analyse, die vor allem grundlegende Regularitäten erfassen soll, feine Unterschiede, die sich z. B. aus der semantischen Analyse von „suchen" und „finden" im Hinblick auf die Bestimmung der Zeitargumente ergeben - bei „suchen" sollte ein Zeitargument /, angenommen werden, das dem Zeitargument i 2 von „finden" vorausgeht nicht berücksichtigen. Die Beachtung solcher Zusammenhänge vervielfacht die Zahl der möglichen Sprichwortformeln.

8 Sprichwörter

113

formein, vorausgesetzt, daß mindestens ein Objektargument jedes Prädikats mit einem Objektargument eines anderen Prädikats in demselben Konjunkt übereinstimmt bzw. im Falle von höheren Funktionen die als Argument fungierende höhere Funktion auch als Prädikat der ersten Stufe im Konjunkt vorkommt. Die letzte Bedingung scheint zusammen mit der Forderung nach Verträglichkeit der Zeitargumente in den einzelnen Prädikaten eine allgemeine Regel der natürlichen Sprache zu sein, wobei die Forderung hier wegen der Bestimmung in (A 1), daß alle Prädikate im Skopus desselben Alloperators stehen sollen, nicht näher expliziert zu werden braucht. Mit dieser Erweiterung wächst die Zahl der möglichen Sprichwortformeln praktisch ins Unendliche, da die Zahl der miteinander konjunktiv verbundenen Prädikate im Prinzip beliebig groß sein kann, deshalb ist es kaum möglich, eine vollständige Liste dieser Formeln anzugeben, wir beschränken uns deshalb auf die Behandlung einiger charakteristischer Typen. So wollen wir die Sprichwörter (5)

a) Handwerk hat einen goldenen Boden b) Lange Haare, kurzer Sinn (interpretiert als „Wer lange Haare hat, hat kurzen Sinn") c) W o gehobelt wird, fallen Späne d) Wer dem Kinde die Hand reicht, gewinnt das Herz der Mutter e) Wenn der Boden zu fett ist, erstickt die Frucht

der Reihe nach auf die folgenden logischen Sprichwortformeln zurückführen: (5)

a)' (x) (t) [f(x, 0 i Oy) g(y,x,t)-h (y, t) • i (x, y, 0] w o b e i / = Handwerk; g=Boden; h = golden; i=haben b)' (x) (t) [ ( 3 y ) f ( y , x,t) g (y, t) ±> (3z) h (z, x, t) • i (z, t)] wobei / = H a a r ; g = lang; A = Sinn; ¿ = k u r z c)' (r) (0 [(x)f(x, r, t) => (3y) g(y,t)-h{y, r, /)] wobei r=Raumargument;/= hobeln irgendwo; g = Span; h = fallen irgendwo d)' (x) (3j) (/) [(z) (3M) (3v)/(z, 0 • g (M, Z, 0 • h (y, u, t) • i (v, x, t) • •j (x, v, z,i)± k (x, y, 0] wobei / = K i n d ; g = M u t t e r ; A = Herz; ; = H a n d ; y'= reichen; k = gewinnen 11 e)' (x) (y) ( 0 [f(x, t) -g(x,t) h (y, x, t) 5 j (y, /)] w o b e i / = Boden; g = z u fett; /; = Frucht;7=ersticken.

Die Geltung von (A 2) erstreckt sich auch auf höhere Funktionen, die in Sprichwortformeln auftreten können. Wir wollen nämlich Sprichwörter wie (6)

11

a) Wer gut sattelt, der reitet gut, b) Wer gut futtert, der gut buttert

Die Zeitargumente in (5) c)-d) sollten im Sinne der vorausgehenden Anmerkung weiter präzisiert werden, aber von einer semantischen Feinanalyse sehen wir in dem gegebenen Rahmen generell ab.

114

auf die folgende Formel zurückfuhren: (6)

a/b)' (x) (t) [ ( 3 f ) f ( x , t ) - a ( f ) ß ( f ) ± (3g) g (x, t)-y(g)-ß Wobei f , g = spezifische Eigenschaften; satteln ] freiten 1 a = futtern J ; ^ g U t ; ? = ( b u t t e r n )

(g)]

Diese Analyse folgt dem Vorschlag von R E I C H E N B A C H (1947) hinsichtlich der logischen Analyse der Adverbien. 12 Dementsprechend wird den höheren Funktionen in dem von (A 2) festgesetzten Rahmen eine wesentliche Rolle in den logischen Sprichwortformeln zuerkannt. An Stelle einer systematischen Aufzählung der dabei in Frage kommenden Möglichkeiten wollen wir uns auch hier mit der Behandlung einiger typischer Fälle begnügen. Das Sprichwort (7)

Besser Hammer als Amboß

soll wie folgt expliziert werden: (7)'

« ( 0 {[f(x, t) 5 (3s) g (x, t) • ot (*)] • [h (x, t) => (3/) i (x, t) • a. (0] • (g > /)} wobei / = Hammer; g, i=spezifische Eigenschaften; a = gut; h = Amboß.

In einem Sprichwort wie (8)

Wie der Vater, so der Sohn

sind die höheren Funktionen allgemein gesetzt: (8)'

(x) (y) (t) {/(x, y,t)-g (y, x, t) i (h) (j) [h (x, t) -j (y, t)-a (h) • a 0) = (A =/)]} w o b e i / = Vater; g = Sohn; h und j=spezifische Eigenschaften; a = Maß der Eigenschaften.

Einen etwas komplizierten Fall stellt das Sprichwort (9)

Je größerer Narr, je größere Schelle

dar. Es soll durch die Zwischenstufe (9)'

Für beliebige x und y, die Narren sind, gilt allgemein: Wenn x ein größerer Narr ist als y, dann hat x eine Schelle, die größer ist als die, die y hat

auf die Analogie von (7) auf die folgende Formel zurückgeführt werden: (9)"

12

(x) (y) (0 [(3/) (lg) f ( x , t) -g(y,t)-tx ( / ) • a (g) • (f > g) => (3v) (3z) h (v, x,t) h (z, y, t) • (3i) (3j) i (v, t) j (z, t) • ß (i) • ß(j) • (i> j)\ wobei / , g, i, j=spezifische Eigenschaften; h = Schelle von jemandem, oc=narrenhaft; ß=(physisch) groß.

Ein Alternativvorschlag findet sich in 8*

BARTSCH

(1970).

115

Eine Anzahl von höheren Funktionen ist in dem REicHENBACHSchen System mit Hilfe von sog. Fakt-Funktionen 13 erfaßbar. So kann ein Sprichwort wie (10)

Irren ist menschlich

auf die folgende Formel zurückgeführt werden: (10)'

(v) { [ / ( * ) ] *(v) i g (v)} wobei v = Ereignisargument;/= irren;

g=menschlich;

(10)' wäre so zu lesen: „Jedes Ereignis, daß jemand irrt, ist menschlich". Die Negation stellt eine weitere Erweiterungsmöglichkeit der Sprichwortformeln dar; sie weist im Bereich der Sprichwortformel keine Besonderheiten auf. (A 3)

Eine Formel, die aus einer Sprichwortformel dadurch entsteht, daß ein oder mehrere von den in der Sprichwortformel vorkommenden Prädikaten, Operatoren bzw. Quantoren den logischen Gesetzen entsprechend negiert werden, ist eine Sprichwortformel.

Als Illustration mögen die folgenden Beispiele dienen: (11)

a) Wer nicht mahlt, wird nicht mehlig b) Was nicht in einem ist, bringt man nicht hinein c) Zag hat kein Glück.

Die Transkriptionen lauten: (11)

a)' w o b e i / = mahlen; g = mehlig sein b)' (x) (y) (z) ( 0 [ f ( x , y, t) i>g(z,x,y, /)] w o b e i / = in jemandem sein; g = e t w a s in jemanden hineinbringen c)' (x) ( 0 [ f i x , t) => - ßy) g(y,t)-h (x, y, /)] w o b e i / = zag; g = Glück; h = haben.

Die Gültigkeit von (A 3) erstreckt sich auf die Negation der ganzen Sprichwortformel, so daß ein Schema wie (12)

-(*)(')[/(*, 0=*(*.')]

u. dgl. m. ebenfalls zu den Sprichwortformeln gehört und Sprichwörtern wie (12)

a)' Es ist nicht alle Tage Sonntag b)' Es sind nicht alle Jäger, die das Horn blasen c)' Es beten nicht alle, die in die Kirche gehen 14 zugrunde liegt. 13

14

Vgl. R E I C H E N B A C H (1974) S. 266 ff. R E I C H E N B A C H S Lösungsversuch hat zwar für die Handlungslogik weitreichende Konsequenzen - vgl. D A V I D S O N (1966), H A R M AN (1972) erscheint aber in dieser Form für die Darstellung mancher natürlichsprachlichen Zusammenhänge als wenig zufriedenstellend; vgl. diesbezüglich die Analysen in M O N T A G U E (1974), K U T S C H E R A (1971) S. 234 ff. R E I C H E N B A C H weist im Anschluß an die Analyse des englischen Sprichworts „all that glitters is not gold" daraufhin, daß die Negation in der natürlichen Sprache oft - wie in dem angeführten Beispiel - mißverständlich formuliert ist. „ . . . the adage . . . should be correctly formulated as ,not all that glitters is gold"' (S. 91).

116

Durch (A 2) und (A 3) haben wir zu der Implikation weitere logische Operationen eingeführt. Im folgenden soll der Bereich der Sprichwortformeln im Hinblick auf logische Zusammenhänge noch weiter erweitert werden. (A 4)

Eine Formel, die auf Grund von logischen Tautologien des Aussagenund des Prädikatenkalküls mit einer Sprichwortformel äquivalent ist, ist eine Sprichwortformel.

Wir möchten auch hier nur einige charakteristische Ableitungen, die durch dieses Axiom bestimmt werden, an Hand von Beispielen besprechen. So ist es auf Grund der aussagenlogischen Tautologie (13)

pq^r=pzi{q^r)

möglich, das Beispiel (5) e) nicht nur auf (5) e)', sondern auch auf die folgende, mit (5) e)' äquivalente Formel zurückzuführen: (5)

e

y ( * ) ( / ) [ / ( j f , 0 ^ O - P C y , * , / ) =yCv,0]].

Wir halten im Sinne von (A 4) auch (5) e)" für eine Sprichwortformel, d. h., es ist möglich, den Hintersatz der Implikation durch eine von einem Alloperator abhängende Implikation zu ersetzen, wenn die in (A 1) aufgestellten allgemeinen Bedingungen und auch die in (A 2) geforderte Übereinstimmung der (Objekt-) Argumente erfüllt sind. Ein weiteres Beispiel ist das folgende: Im Sinne von (A 2) und (A 3) ist (14)

(x) (i) [[A*, t) g(x, t) i h (x, ?)]]

eine Sprichwortformel. (14) hat aber auf Grund des DE MoRGANSchen Gesetzes die folgende tautologische Entsprechung: (15)

W(í)[[^(x,0vg(x,0]^/í(x,0].

Nach (A 4) soll auch (15), d. h. eine Formel, in der der Vordersatz der Implikation aus der disjunktiven Verbindung von Prädikaten besteht, als eine Sprichwortformel gelten, sofern die in (A 1) und (A 2) formulierten Bedingungen erfüllt sind. Auf eine Formel wie (15) gehen u. a. die folgenden Sprichwörter zurück: (16)

a) Wein, Weiber und Würden ändern den ganzen Menschen b) Alte Eier, alte Freier, alter Gaul sind meistens faul.

Da die durch (A 4) eingeführten Formeln Sprichwortformeln sind, gelten die in (A 2) und (A 3) genannten Erweiterungsmöglichkeiten selbstverständlich auch für sie, d. h., jedes einzelne Prädikat kann durch eine Konjunktion von Prädikaten ersetzt und die Prädikate, die Operatoren bzw. Quantoren können negiert werden. So beruht (16) b) z. B. auf der folgenden Formel: (16)

b)' (x) (t)[\f(x, t) • g (x, t) v / ( x , t) -h(x,t)vf(x,t)i (x, 0] = / (x, i)] w o b e i / = alt; g = Ei; h = Freier; /'=Gaul ; . / = f a u l .

(16) b)' ist demnach auch eine Sprichwortformel. 117

Wichtige Tautologien des Prädikatenkalküls sind die folgenden: (17)

a) b)

(jO/M=-(3*)7W ~(x)f(x)=(lx)f(x).

Im Sinne von (A 4) sollen also von einem Existentialoperator abhängende Formeln, die - wie es sich weiter unten zeigen wird - keine Implikation enthalten, als Sprichwortformeln angesehen werden, sofern sie mit einer durch einen Alloperator gebundenen Implikation äquivalent sind und die sonstigen Bedingungen in (A 1) und (A 2) erfüllen. Die folgenden Sprichwörter beruhen auf einer Formel, die von einem negierten Existentialoperator abhängt: (18)

a) Es ist noch kein Feierkleid, das nicht Alltagskleid geworden b) Keine Rosen ohne Dornen.

Sie lauten in transkribierter Form: (18)

a)'

-(3x)(t)f(x,t)-JÖTi) wobei / = Feierkleid; g=Alltagskleid geworden b)' - (3JC) - (3j) ( / ) / ( * , t)-g(y,t)-h {x, y, t) wobei / = R o s e ; g = D o r n ; h = haben

Auf Grund von aussagenlogischen Tautologien und der erwähnten prädikatenlogischen Äquivalenz läßt sich (18) a)' in eine Formel (3), (18) b)' in (18)

b)" (x) (f) [f{x, t) 5 (3y) g(y,t)-h

(x, y, t)]

überführen, so daß die Sprichwörter (18) a) —b) als Paraphrasen der folgenden Formulierungen gelten können: (18)

a)"'Jedes Feierkleid ist Alltagskleid geworden b)'"Alle Rosen haben Dornen.

Den folgenden Sprichwörtern (19)

a) Mancher geht nach Wollen aus und kommt geschoren selbst nach Haus b) Manche kann wohl kochen, aber nicht anrichten

liegt eine logische Formel zugrunde, die eine von einem nicht negierten Existentialoperator bestimmte Konjunktion ist. In der folgenden Transkription sehen wir der Einfachheit halber von manchen Einzelheiten ab und beschränken uns auf die uns interessierenden Zusammenhänge: (19)

a)' m ( t ) f ( x , t)-g{x,t) w o b e i / = n a c h Wollen ausgehen; g=geschoren selbst nach Hause kommen b)' (3*) (*)/(*, t)-g(x, t) w o b e i / = kochen können; g=anrichten können.

(19) a)' und b)' können auf Grund aussagenlogischer Tautologien sowie der in (17) b) angegebenen prädikatenlogischen Tautologie in die Sprichwortformeln 118

(20)

a) - ( * ) ( / ) [ / ( * , 0 = *(*,/)] b) - ( * ) « [ / • ( * , CM)]

überführt werden. Sie können sprachlich etwa so ausgedrückt werden: (20)

a)' Nicht jeder, der nach Wollen ausgeht, kommt ungeschoren nach Hause b)' Nicht jede, die kochen kann, kann anrichten.

Aus unseren Analysen folgt, daß die Formeln (18) a)'-b)' und (19) a)'-b)' Sprichwortformeln sind, und es besteht die Möglichkeit, auf eine analoge Art und Weise eine Reihe von anderen abgeleiteten Formeln herzustellen. Eine spezifische Erweiterungsmöglichkeit der Sprichwortformeln stellt die Degeneration des Vordersatzes der Implikation dar. Die Bedingung ihrer Verwendung kann wie folgt angegeben werden: (A 5)

Eine Formel, die aus einer Sprichwortformel mit einem höchstens durch Negation erweiterten Vordersatz dadurch entsteht, daß das vom Alloperator der Formel gebundene Objektargument im Vordersatz beliebigen Prädikaten zugesprochen wird und folglich der Vordersatz eliminiert wird, ist eine Sprichwortformel.

Gemeint ist folgendes: Wenn etwa eine Formel wie (3), die die folgende Relation ausdrückt: „für alle x gilt allgemein: wenn * / i s t , dann ist x auch g", so geändert wird, daß / für beliebige Prädikate stehen kann und die Formel die folgende Beziehung ausdrückt: „für alle x gilt allgemein: wenn x ein beliebiges Prädikat fx, f2, . . . /„ zugesprochen werden kann, dann ist xg", dann haben wir aus der Formel (3) eine Formel (21)

(x)(t)g(x,t)

abgeleitet. Eine solche degenerierte Form liegt den folgenden Sprichwörtern zugrunde: (21)

a)' Alles ist vergänglich b)' Jeder ist seines Glückes Schmied.

Im Falle einer genaueren semantischen Analyse von (21) b)' könnte sogar aus der degenerierten Formel die volle Formel rekonstruiert werden, indem das durch „jeder" implizierte semantische Merkmal „ + Menschlich" als Prädikat des Vordersatzes eingeführt werden müßte. Weitere Erweiterungsmöglichkeiten bestehen darin, daß statt einer Implikation andere Operationen zugelassen werden, die eine implikative Formel implizieren. Dies soll zunächst in bezug auf andere aussagenlogische Operationen festgesetzt werden. (A 6)

Eine Formel, die aus einer Sprichwortformel dadurch entsteht, daß die Implikation durch ausschließendes oder bzw. Äquivalenz ersetzt wird, ist eine Sprichwortformel. 119

Betrachten wir das folgende Beispiel: (22)

Man sucht keinen hinter dem Ofen, man habe ihn denn selbst dahinter gesteckt.

Wir führen es auf die folgende Formel zurück: (22)'

(x) (t) t - (3y) (3z)/(z, t) • g (x, y, z, t) II (3>>) (3z)/(z, t) • h (x, y, z, t)} wobei / = O f e n ; g = suchen; h = stecken; 11 = exklusives oder und die Zeitargumente in h und g bei einer genauen semantischen Analyse als miteinander in vor- bzw. nach-Relation stehend bestimmt werden sollten.

Zunächst müssen wir erwähnen, daß wir es hier mit einer degenerierten Formel zu tun haben, die im Falle einer genaueren semantischen Analyse von „man" durch die explizite Formulierung eines Vordersatzes e (x, t), wobei e= + Menschlich, ergänzt werden müßte, so daß die in [] stehende Formel eigentlich den Hintersatz der grundlegenden Implikation darstellen würde, aber dies erscheint im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Implikation und exklusivem oder bzw. Äquivalenz nebensächlich. Eine Formel mit exklusivem oder läßt sich in eine Formel transformieren, die eine negierte Äquivalenz darstellt. In unserem Fall kann (22)' in die folgende Formel überführt werden: (23)

(*) (0 [(3>>) (3z)/(z, 0 • g (x, y, z, t) = (3y) (3z)/(z, t) • h(x, y, z, t)\

Die sprachliche Formulierung, die dieser Formel entspricht, wäre etwa (23)'

Man sucht jemanden nur (genau) dann hinter dem Ofen, wenn man ihn dahinter gesteckt hat.

Die Äquivalenz läßt sich aber bekanntlich als eine in beide Richtungen - d. h. vom Vordersatz zum Hintersatz hin, und umgekehrt, vom Hintersatz zum Vordersatz gültige Implikation auffassen, so daß (23) - und somit selbstverständlich auch (23)' - die folgende Entsprechung erhält: (24)"

(x) (/) [[(3j) (3z)/(z, 0 • g (x, y, z, t) 5 (3y) ( 3 z ) f ( z , t ) • h (x, y, z, /)] • • [(3j0 (3z)/(z, 0 • h{x, y, z, t)±{3y) (3z)/(z, t) • g (x, y, z, t)]],

d. h., „Wenn man jemanden hinter dem Ofen sucht, dann hat man ihn dort versteckt, und wenn man jemanden hinter dem Ofen versteckt hat, dann sucht man ihn dort". Aus dieser Ableitung ist ersichtlich, daß aus einer Formel mit ausschließendem oder bzw. mit Äquivalenz eine mit Implikation gefolgert werden kann, indem die ersteren die letztere mit enthalten. Dieser innere Zusammenhang soll die behandelte Erweiterungsmöglichkeit der Sprichwortformeln erklären. Wir haben mehrfach daraufhingewiesen, daß die hier nach R E I C H E N B A C H (1947) verwendete logische Analyse der natürlichen Sprache in mehrerer Hinsicht lückenhaft und ergänzungsbedürftig ist, dies soll aber im Zusammenhang mit modalen Problemen, die wir jetzt kurz behandeln möchten, besonders stark hervorgehoben werden, R E I C H E N B A C H ist ja auf die meisten modalen Probleme der natürlichen Sprache überhaupt nicht eingegangen. Wenn wir den Anwendungsbe120

reich dieser logischen Sprache unter Berücksichtigung einiger wesentlicher neuerer Ergebnisse der modalen und der deontischen Logik auf diese modalen Zusammenhänge erstrecken, so geht es uns - wie bisher - nicht um eine umfassende, systematische logische Analyse dieser Bereiche der natürlichen Sprache, sondern um die Ermittlung bestimmter grundlegender Regularitäten. Wir beschränken uns dabei auf die Untersuchung von Erweiterungsmöglichkeiten, die gleich den vorhin behandelten aussagenlogischen Operationen die Implikationsstruktur der Sprichwortformeln betreffen. Im Bereich der Modallogik können wir die folgende Bestimmung treffen: (A 7)

Eine Formel, die aus einer Sprichwortformel dadurch entsteht, daß die Implikation durch eine strikte Implikation ersetzt oder durch einen Möglichkeitsoperator zusätzlich bestimmt wird, wobei die Formel linguistisch interpretierbar bleibt, ist eine Sprichwortformel.

Die modallogische Operation der strikten Implikation beruht einerseits auf der aussagenlogischen Implikation, andererseits auf dem Notwendigkeitsoperator L. Also gilt per definitionem (25)

{p