aufSÄTZE!: Essays zur Poetik, Literatur und Kunst 9783110495386, 9783110486827

Staatspreis, Schönste Bücher Österreichs Staatspreis, Schönste Bücher Österreichs 2016 Ferdinand Schmatz ist Schrift

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aufSÄTZE!: Essays zur Poetik, Literatur und Kunst
 9783110495386, 9783110486827

Table of contents :
Inhalt
Weiter. Bauen
System, Kopf, Herz. Wolfgang Bauers Prosa zwischen Modell und Unmittelbarkeit.
Die Arbeiten Nita Tandons … die Wahl
Verfransung – Die Sprachkunst und:
Gespräch mit Zuzana Husárová
Ausrichtungen, Ansätze, Perspektiven zu Verfahren, Positionen, Bezüglichkeiten — in der Dichtung der Gegenwart also auch im historischen und im sozialökonomischen Feld
Frost – Brocken daraus, Splitter dazu
Inside Outside. Kein Gebet, ein Gebiet
Das Gefundene liegt weit weit vorn. Ferdinand Schmatz geht von Martin Gostner aus zu sich über John Steinbeck
Christine Lavant. Das Selbst- Bestimmen des Namens
Volkstheater
Das Werk
Für H. E.
Die Kunst ist Zeit — die Dinge wollen verweilen
Das Reich der Zeichen
Interview — Neues Erzählen mit Gangway Reviews, April 03
Trakls Präsenz
Dichtung, die poetische Unterhöhung der Philosophie
Die fünfte Säule – ein poetischer Traktat
Wahrheit nach der Wirklichkeit: Dichtung als Modell zum Spachgebrauch von H. G. Adler
Literatur und / als Wirklichkeit
Elke Erb und die Ungarn in Wien und ich und die Sprache
Zu Peter Waterhouse
Wiener, Jandl, Mayröcker, Priessnitz und andere Gruppen
Elke Erb – Die Sprache
Die Dichterin setzt sich den Wörtern aus und Sätze ein — Zum Sprachgebrauch bei Yoko Tawada
Sprachliche Referenz im Werk von Heimo Zobernig
Der Verdichtungerstrecker. Das Genommene wie es ist erweitert. Zu Thomas Kling
Angehaucht von der Melancholie des Objekts. Ein Nachruf auf Franz West
Splitter
Vierundvierzig Gedichte, jedes von ihnen ein Buch
Zu den Dingern von Pils / Pulsinger
Traum eines poetischtheoretischen Traktats
Das B rief. Kommentare zu H.C. Artmanns lilienweisser brief aus lincolnshire
Kleiner Prosakatalog 2010
Der voreilende Nachfolger zu Robert Walsers Poetik
Zu Paul Wühr
Der Beweger. Ein Nachruf auf Heinz Gappmayr
Zu Thomas Kling
Im Gespräch mit Johanna Eberl
Das ungehörige Museum
Für Klaus Amann
Erweitertes Display — das Opjekt im Projekt und ein räumliches R
Mandel und Schnee. Zu den Fotos von Heidi Harsieber
Zu Konrad Bayer
Zum Raum aus Sprache und Kunst bei Barnett Newman, Andy Warhol und Christopher Wool
Einiges an Erfahrung — Zur Poetik Peter Roseis
Heimo
Die Bilder von Tobias Pils – sind Zeit
Zu Peter Handke
Zum Begriff des Neuen, des Experiments, des Zitats. Anmerkungen über Methode und Ort im Feld möglicher Avantgarde heute
Die Methode ist Phantom und das Phantom ist Methode – Gesprächsnotizen
Impressum

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auf SATZE! Essays zur Poetik, Literatur und Kunst

Buchreihe der Universität für angewandte Kunst Wien Herausgegeben von

Gerald Bast, Rektor

auf SATZE! Essays zur Poetik, Literatur und Kunst Ferdinand Schmatz (Hg.)

auf SATZE!

ESSAYS ZUR POETIK, LITERATUR UND KUNST

S

10

S

24

S

30

S

36

Weiter. Bauen

System, Kopf, Herz. Wolfgang Bauers Prosa zwischen Modell und Unmittelbarkeit. Schreibbeginn

Die Arbeiten Nita Tandons … die Wahl

Verfransung — Die Sprachkunst und:

S

S

S

S

44

Gespärch mit Zuana Husárová

62

92

Ausrichtungen, Ansätze, Perspektiven zu Verfahren, Positionen, Bezüglichkeiten — in der Dichtung der Gegenwart also auch im historischen und im sozialökonomischen Feld

S

S

S

Das Gefundene liegt weit weit vorn. Ferdinand Schmatz geht von Martin Gostner aus zu sich über John Steinbeck

74

82

Frost — Brocken daraus, Splitter dazu

Inside Outside. Kein Gebet, ein Gebiet

S

S

96

102

Christine Lavant. Das SelbstBestimmen des Namens

Volkstheater

S

S

106

124 Für H. E.

Die Kunst ist Zeit — die Dinge wollen verweilen

130

134

S

S

S

S

F. J.  CZERNIN —  DAS WERK

136

Interview Neues Erzählen mit Gangway Reviews, April 03

150 Trakls Präsenz

154

Dichtung, die poetische Unterhöhung der Philosophie

Roland Barthes — Das Reich der Zeichen

158

Die fünfte Säule — ein poetischer Traktat

S

166

S

176

S

190

S

192

Wahrheit nach der Wirklichkeit: Dichtung als Modell zum Spachgebrauch von H. G. Adler

Literatur und / als Wirklichkeit

Elke Erb und die Ungarn in Wien und ich und die Sprache

Zu Peter Waterhouse

S

S

S

S

200

212

228

234

Wiener, Jandl, Mayröcker, Priessnitz und andere Gruppen

ELKE ERB — DIE SPRACHE

Die Dichterin setzt sich den Wörtern aus und Sätze ein — Zum Sprachgebrauch bei Yoko Tawada

Sprachliche Referenz im Werk von Heimo Zobernig

S

S

S

S

244

Der Verdichtungerstrecker. Das Genommene wie es ist erweitert. Zu Thomas Kling

Angehaucht von der Melancholie des Objekts. Ein Nachruf auf Franz West

250

254 Splitter

Vierundvierzig Gedichte, jedes von ihnen ein Buch

S

S

S

S

262

268

278

260

284

Zu den Dingern von Pils / Pulsinger

Traum eines poetischtheoretischen Traktats

Das B rief. Kommentare zu H.C. Artmanns lilienweisser brief aus lincolnshire

Kleiner Prosakatalog 2010

S

S

S

S

288

Der voreilende Nachfolger zu Robert Walsers Poetik

300 Zu Paul Wühr

304

Der Beweger. Ein Nachruf auf Heinz Gappmayr

308 Zu Thomas Kling

S

312

S

332

S

338

S

342

Im Gespräch mit Johanna Eberl

Das ungehörige Museum

Für Klaus Amann

Erweitertes Display — das Opjekt im Projekt und ein räumliches R

S

S

S

S

348

360 Zu Konrad Bayer

Zum Raum aus Sprache und Kunst bei Barnett Newman, Andy Warhol und Christopher Wool

Einiges an Erfahrung — Zur Poetik Peter Roseis

S

S

S

S

Mandel und Schnee. Zu den Fotos von Heidi Harsieber

386 Heimo

S

404

Die Methode ist Phantom und das Phantom ist Methode — Gesprächsnotizen1

388

Die Bilder von Tobias Pils — sind Zeit

362

390 Zu Peter Handke

374

394

Zum Begriff des Neuen, des Experiments, des Zitats. Anmerkungen über Methode und Ort im Feld möglicher Avantgarde heute

Weiter. Bauen

A

2011

S

10

S

11

Nichts kommt aus nichts. Sagte ich. Sage ich. Etwas liegt vor, wird aufgefunden, ergriffen, verändert. Im Leben. Im Alltag. In der Wissenschaft. In der Kunst. In der Dichtung:

Um ein Gedicht zu beginnen, habe ich alles. Um ein Gedicht zu beginnen, habe ich nichts. Sagte der Dichter Ernst Jandl. Dazwischen, zwischen diesen beiden Aussagen, zwischen Alles und Nichts liegt’s. Nun: Im Schreiben, in der Dichtung, liegt das, was dieses Schreiben, die Dichtung konstituiert, vor — in der Sprache vor allem, aber: Es liegt nicht fest. Nein, es bewegt sich. Über dieses Bewegen — das Bewegende und Bewegte werde ich sprechen. Vorher darüber denken und dann diesem Denken nach sprechen, das wiederum ein Nachdenken darstellen und auslösen sollte und könnte. Was heißt: Nach einem Denken über dieses, ein anderes Denken hervorlocken. Auch das Sprechen über dieses Denken kommt aus einem Gesagten und Gedachten davor, ich sagte es ja: Nichts kommt aus Nichts. Auch dieses Vorwort, das ein Denken vor dem Wort sein soll, kann nach dem Denken über die Worte davor kommen. Und woher geht es los, das Wort, das Denken? Zeitlich. Räumlich. Aus dem Inneren des Denkenden geht es los, aus seinen überlieferten und gegebenen Aufzeichnungen und Materialien — aus

den Wort- und Denkräumen anderer. Aus den von anderen erdachten, ausgesprochenen und vorgelegten Inhalten und Formen. Vor allem zwischen diesen liegt es, zwischen den Inhalten und Formen. Den vorgegebenen und gegebenen, die durch Bearbeitung zu anderen werden. Wo das Wie und das Was sich die Waage hielten, wird nun das Wie zur treibenden Kraft, die das Was verändert, verwandelt, transformiert.

S

12

Weil es sich bewegt. Zwischen Alles und Nichts. Zwischen Überlieferung und Verfestigung, die aufgelöst werden soll, sich verflüssigen soll. So wie So, aber anders. Die Pole oder die Ufer, zwischen denen sich die Bewegung ergibt, das sind die Bezüge, die Referenzen auf das Andere — auf dessen Gedachtes, Gesprochenes, Hervorgebrachtes, Verfertigtes einerseits; andererseits aber ist es das noch Unfertige, Ungewisse, Überraschende, ja vielleicht sogar das Unmögliche. Im Dichten wollen wir das, zumindest denken, und es ausschreiben, aussprechen. Die alten Koinzidenzen genügen nicht mehr — das, was aufgegriffen wird, ist nicht nur dazu da, um einen Bezug herzustellen. Es wird bewusst aufgegriffen und strebt nach diesem anderen Ufer, als alles das, was sich im Prozess der Bewegung der Veränderung seiner selbst ausliefern möchte. Im Fall der Dichtung ist dieses Aufgreifen kein Auflesen, sondern ein Einlesen, ein Einschleusen. Geistig wie sinnlich. Der begreifbare Begriff wird geschaut, aber im Auge, das von den Zehenspitzen bis zum Verstand reicht, wie in der Hand gehalten. Sinn und Sinne geraten an- und ineinander und verändern sich und uns dabei.

Weiter. Bauen

S

13

Uns? Sind wir draußen? Beobachten wir diese Veränderungen wie objektive Registratoren im Labor? Sind wir drinnen? Sehen wir über den blinden Fleck unserer Empfindungen und Affekte nicht hinaus? Weder das eine noch das andere allein. Wir sind Drinnen und Draußen, und vor allem in der Kunst, in einem Drinnen Draußen als eins. Drinnen ist alles. Draußen ist nichts. Drinnen ist nichts. Draußen ist alles. Also etwas, das sich bewegte, bewegt und sich bewegen wird — in unserem Kopf wie im Leib, die wir das wahrnehmen, empfinden, lesen, begreifen wie greifen werden. Sollte dieses Begreifen wie Ergreifen zur Verwandlung werden, dann wäre das, was Schreiben, was Dichtung ausmacht, ein Weiteres. Nichts Neues an sich, was wäre das — nichts kommt aus nichts, also: Was entsteht, ist der Dialog, der schroff oder behutsam gesetzt, eingeleitet und ausgeführt werden kann: ein Steg oder eine Hängebrücke oder eine Stahl- oder Betonkonstruktion ­ — wen kümmert’s, den kümmert’s eben wie’s hält, auf dass es sich darauf bewegt! Sich und jene, in denen es sich bewegt, uns, die wir wahrnehmen, empfinden, zuordnen, erkennen, verstehen, auf unsere Weise im Dialog mit den anderen Weisen. Weiter, also! Weiter, klar, die Bewegung suggeriert die Richtung auf ein Ziel hin, aber:

Wohin? S

Tja. Das liegt nicht so offensichtlich in unserer Hand, die wir schreiben und dichten.

14

Wir schreiben weiter, aber wohin bleibt offen: Es kommt etwas zu Tage, bringt sich selbst hervor. Poiesis heißt: Hervorbringen, auch Machen, Tun. Ernst Jandl sprach hier von einem Versuch der ständigen Realisation von Freiheit, der die Kunst ausmacht. Auch diese Wörter des Versuchs und der Realisation beinhalten Bewegung — weisen auf einen Prozess hin, der in Gang gesetzt wird. In der Dichtung durch ein Wort, oder durch einen Buchstaben, oder durch ein Bild, oder durch ein Sausen im Kopf, oder durch einen Rhythmus — durch eine geistige oder körperliche Repräsentation von etwas, das noch nicht klar ist als Begriff, oder als Wort aus Wörtern — als Satz, oder als Absatz, oder als Text: Kurz, als etwas mit einem gesetzten Anfang, aber mit einem lange offenen Ende. Das natürlich prompt oder überraschend enden kann.

Das Gedicht ist fertig, bevor es der Autor weiß, formulierte wieder einer vor uns, der Dichter Gottfried Benn. Das ist nicht nur eine schmerzvolle, sondern auch eine lustvolle Erfahrung eines Vorgangs, den die Sprache oder das Denken und somit beide veranstalten. Ich kenne das aus eigener Schreib / Erfahrung heraus, bei der ich aber dennoch nicht nur passive Aufzeichnungsapparatur bin, sondern Medium, das diesen Prozess in Gang setzt, und diesen mitzusteuern hofft — durch Eingriffe oder durch Laufen lassen. So oder so! Weiterbauen, unser Thema, beinhaltet für mich dieses Prozesshafte, das durch Eingriff und Laufenlassen umschrieben werden kann.

Weiter. Bauen

S

15

Ich lese es zweifach, als: Bauen wir weiter! Und als: Bauen wir etwas weiter, das schon vorliegt, oder vorgelegen hat! Das ist im Dichten nicht anders als, sagen wir, in der Architektur. Beide Ausrichtungen des Zurufs drängen auf Bewegung hin. Und diese Bewegung ist der Poesie, wie ich sie erfasse und sie mich erfasst, inhärent. Wohnt ihr inne. Dieses Wohnen schlägt nicht nur die Brücke zur Architektur, sondern ganz allgemein zur Umsetzung von Erfahrungen in zeichenhaft symbolischer wie gegenständlich realer Art. Aber nun geht es in der Dichtung los: Der Versuch der Realisation von Freiheit sprengt die Grenzen, oder zieht sie anders: Das Nichts wird wirklich. Das Wirkliche symbolisch. Auch umgekehrt. Das Haus der Sprache, der Dichtung muss aber auch stehen bleiben, das ist kein Kartenhaus oder Luftschloss allein. Nicht nach den Gesetzen der physikalischen Statik, eher nach solchen des inneren Bildes, das stimmig sein sollte, wenn auch gewagt, über Grenzen gehend, die Brüche mit dem Wort setzend, die dann die Statik des Satz-Baus wieder zusammenhält:

Mit gelben Birnen und voll mit wilden Rosen hänget das Land in den See. Das ist die Zusammenführung von Bewegungen der Statik und ihrer Überschreitung auf verschiedenen Ebenen — der Wahrnehmung, der Empfindung, also der ganzen Erfahrung: bildlich, wörtlich, buchstäblich. Aber alles das, wohnt und geschieht im Satz, der seine Syntax elliptisch irritiert, aber dennoch so etwas wie ein Ganzes zusammenhält. Ein ganzes Bild einer Landschaft in und außerhalb von uns, das sich ständig bewegt und dennoch stabil hält: in den

Wörtern, also in den Buchstaben, den kleinsten Bausteinen der Dichtung auch. Um in deren Verknüpfungen im Bewusstsein die Erweiterung der alten statischen Erfahrung zu gewährleisten.

S

16

Hölderlins Anfangsverse von Hälfte des Lebens geben einen Grundstein ab, der in sich selbst und in uns einen Palast darstellt für das Weiterarbeiten, das Weiterbauen in der Dichtung. Und nicht nur in ihr. In der Rezeption seines Satzes, seines Verses wird dieser als Modell, zum Baustein für gegenwärtig eigenes Sprechen, Schreiben und Denken darüber, wie eine Landschaft zu bauen ist: metaphorisch / wortwörtlich / symbolisch / wirklich — im Gedicht, das Wirklichkeit ist, das(s) Wirklichkeit wird. Meine. Ich. Unsere. Wir. Wenn wir, ziemlich viel, aus Sprache sind, dann sind wir die alte Stadt, von der Wittgenstein sprach, als er die Sprache nicht nur mit einem Bild oder Vergleich kennzeichnen wollte: als alte Stadt, die ständig weitergebaut wird, wo ein Teil hinzukommt, ein anderer verschwindet, sich selbst auflöst oder bewusst entfernt wird. Die Sprache lebt. Wir leben. Und: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Was wäre dieser Gebrauch? Er ist eine Anwendung, eine Regel vielleicht, ein Sprachspiel, das vom Schach bis zum Beten oder Fluchen reichen kann. Wichtig dabei ist, die Ähnlichkeiten der Spiele zu erkennen, zu erschauen:

Denk nicht. Schau!, heißt es bei Wittgenstein. Und wenn es ein Unaussprechliches gibt, dann zeigt es sich. Hölderlins Bild zeigt das Unaussprechliche sprachlich. Das ist die Crux, die er aufzuheben versteht. Das ist der Baustein, den auch wir in seiner Form aufgreifen können, aber nicht als Zitat oder als

Weiter. Bauen

bloßes Material, das es nur weiter zu verwenden gilt. S

17

Der Geist, der in diesem Satzbau aus Wort-Bild-Folgen, BildWort-Schnitten und Kombinationen besteht und entsteht, der ist es, der weiter bauen hilft. Er ist es auch, der den Gebrauch mitbestimmt. Wir spielen das Spiel der Bedeutungen nicht nur wortwörtlich, metaphorisch übertragend, allegorisch-gegenständlich oder nur gestisch, sondern auch geistig. Alles zusammen oder das Einzelne als pars pro toto zeigt sich dann — wörtlich bildlich wie bildlich wörtlich als Inhaltsform: Und das ist für mich weiter sprechen. Weiterbauen in einem Raum des Alten, der sich schon allein durch unser Betrachten zu einem gegenwärtigen verändert. Dieses Betrachten ist das unserer Perspektive, und die hat Bestimmungen, Abhängigkeiten — und die Möglichkeiten, diese Abhängigkeiten zu verändern, ja zu überwinden, wenn es sein muss, auch über Bord zu werfen: diesen alten Zeitgeist, wie es die Futuristen um Chlebnikov, Kruchonych und Majakovksky formulierten. Die Perspektive steht unter den Spielregeln der Subjektivität und auch unter jenen des Feldes, in dem und unter denen gesehen wird: Ich ist eine Gruppe, und jede sieht zu ihrer Zeit anders, und hat ihren Habitus. Alles zusammen, vom Subjekt bis zur Gruppe, ergibt wiederum das Feld, den Kontext gleichsam, der den Gebrauch regelt, schafft, freigibt — so lange bis ein anderer erschaut wird, weil er für notwendig gehalten wird, oder sonst was. Das gilt auch, und speziell für die Kunst, besonders für die Dichtkunst, die ja ein spezifischer Fall von sprachlich alter Stadt und dem Aufgreifen und Weitersetzen ihrer Bausteine ist. Wir haben es gehört und gesehen, das mit dem Nichts, und das bei Hölderlin: aus diesen Hör- und Blickwinkeln heraus erschauten wir die Landschaft, die natürliche wie die künstliche, anders mit seinen und unseren Augen, die sich im Verstand niederlassen und im Herzen öffnen wie auch umgekehrt.

Seine Poiesis, die zur unseren wird, heißt Hervorbringung. Ich erinnere an das Moment der Bewegung, des Prozesses, an das Weiterbauen der alten Stadt, das für mich vor allem in der Dichtung dieses Prozessuale beinhaltet:

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Und somit auch dort weiterzumachen, wo schon etwas vorliegt oder vorgelegen hat. Bewegung, wie gesagt, ist der Dichtung inhärent. Ich erinnere weiters an das Bild der Brücke. Sie selbst ist es, die im Schreiben mehr als ein Bild, eine (tote) Metapher abgibt. Es werden Brücken geschlagen, besser: gesucht, ausprobiert — aus Buchstabe, Silbe, Laut, Wort, Satz: In einem Satz hinüber! Das kann als Handlung aufgefasst werden, als Sprung, oder als Kennzeichen einer Schreibweise in der Literatur oder als beschreibende Aussage in der Sprache des Alltags. Hinüber? Je nach Vorgabe, Ansatz und Ziel. Halt?! Hat die Dichtung ein Ziel? Ein bewusst gesetztes? Natürlich hat sie es — und natürlich hat sie es nicht. Dieses Natürliche allerdings kann künstlich sein. Wir haben auch in diesem heutigen Text weitergebaut und zurückgefunden zu dem gerade erwähnten Satz. Der Ausgangssatz, der zu diesem Satz von heute führte, lautet: Das Machen von Kunst ist natürlich künstlich. Er stammt von — mir. Ich habe ihn also in mein heutiges Denken eingebaut und verwandelt wiedergegeben, nein, anders gebraucht. Das war das Ziel des denkenden und schreibenden Unterfangens, aber nicht das Ziel, das einen Anfang und ein Ende im Vornherein kennt. Das Gedicht ist fertig, bevor es sein Autor weiß, aber der Weg zu diesem sich einstellenden Wissen ist gesetzt. Und das meine ich mit künstlich, und das meine ich, mit Ziel einerseits ja, andererseits nein.

Weiter. Bauen

S

19

Künstlich bedeutet also in irgendeiner Form, die eben nicht irgendeine ist, entworfen, vor-entworfen, gedacht, angedacht. Und dann: angewandt, oder in der Anwendung umgedacht, verändert, den Umständen angepasst. Oder die Umstände dem Vorgang eingepasst. Das heißt aber: So etwas wie eine Methode, eine Regel kommt ins Spiel. Ein nahe liegendes, einfaches Beispiel: Das Anagramm. Aus den Buchstaben eines Wortes wird ein neues — gebaut. Die Regel: Alle Buchstaben müssen vorkommen. Alle? Ich setze da auf eine Inhaltlichkeit, die den Fehler als Notwendigkeit mit einbaut. Ein Buchstabe mehr oder weniger, mich kümmert’s, dass es passt! Wir sind also wieder in einer Ecke der alten Stadt, in der SpielEcke angelangt, und doch ist sie schon wieder eine neue, oder bescheidener: eine andere. Ja, das Andere, das ist vielleicht das, worauf es ankommt, wenn es über die Brücke wo hingeht, das schon feststeht, aber erst durch den Brückenschlag zu Ufern wird; dessen Land in den See hänget voll mit gelben Birnen, wilden Rosen — und mit uns. Uns, mit uns, in uns Menschen.

Der Mensch ist nur dort Mensch, wo er spielt. Hat das Wittgenstein so gemeint? Vielleicht. Gesagt hat es Schiller, aber wir greifen es heute auf. Also, nicht nur eine Form, eine rhetorische oder ästhetische kommt ins Spiel, sondern eine Lebensform. Ein Spiel, das mehr als eine (tote) Metapher ist. Wie gesagt, bedeutet es ja Regel, Abkommen, Vertrag, lebenspraktische Handlungsanweisungen und Festlegungen. Diese Regeln in der Dichtung helfen dieser jedoch weniger, um das Ziel zu erreichen, sondern sie können dieses Ziel sogar selbst sein:

Alles ist Konstruktion, sagte ein weiterer Dichter, der ein erster war und ist, dessen Worte im ersten Anblick so gar nichts von Konstruktion, Regel, Methode etc. zu haben scheinen. Flaubert, Gustav Flaubert sagte das, und er sagte auch: Madame

Bovary, c’ est moi. Und Rimbaud sagte: Ich ist ein anderes. Und er ergänzte, und das ist viel schöner noch und gewagter: Was kann das Blech dafür, wenn es am Morgen als Trompete erwacht?

S

20

Wir bauen also weiter, indem es weiterbaut. Die Dinge kehren aus der isolierten Welt der Materie zurück in die Welten, die Spielwelten der Kommunikation. Bilden sie die Brücke zwischen der Zivilisation und der Natur? Und wenn schon, als Hybride etc. sind sie längst am Weg, das hat Latour gezeigt, und bauen an uns weiter. Kein Wunder, dass einige ein Parlament der Dinge verlangen, um endlich modern zu werden. Aber halten wir hier noch einmal ein wenig inne, und blicken wir zurück auf das bisher Gesagte: Alles, Nichts, Veränderung, Verwandlung, Poiesis, Hervorbringung, Prozess, Regel, Wohnen, Brücke, Methoden, Spiel, Ich und das Andere, Konstruktion. Ich setze den Begriff der Freiheit, der bei Jandl aufgetaucht ist, dazu, erweitere ihn jedoch oder führe ihn enger: nämlich die Freiheit sich eine Regel, so gewollt, zu wählen, heißt schon so etwas, wie die Freiheit der Regelwahl zu haben — und: für mein Arbeiten, das Dichten, mitentscheidend, diese Regel zu brechen, zu unterlaufen oder zu überschreiten, oder sie nur dann anzuwenden, wenn es an der Zeit im Raum am Ort ist. Also: Raum — Zeit — Ort ergeben das Feld, wo unsere Begriffsliste sich in Form des Tätigwerdens ausbreiten kann. Raum — Zeit — Ort drängen natürlich auch zu den Begriffen des Bauens und Wohnens, der Brücke. Heideggers Aufsatz Bauen, Denken, Wohnen ist hier eine Bezugsquelle, auf die ich gar nicht näher eingehen und gar zurück-schreiben möchte. Aber auch sie ist für diesen Vortrag hier so etwas wie ein Baustein, der imaginär-real in mir schlummert, darauf wartet, aufgehoben zu werden, und wo hinzugesetzt. Ob ich nun bewusst mit ihm schreibe oder denke, er denkt und schreibt mich mit.

Weiter. Bauen

S

21

Ja, ich schreibe, es schreibt — es schreibt mich sogar wohin, wir haben es gehört. Das Gedicht ist fertig, bevor ich es weiß, vielleicht gilt das auch für diesen Aufsatz — für den aber ebenso gültig ist, dass seine Gedanken während des Redens kommen, also während des automatischen Weiterbauens einer gegebenen Materie: hier jene der Sprache, ihre Wörter und Sätze: bis sich aus diesen der nächste Gedanke aus Wörtern und Sätzen einzustellen beginnt. Der die alten Bausteine dazu benötigte, um das andere Wohnen zu ermöglichen, im neu übersetzten Stadtkern der gesetzten Sprache. Die alte Stadt Sprache besteht aus Sätzen, diese aus Worten, diese aus Buchstaben. Wir finden uns im Netz der Straßen, so sie die Sätze sind, zurecht. Aber wenn wir die Bausteine einzeln lesen, begehen, dann zerfällt unsere Orientierung, und so der Sinn des Satzes als Ganzes. Vielleicht finden wir dann ein Haus, eine Tür, ein Zimmer, also ein Wort, ein Zeichen, eine Buchstabenfolge (die alles wie etwa in der Kabbala sein kann). Natürlich, wir wissen, das ist in der Kunst sehr künstlich, kann auch ein Wort ein Satz sein, ein Buchstabe ein Satz sein oder ein Satzzeichen ein Satz sein. Aber der Satz selbst, von dem wir ausgegangen sind oder auf den wir zugehen, zerfällt, wenn wir nur bei den Einzelteilen verharren. Die Stadt, ihr alter Sinn modert dann nicht vor sich hin, er zerbröckelt. Es muss also im Spiel der Bausteine klargelegt werden: Wird die Stadt Sprache in ihren Grundfesten umgebaut oder wird zumindest untersucht, was noch zu stehen bleiben hat und was noch darüber hinausreichen könnte. Die Intention ist, nicht auf das Mögliche zu zielen, sondern das Unmögliche zu ermöglichen — durch die Kombination von alten mit neuen Bausteinen andere Inhaltsformen mit den gegenwärtigen Händen hervorzubringen. Die sind im Spiel, und folgen Regeln, die sie einhalten oder die sie brechen: Entscheidend ist, die Übersetzung zu erreichen, in der durch Veränderung Wanderndes selbst der Veränderung unterliegt. Wo das Wunderbare als das Andere, das Kommende nämlich, dem wir uns öffnen, von bereits bekannten Handlungen und Dingen ausgeht und sie nach offenen Methoden und Regeln übersetzt:

die — wie oben gesagt — im Gebrauch ausgehandelt werden: S

Immer wieder, immer wieder im neuen Spiel mit alten Regeln oder im alten Spiel mit neuen Regeln:

22

So wird das Ich zum bewusst Anderen, durch Hervorbringung seiner selbst, als Blech, das die Trompete ist, und als Trompete, die das Blech begehrt, durch unser Spiel. Das Ich ist also mehr als Konstruktion, vielleicht Alles und Nichts als Konstruktion — und das wäre viel. Ich komme zum Schluss, der ein Anfang ist: Im Dichten ist es die Sprache aus Buchstaben, Silben, Vokalen, Konsonanten, Wörtern, Teil-Sätzen, und Sätzen, die sich als Material verwenden lässt. Aber gleichzeitig ihren Materialcharakter durch die Anwendung vergeistigt. Was genauso für den Dichter gilt, der sich bedient und bedient wird, mit Möglichkeiten der Setzung, die bewusst mit der Bewegung des Materials laufen oder sie brechen, aufhalten, umlenken, so: Es blitzt, also es denkt, also es schreibt — das sagt sich leicht und schön, aber die Frage oder das Spiel bleibt: Wie ist dieser Vorgang des Es tut zu beeinflussen, der so selbständig wunderbar abzulaufen scheint, im Dichten, wie gesagt? Wo bleibt dann die Freiheit, von der ich sprach? Da ist sie noch einmall: Sie ist der spontane, momentane Eingriff in diesen Ablauf, der, wie gesagt auch ein vorbereiteter, kalkulierter sein kann, beide aber in Form einer Regel, von der Ad hoc-Hypothese bis zum Algorithmus. Mit diesen Eingriffen und dem Zulassen der schon vorhandenen Bewegung wird der Text, das Gedicht hervorgebracht, und bringt uns hervor, also beim: Bauen, Verknüpfen, Weben! Oder so.

Weiter. Bauen

S

23

Gar nicht so, nämlich anders als gewohnt, damit ein neues Wohnen entsteht (damit es vergeht und aufs Neue entsteht …!) Auch in der Architektur, nehme ich an, baue ich buchstäblich, wörtlich, wortwörtlich und bildlich in der Vorstellung oder im Verstand, an einem Gebilde. Das sich der Emotion via Empfindung dessen, was diese hervorbringt, nicht versperrt, sondern in Bearbeitung bringt: die wiederum vom Buchstaben — vom Ziegel —, über das Wort — die tragende Wand —, bis zum Satz — der ganze Stall —, schließlich bis in die In-Stall-ation führt. Und also das aufbaut und hervorbringt und zurücklässt, was sich in der nächsten Begehung und Besetzung wieder ändern darf: zur anderen Stadt, zum anderen Buch. Es als sie ist zu sehen, zu hören, zu greifen. Erweitert demnach. Und alles zusammen ist dann eben das handfeste Begreifen dieses Prozesses, der tut, was er will. Oder was wir in ihn hineingelegt haben, damit er tun kann, was er will. Solange wir, als Bausteinleger dies wollen, können, dürfen! Weiter!

System, Kopf, Herz. Wolfgang Bauers Prosa zwischen Modell und Unmittelbarkeit. S

24

A

2007

Schreibbeginn S

25

… Von fern, von außen, … so etwas wie einen „Schreibauftrag“ an mich herantragen … einen Schwall von Metaphern, der automatisch droht, wegstemmend … eine Denkbewegung entstehen zu lassen … mir vorzugaukeln, sie wäre von mir, … schon schließt sich rasch ein System … entfache eine Styvesant … hereinspaziert!

SYSTEM, KOPF, HERZ. WOLFGANG BAUERS PROSA ZWISCHEN MODELL UND UNMITTELBARKEIT Der Mensch, Einheit aus Kopf und Herz, Seele und Verstand, Körper und Geist. Der Mensch, Bruch, Differenz aus Kopf und Herz, Seele und Verstand, Körper und Geist. Der Mensch, das Individuum aus Einheit ODER aus Differenz, Bruch selbst bestimmt. Der Mensch, das System aus beiden, die das Gehirn ist — fremdbestimmt. Der Mensch, fremd- oder selbst bestimmt, durch was? Durch die Sprache, die seine, so sie seine ist, durch den Körper, so er seiner ist, und dann die Menschen und die Körper, deren, und vor allem die Körperschaften, also die Instanzen im Ich, im eigenen Haus, und die in den anderen Häusern, den Institutionen aller Art, also auch deren Sprachen, die immer nur die ihre ist, die des Sprechers, der hören lässt und verstehen, ebenso lässt. Wer spricht, schreibt nicht, sondern schreibt ein, erfasst, kritzelt herum und brandmarkt. Was?: Die Haut, das Papier, die äußere wie innere Leinwand oder jener janusköpfige Bild-Schirm, auf den er Zeichen setzt, oder auf dem ihm Zeichen gesetzt werden, auf dass er gezeichnet wird, so oder so. Auch der Schreiber, der Schreibende lässt lesen, es gibt keine Antwort, zunächst, er will keine Antwort, weil die Fragen, die es sehr wohl gibt, erst aus der Antwort entstehen, und die hat ja der Schreibende in der Hand. Hat er’s?

Wenn ich mir hier in Lanzarote die Frage stelle: „Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?“, dann … Die Kunst in meinem Fall ist es die Sprache, Kunst mit der Sprache ermöglicht eine Atomkettenreaktion, wie sie bei der Erschaffung der Welt vielleicht war. Das kann ich nicht sagen.

Ich kann mit der Sprache spielen, ich kann die Bedeutungen aneinander prallen lassen, daß es so vielfältig und schön werden kann — wie etwa die Natur, wie etwa hier diese Landschaft.

S

26

Wolfgang Bauer hat alles in der Hand, seine Helden haben alles in der Hand, es ist nichts, das ist das Nichts, einerseits als nihilistisches, gegebenes, unentrinnbares, andererseits als anarchistisches, aufgesuchtes, erreichbares, erreichtes. Das Nichts bei Bauer hat also zwei Seiten, Kopf und Herz, Herzkopf, Kopfherz. Bauer versucht das Unmögliche, die Identität, die er als Spaltung diagnostiziert, aber in der Kunst, in Form von Parallelwelten gleichzeitig macht. Dieses Prinzip der Gleichwertigkeit nenne ich Unmittelbarkeit. Das Jetzt, das nicht ineinander geht, sondern Nebeneinander daher schießt, und sich und das andere beobachtet und beobachten lässt. Das Mittel dazu, das Medium, ist die Sprache im Medium, das Reden in Bildern. Es ist also, aber keine Abbildungssprache der Realität, es handelt sich um eine Kunstsprache des Alltags aus künstlichen Bildern des Natürlichen und natürlichen Bildern des Künstlichen. Auch der Natur allein. Auch der Kunst allein. Es geht aber nicht um Jargonkritik, sondern um feeling, um Stimmung in dieser Naturkunst oder Kunstnatur, in der diese Sprache zirkuliert, die den Nährboden schafft für das Feld aus Sprachverhaltensweisen, die sich in den Handlungen abbilden und die Figuren gebrauchen:

Anfänge An diesem Tag herrschte heftiges Schneetreiben. … Ferdinand Lemdrusch lag oft den ganzen Tag im Bett. … Es regnete in Strömen. „Ich komme gleich“, rief Hilfa und schlug die Tür hinter sich zu. Enden Und dann flockte wieder Schnee aus dem Himmel. … Es regnete in Strömen. „Zieh dich auch aus“, rief Hilda und warf sich auf die Kautsch. Mitten Tags darauf raspelte gefrorener Schnee auf den Zelten. … „Au!“ stöhnte sie und warf sich auf das Laken. … Es regnete in Strömen. Es war ein Film mit Frank Sinatra.

System, Kopf, Herz. Wolfgang Bauers Prosa zwischen Modell und Unmittelbarkeit.

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Nicht die Figuren gebrauchen sie, sondern der Gebrauch gebraucht die Figuren, und diese halten dann ihre eigenen Bilder aus dem Gehirn entgegen, besser, dieses hält sie den kommunikativen Handlungen entgegen oder schaltet sie gleich, hintereinander oder parallel. Darin wird sie zur Alltagssprache, die herrscht, aber wer beherrscht sie besser, der Prolet oder der Gebildete, der Künstler oder der Wissenschaftler, der Bohemien oder der Priester, der Spieler oder der Groupier, der Fresser oder der Gefressene oder ist es so, dass das Objekt der Begierde, das zu Fressende sich zeigt, sich inszeniert, also lebt, auf der eigens entworfenen und aufgestellten Bühne lebt, und sich selbst auffrisst, das ist dann die Identität der aufgelösten Spaltung, der Ort, wo Ausgesagtes und Auszusagendes eins werden, aber er bleibt, dieser Ort dennoch draußen auf einer Projektionsfläche, einem Bildschirm, einer Leinwand, er bleibt Konstellation oder Installation, weil Bauer im Medium Sprache und Literatur agiert, aber weiß, dass andere Medien bereits da sind, weil sie da waren, es sind die des Bewusstseins, wo längst und seit jeher alles das läuft, was wir jetzt vor die Augen, in die Ohren und um die Sinne geknallt bekommen. Nur diesen Schreibstift haben wir nicht in der Hand, immer noch nicht, aber im Kopf arbeitet, zeichnet und verbindet er längst — im Fieberkopf, klar, dort sitzen der liebe wolfi und Wolfgang Bauer, wolfie, der den Brief erhält, unterzeichnet von Wolfgang Bauer, Autor. Und wolfi, der liebe wolfi, ist ein netter mensch, ein netter, ganzer — ein ganzer mensch, ein mensch wie du allein.

lieber wolfi, schau, du sitzt jetzt vielleicht auf einer netten wiese und liest diesen brief, schau her, es is ja eigentlich alles ziemlich wurscht, was? es is ja alles so schön, so fein, … du bist auf die welt kommen … wie ein batzen, so ganz selbstverständlich auto fahren tust auch gern … ich weiß, was du bist: … Wo ist dieses ganzer, wo sitzt es, wenn eins zwei sind? Alle Erfahrung ist subjektiv, unser Gehirn macht die Bilder, die wir wahrzunehmen glauben, glauben, als kämen sie aus der Außenwelt in uns, so wie sie dort sind oder wie sie dort ist, diese Welt. Aber was macht das Gehirn damit? Das Wichtigere daran: Alle bewusste Wahrnehmung hat bildliche Charakteristika. Auch der Schmerz ist darin lokalisiert, mit Anfang und Ende, das sich von einem Hintergrund abhebt. Dieser Hintergrund ist bei Bauer, wie gesagt, so gezeigt, die Parallelwelt, sie ist nicht Staffage, vor der sich das wahre Leben, der wahre Schmerz abspielt, nein, er ereignet sich nicht gleichsam, sondern tatsächlich in diesen zwei Universen, und in beiden wird er anders vermittelt, aber in der Rezeption des Lesers und Zusehers auf eine Art der Zusammenführung, die Botschaft ist, Verstehen von Kunst.

Dialektischer Midas Gunter Falk war Dozent für Soziologie … und einer der wichtigsten Schriftsteller und Denker des heutigen Österreich. … Alle Gedanken, alle Meinungen waren zugelassen, die idealistischsten wie die teuflischsten, sie alle wetteiferten hier unter der faustisch-neugierigen Natur des Doktor Falk. Es gab kein Spiel, das er nicht besser durchschaute als wir alle … Alles ist möglich, die Regeln sind wir. … Überall hast du deine Finger im Spiel, überall wirst du gebraucht, … Midas der unkontrollierten Kreativen … Midas der Hilflosen, der Frauen, der Armen … Alter, olé! Gunter Falk war für Bauer der stabile Schauplatz seiner selbst, das heißt, der reale G . F . schaut auf sich, andere schauen auf ihn, er hat seinen Platz, den ihm andere zusprechen sozusagen durch Anschauen, die zur eigenen Anschauung wird, das ist nicht nur Verquickung von Körper und Geist, das ist die Verquickung der Blick- und Beobachtungswelten in authentisch abbildender Weise, die zusammengehalten das Ich ergeben, wenn auch keine bleibende Identität, denn die soll ja ständig aufgelöst und neu eingelöst werden. Also auch das Ich wird wiederum Schauplatz, Stätte der Inszenierung, bei Falk für sein dialektisches Spiel mit Frau und Tod als Fixstarter, gemeinsam mit dem Alkohol als König der Synthese, die geistig gebildet und körperlich getragen wird vom dialektischen Organ in uns, dem Herz. Das schlägt, mechanisch tatsächlich, es hört auf, wann, wieso — also: Wo ist dann die Welt aus, wo fängt die Welt an, im Körper oder im Geist, erfahren oder ausgedacht, Wirklichkeit oder Modell, und das alles ein — Buch, mündet das alles ins Buch und in den Erzähler, in den Text von der Frau Welt, ins Bild, das nicht abbildet, sondern die Zeit still stehen lässt, um endlich Hier und Jetzt zu sein: drei Bücher werden gelesen, alle Figuren daraus miteinander und aufeinander bezogen, am Ende wird der Leser, der Autor, der Wolfi, wir, ich, sie zur Hauptfigur. Und die ist: der Schauplatz!, und selbst dieser wiederum so, als wäre er oder ich, also Bauer oder der Wolfi, selber nur mein Name.

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Literatur

Wolfgang Bauer, Kurzprosa, Essays und Kritiken, in: Werke in sieben Bänden, Graz 1989, Sechster Band.

Aber welcher, nun: Heinz, Frank, Ulf, Alex, und die Orte Canca, aber auch Gerlitzen-Merlitzen, Rauchkuchl-Fauchkuchl, aber auch der Patient Haida aus Villach und der Schriftsteller Wolfgang Bauer aus Graz, das alles im Fieberkopf, im Roman, besser in der System, Kopf, — Reise zum Gehirn. Dort sitzt das Modell, aber es ist ein Organ, das Herz. Wolfgang Wirkliche, es ist Jetzt und erzeugt das Danach, es ist danach und suggeriert Bauers Prosa jetzt, es simuliert Identität und es identifiziert Ähnlichkeiten als Einheit, zwischen Modell stiftet Sinn nach und vor der Spaltung dieser IDENTITÄTEN, die irgendwo und Unmittelbarkeit. in der Seele sitzen, die der Körper sein kann, die Sprache sein kann, das Kommunikative, Individuelle gleichsam, besser gleich, aber das macht einsam, und die der Stimmung entspricht, die dem

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FEELING entstammt, das wiederum stets, ja ununterbrochen an der Grenze des Klischees ist, sich selbst als Simulation zu überleben, also darin zu sterben oder in sich selbst geopfert zu werden — im Spiel, das an den Opfermechanismus von René Girard erinnert, in dem der fremde Sündenbock zum eigenen Heiligen transformiert wird, über den sterblichen Tod hinaus, der Mord war, aber dann eben ein Märtyrertod wird. Der in der zweiten Parallelwelt den Opfertod stirbt, und in der ersten Parallelwelt aufersteht als lebender Toter. Überhaupt: das OPFER, es geht um die Manipulation des Bewusstseins, die dazu führen soll, dass Erlösung stattfindet, durch das Opfer und im Opfer selbst. Es gilt dem Materiellen wie dem Experimentellen — am Menschen, der zum Gewinn durch den Menschen führen soll. Ausbeutung ist das nicht wirklich, Menschenleben aufs Spiel setzen schon, aber nicht nur, wenn es das des anderen auch ist, sondern nur dann, wenn es das des anderen ist —  weil ja dieses andere das eigene ist, ich und du, ja und nein, es ist immer —  wir denken an die Parallelwelt — das eigene Leben, das sich im anderen konturiert und zurückstrahlt in den eigenen Leib aus Verstand und Trieb, der wiederum in die Vorstellung desselben mündet. Die Vorstellung wird zur Inszenierung, aber die Inszenierung läuft im Kopf, der Körper ist, Zustand voller Energie, die zerstobt, Fieber, das zum Kältetod führt, das Material geht aus so wie der Gedanke verlischt. Feeling ist Stimmung, ist stimmendes Material. D. Diederichsen hat das brillant herausgearbeitet, hinsichtlich aller eingesetzten Ingredienzien, die vom Wort bis zur Bogenlampe und Donald Duck reichen. Wer mehr sein will als Staffage, Ich, der wird zum Material, die Unfreiheit der Freiheit ist total, weil sie in der Manipulation der Manipulation besteht, das Machtgefühle erzeugt, weil es die Mittel anwendet, die selbst am eigenen Leib gespürt. Also angewendet wurden und werden. Nur: Es schlägt sozusagen bildlich wortwörtlich auf den Machtausübenden zurück, der somit zum heldischen Selbstopfer stilisiert wird. Übrig bleibt das originale Kopiegenie aus Modell und Jetzt, das wiederum nur Modell vom Modell dieses Jetzt ist, und sich daran ergötzt, also auch zugrunde geht, wenn es kann, könnte, aber das ist ihm oft versagt — weil es wieder eins wird mit dem, was es am Anfang verlassen wollte, das Ich aus falschem Verstand und Gefühl. Und das Richtige, das gefunden wurde. Ist falsch, und umso mehr, der fühlende Automat, die denkende Marionette, wer die Fäden hält, ist egal, der Zufall allein aber darf es nicht sein, er wird mitkonstruiert durch die medialen Begrenzungen, die der Autor setzt, aber auch der Arzt genauso wie der Dichter oder der Patient oder seine Helden, die alles sind aus dem, was die Erstgenannten verkörpern: Ulf, Wolfgang, Halder, wolfi, alle nett, alle ganz ganz. Und W. B. hat alles in der Hand. Uns auch? Und haben wir es? Oder hat es uns?!

Die Arbeiten Nita Tandons … die Wahl

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Nach dem Denken, was Kunst nach dem Ende der Kunst sein kann, das sich als künstlerische Abwandlung im Material Gestalt verleiht, erfolgt der Sprung – Im Werk im Denken im Handeln von Nita Tandon. – Und in unserem Handeln; durch die Wahrnehmung der Dinge in uns, den Wahrnehmenden der Objekte, ihrer, Nita Tandons Hervorbringungen. Hervorbringungen? Welche sind das? Das sind sie: Eine Wiese und eine Matratze. Ein Finger und ein Abdruck. Eine Straßenwalze. Ein Schriftzug. Wörter. Zeichen — das alles im Dazwischen von Malerei, Architektur, digitaler Kunst, von Körper und Maschine, von Regelbruch und Regel. Es sind nicht nur die körperlichen Sinne, die den Kosmos des Sinns mitzusteuern versuchen, den Kosmos außerhalb und den innerhalb des Auges und der Dinge, der sie wahrnehmenden und herstellenden. Das Auge der Künstlerin und jenes von uns werden dabei medial erweitert. Maschinen, technische Prozeduren verlängern das Sinnesgebiet der individuell-körperlichen Erfahrung und zeigen deren Verflechtungen und Abhängigkeiten mit anderen auf. Was sieht diese natürliche und künstliche Auge, welche Verflechtungen, Erfahrungen, Abhängigkeiten und mögliche Freiheiten werden belichtet? Sagen wir es einfach so raus: Soziale Milieus und die in ihnen wirkenden Materialien werden beleuchtet, ins richtige Licht gesetzt, dem Schein entzogen. Hegels Gedanken zum Ende der Kunst und Platons Halluzinationen der Ideen verschmelzen zu einem Neubeginn, der sich dem Detail aus Sinn und Sinnen widmet, das heute ein anderes ist als in der Welt der Erscheinungsformen von 1991, in der Zeit vor Nita Tandons künstlerischem Sprung. Eine Zeit damals — nicht nur aus, aber doch — eine Zeit mit Beton. Heute, nicht nur im Kosmos Nita Tandons, eine Zeit der anderen Stoffe: Plastik, Spiegelfolien, Leuchtstoffröhren, Glas, Papier, Zelluloid, Plastilin, Menschen (ohne diese als Material zu begreifen oder gar sie als solches zu behandeln). Die Zeit an sich und jene des sozial wie kulturell gegenwärtigen Moments bestimmt immer das Werk, ist mehr als nur Teil seines Stoffes. (Auch Licht, so nebenbei, ist Zeit.): Zeitstoff. Kunststoff.

Der Kunststoff Nita Tandons änderte sich (wie gesagt). S

Wie 1991 ist der Begriff des Kunststoffes auch heute materiell und metaphorisch gemeint. Stoff, der die Kunst ist, und vor allem, Stoff, der die Kunst macht. Das kann auch der reale Kunststoff sein. Als Material. Auch als solches des Alltags. Die Zeit wiederum als Träger und beeinflussende Kraft dieses Stoffes, die Zeit als Sinnbild für das gegenwärtige soziale Feld, in dem die Kunst passiert, das die Kunst passiert, Passage. Und als Faktor der Wahrnehmung und Erscheinungsform des Werkes, vom Artefakt bis zum Code.

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Das war und ist der Sprung. Wir kommen wieder zu ihm zurück. Zu ihrem und damit auch zu unserem, den wir bei Betrachtung ihrer Arbeiten erfahren und aus ihm heraus mit diesen zu handeln beginnen: Im Fall der Matratze, die aufliegt, nicht fällt, Kunststoff eben, der auf dem natürlichen Stoff der Erde und des Grases liegt. Sich darüber füllt, füllen lässt. Wer füllt die Matratze, mit Luft, bevor sie liegt, und wozu? Menschen, zwei Männer vom sogenannten Arbeitsstrich in Skopje. Sie haben Namen: Goran und Zoran. Sie reimen sich, zufällig wohl, aber der Anonymität entrissen machen wir uns den Reim drauf: Zoran und Goran erhalten Lohn, die Kunst ist ein Markt, ihr Stoff gefördert und hervorgebracht durch Lohn. Geld. Das ist ein Wert. Ist es der Wert von Zoran und Goran? Und: Was sind wir dann wert? In diesem Spiel. Und überhaupt. Das sind Fragen, die zum Handeln führen, angeregt durch Beobachtung und Aufgreifen von daraus entstehenden Fragen, welche das Kunstwerk evoziert: Welcher Raum wird besetzt, besser noch: wird geschaffen, um zu zeigen, dass er immer ein Raum in Grenzen und in Abstimmung zu anderen ist? Die Grenzen. Die Abstimmung. Ich. Die anderen. Das Werk. Wir. Das Werken in den Werken von Nita Tandon: Ein Print. Ein Zelluloid. Darin, darauf — nur noch Zeichen. Nur? Noch? Nita Tandon verbindet die einst harte Ware des Objekts mit der heute flüssigen Essenz einer Praxis, die ihrer verwandelten Form der Anwendung eigen ist. Verwandlung, Form der Anwendung. Wir beachten die grammatikalische Konstruktion dieser Aussage: Form der Anwendung. Damit gemeint ist der bereits erwähnte Stoff der Kunst, der in der Anwendung seine Form findet, auf der durch das künstlerische Auge, das die Hand im Verstand ist, vorgearbeiteten. Die Verflüssigung des Sinns im System der Zeichen wird klar gemacht und inhaltlich semantisch neu erfahren. Wir lesen bewusst, was wir sind zu sein!

Die Arbeiten Nita Tandons … die Wahl

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Das ist die Hand im Auge von Nita Tandon, die uns zu einem anderen Schauen auf die Gegenstände, vom Objekt über das Wort hin zum Zeichen, die sie hervorbringt, führt und verführt. Führt: Die Dinge wie die Wörter stehen nicht mehr nebeneinander und bilden einen zufälligen Haufen, nein, gerade durch die Flüssigmachung, die Weichsetzung werden sie nicht nur gleichsam gegenständlich familiär. Die Ähnlichkeiten oder grundlegenden Differenzen, die sie als Familie ausweisen, werden sichtbar gemacht, erforscht vorher und dann in- und mit- und untereinander verbunden. Ihr geistige wie materielle gemeinsame Substanz wird zum Milieu eines Volumens der Stoffe und Materialien und Arbeitsweisen, wie sie sich vor der künstlerischen Bearbeitung noch nicht aufeinander zu bewegen und erkennen konnten. Verführt: Diese Familienähnlichkeiten (würde Wittgenstein sagen) oder grundlegenden Differenzen werden auch im betrachtenden Bewusstsein mitgeneriert, hervorgelockt, in unserem. Das ist Lust am Werk durch Tätigwerden im Werk. Das ist sein Offenes, das aus dem Sprung von einem Stadium in das nächste passiert, wohl die Weiterführung von Nita Tandons Kunst. Das Ding und der Finger sind sich nicht einig im Code, wir müssen uns diese Einigkeit, so sie nicht unüberbrückbare Differenz ist, erstreiten. In Auseinandersetzung mit der künstlerischen Arbeit und sofort auch in der Auseinandersetzung der Wirkung und Botschaft dieses Werkes in uns selbst. Printidentität. Wir sind dieser Abdruck — als einzigartiges Mitglied im Familienverband. Aber es ist vor allem das Ausweisende, das Erkennbare, das Fixierbare, das, was zu sein hat, weil es eindeutig ist, und demnach auch als Mittel der Ausgrenzung geeignet, dann wenn es notwendig sein soll. Nita Tandon zeigt, wie das Einmalige, das Offene in sein Gegenteil verkehrt werden kann, ins Geschlossene, in das es nicht einmal zurückzukehren braucht, weil es im Systems als solchen bereits angelegt erscheint. Es, wir waren nie in den Sinnen und im eigenen Sinn, sondern sind Print, auch eine Art Beton, oder zähes, unauflösliches Plastik, und wenn, dann klebrig. Luft rein, Luft raus, das ist der Weg? Aber wir wollen doch … fließen! Wie das? So: Lesend schauen und schauend lesen. Luft atmen und Luft ausatmen, die Zeichen anwenden und weiter tragen durch Fragen und Sagen und zeigen. Das wäre ein Ansatz zur Weiterführung der Kunst durch Handeln. Kafkas Messer, in die wir laufen, nicht nur gegen uns zu verwenden,

vielmehr die Möglichkeit zu eröffnen, die nächste Scheibe vom Leib nicht nur zu schneiden, weil wir uns nicht zurückleiden und auch nicht nach vorne in die Zukunft träumen wollen, sondern gegenwärtig formen.

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Dann formen sich die Teile eines Gegenstandes oder eines Gedankens zur Idee oder zum auftretenden Objekt und leben darüber hinaus und anders auch in uns fort. Dazu benötigt es die Schaffung eines Volumens durch einen bestimmten Umgang mit dem Material, in dem dieses Material gleichsam gebogen, verändert, mitverwandelt wird — eine konstruierte Vorderseite und Hinterseite des sonst eindimensionalen Abdrucks, wir suchen sie auf, Ein-, Zwei- und Dreidimensionalität erzeugen wir durch Verwendung im Wahrnehmungsraum. In einem Volumen, das Nita Tandon im Raum der Kunst, der von der Galerie bis zur Weise reicht, erspannt, der dort angehaucht ist von einer Praxis des unerwarteten Gebrauchs, die zu einem neuen Verstehen der Dinge und des Selbst, des Wir führt. Kennzeichnend dafür sind die Orte und die Medien, die aufgesucht und verwendet werden, um diese Differenzierungen herzustellen. Sie verlangen nach unterschiedlichen, bewusst gewählten Medien der Materialrepräsentation, die über eine bloße Inszenierung hinaus sich und uns bestimmen. Gegenseitig werden das Analoge und das Digitale, das Auge des Menschen und das der Maschine, die Umrisse des tatsächlichen Gegenstandes und die seiner digitalisierten Form durchtastet und erfahren. Was ist wirklicher ist nicht die Frage, es wirkt das eine im anderen über seine hergebrachten Erscheinungen hinaus. Wir nehmen diese nicht nur wahr, sondern greifen sie auf, tragen sie, die sie uns nicht selten oktroyiert werden, bewusst mit. Das führt zum Sprung. Zum nächsten.

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Verfransung — Die Sprachkunst und:

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Wo anfangen, wenn schon ein Anfangen zusammenhängt mit einem anderen, mit etwas anderem, gar dem Anderen. 1774 verfasste Georg Mathias Bose, ein Elektrizitätsforscher der ersten Stunde, das Poem, ich betone: das Poem Die Electricität nach ihrer Entdeckung und Fortgang mit poetischer Feder entworfen. Was wollte der Schreibende? Unter anderem forderte er zur Nachahmung der darin dargestellten Experimente auf. Es ging ihm aber vor allem um Analogien, zum Beispiel um die Beschreibung des Wunderbaren, das ebenso wunderbar geschrieben werden sollte. Der physikalische Gegenstand, meinte er, hat die Tendenz, poetologisch wirksam zu werden, es geht, so Bose, um Erregung von dichterischem und wissenschaftlichem Instrument, Kiel und Elektrisiermaschine werden parallelisiert und entfachen ein poetisches wie wissenschaftliches Feuer. Ein Rest der Unsicherheit über deren Verfügung allerdings bleibt aufrecht. Wo anfangen, wenn schon ein Anfangen zusammenhängt mit einem anderen, mit etwas anderem, gar dem Anderen. Ein Bild davon und die Sprache dafür mehr finden als haben; ein Schema, ein Gefühl, eine Vorstellung, die zu formen hin zu Modellen, diese verhandeln, ausführen eines Denkens ohne Geländer: vergleichbar der Metapher als Sinnbild niederer Wahrheit des Gesehenen und als höhere Wahrheit des Nichtgesehenen; als die sichtbare Darstellung des Nichtsichtbaren — so wie das in dichterischem und künstlerischem Arbeiten so oft der Fall ist, da kennen wir das. Dieses in gewisser Weise Unsichere der Übertragung und der damit verbundenen Wiederholbarkeit ihrer Darstellungsformen siedeln wir dort an! Aber im wissenschaftlichen Denken, mit seinen nachvollziehbaren, überprüfbaren und wiederholbaren Praktiken? Wo liegen dann die Felder des Machens und jene des Denkens — einander gegenüber, miteinander voraus oder ineinander verzahnt? Als komplexe Erfahrung und detailliertes Modell oder als detaillierte Erfahrung und komplexes Modell und so fort. Wenn wir den Kopf heben und das Auge in das eines Gegenübers richten, ja: dann ist dieses wahrnehmbar gegeben, außerhalb von uns und in uns zugleich. Das Gegenüber an sich existiert also bereits im Inneren hinter dem Auge, wird dort konstruiert, Pole kommen heraus oder Paare, Gefühl versus Verstand, oder, Herz mit Kopf.

Also: stehen sich diese Entitäten tatsächlich gegenüber? Fließen sie nicht, wie schon eingangs angefragt, mehr ineinander und verschränken sich! Verwuchern zum Geflecht aus Denken und Fühlen, aus Gruppe und Ich, aus Wort und Kontext, aus Leib da und Modell dort und so weiter!

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Das Feuer lodert, brennt! Stehen Sinn und Sinne tatsächlich in der Innenwelt des Individuums einander gegenüber? Sind sie nicht viel mehr grundlegend so in sich verzahnt, dass ein analytisches Auftrennen ihrer Verflechtung notwendiger wäre, um lustvolle Einsichten evozieren zu können, als ein synthetisches Verweben. Im Einzelnen wie im Kollektiv. Drinnen wie draußen und umgekehrt. Wer aber schreit dann auf in Trennungs-Lust oder Vermählungs-Schmerz, erregt oder kühl, wer entfacht das Feuer, setzt es von der Glut in Flammen? Was? Und wie? Und von woher und wohin gerichtet. Es äußert sich in jedem Falls etwas. Und diesem aus dem Mund oder aus der Feder oder aus der Maschine in den Raum des Gegenübers Gestellten — in dessen Ohr, dessen Hände , dessen Denken — diesem sich damit öffnenden Handlungsraum wollen wir uns heute und morgen hier widmen — und unser Hauptaugenmerk legen auf: die Verfransung von Dichtung mit den anderen Künsten, und, mit den diversen sozialen, ökonomischen, politischen und ästhetischen Feldern, in denen sie steht, wirkt, und die auf sie zurückwirken: Denken und Sprechen wollen wir über die Herkunft und dem Ziel der Äußerungen und Darstellungsformen, vom Gehalt und der Form, von der Wirklichkeit und den Relationen zu ihr, sollen diese geschriebene, gesprochene, gespielte oder aufgeführte sein. Auf der einen Seite orten wir gleichsam innerliterarische Relationen (— worunter wir im engeren Sinn Sprachkunst verstehen, im weiteren ihre Verfransungen in andere mediale Darstellungsformen und künstlerische Techniken hinein —); auf der anderen Seite die außerliterarischen Relationen, zu den Feldern der Diskurse und Theorien, den kulturelle Maßstäbe setzenden Institutionen, — und wir hoffen auf eine dritte Seite, die ich die des Um-Wissens nennen möchte, in dem sich die Gegenüber berühren, aber auch absetzen voneinander, möglicherweise selbstbewusst Differenzierung erfahren könnten. Wir lodern gemeinsam, aber einmal wird von dieser Seite das Scheit nachgelegt, dann von der anderen.

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Oder zumindest, nein, vielmehr: erkunden wir, wo diese Gegenüber Gemeinsamkeiten über die unbewusste Sehnsucht nach dem Anderen hinaus haben, ja diese sogar freilegen zu versuchen — kurz zumindest: als ein Aufblitzen in Kairos-Momenten der Einsicht, die als Gesetzmäßigkeiten festzuhalten schwierig sein mag. Aber geht’s darum? Sagen wir: Gesetzmäßigkeiten oder Regeln, Modelle, Ordnungen, Komplexitäten weniger festhalten als freilegen! Jene, die vorhanden sind, die vorausgesetzt werden und jene, die wiederum nicht vorausgesetzt werden. Diese werden sich nicht nur als der Dichtung und den Künsten innewohnende Gründe erweisen, aus denen heraus die hervorbringenden Äußerungen geformt, auf denen die Werke gebaut werden, die Einsichten zumindest ermöglichen. Diese aber finden sich auch in alltäglichen oder wissenschaftlichen Sprechund Handlungsweisen wieder. Nicht selten als Diktate. Sollten sie derartige Vorschriften sein, dann wäre der Schritt vor die Schrift ein Weg, um klarer zu machen, wie Abhängigkeiten erzeugt werden, um Vorschriften dann in Auflösungsbearbeitungen überleiten zu können, deren Bearbeitungsstrategien zumindest zuzuspielen. Ich schrieb vor einiger Zeit zum Werk des Malers Helmut Federle folgende erste Sätze: Wir wollen Wissen. Wir brauchen Unwissen. Ich meinte damit eines, das sich dem herrschenden Seh- und Sprechweisen entgegensetzen sollte. Und ich veränderte dann den Begriff des Unwissens in jenen des Um-Wissens. Nicht im Sinne eines Mystifizierens oder mit ihm auf das sogenannte Bauchwissen setzend, sondern auf ein Wissen der Wandlung, der Transformation, der Über-Setzung, der Verrückung, auch um sich selbst und vor allem aber um anderes Wissen herum. Ein durch gewisse Prozeduren Hindurchlaufendes und sich dort Veränderndes, anders: etwas, das durch sich Wandelndes hindurchwandernd sich selbst der Verwandlung hingibt, also weder unterliegt oder obsiegt. Ein Bild dazu, eines aus einer Schrift: Es blitzt, sagen wir, dann also auch: es denkt, und nicht ich denke, so Georg Christoph Lichtenberg in seinen Sudelbüchern. Das Denken wird zum Vorgang, zum Prozess, in der Wahrnehmung der inneren Erleuchtung und den damit verbundenen äußeren Phänomenen, des Kontextes, das ergibt dann die Momente des Grellen oder des Dunkeln; des Donners oder der Stille. Aber es handelt sich auch um einen Vorgang im Inneren der Wahrnehmenden, dort sich als Ablauf einstellend, automatisch oder nicht, das ist eine der Fragen: und die physikalischer Gesetzesmäßigkeiten, die Theorien dazu, ja, die gibt’s, aber sind sie ins individuelle Verstehen übersetzbar, denkerfahrbar? Warum also nicht auch solche Fragen an das Denken und Erfahren über die künstlerischen, kompositorischen, dichterischen, dramatischen, also mit über die reine Textproduktion hinausgehenden Praktiken zu stellen und zumindest versuchen, Antworten zu finden.

Unter Berücksichtigung der Verflechtung dieser innerkünstlerischen Ebenen des Äußeren wie Inneren mit denen der anderen Denk- und Wissensräume. Ein Herantasten an die sich selbst schreibenden und von außen geschriebenen Welten.

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Verbunden mit diesen Weisen der Welterzeugung die Macht- und Gewaltdispositive, die sie begleiten; auch und besonders in den Feldern über denen der Blitz auftaucht und dann hinein fährt: Machen wir sie zum Brand des Wissens, — wir bleiben beim Bild vom Feuer — zur Sammelstelle für um-gedacht erfahrbare Energie — wenn wir schlau sind! Oder zum erfahrbares Denken in Licht- oder in Dunkel-Ziffern, also zur selbst gewählten Zeichensetzung — wenn wir noch schlauer sind. Möglichkeiten der Unterscheidung wie des Gemeinsamen, die bleiben nicht nur bestehen, sondern tun sich auf, aber sie sind mehr als nur Einblick in die Gesetze des Vor-Gegebenen! Vielleicht helfen sie zur Entwicklung eines Ritus der Wiederholbarkeit ohne Wiederholung: Tag ist plötzlich Nacht im Donnerdunkel und Nacht plötzlich Tag im Blitz — gilt das dann als rein künstlerische Haltung, oder sind hier nicht vielmehr die Rahmenbedingungen mitzudenken, besser: mit-zu-erfahren?! Fragezeichen wie Rufzeichen seien hier mal gesetzt. Die sich hinter diesen Überlegungen verbergende Quasi-Theorie aber scheint mir immer noch mehr gemacht als vorgedacht zu werden. Die Erkenntnis entsteht vorrangig während des Machens, zeigt sich im Tun, im Prozessualen selbst. Nicht nur in der experimentell ausgewiesenen Literatur: Goethes Wahlverwandtschaften — konzipiert als chemisches Formelspiel, als anagrammatische Beziehungsgeflechte über die Namenssetzung? Ja, aber da läuft noch was darüber hinaus und darunter hinweg. Novalis Blüthenstaub — der verwirklichte Traum einer Universalpoesie im Ich- Bewusstsein, Sturz oder Absolutsetzung des Fichteschen Ichs. Ja, aber quer durch die Mitte durch läuft da noch was. Lichtenbergs Sudelbücher — das als experimentelles Labor des handelnden Denkens. Ja, aber umgekehrt verdreht klar läuft da noch was.

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Kleists erweiterter Inhaltsbegriff via Medientechnik zur Verfertigung des Gedankens während der Rede. Und dazu das andere der Bezüge, die Mathematik, die Schrift. Mayröckers Auto-Bio-Graphie als Schreibe des Lebens im Selbst, nichts als Autopoiesis?! Ja, aber was läuft da noch, was bewegt sich, formiert sich — UM?! Also doch noch etwas mehr, oder vielleicht weniger, gezielt -Abgestimmtes, bewusster Gewähltes oder zufällig Objektiviertes, ad hoc Angenommenes, Hypo-These: wie weit eine Methode nicht trägt: Fazit jedenfalls könnte sein: Alle diese Schreib- und Kunstweisen streben nicht nur nach anderen Erkenntnismöglichkeiten, sie versuchen es auch mit diesen. Aber der Weg in dieses begehrte Andere des Denkens und Machens, das Verlangen danach, ist es beschreibbar allein mit dem Begriff der Verfransung?!: Adorno hat ihn in die Welt der Kunst gesetzt, in diese eingepflanzt — ein Werk geht durch Werke hindurch, könnten wir verkürzt sagen, um zu sich zu kommen, es franst sich an seinen Rändern aus, um sich gleichsam medial erweiternd mit den Verfahren, Praktiken wie Theorien anderer Künste als die ureigenen zu verbinden, sich zu berühren, eben zu verfransen. Empirische Einbrüche des Realen, wie er sie umschreibt, kommen dazu, dann findet die künstlerische Arbeit zurück zu seinem eigentlichen künstlerisch inhaltlichen Anliegen und kommt zu dessen ästhetischer Darstellungsform. Wir greifen das auf, und suchen die Verfransung bewusst herbeizuführen und sie über ihre historisch-begriffliche Grenze hinauszuführen, glaubend, vermutend, dass sie in geistigen wie praktischen Verfahrensweisen der Kunst wie der Wissenschaft, aber auch anderer (wie der alltäglichen) kommunikativen Praktiken bereits, möglicherweise unbewusst automatisiert, am Werk ist. Am Werk sein, im Werk, das sich ausfranst — wohin: am Kamm des Poetischen ist der Grat dünn, aber begehbar. Damals wie heute. Die dänische Dichterin Inger Christensen spricht in einem Nachwort zu ihrem Buch Alphabet von dem Traum einer klassenlosen Sprache, den sie dichterisch träumt. Was heißt das: dichterisch Träumen, klassenlose Sprache?! Zunächst und vor allem, dass dieser Traum eine Praxis ist, eine Praxis des Schreibens (in Christensens Fall, da sie ja dichtet) — der aus der Hinwendung zur Mathematik besteht. Die Fibonacci Reihe wird zur Formgeberin eines Welt-Berichts, der das Mimetische der Nachahmung auf den Punkt des Gegenwärtigen bringt, nämlich auf eine sprachlich-bildliche Erzeugung dieser Welt, die sich im Moment des Schreibens und des Lesens aufbaut und erweitert. Ihr Schreiben verfranst sich, bevor es noch ausgesetzt wurde

mit einem anderen Bereich. Es setzt aber anders als üblich im Schreiben mit dem Modell einer anderen Repräsentationsweise oder algorithmischen Regel von etwas ein, die etwas aufbauen helfen, das so, wie es die Regelbefolgung vorgibt, sein könnte, was also momentan immer ist bis zum nächsten Moment einer Ordnungsfindung, die die Dichterin auf ihre Textpraktik überträgt.

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Sind wir also im Kontinent der Inger Christensen oder in dem Laboratorium des Gottfried Benn, wir erinnern an sein Prosastück: Lyrik (!!) oder in jenem Labor Bruno Latours? In ihrem, wo sich die Regel unbemerkt in die Genese der Welt-Wort-Erzeugung hinein verfranst, oder in diesem von Benn, wo die Wörter modelliert, zerlegt, gesprengt und wieder aufgeladen werden, auf dass sie über Jahrzehnte hinaus vibrieren? Oder in jenem der Hybriden der Vermittlung, die von den Objekten der Kunst zwischen Natur und Zivilisation und deren Kultur längst be-werk-stelligt wird?! Ich würde mir wünschen in beiden und irgendwie auch schon wieder anders wo auch immer aber bestimmt in etwa genau — in keinem von beiden, schon gar nicht allein zu sein. Sagen wir: In unserem Labor dieser beiden Tage wollen wir sein, und uns ein- und finden, umgeben von Sonne und Sturm, Gewitter und blauem Himmel, mit Wartenden vor der Tür, die wir selber sein könnten, das wollen wir nicht vergessen, der poetische Raum ist zu erweitern in jedem grundlegenden Sinn. Also, nach Celan, was ist ein Gedicht, was ist ein Symposion, was ist Ich, was ist Wir?: Ein Handschlag, schöner, um das geht es auch, ein Händereichen!

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Gespräch mit Zuzana Husárová

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ZH

2015

Zuzana Husárová FS

Ferdinand Schmatz

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ZH:

Alles fliesst, alles rauscht, alles klingt, das ist auf dem Unschlag deines letzten Buches Quellen geschrieben. Paul Jandl sagt, dass du höchst sinnlich von der Liebe zur Sprache erzählen und dabei dennoch auf höchst unterhaltsame Weise klug sein kannst. Auch in deinen vorigen Poesiebüchern ist die Interessiertheit an der Sprache selbst und ihren verschiedenen Formen zu fühlen, man könnte vielleicht auch von der Versessenheit in Bezug auf die Sprache reden. Wie kann man deinen generellen Zugang zum Poesieschreiben verstehen?

FS:

Tja, ich würde sagen, von der Skepsis zur Lust, das war und ist mein Weg in der Sprache, und ich betone das IN, früher war ich mehr ausserhalb der Sprachvorgänge, trennte Erfahrung und Bewusstsein von den sprachlichen Beschreibungs- und Abbildungsmöglichkeiten, heute bin ich mehr im Prozess eines Hin und Her von Sprache und ihren Repräsentationsformen inner- und ausserhalb meines Bewusstseins unterwegs — also in Bewegung, so könnten wir das alles fliesst und alles rauscht verstehen, wobei sich immer noch die Fragen auftun, was Wirklichkeit und Bewusstsein ist, sind, wer wen erzeugt, konstruiert und so, diese Fragestellung hat nie aufgehört und sie betrifft — für mich — alle sensiblen Komplexe der dichterischen Auseinandersetzung, auch die der historischen Poetologien oder die der politischen Gegenwart, wer was wie sieht, ist nicht von dem unabhängig, worin er sich befindet, in welchem Feld und mit wessen Mitteln er oder sie versucht, einen Themenkomplex darzustellen, WAS WIE WER, das sind schon die bestimmenden Begriffe für aufregende und erregende Gebiete des Forschens, vor allem in der Kunst und Dichtung, die sich mehr oder weniger bewusst, wenn sie entscheidend waren, sich immer diesem Forschunsbegriff stellten und die jenen Zweifel und jene Lust voraussetzen, die ich meinte, vor allem im Umgang mit Sprache und ihren vorgegebenen semantischen und syntaktischen Kategorien, und, natürlich, mit den so künstlichen grammatikalischen, die drei machen was her, und sie sind nicht nur unterwerfend, unterdrückend und lenkend, was den Blick auf oder in die sogenannte Wirklichkeit betrifft,

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— ja, der Blick, das ist der nächste Hund im Reich der menschlichen Begriffsherde, der Blick sollte für mich genauso in Frage wie die Sprache und ihre Formen stehen, ich möchte ja vom Blick ins Schauen geraten, alles fliesst, you know, also auch hier!

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Was das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, also deren Möglichkeit der Abbildung von Wirklichkeit anbelangt, vom Zweifel ausgehend, vom Zweifel an der Abbildbarkeit der Wirklichkeit an sich, habe ich Schritte gesetzt, die eigentlich gar nicht bewusst auf diese soeben genannten Fragestellungen und ihre herrlichen Scheiterungsvorgänge, die ihre Antwortversuche auslösen, ausgingen, es ging sozusagen mit mir in eine Richtung des Konzeptuellen, als ich noch gar nicht so richtig wusste, was das ist, Konzept, Methode, im Schreiben, in der Kunst, heute sehe ich das schon sehr eng mit meiner Arbeit verbunden, wenn auch losgelöst von methodischen und konzeptuellen Zwängen, ich versuche solche zu finden, um sie aufzulöen, wenn es sich ergibt, aber auch das Auflösen ist kein Zwang, kein Muss, es ergibt sich im Fliessen, im Rauschen, und allein der Begriff des Rauschens sagt ja schon, dass da etwas auch unklar sein könnte, ich würde aber lieber sagen, überlagert und unterschichtet, im besten Fall zugleich, gibt es etwas Klareres als den Anblick eines Wasserfalls, den wir hören und sehen zugleich, und wenn wir darunter stehen oder in das Wasser greifen, das ist doch ein Bild höchster Erkenntniskraft der Sinne und des Sinns, Klarheit, Schönheit des Denkens und sein Sturz in die Körper der Dinge und damit der Aufstieg beider, das wäre ein Traum, mein Traum! ZH:

Wenn du deine Poesie benennen müsstest (in irgendwelchen Weise), wie würdest du das tun?

FS:

Was ich versuche, ist Dichtung hervorzubringen, hervorzulocken, poiesis heißt auch machen, herausbringen. Was, weiss ich vor dem Machen nicht so ganz genau. Es existiert da so ein inneres Wissen, ein Kern, ein Thema, das mehr ist, ein Inhalt, den die Form und die Sprache, die ich und die mich dann verwendet, weiss, den hervorzulocken, das ist es! Bezeichnungen, Festlegungen auf eine

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ZH:

FS:

Art der Poesie, ich weiss nicht, da ist ein blinder Fleck, den ich allerdiungs in Bezug auf Selbstdefinitionen liebe, ja, ich weiss es nicht, mit einem Begriff zu benennen, was ich mache, was es mit mir macht beim Arbeiten, das ist vielleicht möglich, aber ich will es gar nicht. Soll ich es Dichtung der Sinne und des Sinns, den Versuch einer Ineinanderführung von Konzept, Intuition und Methode, verlautlichtes Denken und denkerisches Lauten nennen, na ja, muss nicht sein, das sollen andere herausfinden, warum eigentlich nicht! Du bist als grosser österreichischer Avantgardist beschrieben worden — welchen avantgardistischen und experimentellen Schulen fühlst du dich am nächsten? Ach, Avantgardist, Avantgarde, das ist heutzutage ein Begriff, der in die Werbung abgewandert ist und in das Design, schade, denn als Ausdruck einer Gruppe oder eines Subjekts, das versucht, Neuland zu betreten, auszuprobieren, was so noch nicht ausprobiert wurde, ist es doch immer noch aktuell, oder sollte es sein. Nur selbst kannst du dich nicht so sehen, ich bin Avantgardist, lächerlich, so darfst du dich nicht selbst bezeichnen, denn, was hiesse das, ich bin Avantgardist, lächerlich, die Arbeit wird es später dann zeigen, ob Zentren der Sprache, der Form, der Politik, des Sozialen durchbrochen oder überschritten werden konnten — darum geht es, und das auf friedlichem, aber unbestechlichem künstlerischdichterischem Weg. Da bin ich Idealist, der aber weiss, in welche Gefahren sich die Avantgarde mit ihrer starken Formbewusstheit begeben kann, weil sie damit Inhalte, die sozial-ökonomisch und vor allem human gewichtet sind, zumindest in der Geschichte der historischen Avantgarde manchmal aus den Augen verloren hat. Aber für Dada und die Surrealisten und auch für den durch und durch anarchistischen Lettrismus von Isou zum Beispiel trift das alles nicht zu, wir dürfen da nicht verallgemeinern, sondern müssen differenziert schauen und auch die einzelne Arbeit immer im Kontext des Feldes, in dem sie entwickelt wurde und auf das sie reagiert und besser: in dem sie agiert, sehen, auch im eigenen Feld, in jenem der eigenen Werke, meine ich.

Also da finde ich immer noch Anknüpfungspunkte, aber nicht nur in der Avantgarde allein; Kafka ist für mich genauso wichtig wie Gertrude Stein oder Joyce, und es gibt auch Autoren, die auch im Kanon der Avantgarde sozusagen am Rand stehen, die zu finden und daran, an ihren Arbeiten und Versuchen der Neupositionierung sich zu efreuen und Gewinn daraus zu ziehen, das liebe ich. In Österreich waren es sicher die Autoren der Wiener Gruppe und der sogenannte Wiener Aktionismus um Hermann Nitsch, die mich stark beeinflusst haben, und dann im Weiteren, aber ebenso engen Feld Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, klar. Aber mir war von Anfang an wichtig, und ich habe es sogar selbst für mich schon damals in den achtziger Jahren formuliert: Nie so schreiben wie Bayer, Rühm oder Wiener etc.! Respekt, Anknüpfung, Prägung für einen anderen Literaturbegriff, vielleicht einen der Forschung, des Erforschens von Wirklichkeit und des Bewusstseins, das diese Wirklichkeit erkennt und sogar selbst erzeugt, ja, ja, das war wichtig. Und hier stand der Dichter Reinhard Priessnitz ganz im Herzen dieser Fragestellungen, die er mit seinem schmalen, aber so wichtigen Werk — nicht nur für die österreichische Literatur —, geleistet hat. Seine vierundvierzig gedichte (1981 erschienen) sind beispielhaft für diese Haltung des dichterischen Forschens, das alle Traditionnen, die es sich anzueignen hofft, miteinbringt und, das ist entscheidend: transformiert, und, gleichzeitig mit neuen Formen experimentiert, die sich dann als klare und selbstbewusste Gebilde, als Gedichte zum Beispiel, ja als Gedichte nach der Konstellation, der Montage, des Textes und so fort behaupten. ZH:

Welche Autoren (nicht nur Schriftsteller) hatten den grössten Einfluss auf dich? Gibt es Einflüsse, die immer wieder wechseln?

FS:

Einfluss, ja, das geht oft sehr unbewusst, und umso tiefer kann es reichen, aus der Philosophie sind da sicher einige zu nennen, Wittgenstein natürlich, aber den lese ich wie einen Dichter, umso mehr besticht mich seine logische Rätselhaftigkeit, die immer auf etwas Anderes verweist, als auf das, was sie sagt, aber nicht zwischen den Zeilen, sondern so, als ob es einen Gedanke gäbe,

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der notwendigerweise hinter oder vor dem gelesenen Gedanken stehen muss und der sich auch irgendwie in uns Lesenden einstellt, ohne jetzt den ganzen Wittgenstein zu kennen, so sollte es auch beim Gedicht sein übrigens, das strebe ich an oder besser, so ergibt es sich hin und wieder, und natürlich seine Sprachphilosophie, vor allem die Verbindung zwischen dem frühen und dem späten Wittgenstein, was sowieso höchst fragwürdig ist, diese Chronologie, die fasziniert mich als dichterischer Versuch, also formale Kriterien wie im Tractatus mit den sprachhandlungs-orientierten Anweisungen der Philosophischen Untersuchungen in einem poetischen Modell zu verdichten, ohne nun direkt an ihn zu denken oder gar Stellen, Zitate oder so etwas wortwörtlich einzubauen. Ja, und vielleicht Montaigne, Kierkegaard, Whitehead wären noch zu nennen, vor allem Whitehead beschäftigt mich immer wieder, Realität als Prozess heisst sein Hauptwerk, das sagt schon alles, Dichtung als Prozess, da geht’s lang!

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ZH:

Du hast verschiedene Preise bekommen (z.B. Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis für Literatur (2001), den Anton Wildgans-Preis (2002), den GeorgTrakl-Preis für Lyrik (2004), den H. C. Artmann-Preis (2006), den Ernst Jandl-Preis (2009)). Sind deine Werke bereits vom Beginn deiner Karriere an positiv aufgenommen worden?

FS:

Es hat lange gedauert, bis meine Art zu schreiben einen etwas größeren Kreis erreicht hat, das hat aber kaum mit der sogenannnten Kritik im Feuilleton zu tun, hier wird immer noch das ignoriert, was als sogenannt schwierig, gar unverständlich oder eben vornehmer als hermetisch eingestuft wird. Die Situation für eine radikale Literatur ist eher noch schlechter geworden als in den achtziger Jahren und davor, früher war der Rand bezogen, wir, frage mich bitte nicht, wer das ist, Gruppe im eigentlichen Sinn, gab es keine, aber die Autoren und Dichterinnen wie Jandl, Mayröcker, Artmann, Priessnitz, Elfriede Gerstl und wir damals jüngeren wie Franz Josef Czernin und später dann in Deutschland vor allem Thomas Kling, wir arbeiteten dort, und die sogenannte Literatur war so etwas wie eine ganz andere Art von Schreiben, ja eine andere Welt gleichsam, die einen kaum berührte, — heute sind da

die Grenzen ziemlich verschwommen und unklar, gar nicht leicht heute, Position ausserhalb des Marktkarnevals zu beziehen. Aber auch damals gab das Gefeierte sicher nicht das her, was auch ich als Schreiben als Erkenntnisform bezeichnet, und, es auch so gelebt hatte. Jeder Text, jedes Gedicht ging mit mir an eine Grenze, die auch die existentielle berührte, das war auch in Lust und Ekstase gegeben, aber von Spass oder Unterhaltung im oberflächlichen Sinn war da nichts vorhanden. Die Kritik heute sucht diese Ebenen, um sie zu verwerfen, aber das, was sie als Literatur dann zu erkennen glaubt, ist weit entfernt von dieser hochsensiblen Arbeit am Ich, am Wir, an der Sprache und vor allem am Bewusstsein — und das In-Fragestellen all dieser Kategorien, wobei sich narrative und fragmentartige Strukturen durchaus mischen können, oder etwa wie bei Beckett sich eine Affirmation der Askese einstellen kann — aber das wird nicht gesehen, nicht erkannt, und so kommen dann diese eigenartigen Hybride, wie auch ich einen darstelle, in den Raum der großen Literatur, der dich gar nicht erkennt oder publik machen will. Jedoch in diesem gibt es einen engeren Kreis, der Wertschätzung und Anerkennung durchaus zurückgibt, und das hat sich dann auch mit einer kleinen Preisflut bei mir dann so ergeben, aber das alles kam so in etwa nach dem fünfzigsten Geburtstag, bis dorthin gilt man ja als Nachwuchsautor. Die Preise sind aber nicht nur finanziell sehr wichtig, sie bilden auch einen symbolischen Raum, der dich schützt, ja sie schützen das Subjekt, den Autor, mich, aber sicher nicht das Werk vor einer hoffnungslos oberflächlichen Kritik, speziell in Österreich. ZH:

FS:

In deinem Poesieuniversum finden sich nicht nur Beziehungen zwischen Texten und anderen Kunstformen —  entweder wie Urformen oder Urmotive schon im Schreibprozess oder wie Kooperationen. Aber du arbeitest auch mit einem konzeptuellem Zugang zu Texten, z.b. im Buch das grosse babel,n hast du Teile der Bibel, der Genesis um- und neugedichtet. Welche Rolle(n) spielen bereits existierende Materialien in deiner Poesie? Eine sehr sehr wesentliche. Von nichts kommt nichts, aber das Nichts selbst hat auch seine Quellen, die zu finden oder zu erzeugen, zu vergegenwärtigen, ein Zentrum der

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Leere dadurch zu schaffen, das gefüllt ist mit hineinzuzirkelnden Projektionen aus Wörtern und Bildern und Lauten und Zeichen, das hat mich immer wieder angezogen und versucht, verlockt. Das heisst, alles ist im Fluss und im Prozess begriffen, wir kommen wieder an den Anfang zurück, nicht nur hier in unserem Gespräch, entscheidend ist die Transformation, die Über-Setzung, der Dialog, und der kann das Denken und den Gedanken selbst betreffen, aber auch ein vorgegebenens Material aus Buchstaben oder ikonischen Zeichenträgern, im Fall des grossen babel,ns waren es die Bibel und ihre Texte, die mich fanden in ihrer wunderbar einfachen Sprache und gleichzeitig von großem Pathos getragenen Inhalten, und eine unangetaste Sprecher-Position, (sagen wir die Stimme Gottes, aber es ging mir nicht um das Unterwandern des Gottesbegriffs …), die ich brechen wollte oder kommentieren oder erweitern oder verkürzen, bei mir geht da immer alles auf einmal durch den Körper und den Kopf, da hatte ich zunächst einen Sound — im Kopf eben wie meistens beim Entstehen meiner Gedichte, dann kamen die ersten Formulierungen, nennen wir sie Verse, im Rhythmus des Erkennens, das mit den semantischen Bezügen gleichzusetzen ist bei mir, und los ging es, ich arbeitete mit der Luther-Bibel genauso wie mit den Bibeln, wie wir sie in den Hotelzimmern vorfinden, ich hielt mich an die Zeilen, die Abschnitte, die Kapitel, an die Figuren, an die Gleichnisse, aber ich brachte sie in Schwung, in einen Wirbel, der sich immer wieder in der begrenzten Form der Strophe zeigt, die bei mir oft der ausgedachte, also zu Ende gedachte Satz ist. Ja, Dichtung bei mir ist nicht nur Wort-Dichtung, sondern Satz-Dichtung. Ein Satz, der dieses Ende selber gar nicht kennen will und sofort auf den nächsten zuzugreifen beginnt, dann läuft die Arbeit. Und ich nenne sie deshalb auch methodisch, weil ich gewisse Regeln einbringe, aber diese auch zu brechen trachte, vor allem wenn sie zum Selbstzweck werden oder nur das Material der Sprache, die Oberfläche sozusagen, die Buchstaben, Silben oder Vokale manipulieren. Ich selbst habe für mich den Begriff Phantom der Methode gefunden, ich bin da wie ein Medium, das Regeln und Referenzen kennt, sie weiss, aber was dann wie rauskommt, geht irgendwie automatisch und ist immer geregelt improvisiert. Mündet aber dann in Schrift, und die hat

das, was sie als Aussage sagt, in sich stehend. Im Lesen, Wahrnehmen und Deuten aber wird sie wieder beweglich, das nennt dann die Kritik unverständlich, dabei mache ich das Feste nur flüssig, na ja. ZH:

Der amerikanische Autor Charles Bernstein beschreibt dich und Franz Josef Czernin als Freud’s Phantoms in seinem Buch Attack of the Difficult Poems. Ihr habt 1987 einen literarischen Skandal hervorgerufen, als ihr das Poesiebuch Die Reise: In achtzig Gedichten um die ganze Welt publiziert habt und ihr habt gesagt, dass die Poesie im Buch die Poesie schlechter Autoren kopiert. Es sollte eine Kritik der Literarszene sein und auch die Frage von Autorschaft und Motivation stellen. In demselben Jahr habt ihr das Buch Die Reise: In achtzig flachen Hunden in die ganze tiefe Grube geschrieben, das aus Essays besteht, aus eurer Kommunikation und der ganzen Geschichte vom Buch Die Reise. Ein anderes deiner Bücher heisst SPRACHE MACHT GEWALT. Welche Prinzipen/ Regeln etc. stören dich heute und was sind deine heutigen Formen von Aktion/Reaktion?

FS:

Ich glaube, das habe ich zum Teil schon beantwortet. Die Reisen, brrr, tja, das war so eine Art literarischer Selbstmordversuch, der aber von großer Heiterkeit getragen wurde. Wir haben schlechte Gedichte produziert, und fast alle haben sie für gut gehalten. Das war und ist ein wenig tragisch, aber auch bezeichnend für die Qualitätskriterien der Kritik. Und in den Essays haben wir auch Namen der Gegenwart gebracht, das hat natürlich kaum Freunde eingebracht.



SPRACHE MACHT GEWALT hat damit nichts zu tun, ausser, dass es für mich ein wesentlicher Schritt in so etwas wie das politische Schreiben auf eigenwilligem Weg darstellte. Kurzessays, die mit Zitaten und irritierenden Titel bestückt sind, ergaben eine Arbeit, die mir viel Genuss gebracht hat, weil ich Kritik an gesellschaftlichen —  und das sind bei mir vor allem kommunikative — Machtverhältnisse üben konnte, ohne den Zeigefinger oben zu halten. Ausserdem war der Titel wirklich der erste, der dieses Spiel mit der Doppelbedeutung von MACHT und macht etc. verwendet hat, das wurde bis heute in allen

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möglichen Variationen kopiert, also neu erfunden, Avantgarde heutzutage eben.

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ZH:

Wie, wann und wo schreibst du?

FS:

Ich versuche, täglich zu schreiben, das Wichtigste ist, einen Raum und Ruhe zu haben. Ich kann aber auch, wenn es eng wird, besondes wenn Abgabetermine drohen, fast überall schreiben. Das hat mit dem Raum der Konzentration zu tun, den ich beim Arbeiten versuche zu erzeugen, besser, der sich wie von selbst automatisch einstellt, so dass es, zumindest eine Zeit lang völlig egal ist, wo ich schreibe oder denke, das ist ja bei mir ganz eng verbunden. Und da ich kaum die sogenannte Realität abbilde, benötige ich auch keine unmittelbaren — ha, was wäre denn das, das Unmittelbare, wunderbar, diese Frage — Beobachtungen vor Ort, aber dennoch hilft es, wenn ich über Tokyo Gedichte schreibe, dass ich auch dort gewesen bin. Wichtig ist die Vergangenheitsform hier, gewesen bin, denn ich notiere kaum im Moment, sondern dichte sehr oft aus der Erinnerung heraus, die ich immer wieder gleichsam untersuche, zum Thema mache: was ist Gedächtnis in diesem Zusammenhang, das abgespeicherte Bild, das vergegenwärtigt wird, womit, mit einem neuen Bild, mit Wörtern von damals oder von heute, gibt es das überhaupt, damals heute, und die nötigen Wörter dazu, welche Rolle spielt da die Sprache in Bezug auf die Fiktionalisierung des Gegebenen durch Erinnerung oder umgekehrt, also alles das erzeugt diesen Raum des Denkens und Empfindens und Wahrnehmens, dass es nicht unbedingt notwendig ist, im Wald zu sitzen oder im Wiener Café. Für mich ist übrigens statt Erinnerung der Begriff des Echos wesentlich, Nach-Klang, Hören, Wahrnehmen dessen, was schon gesprochen wurde oder im Moment gesprochen wird, und widerhallt, das ist ein ganz wesentlicher Teil der Arbeit an der Dichtung als Prozess, vielleicht eine Art Strategie.

ZH:

Ausser Poesie hast du auch einen Roman (Portierisch), Hörspiel (Stück für Küchenradio) und Texte zur Theorie (Sinn & Sinne. Wiener Gruppe, Wiener Aktionismus und andere Wegbereiter; Lieber Herr Fuchs — Lieber Herr Schmatz! Korrespondenzen zwischen Dichtung und Systemtheorie; Radikale Interpretation. Aufsätze zur Dich-

tung) geschrieben. Kümmerst du dich um Genrespezialisierungen oder ist es wichtig, sie zu verschieben? FS:

Verschieben ist immer gut, aber es gibt Grenzen, sozusagen auch eine zweite Art des Denkens und Schreibens, ich kann in einem Essay zum Beispiel nicht nur in der dichterischen Sprache — Denken, Wahrnehmen und Verschieben oder und umgekehrt — sprechen, das passiert ja sowieso im Gedicht. Im Essay ist es schon gut, so nachzudenken, wie es sich gehört, also sehr ungehörig den Selbstversuch zu starten, wie wir etwas sagen, aber hier ist das Was des Sagens schon sehr wesentlich. Da taste ich die üblichen Formen der Grammatik und Syntax anders ab, löse sie nicht auf, verschiebe hier kaum Ordnungen auf dieser Oberfläche der Sprache, die aber sehr wesentlich auf unsere Erfahrungen einwirken, das ist schon klar. Doch wie gesagt, das versuche ich dann im Gedicht zu überwinden oder klarer zu stellen. Die Vielfalt der Formen hat mit dem Raum zu tun, von dem ich gesprochen habe. In ihm drängen sich verschiedene Themen auf, die verschiedene Formlösungen verlangen, oder ich probiere sie einfach aus. Ausserdem ist der Dialog, zum Beispiel mit den harten Wissenschaften auch sehr wichtig, genauso wie jener der Genres untereinander.

ZH:

Du hast mit verschiedenen Künstlern zusammengearbeitet: auf dem Gebiet der visuellen Kunst mit Heimo Zobernig für Bücher über Farbenlehre, weiters Die Kunst der Enzyklopädie und das Lexikon der Kunst, bei anderen Projekten auch mit Franz West, Otto Zitko und Tobias Pils und anderen. Mit mehreren Musikern hast du unter anderem auch Projekte wie Wien-Rhapsodie, Melodies & Harmonies, Schmatz & Muze durchgeführt. Daneben gab es auch Projekte mit Architekten. Warum ist es wichtig für dich, mit anderen Kunstbereichen zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten?

FS:

Ja warum? Einfach dehalb, weil sie mir äusserst wichtig ist, diese Zusammenarbeit, auch deshalb, weil ich sicher bin, dass alle diese Bereiche, Bild, Ton, Figur, Klang, Harmonie, Kontrapunkt, Rhythmus etc. im Gedicht am Werk sind, ja nicht nur am Gedicht, an allen Kunstwerken, dass am kreativen Prozess an sich alle am Werk sind, und

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sich dann je nach dem, was beabsichtigt ist — Malerei, Musik, Dichtung — sich das Hauptmedium durchzusetzen vermag. Adorno hat das Verfransung genannt. Ich mag das, ich weiss davon, aus der Erfahrung der dichterischen und diese erweiternden Arbeit, vor allem mit der Musik und der bildenden Kunst, wo die Zusammenarbeiten nicht im Nachhinein passiert sind, sondern tatsächlich miteinander entwickelt wurden, vor allem mit Heimo, Franz und zuletzt in der Musik, besonders die Wien-Rhapsodie betreffend, wo wir mit Stimme, Klavier, Trompete und Akkordeon zusammenwirken und die drei Musiker wirklich Giganten in ihrem Bereich sind, da habe ich unglaublich viel gelernt, auch, was die Genauigkeit des Vortrags anbelangt, und, dass Improvisation Training und Übung braucht, Übung Übung Übung …!

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ZH:

Denkst du, dass diese intermediale und interdisziplinäre Zusammenarbeit die Poesie bereichert und neue Impulse mit sich bringt oder nur andere Aussageformen präsentiert?

FS:

Bereicherung sicher, neuen Formen, da bin ich vorsichtig. Irgendwie wiederholen sich da alle Repräsentationen, fixe Gestalten, wichtig scheint mir, diese aufzulösen und in eine Art unmittelbare Anschaulichkeit, wie das der Philosoph Whitehead genannt hat, zurückzufinden, Kinder haben das ja drauf, Hund miau ist so ein Beispiel auf der Ebene der Benennung, oder einen Stuhl nicht als Sitzmöbel zu sehen, sondern als ein Bündel aus energieverschiebenden Zuständen — Farbe, Geräusche, Bildassoziationen etc., — die dann allerdings wieder zu formen sind, sonst verschwimmt ja wieder alles im Nichts, aber, na ja, das wäre möglicherweise die höchste Form der Kunst, des Künstlichen natürlich, auch so ein Wortpaar, das ich liebe: Das Machen von Kunst ist natürlich künstlich!, vielleicht (lacht), ist ja ein Eigenzitat, schrecklich.

ZH:

Was Lesungen/Poesieperformances angeht: Was ist für dich wichtig in Hinblick auf das Publikum? Was soll transportiert werden?

FS:

Ich kann hier Verstärkungen bringen, die mit dem oben genannte Satzbau zu tun haben, der den Sinn der Verse und Einzelwörter, wie gesagt, verstärkt, zusammenführt.

Ich lese ihn sozusagen aus, verbindend, brechend, Pausen setzend, dann verstehen die Zuhörende besser als beim Lesen, wie ich oft zu hören bekomme. Ausserdem schwingt dann der Klang, und auch die Rhythmussetzung steuert das Empfinden der Lauschenden mit, das trauen sich die meisten beim stillen Lesen allein nicht zu, auch deshalb ist Performance wichtig. Allerdings ohne allzu aktionistisch zu übertreiben, bei mir soll das dem Sinn dienen, ihn hervorzulocken oder wenn er allzu nahe auf der Oberfläche liegt, wieder zu brechen. ZH:

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Du hast mir einmal gesagt, dass ein Gedicht nach dem Tonrhythmus Na Na Nananana Na Na gestanden ist. Manche Leute sagen, dass sie deine Poesie nur verstehen, wenn du laut liest. Was ist der Schlüssel zum Verstehen, was die Verbindung zwischen akustischem und poetischem Denken in deiner Poesie?

FS: Du meinst die Entstehung der speise gedichte. Da bin ich im Nachtzug von Wien nach Graz im Speisewagen gesessen, mir gegenüber ein Mann in Salz- und PfefferHose, vor mir der Salzstreuer, das weiße Tischtuch und vor allem um mich herum und plötzlich in mir, das Rattern des Zuges, eine Art gleichmäßiger Rhythmus, der mir dann mit den Beobachugen in mir und außerhalb von mir, den Lauf des ersten speise-gedichtes vorgegeben hat, eingehämmert, etwa so: um / ge / topft / ein / e tul / pe ganz / lo / se ein / ge / pfroft … etc. und so weiter! Damit hatte ich die rhythmische Grundstruktur der Gedichte, besser, sie hatte mich, und da diese gleichbedeutend ist für mich mit den semantischen Implikationnen, war beinahe, beinahe das ganze Buch bereits im Spreisewagen fertig. Nun, da untertreibe ich, die Arbeit kommt dann schon noch: 10 Prozent Intuition, der Rest ist Arbeit, hat Priessnitz mal gesagt, wie wahr! ZH:

Was denkst du von dir selbst als Schriftsteller? Ist das eine Rolle oder ein Lebenszustand?

FS:

Für mich ist das Dichter-Sein keine Rolle, aber wir können nicht unabdingbar Dichtende sein, hmm, das vielleicht schon als Dichtende, Machende an sich, aber Dichter

Gespärch mit Zuana Husárová

und Dichterinnen als Person, im Alltag, im Brotberuf, so vorhanden und möglich etc., das ist eben un-möglich. Allein schon wegen der kommunikativen Vorgaben, ohne die der Minimalkonsens nicht möglich ist. Ich kann mir keine Zeitung mit Hund miau kaufen. Aber Rollen gibt es schon auch, am sogenannten Markt, wo ein Image verlangt wird, die un-selbst-ständige Selbstinszenierung, da gibt es schon ganz große Strategien, ich habe da nur kleine, wenige, kaum bemerkbare, die Öffentlichkeit ist nicht meine Stärke.

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ZH:

Hat die österreichische Literatur heute eine starke Position im sozialen und politischen Diskurs? Allein in Wien gibt es 3 Institutionen, die sich explizit mit Literatur beschäftigen: Literaturhaus, Alte Schmiede, Schule für Dichtung, und ihr habt auch viele Preise und Stipendien …

FS:

Wo ist der Diskurs in Österreich? Das sind eher Einzelpositionen, die bezogen werden, um nicht gehört zu werden. Trotzdem ist der Politik und dem sozial-ökonomisch herrschenden Feld irgendwie klar, dass wir wichtig sind, also stützen sie uns, fragt sich nur wo und wen. Die Stipenium- und Preissituation ist hilfreich, aber es ist wie ein Jahr Zuckerbrot, dann kommt die Peitsche. Es ist hier schwierig wie überall sonst auch. Vielleicht aufgrund des Reichtums des Landes spiegelt sich dieser ein wenig, winzigst auch in der Literatur- und Kunstförderung wider. Aber wir müssen auf der Hut sein und weiter verlangen, kämpfen und vor allem das machen, was sein muss, wie und was wir wollen! Auch ein wenig unbrauchbar sein, das vor allem auch.

ZH:

Dein Unterricht, Sprachkunst Seit 2012 leitest du als Professor das Institut für Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Schon der Name sagt, dass es hier um etwas Anderes geht als als um das traditionelle kreative Schreiben von Poesie, Prosa, Drama. Ihr macht dort auch ganz viel mit multimedialen und intermedialen Formen, Radiokunst usw. Ich sehe dort sehr viel kreative Zusammenarbeit zwischen Pädagogen und Studenten. Die Studenten haben so viele Möglichkeiten, schon im ersten Jahr ihre Werke

öffentlich zu präsentieren (manchmal auch jede Woche) bei Lesungen, Ausstellungen, in Büchern, Zeitschriften, Radio, usw … Was würdest du deinen Studenten, aber auch jungen Poetinnen/Poeten wünschen? Was würdest du ihnen raten am Anfang ihrer Praxis? FS:

Heterogenität ist da irgendwie mein Prinzip. Und der Dialog. Das kingt vielleicht ein wenig allgemein, aber auf jede Person, die sich bei uns bewirbt und aufgenommen wird, angewandt sind das für mich die Kriterien, die zählen. Möglichkeit der Vielfalt und des Dialogs, auf hohem dichterischen Niveau. Die Studierenden durchlaufen ja einen großen Bewerbungsvorgang, letztlich bleiben 15 von etwa 250 Bewerbenden im Schnitt übrig. Von diesen schreiben und arbeiten doch einige sehr unterschiedlich. Diese Unterschiede zu fördern, das heisst, die Kriterien der einzelnen Praktiken bewusst zu machen und gemeinsam zu entwickeln, das wäre es. Auf das Schreiben, die Schreibweisen bezogen und die Lehre, die wir den Studierenden anbieten — wobei Lehre vor allem Begleitung, Beratung, Förderung heissen soll —  ungefähr so, dass wir Lehrenden — und das Spektrum der Vortragenden ist groß und breit, es sind renommierte Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum, vor allem, also aus Österreich, Deutschland, der Schweiz, aber auch einige aus der Slowakei (schmunzelt) oder aus England z.B. darunter — dass also wir Lehrenden ganz verschiedene Lehrformen und Lehrprogramme praktizieren. Ich lasse die Art und Weise der Vorträge und Übungen völlig freigestellt, hoffe aber, dass es eine Balance ziwschen Theorie und Praxis gibt, wo auch historische Positionen einfliessen können sollten (der sogenannte Bildungsstand ist ja mehr als unterschiedlich, nicht nur bei den Studierenden). Also auch Lektüre, Lesen ist ein Thema, wie ästhetische, philosophische und konzeptuelle Positionen, die vom einfachen schriftlichen Werk bis zum leeren Raum oder einem Gegenstand auf der Straße oder sonstwo führen können, der aus einem sprachkunstaktuellen Anlass entwickelt wurde. Die Möglichkeit der Entwicklung von schöpferischen Vorgängen, der Zusammenhang ziwschen den Künsten und den sozialen, politischen Feldern, der ja unabdingbar gegeben ist,

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scheint mir wesentlich. Wir sollten ihn nur erkennen, durch eine Art künstlerisches Forschen die Abhängikeiten und Freiheiten herausfinden, durch Stören, — etwas stört hiess ja ihr Seminar — oder durch affirmative Verstärkung. Das alles über eine Vielfalt oder genaue Positionierung der Medien, die dafür notwendig sind. Sprache ist nie alleine, Kunst schon gar nicht, und Sprache und Kunst zusammen als Sprachkunst ist etwas offenes und zugleich zutiefst historisches, das viele Quellen zu berücksichtigen hat und letztlich immer wieder auch zum Text oder zum Wort oder zum Schrei oder zum Schweigen zurückführen kann. Der Begriff dessen, was wir machen, ist eigentlich immer neu zu definieren, er ändert sich von Projekt zu Projekt, von Wort zu Wort und Satz zu Satz, von Bild zu Bild, und von der Buchseite bis zum Screen, oder von der Haut bis zum virtuellen Raum, letztlich aber kehrt alles wieder ins Innere, also in diese Haut und unter diese, unsere Haut zurück, sonst hinkt es. Und dieses Hinken oder reibungslose Funktionieren ist ja unserer Gegenwart höchst eigen, da können wir viel tun, es gibt immer wieder eine Menge zu tun. Wir haben noch viel zu tun. Auch in der Lehre, die Lehrenden und die Studierenden gemeinsam, und dann doch wieder höchst individuell ausgesetzt — es kann schon auch gefährdend und gefährlich werden. Aber das soll nicht der Ausgangpunkt des gemeinsamen Arbeitens sein, wenn es so wird, dann liegt es in der Arbeit und in deren Auswirkugen für jene, die es brauchen und denen es helfen wird, und für jene, die sich in ihrer Macht und Herrschaft bedroht fühlen. Wenn wir gemeinsam und einzeln entschlossen arbeiten, dann wird das so bleiben und weiterhin etwas bewirken. Keine unmittelbare gesellschaftlich Änderung, das zeigt mir nicht nur meine Erfahrung im dichterisch-künstlerischen Arbeiten, ist ein Chimäre, aber eine Haltung und Überzeugung, eine Sichtweise und Verhaltensänderung im Einzelnen, das schon, das kann sich hin und wieder einstellen. Und wenn das auch für die Wiener Sprachkunst gelten sollte, wie ich hoffe, dann könnte es es wie eine Schule von Wien werden, vergleichbar der antiken Schule von Athen, offen und konstruktiv, logisch und inspiriert zugleich, wir setzen uns auf den Stiegen im Institut zu-

sammen oder im Wiener Stadtpark, aber schreiben genauso die schönsten und anarachistischsten Texte per Schrift auf die Wand, ins Buch oder in und mit welchem Medium auch immer.

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Ausrichtungen, Ansätze, Perspektiven zu Verfahren, Positionen, Bezüglichkeiten — in der Dichtung der Gegenwart also auch S

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A

2008

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im historischen und im sozialökonomischen Feld

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Die Frage: Was bestimmt die Dichtung, wenn sie behauptet, das zu sein, was sie ist? Dichtung in sich und aus sich heraus? Aber: schafft sich die Dichtung tatsächlich unabhängig vom Feld, in dem sie steht? Wird sie doch in einer Umgebung hervorgebracht, die diese Hervorbringung mit bestimmt? Ist sie teilweise davon beeinflusst? Oder ganz?! Wenn das so oder so wäre, dann die Frage: Wie findet die Beeinflussung statt, durch wen in wem? Wie ist das Verhältnis von dichterischem Gegenstand und den gesellschaftlichen Bedingungen — nicht nur hinsichtlich des Themas, das gewählt wird, oder das einem gewählt wird, sondern ästhetisch umfassend? Weitere Perspektiven dazu: Separatismus der Kunst oder Autonomie der ästhetischen Funktion in der

Dichtung — wie werden die Schichten des Werkes vom Artefakt bis zum umfassenden Sinngehalt von der Gesellschaft, der Wirklichkeit berührt oder bestimmt?

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Nebenfrage: Wie wird diese Wirklichkeit erfahren und eingebunden — als objektive Realität einer Außenwelt, oder als subjektive Konstruktion einer Innenwelt? Und wäre Dichtung aus beiden die ANDERE Wirklichkeit in diesem Spannungsfeld Innen/Außen —  als das der vorgegebenen Wirklichkeit dazu Gegebene oder als das daraus Weggenommene oder als das ineinander miteinander Verwandelte und somit: in sich das ANDERS Gegebene, das durch Transformation der Botschaften aus der Um-Welt auch diese mit transformiert, oder gar neu erzeugt: im Spannungsfeld zwischen poetischer Tradition und dem zeitgenössischen Zustand der Mitteilungs-Sprache!

Exkurs 1 Theodor W. Adorno betont in seiner Ästhetischen Theorie die Eigengesetzlichkeit der Kunst als auch ihr Eingebundensein in gesellschaftliche Prozesse. Kunst ist Form die Natur beherrschender Vernunft, Werke kommen zustande, indem Material — Sprache, Töne, Formen, Farben — zu einer Einheit zusammengestellt werden. Das ist ihre Rationalität. Kunst ist Ergebnis rationaler Konstruktion. Allerdings ist die Fügung des Materials so radikal, dass die Werke in ihrer Stimmigkeit als rätselhaft erfahren werden. Das Material tritt in seiner Individualität hervor, Materialfreisetzung bewirkt die Rettung des Vielfältigen, das unter Zugriff der herrschenden Vernunft verloren geht. Kunst ist so Rettung des Nicht-Identischen. Aus kultischen Bedingungen gelöst, eigene Gesetzlichkeit ausgebildet, autonom geworden, beweist sie Unabhängigkeit von vorangegangenem Werk. Eine Herausbildung kanoAusrichnischer Formen darf damit gar nicht erst aufkommen, jedes Werk ist Angriff tungen, Ansätze, auf das ihm vorangegangene. Perspektiven Mimesis ist nicht Nachahmung der Natur, sondern dem Mythos verwandt, zu Verfahren, Positionen, rekonstruiert sie, was dem neuzeitlichen Subjekt im Lauf der Emanzipation Bezüglichverloren gegangen ist. Keine Nachahmung der Natur im Sinn der Inhaltskeiten — in der ästhetik erfolgt, sie steht in Wahrnehmungsrelation — eines gewaltlosen An- Dichtung der Gegenwart schmiegens des Subjekts an das Objekt, sie ist bestimmte Negation, Wideralso auch legung der Ratio und ihres identifizierenden Denkens und dessen Herrschaft über die Natur und über die Menschen. Mimetisches ist ein Korrektiv der Ratio, Modus der Rede. Und so ergibt sich ein Rätselbild der Kunst aus ihrer Konfiguration aus Mimesis und Rationalität. Kunst bleibt Schein gegen den

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Schein, aber ist auch gebunden an das Historische. Obwohl sie das bloß Historische negieren will, ist Geschichte in ihr sedimentiert. Als Kritik am unwahren Ganzen steht sie im Spannungsfeld zum Authentischen, das auch im Widerspruch zum Ästhetischen steht. Kunst ist nicht durch Invarianten deutbar, sondern durch ein Bewegungsgesetz, im Entzug von bloß Wirklichem und Freisetzung eines anderen. Der Schock ermöglicht den Durchbruch von Objektivität im subjektiven Bewusstsein, und, unterscheidet sich in dieser Ausdrucksform von der meinenden Sprache, und, ist gleichzeitig der andere Teil einer verloren gegangenen ganzen Sprache. Allerdings bleibt dieser Zugriff auf die Realität gestisch, Lettern der Kunst sind Male einer Bewegung, Chiffrenschrift des geschichtlichen Wesens der Realität, nicht deren Abbild. Gibt es eine Geschichte dieser Ein-Bindung und Um-Erfindung an und von Welt, die nicht nur Abbild ist, kann die Findung der Gegenwart, auch die der gegenwärtigen Dichtung, unsere Gegenwart aus der Geschichte herrühren, aus der Tradition, die dynamisch aufgegriffen und mitverwandelt wird? Etwa die des historischen Poetismus? Etwa die der historischen Avantgarde?

: Der historische Poetismus nicht als Kunstprogramm verstanden, sondern als Lebensprogramm. Der Wunsch der Gründer soll ja gewesen sein, das Leben als ein Gedicht zu betrachten. Ziel des Poetismus war eine über-politische optimistische Betrachtung der Welt. Daraus entwickelte sich eine Schreibweise aus der Lust am Sprachund Lebensspiel. Alles Dasein wurde erklärt als — Gegenwart. Und die wurde empfunden, dieses Empfinden hieß: Glück, aber: Kann Glück kommuniziert werden, und, vorher, herbeigeführt, erzeugt werden im Einzelnen? Der Poetismus sagt: Ja, und argumentiert trieb-sozial, verbindet den Körperzustand des einzelnen mit dem der Gesellschaft. Schnittpunkt ist die Sprache als Punkt der Bilder, die diese Emotionen verwandeln in, wiederum, Bilder aus Sprache, und Sprache, wieder und andersrum verwandelt in Bilder. Diese werden kommuniziert, in dichterischer Rede. Kennzeichen ist der poetische Dialog, der so etwas wie eine dramatische Form des Gedichts darstellt. Wie im Drama sind gegenwärtige zwischenmenschliche Momente ins Spiel gebracht, um: der Entfremdung in der gesellschaftlichen Welt die Einbindung in eine poeim historischen und im tisierte Gegenwelt entgegenzuhalten, die durchaus analytisch gebildet wird. Eine dichterische Untersuchung der Um-Welt in der Erlebnissphäre des Ichs, sozialökonomischen das nicht mehr alleine empfindet, das sich aus den vorgegebenen WahrFeld nehmungen, die zu den Verstellungen führten, selbst herauslöst durch Entstellung der gegebenen Verhältnisse, und deren weiterhin poetistischen Verwandlung …

: Die historische Avantgarde als Exempel einer Verbindung von Lebens- und Schreibweise in der Überwindung der Lebensform durch Hinwendung zu neuen Ausdrucksformen wie: Abstraktion, Konstruktivismus in der Literatur. Die Überwindung der aktivistischen Verssprache durch die Numerierten Gedichte z.B., welche die Rezeptionserfüllung nicht im Glück der Masse, sondern im Erkenntnisprozess des einzelnen suchte. War es zum Beispiel im tschechischen Poetismus die Proletarierdichtung, welche die Basis für den avantgardistischen Poetismus bildete, so in der ungarischen Moderne die ungarischen Aktivistenkünstler, die eng an politische Utopien und handfeste politische Agitationen gebunden waren. Kann und konnte dieser Schulterschluss gut gehen? Untersuchen wir das, zeigen wir uns das hier im Berliner Gespräch.

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Ich fang mal an:

Exkurs 2 Poetismus in Tschechien: z.B. Vitézslav NEZVAL Epilog zu einem beliebigen szenischen Gedicht: Der Epilog als Mann, der unter dem Arm eine Gans trägt … das ist nicht Surrealismus, sondern Verwandlung, die keine ist, eher eine Verbindung zweier Bereiche oder Gegenstände, die im gleichen Feld (tot oder lebendig, konkret oder abstrakt etc.) stehen, aber in ihrer Einzelbedeutung weit auseinander liegen (etwa Mensch / Tier oder Text-Epilog / Mensch — was wäre hier das Verbindende, oder Verbindliche) oder im Fall dieses Gedichts von Nezval zweier Lebewesen, die das sind, was sie sind, Gans und Mann, aber im Text ist der Mensch der sprechende Epilog, und die Gans eben die Gans (das Tier), die dann losgelassen wird, als Gans, aber dann doch plötzlich verwandelt zum Fräulein Lea, also eine Art Phantasma, das gegenwärtige Gestalt annimmt, während der Epilog plötzlich vom Mann als Textfigur zum tatsächlichen Dichter Nezval wird … diese Verwandlung von real zu erfunden, von gefunden zu ausgedacht, von ausgedacht zu real … Avantgarde in Ungarn: z.B. Lajos KASSÁK Auf den Julifeldern Aufruf, Pamphlet, aber die Form: konstruktivistisch entworfene, klar gezirkelte und gleichzeitig stark bildbetonte Felder, mit lautgedichtähnlichen Einschüben, über die hinweg oder hinein oder hinaus — wohin — politisch agiert, aufgerufen, zugerufen wird, argumentiert, nein idealisiert: ParteidichAusrichtung mit den stilistischen Mitteln der Avantgarde (welcher, der ungaritungen, Ansätze, schen, Dada, Surrealismus, Wiener Sprachzweifel-Philosophie) --- eine lo- Perspektiven gische Verbrüderung oder parasitäre Ver/Anwendung einer Schreibweise mit zu Verfahren, Positionen, zielgerichteter Wirkung??!

Exkurs 3 Für Jan Mukarovsky stützt sich der Poetismus auf gewagte kleine Exzesse der Theorie — so: Er kommt aus dem Osten, und dort geht Jakobson und der Strukturalismus vor, und Mukarovsky um!

Bezüglichkeiten — in der Dichtung der Gegenwart also auch

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Er versteht die Dichtersprache als funktionale Sprache und als Material: was sie nicht (nur) ist: sie ist (nicht immer) ausschmückende Äußerung, Schönheit ist kein bestimmendes Merkmal der Dichtersprache allein. Saldas: hat den Mut, ungewaschene und unfrisierte Wörter von der Straße zu nehmen und sie zu Sendboten der Ewigkeit zu machen. Die Dichtersprache ist nicht mit der emotionalen Sprache identisch (macht ihre Mittel zum Zweck, in Beziehung zur Einzigartigkeit ihres Schöpfers etwa), sie greift auch zu anderen Sprachschichten. Sie ist nicht durch Anschaulichkeit (Plastizität) allein ausreichend charakterisiert, in bestimmten Perioden kommt es auch zur Zuwendung zum Abstrakten, Nichtanschaulichen. Bildliche Charaktere sind auch nicht ausnahmslos charakteristisch, auch das Individuelle (als betonte Eigenart des Sprachausdrucks) nicht, persönlicher Stil auch außerhalb der Dichtung möglich. Die Dichtersprache, nur durch ihre Funktion anhaltend charakterisiert, ist keine Eigenschaft an sich, sondern die Art und Weise, in der die Eigenschaften einer gegebenen Erscheinung ausgenützt werden. Auch wenn die ästhetische Wirkung, die Funktion dominiert, führt das zwar zur Konzentration auf sprachliche Zeichen, ist aber das Gegenteil einer wirklichen Ausrichtung auf ein Ziel, im Fall der Sprache auf die Mitteilung (als Zielen auf den Ausdruck selbst), ist es grundlegend eine andere Erscheinung als das Zielen auf den Ausdruck zum Zwecke seiner Präzisierung (wie in der logischen Ausrichtung bei Carnap etwa). Die außerästhetischen Funktionen des Sprachzeichens verschwinden nicht aus dem Blickfeld des Betrachters, vor allem die Funktionen Bühlers (darstellend/expressiv/appellativ) führen dazu, dass der Sprachausdruck oszilliert zwischen diesen Funktionen — anschließend, abweichend, verschiedenartig kombinierend. Ästhetische Selbstzweckhaftigkeit, dazu geeignet, Verhältnis des Menschen zur Sprache und das der Sprache zur Wirklichkeit ständig neu zu beleben, innere Zusammensetzungen des Sprachzeichens neu zu enthüllen und die Möglichkeiten seiner Anwendungen aufzuzeigen, schöpferisch aus dem Vorrat der übrigen Sprachschichten! Trotz Verletzungen der Schriftsprache, ihrer Norm, bildet diese den Hintergrund, auf dem das sprachliche Moment des dichterischen Werkes aufgenommen wird, gerade die Abweichungen vom schriftlichen Gebrauch werden als Verfahren gewertet.

im historischen und im sozialökonomischen Feld

Das trifft nicht auf andere Schichten der Schriftsprache zu, z. b. Argot oder Dialekt, bietet aber neue Typen des Bedeutungsaufbaus von Sätzen, Wörtern selbst, Neologismen wandern eher selten ein. Sprache wirkt und existiert auch außerhalb der Kunst, ist derart unabhängig von den Sinneseindrücken, appelliert an keinen der menschlichen Sinne direkt, sondern indirekt an alle Sinne !!!, ist also intime Einbeziehung in die

Zusammenhänge des menschlichen Alltagslebens, ist auch in das System einer bestimmten Nationalsprache eingebunden.

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Also, etwas für heute, uns?: die wortwörtliche entscheidung des dichters, sein auge, sein wort dazu, dafür, das auge als wort, auf etwas zu richten, und so zu tun, als wäre das da draussen, das, was innen abgebildet werden könnte, auch wenn es anders abgebildet werden soll, muss, das manifest verlangt es, klar, es geht gegen die ordnung der grammatik, der syntax, es geht um die erweiterung des wörterbuchs, es geht um die enzyklopädische verbindung des entfernten wie um die trennung des nahen, aber immer wieder in bezug auf eine einheit, die das durchführt, das dichterische subjekt, aber wo sitzt das, da drinnen oder da draussen, hat es hunger oder füllt es die münder der hungernden mit … wörtern, bildern, nimmt es darauf bezug, was dort zum überleben führen könnte, das frisch aufbereitete satz-mahl zum löschen oder bepinseln der male?! Noch einmal zurück: Die ungarische Avantgarde war in Wien, aber wo war die Wiener Avantgarde, Serner nicht in der Stadt, Ehrensteins Wien weint hin im Ruin, ist es Bettauer, ist es Paul Angel, Baudisch, sind es die Vergessenen, unsere Avantgardisten? Der Surrealismus winkt in die tschechische Avantgarde, aber wieso nicht nach Wien? Wo ist Dada in Wien? Nirgends. Aber er findet sich im Budapester Wien. Wieso? Weil es andere Verknüpfungen gibt, andere Ausblicke, die sofort zu Einblicken werden, in das, was möglich schien und sich als unmöglich erwies, die gesellschaftliche Revolution über die Kunst, die Dichtung, und deshalb die konsequente Befragung des Systems Kunst, der Dichtung selbst? Also etwas für heute, uns: die gegebenheiten der geschichte, das verlassen der herkömmlichen landschaft, eine art exil, die in aktivismus umschlägt, also in handeln, aber ist es handeln, kann es handeln sein, in der literatur. die avantgarde sagte: ja, es ist, oder sagte sie: es soll so sein. was machte sie, sie montierte und sie montierte sich sozusagen individuell verschieden, aber eben doch ausgerichtet in das allgemeinere feld, der gesellschaft, des sozialen, aber dieses findet sich in der literaturzeitschrift wieder, im text, im entwurf, im manifest, im konzept, aber verändert es was im sozialen feld, es verändert etwas im feld literatur, wo sich die schreibweise als lebensweise einbürgert, aber in Ausrichder formulierung stecken bleibt oder im einzelwesen, das dann wiederum tungen, Ansätze, soziale wirkung hervorruft, nämlich in der vereinnahmung duch die dem Perspektiven system übergeordnete instanz, der staat, die regierung, die diktatur, was zu Verfahren, Positionen, weiss ich, nein, das ist historisch nachzusuchen, und löscht den ansatz aus, Bezüglichoder inhaliert ihn und saugt ihn auf und in die ideologie hinweg. keiten — in der Das also zum Besonderen im Allgemeinen. Dichtung der Gegenwart Und als nächstes Besonderes, das: also auch Das Gedicht ist ein Fest des Intellekts.

Das Gedicht ist ein Debakel des Intellekts.

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Paul Valèry und Andre Bréton legen sich fest. Was ein Gedicht ausmacht, ist Konstruktion, Erzeugung auf der einen Seite, Destruktion, Auflösung auf der anderen. Doch diese Polarität greift zu kurz. Nicht nur für die Poetik Valèrys und der Surrealisten, sondern jede Poetik an sich, die den Wert eines Werkes mitbestimmt, miterzeugt. Die Poetik und das Werk, gibt es dieses Paar? Ich behaupte nicht, die Poetik ist das Werk, aber, wenn etwas ein Werk ist, ist es dann ohne Poetik möglich, wenn wir Wert, Wirkung und Funktion als Parameter für eine Poetik aufgreifen, und, aber, sofort fragen: Was wirkt wie in einem dichterischen Werk, welcher Wert wird herauszuarbeiten versucht, welche Funktionen, welche spezifischen Ausdrucksmittel sind am Werk, wenn sie schon nicht das Werk allein konstituieren? Anders gefragt: Kann ein Werk, ein dichterisches Werk ohne Poetik zu beinhalten, auftauchen, existieren, zum Vorschein kommen? Und: Was ist ein Werk? Was ist Poetik? Was ist Dichtung? Was sind Wert, Funktion, Wirkung? Dichtung ist ein Werk, das seine eigene Poetik im Aufbau einer Welt mitreflektiert, indem es sie entwickelt, nämlich beide, die Welt und die Poetik, und diese als Ganzes ist: Inspiration, Imagination, Intuition und ein Regelkatalog, ein Kalkül, Regelmechanismus, womit sich die nächsten Fragen eröffnen: Was ist Inspiration? Was ist Imagination? Was ist eine Regel? Was ist ein Mechanismus? Eine Regel und eine Imagination sind, in der Dichtung, etwas Gewähltes und Freies zugleich, das heißt, gebunden an die Intuition des Dichters und an die Verbindung dieser Intuition mit etwas Festgelegtem, wodurch das Werk, die Botschaft der Dichtung ständig in Schwebe gehalten wird.

im historischen und im sozialökonomischen Feld

Dieses Festgelegte wird vor dem Dichten gewählt, aber es verändert sich während des Dichtens, so dass das Gedichtete schwebt, was nicht unklar, verwischt heißen soll, sondern die Möglichkeit der Deutungen erhöht, potenziert, um auf den Kern der Botschaft während der Lektüre vorzustoßen, besser: vorzuwandern. Denn es ist mehr ein Tasten, ein Schauen, das zur Einsicht führt, die eine Übersetzung ist, ein Tun, ein Gehen, ein Wandern, als ein Blick, eine Festlegung, eine Erfassung.

Die Lektüre ist nicht nur Lesen, sie ist auch ein Entziffern, ein Stillhalten, ein Zurückgehen, ein Teil der Poetik, der nicht angelegt ist vom Dichter, der aber in der Rezeption wirksam wird durch die Art und Weise der Kernerarbeitung durch Intuition und Kalkül.

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Es ist der ad hoc-Mechanismus des Freien, der aus Vernunft, Kalkül und Intuition Dichtung hervorbringt. Ja, Hervorbringung ist es, Hervorlockung aus dem Inneren des Erfahrens, das seine äußeren Bezugsquellen findet, erforscht, erzeugt. Finden ist Erfinden, Erforschen ist konstruieren, Abbild ist Bild, Wirklichkeit ist Wirklichkeit, die nächsten Gleichsetzungen und Ausdifferenzierungen zugleich, die das Werk als Dichtung kennzeichnen und es mit einer Poetik versehen, die niemals regelnormativ allein ist. Sie, die Dichtung, die Prosa, Gedicht, Drama sein kann, aber auch das, was universalpoetisch oder das ihr zu Grunde liegende Medium überschreitend, zu deren Vermischung führt, die nicht chaotisch, verwildert oder gar planlos erscheint, sondern so wie die Botschaft an sich, an sich schön sein kann. Die schön sein kann, als Form, aber auch hässlich in ihrem Inhalt. Die Form selber ist immer schön. Aber was ist schön? Was ist die Form? Was ist der Inhalt? Alles zusammen ist das Gedicht. Es ist nämlich aus Inhalt und aus Form, und nur dann ist es schön, wenn sich beide Ebenen treffen, kreuzen, miteinander vorantreiben oder das zähmen, was die Intuition oder die Regel in Gang gesetzt hat, also das, was wahr ist.

Exkurs 4 Mukarovsky setzte den Schritt vom Formalismus, alles im Werk ist Form, zum Strukturalismus, alles im Werk ist Bedeutung: Der Horizont des ästhetischen Objekts ist nicht das subjektive Bewusstsein des Individuums, sondern die überindividuelle, intersubjektive Ebene des gesellschaftlichen Bewusstseins, auf der sich die historische Bewegung der ästhetischen Haltungen und Normen einer bestimmten Gesellschaftsgruppe realisiert. Der dynamische Bereich des Ästhetischen wirkt im Kollektivbewusstsein als ein die Zeit durchlaufender Kräftekomplex, als angesammelte AusrichErfahrung aus der Begegnung mit vorangegangen Werken, auf deren Grundtungen, Ansätze, lage erst die Konkretisierung des neuen Werkes eintritt. Perspektiven zu Verfahren,

Positionen, Bedeutung ist Präsentieren der Wirklichkeit, die Bestimmung der Bedeutung Bezüglichist, auf jene Wirklichkeit zumindest hinzuweisen, die das Zeichen meint. keiten — in der In der Verknüpfung mit dem historischen Prozess, in dem sich sein Sinn sta- Dichtung der Gegenwart bilisiert. Das Werk selbst wird als dynamischer Prozess, als Geschehen also auch des Sinns begriffen, als Erscheinen einer Wahrheit, die nicht als fertige Wahrheit vor dem Werk vorhanden ist, und die außerhalb der konkreten einmaligen Gestalt und der ästhetischen Realität des Werkes nicht begriffen werden kann.

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Also, für uns: Das Gedicht schafft sich seine eigene Wahrheit, da sie Sprache als Substanz und als Mittel verwendet. Diese Wahrheit ist nicht zu verstehen im Sinne eines Richterspruchs, sie muss im Leser immer wieder erarbeitet werden: als wiederholte Lektüre, die nicht automatisiert abläuft, sondern die Regeln, die dem Gedicht zugrunde liegen oder die das Gedicht sich selber schafft, anwendet und stets anders oder neu erfährt. Ohne sie erlernt zu haben — weil sie in der Form des Gedichts stecken und im Inhalt, der nicht anderes ist als: Gestaltgehalt. Die Regel, die ihn in Kombination, Widerspruch oder Gleichgewicht mit der Phantasie, besser: Imagination schafft, ist so eine intuitive Regel. Es ist die Idee Baudelaires vom durchgehenden Zusammenhang, der sich in freien Rhythmen äußern kann wie in den prosodischen Konventionen, die tief im Inneren des Menschen sitzen, die er anwendet, aber nicht weiß, als beschreibbare Regel. Das ist mit intuitiver Regel gemeint, die das Gedicht erzeugen soll oder zumindest abrufen können, nicht nur als Stimmungsimpetus im Dichter, sondern im durch den in das Machen des Gedichts hinein verwobenen Leser. Poetik ist Machen. Poesie ist Erfahrung dieses Machens. Dann ist es. Ohne es wäre Dichtung, ja Erfahrung, Welt nicht möglich, ob sie jetzt gebrochen, erweitert, irritiert, ins Rauschen gebracht wird oder nicht, der Bezug zur Vernunft, Organisation, Abstimmung bleibt, und er leitet Poetiken ein, die eine absolute Sicherheit des Wissens unterwandern, und ihr eigenes, umgedeutetes, aus der Erfahrung mit und in der Sprache hervorgebrachtes Wissen in Spiel bringen, das mehr als ein Sprachspiel ist:

blickt zu mir der Töne Licht und oder:

je preiser einer gefällt wird, desto durcher fällt er Zwei Formulierungen, aus Brentanos Abendständchen, und, aus der Sprachfackelei von Karl Kraus:

im historischen und im sozialökonomischen Feld

Warum verstehen wir beide Aussagen, nicht sofort, dann schon, dann wieder nicht. Dann, schon, wieder nicht, also noch einmal, noch einmal, und immer wieder die Frage, gibt es die Poetik, die ich meine, die mich ergreift, etwa die:

Die Beschreibung der Welt mündet in die Zerschneidung der Welt. Alles Verabredete wird aufgekündigt. Aber die Beschreibung geht weiter und weiter. Die fünf Sinne genügen nicht. Das Buch des Körpers und der Dinge

wird neu verfasst, nichts bleibt an seinem Platz. Alles ist in Bewegung. Die Grenzen der Wahrnehmung werden hinaus geschoben — im Bewusstsein, das die Welt ist. Sein Alphabet fügt dem Wörterbuch der Erfahrung den sechsten Sinn hinzu. Dieser kommende Sinn lädt und staut sich in den Wortverbindungen auf. Bis sich ihre Energien in der Sprache entflammen. Auf einer Bühne des Bewusstseins, wo mit Wut, Trauer, Witz und Ironie lapidar phänomenal auf- und vorgeführt wird: das Unheimliche am Bestehenden, am Gegebenen, das im Alltag, im Reden, im Namen, im Schauen, in den Bildern regiert.

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Dieses Diktat, das den Umgang mit sich selbst und den Dingen bestimmt und das Verhalten regelt, wird ans Licht gebracht, mehr als in Frage gestellt. Die Antworten des Dichtens bestehen nicht nur aus Gefundenem, sondern vor allem aus Erfundenem. Auch das (ohn)mächtige Ich erfindet den anderen und sich selbst. In einer Wirklichkeit, die aus mehreren besteht, auch aus Sprachschichten und ihren diversen Modellen des Redens, vor allem aber des Zeigens. Diese Sprache zeigt, diese Dichtung ist Phänomenologie, die ihr aufgeschaukeltes Boot der Empfindungen und Wahrnehmungen auf offener See des Textes umbaut. Das führt auch zu Verrenkungen, aber eröffnet ein Verlangen, das tief geht, in Lust. Möglicherweise ein oberflächliches Spiel am Grund. Aber mit eigenen Vorgaben, um im Bewusstsein jene unbefleckte Stelle zu finden, wo sich das Ich nach selbst bestimmten Regeln ereignen kann. Das wäre mit ein Traum in eine Poetik der Gegenwart. Real. Nicht realistisch. Er könnte eine Maschine sein, die ihre Räder von sich stößt, und ihre Regeln verliert … Was uns am Schluss wieder zum Anfang führt: zu den Bausteinen einer künftigen Poetik: Das vage Präzise, das unbestimmte Bestimmte, das Subtile, die Komplexität: Subtil — das wäre der lebendige, detaillierte Ausdruck eines einfachen Gefühls, das Intensivierung erfährt. AusrichKomplexität — das wäre der Vorgang der Erweiterung dieses Gefühls durch tungen, Ansätze, seine Intellektualisierung. Perspektiven Und umgekehrt: die Erweiterung einer Idee durch deren Emotionalisierung. zu Verfahren,

Ich spreche vom Fühlen und Denken in Bildern, vom Gleichgewicht von Objektivität und Subjektivität, von Form und Inhalt. Das zeichnet die Poesie? Aus? Ein? Die damalige, die heutige, die von Morgen lassen wir mal, Zukunft schließt aus, es hat das zu im Wort.

Positionen, Bezüglichkeiten — in der Dichtung der Gegenwart also auch

Wem also bin ich im Wort, wenn ich das Wort dichterisch gebrauche, setze? S

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im historischen und im sozialökonomischen Feld

Ich höre nicht auf, ich fange wieder an und habe nichts zu sagen, außer:

Frost — Brocken daraus, Splitter dazu

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27 Tage, 6 Briefe: das Auge, der Fuß, der Leib, die Rede, die Hand, das Papier, der Stift, die Maschine, die Schrift. Fangen wir an, wir haben gelesen und berichten darüber — wir ich: Wo beginnt etwas, wo werden die Unterscheidungen greifbar, sichtbar, ist es das Sehen oder das Gesehen-werden, das uns ausmacht und mit dem wir die Welt in uns herein holen in unser Ich oder jene mit diesem auszubilden versuchen? Einer redet, einer hört zu, einer schaut auf den anderen — und so auch in sich, einer schaut nur in sich — und so auch nach draußen, sein Kopf ist so groß, dass alles, also die Welt hineinpasst, aber wie diese sein wie sie darstellen? Der andere ist der Zuhörer und der Anschauende, aber ist er der Angesprochene, gilt ihm die Aussage oder die Botschaft des Sprechenden? Ist er überhaupt ein Zuhörer, er beobachtet ja, schreibt auf, sinniert still aus sich vor sich her, manchmal sprechen Sprecher und Beobachter miteinander, aber die Distanz bleibt oder bricht weg, es gibt keinen Ausgleich, keine Verbrüderung, es gibt keinen Kompromiss in diesem Text, in diesem Stück Sprache, in diesem Stück Drama, in diesem Stück Leiden, in diesem Stück Diagnose: Frost. Der Autor: Thomas Bernhard. Der Held in diesem Roman: der Text als gesprochene Schrift — bestehend, sich zusammensetzend, sich entwindend aus dem Studenten, dem Beobachter, vor allem aber aus dem Maler Strauch, dem Bobachteten, aus dem Dorf Weng und seinen Einwohnern, aus der Landschaft — aus Natur, Objekt und Mensch, aus Denken, Reden, Schreiben — das ist Alles und Nichts, der Text. Das Protokoll spricht, doch es ist kein Protokoll der nüchternen Poesie, obwohl die eine einfache Sprache spricht, keine Metaphern, aber starke, einprägsame Bilder aus der Feder eines Beauftragten. Was wird beauftragt? Es wird die Beobachtung beauftragt, und der Beobachtete wird erst in der Beobachtung zum Beobachtbaren. Er schafft sich, ohne es zu wissen, das ist der Kunstgriff des Autors, aus der Fremdbeobachtung heraus. Er selbst stellt fest, handelt, dirigiert, verlangt, befiehlt, fragt. Aber das Fragen ist ein Antworten in den eigenen Spiegel hinein, der den Studenten umkleidet. Schon in der Frage blitzt die Antwort auf. Nur — es gibt kein Land der Hörer, es gibt keine zu Belehrenden, nur den Untertan, es gibt zwar das Außen, aber das ist das Andere, und es gibt nur den Körper, das nie Eigene, der sich in diesem anderen findet, aber nicht zu Hause fühlt. Der Student und der Maler Strauch, sie sind sich in dieser umspannenden Körperwelt nah und entfernt wie Opfer und Täter oder Geliebte und Geliebter oder Geliebter und Geliebter — Leidenschaft und Gewalt, Hingabe und Unterwerfung, Hass der Nähe, Zuneigung der Ferne, das sind die Eigenschaften, die sie einander entgegenbringen und die um sie herum aufgebaut werden — von ihnen, von den anderen, vom Erzähler? Wir werden sehen.

Die Gegenwärtigkeit ist jedenfalls derart total, dass sie nur in Abwesenheit umzuschlagen versteht. Die Mond-Erde-Distanz ist kleiner als die von einem zum anderen, die so groß ist wie die des Herzens vom Verstand. Vor allem die Abwesenheit des Körpers ermöglicht die Anwesenheit der Gedanken, aber nur so lange, als diese Abwesenheit als halluzinierte erfahren wird, im Moment der Wahrnehmung des Körpers regiert dieser den Gedanken und setzt alles und alle gleich — mit Schmerz, mit Fäulnis, mit Krankheit, mit Frost. Das ist dann der überdimensionale Kopf aus Köpfen, geköpft von den Sätzen der Analyse, die dieser durchführt — von der Philosophie bis hin zur Schneeschaufelei. Dieser Kopf ist die anderen. Die Hölle also, die sie sind, liegt in ihm, dem Kopf, der sie sieht und durchschaut, manchmal schwappt seine erkaltete Lavaflut über und überdeckt das im Auge des Schädels vorgeformte Bild, das vom Innen diktiert wird: erbarmungslos, gewaltig, unnachgiebig, konsequent analytisch von einem inneren Gegenstand zum anderen äußeren, vice versa. Der wie zufällig aus dem Beobachten herrührt, aber der diesen Zufall sucht, schabend, grabend, erhitzt, aber meistens frierend, fröstelnd, kalt.

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Das Themenkonzentrat in Frost: der Schmerz. Es gibt zwar ein Zentrum des Körpers, das ist der Schmerz, aber es gibt kein Zentrum des Schmerzes, so wie es keines der Gewalt gibt, alles zerstreut sich und ist punktuell verdichtet — alles?! Das ist: Thomas Bernhards Modell von der Welt, das ist Alles und Nichts. Dieses Modell ist auch der Begriff. Es ist ein Modell aus Modellen, oder ein Begriff aus Begriffen, die von keiner Schaltstelle aus regieren, aber dennoch regiert werden: über dem Schmerz gibt es den Überschmerz, um diesen herum den Monumentalschmerz: dieser Schmerz sitzt im Körper, der also selbst den Schmerz repräsentiert, nein, dieser ist, und der ist im Kopf, der Kopf, dort ist das Gewicht des Schmerzes, der Welt ein: ERDBALL, ALLES IST VOLL ZERRISSENER HARMONIEN. Übermodell oder Überbegriff, das sind: Tod. Leben, Kunst, Wissenschaft, Natur, Stadt, Körper, Geist. Sie hängen zusammen, aber sind zerrissen bereits in sich selbst. Immerhin — etwas schwingt, was?: eine Harmonie zwischen Modell und Wirklichkeit, zwischen der Vorstellung oder dem Begriff und der Wirkung von Schmerz, zwischen Rede und tatsächlichem Schmerz, zwischen Kopf —  als Leib — und dem Kopf — als Ort der Theorie. Und etwas schwingt zwischen dem Persönlichen, dem Ich, dem Sie, dem Wir, und dem Allgemeinen, dem Dorf, der Landschaft, der Welt — das: Vor allem die Rede als Feststellung, die aus dem Hinweisen kommt, es wird gezeigt, und das, was gezeigt wird, kann und muss auch gesagt werden: Sehen Sie, sagte der Maler, immer wieder, immer wieder, und dann sagt er, was er sieht und was der andere sehen soll, sagen wir Monolog der Anschauung dazu oder Dialog der Einverleibung: Strauch, der An-Sager, er ist Opfer und Beherrscher seines Sehens und der daraus resultierenden Theorien zugleich, er stellt sie dar, spricht sie aus, aber sind es Aussagen oder ist es ein: Aus sagen —

Frost — Brocken daraus, Splitter dazu

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denn: Der Zusammenhang von Kopf und Fuß, Körper und Gedanke — sie alle sind nur im Schmerz vereint, der seiner zu sein scheint. Das Modell aber greift er nicht, aber es ergreift ihn, und so gesehen, geben ihm seine Theorien den Blick auf die Welt auch vor, er ist blind, aber sein Fleck ist nicht in ihm, sondern die ganze Umwelt, und auch die Seele passt da hinein: Sie ist Bestandteil der All- und Existenzsätze, die als superlative Verabsolutierung dastehen wie Monumente, gestützt oder gebunden durch eherne Attribute und Adverbien, überall, immer, absolut etc. Die Seele ist mit dem Themenkomplex der Erinnerung verknüpft. Auch sie wird geschaut. Theorien geben die Fetzen von Merkwürdigkeiten ab, ein Plan geht ihnen voraus, der unausgeführt bleibt. Es handelt sich um den Lebensplan, der still steht, verharrt, das Selbst. Das Nichts aus Beobachtung. Aber manchmal wird diese Selbstbeobachtung durchbrochen, der Maler zeigt dem Beobachter seine Schleimbeutelentzündung am Fuß, die aus dem Kopf kommt — und hebt im zeigbaren Schmerz die Trennung von Körper und Geist auf. Ist dort der Ort, die Seele, ist sie das Verbindende? Aber der Schmerz als der Kopf ist und bleibt Inbegriff seiner selbst, und dieses Selbst ist der Schmerz, der Schmerz in ihm, aber wie: expressiv, intensiv, distanziert, objektiv? Was er freilegt: Die Vertrottelung und Versumpfung des Dorfes etwa, sie ist ein inhaltlich gezeichnetes Submodell für die Um-Welt, es ist wohl Österreich, aber es ist ein Modell für alles, für jede Körperschaft, die alles verloren hat, weil sie es nie zu besitzen lernte — das Menschentier: Gendarm, Wirtin, Wirt, Wasenmeister, Töchter Kinder etc. Doch da gibt es die Gegenfigur. Die Haushälterin, die Geliebte, die Ausgebeutete, aber auch die dem Maler Strauch die Augen öffnende Frau, sein Gegenbild, sein anderes Spiegelbild, das sich sogar mit dem der Wirtin summieren ließe: Außer in ihr, bin ich in allen längst tot. Ist das das Problem?: Nicht wieder zu leben, sondern überhaupt zu leben oder gar: ganz tot zu werden, wie? — Durch Widerstand, der ja Leben wäre, aber der misslingt, weil er nur Wort ist, WORTKONSTRUKTION: Wirklichkeitsverachtungsmagister Gesetzesbrechermaschinist Menschenwillenverschweiger Immerhin: Damit lehnt sich Strauch gegen OBEN auf. Was, wo ist oben?: Das Dorf, die Welt, der Kopf?! Wo sitzt dieser, in der Erinnerung, der Kindheit? Auch dort drei Wörter, die ihn zum Tod erschreckten:

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Stimmen diese Wörter noch, sind sie die wahre Erinnerung? Damals gut gesagt, heute gut notiert? Denn: Kein Ausgesagtes stimmt, aber das Aufgeschriebene spricht in der Wahrheit der Rede. Der Text löst dies auf paradoxe Weise ein: Der Beobachter nimmt die Übertreibungen des Beobachteten hin, kommentiert das von ihm Aufgeschriebene nicht wertend, genau dadurch gelingt es dem Autor, die Übertreibung als solche espositivo herauszustellen, so dass sie für uns, die Leser, nicht stimmen kann. Weil es derart nicht stimmt, ist es die Wahrheit. Sein Bericht im Roman ist ein Kunstwerk und wahre Begebenheit und Tatsache auch. Shakespeare schreibt im Wintermärchen: Doch wird Natur durch kein’ Art gebessert, schafft nicht Natur die Art … Dies ist ’ne Kunst, die die Natur verbessert — mindest ändert; doch diese Kunst ist selbst Natur. Und erfindet den Ardennenwald. Den Menschen erfindet er auch. Thomas Bernhard findet und erfindet sich und findet um. Kunst ist selbst Natur: Ist es kalt? Ja. Winter herrscht im Körper, dem Text aus Schrift und Gegenrede dazu. Eine Jahreszeit? Ja, die ist es, durchgehend. Ob Sommer, ob Winter. Kälte? Hitze? Das eine und das eine, ein klimatischer Dauer-Zustand. Genau so ist Innen Außen? Und dieses: Österreich, Hawaii oder die Arktis? Topographisch oder psychologisch, das Eismeer draußen oder innen, die Wellen, gefroren oder wogend zwischen den realen Kontinenten oder die erfrorene oder überschäumende Seelenlandschaft, die er vom Sein ins Bewusstsein hievt, dort aufzeichnet, dass sie nicht stimmt — da oben, das geht sich mit dem da unten und draußen nicht aus, also ist es wahr. Ist das ein Land, eine Gegend? Es ist eine Art Menschenschlag, der ein Schlag des Menschen auf Menschen ist, von Menschen, die keine Individuen abgeben, nur Funktionen, Berufe, die Einberufungen sind im System des Frostes, also eisig Erhitzte, ein Klumpen glühenden Eises, sind sie in diesem alle ein Mensch? Ja, es gibt ihn zwar nicht als Summe der einzelnen, sie sind ja nicht separate Teile voneinander, sondern Teile ineinander — und im Maler fließen sie zusammen, besser: stocken sie in ihrem Drang, das Ganze, das Andere, der Andere zu sein. Ihr Geschlecht ist zwar männlich und weiblich determiniert — aber es ist und bleibt sächlich, nämlich auf eine Sache bezogen, die der vorgegebene und biologisch wie sozial deformierte Geist ist, den der Körper nur zu erobern mag in Form der leiblichen Verkümmerung, dieser nur in der Missbildung zu sein vermag.

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Das erfrorene oder eingefrorene Sein ist der Zustand der Allgegenwärtigkeit, es ist so mächtig, dass es jedes Erleben außerhalb Seiner verhindert, nur der verkrüppelte Leib regiert — als Kopf, nur als dieser ist der Geist verkörperlicht. Und das im Schmerz! Im Maler könnten zwar Leib und Geist beides auf einmal sein, also eins, aber was sich findet, ist das Mal, der Schmerz oder die Beule oder die Auswuchtung des Innen im Außen, das mit dem Innen untrennbar verbunden ist, wenn auch nur als Atavismus, die Pest, die nur ein Schleimbeuteldefekt ist, und das wiederum nur in der Diagnose, die wiederum eine Annahme ist, die stimmt — und den Tod einleitet. Der Tod aber ist Auferstehung, er ist Weggehen und Zugehen in die erlösende Anwesenheit zum identischen Ort von Aussage und Äußerung. Frost ist genau so gut Wärme, aber dennoch: Apfel bleibt Apfel, ist nicht Birne, Kuh ist nicht Eisbär. Frucht, aber ist Obst, Tier ist Mensch, das Feld bleibt, ja. Die Schöpfung ist ausgeschöpft — wie? Sie bleibt unerreichbar, aber zerstört die, welche sie anschauen. Strauch ist so gesehen mehr als ein sprechender Name, sein Beobachter, der Student ahnt, fühlt, dass der Maler ihn zerstören, auslöschen will, er ist die personifizierte Idee der Natur als Zeichen, der Name das Objekt, der Mensch, der Strauch, das ist die Gleichung — er strauchelt und der Strauch blüht, manchmal. Wie ist sie angelegt, wo, wer ist das Gleichungszeichen, das Ist-Zeichen, wer verbindet das Gesehene mit dem Tatsächlichen? Das alles lässt er auf der Bühne von INNEN/AUSSEN erscheinen, WIE EIN THEATERMACHER?! Strauch hockt auf einem WurzelSTOCK, arbeitet an einem Problem, das Problem im Kopf, im Mund, auf der Zunge, es ist ein Wort-Problem, oder es wird mit Wörtern gelöst. Das Motiv des Frostes taucht auf, es ist EISKALT — hinter der Stirn vielleicht, wo der Gedanke, das Problem sitzt, alle VERSUCHE misslingen — das grenzt an SELBSTMORDABSICHTEN, weil sie ERFRIEREN ZWISCHEN ZWEI GEDANKEN. Der Stock des Malers, das ist auch eine Art Pinsel, Stift zur Notation der Welt. Er ist das Gleichheitszeichen, das zu keiner Identität führt. Der Künstlerrock des Malers, das ist auch eine Art Gattung, Spezies, Mensch und Funktion: Innen ist mit ihnen, dem Schlagstock und dem Gehrock verbunden mit Außen, das ist dann der Frost: Das Mittel von drinnen kehrt von draußen zurück, siegt und zerstört dieses, erbarmungslos, gnadenlos herrlich — auf seine Art erlösend. Frost ist derart OFFENBARUNG in wunderbarer Deutlichkeit und WAHRHEIT — für Frühaufsteher, sie empfinden ja die Welt als vor dem Wahnsinn sicher.

Der Rock ist das Zeichen diese Wahn-Sinns, des anderen, so kommen der Rock und der Frost in einem Gedankenzug und zwei Redezügen vor, es ist eines der Text-Zeichen-Praxis Bernhards: Der Gedanke erzeugt zwei, drei oder mehrere Reden, die Referenz ist drinnen, das Konnotat sozusagen draußen in den Eigenschaften der Menschen und Dinge und der Natur, der Welt, der Um-Welt, also: der GEDANKEN- und der REDEFLÜSSE.

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Der Künstler im Narrenrock gibt die Verkörperung einer Entgleisung für die Welt ab, d.h. aber, die Entgleisung ist die Hoffnung, die Wahrheit, ist der warme Frost, wenn man so will, die vor dem Wahnsinn des Normalen, des Alltäglichen, des Hundegeheuls sicher macht, und: Er, der Künstler, Strauch, der Mensch, hat ihn angezogen, er hat entschieden, sich für den Frost entschieden, das macht diesen Frost warm, also: gibt es doch den Moment der ENTSCHEIDUNG, den freien Willen des Individuums!? Das alles, diese Brocken poltern in mir, während ich das lese, aber wie erfahre ich es, brocke ich es wirklich — so wie der Autor als inneren Text in äußerer Sprache? In seinem Wort mit eigenständigem semantischen Gewicht gibt es dessen Rückkehr von der Äußerung zur Aussage zurück, zum Kern zurück, dem ungespaltenen Ort des Wortes hin, der kein erster, der auch ein zweiter, dritter und vierter sein kann. Bernhard zeigt, dass dieser Ort, wenn er je existieren soll, verloren ist, verloren geht, wenn wir auf dem Weg zu ihm sind, aber wie zeigt er diesen Verlust? So: in der Beschreibung von Beschreibungsmustern, die er in den Festlegungen Strauchs als unmittelbare Einsichten ausstellt: Können sie dann der Frost sein, ewig jetzt?! Oder passiert ihm da was, nämlich die Verwechslung von Authentizität des Einwurfs mit der Identität des Auswurfs, was so nicht aufgehen kann, da er wiederum nur ein Vermitteltes darstellt, einen Entwurf, eine Möglichkeit der Musterüberwindung hin zurück zum reinen — Schmerz, oder Glück in diesem Wort mit selbständigem Gewicht, wie auch immer, aber wortwörtlich. Oder verharrt der Text als Kulisse des Gegenwärtigen, erhoben und ausgezeichnet durch den markanten Satz-Bau und dargestellt als drastisches Bild, das aber konventionelles Abbild bleibt, typische Form wie Lukacs sie noch verlangte: ein dialektisches Wechselspiel ontologischer oder sozialökonomischer Wertpaare — wie die von Konkretem und Gesetzmäßigen, von bleibend Menschlichem und geschichtlich Bestimmendem, von Individuellem und gesellschaftlich Allgemeinem, die die Ambiguität und die Polysemie, das prozessuale Mehrdeutige des Kunstwerkes überspielt im Primat der Form, weil sie nichts anderem als dem Inhalt, der längst feststeht, bevor gefragt, beobachtet und notiert wird, unterworfen ist. Auch wenn sie kongenial eine Lebensform auftreten lässt, die zerbrochen ist an dam Hiatus von geistiger und ökonomischer Entwicklung — wobei die Umsetzung der gegenseitigen Form-Inhalt-Generierung übertrumpft wird durch die Suggestion von Eindeutigkeit der Aussagen und Beschreibungen, die der ihnen zugrunde liegenden Sprachskepsis zuwiderläuft, ja diese aufhebt — und letztlich wieder über das Stadium der Simulation nicht hinaus gelangt?

Frost — Brocken daraus, Splitter dazu

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Inside Outside. Kein Gebet, ein Gebiet

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instämmig auswändig, 1 S

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Gehen wir vom Baum aus, so ist da der Stamm. Er umfasst und ist das Innere des Baumes. Die Rinde darauf, brüchig, aber elegant in der Form, umhüllt ihn. In Windungen, Kerbungen oder Ringen, mehrere Zeichen also, die in ein Inneres weisen, hinein. Die aber auch aus diesem Inneren kommen könnten, heraus. Hinein. Heraus. Wo wäre der Ort dafür, für Innen und Draußen? Die Schnittstelle? Gehen wir vom Baum aus, dann wäre das Innere das weiße Holz, der ruhende innere Stamm, bevor er draußen, während und nach der Bearbeitung wieder zum gelben Span wird, zum äußeren Gegenstand. Dort und dann schließlich zum Brennstoff, bis er also wieder zerfällt. Zerfällt als Stamm — in sich, ins Holz — als Asche zurück. Innen und Außen? Vorher aber, bevor der Baum als Holz, als Stamm, als Schiefer oder Span verbrannt wird, arbeitet es. In sich? Was wissen wir vom Span, vom Schiefer, vom Stamm, und überhaupt: Was wissen wir von diesem In sich? Wir wissen nichts. Wir wissen alles. Wir können den Span nehmen und ihn anders benennen: Das ist der Schiefer, wie der Span eine Art Holz. Er kommt aus dem Stamm, aus dessen Holz, wir verwenden ihn für dies und das. Er ist aus Holz. Er ist Holz. Gut. Er brennt dann irgendwann, das ist seine nächste Funktion. Aber wir setzen den Schritt. Das ist die Schnittstelle: Wir werfen oder legen ihn ins Feuer. Dann glost es oder leuchtet es, jedenfalls wird es dann warm oder sogar heiß. Glut ist auch Licht, aber gedämmt. Sie kann auch ausgehen, Verglühen. Dann bleibt es kalt.

Wozu die Sterne noch: löscht aus ihr Licht. / Den Mond packt ein, verschont die Sonne nicht. / Kippt aus den Ozean, fegt weg den Wald. / Denn alles, was mich wärmte, ist jetzt kalt.

Das Holz — sagen wir: Es ist der ganze Span, der Schieferstamm aus Schiefern — wird, wenn es kalt ist, auch zur Dämmung von Wänden genützt.

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Nützen ist immer eine Art Vorausschauen während des Erinnerns. Dämmung kann auch passieren in der Dämmerung. Im Übergang von Tag und Nacht, auch das ist Dämmern. Und es ist Aufwachen in der frühen Morgenstunde, wo das Licht langsam das Dunkle verdrängt, vom Grau übergeht ins Helle, sich beide Zustände vermengen. Wir drehen die Sterne wieder auf. Wir nützen das aus und stehen auf. Oder machen die Fensterläden zu. Wir drehen den Mond wieder ab. Damit es Dunkel bleibt. Wir nützen das Holz der Läden, um weiter zu schlafen. Sagen wir es so: Wir haben einen Plan. Planen ist immer eine Art von Vorausschauen während des Erinnerns. Erinnern an was? Und wie? Und wo? Vom Innen ins Außen. Aber welches Innen? Welches Außen? Gibt es eine Schnittstelle? Bleiben wir beim Baum:

instämmig schreibt das eine Gedicht an. Es ist mein Gedicht, das dieses Wort kreieren, oder, das durch dieses Wort hervorgerufen werden wird. Ja, das Gedicht selbst hat dieses Wort, oder, wird es hervorlocken, es an den Tag bringen. Und umgekehrt. Es, das Wort wie das Gedicht dämmerte im Bewusstsein. Es lagerte vielleicht vorsprachlich in diesem, als ein Bild, dann erst formte sich die Lautgestalt. instämmig weist auf ein Innen, aber der Stamm ist ja außen sichtbar, er macht den halben Baum, mit den Zweigen und Blättern dann schließlich zum ganzen Baum.

auswändig wird das Gedicht an einer anderen Stelle meinen, und, auf eine Wand verweisen, die das Innen begrenzen könnte, als ein Ding der Außenwelt.

Inside Outside. Kein Gebet, ein Gebiet

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Sagen wir zu den vorkommenden Wesen in den angesprochenen Vorgängen Folgendes, benennen wir diese: Außensubjekt Innenobjekt. Das Übliche — das Ich ist drinnen, das Ding draußen — wird umgedreht. Aber eine Grenze existiert doch: Wenn wir nur wüssten, wo diese, zum Beispiel beim Körper als Haut ist. Beim Baum ist diese Haut wohl die Rinde, für uns aber ist die Rinde dann die Grenze, wenn wir uns am Baum reiben oder die Rinde ergreifen — als die Grenze des Baumes oder die Grenze unserer Haut, und beide zusammen stoßen an die Grenze der Luft, des Universums. Spüren wir dessen Haut als dessen Grenze oder unsere als die des Universums? Geht nicht das eine ins andere über und verformt sich zum Subjektobjekt und Objektsubjekt. Die Botschaft, die in der Herausbildung und Formfindung der beiden Wortkompositionen entstand, lässt sich einfinden in:

instämmig auswändig — und klingt nun weniger rätselhaft. Es bewahrt jedoch sein Geheimnis trotz oder: wegen dieser semantisch eigenwilligen Zuschreibung. Das Gedicht setzt damit Grenzen, die es vorher nicht gab, und löst die alten, die es vorher gab, auf. Es sind zunächst die Wortgrenzen (die Bedeutungsgrenzen), dann die Bildgrenzen, dann die Vorstellungsgrenzen — sie alle werden verschoben oder besser: verwoben im Erspüren, im Erfahren und Umbenennen des Begreifens in einem Moment. Der Laut singt das Wort hoch, die Zunge schlägt den Sinn auf, der Kehlkopf vibriert im Zug der Schrift, die Hand geht mit dem Auge im Gehirn, dreht sich — nach Innen und nach Außen?

In einem Zug? In verschiedenen Zügen? S

Natürlich ist es einer und auch ein ganz anderer.

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Es geht um den Ansprechpunkt, und um die Antwort, die von diesem erfolgt. Wenn die Stimme den Sinn erzeugt und die Schrift die Sinne frei legt, dann kann das nicht nur in der Innenwelt der Vorstellung passieren. Es richtet sich auch nach der Außenwelt der Vorstellung, dort, wo sich diese in einem anderen Kontext, in einer anderen Umgebung wieder findet und darauf zu reagieren drängt. Verbindungen suchend. Das Begehren nach dem Anderen ist auch Ich. Was glauben wir denn? Wer wären wir denn sonst? Nur der Span oder nur die Rinde oder nur das Herz? Ja, immer ein Teil von allem, aber auch manchmal nur dieser Teil, der da ist, weil es die anderen Teile gibt, in den Dingen, in den Wesen. Der Teil und die Teile, die dazu da sind, um die Differenz zu setzen — die wir dann auch sind. Die Frage, wozu wir überhaupt differenzieren müssen oder wollen, lässt sich daher so beantworten: Damit es weitergeht, dass das, was besteht, weiterhin auch anders steht. Sondern immer, 2

… Dass er sein Haus verlasse. … Sondern immer geht der An Hütern vorbei, an Bäumen des Waldes, … Ein Vogel, Steine bezaubernd, ein unruhiger Vogel. … Dass er sein Haus verlasse, schreibt das andere Gedicht an. Es ist W. H. Audens Gedicht. Wer ist dieser er? Auden, der Dichter. Ein Er des Gedichts. Ein noch unbekanntes Er? Ohne Gesicht. Welches Haus ist es, das dieser Er verlässt?

Inside Outside. Kein Gebet, ein Gebiet

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Jedenfalls überschreitet dieses er eine Grenze, die wir sehen. Die Bildgrenze der Vorstellung, die Wortgrenze des Gedichts, die ein Wanderer überschreitet. So heißt das Gedicht. Er ist also ein Wanderer, ein Gehender von Ort zu Ort. Er tritt hinaus, oder? Er tritt hinein — auch und vor allem nicht nur in unsere Vorstellung tritt er ein, sondern immer auch in eine allgemeine, unsere:

Sondern immer geht der An Hütern vorbei, an Bäumen des Waldes Die Bäume, den Wald schreibt das Gedicht nun in einer Außenwelt an. Er ist ja draußen, der Wald, aber auch der Gehende ist außerhalb des Hauses. Wir aber lesen das alles, ähnlich wie der es Schreibende, der Dichter, Auden, von Innen her — aber in welches Außen dann? Nicht nur, wenn wir weitersagen, was wir gelesen oder gesehen haben, dann werden wir laut. Wir erheben die Stimme auch Innen, während des Lesens, in der Kehle. Sind dabei nicht stumm. (Stimme und stumm. Eine Art Gegenteil: U und I machen im Deutschen den Unterschied. Das so nebenbei. Wir bedenken das üblicherweise nicht mit, wenn wir etwas sagen, so einfach hinaus sprechen): Laut oder leise fügt mein Gedicht instämmig dazu, das ein Wort für den Stamm des Baumes in einem Wald wird, den einer betreten hat, und der diese Bäume als Hüter erfährt. Wir erfahren das mit, seine Erfahrung wird zur unseren, wir werden plötzlich mit diesem Wort konfrontiert und in ihm behütet. Wir erfahren dieses Wort blitzartig, aber schön schön schön langsam werden wir es — behütet. Wir lesen ja das Gedicht Schritt für Schritt, gehen in dieses hinein und mit ihm hinaus, wir verharren dabei nicht stumm. Auch unser Kehlkopf bewegt sich beim Lesen mit, er artikuliert die Laute, ja, es stimmt möglicherweise, dass die Kehle die Seele ist, sonst würden wir nicht verstehen — 

Sondern …

Ein Vogel, Steine bezaubernd, ein unruhiger Vogel. S

Ja, ja, ein Vogel kommt dazu, der bezaubert! Wie bezaubert er? Er singt. Er trillert, vielleicht, wahrscheinlich, er ist ja unruhig, also nicht still und stumm, obwohl er im Gedicht nichts davon tut, keine Laute von sich gibt. Er wird nicht laut, er wird beschrieben, und, er wirkt auf die Gegenstände ein, auf die Welt, auf den Stein.

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Auf den Stein und auf das Holz. Der Stein ist die Wand, das vom Holz gedämmt werden kann. Beide. Stein und Baum, Wand und Holz werden zum ganzen Haus, in dem die Glut glost, zum Feuer entfacht wird, dass es brennt und heizt, und uns behütet. Das Haus: Innen außen, Außen innen. So könnte es stimmen, umgestimmt werden. Wir rufen es hinaus, das Gedicht, seine Wörter, wir rufen die Bilder hinaus. Die Stimme drängt zurück in die Bedeutung, stimmt sie mit um, drückt sie dann wieder aus, es ist und bleibt ein Ausdruck, aber er bleibt nicht der alte. Er wird begleitet von Gesten. Die Augen, der Mund, die Hände, sie drücken nichts Neues aus, nein? Aber sie begleiten den Ausdruck und machen ihn etwas anders, das ist instämmig auswändig zugleich, ja! Flügelschlag des schnabelnden Auges. Die beiden Gedichte, von denen wir nur Teile kennen oder Wörter, die eines erst entstehen lassen werden, evozieren diese Mimik, diese begleitende Gestik, aus sich heraus in uns hinein, Gesicht und Ton, Falte und Stimme, Zeichen und Haut. Inside, 2 Out, 1 Sinnliche Erfahrung setzt ein im Inneren des Erfahrenden; die Erfahrung des Sinns, der Bedeutung aber im Äußeren — einer Welt, eines Hauses, eines Heimes, das ohne die Verfransung von Innen und Außen nicht in der Form existieren kann. Die Form der sinnlichen Erfahrung wird zur selbstbestimmten, das Selbst bestimmt sich neu — und das ist nicht nur das Paradoxe, die Umkehrung der üblichen Verhältnisse, sondern auch das Politische daran.

Inside Outside. Kein Gebet, ein Gebiet

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Die sinnliche Existenz in und durch das Gedicht ist selbstbestimmt. Als jene Form eben in jenem Gedicht, oder allgemeiner: der jeweiligen künstlerischen Form in den jeweiligen Momenten der Verzahnung von in sich gegenläufig gehandelten Prozessen, wie auch in jenem von Innen und Außen: Der Wald ist nicht die Summe der Bäume, sondern die Existenz des Waldes ist jene im Baum, die des Stammes im Schiefer (der im Deutschen wiederum als Balken im Auge sitzt), oder die Existenz des Holzes im Span, der wiederum die Wand aus Steinen zum gedämmten behüteten Haus gestaltet. Diese Behütung ist nicht Befriedung der Herrschaft, oder nur ein Rückzug aus einer fremdbestimmten, nämlich aus einer, welche die Sinne kontrolliert im Sinn der Bedeutungen. In der Stimmung, nämlich in der Ton- und Klangsetzung von instämmig und auswändig erobert sich diese Welt ihre Autonomie, die keinen Separatismus darstellt. Es ist die Stimme, die den Dialog nicht einlöst, sondern ihn in Gang setzt, einfordert, ja auch das. Der Raum, den sie eröffnet, ist jener der Rede, die nicht nur auf Antwort drängt, sondern das Hören der anderen Rede, die sie evoziert, ja erst möglich macht. Weder das Visuelle — nur das Bild, noch das Verbale — nur das Wort, definieren den Raum, sondern das Zusammenspiel beider:

… Vogelschwärme; für ihn ohne Namen, durch den Eingang Stimmen Fremder Männer, die auf andre Art lieben. Kein Name herrscht: Ist es der seine, jener von diesem Er, oder ist es jener des Dichters, ist es jener von Auden, des Autors, dessen Gesicht ist wie die Stimme spricht, tief, aus Furchen heraus; oder spricht aus diesen Furchen heraus der Name jenes Vogels oder gar jener von uns, die wir uns fremd sind, aber auf andere Art lieben lernen werden? In dieser Art und überhaupt — anders, anders:

instämmig auswändig lieben im Sprechen der Wörter zu Bildern und umgekehrt, beides in der Rede und der Schrift. Eine Schrift und ihre Zeichen, die, wenn sie tatsächlich an der Ordnung der Dinge teilhat, an dieser Ordnung partizipiert, um keinem diskursiven Herrn zu gehorchen.

Aber vor allem um dann auch den angeblich phonozentrischen Herrschaftsanspruch der Rede — als Gedicht, als Werk — durch ihre frei gespielte Form zu brechen. Die Einsichten, die sich in diesem Bruch auftun, sind plötzliche, blitzartige in einem Raum, der nach dem Auftauchen der Wörter mit diesen kongruiert.

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Es heißt über Audens Raum, dass er sich darin, nämlich im Wald der Wörter verlieren wollte, um der das Ich zerreißenden Selbstbeobachtung zu entgehen. Dichtung sei nicht dazu da, um Ereignisse zu schaffen, sie hätte die Aufgabe, zu überleben:

For poetry makes nothing happen: it survives. Dieses Überleben aber ist eines im Wald aus Wörtern und Bildern, die wir eben anders erfahren als den im Wörterbuch definierten Wald. Die Selbstbeobachtung Audens im Wald des Gedichts wird zur unseren und so, wenn auch anders, zur gemeinsamen. Sie ist mehr als der Versuch, die Wesen und die Dinge dem ideologischen Diktat zu entreißen, sie baut auf, in der Form einer

Natural Linguistic, in der every created thing zu seinem ihm eigenen Ausdruck, zum ownhood zurückfindet oder diesen hervorlockt —  keine Axt fällt dabei den Baum, im Spiel fällt der Wald ins Haus als Span und schafft Glück, in Hoffnung auf den

kommenden Tag, mit dem Morgen der dämmert Wir werfen den Plan zur Seite, wir schlagen eine andere auf, wir haben viele Seiten:

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Das Gefundene liegt weit weit vorn. Ferdinand Schmatz geht von Martin Gostner aus zu sich über John Steinbeck S

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Martin Gostner und ich sind am Rand eingebrochen, und, ich komme mir vor, als wäre es wahr. Ich halte nichts als ein Buch von John Steinbeck in den Händen, nichts als Blätter, nichts als Seiten, die er von der Seite her kommend gelesen hat. Diese Lese, denke ich mir, die könnte bitter schmecken. Das Wort am Ort der fusssüsse, das war einmal, aber es klingt mir immer noch im Ohr, hüpft auf der Zunge und ein Bild geht mit mir durch. Aber Tortilla Flat, das braucht noch. Wir stehen gebückt und über die Fundstücke gebeugt am Dachboden des Hauses und das Gesehene und Erinnerte und das vorgestellt Gehörte kommen mir wirklich durcheinander. Doch gleichzeitig, und das ist immer irgendwann danach, kondensiert sich so etwas wie festes Wasser, das aus dem Ganzen des Meeres herrührt, und das sich wahrlich nicht nur im Buch sein Stückchen spielt und sich seine Stücke daraus holt. Es geht auch hier am Dach darüber hinaus und hin und her, das mit dem Teil und dem Ganzen, und der Ball rollt dahin, ist unser aller All. Der Eisklumpen löst sich also auch auf. Das hat nur wenig mit den Rollen zu tun, die wir dem Stück entnehmen und für uns übernehmen. Das Zeug am Boden des Daches ist ja auch gleichzeitig oben und unten. Wir stehen in der Mitte und glauben an das Zentrum, na ja. Steinbeck ist im Grund ein bodenständiger Dichter. Auch wenn sein Westen wild war, so sind seine Wilden zahme Burschen. Aber zum Anbrennen reicht es immer noch und den Hahn aufs Dach setzen, dafür ist noch jede Seite gut genug. Denn Papier ist dem Holz sein Gezünde, und auf dem Flammenmeer reiten wir mit, treiben unser Bildboot drauf rum, ohne zu stürzen und im Meer unterzugehen. Denn unsere Fälle, die sind nicht nass, sondern nur in der Grammatik gegeben. Kühl jedenfalls, das schon. Aber manchmal winken in der Ferne die Verb-Endungen den Weg. Die Beobachtung ist also Einbauen der Fälle, ich, du, er, sie, es, wir ihr sie — und gleichzeitig Weglassen von Allem: außer dem Ganzen, so in etwa halt, redet es auf mich ein. Die Helden, sind die intakt? Kerle, Idioten, Verlierer oder einfach nur so Marionetten des Entwurfs, eine Gruppe Hinterwäldlerherkunft, die sich anders geben, wie Indios des Karl May? Ach was, jede Vorstellung gibt immer noch ein Bild her, abgeht’s dann in die bittere Brise des Tages, süsses wird salz, wo das feuer zur feier dreht, wir feuern ihn halt, den John, an und sind heiter hinter der Stube oben im Dach und haben all das Reine ins kleine Fragment vergossen, das sich zusammenfügen lässt. So gesehen, war das mit dem Bruch am Rand ziemlich passend, wenn überhaupt etwas passen kann in dieser alles möglich machenden Genauigkeit der Auswahl, in dieser Seite für Seite gefundenen Belegung. Das sitzen wir doch an der Quelle, wir Knaben, und sind leider nicht mehr feucht hinter den Ohren, und sie schmeckt gut, gebe ich zu:

Rand hin oder her, das alles ist ein Faktum der Mitte, das Bild ist zwar seitlich im Drall, aber der Blick sucht immer das Verlorene, also die Mitte auf, komme was wolle, und die Helden, die sind HALT teile, verdrehte, ZEICHEN, wörter, ABER SIE STEHEN VOLL IM GLANZ DES GESAMTEN, und das ist nicht nur das WISSEN VOM BILD BIS ZUM BUCH, denke ich mir, während ich in der Asche stöbere und die Reste von Gostner finde, die sich Steinbeck nennen, und das alles mit Ferdinand vermischt — ist das ganze Glanzlose, aber es strahlt aus:

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Etwa in die Dinge, die haben wir da, gebildet sind sie die Waren des Wahren. Sie haben keinen Wirt und wir keine Schaft. Stehlen ist deswegen kein Makel, aber dennoch jedes Verbot wert. Ja, die Werte, sie sind Zeichen aus Wörtern und schon glauben wir, die Bilder zu haben: Also kämpfen wir mit dem täglichen Wunder der Essenz — Martin mit John und mit mir und ich mit ihnen und ihr:

Das Sterbende lebt, der Körper gibt immer noch den Saft her, wir halten das Fließende auf, König Arthur stirbt, wir stehen mit ihm auf und die Todesdecke aus Gras wird zur Tapete, die ganze Wanzenwand ist nichts als die Leinwand des Auferstandenen, Gequetsche, das sich schreibt als Kärtchen, und siehst du, so ist das mit der ganzen Beschriftung, alles Leinwand, Post, also alles danach, hinter her wie der Tod, der immer erst zu spät uns zeigt, wie einer gefallen ist auf den Rücken, diese Flasche, nicht einmal zum Abbild des Königs reicht es, oder zum Hahn, Boot oder Huhn, die Stille rattert, gackern tun nur die etwas verlorenen Krieger, sie knallen ganz ruhig, leben still, also sind auf ihre Weise ab und gebildet, schon zündeln sie daran rum und bleiben trotzdem Schattengestalten vor der stärksten Glut, die zu entfachen ihr Los war, auch wenn’s zerfällt, zur Asche, es gibt immer noch das, was sich ansaugt und selbst sie, die Asche braucht als Stoff des Ganzen aus Teilen von diesen Teilen wiederum Teile, das kann das Huhn sein mit dem Ei, angepriesen, vermarktet habe ich vor, das meine zu brutzeln und dann ab in die Urne und das Gackern loswerden, nie mehr zu hören, so schwöre ich auf die Schrift, dafür lege ich meine Besitzansprüche ab und ziehe mich in meine Ecke zurück, die mir der Plan, die Schrift bestätigt, gezeichnet bin ich so ein Gezeichneter und habe ich Dich darin gefunden, mein Schatz, meine Heldin, meine Freundin, mein Alles in der Zeichengebung geschenkt, ausgegraben aus den Akten aus Erde, wiederum Asche und nachkünftig Staub, Sand auch, der rieselt durch wie jede schlechte Geschichte und das Rennen darin ist ein Zeitlupen-Horror, aber es ist die lange Weile, die sich mit der Asche verbindet und aufsteigt zur Sonnensaugung, die ich einfach umbenenne, Doldres sage ich zu ihr, und glühe dahin im Firmament der neuen Begrifflichkeit, zu greifen ist das alles hier am Boden weit über dem Grund, ich hebe die Flasche und sauge mich in diese Welt mit ein, es gurgelt aus mir raus und alles fällt mir ein und ihr zu, die mir Gostner einzureden versteht in diesem verwinkelten und doch so geradegezogenen Schnürchen, wir kürzen Steinbeck damit ab, aber es ist zum Reißen gespannt und der Riss selbst schnalzt nicht, er ist ein Liebesfaden, den wir so spinnen, umgarnen das Bild der Vorstellung am Boden,

Das Gefundene liegt weit weit vorn. Ferdinand Schmatz geht von Martin Gostner aus zu sich über John Steinbeck

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wir beide, auch ein Tod, schön schon, aber es muss, es muss die BeHerrn, der uns so gütig aufnimmt unter sein Dach, sein Schatz, das sind wir in seinem Wohl Wollen, für sich und für alles, was sich so stiftet und bleibet, das sind die Dichter wie die Hunde und die Leuchter, und ab heute heißen wir alle Franz, halten dieses fest an der Tafel, an der wir es uns bequemen, nie zu früh kann das sein, jedes Stück ein Bohne und das freie Spiel der Gedanken erzeugt mir die Farbe rot, also ist es nicht für die Bohne allein, es kann auch Pfeffer, Chili, eine Rose sein, an der wir uns stechen, dass die Lücken zu Luken werden und der Bulle zum Auge, dass es übergeht im Nass das Boot, das voll ist, was heißt, nie voll zu sein, denn was rinnt, das erstarrt nicht im Vollen, nur der Sand und die Klippen oder nur ganz einfach der Rückgang des Wassers, lassen es stranden, alles fällt dann, nur die Grammatik bleibt bestehen und so sehen wir vom Dach hinunter auf die Düne, stürzen hinab also hinauf in die Stube der Gedanken und Bilder, und sammeln noch einmal oder schon wieder oder noch immer, und rotten zusammen die Teile zum Ganzen, um dieses Schiff wieder erstrahlen zu lassen als einziges Segel mit dem wir entgleiten werden der ganzen Falle aus Fällen, als junge Frau vater,los im Schein der Kerzen, aber auch wahr. Wenn, auch — das ganze Zeug brennt, es knistert das Papier in den Flammen, die Farben lösen sich auf, alles, was wir in John gefunden hatten, steigt als Rauch hoch und sinkt im Aschenregen nieder. Die spanische Sonne wird ein wenig schwarz, schwer atmen die armenischen indianischen Brandhelfer, die mexikanischen Feuerwehrleute und die anderen herbeigeeilten Wasserwerfer. Sie hob an: Was sich findet am Boden oben ist ihm im Grunde liebloses Zeug, am Dach, bedenke, aus den Luken, ist kaum Blut geflossen, dort oben sind die Stämmigen höchstens Träger, und die Hosen weit — wiederum unten, hinter den Biegungen der Strasse flattern sie im Wind, gehen so in sich ein, jeder für sich, aber eine Falte ist nie allein Er setzt fort: Aber sprichst du dazu, so wird das eingelöst, was sich verloren gibt, jedenfalls geht es durcheinander, aber die Seiten bleiben bestehen, die Saiten zu zupfen ist das, was den Fund im Hintergrund begleitet, die Musik im Innenohr, das ich auf den Boden lege, wie früher auf die Schienen, um den Zug zu hören, der im Eisen seine Zukunft stampft, das ist das Vorhören, verstehst du, Verhören ist immer noch ein Feuerwerk gut, drehen wir das Rad zurück und schon ist vorne was los, geht’s so, dann auch so, anders und weiter —

Christine Lavant. Das SelbstBestimmen des Namens S

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Wer ist das Ich, das hinter dem Eigennamen eines Menschen steckt? Das dieser Name mitschreibt. Das dieser sogar konstituiert. Wieso behauptet dieser Name, dass das Ich sich in ihm, dem Namen, ausspricht? Kümmert es uns tatsächlich nicht, wer uns im Namen als Ich spricht? In der Anrede an ein Anderes, sagen wir, in der Anrede an ein Du, ist es nicht nur das Ich, aus dem heraus etwas gesagt wird. Wir denken den eigenen Namen unbewusst mit, er ist nicht ausgesprochener, aber mitgedachter Bestandteil der Rede unseres Ich. Aber ist er und damit auch die Rede selbst bestimmt, hat das Ich diesen Namen und die Wörter überhaupt, und somit die Rede in der Hand? Dann fragen wir doch nach — wem gehört diese Hand an, ja wem gehört sie überhaupt: Einem Körper, der spricht, gehört sie an, das schon, der mag der eigene sein. Auch, oder vor allem, wenn er in Ausnahmezustände gerät, in Glück oder in Schmerz. Aber wie drückt er diese Zustände aus:

Mchm mchm mchm mchm, tuts wies wollts, tuts wies wollts, … — stammelt der alte Bauer im Wechselbälgchen von Christine Lavant, und die Erzählerin stellt klar: auf ihn war Verlass, aber eine volle Zustimmung war das ja nicht. Aber handelt es sich hier überhaupt um ein Stammeln? Ist nicht der Versuch des alten Bauern, etwas zu sagen — und zwar anders, auf die eigene Art etwas zu sagen — ein wesentlicher Schritt hin zu einer selbst bestimmten Sprachform? Dieses Mchm ist mehr als eine Lautfolge, mehr als nur der Versuch, eine eigene Sprache zu formulieren, sie zu behaupten, und das im Bruch mit der vorgegebenen Sprache und ihrem Normapparat. Der Versuch wird umgesetzt, er ist Beginn eines Handelns innerhalb und außerhalb dieses vorgegebenen Systems der Sprache. Eines Systems, von dem auch der Name herkommt, und den wir dann zu übernehmen und zu tragen haben: Keine volle Zustimmung im Sinn der Grammatik und Syntax erfolgt, wenn der alte Bauer … wie er so dahinging und immer etwas mit sich selbst auszu- reden hatte, sich dermaßen äußerst, aber es ist mehr als der Ausdruck einer sprachlichen Unfähigkeit: ein Aufkommen eines persönlichen Sprechens ist es, das durch die Stimme des Körpers kommt, der sich mit dieser auf den Weg begibt — auf den Weg, sich authentisch zu fühlen, Identität zu erlangen. Lavants Prosatext, ja Christine Lavants poetische Sprache spricht diesen Weg der Bestimmung, darin eine denkerisch wilde Art Einheit von sprach-

lichem Ausdruck und Inhalt zu setzen. Dies auf dichterische Weise, die das semantisch, syntaktisch und grammatikalisch Vorgegebene zu akzeptieren hat. Die sich aber aufmacht, Formen zu entwickeln, die den Inhalt, die Bedeutung, den Sinn der vorgegebenen Wörter und Sätze erweitern, verkürzen — verdichten vor allem. Eine poetologische Setzung, die in diese Verdichtungen das zu integrieren sucht, was ich besonders im Prosatext Das Wechselbälgchen als die Selbstbestimmung des Namens nennen möchte: als Konstituens eines Schreibens, das ein Schreibleben war, und das sich ein Ich zu geben hoffte, das nicht zuletzt auch im Pseudonym Lavant Ausdruck fand. Ein Ausdruck, das zu sein, was sich in der Suche und der Setzung einer Identität ergeben sollte, auch in der Bestimmung des Eigen-Namens, um nicht das sein zu müssen, was das Ich im gegebenen Namen als Vorgegebenes fixierte.

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Dieses Gegebene ist die Sprache des Milieus genauso wie jene der übergeordneten Kultur, die Sprache der Herrschenden wie jene der sich mit dieser abmühenden, der sie nicht be-herrschenden — mit dem Drang, diese Sprache zu erwerben und damit und dadurch ein Anderes zu werden. Was zu werden? Das: Bei deren Aneignung wohl auch ein Entfremdetes zu werden (wir denken an den Bewusstseinsjargon bei Ödön von Horvaths schichtenspezifisch fremdbestimmten Sprech-Figuren); oder aber ein Eigenes zu werden, gleichsam unter dieser Oberfläche der Ordnungen. Darunter und darin ein eigenes, verschobenes Sprechen heraus zu bilden. Der Bauer, dem wohl nichts daran lag ein Kind zu schlagen hält seine längste Rede wohl immer vor seinem Ochsenverschlag aus, sein Sprechen und nicht nur Stammeln ist also am Ort. Womöglich ist es ein solches, das zu den Ursprüngen der Formung zurückzukehren bereit ist, zum Körper des Klangs und des Schreis oder der Stille und des Schweigens — ohne hier dem Textwollen einen derart mystisch-archaischen und ontologischen Aspekt zu unterstellen, ein bewusstes Wollen der Herausbildung einer Art Gegensprache. Vielmehr passiert eine derartige subkommunikative Herausbildung einer Gegensprache durch den Druck des Milieus wie von selbst, es geschieht, dass sich die Sprachform einer Sprachgemeinschaft von der anderen ablöst — entscheidend ist, ob dieses Ablösen bemerkt wird, aufgegriffen und ob dann damit bewusst gehandelt wird, auch dichterisch: Christine Lavants Wechselbälgchen tut dies, muss es tun, um zu überleben, nein, um überhaupt in dieses Leben einzutreten. In ein Milieu der UnterdrüChristine ckung, der Ohnmacht, der Verletzungen, seelisch wie geistiger Art — dabei Lavant. Das ist der Text selbst dieses Milieu als Sprache der Ordnung, aber er ist auch SelbstBestimmen des einer, und vor allem ein solcher, der darunter und darüber spricht. Ein sich Namens in diese Ordnung einmengender Text einer Sprache der Selbst-Bestimmung, ein rhythmisch pulsierender Körper, der mit der eigenwilligen Beistrichsetzung innerhalb der Sätze atmet, der mehr ist als Mundart-Reservoir und dialektales Bewahren.

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Ibillimutter oder Autubella wird es heißen, das Balg, die Erzählerin führt uns vor, wie die Namensgebung und das damit verbundene Erlernen der Sprache unter der Sprache erfolgt, vor sich geht —  ja geht: als Geschehen, als Prozess, in dem das Ich das Du zu werden hofft, nach dem es begehrt. Der Bauer, der Bauernknecht Thoman der Barfüßer, das Wechselbälgchen, die Ziehmutter Wrga (auch eine Sinn-Verstümmelung, ein Zungen-Brecher), die Kinder, sie bilden die Sprachgemeinschaft, die sprechen werden wird, unter den schlimmsten Bedingungen des bäuerlichen Spracherwerbes, der einem Kampf um das tägliche Brot gleichkommt, es geht um das Überleben (— und diese ohne Satzzeichen, auf das Lavant in ihrer eigenwilligen Kommasetzung verzichtet). Mit dem Wort Brot, das die vierjährig schweigende Zitha nicht auszusprechen vermag, ist gleich das Wort tot verbunden, es wird hier dood gesprochen, also lautlich und damit einprägsamer als das schriftliche im Wörterbuch. Das Ohr, Teil des Körpers wird zum Speicher, und die Zunge spielt die Inhalte dieses Speichers als leibliche Erfahrung des Sinns, der Wortbedeutung aus. So wird auch aus dem blonden Hund Bella, dem Tier — und dieses ist nicht nur bei Kafka jenes Wesen, das die reine Sprache spricht, die wohl auch jene der Herren und ihrer Rasse vertritt — , aus der Existenz und dem Namen eines Hundes heraus, das Bälgchen seinen Namen finden, ihn sich erwerben, auf dass er bleiben wird:

Fahr ab, du Krott! rufen die Kinder dem Hund zu, oder Krott du, Bella, verschwind! Als der Hund auf das Bälgchen zuspringt, stoßt es ihn weg und schreit: Autubella — und wird sodann von den Kindern so gerufen. Nicht nur der Name, das Kind, ein Wesen wurde gleichsam neu geboren. Die symbolische und leibliche Koppelung an ein lebendes Wesen ist erfolgt. Die an die Dinge sollte folgten. Mit Pfefferbüchschen, das die Keine so liebt, wird sie benannt. So wie es mit Ibillimutter passiert, als sie vor Wrga mit dem Pfefferbüchschen und einem roten Teufelspüppchen spielt und plötzlich Ibillimutter ruft. Das dann ihr zweiter Name neben dem der Autubella wird: Ich bin die Mutter heißt das — und das Wechselbälgchen wird nicht nur gleichsam von den Kindern als ihre eigene Mutter akzeptiert:

Und sie verstanden es alle trotzdem sie verbittert und zornig waren, verstanden es sogar so tief in ihrem Kinderherzen, dass sie darüber mild und sanft wurden und leise und begutend sagten: ’Ja Zitha, Herzkäferlein, du bist die Mutter!’ Der Kreis von Ich, Selbst, Wesen und Gegenstand ist gezogen, die existentielle Klammer geschlossen und geöffnet zugleich.

Der Name, der das Ich zu sein hat, und die anderen Wörter, die wie er von Draußen kommen, von draußen aus gesetzt werden, ist neu formuliert. Er hat nun eigenen Wert — sozialen, ökonomischen und symbolischen Wert. Wer das ist, den oder die er nun derart bezeichnet, ist klar. Jene, die ihn vergeben, setzen, einschreiben, um ihn dann rufen zu können, haben sich diesen Namen mit dem zu Bezeichnenden erhandelt, sie rufen nun den oder die, die sie meinen, und der oder die sich dann wirklich erkannt und gemein fühlt: dich und sich und mich und uns als wir.

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Atubella, Ibillimutter ist eine Bestimmung des Selbst, in der die Stimme das bedeutende Wort an sich reißt, das Ich unter den Sinn des eigenen Namens bringt. Des Namens, der sich aus der Einbettung in ein kommunikatives Milieu ergab, formte und der als lautlich-leibliches Zeichen in die Sprachgemeinschaft eindringt. Zitha ist der offizielle, verordnete Name, aber das Bälgchen wird vom Hascherl und durch die Wörter Autubella und Ibillimutter, die es in die spielende Kinderrunde einbringt, zum benennbaren, authentischen Wesen, das sich auch selbst als solches erkennen wird können. Bis zum freiwillig gewählten Tod, wo es zum letzten Mal diesen Namen rufe wird, um das Schwesterchen, das Andere als eigenes Du, zu retten, auch, indem es sich als dieses ruft. Und die Kinder werden es dann Pflaumenkernchen und Honighäfelein benennen, um es in das Leben zurückzurufen. Das wird nicht gelingen. Aber es ist, wie das gesamte Behaupten einer EigenSprache, die Erfahrung des Inhalts eines Wortes durch dessen Gebrauch in dieser Sprache des sinnstiftenden Lallens und Stammelns, der lautlichen Umordnung, der metaphorischen Projektion ins Metonymische. Zunächst aber ist es im Text das Wort um, das die Schleusen der Sprachlosigkeit öffnet. Das Bälgchen spricht es unvermittelt und plötzlich aus —  so ist das mit dem Sprechen des Eigenen! — und es bewirkt zunächst unter den Kindern Erschrockenheit, als hätte sich wirklich etwas verdreht, als wäre etwas geschehen, das nicht nur unheimlich, sondern auch unrichtig wäre. Die Ent-Ortung der Sprache wird erkannt, um überwunden und später als ins Eigene verwandelte behauptet zu werden. Der sozial-kommunikative Rand wird als Zentrum des eigenen Sprechens erklärt. Das ist ein Aufstand, ein Widerstand gegen die Ordnung der übergestülpten Kultur, ein Aufbegehren gegen die Sprache des Oktroyierten, der Beginn einer leiblich-denkerischen Rebellion: Sie sahen sich an und wussten, dass sie es niemanden sagen würden … als wäre es eine Sünde. Aber die Sünde ist dazu da, um hinterfragt zu werden. Die Kinder und auch Lenz der Knecht werden sie wider die Verordnungen des Beichtstuhls sprechen, als Lenz der Herr (wir bemerken den Wandel vom Knecht zum Herrn) und als Ibillimutter werden sie sprechen. Im Spiel der Kinder nämlich beginnt die Lossagung von der Sünde, in dem

Christine Lavant. Das SelbstBestimmen des Namens

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sich das Bälgchen zu Wort meldete. Und es mag kein Zufall sein, dass es eben ein Spiel ist, in dem die Regel aufgegriffen, einverleibt, und womöglich sogar gebrochen wird. Das Sprachspiel wird Lebensform, als Text, in dem die Kommata fehlen. Christine Lavant hat dieses Spiel der eigenwilligen Bei-Strich-Setzung gespielt sich ihm stellen müssen, also: es erlebt, es durchrungen — das wissen wir aus ihrer Lebensgeschichte. In ihren Texten — den Gedichten, Geschichten und Tagebuchnotizen —  findet dieses Ringen seinen Ausdruck von größter Körper- und Geisteskraft in einer Schreibweise, die das Unmögliche des Ausgleichs von Sinn und den Sinnen versucht, die von diesem versucht wird und dieses Unmögliche gerade deshalb als Ausdruck verwirklicht: Eine Schreibweise, eine Rufweise, eine Evokation mit dem Körper als Geist und umgekehrt: Im nelkenduftenden Jahresviertel / redet mich oft eine Brut-Amsel an / mit ihrer ganz nahrhaften Stimme / voll gelben und brandroten Namen, / deren Laute vom Erdanfang kommen / und zum Welt-Ende heimgehen (der Pfauenschrei). Nie schwer, nie niederdrückend, vielmehr ekstatisch, ergreifend, abhebend — nicht in mir — und bodenverbunden — nicht außer mir — zugleich.

Keiner Ortschaft eingewortet passiert eine unio mystica der Wörter und Bilder, in der hitzige Symbole wie kühle rhetorische Figuren ineinander verwoben werden. Sie ergeben eine, wenn schon nicht die erlösende, so denn doch die loslösende Sprechweise des Ich im damit verbundenen selbst bestimmten Namen.

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Das Ganze ist nicht die Summe seiner Teile. Auch Volk und Theater ergeben noch lange kein Volkstheater. Das Volk gehört ja zur Wirklichkeit und das Theater zur Vorstellung. Aber wenn nun die Vorstellung wirklich ist und die Wirklichkeit vorgestellt — dann hieße es: Das ganze Volk nichts als ein Theater! Und der so fragwürdige Volkscharakter wäre nichts anderes als ein Theatercharakter. Wir dürfen doch träumen, auch wenn es ein Alb sein sollte: Das Volk sind wir, das Volk bin ich, und mein Charakter ist der seine. Ich und wir haben den Volkscharakter — sind Teil des Theaters als unsere eigene und beispielhafte moralische Anstalt! Träumen wir weiter: Es gibt also das Volk vorgestellt wirklich und es hat wohl wirklich vorgestellte Eigenschaften. Seine, unsere, meine. Aber wie diese auseinander klauben, wie diese Eigenschaften zeigen — ich, du, er, sie, wir? Spielen wir wirklich immer, dann frage ich nicht nur, wer spielt, sondern auch, wer beobachtet und gibt die Beobachtung wie weiter. Gibt es diesen schönen Spiegel der Wahrheit, der uns unsere Fratzen zeigt? Und wer ist ich und wir in diesem Spiel? Wir sind Rollen, wir haben sie nicht nur, wir leben sie an der äußersten Oberfläche der Banalität. Dort, wo sich zeigt, dass das Leben — so natürlich es daherkommt mit seinem so gesunden Menschenverstand — nichts anderes ist als eine Inszenierung, ein Stück Theater: Das Leben ein Stück, das Stück ein Theater, und dieses überlegt: Spiele ich das, was das Volk will, zu dessen Erbauung. Oder: Spiele ich das, was das Volk, so wie es ist, schonungslos zeigt. Oder: Spiele ich es so, wie das Volk sein könnte. Damit endet und beginnt unser Traum zugleich — und es gilt zu fragen: Spricht dieses Volk oder dieses Theater seine Sprache, die auch die meine und unsrer ist, hat es seine Geste oder seine verschiedenen Gesten, tragen diese ihre Kennzeichen — die des Nationalen oder nur, brav, brav, die des Regionalen?! Nestroy oder Strauss, Bernhard oder Shakespeare, geht die Rechnung auf, wenn wir sie gegen einander ausspielen und dabei nur ein Stück Theater über das Theater machen? Steckt in Nestroy wirklich mehr Volk und mehr von mir als das in Shakespeare der Fall ist? Wahrlich nicht, denn es ist ja das eine wie das andere vorgestellt. Und so finde ich mich bei Strauss ebenso wieder oder eben nicht wieder wie bei Horvath oder Bernhard oder Jelinek. Es liegt in mir — dieses vorgestellte Wiederfinden, in dem es doch um die individuelle Verwirklichung meiner Rolle geht, nicht um die des Volks als gleichsam natürlich brodelnde Masse. Ein Volk, das sich seines Theaters bewusst ist, erlebt Theater nicht als Chimäre, sondern als dieses Phantasma selbst — vorgestellt wirklich und wirklich vorgestellt zugleich. Und dann sprechen wir das, was wir von der Bühne oben zu hören bekamen, nicht nur weiter. Wir setzen Differenzierungen mit Hilfe der vorgestellten Wirklichkeiten aus den viel zu selten aufgeführten Stücken von Konrad Bayer, den Mikrodramen von Wolfgang Bauer, den phantasmagorischen Verwandlungen von Kasperltheater, Schwank und Zauberpossen von H.C. Artmann, in denen öffentliches und privates Verhalten

als unzertrennbare Einheiten zerbrechen, um dann oben in unserem Bewusstsein weiterzuwirken: im Bewusstsein und seinem Jargon, dem Jargonbewusstsein oder Bewusstseinjargon — 

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in diese Regionen der Erfahrung bricht diese Art von Volks-Theater ein. Zeigt die gesellschaftliche Verlogenheit, in der Materielles mit Ideellem gleichgesetzt, aber als neue Mythologie verkauft und öffentliches und privates Leben gleichgeschaltet wird. Wo die Wirklichkeit von der Vorstellung getrennt werden muss, weil ja die Wahrheit, auf die gepocht wird, nichts als Lüge ist. Nicht nur auf den Titelseiten findet das Volk, das zu diesem an eben dieser Stelle und Seite gestempelt wird, seinen Ort, der ein Unort ist — aller Leserbriefseiten oder Internet-links zum Trotz. Auch im suggerierten Stadium des fun und des Genusses: ein paar Trucks, Hüftschwingen, Brüste, Schenkel, Haut — den Bass, Lautfrequenzen — läuft dann eben das junge Volk zu seinem Theater auf. Nun gut, es fährt halt so vorbei, also ab. Aber Jargonkritik, Wortspiel, Sinnverdrehung, Entfremdung statt ausgeregelter Kommunikation — erreicht das noch dieses Volk?! Im Waren-Volkstheater, der Werbung schon. Dort dringt das einst Radikale optimiert in die Ohren des Hörervolkes: kleine Dramen, einst avantgardistische Experimente, denen die spitze Frequenz der Überschreitung genommen wurde. Als das Verkaufbare erreicht es das Volk, dieses will es. Und das sagt es auch — nach: Ich will! Aber wer ist dieses wollende Ich mit diesem Charakter, an welchem Stück nimmt es da teil? Wäre dagegen der schweissfuss von Gerhard Rühm das bessere Stück? Läutert Schwabs Präsidentinnen und verführt Danone? Bei den Griechen gab es Tantiemen für den Besuch der Spielstätten, wir zahlen heute selbst, aber sind wir dann das Volk, das sich entleert, abführt die Triebe, den Frust, die Sorgen des Alltags? Wo, wie, wann — Katharsis heute, Arkadien, wo bist du? Und auch Bäuerle, Gleich, Stranitzky, Nestroy? —  Wir haben sie doch, ihre Bücher vor uns liegen, Horvath auch, und sie sagen uns: Das Volksstück ist nur dann eins, wenn es uneins ist mit dem, was es darstellt — das Volk. Das hat Horvath versucht, und es ist immer noch die Anweisung für Gegenwärtiges und Künftiges: gegen das alte Volksstück, das andere, jetzige. Demaskierung des Bewusstseins, das ist es, aber, aber. Das sagte sich damals leichter, denn wo wäre es denn heute, dieses Bewusstsein. Der Steg ist immer noch reif, aber die Stegreifbühne, wo wäre sie, wo ist das Unten, das sich gegen das Oben stemmt, wenn es so tut als wäre es gleich und höchstens nur noch auf die feinen Unterschiede gesetzt wird. Wo wollen wir hin oder zurück, zu den Wilden Kerls in die tiefen Wälder? Das scheint kein Ziel mehr wert, oder mit dem blade runner in die ach so künstliche Intelligenz? Auch schon abgehakt? Oder doch nicht so richtig? Wo wäre denn die künstliche Intelligenz des Volkes mit Volkscharakter, und wie sie auf die Bühne bringen? Vielleicht so: Das Volk, also ich, du, wir eine Rolle spielen lassen, die auf die Produktion, auf die Thematik, die Dramaturgie und die Rezeption Einfluss nimmt, jedes

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Volk ein Stück Theater, das wäre doch ein kleiner Gegentraum zum Alb hinsichtlich des angestrebten Spannungsbogens zwischen Aufklärung und Untergang, wie er das alte Volkstheater oder eine Spielform desselben umfasste. Jedenfalls geht es nicht nur um Opposition, eher um das Herausschälen aus der vorgefassten Zuschreibung und deren Überschreiten. Das Paradox der Kunst — für einen anderen zu phantasieren und ihn gleichzeitig die Produkte dieser Phantasie erleben zu lassen — ist im Theater möglich, wenn entschlossen so gespielt wird, wie es sonst wo nirgends gespielt werden kann: Das Volkstheater dieser anderen Art geht auf Distanz zum Bildungstheater, dort wo dieses eine Burg darstellt, und bildet trotzdem, es betont die Körperlichkeit und gleichzeitig den Gestus der absoluten Künstlichkeit. Es ist wirkliche Fiktion und scheut nicht die Effekte des Theatralischen, also die Effekte des Medialen. Wenn es Stilmischungen provoziert, dann nicht aus Selbstzweck, und wenn doch, dann wenigstens absoluter Selbstzweck — der den Wärmetod der eigenen Auflösung stirbt. Pathos ist möglich, aber im Sinn einer historischen Aufarbeitung pathetischer Stil- und Ausdrucksweisen. Volkstheater könnte eine Semiotik sein, eine Zeichenlehre, wo die Zeichen in den Körper und das Bewusstsein dringen und von dort aus Zeichen setzen: Ventile öffnen, das Sentimentale zur Norm erheben, deren Speerspitze genau das Herz dieser Normen durchbohrt und ausstellt. Anders gesagt: die ästhetische gesetzte Norm medialisiert in Opposition mit den Mitteln der Opposition — aber anders platziert und kombiniert — die sogenannte soziale Wirklichkeit. Deren Originalität wird als das erkannt, was es ist — Modell einer Vorstellung, eines Riesentheaters, in dem wir leben und glauben natürlich zu sein, auch ein Volk zu sein, das sein Theater hat. Wenn schon, dann denn schon dieses ganze Theater!

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Das Gedicht ist. Es ist: immer Jetzt. Weil es spricht, in seiner selbstbestimmten Sprache spricht. Es ist: nie Jetzt. Weil es spricht, in einer fremdbestimmten Sprache spricht. Woher es kommt, und warum — das Paradox der Gleichzeitigkeit von Jetzt und Nicht-Jetzt, Selbst- und Fremdbestimmung, deutet es an: Das Gedicht schwebt, gleitet, changiert, oszilliert zwischen diesen beiden Zuständen, immer Jetzt und nie Jetzt zu sein. Sie bilden jenes poetische Ganze, das zu erfahren und zu bezeichnen in einem wir, im alltäglichen Sprechen und Erfahren, nicht in der Lage sind. Ein Ganzes, in das wir aber eingebunden werden können, dass es uns dann anders erscheint, und, wir mit ihm — wenn uns das Gedicht in dieses, sein anderes Ganzes verlockt, uns und sich bewegt: ein Drängen, ein Strömen, ein Fließen zurück und nach vorne, an sich ein Widerspruch in sich. Aber dieser, als anderes Ganze, ist das Gedicht selbst. Es versucht ständig, dieses Ganze, das es nicht sein kann, zu sein, durch und in einem Zug — der allerdings, einer aus Zügen ist, die alle, die am Gedicht beteiligten Kräfte betreffen. Sie sind in der Sprache wirksam, in der das Gedicht geschrieben oder gesprochen wird, ja, sie sind unter anderen diese Sprache selbst. Und sie sind im Dichtenden tätig, und sie werden in uns, den Lesenden aktiv. Sie umspannen Wahrnehmungsvorgänge, Empfindungsmomente und Benennungsvorgänge auf den verschiedenen Ebenen des Wortes, des Bildes, und münden in einen Sinn, der dieses Ganze ständig ist und nicht ist. Je nach Zustand des Gedichts und des dieses Dichtenden, der, — so nebenbei, von diesem selbst mitgedichtet, hervorgebracht, gleichsam geschaffen — zwischen unmittelbarer Anschauung und vermittelter Verkörperung wechselnd.

Deshalb ist das Gedicht Jetzt und Nicht-Jetzt, unmittelbar und mittelbar, ganz und nicht ganz zugleich. Diesen ihm eingeschriebenen Widerspruch ist es allerdings aufzulösen, oder, ihn zumindest aufzuzeigen bestrebt: als Möglichkeit der Erweiterung von Wirklichkeit. In sich selbst, durch das Tätigwerden der innersprachlichen und bildlichen Dynamik, seinem elementaren Material gleichsam, und, durch die Schreibhand jener, die es hervorzubringen versuchen. Auch, um die Paradoxa der Gegenläufigkeit und Gleichläufigkeit, der Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit zu erkunden, zu erforschen. Um es schließlich, zumindest, in ein Gebilde des Ganzen aus Teilen zu verwandeln.

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Heute, in unserem Auge und Ohr, dort, im Gedicht jenes Dichters, der es auf seine selbst- und fremdbestimmte SchreibWeise hervorzubringen vermag, und uns, die wir es hören und sehen, auch schmecken, riechen, erfahren lassen will: Dann, wenn sein Gedicht uns passiert und in uns passiert —  als Vorgang, als Bewegung zwischen Immer Jetzt und Nie Jetzt: Es ist das Gedicht von Franz Josef Czernin, den zu ehren wir heute hier zusammengekommen sind. Ich sagte einmal über seine Gedichte — ich erinnere an ossa und pelion, an die gedichte aus: der kunst des dichtens, an die natur-gedichte, an die elemente, sonette und an die gesammelten gedichte : staub.gefässe —, ich sagte einmal über dieses, sie sind eine Feier der Sprache. Und ich meinte das umfassend, in Bezug auf seine wahrlich umfassende, Grund suchende und Grund legende Arbeit am Gedicht. Am Gedicht arbeiten, das heißt für Franz Josef Czernin, zunächst ein Zusammenspiel von Material und Geist anzunehmen, und dann eine Spanne zwischen diesen beiden zu eröffnen, zu ziehen. Um zu untersuchen, was das Gedicht über seine Erbauungsfunktion auch zum Erkenntnisinstru-

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ment macht: als höchste abstrakt-sinnliche Möglichkeit dessen, was Sprache sein kann: Um einen Dialog zwischen dem Sinn und den Sinnen einzuleiten, der sich Gegenstände wählt oder sogar schafft, innere wie äußere, und diese gegebenen anders als üblich zur Darstellung bringt. Diese Gegenstände eingebunden in einen persönlichen wie gemeinschaftlichen Raum: ästhetisch, ökonomisch, sozial sich im dichterischen Verfahren und seinem Wort- und Denk-Material niederschlagend. Beide stehen übrigens in einer Wechselwirkung, das eine ruft ein weiteres im anderen hervor, und so weiter: Detaillierter: Czernin untersucht, für sich und für uns, was die mit ihm eingeleitete und wirksam werdende ästhetische Erfahrung dem Dichtenden von ihrem Gegenstand, den sie für die dichterische Bearbeitung gewählt hat, erkennen und erfahren lässt. Das ist ein Vorhaben der Erweiterung des Wirklichkeitsbegriffes durch das Wirksamwerden dichterischer Organisation in individueller wie kollektiver Erfahrung, es ist das, was wir als unsere Welt verstehen oder eben nicht verstehen. Dieser Anspruch auf Erweiterung von Welt wird nicht nur im Einzelgedicht erkennbar, sie kennzeichnet sein ganzes Werk, ein offenes Werk aus Werken: Sie umfasst den Essay — als poetologischen Selbstversuch und Panoramafixierung dessen, was aus der Tradition in die Gegenwart des dichterischen Schreibens und Denkens hineinwirkt, oder, rückwirkend gleichsam erfunden wird: Da kommt es zum Apfelessen mit Swedenborg, aus gespenstischen Äpfeln und wörtlichen Geistern, zu fingierten —  aber was ist fingiert? —, Dialogen mit dem Engel, besser mit dessen oder den eigenen Zungen, in denen die Möglichkeiten der Verwandlung durch das Wort, — das auf der Zunge liegen wird, wörtlich genommen —, ständig durchgeprobt und vorgeführt wird: die Verwandlung des Einzelnen und Äußeren, des einzelnen Apfels zu einem Inneren und Allgemeinen, die jenes Äußere und Innere enthalten. In diesem einzigartigen Czerninschen Werk aus Werken kommt es genauso zum erkenntnistheoretischen Abtasten

der rhetorisch-epistemologischen Dichtung von Paul Wühr, das eine eigene Denkarbeit im Spannungsfeld zwischen Poesie, Poetik und den philosophischen wie theoretischen Erkenntnisformen darstellt, die als solche aufs Spiel gesetzt werden, und damit auch jener, der dieses Spiel spielt.

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Die Spanne seines Werkes umfasst Prosaversuche wie die sechzehn Arabesken von Anna und Franz. Inhalt stiftende Formkreuzungen werfen ein weit über bloße Motive hinaus gesponnenes Netz aus Sprache aus, um Wirklichkeitskriterien auf- und abzubauen, wo jeder Zustand in einem anderen aufgefädelt und zu einem gegenwärtigen wird. Sie umfasst die an Wittgenstein und Valery geschulte, aber auch metaphysische Fragestellung nicht scheuende, ironisch-abgründige, als eine Einführung in die Mechanik ausgewiesene, aber als Mechanik des Denkens und über die Sprache angelegte und sich immer wieder selbst unterlaufende Maschine der siebenbändigen Aphorismen: in den Feldern von Denken, Begrenzen, Empfinden, Erhöhen, Fallen, Fühlen, Teilen, Glauben, Dichten. Aber sind das die Kriterien, die Kategorien, die nur das Selbst des Dichters mitbestimmen? Um wessen Selbst geht es da, ist es eines, gibt es das überhaupt? Das sind einige der Fragen, die sich durch die Lektüre vom Dichter in uns verschieben. Ebenso wie dies in den unbestechlichen Kritiken geschieht —  etwa zu Durs Grünbein, Oskar Pastior oder H.C. Artmann, bei dem er die Aushöhlung des Sinns von Innen, betont, und dessen arrangierte Gegenstandslosigkeit, diesem Nichts als frischem Wind, der all das zu versprechen scheint, was die Worte nicht halten wollen. Auch bei Artmann ist für ihn etwas im Gang, das hinter der Sprache liegt und dennoch auf Semantik beruht, sich bewegt, und mysteriös bleibt. Etwas Rätselhaftes, das er bei der beschaulichen Oberflächenmaschinerie Pastiors vermisst, wo das Semantische den Kürzeren zieht, weil es gar nicht Gegenstand des Dichtens ist. Bei Artmann sehr wohl, bei ihm haben Sinn und Semantik die besten Chancen — und verlieren trotzdem, so

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Czernin. Deswegen schmerzt ihr Verlust umso mehr und fällt für ihn ins ästhetische Gewicht. Diese poetologischen Essays übertreffen als indirekte Anleitung für dichterisches Schreiben ihre eigentliche Funktion der Kritik bei weitem. Franz Josef Czernin macht sich und uns — und hoffentlich noch vielen Schreibenden — von einem Wolkenblick aus klar, um einen möglich weiten Horizont zu haben, dass jedes dichterische Wort wissentlich oder unwissentlich Literaturgeschichte mitspricht. — Alle diese Schreib-Arbeiten sind Bausteine für Franz Josef Czernins unnachgiebige Arbeit am Ganzen des Gedichts, die zu so etwas wie allgemeiner Erkenntnis beitragen sollen, die das Gedicht in sich zu versammeln und zu übertragen sucht. Auch dieses Mitsprechen der Tradition gilt für das, was ich als das Ganze in den Teilen aus Teilen in seinen Gedichten spüre, ahne, erkenne, und das sich vor allem während der Lese-Erfahrung zu einem Wissen kristallisiert. Aber wie geht das in der Praxis? Das Gedicht wird gebaut und baut sich selbst. Ingenium und Concepto. Als ein Gegenstand tritt es hervor, das überraschend auftauchende Objekt. Ist es aber nur das Gedicht aus Erfindung und Methode —  dann fragen wir: Von wem gebaut, erfunden? Welcher Ingenieur hat womit das Konzeptuale realisiert? Und Czernin, oder das Gedicht, das er ist, zeigt es uns: Mit der Sprache. Von der Sprache. Aber, aber: zu diesem Ansatz der Moderne kommt noch etwas dazu: Das barocke Moment des Bauens wird verbunden mit einer Energie, einer tätig einwirkenden Kraft des Dichters, die nach persönlichen Intuitionen oder aus persönlichen Einsichten und Blickwinkeln heraus, Substantielles einbringt, das er selbst — wie eingangs erwähnt — Geist nennt. Dieser ist das Spezifische, die Handschrift des Autors, die mit der Schreibhand gleichzusetzen ist und mit der er in seinem gleichlautenden

Buch an Reinhard Priessnitz anknüpft, auf seine Weise, versteht sich. Jedenfalls reicht diese Schreibhand von den Fingerspitzen bis zu jenen des Verstandes, wo sie sich die unio mystica von Kalkül und Inspiration erhofft.

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Es ist dieser Geist oder dieses Denken, das in Bezug auf das, was sein Gedicht ist, mit konstituierend wird: Etwas Biegsames, Elastisches, das mit der Materialbearbeitung, wie sie das moderne Gedicht kennzeichnet, konvergiert. Dieser Geist ist so etwas wie das Mysterium, das anschauliche Gestalt einnimmt, ohne auf die Begriffe des Modells zu verzichten, das aus methodischer Überlegung heraus die Wörter über deren Buchstabengehalt zum Beispiel organisiert. Czernins Gedicht ist also innerhalb und außerhalb der Sprache tätig, wirft aber seine Einsichten stets auf die Möglichkeiten sprachlicher Darstellungsformen zurück. Denn, er weiß: Was haben wir denn dort Anderes als die Sprache — das Wort, den Satz, den Buchstaben, den Laut? Was Anderes als die Grammatik, die Syntax, was Anderes als die Satzzeichen, die Zeichen? Ja, das alles haben wir, und dennoch ist da noch etwas im Gang, wenn wir erkennen, oder zumindest glauben, zu erkennen. Dieses Erkennen wird durch Czernin ermöglicht, als anderes. Das ist die Feier der Sprache, die ich meinte, sie hisst ihre Fahnen auf allen Ebenen des Schauens, des Wahrnehmens, des Empfindens und des Benennens, sie weht mit dem nicht beeinflussbaren Wind der Umgebung, des Diskurses, stellt diesen aber auf den Boden, auf den Grund, was mit Lust am Umordnen, am Umbauen, aber auch mit Arbeit verbunden ist, die wir spüren: Es ist aber mehr als nur ein Gespür, es ist mehr die Vorgabe einer Spur, ein Hin- und Anleiten für selbstbestimmtes Handeln in der Sprache mit der Sprache auch außerhalb sprachlicher Erkenntnisvorgänge, möglicherweise. Dieses spielerisch leichte Betreten oder auch mühevoll sich zu erarbei-

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tende Erklimmen der von ihm so genannten Sphären führt nicht zum Enthobensein im Sinn romantischer Imagination. Sondern macht ein Auf den Boden gestellt werden möglich in den Momenten des sprachlichen Benennens, das die Bedeutung und die Bedeutungen schafft: in Form eines Zustandes, der ein Vorgang ist, der so noch nicht gesehen wurde, und so auch nie zu sehen sein wird, sondern der immer er selbst ist. Im Moment des Erfasst Werdens wird er, der Bedeutungsvorgang im Benennen durch die Wörter als Wort oder Bild verkörpert. Zu dieser Verkörperung werden auch wir, sie liegt in uns brach, um eröffnet zu werden, wenn wir lesen, hören, be-greifen, was sich da vor uns und in uns zu entfalten beginnt.

das meer, es wird durchkreuzt im eignen namen laut, da im glas wasser stürmt, als öffnung vor zu schweben … dass wasser unsre farbe spielt, zusammenbraut sein bild als aug: aus blauem sich das durch uns staut, … gestrichen wird, auch an-, wie aus-, das ganze segel … ja, lösend ruder, blatt mit dieser zunge, pegel auf- es angibt mit der quelle, die in dingen und zwischen zügen, zeilen fasst: stillt das die regel? Das Gedicht von Franz Josef Czernin ist ein bewusst gesetzt anderes, diesseits und jenseits der Regel als solcher. Seine Schönheit ist das Ergebnis aus Vernunft und Kalkül, es entspringt einer methodischen Setzung, ist aber nicht durch einen Regelkatalog allein systemisch herstellbar. Es hat seine eigene Methode im Gedanken, in dessen Schritt für Schritt Verfertigung auf eine Form hin oder aus einer Form heraus, dieses Ganze aus Denken und Fühlen, aus Bild und Wort, im Moment des Innehaltens zu sein: Ein Jetzt — 

als das es sich in seinem und unserem Vermögen des Benennens jenes Zustandes, in dem es sich und wir uns gerade befinden, entfaltet. Wie entfaltet es sich? Durch sein Sich-Gebärden aus Semantik, Syntax und Klang, durch ein Flüstern, das hallt, durch einen Schrei, der still dröhnt.

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Indem es durch Kombinationen all dieser Kategorien keineswegs versucht, die vor allem im Reich der Bedeutung übergangenen, kaum wahrgenommenen Familienähnlichkeiten auszuhebeln, sondern diese im Gedicht, im Dichten und Erfahren dieses Dichtens (in ihm und in uns) erkennbar, be-greifbar zu machen: zu verkörpern. Und die Welt der ersten Bedeutung durch eine der zweiten und dritten Ordnung zu erweitern. Das ist das Schweben, von dem ich eingangs sprach. Es ist ein Zustand der Erweiterung, der in einer geschmeidigen Linie konkreter Wörter, in seinen Versen über den der Möglichkeit einer phantasierten zweiten Welt hinausreicht. Besser, der zurück fällt, in das, was auf dem Boden, dem Grund, der Fall ist: nämlich das übliche, das gegebene Wort als Instrument des Gedankens von Inhalten, die uns erkennen lassen, was wir sein könnten, wenn wir uns mit ihnen auf den Weg ihrer zweiten, dritten Bedeutung, und in die dadurch sich aufschließenden Räume begeben würden. Im Sich-selber-Bauen wären wir mit ihm Jetzt. Auch wir sind Übersetzung vom Gebaut-Werden ins sich Selber-Bauen. Das ist ein Vorgang, der läuft, durch und in der Sprache, die vom es Bauenden gelenkt, gesteuert wird. Es ist dieses nicht nur. Sie vermischt sich mit aufkommenden, vorhandenen und sich wandelnden Bildern, die mit und aus der Sprache herrühren und auch gegen die Sprache, die sie mitzusetzen versucht, stehen, fließen. Wir sind also alles zusammen, die Lesenden als die Buchstabierenden und die im Geiste selbst Mit- und Umschrei-

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benden, aus dem vorgelegten Sprechenden und Schreibenden, des sich Zeigenden als Gedicht. Dieses Zusammensein ist kein Stillstand, sondern ebenso ein Vorgang, der ständig changiert, sich neue Orte sucht und uns diese zeigt, uns hinführt, dort begeistert oder auch entsetzt zurücklässt. Wir könnten sagen, es ist das Leben schlechthin, das sich da auftut Auch als Geist im Material, der nicht nur gleichsam, sondern tatsächlich verspürt wird und über formale Vorgänge und materiale Experimente aufgespürt oder eingehaucht werden soll. Dabei immer wieder in sprachliche Darstellungsform mündend, um zu zeigen, welche sinnstiftende Rolle die Sprache dabei zu spielen hat. Auch das ist Bestandteil dessen, was ich seine Feier der Sprache nenne. Diese kann den Dreck beschwören, im sonett, fleisch:

was mich da krümmt und wurmt, mir madig macht, zerfrisst, selbst sich anschwärzt, schmutzig befasst, doch einverleibt, als schmus, ja schund es giftig durch uns schmatzt, sich küsst, beleckt davon sich schimpft, verarscht, wüst sich verschreibt in jedem sinn, stunk, dreck, was sonst sich nur verpisst, … oder kann die Reinheit des Blaus beschwören, das nicht nur im Sprichwort vom Es-vom-Himmel-Holen steckt, sondern auch im sonett, schaukel:

es ist das licht, das sich in solchen schatten greift, leichthin aus luft, sich da versenkt, aus all dem blauen, einleuchtend wieder gibt das, was es ballt sich, häuft zu unsrem eingefleischten leib, durch den aufschauen

die augen, blitzend, so mit uns gekreuzt, ausschweift, was sieht … Kaltblütig erhitzt, kalkuliert spontan zugleich führt uns diese Arbeit unsere Einseitigkeit des alltäglichen Sprechens und Erkennens vor, das derart reduziert mit dem Begriff des Verstehens kurzgeschlossen wird.

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Ein Verstehen, um das es ihm geht, das Czernin aber nicht einmal attackiert, sondern auf den Boden zu stellen vermag, dass es leuchtet und prangt — auch als Alltägliches wie in den soeben zitierten Versen aus den elementen: Dort kommt diese Feier in der Alltäglichkeit der Teile auf, die selbständig und ineinander wirkend auftauchen. Die nicht nur das mögliche, sondern das vorliegende, durch konventionelle Bereinigung verschüttete Mehrschichtige in einem ihrer Teile enthalten. In Sonettform gebunden, die aus seiner frühen experimentellen Untersuchung der kunst des sonetts herrühren mag — positivistisch materiell wie als schöpferisches Prinzip gedacht und ausgedichtet vom kleinsten Element des Buchstabens zur bis zur endlich kleinen Menge des Wortes in klar sich unterscheidenden Satz-Einheiten — das verkörpern die Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft. Das kommt uns bekannt vor, und genau da setzt Czernin an: Was wissen wir von dem, was uns bekannt erscheint, was wir zu verstehen meinen, auch von den Elementen in und außer uns tatsächlich, und vor allem so:

all dies gerümpel uns einander lumpen lässt, da schäbig, doch geschraubt, das leim ich, ja, verschweisse hier stapelnd hoch, was abfällt; zeug flickt an sich, presst so schief uns, platt, dass eisern, morsch, beinhart zereisse maul gross mir, hölzern ihr verbeult mich, ich zerschleisse …

F. J.  CZERNIN — DAS WERK

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in trümmern, spänen kommend, hinkend all den plätzen, wie schimpflich heulend, feil und wüst wir aus und wetzen, sind scharte selbst: dreck dreck bleibt, nicht sich aus uns las. In den herkömmlichen Begriffen des Wörterbuches wird gedichtet, die dichterische Wortverstiegenheit ist nie seine Intention. Was uns abverlangt wird, ist ein Sich Einlassen wider den blinden Automatismus einseitiger Lesart, die im Alltag mit Verstehensart gleichgesetzt wird. In einer elastisch gebogenen Denk- wie Sprachform, die sich dem Verdichten wie Auflösen der inneren wie äußeren Gegenstände nähert, ja, sich dieser hingibt: als Verkörperung und Entkörperung in einem. Ich sprach vorhin vom Passieren und meinte damit eine Passion, im Sinne des Bewegens von Material und Geist, aber auch im Sinn des Innehaltens, das sich der Lesbarkeit eines Zeichens oder eines Symbols widmet, um es mehr oder weniger deutend zu erfahren: als tätige Anschauung, als unmittelbar erhoffte Anschauung. Diese Unmittelbarkeit mag mit dem plötzlichen Erkennen in Zusammenhag stehen, das durch die Position des Blickwinkels, das uns das Gedicht ermöglichte, aufblitzt, und das sich vom Zeichen- oder Symbolhaften in ein Sich-selbst-Erkennen verschiebt. Entscheidend bei den Gedichten Czernins, und hier steht er — so wie es jedes Werk, das sich als Werk verstehen will, verlangt — in Traditionen: wie gesagt auch in jener der romantischen Universalpoesie, in jener Brentanos, aber auch in der Dantes und seines wüsten Übersetzers Rudolf Borchardt. Auch Shakespeares Sonette werden zum Anlass der — vor allem seine derzeitige Arbeitsphase bestimmenden — ÜberSetzungen, die Gedichte quer durch die Literaturgeschichte und deren Texte aufgreifen, das können sogar eigene sein, die Czernin eigensinnig referentiell, dynamisch erweiternd zum Leuchten bringt. Er würde sagen, dass er ihr geschichtliches Licht nicht bricht, ihre Konturen destruiert oder dekonstruiert, sondern: auf die Spitze treibt!

Der Gegenstand, den das Gedicht in seinem und unserem, einem illusionistischen Raum des Realen erzeugt, folgt dabei, und das ist paradox-genial, oft der Mehrstimmigkeit des Gedichtes nach. Die Mehrdeutigkeit eines Themas oder auch die Vielfältigkeit eines Vorganges, die in der paradoxen Gegenläufigkeit von zeitlichem Erscheinen und räumlicher Verdrehung von Vorder- und Hintergrund wird bis an die Grenze des üblichen Verstehens zugespitzt. Eine Vielfältigkeit, in der allzu vieles und sehr Verschiedenartiges zusammenspielt, das sich aber vor unseren Augen ereignet und im positiven Sinn unabschließbarer Prozess bleibt, wird zum Kennzeichen, nein, zum konstituierenden Wirklichkeitsraum des Gedichts — ja, zum Gedicht selbst. Das Gedicht wird zum Vorgang aus Vorgängen, es ist nie ganz einer, und nie ist einer allein im Gang. Wo fängt das alles an, wo hört es auf? Diese Fragen stellt sich das Gedicht selbst und es stellt es an den Gegenstand, den es durch Benennung zu schaffen, herauszubilden versucht. Dieses Benennen, das nicht das einzelne Wort allein betrifft, ist ebenso als Vorgang zu sehen, zu erschauen als das Ungewöhnliche einer Wortlandschaft aus Wörtern, die bekannt sind, aber in der Komposition zu dieser Landschaft hin, den Raum der Mehrdeutigkeit auf verschiedenen Strängen eröffnen und auch behaupten. Um dieses andere Ganze zu repräsentierten, um es zu erfassen, aber es dann wieder freizugeben, wenn der nächste Benennungsvorgang eintritt. Dieses darin entstehende Erkennen kommt aus dem langweiligen Benennen des innehaltenden Moments, auch mit den Augen der Wörter und ihrer Stellung im Gedicht als Gedicht, das zur Konstitution des Realen beiträgt. Dabei kann es passieren, dass der Gegenstand als stabiles und von der Zentralperspektive eingefrorene Konstruktion mehr aufgelöst, als dass er vieldeutig und unscharf enthoben wird:

gebootet aus, den sturm die ernte, spiel / uns ballt, jetzt auf dies rollt, auf spitzen sturz getrieben;

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F. J.  CZERNIN — DAS WERK

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Was in der Tradition vielleicht noch Metapher war, sagen wir Vergleich (Mein oft bestürmtes Schiff, der grimmen Winde Spiel, der frechen Wellen Ball, …) wird in Czernins Denkund Spracharbeit zur Erfahrung. Die den zum Vergleich herangezogenen Gegenstand als Wort, Begriff oder Bild von seinem abstrakten, verweisenden Wert zum real verkörperten in der Vorstellung und im Text überführt. Ohne in eine Traumwelt des Absurden oder des Unvereinbaren zu entschweifen. Auch deswegen, weil wir die Metapher — der zentrale Gegenstand seiner peotologischen Forschung —, also auch der seiner Gedichte, einen Prozess darstellt, der vom Wörtlichem zum Metaphorischen und vom Metaphorischen zum Wörtlichen führen und nicht nur Erkennen bedeuten, sondern das Bedeuten erkennen lassen kann. Dieses Erkennen in sich und in uns passiert auf diesen Punkt des Innehaltens hin, dort, wo es Jetzt wird, und so also ist: es geschieht in der Bewegung der Wort- und Bildsetzung, die es selbst als Gedicht ist. Als Form, die Inhalt, den Gedanken deutet, findet und selbst erschafft, die, wie schon erwähnt —  auch in uns hinein schwingt, um unser Erkennen des Gegenstandes, den es evoziert, mit ihr am Weg zu verwandeln. Uns, als unser Erkennen, das wir sind. Auch durch ein Hinführen zu den Bedingungen des Benennens als Handlung, die sich im Satz oder im Teilsatz aufführt, ein persönlicher wie gemeinschaftlicher Akt, den uns der Dichter Franz Josef Czernin eröffnet. Eröffnung und Verwandlung, Passion? Außerordentliche Zustände deuten sich in diesen Begriffen an, sie sind erhabene, wohin sie weisen, ist aber nicht die Frage. Denn sie sind nicht Zeigefinger auf einen Zustand hinter den Dingen und den Körpern, hinter den Wörtern, sondern sie realisieren diese, konkret, ohne eine naturalistische Abbildungsmechanik zu erfüllen. Sie spiegeln nicht wider, sondern kreieren den Spiegel als

Form: ich bin mir zu gefallen selbst

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— dieser Vers und dessen verschiedene Lesart — sich zufallen oder sich zu gefallen als eine — aus den gedichten, mit dem Titel fenster, dem ein Motto vorangestellt ist: die ganze tafel (ein fragment), enthält das alles bis her so schwierig zu Formulierende auf dichterische Weise auf engstem und gleichzeitig weit geöffnetem Raum. Darin ist Passion, dieser ist Passion. Das Gedicht spricht fragmentarisch von einem Ich, während es sich ganz schreibt und dieses, wiederum fragmentarisch ganz in unser Sprechen übersetzt. Als Moment des außergewöhnlichen Zustands gesehen, der das Ungewöhnliche poetisch relativ gewöhnlich zeigt. Das Unmögliche im Möglichen zu versuchen, ist eine Intention —  auf den Wegen zwischen realer Findung und persönlicher Erfindung, zwischen subjektiver Inspiration und objektiver Methode, wo selbst organisierendes Denken und Sprechen auf ein geordnetes vor- und mitbestimmtes trifft: das Phantasma und das Halluzinative wird auch hervorgerufen aus dem Ingenium und Concepto. Dieser Weg der Hervorrufung, ihre Art und Weise — vom Anlass bis zur Wirkung — wird und ist bei Franz Josef Czernin das Gedicht. Ein gedachter ausgedachter zunächst, der sich aber im Laufe des Hinausdenkens den Wurzeln des Denkens nähert, um das herkömmliche zu erschüttern und zu erforschen, wie das dichterische Denken durch den Gedanken so etwas wie Formen hervorbringen kann, die tiefste Inhalte sind, weil sie immer schon Form waren und dennoch noch einmal und immer wieder werden können. Jetzt: Ein Abschnitt des Wirklichen, der sich von dem, was wir sind, nur insofern unterscheidet, dass er uns zeigt, was wir auch sein könnten, und wenn wir bereit sind, dieser Möglichkeit zu folgen und sie anzunehmen, auch dann, kurz, jeweils momentan auch sind.

F. J.  CZERNIN — DAS WERK

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Franz Josef Czernins Gedicht gibt uns diese Möglichkeit vor. Sie lädt uns ein, zu erforschen und zu finden, was wir in einem Moment der Wahrheit, der poetischen Wahrheit, sein könnten und dann auch wären. Jetzt. Das ist das Allermöglichste, das die Kunst und die Poesie leisten kann. Leisten? Heißt das, etwas tun, was mit Mitteln arbeitet, die auf ein Ziel hin gerichtet, eingesetzt werden? Das kann es heißen, aber bei Franz Josef Czernins Gedicht ist dieses Ziel in vielen Schichten vorhanden, aber als Ganzes vor der Lektüre und vor allem auch vor dem Schreiben nicht definiert. Es ist offen, aber kein Scheunentor, das beliebig hin und her schlägt, wenn es der Wind der Wirklichkeit erfasst. Da steht etwas, da greift etwas, das weiß, dass es nicht nur schließen und öffnen kann, zeigen und nicht zeigen, sagen und schweigen, sondern auch beides verknüpfend in einem Zug — aus Zügen. Eine dichterische Leistung, die einsam glänzt in der Literatur. Wie Mallarmé im Feld Baudelaires, Rimbauds und Flauberts stand, steht Czernin im Feld der Wiener Gruppe, Jandls, Mayröckers, und vielleicht sind auch einige von uns um ihn herum und er um uns. Aber wie Mallarmé schreibt er sein singulär sich behauptendes Gedicht mit der Unnachgiebigkeit und Besessenheit des Einzelforschers, der nicht der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen will, sondern uns vor-führen, dass dieses Glas halbvoll und halbleer in einem Moment ist; in dem ein Sturm aufkommt aus Glas ums Wasser herum und dieses rührt, dass es uns ergriffen macht von den darin schwimmenden, torkelnden oder auf der Oberfläche tanzenden oder untergehenden Fliegen. Auf dass wir fliegen! Zu Fliegenden werden, für die Raum- und Zeitkunst nicht mehr getrennte Kategorien darstellen, in einem ganzen Bewusstsein mit- und ineinander strömen, so wie Schrödingers Katze mit sich selbst tot und lebendig zugleich ist. Das Bewusstsein, unseres, ja, es wird kurz gespalten, momentan in verschieden möglichen Sphären, aber ohne einen

Riss oder eine nicht mehr schließbare Differenz als Wunde zu hinterlassen. Im Gegenteil: Das mehr als Bescheidene unserer Einseitigkeit, vor allem das Festlegen der Welt und ihrer Gegenstände durch einseitiges Benennen wird uns bewusst gemacht, um es zu erweitern, es und uns zu übertragen durch Verkörperung von Verwandlung, um uns zu ermöglichen, kurz, momentan das Ganze aus beiden sein zu können.

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Danke dir dafür und Gratulation zum H. C. Artmann-Preis, lieber Franz Josef!

F. J.  CZERNIN —  DAS WERK

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Für H. E.

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2009

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Wer spricht wie? Die Dichtung im Feld der Systeme. Das Ich im Feld der Gruppe. Das Wort im Feld der Begriffe. Die einfache Reflexion als der grundlegende Gedanke. So — leicht — gesagt: das Schwierige. Das Schwierigste. Die friedliche Attacke. Der kampfbereite Widerstand im freundlich blitzenden Auge — kommen hinzu. Wie die Person vom Text trennen? Helmut Eisendle, das ist der lebende Text und der Text als lebender Dichter. Und das ist nicht die Bohème allein. Und nicht die Avantgarde allein. Es ist die individuelle Lebensform der Poesie einer Ober-Haltung unter seiner selbst. Das große, nicht enden wollende Gespräch, das ist Eisendles Text, das ist der Text Eisendle. Anders: Der Dichter hat einen Traum, eine Sprache der Kunst, der Dichtung als grundlegende oder dem Grund zugrunde liegende Sprache der Erkenntnis zu finden. Indem er die gegebene Sprache und die vorgegebenen Sprachen mit der ihm eigenen Skepsis belegt, die aus der Erfahrung beider Sprach-Welten stammt: aus der dichterischen und der alltäglichen. Eine weitere Erfahrung einer dritten Sprach-Welt stellt sich dazu, die der Sprache der Wissenschaften, und damit verbunden, die Sprachen der kulturellen Systeme, die den Dichter im Alltag und in seiner Kunst umfangen.

Das Schreiben war meine Sache; annehmen muß es aber die Welt auf die normale Art und Weise. L. W. (H. E. , Das Verbot ist der Motor der Lust) Hier setzt der Dichter, es ist H. E. , das ist Dr. Lipsky, das ist Estes und Schubert, das ist der Narr auf dem Hügel, der in der Gaunersprache der Intellektuellen jenseits der Vernunft spricht, an. Nachdem er erfahren musste, im Dienst der Sprachen ein ihre Direktiven Vollziehender zu sein, der nicht ein aktiv, sondern ein passiv Erfüllender der ihm auferlegten Funktionen ist: Diese Funktionen sind auf die Sprache bezogen, methodisch logisch im Sinn der Wissenschaftssprachen, und sind beschreibend geordnet, narrativ im Sinn der gepflegten, also üblichen Sprachen der Literatur:

Realismus, gleichsam eine Metafer für die Beschreibung der Wirklichkeit, hat für mich den gleichen Stellenwert wie die Metafern Marxismus, Idealismus, Gerechtigkeit oder Demokratie, also Begriffe, die in dem Moment zu undefinierbaren Fiktionen unseres Geistes werden, in dem ihnen nicht unmittelbare Folgen im Verhalten, in der Aktion und im Handeln zugeschrieben werden können. Letzteres impliziert der Terminus Realismus in der Literatur

aber keineswegs. Realismus in der Literatur heißt, so verstanden, das Aufgeben dessen, was wir tun: Schreiben. Dazu bin ich nicht bereit. (H. E. , Das Verbot ist der Motor der Lust)

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Das Dilemma ist, dass beide Sprach-Welten im Dichter eine sind und somit beide abgestreift werden müssen, oder überwunden oder verwandelt oder was auch immer, um zu einer ersten Erfahrung der Welt zu gelangen. H. E ist klar, dass diese nicht außerhalb beider geschehen kann, sondern innerhalb beider, womöglich in einer Art der neuen wilden Verschränkung. Die bei ihm Literatur werden sollte, die nicht aufgesetzt mit einem experimentellen Gestus arbeitete, sondern zuletzt, das ein Erstes ist, mit den Mitteln einer intakten Sprache, was Semantik, Syntax, Grammatik etc., anbelangt. Trotzdem gilt, und das ist das Paradoxe seiner Arbeit: Der Stringenz einen Tritt versetzen — dieser Satz als Lebensform, dieses sein Vorhaben gilt von Anfang an seines Schreibens bis hin zum Schluss. Ein Schreiben, das sich somit als ein Kreis erweist, ein offener allerdings, der die verschiedensten Andockstellen aus heutiger Sicht, aus meiner, unserer, wie wir bis jetzt lasen und hörten, ermöglicht: Wie dennoch der anderen Stringenz, die der ästhetischen oder dichterischen Erfahrung, den ihr möglichen Platz und Raum zu schaffen, gleichsam sie zu verwerfen, und im gleichen Denk- und Schreibzug nicht auf sie zu verzichten zu wollen?! H. E. geht es demnach um die Freilegung von Bedeutungen, die dem Denken die Begriffe genommen haben, um diesem und uns eine neues, ein freieres Denken zu ermöglichen, also: um den Aufbau einer stringenten Welt der bedeutungsbefreiten Begriffe herkömmlicher Art, die dann aber wiederum herkömmlich ins Spiel gebracht werden — ins Sprach-Spiel, aber in einem anderen Sinn als es die Wiener Gruppe und die radikalere experimentelle Literatur vor und seiner Zeit betrieb. Das ist das mich Herausfordernde bei der Lektüre von H. E.’s. Werken: Einer erzählt, dass er ständig nicht erzählt und erzählt tatsächlich nicht, und erzählt dennoch und schon, aber dabei und darin nie, nie oder schon wieder widerzuspiegeln. Er macht nämlich etwas anders, als spiegelnd und nur abbildend zu wiederholen. Was? Er lässt sprechen. H. E.’s Schreiben ist Sprechen. Seine Monologe sind Dialoge auf den verschiedenen Ebenen des Textes, und auf denen des Werkes, in allen seinen Schichten. Und die Schichten, die er lapidar, aber nicht weniger kunstfertig, aufbaut, dialogisieren ebenso miteinander. Das ist der oben genannte offene Kreis. Einer spricht, oder zwei sprechen, oder drei, oder vier, oder eine Gruppe

Für H. E.

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spricht, die einer ist, aber immer das Du sucht, anspricht, nicht immer findet, aber das gehört dazu. Es ist das Scheitern, das nicht immer nicht kokett beschworen wird. Er liebte es halt, das Ver-Sagen, das Ver-Sprechen, das in seiner ästhetischen Praxis mehr an die fernen Situationisten denken lässt als an die nahen Aktionisten. Es ist ein Lebensprinzip, das ein Schreibprinzip ist, also eins, und somit die eigentliche Identität des Autors als sprechendes Wesen in allen Sprachen. Dort in diesem Raum, in seinem Punkt aus ihren Punkten finden sich die Wissenschaft, die Religion, die Kunst, die Dichtung zusammen in jenem Feld der Sprachen, die gerade im Scheitern an der Erkenntnis der Wirklichkeit mit ihren eigenen Mitteln, die Erkenntnisse der anderen Systems erfassen: weil es andere Wege sind, die logisch-intuitiv, nicht nur gleichsam, sondern tatsächlich im Verfehlen der üblichen Schrittweise auf das Ziel hin, gesetzt werden. Das, was das Figuren-Ich Eisendle, als Psychologe, oder als Mediziner, oder als Philosoph, oder als Ökonom, oder als Künstler, oder als Dichter nicht sehen kann: Seinen blinden Fleck, den die jeweilige SprachFigur grell wie den falschen Heiligenschein vor sich her trägt, entlarven die anderen. Aber nicht bewusst in Form einer Kritik, sondern durch und im Aufprall der systemgebundenen Sprechweisen aufeinender, in ihrem Sprechen auf dieses Andere hin, das jeinDu in sich selbst ist. Ein Teil, der im anderen erkannt wird, ohne als solcher angestrebt oder begriffen zu werden: im Text. Denn dort bleiben die Figuren die Repräsentanten ihres Feldes, ihres Sprach-Habitus, — aber, aber in uns Lesern, auch im Autor Eisendle als sein erster Leser (versteht sich), geraten diese Sprach-Automaten und ihre Modelle in die Empfindungs- und Wahrnehmungswelt des sie zusammen erlebenden Bewusstseins. Eines Ganzen, das immer wieder in Teile zerfällt, klar, aber dennoch der Raum ist, in dem sich das Ganze, also die ganze Welt aus Sprachen auf einmal abspielt, und zum Ich wird, das immer das Du des und der anderen mit trägt. Dieses Erblicken des blinden Flecks im anderen gibt aber keine Erkenntnis ex negativo ab. Sondern entwickelt eine Art Simulation von Sprechweisen, eine Versuchsanordnung, die jedoch nicht im Labor stattfindet, sondern im prallen Leben der Sprach-Welten, die sich gegenseitig analysieren. Und das im Spiel, mit Ironie, manchmal elegant, manchmal plump, ins Handeln treiben wollen: Ja, reden. Durch die Unterhaltung, durch den Gebrauch der Sprache leben wir. Wir leben, wenn wir reden. Reden. Ja, das reden, sagt Kaßner. Die Sprache läßt mehr zu, als von ihr erwartet werden kann, meint Staudenmeier. Wir müssen konkret über bestimmte Dinge sprechen, Otto, wirft Kraus ein. Gut, antwortete Weininger, sprechen wir darüber. (H. E. , Exil oder der braune Salon)

H. E.’s dichterisches Sprechen ist deshalb nicht ganz das Sprechen, wie es sich im korrekten Sinn gehört, es ist dieses nur fast. Und um dieses FAST geht es:

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Dieses Fast ist das Rätselhafte der Entschlüsselung, das eben nicht jede Literatur als Dichtung ausweist, sondern eben nur diejenige, die Dichtung ist. Es spielt sich frei, indem es das frei spielt, was gleichsam nicht zwischen den Zeilen liegt, sondern zwischen den Bedeutungen und ihren verschieden annehmbaren Sinnebenen. Das Eigenartige dabei ist, dass Eisendle dabei nicht mit Homonymen, Antonymen, Konnotationen oder anderen semantisch mehrdeutigen rhetorischen Figuren arbeitet. Nein, er nimmt den Begriff beim Wort, das heißt er bringt den Begriff auf das Wort, bringt ihn zurück, nackt, glatt, schmucklos, auf den Kern. Er gibt in dieser reinen Form uns Lesern und sich selbst den Raum der Beschreibung frei, fokussiert ihn nicht in den Blick der Zentralperspektive und zerstäubt ihn auch nicht durch ornamental verzierende Metaphern. Mit Zentral-Wörtern, die dem Alltäglichen nicht dichterischen Glanz verleihen, aber die Konkretheit der in sie projizierbaren Halluzination, weist er über das eingefroren Definierte des Wörterbuchs hinaus — in das Reich der Dichtung. In das dunkle Reich des Doktor Lipsky oder in das verquere Paradies des Narren auf dem Hügel, auf dass sie uns erleuchten und einrenken auf so etwas wie eine erste Erfahrung!

Für H. E.

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Die Kunst ist Zeit — die Dinge wollen verweilen

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2011

Für Franz West, Wien

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Die Zeitung ist ein Medium, das selektierend wahrnimmt und ihr Wahrgenommenes weiteren Wahrnehmenden vor die Augen in die Hände legt. Die Zeitung wird mehr ergriffen und geschaut als begriffen. Das Geschaute gilt als wirklich. Die Zeitung ist ein Instrument der Macht. Der Text in ihr, der aus vielen Texten jenen des herrschenden Diskurses spiegelt und erzeugt zugleich, ist zerteilt in kleine Mosaike der Intention und Ideologie. Wertfrei gesehen. Jede Ideologie spricht nach ihren Interessen. Die Kunst ist weder wertfrei noch nach unmittelbaren Interessen ausgerichtet. Sie richtet sich in ihrer Zeit, nicht in jener der Umwelt allein ein: als Konkretum und Abstraktum in unserem Bewusstsein, das sie umgestalten, von manipulierenden Setzungen frei räumen will —  sie versammelt und trennt in einem oder in vielen gedanklich-dinglichen Prozessen. Franz Wests Zeitungsdinger verkörpern diese Prozesse. Aber nicht, um eine Kritik an der Diskursinformation zu repräsentieren. Sie zerschneiden sie ins Gegenständliche, das als Material für einen neu zu bauenden Gegenstand dient. Immer wieder ist die Arbeit von West eine an der Metonymie und an der Allegorie. Sie findet in der Zeit als das überraschend auftauchende Objekt statt, das nach Kontakt mit dem Körper aus ist. Über die Sinne in das Bewusstsein, in das sie einschweben oder einbrechen. Die Zeitungsdinger changieren zwischen Leichtigkeit und Schwere, Zartheit und Gewalt, sie stehen auf einem Sockel, alles handbearbeitet, aber ihre Stelen könnten die zum Schritt ausholenden Beine sein. Die in sie hineinvermantschten Texte sind nicht mehr lesbar, die Schrift verströmt sich mit der Farbe und dem Pappmaché in einem handwerklich bestimmten Logarithmus, der stabile Grenzen des Objekts ständig untergräbt. Kunst ist Zeit, sie strömt: Arrose c’est la vie! Whitehead hat zwischen zwei kulturellen Symbolisierungsweisen unterschieden: der präsentativen Unmittelbarkeit und der kausalen Wirksamkeit. Wests Objekte führen diese Modi vor. Wie gesagt gezeigt — metonymisch, wo nicht die Selektion des metaphorischen Austausches herrscht, sondern die Berührung. Die Kontiguität verschiedener Bereiche, die so wild gesetzt ist, dass sie zu jener Unmittelbarkeit führt, die Whitehead im Alltagsleben durch die begriffliche Einschüchterung der Kausalität verloren gegangen sieht.

Wir sehen nur den Stuhl, als konturierten Gegenstand, seinen Begriff gleichsam, aber nicht die Farben, seine Mikroformen, die ihn schwebend zusammenhalten. Dazu bedarf es des geschulten künstlerischen Auges, das in der Hand sitzt und bis in die unsere Weltkärtchen sammelnden Lappen des Gehirns reicht.

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Bei West wird die logische Kausalität der Zeitungsmeldung gebrochen, die historische Decollage und Demontage via Montage jedoch erweitert. Eine wilde Erfahrung des Objekts setzt ein. Über die Wahrnehmung bildet es auf seine Weise die unsere mit um: nicht neu, vielmehr als das möglich kommende Andere ordnet sie uns in weit mehr als in Latours Parlament der Dinge ein. Eine neue Disposition zwischen Ding und Mensch, ein humanes forum objectum wird möglich. Ein Schauen, das ein Wiedererkennen ablöst, ohne dessen Referenzen zu verhüllen, zu verschweigen. Die ZEITUNGSDINGER von West rufen ihre Schlagzeilen mehr als verdreht hinaus, ein Stocken, ein sich Verhaspeln: Die Information der Zeitungssprache verplappert sich im Material des Pappmachés zur Botschaft der Machtuntauglichkeit, die sie uns überträgt. Mit einem Lächeln, das in den Abgrund grinst, ein Lächeln, wie es stets das Antlitz der Arbeiten von Franz West zeichnet.

Die Kunst ist Zeit — die Dinge wollen verweilen

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Roland Barthes — Das Reich der Zeichen A

2012

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Um selbst zu sein, muss es das Andere geben. Es zu erfahren, das gelingt Roland Barthes im Reich der Zeichen zweifach. Einmal wird die Lektüre zur Erfahrung des anderen Sinns, Japan wird aufgesucht, indem Japan in uns einkehrt. Als Buch. Die zweite Erfahrung ist die unseres Selbst als ein in sich unterschiedenes: Es gibt den Körper und es gibt das Zeichen. Wessen Reich bildet sich aus? Barthes zeigt uns die Möglichkeit der Pluralisierung und Dezentrierung in einem — im Verstehen seiner anthropologischen Bilder-Schrift hindurch. Wir finden uns in ihr, um loslassen zu können, was wir waren, westliche Verhaltensweise aus Sprech- und Sprachstruktur. Durch die Lektüre werden wir zu einem sich neu gebärdenden Körper unter dem Zufluss des Anderen aus Sinnlichkeit und Abstraktion, der japanischen Art im Umgang mit Zeit und Raum, dem Ritual, der Geste und dem Objekt. Barthes setzt Züge im Verbinden der vorgefundenen Zeichen, die das japanische Ich, aber auch das unsere ausweisen könnten: Das durch Furchen und Ritzen sprechende und absolut ruhende Gesicht des steinernen Buddhas; die Haltung des Patchinko-Spielers, konzentriert und abgesetzt von der Gestalt neben ihr, und dennoch eine einzige, den sozialen Raum füllende Hand; der Bunraku als dreifache Schrift, die ausgeführte, ausführende und stimmliche Geste, wodurch zugleich Kunst und Arbeit vorgestellt werden — das sind auch wir. In Fluss gesetzt, hineingeführt in das Andere, in einen aufgefächerten Raum, das die vorgespeicherten Gedanken und Bilder auflöst, in Schwebe bringt. Ein Im-Text-Gehen ist es, durch die vollen Räume der Leere — vor allem durch den Raum des Haikus. Hier wird unsere westliche Sinnbesessenheit abgelöst durch die Befreiung der Bedeutungen von der Schwere, dem Gewicht des Signifikats, frei von westlichem Narzissmus und westlicher Hysterie. Dieses verbundene System, das nie das Ganze wird, in dem der westliche Hiatus zwischen Natur und Zivilisation überbrückt wird, heißt dann Japan. Nach Fukushima hat es nun wieder selbst die neue Findung des Ich und des Wir vor sich. Es hat sein Gesicht verloren, weil es nur das simulierte Gesicht der anderen war, das den logozentrischen Blick trug und so auf sein zwischenräumliches Schauen, im Raum des Offenen und des Diskreten, in dem das Eigene still schreit, vergaß.

Interview — Neues Erzählen mit Gangway Reviews, April 03 S

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A

GR

2003

Gangway Reviews FS

Ferdinand Schmatz

GR:

Den Grund für die Bitte um das Interview errätst du: Portierisch. Du giltst als einer, der aus Sprachkritik und Sprachexperiment mit diesem Buch ein Stück weit ins Erzählen zurückgekehrt ist. Stimmt das?

FS:

Es stimmt. Wobei natürlich die Frage ist: was ist Erzählen, prinzipiell? Es ist eine allgemeine und gleichzeitig dichterische Antwort möglich: Erzählen ist die Poesie der Verhältnisse. Das ist die Abwandlung einer Hegel-Definition der erzählenden Literatur, die sich mehr an die Außenwelt richtet als an die Innenwelt …

GR:

Also die Poesie der außersprachlichen Verhältnisse.

FS:

Richtig; aber Hegel hat nicht gesagt Poesie, sondern Prosa der Verhältnisse; während die Poesie die Seele betreffe. Ich, für mich, versuche eine Poesie der Verhältnisse, also Außenwelt und Innenwelt in ein Erzählmuster zu bringen. Mir — von der Dichtung kommend — war klar, dass ich nicht in der Prosa ein Gedicht machen kann. Deshalb war die Prosa für mich eine große Herausforderung und hat mir auch allerhöchsten Respekt abverlangt; sie braucht andere Verfahren als im Dichten. Ich kann keine Poesie durchziehen, was Rhythmisierung, Metaphernsetzung, Wortwahl usw. betrifft. Dennoch ist es für mich ganz wichtig, einen Ton zu finden, der sich wie im Gedicht über die Wörter veräußert, aber eben über lange Strecken zur Prosa auswächst. Trotzdem möchte ich kein Sprechgedicht oder ein Epos im alten Sinn schreiben, sondern Prosa.

GR:

Bevor wir die Theorie weiterführen, interessieren mich psychologische, sozusagen private Gründe für deine Wendung. Sie erfolgte ja wohl aus einer bestimmten Lust.

FS:

Ja. Das habe ich in Portierisch sogar formuliert: Der eine Dialogpartner, Courier, stichelt mich immer wieder; dem sagt der Ich-Erzähler, der ich natürlich AUCH bin, aber eben auch fiktiv (der Ich-Erzähler ist nicht einfach mit dem Autor identisch: das ist auch sehr spannend in der Prosa, wo doch im Gedicht die Anteilnahme der ganzen Autoren-Person viel größer ist; im Roman ist der Ich-Erzähler ich und gleichzeitig nicht) — Courier also

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spricht mich auf Sprachzweifel an, den Topos der sprachexperimentellen Literatur; und ich erkläre, dass dieser durchaus nicht immer lustvolle Zweifel an der Sprache sich in einen lustvollen Gebrauch der Sprache verwandelt hat … GR:

… der ein Schrittchen naiver ist?

FS:

Naiver vielleicht in diesem Text; was aber nicht heißen muss, dass das ein Prinzip ist. Erzählen ist vom Satz her, Dichten vom Wort her, oder aufs Wort hin. In der Prosa ist der Fluss der Sätze entscheidend, nicht der Fluss der Wörter. Ich finde, dass die Erzählung ein geschlosseneres Universum ist als das Gedicht. Vielleicht besteht meine Lust darin, gerade innerhalb der Grenze zu bleiben.

GR:

Prosa ist Sache des ganzen Satzes: Warum?

FS:

Mir fällt Wittgenstein ein: Wenn wir den Satz in seine einzelnen Wörter zerlegen, verstehen wir den Sinn des Satzes nicht mehr. Der Satz als Sinnbogen ist sozusagen eher das Material der Erzählung als das einzelne Wort. Das ist für einen, der vom Dichten kommt, ein extrem schwieriges Hindernis, weil er ja gewöhnt ist, ganz genau aufs Wort zu schauen. In der Prosa brauchst du Konjunktionen, Verbindungen, du musst auch nachlassen können, musst dir das Naive, Einfache zutrauen, die Satzscharniere musst du zulassen können; das ringt dir auch eine Art Großzügigkeit ab.

GR:

Ist die Lust daran so groß gewesen, dass du ihr weiter frönen wirst?

FS:

Ja, auf jeden Fall.

GR:

Walter Grond ist aus dem Experiment zum Erzählen zurückgekehrt, Franzobel entwickelt aus seiner Sprachanarchik Erzähllust und Erzählfähigkeit, und die Jungen, die nicht aus der Sprachkritik kommen, erneuern sowieso sehr bestimmt das Recht auf Erzählen. Wie siehst du das?

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Interview Neues Erzählen mit Gangway Reviews, April 03

FS:

Bedenklich erscheint mir, dass diese Rückkehr des Erzählens, die im Feuilleton gefeiert wird, viele Junge dazu verführt, den Zweifel zu verabschieden. Gestern in einem Gespräch mit Volker Braun, dem ehemaligen DDRDichter, kamen wir auf den Punkt des festen Zweifels, der unsere grundsätzliche Herangehensweise an Texte und Themen prägt: Dieser feste Zweifel ist nicht einfach abzutun, er ist auch notwendig gegen das, was einem so flüssig von Leber, vom Mund oder aus der Feder geht. Ich würde es zutiefst bedauern, wenn das aufgegeben würde. Damit würde ein wesentlicher Zug des Schreibens, nämlich auch Erkenntnisprozess zu sein, aufgegeben. Dieser Zweifel muss nicht hochartifiziell oder hochtheoretisch laufen. Aber ich glaube auch, dass von einer zweifelsfreien Literatur nichts bleiben würde. Musils Parallelaktion ist ja auf einer zweiten Ebene die Reflexion. Dieses Reflektieren ist an Hand des Erzählfadens ständig notwendig, es ist das Einbringen des Autors ins Ästhetische und Soziale. Diese Reflexion steuert gleichzeitig die Erzählung mit. Die fehlt mir bei den meisten, wenn ich auch nicht wirklich einen Überblick habe. Wenn ich mir einige gefeierte amerikanische Erzähler anschaue: da fehlt es mir einfach an Arbeit an der Sprache. Ich habe oft das Gefühl, dass nur mehr nach Inhalten abgeklopft wird. Ganz traditionelle Erzählmuster, die man früher im Bereich der Trivialliteratur angesiedelt hätte — ich meine das jetzt gar nicht so wertend — , werden als Erzählkunst angepriesen und zur Kenntnis genommen. Das hat jetzt nichts mit dem erwähnten Ton zu tun, der kann naiv sein oder auch kalauernd oder was immer, aber er muss in dem Gefüge, in dem er auftritt, seinen Platz haben. Er darf nicht Selbstzweck sein oder eine Art Vernachlässigung von prinzipiellen Fragen, die die Literatur an sich selber und die Außenwelt und an den Autor stellt.

GR:

Mir fällt Imre Kertesz’ Roman eines Schicksallosen ein, wo ja alles drin ist, was in der Erzählskepsis draußen gehalten werden will, Autobiographie, eine historisch überprüfbare Wirklichkeit: Für mich liegt das Gelingen oder die Qualität des Romans darin, dass er keine Sprache spricht, die auf Kongruenz mit den Dingen aus ist, sondern dass der ganze Eigensinn des Buches, der ja ein le-

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bensrettender, existenzieller ist, sich auch als Eigensinn der Sprache äußert, nämlich indem sich die Sprache —  formelhaft bisweilen, beamtenhaft, naiv — als ungemäß zu ihrem Inhalt verhält. Damit erscheint mir der Roman als Bestätigung dessen, was du sagst. FS:

Ganz genau. Er hat sozusagen den Ton drauf; er hat ein Modell gefunden, in dem das Schreckliche nicht durch Metaphernpathetik und Elendsvokabular ausgedrückt wird. Es ist auf einer gewissen Ebene ein riesiges Sprachspiel, aber im erzähltechnischen Kosmos. Mit einer einfachen Ich-Setzung hätte er dieses Schicksal nicht erreicht, nicht einmal immer gefunden, in der Erinnerung. Gerade wenn man solche Modelle sprachlichen Eigensinns entwickelt, kommt man auf sehr intime Momente — ich habe sie einmal Kerne genannt; der Kern, der nicht als der eine wahre das Ziel der Geschichte bildet, sondern in einem Mosaikgeflecht immer wieder schon auf den nächsten verweist, strukturell in dem Muster verteilt ist. Das Modell hilft beim Erkunden. Man kann im ersten Moment beobachten, wie’s war, und im zweiten Moment beobachten, wie man’s beobachtet. Das ist dem Kertesz in dem Fall hervorragend gelungen. Das ist die Chance. Ob man jetzt vom Schreibtisch aus eine Geschichte erfindet oder sogenannte Aufarbeitungsliteratur betreibt: in beiden Fällen, glaube ich, geht man sich sprachlich auf die Nerven. Ohne sprachlichen Widerstand, ein solches Modell, den festen Zweifel … wird man dem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht.

GR:

Was du für dich, für Portierisch gesagt hast: Wieweit ist das erfüllte Programmatik, wieweit intuitiv?

FS:

Ich bin in einer grundsätzlichen Wahrnehmungshaltung sozialisiert, die von der Sprache mitgeprägt wird und die in der Herangehensweise an außersprachliche Wirklichkeit nicht ganz klar ist. Ich habe mit dem Begriff des Offenen, des Anschreibens operiert, im Gedicht schon. Bei mir ist es so, dass ich eine Art Ahnung von einem Thema, Gegenstand habe, die irgendwie klar ist, aber ich weiß noch nicht die Verzahnungen, die entstehenden Verflechtungen usw. Das lasse ich kommen. Insofern bin ich innerhalb eines geschlossenen Raumes intuitiv, aber

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der Raum hat seine Grenzen. Bei Portierisch war es der Ton der Ironie, ein sehr starker, gepaart mit einer grundsätzlichen Melancholie, der mir eigen scheint. Das habe ich aber erst nachher feststellen müssen. Dieses Scheitern an den Gegenständen oder auch das Erfahren der Lust, die im Moment, da man sie erfährt, zugleich sehr traurig ist, oder eine Trauer, die sofort wieder verloren geht im Moment der Erkenntnis des Gegenstands, der Beziehung, auch der eigenen Geschichte. Das kann ich nicht programmatisch vorher festlegen, aber es ist sozusagen das Vorhaben. In der Verknüpfung der Erinnerungen, des recherchierten Stoffes usw. (ich denke nach, wie es war, und komme drauf, dass ich gar nicht sagen kann, wie es war) erzeuge ich ein Fiktion, die aber rückwirkt auf die Wahrheit des Ereignisses, und trotzdem ist es erfunden. Ich bin dann derjenige, der das als Ich schreibt und weiß: da bin ich — aber ich bin schon wieder weg.

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GR:

Noch einmal Kertesz: Natürlich hat er ein Sprachmodell gefunden; aber ich empfinde seine Sprache auch als mehr, nämlich im Grunde als eine Art der Umsetzung von Existenz in Sprache bzw. in Form. Sein sprachlicher Eigensinn hat ja auch Überlebensdimension. Lassen sich in einem ähnlichen Sinn wie bei Kertesz deine Sprache, deine Form als umgesetzte Existenz bezeichnen?

FS:

Das kann ich selber nicht sagen. Von außen könnte man’s so nennen. Existenz ohne den Gestus des Pathos. Kurt Neumann hat 7 Seiten von Portierisch gelesen und hat mir gesagt: Es geht um die Wahrheit. Das ist ein großes Wort. Und noch einmal Volker Braun: Die einfache Wahrheit genügt nicht. Peter Weiß hat gesagt: Es gibt eine unzerteilbare Wahrheit. Es gibt sie womöglich als Ganzes, aber nicht als Text. Das heißt, diese 1:1-Umsetzung ist nicht die ganze Existenz, und du musst einen Weg finden, über Hilfsstellungen — die Prosa erlaubt solche — Momente dieses wahrheitlichen Kerns irgendwie zu erreichen. Der ist ziemlich hart. Dem muss man sich aber auch stellen, weil er auch gesellschaftlich begründet ist und in der Prosa — bei mir zumindest — auch biographische Züge und kommunikative Verstrickungen in das wirkliche Leben zu Tage fördert, sie allerdings sofort wieder verfremdet. Es ist ja nicht die richtige Darstellung des Ganzen, aber es

ist ein Aspekt des Grundgefühls für diese Situation, in derman sich so und so verhält oder so und so geprägt ist. Das ist sozusagen die existenzielle Seite daran, die einem kurz aufleuchtend klar wird und einem einiges abverlangt. Das sind dann wirklich Momente des Wiedererinnerns an’s Gegenwärtige; in Portierisch zum Beispiel ganz speziell, wo ich im Geflecht der Erzählung das wieder umdrehen kann — da kommt der Courier und stoppt mich sozusagen, weil ich eben nicht glaube an die 1:1-Abbildbarkeit, und der wirft mir das Hölzel bzw. dem Ich-Erzähler. Das ist alles nicht erfülltes Programm. Auch das Sprachbewusstsein kommt immer wieder ins Spiel, z. B. dass ein Wort zwei Bedeutungen hat: es gibt einen Himbeerschlag und einen Menschenschlag. Das ist eine Möglichkeit, etwas zu verbinden, aber erst im Moment des Schreibens. Ich nehme mir nicht vorher das Wort Schlag vor, sondern bei der Benützung kommen mir Konnotationen, Synonyme, und das ergibt dann dieses Spiel der Verschiebungen, wo Natur und Menschliches, Natur und Gegenständliches verbunden werden kann und gleichzeitig den Erzählfaden bildet. Das macht Lust. Es ist aber für mich wichtig, sie nicht überborden zu lassen. Dann wird’s blöd. Da fällt einem ja viel ein, das hat man ja drauf. Da kommt dann die Überarbeitungsarbeit. Beim Franzobel geht’s da durch und verblödelt sich irgendwie. Das geht jetzt nicht gegen ihn, aber ich muss auch hier reduktiv arbeiten. Am Roman arbeitete ich mindestens 3 Jahre, natürlich nicht jeden Tag. GR:

Könntest du dich an Hand der Formen, die du entwickelst, selbst beschreiben?

FS:

Das ist schwierig. Aber ein sehr guter Freund, der auch ein gewandter Literaturtheoretiker ist (und sich viel mit der russischen Literatur beschäftigt, die mir übrigens sehr nahe ist), hat einmal in einem Gespräch gesagt: Ich versuche das Unmögliche, das Apollinische mit dem Dionysischen zu verbinden; also die Klarheit der Form und der Ordnung mit einer rauschhaften, exzessiven Auflösung der Ordnung. Das ist eigentlich eine ganz gute Umschreibung, auch für meinen unmittelbaren Arbeitsstil. Da ist was dran: klarer Rausch.

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GR:

Zu den sprachkritischen Einwänden gegenüber dem Erzählen sagt Thomas Glavinic etwa: Natürlich ist die Sprache nicht die Wirklichkeit, der gemalte Apfel nicht der Apfel. Das weiß man auch ohne Sprachkritiker. Kunst mache immer Illusion. Und im Übrigen sei das Erzählen die beste, weil komplexeste Form, auf die Wirklichkeit zu antworten, besser als Essay oder Journalistik oder gar die Sprachimmanenz mancher Sprachkritiker. — Damit bist nicht du gemeint, aber ich möchte gerne diesen Standpunkt ans Gesagte heranrücken.

FS:

Ja, ja, natürlich. Deswegen habe ich Musil angeführt, der ja kein Sprachexperimentator ist. Nur glaube ich nicht, dass es genügt zu sagen: Die sprachkritischen Einwände kennen wir sowieso. Man weiß es zwar, aber … Meine Skepsis beschränkt sich nicht auf das Wissen, dass die Sprache nicht alles hergibt, sondern man könnte fast fragen: Was geht denn ohne Sprache überhaupt? Wenn man bedenkt, dass manche meinen, sogar das Unbewusste sei wie Sprache strukturiert, dann ist das schon das Hauptmoment der Kommunikation, die ja neben Sexualität und Nahrungsaufnahme ein Kennzeichen des Menschlichen ist, würde ich sagen. Dieses Moment, die Sprache, kann man einfach nicht vernachlässigen. Natürlich gibt es Extremausformungen in der Literatur nach 45, in der experimentellen Literatur, wo nur sprachliche Verfahrensweisen betrieben werden; das ist auch zu wenig. Das wirkt dann auch trocken und leer. Während die Prosa von Konrad Bayer — und das merkt man auch bei der Lesung vor Jüngeren — sowohl die erzählerischen als auch die sprachskeptischen Elemente hat, eine Art Synthese bildet. Bayers Prosa zeigt auf, wie Sinn in der Kommunikation erst entsteht und unsere Verhaltensformen steuert. Das betrifft jetzt auch den konventionelleren Roman, und wer das vernachlässigt, also die Sprache nur als Werkzeug für Aussagen verwendet — das machen viele zur Zeit — , der wird scheitern. Der wird zwar Erfolg haben, aber er wird scheitern. Die von dir genannten Autoren machen es sowieso anders. Auch die Jelinek ist ja nicht nur eine Sprachskeptikerin, sondern eine Erzählerin, die aber weiß, dass Erzählen auch das Abklopfen von Kommunikationsformen bedeutet. Ich finde es schon notwendig, die ernsthaften sprachreflektorischen An-

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sätze überprüfend heranzuholen. Das wird vielfach außer Acht gelassen, es gibt teilweise so wenig Traditionsbewusstsein in der sogenannten neuen Lust am Erzählen: nicht nur Konrad Bayer, sondern auch Musil bleibt oft unbeachtet, Joyce, Gertrude Stein, aber auch Virginia Woolf usw., bis hin zu klassischen Texten. Gute Literatur hat sich immer diesem Zweifel, dieser Skepsis gestellt. GR:

Was unterscheidet Portierisch von dem, was du sonst an Dichten betreibst? Und was unterscheidet Portierisch vom klassischen Erzählen?

FS:

Portierisch hat eine andere Form als mein Dichten: Ich muss einen Anfangssatz und einen Schlusssatz finden. Das muss ich zwar im Gedicht auch, aber unter ganz anderen Fragestellungen und mit ganz anderen methodischen Herangehensweisen. Gleichzeitig ist Prosa für mich der Versuch, eine Rhythmisierung der anderen Art zu finden, die nicht die Kürze eines Gedichts, sondern ein ganzes Stoffgebäude tragen kann. Ich habe einen langen Satzbau in Portierisch, der auf einen Reflexionsstrom hinweist, der einem immer wieder dazwischenkommt in der Aktualität der Wahrnehmung und Empfindung. Das ist auch ein Unterschied zu anderen Erzählformen —  der ist aber nicht aufdringlich experimentell, sondern er hat sich aus dem speziellen Versuch aufgedrängt, verschiedene Orte und Situationen in diesen Orten in einem Bewusstsein zusammenführen zu wollen. Da konnte ich nicht mit kurzen Sätzen arbeiten und wollte nicht eine Art von konkreter Technik oder eine Art aufdringlich methodischer Setzung durchführen, etwa als Wiederholungsmuster der gleichen Sätze, die sozusagen die Ohnmacht vor der Gleichförmigkeit im Leben spiegeln, sondern auf eine erzählerische, gedankliche und empfindsame Weise zugleich.

GR:

Kann man auch mehr Lust an der Welt für mehr Lust am Erzählen verantwortlich machen?

FS:

Ja, genau. Lust an der Welt und gleichzeitig der Umgang mit ihrer Lächerlichkeit. Das Lächerlichmachen, auch der eigenen Person (nicht als typisch österreichische Eigenschaft, wie es in einer Kritik zu lesen war), ist ein

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prinzipieller Zug des Ich-Erzählers in Portierisch (mit Anteilen von mir): das Lächerlichmachen als Waffe der Aufklärung. Wer sich selbst lächerlich macht, hat auch Mittel in der Hand zu zeigen, wie man mit der Lächerlichkeit der Welt umgeht. Die verbindliche Norm ist indirekt sichtbar gemacht und im negativen Gegenbild impliziert. Die verbindliche Norm wird nicht unterwandert durch eine syntaktische Zertrümmerung á la Avantgarde, sondern sie wird irgendwie mitgespielt. Und jetzt kommt’s drauf an, Kniffe und Griffe zu finden — die erschreibe ich mir — , diese verbindende Norm zu desavouieren im Text, durch Handlung.

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GR:

Du beanspruchst Aufklärung. Es ist ja ganz interessant, ans neue Erzählen den Begriff der Postmoderne anzulegen, also die Absage an die Aufklärung. Vieles davon lässt sich im Begriff der Postmoderne durchaus unterbringen. Das wäre dann ein wichtiger Unterschied zu deinem Anspruch auf Aufklärung.

FS:

Ja, auf dem bestehe ich. Ich bin ja auch etwas älter als die Jungen. Wenn ich von diesem Anspruch abweiche, kann ich’s überhaupt bleiben lassen. Ich meine Aufklärung nicht im Sinne einer Ideologiezurechtrückung. Nur irgendwie einen Markt zu bedienen, ist wirklich nicht meine Absicht.

GR:

Ich denke darüber nach, wieweit der sogenannte reine Erzähler, der nicht sozialkritisch einsteigt, sondern nur ein Stück Wirklichkeit literarisch verwirklichen will, nicht auch aufklärerisch wirken kann, sogar muss, insofern eine einlässliche Gestaltung von Wirklichkeit der Mitgestaltung ihrer gesellschaftlichen Seite gar nicht auskommt.

FS:

Ja, ja, natürlich. Wenn man schon weiß, was man aufklären will, das ist die schlechte Literatur, das ist der Brecht in seiner schlechtesten Weise — er ist ein großartiger Dichter, wo er das nicht macht. Für Majakowski, einen der größten Dichter, gilt genau das Gleiche: in dem Moment, wo er Parteidichter wird; da ist die Aufklärung korrekt, von seinem Systemdenken her. Aber das ist die falsche Aufklärung. Aufklärung schließt die Erkenntnisarbeit an einem selber ein; in diesen Sog wird der Leser mit hinein-

zogen. Das geht aber leichter mit Lust als mit konstruierten Systemen. Ich habe ein Phantom der Methode, ich tue nur so, als hätte ich eine Methode, aber sie ist mehr in der intuitiven Black Box angelegt, und dort organisiert sie sich selber. GR:

Du bist in Portierisch mehr als zuvor Referent von Wirklichkeit …

FS:

Weißt du, was das Schöne ist: Wenn man die Wirklichkeit referiert, wird man ein Teil des Referierten. Oder der Dialog, ein wesentliches Grundprinzip der menschlichen Existenz: er ist ja auch ein Prinzip des Erzählens, es gibt Sprechpartner, Spiegelverhältnisse (auch im Monolog). Der Dialog entsteht nicht durch Identifikation mit dem Helden, sondern im Moment, wo er diesen Kern berührt, auf den man selber hinarbeitet, kommt er plötzlich in der Figur zum Vorschein — da entsteht dann der Dialog. Das ist das Spannende dran. Das kann im Gedicht nicht so gelingen, weil man da im selben Sinn keine Figur hat. Walter Benjamin hat ein Bild vom Dichter geprägt: Er schläft in seinem Zimmer, es ist Morgendämmerung, die Stadt erwacht, die Geräusche kommen; der eine Dichtertyp bleibt liegen, träumt weiter und ist sozusagen der Marcel Proust im Korkzimmer; der andere Typ reißt das Fenster auf und schauen hinaus. Für mich habe ich einen Mittelweg: Ich schiebe nur den Vorhang zur Seite, lasse die Geräusche kommen und schaue wieder ins Kammerl zurück. Damit entgehe ich einer plakativen Außenweltkritik, das will ich auf jeden Fall verhindern.

GR:

Hast du soziologische Begründungen für eine neue Lust am Erzählen?

FS:

Du meinst, dass bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse eher die Verführung zum Erzählen enthalten? Da habe ich keine Antwort. Es kommt vielleicht drauf an, wie weit man den Vorhang zurückschiebt; und da ist wieder die Frage, habe ich den eigenen Willen, den Vorhang zu schieben oder muss ich ihn schieben? Muss er — aus verschiedensten Gründen — zubleiben? Ich komme noch einmal auf Volker Braun: für ihn ist das Prozesshafte sehr wichtig. Es kommt eben darauf an, ob man das Prozes-

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suale innerhalb der Sprache verstärkt oder in der Beobachtung von Gesellschaft. Ich würde sagen, beides ist notwendig. Ich nehme an, wenn der gesellschaftliche Druck sehr stark ist, wird man entweder sehr stark auf die Gesellschaft zurückhauen oder nur mehr in der Sprache arbeiten. Wer weiß, ob nicht der jetzige, ziemlich inhumane Gesellschaftszustand mit einer Oberflächenstruktur des Erfolgs auch in der Literatur korrespondiert.

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GR:

Der Verzicht auf Biographik und Sozialkritik hat ja wohl auch biographische und soziale Ursachen.

FS:

Das herauszufinden, ist eigentlich meine Arbeit, auch in der Prosa. Es hat aber auch vielleicht mit dem Überdruss an den Formulierungen, wie sie uns an den Kopf geworfen werden, zu tun, nicht nur innerhalb des Staatlichen oder Gesellschaftlichen, sondern mit den besetzten Wörtern, die man einfach nicht mehr verwenden kann, mit dieser verhunzten Sprache. Wenn der Jandl dann seine verhunzte Sprache ins Spiel gebracht hat, dann ist das die Umkehrung: die Verhunztheit der ordentlichen Sprache herauszuheben, zum Leuchten zu bringen. Oder: wenn ich nur über meine Kindheit dichte, wie es mir gegangen ist in der Vorstadt — das ist für mich keine Kunst. Das ist immer nur eine Nachstellung von Gefühlen, die ich ja jetzt als Erwachsener habe. Auch das erzeugt einen Wortverwendungsüberdruss.

GR:

Und warum gehst du in die Gegenrichtung: ganze Sätze bauen, die Ordnung der Verknüpfungen übernehmen …?

FS:

Vielleicht, weil ich mutiger geworden bin. Das ist eine Selbstbeschreibung, die ich bescheiden anbringen möchte. Z.B. Michel Leiris hat gesagt, mit seinen Texten (Mannesalter) möchte er die nackte, konsequente Aufbröselung seiner Existenz, überhaupt keine Fiktion. Das hat mir sehr imponiert, und das ist ein großartiger Text. Aber damals, mit 30, konnte ich mir das nicht vorstellen, weil mir der Zugang zu dieser nackten Existenz verbaut schien durch Worthülsen, durch Wortmauern. Es braucht Zeit, um sozusagen auf dieser Leiter hinaufzusteigen. Büchner ist ein anderes Beispiel. Bei mir hat’s eben gedauert.

GR:

Wie wichtig ist dir die außersprachliche Welt? S

FS:

Sie ist mir insofern wichtig, als sie eine Gegebenheit ist, ein Faktum. Portierisch: der erste wirkliche Anlass war das Moment der Verstrickung; wie ist ein Individuum in gesellschaftliche Prozesse eingeschlossen? Also im Grunde eine ganz alte Frage. Wie kann dabei so etwas wie Individualität noch entstehen? Oder kann sie sich überhaupt bilden? Sind unsere Entscheidungen frei oder unfrei? Oder wie Nabokov gefragt hat: Wählt der Dichter seinen Gegenstand selbst, und hat die Gesellschaft das Recht, seine Inspiration zu lenken? Ich würde sagen, das Recht hat sie nicht, aber sie tut’s zum Teil, ob sie jetzt will oder nicht. Das untersuche ich: In Portierisch gibt’s die eine soziale Schicht des Hausmeisterkindes und die andere Schicht der adeligen Kreise; das sind zwei extreme Polaritäten, oben — unten. Und in beiden ist man sprachlich unterwegs. Das ist die außersprachliche Realität an dem Ganzen. Aber ich wollte nicht den Adel aufblatteln und den Hausmeister in die Höhe heben; die Adeligen interessieren mich als Österreich-Problem im Grund genommen nicht, aber als Kommunikationsforum.

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Der Wortschatz in Georg Trakls dichten Gedichten ist reduziert, seine Ökonomie des Geistes finde ich zwar in der geregelten Wiederkehr der Wörter, die ihre Stellung im Satz, dem sie zur Aussage verhelfen, wieder und wieder. Aber die Wiederkehr ist keine üppige des ewig Gleichen: Der Satzbau und die Grammatik, die auf den Vers, ja selbst auf das Metrum einwirken — sie bleiben unangetastet und tragen die sparsam eingebrachten Wörter, die diesen Unterbau jedoch nicht nur besetzen. Syntaktisch korrekt platziert erfahren sie semantisch jenen Austausch der Bedeutung, der für mich die hybride Wiederkehr des Gleichen ad absurdum führt. Einen Austausch, der stets am gleichen Ort der syntaktischen Stellung passiert, gesetzt wird — Adjektiv ersetzt Adjektiv, Adverb Adverb etc. Gesetzt von Georg Trakl, dessen Gedichte ich hier für mich ein wenig zu erklären versuche. Deren Erkenntnis vermittelnde Erfahrung in mir den Versuch verlangt, sie immer wieder zu erhellen. Dies nüchtern, und meiner Erfahrung widersprechend, da diese nicht selten eine rauschhafte ist, die sich aber nicht weniger selten gegenläufig als eine der Ordnung ausweist. Eine ästhetisch-metaphysisch angehauchte, aber kristallin klar zu erkennende Ordnung, die ich fürchte und genieße zugleich. Einverleibt in die stille Präsenz unverrückbarer Baupläne des Gedichts, auf denen es seine luzid dunkle Welt gestaltet, diese immer wieder auf dem gleichen Weg hervorruft und errichtet, um in minimalen Schritten ihre Veränderung herbeizuführen. Diesen poetologischen Weg möchte ich methodisch nennen, ohne Trakl zu unterstellen, dass er seine Arbeitsweise bewusst methodisch angedacht hätte. Ein Weg des Weiter nach vorne und zurück, egal: Die Richtung dieser Weiterentwicklung der inneren wie äußeren Gegenstände der Erfahrung bleibt freigestellt — Trakls Setzungen weisen gleichzeitig auf einen Zustand der Erfahrung zurück und bereiten einen zukünftigen vor. Dieser Zustand tritt erwartet und unerwartet zugleich ein — im Schilf, in der Nacht, im Körper — in den inneren wie äußeren Gegenständen der Erfahrung. Die Aktivierung von Sinnen und Sinn verfängt sich für mich nicht in einer wilden Struktur der Ineinanderschiebung mit dem Zweck der avantgardistischen Entsymbolisierung, sondern betont das Bild — das Trakl als eines aus „Bildchen“ bezeichnet, aber immer im Maß einer Reihung, die eine neu formierte Ordnung zu stabilisieren trachtet. Eine klassische Ordnung, die hier herrscht, um die Herrschaft an sich zu unterlaufen? Ja, sage ich, aber gelingt dieses Wollen?!

Der Aufbau einer damit gebauten Gegenwelt ist zwar total, rein, aber, aber: Die Zusammensetzungen der Bauteile stimmen nicht mit jenen, welche die übliche Herrschaftsstruktur untermauern, überein: „der kristallne Engel, ein schwarzer Regen, das dunkle Tier, der purpurne Leib, des Abends blauer Flügel, alle Strassen münden in schwarze Verwesung“ — Georg Trakls Wild ist blau oder silbern, wie es auch die Schwester sein kann, der begehrte Leib. Aber nicht nur eine Art inzestuöse Synästhesie wird suggeriert, eine neue Form in klassisch beibehaltener Formensprache bildet sich aus, die sich nicht nur in der Sprache allein gestaltet. Sie evoziert Erfahrungen in der Sprache des Gedichts selbst und in der Sprache des dieses lesenden Bewusstseins.

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Trakls Sprache erfahre ich als eine der Wörter und Bilder, die zwischen Metapher, Symbol und Allegorie oszillieren. Sie kommt aus der Vergangenheit, aus der Nacht, die sie im dichtenden Ich, aber ebenso im lesenden Ich, umschlang, umschlingt und umschlingen wird. Und also auch in die Zukunft weist. Die Nacht, das ist nicht nur das Sinnbild der Geschichte, in die zurück gehorcht werden soll in romantischer Rückwärtsgewandtheit, sondern sie ist Ausdruck eines Ich-Zustandes, der den gegenwärtigen als kommenden ausweisen kann: Eben nicht, um in ihm zu verharren, sondern um gegenwärtig zu machen, was dieses Ich ist und in neuer Zusammensetzung darin werden kann. Vielleicht ein anderes — das Andere als ein Strömendes aus Worten und Bildern über den synästhetischen Gehalt hinaus ins Um-Bestimmte führend. Denn im durch Klang- Wort- und Bildsetzung neu gebildeten Ich sammelt sich das umgestaltete gegenwärtige Bewusstsein. Seine sinn-sinnlichen Elemente werden verbunden mit halluzinativen Felderweiterungen zu einem revolutionären Programm:

Wanderer tritt still herein / Schmerz versteinerte die Schwelle In der Verschiebung der inneren Wirkung auf den äußeren Gegenstand erfährt das kanonisch-symbolische Gedicht seine Erweiterung. Die persönliche Erfahrung des Versteinerns findet sich im Gegenständlichen der Schwelle wieder. Diese als Sinnbild der Grenze zwischen Außen und Innen, aber auch als materielle Grenze des Wortes und der Wörter in jenem dichterischen Bild, das nicht metaphorisch, sondern konkret neu gestaltet wird. Alles, was wirklich ist, ist es im Wort als Bild, das zu lesen ist. Und im Bild als Wort, das zu schauen ist. Lesen und Schauen ergeben ein Ganzes im Klang, der für mich gleichberechtigt neben den semantischen, grammatikalisch-syntaktischen Ebenen wirkt. Als der wirkliche Rausch. Denn dieses Wirkliche ist als Klang das rauschhaft Andere, das Universelle wie Individuelle einer Poesie, das im konventionellen Sinn nur scheinbar vernünftig auftritt. Wahrhaftig erscheint es als Flöten, die starben, als Tag, der golden ist, und als Blumen, die schön im Wind läuten, so wie ein Dornenbusch tönt, als blauer Kahn, er glänzt in reiner Helle.

Trakls Präsenz

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Diese Art von Wahrhaftigkeit leuchtet mir nicht, sondern legt mir von Wort zu Bild und Bild zu Wort jedes Mal neue Einsichten frei, die mehr sind als nur der schöne Schein. Trakls Gedichte nehmen diesen beim Wort, auf dass es brennt.

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Nichts entsteht aus nichts. Alles entsteht nicht aus allem. Die Dichtung versucht erst gar nicht, aus diesem Nichts zu entstehen und dieses Alles zu sein. Wenn doch, dann anders — aber wie, fragt den Dichter nicht nur der Philosoph. Vorrangig ist es die Sprache, sind es die Worte, Wörter, Begriffe der Systeme, die sie aufgreift und verändert, in Spiel, Kampf, Zweifel, Lust, Abscheu, Ekel, Überdruss oder Gier. Die Philosophie kann Reservoir, Fundgrube dieser wortwörtlichen Inhalte und Formen sein, derart zum Wirt des poetischen Werkens werden, aber nicht das Ziel der Verwerfung oder Einverleibung — wie Psychologie, Soziologie, Geschichte oder Physik. Die grundlegende dichterische Arbeit erfolgt am Gegenstand, der ein Wesen, ein Ding, ein Wort, ein Begriff und auch die Vorstellung von dem allen sein kann. Das dichterische Kennzeichen schlechthin nun ist das der Gleichzeitigkeit aller dieser vorstellbaren, erfahrenen wie konstruierten Aspekte in einem Moment. Es veräußert sich im Laut, im Wort, im Vers, im Gedicht, ohne je einen dieser Aspekte allein zu beanspruchen oder sein — zu wollen, dürfen, können. Dies gilt auch für den philosophischen oder wissenschaftlichen Aspekt. Die Verbrüderung mit dem Vorläufertext kann gewaltig, schrecklich, furchterregend schön, zart, jedenfalls erregend sein: Ich liebte Ernst Mach, bevor ich Musil liebte, ich hasste Platon, bevor ich wusste, dass er die Literatur aus seinem Idealstaat vertrieb. Aber später war ich interessiert an diesem Begriff der Idee, des Gegenstandes als Schein. Wie war das dann mit der Wirklichkeit? Ich begriff das mit ihr verbundene Alles oder nichts nicht mehr, vertrieb aber keine Personen, sondern den herrschenden Sinn der Wörter aus ihren mir unheimlichen Sammlungen der Wörterbücher (auch der Philosophie). Aber ich las sie. Nicht als Literatur. Und verkannte dennoch: Heidegger als Dichter, Husserl als Selbstbeobachter, Wittgenstein als Komponisten, und die analytische Philosophie als meinen Überlegungen nahe. Aber welch ein Irrtum, welch eine Zumutung und Unterstellung, zu sagen: Ich beziehe mich auf Wittgenstein oder: Ich baue auf Wittgenstein auf. Starke Worte, die keiner der beiden Seiten gerecht werden. Die beide Systeme verbindende Reflexion, die beide Bereiche mitträgt und zusammenhält, auch wenn sie manchmal in katastrophalen Zweifel mündet, fällt in der normalen Welt des Verständigens, so es eines ist, weg. Der Weg wäre zu lang. Philosophie wie Dichtung wissen von diesem Weg. Beide gehen ihn aber anders. Selbst hier spreche ich in Bildern, und bereits das ist die Differenz. Die Holzwege bei Heidegger bedeuten etwas anderes als die Verwendung der Holzwege in einem Gedicht. Poesie spricht den An-

spruch nach Erkenntnis nicht aus, aber sucht sie. Sie verwendet Erkenntnis, aber vermittelt sie nicht didaktisch. Sie forscht verdreht(!) nach so etwas wie Wahrheit, aber gibt nie vor, sie absolut, gültig zu besitzen. Die Wahrheit der Poesie ist außerordentlich, liegt außerhalb der erwarteten Ordnung — wo die Ordnung der Dummheit (Valery) und die Ordnung der Poesie in einer konstruktiven, systemimmanenten Beziehung stehen können. Hat diese die Philosophie, ist sie ihr zumutbar und wenn, dann überhaupt brauchbar? Kann sie sagen, dass sie Fest und Debakel des Intellekts zugleich sein will? Wenn die Dichtung, wie oft in der Philosophie, aus ihren Gedanken eine Manie, eine der Vollständigkeit macht, dann in obigem Sinn des Alles und Nichts zugleich. Dichtung ist unteilbar und teilt sich nicht nur dem Verstand mit. Sie ist ansteckend (Musil), weil sie außerhalb ihrer Bedingungen nicht über die Realität spekuliert, innerhalb aber alles ausreizt, was ihr in den Wortverstand kommt. Sie begreift das Wort nicht als gottgegeben wie Zeit, Welt etc., sondern greift das Wort an — körperlich und denkerisch, liebt und hasst es. Manchmal schmerzt es leiblich wie geistig, dass wir aus der Sprache wiederum nur Sprache gewinnen. Aber die Philosophie glaubt, über die Dinge, über die Ursachen, Aufklärung zu finden, was nicht die Sache der Poesie ist. Sprechen heißt ihr Hören, sie erwartet das unerwartete Wort — kann die Philosophie dem folgen, will sie das?

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Die fünfte Säule — ein poetischer Traktat

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Eine Zahl. Ein Gegenstand. Drei Wörter. Ein Artikel. Ein Zahlwort. Ein Hauptwort. Die Wörter zu Worten — ein Satz aus Teilen, kombinierte Bausteine. Ein Vorgang. Eine Bewegung. Die Präsentation. Die Wörter als Begriffe — ein Modell der Welt, des Vorgegebenen, der Repräsentation. Der Satz: gebunden durch Verknüpfung eröffnet er — ein Bild aus Wörtern, ein Bild aus Bildern gesetzt auf der Achse der Syntagmen. Ein Teil passt zum anderen, berührt sich, verbindet sich. Pars pro toto, aber stimmig. Das Metonymische ist immer elegant:

Bei den Römern wurde die Säule in besonderen Fällen nicht als Stütze, sondern als Wandschmuck verwendet, namentlich an den Triumphbögen. In späteren Stilen diente die Säule auch zur Stütze. Säule heißt in der Baukunst eine frei und senkrecht stehende, runde und nach oben sich etwas verjüngende Stütze, die neben ihrem Hauptzwecke des Tragens hauptsächlich auch als Mittel der Verschönerung dient. Säule, in der Kristallographie das Prisma. Das Modell: stellt einen graduellen Zustand dar, ein Stadium der Wirklichkeit, auf ein Modell folgt das nächste, feinere. Sein Kalkül überwiegt die Fantasie, ist Fantasie. Die Definition dominiert das Wort. Logisch. Formal. Aber die Begriffe leuchten auch als Metaphern. Schau, die Säule des Erkennens: Denk nicht, schau!

Als Merkwürdigkeiten zeigt man in Konstantinopel die schwitzende Säule, deren Feuchtigkeit für ein Heilmittel gehalten wird; den leuchtenden Stein an einem Fenster der Galerie auf der Westseite; daselbst auch die Pforte des Himmels u. die Pforte der Hölle, zwischen welchen man hindurchgeht. Sprich, die fünfte Säule des Erkennens: Trau dich doch, Unsinn zu reden. Wir trauen uns und lauschen:

Drei Säulen tragen mehr als eine. Man kann lange auf einer Säule stehen, ehe man fromm wird. Vier Seulen halten auff das Scheisshaus. (altdeutsches Sprichwort) Wenn Eine Säule bricht (sinkt), fällt der ganze Bau.

Die Russen sagen: … so sinkt der ganze Tempel. S

Bis an die Säulen des Hercules. Zur Bezeichnung einer äussersten Grenze, weil die Alten glaubten, dass jenseits Chades (Cadix) kein Fortkommen mehr sei.

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Säulen nach Athen tragen. Es hiesse, um das grosse Wort des an „geflügelten“ so reichen Director Cerf vom Victoriatheater zu citiren, Säulen nach Athen tragen. Die Frau trägt drei Säulen des Hauses. (slowenisches Sprichwort) Zu den vier Säulen tanzen gehen. Scherzhaft, um zu sagen, sich ins Bett begeben, wo eben nicht getanzt wird. Die vier Säulen des Bettes gegenüber der einen in den ländlichen Tanzstuben. Wenn es die vier Säulen gibt, dann muss es auch diese fünfte geben. Oder es hat sie gegeben. Oder es wird sie geben, Die fünfte Säule wird kommen, so wie es die vier Säulen gegeben haben wird. Die fünfte Säule besteht. Sie steht. Wir gehen. Sie geht mit — in uns. Modell und Satz, Metapher und Metonymie gehen ineinander auf. Sie bilden eine Kolonne. Wir bilden eine Kolonne. Die fünfte Kolonne, aber anders als:

Die Fünfte Kolonne, eine heimliche, subversiv tätige oder der Subversion verdächtige Gruppierung, deren Ziel der Umsturz einer bestehenden Ordnung im Interesse einer fremden aggressiven Macht ist. Wir gehen nämlich friedlich durch die Säulenhalle. Es handelt sich dabei um keine Dorische Wanderung.

Um die Eroberung des Peloponnes durch die Dorier (s. d.), in der Sage der Zug der Herakliden im Bunde mit den Doriern in den Peloponnes, um die von ihrem angeblichen Ahn Herakles früher unterworfenen Länder wiederzuerobern. Unsere fünfte Säule ist für die fünf Säulen einer Religion nicht unbedingt tragend:

Die fünfte Säule — ein poetischer Traktat

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1. Die Glaubensbezeugung (Schahada), 2. das fünfmal täglich zu verrichtende rituelle Pflichtgebet, 3. das Fasten im Monat Ramadan und 4. die Sozialabgabe (Pflichtabgabe / Zakal), 5. mindestens einmal im Leben die Pilgerfahrt nach Mekka. Aber sie trägt ein Dach. Unser Dach. Wir verändern es und uns im Gehen. Die Halle unter dem Dach auf den Säulen bleibt nicht die Halle. Wir sind, wo wir gehen, sie ist, was wir sehen. Wir sind, was wir sehen, sie ist, wenn wir um sie gehen. Eine Halle. Ein Gerüst. Material. Ein Bild. Ein Wort. Die Halle ist unser Bild mit einem Dach auf fünf Säulen. Nicht mehr. Nicht weniger. Wir sind. Wir sind aber auch vorgegeben. Also zählen wir mit: eins, zwei, drei, vier — halt! Wo ist die fünfte Säule? Die ersten vier, sie waren da, sie sind da. Schau (immer wieder): Hier ist die fünfte Säule. Sie ist nicht sichtbar. Draußen. Sie existiert. In unserem Inneren, als Gegenstand des Bewusstseins. Sie trägt. Auch das Bewusstsein. Sie ist Bestandteil von ihm. Die Säule des Bewusstseins. Eine von mehreren Säulen. Was trägt sie? Die anderen vier tragen die Halle. Nicht den Raum. Die fünfte trägt ihn. Aus und in uns ein. Wir tragen ihn so in uns, in unserem Bewusstsein, und drücken ihn über die Sprache aus.

„Und wer sind diese Ratten im Staat?“ fragte Hoan-Kong. „Leute“, sprach der Minister, „die weder Verdienst noch Tugend haben und gleichwohl die Gunst des Fürsten genießen. Sie verderben alles; man siehet es und seufzet darüber; man weiß aber nicht, wie man sie angreifen, wie man ihnen beikommen soll. Sie sind die Ratten in der Bildsäule.“ Die Säulen der Sprache sind Wörter als Bilder und Bilder als Wörter. Ein Dialog: von Wort zu Wort, von Wort zu Bild, von Bild zu Wort, von Bild zu Bild. Wir handeln darin und damit, im Raum als Teil des Raums: Sprachhandeln. Bildhandeln.

Was handeln wir: Säulen aus Stein, oder aus Säulen aus imaginären Bildern? Beide, diese wie jene, sind und werden gegeben und bilden den Raum unseres Bewusstseins und den der Außenwelt. Einzeln summiert. Aber gemeinsam bilden sie ihn um.

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Real. Präsentation. Die Metapher — zum Beispiel: Diese Theorie baut auf vier Säulen — als Modell wird zur Metonymie des Handelns — wir gehen durch die vier Säulen auf die fünfte zu, oder verlassen sie, oder finden sie, oder erfinden sie. Immer in Bezug. Konstellation. Auch einer zu Nietzsche:

Und gesteh es nur! Wenig war immer nur geschehn, wenn dein Lärm und Rauch sich verzog. Was liegt daran, daß eine Stadt zur Mumie wurde, und eine Bildsäule im Schlamme liegt! Und dies Wort sage ich noch den Umstürzern von Bildsäulen. Das ist wohl die größte Torheit, Salz ins Meer und Bildsäulen in den Schlamm zu werfen. Im Schlamme eurer Verachtung lag die Bildsäule: aber das ist gerade ihr Gesetz, daß ihr aus der Verachtung wieder Leben und lebende Schönheit wächst! Mit göttlicheren Zügen steht sie nun auf, und leidendverführerisch; und wahrlich! sie wird euch noch Dank sagen, daß ihr sie umstürztet, ihr Umstürzer! O, ja. Wir bauen den Raum neu. Wir, die Arbeiten. Die Kunst — wortwörtlich wie bildlich. Aber kein Abbild allein weist das Wirkliche aus. Dieses Abbild stürzen wir. Das wäre die übliche Welt, die gegebene, die Halle aus vier Säulen. Die fünfte erweitert die Halle zum Raum. Das Übliche ins Unübliche. In Bewegung. Ein Bau. Nach vorne zurück. Das ist das Wandeln in der Säulenhalle, das uns verwandelt. Wir brauchen nichts dafür, außer die fünft Säule. Wir sind Griechen wie Römer, wir sind beides und auch nicht, in der Secession und keine Secessionisten, aber vielleicht doch Sezessionisten, wir sind Einzelne und einige wie Dora, und Heimo, und Moritz, und Joëlle, und Peter, und Luz, und Ferdinand, und Cerith, und Guillaume, und andere dazu, die wir wandelnd uns ein-verwandeln wie:

Die fünfte Säule — ein poetischer Traktat

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Blatt zu Gold Blattstahl zum Heft Neon zum Wort Buchstabe zu Stahl Plastilin zum Tuch etc. Aber Trockne Säulen sind wir nicht: Keine Behrenssche oder Zambonische Säule, Voltasche Säule, die aus einer großen Zahl von Scheiben unechten Gold- und Silberpapiers besteht, dient als empfindliches Elektroskop, und, das fünfte Rad/fünftes Rad am Wagen wollen wir auch nicht sein, in einer Gruppe überflüssig, nur geduldet sein. Gewöhnlich hat ein Wagen vier Räder. Für die Stabilität eines Gefährtes ist ein fünftes Rad überflüssig. Allerhöchstens ist das fünfte Rad ein Reserverad, das im Notfall zum Einsatz kommt. Wir sind bei Kafka, das leer laufende Rad der Sprache umkreist die fünfte Säule und macht sie voll, paradox:

Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: „Gehe hinüber“, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge. Darauf sagte einer: „Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.“ Ein anderer sagte: „Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.“ Der erste sagte: „Du hast gewonnen.“ Der zweite sagte: „Aber leider nur im Gleichnis.“ Der erste sagte: „Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.“   Und Rilkes Lied von der Bildsäule? Singen wir das? Mit? Vielleicht so: Säule, du bist das Zeichen, lebend. Das Statische löst du ein, und auf. Wir sehnen uns nach Stille unter deinem rauschenden Dach. Wir sehnen uns nach Lärm unter deinem schweigenden Dach. Wir drehen uns um und erstarren nicht.

Dein Traum ist real. Unser Leben geht gut unter deinem Dach.

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Wir haben den Mut, zu erwachen mit dir.   Wer ist es, wer mich so liebt, daß er sein liebes Leben verstößt? Wenn einer für mich ertrinkt im Meer, so bin ich vom Steine zur Wiederkehr ins Leben, ins Leben erlöst.   Und werd ich einmal im Leben sein, das mir alles Goldenste gibt, so werd ich allein weinen, weinen nach meinem Stein. Wir weinen, damit etwas, dem wir nachhängen, wiederkehrt, auch wenn es nicht verloren ist. Als Symbol ist es zwar da, aber die reale Funktion scheint zu fehlen. Doch das Verborgene liegt immer auf dem Tisch. Wir erschauen es, indem wir hinschauen, fügen es zusammen, die Metaphern des Modells werden zur Metonymie des Satzes. Die Warnung ist uns gewiss:

Hütet euch, daß euch nicht eine Bildsäule erschlage! Die fünfte Säule schlägt nicht. Sie trägt. Siehe nach oben:

Die fünfte Säule — ein poetischer Traktat

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Wo das Leben an der Wirklichkeit fast zerbricht, setzt das Wort seinen Bruch mit dieser Wirklichkeit noch einmal: als dichterisches Wort, als Gedicht. Der Prager Dichter Hans Günther Adler hat diese poetische Setzung gleichsam im Zentrum des Nazi-Terrors, im Konzentrationslager Theresienstadt versucht und durchgeführt. Die Brüchigkeit seiner Existenz wurde durch die Dichtung eine doppelte, aber möglicherweise konnte sie dadurch wieder zu einer neuen ganzen zusammenwachsen. Jedoch: Von einer Bewältigung der geschichtlichen Wirklichkeit wie des persönlichen Bruchs konnte für Adler nicht die Rede sein. Es ging ihm auch in den Schriften nach dem Nationalsozialismus um die Darstellung seiner Erfahrung in einer bestimmten historischen wie individuellen Situation — und diese Darstellung sollte eine prozessuale, eine kommunikative Auseinandersetzung des Erlebenden mit dem Erlebten sein. Adler wollte nicht aufarbeiten, sondern Zeugnis ablegen in wissenschaftlicher wie dichterischer und somit in ganzer persönlicher Form. Nicht in einer universalen, gleichsam romantischen Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst, aber denn doch aus einem ganzen Bewusstsein gespeist, aus einem Geist, der sich der Wahrheit verpflichtet sah, und der als Kategorie Verhaltensweisen und Handlungen des Menschen, Soziologen wie Dichters, bestimmte. Diese Forderung und diese Annahme eines herrschenden Bewusstseins und Geistes, der mit Begriffen wie Wahrheit und Zeugnis ablegen agiert, setzt eine Reihe von Fragen voraus, speziell unter dem Blickwinkel der Kunst und Dichtung, die ja auch gegen diese Instanzen aufzutreten gewohnt war und ist: Das dichterische Wort führt eine andere Rede als die der so genannten Wirklichkeit. Selbst von einer Gegenrede zu sprechen, wäre verfehlt. Sie wird im System der Dichtung zu einer anderen, folgt Gesetzen, die eigenwillig, ja oft mutwillig wirkend erstellt wurden. Sie kann natürlich den im wirklichen Leben des Dichters erfahrenen Bruch aufgreifen, ihn zu einer sie speisenden Quelle erklären — denn, was wahr, dichterisch wahr ist, kann auch im Tatsächlichen durchaus richtig sein (so Heimito von Doderer über H.G. Adlers Buch Eine Reise). Wenn es also diese zwei Welten gibt, warum sie nicht zu einer verschmelzen — aber kann es darin eine ganze Wahrheit, gleichsam die Summe aus beiden, geben? Ist sie überhaupt erstrebenswert? Wahrheit als Kategorie der Dichtung, wäre das nicht die Bestätigung genau dessen, was sie zu überwinden trachtet. Poesie lügt im herkömmlichen Sinn der Übereinstimmung, der sprachlichen Konvention, aber sie sagt, anders, die Wahrheit. Also wie? Wenn Dichtung das bestimmte Reden über einen beliebigen Gegenstand ist (Hans-Jost Frey) und nicht das beliebige Reden über einen bestimmten Gegenstand — eine in der Literatur wie in der Kritik oft übersehene Voraussetzung dichterischer Arbeit —, wie dann dieses Beliebige mit dem Bestimmten kurzschließen, ohne das eine dem anderen zu opfern? Die tragische Lebenswirklichkeit H.G. Adlers, die wahrlich nicht beliebig über ihn kam, zum Gegenstand der Dichtung zu machen, scheint also ge-

wagt — denn das hieße ja, über einen bestimmten Gegenstand in einer bestimmten Weise zu sprechen. Kann das aufgehen? Kann das als Dichtung funktionieren?

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H.G. Adler jedenfalls schien zu versuchen, den Gegensatz von Beliebigkeit und Bestimmtheit aufzuheben. Durch ein quasi geistiges wie materielles Austauschverfahren, in dem das Beliebige des Gegenstandes, dem sich der Dichter widmete, durch Bestimmtes, das sein Leben dominierte und bestimmte, ersetzt wurde. Er hoffte, zumindest, diese beiden Kategorien dichterischer Arbeit in ein Spannungsverhältnis zu bringen, das mehr sein sollte als die Wirklichkeit nachbildende Aufarbeitungs-Literatur. Adler selbst gibt sich seinen Rahmen vor. Es ist der poetische Rahmen per se, mit einfachen Worten gesteckt: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft geben seine Leisten ab und umspannen eine Leinwand voll von psychologischen, ökonomischen und sozialen sowie individuellen Konturen. Sie bilden gemeinsam den Kern innerhalb dieses Rahmens, der Grenze des Feldes, wo das ehemals Beliebige zum Bestimmten changiert. Eine Grenze aber, die dichterisch verschoben, verengt, erweitert, manchmal auch gesprengt — und somit mehr wird als persönliches Experimentierfeld des Autors: Nämlich Modell der Wirklichkeit, über deren Erfassung hinaus, diese deutend und mitkonstruierend, ein Instrument der Erkenntnis aus den Mitteln der Poesie. Die Dichtung überschreitet nicht nur den sprachlichen Raum des Üblichen, sie steckt ihn auch neu ab oder bewegt sich innerhalb seiner Grenzen gleichsam grenzenlos. Auf diese Weise lügt sie. Unter dem Aspekt der Lüge gesehen eben nicht paradoxerweise ist dieses Grenzenlose geregelt, eigenen, selbsterstellten Anleitungen folgend. Aber was bedeutet schon Selbsterstelltes, Eigenes in einem Bereich, der durch Überlieferung, durch Hergekommenes und Weiterzugebendes gekennzeichnet ist — also sich auf Festgelegtes beruft, verzeichnet im Buch der Wörter, dem Wörterbuch, das Reich, in dem die Bedeutungen regieren? Und das alles noch vermengt mit dem tatsächlichen Leben und seinen grammatikalischen Bedingungen, schicksalhaften, politischen, ökonomischen und historischen an sich? Der Dichter H.G. Adler ist ein Dichter dieses Bereichs, den er aber nicht zu seinem alleinigen Reich erklärt. Er denkt nach, nicht nur darüber, woher die Bedeutungen kommen, sondern vor allem darüber, wie sie angewandt werden: über ihre Funktion als Werkzeuge der Sprache hinaus in die oben geWahrheit nannten gesellschaftlichen Felder. nach der Wirklichkeit: Das führt ihn zwangsweise auch zum Nachdenken über das Werkzeug an Dichtung als sich, das Wort, wie zum Nachdenken über die Handhabung dieses WerkModell zeugs, dessen Gebrauch. Und: zum Nachdenken über den Vertrag, der die zum Spachgebrauch Werkzeugbenützer anleitet, sie so oder so einzusetzen. Nach Richtlinien, von H. G. Adler die sie selbst festgelegt hatten. Und H.G. Adler versucht dies im Gedicht wie auch in Aufsätzen und Abhandlungen, um zu jenem Ausgleich von Beliebigem und Bestimmtem zu kom-

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men — in Form einer von ihm stets angestrebten Wahrheit, die das Wirkliche, Vorgegebene, das oktroyiert Unterdrückende aufzuheben trachtet. Eine Wahrheit, die sich als nichts Festes, Starres erweisen wird, das in einem Begriff fixierbar ist, der einzig und allein die Wahrheit behauptet. Ihn verwirft sie, ihn lügt sie — als flexible Größe, deren Maßstab andere Kerben aus Ethik und Ästhetik bilden. Dieser umgearbeitete Maßstab wird an die Wirklichkeit der Geschichte, der Gesellschaft angelegt — nicht um ein Spiegelgefecht zu führen, sondern eine unerbittlich geführte Auseinandersetzung des Autors mit den äußeren Tatsachen. Im Fall von Adler handelt es sich um Tatsachen der Auslöschung, der Vernichtung — vom Leben durch die Machenschaften des NS-Terrors. Eingebettet in ein System der Logik und Ethik, die sich als verbrecherisch erweist, aber Gesetz ist. Zum Gesetz erklärt wurde in einem Staat, der verbrecherisch agiert. Das existentielle Gleichgewicht von Sprache, Macht und Gewalt erfährt sein Übergewicht und seine Schlagseite in Richtung Macht und Gewalt: im tatsächlichen Leben, jenem der Körper, und im geschriebenen, jenen der Sprache und ihrer Texte, der Verordnungen, der Gesetze. Der staatlichen Gesetze, denen die sprachlichen untergeordnet werden — als Wahrheit, die regiert und verfährt. Die dichterische Wahrheit steht dieser krass entgegen, sie ahnt, sie spürt, dass Unrecht zum Recht erklärt wurde, bevor sich diese auf den Körper selbst erstrecken wird. Aber, und das ist das Dilemma dieser Ahnung und Erkenntnis vor ihrer logischen Begründung, sie konstituiert sich zum Teil aus jenen Wörtern und Worten, die auch der Macht- und Gewaltanwender verwendet. H.G. Adler hat in seinen Aufsätzen Sprache am Verstummen und vor allem in Wörter der Gewalt vorgeführt, wie gebunden der Sprecher an das seine Persönlichkeit vermittelnde, ja konstituierende Medium der Sprache ist. Und dass die Sprache an sich die Gemeinschaft nicht nur verlangt, sondern sogar begründet, denn für sich allein bräuchte der Mensch nicht zu sprechen. Aber kann es auch in der Dichtung nicht nur um die Verwendung, sondern auch um die Anwendung, um die Fortführung des Wortes als Handlung im textlichen wie sozial tatsächlichen Feld gehen? Sprache, die ihre Bedeutung im Gebrauch erfährt, der aber als dichterisch pragmatischer ein anderer werden will als der gesellschaftlich herrschende? Ob die Schergen andere wären, würden sie in Reimen sprechen, sei dahingestellt. Aber die Reflexion auf die Bedingungen des Sprechens und der Verständigung, die der Dichtung eigen ist, würde ein derartiges Maß an Sensibilität für die Welt, für das Nachdenken über die Welt und damit auch über das Nachdenken des eigenen Handelns, bedeuten, dass eine andere Kultur der Verständigung sich entwickeln und nicht nicht als Sprachdiktat herrschen könnte. Machtuntauglich hat das ein Dichter-Verwandter Adlers genannt. Adler selbst ist sich demnach klar darüber, dass es auf die Art und Weise des Einsatzes und der Anwendung der Sprache ankommt, wenn er als Dichter und als gesellschaftliches Wesen auch herkunftsbelastete Wörter eben die-

ser Gesellschaft einzusetzen hat — weil es, ganz einfach, nur unbelastete andere nicht gibt: Er muss, so Adler in seiner Analyse, auf die verhüllten, die unverhüllten und die ehemaligen Wörter der Gewalt zugreifen, aber:

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Dann prallen zwei grundlegend verschiedene Modelle, die aus der Haltung der Benützer herrühren, aufeinander — das innerästhetische, das die Bedeutung der Wörter freizulegen und neu einzusetzen trachtet, und das außerästhetische, sozial habituelle, das den Abmachungen oder Vorschriften bis hin zu den Gesetzen der Gemeinschaft folgt. Im Fall von H.G. Adler war Letzteres ein Modell der reinen Gewaltausübung, auch wenn es mit Euphemismen oder anderen Verstellungen, Verhüllungen oder Verweisen agierte: Unterjochung, wie gesagt, durch die Sprache als Gesetz, als Recht. Die Dichtung wiederum schreibt immer ihr eigenes poeto-logisches Gesetz. Nennen wir es noch einmal die wahre Lüge oder das richtige Falsche (nach Paul Wühr). Sie hat das Recht, den Gegenstand ihrer Betrachtung frei zu wählen (Nabokov) und sich diesen nicht von der Gesellschaft diktieren zu lassen. Was nicht heißt, dass sie die ideologische Verstiegenheit und also Verkümmerung der Gesellschaft in ihrem Spiegel, der sie vielleicht gar nicht sein will, zurechtrücken kann (Adornos Frage an die Literatur und Kunst). Die Dichtung, auch jene Adlers, ist ihre eigene Gesetzgeberin und Rechtsetzerin. Aber besonders in seinem tragisch- historischen Lebens-Abschnitt stießen beide Rechtsetzungen hart aneinander, und die eine bekam als Gegengewicht zur anderen überlebensträchtige Funktion — vor dem Überleben und während des Überlebens: H.G. Adlers Lagergedichte aus Theresienstadt entstehen während der Gefangenschaft, im Umfeld der Barbarei. Aber Wörter der Gewalt, wie sie Adler in seinem Aufsatz etymologisch wie sozialpragmatisch untersucht und aufzeigt, sind darin kaum zu spüren, geschweige denn unmittelbar aufzufinden, wenn sie isoliert werden aus dem Vers- oder Satzverband ihrer sprachlichen Verwendungsform. Wenn der Leser in ihren Wörtern schwelgen würde, dann fühlte er sich weder heroisch oder als Fremdwortfeind heldisch (Adler). Adlers Wörter reimen sich und fließen dahin wie die expressionistisch auf Stimmung hin geordneten Gedichte von Ernst Blaas oder Gottfried Benn. Ein die Form sprengender Dichter wie August Stramm schreibt nicht im Lager Adlers, auch kein laut- und sinnverschiebender wie Ossip Mandelstam. Dennoch entsteht auch bei Adlers Gedichten eine eigenartige Spannung zwischen den Gegenständen des Dichtens und der dafür gewählten Form, obwohl er die (oben eingeführte) Beliebigkeit des Gegenstandes außer Kraft setzt, diesen historisch fixiert. Sie entsteht aus dem Widerspruch zwischen den bestimmten Gegenständen des Schreckens und dem ebenso bestimmten dichterischen Sprechen darüber, das er nämlich auf eigenwilligste Weise wählt: Dem bösen Gegenstand wird mit der schönen Form zu Leibe gerückt. Die Überbrückung des Hiatus von Thema und poetischer Umsetzung durch sprachgewandte Schönheit erweist sich als eine der Möglichkeiten, dem Unfassbaren für diejenige, die es nicht unmittelbar erlebt

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haben, Einsicht und Erlebbarkeit zu verleihen — durch den Schock des Aufpralls der Form auf ihren transportierten Inhalt. Wir dürfen aber nicht vergessen, diese Erfahrung des Schocks und die damit verbundene Einsicht in das Dargestellte, ob jetzt Intention des Dichters oder nicht, ist und bleibt eine vermittelte Erfahrung. Das verändert nicht den Gehalt des Gedichts, auch nicht den Gegenstand, über den es spricht. Aber die dazwischen geschaltete Form — zähmt sie nicht auf die Weise dieser vom Dichter gewählten Form den Schrecken, das Entsetzen? Im Leser und im Autor? Herta Müller hat gezeigt, wie für den politisch Verfolgten zum Beispiel die Landschaft während seiner Flucht zur Gefahr wird, dass also das Schöne obszön würde. In der Umkehrung von Herta Müllers Formulierung könnte für Adler gelten, dass in seinen Lagergedichten das Obszöne schön wird — aber, ob es als solches erfahren werden kann und vor allem soll, das bleibt die Frage. Wäre die radikale Wortkunst Stramms oder des Sturm-Kreises vielleicht das adäquatere Mittel, um eine Art Unmittelbarkeit der Vorfälle zu erfassen? Möglich — und im Gedicht Krankenhelfer und Greise finden sich Wortkompositionen die an Stramms verdichtete Neologismen erinnern: krampfumzuckt, neidzerstochen, aasverqollene. Aber: Adler selbst hat die Form seiner Gedichte während des Erlebens des Schrecklichsten gewählt. Er geht dadurch im Moment der Erfahrung selbst, nicht Jahre danach, auf Distanz. Warum? Um den Blick mittelbar frei zu haben vom unmittelbar unterworfenen Körper? Aber ist nicht schon der in Worten gereimte innere Blick eine Verharmlosung des Ungereimten draußen und vor allem des Ungereimten drinnen? Hier soll keineswegs Stramms formenauflösende, rhythmisierte Einzelwortpoesie versus Adlers traditionellen Formen verpflichteten Gedichten aufgeführt werden. Adler hat sich für seine Form entschieden und diese Wahl stellt d i e Herausforderung für den Leser dar. Eine andere auch, als sie etwa Heimrad Bäcker in nachschrift und nachschrift 2 mit den reduktiven Mitteln aus Zitat und Konstellation der konkreten Poesie erreichen konnte. Fordert Bäckers Poetik die Einbindung ihrer Quellen, die Darlegung ihrer schriftlichen Herkunft — wie Briefe von Gefangenen, Akten der NS-Apparatur oder auch der Nürnberger-Prozesse sowie Aufzeichnungen von Überlebenden des Nazi-Terrors — in den Text, so ist diese nachgelieferte Bedingung, die das Verstehen der Wort-Collagen der nachschrift fördert, bei H.G. Adler nicht (unbedingt) notwendig. Die sich einstellende Wirkung während ihrer Rezeption ist freilich eine andere als die direkte Konfrontation des Blicks mit dem nackten, schonungslos freigelegten Material Heimrad Bäckers — so wie sie auch eine andere beim körperlichen Mit-Vibrieren der gezischten und heraus geschrienen Laute Stramms ist.

Dennoch handelt es sich auch bei H.G. Adlers Gedichten um einen Aufruf, der wahrlich kein Schrei ist, gegen eine Sprache am Verstummen — vor allem im poetischen Bereich. Hier ist die Form Widerstand — wiederum ganz im Sinn Doderers, der den Roman Eine Reise von Adler als Ballade bezeichnete, da in ihr der Gegenstand, sei er wie er sei … gewichtlos und schwebend gemacht wird, ohne ihm von seiner Gewichtigkeit das Geringste zu nehmen. Ein ganzer Berg von Schrecken wird zum Liede. Für die Gattung des Romans mag diese neue Erzählform (Jeremy Adler) zutreffen, aber gilt für die Lagergedichte und die späteren Gedichte H.G. Adlers die Übertragung von Doderers Formel? Tragen sie ihren Berg des Schreckens, wenn schon nicht ab, denn das ist nicht die Intention des Autors, so denn doch in eine Art der Repräsentation, die das Unaussprechliche sprechbar macht, ohne ihm an Gewicht zu nehmen?

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Die Auslegung von Dichtung fordert ein gewisses Absehen von der Biographie des Autors. Das Gedicht ist der vorrangige Dialogpartner und nicht das Wissen vom Hintergrund eines tragischen Lebens, der seine Wirkung allein bestimmt. Es fällt natürlich schwer, den verfolgten, inhaftierten Hans Günther Adler, der achtzehn Mitglieder seiner Familie durch Ermordung verloren hat, hier gleichsam völlig wegzuschalten — dennoch: Adlers Gedicht Totenfeier gibt das Exempel der Einbettung in den gewohnten expressionistischen Fluss mittels Reimung, Versmaß- und Rhythmussetzung etc. ab, die sich schon in der äußeren Gestalt von Bäcker oder der Avantgarde unterscheidet. Welche Parameter des bestimmten dichterischen Sprechens in bezug auf die Beliebigkeit seines Gegenstandes lenken darin genau diese Beliebigkeit in Bestimmtheit um? Ist es möglich, das Satzsystem Gedicht an die Wirklichkeit wie einen Maßstab zu halten (Wittgenstein)? Wie bestimmt dieses poetische Satzsystem die Wirkung des Gedichts, gar wesentlich, mit? Totenfeier

Es scheppert Geschrei von Sälen und Stiegen, Geschirre klappern, und Lärmen schilt laut. Drei hölzerne Kisten geschlossen liegen, Von stummer Trauer angeschaut. Es leiert der Sänger die klägliche Weise Mit hüstelnder Stimme und schluchzendem Klang, Der Kündiger Gottes bespricht zu leise Der toten Brüder Übergang. Es werden die Särge stolpernd getragen Die schallenden Stufen hinunter zur Nacht. Dort harrt ungeduldig der Lieferwagen, Ölfunzeln werden schnell gebracht.

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Es schlingert der Schwarm schon in Schunkelbewegung, Der holpernde Karren, und hier ist das Tor, Die Klepper enteilen, und ohne Regung Verhallt im Hof der Trauerchor. Dieses Gedicht aus dem Theresienstädter Bilderbogen (1942) hat eine erklärende Beschreibung wie einige andere Gedichte des Zyklus als Anhängsel, die der Quellen-Literarizität Bäckers nahe kommt. Dennoch ist sie für das Erfassen des Gedichts nicht von derartiger Wichtigkeit wie bei einem Listengedicht der nachschrift, das rein abstrakt nichts als Zahlen vorweist (und die damit in die Todeslager transportierten Juden meint). Der Weg der Erfassung muss also anders eingeschlagen werden als bei Bäcker (oder Stramm). Rezeptiv in herkömmlicher Form? Das muss kein Nachteil sein: Auffallend ist die Ordnung des Gedichts, die sich in der Vierzeilerform der Strophen wie in der Reimung augenblicklich zu erkennen gibt. Eigen ist ihm die expressionistische Verdichtung und Vergegenständlichung der Handlungen und Vorkommnisse, ja die Verdinglichung des Menschen. Nicht er, sondern die Umgebung ist es, die etwas tut, also scheppert wie die Säle und Stiegen. Das war oben mit Lüge gemeint. Aber: Die Verdinglichung erzeugt, was sie ist — Verdinglichung der Person zum Allgemeinwesen. Das ist die Wahrheit, die sie anders sagt. Genau dadurch kann der Dichter dessen Ignoranz, die der kommenden Szenerie, der Totenfeier eines gestorbenen Bruders, völlig unangemessen ist, zu Tage fördern. Auch die unmittelbare Benennung vermeidet der Autor, der Sarg ist die hölzerne Kiste, und allem Lärm zum Trotz herrscht so etwas wie Stille, doch die ist stumm und so auch die Trauer. Jetzt ist die Sprache wirklich am Verstummen, aber innerhalb des Gedichts, das dieses Verstummen vorführt (nach Auschwitz und dem Verdikt Adornos). Es wundert nicht, dass die Stimme des Sängers, es kann auch der Dichter sein, kläglich ist — die Klage selbst verkommt zum Hüsteln und Schluchzen. Das Schlüsselwort aber von Totenfeier ist: Lieferwagen — hier bricht mit einer direkten Benennung die Mechanisierung des Todes in das Gedicht ein. Kein Leichenwagen etc. wird eingeführt, auch keine Verbildlichung erfolgt, wo es darauf ankommt, da setzt Adler den Begriff, der die Sache benennt und klar abhebt vom Dunkel dessen, was er eigentlich bewirkt und bedeutet. Jetzt verlässt das Gedicht die Fragen nach Wahrheit und Lüge — es spricht auf der anderen Seite. In einem seiner bemerkenswertesten Zyklen aus der Lagerzeit Einsam in Banden wählt Adler eine in der deutschen Dichtung eher unübliche Form: die terza rima, die Dante für seinen Weg durch die Hölle verwendete. Adler greift Dantes Thematik und Form auf: Er transformiert seine Hölle der Lagerexistenz in dieses formale Versgerüst und erweitert sie in Hinsicht auf die metaphysische Darlegung einer Erfahrung gleichsam danach. Der Dichter und Mensch hat sie hinter sich gebracht oder gerade noch in sich und verschiebt sie auf eine gleichnishafte, symbolische Ebene, mit dem Charak-

ter und Anspruch allgemeiner Gültigkeit: von Ausgeliefert sein, Vereinsamt sein, von Unentrinnbar und Verzweiflung (so einige Titel seines Zyklus). Die Begriffe und Wörter, die Adler verwendet, sind angehaucht vom Pathos eines existentiellen Jargons — erborgtes Sein, ewig und allein finden sich im Eingangsgedicht Absage. Die Dreizeilertechnik allerdings suggeriert Formung selbst dieser Wendungen auf einen Inhalt hin, der die Verwendung der überladenen Formeln oder pathetischen Metaphern und Bilder — der Flammen Nesselkleid, versinken in der eignen Brust, Heil in schlackenloser Reinheit — zu motivieren versteht in Bezug auf die Adlersche Gesamtkonzeption von Dichtung und Existenz. Es ist der Schlüsselbegriff der Einheit, den er beschwört, für den er sich, im Gedicht allerdings, schämt, der aber den sich andeutenden Schwulst der Begriffspaare argumentiert und dadurch relativiert, ja sogar verhindert.

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Der Weg der Erfassung dieses Gedichtes und der Lagergedichte Adlers überhaupt führt also aus und uns zurück in die Poetik H.G. Adlers, die sein Werk als Ganzes und damit auch seine Lebensauffassung umfasst. Gerade in den soziologischen Schriften betont er die Mechanismen der NS-Ideologie und ihrer verwirklichten Praxis als mechanischen Materialismus. Die Wertlosigkeit des Menschen, seine Herabwürdigung zur Ware, die zur folgerichtigen Auslöschung führt, wird also in zweifacher Hinsicht gesprochen: in essayistisch-wissenschaftlicher und in dichterischer. Ein Sprechen, das auf beiden Ebenen gekennzeichnet ist durch ein bewegliches Schema von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — das auf der Literaturebene vor allem den späteren Gedichten ablesbar ist. Und wirkt. Wirkt wie der Handlungswunsch oder die Handlungsbestimmung, die Adler seiner Sprache unterlegte. Und damit auch dem Begriff der Wahrheit. Wenn J.L. Austin in seiner Theorie der Sprechakte Recht hat, dass es letzten Endes nur ein wirkliches Ding, um dessen Klärung wir uns bemühen, gibt und dieses Ding der gesamte Sprechakt in der Redesituation ist, dann war und ist es auch Adlers Anliegen, dieses einzige Ding in den verschiedenen möglichen und von den Umständen abhängigen Sprachakt-Situationen zu beleuchten. Der Blick auf das Ding der Wahrheit wird derart offen gehalten und damit auch der ganze Wahrheitsbegriff. Dichtung und Wissenschaft erhellen auf ihre Weise, in ihrer Sprache, zwei Meta-Sprachen gleichsam in Bezug auf einen Sachverhalt. Denn Feststellungen und Beschreibungen haben nach Austin keine einzigartige Stellung, schon gar nicht im Verhältnis zur Tatsache. Es besteht nicht in einer einheitlichen Beziehung namens „wahr oder falsch sein“; denn Wahrheit und Falschheit sind (abgesehen vom Fall der für bestimmte Zwecke gerechtfertigten, immer möglichen künstlerischen Abstraktion) keine Namen für Beziehungen, Eigenschaften oder dergleichen, sondern für eine Dimension der Beurteilung — wie nämlich die Äußerung vor dem Anspruch besteht, den Tatsachen, Ereignissen, Situationen und so weiter, mit denen sie zu tun hat, zu genügen.

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Adlers Beurteilung spricht von persönlicher Größe. Er klagt nicht an, er hasst nicht, sondern versucht trotz soziologisch- wissenschaftlicher Objektivität, den subjektiven Wertbegriff nicht ganz zu verleugnen. Im dichterischen Arbeiten natürlich augenscheinlicher als im soziologischen. Er baut ihn sozusagen als Verfremdungseffekt der einzigen objektiven Wahrheit ein, um zur richtigen subjektiven zu gelangen, die flexibel und wertbeweglich im Sinn Austins, den Tatsachen, Ereignissen, Situationen und so weiter genügend, agiert. Auf der Seite des Essays, des Aufsatzes. Auf der Seite der Dichtung kommt es — ganz bewusst hinsichtlich der Problematik des Gedichts nach Auschwitz — zur künstlerischen Abstraktion: durch die Form. Das ist die Stärke und die Schwäche der Adlerschen Gedichte von einem ästhetischen Standpunkt aus gesehen, der keineswegs nur eigengesetzlichen Normen entsprechen will. Seine Stärke ist, wie schon erwähnt, dass durch das Moment der Abstraktion der Dichter sich selbst ein Instrumentarium schafft, mit dem er sein Material zu organisieren versteht — die Erfahrung des Lagers in Wörtern, wie wir sie zur Verfügung haben, Wörter der Gewalt natürlich auch. Er ist sich klar darüber, dass das Einzelwort seine Herkunft und seine Verwendung hat, die nicht oder nur schwer zu überwinden ist. Also gilt es, diese Herkunft erst einmal klarzulegen, und dann in einem neuen Feld der dichterischen Organisation in Schwingung zu bringen, die möglicherweise eine neue Bedeutung evoziert oder zumindest einen neuen Blick auf die Gegenstände, die sie begrifflich beschreibt, erzeugt. Die somit auch zu einem gewissen Teil zur Konstruktion des Subjekts werden und nicht nur Widerspiegelung einer erfahrenen subjektiven Realität sind, die zur objektiven erklärt wird. Im Gegenteil: Adler schafft sich den Raum der abstrakten Formung — somit erlangen seine Erfahrungen Modellcharakter, die einerseits das Leid und die Tragik des persönlichen Erlebnisses aufgreifen, also unmittelbar aus der Wirklichkeit schöpfen, aber sofort im Prozess der dichterischen Arbeit abgeklopft oder eingesetzt werden in Hinsicht auf ihren weiteren Verwendungszweck — der dichterischen Kommunikation mit dem Leser, der diese Erfahrungen keineswegs gemacht haben muss. Wenn Literatur und Dichtung auch den Willen zur Entscheidung bedeutet: für diesen Beistrich an diesem Ort, für dieses Wort an diesem Platz, für diese von diesem Thema gefundene Form, dann hat Hans Günther Adler ein Bewunderung abringende Entscheidung gesetzt — nämlich, sich für etwas zu entscheiden, für das er gar keine andere Wahl hatte, es zum Inhalt seiner poetischen Arbeit zu bestimmen und mit ebenso bestimmter Form zu gestalteten — an einem wohl allerletzten Punkt in einem schon an sich höchst fragwürdigen Raum der persönlichen Freiheit.

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0 Die Wirklichkeit — sie ist gegeben, aber wie nehmen wir sie wahr? Über die Sinne. vermittelt über die Sprache, durch die Sprache, in der Sprache?! Die Literatur — sie ist mehr als eine äußere Form der Vermittlung, sie ist Innenwelt wie Außenwelt, aus Sprache, in Sprache. In welcher Form spricht sie hier? So: Sie singt ein Lied. Sie singt ein Lied — der Poesie. In mir. Und ich singe es ihr. Ich singe also? Nein. Meine Form ist kein Lied. Ich sage nur: ich singe. Was ist dann gemeint mit dem Sagen: Ich singe es ihr und sie singt es aus mir. Das Lied. Ist das übertragen? Eine Übertragung? Ja. Von Stimme zu Ohr. Vom Sagen zum Lied? Auch, aber nur im übertragenem Sinn. Denn das Lied hier ist ein Vortrag, dieser wird und ist dann gegeben. Aber er wird nicht gesungen. Er klingt, hoffentlich. Also wäre er dann eine Art anderes Lied. Die Stimme ist vorhanden, als tragendes Mittel der Botschaft, aber sie hebt nicht an zum Singen. Soll der Begriff des Singens einen Ton andeuten? Ja, das soll er. Ist dieser Ton die Botschaft? Ja, auch. Ein hoher Ton, eine hohe Botschaft? Ja, er soll etwas feiern helfen. Nein, er soll auf dem Boden bleiben. Nicht abheben ins Abgehobene. Das ist ein Vorhaben. Meines. Wir wollen ja verstehen. Das widerspricht wiederum nicht dem Singen. Wer singt, der hört, und versteht, möglicherweise besser. Besser als was? Er versteht mit anderen Mitteln, die zur inneren und äußeren Form werden, mehr als nur zur Nachricht. Zur Botschaft?

Das wäre ein Traum.

Mein Traum. Sie und ich, wir verstehen mehr, als die Information sagt. Über die Nachricht hinaus sage ich etwas und hoffe, wir hören ein Lied.

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Ich bin also nicht nur alleine: das Medium und der Hervorbringende. Wir sind es miteinander. Alle zusammen weniger als alles und mehr als eins. Gleich, aber anders. Das verstehe ich nicht unter Wirklichkeit, das verstehe ich als Wirklichkeit; die Erweiterung der Erfahrung, die über ein Modell, das wir von der Wirklichkeit haben, hinausreicht oder zurück in eine sinnliche Vergegenwärtigung, die dieses Modell, im Schreiben, im Lesen, im Hören, über den Modellcharakter hinaus, erfahrbar macht. Singensagen. Sagensingen. Wirklich allein und zusammen. 1 Da wäre — Hölderlin. Der Umgang mit dem Geheimnis. Der Gang in alle Richtungen. Im Gedicht. Über das Leben. Und zwar über die Hälfte. Des Lebens. Was darin hängt in den See ist nicht allein die Frage. Wie hängt es, das: die Birnen, — sind sie saftig, ja, sie sind ja gelb, also reif, fruchtig. Das steht nicht im Gedicht, aber wir schmecken dieses Fruchtige durch die Art und Weise, wie der Dichter damit unser Bewusstsein speist, sie uns auf die Zunge legt, sie uns ins Ohr hebt, verpflanzt. Er verpflanzt sie als Satz. Der Vers ist ein Satz. Aber welcher? Aber welcher! Hölderlin führt etwas zusammen, was eine Brücke ist, die den Himmel und die Erde erst spürbar und sichtbar macht. Nicht die Birnen hängen mit den Rosen in den See, das Land hängt. Das ganze Land. Dieses Hängen ist die Brücke. Und was machen die Schwäne darin? Sind sie im Bild — ja, das schon. aber es zu beschreiben, das heißt: auch zu schweigen.

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Es im Stillen zu finden ist auch, es mit zu erfinden. Das ist dann die Wirklichkeit. Die nie fertige ganze. Ein See aus Birnen. Ein Wasser aus Schwänen. Die Wirklichkeit einer Frucht, eines Wassers — auch aus gelben und weißen Zeichen. Und wir, die trunken sind von den Küssen des — Gedichts. Die Schwanenden —  mit den geküssten Augen, mit dem Geschmack des Fruchtfleisches der Birnen im Mund. Mit dem Dichter im See. Hölderlin ist der Dichter im Gedicht. Er ist nicht wirklich im See der Zeichen, aber der See aus Zeichen ist wirklich. In uns. Er nennt das: Hälfte des Lebens. Das ist unsere ganze Hälfte, die wir auf der Brücke verweilen, als gefundener Strom. So spricht es in uns wie in ihm. Er und wir zeichnen es nicht nur nach. Wir erfahren es und uns damit anders. In diesem Sprechen, das ein Singen ist. Ein wirkliches Singen ist ein wirkliches Hören. Ist das die Welt? Die ganze, die von ihm in ihm für uns mit ihm in uns? 2 Der Begriff des Ganzen oder des Einen hinkt. Nicht an sich. Letztlich wäre er der Traum (und der Albtraum zugleich). Er setzt eine Auffassung von einem Gebilde voraus, das an sein Ende gelangt. Ist dieses Ende erstrebenswert — als Traum des Ersten (Grundes); und wenn dieses Ende nicht umgehbar ist — als Albtraum des Allerletzten (Todes). Sagen wir ja: Wir drängen danach, ganz zu sein und eins. Wir und das, was wir sind durch das, was wir uns vorstellen, und durch das, was wir damit und daraus tun. Aber genau daran und darin hinken wir, nicht nur außerhalb des Gedichts herum. Und mit uns der Begriff vom nie verwirklichbaren Ganzem und Einem.

Der Begriff vom Ganzen und vom Einen in der Literatur hinkt aus diesen Gründen des Scheiterns im Tun zum Ganzen hin ebenso. Er soll zwar das sein, was wir sein wollen, das Ganze, aber er kann es nicht sein: Weil uns die dichterischen Mittel fehlen, das Ganze auf seine herrlichste und — schrecklichste Weise — ästhetisch, sprachlich zu bilden?

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Dennoch gibt es ja diesen Drang nach dem Ganzen und Einen. Nach dem Ende? Sagen wir: nach dem Absoluten im Sinn von Kafkas Einheit von Intuition und Erlebnis — ist diese möglich? Die Wirklichkeit ist dann doppelt, eine gegebene und eine mögliche, eine gegebene Wirklichkeit und eine mögliche Wirklichkeit, ganz zusammen, und dennoch nicht das Ganze: Das Ganze ist in der Literatur und Kunst das Andere, ein bewegliches Schema, mehr als das, ein sich ständig erneuernder Kern aus — Alles und Nichts, lapidarer: aus Wirklichkeit Und Möglichkeit. Der Kern ist das, was das Werk ausmacht, er ist da, und wir schälen nicht nur um ihn herum, wir befinden uns auch in ihm drinnen und herum. Die Kerben, die wir dabei hinterlassen, sind so oder so — sagen wir hässlich oder schön, aber das darf nicht der Geschmack sein, der das festlegt. Sondern die Regeln des Anderen, das alles ist im Nichts — im Sagen der Unmöglichkeit alles zu sagen und der Unmöglichkeit, nicht alles zu sagen. Diese ganze Literatur ist also keine Schattenwelt oder keine Welt des Widerscheins, kein Spiegel allein, kein Abbild allein, das alles auf einmal wiedergeben sollte. sie bringt dieses vielmehr als Teil in einem bestimmten Moment der Zeit als Inhaltform hervor. Diese Form betreibt das Ganze, baut an ihr, ist aber nicht das Eine. Sie ist immer Teil in Bezug auf die Organisation der Teile zu diesem Ganzen, und diese Form ist nicht der Mechanismus, sondern der Inhalt als Form, der Mechanismus sein kann. 3 Im Holismus, ohne mich ganz mit ihm zu verbandeln — mehr ist es ein Verhandeln oder ein Verwandeln — finden wir das Ganze als Gegenstand des Beziehens angeführt, also in jener Kraft, die in die Funktion der Beziehung der Teile

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zweckmäßig eingreift und sie mit den im äußeren Feld vorgebildeten Zielen der Entwicklung vereint. Damit steckt das Ganze nicht im Detail, es ist und bleibt das Primat, das Ganze. Es umfasst das Denken bis hin zum Handeln, und ich behaupte: Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens ist zumindest dieses Ganze, also das Leben, das als dichterisches in uns handelt, also auch unseres ist. Die Wirklichkeit ist mehr als die Gesamtheit aller existierenden Objekte, die wäre die Realität; der See, die Birnen, die Schwände, die Rosen. Und eben nicht nur dahinter wird dann der Topos der Möglichkeit installiert, sondern er wird verwirklicht: heiligtrunken? — auch das, berauscht jedenfalls. Im dichterischen Holismus ist die Trennung von Wirklichkeit Und Möglichkeit überwunden, und ich behaupte weiters, und verlasse Hölderlins Epoche, die ich übrigens durchaus auch als gegenwärtige in der holistischen Lesart aus Singen, Hören und Buchstabieren verstehe, behaupte also 4 Josef Winklers heurige Rede zum Bachmannpreis ist so eine Überwindung von Wirklichkeit Und Möglichkeit, indem sie beide zu vereinen versteht. Sie singt den Widerstand aus Wirklichkeit Und Möglichkeit, wobei sie das Gegebene mit dem Halluzinierten nicht vermischt, sondern das eine aus dem anderen generiert, und somit eine Wirklichkeit herstellt, die nicht nur das engere politische Thema, die Kärntner Misere, berührt, sondern die Misere in uns, die wir nichts tun, oder nicht einmal das, sondern, so tun als ob — ! Das verstehe ich unter Möglichkeit UND Wirklichkeit als eine, die keine zweite ist, sondern die als Literatur zur ersten wird, zum Kern, die dennoch ganz ist und offen bleibt: Und, ich meine nicht den Möglichkeitssinn Musils. Nicht wie bei ihm ist das Mögliche ein Zweites, der andere Zustand, sondern wird Teil des Wirklichen und nicht nur Noch-nichtWirkliches. Als zweite, andere Ebene wäre es ein Reservat des Entwurfs, das Ausdenken einer Gegenwelt, das Träumen im

schönen Garten der Phantasie, den wird dann alle, ohne Konsequenzen zu ziehen, betreten könnten. Hölderlins Gedicht ist keineswegs dieser Garten der zweiten, enthobenen Welt. Er ist nicht Phantasie, auch mehr als wirklich werdendes Phantasma. Mehr als das Reale und das Imaginäre, auch mehr als der Ort der Heterotopie, der Ort der ersten Wünsche, der Obsessionen, des Nullpunktes.

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Denn: alle diese inneren Zustände werden erfüllt während des Betreten des Ortes, des Gedichts, der Rede, und im darin Wohnen, denn dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde — und wir wissen nicht nur dank Heidegger, dass Wohnen von Bauen kommt, und das Zeitwort sein, mit seinem ich bin und du bist, vom Zeitwort bauen. Und bauen heißt: bewirken und wirken, zumindest eine Veränderung in unserem sich aktiv, also in unserem sich schonend wohnend Beteiligen. Wie auch die Rede Josef Winklers dieses Wohnen in uns Hörern bewirkte, eben weil sie schonungslos war, und jene Wirkung, nein: Erfahrung des Ganzen in uns auslöste, die aus der Nachricht über eine individuelle daraus entwickelte Form die rauschende Botschaft in unser Bewusstsein übertrug, zustimmend, ein Aufbruch. ­  Und damit ist nicht das Schulterklopfen des Betriebes gemeint, — der ja auch irgendwie gemeint war, mit Kärnten. Dazu brauchen wir kein Übersetzungshandbuch und keinen Dolmetscher. Aber um das Poetische, das Andere zu erkennen, ebenso nicht. Wir interpretieren es, um es zu verstehen, durch Beobachtung der Erfahrung, die es in uns auslöst. Anders, auch ohne Hilfsmittel, macht es sich breit. Das ist die radikale Interpretation. Winkler sagt nicht was, sondern das, er zeigt es uns in Bildern und Verkettungen, und das kann interpretiert werden. Aber gesagt muss es sein, um in uns weitergebaut zu werden. 5 Wir brauchen wenige Worte, um das Wesentliche zu sagen. Doch alle Möglichkeiten des Zusammenbauens brauchen wir, um es

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wirklich werden zu lassen. Bei Winkler ist der Bau der Rede die Brücke zwischen Texten von Ingeborg Bachmann und seinen Erfahrungen nicht nur gleichsam, sondern eine in diesen Texten, und aus jenen Erfahrungen, die er beim Durchschreiten von Klagenfurt erlebt. Der Moment des Schielens tritt auf. Immer wieder schiele ich nach rechts Richtung Stadt, die er für uns umbauen wird, im Raum der Grammatik als Zeiterfahrung: während ich, so lange dauert dieses während, das zum Währen wird, bis die Leerstelle dieser fehlenden Bibliothek gefüllt werden kann. Auf diese Weise des Sehens, das er uns durch das Schreiben aufschließt. Es ist der Blick um die Ecke, der gestörte Blick, nicht der gebrochene. Er öffnet, denn aus dieser Perspektive beginnt das Stabile zu wanken, wird zum winkenden Baustein einer neuen Form, die so inhaltlich ist, dass sie Erkenntnis bedeuten, also hervorlocken kann. So ist das bei Winkler und Hölderlin: Schielen ist Erkenntnis, so wie es das Rauschen in der Kommunikation zwischen Sender und Empfänger ist, ist in Prozess und Realität des Philosophen Whitehead die anschauliche Unmittelbarkeit, um die es uns geht, ein Analogon zum Schielen. Das Abweichen von der Norm als neues Maß, das zum Messen auffordert, zum Tun, zum Einrichten. Der Raum ist kein fest umrissenes Gebilde mehr, sondern ein Ort aus Orten, der mit der Zeit geht, wie der Buchstabe es sein kann und geht im Wort, oder das Wort geht im Satz. Es geht kurzweilig, unmittelbar um den konkreten Ort, den Winkler anders als Hölderlin aufsucht, der ihnen aufgesucht wird, und den sie betreten, um darin kurzweilig, aber konkret wohnend zu zeigen, dass es schonend nicht immer geht, weil es sonst steht, also: nach schonungsloser Attacke verlangt, die aber im Strom der Poesie, im textlichen Bau eingebettet ist, und zur Brücke wächst, die wiederum zu jenem Text wächst, aus ihm und in uns hinein. Das heißt wiederum: die Literatur als Wirklichkeit braucht auch das Ohr und das Auge und die Lippen der Menschen, die sagen, was das Gedicht sagt, jeder auf seine Weise, aber wirklich, wirklich umgedreht und umgedreht und umgedreht —  egal, ob die Wirklichkeit draußen wirklich etwas Anderes ist, im Prozess des Verwandelns wird sie zur inneren. So ist das bei Winkler, Hölderlin, und so ist das bei Elfriede Jelinek.

Denken wir an ihre Rede zum Nobelpreis. Die von ihr als vorgegebene Wirklichkeit bezeichnete, Mürzzuschlag, Rechnitz, ist dabei eine, die alles verbraucht, was sie braucht, fordert, und nie das hervorbringt, sondern umbringt, was sich ihr entgegenstellt, ob gewollt oder nicht. Aber die Literatur will. Und so halten wir uns mit ihr gar nicht raus, sondern mehr als rein, und das führt zu Wirbeln, die zeigen, die spürbar machen, dass sie eine andere ist, die Wirklichkeit, aber die, welche dann herauskommt, die ist dann keine andere, sondern das Andere aus Wirklichkeit Und Möglichkeit — 

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das Andere, das ein drittes Zeichen ins Spiel bringt, das nicht binär das Bezeichnete (Ding) und das Bezeichnende (Wort) zur Deckung bringt, sondern ein gleichsam magisches Zeichen der Erweiterung und gegenseitigen Verwandlung ist. Nicht nur die Vergegenwärtigung des Zeichens im Ding, sondern dessen und seine eigene Kraft, die Natur nicht nur bezeichnet, sondern Teil dieser Natur wird. Formales (das Bezeichnende) und inhaltliches Element (das Bezeichnete) werden durch die Konjunktur der beiden zu jenem dritten Element, die imaginierte Ähnlichkeit zur verbindenden Ähnlichkeit. Der reine Blick und der reine Gegenstand umgeformt, wie etwa Vergangenheit und Zukunft, Erinnern und Vergessen, Katzensilber und Henselstraße, Pastior und Müller, Mutter und Kind, Name und Handlung — in und aus den die Wirklichkeit Und Möglichkeit Erfahrenden, aus dem sie dichterisch hervorbringenden Medium in das unsere, das diese Wirklichkeit, das sei nicht nur so nebenbei erwähnt, niemals bewältigt. Jelinek bewältigt nicht, Winkler bewältigte nicht, Hölderlin bewältigt nicht, wir bewältigen nicht, die Literatur aus Wirklichkeit Und Möglichkeit bewältigt nicht. Sie rettet auch nicht vor der Gefahr, sie ist Gefahr, als Fahrendes, das den Zustand des Festgefahrenen aufzeigt und ins Bewegen bringt, und zum Retten wird, das vor allem messen mit anderem Maß bedeutet — um den Raum freizugeben, um darin entfalten zu können, was vergewaltigt oder bewältigt wurde. (Jörg Haider und die Götter, sie sind nicht das Thema, sie sind bestenfalls das, was langläufig unter Thema gehandelt wird, und an dem sich der Künstler oder Dichter abzureiben hat. Und das ist es nicht allein.)

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Diese Wirklichkeit allein in Verwirrung bringen, eine Wirklichkeit, die wir nicht mögen, wenn in ihr jene leben, die sich nur selber lieben und ihre Rente und ihren Hund, das war nicht nur Tristan Tzaras Vorhaben. Seine Wirklichkeit war die Gegenwirklichkeit der Provokation, und das Entscheidende daran waren die Mittel, die er einsetzte, um diese Wirklichkeit politisch-ästhetisch zu gestalten. Nämlich: Die Verfügbarkeit über alle Mittel der Darstellung, fern eines Epochenstils, über jede Traditionsablehnung hinaus. Das gilt nur oberflächlich betrachtet auch für das Werk von Jelinek. Die Provokation ist nicht Selbstzweck, sie stellt sich ein, weil sie Teil des Unerwarteten ist, das hier als Wirklichkeit UND Möglichkeit aufgebaut wird. Ihre Wortgerümpelskulpturen behaupten sich als Schönheit des Hässlichen, wodurch sie das Metaphorische, das verbraucht schien, durch ein schiefes Zusammensetzen wieder ins Spiel bringen kann, wobei die Metaphern metonymisiert von der Übertragung aus in Bewegung geraten, hinken, taumeln —  auch Jelineks Sprache schielt, ihre Sprache, die nie zu der ihren werden darf, da sie alle Anregungen aus der Medienwelt annimmt, inhaliert und vermengt. Unsere gesamte Gegenwartskultur ist in dieser Sprache anwesend, und obwohl sie simuliert auftritt, wird ihre Anwesenheit schmerzhaft erfahrbar, da sie auf die Abwesenheit von Inhalten draußen wie drinnen verweist, im sozialen kollektiven Feld genauso wie im individuellen, und als Ganzes im innerästhetischen des Textes erfahrbar gemacht. Es geht also auch Jelinek in einer verqueren, erschwerten Sprache — die Natur als sozialen Schauplatz klassifiziert wie sie den sozialen Schauplatz als natürlichen klassifiziert, die Anthropomorphismen einsetzt, um die Verfügbarkeit der Welt als wirkliche zu suggerieren, dabei aber die Lächerlichkeit und Ohnmacht dieses Unterfangens aufzeigt — es geht ihr also anders, nämlich im drastischen Aufzeigen seines Mangels, weniger um den inneren Zusammenhang der Dinge, den Osip Mandelstam in der Natur des Wortes erkannte, weniger um die Dinge selbst. Sie kristallisieren sich sozusagen so gezeigt aus diesen Zusammenhängen heraus, ständig in Bewegung, in Auflösung begriffen und dennoch wieder nach Festigkeit strebend. Bei ihr in diese Wortgerümpelstruktur hineinwachsend, diesem Ganzen. Um aus diesem Prinzip des Zusammenhangs wieder heraus zu fallen, da er nicht der vorgestanzten Kausalität folgt, oder in sprachlich-linguis-

tischer Form, sich dem Nominalismus oder dem Logozentrismus unterwirft. 6 Dieses Schreiben ist dennoch Erkenntnissuche, aber ein Vorgang, der anders bestimmbar ist auf seinem Weg, als ein realistischer Text, der die Plausibilität seiner Figuren mitliefert (was den Realismus ausmacht). Wie diesen Weg, der auf die sich nicht unterwerfende Möglichkeit setzt, nachvollziehen können?

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Wer kann nach den Schreibenden, diesen Weg der gesuchten Abweichung, nachvollziehen, nachgehen — der Leser, der Kritiker, der andere? Wertet er dann oder erkennt er oder sucht er oder was sonst, noch? Die Schichten des Werkes sind immer viel. Die Interpretation fasst oder packt oder streichelt oder zerbricht immer nur eine, die aber dann das ganze Werk ausstellt und derart auf den Markt wirft und dort brandmarkt. So oder so. Er muss zerlegen, hier der Weg, hier das Ziel, hier der Inhalt, hier die Form. Diese Trennung wäre jene unglückselige alte von Inhalt und Form. Sie ist abzulehnen. Die Literatur ist unteilbar. Anders: Literatur ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen, wer sie erkennen will, muss Lüge sein. Der Autor aber will erkennen, also lügt er. Literatur ist als andere Wahrheit die wahre Lüge. Der Autor ist also nicht der übliche Lügner, der Wahrheit mit dem sanktioniert Bekannten und Üblichen gleichsetzt. Literatur als Wirklichkeit flieht das Übliche nicht, es erweitert es mit Möglichkeit. Literatur als Wirklichkeit UND Möglichkeit ist unteilbar. Nach Hans Jost Frey formuliert: Die literarische Rede ist nicht trennbar von ihrem Gesagt-werden. Sie ist kein beliebiges Reden über einen bestimmten Gegenstand, sondern ein bestimmtes Reden über einen beliebigen, der aber im Feld des Wirklichen existieren kann, dort möglich gemacht oder unmöglich gemacht wird

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Doch: Literatur kann nicht die althergebrachte, sanktionierte Wahrheit sein, die teilbar ist in gut und schlecht, wahr und falsch. Ihre binäre Wahrheit wird zu einer dritten im Denken vor oder nach der ordnenden Vernunft. Deshalb ist diese Literatur die Lüge. Sie ist unteilbar. Sie ist das richtige Falsche. Wahr und falsch sind im Wort gleichzeitig vorhanden. Es kommt darauf an, das eine im Licht des anderen zum Strahlen oder im Schatten des anderen zum Verstummen zu bringen. Strahlung und Schatten zu erhalten, zu ermöglichen, und nicht auf eine Lichtmessung zu reduzieren. Nicht auf das Was. Nicht auf das Wie. Wie ist teilbar. Was ist teilbar. Wie und Was sind die Literatur. Sie sind als Ganzes unteilbar. 7 Was ist das bestimmt Unbestimmte: Es ist das Leben der Gegenwart zwischen Gedächtnis des Zukünftigen und Entwurf des Vergangenen, das seine Modelle aus Sprache aufbaut und abwirft wie der Reiter sein Sattelzeug: Überhaupt geht es mir darum, unter das Haupt dieser Art der Vernunft zu gelangen, ohne auf vernünftige Mittel zu verzichten, sie aber anders zu setzen. Diese Setzung ist Literatur aus Möglichkeit UND Wirklichkeit, ist Winkler und Hölderlin und, in einer anderen Umsetzung, die Symbiose aus Bericht und ästhetischer Formung wie sie Herta Müller und Oskar Pastior in ihrem gemeinsamen Schreibprojekt Atemschaukel vorführen, zeigen:

Hungerengel und Herzschaufel, die Kernbegriffe des Schreibgebäudes sind unteilbar, das neue Ganze gleichsam im Wort aus Wörtern. Im Aufbau einer Verknüpfung, die über die beiden Kunstwörter auf eine Aussage hinausläuft, die Herta Müller zur Darstellung eines Lagerlebens erfunden hat. Sie hat das Wort Herz genommen, das Wort Schaufel genommen, das Wort Hunger genommen und das Wort Engel genommen, dann hat sie die einzelnen Begriffe zusammengesetzt. Es sind nicht zungenbrechende Neologismen oder radikale Agglutinationen. Aber sie lösen etwas aus, mehr als einen Vergleich, der für einen Zustand steht, nein, einer, der möglich gemacht wird und im Moment der Auslösung

in unserem Bewusstsein leiblich existiert. Die Herzschaufel und der Hungerengel sind Träger einer Literatur aus Wirklichkeit Und Möglichkeit in einem — und als dieses: ein Ganzes aus Inhalt und Form, das nach seiner Konstruktion nicht mehr teilbar erscheint. In uns.

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Dort erscheint es. Und ist. Im Text als solchen, im Buch Atemschaukel ist es, steht es, gedruckt. Dort ist es lokalisierbar als Teil eines anderen Ganzen, natürlich nicht lokalisierbar wie die Bibliothek in Klagenfurt, wenn sie gebaut werden würde. Sie schwebt gewissermaßen zwischen der Welt und unserem Bewusstsein davon. Nicht im Geist allein, es stellt uns und sich auch auf die Füße jenes Ortes, den zu wohnen wir eingeladen sind, und genau dieses Wohnen ist es, was Literatur als Wirklichkeit im Moment der Verwandlung erschaffen kann. Indem sie sagt und zeigt, singt du schielt, und wir im Inneren, das Ganze begreifen. Über den Begriff in abstrakter Weise hinaus, das Begreifen auch als Angreifen wiedererlernen und so auch sinnlich verstehen. Wir liegen dann unter den Rosen und hängen mit den Birnen in den See, oder teilen mit Oskar Pastior den Hunger und hoffen auf Herta Müllers Herzschaufel, die und den Hungerengel vertreiben helfen wird, mit den von der Wirklichkeit aufgestellten Haaren Elfriede Jelineks. Übrigens: Eine Wurfschaufel für meine Muse, rief Friedrich Georg Hamann, der Gott als den ersten Poeten der Welt verstand, und wohl ein wenig sich selbst auch. Nicht als Gott zwar, aber als Schöpfer, der dient, indem er beobachtet, sammelt, sich versammelt, aufnimmt, durchfließen lässt, formt, hervorbringt, hervorbringen lässt, dazu aber etwas benötigt, nämlich die Wurfschaufel, — und dann schleudert er oder setzt sanft und behutsam die Brocken oder den Sand oder das Gras oder die Luft und sonst nichts, und das ist viel, auf den Boden auf oder sendet dies alles in den HImmel hinaus, und setzt es somit auch konkret hinüber. Wenn der Geist eins ist und die Sprachen viele, dann ist dieses Übersetzen ein Hinüber- und Heraussetzen, eines, das als solches ins Verstehen führt. Das Übersetzen, ist das Schauen, das während im Übergang von einem Zustand in den anderen, also hin zum außergewöhnlichen Zustand, der durch die Sprache mit hervorgebracht wird. Wie bei

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Humboldt, wo die Sprache an die Klaviatur des Geistes nicht nur anschlägt, sondern dessen Taste ist. Wie bei Humboldt, wo das, was der Text über die Übersetzung sagt, auf ihn selbst als Übersetzung anwendbar ist. Grundlegend ist es das Zeigen als ein phänomenaler Vorgang, der, wie in Müllers Atemschaukel, wie in Winklers Katzensilberkranz in der Henselstraße, wie in Hölderlins Hälfte des Lebens und nicht nur in den Kindern der Toten von Elfriede Jelinek, die Dinge als Wort, als Baustein mit eigenem semantischen Gewicht nimmt, und es darüber hinaus mit anderen in die andere Art des Zusammenhangs setzt. Fühlen, Denken und Sagen durchdringen sich dabei, und die Durchdringung findet zwar im Einzelnen statt, aber sie zeigt sich auf der Bühne des Blattes oder des Schirms, und wird so zum gemeinsamen Gegenstand der Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeit, medial vermittelt als Schrift oder Laut, der auch den Sinn gebiert, das nicht nur so nebenbei. Also noch einmal: 0 Verwandlung wäre der Vorgang — in einer Welt der Dinge plötzlich so etwas wie den Geist verdinglichen und das Ding ins Substantielle zu bewegen. Das wäre eine Verführung, die nach gegenseitigen Beziehungen verlangt, das Aufgehen dieser in der jener, um von dort aus neu hervorgebracht zu werden, begreifbar zu werden. Was nicht heißt, dass in Klagenfurt nach der Rede Winklers eine Bibliothek vorhanden war, aber der von ihm ins Leben gesetzte Gedanke ist so etwas wie ein tat-sachlicher Bau eines Bildes, das vor mir erscheint und zum Betreten einlädt, fordert, vielleicht sogar zwingt. Und ich denke, da bin ich nicht alleine, wenn ich behaupte, diesen Bau betreten zu haben, Kärtchen für Kärtchen, Bit für Bit, der Katalog öffnet sich, Kinder holen die Bücher, die Augen gehen auf! Hoffentlich, hoffentlich: erblicken wir darin das Gesagte als Gesang und hören es als Schauen.

Elke Erb und die Ungarn in Wien und ich und die Sprache

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Bei Elke Erb ist Sinn in Bewegung, ihre Gedichte schreiten, sie haften nicht an den Wörtern, sie bilden sich zu Einheiten zusammen, die innerhalb ihrer durchkreuzt werden in semantischer wie auch bildlicher Art, die nie surreal wird oder ins Phantastische abhebt, sondern die andere Kreuzung will, aber nicht den Schnittpunkt sucht, um zu generieren, das neue Feste, sondern die Möglichkeit, für sich, uns, die für die Lesenden auch, zu eröffnen, die Weiche in jene oder in diese Richtung stellen zu können, was auch und vor allem ein Sich-Stellen bedeutet, nämlich ein Sich-Stellen in den Text und ein Sich-Bewegen lassen im Text und mit dem Text, quer durch die Möglichkeiten der ebenen, der sprachlichen, aber auch diese nie nur allein, das Spiel, das momentane, der zündende Funken, der es entfacht, oder in die Möglichkeiten einer Welt der empirischen Erfahrung, welche wäre das nicht, die nicht als Ganzes wahrnehmbar ist, aber immer als solche empfunden wird und Macht wie Ohnmacht aufkommen lässt, im Individuellen wie im Kollektiven, aber immer ins Eigene des Einzelnen zurückgeworfen auszudeuten ist, auszuhalten in Lust wie in Leid, das ist eigentlich das Hauptaugenmerk, das sich bei Elke Erb, in Ummerken des Augenblicklichen ins Mögliche, verschiebt, von diesen Verschiebungen werden wir nun hören, es sind Erweiterungen des avantgardistischen Ansatzes, weil sie die Regel oder das Programm unterlaufen, oder frei halten, schwebend gleichsam, aber immer in Bezug zum Boden sozuzeigen, darüber dann zu sprechen, das wird schön, aber nicht einfach, und so soll es sein bitte Elke.

Zu Peter Waterhouse

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Ich gehe nicht vom Titel aus, ich gehe ihm zu, so, wie er dem Autor gekommen sein mag, nicht nachgesetzt, auch nicht davon ausgehend, für mich aus der Lektüre sich herausbildend, ich empfinde ihn deshalb nicht weniger rätselhaft, aber für mich erschließt er sich ständig neu. Ich erfahre nicht definitiv, was Welt ist, ich entwickle sie und mich mit ihr und mit dem Text, und zwar so: die Welt, die kriege ich, es ist ein Kriegen. Und so ist das Krieg in Krieg und Welt für mich ein Aufruf, wahrlich kein Appell, eher ein Zuruf, der aus dem tiefen Frieden der Suche nach einer übersetzbaren Welt und nicht nur des kriegerischen Widerstands gegen sie als vorgesetzte kommt. Die Welt kriegen: Den Ort? Das Dorf? Die Stadt? Den Erdteil? Ja und Nein, aber sie werden nicht verschenkt, sie werden mir geschenkt. Als Raum, den zu betreten ermöglicht wird durch die Schichtung des Romans aus Natur, Wort, Mensch, Wort, Menschen, Sätzen: Aus Kind. Vater. Kinder. Mutter. Ihr Ort, ihre Natur, ihre Erdteile: sie tauchen auf, aus diesen Schichten der Wörter und Sätze, sie bilden Täler und Gebirge aus Sprache, die des Erzählers und die des Erzählenden, des bestimmt Unbestimmten — das alle Orte des Beschreibenden und Beschriebenen miterzeugt, dessen Mutter und Vater ist, und dessen Kind. Was ist das bestimmt Unbestimmte? Es ist das Leben der Gegenwart zwischen Gedächtnis des Zukünftigen und Entwurf des Vergangenen, das seine Modelle aus Sprache aufbaut und abwirft wie der Reiter sein Sattelzeug: Er findet sie unter den Hufen nicht nur wieder, diese berittenen Kontinente zwischen Ich und Du, dem da drinnen und dem da draußen, er erfindet sie auch, für sich und für uns, für die Leser, die Mitgaloppierenden, die Schauenden, bescheiden gemacht, aber doch auch hoch am Ross gehalten von den Wünschen und ihren Umsetzungen der Poesie. Der Reiter, der Erzähler, er wünscht, und vielleicht ist es sein eigenes Wünschen, dass wir das kriegen, was er erfährt: das Schauen! Für mich ist Schauen DAS Wort des Romans, der poetologische Schlüssel, der die dichterische Hölle öffnet und das gesellschaftliche Himmelreich, auch, darin und daraus und beides ineinander verzahnt. Das Schauen kriegen: Es ist der umgekehrte Krieg, der zwischen den Fronten des Blicks und der Schrift, das sich dann darin, in den Zeilen, den Wörtern ergibt: aber als geschriebenes Murmeln und Rauschen, es ist die dritte Gestalt, die aus Vater und Sohn, die, über die Mutter zu der des Kindes und der Kinder wird, also zu jener leiblichen der Kinder wie zu jener mündlichen der Schrift, in der Rede des Schreibens, der Schreiben und des Schreibenden genauso. Die Sprache: Beginnen wir mit dem Tod. Der Tod ist anwesend. Er ist es als Zitat. Der Sprachmeister, der Sprachvater, der nicht die Muttersprache spricht, wird zitiert, synchron-diachrone Vermittlung wird dabei ins Spiel gebracht, das so auch ein Sprachspiel ist, aber wahrlich nicht nur. Es geht dabei weit über

die Schnittpunkte beider Ebenen der Sprachhistorie hinaus, es geht um beide Betrachtungsweisen in einer: um Geschichte und Geschichte schreiben als eins, das im Schauen Ausdruck findet, das ein Schauen in Wörtern, durch Wörter ist, in Worten, also Sätzen auch, aber vor allem prägnant in der Mündlichkeit des Einzelwortes, das auf Wiederholung setzt, auf das litaneihafte Suggerieren der Welt, die im Summen, in der Melodie, im Rhythmus zu erschauen ist, nicht zu kriegen, um sie zu besitzen, sondern, um in sie einzufließen.

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Das ist die Sprache: Sie ist der Fluss und das Floß zugleich, und ihr Überfluss an Wörtern lässt und macht verstummen, zeigt sich im Stummsein des Vaters, nicht in dem des Sohnes, der dieses Stumme nämlich als Stummen versteht, also im Sinn von Tätigwerden, als leise, kleine Kommunikation, die Mitleiden ist, sprachlos erfahren, aber sinnlich empfunden, nicht ausgelöst durch Furcht und Schrecken, sondern durch Staunen und Schauern des Erinnerns, das auf die Bühne der Gegenwart gehievt wird. Das Gedächtnis der Gegenwart. Schauen war fast Einkleiden und Einhüllen, heißt es, sagt der Erzähler oder der Andere, der im Besitz des dritten Zeichens ist, das nicht binär das Bezeichnete (Ding) und das Bezeichnende (Wort) meint und zur Deckung bringt, sondern ein gleichsam magisches Zeichen der Erweiterung, der Trinität ist — die Vergegenwärtigung des Zeichens im Ding als dessen und seine Kraft, das nicht nur dessen Natur bezeichnet, sondern Teil dieser Natur wird. Formales (das Bezeichnende) und inhaltliches Element (das bezeichnete Ding) werden durch die Konjunktur der beiden zu jenem dritten Element. Die imaginierte Ähnlichkeit wird zur verbindenden Ähnlichkeit. Der reine Blick und der reine Gegenstand umgeformt, wie etwa Vergangenheit und Zukunft, Erinnern und Vergessen, Vater und Sohn, Mutter und Kinder, Name und Handlung, Krieg und Welt — sie alle werden mit derart unreiner Sprache versehen zum Schauen, daneben gleich das Schauern lebt, das Erschauern, der Schauder, Kriegen, aber auch der Krieg, der historisch äußere wie der zwischen Denken und Fühlen angesiedelte innere. Die Katharsis durch Erregung wird aber bei Waterhouse zur Anregung, die zu hören ist als Auge, das spricht und als Zunge, die sieht, schmeckt. Das Wissen, es liegt im Schauen, im kindlichen Auge, nicht im Geschichtsbuch der Schule, es ist still als gemeinsames Wissen im Nicht-Geschichtsbuch. Die Negation ist es nicht, auch keine Negation der Negation, es ist die Umwandlung oder Verwandlung des Fertigen, des Definierten, in die Gegenwart wie in die Vergangenheit zugleich, Kindheit war nicht nur, sie darf werden, aber kann sie’s? Ja, im Dagegensetzen zum Vielen das ganz Wenige, das Geringe, zum Beispiel nur eine Lautfolge, die ja ja ja hieß. Das ist wichtig: es heißt nicht ja ja ja, es lautet: ja, ja, ja, das sind keine drei aufeinander folgende Bejahungen, also Bestimmungen, sondern es handelt sich etwas heraus aus dem Laut, ein Lied vielleicht, ein Schlaflied, das geringe, wenige Lied ja ja ja ist es als Name, der kein fester Name ist und der vielleicht aus dem Chine-

Zu Peter Waterhouse

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sischen kommt, aus li, das zu ja sich wandelt, wandert, Mit-nach-Hause kommt. Es ist dann ein In-die-Hand-Nehmen, ein Kaufen als ein Nichts in der Hand haben, das dann zum Mehr-Nichts wird wie weniger Nichts. Und dann wird die Gewalt angesprochen, in jedem Wort steckt sie, winzig, aber sie trennt und thematisiert. Die Trennung ist weniger dominant als die Thematisierung, sie ist verlautet, aber sie lautet, lärmt nicht, dennoch: sie ist nicht still. In der Stille: das Gedächtnis setzt ein, die Erinnerung setzt aus, Erinnern wird zum aktiven Vergessen, das zum Gedenken führt, in einer Minute kann das alles geschehen, passieren. Passion der Stille, Identität der Gegenwart aus li, ja, und der binomischen Formel, das Dreieck schließt sich im Kopf des Herzens. Das Thema an sich wiederum, ist das dritte Zeichen, das Themenlose. Es kann auch das Gewaltige sein, und das sitzt im Vater. Er könnte der Vater aller Dinge werden, wer, der Vater, wäre er nur unterwegs zum wahrlich Themenlosen, das sich zur Reise auswachsen würde, und die ist das Buch, das Vater und Kind gemeinsam schreiben. Einer Reise, die gemacht wurde, um die halbe Welt herum. Und das Kind wird sagen. Ich schreibe ein Buch. Das Buch: Es ist keine Autobiographie, es ist eine Art Biographie, so Waterhouse selbst, von wem, frage ich dann, von der Sprache der Übersetzung zur sinnstiftenden Identität, gibt mir das Buch die Antwort, die eine Einheit ist, von Anfang an, von der aber nicht ausgegangen wird, sondern hingegangen, gesucht aus verschiedenen Perspektiven, die insofern konstant bleibt, als sie sicher in ihren Fragen ist, die aber die Bezüglichkeiten der Sicherheit stiftenden Instanzen, die bis zu den eigenen Wahrnehmungen reichen, in Frage stellen, aber nicht die Möglichkeit oder die Tatsache der Erfahrung und Empfindung an sich, besser: in sich. Das Buch schreibt sich dann als die Empfindungen wahrnehmendes und die Wahrnehmung empfindendes Lebensbuch zusammen — weiteste Verdichtung, dichteste Zerstreuung sagte Blanchot über das kommende Buch, das ist kein Widerspruch, weil die Vorgänge der Ballung und Auflösung eine Gesetzmäßigkeit findet, die in der übergleitenden Strömung liegt, die ein Fluss sein kann, die March, die ein Wort sein kann, die March, die ein Name sein kann, die March, die ein Kapitel sein kann, die March. Es braucht keine Fährmänner, Autoren, sondern Sänger, denn durch das Schauen wird die Zukunft nicht nur zu Dörfern, zur Landschaft, nein, sie wird ganz gegenwärtig jetzt zur Melodie der Landschaft, die Zukunft ist Melodie, die ist die Einheit, die keinen Seher oder Visionär oder Zukunftsforscher braucht, sondern den Mund, das Ohr, die Zunge, die Hand, das Herz. Die Bindung: An wen ist sie gebunden diese Melodie? Wer blust denn die trompeit?, frage ich, mit van Hoddis, unschwärmerisch?!

Hier spielt der Begriff der Spuren hinein: Was wirkt wie weiter und vor allem wie finden? Die Spuren und das Finden — sie sind mit der Strömung zusammen zu sehen, sie ergeben ein Feld, das der Bindung an das, wo sich die Spur zeigt, verlässt, es zu verändern hofft, zu wandeln, nicht nur zu verwandeln. Wieso, weil die Größenverhältnisse wortwörtlich genommen werden, weil aus der großen, zu übersetzenden, nein übersetzbar klar scheinenden Lektüre die kleinen Sätze gesucht werden, um sie zu finden und gegen die Schrecksätze zu halten, was bewirkt, dass der Leser, der Autor, dass das Ich, wir auch, klein werden, weil Lesen immer Erfahren ist, aber,

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aber: das Lesen der großen Sätze aus den längst gelesenen Büchern macht nicht groß, sondern klein, überall, auch am Dorfplatz von Ameis — kribbeln dort die Ameisen, oder liegt es am Eis? — was aber zu der Einsicht führt, dass möglicherweise das Große, das sogenannte Große klein ist, und schon wird klein und klein zur gemeinsamen Spur, die ein Finden des Kleinen und des Kleinen ist, das aus der Abwehr, dem Widerstand dem Großen gegenüber herrührt, das übrigens, was das reale Buch, dieses Werk von Waterhouse hier anbelangt, im Gegensatz zu seinem Umfang steht, und wo dennoch, so wiederholend einiges an Methode aufleuchtet, eben ein Aufleuchten ist, das zu keiner alten Abhandlung, sondern zu einer neuen Art der Ab-, oder Umwandlung führt, der Übersetzung, so gesehen und so gesagt, ist diese (Krieg und Welt) ein endloses, nicht abschließbares Werk, und könnte gleichzeitig in einem Kapitel existieren, vielleicht sogar in einem kleinen Satz, ganz groß, ganz groß, wie : Dass das Große klein war, war nicht zu erkennen, sondern die Erkenntnis kam wie von außerhalb der Erkenntnis. Damit schließt sich die Klammer, indem sie sich öffnet, Erkenntnis ist Erkennen wie Schauen nicht der Blick ist. Schauen ist Übersetzen, aber was ist Übersetzen? Es ist, wie bei Humboldt, möglicherweise, die Raumgebung im Buch für die Entwicklung jenes feinen, ungedeuteten Sinns, der in jedem Wort selbst schlummert und der von der Wolkigkeit der Wörter an sich herrührt. Dieses Feld der Unbestimmtheit ist es ja, die in der üblichen Übersetzung von einer fremden in die eigene Sprache am Spiel steht, das heißt aber bei Waterhouse, beim Erzähler, beim Kind, wie deren Grenze erfahren werden kann — so: indem sie der Übersetzer denkt, ausspricht, empfängt und wiedergibt, das ist die Übersetzungsarbeit von (Krieg und Welt), die Klammer, die sich auftut, die Klammer, sie ist die Wolke, die das Wolkige erst ermöglicht, herausbilden hilft: In der eigenen Sprache, vor allem in der des Kindes wird das Wort in einer gewissen Weise wie ein fremdes Wort gebraucht, in den oben genannten Formen des Empfangens und Wiedergebens. Dadurch wird in der eigenen Rede, die den Gebrauch konstituiert wie er deren Bedeutungen, das Fremde in der fremden Sprache in der eigenen Sprache erfahrbar. Und diese FremdErfahrung ist die ureigenste, sie ist die diachron-synchrone, sie ist das Wenige, sie ist die Melodie, sie ist ja ja ja, schlaf schlaf schlaf, wobei schlaf nicht schlaf, sondern nicht schlaf ist und schlaf ist nicht schlaf, aber diese

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Trinität, in der die Wolkigkeit frei gemacht wird, zu schweben, und aus dem ersten Bedeutungsbereich hinauszutreten in den fremden zweiten und eigenen dritten erst, Töne, die schlummern, wie in einem ungespielten Instrument. Es wird also nicht, nur, das beiden Sprachen Gemeinsame übersetzt, sondern das Fremde, das schon in sich selbst die Erfahrung dieses Fremden hat, hinter sich hat oder erst wieder machen muss, darf, kann, um in den Zustand des Verstehens seitens des anderen zu kommen, das gilt für das Englische, das Chinesische, das Deutsche, das Laotische, Birmanische, das Thai, das Vietnamesische, das Malaysische etc. Dieses ganze Album von Sprachen, die dann klein werden, was dann groß in Monotonie erklingt, die aber nicht das Vermehrende des neuen, das die Übersetzung bietet, ist, sondern die Wiederholung als das Fremde, die nichts Vermehrendes ist, sondern eben eine Schöne abendliche Erzählung. In ihr klingt nicht die Äquivalenz des Gesagten aus den Bedeutungshöfen der Sprache, sondern die Differenzen, die Nichtübereinstimmung, die zum Verstehen führen kann, wird. Die Mutter ist die Leserin, die Vorleserin, in der sich die Sprache verbindet als eins, nämlich die sich verweigernde und die sich mitteilende, was sich ja nicht ausschließt, wobei sie sich mit dem Sprachzweifel dem Kind nahe gebracht hat, ihm den Chandosbrief, vorher ebenso lesend, den englischen Brief des Vaters auf Deutsch, vorliest. Themenlosigkeit und Themenlosigkeit verweisen auf das Thema des — Nichts, und das ist das, was sich weniger zeigt, als zeigt, und das wiederum ist das Schöne. In diesem engsten Raum bewegen sich die Inhalte des Romans wie Schleifen, die sich ineinander drehen, und die sich in ihrem Verweisen als verstehende Instanzen ausbilden. Unter KINDERN läuft das, es ist die Unschuld der Schuld, alles zu fühlen, was gesagt wird, was geschrieben wird, es ist eins, dieses Eins ist nicht das Thema, sondern das Geschenk, das Haus, der Park, der Fluss, das Zimmer, mein Name, die stupa, und schon die Stimme des Nachbarn, nicht die Schrift. Und das große Nicht-Thema, das ist der Tod, wir kommen zum Anfang unserer Überlegungen zurück. Der Tod der Mutter, auch er wird gesagt, vom Mädchen, einem der beiden Kinder gesagt — gesagt, gut gesehen, gut gesagt, vorher lebt die Mutter noch im Zimmer des Bruders, und dann erscheint das Gesagte, es zeigt sich als Gesicht im Fenster. Das ist die Bedeutung des Todes als Zeichen des Erscheinens im Nicht-Thema, etwa im Traum oder gar — als Traum. Der Traum hat rhetorische Figuren, die Verschiebung und die Verdichtung, wobei die Verschiebung die Prosa berührt und ihre wesentliche Figur, die Metonymie. Die Verdichtung greift auf die poetische Metapher hin, hier Verknüpfung, Kombination, dort Austausch, Wechsel, Selektion. Die Klammer in (Krieg und Welt) steht auch für die Klammer der beiden Darstellungsfiguren, die eine wird in die andere projiziert und durchgeführt mit Techniken, die keine Methoden sind, sondern analytisch gewonnene Einsichten in den Sprachgebrauch, der die Bildung des Individuums erst mit ermöglicht, und

der im poetischen Sprechen, das aber nicht dichterisch enthoben wirkt, sondern im Anwenden, im Fragen, im Erkennen und nicht in der Frage, in der Erkenntnis besteht, sondern fließt, wandert, strömt.

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Das Übersetzen ist das Schauen während des Sehens von einem Zustand in den anderen, also hin zum außergewöhnlichen Zustand, der über die Sprache mit hervorgebracht wird, fast wie bei Humboldt, wo die Sprache an die Klaviatur des Geistes nicht nur anschlägt, sondern dessen Taste ist. Wie bei Humboldt ist das, was der Text über die Übersetzung sagt, auf ihn selbst als Übersetzung anwendbar. Keine Endgültigkeit, keine vollkommene Entsprechung ist möglich, aber die Einführung des Fremden ins Eigene als sprachverändernde Kraft. So ist Sprache als Kunst, als individuelle Hervorbringung zu sehen, als Sprechen vor allem, das kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia) ist, als ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut als Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Die Totalität dieses Sprechens kann man auch als die Sprache ansehen. Priorität des Sprechens, die bei Humboldt im Widerspruch zur Sprache als zeichenhaft vorgegebene — diesen Widerspruch löst Waterhouse ein, indem er eine Gleichrangigkeit erzeugt, die wechselseitig festlegt und sagt, aufsagt und abschreibt, absagt und aufschreibt etc.

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Die Gruppe als historisches Faktum wird zum Phantom. Auch wenn sie nicht nur konstruiert, ausgedacht ist — in ihrer Historizität stellt sie nichts Anderes dar als Verkürzung. Es liegt mir deshalb am Begriff des wahrlich Anderen mehr als an dem der Gruppe selbst. Mit folgenden kleinen enzyklopädischen Beispielen möchte ich Verbindungen wie Abweichung der unten genannten Autoren aus der Sicht des Schreibenden und Lesenden von heute aufzeigen, mehr andeuten als belegen. O. W. ist der Einzige, der in einer sogenannten, der Wiener Gruppe, dabei war. Aber war diese jene, die wir in den Literaturgeschichten finden? Reinhard Priessnitz gehörte ihr nicht an — aber H. C. Artmann schon? Ja. Und Nein. Friederike Mayröcker ist eine Gruppe in sich. Ernst Jandl war sowieso sich selbst der Fremdeste, also ganz nah, mit der Stimme des Kehlkopfes und der entfremdeten Apparatur aus Zähnen und Kehle. Von dort kommt er aus der Fremde. Anders Albert Drach. Dieser ist der Verwandte Stifters genauso wie der von Lebert — und dennoch von allen der Entfernteste. Trotzdem stehen sie sich nahe wie — andere möglicherweise auch. Aber die hier Genannten weisen Interferenzen, Umarmungen wie brüske Zurückweisungen auf. Von wo aus? Von wem gesehen? Von wem und wie und was bewiesen? Von nichts außer Blickweisen, Lektüreerfahrungen und dem Genuss des Vergleichs, der Zusammenführung wie der Setzung von Differenz. Darum und dann ist der Dichter gefragt: Zu suchen hat er nach der analytischen, intuitiven und wohl auch ein wenig offenbarenden Einsicht. Also:

Z. Punkt Sprache: es exist. ein Sprachmodul gekennzeichnet d. bes. Leistungsfähigkeit Gedächtnis f. Lautkombinationen u. Bindung solcher Kombinationen an L. umgebungen, speziell an Modelle; u. durch Grammatikgedächtnis. Sprache ist für Funktionieren d. Komplikators nicht wesentlich sondern nur förderlich (Sprachausdrücke rufen Modelle u. triggern d. Kalibrierung d. gerufenen L.umgebung. beides muß individuell erlernt werden u. setzt also d. Komplikator bereits voraus) Verstehen ist Macht. Verstehen-Wollen greift die Besitzer der Macht an —  aber wenn der Angreifer, der Autor als Autorität selber die Macht ist? Besitzt er dann sich oder wird er besessen? In der verbesserung von mitteleuropa, roman war Oswald Wiener jedenfalls noch besessen von der Spra-

che als Angelpunkt für Wirklichkeits- und darin involvierter Gesellschaftskritik. In den sechziger Jahren wurde diese Wirklichkeit der verschiedenen Systeme von Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik etc. aus den Angeln gehoben, indem die Tore der Sprache eingerannt werden sollten. Wobei unter Wirklichkeit die richtigen Modelle der Macht einer ideologisch einund ausgerichteten Sprache zu verstehen war. Durch ihre Zertrümmerung hoffte der Autor auf eine individuelle Freilegung, die bis in die tiefsten Fasern der Empfindung und in die tiefsten Kanäle der Wahrnehmung reichen sollte, gegen deren Ablauf es galt anzutreten. Auch in der Form der absoluten Formalisierung einer behavioristisch ausgerichteten Sprachform als Lebensform. Diesen ersten Ansatz zur Synthese hat Oswald Wiener in den siebziger Jahren verstärkt in dem Maß, als er sich von der Kunst und auch der Sprachkritik zurückzog und sein wissenschaftliches Forschen verstärkte. Dieses gilt heute nicht mehr der Sprache, sondern der Untersuchung von Denken und Gedanken, von Bild und Bilden und dessen Verstehen unter einer naturwissenschaftlichen Perspektive. In ihrem Brennpunkt steht der funktionierende Mensch mit seiner oder besser: als erzeugende und akzeptierende Turing-Maschine, die sich in einer Laufumgebung bewegend, ihre Anschlüsse sucht oder selbst erzeugt, nach Regeln, die sie selber als Struktur ist. Ihr Konstrukt i s t der Mensch, egal ob er jetzt als Maschine, Puterweck — der Floppy-Disk-Held des letzten Romans, der in der edlen Tradition der Schund-Romane geschrieben ist — oder eben als Mensch bezeichnet wird: Das Problem ist nicht der Roboter, der dem humanen Menschen alter Prägung gegenübersteht, sondern: ob die Synthese von Bildern zu Gedanken tatsächlich ohne die Sprache, der Fluchtburg des Humanen, zu bewältigen ist? Wenn es stimmt, dass die Sprache bestenfalls Anstoß, Modul im genochemischen Ablauf des Verstehens ist, dann hört ihre Macht zwar auf, sie m a c h t keine Gewalt mehr, doch eine andere, absolute herrscht. Aber welche? Ernst Jandls Gedicht von leuchten stellt diese Frage. Anders als Wiener. Anders als andere Gedichte von Jandl. von leuchten ist ein dunkles Gedicht. Die Beziehung zwischen dem Subjekt und der es bezeichnenden und bestimmenden Sprache ist aus den Fugen. Weit über die Materialdemonstration von Sprache hinaus ist es in der von Jandl entfleischten heruntergekommenen sprachen verfasst. In einer Sprache, die von außen kommt, wird der durch sie ausgelöste Entfremdungsprozess auf mehreren Ebenen sichtbar gemacht. Sie selbst stellt Entfremdung für jene dar, die der eigentlichen Sprache nicht mächtig sind, und sie wirkt befremdlich auf den Leser, der im Gedicht auf diese Sprache stößt, als letztmöglicher Ausdruck der wiederum dichterischen Entfremdung. Jandl bugsiert sie zwischen die dichterische Nullsituation der Leere am Blatt und der inneren Erfahrung dieser Leere, die auch wir zu durchlaufen haben. Die oktroyierte Redeweise einer Sprache des sozialen Randes wird zum poetischen Gestus der Reduktion und Erweiterung zugleich. Die Nullschrumpfung des Schriftstellers hat nämlich allgemeinen Erfahrungswert. Dieser fesselt und befreit Dichter wie Leser in der gemeinsamen Textarbeit. Durch die direkte Anrede mit der grammatikalischen Figur des du ruft Jandl sich selbst und den Leser an, aber diese An-

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rufung gegen die herrschende Schrift ist defekt. Fehlerhaft rauscht sie durch das Gedicht in ein Wissen außerhalb vorgegebener Normen, die abgearbeitet, unterlaufen und dadurch als eigene aufgebaut werden: wort-sachliche Mimesis, die, über die Widerspiegelung hinaus, mit übernommenen Sprachformen neue Wirklichkeiten generiert. Die Infinitiv-Partizip-Konstruktion setzt die Sprache auf ihren tiefsten Stand. Dennoch wirkt dieser Stand im Gedicht schön, weil er metrisch organisiert ist, phonetisch rhythmisiert. Jandl widerlegt und bestätigt sich zugleich — es gibt keine Alternative zur Sprache: außer die der Umordnung im Gedicht. Die führt er durch — vom ersten bis zum letzten Wort atmet der Leser in der von Jandl aufgebauten geistigen Logik, die auf diesem Atem schwebt, vom wenn bis zum ein- und erlösenden dann. Dennoch wirkt der Schock, in der Poesie auf diese Sprache so unvermittelt gestoßen zu werden, gewaltig. Aber die Jandlsche Form seiner unerbittlichen Gesellschaftsdiagnose ermöglicht Abfuhr der Gewalt — bei ihm hervorgestoßen, gesungen, aber niemals wesentlich gebrüllt. Denn genau dieses heile Wesen der Sprachbrüller seziert er an einem Körper, der sich seiner Identität längst entraubt weiß — mit allen Mitteln, die der Dichter zur Verfügung hat, nie mit anderen, protzig herbeigeholten, die im Gedicht nichts verloren hätten: nicht mit philosophischen, theologischen, anthropologischen, psychologischen. Jandl sagt selbst, was er mit von leuchten bezweckt: es sein ein demonstrieren, ein es zeigen — wie weit es gekommen ist mit der Sprache und mit uns. Das Paradoxe daran: Mit sprachlichen Mitteln hört, notiert und transformiert Jandl die Welt in sein Modell und, in diesem enthalten, die genannten Institutionen der Gesellschaft: die des Wissens, der Religion, des Leiblichen — die ebendieser von ihnen traktierte Leib nicht mehr erträgt, so dass er abhebt am Ende, dort zu sich kommt, wo wieder ein Ganzes aus Geist und Körper, jenseits der Sprache möglich scheint: ein Aas zwar, aber leuchtend und davon schwebend. Auch wenn uns alles abhanden gekommen ist, der letzte Zipfel an Identität, an dichterischem wie allgemein sprachlichem Vermögen, jede Methode, jede Technik, jeder Satz, ja die Möglichkeit der Satzbildung und sogar das dazu notwendige Wort: Gerade darin liegt die Möglichkeit der Neubildung. Nicht nur deshalb ist Ernst Jandls Gedicht von leuchten ein erhellendes Gedicht. Ernst Jandl, der derbe Dichter, kann auch ganz anders sein — feinfühlig, zerbrechlich, aus Glas. Auch im Gedicht — so, wie Mozart, der Komponist in der Musik. In Mozarts Briefen und Wortspielen aber drehen sich die Verhältnisse um. In einem Brief Mozarts an dessen Vater aus dem Jahr 1772 schreibt der Komponist über ein von ihm vollendetes Klavierkonzert, dass dieses gleichsam für zwei Ohren geschrieben sei: für das sogenannte einfache des Nichtkenners, der damit zufrieden ist, ohne zu wissen, warum. Und für das fachlich ausgewiesene des Kenners, der auch allein seine Satisfaktion erhalten kann. Mozart komponiert also auf der Höhe des Ganzen, zwischen zu schwer und zu leicht, so wie Jandl seine Gedichte komponiert. Der Zugang zum Verstehen ihrer Werke mag für den einen unmittelbar möglich sein, für den an-

deren auf Umwegen des Hineinarbeitens — der Grad des Verstehens aber, der auf den Kern zustrebt und gleichsam diesen Kern erschafft, ist gleich: angenehm in den Ohren, natürlich ohne in das Leere zu fallen.

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Der Grad des Genusses hängt vom Machen und Mitmachen ab. Dieses Machen, Mozarts Nachsingen der Fiaker, das hat Jandl für die Wirkung seiner Gedichte stets betont. Bei Jandl ist es eine Praxis, die mehrere Komponenten des Dichtens, ja eigentlich alle möglichen, stets im Auge hat. Und von der Stimme herrührt, die mehr ist als Materialisation von Gefühlsausbruch und Stimmung. Regungen der Wut, der Trauer, der Freude, des Glücks — diese Empfindungen schleichen sich als emotive Funktionsträger gleichsam auf Umwegen gemeinsam mit den kognitiven, den Repräsentanten des Gegenstandes, in das Gedicht und weisen es im Zusammenspiel aller Funktionen als Ganzes aus. Dieses ist ein Hervorbringen im ursprünglichsten Sinn: eines des Volksliedes genauso wie eines der methodischst durchgearbeiteten Poesie. Roman Jakobson hat in seinen linguistischen Untersuchungen zur Poetik gezeigt, wie nah sich Volkslied und Dichtung etwa eines Chlebnikov sind. Höchste Natürlichkeit hier, höchste Künstlichkeit dort — aber: Hie wie dort kommt und läuft sich die Poetizität der Formen auf das gleiche hinaus. Es gibt sprachliche Gesetze, Konstanten, Dominanten, die der Volkslieddichter gleichsam unbewusst kreativ anwendet, um mündlich zu überliefern, was er in die Welt setzt, noch dazu etwas, was schon vor ihm in der Welt war. Und es gibt auf der Seite von Chlebnikov sprachliche Gesetze, die der Dichter der Sternensprache bewusst anwendet. Einem kompositorischen Ordnungsprinzip nach, das er sich vorher festgelegt hat, modellhaft einer mathematischen Reihe folgend: um diese Festlegung voll auszuschöpfen, möglicherweise zu übertreffen oder zu unterlaufen. Das machten — Poesie rührt vom altgriechischen Machen, Hervorbringen her, im Chinesischen bedeutet Poesie auch Absicht, Zweck — Mozart, Chlebnikov und Ernst Jandl. Das, was ich als Gleichzeitigkeit des ganzen Blicks während des Arbeitens nennen möchte — auf alle gleichzeitig anwesenden, einander dienenden wie widersprechenden Strukturen und Funktionen des geschichteten Werkes gerichtet, dennoch mit Schärfe der Aussparung oder Konzentration auf das allerkleinste Detail versehen: Bloß ein anderer Konsonant oder ein Vokal ändert die Bedeutung und verschiebt, ja kippt den Sinn in ein anderes semantisches Feld. Dieses neu zu erkennen, gewährleisten die Gedichte Jandls: als Lautgedicht, als Sprechgedicht, als verdichtetste Komplexe von Realitäten. Das, was Mimesis heißen könnte, legen sie neu fest und holen die Abbildung oder Nachbildung dessen, was in der sogenannten Realität draußen passiert ins Innere des Dichters herein. Dort unterziehen sie es der mimetischen Umbildung, die dann durch die Handgriffe der Rhetorik (Alliteration, Reim, Rhythmus, Parallelismus) oder anderer traditioneller Mittel, jenes Detail zum Klingen oder zum Ansehen bringen, das stets das Ganze der Erfahrung ist, der Kern, den wir fürchten und den wir begehren.

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Es ist diese Verstrickung der eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen in das Gehörte und Gelesene, das die Gedichte Jandls auslösen und zum Verlangen des Selbermachens führen. Ein Effekt der Katharsis wie einer des Erkenntnisgewinns. Einer, der aus dem Nichts und dem Alles kommt, und der sich immer während der Lektüre und der Rezeption von Gedichten und Kunstwerken abspielt: Zwischen dem Öffnen und Schließen des Mundes (1985), und (!) der sich dazwischenschiebenden Sprache. Einer Sprache, mit der laut Jandl alles möglich ist, was der Dichter mit ihr möglich machen will und muss. Denn Dichtung einer Zeit ist eingebettet in die Sprache dieser Zeit und deren semiotisches und ideologisches System. Aber: Wer bestimmt dieses System in Bezug auf die dichterische Freiheit, wer entscheidet, was es und sie zulässt. Irgendetwas im Dichter selbst, das gleichsam mit oder gegen oder unter oder über der Sprache arbeitet, schwebt oder wühlt. Also: Wer hat gesagt: Das Herzzerreissende der Dinge, um später im Schatten der Empfindung schreibend, noch einmal zu fragen: Wer hat das gesagt? Friederike Mayröcker hat das gefragt, aber wer das gesagt hat, bleibt die Frage. Wer es geschrieben hat, ist beantwortet: die Dichterin Mayröcker. Aber diese Festlegung auf eine Person, auf die Autorin genügt nicht. Denn Friederike Mayröcker hat als Dichterin zitiert und dann gefragt, wobei ihre Frage nicht der Bereicherung des Zitatenschatzes galt, sondern die entscheidenden Momente ihres Schreibens berührte: Wer sagt? Wer schreibt? Wer hört? Wer sieht? Freud sagte über die Melancholie, dass diese dort entstehe, wo der Schatten des Objekts auf das Ich fällt. Aber Mayröcker zitiert weder Freud noch andere, um zu belegen oder die Werke der Zitierten zu deuten. Sie schreibt die aus dem Anderen der Personen und Dinge kommenden Wörter, Sätze und Zeichen in sich ein, dass es ihr — und uns Lesern — das Herz dabei zerreißen könnte bei all diesen Paraden der Empfindungen. Diese marschieren im Text und vor dem Leserauge auf — ohne Paradeschritt, aber dennoch geordnet, aufgefädelt auf einer Wörter-Schnur, die Mayröckers Text-Kosmos als Bildergewebe umspannt. Ihre Textwelt wird durch eine Bilderwelt aus Worten gebildet, die sie in der Auseinandersetzung des von ihr Gesehenen und Gehörten erzeugt. Erzeugen heißt bei Mayröcker auch Fragen nach dem Gesagten und dem Sagen an sich — und dies im Schreiben. Das Schreiben, der Text, wächst im Fragen über sich selbst zum nie aufhörenden Werk, in dem die Suche nach den Darstellungsformen jener Bilder, die aus den Wörtern kommen, im Vordergrund steht. Die Suche allerdings rührt aus einer tiefen inneren Erfahrung der Spaltung zwischen Inhalts- und Ausdrucksformen her — nicht nur in der Literatur, aber dort speziell. Mayröcker ist demnach nicht melancholisch im Sinne Freuds. Ihr Ich wird nicht vom Schatten der Objekte überlappt. Sie sucht als

Dichterin nach den möglichen Formen von Beschreibungen der Empfindungen, Wahrnehmungen und Dinge, und nicht nach diesen im eigentlichen Sinn selbst. Denn was wäre dieser eigentliche, aufklärerische Sinn der Dinge und vor allem ihrer Bezeichnungen — gerade bei Friederike Mayröcker, die aufgebrochen war, die Zerstörung der Dinge und ihrer Erscheinungen nach dem Tod durch Musen aufzuheben mit den Mitteln einer neuen, den alten Sinn umkehrenden Poetik?! Wenn sie in einem Schattenreich arbeitet, dann in jenem dieses überlieferten Sinns, der für sie weder in den geeichten Bedeutungen, noch in den von diesen gekerbten eigenen Empfindungen niedergelegt ist.

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Mayröcker ist für mich die Dichterin der Schrift, und das bedeutet auf ihr Werk bezogen keinen Widerspruch. Der Gesang, das singende Sprechen — als Kennzeichen des Dichterischen — findet bei ihr in der Schrift statt. Auf dem Grat der Schrift erfahre ich seine Differenz von Zeichen und Gesprochenem nicht mehr als Verlust. Ich begreife das Geschriebene und von Mayröcker ständig neu Erschriebene als tönendes Leitseil, um das ich meine Bilder anhand ihrer Wörter knüpfe, die ich dadurch um-zu-verstehen lerne. Um Mayröcker zu verstehen, muss ich einen Weg finden, mich nicht im alten Sinn zu begreifen. Ich brauche nicht in den herkömmlichen Verstehensmustern zu weben und das Korsettjäckchen des konventionellen Sinns anzulegen. Es scheint bei ihr zu genügen, an der Oberfläche der Graphen zu wandern, die Druckerschwärze entlang von einem Wort zum nächsten. Nicht schwerfällig von altem Sinn zu Sinn, sondern leichtfüßig und vom neuen Sinn zum anderen. Dieser Sinn besteht als einzelner und gesamter nie. Ihre Schrift repräsentiert nicht das gesprochene Wort, sondern hebt den manifesten Ausdruck in das Latente seines Gedankens. So entsteht ein Manifest des Offenen, das nichts festlegt, eine Schrift die lesbar und sprechbar ist, ja erst durch mein Lesen und Sprechen zu dieser, auch der ihren wird. Denn mit den Zügen der Schrift changiert auch Mayröckers Ich — als Text, als Auto-Bio-Graphie, die summarische Beziehungen eingeht zwischen ihren fließenden Teilen, den Büchern, den Kapiteln in den Büchern, den Sätzen in den Kapiteln und den Wörtern in den Sätzen. Diesen voran aber gehen die Bilder und folgen den durch sie geformten Worten sofort wieder nach: Mayröcker spricht selbst von der AUGENERFAHRUNG, die Einfluss gefunden hat, ins FLUIDUM DER SPRACHE. Ihre radikale, obsessive Suche nach einem dieser AUGENERFAHRUNG adäquaten Ausdruck wiegt sich in Sanftheit der Aussagen-Verkettungen, die in ihren einprägsamen Wort-Bildern zu Sinn-Kaskaden erstreckt werden. Als ganze sind diese nie einholbar.

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Wuchernd verweigern sie sich dem Sinn und dem mit ihm identifizierten Verstehen, das nicht über die einzelnen Bedeutungen summierbar ist. Das Kalkül der Dichterin, unbewusst bewegt von inneren Sprach-Dynamismen, angeworfen durch von außen hereinbrechende, als Fund zugelassene Bilder und Wörter, geht im unkalkulierbaren Endergebnis — dem Text, dem Buch auf. Dieser Text beginnt nicht und endet nicht als Geschichte. Es kann in Friederike Mayröckers Arbeiten zu keinem Ende kommen, weil die Story oder der Plot nie eingesetzt hat. Mayröcker, und das ist vielleicht die sich quantitativ auswirkende Schwäche des Kalküls, muss schreiben. War Sokrates derjenige, der nicht schrieb, so ist Mayröcker diejenige, die schreibt. Doch sind wir dankbar. Wenn die Autorin schreiben muss, dann können wir lesen, hören, sehen und — Mit-Entwerfen! Wir Leser werden zu Mitkonstrukteuren, die Mayröckers Wörter-Bilder in eigene Bewusstseins-Bilder umgestalten. Was allerdings hinter diese Umgestaltungswut zurückbleiben muss, ist der poetisch-ästhetische Bau im Sinn einer Erkenntnisarbeit, die auch von formalen Vorgaben weg ihren Sinn erzeugt. Selbst Mayröckers Gedichte sind Bilder-Splitter-Reihen, die nicht aus dem Prinzip der formalen Komposition heraus leben, aber dazu auch gar nicht geneigt sind. Aber vielleicht ist es weniger die Unlust, eine formal gezähmte systemvisionäre Poetik aufzubauen, als Bescheidenheit: Mayröckers Poetik kennzeichnet eine höfliche Radikalität. Diese Radikalität spielt und spinnt sich auch in der Grammatik ab und fort. Infinitiv und Konjunktiv bestimmen das Textbild — optisch-graphisch wie inhaltlich. Pronomina behaupten sich als Träger der Handlung — keine Sätze der Beschreibung bauen Szenerien oder Storys auf, sondern die Wörter und Bilder machen Sätze — vom Bewusstseinsbild zum Wortbewusstsein und weiter. Als Wortbild sinken sie neu ins Bewusstsein — traumhaft sanft oder tagträumerisch bewegt von eindringenden Boten aus Zeichen, Wörtern, Sätzen, Anrufen, Briefen, zugeflogenen und notierten Ausdrücken rund um das Ohr herum. Wer hat das gesagt? Schnitte wie im Film erfahren ihre sprachliche Umsetzung durch Bildwechsel, die oft auch auf dem Prinzip der Wortverwechslung beruht. Ähnlichkeiten in der Lautgebung, Auslassen eines Buchstabens, etymologische Über-Setzung verhindern einen Anfang und ein Ende der Texte, der aus dem Bewusstseinsstrom wort- und bildhaft daherströmt. In den Fluss der Bilder allerdings steigt man kein zweites Mal — die Bilder wiederholen sich nie, wenn auch die Methode der Mischung aller Genres gleich bleibt und man oft den Eindruck hat, dass einem das alles schon bekannt vorkäme, dass man das alles schon irgendwo gehört hat — aber darauf so nicht geachtet und es damit nicht so interpretiert, also verstanden hatte. Denn wie kann etwas gleich bleiben, das stets auf Veränderung setzt, ja die Veränderung, aus der es kommt, rückwirkend noch einmal

bewirkt?! Friederike Mayröckers vom Lebens-Schreiben unterliegt dadurch dem steten Wandel zum Leben durchs Schreiben selbst. In diesem ist sie Frau, Dichterin, die sich als Schriftstellerin behauptet und konsequent bestrebt ist, nichts Anderes zu sein, keinen anderen Status zu erlangen. Und das ist wohl das Schwierigste im sozialen Feld der Literatur. Friederike Mayröcker bleibt jene Förderin, jene Vertraute und Unantastbare des Poetischen, die in ihrer Zurückgenommenheit so etwas wie die Quelle des künstlerischen Widerstands bildet für uns alle.

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So wie das Werk, die vierundvierzig gedichte von Reinhard Priessnitz:

entwachung wenn das sehen könnte, wie das beobachten wünschte, weil das schauen möchte, dass das starren tät. Eine Mischung der Haltungen von Arno Schmidt, Oswald Wiener, Friederike Mayröcker und den anderen und der Moderne schlechthin ohne postmodernen Gestus, im Gegenteil: Das Gedicht kehrt zurück, nach dem Text, der Montage, der Konstellation. Es ist ein Gemachtes, das aus dem Gemachten kommt und in dieses — als nächstes zu Machendes — zurückkehrt. Die Bedingungen werden stets mitgedichtet, die Reflexion ist Bestandteil des wortwörtlichen Gedankengangs, der nie unter die leerlaufenden Räder der Sprache kommt. Ein Prozess, der andere, aber nicht weniger tiefgreifend körperlich wie geistig und somit verrückend erschütternd:

mund – lage? – nebel! – leben? – egal!

P. S. : Eine ganz andere Art von Widerstand, literarisch wie im Leben, gab ein Autor ab, der erst spät in das eigenartige Bewusstsein dieser noch eigenartigeren Öffentlichkeit drang:

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Hans Lebert beschreibt äußere Zustände der Gesellschaft als innere Landschaften der Helden, ohne in Vergleiche oder symbolische Synchronizität zu trudeln. Das Echo der schleichenden Gewalt in den unterirdischen Gängen der Macht ist Widerhall in der eigenen Brust. Auf einem HandlungsTableau führt er fixe Beschreibungsmuster zu Sprach-Bildern zusammen, die allerdings nicht wild ineinander wuchern. Lebert versteht es, sie auf einer syntaktisch gesteuerten Achse der Zeit voneinander getrennt zu halten. Dadurch wird das natürlich-expressive Element künstlich und das modellhaft-impressionistische erhält die klaren Konturen einer metaphernlosen, realistisch wirkenden Sprache. Diese nimmt sich den Faschismus vor, ist aber keine nachschrift, sondern spricht in erzählten und erfundenen Dialogen und zeigt die Nachwirkungen des Nationalsozialismus — im inneren Österreich der Helden. Dort führt der Autor vor, dass dieses nie existierte, sondern basislos aufgestockt war, von fixen Sprach- und Verhaltensnormen — in der Wolfshaut des Helden am Land genauso wie im Feuerkreis der Stadt. Diese Normen weisen die heldischen Menschen als typisch österreichisch aus, das heißt: sie dokumentieren deren Herkunft aus dem Niemandsland. In diesem herrscht der Faschismus nach — wie jener vor und während Hitler. Seine Zeit geht weiter: im Einzelnen, in der Gemeinschaft, im Dorf, in der Stadt, in der Architektur, in der Landschaft, in der Sprache — auch wenn geschwiegen wird, dann im Gestus, im Körper, in der Haltung. Leberts Held ist ein stiller, sprachverschlossener Einzelgänger, der alles zu wissen scheint und — da dieses aus nicht entflechtbaren Einzelfällen besteht — daran zu ersticken droht. Dennoch rollt er alles auf wie Django im Film:

Unmittelbar darauf überfiel ihn die Nacht. Das heißt, sie war schon dagewesen, vielleicht schon seit jeher. … Er, dessen Augen sich nach und nach an das Dunkel gewöhnten, gewahrte den Weg als helleren Streifen inmitten der Schwärze, inmitten der wattigen, fest ineinandergewachsenen Massen von Erde und Himmel, die zwar hie und da für einen Augenblick Gestalt annahmen, auch ab und zu an irgendetwas erinnerten, im allgemeinen aber unerkennbar blieben. „Was ist das dort vorn für ein schwarzer Koloß?“ fragte Hilde. Er zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich der Reichsmarschall Göring … Wir haben ihn verbrannt. Jetzt ist er schwarz; jetzt trägt er Trauer.“ „Und seine Asche habt ihr in den Wind gestreut, so war es doch.“ „So war es. Sie kommt jetzt da und dort als radioaktiver Staub herunter.” „Und ballt sich zusammen.” „Zu einem fin­steren Klumpen.” „Hier auf der Alm.” „In der ganzen österreichischen Provinz.” Drach seziert die Zeit: Sie ist keine für Mädeln, sie ist aber eine der Untersuchung an Mädeln. Mit seiner erschwerten Sprache, der protokollierenden Schreibweise, dringt Drach jedoch nicht in den gesellschaftlichen Körper der Sprache und ihrer Träger ein. In jenen der Mädeln schon gar nicht. Drach ist kein Pornograph. Er befiehlt nicht, er gibt die Wörter der Anleitung nicht preis. Er zeigt nur jene, die unter der Fuchtel dieser Anleitungen stehen. Er ist kein Chirurg. Als Autor hebt er die Distanz zum Objekt (des Leibes) nicht auf. Er wühlt nicht in der ­Sache, sondern arbeitet mit der Pinzette im Sachverhalt. Mit Greifarmen hinter Glas meiden seine Seziergeräte der

Syntax und Grammatik das Blut des Expressiven, aber keineswegs die inhaltlichen Schnitte. Diese hält er sichtbar. Er überzieht die zu analysierenden Körper mit ihnen, kleine Risse werden frei, die zur Struktur zusammenwachsen: Markierungsstellen, die sich zu Protokollen des Darunterliegenden verzweigen, ohne ein falsch gewachsenes Ganzes zu ergeben. Keine Freisetzung erfolgt, keine Katharsis durch künstliche Metaphorik (wie bei Lebert). Es handelt sich auch um keine Details, um keine Großaufnahmen. Es zeigt das pervers sozialisierte Netz, das über die Mädeln geworfen wird, indem er nachknüpfen lässt. Seine Logik ist nachvollziehbar, aber man steht ihr machtlos gegenüber, weil sie als gedanklich-sprach­liche Regel herrscht. Sprache macht Gewalt — durch die Kälte einer entsymbolisierten Logik, die kein leidendes oder leidenmachendes Subjekt vertritt, nicht einmal symbolisiert. Drach führt vor, wie dieses, jenes der Mädeln, in der Geschichte hoffnungslos verkommt. Aber dieses Hoffnungslose ist nicht ausweglos. Es gibt den Weg innerhalb der Verzweigung, auf dem sich das Subjekt der Zeit und ihren Chirurgen zu entziehen vermag. Es muss den Weg dazwischen finden, jenen der ZwischenZeit, darin eigene Risse ritzen, um sich den Eingriffen der anderen zu entziehen. Das ist das Dilemma, das Drach sprachlich zu zeigen imstande ist — die Avantgarde hat dies anders gelöst: Die Vergewaltigung durch die Macht zwingt zur Entwicklung und Anwendung von Gegenstrategien, die, regelhaft wie die Mechanismen der unterdrückenden Gegenseite, wegführen vom hoffnungslosen Versuch der Wiedereingliederung des vergewaltigten Ichs. Es bedarf keiner Identität und Authentizität durch nachgeholte Sozialisierung, die frei macht von Gewalt an der Gesellschaft, an der Mutter und vor allem am Vergewaltiger — und der Schuld, sie verlassen, verraten und getötet zu haben. Auch wenn es der Wagenheber war, der den Mädchenschänder ins Jenseits gebracht und es Wind gegeben haben s o l l — also nichts Wirkliches, sondern nur der Konjunktiv vorliegt. Es bedarf einer anderen Form, keiner anderen Sprache, um die Sprache der Gewalt zu überwinden. In keiner betulichen Innerlichkeit, sondern in Form von sprachlicher Gegen-Macht. Die baut Drach auf. Die persönliche Schuld war groß, sie wird eingestanden, aber es gibt ein Wissen über die Ursachen, das dem Kiefeln nach den Wirkungen den Kaustoff verwährt. Im Einzelnen sind diese Ursachen nicht zu finden, es gibt kein beispielhaftes Leben: so oder so, gut oder schlecht. Das ist die Wahrheit, die nicht so tut, als hätte sie den Anspruch darauf:

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Schließlich erklärte der Vetter, der sie immer in die geeigneten Stellungen brachte, wenn sie nicht von selbst in solche gelangte, er müsse jetzt mit ihr in körperliche Verbindung treten, auch dies sei für die Photographie notwendig, wenn auch sein Gesicht nicht gezeigt werde. Wiener, Jandl, Mayröcker, Priessnitz und andere Gruppen

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Es ist alles Beginn, Anfang — dort, wo das Gedicht beginnt. Der übliche Text setzt ein Ende, sagt sie, sagst du — Dichterin Elke Erb, Dein Gedicht ist ein, unser Beginnen, sage ich zu dir: Im Gänsesommer mit dem Sachverstand der Crux. Mit Winkelzügen nicht vermuteter aufschlussreicher Verhältnisse: Mensch sein ist Sonanz: Elke Erbs Gedichte beginnen, sie sind da, sie kommen von woher, sie sind da, sie gehen wohin, sie sind da, bleiben, stets gegenwärtig, geistes- wie sinnlich gegenwärtig. Sie werden zu dem Tag, aus dem sie kommen, sie gehen in den Verstand, der sie erzeugt, sie kommen aus dem Buch, das die Welt werden wird und sie fließen in dieses Buch zurück, weil die Welt dazu da ist, um in ein Buch zu münden. Ein Buch aus ihren eigenen und aus den anderer Bücher, aus denen der Freundinnen, aus denen der von ihr Bestaunten, aus denen der von ihr Belauschten, aus denen der sie Überraschenden, aus denen der ihr was Vorgebenden, aus denen der anders als üblich Wohin-Wollenden:

Grußbillett an ChrM lockig. gelockt. gelockte pflanze so lockig, flockig und lockig daß man schaut ob sie zur erde hinab sinnt im sinne von saust. eilt schräg auf teile lückig heile stücke die löcken großväter-blickicht von weiland enkelgehstöcken. nicht stürzen der ohm scherzt köpflings von oben rechts (nämlich nicht ist es wie wolken nicht es sind). drei zonen stöckeln seine äußere welt:

zuoberst — die lüfte tischplatten tische. unter ihr — die unserem gewöhnlichen blick für gewöhnlich erwidernde zone, wie eben jetzt, da in überraschend verklärender morgensonne — ein zitronenfalter einfliegt in das laubwerk, gott gibts, eines hohen holunders. die dritte, die statisch versonnen intakte zone des brennenden dornbuschs etwa — nur im erdinnern denkbar ist sie verläßlich, ehemals ofen: angst lodern hetzen. siehe die großväter ziehen, nicht hänschen, von links untenauf nach rechts obenhin wie von herzen. 13.7.98 Wohin? Dorthin: an den Ort nach dem Sinn und vor dem Sinn in den Sinn. Anders als üblich am Weg, wo der Sinn nicht dessen Ende setzt. Elke Erbs Sinnen ist ein Drängen nach dem Sinn im Beginnen. Am Beginn ihres Schreibens steht noch nichts fest an festem Sinn. Ihr Gedicht holt diesen heim und setzt ihn aus. Auch das Tagebuch ist nicht sein Reservat der Stilllegung, kein Verzeichnis der Abläufe, kein fest verschlossener Speicher. Nein, es bewegt sich, fragt, schüttelt an dem, was es festhält; ein fliegendes Archiv, das somit keines ist, sondern Botschaften aussendet, die es zu entziffern gilt im Erfahren ihres leisen Sprechens als ihre laute Schrift. Auch die Bedeutung dieser Schrift strotzt nicht vor festgelegtem Sinn, festgelegt durch die diesen bildenden und in der Schrift abgebildeten Gesetze des Syntax und Grammatik. Es gibt ihn, ja doch, aber in Elke Erbs Dichtung wird der Sinn aus Sinnen entwickelt, hervorgebracht — in den verschiedensten Feldern der dichterischen Zuneigung, die nie vereinnahmende Aneignung ist. Zueignung, die ist es. Die darin ein- und neu aufgebauten Felder aus Worten und Bildern sind offen und bestimmt zugleich. Sie sind: die Landschaft, die soziale Umgebung,

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das Haus, der Ort, das Land, sie sind aber vor allem: die Menschen, der Mensch aus Menschen. Er, sie, wir werden zusammengesetzt und umgeformt, sind Teil des Geschehens, das ihn, sie und uns umgibt, und das gleichzeitig mitgestaltet, verwirklicht wird durch dichterische Arbeit — eine Technik, eine Methode, die keine nachvollziehbare ist. Auch wenn sie wie in den Sonanzen einer zeitlichen Regel unterworfen wird, — in so und so viel, in fünf Minuten ist das Gedicht entstanden, da, präsent — dann wird diese durchbrochen, unterlaufen, umgeformt durch ein ständig wechselndes Schauen: irritierende Obsessionen lösen sich, hell und schnell, und konturieren in der Überarbeitung existentielle Themen. Ein Ich bildet sich heraus, spontan und konzentriert in einem, das sich festigt durch Wandel. Das Ich der Dichterin, vielleicht, manchmal ist es eines der dritten Person, so in die crux — dort wird Elke Erb zur inneren Nomadin in sich, wird das Prozessuale des Erfahrens und des Schreibens in der Person und im Begriff der Nomadin Gestalt. Ein Wissen entsteht aus der Erfahrung der Mobilität

Man rechnet nicht mit der Nomadin in sich. Aus dieser Vernachlässigung kehrt sie heimlich heim, gibt man sie in Wiese und Holz. Es erscheint ihr, Lyrik zu lesen, im Park besonders vernünftig. Hotels und Wohnungen anderer befremdeln sie nicht: Unterkunft unterwegs. Am eigenen Heim verwirrt, daß es das eigene Heim sein soll, oft bei der Heimkehr. Erst Gewöhnung verwandelt es wieder in eine rohere Art Feld & Flur, als Arbeitsstätte ist es ein ruheloser, von Leere nebenher bejagter Jagdgrund. 9.1.01

Es ist auch unser Wissen, und unser Wesen, unser Da sein, das angefragt wird, un-unter-brochen, um es als Selbst aus Leben und Schreiben zu erkunden, als Auto-Bio-Graphie, in die wir uns mit ein schreiben können — um den Weg zu finden zwischen den Ebenen, die wir sind, nicht den Ausweg aus dem sie umschließenden Käfig, sondern einen Zugang, der die Öffnung mit in sich trägt — dichterisch methodisch gebildet aus Alltagseindrücken, aus LektüreEmpfindungen, aus Ich-Beobachtung, die immer den Blick von außen mitschreibt — dies all in Wort- wie BuchstabenErfahrung — diese inhaltlich immer mit Formentsprechung verbundenen Felder werden von Elke Erb, der Crux des Sachverstands ausgesetzt, um Mensch zu sein, nicht —  wahr? Ja wahr! Die einzige Wahrheit ist für Elke Erb nicht vorgegeben, auch sie wird sein, auch sie wird kommen, durch ihr sich Aushandeln lassen: vor allem durch und in der Sprache, die sie untersucht, aufsucht, heimsucht, erkundet, anwendet — das heißt: immer wieder freigibt in eine Bewegung des Möglichen hinein, wo dann die Wahrheit siedeln könnte. Wolkige Wahrheit:

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So fest wie die Wolke, die dunkle, niederhängend wie schwer: keine Gewähr —  kein Verlaß, nichts kann ich schützen, niemanden trösten, sollte ich, sie sterben, leiden, verreisen, sollte ich die Katze

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vergessen, die Zeichnung. 6.2.05 So erweisen sich die kommunikativen Felder ihrer Dichtung als abstrakt und als real zugleich, als Sprachspiel und Spielsprache, immer in den Gebrauch gesetzt — hinter- und neben- und ineinander:

SEQUENZ Hat sie ein Angesicht an? Laterne am Kleefeld? Biene der fahrende Blick Kiefern und Kiefern im Rücken im Rücken schnürende Füchse Mond Grabenlauf-Laufgraben abermals Raps Lugen nach Sternen Die Mütze Schlaf das schwarze Schaf Ein Hirte Hirte ein Oberstand Zeit wie Heu 28.4.05 Wie konturiert sich die Schreibweise der Dichterin? So: a) In der — Zu(n)eignung: Es ist Wärme, ja Liebe im Umgang mit den Gegenständen, den Menschen, den Wörtern in Elke Erbs Texten spürbar. Nein, mehr, sie sind die Triebkräfte der Bewegung, sie sind so etwas wie die erahnte, aber zurückliegende und dennoch im Vorne des Dichtens auffindbare oder zumindest anzustrebende Utopie. Der Zweifel, der heilige an den Dingen und der unheilige

an der Natur, besteht gewiss wie jener an den sozialen und kommunikativen Verhältnissen: und er ist auf die Menschen bezogen ein behutsamer, ja, ein sie behütender Zweifel, der Möglichkeiten ihrer Freiheit eröffnet, und Deutungen auffächert. Die Feststellungen über einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand (die DDR besetzt auch das Alphabet buchstäblich mit d, d, r) sind bestimmt, aber wenn es um Gertrude Stein geht, dann ist diese, sie, vermutlich etwas Unbestimmtes. Was? Nun die zu erdichtende Konfiguration generiert sich aus dem persönlich erfahrenen Wissen über die Person und ihrem Werk, historisch subjektiv wie leibhaftig objektiv, und aus einem kommenden Wissen, das die Sprache des Gedichts erst erschaffen wird:

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Gertrude Stein Sie ist vermutlich wie sie aussieht eine vernünftige (groß-mütterlich an Männern und zu deren Schulung geschulte) Frau, und ihrem Fußtritt fehlt die Steinfliese nicht und deren mit den anderen Steinfliesen fortgehendes Dasein umher um sie unten. So, meine ich, sind ihre Assoziationen nicht bio-logisch usw. fruchtbarer und förderlicher Art, sondern wie man Schienen legt, Kultivierungen, nicht am Acker verübt, Armierungen, das — kombiniert sie. Und nun nimm die Technik aus dem Bild, behalte Historisches, Moleküle historischer, sozialer (intakter Ge-meinwesen) Substanz, Molekularwirtschaften, nämlich: Aussagefloren, bin eine Häsin, brauche Gras! 30.8.00

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b) Im — JETZT! —  wird ein Wissen erzeugt, es ist nicht, es wird — und stets überprüft anhand der Situation und Konstellation, in der die Dichterin sich gerade befindet, das überlieferte Gedächtniswissen wird durch momentane Erfahrung unterlaufen, um zu einem gegenwärtigen aus Sinn und Sinnen zu werden. Ein subkutanes Lebewesen mit Inschriften unter der Haut, deswegen heißt es zunächst, zu vergessen:

GEDÄCHTNISSCHWUND … und n/immer müde vier Hufe taktak über Stock und Stein all diese Zeit kam (EselsEselin) ab, kam mir ab über Stock und Stein anscheinend die (von Geburt an!) (versponnene) Schüchternheit Gedächtnisschwund … und n/immer müde vier Hufe taktak über Stock und Stein all diese Zeit kam (EselsEselin) ab, kam mir ab über Stock und Stein anscheinend die (von Geburt an!) (versponnene) Schüchternheit 3.9.10

Die wahrnehmenden Prozesse laufen innen wie außen, zwischen Geschichte vorne, Entwurf hinten, also paradox gegen-läufig, und das alles in den Momenten einer Sprachsetzung, die sich bewegt, formiert: die ab- und aufbaut eine Welt aus Welten in Welten, großes oft ganz klein, literature mineur, die aber die große ist, fest und schwebend zugleich wie Wolke und Granit:

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GRANIT Dieser Vorrat, der wartende, blickt vor sich hin. Diese Steine, die langen, schweren, sie heißen Stufen, Schwellen — Granit-Stufen, -Schwellen. Übereinander. Sie scheinen zu warten, sie blicken, schaue ich auf sie, abwesend ebenso wie noch erwartend. Sogar wohlweislich! Nehme ich, vom Rad her, wahr, sie harren, anwesend ebenso wie nicht gegenwärtig, so daß meine Augen sie sich vergegenwärtigen, mit einer Andacht, Steine! wie nicht?!

Ich sah sie zum ersten Mal so, (sah sie sofort so, hielt nicht an, stieg nicht ab) vorigen Sommer, auf dem Land, als ich nach dem Gemüse fuhr, und jedesmal dann, wenn ich kam, sah ich hin deswegen und sah’s. Diese Steine, die langen, schweren. Übereinander. Sie scheinen zu warten, sie blicken abwesend ebenso wie noch erwartend.

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Und jetzt, in Berlin, am siebenten März, 4 Uhr nachts: präzis, dasselbe, als lebe es!

Leugne die Niederlage, sie ist & ist nicht, verlasse den Ort, treibe weiter. Nein: weiter wehe! Wie Geist nur. Aus Abraum zündelnd … 7.3.08 c) In der körperlichen Bewegung schreitet der Sinn der Erbschen Gedichte mit, er haftet nicht an den Wörtern, sie bilden sich mit ihm zu sich ständig ändernden Einheiten zusammen, die innerhalb ihrer selbst durchkreuzt werden in semantischer wie auch bildlicher Art. Eine Art des Schreibens, des Erzeugens, die nie surreal wird oder ins kitschig Phantastische abhebt, sondern die andere Kreuzung will, das, was Mandelstam über die Dichtung gesagt hat: Das dichterische Sprechen ist ein gekreuzter Prozess, jener der üblichen Sprache mit jener der poetischen, die wiederum in Klang und Sinn sich zu teilen und neu zu verbinden vermag, ALLEIN IN DER LANDSCHAFT Mandel’štam buchstabieren. Dann hinschaun: Gedichten ins Antlitz. — Ei, Antlitzen ins Gedicht! Und sich selbst Befehle geben. Denn es fehlt eine Zuruf-Menge!

So daß die stummen Anblicke ringsum wie Anreden blicken … 25.6.10

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(a b c … a: Immer wieder werden dabei neue Gegenstände evoziert, in Bezug auf die Gegebenen — die Wörter sind oder Wahrnehmungen oder Empfindungen, eben ganze Wesen, Menschen, natürlich, auch: Mensch sein, nicht heißt es in Gedichten und anderen Tagebuchnotizen von Elke Erb. Gedichte und andere Tagebuchnotizen, das verweist auf den Status des Gedichts als Teilhabendes am Leben in ästhetisch-sozialer Ausrichtung. Eine Gleichung, die nicht aus reinen Zeichen des Gleichem besteht, P kann nicht von P, und als x = x, nie aufzugehen braucht. da sie nicht den Ausgleich, aber doch einen Schnittpunkt sucht, wo Gleiches generiert werden könnte. Die Möglichkeit der Ich-Setzung aus einer Konstellation in den Wörtern, den daraus gebildeten Worten, für das Selbst der Dichterin, aber nie in sich verharrend, ist auch und vor allem an uns gerichtet: P kann nicht von P liest, versteht A bis Z und sämtliche Cs liest, wenn er liest, versteht er, versteht, aber kann nicht von P kann nicht lassen von P P ist er P ist zeitlebens er so wie die Mulde*, die Aue die Mulde bei Dessau die Baumgruppen, einzeln stehenden

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in der Aue der Mulde bei Dessau S

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Ganz so. Ich war lange nicht dort die Baumgruppen, einzeln, naiv in der grünen Aue, Mulde zeitlebens Lebenszeit Des Lebens Pulse Frisch Lebendig Stock Und Stein P kann nicht von P der Name tut nichts zur Sache Titel: Halt dich bei Laune *die Mulde — der Fluß ist gemeint 29.6.11 Um uns zu eröffnen, die Weiche an diesen Schnittpunkten in diese oder in jene Richtung stellen zu können, was auch und vor allem ein sich Stellen bedeutet, nämlich: ein sich Stellen in den Text hinein und ein sich darin Bewegen lassen — im Text und mit dem Text, quer durch die Möglichkeiten der existenziell umfassenden Ebenen: Iss mit Verstand Frühstück Sellerie kaue Fenchel … In den Zeiten in die Erden die Augen ihnen folgend die Sinne Hände Rücken Ameisenemsig die Uhr auch Gartenkalender Abends das Vaterunser & abgewonnen

Leben wächst suchend, als ob es suche herum um den Widerstand findet es Seins

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heißt Sellerie Fenchel dann im Wirken mit uns, Interessenten Der Heilige hatte 1 Fuß eingebüßt Das Hündle kam weiter auf drein 3.4.12 Das alles fügt sich zu einem sprachlich Ganzen zusammen, höchst einfach, zutiefst praktisch und elegant theoretisch in einem Vorgang. Aber eben auch dieser steht nie nur für sich allein. Das Spiel ist immer das Momentane, der zündende Funken, der es entfacht, sofort in die Möglichkeiten einer Welt der empirischen Erfahrung zu drängen, die nicht als ganze wahrnehmbar ist, aber immer als solche empfunden wird durch die Art und Schreibweise der Dichterin. Ist das ein Gedicht in Prosa oder eine Prosa als Gedicht, Theorie des Alltags oder alltäglich Theorie? Ich sage einfach: egal. Wen kümmerts. Elke, welche Form. Denn der Formwille besteht, aber er wird gebrochen, erweitert, gedämpft, forciert — alles da, alles weg, so ist das rege; zuwege. SCHLUSZ Nervös gemacht von dem & dem. Das Gelauf in die Küche, immer war noch was. Danach das Post-dies-&-das. Mir fiel jetzt auf (bei „nervös geworden“) dieses gewisse kleine dünne Brennen — 

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Sagen wir, unten im hohen Laubwald der viel ältere Schachtelhalm siedet nervös. Richtig. Schnecken. Langsame. Betont eindeutige Häuschen-Schnecken. Vor sich hin. Schlusz! 11.2.12 Und dabei immer dieses erfahrungsbesessene, aber so scheue Suchen nach einer Art oder besser nach Arten der Erkenntnis, die sich unterscheiden sollen, auch in der Form, die ja den Inhalt mit-erzeugt, von der vorgegebenen traktierten. Da hören wir und sehen von diesem einen, ihrem, Elkes bestimmten Sommer, dessen Natur eben nicht Natur ist als Oberbegriff, sondern Detail: Himmel. Gewitter, Sturm. Jeder Vorgang im Gedicht wird via Wahrnehmung zur Empfindung, das Wahrzunehmende wird sofort aufgenommen — und notiert, oder verzögert aufgenommen —  und notiert. In Momenten des poetischen Stillstands und des poetischen Rasens, wo von der Wahrnehmung aus Empfindungen sich breit machen, die wiederum durch Worte ausgelöst werden, bis der Gedanke in einem Denken aus Bildgebung und Wortgebung heraus entsteht —  … WO DANN HINTER DER STADT

die Gegend bloßlag, die Bahn straflos am Fluß spurt und einrückt weiter dort über die Breite die lange gerade einsame Brücke, unter der links hindurchfahren wird Brno 5.40 — Hamburg-Altona 15.40:

… wo da hinter der Stadt die Gegend bloßlag: schwieg das Gemüt war die Eigenliebe beendet 17.1.12

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Macht wie Ohnmacht der Erfahrung durch und mit Sprache kommt auf, und wird abgebaut zugleich: im Individuellen wie im Kollektiven, also im Schreiben wie im Lesen und Sehen und Hören als Ganzes, das ja nie allein stattfindet, aber immer ins Eigene der einzelnen Erfahrung zurückgeworfen wird. Und wo wir dann dort, im Inneren, es auszudeuten und auszuhalten haben — in Lust wie in Leid: Durch sprachliches wie bildliches wie räumliches wie zeitliches Umformen des Gegebenen verschiebt sich dieses in ein Augenblickliches, in ein unmöglich Mögliches, das erfüllt und leer machen kann. Diese Verschiebungen sind grundlegend in der Erfahrung und in der Dichtung als solcher, die eine Geschichte hat wie eine Gegenwart, auch und vor allem bei Elke Erb: Es sind Erweiterungen des avantgardistischen Ansatzes, weil sie die Regel oder das Programm der vorgegebenen sprachlichen Muster aus Semantik, Syntax und Grammatik nicht nur unterlaufen, sondern auch benützen, akzeptieren als vorgegebene und im Gebrauch stehende Muster: Sachverstand. Handeln lies als: Ich setze hier ab, bis alles weg ist, wende mich dann nach dort (Handelsstraße), komme wieder als der … rege, zuwege.

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Auf engstem Raum ist hier die Poetik Elke Erbs an- und abwesend zugleich: Es ist der Gebrauch, der das Wort bis hin zum Buch bestimmt: das Handeln, und es ist der Hauptbestandteil des Sachverstands. Aber dieser ist ungesund, wenn er sich behauptet als Sache, die steht und stand und stehen wird. Also gilt es: Widerstand zu sein, sich abzusetzen, bis alles weg ist. „Weg“ aber ist doppeldeutig, es ist auch der Weg. Also: Der Weg des Widerstands, der in der Wende liegt, nein aktiver, der ein sich Wenden ermöglicht, was nicht Wendehals bedeutet, sondern Beweglichkeit, Flexibilität und Perspektivenwandel: Alles, und das ist das höchstpersönliche Detail nicht nur von einer Seite aus zu betrachten, sondern aus vielen Richtungen heraus, mit den obsessiven Leitmotiven der Ecke, der Kante, der Vertikalen, der Waagerechten, der Flächen, des Randes — und damit tätig zu werden. Dies: rege, um damit etwas zuwege bringen, etwas auf den Weg in die Welt zu setzen, sich anstimmende Lebe-Wesen, tierlich, pflanzlich, erdzeitlich — um sich und uns damit und darin frei zu halten, von jenen Ideologen, die logen, schwebend gleichsam, aber immer in Bezug zum Boden, mit dem sozialen Horizont der ländlichen Arbeit und Existenz, ja, dieser gemeinsam mit Imagination und Klang und der Räumlichkeit der Bilder, präzise schwingend wie stets und so fort auch, also auf ein Weiteres aus Schweben und Landen, danke und herzlichste Gratulation zum Ernst Jandl-Preis, dir, liebe Dichterin, liebe Elke Erb!

Die Dichterin setzt sich den Wörtern aus und Sätze ein — Zum Sprachgebrauch bei Yoko Tawada

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Yoko Tawada schreibt Sätze, die denken und denken lassen. Sie kommen nicht aus dem Bekannten, den Feldern der Muttersprache, die üblicherweise das Bezugsystem abgeben, und sie gehen auch nicht in die Fremde, in unbekannte Sprachregionen einer übernommenen Sprache. Auch eine Art Privatsprache der Individualität, in Form von Experimenten und der darin involvierten Suche nach dem neuen Wort für den anderen Satz, ist nicht das Ziel ihrer Texte.

Sie sagen zum Beispiel, dass man eine Fremdsprache nie so gut beherrschen könne wie die Muttersprache. Man merkt sofort, dass das Wichtigste für sie die Beherrschung ist. Meiner Meinung nach ist es überflüssig, eine Sprache zu beherrschen. Entweder hat man eine Beziehung zu ihr oder man hat keine. (Nordamerikanische Zungen. Die Ohrenzeugin) Yoko Tawadas Sätze sind gegeben, das heißt, dass sie mit den gegebenen Regeln der jeweiligen Sprache, in der sie sprechen, arbeiten. In diese werden Wörter eingebracht, die in der Wörterbuch-Bedeutung erkannt werden, aber nicht in jener des Satzes, der sie schafft. Der Gebrauch in der fremden Sprachgemeinschaft ist es, der mit dem Wissen und der Erfahrung der Autorin oder Erzählerin nicht übereinstimmt und der so zur Kollision führt. Paradoxerweise entsteht so etwas wie ein surrealer Effekt dadurch, dass alles regelkonform angewandt wird, das Wort, die Syntax, die Grammatik, und dennoch stimmt es hinten und vorne nicht, und das heißt: in der persönlichen Erfahrung der Dichterin, der Erzählerin. Richtiger Satz, richtiges Wort, richtige Wörter, falsche Erfahrung und die damit verbundene Frage: Wo gehört das alles hin, die Wörter, die Sätze, und vor allem der Körper, die Zunge, die sie spricht oder die von diesen gesprochen wird?

Eine Reise kennt keine Bewegung, aber sie macht die Zunge feucht. Wenn sie spricht, verwandelt sich der Körper. (Eine Scheiben-Geschichte) Also: Wem gehört diese gegebene Sprache an, wenn sie nicht die der eigenen Mutter ist, im Land des fremden Vaters? Ja, wem gehört sie, darf sie gehören, und vor allem: welcher Sprachfamilie gehört der von ihren Sätzen Gesprochene an? Das sind grundlegende Fragen nach der Erfahrung von Welt und Sprache — und Tawadas Sätze, also ihre Dichtung stellt diese Frage auf ungemein gemeine Weise, schmucklos, ironisch, pragmatisch. Das Gegebene (wie gesagt): die Wörter, Sätze, Regeln. Und: ein Sprachgebrauch. Erstere gibt es in allen Sprachen. Um den Sprachgebrauch, der die Unterschiede (oder Gleichheiten) schafft, aber geht es.

Yoko Tawadas Sätze speichern sich aus einer Sprache, die ständig ihren Ort sucht, der, grammatikalisch, syntaktisch und semantisch so sicher abgesteckt wirkt, dennoch in Frage gestellt wird — da er nichts als fremde Übereinkunft findet, nur nicht die, in sich selbst.

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Mit diesen Übereinkünften, mit diesen Konventionen lebt die Sprache der Sprachgemeinschaft im Sprecher und im Hörer, drinnen und draußen, in der Weise der Anwendung, der Handlung. Sie ist eine Lebensform, zumindest in Momenten, die sie erzeugt, die ihr vorausgehen und vor allem, die ihr folgen. Das klingt banal, aber es ist ein Weg, der von uns Kommunizierenden ständig begangen wird, aber selten bewusst durchdacht und erlebt. Dieses Durchdenken aber leisten Yoko Tawadas Sätze. Sie sind — wortwörtlich angewandt — immer auf die Frage aus, was sie eigentlich meinen, und vor allem, was sie auslösen in der sie Erfahrenden, der Dichterin selbst. Was das ist in welcher Sprachfamilie, das da spricht und handeln lässt.

P lehrte mich ein Wort, das ungefähr „Grau mit Schwarz vermischt“ bedeutete. Ich kann mich aber nicht mehr an das Wort erinnern. Man sagt: „graue Haare haben“. Wie seltsam. Man sagt, lange Beine haben, einen dicken Bauch haben, Falten im Gesicht haben, Schmerzen haben, ein schönes Leben haben. (Porträt einer Zunge) Wo nicht gehandelt wird, sondern wo die Sprechenden gehandelt werden, Ausführende eines kollektiven Schemas, einer sozialen Maschine, die keine persönlichen Entscheidungen zulässt. Wortwörtlich, also in Form von Wörtern, die in Worten ihren Gebrauch einfordern und erhalten, aber nichts als Entfremdung in der ihren Gebrauch nicht kennenden Dichterin auslösen.

P. klagt, dass ihre amerikanischen Studenten zu oft das Verb „haben“ benutzen. Man sage doch nicht „Zweifel haben“, sondern „Zweifel hegen“. (Porträt einer Zunge) Doch Resignation oder Verharren ist nicht angesagt. Es wird weiter gefragt, und etwas dazu gesagt, weil ein Drängen, ein Verlangen entsteht — nämlich: die Lust auf Erfahrung, auf die damit verbundene Schaffung eines neuen Wörterbuches, besser einer neuen Syntax des Gebrauchs, in der die Zunge, die Hand, das Auge der Dichterin eine wesentliche Rolle spielen. Und: wo die Bedeutungen der Wörter in der Sprache des an sich gerissenen Gebrauchs mitbestimmt werden können!

In meinem inneren Wörterbuch liegen „hegen“ und „behagen“ nebeneinander. Einmal sage P. zu mir, sie würde gerne noch mehr Literatur lesen, sobald sie ihr Brot nicht mehr verdienen müsse. Es sei für sie immer noch die

Die Dichterin setzt sich den Wörtern aus und Sätze ein — Zum Sprachgebrauch bei Yoko Tawada

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schönste Vorstellung, im Winter im Bett zu liegen und ein Buch zu lesen. Dabei benutzte sie das Wort „behagen“. Das sei auch so ein Wort, das ich nur selten hören würde, sagte ich zu ihr. Es sei fast vergessen worden, während seine Verneinung „Unbehagen“ noch oft verwendet werde. (Porträt einer Zunge) Anders: Wittgenstein prägte den Begriff der Familienähnlichkeit: Und diese bildet sich in den Kontexten, die semantisch, also bedeutungsabgestimmt konvergieren müssen, für die, die sie sprechen, lesen, und aushandeln. Das ist die semantische Stimmigkeit der Felder, die im Spracherleben gelernt wird, von Kindheit an, nachdem sie dort vor allem auch frei gebraucht wird, in Form von Assoziationen, Verwechslungen, Verhörungen, Abweichungen — was die Einzelwörter betrifft. Diese genau greift Tawada auf, die Abweichungen, die Verhörungen. Sie ist die Autorin des Hörens in der Art wie Kinder hören, alles, was sie umgibt, wird Stimme und sofort zur Zunge, also: Körper und Sinn werden gefordert und die mutwilligsten, aber stimmigsten Symbiosen hergestellt, eingenommen, so lange, bis sie sich von den nächsten aufregenderen, brauchbaren ablösen lassen.

Ich erinnere mich an einen Schulaufsatz, den ich als siebenjähriges Mädchen schrieb. „Meine Schwester“ lautete der Titel … der Inhalt bestand aus einer Liste von falschen Wörtern, die aus dem Mund meiner Schwester stammten. Sie war damals erst vier Jahre alt und sagte zum Beispiel „Zahnbrust“ an Stelle von „Zahnbürste“, „Schwierigmutter“ an Stelle von „Schwiegermutter“, „Waschine“ an Stelle von „Waschmaschine“. „Ich bin froh, dass ich eine kleine Schwester habe“ — mit diesem Satz schloss ich meinen Aufsatz ab. (Porträt einer Zunge) Das Aufnehmen, Einstellen und Ablösen geschieht aber nicht auf der Wortebene durch Erlernen des richtigen Wortes, sondern immer im Satzgerüst, auf dem geturnt, ausprobiert, experimentiert wird ohne von den eigentlichen Regeln abzuweichen. Die Sätze, in ihrem Fluss stimmen, sie sind die Welt, aber weniger drinnen als draußen, und wer sie deshalb in ihre Bestandteile zerlegt, hält inne, stockt, verliert den Halt! Das Wort allein ist dann die unüberwindbare Mauer, von der die Dichterin spricht. Ihr denkender und denken lassender Satz geht von der Annahme aus, dass Geist Voraussetzung seiner selbst ist. Aber die Dichterin und die Leser und die Sätze erkennen, dass dem nicht so ist. Dass entweder kein Geist regiert oder wenn, dann oft ein Ungeist, der aber dann wirklich herrscht. Ihr Satz arbeitet mit einem Bedeutungs-Material, das ihn schwer macht, bedeutungsschwer in eine Richtung des Gebrauchs. Der Geist aber liegt über dieser Schwere und zieht diese nach oben, dort wo die zweite oder dritte

Bedeutung frei in Spiel kommen kann. Aber er kann auch unterhalb dieses Gefüges schweben und ihn dann frei machen, in Richtung runter zu oder, wo auch immer, woanders hin.

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Das sind Bilder, aber ich habe nichts Anderes, als sie in Worte zu fassen, um dazustellen, was ich empfinde, wahrnehme und erkenne, wenn ich die Dichtung von Yoko Tawada lese. Wenn ich diese empfange, in Geist umsetze und bemerke, wie eigenwillig die Komplexe des Geistigen, des Gedachten und jene der Sprache, aus Buchstaben- und Wortmaterial und deren Bedeutung verknüpft sind. Verwoben in Tawadas Art und Weise der Sprachbearbeitung, der Transformierung und der Transfiguration einer Bedeutungsebene und deren sprachlicher Figuren in eine zweite, dritte Bedeutungsebene. Und dann deren meist lapidar einfach wirkende poetische Hervorbringung. Yoko Tawadas Sprache ist Satzsprache. Wie Kafka schreibt sie nicht vom Wort aus, sondern vom Satz aus. Aber bei ihr ist jener durch das eigenständige Wort mehr als mitbestimmt. Um die Bedeutung des Einzelwortes bis hin zum Satz zu eruieren, wird die Satzapparatur in Gang gesetzt, die das Feld absteckt, in dem die Dichterin ihre Erfahrungen mit dem Wort anhand des Gebrauchs, der im Feld vorliegt, überprüft. Die Semantik des Einzelwortes hat dabei nur so lange ihr selbständiges Gewicht, bis es über das Sprachspiel hinaus Einbindung in einen anderen Wortkontext erfährt. Durch den Wort- als Satzbau, der so etwas wie die Schnur um und durch den geistigen Komplex abgibt, der inhaltlich als Thema oder Handlung oder als zu findende Aussage vorbestimmt scheint, aber im Moment der Einschreibung seiner Wörter im Ausschreiben neu erarbeitet wird. Es ist ein einfacher Satzbau. Er ist grammatikalisch intakt, kaum verschachtelt, und schafft dennoch Verzweigungen im Geist, die Erkenntnis hervorrufen, wie sie der Kleistsche Satzbau in der Wahrnehmung seiner selbst evoziert. Meist ist es das wortwörtlich genommene Wort, das bei ihr diesen spezifischen, anderen Satz bildet, der abwesend und anwesend zugleich ist im gegebenen Satz aus Worten, die dieses Gewicht des wortwörtlichen Wortes nicht erkennen oder beachten, und nicht in dessen eigenen Gewichts an Bedeutung anwenden.

„Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck“, beschrieb P. eine ihrer alten Freundinnen. Das Wort „Herz“ klang aus ihrem Mund so konkret, ich dachte, ich könnte es jetzt anfassen. Wahrscheinlich dachte ich gerade deshalb sofort: Das Herz liegt aber auf dem linken Fleck. (Porträt einer Zunge) Oft mit einer zweiten Bedeutung versehen, geht Yoko Tawada mit dem Wort wortwörtlich in dessen vom üblichen Satzgebrauch abweichende andere Richtung. Sie bleibt aber sozusagen-sogesehen im Kontext der ersten Aus-

Die Dichterin setzt sich den Wörtern aus und Sätze ein — Zum Sprachgebrauch bei Yoko Tawada

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sagerichtung, verbindet aber die abwesende, die sie als Dichterin im wortwörtlichen Wort erfährt, mit dieser. Sie bringt beide Aussagerichtungen aber nicht zur Kollision und zerstört oder zersetzt die syntaktische oder grammatikalische Ordnung, nein, der Satz geht grammatikalisch wie syntaktisch gesetzmäßig intakt weiter, fließt aber mit dem anderen nicht im Text, als Schrift, sondern als Gedanke in unserem lesenden Bewusstsein abgestimmt zusammen —  im Geist sozusagen, dort kollidiert oder vermengt sich die eine Bedeutung des Satzes mit der des anderen Satzes. Und löst so etwas wie ein Paradox oder eine Über-Wirklichkeit aus, die aber Handlung sein könnte, nein Handlung ist.

P. sprach das Wort Herz auf eine besondere Weise aus. Das Mittelstück des Herzens, ein Er, verschwand in ihrem Hals, und der Zischlaut am Ende bleib lange auf der Zunge. (Porträt einer Zunge) Die Bedeutung eines Satzes ist bei Yoko Tawada nicht nur sein Gebrauch in der sprachlichen Handlung, der in seinem Sinn üblicherweise vollzogenen. Er ist es auch in der Möglichkeit jener gedachten Handlung, die der andere Satz miteröffnet. Ob wir in diese Richtung gehen wollen, bleibt uns überlassen.

„Ja, mein Herz“, sagte sie manchmal zu mir. Ich war verlegen, wenn ich das Wort „Herz“ hörte. Es war mir zu warm und zu verletzbar. (Porträt einer Zunge) Aber der Satz zieht, so wie es in ihm zieht, treibt, die Richtung ist vorgegeben. Sie kann auch rückwärts weisen, aber die Erkenntnis daran liegt in der Vorwärtsbewegung der einzelnen Satzteile in- und miteinander. Dennoch ist so etwas wie eine zurück- oder besser: zugrunde liegende Einsicht da, die wir irgendwie wissen. Sie scheint im Wort und den Worten, den Sätzen zu liegen, aber Yoko Tawada organisiert sie so, dass sie den Geist erkennen lassen, der die Sprache unseres Denkens mitbestimmt.

Das Wort „Artischockenherz“ bereitete mir hingegen immer Freude. (Porträt einer Zunge) Und das macht auch uns, die wir Yoko Tawadas Wörter zu den unseren in ihren Sätzen machen, reich und bescheiden zugleich.

Sprachliche Referenz im Werk von Heimo Zobernig

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Heimo Zobernigs Arbeit an der Sprache ist eine Arbeit mit der Sprache. Er verwendet sie, er zeigt die Sprache oder ihre Bestandteile — wie Buchstaben, Wörter, Begriffe, Namen, Sätze — innerhalb seiner Kunstarbeit, die nicht Spracharbeit allein ist, sein kann und will. Artefakt, ästhetisches Objekt, geschichtete Struktur Seine Kunst hat ihre Sprache, die aber nicht behauptet, dass die Sprache allein und an sich Kunst ist. Zobernigs Sprache geht nicht wie eine Münze von Hand zu Hand. Sie ist keine Kunst des Handels, des reinen Gebrauchs und sonst nichts. Seine Sprache zirkuliert aber auch nicht wie ein Wertgegenstand, der handfest für etwas Anderes steht. Sie gibt sich nie symbolisch oder stellvertretend. Wenn sie verschlüsselt, ist die Entschlüsselung im Werk, in dem Feld, in dem sie steht oder agiert, situiert und liefert den einen oder anderen Schlüssel selber mit. Sie konkretisiert keinen abstrakten Wert, sondern führt anhand ihrer Veräußerung, ihrer sichtbar gesetzten Zeichen (jene genannten Bestandteile) das Denken über den Wert und die Art und Weise der Repräsentation dieses Wertes ein. Dennoch ist sie keine Kunst, die nur Bezeichnungsvorgänge analysiert in Form von absolutierender Kritik an den Institutionen, die bezeichnungsmächtig sind. Wo aber die Münze, das Wort als Bestandteil der Sprache in Verwendung steht, in welchem System der Handel zum Handeln wird, wie und was diese Sprache wo vertritt, das ist Zobernig allemal die Frage wert: Ähnlich und doch anders als im Fall, wo Sprache Kunst wird, wo ein besonderes System, das der Dichtung, der Literatur vorliegt, arbeitet Zobernig mit der Sprache. Das Kennzeichen des dichterischen Systems ist eine über den Gebrauch hinaus gehendes, vor allem ein ästhetisches: das der Form. Allerdings reicht es über die übliche Auffassung von Form als starre Repräsentation eines in sich versammelten Inhalts hinaus. Und genau darin liegen die Nähe und die Distanz zu Zobernigs sprachlicher Verwendungskunst. In der Dichtung wird Sprache entschlossener als eigenes System aufgefasst und als systematische Form verstanden, wird aber nicht so entschieden mit den sie umgebenden Systemfeldern gearbeitet. In der Kunst, wenn sie wie bei Zobernig auch auf Sprache rekurriert, wird die mit Sprache hervorzubringende Form stets in Bezug auf die kontextuellen Systeme hin gesetzt: auf der Ebene des Materials genauso wie auf jener der Bedeutung. Der Status des Werkes als Artefakt tritt dabei nicht hinter jenem als ästhetisches Objekt zurück. Die Gegenständlichkeit des Werkes, das Artefakt, und die Arbeit des Rezipienten daran, die das ästhetische Objekt konstituiert, konkretisieren den Sinn des Ganzen, das Werk als lesbares Bild oder zu schauenden Text von einer gleichgestellten Ebene aus.

Allen dreien, dem Werk, dem Hervorbringer und dem Betrachter gemeinsam ist: die Verwirklichung von Freiheit durch und als Kunst im Künstler und Rezipienten — im Moment der Erfahrung dieser Hervorbringung. Die Mittel dazu sind, in der Dichtung wie in der Kunst: syntaktische, semantische und ontologische Mittel.

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Das syntaktische, das semantische und das ontologische Verfahren der Dichtung korrespondiert mit den Kategorien des Artefakts, des ästhetischen Objekts und der geschichteten Struktur. Das Moment der Gleichrangigkeit herrscht vor, keine der drei Kategorien steht über der anderen: Material, Bedeutung, Rhythmus, Satzbau und Grammatik ergeben im Zusammenspiel und in der gegenseitigen Durchdringung jenen Komplex an Werk oder Text, der moderne Dichtung kennzeichnet. Als Methoden gleichsam stellen aber auch sie keinen Selbstzweck dar, sie analysieren vielmehr auf syntaktischem, semantischem oder ontologischem Weg Verhältnisse, in denen sie stehen, historische, soziale, ökonomische, ästhetische. Im Fall der bildenden Kunst spielt diese Sprache als System in Bezug auf Artefakt, ästhetisches Objekt, die zur geschichteten Struktur zusammenwachsen, eine etwas anders gewichtete Rolle als in der Dichtung, das liegt auf der Hand. Kunst Die Künstler bedenken diese kategorialen Verhältnisse — wenn überhaupt — anders als die Dichter. Vor allem der Moment der Gleichwertigkeit vom semantischer, syntaktischer und ontologischer Kategorie gerät unter dem Blick und den Händen der Kunst in bewusst anders gesetzte Ausrichtungen — etwa dann, wenn einer antritt und das Denken und das Sprechen über diese Kategorien und die Felder, in denen sie stehen, und in denen er denkt und spricht und vor allem handelt, quer durch mediale Systeme seines künstlerischen Hervorbringens, quer durch die Medien der Malerei, der Skulptur, des Videos, der Performance etc. verschiebt, ohne diese zum Gesamtkunstwerk zu verschleifen. Und somit weit weg ist von jenem dichterischen Anspruch der kategorialen Gleichstellung von Semantik, Syntax und Ontologie an die Sprache, die er in seiner Kunst, und sagen wir, sie ist eine bildende Kunst, einsetzt, und gebraucht. Heimo Zobernig Auch wenn er sie nicht schamlos gebraucht, sie nicht so einfach hernimmt und verwendet wie die Münzen, die von Hand zu Hand gehen. Nein so einfach gebraucht Heimo Zobernig die Sprache in seinem Werk nicht, obwohl es manchmal den Eindruck vermittelt, dass es so sei, dass ihm die Sprache oder besser einige ihrer Bestandteile so locker von der Hand gehen wie es in seinem bildnerischen Werk, was etwa Farben, Formen anbelangt, nicht ganz so offensichtlich der Fall ist.

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Austelung S

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So steht es zum Beispiel da, so sehen wir drauf, so lesen wir es ab und ordnen es ein. Fehlerhaft der Begriff, aber wir verstehen, was gemeint ist, was gesagt ist. Die Abweichung von der richtigen Schreibung ist —  schön, sie ist kerzengerade gedruckt, eine Helvetica-Schrift und das ganze ist der Titel einer Ausstellung und ein offizielles Plakat, das der Künstler ganz bewusst einsetzt und verwenden lässt. Von der Galerie, vom Markt — zu dem auch wir Leser gehören. Wir schauen diesen Begriff und lesen ihn zugleich. Dabei wirkt er, weil er vom Künstler kommt, anders gewichtet, als wenn er vom Dichter käme, der vielleicht Ausstehlung schreiben würde. Dann nämlich würden wir — nur lesend — vermuten, dahinter steckt ein aufklärerisches Wortspiel, das mit semantischer Verschiebung arbeitet, und nicht nur einfach ein Fehler. Zobernigs Austelung wird nämlich nicht gelesen und auf eine andere semantische Dimension bezogen. Die uns eingebrannte Kenntnis des Begriffs würde bei einer solchen flüchtigen Wahrnehmung des Plakats die ästhetische Setzung nicht zum Tragen kommen lassen. Wird aber die Schrift geschaut und betrachtet, dann wird das sprachliche Artefakt als ästhetisches Zeichen erkannt und bemerkt, nicht nur, dass da ein l fehlt und sonst noch ein s, sondern dass es eine Struktur geben muss, auf deren Schichten diese Fehlstellen verweisen. Die Abweichung von der Norm wird erst jetzt erkannt, gleichsam das Symptom, das nun zur Ursache zurückführen kann und nicht aus dieser Ursache heraus entsteht. Und das weiß der Künstler, das ist sein Kalkül. Dieses geht nicht wider die Ordnung, die Regel, die Richtigschreibung allein. Die Attacken auf die heile Welt der Richtigschreibung als jene Ursache des Übels mag ein begleitendes Motiv sein, das schon, mehr aber geht es um die Verwendung des Falschen als Richtiges. Da das sogenannte Richtige an sich (und nicht nur das im Wörterbuch) eher uns verwendet, als dass wir es verwenden, zieht Zobernig seine Konsequenzen daraus: Das Richtige darf einfach nicht so richtig bleiben, wenn wir es, für unsere Zwecke nun, richtig falsch verwenden. Richtig falsch heißt, dass es bei Zobernig als kleiner, wenn auch fürchterlich banaler Fehler daherkommt, aber eben nur dann, wenn wir in Falsch/Richtig-Kategorien denken. In Wahrheit dreht Zobernig aber das Rädchen etwas weiter. Er beharrt keineswegs anarchistisch korrekt auf der falschen Richtigschreibung. Er will nicht richtig stellen, auch nicht den Gestus der Schlampigkeit oder der Indifferenz beschwören. Er zeigt oder setzt zumindest auf die Integration der Abweichung in ein formalistisch durchdachtes System (das bis zu dem der Welt reicht), speziell auf das der Sprache, welches das Abweichende mit seinen Mitteln zu schlucken hat, ohne es in stillschweigender Einverleibung zu inhalieren. Deshalb die Eleganz der Fehlersetzung, aber auch, jenes sich optisch-graphisch wie ein Insektennest zusammenziehendes Logo mit den wichtigen Informationen zur Austellung, den Daten, Namen, Orten. Das zusammengeschobene, ja zusammengepferchte Signet korrespondiert auf der subformalen Ebene des Systems: Zobernigs Kunst und Sprache mit dem aus diesem Sys-

tem herrührenden Austelung und bildet so ein Ordnungsmuster, das immer wieder auf die Ordnungsmuster des großen Gesamtsystems Sprache, Welt referiert, seine referentiellen Bezüge nicht nur zugibt, sondern aufführt, also niemals verschweigt.

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Perzept In einem Video-Laser-Mix von Zobernig taucht wiederum ein verkorkster, abgeschnittener, aber in seiner konnotativen Wirkung mit einer für Zobernig typischen referentiellen Botschaft versehener Begriff auf: Perzept, das zwischen Perzeption, also Aufnahme, Wahrnehmung, Registrieren optischer Reize hinter das Auge und hinauf ins Zentrum der Welterzeugung — ins Gehirn, und zwischen Konzept, also Veranlagung, in diesem Fall künstlerische Ausrichtung, Idee, ästhetische Umsetzung einer zugrundeliegenden Form oder eben Idee, changiert. Ob es Zufall ist, dass nur Perzept auftaucht, oder ob es nur an der Flüchtigkeit des Betrachterblicks liegt, der einen Teil des Wortes aufgreift, spielt keine entscheidende Rolle — die Möglichkeit, Perzeption auf Konzeption, Perzept auf Konzept zu verschieben ist es, was Zobernigs Sprach- und Kunstarbeit ausmacht: die Möglichkeit einer Deutung, die den darunterliegenden Gegenstand oder die zu vermittelnde Botschaft nicht als a priori auffasst und umschreibt, sondern sucht, und durch diese Suche diese Kategorie des A priori oder des An sich auflöst, indem es Bezeichnung und Bezeichnetes wenn schon nicht endgültig vereint, so denn doch — im Moment und in diesem Moment erscheinen lässt, greifbar macht, sichtbar, perzeptierbar —  ein Konzept des geregelten Ad-hoc, einer flache Strategie methodisch in Gang gesetzter Zufälligkeit, die mit begrenzten Mitteln arbeitet und verschiedenste Kombinationsmöglichkeiten offen hält, die aber nicht durchexerziert werden als Selbstzweck, sondern ihre bestimmte Verbindung einzugehen haben durch das Feld, das sie durch den Künstler und durch ihre Geschichte zugewiesen bekommen. Die Münze, die von Hand zu Hand geht ist eine gleichsam allgemeine, aber in der Weiterreichung hin zur nächsten Hand wird sie zum besonderen Metall, wird edel durch ihren Gebrauch, fällt sie zu Boden, wirkt sie fort, ist aber kein Fundstück, das als ready made eingesetzt werden soll, Zobernigs Münze ist das, was der Fall während des Falls ist, und das, was auffällt rührt aus diesem Prozess her, und nach diesem verlangt es unentwegt …

Real Ein Plakat, wiederum. Schrift, Wörter, Bedeutung, Design, Form — die Münze, die von Hand zu Hand geht ist eine des Worts, gesteigert zum Begriff, besetzte Wörter des gesellschaftlichen Moments, der gegenwär-

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tigen Zeit, auf Englisch und Deutsch zugleich, Themen bezeichnend, die im gesellschaftlichen Raum, vor allem im medialen und auch im engeren der Kunst verwendet werden: Sex, Aids, Text, Real — Zobernig greift sie auf, nicht um zu partizipieren, sondern um sie im Lauf und am Lauf der Oberfläche aufzufädeln, zu verknüpfen — lassen im Auge des Betrachters und in dessen Prägung, die vom sozialen-kollektivem Gebrauch im gesellschaftlichen Moment herrührt. Den verstärkt er, im Design, an dieser Oberfläche quasi, die aber dadurch umso unerbittlicher in ihre Tiefe reicht, und aus der Tiefe seiner Oberflächenanalyse der Sprech-Zustände, die er in strahlenden Glanz gesetzt hat, der alles bricht, was er durchstrahlt, zurückleuchtet in dieses verfertigte Gehirn der Deutung und in das Archiv der Bilder, das diese Bedeutungen besetzt haben und uns die Wirklichkeit damit aufbauen — auch die sprachliche, vor allem die kommunikative. Die ist immer eine zwischen Bild und Zeichen. Denn jedes Zeichen hat ja ein Bild, ein willkürlich festgelegtes der Bedeutung und manchmal ein bildliches, das der übertragenen Herkunft entspricht. Eine Bild-Sprache-Etymologie gleichsam, wo der abgebildete Gegenstand gleich der lautlichen Gestalt ist, ein selten, aber durchaus vorkommender Fall. Ihm nachzuspüren und dabei kollektiv-archaische Zusammenhänge, vergessene und übersehene, aufzuzeigen — das ist in der Dichtung durchaus Praxis und gegeben. Aber Zobernig ist, wie gesagt, kein Dichter. Und er ist auch kein Maler, das auch nicht, obwohl er malt und diese Malerei nicht nur als Mittel zum Zweck versteht, also malt, um die Malerei zu verlassen oder die Bedingungen des Malens aufzuzeigen. So wie er nicht die Bedingungen des Sprechens und er darin verwendete Zeichen aufzeigen möchte, auch nicht nur ihr Spiel, ihre Größe gleichsam im formalen Spiel des Systems, aus dem sie kommen — aus dem Wörterbuch, der Enzyklopädie: Ihm ist wichtiger, zu forschen, wie diese Spielgrößen im Spiel der gegenwärtigen Systeme mitzumachen haben, wie auf sie in ihre bedeutungsstiftende Herkunft zurückgewirkt werden, wie sie in die Gegenwart integriert, wie sie freigespielt und auch vereinnahmt werden. Zobernig ist klar, dass das alles in Regeln abläuft, in Verträgen, die er aber nicht gewillt ist, quasi blind zu unterzeichnen. Nein — aber trotzdem ändert er sie nicht, bricht sie in Form eines Gegenmodells. Er ignoriert die Zurechtrückung der Ideologie durch das Brüchige, er schmiert, wischt nicht oder sonst was, nein, er führt vielmehr die formalen Mittel an den Gipfel ihrer selbst, nimmt dabei die Bedeutungen mit und treibt sie dennoch auf keine Spitze der Ironie oder der korrekten Kritik. Er setzt zwar auf ästhetische Klarheit, ja Reinheit der Mittel vom Verwenden bis hin zur Ausführung als Werk, lässt aber, wie stets intuitiv regelhaft, durch eine Art Ausprobieren des nun einmal in Gang gesetzten formalen Vorgangs, jene für ihn typischen Bereiche offen, die das formale Voranschreiten durchbrechen.

Wie in den bisher angeführten Beispielen erwähnt, werden die klaren Setzungen auf den Ebenen des Artefakts wie des ästhetischen Objekts mit Fehlern bestückt, die im System, aus dem sie herrühren, selbst versteckt sind. Er verstärkt sie, und zwar so offensichtlich, dass sie schon wiederum als Bestandteil des künstlerischen Systems zu verschwinden scheinen und kaum erkannt werden können. Was die Bedeutung der Wörter, so sie eingesetzt werden, anbelangt, so bleibt diese dabei ebenso augenscheinlich unangetastet wie das, was die Bilder zeigen, aber: Bei genauerer Betrachtung, bei genauerem Lesen der Bilder und bei genauerem Schauen der Wörter, blitzt die Kritik oder die Art und Weise der künstlerischen Schichtung auf, die anders als beim Dichten bevorzugend agiert, und die gleichberechtigten Ebenen von semantischer und syntaktischer und ontologischer Gestalt, eher auf jeweils eine konzentriert, meist auf die ontologische, diese aber im Glanz und in der Perfektion der diese herstellenden Mittel versteckt.

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Der Fehler stört die reine Seite des Ausdrucks, seinen Inhalt, seine Bedeutung, seine Schreibung, aber nicht die Form, sie fängt das Fehlerhafte auf und transformiert es in den Bereich des Ästhetischen, das aber nie in Schönheit erstarrt, obwohl es elegant wirkt. Die Eleganz ist ein Spiel zwischen dem reinen Ausdruck und der reinen Form, die kurzgeschlossen scheinen, die aber ein drittes, ein imaginäres Element, das hinzu kommt, verlangen. Oder besser: dieses generiert sich ständig aus der zu erstarren scheinenden Form — ob es nun die Schrift-Helvetica ist oder die getönte Glasplatte des Esstisches in der Installation. Irgendetwas stimmt nicht, wehrt sich gegen das Reine, obwohl es ununterbrochen dorthin unterwegs ist, ja am Weg. Es ist die Rhetorik Zobernigs, die ihn dadurch, wie er sie anwendete und einsetzt, nachdem er sie aus dem gegebenen Fundus herausgeholt hat, als Barock-Klassizisten kennzeichnen könnte — aber weder der eine noch der andere ist er ganz, er ist immer der ein in Bezug auf den anderen. Barock insofern, als er auf eine Rhetorik baut, die den formal verwendeten rhetorische Figuren des Barock entsprechen, nicht im oberflächlichen Sinn der ornamentalen Verschönerung, sondern in der Art und Weise der künstlerischen Erstellung, des ingenium und concepto, der Erfindung und Hervorbringung. In bezug auf die klassische Form ist es das angestrebte Ideal der Symmetrie, der Materialien und des Geistes, der diese trägt, aber: Bei Zobernig erfinden die Materialien den Geist und dienen nicht nur als Transporteure, deshalb ist weder der Geist noch das Material rein, also klassisch fertig, symmetrisch, und dennoch haucht seine Arbeit so etwas wie Absolutes. Aber der Hauch dreht sich sehr schnell zum Wind, der manchmal auch ein wenig stinkt und dieses Absolute bricht. Der Bezug zu den barocken Rhetoriken wie jener zu den klassischen Formen drängt nach Formalismen, verlangt nach Algorithmen, die sich aber nicht einstellen wollen und dürfen auf der Ebene des Werkes allein. Jene des Marktes, des Betriebs, der Kunst, die werden integriert und verändern damit den reinen, klaren Aufbau des Werkes, bilden dann den aktuellen, sagen wir schmutzigen Bezugspunkt,

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— das alles auch sprachlich also: vom reinen Signifikanten zurück zur Idee und über das Konzept nach vor in den Kontext, der beide Positionen vereint, verbindet und gleichzeitig relativiert —: Weder das eine noch das andere abgeben, nie einmal nur dieses sein, nie einmal nur jenes sein, nein und schon gar nicht beides auf einmal, kein Gesamtkunstwerk, höchstens ein Drittes verlangen, das sich dann wiederum neue Bezugspunkte schafft — als ästhetische Handhabung des Materiellen, des Gedachten, des Sprachlichen hin zum Werk, das nur in der Kunst seinen Stellenwert hat, nicht in der Architektur, nicht in der Politik allein —  — es ist eine Kunst, die den Gebrauch, die unmittelbare, aktionistische Anwendung hinter sich hat, aber aus dieser gemachten Erfahrung kommt. Vom Gebrauchsstück im Museum zurück in den Gebrauch der Rezeption draußen wie drinnen. Durch diese doppelte Verfremdung quasi strebt Zobernig so etwas wie deren Aufhebung an. Wirklich? Diese Frage stellt der Künstler nicht in der grundlegenden Haltung der Skepsis, aber auch nicht in der poetisch geschlossenen Form des Sprachspiels. Weder ontologisch noch ästhetisch wird gezweifelt oder gespielt. Gebaut — das ja, aber nicht im Sinn einer unendlichen Semiosis, in der die eingesetzten Zeichen und Materialien endlos zirkulieren. Die referentiellen Bezüge bei Zobernig sind nicht solche, in denen sich Zeichen nur auf Zeichen beziehen, es gibt eine Außenwelt der Dinge — und diese sind nicht nur da und existieren nur durch die Bennennung. Sie sind, und die Frage ob sie nur Schein, Abglanz oder Vorschein einer Wesenheit sind, auch diese Fragestellung spart sich Zobernigs Kunst aus. Dennoch — die Dinge sind in Schwebe, aber ihre Bezüglichkeiten sind, wenn auch relativ frei geordnete im Feld, in dem das Individuum des Künstlers, des Autors als Brennpunkt diverser Einwirkungen (Diskurse) steht. Darin sind die Wege der Zuordnung, die des Lesers vor allem, wählbar. So gesehen legt bei Zobernig der Leser und Betrachter seiner Textobjekte die Bedeutung, die Botschaft fest — und dennoch bleibt das Ding die Quelle dieser Botschaft, es geht nicht verloren. Es lässt aber nicht zu, auf eine letzte Bedeutung reduziert zu werden, wie im Fall von real nimmt es, hier als Wort, das Text zugleich ist, Bezug auf mehrere kulturell Bereiche: real aids, real real, real text, text aids, text real, aids text und so fort — das Spiel ist in Gang gesetzt, wird aber nicht demonstriert, an sein algorithmisches Ende geführt. Das macht Zobernigs Arbeit so kühl und rätselhaft zugleich, weil er die Karten nicht ausspielt, es ist immer noch ein Zug möglich, aber nicht jeder, und schon gar nicht jeder beliebige. Zobernig ahnt, dass die Lesart eines Textes nicht in Form einer einheitlichen Hegemonie abläuft, in der der Decodierer-Gott Betrachter, die wahre Botschaft abzulesen vermag, die ihm der Autor-Gott vermittelte. Die Bedeutung ist nun mal abhängig von der Klassenherkunft

der Rezipienten, es herrscht, wenn etwas herrscht Interpretationsvariabilität (Eco). Zobernig legt nun seine Arbeiten so an, dass die dieser Variabilität zugrunde zu liegen habende Polysemie im Werk selber enthalten ist. Das ist seine Kunst und sie ist nicht entschlüsselbar. Sie wirkt jedenfalls, an der Oberfläche ist sie zu analysieren, aber in der Tiefe nicht. Deshalb auch sein Hang zu populären Texten, zu außerpoetischen Texten oder Wörtern oder Begriffen, bin ich versucht zu sagen — wie auch im

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Lexikon der Kunst demonstriert. Denn die Strukturen der populären Texte korrespondieren für ihn mit den Strukturen gesellschaftlicher Feldinhaber. Wobei er deren Wirkung nach allen Richtungen offen hält, gleichsam nach unten wie nach oben — aber nicht im Sinn einer moralisch oder ethischen Indifferenz, in der jeder festzulegen hat und kann, was er will — sondern in Form textueller Offenheit, die sich nicht auf Machtausübung der sich im Besitz befindlichen Gruppe dieser Botschaft oder dieses Zeichenreservoirs oder dieser Textform beschränkt. Zobernigs Sprachhandhabung innerhalb des jeweiligen von ihm mitgestalteten und zu bearbeitenden Feldes ist also stark von Einzelbegriffen, die auch Zahlen sein können, geprägt. Dennoch ist es kein konkreter Nominalismus oder eine Beschwörung des reinen Signifikanten, sondern immer wieder der Wille zum Satz, der seine Zu-, Ein- und Mitgriffe auf gegebene Dinge, Zeichen, Ideen prägt. Das visuelle Moment ist dabei stark kennzeichnend, gleichsam das Signet oder sogar die Signatur Zobernig. Aber im Drang auf das textuelle Verlangen, das mit ihm, der visuellen Repräsentation zur Botschaft zusammenwächst, ist es ein offenes und geschlossenes Wechselspiel zugleich — das immer Sprache aufleuchten lässt, ja mehr, das immer in Sätzen spricht. Sprechen, das heißt bei Zobernig stets zeigen. Auch Namen oder Institutionskürzel, wie in der Schule Hasenheide Graz oder im Kulturzentrum Wolkenstein gehen über ihre Bedeutung als Wort oder Begriff oder Bezeichnung für eine Person oder eine Institution hinaus. Dennoch fungieren und funktionieren sie auch als Träger der unmittelbaren Zuschreibung, gleichsam als Ikon, als einzige Bedeutung allein, die sie sind. Aber immer wieder sind sie auch Index und Symbol im Sinn einer umfassenden Semiotik auchSie verweisen, heben — im Sinn von kennzeichnenden Teilen — hervor und verbinden sich mit anderen Bedeutungen, die sie konnotieren oder designieren hinaus —  was wiederum dazu führt, dass klar wird, dass eine Bedeutung an sich herrscht, aber eine willkürliche, nämlich die vom Künstler und vom Betrachter gesetzte dazuzukommen hat: die zum Beispiel den Namen

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Chaplin mit dem von Beuys verbindet und eine kleine Erzählung der Moderne damit knüpft, oder die mit CCW, das Kulturzentrum Wolkenstein, eben dieses mit C C W freispielt im Sinn des Buchstabens, der immer wieder nach dem Anderen, nach seiner Verschmelzung zur Aussage, die dem Einzel-Sinn des Wortes, des Begriffs so etwas wie Aussage, den Satz unterstellt, drängt. Dieses Drängen ist aber nie symbolisch, metaphorisch oder ziseliert ornamental. Es kommt immer sehr einfach, ja lapidar daher und sagt oft nur, was es ist als das, was es gewesen sein wird, indem es war: Denn meistens sind Inschrift oder Name oder Benennung der Galerie, des Covers … oder die Schriften auf der Bühne oder dem Hauptgebäude … wie bei der Documenta oder in Münster oder im Park von Jöss, Ausdruck eines Geschehens, einer Gegenwärtigkeit, die im Verfertigen einer künstlerischen Arbeit lag, die bereits geschehen ist — die Schrift, das Wort, der Text aber dient als Schnittstelle des Jetzt, in dem mediale Komponenten der Grundzeiten, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft noch einmal eine Symbiose eingehen, die der von Artefakt und ästhetischem Objekt oder der von syntaktischer, grammatikalischer und ontologischer Strukturverbindung gleichkommen. Und die, beispielhaft, vorführen, wie Referenzen, Diener des Repräsentanten oder Hinweiser, selbst zu diesen wachsen, aufgehen, aber sofort wieder verblühen, ohne die Wurzel zu verschweigen, auf und aus denen die nächste Blüte hochstoßen wird werden können.

Der Verdichtungerstrecker. Das Genommene wie es ist erweitert. Zu Thomas Kling S

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der bach der stürzt ist nicht ein spruchband textband weißn rauschnnz; schrift schon; der sichtliche bach di textader, einstweilen … bruchstücke, ständig überspült; überlöschte blöcke, weiße schriftblöcke … bezifferbarer bach, der bach, der stürzt: guß, megagerinnsel, hirnstrom. Lieber Thomas, – der spruch ist der text, und das verbindende band, das rauschen ist weiss, und es könnte das andere wissen auch sein, das deines gedichts, schrift, bach, ader, das gibt es, und alles fliesst, und die drossel singt oder spricht ihren spruch, so kommt das auch wieder zusammen, und der spruch wird zum ruf, und die weite ist nah, in der einstellung halt, aber die ist und sitzt im gehirn, dessen strom fliesst und sich schliesst mit dem bach, also im wort, in der schrift und ihrem zug aus wörtern, das erste mit dem letzten wort ist dein gedicht, ein felsen, gebrochen in sich, dass die blöcke bröckeln und begreifbar werden von der hand und vom kopf, dort begriffen, versteht sich, das alles mit dem schaber, oder ist es die schabe, was schreibt und ein skalpell auch ist, und so hat das wieder seine ordnung im feld, im gewebe, und das ganze gedicht ist fest und lose zugleich wie sein dichtender held, ständig probierend, dass schallt es und raucht, und wir ziehen tief, und tiefer und tief. Der poetische Raum wird durch die Dichtung, die der Dichter Thomas Kling hervorbringt und die ihn hervorbringt, bestimmt: die gewebeprobe, Manhattan Mundraum, stromernde alpmschrift. Der Dichter steckt ihn ab, macht ihn eng, um nicht davon gerissen zu werden von der sich wegdrehenden Kraft seines sprachlichen Dazutuns aus wörtlichem Anhäufen und Aufschichten. Scheinbar thematischer Zwang erweist sich als Freiheit der dichterisch gesetzten Wahl — Manhattan wird Mund, die Alpen werden Schrift.

Thomas Klings poetischer Raum weist über die Zweidimensionalität der Dichtung und ihr Medium, der Sprache als Schrift am Papier — den gestalteten Raum —, und als Stimme in der Performance — die artikuliert Zeit —, hinaus in eine dritte Dimension, die des Erfahrens beider als Empfinden und Denken in einem. Eine Art poetischer Raumzeit-Installation, die auch in meinem Kopf und Leib aufgebaut wird. Sie ist die des Ineinanderschiebens von Körperlichkeit — Stimme, Rhythmus, Schwingung —, und von Gedanklichkeit — Wort, Satz, Schrift —, die zu einer verschränkenden Halluzination von Vergangenheit und Zukunft führt, zum Aufbau einer intensiven Aktualität des Jetzt: In eine Gegenwärtigkeit der Gegenwart, die nicht still, aber der Stille ihr Lebendiges hält. Semantische Verdichtungsruhe im Auge des syntaktisch rasenden Dralls.

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Die Bewegung, die Thomas Klings Gedichte eröffnen, deren Wörter in mir, in uns und in ihm, das geht hin und her, weist spielerisch wechselnd nach Vorne und Zurück. Dieser Vorgriff wie Rückgriff packt die Wörter nicht (nur) isoliert als Laute und Buchstaben, er hält sie meistens intakt, um sie in seinen Versen in den Hof ihrer neuen Bedeutung zu werfen, der ein geschichtlicher als zukünftiger ist und sich als ein solcher erschriebener im Augenblick erweist. Das gilt für die semantische Dimension seines Dichtens wie für die syntaktische, und selbstverständlich ist die Dichotomie von Form und Inhalt der Poesie von ihm dichterisch bearbeitet — und somit aufgehoben, hergestellt und wieder aufgehoben — wenn: das von Thomas Kling gesetzte Wort auf das gefundene und in das Gedicht hinein geworfene trifft, auf ein gegebenes also, ein gedrucktes, gesprochenes, jedenfalls ein bereits vermitteltes Wort, das dann nicht mehr isoliert im Gedicht, das es mitgeneriert, steht. So, wie es jenem Medium, aus dem es herkommt, einverleibt war, wird das Gedicht, in das es drängte, von ihm einverleibt. Deshalb handelt es sich um keine Montage — nein, denn es baut und löst auf jene das Medium inhalierende Weise dieses auch selbst auf, lebt und stirbt mit ihm, vibriert oder verblüht. Also: Kling, das Gedicht, zitiert nicht nur, deckt nicht nur auf, wenn er über die Botschaft des FundWortes oder der Fund-Schrift, Zitat ist es wie gesagt nie und nimmer, hinausdichtet und zurückdichtet unter seinem bezogenen Sprech-Winkel-Blick in die es mit erzeugenden medialen Bedingungen, die aus Redefetzen wie Schriftresten, Anweisungen, Sprüchen, Idioms etc. bestehen können … Thomas Kling kauert in den Ecken der runden Sätze und hackt sie von dort aus auf, so dass das Genommene und anders Gesagte grell und nackt dasteht, aber dennoch nicht demaskiert angeprangert wird. Er zeigt und macht die umDer fassende Eindringlichkeit der Sprache in den Leib, in den formalen Körper Verdichtungerstrecker. der sozialen Konstruktion wie in den aus Fleisch und Blut, meinen, unseren, Das Genommene seinen, greifbar, erlebbar. Der und wir bestehen nun mal aus den neuen und wie es ist erden alten Wörtern, den erfundenen wie gefundenen, aus Malen wie Mahweitert. Zu Thomas len, aus Wunden wie Wundern, aber —: Kling

Thomas Klings Zeigefinger bleibt unten, dort bohrt er, am Grund, in der Schicht, die er, wie gesagt, selbst aufgehäufelt hat. Dort schärft seine Ästhetik auch unsere Ethik — um. Her mit dem Gemeinen, hehr das Gemeine,

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aber sofort wieder anders und rum! Das macht Schwanken, aber die vorher geschlossenen Augen und Mund, die des Dichters und die unseren, gehen auf. Er und wir sitzen dann im selben Wort-Satz-Boot und schaukeln auf geschlossener See. Sie ist nicht mehr die offene, auf der Otto Neurath noch sein philosophisches Schiff der Moderne umbauen konnte. Die heldenhafte Hilflosigkeit war einmal. Heute ist dieses Meer begrenzt und selbst ein System, durch das wir gebraust werden, nicht einmal mehr navigieren. Dort war Thomas Kling nicht zu Hause, aber er steckte drin wie wir, und er zeigte es uns, mit der Selbstüberzeugung der dichterischen Offenbarung aus Neugier und Wissen, Abscheu und Lust. Analyse und Glaube halten sich da bei ihm die Waage, was sie wiegt, das hat es — seine Poesie in den, mit den und wider die Systeme. Diese Systeme können jene der Geschichte sein, der Erste Weltkrieg und die Kapuzinergruft, können jene der Natur und Zivilisation sein, die Alpen (di alpm?) und Heidelberg, das in FLAMEN steht, und können die barocken Wendungen der Sor Juana de la Cruz oder die von H.C. Artmann sein, das heilige Ingenium des Concepto und das goldene Klavierpedal in Penzing. Dort und so steht’s dann, aber das dann wahrlich in Flammen. Nicht Heidelberg, das Wort, das Gedicht brennt — und in uns was auf. So werden wir, in Glut, in einen anderen Raum hinüber getragen von der Puste des berserkernden Dichters, der die Hacke längst aus der Hand gelegt hat und sich an unserem Funkenschlag wärmt. Thomas Kling verdichtet den materiellen Raum der Sprache und macht dadurch die Zeit dessen Erlebens, im Wort, im Bild, im GANZEN ALS BRUCHSTÜCK — lang. Diese Erlebniszeit scheint nicht aufzuhören, sie versetzt uns in dieses Wort, dieses Bild, dieses Ganze als Bruchstück, zu dem wir selber geworden sind. Metamorphose des Ohres zum Mund und von diesem zur Stadt oder zur Natur oder zum Gemälde. Altes wird nicht neu, aber anders gesagt, auf die Stellung kommt es an und auf den semantischen Bezirk, der nicht synthetisiert wird aus mehreren, sondern ein Art Paralleluniversum bildet, in das jederzeit Einschau und Einzug gehalten werden kann, je nachdem, wo wir im Wort, im Bild, im Ganzen gerade sind oder sein wollen. Das ist der Raum der Poesie, den der Dichter aufbaut, der in ihm ist — und so gesehen dieser Raum sein kann, wie auch wir er und dieser Raum sein können. Das ist das Geschenk des Dichters Thomas Kling an uns. Wenn wir es ihm nur oft genug zurückgeben konnten, in dem wir ihn wieder und wieder treffen und finden in diesem Raum, in der umfassenden Poesie, ja dann wäre es gut.

Manhattan Mundraum die stadt ist der mund raum. die zunge, textus; stadtzunge der granit: geschmolzner und

wieder aufgeschmozner text. … die gezähltn, die mit den weißn gebissn … die gesperrtn, maulsperre, mundhöhle die stadt.

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— wörter sinds bei dir, und du stellst auf und her mit ihnen, was sonst nicht ist, du setzt sie gleich, selbst und bewusst, dann leitest du von diesem gleichen neues ab, führst wiederum lose neues so hinzu, verbindest dann das eine mit dem anderen, die behauptung ist keine übertragung, sie stellt gleich das gleiche her: sagst du mund, sagst du stadt, das ist eins, und ich sehs, und les es, du hast mich an der hand, der deinen, ists die schreibhand, nun das auch, da fällt dir aber noch was ein, nämlich etwas, das halt fehlt, das n, das wir erst suchen können, weil es du gefunden hast, und das da her springt aus dem mund, ja, und so beweist du mut und nimmst das n heraus und zahlst es jeder zählung ganz schön heim, schon haben wir und du, der mund, die stadt neben der zählung die zähnung, und die sitzt wohl im maul, und das spricht und weiss etwas, aber wissen kann weiss wie der tod sein und die zähne sind es auch, weisse stöcke, darin auch menschen wohnen in der stadt, und wer gezählt wird, den legt die zählung ins zeichen, weit weg vom blick, nicht hin, sondern hinzugegeben sind die körper weg und die zeichen ganz schnell da, was verbindet die beiden ist ein brandmal, so also läufts in der stadt der zähnung, ein bisschen mit biss, der gesehen werden will, denn sonst wäre es ja nichts, auch das ist weiss, das nichts in der ferne der nähe, oder ist es hohl, nein, es kann auch das volle leere, die höhle sein, dieses loch in der zähnung, und aus dem loch heraus blickt nun das auge, aber was es blickt ist nicht da, das n ist entsprungen, die menschen sind in den maschen des nichts verschwunden, entglitten im biss, so kommen sie und wir nur dann zu einander, wenn wir uns hinein begeben, also geschnalzt werden mit der zunge hinein in die höhle, den textus, ja da fühlen wir uns dann wohl und geborgen, da wir verbergen uns ineinander und sind dann selber die stadt und der text und du, und ich und wir sprechen mit einer zunge gebrochen aber so doch:

Der Verdichtungerstrecker. Das Genommene wie es ist erweitert. Zu Thomas Kling

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Angehaucht von der Melancholie des Objekts. Ein Nachruf auf Franz West S

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Franz West sagte: Ich weiß überhaupt nicht genau, was Schönheit sein soll. Und dann kommt Herr Wichtig und sagt: Alles ist Linguistik, alles ist Politik — sagt Ferdinand Schmatz für Franz West. Die Frage, was ein Gegenstand an sich ist, hat Franz West nicht gestellt. Er hat einfach einen aus mehreren oder mehrere aus einem geformt. Es war die Lust der Formarbeit, die ihn trieb; aber der Antrieb war einer, der jenem Feld entsprang, in dem die von ihm hervorgebrachten Gegenstände — als in ihrer Praxis zu sich gefundene — anders platziert und vor allem verwendet werden sollten. Ein Antrieb, der sich in jenem diskursiven Feld ergab, in dem sich der Künstler West selber befand, besser: jenes, in das er, gemeinsam mit diesen geformten Gegenständen eindringen wollte, um es zu verändern. Irgendetwas stimmte für ihn —  darin, und, überhaupt — nicht. Eine Art Aufbruch setzte sich nach der für Wien typischen radikalen Skepsis den Erscheinungen und Dingen gegenüber in Gang, aber ohne jedes Pathos der Utopie — es war mehr eine Landpartie, wie sie im Wien der Zeit Schuberts stattgefunden hätte. Eine Fahrt ins scheinbar Bekannte, in dem sich aber das Unbewusste mehr als nur heimlich Platz verschaffen sollte, verwoben aus Lust und Melancholie. Wer so und was so zurückkehrte, war oft mit dem Hauch des Vergehens, ja mit dem Hauch des immer präsenten Todes versehen. Neurotisch vielleicht, ja, allemal. Aber stets war auch das eine Art Form. Also: eine Lebensform, die in sich selber zu verharren schien, aber dennoch Wirkung zeigte. Auch Sterben passiert nie allein, es bleibt was und es bleiben andere zurück. Eine Form als Passion? Was bleibt da? Wer und was? Und: Wie ist das, was bleibt? Die Dinger sind es bei Franz West, die da sind und die er in Form gebracht hat aus Pappmaché, aus Draht, aus Fotos, aus Metall, aus Farben. Viel mehr ist es nicht, was da bereitgestellt und bereitgelegt wurde für — das Auge, die Hand, das Denken, für ein umfassendes Erfahren. Ging da nicht mehr? Geht da noch was? Für West genügte der Anlass, in dem das Handfertige seine geistige Rolle spielen konnte. Nicht nur beim Hantieren, auch beim bloßen Anblick der Dinger war und ist immer eine Hand, ein Prozess spürbar, der in den Dingern handelte und über die Dinger handeln ließ und in uns weiterhandeln wird. Handeln ist Kommunikation, also: Wie kommunizieren die Objekte von Franz West? Ganz einfach, indem sie handeln lassen: Die Bedeutung des Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Die Bedeutung des Gegenstandes ist sein Gebrauch im sozialen wie individuell geprägten Leib. Diese wird, ästhetisch wie sozial, ein wenig romantischtheoretisch ausgerichtet, fragmentarisch ganzheitlich, von den Sinnen wie der Vernunft getragen und gespeist.

Sagen wir so: Die Hand, sie handelte mit den Dingern, die sie machte oder machen ließ — wie der Mund. Der Mund ist es, der Laute als hörbare Gestalten entlässt, damit gleichgesetzte Bedeutungen werden gleichsam objekthaft. Im Konsens definitiv festgelegt, mit den klaren Konturen des Begriffs. Hier setzte der Zweifler West, ganz in der Tradition der Wiener Sprachskepsis an, die er mit sporadischen ad hoc-Lektüren von Lacan bis zu Schundheften verband. Er bearbeitete das Wort, den Begriff, den vorgegebenen Gegenstand so lange, bis er eine andere, eine verschobene oder verwortakelte Gestalt annahm, vor allem als Objekt, als Ding, als Bildwort und Wortbild: nachsprachliches Zitat.

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Diese Dinger von West rufen darin ihre Botschaften mehr als verdreht hinaus, ein Stocken, ein sich Verhaspeln. Und dieses Verhaspeln formt sich zum Objekt, das den potentiellen Versuch einer Formgebung neurotischer Symptome (nach Freud die Basis der Kultur) bildet — eine der ersten Zuschreibungen, die West mit dem Dichter Reinhard Priessnitz verfasste, der Anfang einer Schreib-Objekt-Tradition, die sich mit uns weiter fortsetzen sollte (bis in diesen Text hinein). Im Zusammenspiel mit anderen Stücken und Texten und Autoren ergaben sich nicht nur installative Repräsentationen im Feld der Kunst, auch das Feld der Sprechweisen wurde zu ganz besonders individuell ausgeformten Akten umgemünzt, präsentativ ein-ge-passt. Eine Art dreifache Rezeption des Gegenstandes sollte und soll bei intensiver Steigerung ermöglicht werden: eine passive, die sich der klischeehaften Assoziationen bedient, eine aktive, die diverse Funktionsweisen des Gegenstandes ermittelt, und eine mediale, in der die Bewegung der Dinger in deren perzeptive Tätigkeit mit einfließt. Das Formen dieser Kontaktnahmen war und ist vergleichbar einer nie endenden Syntax. Also etwas aus Schrift, aus Zeichen — das sich aus und als Gegenstände konstituiert. Es könnte neologistisch sein, der logozentrische Begriff, der Gegenstand als Informationsträger wird jedenfalls zerschnitten ins Vor-Sprachliche des Vor-Gegenständlichen, das als Material für einen neu zu bauenden Gegenstand, dem Nachsprachlichen, dient. Immer wieder ist die Arbeit von West eine an der Metonymie, weniger eine an der Allegorie. Sie findet in der Zeit als das überraschend auftauchende Objekt statt, das auf Kontakt mit dem Körpers aus ist. Dieser Kontakt, diese Berührung erfolgt auf der metonymischen Achse der Syntagmen, auf der sich die Paradigmen, die einzelnen Objekte bewegen. Die gemeinsame Praxis ihrer Verwendung macht sie zu BedeutungsTrägern, deren Sinn sinnlich verstanden werden kann, die sich tatsächlich be-greifen lassen. Indem sie, einmal angetragen, dann wirklich getragen werden können, und schließlich etwas bewirken, was eben Einpassen genannt werden

Angehaucht von der Melancholie des Objekts. Ein Nachruf auf Franz West

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konnte. Also etwas, das eine soziale Dimensionen annimmt, eine Art Hinführung in die Gruppe von Individuen, die diese dann lose, ohne geschriebenen, aber miteinander getragenen Kontrakt, vergegenständlichen, sie bilden. Ohne nur pures Material zu sein. Und auf Zeit hin angelegt, die jene der Zusammenführung der Einzelobjekte zu Syntagmen ist, die dann in den nächsten Prozess tänzeln. Das war der reduzierte und wesentlich erweiterte aktionistische Ansatz in der Kunst von Franz West, das spielerisch Agierende, das, wie gesagt, angehaucht war von der Melancholie des Objekts, das sich üblicherweise über das Ich stülpt, um es todtraurig zu machen, und, paradoxerweise, auch am Leben zu halten. Bei West aber wirkt es nie bedrückend, eher das Gegenteil: befreiend. Der Träger und das Getragene werden frei, auch voneinander, und halten sich dennoch in spürbarem körperlich-geistigen Kontakt. Franz Wests Dinger verkörpern und ermöglichen diesen Kontakt, diese Berührung der belebten und unbelebten Wesen als ständig sich verändernden Prozess: Über die Sinne des Körpers in das Bewusstsein, in das die Dinger einschweben oder einbrechen. Sie changieren zwischen Leichtigkeit und Schwere, Zartheit und Gewalt. Sie können auch auf einem Sockel stehen, aber dessen Flächen könnten die Projektionsfläche des zum Schritt ausholenden Bewusstseins sein, das alles in sie Hineinvermantschte — Wörter, Bilder, Fotos, Stoffe, Möbel — vergegenständlicht. Die verarbeiteten Träger von Zeichen und Materialien diverser Art sind nicht mehr lesbar, die Konturen verströmen sich mit der Farbe und dem Pappmaché in einem handwerklich bestimmten Logarithmus, der stabile Grenzen des Objekts ständig untergräbt. Wests Dinger brechen die logische Kausalität der Information, aber sie erweitern die historische Decollage und Montage gleichsam spielerisch, tänzerisch, er spricht ja selbst von begehbarer Collage. Eine wilde Erfahrung des Objekts setzt dabei ein. Über die Wahrnehmung bilden die Dinger auf ihre Weise die unsere mit um: nicht neu, vielmehr als das Mögliche, das kommende Andere. Andere ordnen sie uns in weit mehr als in Bruno Latours Parlament der Dinge ein. Eine neue Disposition zwischen Ding und Mensch, ein humanes forum objectum wird möglich. Ein Schauen, das ein Wiedererkennendes Blicks ablöst, ohne dessen Referenzen zu verhüllen, zu verschweigen. Aber, wie gesagt: Die Information des Ausgangsmaterials verplappert sich im Material des Pappmachés zur Botschaft der Machtuntauglichkeit, die sie uns überträgt. Das kann immer wieder gesagt werden. Und gehofft werden. Das wird bleiben. Die Lösung der Probleme merken wir an ihrem Verschwinden.

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Das Gedicht ist ein Fest des Intellekts. Das Gedicht ist ein Debakel des Intellekts. Paul Valèry und Andre Bréton legen sich fest. Was ein Gedicht ausmacht, ist Konstruktion, Erzeugung auf der einen Seite, Destruktion, Auflösung auf der anderen. Doch diese Polarität greift zu kurz. Nicht nur für die Poetik Valèrys und der Surrealisten, sondern jede Poetik an sich, die den Wert eines Werkes mitbestimmt, miterzeugt. Die Poetik und das Werk, gibt es dieses Paar? Ich behaupte nicht, die Poetik ist das Werk, aber, wenn etwas ein Werk ist, ist es dann ohne Poetik möglich, wenn wir Wert, Wirkung und Funktion als Parameter für eine Poetik aufgreifen, und, aber, sofort fragen: Was wirkt wie in einem dichterischen Werk, welcher Wert wird herauszuarbeiten versucht, welche Funktionen, welche spezifische Ausdrucksmittel sind am Werk, wenn sie schon nicht das Werk allein konstituieren? Anders gefragt: Kann ein Werk, ein dichterisches Werk, ohne Poetik zu beinhalten, auftauchen, existieren, zum Vorschein kommen? Und: Was ist ein Werk? Was ist Poetik? Was ist Dichtung? Was sind Wert, Funktion, Wirkung? Dichtung ist ein Werk, das seine eigene Poetik im Aufbau einer Welt mitreflektiert, indem es sie entwickelt, nämlich beide, die Welt und die Poetik, und diese als Ganzes ist: Inspiration, Imagination, Intuition und ein Regelkatalog, ein Kalkül, Regelmechanismus, womit sich die nächsten Fragen eröffnen: Was ist Inspiration? Was ist Imagination? Was ist eine Regel?

Was ist ein Mechanismus? S

Eine Regel und eine Imagination sind, in der Dichtung, etwas Gewähltes und Freies zugleich, das heißt, gebunden an die Intuition des Dichters und an die Verbindung dieser Intuition mit etwas Festgelegtem, wodurch das Werk, die Botschaft der Dichtung ständig in Schwebe gehalten wird.

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Dieses Festgelegte wird vor dem Dichten gewählt, aber es verändert sich während des Dichtens, so dass das Gedichtete schwebt, was nicht unklar, verwischt heißen soll, sondern die Möglichkeit der Deutungen erhöht, potenziert, um auf den Kern der Botschaft während der Lektüre vorzustoßen, besser: vorzuwandern. Denn es ist mehr ein Tasten, ein Schauen, das zur Einsicht führt, die eine Übersetzung ist, ein Tun, ein Gehen, ein Wandern, als ein Blick, eine Festlegung, eine Erfassung … Die Lektüre ist nicht nur Lesen, sie ist auch ein Entziffern, ein Stillhalten, ein Zurückgehen, ein Teil der Poetik, der nicht angelegt ist vom Dichter, der aber in der Rezeption wirksam wird durch die Art und Weise der Kernerarbeitung durch Intuition und Kalkül. Es ist der ad hoc-Mechanismus des Freien, der aus Vernunft, Kalkül und Intuition Dichtung hervorbringt. Ja, Hervorbringung ist es, Hervorlockung aus dem Inneren des Erfahrens, das seine äußeren Bezugsquellen findet, erforscht, erzeugt. Finden ist Erfinden, Erforschen ist Konstruieren, Abbild ist Bild, Wirklichkeit ist Wirklichkeit, die nächsten Gleichsetzungen und Ausdifferenzierungen zugleich, die das Werk als Dichtung Kennzeichnen und es mit einer Poetik versehen, die niemals regelnormativ allein ist. Sie, die Dichtung, die Prosa, Gedicht, Drama sein kann, aber auch das, was universalpoetisch oder das ihr zu Grunde liegende Medium überschreitend, zu deren Vermischung führt, die nicht chaotisch, verwildert oder gar planlos erscheint, sondern so wie die Botschaft an sich, an sich schön sein kann. Die schön sein kann, als Form, aber auch hässlich in ihrem Inhalt. Die Form selber ist immer schön. Aber was ist schön? Was ist die Form? Was ist der Inhalt?

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Alles zusammen ist das Gedicht. Es ist nämlich aus Inhalt und aus Form, und nur dann ist es schön, wenn sich beide Ebenen treffen, kreuzen, miteinander vorantreiben oder das zähmen, was die Intuition oder die Regel in Gang gesetzt hat. Also das, was wahr ist. Das Gedicht schafft sich seine eigene Wahrheit, da sie Sprache als Substanz und als Mittel verwendet. Diese Wahrheit ist nicht zu verstehen im Sinne eines Richterspruchs, sie muss im Leser immer wieder erarbeitet werden: als wiederholte Lektüre, die nicht automatisiert abläuft, sondern die Regeln, die dem Gedicht zugrunde liegen oder die das Gedicht sich selber schafft, anwendet, und stets anders oder neu erfährt. Ohne sie erlernt zu haben — weil sie in der Form des Gedichts stecken und im Inhalt, der nicht anderes ist als: Gestaltgehalt. Die Regel, die ihn in Kombination, Widerspruch oder Gleichgewicht mit der Phantasie, besser: Imagination schafft, ist so eine intuitive Regel. Es ist die Idee Baudelaires vom durchgehenden Zusammenhang, der sich in freien Rhythmen äußern kann wie in den prosodischen Konventionen, die tief im Inneren des Menschen sitzen, die er anwendet, aber nicht weiß, als beschreibbare Regel. Das ist mit intuitiver Regel gemeint, die das Gedicht erzeugen soll oder zumindest abrufen können, nicht nur als Stimmungsimpetus im Dichter, sondern im durch den in das Machen des Gedichts hinein verwobenen Leser. Poetik ist Machen. Poesie ist Erfahrung dieses Machens. Dann ist es. Dieses Machen ist auf das Ganze aus, aus dem es kommt, und es weiß, ahnt, drängt nach den Regeln der Mathematik und Musik, nach der Schönheit der Zeichen, der Symmetrie und der semantisch befreiten Stimmungslage —  wie sie für Baudelaire in den Bildern von Delacroix aufscheint, entsteht, hervorgerufen wird bei ihrer Betrachtung. Baudelaire folgt in Bereichen der ars poetica des Horaz: Dessen grundlegende Forderung an Dichtung lautet: Sei das Werk, wie es wolle, nur soll es geschlossen und einheitlich sein. Diese Betonung von Ganzheit und Geschlossenheit ist schon aus der Poetik des Aristoteles bekannt, aber Horaz geht einen wesentlichen Schritt darüber hinaus, nicht Nachahmung ist gefragt, son-

dern Vergegenwärtigung der Dichtung, die wie ein Bild sein soll: ut pictura poesis. Alles, was das Bild konstituiert, Farbe, Gegenstand, etc. wirkt in seinen Kompositionen zusammen, von einer Farbatmosphäre getragen, die jeweils von einem Ton bestimmt wird, zu dem alle anderen in Beziehung treten. In jedem einzelnen Zustand der Ausarbeitung des Bildes, das wir durch das Gedicht ersetzen — wie die Farbe durch den Klang, also das Malerische durch das Dichterische —  wird ein Ganzes von Beziehungen angezeigt, der einer tiefen Organisation folgt, die Schönheit als Ergebnis von Vernunft und Kalkül betrachtet, und dennoch frei ist:

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Intuitiv, spontan, auf ungewöhnliche kommunikative Handlung aus, anything goes, aber die Bewegung ist nicht beliebig, wenn alles geht, dann geht es, und das ist der Tanz. Seine Schritttechnik oder sein Kalkül, das wäre die körperlich-grammatische Regelhaftigkeit, die für die Strukturen jeder Sprachen maßgebend ist, und sofort auch die Erfahrung des Dichterischen mitbestimmt. Wieder weist Horaz die Richtung: Die Dichter sollten entweder nützen [prodesse] oder erfreuen [delectare] […] oder, ODER: zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen. Produktion und Rezeption sind von einer Gefühls- und einer Verstandesseite getragen. Erstmalig werden bei Horaz Gefühl und Verstand als Kriterien der Dichtkunst miteinander verbunden. Außerdem formuliert er explizit die Funktion, die Literatur durch diese Vermischung erfüllen kann: Der Dichter soll Süßes und Nützliches mischen und den Leser ergötzen und gleichermaßen belehren. Wer bis dato unter der Funktion von Dichtung nur die Unterhaltung und die Darstellung einer möglichen Wirklichkeit verstand, wird nun von einer neuen Funktion der Literatur: der Belehrung, überrascht — und neu herausgefordert. Ohne sie wäre Dichtung, ja Erfahrung, Welt nicht möglich, ob sie jetzt gebrochen, erweitert, irritiert, ins Rauschen gebracht wird oder nicht, der Bezug zur Vernunft, Organisation, Abstimmung bleibt, und er leitet Poetiken ein, die eine absolute Sicherheit des Wissens unterwandern, und ihr eigenes, umgedeutetes, aus der Erfahrung mit und in der Sprache hervorgebrachtes Wissen ins Spiel bringen, das mehr als ein Sprachspiel ist:

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blickt zu mir der Töne Licht S

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und oder:

je preiser einer gefällt wird, desto durcher fällt er Zwei Formulierungen, aus Brentanos „Abendständchen“, und, aus der Sprachfackelei von Karl Kraus: Warum verstehen wir beide Aussagen, nicht sofort, dann schon, dann wieder nicht. Dann, schon, wieder nicht, also noch einmal, noch einmal, und immer wieder. Das ist die Poetik, die ich meine, die mich ergreift.

Vierundvierzig Gedichte, jedes von ihnen ein Buch S

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Für Reinhard Priessnitz

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Reinhard Priessnitz’ zu Lebzeiten einzig veröffentlichter Gedichtband (sämtliche semmeln) stellen ein zentrales Werk der Dichtkunst dar. Nein, sie bewegen diese, von ihrem Anfang an auf ein offenes Ende hin. Einklinkbar für uns Schreibende heute, jederzeit: schwebende Schreibweise — die Zwischensprache: Haltung — Literatur als Entfremdung vom Automatismus; Vermischung der Sprachformen — der Dialekt, das Idiom, der ironische Zeigegestus (richtung runter zu): das Aufgreifen von Traditionen als dynamisch-geistiges Movens; das Zitat als Gedanke, der sich in Wortempfindung und Versgestalt transformiert. Die Verfertigung des Gedichts wandert durch den Dichter hindurch. Er hat zu schreiben und zu sprechen, was durch ihn schreibt und spricht. Er reflektiert diese Prozesse und bringt sie als Gedicht hervor. In seinen Potentialen berührt es existentiell umfassenden Bereiche des Schreibens: den Körper, aus dem es tritt, der es wiegt, hortet, rhythmisiert; den Geist, den Gedanken, der diesen Rhythmen folgt und sie neu zu lenken versteht, sie durch eine Art An-Denken erzeugt; das Feld, in dem der Körper und die Sprache steht, liegt, lebt. Und das er nicht als ihn bestimmende Umwelt verstehen will und kann. Das Drama des Verstehens setzt ein: Er zerteilt das Ganze, sprengt es oder zersägt es fein, um es neu zusammenzufügen. Auch als Prosaist und Essayist. Das alles ist Reinhard Priessnitz. Ich formulierte es für mich einmal so: Er ist der Kilometerstein, der stets mitfliegt

Zu den Dingern von Pils/ Pulsinger

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Etwas sperrt — sich nicht ein und uns nicht aus. Es handelt sich um ein Ding. Nicht nur an sich in der Außenwelt ist es vor allem für uns vorhanden, kann erst in bezug auf uns sperrig sein. Wir stoßen uns daran, aber es stoßt uns an, spürend zu empfinden, was es ist: durch Sehen, Greifen, Riechen, Hören. Es geht: auf eine Wand zu, die steht, auch als eine Art Bild. Und: um eine zweite Wand, die weht — in Tönen schwingt, als eine Art Stück. Sie schwingt um die sichtbare Wand herum, wie auch um sich selbst. Dabei verlangt sie nach der sichtbaren Wand, auf dass: Die Wand klingt. So wie: Die Brücke tönt. Der Keil singt. Als Ton-Film, der sich im Bewusstsein des Betrachters abspielt, der vor beiden Wänden steht oder zwischen diesen geht oder in sie hinein gerät —  wie in die weiteren Dinger, um die es geht — Brücke und Keil. Auch sie sind wie die Wand: Gegenstände aus der Hinterhand — der Kunst. Als Pils/Pulsingers Bilder, Objekte und Musiken sind sie zu sehen, zu hören, zu begehen, zu begreifen. Dieses Begreifen kann auch im Sinn von Verstehen verstanden werden: Nicht nur als Fassen, vielmehr als Erfassen. Was nicht weniger Schauen, Lauschen, Plauschen heißt. Über die Sinne kehren die Dinger in den Sinn — ihrer Bedeutung, ihres Gebrauchs — ein und machen sich und ihn frei. In dieser Art Freiraum, der sperrig und fließend zugleich ist, sprechen sie eine, also ihre Sprache der Kunst. Deren Sprache knistert. Laut und leise, laut und luise auch. Sie rauscht knapp am Ordentlichen vorbei und ist ein wenig schön defekt. Sie setzt nicht nur auf den Effekt wie auf folgenden: Jetzt hab ich dich und ordne dich, ruckzuck, in mein Weltbild ein. — Also stellen wir uns im freien Spiel der Einbildungskräfte vor, was die so eben anders sind, die Dinger da draußen, wie auch — im Umgang mit ihnen — als Gegenstände in uns da drinnen. — Ein Dialog entsteht. Eine Rede in Strichen, Tönen und Gedanken daraus. Eine Form. Ich und es. Wir und es. Ich und du. Der Dialog, als Rede zwischen den Dingern in deren Formen, wird von diesen angestoßen, eröffnet — draußen wie drinnen. Die Sprache der Dinger ist, wie gesagt, ein wenig sperrig, wenn auch elegant und fließend. Der Schauende erlebt Töne, der Hörende erlebt Bilder. Und sonst? Flacher Aktionismus genügt doch nicht — also: Die Wahrnehmung darf wieder Empfindung sein. Die Empfindung fordert die Wahrnehmung des Gegebenen neu heraus. Während der Herausforderung entsteht das Spiel zwischen den Stadien der Empfindungen

und Wahrnehmungen als Erfahrung. Das ist wahre Kunst des Gebens und nicht nur des Nehmens. Was gesehen oder gehört wird, kommt aus den Dingen und die sitzen im verwirrten Kopf, der ihnen die Funktion neu zuspielt, verstärkend die alte bis zum Wahn-Sinn oder neu bis zum Nichts.

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Aber: Das versteh ich nicht! zu rufen, wäre zu leicht. Die Erfahrung stimmt nicht, weil sie künstlerisch bewusst gesetzt, ein klein wenig unstimmig daherkommt, also schön schwingt, enge Weite, tonloser Hall, der keil like. Es gärt also in unserem Inneren, die wir auf die sperrigen Dinger stoßen, das uns Pils/Pulsinger so fließend ins Ohr gepflanzt und als Streich vor die Nase gesetzt haben — von der Iris des Auges und der Muschel des Ohres hinauf in das, was denkt und lenkt: Ins Bewusstsein, wo das, wie gesagt, freie Spiel der Einbildungskräfte das Gärende zur Reife bringen will. Ob diese Reifung wirklich so frei erfolgt, das könnte vielleicht die Frage sein. Eine Antwort gäbe das Tätigwerden mit den Dingern, als eine Weise des Erkundens: Die beengende Einrichtung befreit das denkende Auge. Durch den Gang zwischen Wand und Bild sehen wir einen Gegenstand des Bildes trotz lauter Gegenstände des ganzen Bildes eben nicht auf einmal, sondern das Ganze im Detail (wie den Baum trotz der Wälder). Die Dimensionen der Dinger allein bewirken schon Irritation. Das Feine des Klangs schwingt sich mit dem Groben der Brücke oder dem Wenigen des Bildes ein. Das ist viel. Die Grenzen der Werke, Musik, Malerei, Skulptur werden dabei nicht aufgehoben in den Dingern selbst wie im einzelnen Betrachter. Und doch scheint das Verlangen, genau diese ungenaue Grenze ständig zu überschreiten, erfüllbar durch eine sich ständig anbahnende, aber nie endgültig einstellende Verschmelzung des Ganzen aus Musik, Malerei, Skulptur — ein Genuss der Wahrnehmung und Empfindung im Herzen des Kopfes, die aus den Sinnen kommen. Die werden beansprucht, bean-hört, mit-ein-gestimmt: Klang des Bildes, Bild des Klanges. Möglicherweise durch eine Veränderung der herkömmlichen Notation in der Musik, die für die Malerei, als anderes System der Kunst, nicht möglich ist, aber dennoch versucht wird: durch Veränderung der Perspektive und des üblichen Rahmens, das heißt: kein Rahmen, die Perspektive zentral gestört, der Verlust der Mitte aber gerade dadurch ins Lot gebracht auf einer schiefen Ebene den Handstand so eingerichtet, dass kein Turner dabei herauskommt, also installiert wird! Also Ende im Anfang, anfangende,s stets. Jedoch kein Spiel der Beliebigkeit durch den bewusst und in die Dinger eingebrachten Wider-Stand oder den Bruch mit der Erwartung des zu Erwartenden, wodurch die

Zu den Dingern von Pils / Pulsinger

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Dinger zu dem werden, was sie sind: Kunstwerke, Kunst. Auch außerhalb meiner: Brücke, Keil, Wand. Sie sind wahrlich keine Kopien der Wirklichkeit. Ein solch verdammtes Ding ist genug. Allein existieren sie zwar, das schon, aber wie sie erscheinen, das legen die Augen und das darüber Geschaltete auf ihre Weise fest, und machen sie in der Kunst zu den Dingern (auch von Pils/Pulsinger): Ist der Gegenstand das Übliche, muss eben die Empfindung zum Unüblichen gemacht werden. Sie ist auf ihre einzigartige Weise unübertragbar, wohl aber das, was sie in mir w i e auslöst auf andere auch. Als Keil, als Brücke, als Wand, die nicht Keil sind, Brücke, Wand am üblichen Ort — in der Welt der Natur und in der des Museums auch. Was sie dort verbinden oder trennen oder übertragen oder verkeilen, das wird zum Gegenstand der Auflösung durch den Willen zur Veränderung.

Wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn. Das hat den Geschmack und die historischen Bedingungen zu verdauen, die das Sehen festlegen und damit auch das Gesehene. Oder die dieses sehende Gehirn zu genießen hat. Ein wahres Fressen oder nicht, je nachdem. Das Gehörte auch. Alles, Ton in Ton liegt im Gedächtnis gespeichert. Alles gibt sich abrufbar. Es hat ja alles in uns und um uns herum wie geschmiert zu funktionieren. Ergriffensein gehört dazu, das wollen wir immer. Aber wir könnten es auch anders. Das cool memory, das cool manifest — das war schön ausgedacht, jetzt machen wir die Sachen wieder zu Taten und heißer. Das setzt die Kühle voraus. Drinnen wie draußen. Gegenseitig ist Veränderung angesagt — im Kopf beim Ding am Ort. Keine Frage: Die Dinger von Pils/Pulsinger schärfen die Wahrnehmung — nicht nur die der Dinger, sondern auch die Wahrnehmung des Ortes, aus dem sie kommen, an dem sie stehen, nämlich jenen ihrer Gebraucher. Also auch unseren Ort und den Blick darauf. Ort der Gesellschaft sagen sie nicht. Sagen wir nicht. Sage ich nicht. Wie lese ich, Gebraucher also, die Dinger? Lesen als unschuldiger Leser oder Lesen als Autor? Oder Sehen als unschuldiger Sehender oder Sehen als Künstler? Oder Hören als unschuldiger Hörer oder Hören als Künstler, der weniger auf vorgegebenen Bahnen liest, sieht, hört als der Unschuldige? Der aus dem Feldchen seiner Diktion und Seh- und Sprech- und Wahrnehmungsweise heraus liest, sieht, hört. Und glaubt, anders zu empfinden? Aber der Traum vom Auge im unbefleckten Urzustand bleibt ein Traum. Trotzdem erhoffe ich, mir es ausmalen zu lassen durch das Sehen und Hören der von Pils/Pulsinger vorgegebenen Dinger. Ich werde von ihnen empfindlich gemacht auf kontrollierte Weise des Unkontrollierten, ich liebe das Eintreffen des Unerwarteten, ich weine, wenn ich lache, ich gehe

über die Brücke, wenn ich vor Wand stehe, ich höre Bilder und sehe Musik, wenn der Keil eingetrieben wird. Alles ist so, wie es möglicherweise gewesen sein wird. Darum geht es und ich und wir weiter.

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0 An der Grenze von Rede und Geschriebenem, dort wo die Dichtungsprachwandelt, ist der Grat eines methodisch abgesicherten Kamms schmal, eng, hauchdünn. Die Dichtung geht ihn, zieht sprachlich leicht gesetzte Konturen in den Boden und in die Luft über diesem Kamm, der zu einem aus Rede und aus Geschriebenem wird. Sie zeichnet ihn unten, am Grund, im Reizfeld des Lautes, der Silbe, des Wortes, materiell. Und sie zeichnet ihn oben, im Logikfeld des Denkens, der Verkettung und Verknüpfung des Gedankens, abstrakt — scharf. Laut gebärt es sich dabei nie, ihr Blasen auf diesem Kamm, als Rede von Lauten zwar schon, aber diese Rede reicht weit über den mitteilenden Gestus hinaus: Sie dient ihrer eigenen rhetorischen Verwandlung — von der Mitteilung zur Parade verschieden bildbarer Botschaften. Diese erscheint nur in der von Rauschfrequenzen durchsetzten Rede möglich, kaum in der frequenzgeklärten Eindeutigkeit des Geschriebenen. Aber die Dichtung dreht die Abhängigkeiten von Rede und Geschriebenem um und ineinander. 1 Der Dichtung Schreiben, dieser Blasgesang haarscharf unter und über dem Grat des methodischen Kamms, spricht dabei keine Dichtung des Beliebigen, des Scheins oder des Schwindels gar. Nein, es versuchte und versucht, sucht — Schreibweisen als Sprechweisen und Sprechweisen als Schreibweisen, probiert also Ver-, Um-, Kehr- und Vordrehungen textlich so lange aus, bis sich deren Windungen in ein provisorisches Welt-Erfassen schrauben, das aus einer Konstruktion der Dichtung herrührt und das durch diese hindurch führt. Diese Konstruktion bildet ihren antimethodisch-methodischen Kamm, auf dem und den sie gleichsam bläst: Eine gewählte instabile Form des Selbst, durch das immer wieder neu mit gefundenen Zeichengewinden gedreht wird, die aus Wörtern, Satzteilen und Sätzen bestehen — hinab, hinauf, Wort-Höhle-Flucht, Bild-Höhe-Kamm. Dort unten und oben findet sich die Dichtung als Stoff wieder, als ein fortlaufendes, sich stets weiterschreibendes Gebilde, das spricht und schreibt und schreibt und spricht. Von dort oben oder unten ruft es nicht als Orator ins Tal oder vom Gipfel auf den Leser und Hörer hinab, sondern wird zur Rhegraphorin , die schreibt, obwohl und indem sie die Mittel der Rede als rhetorisches Wink-, ja Werkzeug verwendet.

Die sind: die Anrede, das dialogische Schema des Monologs, das Ausdrücken in Bildern aufgrund sich momentan verschiebender Einsichten, die durch das Sprechen mit jemandem oder über etwas mit jemandem, die nur im Gespräch oder besser in der Rede, innen ist draußen, möglich sind. Diese Rede spricht in Schrift, sie schreibt ja. Aber sie schreibt nicht auf oder nieder, was sie der Wirklichkeit im Zuhören ablauscht, denn sie ist keine Zitatorin. Sie befindet sich oder begibt sich in das Stadium von ständigem Zusprechen, Ansprechen, Hinsprechen oder Wegsprechen der gefundenen Zeichen-, Wort- und Bildteile, während sie sie erfasst und sie von ihnen erfasst wird. Als beides, und das ist bei ihr Erfassen in der Rede des Schreibens als Geschriebenes. Dieses Geschriebene ist deshalb nie nur das ihre und auch nie nur das anders Geschriebene, eher das Geschriebene des Anderen, das Laut und Sinn verfängt und das dem Erkennen, vielleicht, vorausgeht. Sie ist also ein Wesen aus beiden, etwas das sich zusammenfügt, ergibt, sich ineinander dreht. Etwas zunächst Zugelassenes, dann Gemachtes und schließlich Hinausgetriebenes — eine Konstruktion war es, aber verwandelt Hervorgebrachtes ist es, wird es: Das ruft, was es war, aber aus einem Mund mit einer Stimme, die gewesen sein wird, ein Schall, der aus dem Vorne kommt. Dadurch, ja das ist der Dichtung antimethodischer Trotz innerhalb der selbstgewählten Konstruktion, bleibt nichts nur stumm oder laut, sondern gebärdet sich als beides in einem, in (s)einer geschriebenen Rede oder geredetem Geschriebenen:

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Dieses Paradox, das kann und will die Dichtung nicht methodisch weg-exerzieren, nein, sie kann und will es nur aus sich selbst heraus, durch lange Jahre andauerndes Üben, Arbeiten, Verlangen, Versagen, Genießen — herstellen lassen. Und dieses Lassen darf und will nicht nur Methode sein, obwohl es methodisch daherkommt, das Schreiben der Rede in geschriebener Schrift nach und vor der Montage, dem Anagramm, der Anapher, dem Kontrapunkt, die sie schreibend redet: rausredet, aber nicht aus und zu Ende redet, sondern raus-reden lässt, hervorbringen. 2 Diese Hervorgebrachte dringt in das Leben aus Konstruktion, in diese Schriftwelt aus Zeichen, die sich zu Stimmen formieren, ein und erweckt es: Stimmen-Malung, die ohne synästhetische Effekt-Zier Ohren sehen lässt und Augen sprechen — im Fluss

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der Hand, die von den Fingerspitzen bis in die Zellen des Verstands reicht. Dort ist und daraus wird alles zur Artikulation: Wir konstruieren immer. Aber was und wie? Wir artikulieren immer. (Dem Sinn entgehen wir nicht.) Aber was und wie? Wir wollen es herausheben aus dem Geschrieben-geredet-Nest — damit dieses Nest nie endgültig voll ist. Die Dichtung trägt es über den oben genannten Kamm, trägt es auf und ab, füllt damit die selbst bewirkten Ritzen im Materiellen und Abstrakten — wiederum mit geschriebener Rede, die eine aus Wortewörtern ist. Einzeln füllen sie die Schlag- oder Luftlöcher, die Wörter, die an-zitiert gefundenen, leicht veränderten und dann neu zusammenkomponierten Wortkaskaden, zu jenen Worten, die Text werden. Die aber immer auch ihr Wort für sich allein abgeben, sich ergeben, ein- und dann darstellen: Worte als Wörter und Wörterwörter als Worte! Der Dichtung Schreiben ist semiologisches Paradox: Das Semantische des Textes wird durch die Dichtung hindurch ins Syntaktische erstreckt. Das geht so: Das an sich entkörpert un-erfahrene, arbiträre Wort (in seiner Bedeutung) entpuppt und verkörpert sich im Feld der verbundenen Übertragungen materiell neu. Es aktualisiert sich im Moment des Raumes, den es im Sprechen (mit)aktualisiert und macht das Bild der Übertragung zum Bild des erfahrbaren Begreifens — durch die Verknüpfung mit anderen Wörtern, die ebenfalls zu semantisch begreifbaren Verkörperungen werden. Was sich sonst ausschließt, das Paradigma, verbindet sich auf einmal durch den Austausch hindurch mit anderen Paradigmen zum Syntagma. (Das Paradigma kehrt wieder als Bestandteil des Syntagmas, die Metapher wird zur Metonymie.) 3 Und somit: ist die Rhegraphorin der Wortewörter nie eine Sprecherin der festgeschriebenen Information, das Kennzeichen der nieder-geschriebenen Macht. Sie lässt viel mehr etwas mit den ersten Bedeutungen geschehen, bewegt das Nominale dynamisch während der Zeit seines Erfassens, um es umzu-fassen. Aus der neuen Fassung der Bilder und Zeichen schälen sich zweite und dritte Bedeutungen heraus, die ihre erste nie verschweigen, sondern stets demonstrieren, — zeigen, vorführen —, auf welchen Wegen der Verbindung sie verwandelt wurden. Diese Verwandlung aber erweist sich als nicht methodisch nachvollziehbar, ist keiner text-

algorithmischen Regel folgend erzeug- und nachstellbar. Sie bildet sich vielmehr in einem Feld des Dunkeln und Unwissenden aus, das durch den Kontext der Wörter, in dem diese zu Worten werden, erahnbar und manchmal, am Kamm, am Schopf des Gottes, der entfleucht, fassbar wird.

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Also so: Das Gefundene — Zeichen, Bild, Wort — wird zum Erfundenen — Zeichen, Bild, Wort — transformiert, besser: es transformiert sich selbst. Der Körper, also: das Bewusstsein, die Emotion, das Denken geben dabei das Schema, die Schaltstelle, das Modul, das Medium im eigentlichen Sinn ab. Sie bilden die medialen Schnittstellen zur Verknüpfung und Entflechtung der informativen Knoten zu einem durch dichterische Praxis ent-systematisierten Erfahrungs-Komplex hin, der die Emotion abstrahiert und das Abstrakte emotionalisiert. Das heißt: dass nicht ein Komplex allein regiert. Der Dichtung Zeichen- und Bildreden erweist sich stets als ein wort-über-bildgreifendes Reden, das nicht in das Geschriebene flieht, sondern in dieser Gestalt findet und verwandelt heraustritt. Eine Gestalt, die nicht das Schriftbild allein ist. Dieses Ein-Geschriebene der sinnlichen Gravur von Sinn ist es nicht, sondern es handelt sich um das ganze lebendig gemachte System aus Zeichen, Bild und Wort, das von der Rhegraphorin Dichtung an- und umgestimmt und frei geschrieben wird. 4 Das Niederschreiben, da es ja ein Freischreiben bedeutet, dient deshalb keineswegs als Gedächtnisstütze. Im Gegenteil: Es aktiviert, es ruft das darin Gespeicherte nicht nur ab, sondern fordert das Gedächtnis erst auf, das Vorkonstruierte zu vergessen und: neu oder anders zu verbinden, zu verknüpfen. Nicht die Erinnerungen darin werden wachgerufen, sondern Räume geschaffen, für immer wieder neu einwandernde wahrgenommene Elemente, die aus den Zeichen-, Bild- und Wortfunden der Dichtung herrühren. Was sie findet, sucht es auf. Und dieses Aufsuchen wiederum beeinflusst durch den Rück- und Durchfluss durch ihr Selbst genau dieses: das Selbst, das oben gemeinte ganze System, das in Schwingung gebracht wird: Das Semantische und das Syntaktische, das gesprochen Geschriebene finden zu einer Einheit zusammen, in der nicht nur benannt und festgeredet wird.

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In der Geschriebenenrede und dem Redegeschriebenen der Dichtung wird nicht nur bezeichnet und festgemacht, nicht angekettet, es wird das Wort an die Sache geschmiegt, jene von diesem umkreist und wieder losgelassen. Das Semantische setzt sich in Bewegung, es wandert, wie gesagt, in die Syntax ein und holt sich von dort seine Bedeutung zurück oder schafft sie neu. Der Weg, auf dem das durch Verwandlung Wandernde, selbst der Verwandlung unterliegt, ist jener, der auch in das Selbst der Dichter reicht. Er wird zu diesem — und dort, wo er sich mit dem des Lesers schneidet, wächst er zum Medium weiter. Die Transformation des Systems selbst findet sich im Selbst des Autors und des Lesers wieder — in jenem Schnittpunkt-Moment von Geschriebenem und Rede, bis zum nächsten. 5 Und: der kommt bestimmt daher. Zum Beispiel aus der nie endenden Lektüre von Welt. Es wird gelesen und geschaut, und aus dem Raum des Echos heraus geschrieben — das Reden vom Lesen als erschrieben Geschautes. Dieses wird im schönsten Sinn des Wortes empfangen und bildet die Fortsetzung jenes Kamms, der von der wirklichen Landschaft des Wahrgenommenen in die gezeichnete auf der Karte des umerinnerten Bewusstseins, des Empfundenen übergeht. Die Dichtung ist somit nicht irgend wo, sondern nirgend nur so, sie ist Drinnendraussen, ist so die PostBotin der fremden Les-Art. Das und diese empfängt sie, sendet sie als die ihre an uns. Die Kanäle der Botschaft macht sie dabei gewollt porös, als das ihr Methodische wider den Methodenzwang: Kommunizierende Röhren wachsen verwebt durch die Löcher des Porösen in der Rede hindurch, um dann in Geschriebenes zu münden, besser: zu munden, da diese wiederum zum Aufbau einer neuen Landschaft im Bewusstsein, wo Empfindung und Wahrnehmung kurz eins werden, beitragen, und den Sprechmund besetzen. Wo beide, Mund und Denken, Rede und Geschriebenes eins werden und sich dennoch immer wieder spalten — zum Beispiel den Namen spalten in die Vorstellung des Namenträgers, —  damit er das wird, was er heißt —, und spalten in seinen Körper aus Wort, Buchstabe, Vokal und Konsonant: Damit der Name Fleisch geworden ist — aus einem Text herbeigearbeitet und in dem daraus Sprießenden neu umgesetzt: ins Fleisch des Geschriebenen ist er worden umgesetzt der Name, und das kommt vom anderen, vom Namen oder Wort davor, weil es somit das nächste im eigenen Anderen sein kann.

Das intimste Geschriebene des anderen als das eigene Andere —  die Fremdrede, als Ausgangspunkt der Verkettung mit der Eigenrede, dreht die Folge zu Ursache zurück. Somit wird jede Erklärung der Ursache, des Grundes, immer wieder zurückgeworfen auf ihre dichterische Ursprünglichkeit — auf jene der Verkettung von Rede und Geschriebenem. Auf die des Klangs und dessen sinnlichste Abstraktion, die möglich ist, auf die in der Schrift. Bei der Dichtung Schreiben handelt es sich um das Klingen, nicht um den Klang:

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Es ist ein Vorgang, jener des Klangs im Wort der Rede, der in der geschriebenen das Klingen schreibt. Und dieses wird, ist — in diesem Hof der Bedeutungen, die zwei sind als eins, dort läuft dieser Prozess der sich spaltenden Entsprechung, dort ist die Findung in der Spaltung, Schrift-Welle und Laut-Materie zugleich. 6 Diese Gleichzeitigkeit ist bestimmend für das unbestimmbar bestimmte Reden in Geschriebenem, das dadurch nicht zu fragen braucht: Wer spricht, wer hört, wer sieht — es sind die Jeweiligen, ja die Jeweiligen an sich, die sprechen, hören, sehen: Zustände, Konstellationen, Personen, Figuren, Redeweisen und so fort, mit denen sie am Kamm mit dem Kamm den Scheitel oben und unten zieht: im Körper (des Bodens, unter der Haut — das Geschriebene ritzt den Leib) und im Abstrakten (der Luft, über dem Zellenverband — die Rede bosselt die Hirnlandschaft) und eins wird im Reden/Schreiben — und im Lesen genauso. Aber klar und immer nachvollziehbar für den hörenden Leser und lesenden Hörer ist ihr Vorgang des Erkennens nicht. So weit trägt die Antimethode der Dichtung, ganz methodisch, nicht. Sie will nicht preisgeben, den letzten Kern des Unentblätterbaren, sie kann ihn nicht entschlüsseln. Das ist ihre Grenze. Die herrliche Grenze der Dichtung. Wir wollen Wissen! Wir brauchen Unwissen! Und das verwirrt. Der Dichtung Ordnung ist chaotisch, sie ist schön, aber sie weigert sich, ihre Struktur billig vorzuzeigen. Es ist ja auch ein wenig der Zufall, der sie schafft, und der lässt auch im Bewusstsein den neu eingehenden oder einschwebenden Wortreiz einmal so und einmal so zum Bild des Verstehens wachsen. Dieses Bildverstehen aus dem Wort, das somit immer ein klein wenig anders, und

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somit (un)natürlich dem analytischen Drängen jeder Erfahrung nicht immer (an)genehm ist. Wir müssen sie wieder lernen, die Unschärfe: Ja, wir wollen verstehen! Aber, wir brauchen Unwissen! Und dazwischen liegt — und dieses Niemandsland sucht sie auf, versucht es und sich und uns, die Dichtung. 7 Der Dichtung Verstehen ist Relation. Sie zu verstehen, ihre Dichtung, das verlangt den Aufbau eines Schemas, das diese Relation ermöglicht. Das Einpassen ihrer Wortbilder in die unserer Lesart — das liefert sie nicht im Sinn einer Handlungsanweisung mit. Sie gibt aber ein Leitseil vor, um das wir unsere Bilder anhand ihrer (Wörter Bilder) knüpfen können und um-zu-verstehen lernen. Auf jenem Weg der Verwandlung, die sie durch ihr singendes Schreiben, das bei ihr im Selbstgeschriebenen redet, eröffnet. Und uns, den Lesern und Hervorbringern, den Aufbau dieses Modells aus Unschärfe, aus dem Zwischenbereich von Abstraktion und Sinnlichkeit, Körper und Bewusstsein, Boden und Luft, ermöglicht. Die Dichtung gibt den Kamm, auf dem sie wandelt als Gegenstand der Erfahrung in die Hand des Hörer-Leser-Bewusstseins weiter. Und in jene Hand, die tatsächlich den vom Kamm gescheitelten Gegenstand, das Buch, hält — und von dort zu einer umfassenden Erfahrung des Verstehens führt, ohne die Wege dieser Einsicht klar zu erkennen und nachvollziehen zu müssen. 8 Die Zunge der Dichtung klingt im Graph, und dieser spricht in Geschriebenem. Der manifeste Ausdruck geht dahin, zurückbleibt ein Rest an Bedeutung: als Ruine oder als Fundament? — das bestimmt der Kontext: und daraus und darauf dann feuert Verstehen durch poetische Setzung, durch Dichtung, deren Sprache läuft. Wie?: Parallel zum Bewusstsein? Es ist nicht klar, ob die Dichtung das Bewusstsein als Sprache begreift, ihr Bewusstsein Sprache ist. Vermutlich läuft die Sprache in einem Paralleluniversum aus Bildern und aus sonstigen Zeichen. Es handelt sich wohl um diverse Tableaus, auf welche die Hände der Dichtung greifen — und in einem bestimmten Augenblick des Zusammenschlusses oder des Zusammenfindens ergibt es dann den momentanen Punkt der Einheit. Dadurch erweist sich diese als eben nicht zufällig. Denn in der Schrift des Geschriebenen sieht die Hand mehr als das Auge schrieb, oder besser: das Auge sieht, erstaunt, bestürzt beglückt, was die Hand da schreibt. Und es weiß,

dass es die Hand allein nicht ist, denn die Spitzen der Fingerkuppen, die sitzen im Gehirn. Und Verstehen ist dann die Ingangsetzung der Bild- und Zeichenkader, magisch am Blatt. Immer wieder wiegen sich die Blätter im Rauschen, das die Bewegungen der Hand, des Stifts und der Wimpern erzeugen, und wachsen zum Film.

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Der Film aber reißt hin und wieder. Und der Riss — das ist eben dann der Kamm, der aber nicht wild zerschneidet, und erst dann faltet. Die Dichtung ist nicht die Lady des äußeren fold-in oder cut-up, ihr wirkliches Blattfalten, das scheidet und schneidet, das passiert in der Vorstellung, im Kopf und im Leib. Beider Landschaft, der Raum aus inneren und äußeren Gegenständen — die ist eine rhetorische durchtränkte mit den Figuren der Rede als Geschriebenes. Darin ist das Bildliche nicht Bestandteil oder Mitbringsel des Wortes, der Sprache, sondern Partner, Gegenüber, gleichsam und tatsächlich Mit/Über. Dann, wenn das Eine — Zeichen, Bild, Wort — in das Andere — Zeichen, Wort, Bild — geht, sich faltet. Es denkt also nicht geradelings, nein, es faltet sich bei der Rhegraphorin, und der Riss ist der Grat, nicht der Bruch. Es ist eher die Naht, die verbindet, keine Bügelfalte, die das Geknitterte kittet. Es ist mehr ein besessenes Glauben, kein kühler Beweis, das bei ihr aufzugehen scheint — das, was Helmut Heißenbüttel zu Reinhard Priessnitz angemerkt hat, nämlich: Wie weit eine Methode nicht trägt! Es sind die Wellen, die aus dem Meer des Methodischen all jenes an Zeichen, Wort und Bild erfassen, was die Luft und der Sand so zu bieten haben. Und dann erfolgt der Ritt auf dem Wellenkamm aller drei Elemente, und das strudelt natürlich künstlich und uns alle miteinander ab. Wir können nicht Schwimmen lernen mit den hier vorgelegten Blättern, es gibt keine Tempi-Anweisungen, keine Figurenmodelle, sie alle tauchen auf und verschwinden wieder. Es bleibt aber das Gewebe, das Netz, an dem der Halt nicht so leicht greifen mag, wir fallen, purzeln durch, aber wir spüren den Sturz, und die Welt ist alles, was dieser Fall ist. Das war der Traum.

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Die Welt ist keine Bühne, die Bühne ist die Welt. Das Künstliche ist Wirklichkeit. Das Klischee Original. Das Triviale ist erhaben, das Profane majestätisch. Alles ist Erstfund. Auch das zum zweiten Mal hoch n bereits Gesagte. Das klingt nach errechnet, aber das Gedicht H.C. Artmanns, die Poesie als Weltanschauung kommt niemals (nur) berechnend daher — : Obwohl H.C. Artmann weiß, was wirkt, und vor allem vom Wie weiß, das die Wirkung konstituiert — in rhetorischen Gang setzt und am selbst inszenierten Leben hält — ist dennoch die Art seines poetischen Weges ein frei gebundener. Gedichte werden nicht mit Ideen gemacht, junger Mann. Sondern mit Wörtern. Dieses Diktum Mallarmés ist bei Artmann nur die halbe Wahrheit. Er weiß, aus Erfahrung, nicht aus sprachphilosophischer Erkenntnis heraus, dass der Satz zerfällt, wenn wir ihn in seine Einzelteile zerlegen würden und den Sinn in diesen Teilen allein erkennen wollten. Wenn der Sinn des Wortes der Satz ist, und dieser verlassen wird, dann zerfällt seine Landschaft. Aber nicht schön geordnet in Bäume, Gras, Erde, sie verschwindet im Nebel des Oberbegriffs Natur, der zwar klar wirkt, aber das Auge logozentriert und das Erkennen blind macht. Artmann dagegen, und Dagegen ist bei ihm immer ein Dafür, will schauen und Schauen machen. Nicht den Blick und den Begriff eins setzen, sondern zeigen, dass es so sein könnte, was er da durch und mit den Wörtern verbindet. Oder sie zumindest so einander annähert, dass genau in dieser Möglichkeit der Berührung so etwas wie Wirklichkeit entsteht. In ihm, der das schreibt und spricht, und in uns, die wir das lesen und hören. Diese vorstellungen von wörtern, wir beachten auch hier den Begriff der Vorstellung (von Wörtern) als sinnliche Gestalt und inhaltliche Setzung, haben Augen. Und mit diesen augen, den facettenaugen schauen sie sich wie käfer unaufhörlich und aus allen winkeln an. Das ist die Bühne, das ist Theater des Künstlichen. Aber: Es ist sinnlich. Es ist erotisch. Ein Vorgang. Ein Prozess. Nicht Erotik, die starr im Begriff fixiert ist. Artmann ist kuppler, zuhälter von worten, der das bett bietet. Darin wird gezeugt, Unzucht getrieben, Magie ausgeübt, die durch den Autor hindurchweht und ihn erweitert, aber auch gebrochen und maskiert zurücklässt. Aber genau darum ist er drinnen, sind wir drinnen — in den Wörtern auf die anderen hin, Stücke im Stück. Wir spielen mit. Ein Stück Wirklichkeit mit allen Mitteln des natürlich Künstlichen gebaut. Und das ist erbauend. Auch im Sinn von Erhaben, weil es so etwas wie ein Erkennen durch den Aha-Effekt bewirkt, das für jeden von uns, Leser und Schauer, sein eigenstes zu sein scheint.

Denn: Es wird anders gezeigt. Die Gedichte Artmanns sind Zeigegedichte, jedoch nicht im Sinn der Mimesis, eher im Sinn der Mimikry stellen sie das andere immer in sich selber dar. Nämlich: um. Sie stellen um. Das Wort, der Satz, sie alle sind Figuren, die verrückt, nebeneinander oder ineinander gerückt existieren, die handeln und tätig werden, auch als Buchstabe, Laut, Wort, aber immer hin zum Satz. Und dadurch wirken sie im Leser, den sie aufsuchen, um ihn zum (Mit) Spielenden zu bewegen, werden durch diese Bewegung eigen-artig subjektiv erfahrbar.

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Ich kenne die Figuren, die H.C. Artmann auftreten lässt, und ich kenne sie nicht. Dann, wenn sie sprechen, und zwar in dem Zusammenhang, in dem sie sich mit anderen Figuren und Wörtern konfigurieren, und sich derart unbekannt bekannt gebärden. Besser: gebären, also geboren werden, aus sich selbst und aus dem Fundus heraus — der Literatur, der Sage, des Mythos; der Fremd-Sprache jedenfalls, die immer die Mutter ist, mit deren Zunge der Dichter spricht. Und er ist diese Mutter, aber Vater und Kind auch. Er ist Adressat und Absender zugleich — wer schreibt, wer nimmt sie entgegen, die Botschaft der Gedichte der lilienweissen Briefe, ist keine Frage der Information mehr wert. Der Wert des Autors aber ist gegeben, wenn auch nicht unantastbar. Er wird abgetastet, an den Wörterkonturen ab- und umgeschliffen. Ununterbrochen schafft er sich neue Sprach-Grenzen, die immer auch die von außen sind. Aber weniger vom vorgegebenen buchstäblichen Text, als vom Geist dieses aufgenommenen Textes, den H.C. Artmann nicht nur zu inhalieren versteht, sondern gleich mit erzeugt — also: diesen derart versteht. In sich und an sich, und somit das Alte nicht erweitert, sondern das Neue aus dem Alten holt. Fiktive Vergangenheit wird als Gegenwart vermittelt. Dabei werden beiden neue Grenzen gesetzt, die jedoch das alte Territorium, das nie kriegerisch erobert, sondern friedlich erforscht wurde, nicht vergessen lassen. Wer rief? Das B im Brief rief: Auf dass wir hören, was wir mit erfinden — zu den Figuren, diesen Scherenschnitten aus Mythen, Legenden, hereingeschneit aus den Plätzen der Welt und der Geschichte. Sie haben Ecken, Zacken und Kurven, aus denen die anderen Wörter andocken und dann herausragen oder sich einpassen: Das kann vor allem den Reim hervorlocken, meistens aber ist es das ReimWollen im dichte rund in uns, das zu den nächsten Wörtern führt, die dann zum Gebilde des Satzes auswachsen: springend gebunden und frei zugleich, das ist das Gedicht H. C. Artmann(s). In den verbaristischen szenen sagt es der Dichter als Inszenator seiner selbst: stell dir vor — es geht also um Vorstellungen im inneren des Bewusstseins, das sich äußere Gestalt verleiht — mit Gestalten, mit Figuren, mit rhetorischen Figuren, mit Verbarien. In denen steckt auch das Verbum, das Tätigkeitswort! In Szene gesetzt ist es das Wort, das auftritt, von links nach rechts in die szenerie kommend. Und da kommen sie, wenceslao weibelfrost und selim eichelsieb und vinveli flagurnerin und andere (die übrigens an das

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anagrammatische Namengedicht der textbeutel von Reinhard Priessnitz erinnern, was heißt, dass Priessnitz an Artmann erinnert, den Hut zieht, den Beutel öffnet …). Die Namen sind die Darsteller, verdichtet in zwei oder mehrere Wörter. Sie hauchen das Flair vieler Sprachen: da treffen sich Spanisch, Deutsch, Latein, Schwedisch, Mundart mit Schriftsprache; und lesbar ist alles als Dialekt, als auch als Hochsprache, als auch als Fremdwörter. Die Wurzel ist inter-national, die Etymologie des Bodenständigen entspringt keiner Nationalideologie, sondern findet sich im Spiel der Zuordnung — in jenem, der sie ausspricht und erfindet. Das ist das Offene, aber auch das Künstliche in den Gedichten, das hier kommuniziert wird und als Sprachform handelt. Kein Name hält sich da bei sich selbst auf, jeder und alles drängt zum nächsten. Und wenn es endet, dann mit Musik, es — das Lustspiel oder die Tragödie oder … das Leben? herr rossini wird nach einer Oper gefragt, er wird es in Wiederholungsform gefragt, und das ist bereits Musik, die Technik der Variation, leichte Veränderungen der Ober- und Untertöne, und am Ende des Gedichts heißt es wenn einmal die musik schweigt dann hört sich alles tanzen auf. Und dieses Ende wäre umfassend, das Ende der Welt — aus Sprache, die sich aus Vorstellungen speist, die wiederum Sprache waren oder syntaktisch verformt zu dieser werden und Gefühle evozieren. Alles ist edel bei Artmann, edelste form, aber frei von jeder Eitelkeit. Und voll heiterer Demut ist er, der Edelmann aus Edelmännern. Die es vor ihm gar nicht gab, und dennoch existieren, einfach da sind. Und das ist nicht nur ein Spiel mit den Titeln. Das ist nicht nur schmunzelnde Kritik am homo bürocraticus österreichischer Provenienz, die sich in Untertänigkeit vor jedem Äußeren gebärdet, also vor Rang und Namen buckelt. Es ist halluzinative Erstreckung und inspirative Erweiterung der Identität. Das Reich der Geste, die mehr ist als Pose. Auch mehr als barockes Lebensprinzip — weil es von diesem Tod im Leben und Leben im Tod, der faulen Perle weiß, und es irgendwie hinter sich gelassen hat. Irgendwie? Das ist es, dieses Irgendwie! So: Die Anwesenheit des Mangels, des Verlangens als Sieg über den Tod der Alltäglichkeit, wird nicht ausgelassen, sondern hereinzitiert: in den Namen, der das Wort aus Wörtern ist, welche die Identität schaffen. Denn nur die Namen werden bleiben — in der Ilias beginnt es, bei Artmann findet die Odyssee des Ichs seinen nächsten Hafen — in die umfassende Stimm/ung des Gedichts: Artmanns Gedichte sind nie herkömmliche Dialektgedichte, sondern Gedichte einer Kunst des Mundes, Mund-Art eben, des gesprochenen Wortes, das aus der Schrift kommt. Eine Signatur der Laute, elegant zerbrechlich, grausam barmherzig in der Stimmführung. Und die Tinte oder der Bleistift reibt und schreibt sich ein in den Stimmbändern der singenden Kehle des richard coeur de lion. Deshalb sind Artmanns Gedichte keine Montagen, sondern buchstäbliche Vergeistigung und Materialisierung von Aus-Gedachtem und nicht nur

Vorgefundenem zugleich. Sie sind Vergegenwärtigung von Traum und Entwurf des poetischen Fluges über und durch die Dinge, die mit dem fliegenden Dichter mitschweben und zu Wörtern werden — zu Konstellationen aus Verdichtungen und Verschiebungen, die rhetorischen Figuren des Traums auf sprachlicher Ebene. Die sich zu Szenen finden, die an Montagen denken lassen, die sich aber das Material sozusagen selbst herbeiholen, es selbst erzeugen: gezwischendornicht geschattet verstohres exerpt der wade o asternde axt ex rege

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— Womit wir wieder bei den (simulierten, besser: modellhaften — aber was wäre nicht simuliert, konstruiert?) Fachsprachen angelangt sind: bei Keltisch und Piktisch etwa, wie Artmann eine verloren geglaubte Sprache, die er wiederbelebte, und zwar wirklich, nennt: Es handelt sich ja dabei nämlich. näm-l-ich um seine Sprache aus den Kategorien der Zusammenführung an sich fremder, aber, und das ist der Unterschied zur Montage, vom Autor bestimmter und gewählter Bilder nicht aus einem Ganzen, sondern auf ein Ganzes hin. Das zwar oft in seine Einzelteile zu zerfallen droht, aber immer wieder zusammengehalten wird — vom Autor und vom Leser, den Aktualisierenden der Gedichte und der Welt und damit unser aller Existenz. Diese suggeriert uns Artmann als dichterisch aktiv erlebbare, wir verweisen auf die 8-Punkte-Proklamation des poetischen actes. Er führt uns in diese erfahrbare, eigene und gleichzeitig fremde Welt ein, indem er uns durch seine Figuren, Schablonen, die Dinge wie Personen betreffen, in eine Welt der multiplen Prototypen lockt, die unsrer Gedächtnis und unser Bewusstsein prägen. Und es besetzt halten, als hätte es sie immer schon gegeben, als grundlegende Erfahrungsmuster, die wie Originale wirken und auch zu diesen werden. Aber, aber, sie sind nicht gegebene, sondern poetisch neu geschaffene. Sie sind: das Original aus dem Vorhandenen ausgewählt, sie sind das Ursprüngliche des bereits Verwendeten, sie sind das Erfundene des Gefundenen —  und so sind wir und unsere Existenz mit ihnen das Einzigartige des Vervielfältigten. Artmann: Das ist die Lebensform als Dichtung und die Dichtung als Lebensform — ganz natürlich im Sinn des Dandytums auch. Alles, auch der Dandy, lebt in Sätzen, in Ab- und Verläufen aus Figurenverhältnissen, aus Handlungseinheiten, die er berechnet und die er auf andere prallen lässt — mit dem Wissen, was sie bewirken könnten und bewirDas B rief. Kommentare ken werden und bewirken müssen. Diese Steuerung der Handlungen wird zu H.C. zum Motor ihres dandyhaften Zuwiderhandelns. Aber in dem dieses Wissen Artmanns vom Vergangenen wie vom Kommenden ebenso in Frage gestellt wird wie lilienweisser brief aus jedes Wissen an sich und in sich geht Artmann über den Dandy-Formalismus lincolnshire hinaus. Oder hinter ihn zurück, wie über und hinter jede Art von Formalismus hinaus und zurück (den er aber bezeichnender Weise ins Spiel bringt)  — und wartet auf das Intuitive der anarchistischen Entwicklung aus einem Fundus des Geregelten.

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Er, der Poesie als Weltanschauung erfahren und erfahren machen wollte und diese Erfahrung simulierend suggerierte, konnte nicht anders: Auch wenn er die Kollisionen herbeiführte, nicht nur von Satzkomplexen mit oder gegen Satzkomplexe, zeigte sich am Ende die künstliche Veredelung des Natürlichen: im Bild der Empfindung vor der Empfindung (Priessnitz). Und so wurde, war, ist und bleibt Artmanns Literatur die Unmittelbarkeit der Vermittlung — ein intuitives Kalkül, das das Spiel der Verwandlung in alle Formen der Erscheinungen verpflanzt. Das Ohr ist das Auge ist die Vorstellung ist das Wort. Eine Konstellation, die im Gedicht nie und nimmer gewillt ist, eine Kategorie zu sein, die so gesagt vom Wort erzeugt wird, geht in die andere über. So wie die Sinne gleichzeitig angesprochen werden, werden auch die Vorstellungen, also die Bilder und Worte, die Artmann als Vorstellung eins setzt, in einem Moment evoziert, gleichsam als Super-Zeichen, und dichterisch eigenwillig platziert. Dichtung ist in der Rezeption virtuell erfahrbar. Am Blatt ist sie analog, oder nebeneinander oder hintereinander gesetzt. Bei Artmann aber wird der Aufbau eines Zentrums, eines einzigen Kerns verhindert, hinausgeschoben, zurück oder nach vor. Bei seinen Gedichten gilt: Kein Zentrum ist das Zentrum, viele Zentren tauchen auf, gehen ineinander über und im anderen auf. Wir können diese Transformationen erfahren, durch Anhören und Einsehen und Einhören und Ansehen — in den landschaftsgedichten, die den Gipfel, und das kann bei Artmann auch Breitensee sein, seiner dichterischen Kunst bilden. Die diese Gipfel immer wieder bilden, nicht dafür stehen, sondern ihn wie im Fluss auf- und abtragend: Das ist das Hin- und Herbewegen des Auges, das mit dem Verstand und dem Herzen liest, von rechts nach links und wieder zurück. Nach beiden Seiten erlaubt es und verlangt es, das Wort, da es sich vom Begriff zurückverwandelt in sich selbst. Zurückverwandelt in die Bedeutungen der Wörter um sich herum. Schwierig zu beschreiben, ergötzend zu hören, berauschend im Verstehen, das irgendwann kommt, nämlich wenn der lilienweisse brief aus lincolnshire zum B geworden ist, das rief!

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Prosa ist Dichtung, wenn sie jene Wirklichkeit, die sie untersucht, erforscht, übersetzt, transfiguriert und halluziniert und als eigene Wirklichkeit setzt. Die Fiktionalisierung des Gegebenen, das erkannt oder geschaffen wird, stellt keine Reise in eine Traumwelt dar, sondern begreift diesen Traum als imaginären und symbolischen Raum, der sprachlich real bearbeitet wird — sei er in der Außenwelt erfahren, sei er in der Innenwelt empfunden, sei er in der Außenwelt empfunden, sei er in der Innenwelt erfahren. Im spielerischen Streben nach einem Ganzen, das in jedem Detail der Untersuchung, Erforschung, Übersetzung, Transfiguration und Halluzination zu Wort kommen und in jedem Detail schweigen kann. Ist Widerspiegelung der Wirklichkeit angesagt oder die Zurechtrückung der ideologisierten Wirklichkeit in der Negation derselben (das Adorno-Modell)? Die Abbildungsform erweitert sich zu einer Form der Möglichkeiten, die kommunikativ neue Austauschformen und Verbindungen sucht, substituierend und kombinierend, metaphorisch und metonymisch. Bedarf es dazu einer neuen, eigenwilligen Form, die Zeit- und Raumverhältnisse sprachlich-bildlich anders begreift und begreifen lässt als der überkommene Roman. Etwa: Unverständlichkeit Sprünge Zufälligkeit Komplexität Kausalität Subjektive Wirklichkeit Korrespondenz (das Jan Kjaerstad-Modell). Dazu bedarf es Wörter, mit zweifachem Bedeutungshof: mit eigenem semantischen Gewicht und mit einem aus den sie umgebenden Feldern. Sie werden ins Spiel gebracht, und damit auch wir.

Der Satz aus diesen Wörtern transportiert nicht den Inhalt, er verwirklicht diesen durch die syntaktische Freiheit, die er sich nimmt und die mit der semantischen und ontologischen Freiheit korrespondiert. Das heißt: sich bricht, ergänzt, vereint, verwandelt: In Form von Gliederung, Wiederholung, in der die Wörter auch vom Satz her gedacht, die Seinsschichten (Modalitäten, Zeitverhältnisse, Wirkungsweisen sozialer Prägungen etc.) damit quer durchgebohrt untersucht, erforscht und wie auch immer zusammengefügt werden können —

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zur anderen Wirklichkeit aus Gegebenem und Möglichem, aus Erfundenem und Unmöglichem, als ein nicht abschließbares Werk, das gleichzeitig in einem Kapitel existieren könnte, vielleicht ogar in einem kleinen Satz, klein ganz groß, Mit einem Auge der Beobachtung, das im Denken sitzt — und dennoch auf die Spontaneität des Affekts (aus Emotion und Konstruktion) intensiv und kühl zugleich vertraut. Ein Denken, das auch dadurch unnachgiebig in Frage gestellt und übersetzt wird; Erkennen statt Erkenntnis, Schauen statt Blick. Die Felder der Über-Setzung sind vorgegeben durch die Wahl des Stoffes, der das Verhältnis von Psyche und Fingerabdruck (Ich und Ich?), von Synapse und Brusthärchen (Es und Du?), von Grashalm und Wiese (Wir und Die)? in der jeweils zu findenden oder in der den Autor findenden Sprache aufgreift oder davon ergriffen wird. Wobei das Wort wie das Bild behandelt wird und umgekehrt, das eine in das andere übersetzt wird. Und jenen Zustand, der schon war, verlässt oder verwandelt in ihn zurückkehrt, was Gegenwart heißt. Je nach Bedarf und Notwendigkeit halten sich Widerstand und Bejahung die Waage. Wobei das Eigene seine Umdeutung oder Findung so erfährt, dass es eine Feier der Sprache werden könnte, die sich vom Fremden zum Anderen in uns verwandelt, übersetzt. Schauen als Übersetzen, wo die Raumgebung im Buch für die Entwicklung jenes feinen, ungedeuteten Sinns, der in jedem Wort selbst schlummert, von der Wolkigkeit der Wörter in sich herrührt (das Humboldt-Modell).

Kleiner Prosakatalog 2010

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Dieses Feld der Unbestimmtheit (als Verstehen, das außerhalb des Verstehens liegt) so zu erschauen für die, die diese Prosa des Schauens lesen wollen und bereit sind, ihre suggerierten Erwartungen nicht erfüllt zu bekommen: radikal feinst gegen den Kamm geschoren, also sich auf das Unerwartete einstellen dürfen, in Freude, Erarbeitung und Lust. Schön wär’s.

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Fritz Kocher schreibt Aufsätze aus seiner Kindheit. Er schreibt einfach, als spräche aus ihm die Sprache des naiven Herzens:

Wir sollen etwas aus unserer Phantasie schreiben. Meine Phantasie liebt das Farbige, Märchenhafte. Ich mag nicht von Pflichten und Aufgaben träumen. Das Nächstliegende ist für den Verstand, das in der Ferne liegende für den Traum. (Fritz Kochers Aufsätze) Er spricht vom Traum, den er schreiben will. Damit sind die empfindsamsten Momente der dichterischen Hervorbringung berührt. Sprechen, Schreiben, Vorstellen oder Denken, Ausdenken, Finden, Erfinden. Diese Vorgänge bewegen den Traum, er ist Modell für die Phantasie, das Kreative, das im Körper und Geist des Träumenden schlummert und geweckt werden will, aus diesem Körper heraus. Ein Körper, der dadurch zum Mit-Schreibenden wird, der auf seine stärkste Kraft vertraut, auf die allernächste in ihm, die doch so fern liegt: die der dichterischen Halluzination, des Um-Modellierens jener Empfindungen und Wahrnehmungen aus dem Verstand des Tages auf die Nacht hin, in das von Vernunft befreite und von träumerischen Gesetzen beflügelte Reich des Schwebenden, des Dunkeln: Ein Topos der Kunst und Literatur, gar ein Klischee, dessen sich der Dichter bewusst ist? Und sich seiner bedient, um es ad absurdum zu führen, das Klischee mit dem Klischee zu überwinden? Robert Walser heißt dieser Dichter, und er ist nicht mehr und nicht weniger Fritz Kocher, dessen Phantasie etwas liebt. Was liebt sie? Erstens — das Farbige. Das deutet auf eine bunte Welt hin, aber bei Walser ist eine andere Welt damit gemeint, nicht eine stilistisch bunt beschriebene, nicht eine mit Anstrich zugekleisterte, sondern eine mit Tönung umhüllte, eingetaucht in eine Tönung, hinter der sich nichts verbirgt. Was da ist, ist diese Tönung, um die es ihm geht, sonst nichts. Sie ist also mehr als der Tupfer auf dem i. Sie wird gespeist von der eigenwilligen Mischung aus Wortbedeutung und Bildumsetzung, fortlaufend verknüpft zu den typischen Walserschen Sätzen, die jene Vorstellungen hervorrufen, die dann bunt wirken. Sie werden durch Farbeindrücke evoziert, die Wörter sind, aber als diese Wörter allein nichts Festes, keinen letzten semantischen Bezugspunkt abgeben. Es sind gleichsam Wort-Töne, die das ganze Satz-Lied ergeben, aber im Einzelnen nicht herauszuklauben sind. Die sich dennoch in dem Maß konkret verwirklichen, das der Dichter bewusst anlegt, paradoxerweise mit dem Maß des Traumes, dem Sinnbild für das Unbewusste, Unkontrollierte des Dunkeln, der Nacht. Aber: bei Walser ist diese ins hellste Licht eines federleicht strahlenden und zeichnenden Laserstrahls getaucht, der sich als dichterischer Bleistift gebend, die sogenannte Wirklichkeit modelliert. Innerhalb der Modellformen schafft er jene Plätze und Räume, die der Träumende, Leser wie Dichter, zu füllen vermag, die Wirkung aber nicht zu beschreiben braucht mit: Rot, Gelb, Blau, eher mit: Zwetschkenlila, Hyazinthenocker etc. — aber dies intuitiv durchdacht, eingepflanzt in den Kompositionsverband, auf

dass der Seher höre und spüre und rieche, spiele, ohne dekorativen Schnörkel, ohne ideologisierte Schwarz auf Weiß-Malerei. Im Spätwerk Robert Walsers wird die Metapher des Farbigen und Bunten tatsächlich von jener des Bleistifts abgelöst werden. Aber nicht verkümmern, sondern auswachsen zu den feinsten Blüten der Reduktion. Wird sich das Grau der Mine aus Blei verwandeln in das ziselierte Ganze im Detail. Durch den entschlossen-zerbrechlichsten Bleistift-Strich wird die Farbe als Mittel eines bloß aufgesetzten Weltbildes, einer ornamentalen Dekoration endgültig abgetragen.

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Aber bereits in seinen frühesten Arbeiten behandelt er Farben so wie Wörter im Satz. Ein Satz allerdings, der in den Traum führt und aus diesem herrührt, kurz: der Traum ist! Das ist der zweite Punkt, den der Dichter alias Fritz Kocher liebt: das Märchenhafte, die Erzählung des Traumes, also die Sätze darin, den Satz. Wie und wo aber ist er zu bilden? Zunächst, darauf weist Fritz Kocher hin, in jenem Bereich des Märchenhaften, in dem das Alltägliche des Verstandes überwunden wird durch das Ferne der Phantasie. Es geht Walser vorrangig gegen den Verstand und für die Phantasie, stets in Bezug auf die Begriffe des Alltäglichen, vulgo Vernünftigen und des Fernen, vulgo Märchenhaften. Gerade die Kennzeichen des Alltäglichen, die Dinge nämlich und der menschliche Umgang mit ihnen sind es, die bei Walser einen bewussten Stellenwert ausdrücken, das heißt: eine Kraft im Feld des Handelns aus ihrer Empfindung und Wahrnehmung der Helden annehmen, die sonst nur bei Kafka oder im Surrealismus — also in grundsätzlich anders gesetzten Poetiken — zu finden ist. Das für das Subjekt unüberwindbare Objekt existiert in der Außenwelt und hängt doch auf engste Ferne mit dem es Betrachtenden zusammen. Walser ist kein radikaler Solipsist, dessen Bewusstsein allein die Welt, die Menschen, die Dinge und die Natur schafft. Aber alle diese Entitäten erfahren ihre Bedeutung — das heißt, ihren gesetzmäßigen Gebrauch in der dichterischen Organisation, — durch den Blick des Betrachters im Feld dieser Organisation: im Gedicht, in der Erzählung, im Aufsatz, im Roman, im Märchen. Ob jetzt im Spaziergang, in Fritz Kochers Aufsätzen oder im Räuber Roman und so fort — jeder Held aus Walsers Büchern hat folgenden Zug mit den anderen gemein. Er blickt auf die Dinge, die Menschen, die Welt — und sein Blick legt das, was er erblickt, nicht nur fest, er zeichnet oder malt sie gleichsam um. Er löst die Dinge vom alltäglichen Menschenverstand, oder besser, er gibt diesem durch den Bruch ihrer Konvention, ihrer Bedeutung, Der vorihrer Verwendung, ihres Gebrauchs, die eigentliche Bedeutung etc. zurück. eilende Gibt sie frei für ein neues, von ihm festgelegtes Spiel, in dem die Töne die Nachfolger zu Robert herkömmliche Tonleiter nicht verlassen, aber doch Verbindungen eingehen, Walsers Poetik die ihren Grundton in einem anderen Licht erstrahlen lassen. Farben eben, die zu den Dingen selbst werden, aber nie eine Bedeutung allein einzunehmen bereit sind. Das sagt nicht, dass Walser textlich mit Konnotationen arbeitet oder Sprachspiel im Sinn der experimentellen Poetik betreibt.

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Das Verblüffende an seinen Versuchen ist, dass sie nicht wie Versuche wirken, ihre Wirkung aber eindringlicher ist als bei so manchen angestrengten Exempeln der Avantgarde. Walser ist ein Experimentator des Traumes, der mit einem sprachlichen Instrumentarium arbeitet, das die Erwartungen, die in die Funktion dieses Instrumentariums gesetzt ist, einlöst, indem sie diese zart und fast unbemerkt vom Leserauge bricht. Das ist kompliziert genug für jede dichterische Umsetzung. Aber sie, verdichtete Verschiebung oder verschobene Verdichtung, wirkt bei ihm einfach, leichtfüßig — genussvoll. Walter Benjamin hat in seiner denkwürdigen Bemerkung zu Robert Walser das Genießen hervorgehoben, das Walsers Figuren und wohl auch dem Autor eigen ist. Niemand, meint Benjamin, könne so genießen wie der Genesende. Woran sind aber Walsers Figuren genesen? Vom Wahnsinn, hebt Benjamin hervor, und er trifft damit ins Herz der Walserschen Figuren-, Töne- und Farbenwelt, seine besondere Form der Sprach-Welt. Diese Sprach-Welt umfasst Schreiben, Denken, Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Handeln — kurz das, was Wittgenstein mit Die Bedeutung der Sprache ist ihr Gebrauch gemeint haben könnte. Aber: Dieser Gebrauch ist bei Walser umgeformt, um-bedeutet im Sinne des Benjaminschen Genießens von Walsers Helden nach dem Wahnsinn, den sie ja hinter sich gebracht hätten. Dieses Hintersichgebrachthaben ist es, was die eigenwillige Wirkung der Walserschen Traum-Wort-Satz-Welt ausmacht. Die Erwartung liegt gleichsam hinter sich selbst zurück, sie war schon geschehen worden und wird dadurch in Zukunft unbekannt bekannt erscheinen. Die Zeichen der Erfahrung, ihre Prägung hinterlässt jedoch keine offensichtlichen Narben an der Hautoberfläche der Helden, sehr wohl aber Spuren im Denken, Empfinden und Wahrnehmen der Bewusstseins-Welt. Sie vollstreckt demnach das Handeln, gleichsam die Sprache der Erinnerung in seinem Gebrauch, in der Zeit und im Raum anders, als diejenige, die unter dem Diktat der geordneten Vernunft steht und die diesen Wahn-Sinn eben nicht und niemals hinter sich gebracht hat und bringen wird können. Die ihre stimmig platzierten Gegenstände aus der Innen- und Außenwelt schon gar nicht umzufunktionieren wissen wird. Bei Walser aber erweisen sich diese als flüssig: Nichts ist wirklich, das aber besteht und vergeht ganz ungehörig wirklich. Diese Walsersche Ungehörigkeit ist ein Unterwandern auf leisen Sohlen, ein Hieb mit der Samtpfote auf eine nicht sofort ausmachbare Beute, ohne erkennbares ideologisches Ziel, auf das der Held oder Autor den zurechtweisenden Zeigefinger der Moral legt. Aber genau darin geht Walsers Kalkül der machtuntauglichen Kritik auf: Vollkommene Durchdringung äußerster Absichtslosigkeit und höchster Absicht hat Benjamin sie genannt. Genau darin kommt es zu jener Verschmelzung zweier oft gegensätzlich aufgefassten Pole menschlicher Lebens- und Ausdrucksform, wie sie von Wittgenstein erhofft und verlangt wurde: Ästhetik und Ethik sind eins. Das Aufgehende, körperlich verstanden, bleibt aber nicht offen wie die Wunde des Knaben im Landarzt Kafkas. Die oben bereits erwähnten Narben bei Walser öffnen sich nur kurz und schließen sich sofort wieder. Der ge-

narbte Körper, der vor allem im Gehirn sitzt, hat den Glauben an die Werte, die ihm durch die äußere Zuschreibung oktroyiert wurden, abgelegt — ironisch, lapidar, melancholisch. Dieser Widerstand ist keiner der Brechung, sondern einer des ständigen Changierens von angestrebtem Ziel und den dazu un-gehörigen Mitteln am Weg — poetologisch gesprochen: die festgelegte Bedeutung des Wortes versucht sich dem Feld, in das es verankert wurde, zu entziehen, indem es sich und damit dieses um-besetzt. Nicht mit rhetorisch überzogenen Figuren — etwa des Oxymorons oder der Katachrese oder metonymischen Metaphern — drängt es, seinen neuen Bedeutungsplatz zu finden, nein: Es handelt sich um so etwas wie eine Paraphrase des (Zu)Künftigen auf einer Achse der Verknüpfung von vergangenen Weltzuständen mit Empfindungszuständen, wodurch das alt Daherkommende der Empfindung als Neues der Welt erscheint. Anders formuliert: das Wort, das seine Bedeutung hinter sich gebracht hat wie die Figuren den Wahnsinn, das Ding seinen stupiden Sinn des Vernünftigen — erringt sich seine Bedeutung auf eigene handelnde Weise und nicht allein mit dem semantischen Gewicht des Wörterbuchs belastet.

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Eine Sicherheit der festen Bezüge oder gar der fest(gelegten) Welt, die diktiert, die ist die seine nicht. Er ist Widerständler in den Farben des Schnees, nicht des Blutes. Seine Pfeile haben etwas von den Kristallen des Eises, wenn sie ihr Ziel treffen, dann schmelzen sie — aber bei Walser schmilzt dieses Ziel ebenso mit:

Heilandhagelnochmal — dieses Räuber-Wort ist ein solches Gegen-Wort, ein zusammengewürfeltes, langes und dennoch kein ewig fixiertes. Das Wort semantisch zu strecken, die Bedeutungen frei zu setzen und trotzdem in Zaum zu halten, das ist Walsers Ziel: die sanfte Bestimmtheit seiner Wut auf das Gegebene, Vorbestimmte. Sie weist nicht nur auf die Reizebene des Wortes, sein Klangbild und sein Buchstabenmaterial betreffend, auf eine krankhafte Literatur hin, die er dem Leser der gesunden Bücher empfiehlt. Darin sucht er die Buchstaben wie Inhalte, ersetzt im Wort Commis, das K durch das C, denn das Wort mit K sähe zu klotzig aus, wie ihm scheint. Er fordert die Deutlichkeit des Gedankens als auch des Buchstabens — gegen die herkömmliche Schärfe der zurechtgestempelten Welt. Weg von dieser, das ist auch der Weg des Räubers, mit Walsers unbändigstem Wunsch, die Identitäten nicht zu verleugnen, sondern durch ihr überbetontes Behaupten ad absurdum zu führen und dadurch zu tauschen. Die Flucht aus der alten Identität ist somit kein Entledigen ihrer, sondern ein Entschweben. Und schon setzt sich der Erzähler auf den Schoß des Räubers und sagt mit diesem übereinstimmend: Ich freue mich. Ja, Walsers Wörter schweben aber stets im Verband des Satzes. Sie sind wie später Kafkas Bild-Wort-Stürze vom Satz her zu lesen. Der Satz ist aber auch eine Form vom Hintersichgebrachthaben der Wörter. Robert Walser — der Spaziergänger, der Räuber, der Zirkustänzer ist einer, der Kafka voranschreibt und diesem aus heutiger Sicht sogar nachfolgt. Er ist ein Voreilender-Nachfolger, also immer da und selbst ein geschichtliches Jetzt. Sein

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Wort-Tanz auf dem Satz-Seil ohne Abbildungs-Trapez stellt kein naives Unterfangen, das ihm passiert, dar, sondern das aufgesuchte Risiko:

Nur der schlechte Aufsatzschreiber vergißt, sich sowohl der Deutlichkeit der Gedanken als der Buchstaben zu befleißen. Man denke zuerst, bevor man schreibt. Das ist kein aufdringlich radikaler Aufruf zum Risiko, im Leben wie im Schreiben wie im Lesen das Wagnis zu suchen. Die Schule, die Freundschaft, die Höflichkeit — alle diese gesellschaftlich sanktionierten Werte und Institutionen werden und bleiben im ersten Anschein positiv besetzt. Aber die Walsersche Innerlichkeit dient dem Aufbau einer sich nicht nur geziert gebenden, sondern neue Formen suchenden Gegenwelt, die Trauer und Ironie als rhetorische Figuren neu zu zeichnen vermag. So ist es mehr als nur ein Vorschlag, die Skala der Empfindungen neu zu kerben. Denn von den alten, eingesessenen will Walser, und das ist der dritte Aspekt seiner kleinen Poetologie, die in Fritz Kochers Äußerung zu entdecken ist, hinsichtlich der damit verbundenen Pflichten und Aufgaben wahrlich nicht träumen. Walsers Träumen folgt nämlich einem poetologischen Konzept, still, sanft — aber entschlossen. In seiner Quasi-Methode des Schreibens bildet die Paraphrase des (Zu)Künftigen den syntaktischen Kern des angestrebten Traumes aus Um-Erzählung des Vorgegebenen und Schöpfung neuer Zusammenhänge mit den Mitteln des Gegebenen zugleich. Walsers Traum-Ar(bei)t steht dem Tagtraum oder dem Dahindösen in den frühen Morgenstunden näher als den ödipalen Ohnmachts-Schlafzuständen dunkelster Nacht. Der Dichter, Fritz Kocher oder der Räuber, analysiert nicht im Sinne Freuds. Nicht einmal unbewusst klärt er ein angebliches oder mögliches frühkindliches SexualTrauma oder den Trieb zum Tode auf. Aber: Er ahnt etwas von jener absoluten Grenze, wie sie im Traum die Traumzensur darstellt. Nur manifestiert sich das hinter oder unter diese Grenze Verdrängte nicht in den festgefahrenen und stockenden Bedeutungen der Wörter, die am hellen Tag in Form bürokratisierter Verordnungen und Anweisungen das bürgerliche Leben klein machen. Das Einzelwort erfährt bei ihm zwar Verschiebung und Verdichtung insofern, als es sich mit anderen zum Satz fügt, darin verrückt wird, aber verliert das eigene semantische Gewicht nicht ganz. Vielmehr hält er, der Autor, paraphrasierend auf der Ebene der Sätze, Bilder und Handlungen latent in Schwung. Und bringt ihre Symbolik ins Kippen, ohne dass dieses Kippen den Modellen der Verdichtung und Verschiebung Freuds so offensichtlich folgen würde — wie im Kubismus oder Surrealismus. Walser selbst greift in seinen kleineren Studien fast experimentell methodisch auf Vorlagen zurück, die er im Unterschied zum methodisch starren Kalkül anderen verfahrensbetonter Poetologien, zwar wortwörtlich wiederverwendet, aber gleichzeitig mit von ihm bewusst gesetzten Einschüben ins kritisch Entlarvende des Dargestellten dreht. Und dies mit den dargestellten Mitteln selbst:

In Bezug den berühmten Goethe-Satz Durch diese hohle Gasse muß er kommen — setzt Walsers Erzähler ebenso dynamisch und zielgerichtet wie bei Goethe an. Er weiß, wie es her- und wo es hinzugehen hat — oder? Denn plötzlich kommt ihm das Denken nach dem Wahn-Sinn dazwischen und die spielerische Skepsis setzt ein, die Walsers Ästhetik der Paraphrasierung zur Ethik des neu Ausgerichteten dynamisiert: … aber da packt seinen Teil schon der Jammer, da scheint er sich schon haltlos klein, verloren, und er fährt fort: Durch diese hohle Gasse, glaube ich, muß er kommen (Benjamin). Dieses glaube ich macht die Differenz zur Vorlage und deren Überwindung aus. Es ist nicht Tölpelhaftigkeit, die sich dabei zu Wort meldet, sondern jener im anderen Zustand errungene Zweifel, der sich als Ehrenzeichen der Intelligenz (O. Wiener) entpuppt.

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Das Material der Paraphrase, der wortwörtlich vorgegebene Begriffsfundus wird aufgegriffen, aber dann setzt Walsers dichterische Arbeit der minutiösen Versetzung ein. Mit dem gleichen Wort-Besteck werden keine Schnipsel der Bedeutungen erzeugt und im wilden Satz-Denken aufgegabelt wie in Tristan Tzaras Gedicht aus zerschnittenem Zeitungsteilen. Ebenso wird nicht die Speisekarte anstelle der Speisen verzehrt wie bei den Surrealisten. Walser löst das Subjekt von den Abhängigkeiten, in das es verstrickt war und verzahnt es neu, damit es wie ein wandernder Brennspiegel die farbige Welt in sich sammelt — locker, ungebunden, anmutig, aber auch frech posierend: mit Wörtern in Worten, in denen es spricht, aussagt und verschweigt zugleich, aber niemals verstummt. Wenn es schwätzt, dann hat dieses Schwätzen Methode. Es kommt aus dem Prosastückligeschäft des Autors Walsers, das der Zerlesenheit (s)eines literarisiernden Charakters folgt, durchlöchert von Selbsterlebtem im zerschnittenen oder zertrennten Ich-Buch. Die Durchlöcherung ist dem Träumen adäquat, das ja auch die Wirklichkeit durchbohrt, ohne sie aufzulösen, aber den Figuren und den Sätzen nicht unmittelbar im Auftreten ihrer äußeren Form abzulesen ist. Walser springt nicht aufdringlich vom Inhalt ab auf die Möglichkeiten der Darstellung hin, auch wenn diese dann zum Inhalt selbst werden sollten — wie sein Traum, sein Märchen, sein Roman — als Komplex aus alltäglichen Mythen und hintergründigem Witz. Den Witz verstanden als das grundlegend Komische, das mehr als Lachen ist und in die Nähe der romantischen Ironie zu rücken wäre, die ja die Reflexion des Werkes während seiner Hervorbringung forderte und die Grenzen zwischen Erzähler und Leser, zwischen Autorität und Unterwanderer derselben aufhob wie dies auch bei Walser der Fall sein kann: Der Räuber lächelte … Streng genommen … sind ja wir alle, die Romane und Der vorNovellen schreiben, insofern Schurken, als wir mit rücksichtsvoller Rückeilende sichtslosigkeit, zarter Kühnheit, unerschrockener Erschrockenheit, leidender Nachfolger zu Robert Lustigkeit und lustigem Leid, beim Abdrücken unserer Gewehre, will sagen Walsers Poetik beim Zielen auf unsere so hochgeschätzten Modelle vorgehen. So ist es einmal in der Literatur. (Der Räuber)

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Die Terminologie dieser Räuber-Passage überrascht. Anders als bei Fritz Kocher ist hier von Aufsätzen aus der Phantasie etc. nichts zu lesen. Der Begriff des Modells kommt ins Spiel, das der Autor-Räuber als Text-Schütze eröffnet und fortsetzt, ohne es je an ein Ende zu katapultieren. Der Bruch mit der Welt und ihren Zielen ist nicht mehr zwischen den Zeilen oder hinter der Zier und Einfachheit des naiven Wortes verborgen, sondern direkt in das Textgeschehen eingebracht. Als Bestandteil desselben wird er zur treibenden und verändernden Kraft, Handlung wie Charaktere und Reflexionen des Helden wie des Autors betreffend. Dieser wiederum gibt ein weiteres Modell aus all diesen Einzelbausteinen ab, kann aber so nie greifbar gemacht werden. Die Momente der Reflexion dienen ihm zur Lenkung des gegenwärtigen Blicks von Schreibendem wie Handelndem wie Lesendem. Dieser Blick bestimmt, durch die Sprache geformt, seinerseits die soeben sich einstellenden Gegenstände in der ablaufenden Wahrnehmung mit. Also erleben Autor wie Held und der Leser vermittelt und unmittelbar zugleich, das heißt: Die Welt wird mit medialen Mitteln als Modell gebaut — aber ihre vorgegebene Wirklichkeit außerhalb des Bewusstseins nicht verstellt. Sie erscheint weder falsch, noch verlogen. Die Wahrheit jedoch, das den Normen des konventionellen Verstandes am nächsten Liegende, wird jetzt schärfer als in den Aufsätzen Fritz Kochers in Frage gestellt. Umgeleitet über den Weg der Verfeinerung des dichterischen Modells und seiner zugrunde liegenden Behauptung, die in ihrer eigenwilligen Weise der Vermittlung ihre Art von Wahrheit innerhalb des Modells selbst leistet. Dieses Modell (der Welt, des Selbst), bei Fritz Kocher noch verinnerlicht, bildet sich im Räuber-Roman als Text neu heraus. Dieser verkörpert — keineswegs äußere Bedingungen anklagend, die widersprüchliche Erfahrung von subjektiver und objektiver Welt. Vor allem die Inkompatibilität der Botschaften der einen und der anderen. Ahnte Fritz Kocher mehr diese Abweichung, als dass er sie lebte, so bestimmt diese widersprüchliche Erfahrung an sich und in sich die Existenz des Räuber-Autors. Dennoch weist sie sich als höchst komisch in romantisch ironischem Sinn aus. Das liest sich in der Sprache des Textes ab, aber auch in der Art und Weise des heldischen Blicks, mit dem diese Sprache korrespondiert, ja gleichgeschaltet scheint. Das harmonisch simultane, ruhige Surren der Wort-Rädchen im Räderwerk der Sprache, wird aber im Räuber-Roman bruchstückhafter, wilder — vor allem was die Gedanken- und Wahrnehmungsgänge anbelangt. Dennoch bleibt das Verbindende von Fritz Kocher und dem Räuber bestehen — und gilt für das gesamte Walsersche Werk: Es betrifft den Versuch einer umfassenden Poetisierung der Welt, die, da sie durchdringend sein soll, immer zu kurz gerät, als zu wenig erscheint. Etwas fehlt, selbst wenn es zugegen ist — die Klaviermusik zum Beispiel, die Fritz Kocher auf der Straße vernimmt, aus einem Fenster zu ihm hinunterklingt und ihn strömen lässt. Durch das Bild dieses Strömens wird ein Anschluss an das Entfernte, Abwesende hergestellt, ist eine Einheit von vermittelndem Medium, jenem der Sprache, und unmittelbarem, dem Erfahren der Empfindung, gegeben: Das

Anwesende im Moment der Erfahrung zum Glück des Abwesenden in als Gegenwart erklärt und erlebt, die aus der Erinnerung kommt. Dort seine Sprache findet, die kein unruhiges Verlangen ausdrückt, sondern bestimmende Augenblicke des Kleinen, des Nebensächlichen, des Alltäglichen in dichterisch feinste Formen gießt, wie sie vor Robert Walser nicht möglich erschienen. Im Räuber-Roman erfahren diese Gegenstände der Außenwelt ihre schärfere Zuspitzung besonders in der Innenwelt des Helden. Dort wird klar, dass nicht nur jeder Gegenstand ein Modell, sondern sogar jedes Modell ein Modell des anderen darstellt. Der Zugang zu den Dingen — draußen wie drinnen — bleibt dem Jäger deshalb nicht ganz versagt. Er trifft zwar nicht das Tier, aber immerhin sein Modell. Wenn er im Tannenwald dem Spiel des Windes lauscht, spricht er vom Theater der Natur (Poetenleben) und nicht von der Natur an sich. Sie wird für den Horchenden und sie festhalten Wollenden eine vermittelte, modellhafte.

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Der Autor Walser wird zum Vor-Steller einer nachgestellten Welt, die er bereits als vorgefundene zu erfahren hatte, aber dennoch umzuwandeln versteht. Er verstärkt nun die Thematisierung dieses Verstehens und wird sich dabei seiner Verstrickungen in die Vorlagen umso bewusster. Es knistert im Unterholz, das für den modernen Autor das Zitat (Walter Benjamin) abgibt. Walser zitiert und montiert nicht, in seinem Bewusstsein ist der Kampf zwischen Originalität, Authentizität und Abbild oder Zitat längst geschlagen, auf intimste Weise vorbei, vielleicht sogar auf tragischste gewonnen. Das Fremde ist besiegt und verinnerlicht zugleich. Erinnert sei noch einmal an das aus dem Wahnsinn-Kommen seiner Figuren, das sie vom ersten Auftritt bis zum letzten kennzeichnet. Aber die Erfahrung dieser Ver-Rückung ist immer wieder getragen von der Sucht nach Einbindung des Kleinsten im Höchsten. Walsers Passagen über das Spazieren erweisen sich gleichzeitig als solche zur Schreibkunst. Im prozessualen Voranschreiten von Wort und Bild gelangen Dichter wie Leser zu einer Wahrnehmung, die bewegt und in ihrer bildlichen Einfachheit gleichzeitig die Schönheit des Gedankens und der dichterischen Theorie darstellt:

Was macht Ihr neuer großkalibriger Roman? Er schreitet langsam vorwärts; er rückt vor, gab ich tonlos zur Antwort. (Poetenleben) So malt Walser sein Poetenleben: schreibend, spazierend, geht nach vor, kehrt um, geht hundert Meter weiter, kehrt wieder um. Ein Leichenzug kommt ihm entgegen, der für ihn murmelt — ist es die runtergeleierte Sprache der Trauergemeinde, die Walser hört — die Abweichung von der richtigen Sprache, die genau daneben trifft und sitzt? Die Lüge, die wahr ist? Er versteht jedenfalls dieses Murmeln, dreht deshalb wiederum um, macht sich auf den Weg zum alten neuen Ziel, das er anvisiert. Hier spannt sich der Bogen von den kleinen Schritten der Realität zur großen Poetik des Erschreibens — nicht des Beschreibens, des Abbildens allein. Die zurückgelegte Distanz, die Stoffmenge als quantitativer Faktor wird un-

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wichtig. Die Bewegung, die Harmonie von Voran- und Zurückschreiten, das Formenspiel, das den Inhalt evoziert und umgekehrt, ist entscheidend. Dieses Prinzip der Bewegung verbindet nicht nur Erinnerung und Wahrnehmung, sondern auch Selbstgesetztes und Vorgegebenes. Mit eisigen Körnern im Gesicht wird letztlich der Dorfplatz, der in der kindlichen Vergangenheit des Autors seinen Platz hat, tatsächlich erreicht — Erinnerung und Gegenwart gehen ineinander auf mit Hilfe des vermittelnden Mediums, der dichterischen Sprache. Im alten Anbild, das zum neuen Inbild wird, findet die Vorstellung ihr Glück im Einklang mit der vorgegebenen Realität des Ortes, die vor allem durch die Witterung aufgenommen wird. Sinnlichkeit des Moments und Abstraktion des Gedächtnisbildes verharren für einen Moment im plötzlichen Jetzt, das die Wahrheit bildet und aus den inneren wie äußeren Bewegungen entstammt. Aber der Zweifel an der Darstellung bleibt aufrecht:

Dann der Nebel! Ich streiche oft nur umher, um mit dem Nebel in der Wette umherzustreichen. Das steigt, das fällt, das zieht sich hin, das schleicht, das schießt plötzlich seitwärts, es ist wundervoll … Aber ein Dichter kann das nie sagen, das kann nur ein Maler sagen. (Poetenleben) Walser möchte also Wort und Bild zum Bildwort oder Wortbild einer erzählten Raumzeit über die Vorstellung hinaus konstruieren — aber, wie ohne ein Maler zu sein und ein Dichter zu bleiben, der nicht nur über Welt und Menschen berichten will? Wie über die Sprache und ihre Bild- Verluste gleichsam hinwegtanzen? Wie sich über die Trauer dieses Verlustes nicht zu schämen, sondern die Scham zur höchsten Zier zu treiben, dass sie wie eine Wortrose sticht und Bildblut daraus fließt, und aus diesem ein Satz-Gemälde gestochen werden kann?! Immer wieder tauchen bei Walser die Gestalten des Malers und des Dichters auf, wird durch sie das Verhältnis von Bild und Wort angesprochen. Auch sie haben Modellcharakter und sind als Helden zeichenhaft wirklich: Pinsel, Silbe, Zeile, Bogen oder Zeit (Poetenleben) sind keine Allegorien, die stellvertretend für die Malerei, die Dichtung, die Musik und das Leben agieren. Sie geben handelnde Text-Helden ab, die das, was sie repräsentieren, im Namen sind, und ihr ver-rücktes Tun auch auf abweichende Weise der Kunst vollziehen: Wort für Bild, Bild für Wort — im Raum wie in der Zeit, die so zur modernen, relativen, vom Beobachter abhängigen Raumzeit der Literatur wird. (Ein Beobachter übrigens, der seine Rolle ständig in Frage stellt durch andere Instanzen der Beobachtung.) Das Verhältnis von Innen und Außen wird dadurch ein verändertes, vielleicht sogar das Andere. Es strahlt und fließt als Sprache in sanften Wogen — etwas verzagt, etwas schief in der Landschaft, aber nie torkelnd, nie in einem falschen Sinne unsicher. Das Bild sitzt im Wort, der Schriftschütze trifft in das Herz der Erfahrung aus Sehen und Sprechen, Bilden und Schreiben:

Was ist denn ein Aufsatz? Ein Steinbruch, ein Bergsturz, eine wütende Feuersbrunst, die vielleicht sehr prächtig, aber auch sehr traurig anzusehen ist. (Fritz Kochers Aufsätze) Ein Poetenleben, feinzittrig, hochnervig diese Geziertheit, dieses Wissen von der leichtesten Form, die sich die Schwermut schuf. Denn mit wem ist er, der Walser Robert, während seiner Spaziergänge oder Sitzungen im Dorf oder auf den Plätzen der Stadt, verkehrt: Er wendet mir (Seelig) seinen Kopf zu und sagt etwas leiser: Mit mir selbst.

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Robert weiß von der Zensur des Tages, des Gesunden, dennoch liebt er den Schnee, der nur am Tage strahlt, und alles Nichts ist, aber das wärs. Und so denkt er sich am Morgen immer was Neues aus, denn vom Inhalt nächtlichen Denkens weiß er regelmäßig nichts mehr. Das aber hat zur Folge, dass der Tag zur Nacht wird und der Traum zum Tagtraum der Tätigkeit. Tätigkeit des Schnees umgesetzt in ein wahres Gedankenmeer, das ihn umschillert, umzuckt — wiederum weiß, glatt, Fläche, Welle, Schnee, Wasser, Eis, Tiefe, Identität darunter, die Wärme der Poesie. Ist sie das Schneien und das darin Spazieren, und, wenn der Schnee fällt, heißt es dann auch mit ihm zu fallen? der spaziergangabgang (nach Robert Walser) die happen sind über die ränder hinaus geraten, das glühen ist unter die haut hinein verkältet, noch ahnt es wahn, wo gefundenes erfundenes wird: riesen —  die steuern los, reissen den treibern so manche scheine ein die blätter der buche sind bloss, von der schlagseite des taumelnden — gradlings — ruhen im zwischen die spitzen in den buchen wind wald

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bäumen sich wiegend im auge blüht ein lied sprüht dort noch im garten wild ein bild, das verraten, ja: ausgesagt hat alles in diesem gang mit spaten aufgegraben gesprungenes gesungenes: was fehlt, ist da — hinter dem bild, erfahren schwebt der weg — in sorge um schnee, wenn er es ganz besonders brennt, es nennen muss — niemand rennt sich aus (kein geist kein geruch kein wild kein land) — ein wort: tatbestand nach dem erwachen (im buch neben frau aebi) bestürzt es lachen

Zu Paul Wühr

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Paul Wührs Dichtung ist Dichtung des Dialogs auf mehreren Ebenen: S

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sie ist es: auf der des Begriffs, der zum Wort verwandelt wird, das in den Zustand seiner möglichen Bedeutung zurückzukehren drängt, also kommt es zum Dialog von Begriff und Wort, der auch grammatikalische Partikel oder Träger betreffen kann. Dann dialogisiert dieser Träger, ein Und oder ein Ob oder ein Als oder sein So ein Was ein Mit ein Für … mit einer möglichen Bedeutung, die er frei zugeschrieben erhält, wodurch die feste Stellung, die er im Gedicht, dem Teilgedicht, im Vers oder Halbvers einnimmt, in Auflösung gebracht wird, etc. Sie ist Dialog: auf der Ebene des Gedichts als Artefakt, als Objekt, das in den Dialog mit dem Leser tritt, den es verführt oder veranlasst oder auch zwingt, die andere Rolle im Sprachspiel, die des Angesprochenen oder die des Ansprechenden einzunehmen. Sie ist Dialog: auf der Ebene der inhaltlichen Setzung von Polaritäten wie die von Himmel und Erde, Mann und Frau, Mensch und Tier, Wesen und Ding, Geist und Materie, die als gesprochene Entitäten in ein Zwiegespräch eintreten oder zumindest vom Dichter angesprochen werden oder von einer sprechenden Instanz, die wiederum stark und präsent ist, aber dennoch nicht greifbar als Ich des Autors oder des Sprechenden — das ist das Paradoxe an der Wührschen Poesie: dass Festes fließt und Flüssiges sich formt, aber nicht wieder fest wird, in der Bedeutung sind die Wörter klar gesetzt, aber der Weg hin zu dieser Setzung ist beweglich, eine Bewegung, die nicht nur aus dem Inneren des Schreibenden und Sprechenden kommt, sondern aus herbeigeholten und gedachten Fundstücken aus Sprache, vor allem aus Zitaten, die falsch sind, aber deren Ton echt ist, das führt bei P. W. dann zum richtigen Falschen, wo Geschriebenes Gesprochenes wird und wieder zurück, also: gedachte Rede und sinnliches Denken gehen eine Symbiose auf Zeit ein, meistens wächst zwischen zwei Gedichten das dritte und so fort, also kein Zyklus, sondern der nächste: Dialog: Wührs Rede ist dabei, in Abweichung von den Verbotstafeln der konkreten Poesie, keine Philosophie, keine Rhetorik, trotzig und poetisch selbstbewusst Sinn suchend — im Sinn der Bedeutung, aber auch im Sinn einer Metaphysik, indem Fragen gestellt werden, die Analytisches verschieben ins Angenommene, und dieses hin in eine und zu einer poetischen Form, die beide Fragestellungen vereint, so dass diese bereits die Antwort sein könnten, die aber in der nächsten Form wieder weiterzieht hin zur nächsten, das darin Verzichten auf Satzzeichen heißt nicht Verzicht auf den Satz, die Verb-Endungen weisen in der Ferne den Weg, Grammatik ist Poesie und die Poesie Grammatik, aber welche: eine, die aus kalkulierten Zeilenbrüchen kommt, die mehrere syntaktische Lesarten erlaubt, die das Wort und den Teilsatz vom Satz emanzipiert und ihn dennoch, alle miteinander verknüpft — textlich ineinander schiebend, gedanklich auseinander analysierend, das ist der Weg!: Unendliche Verknüpfung im frühromantischen Sinn, die jede

kognitive Rede systematisch entautomatisiert, dabei aber nicht die Begriffe des logischen Positivismus zu poetischen Chiffren verdunkelt, sondern diesen ihren Hof der Bedeutungsmöglichkeit öffnet — als Möglichkeitsraum, der das Wort in seiner eigenständigen Freiheit und in Bezug auf die sie umgebenden Wörter, auf die es hindrängt, ist. Das führt zu einer Konstellation von Poemen, die Begehren, Sprechen und Denken ins Spiel bringen, das kein Sprachspiel alleine bleibt, da kommt dem Autor, der ein Rhetor ist, die Not dazwischen, die er aber dazu benützt, um den Gedanken mit der sinnlichen Anschauung zu versöhnen.

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Auch auf einer Ebene des Materials Sprache, die nicht metaphorisch oder bildlich abgehoben assoziativ, sondern glasklar, einfach, niemals redundant, oder wenn, dann gewollt redundant, voranschreitet, um etwas zu zeigen: nämlich den immer scheiternden Anlauf des Details auf das Ganze: Aber: Er, Wühr, als sinnlich Reflektierender, geht aufs Ganze — Gedicht, immer ist es das ganze Haus, in das der Dichter führt, auch wenn nur Türen davon da sind, Fenster oder Schrauben oder nur Pläne, gezeichnet mit Luftstrichen gar, dann sind es Streiche der Schreibhand am abstrakten Himmel des materiellen Blattes, und vice versa auch, was dann rauskommt, das wäre mehr als eine Frage, und ist es auch, aber Wie es rauskommt, das möchte der Dichter entscheiden, sich nicht aus der Hand nehmen lassen — wie Gott würfelt er, eine Wurfschaufel für meine Muse, rufen andere aus, Hamann, Whitehead, und ihm zu, und Paul Wühr greift das auf: Er, der Herr Gott aber ist die Dame Gott oder die Dame ist Gott — die Gleichsetzung bei Wühr ist total und dennoch offen — für die Entwicklung eines Ganges, der nicht Findung eines Kommenden, einer Entwicklung alleine heißt, sondern Rückkehr zum Traum der wahren Aussage, die nicht aussagt, was richtig ist, sondern was richtig falsch ist, und Johann Georg Hamann ist sein Philosoph der nackten Ästhetik, wo Exaktheit als Schwindel erkannt wird, die auch eine Ästhetik der Nacht sein kann, die allerdings mondhell erscheint und durch die ein scharfes Messer wie Ockhams Rasiermesser alle überflüssigen Fragen, nicht nur die der Metaphysik wegschneidet, die Wühr aber, aber auf das Brot der Poesie streicht, als Sprache mit den Mängeln der Sprache. Darin wohnt sie in Brot und Wein, auch wie ein tiefes Schweigen, aber dieses Schweigen ist bei Wühr die Rede, die ihre ausgesparten Räume im Atem und im Weiß der Fläche auf dem Papier findet, und der Atem ist nicht nur Steuermann des Rhythmus, sondern auch des Geistes. Denn der Dichter Wühr denkt, er lässt nicht denken, er denkt ständig in den Wörtern mit, sie sind nie sich selbst überlassen, sondern immer im Hof des Ganzen, der Schöpfung, und die ist gewaltig und demütig zornig

Zu Paul Wühr

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wie übermütig behutsam in ihrem Anspruch auf Wahrhaftigkeit einer Poesie, welche die Muttersprache des menschlichen Geschlechts ist — in einer, seiner, unserer die Republik der Poesie, öffentlich und poetisch, der Rhetor verkündet sie. Aber wie und wer ist das, ein Ich, eine Rolle, ein Authentischer, ein Falscher, ein Richtiger, ein Zitat? Wohl alles zusammen im Knetvorgang des Hervorbringens von Poesie, nicht nur des Machens, nicht nur im Sprachspiel, das auf politische Inhalte verzichtet, politische Inhalten, das heißt ja auch: inne halten, hinschauen, aufgreifen ent- und verwerfen, eine Wurfschaufel für meine Muse, darauf gelangen sie, die Stoffe des Rhetors, der sie im Pathos ihrer Möglichkeiten, denen er nachspürt im Wort und seinem inszenierten Auftritt, dem er dann einen Tritt versetzt, oder dieses einen Tritt ihm, und beides immer aus dem Satz heraus, dem Sprung, der auf bricht von einem Ufer zum anderen, auch wenn er das gegenüberliegende noch nicht sieht, er wagt es, der Satz jedenfalls bleibt irgendwie verwackelt und klar zugleich bestehen, nein, setzt sich und den Leser in Bewegung, das ist die Wührsche Mobilität, das Prozessuale und das darin Gewürfelte auch was heißt: immer wieder nachzufragen, unnachgiebig insistierend in Form von Haken und Stockbewegungen, die in die Form des Gedichts einfließen, aber eben, wie das Wort es sagt, fließen, dennoch, deshalb — an und für und ob, nicht an und für sich selbst, sondern für uns, die wir in diesem Strom eingebettet werden, OB, ob wir wollen oder nicht: wir werden zum Paar wie die Venus im Pudel, und das ist der Kern wie Gut und Böse wie Kafka und Felice, wie Hamann und Wühr, wie Novalis und Panizza, wie Paul und Hans Dumm, wie Hanna Ahrendt und die Poesie —  als Hervorbringende, die Gedichte nicht macht, verfertigt, sondern wie schon gesagt, hervorbringt, in Schweben bringt, dort oben und wiederum ganz unten knetet. Was übrigens auch obszön wirken kann, diese Gefahr geht der Autor, der nie Ich allein ist, ein, aber was ihn treibt, ist nicht Voyeurismus, sondern die Lust am Erkennen, das immer auch zum Würfelspiel werden kann und wird, wie bei Hamann, der sagt, dass Gott würfelt, — und Venus weist auf venere und venerisch hin, und das ist so ein Würfelspielwurf, der den Zufall mit nimmt und somit das System, das er mit unruhigem Kopf aufsucht, um es anarchistisch ins Wanken und ins Wackeln zu bringen, also in die Verwirrung, zusammengehalten von einem Strick, der aber faul ist, und sicher nicht die richtige Fessel, sondern der richtige falsche Knoten ist, der sich ununterbrochen löst und neue Verstrickungen sucht. Wir brauchen die, also Lieber Paul!!!

Der Beweger. Ein Nachruf auf Heinz Gappmayr A

2010

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Das Wort wird Begriff, in diesem begreifbar: mit den Sinnen des Auges, mit den Sinnen der — imaginären — Hand, die hingreift in der Vorstellung auf dieses Wort, und das Wort begreift. Anders als es im Verstand schon zu Hause war, und nun dort und plötzlich, im Wahrnehmungsprozess persönliche Bedeutung, so etwas wie individuellen Ursprung erlangt. Auch die Umkehrung dieses Vorgangs ist möglich: Der Begriff, das Wort, das Zeichen, die Zahl setzt die Sprachapparatur in Gang, und diese evoziert im Betrachter die frohlockende Hervorbringung von Einsicht, die vom Verstand wieder in die Sinne treibt, schwebt, schießt. Wir könnten diesen Vorgang, besser: diesen wechselseitigen Prozess zwischen Sinn und Sinnen auch Erwerb von Wissen nennen, das aber spezifisch anders konstituiert wird als durch Sprache in der konventionellen Ab- und Einstimmung von Schrift und Rede, Syntax und Grammatik, Bedeutung und Semantik. Heinz Gappmayr ist der In-Gangsetzer dieses Prozesses, er ist Beweger von Wort in Begriff, von Syntax in Grammatik, von Schrift in Rede. Als Gestalter, der hinter seine Arbeit an der Sprache zurücktritt, Psychologie im Sinne einer deutenden Herkunft des Künstlers meidend, aber im Sinn einer Deutung dessen, wie wir wahrnehmen, hervorrufend: Dabei wird das Wahrgenommene ins Verstehen transformiert, mit jenen Empfindungen, die während der Rezeption entstehen, die uns herausfordern, sie zuzulassen und in unsere Weltmodelle einzubauen — als kommunikative Kerne, die sich auf den sinnlichen Weg des dialogischen Sinn-Austausches machen. Ein Vorgang, der sonst automatisch funktioniert, an einer Oberfläche des Automatischen, und der unser Leben durch den Alltag steuern hilft. Heinz Gappmayr aber hält diesen Vorgang auf, stört ihn, erweitert ihn und setzt ihn dann in Form einer Konstellation, gleichsam einer virtuellen Installation um: Eine im Kopf und in den Dingen angesiedelte Installation, die Theatralität, Intermedialität und Ortsspezifik berücksichtigt und zu versammeln sucht: im Wort, im Begriff, in der Zahl, in der Farbe, im Raum. Die diese Kategorien als neue mimetische Parameter bearbeitet und hervorbringt, nach deren Analyse, die dem Werk vorausging, und die diese als Werk der Bewegung ins soziale Spiel der Kommunikation einbringt. Die Idee als Praxis. Der Künstler dachte und vor allem untersuchte er, wie er dachte oder wie es in ihm gedacht wurde. Die abstrakte Distanz, die seine Arbeiten einfordern, kippt aber in eine Rezeption der Erarbeitung, Bearbeitung und Fertigstellung in den Betrachtern.

Wir betrachten und sind. Mit ihm, dem Werk von Heinz Gappmayr, das ist. Also handelt es sich bei Heinz Gappmayr weniger um kühlen Wissenserwerb als um empfindsame Erkenntnis.

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Seine Abwesenheit als einer der feinsinnigsten Menschen stimmt uns traurig, aber seine Arbeiten werden diesen tiefen Mangel, wenn schon nicht beheben, so denn in ein Verlangen verwandeln, mit dem wir mit ihm am Werk sind. Anwesend.

Der Beweger. Ein Nachruf auf Heinz Gappmayr

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Zu Thomas Kling

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2014

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Die Komprimierung in die ’Energie der Zeichen’, die Nietzsche so enthusiastisch in den Oden des Horaz begrüßt — ’jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff’ —, dieses Zerlegen, um zu rekonstruieren, ist das Brennstabhafte der Sprache, von der ich rede. Thomas Kling Die Grammatik ist dazu da, um gebraucht zu werden, aber was sind zum Beispiel ihre Konjunktionen wert, sind sie wirklich im Sprachvorgang bloß dazu da, um zu verbinden, die Aussage, um die es geht (und um sonst nichts?), am Leben zu erhalten — eine Konjunktion wie: UND Thomas Kling strapazierte die Stimme, seine, nie nur zur Verstärkung von diesen Aussagen, die ja auch als diktierte erfahren werden können, sondern als gleichwertiges Instrument im Gesamtplan Gedicht — einer Partitur des geistig und körperlich Stimmigen, das, im Schreibenden und im Lesenden, also in ihm als Sprechenden, und in uns, als ihn Hörenden ständig in Bewegung gebracht werden sollte: Um die Bezüglichkeiten dessen herauszuarbeiten, was Sprache, Körper und Bedeutung im Zusammenspiel als erfahrendes Verstehen ausweisen könnten; deren Verknüpfungen und Verknotungen aufzurufen und vorzuzeigen —  in Klings eigenwilligem Sprechen, das die Schrift nicht nur verlautete: So kam es, dass in einer Lesung Thomas Klings während des steirischen herbstes in Graz 2000 an unwirschen Stellen — weder enjambement-verdächtig, noch dramatisch unterlegungs- oder überhöhungsbedürftig —  plötzlich, unverhohlen und unerwartet ein UND gebrüllt wurde, nicht (nur) um zu verbindende Inhalte und deren Wörter herauszustreichen, sondern (vor allem) um zu zeigen: was Grammatik und Syntax für eine Kraft darstellen, die suggerieren kann, erheben und unterwerfen, ein Zeigen, das aber ohne deren wirklich in Augenschein genommene Partikel, Wörter eben, nicht möglich wäre: Also zeigte es uns Kling, dass die Stallwärme der Stimme (vgl. Ursula Andkjaer Olsen, schreibheft 78); — wir danken es Heidegger, dass er vom Stall der Sprache spricht, als eine Art Heimat, na ja, der Stall, der ja auch, immerhin, im Begriff der Installation, der Sprachinstallation Klings anklingt) —  dass also diese Stallwärme der Stimme auch in ihrer Erhitzung durch den Rufer, etwas auslösen und vorführen kann: nämlich das Lösen von Knoten in uns, von dieser mächtigen Grammatik und Syntax geknüpft, die dennoch

beibehalten, aber durch die Stimmlage in Schieflage, Höhenlage oder Unterlage gebracht wird: in Lagen demnach, auf denen jene, die dieses UND sprechen, erfahren, was UND in ihrem Kontext bedeutet und mitbestimmt, UND: wie wir es selbst machen könnten, um frei oder bewusster zu werden

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— also packen wir es an, sagen wir und rufen wir und schreien wir und flüstern wir: UND und uu nn ddd — bis es so weit ist, dass es STIMMT! So erlebte ich damals und immer wieder bei Lesungen von Thomas Kling auch die Verwirklichung dessen, was Jakobson seiner Abhandlung über die Poesie der Grammatik und die Grammatik der Poesie als Motto vorausgeschickt hat, nämlich ein Zitat von Mandelstam:

Und die Verb-Endungen winken uns in der Ferne den Weg: Diesen Weg des Erkennens von scheinbar nebensächlichen Elementen der Sprache, unter anderen, das ist klar, hat Thomas Kling damals und immer wieder in seinen Lesungen gezeichnet, gelegt, er hat dabei keine Spur angedeutet, sondern eine Furche des UND geschnitten, die nicht sofort im Wort- und Satzbau-Gedächtnis des Sprechers und der Hörenden balsamiert werden konnte: dass es nur so gegenwärtig wurde, das UND und alles, also er und wir mit es, denn die Gegenwart war UND ist UND wird ein Beben sein UND, sage ich, sie wird auch nicht sein, UND vielleicht auch still, was ja der Schrei auch ist … ODER

Zu Thomas Kling

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Im Gespräch mit Johanna Eberl

A

JE

2012

Johanna Eberl FS

Ferdinand Schmatz

S

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JE:

Lieber Ferdinand, wie bist du zum Leser geworden?

FS:

Das ist relativ früh, in der Volksschule, passiert. Da hat es eine Buchaktion gegeben, bei der speziell zu Weihnachten Bücher angeboten wurden, die man dann kaufen konnte. Da hat mich erstens einmal das Buch als Objekt irgendwie angezogen. Es war sofort eine Art Prickeln da und Lesen ist mir relativ leicht gefallen, auch schon sehr früh. Mein erstes Wort, das weiß ich noch ganz genau, ist Kindergarten gewesen, das ich mit vier Jahren als Kind beim Spazierengehen gelesen habe. Meine Mutter und ihre Freundin waren ganz begeistert, dass das Wort Kindergarten für mich schon zu lesen war. Also gab es keine Hemmung, und da ist es eigentlich losgegangen. Das war für mich eine Art zweite Welt. Ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen, wo es keine Bücher in der Wohnung gegeben hat. Und da hatte ich schon das Gefühl, dass es da so ein Potential gibt, wo man wohin kann und die Welt, die einen umgibt, fast ausblenden. Ohne dass ich irgendwie eine unglückliche Kindheit gehabt hätte. Das will ich damit nicht sagen. Aber ich hab da eine Ahnung gehabt, dass da ein Ort ist, wo man sich etwas erbauen kann, oder gebaut bekommt, das irgendwie Lust verschafft oder auch Emotionen und Reaktionen hervorruft. Und das hat mich angezogen. Ja, und dann ist es weitergegangen, aber anfangs eher übers Zuhören. Als der erste Fernseher gekommen ist, habe ich mich sehr für Diskussionen interessiert. Wenn meine Eltern schon geschlafen haben, habe ich noch geheim ein bisschen schauen können. Das waren Diskussionen aller Art, aber eher Runden. Und ich war davon fasziniert, wie elegant und gekonnt diese Leute geredet haben. Das hat mich immens angezogen, und da habe ich viel von einer Art Wortmelodie mitbekommen, ohne dass ich vielleicht alles verstanden habe. So gut wird’s schon nicht gewesen sein, also ich glaube damals war das Fernsehen auch nicht so hervorragend. Aber immerhin. Und von dieser Befruchtung, wenn man das so sagen kann, ist dann auch der Griff zum Buch gekommen. Das zweite wesentliche Erlebnis dieser Art war mit meinem Onkel, der aus Amerika gekommen ist. Also meine Mutter hat sieben Geschwister gehabt, davon einen Bruder, der ausgewandert ist. Und wenn der auf Besuch gekommen ist, hat er dann immer Kleinigkeiten

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mitgebracht, die halt irgendwie amerikanisch groß waren. Und der ist mit mir mal die Mariahilfer Straße hinunter gegangen, und dann war beim Kaufhaus Stafa so ein Bücherkästchen draußen und da war auch Krieg und Frieden von Tolstoi drin. Da war ich zwölf oder dreizehn. und das hat mir irgendwie gefallen. Und dann waren da noch die Sagen des klassischen Altertums, das waren die zwei Bände, die ich mir mitgenommen habe. Dann ist es weitergegangen, ich habe die Hauptschule sozusagen abgeschlossen, bin dann aufs TGM, bezeichnenderweise Technologisches Gewerbe-Museum, auf die höhere Abteilung für Atomenergietechnik, was ja ein Wahnsinnsberuf war. Da war mir aber schon klar, dass ich das nie machen werde, also vielleicht unbewusst. Und da habe ich dann irgendwann mit 17 begonnen, Kafka zu lesen, das war dann sozusagen der Moment. Dann hat es noch einen Band mit russischen Meisterbriefen gegeben, also quer durch die russische Literatur, das waren oft Liebesbriefe, auch von Tolstoi und Dostojewski, und das hat mich sehr bewegt, und dann war es mit dem Schreiben nicht mehr aufzuhalten. JE:

Und wie bist du vom Leser zum Schreiber geworden?

FS:

Ja, also das war in der Phase der Kafka-Literatur. Auch von Rilke habe ich Gedichtbände in die Hand bekommen. Das waren eher schönere Ausgaben. Und das hat mich eben in dieser Pubertät oder Nachpubertät sehr angesprochen und mich auf Wellen gehoben, kann man fast sagen. Kafka habe ich zwar nicht so richtig verstanden, aber es hat mich trotzdem angezogen. Und aus heutiger Sicht sage ich wirklich, dass es für mich erotische Literatur war. Also nicht nur die eindeutigen Szenen im Schloss oder im Prozess. Aber die Abstraktion und was dahinter an Existenz gestanden hat, fand ich extrem anziehend. Also ich würde das jetzt mal erotisch nennen. Da war so eine Spannung zwischen Individuum und Abhängigkeit und Verlangen, das nicht erfüllt worden ist und manchmal doch, oder knapp daneben. Also das war ein Moment, der mich doch sehr eingenommen hat und dann habe ich begonnen, Tagebücher zu schreiben und habe die Kafka-Haltung übernommen. 1:1 kann man fast sagen. Also alle seine Probleme, und der hat ja einige gehabt,

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Im Gespräch mit Johanna Eberl

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die er dort ausdrückt. Vor allem in seinen Tagebüchern, die haben mich fasziniert. Das geht bis heute. Das ist das Buch, das mich begleitet. Und dann ist einmal ein Cousin von mir gekommen und ich war zunächst nicht da und bin dann überraschend in mein Zimmer zurück gegangen und er hat währenddessen diese Tagebücher aufgeblättert und ein bisschen gelesen, was ein Übergriff war. Das hat mich entsetzt. Aber irgendwie war der Blick eines anderen dann auch mein Blick und ich habe das dann noch einmal zu lesen begonnen und habe mir gedacht, das ist ja irgendwo übernommen. Das bin nicht ich, wenn man das je sein kann. Und dann habe ich es zerrissen. Das waren so schöne alte Kontobücher. Und das war dann so ein schöner Haufen, und Da habe ich mir gedacht, das ist irgendwie schade. Da hatte ich schon ein bisschen Kontakt zur modernen Kunst gehabt und zu Freunden, die sich mit bildender Kunst beschäftigt und gemalt haben. Also habe ich ein bisschen Ahnung gehabt und dann habe ich aus diesem Haufen ein Alphabet geklebt, also Buchstaben. Sehr schön, und aufregend, diese Schnitzel, die zerrissenen Blätter, und das habe ich dann gehabt. Das war dann schon eine Phase der Revolte, wenn man so will. Und dann habe ich aus diesen Buchstaben Wörter gemacht, das ist dann aber schon in die Richtung zum ersten Buch der (ge)dichte lauf gegangen. Und zwar Wörter, die meinem körperlichen und inneren Zustand meiner Erfahrung nach entsprochen haben, oder hätten sollen. Das waren oft Neologismen, also lautlich geprägte Zustandswörter außerhalb der Wörterbuchbedeutungen. Dazu habe ich auch den Raum abgesperrt oder bin unter eine Decke und habe die Wörter notiert. Und die habe ich mir dann mit den Buchstaben an die Wand gehängt und mit ihnen ein paar Tage gelebt. So ist eigentlich eine Art von Sprachfindung entstanden, die dann später von den Germanisten als experimentell bezeichnet worden ist. Und diese Neologismen waren aufgrund des An-die-Wand-Hängens nicht mehr nur Wörter, sondern eher schon Satzformen. Der Trick oder die entscheidende Wendung. Ich glaube auch Einzelwörter im Gedicht sind schon Sätze. Speziell im Gedicht gibt es immer schon eine Satzform. Wenn man als Leser/Leserin etwas versteht, ist es durch die Satzform suggeriert. Es könnte ja ein Zeitwort sein, ein Hauptwort usw.

Es entsteht immer eine Art Verstehensmoment und einige Wörter sind dann natürlich gegeben. Und die, die man nicht kennt, werden kontextuell von ihrer Bedeutung durch ihre Umgebung gefüllt. Das hat eigentlich eine unglaublich dichte und aufregende Sprache ergeben. Aber ich habe es dann zum Teil auch nicht mehr verstanden, und da habe ich dann auch gewusst, dass es ganz so nicht weiter gehen kann. Dann habe ich das zurückgenommen, aber die Lust am Buchstaben-Austauschen, oder an dem, was dann Anagramm heißt und was es da alles für rhetorische Möglichkeiten gibt, ist damit gekommen. Und dann bin ich auf Kurt Schwitters gestoßen, ohne noch Dada und dergleichen wirklich zu kennen. Da habe ich dann bemerkt, dass das ähnlich klingt. Verstellungen, Inversionen, neue Wortgebilde. Das war natürlich beruhigend und gleichzeitig auch enttäuschend, weil man ja immer der Erste sein will. Aber die Enttäuschung war eher geringer. Da ist man dann doch nicht alleine. Wenn man sich das für heute vorstellt, ist es sowieso undenkbar. Aber das war dieser moderne Zug einer Art von Literatur, die dann auch ihren kleinen Platz gefunden hat in Verlagen, wie eben in der Edition Neue Texte. Oder Gruppenbildungen, ohne dass man das so angestrebt hätte, waren damals noch möglich. Heute ist das ja irgendwie ganz anders. Entweder Einzelkämpfer oder kleine marktstrategische Zusammenfindungen. Denn das ist ja mittlerweile alles ein großer Komplex geworden. Damals war ganz klar, da ist die Avantgarde und dann gibt’s die anderen. Und für die anderen war das überhaupt nicht interessant, und von der Avantgarde wurden diese sowieso verachtet. Also Feuilleton und solche Ideale waren ja gar nicht angesagt, dass man da hinein wollte. Aber es war ein relativ großer Raum, oder sagen wir klein genug. Aber er war noch da. Und ich glaube, der ist jetzt noch viel enger geworden. Auch von den Verlagen her. Und dann habe ich eben, weil es jetzt irgendwie in der Biographie interessant ist, Freunde kennengelernt, die Hermann Nitsch gekannt haben und über ihn bin ich dann auch nach Prinzendorf gefahren und so, das war aufregend anders. In der angesagten Literatur waren Weigel und Torberg irgendwie nachwirkend. Also es hat schon andere auch gegeben, aber da war nichts Entscheidendes los! Anders bei Nitsch. Der Inhalt der Aktionen war im ersten Moment nicht immer so

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Im Gespräch mit Johanna Eberl

berauschend, aber, dass da irgendetwas versucht wurde, das woanders hinwollte, war mehr als anziehend. Und da bin ich dann eben hineingeraten. Und dort ist auch Dieter Roth aufgetaucht und die Wiener Gruppe. Rühm, Wiener und Brus, obwohl er damals im engeren Sinne noch nicht geschrieben hat. Und dann habe ich eben vor allem Reinhard Priessnitz kennengelernt und damit kam irgendwie schon alles ins Laufen. Dann ist das eigentlich so durchgegangen, mit heftiger Lebensform. Nebenbei habe ich halt studiert, damit meine Eltern auch beruhigt waren. Also die Ingenieursausbildung am TGM war zu dem Zeitpunkt längst verschwunden. Das Lehramt für Germanistik und Geschichte habe ich zwar rapide begonnen. Die Schule war so schwer, dass ich dachte, das kann nicht möglich sein, dass das Universität ist, von den Anforderungen her. Dann ist aber der Bruch gekommen, weil das exzessive Leben nicht mehr so ganz gereicht hat, um alle Vorlesungen in angemessenem Zustand zu besuchen. Aber ich habe es irgendwie hinbekommen, obwohl mir eigentlich klar war, dass ich nie in einer Schule unterrichten werde, und habe meine Dissertation bei Schmidt-Dengler begonnen.

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JE:

Heißt das, dass du dich immer schon eher in Gruppen bewegt hast?

FS:

Nein, den Schluss darf man nicht ziehen, also ich bin eigentlich gruppenscheu. Das war eben einfach ein Feld. Als das erste Buch erschienen ist, haben Kurt Neumann und Liesl Ujvary in der Alten Schmiede ein Autorenprojekt gemacht. Da konnte man als Autor bestimmen, was läuft. Und da hat sie mich eingeladen, weil sie von mir was gelesen hat. Dann hatte ich in der Schmiede die Lesung und da ist Franz Josef Czernin aufgetaucht. Sie hat ihn auch gekannt und während der Lesung ist unsere Freundschaft entstanden. Auch Heidulf Gerngross und Nitsch haben da zugehört. Aber es war keine Gruppe, also nicht wie die Wiener Gruppe. Man ist einfach nach Lesungen miteinander wohin gegangen oder so. Aber nicht regelmäßig, und es gab auch keine Hawelka-Treffen oder gemeinsame Schreibprojekte. Außer mit Czernin, da hat es dann das eine oder andere gegeben. Das meine ich mit Randgruppenbildung. So als sich selbst titulierte Gruppe, das liegt mir nicht. Schreiben ist einsam, im guten Sinn.

Es gibt natürlich Projekte, wo man sagt, wir machen zu zweit etwas, aber selbst in diesem Sinn habe ich eigentlich kaum mit anderen Autoren etwas probiert. Ich habe eher viel mit bildenden Künstlern zusammengearbeitet, wo dann Texte entstanden sind, oder auch Texte zu ihrer Arbeit, die aber nicht kunsthistorisch waren, sondern poetisch. Mit Franz West bin ich z.B. so gesessen und er hat gesagt, dass es bei Lacan einen interessanten Satz gibt, der ihm gefällt. Aus diesem Satz habe ich einen kleinen Text gebaut, und das war sehr spannend. Dann sind so kleine Textformen entstanden, und er hat etwas dazugesagt und das habe ich eingebaut, und das wurde dann zu den Skulpturen oder Dingen oder Objekten, wie immer man sie nennen will, dazu gehängt. Das war so sein Anfang. Ich glaube, es war für ihn ein wesentlicher Bestand seiner ganzen Entwicklung. Also das hat es schon gegeben. Auch mit Zobernig sind da ja echte Bände entstanden. JE:

Wie entsteht eigentlich eine Kooperation von Bild und Text? Und wie sieht sie aus, wenn sie geglückt ist?

FS:

Geglückt, das kannst letztlich nur du als Leser/Leserin entscheiden. Man hat schon irgendwann das Gefühl, dass es jetzt fertig ist oder passt. Es kommt auf das Projekt und auf die Art der Zusammenarbeit an. Wenn ich jetzt nur über die Arbeit eines anderen schreibe, also wenn einer sagt: Es erscheint eine Ausstellung von mir, schreibst du was? Dann schaue ich mir die Sachen an, lasse sie meistens fotografieren, lege sie mir auf den Schreibtisch und beobachte. Und dann lege ich die Auffälligkeiten sozusagen per Wort aufs Blatt oder schreibe sie auf. Was ich sehe. Ich beobachte aber immer auch die Art, wie ich es sehe. Und ich glaube, das kommt dem Werk an sich dann schon sehr nahe, weil es ja schon eine Organisation der Wirkung gibt. Natürlich ist das auch sehr subjektiv. Aber gerade dadurch ist auch der Unterschied zur Wissenschaft gegeben. So aber bleibt das Ding belassen und ist in der Wirkung stärker, als nur in der kunstgeschichtlichen Einordnung. Also zuerst die Wirkung, und dann auch so eine Art Wissen der Person, das aber jetzt nicht unbedingt einfließt. Weil solche Bestimmungen, wie und wer jemand ist, das ist ja auch in der Literatur hin und wieder

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Im Gespräch mit Johanna Eberl

sehr wichtig, sind aber meistens auch völlig uninteressant. Auch wenn es um Autobiographisches geht, also literarisch transformiert, muss man das nicht unbedingt mit dem Leisten der Biographie brechen. Auch sehr wichtig sind die Einordnungskriterien oder Begrifflichkeiten eines Diskurses aus der Zeit, die das Werk schon umgeben, die man dann entweder aufgreift oder unterwandert, bestätigt oder hinterfragt. Und so entsteht dann der Text. Oder wirklich persönliche Textformen, die dann irgendwie auch die Form des Objekts in der Wirkung aufgreifen, und das können dann auch Gedichte sein, oder spezifische Textblöcke. Also so entsteht das. Oder es ist thematisch-formal ganz gezielt, wie bei der Kunst der Enzyklopädie oder beim Wörterbuch der Kunst. Dass Heimo Zobernig und ich also eine Idee hatten, die ich dann sozusagen schreibend umsetzte. Auch in der Farbenlehre mit Heimo. Da habe ich ein bisschen montiert, aber nie reine Montagen gemacht. In der Zeit gab es eine Farbenlehre-Ausstellung, von den Anfängen bis zur Gegenwart, die hatten wir als Kataloggrundlage. Und dann habe ich zu den einzelnen Farbenlehr-Autoren eben einzelne Texte gemacht. Das waren sehr schöne Quellen in dieser Katalogvorlage, und die habe ich dann ein bisschen montiert, aber vor allem transformiert, auch wesentlich verändert. Und text-optisch umgesetzt. Zobernig hat ja in schwarzweiß nur die Grund-, oder Hauptfarben genommen und die haben wir dann nur mit rot, blau, grün usw. betitelt. Am Anfang war das für die Leser ein bisschen irritierend, aber es war dann in der Wirkung eigentlich genial. Heute hat das, glaube ich, auch für Heimo in seiner Arbeit einen gewissen Stellenwert. Also mir gefällt es immer noch, wenn ich es aufschlage, weil man so frei ist in der Entwicklung der Deutung. Man kann die Farben erzeugen, oder eben nicht. Manchmal geht es, manchmal nicht. Dann liest man den Text, schaut wieder rüber, plötzlich hat man einen Farbenwuscher. Es erzeugt so viel mehr, als wenn man das irgendwie farblich vorgibt. Also das ist dann ein bisschen ein anderes Vorgehen als ein Text zu einer bildnerischen Arbeit.

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JE:

Wie sieht es denn mit der Intention aus? Spielt sie eine Rolle bei einem Arbeitsprozess, und wenn ja, welche?

FS:

Natürlich, ja. Also man ist wirklich irgendwie zielgerichtet. Aber das Ziel ist nicht ideologisiert, oder meistens nicht mit einem Begriff versehen. Oder mit einer moralischen Botschaft, wie vielleicht bei gewissen, ich nenne sie jetzt einmal klassischen Autoren in den Balladen oder so. Da sind zwar auch Botschaften transportiert worden. Aber man hat nur eine Form genommen, Um das Wahre, Schöne und Gute zeigen zu können, das man schon vorher gewusst hat. Es kann aber auch genauso das Gegenteil sein, dass wir von der Form zum Inhalt finden. Dennoch glaube ich, es gibt immer ein gewisses Grundwissen zu einer Thematik, oder einem Inhalt, der dich bewegt, das man hin und wieder auch schon mit einem Wort festmachen kann. Da sind schon Einsichten in einem vorhanden, die es freizulegen gilt, aber nie zu fixieren. Und da arbeiten die Sprache, der Körper und die äußeren Einflüsse zusammen oder auch gegeneinander. Das sind jene Kategorien, die ich immer mit einbeziehe, oder einzubeziehen versuche. Bei meinen letzten dichterischen Arbeiten wollte ich das körperliche Moment anders einbringen als bei den neologistischen Wörtern früher, wo es nur vibrierte. Aber es bleibt dabei, wie Lichtenberg es gemeint hat. So wie man sagt Es blitzt, sollte man auch sagen Es denkt. Also dieses Es. Nicht im Sinne des Freudschen Es, sondern einer Art selbstständigen Sprach-Vorgangs. Dass da etwas selber denkt, spricht und selber schreibt. Und dieses Gefühl habe ich schon, dass man da einen Apparat in Gang setzt und dann schreiben lässt. Aber als Autor kommt es dann zur wichtigen Phase: die wo man die Entscheidungen setzt, dieses Zeichen, diesen Laut, dieses Wort, diesen Satz. Da ist dann der Moment, der diesem Unbewussten-Bewussten entspricht, wo einem das ganze innere Wissen immer klarer wird. Und dieser Richtung gehe ich nach. Das ist dann vielleicht die Intention. Es ist klar, wenn ich ein Gedicht Salz schreibe, dass ich irgendwie eine Intention oder ein Ziel habe, dieses Element zu erfassen und darzustellen. Aber trotzdem weiß ich überhaupt nicht, was rauskommt, wenn es losgeht. Also Speisegedichte Salz, das war im Zug. Da war eine Lesung in Graz, und beim Zurückfahren, es war ein relativ später Zug, ich war ein bisschen müde, bin ich im Speisewagen gesessen und Salz- und Pfefferstreuer waren da und gegenüber saß ein Mann mit so einer Hose,

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Im Gespräch mit Johanna Eberl

früher hat man gesagt Salz- und Pfefferstrukturen. Solche Punkthosen, ganz klein. Eher Engländer haben das angehabt. Komischerweise, die Zeit war nämlich schon lange vorbei. Aber der hat irgendwie so etwas angehabt, oder ich habe es mir nur eingebildet. Und dann der Rhythmus des Waggons. Und dann habe ich begonnen, so, umgetopft, eine stulpe als hose, aufgepfropft. Und es war die Form und der Inhalt da. Der mit der Salz-und-Pfefferhose und eine Stulpe und eine Tulpe und Salz und Pfeffer und Streuen, und so ist das Gedicht entstanden. Und dann habe ich Salz drübergeschrieben. Und dann hatte ich ein Salzgedicht. Da war mir klar, dass ich jetzt Speisegedichte machen muss. Und so habe ich das Modell, wenn man so will, aufgegriffen und habe das dann in der Art geschrieben.

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JE: Vom Thema Intention ist es kein großer Schritt zum Thema Interpretation. Oder doch? Wie sieht es damit aus? FS:

Interpretation gibt es immer! Da denkt man dann doch auch an die Leser. Ich glaube, das ist das auch Notwendige, an die Leser zu denken. Also nicht, ob es gut ankommt, sondern dass es jemand liest. Eine andere Art des Verstehens setzt ein. Und da taucht auch die Frage der zweiten und dritten Bearbeitung auf. Kann das jemand aufgreifen, dem folgen? Alleine Lautlesen hilft da schon, Hören, Schauen und dann Liegenlassen. Ich bin der erste andere Leser. Was ist jetzt an Verstehen noch da? Speziell bei Gedichten reduziere ich sehr stark und da fällt sehr viel weg, was ich ja als inneres Wissen weiß und eigentlich unbewusst dazu denke. Also das könnte man vielleicht als erste Stufe der Interpretation bezeichnen. Es kommt immer darauf an, wie man schreibt. Fried-Gedichte sind, glaube ich, von Anfang an klar. Ganz neutral gesagt. Aber bei mir stellt sich oft die Frage: Was steht da und was ist noch notwendig, um diesen Korpus der Intention zu vermitteln? Und dann kommt aber wieder ein neuer dazu. Dann darf man nicht zu weit gehen, sondern nur ein bisschen was dazusetzen und so entsteht dann auch schon eine Art Interpretation im Machen, oder im Überarbeiten. Das kann dann eine, im kursiven Sinne, Verständlichmachung sein, oder eben eine Verschlimmerbesserung. Wenn ich das Gefühl habe, dass es banal ist,

dann mache ich etwas dagegen. Also ich würde sagen, dass das die Art meiner Interpretation ist. Abgesehen davon, dass man ja ständig eine Wortbedeutung gespeichert hat, mit intentionalen Momenten der Zielgerichtetheit, die das Ganze fixieren, damit man die Wiedererkennbarkeit der Welt irgendwie auch gegeben hat. Sonst würden wir ja alle verzweifeln. Und das zu lassen, oder in Gang zu bringen, ein bisschen zu verändern, was im Gedächtnis festsitzt, das ist dann auch schon eine Art Interpretation des Gegebenen. Und für die Leser ist das natürlich oft schon sehr herausfordernd, dem dann nochmal nachzuspüren. Meistens ist man dann ja auch auf richtige Sinnsuche einer Aussage aus, aber genau um das geht es nicht, sondern darum, dass die eigene Sinnaussage gefunden wird. Aber das nur den Lesern zu überlassen, ist auch nicht die Intention. Man traut sich eben oft nicht, sozusagen frei in sich umzuräumen, da ist seit der Kindheit vieles verstellt worden. JE:

Wenn du heute zurückschaust auf deinen Werdegang als Schriftsteller. Welche Entwicklungen kannst du an dir selbst erkennen oder beobachten?

FS:

Ich würde sagen, dass es anfangs Skepsis, die oft Wut und auch Hass war, gab, in einem sehr selbstbezogenen Sinn. Nie auf andere, aber auf die Sprache und ihre Möglichkeiten der Verstellung von Emotionen. Da habe ich mir gedacht, man muss das ja anders machen! Die Sprache verstellt mir ja alles, was ich sagen will oder muss. Das war eher Zorn und Wut, ich wollte das eben verändern. Und das hat sich aber auf eine Art Lust an der Spracharbeit verschoben. Das ist der wesentliche Unterschied. Und letztlich auch sehr wohltuend in einem selbst. Da sozusagen auf diese Bewegung aufzuspringen und dann mit zu arbeiten. Und auch Möglichkeiten durch Formulierungen von Klischees usw. vielleicht zuzulassen, aber sie dann aufzudröseln. Aber nicht mehr auf die Art, dass sprachliches Denken nur Verstellen ist und erfahrendes Empfinden das Andere. Heute ist es eine Partnerschaft zwischen diesen Komplexen, für mich, in mir. Ohne jetzt banal sprachphilosophisch eine Entscheidung zu fällen, ob man in Sprache denkt, oder sprachlos. Da kann ich weder das eine noch das andere durch die eigene dichteri-

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Im Gespräch mit Johanna Eberl

sche Erfahrung bestätigen. Früher habe ich gedacht, dass die Sprache Erleben oft hindert, und wenn man sie irgendwie auflöst, dann kommt ein anderes Denken zum Vorschein. Aber jetzt ist das eher eine Kooperation zwischen wörtlichem Denken und schematischem Denken.

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JE: In deinen Gedichten vermittelst du durch deinen spielerischen Umgang mit Sprache eine unheimliche Leichtigkeit. FS:

Ich glaube, dass das auch mit diesem Entwicklungsgang zur Lust hin zu tun hat. Also jetzt ist das Sprachspiel nicht mehr eine philosophische Revolte, sondern eine lustvolle Philosophie. Im literarischen Sinne. Und vielleicht macht es das auch leichter in der Wirkung oder schafft mehr Vertrauen. Da sind gewisse Formulierungen, die vielleicht auch einen runderen Bogen haben in der Verssetzung und vielleicht ausformulierter sind als früher. Also nicht mehr solche Einzelworttechniken, oder Zerhackungen. Aber ohne diese Erfahrung ginge es nicht. Man kann nicht so beginnen. Ich zumindest nicht, um dort hin zu gelangen, da wo ich jetzt stehe. Aber das, was du sagst, freut mich sehr, gerade die Leichtigkeit und das Schwebende.

JE:

Du hast mich ja vorhin schon an der Entstehung eines Gedichtes ein bisschen teilhaben lassen. Wie sieht denn ein Schreibprozess im Generellen aus? Gibt es bestimmte Rituale? Oder kommt es, wenn es kommt?

FS:

Also nur zu warten, bis es kommt, geht nicht, weil es nicht so oft kommt. Das würde zu lange dauern, also ist ein bisschen Disziplin notwendig. Aber diese Intentionsfindung, die nicht klar benannt ist, braucht Zeit. Wenn es jedoch einmal da ist, dann weiß ich, dass ich jetzt jeden Tag weitermachen muss. Bei Prosa überhaupt, da muss man konsequent sein. Und da versuche ich, eine Art Zeitplan einzuhalten, also mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu arbeiten. Und da ist natürlich die Kraft und die Freude, oder auch die Müdigkeit oder was auch immer, stets anders. Aber in jedem Fall ist es eher ein Zurückzuschalten. Da muss man neutral agieren und interessanterweise entstehen dann oft auch sehr inspirative Momente, die man, sagen wir mal, im Aufruhr oder im Affekt hat oder

glaubt zu haben. Die sind dann oft durch ein diszipliniertes Immer-wieder-weiter-machen plötzlich da. Und das ist eigentlich das Schönste. Und plötzlich weißt du es gar nicht und bist aber in einer Phase, wo es wieder scheinbar von selbst geht, eine Zeit lang. Und das ist dann der Moment, warum wir schrieben. Und der kommt, glaube ich, schon auch mit einer gewissen Disziplin, oder wie auch immer man das nennt. Und da ist Regelmäßigkeit schon gefragt. Also speziell bei der Prosa, wie gesagt. Da gibt es ja einen Plot und um Figuren kommt man auch nicht herum. Wie immer man das jetzt sieht. Und wenn dieser Zusammenhang abreißt, dann ist einem das Ganze so fremd. Wenn die Arbeit dann ein paar Wochen oder Monate liegt, ist es sehr schwierig, sie fortzusetzen. Auch wenn es sich dann im Laufe des Textes ändern sollte, muss es einen Bogen haben. So wie ein Sinus vielleicht. Bei Gedichten ist es, noch einmal, eher hilfreich, wenn man den entscheidenden Abstand gewinnt. Das ist aber natürlich ganz persönlich gemeint. Und das kann man, glaube ich, theoretisch nicht untermauern.

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JE: Gibt es einen bestimmten Ort, an dem du besonders gerne schreibst? Oder eine bestimmte Musik, die du hörst? FS:

Mit Musik mache ich ja in letzter Zeit sehr viel. Also mit Musikern zusammen. Da haben wir gerade ein neues Projekt mit dem Komponisten Klaus Lang und der Geigerin Annelie Gahl. Mit Lang habe ich eine Motette gemeinsam verfasst. Also er die Musik und ich die Wörter, nach einem Regelkanon, den er vorgegeben hat. Oder jetzt mache ich mit drei Musikern, Oskar Aichinger, Franz Hautzinger und Walther Soyka aus der Improvisationsszene eine WienRhapsodie. Da ist das wie mit Zobernig ein Entstehungsprozess. Ansonsten höre ich während der Arbeit eher nicht Musik. Das wäre für mich eine Verachtung der Musik und gleichzeitig auch ein dichterischer Verflüchtigungsmoment. Aber ich drehe immer mein Radio auf, kann ohne Radio nicht leben. Kann sein, dass es dann schon läuft, bis ich merke, dass es mich stört. Aber prinzipiell brauche ich diese heilige Ruhe nicht. Obwohl ich gerne alleine arbeite. Also wenn jemand im Raum ist, oder auch im anderen Raum, ist es schwierig. Da werde ich ein bisschen komischer in letzter Zeit.

Im Gespräch mit Johanna Eberl

JE:

Du hattest oft Lehraufträge an Universitäten und unterrichtest seit einiger Zeit an der Angewandten. Brotberuf oder Vermittlung der Kunst?

FS:

Naja, ich muss sagen am Anfang war es ein Brotberuf. Also das war sehr wichtig. Aber im Laufe der Jahre hat sich das doch in eine Art inneren Auftrag verwandelt. Und auch die Zusammenarbeit mit den Jüngeren hält mich in der Gegenwart. Da kommen immer neue Perspektiven hinzu, die man dann aufnehmen kann und schauen, wie funktioniert das mit dem, was man darstellen und vermitteln will. Geht sich das noch aus? Wenn nicht, warum? Es wirft auch ein Licht auf den vorgestellten Text und da gibt es dann schon so eine Art Vermittlungsidee. Für mich ist es auch wichtig, im Ganzen zu denken. Dass man sich nicht nur in der Literatur, sondern auch ein bisschen in der Philosophie und vor allem in der bildenden Kunst bewegt. Dass die Studenten dann auch Gedichte oder Texte vorgesetzt bekommen, die sie im ersten Moment gar nicht beachten würden. Hölderlin zum Beispiel, um Gottes Willen, hör ich da. Den kennen sie noch von der Schule. Und wenn man plötzlich zeigt, was es da für Bilder gibt, wird ihnen klar, dass eine Installation fast das ist, was der Hölderlin manchmal wortwörtlich in Bildern zusammensetzt. Also da ist schon eine Art Vermittlung gefragt, und das geht dann auch über den Brotberuf hinaus.

JE:

Nun hast du Robert Schindel als Vorstand des Instituts für Sprachkunst abgelöst. Wie darf man es sich vorstellen, künstlerisches Schreiben zu lehren bzw. zu erlernen?

FS:

Naja, Erlernen ist nicht drin. Das ist klar. Aber es ist eine Möglichkeit, für die, die es wollen, sich weiter und intensiv mit Literatur zu konfrontieren. Es ist mehr eine Art von Beratung und Chance, mit sehr guten Autoren und Autorinnen ins Gespräch zu kommen. Vielleicht auch mit deren Unterstützung Texte zu schreiben und so weiter. Die Studierenden schreiben dann das Ihre und zeigen einem das. So entsteht eine Dynamik des Miteinanders, wo die Lehrenden natürlich aufgrund der Erfahrung und auch aufgrund der eigenen Ästhetik Ansichten haben, die man jedoch vermitteln kann und auch Bezüge herstellten. Nur

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kann ich meine Schreibweise nicht auf 60 Studenten ummünzen. Das würde ich auch nie wollen. Also bedarf es eines gewissen Zurücktretens, um zu schauen: Was ist die Intention des vorliegenden Textes? Und da eben zu helfen. Sie da frei zu lassen. Aber doch auch mit einer gewissen Entschlossenheit und Strenge zur Sache, die man vermittelt. Obwohl natürlich gewisse konventionelle Vorstellungen da sind, die zu akzeptieren, mir auch schwer fällt. Aber wenn es gut gemacht ist, wenn es eine Kraft hat, dann lässt sich sicher ein Weg finden. Aber Lernen ist unmöglich. Und vielleicht haben die einen oder anderen sich das so vorgestellt, aber es gibt ja auch eine Aufnahmeprüfung, da erfolgt schon eine ziemliche Siebung von 300 auf 15 etwa. Und da sieht man ja dann, was da ist. Weil die Ausbildung jetzt eben relativ neu ist, gibt es die Vorstellung, dass da sofort fertige Autoren rauskommen müssen. Ich finde aber, wenn man einen behutsamen und entschiedenen Umgang mit den Studenten hat, dass es wichtiger ist, eine identitätsstiftende Wirkung herbeizuführen. Dass klar wird, dass zu tun ist, was zu tun ist. Man kann zum Beispiel mit diesen typischen Klischees aufräumen. Da gibt es diese Vorstellung von dem, was ein Gedicht ist. Das wird inhaliert und kommt dann nachgebildet, bestenfalls umgeschrieben daher. Und da jetzt zu zeigen, dass eigentlich simuliert wird, wie ich damals mit meinen Tagebüchern jene von Kafka nachgebetet habe, ist besonders wichtig. Und zu fragen: Ist es wirklich das, was du fühlst und ausdrücken willst? Gibt es da nicht eine andere, entsprechendere Form etc.? Das führt natürlich eine Zeit lang zu einer ziemlichen Irritation. Und das kann auch ganz schief gehen. Aber die Vorstellung von dem, was ein Gedicht oder ein Text sein kann, einmal klar zumachen und dann das Ganze anders als üblich anzugehen und das Entstehende dann wieder zu überprüfen, ist ein wesentlicher Schritt im Schreibleben. Ich habe auch vor, mit den anderen Medien in der Angewandten zu kooperieren, etwa mit der Abteilung für transmediale Kunst etwa und unter anderem eine Erweiterung der konkreten Poesieansätze zu schaffen, die ja irgendwie erstarrt sind. Wir werden Sprachkunst medial dynamischer gestalten, uns mit anderen austauschen und künstlerische Verbindungen schaffen. Die verschiedenen Medien verknüpfen oder vielleicht auch politischere Inhalte ver-

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Im Gespräch mit Johanna Eberl

mitteln. Im Gedicht ist das ja sehr heikel. Wie formuliert man das, ohne plakativ zu werden, oder programmatisch und weltverbesserisch? Aber mit anderen Medien kann man da auch andere Formen setzen oder entwickeln wie Ironie etwa. Und man kann das ja im guten Sinne zeitbezogener machen, also da schwebt mir etwas vor.

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327 JE:

Hat die Tätigkeit als Lehrender dein Schreiben eigentlich beeinflusst? Gibt es neue, oder andere Zugänge?

FS:

Insofern schon, dass diese eingerasterten Mitteilungsformen, die man hat, neu zu überdenken sind, wenn du merkst, dass sie nicht mehr ankommen. Aber das eher modellhaft aufgreifend, also dass einem klar sein muss, dass man immer am Verändern oder am Lebendig-halten dran sein muss. Aber nicht anpassend gemeint, um cool oder geil zu hören oder was weiß ich. So richtig verändert haben mich andere Bezüge, die ich vorhin schon kurz angesprochen habe. Aber das ist eben nicht rein aus der Lehrtätigkeit gekommen. Andere künstlerische Ausdrucksformen habe ich kaum übernommen. Ich mache keine Videos oder Installationen oder so. Finde ich ganz spannend, aber ich habe das Gefühl, ich kann es nicht. Und es gibt eh schon so viele Dilettanten …

JE:

Ein Lehrer hat ja oft auch eine Art Vorbildposition. Was für einen Einfluss hat das auf einen Studierenden bei der Entwicklung einer eigenen Sprache?

FS:

Ich glaube, da gibt es so eine Übertragung, wenn du mit Begeisterung bei der Sache bist und vor allem auch zur Sache findest. Manchmal gehe ich schon so ein bisschen genervt in den Unterricht. Nicht wegen der Studenten, aber: Es ist schon wieder Stunde. Wie fange ich an? Heute habe ich nicht so besonders Lust. Muss das sein? Na klar muss es sein! Und dann bist du drinnen, und plötzlich kommt das Gedicht, oder das Wort, oder ein Thema, und dann geht es los. Und Gott sei Dank habe ich manchmal diese Begeisterung. Also es gibt kaum eine Stunde, in der es nicht zumindest einmal irgendwie funkt. Auch bei mir selbst. Und ich glaube, das ist die stärkste Vermittlung. Da ist jemand mit Begeisterung am Werk. Wenn auch nicht alles verstanden wird. Wenn das Improvisierte oft

mit einem großen theoretischen Blitzrausch daherkommt, oder was auch immer. Aber ich hoffe, dass ich das trotzdem weitergeben kann. Wenn ich etwas vermitteln wollte, dann das. Und dass das glücklich macht, gerade weil es herausfordernd ist. Und das geht ja oft in den Seminaren der engeren wissenschaftlichen Ausbildung verloren. Was jetzt nicht heißt, dass diese Wissensvermittlung nicht oft sehr ergiebig sein kann. Aber in meinem Bereich muss das behutsam gemacht werden. Ich versuche oft, aus eher mittelmäßigen Sachen irgendwie noch etwas herauszuholen. Es ist immer etwas da. Und das geht im Einzelgespräch besser. Ich glaube, da kann ich am meisten helfen. Und zeigen: Schau: Da so! Und wieso da nicht? Aber da muss man auch sehr aufpassen, seine eigene Sprache außen vor lassen. Natürlich kommt Die eigene Ästhetik auch ins Spiel, manchmal sage ich dann: Ich würde es so machen. Oder man zeigt, dass manche Wörter im Gedicht einfach nicht möglich sind. Irgendwelche Klischeewörter oder Reizwörter. Da gibt es eben Verschiedenes, was man nicht verwenden sollte, wenn man es nicht wirklich als Hülse thematisiert. Natürlich führt das dann zu einer gewissen Irritation, wenn in diesem RilkeTon angefangen wird, um dorthin zu kommen, und plötzlich ein Widerstand entsteht. Aber wer das nicht aushält, ist wahrscheinlich fehl am Platz. JE:

Ein Leben als Lyriker/Lyrikerin ist ja, wie du sagst, nicht immer leicht. Man hat oft mit Kritik und Unverständnis zu kämpfen und kann nicht damit rechnen, davon leben zu können. Würdest du einem jungen Menschen wirklich raten, eine schriftstellerische Laufbahn einzuschlagen?

FS:

Unbedingt! Also wenn ein Wollen dahinter ist, dann geht es irgendwie. Ich bin auch Bierausfahren gegangen. Man muss leider oft irgendetwas arbeiten, um existentiell durchzukommen. Die Strukturen sind aber auch anders geworden. Das ist ein bisschen ein Vorteil, aber auch ein bisschen ein Nachteil. Mit Stipendien etwa ist es viel breiter geworden. Da gibt es auch Möglichkeiten. Oder das sogenannte Debüt. Ein Wort, das ich wirklich nicht mag, weil man schreibt, und es gibt halt einmal ein erstes Buch, aber oft wird das dann sehr gehypt. Es gibt aber auch zynische Marktmechanismen, die dann zerstören, was

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Im Gespräch mit Johanna Eberl

sie selbst in den Feuilletonhimmel gehoben haben. Da gibt es ja genügend Beispiele. Also das ist sehr schwierig. Man muss deshalb auch irgendwie so einen Grad von Normalität hinein bringen, dass die Studierenden wissen, dass es nicht leicht ist. Aber wer es will… Dafür bin ich ja da, dass ich die bestärke. Also raten, dass sie es machen sollen, würde ich schon.

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JE:

Das wollte ich hören. Es ist ja generell eher schwierig im Bereich der Lyrik.

FS:

Ja das sowieso. Aber das ist interessant, ich wurde einmal bei einem Gespräch im Zuge von Tutorien in Klagenfurt im Vorfeld des Bachmann-Preises gefragt, wann ich beschlossen habe, mit Lyrik Geld zu verdienen (lacht). Das war gar nicht zynisch gemeint, wahrscheinlich einfach naiv. Das ist halt der Ausdruck eines gesellschaftlichen Zustands, der gegenwärtig sehr präsent und im Denken verankert ist. Aber das ist absurd, mit Lyrik Geld zu verdienen. Also du kannst nur schreiben und an dem dran sein, was dich anzieht, auch das, was andere machen. Man muss den Kontakt so auch selber aufbauen. Manchmal ergibt sich halt etwas nach Lesungen, wenn man das will. Ohne dass man sich da jetzt irgendwie hineindrückt oder so. Wir haben in der Sprachkunst auch eine Stunde, die heißt Literaturbetrieb, wo dann auch Vortragende sind, die eben Einblick geben, wie der Betrieb so läuft. Das könnte ich nicht. Da würde ich nur schimpfen. (lacht) Aber das wollen manche Studenten, weil sie glauben, sich strategisch verhalten zu müssen, um erfolgreich zu werden. Da kann man dann schon warnen. Weil wenn dann eine Absage von Suhrkamp kommt, sind sie verzweifelt. Ja mein Gott, wer bekommt die nicht?

JE: Was glaubst du, warum ist es denn heutzutage so schwierig, ein Publikum für Lyrik zu finden? FS:

Also das habe ich nie begriffen. Lyrik berührt doch die wesentlichen Momente unserer Existenz. Und Lyrik selbst ist modern an und in sich, in der Virtualität, in den Schnitttechniken. Das ist ja wie ein Film, der läuft, und es ist nicht lang! Ist ja nicht Krieg und Frieden, wo man sich irgendwie durchbeißen muss. Das ist ja im Gedicht ganz

anders, aber es greift dennoch nicht. Über Spoken Word, Rap und solche Geschichten läuft es ja schon. Das ist oft nur rhythmische Wortgymnastik, aber auch mit aktuellen, gesellschaftspolitischen Bezügen, die nicht auf die große Gesellschaft verweisen, sondern auf das Alltägliche, Problematische. Und das kommt natürlich gut an! Das sind Massen dabei! Aber wenn es ein bisschen komplizierter wird, wie es so blöd heißt, geben manche auf und sagen, dass sie das nicht verstehen. Und das ist schlimm. Also diese Schwelle muss man nehmen. Gedichte können ja vor allem Einsichten eröffnen. Hin und wieder findet man ja in der Zeitung ein Gedicht, aber das ist alles Augenauswischerei. Wenn das stärker wäre und anders eingebunden … Plakate im öffentlichen Raum, oder Screens. Also ich glaube schon, dass manche Leute dann plötzlich innehalten würden und irgendwie einen Flash haben, dass etwas aufgeht. In der Auseinandersetzung damit, dass die Sprache nicht nur dazu da ist, um ein Brot zu kaufen. Das hat ja eine ganz andere Strahlkraft. Also ich habe ja die Übersetzung vom Flakturm im Esterhazypark gemacht und unabhängig davon freue ich mich jedes Mal, wenn ich daran vorbeifahre oder vorbeigehe, überbordend, dass da Schrift ist. Dass da irgendein Text ist, der den sozialen Raum verändert. Das ist ein Text von Lawrence Weiner, bezogen auf das Gebäude. Der Text irritiert ein bisschen oder bestimmt etwas, was eh klar ist, was man aber nicht mehr sieht. Und ich sehe dort oft Leute stehen, oder Kinder. Der Opa sagt dann irgendetwas. Ist ja wurscht, was er sagt. Also da kann man, glaube ich, schon mehr machen. Es kommt eben darauf an, welche Gedichte man verwendet und wie und wo man es konzipiert. Aber da gibt es erweiterte Möglichkeiten. JE:

Allerletzte Frage: Was bedeutet Lyrik für dich?

FS:

Also ich glaube, es ist eine Möglichkeit, sich auf engstem Raum, der sich dann ganz weit öffnet, sinnlich und abstrakt in einem Moment auszudrücken und damit eine Art Erkenntnis zu eröffnen und zu genießen. Das kann wirklich philosophisch, aber auch ganz banal im Sinne eines anderen Blickwinkels sein. Und ich glaube, da ist das Gedicht in der unmittelbaren Wirkung auch über die Formgebung sehr geeignet und eigentlich ein Wunderwerk

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Im Gespräch mit Johanna Eberl

des Möglichen. Eine Art zwischen diesem Sinnlichen und Abstrakten zu changieren und ganz punktuell Themen damit zu berühren oder heranzuziehen oder zu erzeugen. Das ist das Schöne am Gedicht. Und dann natürlich auch die Berauschung daran, wenn man es laut hört oder liest, es sich zuschreit oder zuflüstert. Es geht immer weiter. Kommt immer auf das Gedicht an und mit wem. Aber auch allein.

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JE:

Ich bedanke mich herzlich für das angenehme Gespräch und ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg!

Das ungehörige Museum

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2004

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Die Muse geht um. Sie stellt sich nicht aus, nein, sie stellt alles um. Das ist der Traum der Kunst. Es kann (k)ein Zufall sein, dass die Muse im Museum steckt, mit dem Wörtchen um eine Einheit bildet, die nach Bewegung, nach Dynamik verlangt. Diese schreit nicht aus dem Wort heraus, aber sie kann aufgefunden werden. Wir blicken genauer auf den Begriff — und schon tut sich ein Inhalt auf, wird lesbar gemacht. Wir haben selbst dazu beigetragen, die passive Rezeption in eine aktive verwandelt: Das Museum öffnet sich, die Muse geht um. Jetzt geht es los. Was aber geht, ist mit eine Frage des Blicks, der das Wort, den Begriff geöffnet hat. Es ist nicht symbolisch gemeint, das Öffnen des Begriffs. Dieser Vorgang hat seine tiefe Praxis — das Arbeiten am Wort, der Weg von der abstrakten Bedeutung zum Material hin. Und dann sofort zu neuen Bedeutungen, Feldern, in dem sich die alten Bedeutungen, die nun geöffneten, bewegen — und bewegen lassen. Das Museum erweist sich bereits in seinem Begriff, so wir ihn öffnen, als (W)Ort der Handlung. Die Kunst darf, kann, muss das ebenso sein. Sie verlangt danach, Bewegung zu sein, die bewegt. Danach verlangt sie im Sinn ihres jeweiligen Vorhabens, aber sie spürt auch ein Verlangen nach Innehalten und Ausschauhalten zugleich, nach dem Museum — dann geht dort die Muse um. Üblicherweise, also wie es sich so schön gehört, liegen die Verhältnisse so, dass das Museum nach der Kunst verlangt. Verlockung. Kauf. Einverleibung. Repräsentation seiner selbst. Aus. Aber: Als Notwendigkeit, als selbst erstellte und selbstbewusste Regel der Kunst, die auch das Selbstbewusstsein des Museums hebt, läuft es möglicherweise andersrum, wenn das Museum draußen, die Kunst drinnen und vice versa bestehen, also sich bewegen wollen: Die Kunst verlangt nach dem Museum! Sie fordert es für sich — und nicht nur umgekehrt! Das gehört sich im Sinn der Musealisierung nicht. Aber im Sinn der ungehörigen Bewegung, die uns alle, draußen wie drinnen, ausmachen könnte, ist genau diese selbst der Motor des Glücks — aus Kritik, Destruktion, Konstruktion, Schweigen, Kommunikation, Kunst. Wird also das Ungehörige Bestandteil und Hilfesteller der Kunst wie des Museums auf deren Weg zugleich.

Hin und zurück. Kunst selbst hat ja die dynamische Tradition auf ihre Fahnen geheftet, die im Rausch des Friedens wehen. Aber dort gehörig ungehörig. Das Museum bebt, die Kunst lebt!

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Wir erinnern uns mit beiden — an uns, aber wir konservieren nicht (nur). Tradition geht nicht verloren, im Gegenteil. Das Fehlen von historischem Sinn wird dann radikal aufgehoben, wenn dieser in den Werken aktueller Kunst wiederkehrt — in Bezug auf die historische Quelle des Kunstwerkes selbst und in Bezug auf jene Quellen, die das Museum bietet. Die reale Geschichtslosigkeit wird real aufgehoben — durch Relation, Korrespondenz, Konfrontation der Kunst mit der Geschichte der Kunst und dann der des Museums im Museum auch. Kunst und Museum drehen die Verhältnisse in Bezug aufeinander um. Musisch, das heißt nicht romantisierend, sondern umfassend ästhetisch angewandt — politische, ökonomische, mediale Gestaltungsweisen aufgreifend, wird das alte Verhältnis neu organisiert. Diese Art des künstlerischen Umsetzens kann natürlich auch künstlich strikt ignoriert werden, die Möglichkeit, so oder so zu gestalten, besteht. Das Museum ist frei. Die Kunst ist frei. Also: durchaus ungehörig. Die Regeln des Anstandes, die künstlerischen Regeln des musealen Anstandes verlangen nach Ungehörigkeit. Und diese wird als ganze Ungehörigkeit verstanden, weil das Werk der Kunst immer wieder in Auseinandersetzung mit dem eigenen Ganzen steht. Also sich in diesem Feld bewegt. Auch wenn dieses Werk oder diese Arbeit oder dieser künstlerische Prozess auf Fragmente oder Details setzt oder setzen muss — da das Feld, in dem es politisch, ökonomisch, ästhetisch arbeitet, dieses Unfertige diktiert, bleibt es im Spannungsbereich des Ganzen. Das Ganze, nicht als Mitte gefeiert, nicht als Verlust betrauert, sondern hartnäckig gewollt, verlangt — oder verworfen, so wie es erscheint. Eben diktiert wird. Uneben, also im konstruktiven Sinn auch verdrängend, gegen das Diktat sich wendend, bedeutet aber auch — im Diktat operieren. Zumindest rebellisch, wenn schon nicht revolutionär. Keine neue Institution am Ende, eher Auftauchen, Verschwinden, Fluktuation, flüchtiges Bestehen. Auf die Umdrehung des Verhältnisses von Kunst, die nach dem Museum verlangt und nicht (nur) umgekehrt, gemünzt, gilt für die Relation von Ganzem und Teil, dass, wie Joyce es formulierte, das Ganze den Teil ausmachen kann und nicht der Teil das Ganze repräsentiert. Heraklit übersetzt die Elemente Gedichte von Franz Josef Czernin. Es geht also bewegend nach vorn und zurück um — Präsentation. Die Muse geht um, das zeigt auf: Dass sie, als Tochter des Zeus und der Mnemosyne, das Gedächtnis berührt ganz im Sinn der Mneme — und als solche die Fähigkeit lebender Substanzen aufgreift, für die Lebensvor-

Das ungehörige Museum

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gänge wichtige Informationen, die im Fall der Kunst umfassend ästhetische sind, zu speichern. Um diese in der Folge über die Speicherung hinaus auszustellen, also herzustellen und weiterzugeben. Um sie derart im gegenwärtigen Umgang damit, neu abgesteckt, zu bewahren: In der verdinglichten Erinnerung, die nicht den Fetisch der Ware darstellt, die auch geistige Ware sein kann (festgefahren in den Symbolen etc.), sondern aktiver Umgang mit dieser geistig-dinglichen Objektwelt ist — im Bestand des Museums, der genannten Dingwelt eben, die durch Aktivierung, also künstlerische Praxis zu zeigen, zu sprechen, zu kommunizieren beginnt. Über den alten Ort der gelehrten Beschäftigung hinaus, über die Bibliothek hinaus, über die Akademie hinaus, über die alten Funktionen des Museums hinaus zurück in die neuen, denn: Das Gefundene oder darin zu Findende liegt weit, weit vorn! Und — was dort vergessen werden darf, muss auch vergessen werden dürfen. In der Kunst, die von hier weg auf dorthin zuarbeitet wie im Museum auch. Das ist so klar und einfach, dass es schon wieder ungehörig erscheint. Und so entspricht es den guten Gegensitten der Kunst, die geltenden musealen Umgangsformen verletzend, nämlich respektierend zu verwenden, anzuwenden, dies gewandt. Ja: Angewandt! Das Angewandte, die Angewandte, der Angewandte wir Angewandten und so fort weiter! Die Unterscheidung der schönen von der praktischen Kunst kehrt immer wieder. Bildend oder angewandt. Warum nicht beides — bildend und angewandt. Wie es nicht Aufgabe der ernsthaften Kunst ist, nur Schönheit zu schaffen, die auf ein metaphysisches Podest gehoben wird (Arthur C. Danto), ist es geradezu die Aufgabe des Museums als Labyrinth, das Feiern dieser Podeste zu unterlaufen, deren und seine eigene Rückverwandlung des Repräsentativen in Präsentation zumindest im Auge zu behalten — mit den Mitteln der Kunst und den eigenen. Die sind nicht (nur) auf Zukunft aus: Der Sinn und die Idee jeder Institution ist die Einbringung des Kommenden, des Großartigen. Hier hält das alte Museum Hegels Ausschau, das glaubt, mit der Geschichte, die vernünftig ist, zu gehen — also auch vernünftig ausstellen wird, was da vernünftig noch kommen und in die absolute Vernunft, die sich gehört, münden soll. Das heißt aber auch irgendwann oder sofort das Ende der ungehörigen Kunst. Und also auch das Ende des Museums. Wollen wir das? Wollen Sie das? Will ich das? Wer will das?

Hat sich die Kunst als Hegels alt gewordene Gestalt des Lebens wirklich innerlich erschöpft, ist kein Staunen mehr möglich im Zeitalter des Händlers, der das des Kritikers abgelöst hat? Das Museum ist zumindest dann handelnder Händler, wenn es organisch mitagiert und nicht wie dieser Händler auf eine erträgliche Zukunft allein setzt. Also:

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Wenn es das Risiko zum Gegenwärtigen hin wagt — aber wie gesagt immer in Bezug auf den Bestand. So gesehen bindet sich das Museum an die historische Struktur seiner selbst und an die tatsächlich gesellschaftlich-geschichtlich vorgegebene. Seine Strukturbindung allerdings wird verdoppelt — durch Relativierung zur Gegenwartskunst, die es mit einbezieht in sein Trachten nach Vollständigkeit ohne Epochen-Obsession. Die Epoche ergibt sich immer im Nachhinein. Also: danach hinein — auch in das Museum und in die Köpfe der Betrachter! Das bebende Museum legt keine Periode fest, es hält sich die Epoche offen, weil es, noch einmal wollen wir es betonen, mit der Kunst geht. Dies geht ebenso mit (Andrea Frasers Museumsgänge sind Legende). Deren Störung und Beunruhigung ist Bestandteil der Einbindung, die Eingliederung der Kunst durch ihre Entwaffnung (Danto) nicht zum primären Ziel hat. Aber, ein letztes erstes Mal, ist es auch dem bebenden Museum klar: Der Status der Entwaffnung ist sozusagen naturgegeben oder systemimmanent. Im ursprünglichsten Sinn seiner Funktion handelt selbst das bebende Museum museal an sich, gerade wenn es modernistisch agiert und sich der gegenwärtigen Kunst annimmt und diese in sein Haus holt. Denn die Zähmung der disturbance ist unumgänglich. So gesehen aber sehen die Vorwürfe modernistischer, aktionistischer Tendenzen an die Seite des bebenden Museums nur die eine Seite der Medaille, und ein wenig alt aus. Nicht so die alte Muse, die neu umgeht, im Museum, das kein Schrein der Einsargung von Handlungsformen ist, sondern Höhle der Rituale, Palast des Schäbigen, Kathedrale der gottlosen Gottesfürchtigkeit. Ein wenig pathetisch, ein wenig idealistisch, ein wenig melancholisch —  so stehts hier, aber das Museum kann dieses Stehen bewegt machen: Also, auf! Auf die Bewegung! Auf die Muse, die um-geht! Weiter … Das ungehörige Museum

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Für Klaus Amann

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Neu Dichte, träumte so: Wie und so tragen wir wie der Kellner etwas an Gewicht ab, über sich selbst hinaus ist er nicht wir sind ohne zu haben das, was er hat, Äpfel am Tablett, sind sie ein zu fassen nicht, im Sack selbst versteht sich, drehlich in der Hand ist er tänzlich verstrickt in der Wolle aus zu holen dort, was ein ihn bindet — uns nicht, Meister, die Kante ist ein Grat: Hat er die Kraft am Zettel gemeinhin gepachtet, wo es steht, was Gang ist, erzen, dort unten sitzt im Raum das Eisen ab, schmilzt es uns was ein, die morsche Stiege, sie flog hinauf, Wir fliegen im Trab, hü hott so alle mit einander den Stock gar nicht treibend berühren uns Bilder, holen, was an Erde Äpfel oder finster ist, leiten wir das haltend, Bild fürs Schild, oder, schneller, ist es in ihm das Blosse, ein Wissen, das zu hissen, hinter dem Wort, an sich sich legt, nicht liegt, denn was verfliegt, das ist ein andrer Zweig, ein Unort oder heller,  — wo die Worte lauten, aus dem Keller oder was passiert, ist eines Leitseils Geviert, (also ein Bild aus dem Wort), ist es doch ein Ort, dieses Wort, allein aus dem Bildverein, nach wie vor das Neue alt ganz Glanz, gebrochen hoch — an facht es, was hiesse, angefacht zu sprechen, lächeln über die Konstanz (Distanz), die Linie, die Leitung in das Fach ganz laut, doch ohne Krach, schwach bröselt das im Zählen, Rechnen, Binden, Strecken, zu

wecken die Formeln in Reihen (formen), die Zeilen, die Verse, aufzugehen darin, damit, Geld geben (mit den Fersen) nur im Wort schon wieder: Druck ganz tief im Innen aus der Sicht von oben reizt uns unten zu verdrehen quer an Sinnen um zu stellen her uns — was, das Tägliche, Gestürzte, Fliegende, Gestürzte, ein Prall, schallt er nach oder gibt er vor neu im alten Kopf nicht zuzureimen Topf und Hals oder am Schopf nichts zu packen ausser Haare den Suppen zu entreissen, ein zu schlucken, was brüht, oder brüllt und sonst —

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wir packen ihn mal an zu sagen — wagen — weiter tragen das Geflüster in den Schirm —  wo lüstern macht das Auge auf das andere so stimmig auch Übertragungs-Modelle > Quelle: Altavista/Suchmaschine für Stichwort: neue dichte.de — Zitat 1: … siehe z.B. das Ziel (in der Physik), neue Konstantenwerte zu empfehlen … auch ein Phonon ist aufgrund der geringen Zustandsdichte von elementarer Anregung … Erste Fragen dazu: — Aber wo wären die Konstanten im Schreiben, als Werte noch dazu, spielen wir und setzen wir eine Entscheidung zwischen jenem und diesem Wort — als Wert, und das Wort, der Begriff Phonem wird zum Phonem vom Phonon, durch die Lautdifferenz „on“/„em“ entsteht das Minimalpaar, zwei in ihrer Bedeutung unterscheidbare Wörter, womit eine sprachliche Grund-Differenz ausgebildet wird, ein Baustein des Dichtens aufgeworfen, ein Element der Anregung vom Laut zum Sinn auf engstem, elementarem Raum? Zitat 2: … oder Körner sind stets gut für neue, verblüffende, teilweise kontraintuitive Effekte, abgekühlt … überschreitet die Phasenraumdichte des atomaren Ensembles durch …

Für Klaus Amann

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zwischen den Gesteinen (Änderungen der Dichte, der Wellengeschwindigkeit oder der elastischen Verformbarkeit) … — heißt es dort, und ich frage: Wäre eine poetische Regelsetzung als kontra/intuitiver Versuch die Einlösung der poetischen Überschreitung von vorgegebenen Welt-Modellen, sprachlich-bildlich, ohne Lösungswut, die Auflösung der Dichte in der Phase des lautatomaren Ensembles (vom Laut bis zum Satz, in dem das „Gestein“ etwa zum „Wein“ wird, wodurch Festes in der Herstellung seiner selbst fließt und sich auflöst), wo, verblüffende, überraschende Wendungen erzielt werden durch Änderung der Lautdichte und umgekehrt, welche Verformungen sind da gefragt oder notwendig, ist die elastische Dehnung des Inhalts so groß, dass Bedeutungen, wellenartig — via Reim, Metrum, Vers — wörtlich geschwind verschwinden, um gedanklich wieder aufzutauchen, als wortwörtliche Riesen der Reduktion? Zitat 3: … zu diesem Zweck werden ständig neue Programme entwickelt, parallel dazu läuft die Weiterentwicklung, … oft genug Abtasten, obwohl Einzelheiten verloren gehen, wird die Dichte der Abtastungen durch die Abtastfrequenz, Ausbügeln von Fehlern, Anpassungen an neue Standards erreicht … das betrifft vor allem die PC-Technik … Behauptung?: — Wir aber müssen nicht wachsen wie die Wirtschaft, ihre Ökonomie ist nämlich nicht gleich jener des Worts, das wir im gegen/ seitigen Abtasten von Worten und Wörtern erweitern wollen, uneben nicht nur, auch überhaupt über das Haupt hinaus auf das Papier zurück, um „zu sprechen die Fehler mit Stolz als Salz in der Suppe aus Sätzen“, ihre Falten in der Ordnung sind zu bügeln, aber immer ist es einen Bruch der reinen Frequenz, des Ganzen wert, das heißt aber auch aufs Ganze gehen, Einzelheiten also ins Spiel bringen, auch um zu vergessen, was das Ganze war, aber es kann werden zu …

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Fangen wir an. So: Der Gegenstand und das Ich. Das Objekt und das Selbst. Das Objekt im Projekt. Das Ich zur Darstellung gebracht im Projekt mit dem Objekt. Wo Es war, soll Ich werden. Also: Ist dieses Es das Objekt? Sind es die in ihm gezügelten Triebe, körperliche Erfahrung, die sich Ausdruck verschaffen, in der Darstellung außerhalb ihrer selbst? Handelt es sich um Handlungen, die mit diesen Objekten in Gang gesetzt werden, da sie Sehen sind? Ja, so: Sehen ist Prozess, der Blick aber hält diesen auf, legt ihn fest, Punktum. Alles steht, was sich bewegt, aber im Auge der Betrachtenden läuft der Prozess. Momentum. Ein Vorgang, der die Anschauung dynamisiert, aber das setzt erst ein, nachdem die Projekte eingefroren worden sind im Blick, der ein Foto ist, das ein Text begleitet:

Inszenierte Projekte aus Körper, Ding, Bild, Foto und Text. Auch hier ist Prozess gegeben. Der Blick wird durch die Textverfassung, durch das Textverfassen zum Vorgang, zur Bewegung, zur Rückschau, die eine Vorschau ist, eine Art innere Installation, In-den-Stall zurück, Zurück in einen Raum, wo Es und Ich sich trennten, um zu versuchen, sich suchend wieder zu finden — als Gegenstand innerer wie äußerer Art: Innen, durch das gewählte Ding, oder die gewählte Pose, außen durch den Raum, in dem die Begegnung umfassend im Detail stattzufinden hatte — eine Art Regel, ein Raum, in den Objekte eingebracht wurden, die meistens mit dem Körper in Verbindung standen, von Körper ergriffen wurden, um diesen zu begreifen, und von diesem begriffen zu werden. Was ist daran wesentlich: Dass es keine sich als entgegen gesetzt empfindende Wesen gibt, keine sich einander ausschließende Selbst — hier Objekt dort Subjekt, sondern eine Mischform aus Körper und Ding, transformiert in ein Drittes, das Medium der Darstellung, das sich wieder spaltet in Zwei, das Bild und den Text, die sich wieder zusammenfügen zu Eins, im Auge der Lesenden, die Schauende werden, inszeniert installiert:

Erinnerung ist Lesen des Gegebenen, des Gedächtnisses also, dieser LeseSchau-Vorgang setzt ein und verändert das Erinnern durch den multiplen Umgang der Körper mit den Dingen, in den Körpern und den Dingen. Die da auftauchen, ineinander treiben oder sich schroff voneinander distanzieren — um die Einschreibungen, die vor allem von Außen her-

rühren, aufblinken zu lassen, vorzuführen, bewusst zu machen, das eine als Spiegel des anderen, um diesen neu zu justieren, und die darin aufblitzenden Selbst- und Dingbilder zu verwandeln …

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Eingelesen als Eins im Auge der Betrachtenden, zu einem erweiterten Display verschmolzen. Auch aus der Erfahrung mit dem Text aus Wörtern heraus, die da verglichen (erinnert) werden mit eigenen Erfahrungen und Worten, um zu bemerken, dass sie andere waren, nun aber für alle ähnliche Empfindungen und Einsichten evozieren, die dennoch grundlegend subjektiv bleiben. Das Display ist Körper und Ding, die situativ für beide oszillieren, um eine Thematisierung des Selbst und des Verhaltens in einem Raum zu eröffnen, der endlich vorgegeben ist, aber in der Rezeption unendlich offen wird — unzählige Augen lesen, schauen und erfahren das sich Zeigende: Ein Ich entsteht, das aus den verschiedenen Ichs der anderen kommt, die selbst dieses Ich untersuchten und in Frage stellten, um es zu positionieren, um es dar zu stellen, bloß zu legen, oder einfach als Anderes zu versuchen, es zu begehren oder es abzulehnen in der Verlockung, das Hybride aus beiden zu sein. Das könnte den Beweggrund bilden, sich auf spielerisch ernste Art mit dem Gegenstand im Raum und mit diesem als Gegenstand in einer begrenzten Zeiteinheit auseinander zu setzen, nämlich sich darin und daraus in Szene zu setzen — in Form einer Versuchsanordnung, ein Labor des Momentanen zu gründen, ein Territorium, das in der Art einer Revolte für kurze Zeit eingenommen und bezogen wird, um es verändert, und vor allem, um sich selbst verändernd zu hinterlassen. Besser: es zu öffnen für andere weitere Bezugnahmen: Natur-Maschine. Maschine-Natur! Die Überschreitungen zwischen Körper und Umwelt deuten etwas Systematisches an, sie passieren aber im Sinn einer Passion durch die Art der Regelsetzung, der Rahmenbildung durch festgelegten Ort und festgelegte Zeit. Das psychische Innen und das soziale und physische Außen werden dadurch vermengt, durch in Szene setzen wird die feste Grenze destabilisiert und eine neue Spur des Selbst aus Ding und Ich gezogen, die ästhetisch spurt, Kommunikation ermöglicht. Ist es Zufall, dass im Begriff des Projekts, also eine Tätigkeit, die durch menschliche Hand in Gang gesetzt wird, das Opjket steckt, und ein r übrig bleibt, das eine reine Anagrammbildung verhindert? Verweist es, das R möglicherweise auf den Raum, der offen ist, der zu bilden ist: Ja, er wird gebildet, geformt durch das Einwirken der Dinge auf den Körper, so wie das Einwirken des Buchstabens auf den Begriff. Die Kohlezeichnungen verwandeln Dinge in Zeichen, schaffen Ikonen der Warenwelt und des persönlichen Erlebens. Eine Umverteilung erfolgt, die Ware erhält den Tauschwert zurück oder behauptet ihn nun mal neu. Gleiches Wortmaterial, aber anderer Begriff, der rauscht, der nicht klar,

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rein an sich ist, aber seine innere Klarheit selbst zu bilden imstande ist. Durch Arbeit am Material, das, wie gesagt gezeigt, Innen wie Außen betrifft, von dort kommt, in nach dort drängt. Damit wackelt nicht nur die Ordnung der Dinge allein, sondern auch das, was die Dinge festlegt, der normierte Blick. Er, der ein normiertes Handeln bestimmt, wird weich, flüssig gemacht in ein Schauen, das Fortgang heißt, Bewegung, auch vom Er zum Es, das Ich wird. Von der poetischen Metapher der dunklen Tiefen des Ozeans bis zum sozialen Konstrukt eines Gegenstandes, das in Europa diskutierte Burka-Verbot, setzt sich dieses zusammen auch in den Raum eines Gedankens, der eine Form findet und zurück fließt in die Welt. Diese Welt ist nicht mehr der Raum draußen oder der drinnen, in der Phantasie, sondern, wenigstens für eine Stunde, der reale Raum, in dem diese Grenzen, seine konstitutionellen Parameter aus Zeit, Fläche und Volumen, umgewandelt werden —. Wie im Anagramm, das auch real ist als vorgegebener Buchstabenbestand mit seiner festen Ordnung, die aber bearbeitet wird, um andere Ordnungen aufzuzeigen. In einer Raumzeit gleichsam, die nicht unendlich, sondern endlich vorgegeben ist, ein Hinweis auf die sozialökonomischen Beschränkungen auch im Feld der Freiheit von Kunst. Umso mehr wird sie zur Revolte der Infragestellung von Festem, Archiviertem, zeigt sich als Drängendes, Schwingendes, das allerdings politisch konkret gemacht wird, auch vermittelt, re-präsentiert: The „BOEM“ has been known as „Yugocafé. Now it is a café, a gallery and a cultural center“. Das Erstaunliche dabei ist, dass ein Wert entsteht, der nicht auf der sonst diese konstituierenden Distanz von Subjekt und Objekt beruht. Es kommt in der Inszenierung von Projekten im Subjekt via Objekt und im Objekt via Subjekt, vielmehr zum Aus-Tausch von Gegenstand und Auge. Ein Tauschwert bildet sich im Angeschauten und Anschauenden, die kurz so etwas wie eins werden, heraus. Ein Tauschwert-Dialog, in dem der Akt der Bewertung subjektiv wie kollektiv erfolgt: Subjektiv im Erfüllen eines Begehrens, das den Gegenstand wie den Raum des Körpers und den sozialen Raum betrifft; objektiv-kollektiv im Herausbilden einer Art Wert von Gütern (den KunstWerken), die ihre ästhetisch-soziale Herkunft im Prozess ihres Werdens gleichsam rückwirkend erzeugen. So dass das die Wert ergebende Bedeutung — sonst der Preis in der gesellschaftlichen Warenproduktion —  eben zum Tauschwert wird, der als neu auszuhandelnder entsteht: Rollendenken in der Küche. Seine Qualitäten, die nicht auf Quantitäten beruhen, sind Einwirkung und Veränderung auf jene und jenes, die ihn herausbilden: die Körper der Künstlerinnen und der Künstler sowie der Körper der Dinge aus Materialität, Form und Zweck. Sie alle miteinander münden in den Gebrauch, in

das, was Latour die den Hiatus zwischen Natur und Zivilisation aufhebenden Hybriden der Kunst nannte: der REFORMER, der es Bergbauern ermöglicht, Arbeiten im unwegsamen Gelände zu erledigen. Auch wenn diese Kräfte der Einwirkung und Veränderung nur durch Anschauung der Fotos und der Texte entstehen. Der überschüssige Mehrwert, der im ökonomisch-kapitalistischen Arbeitsdiktat unbezahlt bleibt, entfaltet sich im ästhetisch-sozialen Austauschraum, der seinen Inhalt im Moment der Erfahrung ausbildet, auch wenn er sich später im Sinn der kapitalistischen Ökonomie als ver-wert-bar erweisen soll.

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Das Ich und das Objekt tauschen sich gegenseitig aus, ihre Materialität wird erfahrbar und unmittelbar an einen Sinn gekoppelt, der erst entsteht —  auch anagrammatisch, metaphorisch-metonymisch, in dem die Dinge einer Klasse in die Reihe einer anderen nicht nur projiziert werden, sondern tat-säch-lich eingesetzt: Der Schnabel wächst aus der Maske in das Gesicht zurück und berührt gleichzeitig den Raum, in dem er stillstehend rast, auf einem Fahrgestell, das Teil des Stalles, der In-Stall-ation ist. Nicht zielverwertbar im Sinn von Ankommen, aber einen Wert setzend, der sich erst herausschält in der Hand des Auges, das den Beinen sagt, besser: empfiehlt: strample los und suche im Gegebenen das Noch nicht so Verbundene, hier das R aus dem Projekt, mache das weiche B zum harten P (warum nicht?), füge dann Begriff des R-aumes dazu. In der Erweiterung des wilden Denkens, in dem mit vorgegebenen Dingen auch ge-öffnete Situationen, und das ist die Erweiterung des geschlossenen Bastlerraumes von Levy-Strauss, hervorgerufen werden —  alles bewegt sich, ruht fliegend, donnert und macht so schön still, dass es uns ergreift und zum Handeln aufruft, dieses Andere kommen zu lassen, in uns und außer uns: weil oder obwohl uns etwas fehlt.

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Was ist noch da? Nach dem ersten Körper. Vor dem zweiten Körper. Der geschlechtliche Leib, die Sinne, die Freiheit. Dann der von außen zugetragene und auferlegte Sinn. Die Grenze. Der soziale Leib, die Einwirkungen und die Reaktionen, die Schminke, der Schlag, das Rouge, die Kerben. Der gesunde Körper. Der kranke Körper. Was ist dazwischen, wer legt ihn fest, sagt dann: Das ist so, das bist du. Das ist da, und, bald ist es vielleicht nicht mehr da. Was ist noch da? Du greifst hin, spürst, fühlst, aber was ist es, noch oder schon wieder, oder gar: neu, zum ersten Mal — da, das bin ich. Schaut her! Aber wer schaut? Was ist zu sehen? Zeige es uns. Das Selbst. Ein Bild. Das Bild vom Selbst. Oder: das Selbstbildnis. Was ist da zu sehen? — Das ist zu sehen: Es gibt da das innere Wissen von dem, was wir glauben zu sein, und so auch sind. Aber ist es sichtbar? Dieses Sein, dieses so zu sein, das So-Sein. Gibt es ein Mittel, um das mittelbar zu sehen, was man unmittelbar fühlt und empfindet? Eine Bildhervorbringung, die in Relation stellen hilft zu anderen Bildern, zum anderen Selbst? Von draußen aus, von gegenüber, dahinter, darüber oder davor? Wo es sich sichtet und zurückwirft, das, was gebrochen wurde und gebrochen wird, was außerhalb des Selbst auf dieses zurückstrahlt, um als dieses wahrgenommen zu werden. Das Selbst. Ein Bild. Das Bild vom Selbst. Oder: das Selbstbildnis. Was tun? Ein Abbild suchen. Worin? Darin: Der Spiegel. Die Quelle. Der Fluss. Der See, Die Lacke. Das Glas. Das Schaufenster. Das alles spiegelt, gibt ein Bild dessen, was in es schaut. Was noch — aus all dem? So etwas wie die Summe: Die Fotografie, das Foto, ein Medium aus dem Medium.

You press the button / We do the rest, so die Anleitung für den Gebrauch der Kodak-Box, Ende des 19. Jahrhunderts auf den Straßen von New York. Genügt es, das hergestellte Abbild zu sehen, um sich zu sehen, um ich zu sein?

Was ist dann da? Da ist da. Ich bin da. Als es. Und so. Oder so. Also so. Was bleibt, wenn das Ich gespiegelt wird, und es so bleibt, wie es, damals, damals, war. Die Zeit, die verging vom Moment der Aufnahme bis zum Moment des Sehens, ist sie im Sehen des Bildes enthalten? Also in uns, die wir schauen, und vergehen, während es, das Bild bleibt. Gibt es da ein uns Halt weisendes Maß?!

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Ich sehe da Fotos. Eine Frau. In ihrer Welt. Wirklich? Welche Welt? Ich habe das etwas von ihr gehört. Worte, Begriffe: Mandel und Schnee, hat die Fotografin Heidi Harsieber erwähnt, fallen lassen. Und so hat auch sie sich, die Fotografin fallen lassen vor dem Auge eines Gegenstandes, eines Dings, das ein Wesen aufnimmt, zeigt, ein Subjekt zum Objekt macht, produziert. Bildhaft. Das Auge der Kamera. Also, du, wieso sagtest du das, Mandel und Schnee, waren das Namen, ist es dein Name, Mandel, was stellt er dar, oder stellt er dich dar? Und wieso Schnee, stellst du dich im Schnee dar, bildest du dich darin oder davor ab? Oder bilde ich mir dich dort ein, im Schnee eine Mandel zu sein. Oder ein Kristall, oder eine Flocke — so zu sein. Bist du dort auffallend, also herabgleitend oder von unten hinaufsteigend, sinkst du auf den Boden. Bist du nur kurz greifbar und zerfließt in den Händen, in den meinen, oder in den deinen selbst? Greifst du selber nach dir im Schnee als Mandel, oder ist das alles nur so ein Bild aus beiden? Und was wäre das, ein Bild, dein Bild, ein Symbol, eine Bezeichnung, zwei Bedeutungen, zwei Zeichen? — zeigst du mir und dir und uns da was, und ich deute oder sage, behaupte mit schauendem Auge, erhobenem Kopf, du, Mandel Schnee, das ist ungleich in der Zeit, ungleich im Feld der Bedeutung, aber im symbolischen Hof der Bildverschränkung berühren sie sich, werden eins. Vielleicht im — Weiß, außen zart, die Hülle, aber innen hart, der Kern (oder das Atom, ja, ja, der unzerstörbare Kern, der uns zerstörbare Kern, sic!), der Kristall als Kern der Mandel, darüber die braune Haut mit den sanften Erhebungen und Einbuchtungen, die gespannten oder laschen Muskeln darunter, Rillchen oberhalb, Risse auch, Abgeblättertes, Fetzen, und immer noch darunter das vergilbte Weiß, das Fleisch, der braune Schnee: Wo fließt das zusammen, aus dir in mich und in dich zurück? Im gemeinsamen Blick — dein Klick, du mit dem Auge der Kamera, ich mit meinem Auge darauf, Aufnahme heißt es ja, und: wir werfen ein Auge auf ...  — worauf? Auf das, was du zeigst, was du umformst zum anderen Schauen, was du weg weist ins freiere Lid:

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was ich darunter sehe, das wirkt nicht anders, es ist das Andere. Das Gesehene ist nie das, was ich beim ersten Anblick deiner Fotos erwarte, das kommt dann nicht so, wie ich es erwarte. Dieses stellt sich paradoxerweise nach dem Betrachten ein. Nach der Schrecksekunde oder nach dem Freudenmoment wird es zu dem, was ich erwarten durfte, ja wünschte zu sehen, um mich zu fürchten oder zu freuen, auf dass es eintreten möge, nachdem es bereits eingetreten war, als — Rede des Sehens zeigt es sich da. Was, einfach zu sehen, aber nicht einfach zu sagen ist, da es sich anders als das üblich zu Sehende (das Gesegnete) vor das Auge bewegt. Es handelt sich um einen Prozess der Annäherung des Sinns an das Sinnliche, und so ist es nicht mehr abstrakt, das, was du zeigst. Es geht sozusagen ungesagte Satzwege am Steg der Annäherung, auf dem dann eins zu eins er-scheinen das Zeichen und das Bild, das Bild und das Wort, das Wort und der Kontext. Und ich, der das sieht, der liest. Ja ich lese das, was du zeigst, ich lese keine Schrift, ich lese das Bild. Dieses gibt für den Begriff, der das Ding oder den Körperteil oder dich als ganze Frau bezeichnet, keine äußerliche Pose, keine rhetorische Geste, keine starre Repräsentation ab. Was sich da zeigt, ist eine Art Satz, der eine Geschichte evoziert, aber nicht Wort für Wort. Bild für Bild ist sie lesbar, wobei sich aber kein Bild SCHÖN BRAV ans andere reiht in stiller Eintracht. Das jeweils vorangehende wird durch das nächste oder in sich selbst gebrochen. Drastische Schönheit ist das Ergebnis, das im nächsten Bild zur schönen Drastik (des Unangenehmen, Hässlichen ...) verkehrt werden kann. Diese Verkettungen von Gegensätzen, Tautologien ergibt diese Art Satz, der aus dem Bruch, dem Sprung herrührt. Und was den Satz anbelangt, so ist auch seine zweite Bedeutung von Belang: oft in einem Satz springt die Fotografin in das Bild, aus dem Lauf heraus, ohne vorne und hinten, oben und unten, links und rechts zu beachten. Im Jetzt des bewegten Körpers breitet sich der Blick im Auge aus, und das sitzt nicht mehr oben im Verstand allein, sondern auch unten, in der Mitte, im Herzen, im Fuß wie im Gehirn, im Sinn und Sinne-Verein. Dort bist du, bin ich, sind wir, stets auch das Andere, auch das Allgemeine, das Verführerische, das Traurige (Treu-ringe), das Erhabene, das Geschundene, das Hoffnungsvolle, die Frucht, das Element. Abwehr und Verlangen spüre ich darin auf, den schwarzen Schnee, die bittere Mandel, das ist der Ruß, das ist der Kristall, das Kühle und das Erhitzte, das Abweisende und das Verführerische. Wo es mich wegstößt und anzieht zugleich ist es das Unerwartete im Erwarteten — und das ist die Kunst: Wirklich zu sein, ganz in den Sinnen der Sinn, und somit den Blick der Vernunft zu verändern ins tastende Schauen, das zum Verlangen wird, aber nicht zur Gier, zum heftigen Sehnen, das schon.

So sehe ich es, anders, da es das andere wird, was sich da zeigt, Nämlich NICHT NUR die Brust, die Fut, die Scham, die Haut. Ich vermute, da kam etwas dazu: Da war vielleicht ein Hieb, aber du zeigst ihn mir nicht als deine tragische Wunde, die erweist sich als hässlich UND schön, und wenn sie verloren an das Ästhetische, dann ist sie die Gewalt der Rose. Ihre Dornen, die stachen zu, oder etwas schlug damit zu?! Und du, du schlägst dann dein Buch, deine Bilder-Seite auf, zeigst, unverblümt, die Rose, aufgeblüht und abgeblättert. In dieser Zeitspanne erfolgte der Sprung, das tatsächliche Springen vor das Auge, der Kamera, die nicht nur blickt, die festhält, das ausgelöste Selbst, dass die Zeit vergeht mit dir. Und das willst du, und das nimmt dir nicht den Atem, es ist ja deine Technik, dein Können, und er geht los, er zeigt sich in der Bewegung der Form. Alles huscht vorbei und bleibt dennoch klar. Auch in Windeseile, auch im Blitz-Ich-Gewitter ruht der fliegende Pfeil —

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wo er landet? o Im Atelier: Da sind die Dinge, die alltäglichen Gegenstände, die — noch — nicht Kunst sind, sie können es werden, dann, wenn der Körper sich darin behauptet, sich zeigt, mit deinem Zutun im Sprung auf diese Dinge, den Tisch, hin, du verlierst dich ebenso darin, wie du dich in ihnen findest, Bein für Hand, Becken für Haar, Teil für Teil. Ganz aber erst im Auge des Beschauers: als Körper in und mit den Dingen, nicht nur um sie herum, um den Alltag, den die Dinge banal vertreten, stell-vertreten. Er wird erhoben zu etwas besonders Bestimmten, das er möglicherweise schon immer war, aber durch die Bildarbeit wird er augenfällig, er löst sich aus dem Nebensächlichen, Beiläufigen, durch den Körper, durch den unbekleideten schutzlosen Körper zum Auf-Fälligen hin. Was zu einer Umdrehung durch Heidi Harsiebers Fotokunst führt, der Alltag und seine Dinge im Atelier reagieren plötzlich, schnell, auf den Körper, der nackte Leib verleiht ihm und den Dingen sein Kleid, und das ist kein Kleid der Zier, sondern eines des Er-Scheinens, eines des erträumten Ausgleichs von Subjekt und Objekt, von Hand und Tisch, von Bein und Decke, von Scham und Wand! o In der Galerie: Da sind die Verhältnisse der Herrschaft, die sich in den typischen Gegenständen ausdrücken: das Bild, der Rahmen, der Sockel, die Archivschränke, die kleine Abstellkammer, der große Ausstellungsraum — der Macht. Der Raum der Macht der Kunst. Der Blick darauf, der die Botschaft der Objekte nur aufzunehmen hat, nichts als Einforderung von Anerkennung und Unterwerfung, Ehrfurcht und Vorsicht. Und da hält Heidi Harsieber dagegen: Ironisch rückt sie ihren Leib zwischen Auge und Ding, hält ihren Leib, keinen gebogenen, nein, einen sich biegenden gegen die starren Körper, über deren falsche, aber mächtig wirksame Aura und verwandelt sie, macht ihre Spur betretbar und holt das Ferne wirklich in ihre Nähe — der Haar- und Fingerspitzen. Sie bricht diese Erschei-

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nungsweisen der Aura, aber nicht im Benjaminschen Sinn der Reproduktionsmittel, mit denen die Kopie originalisiert wird. Harsiebers Arbeiten sind nicht Ab-Bruch, sondern Auf-Bruch von schöpferischer Alleinherrschaft, deren spielerische Öffnung. Sie baut in bildlichen Sequenzen eben satzartig eine machtuntaugliche persönliche Aura auf, durch den schonungslosen, aber auch witzigen Ein-Satz des Körpers, der die alte Aura der Macht, der Institution zur subjektiven des eigenen Fleisches transformiert. Mit dem Aurawollen des Flüchtigen, Unewigen, aber leiblich Vorhandenen, Anwesenden. Heidi Harsieber durchlöchert die starre Wand der repräsentativen Aura durch die präsentative der eigenen Bewegung, die nomadisch dem eigenen Muskel- und Gedankenleib entspringt, und betört die Macht durch Sinnlichkeit. Der satte Sinn taumelt mit ihr mit und gibt seine Bastionen des Besitzes auf. o Im Badezimmer: Da sind die gezeigten Dinge und Zustände die erwarteten, aber auch die alltäglichen, automatisiert auftauchenden und ablaufenden — schön, werden zum Schönen, Geformten. Das aber bei Harsieber — immer (Was wäre immer; Jetzt?!) — auch bedrohlich wirkt. Nicht bedrohlich aussieht, nein, es wirkt bedrohlich (und vielleicht ist gerade das auch erotisierend). Weil es den voyeuristischen Blick aufzeigt und verabscheut, in einem Zug auflöst. Sollte er dennoch versuchen sich einzunisten, wird er in die Tätigkeit des anschauenden Körpers verwandelt. So: Schau nicht, mach! Ich blicke nicht hin, ich begebe mich hinein, damit spüre ich, was sich sehe, begreife die Begriffe. Auch im Badezimmer wird mir klar — gemacht, also gezeigt, dass alles ein Ort des Körpers, also der Versuchung und der Abwehr dieser Versuchung ist. Wir baden nicht, wir duschen nicht, dennoch kann das prickelnde Wasser etwas aus- und anrichten, und nicht nur oberflächlich auf der Haut verletzen. Die wahren Verletzungen, die zeigen sich überall, nicht nur am Schlachtfeld, nein, draußen wie drinnen im Bett, im Hotel, im Studio, in der Badewanne. o In der Badewanne: Da ist das Bleiche, es spricht, es ist der gewaschene Leib, also der Tod, nein, der Leib nach dem Tod. Er fügt sich in das Blech oder in das Email oder in das Porzellan ein, eine Art Pass-Leib. Wetteifert in rasender Erstarrung mit den Dingen, um sie in ihrer Wirkung an Kühle zu übertreffen. Und gleichzeitig sie zu werden: das Klinikum, der Operationssaal, die Vivisektion des Geistes im Leibesschauhaus. Aber, aber — der Körper, Teile von ihm, die Arme, die Beine, die Hände, die Füße, sie bewegen und drängen über den Rand des Objekts hinaus. Die Grenzen des Leibes sind die Grenzen der Dinge mit der von diesem Leib versehenen Haut. Es geht schnell wie immer, das Stativ steht, der Selbstauslöser geht los! Los, was tut sich, was ist zu tun, wer bestimmt die Lage, der SchrankSpiegel, der Schein oder das Sein, egal, nicht wahr?

o Im Hotelzimmer: Da ist der Totentanz, ein Fest der Maske, damit liegst du da. Das ist noch da, noch immer, hier ist die zweite Geburt, ich spüre das, ich sehe es dir an, und sehe es in mir an, das war die Grenze, der Augen-Blick der Grenze zwischen Gesellschaft und Haut, sie verfließen, die Grenzen innen und außen, das, was in das Gesicht geschlagen wurde, der Schlag mit der Hand, die Wange mit der Faust, die Narbe mit der Brust, oder war es nur ein Kratzer auf einer Tapetenwand, sie zersetzen und sezieren dich hier noch einmal — als inneres Mal den ganzen Leib, den sozialen und den geschlechtlichen, es gibt hier kein Moment mehr, alles fließt, was wird bleiben?

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o Im Zelt der Pornomesse: Da sind die, und du, oder sind es wir alle zusammen? Und das bewusst in der Zeit des Mediums, jener der Kamera, der vergangenen Zeit vom Abdrücken mit der Hand bis hin zum Auge, das auch mein Auge ist. Deine Portraits werden so zu etwas wie meinem Selbst-Portrait, da sie mich so zeigen, wie ich sehe oder wie ich die anderen sehe. Auch die im Pornozelt, die auf der Porno-Messe, wo ich spät bemerke (was passierte vorher?), dass es nur Männer sind, die mir von dir gezeigt werden. Und so wird deren Körper und ihr Blick auch mein Blick. Aber ich fühle mich dennoch nicht ertappt, sondern geführt. Es wird mir etwas anschaulich gemacht, du zeigst auf, weist hin, auf das, was ist. Und weil es um dich herum ist, ist es auch das, was du bist, in diesem Feld, dem Kontext. Und ich stecke da noch gehöriger mit drin als du. Weil das, was da ist, noch vor dir da ist und nachher schon wieder und mehr von mir, aber durch dich mit-be-stimmt, mit-ge-zeigt. So entpuppt sich das dann als das erweiterte Selbstporträt aller, das von denen, das von mir, und das von dir, nicht nur, aber überhaupt und so auch. o Im Männerclub auf der Herrentoilette: Da sind die fremden Körper, die mehr als zum Material der Untersuchung werden. Denn hier findet nicht die Zurückführung zweckentfremdeter Repräsentation in den Urzustand der sinnbefreiten Sinnlichkeit statt, sondern die Einwirkungen repräsentativer Formen werden auf- und vorgeführt: wie Einschreibungen als Ein-Zeichnungen, wie Schreibmale als Körpermale zurückbleiben. Heidi Harsiebers Fotografie erweist sich als individuelle Feldstudie, das Selbst als Bildtypus durch den sozialen Ort und dessen symbolischen Kontext definiert. Und dadurch eine Analyse dieses Kontextes auch — und das macht den Unterschied zu den aktionistischen Arbeiten am Körper der Selbsterforschung aus. In Harsiebers Selbst- wie Fremd-Studien ist keine Ursprungssehnsucht vorhanden, zum befreiten Körper und seiner reinen Empfindung und Wahrnehmung zurückzukehren. Hier geht es um das Aufzeigen der Einwirkungen und der Versuch, diese Einschreibungen und Einkerbungen zu nützen, ihnen auch zuvorzukommen durch Selbst-Verwendung ihrer, durch das Auftragen und Eintragen, durch eigenes Hand-Anlegen, das auch die anderen durchführen: die

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Erektion als Maß der Einsamkeit wie der Gewalt wie der Sinnlichkeit, der angespannte, zum Zerreißen gespannte Teil eines unterworfenen Leibes — in ihn und dort überall senkt sich der blitzlichtschnelle Pfeil und verletzt. Aber in der Verletzung zeigt er nicht nur die Wunde, und den schönen Austritt des Bluts, er heilt sie auch, und die zeigenden Ringe unter den Augen werden zu zeugenden, dass das alles vorbei ist. Es ist zwar festgehalten, aber in der erlebbaren Dauer des Schauens, die aus dem Zeigen kommt, es ist nicht Fotografieren alleine, was da läuft. Das Gezeigte ist vorbei, aber da gezeigt, auch gespeichert. Somit besteht die Möglichkeit, wieder abzurufen, was da anschaubar gemacht wurde. Aber auch die Chance, es zu vergessen. Nicht, um es zu verdrängen, sondern um es in die richtige schiefe Lage zu bringen, das alles da an Geradem, an Unberührtem, an Unterdrücktem; und das Zugeschlagene wie das Liebkoste an den Tag zu locken. Auch wenn es nur die eigene Liebkosung gewesen sein mag, jetzt öffnet sie sich zum Liebkosen durch uns, durch unser Auge hindurch, das die Hand führt, und greift, und findet, und sich selbst dabei spürt. Das Modell verlässt die Zeichen, seine Zeichenverfestigung, es wird zum Handeln, zum Tun vom Schauen als Gespräch: Wo findet das statt? Im Auge, hinter dem Auge in der Kammer des Geistes, aber nicht nur in den Regionen des Gehirns. Nicht nur in dessen eingeebneten biochemischen Feldern, auch in deren noch brach liegenden Bergen und Tälern; nicht nur in den Anschlussstellen, auch in deren Übergängen: da windet sich was, draußen, drinnen, Synapsen werden zu Schnittstellen, zu Weichen, und wir werden dazwischen hinein gefeuert. Da Zwischen — sind wir, was wir sind, und sehen und vergleichen und stellen Unterschiede fest. Und hoffen, in eine Richtung zu gehen, die uns durch das neu verknüpfte Schauen von dir angeboten wurde, du nennst es alles zusammen zu wurschteln, alles zu zeigen, die Maske, die Haut, die Strümpfe, die Haare — dorthin kann es gehen, muss aber nicht. Ich weiß ja nicht, wo es hingehen soll und wo ich hin will, wenn ich Heidi Harsiebers Fotos sehe und sie mich ergreifen. Die Spannung zwischen Begehren und Ablehnung, die Ufer der Ankunft und Flucht sind gegeben, aber dadurch auch überbrückbar. Die Brücke: die schonungslose Darstellung des Selbst als Körper in einem Feld der anderen Körper aus Menschen und Dingen, Subjekten und Objekten, die einwirkten auf Harsiebers Körper, und der auf diese zurückwirkt. In der Künstlerin, dann vom Foto ausgehend, somit in ihrem wie auch in unserem, meinem Auge — der Herstellerin und des Betrachters. Wir alle zusammen werden zu Produzierenden selbst. Das Selbst. Wie aber kann sich dieses ausbreiten in einem Bewusstsein, das nur den Körper hat und das Auge des Gehirns. Wo ist es noch? In den Arbeiten Harsiebers in den vom Körper besetzten Objekten, wage ich zu behaupten. In der Imagination des Vorgegebenen, des Objekts, das zunächst aus Inhalt und Ausdruck besteht und das zum dritten Zei-

chen wird: zum Subjektobjekt, das sich aus real Vorgestelltem und imaginiert Abgelesenem zusammenfügt zu einem Phantasma der individuellen Art, zum Erschauten. Dieses deutet an, beweist vielleicht, dass da neben den vorgegebenen und von ihr aufgezeigten Fällen, deren Registrierung und Einordnung in die Sphären der Erfahrung aus Gedächtnis und Empfindung noch etwas im Gange ist, also sich tut. Nämlich einen ständig neu zu beziehenden Bezugspunkt zwischen Subjekt und Objekt zu ermöglichen. In einem Feld nun, in dem die Erfahrung noch einmal oder wieder unschuldig aufblühen möchte. Und das könnte das neu eroberte Feld des Bewusstseins hinter und neben der sozialen Maschine sein. Jenes aus Geist und Trieb als eins, vielleicht sogar der Kern in dieser Maschine des Vorgegebenen, das andere Zentrum des Antriebs, das verborgen auch in ihr schlummert. Deswegen muss die Erfahrung von Harsieber in uns ihren Platz finden, da ihre um-erlebte unsere mit verändern hilft. Das ist weniger psychohygienische Technik als Kunstwollen, das sich aus jenem Bewusstsein speist, das sie mit medial inszenierten Bildern quer durch die realen und symbolischen Regionen unserer und ihrer Welten schiebt.

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Dieses medial grenzüberschreitende Programm dient bei Harsieber nicht wie im Aktionismus etwa der Überwindung des Tafelbildes und der herkömmlichen Aufführungspraxis in der Fotokunst. Es unterwandert und untergräbt vor allem die festgesetzte Rolle der Frau und Künstlerin hinsichtlich ihrer sozialen Einbettung oder Ausgrenzung. Eine Rolle, die zu spielen sie müde wurde, und wodurch sie so gesehen, eine Ermunterung, ein Aufgeweckt werden benötigte, um frisch und heiter (auch) fragen zu können: Wo, wo ist der Ort, der eine Freiheit zulässt; der schwierig zu beziehende Ort, für ein Gefühl des Eigenen, des Anderen und dessen Eigenständigkeit? Aber die Ästhetik der Formen, deren Spiel und Regeln waren stark wie der von ihren Protagonisten eroberte Platz. Dieser war markiert, abgesteckt und musste (in historisch nachvollziehbarer Weise) verteidigt werden gegen alles und alle anderen von draußen. Was also tun, um auf einem anderen Territorium auch die Wunde, die Verletzung, und nicht nur den Körper als Material zu verwenden und zu inszenieren, als frei gespieltes verführerisches Triebobjekt? Denn, was trieb dieses Objekt, das in dir und das im Blick der anderen, um es vor allen dann zu erweitern? Das Es in den Ich-Raum zurück und dann in das Wir hinaus, der aber ein anderes werden sollte als das in den Aktionen der Künstler vorher eroberte — ein weibliches? Um darin dieses Er-leiden zu zeigen, ohne zu weinen, da die Tränen eingetrocknet waren, in der Haut unter den Augen? Die aber auch lachen und Stärke ausstrahlen, wie das Geschlecht, das uns von dir behutsam forsch gezeigte. In der Weise der selbstbestimmten medialen Bedingungen: In einer Mischung aus Technik und Zufall wird mit der Kamera auf dem Stativ der Ausschnitt des Raumes bestimmt, dem Blick die eingesprungene Pers-

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pektive vorgegeben. Der Körper erhält durch die Sekundenbelichtung seine Unschärfe, die Dinge bleiben scharf. Im Moment des Selbstauslösers und des Sprungs, vereinen sich Apparat und Körper, Bestimmtes (Errechnetes) und Unbestimmtes (Körperkontur) mit jener Schnelligkeit, die zeigt, dass die Bewegung erst im Standbild ihre Gebärde findet, ihr rasendes Innehalten einsichtig macht. Und dem, was sich darin zerstreut, das Bleibende entlockt: Ich bin da, wo ich gewesen sein werde, dort wie hier, nicht nur in der Wanne, nicht nur am Bett, nicht nur in der Galerie. Die Aufnahmen halten nicht Erinnerungen fest, sondern zukünftige Bewegungen, Handlungsmomente, in denen das Ich Es gewesen sein wird und Du wieder war. Schwerelosigkeit des Körpers wird evoziert, um das Diktat der Gegenstandsformen leibhaftig zu brechen. Und dieser Leib, das ist der weibliche Körper im männlichen Raum. Brutal und schön in seiner Vorgeführtheit überwindet er diesen und hält mehr als den Schimmer an Hoffnung auf eine Gegenwart (wahrt nicht) aufrecht. Diese scheut weder Hässlichkeit noch Erhabenheit und Schönheit der Formen und eignet sich den Körper im ganzen Bild, das immer nur ein Ausschnitt ist, an — möglicherweise zum ersten Mal. Was ist dann da — das, was sich im und mit dem Körper ereignen lässt, in sich umsichtig zur Schau stellend? Auf selbst gewählte, subjektive Weise werden die oktroyierten Stellungen ins Wanken gebracht und der sie domestizierende Blick gebrochen. Also wiederum Bruch, aber diesmal in unserem Auge, unser Augen-aufSchlag: Der Augen Blick, das ist der Moment in dem das Individuelle zur Individuation wird. Sie wendet sich gegen das System. Und seine Sprache ist die Nuance, die feine Zwischensprache, die bei Heidi Harsieber gar nicht so fein daherkommt, oder doch? Roland Barthes hat diesen Blick, der sich gegen das Technisierte und Rationalisierte wendet, um das Besondere, das gerade noch möglich ist, in der kleinen Abweichung zu finden, als wesentlich für die Fotografie hervorgehoben. Aufgeschlagen das Lid, und Haar ist nicht Haar, Brust ist nicht Brust, Narbe ist nicht Narbe, Scham ist nicht Scham, die Nuance wird gesucht, dann betont, nicht ein neuer Stil krampfhaft gesucht. Bei Harsieber findet sich keine gegen die aktionistische oder serielle Fotografie gerichtete Ästhetik. Aber etwas darüber Hinaus- und darin Hineinzeigendes taucht auf. Harsieber arbeitet einen sozialästhetischen Unterschied heraus, der sich durch jene Verschiebung in Hin-Sicht auf das, was belichtet wird und sich dann etwas verwischt zeigt, ergibt. Wie? Immer in der Bewegung wird der eigene Körper im Feld der Gegenstände untersucht. Denn das Hineinhüpfen ins Bild, diese Harsieber-Gebärde ist nicht nur die körperliche Bewegung allein, sondern auch das Innehalten dieser Bewe-

gung in kleinsten Teilen und Schritten, die zur Verschiebung des Ganzen tendieren. Das ist die Nuance. Sie bewirkt nicht nur das Festhalten des Körpers, sondern auch das der Gegenstände, die ihn dominieren, die sozial-ökonomisch-ästhetisch belastet sind. Diese werden weder fetischisiert noch normalisiert, weder überzeichnet noch verworfen, sondern eingebunden in die Summe dessen, was die Existenz des Subjekts ausbildet und zu seiner nuancierten Deformation beiträgt. Diese ist dann die Individualität, die Barthes nach Benjamin zitiert. In all ihrer Drastik oder Unbedarftheit tritt sie als verschobene sogar innerhalb der eigenen Porträtreihen auf.

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In ihren selbst oder in jenen der die Hüpfende umgebenden Dinge, ist diese Spanne der Ausdrucks-Möglichkeiten zu sehen, die aber nur graduell, eben nuanciert auftreten und ans Licht geraten. Weil sie da sind als kleine feine Differenz bilden sie keinen Stil aus, der so tun könnte als wäre er Einsicht. Aber er gibt ein Bild in Form von Bildern ab, die nicht falsche Einbildung bewirken. Nein, bei Harsieber dringen sie in das Auge ein, und so ist das Gesehene draußen und drinnen in mir. Es ist gewesen, wird sein, und ist da. So: nackt, die Mandel. So: von Malen gezeichnet, die braune Mandel im weißen Schnee, die Naht auf der Brust. Mit dem Stift noch einmal, später, später, nach dem tatsächlichen Schnitt, nachgezeichnet und mit dem Lippenstift farblich verstärkt. Ja, das ist es, der Schein des Wirklichen ist natürlich, der Bewegung nichts als ein Bild nach dem anderen, oder eines vor dem nächsten. Das ist die Bewegung, das Auge richtet sie ein in uns aus der Fotografie des Körpers heraus — dein Körper, mein Körper, unser Körper, der Körper der anderen, der andere Körper, das konventionelle Schema der Abbildung: seiner, meiner, deiner ist zum besonderen durch individuelle Technik und Perspektive geworden. Damit wird die Frage nach der Urheberschaft berührt, spielerisch damit umgegangen: die Autorin ist die Fotografin ist die Fotografie ist das Bild im Abbild des Bildes als Bildnis. Eine Photomaton -Bild-Geschichte des eigenen Leibes als Selbstporträt eines Körpers, der sich erst herausbilden und entwickeln wird. Eine Schlachtbeschreibung, die zurückliegt, aber kriegerisch nicht mehr bevorstehen kann. Da neue Eigene, das neue Selbst-Bewusste verdichtet sich zum Vorgebildeten einer Zukunft, die das Vergangene überwinden wird werden können. Bewirkt durch deinen Blick, auch in uns, damit wir ihn miterleben, ihn leben. Der durch seine bewegende Praxis Vergangenes nicht verschweigt, das aber dadurch vergessen werden kann, ohne verdrängt zu werden. Weil dein und unser Gedächtnis nicht mehr belastet zu werden braucht, nach diesen Abreaktionen der und durch Fotografie, in denen nicht Symptome geheilt, sondern Ursachen scharf gemacht in Unschärferelation werden — und gerade dadurch klare Gestalt

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erlangen. Da sich das Manifeste (das unscharfe Scharfe) als Latentes (als scharfes Unscharfes) zeigt, ist es nicht mehr notwendig, sich vorzustellen, wie das alles, die Schweinerei wie das Glück zustande gekommen sind. Die Negation der Negation kippt in eine Schönheit, die durch die Erfahrung der Fotos weit über die ästhetische Erzählung hinauslangt. Und so fügt sich das alles zusammen zum Bild aus Bildern, das schön ist und hässlich zugleich, anziehend und abstoßend, erregend allemal und — wirkt. So wie es sein kann, nicht wie es sein sollte oder muss, und schon gar nicht wie es war, sondern wie Es ist im Ich des Wir. Mandelschneemandel.

… das ego ist eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego und nach den anderen, wie ein Subjekt nach einer einflussreichen und bestimmenden Außenwelt, hinsieht. Das Subjekt springt herum (le point subjectivité est mobile). (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

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Seine Beschreibung der Welt mündet in meine Zerschneidung der Welt. Alles Verabredete wird aufgekündigt. Aber die Beschreibung geht weiter und weiter. Meine fünf Sinne genügen nicht. Das Buch des Körpers und der Dinge wird neu verfasst, nichts bleibt an seinem Platz. Alles ist in Bewegung. Die Grenzen der Wahrnehmung werden hinaus geschoben — im Bewusstsein, das(s) die Welt ist. Sein Alphabet fügt dem Wörterbuch der Erfahrung den sechsten Sinn hinzu. Dieser kommende Sinn lädt und staut sich in den Wortverbindungen auf. Bis sich ihre Energien in der Sprache entflammen. Auf einer Bühne des Bewusstseins, die auch die meine und unsere ist, wo wir das lesen und hören, was Konrad Bayer mit Wut, Trauer, Witz und Ironie lapidar phänomenal auf- und vorführt: das Unheimliche am Bestehenden, am Gegebenen, das im Alltag, im Reden, im Namen, im Schauen, in den Bildern regiert. Dieses Diktat, das unseren Umgang mit uns selbst und den Dingen bestimmt und das Verhalten regelt, wird ans Licht gebracht, mehr als in Frage gestellt. Die Antworten des Dichters bestehen nicht nur aus Gefundenem, sondern vor allem aus Erfundenem. Er erfindet sich. Er erfindet mich. Wir erfinden ihn. In einer Wirklichkeit, die aus mehreren besteht, auch aus Sprachschichten und ihren diversen Modellen vom Dialekt bis zur Wissenschaft. Das alles ist ein Zeigen. Bayers Sprache zeigt, seine Dichtung ist für mich Phänomenologie des Wiener Dandys, der sein aufgeschaukeltes Boot der Empfindungen und Wahrnehmungen auf offener See des Textes umbaut. Das führt auch zu Verrenkungen, aber macht Spaß, der tief geht. Auch, weil er schön tödlich ausgehen kann. So ist unser Leben oberflächliches Spiel am Grund. Aber mit eigenen Vorgaben, um im Bewusstsein jene unbefleckte Stelle zu finden, wo sich unser Ich nach selbst bestimmten Regeln ereignen kann. Das ist Bayers Traum. Unser Traum. Der ist ganz real. Nicht realistisch. Eine Maschine, die ein Vogel ist, der singt, oder einw künstliche Ente, die scheißt. Wie der kommende Körper? Was will der von uns? Und die Sonne? Die brennt, und das ist mehr als Schein. Wir spüren sie, wir erfahren es. Dass das geht, danke Karl, Nina, Goldenberg. Konrad …!

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Das Bild und das Wort und die Idee und der Kontext. Wir sehen, wir lesen, wir stellen uns etwas vor, wir finden uns in einem sozialen Feld mit anderen wieder. So getrennt wären Vorgänge beschreibbar, die Rezeption von Bild in Bezug auf Wort, Idee und Kontext betreffend. Aber ist es überhaupt möglich, nur zu hören, nur zu lesen, sich etwas nur vorzustellen oder nur zu beobachten auf jeweils einer Ebene? Ist nicht alles stets auf einmal vorhanden — nicht im Teil allein, der das Ganze ist, aber in Verbindung mit anderen Teilen immer auf ein solches drängt, danach verlangt, auch wenn er dieses, als totalitäre Gestalt ahnend, flüchtet? In der Erfahrung des Moments sind alle Sinne nicht nur gleichsam von der Zehenspitze aufwärts mit dem Verstand verbunden. Aber die Darstellung des Weges und die daraus sich ergebenden Einsichten und die sich daraus ziehen lassenden Konsequenzen sind in der alltäglichen Erfahrung ein empirisch nicht zu entflechtender Haufen, ein Ganzes, das allzu oft im Nebel des Jetzt erscheint. Diffus oder auch grell. Die Kunst kann hier einsetzen, sie tut es, sie dreht den Nebel zum Leben um. Und der Dreh dabei ist rhetorisch gesehen nur ein Palindrom. Dieses aber hat mehr als Methode. Die Buchstabenumstellung allein wäre wenig, aber sie führt zu einem Ergebnis, das aus einem Augenmerk kommt, das die Mittel der Wort- und Sinnbildung nicht außer Acht lässt, sie erkennt und benützt. Und etwas damit zeigt. Was? Das: Ergebnis, also Aussagen können faktisch dastehen, und aus einem materiellen Arbeitsvorgang hervorgehen, damit jedoch von einem Prozess herrühren, wobei dieser Prozess selbst wichtiger ist für die sich einstellende Erkenntnis als das faktisches Ergebnis selbst. Es geht, und das ist wortwörtlich zu nehmen, um die Ingangsetzung eines Prozesses, der das Verhältnis von Bild und Wort von der synästhetischen Position Mallarmés bis hin zur konkreten Poesie in durch die Medien erweiterten Ebenen hinein treibt, in denen das Wort von der Idee und schließlich durch die Struktur oder den Kontext abgelöst wird. Beziehungsweise, und auch das ist wortwörtlich zu verstehen, gibt das Wort seinen Einzelwortstatus auf, um andere Verhältnisse eingehen zu können, oder es behauptete seinen eigenen semantisches Wert und emanzipiert sich gegenüber dem narrativen Satz. In dem Sinn, und auch der ist wortwörtlich zu nehmen, dass es sich in erweiterten Medienformen satzbauartig veräußert, den sozialen und ästhetischen Gegebenheiten, Entwicklungen und Veränderungen im jeweiligen gesellschaftlichen Moment entsprechend. War der Sinn eines Wortes in der ontologischen Semantik starr festgelegt, in der die Wörter die Dinge bedeuteten, so wird die gegenwärtige Semantik in Ausrichtung auf den Gebrauch, der die Bedeutung eines Wortes oder Begriffs eröffnet und absteckt, als pragmatisch-dynamische verstanden und das Kommunikative als Praxis nicht nur im Feld der Sprache betont.

Diese Dynamik der Pragmatik erfasst nämlich alle Beteiligten am kommunikativen Vorgang: den Sender, den Empfänger und die medialen Träger, also die Übermittler, die im Fall der Kunst von ihren Medien ausgehend, die des Betrachters erfassen — sein Auge, sein Ohr, seine Hand, seine Nase, seinen Verstand.

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Die medialen Schichten des künstlerischen Werkes passen sich dieser umfassenden Rezeptionshaltung des Betrachters an, indem sie ihrerseits die mediale Erweiterung suchen, finden und anwenden. Das ist Adornos Verfransung. Was zeigt Adorno mit dem Begriff der Verfransung? Er zeigt den Weg des Mediums durch die anderen Medien hin zu seinem spezifischen Kern. Dieser Kern ist ein von den jeweiligen künstlerischen Mitteln und Funktionen fest umrissenes Gebilde, das aber offen ist für Einflüsterungen und Einbringungen empirischer, sinnlicher wie gedanklicher Art. Materiell wie geistig kommt es zum Einsickern oder zumindest zum kommunikativen Konvergieren mit anderen Medien. Ihre Orte der Berührung sind keine fixen Schnittstellen allein, sondern Überlappungen, Verschneidungen, eben Verfransungen. Der Weg hin durch die Vielheit zur Einheit — das ist Barnett Newmans Weg, das ist der Weg von Andy Warhol und der von Christopher Wool: Gleich, aber anders. Das Medium Sprache jedenfalls fällt mit seinen Fällen in die Kernregionen des jeweiligen Hauptmediums ein. Die Sprache dringt nach innen, verbildlicht sich, abstrakt oder gegenständlich zeigt sie sich dann draußen als Objekt oder Zeichen, Chiffre oder ist nur im Titel präsent. Entscheidend ist, dass die einseitige Lösung, nur drinnen oder nur draußen abzubilden oder auszubilden, überwunden wurde, auch wenn dem ersten Anschein nach Barnett Newman in der Innenwelt und Andy Warhol in der Außenwelt produzieren würden. Aber die Verschmelzung verschiedener Medien in ihren Werkforschungen macht deutlich, dass der eine von Innenräumen nach Außenräumen strebt und der andere von Oberflächen in Tiefenregionen hinein arbeitet. Bei Christopher Wool geht es sowieso vom Medium der Malerei zu jenem der Sprache und dialogisch hin und her. Und diese Intermedialität führt immer über den Vertrag mit dem jeweiligen Medium hinaus, den dieses im Sinn seiner Anwendung mit dem Verwender abschließt. Vorausgesetzte Parameter wanken. Das Bild kann gelesen, der Text geschaut, die Idee begriffen und die Struktur gehandelt werden. Und so wären wir wieder bei der Idee, beim Material, beim Abstrakten und beim Sinnlichen, beim Vollen und bei der Leere, beim Reden und Schweigen, bei der Schrift und der Rede, und überall dort spitzt es sich zu auf das Zeigen. Das Abstrakte des Gedankens wird anschaubar — gemacht, im reinsten Sinn des Wortes, nämlich unrein mit der Hand, dem Pinsel, mit dem Auge, der Kamera. Auch wenn maschinell reproduziert wird, ist da eine

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Handschrift am und im Werk, die jene Grenzen verwischt, die zwischen Ikon, Index und Symbol verankert sind durch deren semiotische Klassifizierung. Im Arbeiten und im Erfahren dieser Arbeiten jedoch kommen alle Kategorien praktisch ins Spiel, bei Newman genauso wie bei Warhol und Wool. Und genauso heißt hier genau anders, aber in der grundsätzlichen Intention gleich gerichtet, nämlich — intermedial zu forschen, von A bis B und zurück und immer wieder abzufragen: Was ist die Wirklichkeit: eine der Dinge, eine der Sprache, eine der Idee? Gedichte werden mit Wörtern gemacht, nicht mit Ideen, junger Mann, formulierte Mallarmé, da ist was dran, aber es ist nur die halbe Seite des ganzen Arbeitsprozesses. Nicht nur beim Dichten. Immer ist das Werk das Ganze, das die Ideen sucht oder flieht mit Materialien, die aus diesem kommen oder zu diesem hin stürmen oder hin schweben, eindringen oder einsickern. Das liegt auch an der Handschrift des Künstlers, die geführt wird von den Nervenbahnen des sozialen Feldes, in dem diese Hand agiert. Diese drängt danach, frei zu machen, von dem, was sie lenkt, und frei zu machen, was andere dadurch unterdrücken, verstellen, überbildern, ver- und zerreden. Die Arbeiten von Barnett Newman sprechen nicht nur schweigend, seine gegenstandslosen Bilder machen reden und lassen umfassend schauen. Das Fehlen des Gegenstandes ist jedoch rein äußerlich, denn im Prozess des Malens wie des Betrachtens, den Newman als totality versteht, stellen sie diesen Subject Matter nicht aus, sie stellen ihn her. Um die Aporie zu lösen, das Sujet derart erfahrbar zu machen, nämlich in seiner Abwesenheit, greift Newman auch zu den Mitteln der Sprache, der Grammatik, Syntax und Semantik: Sein Drang, mit dem Medium der Sprache nicht nur zu agieren, sondern dieses und diese zu sein, um mehr als zu wirken, ist es, der auch seinen Bildkompositionen ein Sujet des Ausdrucks verleiht, ohne dass dieses (wie erwähnt) gegenständlich zu sehen wäre. Der Gegenstand oder das Wort, das ihn abbilden oder bezeichnen würde, fliehen jedoch nicht vor ihrer äußeren Gestalt und dem sie definierenden Begriff, es sind keine Dinge hinter dem leeren Raum oder sich ständig auflösende Signifikanten. Sie befinden sich viel mehr im Moment der An-Verwandlung, um vom Geist zum Fleisch werden zu können. So, dass die Stimme des Fetischs verstummen muss, das Auge des Ornaments erblinden. Stimme und Auge verweigern sich der dinglichen Manifestation zum Fetisch und zum Ornament als dem Subjekt entfremdete Objekte, da sie sich den Wahrheiten versperren oder den Glanz allein in den Blick bringen würden. So wären sie innerkünstlerischer Selbstzweck, ohne je Selbst gewesen zu sein, ohne je eines, im Maler wie im Betrachter, berührt zu haben. Der stille Schrei in ihnen dagegen ruft zum anarchistischen Widerstand auf: This is what the paintings meant to me — the cry.

Dorthin aber, zu diesem Selbst strömt Newmans Arbeit. Deshalb der Begriff der An-Verwandlung, der einer auf dem Weg ist, wo diese soeben geschieht, und nicht nur scheinbar, sondern materiell, gemalt, geschrieben, oder gedacht im Schrei freigelegt wird. Der Gegenstand, der sich innen, im Bild wie im Bewusstsein formt, wird durch Newmans die lineare Kontur attackierende Vorgangsweise gebildet, ist aber semantisch zunächst noch nicht figuriert. Der Begriff oder die Figur oder das Sujet als gegenständliches Bild oder lesbares Wort etwa ist abwesend. Aber im Kontext, bei Newman nicht nur die Farbflächen, die Stelen etc., sondern auch im geistigen Feld des Bewusstseins, das nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein sozial eingerichtetes ist, erhält er seinen Platz, von dem aus beide, der Betrachter wie der Künstler, leidenschaftlich zu erfahren in der Lage sind. Und das nicht nur zu zeigen, sondern zu veranlassen, das versucht Newman in einer Art geistig-materieller Versuchsanordnung, die keine Laborsituation heraufbeschwört, sondern in den Wahrnehmungen und Empfindungen der Betrachter ihren Raum bildet und den vorgegebenen aus- und umzubilden versteht:

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An die Stelle seines alten Begriffs von Schönheit und ihrer Bezüglichkeit auf bekannte Muster tritt die subjektive Wahrheit, die nicht vermittelt wird in Form von Wirkung, sondern im unmittelbaren Erlebnis erfahren. Abstrakt, monolith, gleichsam antiformal formal wird die Idee sinnlich erfahrbar, materiell greifbar und somit zur ursprünglichen der Erhabenheit. Sie ist gegenwärtig wie der sich einstellende momentane Begriff und verabscheut die genormte Erinnerung des Satzes, nicht den Satz an sich: The empty canvas is a grammatical object. Also: Wenn auch der reale Gegenstand in seiner äußeren Form fehlt, wird er als imaginärer durch eine Art Transformation der Grammatik und Syntax, die Newman mit den ideographischen Symmetrie-Aspekten der indianischen Kunst in Verbindung setzt, zum tatsächlichen erzeugt. Newman spielt nicht mit der grammatikalischen und syntaktischen Übernahme in seine künstlerische Arbeit, nein, viel mehr findet eine Einverleibung statt: I’m the subject. I’m also the verb as I paint. I’m also the object. I am the complete sentence. Subjekt und Prädikat und Objekt lösen sich vom vorgegebenen strukturellen Ort, gehen im Künstler ineinander auf und können dort begriffen werden. Auf eine sinnliche Weise wird das Abstrakte des Gedankens real — als Farbe, als vertikaler Strich, als Kreis, als ganzer Raum. Und damit nicht nur gegenständliche Erweiterung, sondern ganze Erfahrung, und das mit den Mitteln eines anderen Mediums, mit jenen der Sprache: Die Erfahrung des Grenzenlosen ist ideographisch, das heißt magisch, mythisch, rituell wie es in den symmetrisch-ideographisch bestimmten Arbeiten der Kwakiutl-Indianer der Fall ist, in Form einer Bewegung von starren Zeichenträgern in dynamische.

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Onement, Be heißen Bildkompositionen von Newman. Seine Titel sind nicht sprechende, sie sprechen, sie vergegenwärtigen den Zeitmoment des Jetzt und machen die absolute Metapher des Seins sakral-profan erlebbar. Die Aura bleibt bestehen, aber die Ferne, so nah sie sein mag, wird tatsächlich nah, die Distanzen zwischen ihr und dem Betrachter sind aufgehoben. Die Spur, der Titel als Wort, der ein Satz ist, reicht in das Bewusstsein des Betrachters, verbindet Werk und Auge und führt in das Bild zurück und anders hinein. Es ist der Weg des Schauens, das sich im Bild wieder findet, in der Kathedrale ohne Ornament, im Buchstabenaustausch, eine Art Reduktion zur Fülle hin, der den Raum frei gibt: Orna- wird zu One. Onement, das bedeutet nicht Einssein, das ist mehr, nämlich das, was es immer wieder aufs Neue sagt und zeigt und somit anders ist: Die Erfahrung einer Welt jenseits vom Materiellen und Physischen in der buchstäblichen Symbiose von Material und Gedanken, Sinne und Sinn. In seiner Abhandlung The Plasmic Image weist er auf die Unterscheidung zwischen plasmisch und plastisch hin, wobei er den semantischen Kern betont. Beide Begriffe stammen vom griechischen Wort für bilden und formen, beziehen sich aber auch unterschiedlich auf lebende Organismen und leblose Materie. Auch in dieser Reflexion ist der Bedeutungsunterschied durch minimale Buchstabendifferenz gegeben, mehr als ein Hinweis auf Newmans Technik und Welterfassung durch seine Art einer Buchstabenkabbala, die metaphorische Zweideutigkeit auf engstem Raum erlauben. Andy Warhols frühe Bilder wie Storm Door, die Zeichen, ja Wörter, die Ziffern, ja Zahlen und den Anfang eines Satzes (MADE TO) enthalten, wirken weniger an die Oberfläche gesetzt, wie seine späteren Arbeiten, sind aber dennoch nicht beschwert von semantisch intakten Inhalten. Das heißt, sie zeigen das, was mit ihnen bereits gesagt wurde, nur in Bruchstücken, auszugsweise, aber umso treffender in ihrer Wirkung auf die ganze Aussage hin. Im Kontext mit dem nämlich, was sie umgibt, in das sie eingebettet sind, von dem sie begrenzt werden oder umgekehrt, das sie begrenzen: Fotos, ikonische Elemente, Farben, optische Zeichenträger, die sich auf diese Weise semantisch emanzipieren in Zusammenhang mit dem Begrifflichen der Worte und so zum Satz auswachsen, der eingebettet ist wie ein Medium in die es umgebenden anderen, den Kontext.

129 DIE IN JET berichtet, ebenso wie Storm Door als Acryl auf Leinwand gemalt, nicht vom Inhalt eines Flugzeugabsturzes, sondern führt ihn vor. Es reproduziert eine Medien-Information noch einmal mit seinen grundlegenden Mitteln der Malerei, die im Ursprungsmedium der Zeitung enthalten war, also bereits darin reproduziert. Aber durch Warhols Re-Re-Produktion wird die Information zur künstlerischen Botschaft, die auch das Sprachzeichen mit malerischen Mitteln gleichsam neu semantisiert: Durch potenzierte Reduktion verschiebt es das Hauptaugenmerk auf Einzelzeichen, bleibt aber im Feld der Aussage — Bedeutung als Funktion der medialen Erweiterung oder Einbindung, hier von Buchstaben, Teilsätzen, Sätzen hin zu Aussagen,die sich mit und aus dem Bildmaterial heraus aufbauen. Nicht nur das Material schließlich ersetzt oder

übernimmt zumindest die Funktion, der Beschauer oder Leser hat sie zu für sich zu deuten und anzuwenden. MADE TO heißt es, nicht Made in (und das könnte von Christopher Wool stammen). Über die originale Einfrierung des second-hand-Charakters, mit der jede Warholsche Arbeit lapidar zynisch spekuliert und spielt — wie in seinen Tagebüchern, die in konkreter Listenform von der Herausgeberin Pat Hackett selbst geschrieben wurden, wie auch in The Philosophy of Andy Warhol (From A to B & Back Again), die ebenfalls aus Warhol-Aufzeichnungen aus der Factory transkribiert wurde, und wie im via Tapes formulierten Schlüsselroman, so er einer ist, a, A NOVEL, der von einem Billy Name herausgegeben und von vier Transkriptoren (dabei die Drummerin der Velvet Underground Maureen Tucker)- mit fremder Syntax und eigener Redeweise hinaus und zurück in eine Inhaltlichkeit, die den Kern der Botschaft vom jeweiligen Medium, das ihn umhüllt, löst und vergessen macht, und so in das Bewusstsein des Lesers, der ihn als quasi neu erlebbares Symbol indexikalisch versinnlicht, einsinken kann, als: der Tod und das Zeichen, das Essen und das Leben wie das Essen und der Tod (es ist auch der des Autors, auch das taucht bereits in den 60er Jahren bei Warhol auf), die Zeit und der Spiegel (die Zeitungsvorlage für 129 DIE ist der New York Mirror), das Wort und der Raum, alle diese Themenfelder sind keine metaphysischen Dualismen mehr, sondern an der Oberfläche aufgeführte Anschaulichkeiten, die tief reichen — in die Welt aus medialen Welten. Vor allem in Warhols Filmen ist es der Ort und die Zeit, die den Raum der Erfahrung nicht abgeben, sondern diesen im Betrachter erzeugen, ausbilden durch Einbilden. Seine Bildsprache wirkt merk-würdig und transformiert die lange Weile in den Exzess der Detail-Erfahrung. Seine ikonischen Momente sind Begriffe, die sich langsam ins Syntaktische des Satzes und der Erzählung verschieben. So bleibt der bildhafte Nominalismus nie funktional fixiert, er geht gleichsam mit dem Material, in dem er auftritt, dem Film, verloren, und in das andere, die nächste Filmrolle über. Nach vier Minuten etwa erfolgt der Schnitt, der Punkt, der neue Absatz im Text. Dieser erlangt rhythmische Struktur. Anfang und Ende werden aber beliebig gesetzt. Nicht wie bei William S. Burroughs, der sich von der Flut der Bilder und Wörter, die er selbst erzeugte, in bewusst herbeigeführten Halluzinationen innen und außen, retten wollte, sondern im Sinn des Überschwappt-werdens von Bildern — langsam, langsam, langsam taucht Warhol sich und den Betrachter in den Raum aus Bild, Geräusch, die zum eigenem Pulsieren mutieren. Das verbindet ihn nicht unmittelbar mit Christopher Wool, aber dieser Raum-Wille ist es, der sie beide in einen Kontext stellt, in dem sich auch Newman (und Bruce Conners und Sharon Lockhart) bewegt (und bewegen). Es ist jener des Nacheinander und Hintereinander im Raum der Zeit und im Bild des Wortes, in dem sich nicht mehr trennen lässt, was Lessing noch in seiner Laokoon Abhandlung trennte, die Poesie als Hintereinander in der Zeit von der Malerei als Nebeneinander.

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In Christopher Wools Arbeit YOU MAKE ME, in einem seiner typischen schablonenartigen Buchstabenbilder, zeigt sich in ankündender Alliteration der Buchstabe M, aber er steht nicht allein, er verbindet sich mit anderen zu den Worten ME und MAKE, diese mit einem dritten, mit YOU zum Satz, also zur Aussage :YOU MAKE ME Aber das Ausgesagte ist nicht so eindeutig, wie es erscheint, schwarzweiß nämlich, dem Bildformat angepasst. Dieses harte Schwarz-Weiß ist so gesagt viel mehr die so gezeigte Haut eines Korpus, der innen vibriert, weil seine in ihm enthaltenen Bedeutungen nach außen drängen. Nachdem sie, von dort kommend, eine Umarbeitung erfuhren, durch die Setzung des Künstlers, und nun wieder in die Welt der anderen Betrachter, zurückdrängen. Das Me wird in dessen Bewusstsein zum You und beide zum nicht geschriebenen, aber erfahrbaren We. Es bleibt aber als ME sichtbare Gestalt. Ich ist Du ist Wir, das ME gehört nicht nur sich allein oder nur dem einen Ich, sondern jedem Betrachter, den es macht, so, wie er es macht, vielleicht auch das Kunstwerk herstellt, Du machst mich, und der es nur momentan als das eine, seines erfährt, wissend, dass es nicht von ihm kommt, aber zumindest kurz in ihm verweilt, aber nie in Besitz genommen werden kann. Der Unterschied zur Konzeptkunst, die auf die Idee des Werkes verweist, die im Betrachter vollendet oder ausgeführt wird, liegt darin, dass die Idee letztlich unsichtbar bleibt, bei Wool jedoch als Artefakt existiert, das ein Davor und ein Danach ermöglicht. Bei Wool verändert sich optisch nichts, die Konturen der Schrift in seinen Texttafeln bleiben wie sie sind, auch wenn sie zittern, dann zittern sie, tropfen vor allem, aber lösen sich nicht auf, materiell. Aber in der Erfahrung der Bedeutung werden sie zur Wechselgröße eines Spiels zwischen zwei Kommunizierenden, die sich als Sender und Empfänger nicht mehr trennen lassen — wollen. So ist das klar Gesetzte ins Rauschen verlängert, die Bedeutung von Me rauscht ohne sichtbare Veränderung ins WE und kehrt für den nächsten Betrachter über das Trägerwort YOU wieder ins optische ME zurück, und wird dann auch wieder als dieses ME/Me erfahrbar. Aber: die Struktur ist eröffnet, wie beim Malen will Wool etwas machen, dies als ersten Prozess verstanden, um damit etwas zu machen, als zweiten, anderen Prozess, der aber mit jenem des Betrachters gekreuzt wird. Aus dieser zugrunde gelegten Struktur, die aber erst im Betrachten entsteht, kann das Wort zum Satz, und dieser zur Erfahrung gemacht werden, hergestellt, produziert, hervorgebracht: YOU MAKE ME, das ornamentale, flache Buchstabenmuster erlangt virtuelle Kraft — ME is YOU is We are You ist I is ME und so fort! Auch wenn es heißt: THE SHOW IS OVER — dann fragen wir, welche Schau. die des Künstlers als Betrachter und vice versa? Die allgemeine, die unsere, umfassende, die ganze, die vielleicht. Sie aber setzt beim Lesen, das ein Entwerfen eines Szenarios mit den Mitteln des intakten Satzbaus ist, erst ein, wird aber durch die Buchstabenabfolge, z.B. THEYTURN gestört.

Damit wird auch die ganz bestimmte, spezielle Schau — im Kino, im Theater, in der Galerie, wo auch immer, präsent und reflektierbar. Das Allgemeine und das Spezielle changieren, aber wie bei You Make me bleibt der Buchstaben- und Satzbestand, den das Auge erfasst, gleich. Der Raum, rundherum, innen, außen, verändert sich, und wenn er verharrt, dann als Raum an sich, der ständig neu, anders gefüllt werden kann. Die Leerstellen, die durch das Kleben eines Buchstabens vom folgenden Wort am vorangehenden entstehen, öffnen diesen neuen Raum. Der scheinbar sichere, überlieferte (auch in der Sprache) wird dadurch aufgelöst. NOMOREHOME. Das ist die gleichsam materiell verankerte metaphysische Botschaft, die sich aber aus dem realen Bezug zu einem imaginären Raum ergibt, der sich letztlich aus der Materialität der Sprache heraus selbst generiert und real wird. Diese metasprachliche Ontologie tritt also in Form eines Textblocks auf und wird zum Baustein für den Betrachter. Als Publikum seiner selbst schiebt sich der Textblock vom Bewusstsein in die reale Umgebung, in der er wahrgenommen wird, hinaus. Er gibt den ersten Markstein des Kontextes ab, der das kompakte Textgebilde, die Heimat aus buchstäblichen Feststellungen ins Wanken bringt, wo hin auch immer. Der Betrachter als Benutzer bestimmt die Bedeutung des Blocks mit, vielleicht sogar um, und wird selbst von diesem mitbestimmt, im Moment vor allem, aber möglicherweise auch als Handlungsanleitung in einer kommenden sozialästhetischen Praxis: NOMO RECOATS.

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Die Erfahrung dabei ist die der Fremdbestimmung der Sprache, im Individuum wie im Bereich der Sprache allgemein. Diese an sich schmerzvolle Erfahrung birgt nicht nur, sie bietet die Möglichkeit der Veränderung, des Widerstands (RI OT) oder — des anderen Spiels. Dieses greift auf andere, bereits gespielte Spiele zu, Fundstücke aus Filmen, von Plattencovers oder Songs, die neu zusammengesetzt oder in elliptische in Satz-Wort-Form gesetzt werden. Stottern in der Rede. Der Rhythmus allerdings macht sich dadurch frei, Tropfen an den Buchstabenrändern, die Symmetrie der Wortbilder macht den darauf zu setzenden dreidimensionalen Bild-Wortraum möglich, Druckfehler schließlich sind optische Umsetzung des edlen Rauschens der gestörten reibungslosen Informationsmaschinerie. Wool entwickelt das Verhältnis von Bild und Struktur aus der genannten Tradition der Synästhesie bis zur Konkreten Poesie heraus. Er arbeitet aber von dieser Tradition der Reduktion von Sprache auf graphische Lautund Schriftmaterialität weg. Auch den Aufbau einer konkreten Semantik, die nur die Sprache selbst als Referenzebene hat, sprengt er, allerdings in fast unbemerkbarer Abweichung und dynamisiert sie in den sozialen Kontext. Inhaltlich wie räumlich. Das eine ist mit dem anderen verschmolzen, Theatralität, Intermedialität und Ortsspezifik — die Kennzeichen einer Kunst der Installation (Julian Rebentisch) —, gehen eine Symbiose ein, die allerdings stets in Auflösung begriffen ist, bewusst gestört wird durch leichte Verschiebungen innerhalb der Bildtafel selbst,

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und auch der Orte, die wechseln und damit eine Verschiebung im Betrachter evozieren, die wiederum die Textinhalte selbst modifizieren. Der Kontakt zu den überlieferten und dynamisierten Formen der Konkreten Poesie und zur Konzeptkunst ist so gesehen nur oberflächlich eng. Näher als dieser steht Wool zu Dieter Roths Obsession der materiellen Häufung und der verwischenden Grenzen, die Verklärung des Fehlerhaften mit klarsten Konturen. In den Kontext-Installationen, wo ein Wort nahtlos in das andere übergeht, und auch so den Kontext beim Wort, besser beim Buchstaben nimmt. Hier ist die semantische Eindeutigkeit gestört, aber nur so lange, bis der Leser seine alte Ordnung, die jene der Aussage auf der Ebene der Information ist, zur Botschaft umgestellt hat. Das konkrete Programm, konstitutiv und präsentativ zu arbeiten, lässt sich demnach auch auf narrative und mimetische Vorgänge (der Deutung) ein. Diese Zeitspanne von konkreter Materialität bis zu den Handlung auslösenden Deutungen ist es, die Wools Arbeit markiert von ihrer Platzierung als Artefakt bis hin zur Ingangsetzung im Bewusstsein des Betrachters. Diese ist auf den Dialog ausgerichtet, setzt seine eingefahrenen Muster über eine sozialtheoretische Weise in eine ästhetisch pragmatische um. Das bildhaft imaginierte Buchstabenbild wird wie Satzmodelle, die in Form von Tautologien ihren systematischen Wahn erkennen lassen sollen, durch eine tiefe wie gleichzeitig oberflächliche Text-Bild-Praxis ins Objekthafte der Erfahrung verschoben. Wools Objekte sind da, sie sind auch und vor allem Artefakte. Aber erst im Inneren des Betrachters, des Lesers und des sie ins Bewusstsein Hebenden wird die Botschaft, so sie eine ist, erkennbar. Nein, erzeugt! Darin ist der Raum des Subjekts der sozial-sprachliche Bildraum des Erfahrenden, und in diesem gelingt das, was Adorno die Zurechtrückung der ideologischen Wirklichkeit nennt. Was aber den Unterschied ausmacht ist der Prozess der Negation, den Wool spielerisch umsetzt, als ein Aufgreifen der Spielformen, die diese Ideologie manifestieren und ihr Ausdruck verleihen. Das erinnert an den produzierbaren Text, wie ihn John Fiske in Bezug auf populäre Texte, Sprache und Alltagskultur anführt. Der diesen als dritten neben den beiden von Roland Barthes unterschiedenen, dem schreibbaren, schwer zu erfassenden und dem lesbaren, leicht zugänglichen und populären Text vorschlägt. Und der alle Attribute enthält, die aus heutiger Sicht auch mit Adornos Verfransungsbegriff zu verbinden sind. Dieser Text steht dem Sprachspiel nah, zelebriert es aber nicht im Sinn des Ewigkeitswertes und der diese konstituierenden Konstruktionsgesetze. Seine Präsenz ist von flüchtiger Art, er taucht auf, vor allem auf der Straße, und verschwindet wieder, seine Materialität ist flüssig, er verändert seine Buchstaben je nach Gebrauch und Situation, Oder: Er stellt die ästhetische Situation durch den sozialen Gebrauch her, ist also auch ein situationistischer Text, der nicht nur reagiert, sondern agiert. Dieses Agieren findet weniger im passiven Übernehmen des ein-

deutig Mitgeteilten statt, sondern im Anwenden, das ein weniger ein Entziffern als ein lustbetontes Erraten sein kann. TR BL von Christopher Wool wäre so ein angewandtes Erraten, das durch das Öffnen und Schließen des Mundes sein Rätsel lösen könnte … Wie im Hebräischen verzichtet der Autor, der seine Autorschaft in die Hände und Augen und den Mund des Lesers verlegt, auf Vokale, hier auf das Ou und E, verlagert die Schrift ins Sprechen, wo sich dann fast automatisch Trouble einstellt. Oder ein anderer Vokal wird gefunden, der eine neue Bedeutung aufschließen hilft, um die es dann nicht nur auch, sondern um die es in diesem Moment in dieser Zeit an diesem Ort geht. Versuchen wirs:

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Literatur

Dieser fruchtbare Augenblick (Lessing) in intermedial erweiterter Form ist es, der Wool, Warhol und Newman in ähnlicher Weise verlockt, ihn zu erreichen, in Form der Eurythmie gleichsam, also im Sinnlichmachen des Abstrakten, im Zeigen des Sprechens, im Sagen der Schrift.

Schrift ist ein Zeitloses als Bild von Zeitlichem — stellt Adorno in den Raum seiner ästhetischen Theorie. Das führt uns wieder zurück zu den Arbeiten Wools, Warhols und Newmans und weist darüber hinaus: In die Zeitlichkeit aller Raumkunst, zeitlich im Sinn der ästhetischen Erfahrung, die als Prozess sinnlich-übersinnlich Erschautes wird. Das alles nach syntaktisch-grammatikalische entwickelten neuen Mustern, die in der Tiefe sitzen wie bei Newman, an der Oberfläche wie bei Warhol oder im Körper des sozial-ästhetischen Feldes wie bei Wool. Alles berührt sich, weicht seine Grenzen auf, die Ränder zittern oder tropfen. Aber das grundlegende Medium, bei Newman die Malerei, bei Wool das Schrift-Objekt und bei Warhol der Film, setzt sich durch, es ist aber, wie eingangs gesagt am Weg durch andere herbeigezogene hindurch. Bild, Wort oder Kader, sie alle sprechen in Relation zu den anderen Medien oder Gattungen, knabbern an ihrer fest umrissenen Gestalt (Adorno) und bringen so die Einheitsideologie des Gesamtkunstwerkes ins Wanken. Es sind Zeige-Akte des Sprechens, die sich von den sie bestimmenden — schriftlichen — Gesetzen der Gattung Malerei, Sprache, Film lösen, ohne dass diese vollständig aufgegeben werden. Die eindringende Realität wird nicht widergespiegelt, sondern eingefangen, umgestaltet, nicht nur montiert, sondern mit-erfunden. Bild und Abbild gehen nicht nur ineinander auf, wo wäre das, aber ihre ästhetisch-ideologisierte Differenz, gleichsam herrührend aus dem Gegenüber von Realismus und Avantgarde, verschiebt sich ins Pragmatische. Und wenn eine Sachlage, auch eine des Alltags abgebildet erscheint, dann so, dass sich diese in Aussagen überführen lässt, wie sie nach dem Bild der Fall sein könnten. Diese erweiterte Form der Sprech-Akte wird nicht nur durch die Wirklichkeit bestimmt, sie erzeugen sie vor allem durch die Veränderung

Barnett Newman, Schriften und Interviews 1925–1970, Bern/Berlin 1996 Andy Warhol, a, A Novel, New York 1968 Ders., The Philosophy of Andy Warhol (from A to B & Back Again), New York 1975 Ders., POPism: The Warhol Sixties, New York 1980 Pat Hackett: The Andy Warhols Diaries, New York 1989 Christopher Wool, Exposición, Valencia 2006

Zum Raum aus Sprache und Kunst bei Barnett Newman, Andy Warhol und Christopher Wool

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des Gegebenen. Die Art und Weise dieser Veränderung ist für den sie Erfahrenden freigegeben. Der darstellende Sprechakt, der so etwas wie eine Abbildung der Realität ist, geht über in die praxisbestimmte Handlung auf der Straße vor dem Schriftbild Wools, im Bewusstsein vor den Bildern Newmans, von der Iris des Auges bis zum Verstand, der in den Zehen sitzt, vor Warhols Leinwänden, den Filmen eat, sleep. Aber sind das, eat!, sleep! Befehle oder Zustände oder nur so hingesagte Titel? Weder noch, sondern alles auf einmal auch. Lokutive und illokutive Äußerungsaspekte sind nicht mehr unterscheidbar. Frage, Fragstellung, Befehl, Dokument, Bericht — alles möglich, und dennoch in eine Richtung verfolgbar, in jene, in der sich der Betrachter entscheidet, entscheiden kann. Die Klammer aller dieser Arbeiten ist der Versuch einer ständigen Realisierung von Freiheit, von den Künstlern in der Kunst für die Betrachter, für uns alle.

Einiges an Erfahrung — Zur Poetik Peter Roseis S

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Was ist gemeint mit einem Wort? Wie Einiges zum Beispiel. Oder mit Erfahrung? Nachschlagen, Definitionen übernehmen. Der Wörterbuch-Nominalismus?! Oder enzyklopädisch gleichsam beobachten, in welchen Feldern der Begriff auftaucht, gebraucht wird, und wie! Einiges an Erfahrung, was könnte das dann heißen? Lassen wir es ausreden, zwischen den Begriffen, zwischen ihnen und mir, zwischen mir und Ihnen, zwischen uns. Wie: Auch durch Hören. Durch An-, Ein-, Zu-Hören. Hören wir so zu, wenn zwei oder mehrere sprechen, das kann auch ein polysequentieller Monolog sein, dann werden wir schon dahinter kommen, was dahinter steckt, hinter diesen Wörtern, ganz allgemein und speziell hier, und was damit gemeint ist, und was damit angestellt wird oder werden kann oder könnte? Ganz allgemein, und speziell hier! Mit der Befragung meines Titels weise ich oder befinde ich mich mitten in der Poetik des Autors Peter Rosei, die da so einfach daherkommt, nämlich:

splitter 1, die felder eingebunden, ja verschlungen in und mit seinen Figuren, in einer Landschaft, einem Milieu, einer Geschichte, die ihren Ort such oder diesen vorgibt oder diesen von den Personen vorgegeben erhält. Ich wollte immer wissen: Was ist hier los? Diese einfache Frage wollte ich beantworten. Wenn ich aus dem Fenster sehe, dann ist da ein Durcheinander, da gehen irgendwelche Leute, da fährt ein Autobus, da steht ein Baum im Wind, was immer es ist, ich möchte mir das erklären können, mir einen Reim darauf machen. Personen, Figuren, die in der Prosa des Dichters agieren, also sprechen und nicht sprechen, handeln und nicht handeln,

splitter 2, der dialog (die form?!) — und dabei vom Autor belauscht werden, wie eingangs erwähnt: Er hört zu und beobachtet, was durch, in und aus den Gesprächen zu Handlungen führt. Alles ist Gespräch, sagte er zu mir, wenn einige Reden und du sie reden hörst, das ist dann schon der Roman, sagte er zu mir, —

splitter 3, die figuren (der inhalt?!)

Redend Handelnde sind es also, Akteure der Bewegung, die sich in Gang setzen und vom Autor in Gang gesetzt werden. Oder nicht, und so solche des Stillstands sind, oder bewegte Akteure, die zum Stillstand verteufelt werden,

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die sich dabei wohl fühlen oder unwohl, glücklich oder verzweifelt sind, egal welcher Herkunft, getrieben von einem Selbst-Interesse, das sie suchen und suchen oder behaupten und nichts als behaupten in der Art und Weise ihrer Herkunft, hier kommt sie ins Spiel, und alles darin und daran finden, was sie dann sind, aber nie gewesen waren, und somit es auch nie werden werden. Sie ahnen das nicht einmal, und das Milieu, in dem sie agieren oder agiert werden, gibt ihnen einen Platz in der Sozietät zwar vor, den sie auch verlassen wollen oder eben behaupten, aber nur, um damit ihr Glück ausfüllen zu können, oder ihrem Unglück zu entfliehen, aber nicht das Selbst als Eigenes dominiert, von dem wissen sie nichts, aber schon gar nichts, nicht einmal das, dass es eine Maschine sein könnte, und sonst schon wiederum nichts. Sie machen ihre Erfahrung, einiges an Erfahrung, aber dringen kaum zum Eigenen durch.

splitter 4, das soziale feld Diese Maschine der Erfahrung ist ungeheuerlich, aber nicht monströs. Sie ist es in den Mikrosteinchen der Seele, der Haut und der Gegenstände. Auch wenn diese im Hinterhof auftauchen oder in den Herrenzimmern, die Dinge und die Menschen: Sie haben immer etwas unschuldig Schuldiges, etwas nicht Angestammtes, etwas Verlorenes durch ein Hineingesetzwerden in sich, weil sie im Umgang mit anderen Personen und diese im Umgang mit ihnen keine eigene Geschichte haben, sondern diese übernommene, die dann allerdings zum Monstrum werden kann, die den ganzen Erdball, sprich: den Text erfasst, der das Leder genauso sein kann wie der Fuß, der ihn tritt und auf diese Weise umschlingen wird — wie die Figuren durch diese übernommene Geschichte sich selbst umschlingen.

splitter 5, der ort (konkret, abstrakt, imaginär) der ein äußerer wie Wien Metropolis ist, oder ein innerer aus 15000 Seelen oder ein vorgestellter als Entwurf für eine Welt ohne Menschen zu einer Reise ohne Ziel, aber konkret von Hier nach Dort:

splitter 6, inhalt und form (die wahrheit als wahrheit von wahrheiten?!) Der Dichter Rosei hat dieses Ziel, es ist die Wahrheit aus faktischen, imaginären und abstrakten Parametern in der Art einer Poetik der Suche —  nach Realität, die Erweiterung erfährt, imaginär, real, symbolisch.

Einiges an Erfahrung — Zur Poetik Peter Roseis

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Wie bei Broch, auf den er sich beruft, ist seine Dichtung realitätssuchend, also: realitätsgerichtet, bricht aber den Begriff Realismus mehr als auf. In einer Suche nach dieser Richtung erschließen sich die Felder des Forschens, und darin kristallisieren sich Zustände der Wahrheit: Ein Ziel, das klingt nach Programm, das aber angezweifelt wird, weil es die gesuchte Realität nicht abbilden oder wiedergeben soll, sondern ihre Möglichkeiten zeigen, diese darstellen. Die Realität bei Rosei ist eine doppelte, dreifache, nicht immer im Stil, besser: in der Schreibweise ablesbar. Dazu unten mehr. Diese rührt nicht in den morphologischen Strukturen der Sprache, lässt Syntax und Grammatik meist intakt, sie gibt vor, Widerspiegelung zu sein, weil die in der Wirklichkeit agierenden Figuren, Helden durch und durch Widergespiegelte sind. Ihre Wahrheit ist gesetzt, formal. Ritual. Deren, diese Wahrheit ist unantastbar. Ihre Wahrheit, demnach?! Aber: Dieses Wort ist ein Begriff. Dieser ist besetzt — mit Bedeutung und mit Definition. Ethik und Moral umkleiden ihn, sind mit sein Gehalt, also mehr als Umkleidung. Den Rock, den sich der Dichter anzieht, ist kein Überzieher, er trägt die Haut zur Schau, ist also von außen wie von innen aufgeladen, — und so ist seine, Peter Roseis Wahrheit, diesen Rock wieder abzutragen, elegant an die Garderobe zu hängen oder ihn in Fetzen zu zerteilen, wenn es sein muss, dass es ist. Seine Wahrheit ist immer schön, sagt er dennoch in seinen Beiträgen zu einer Poesie der Zukunft. Also ist auch die Krankheit schön, also ist auch eine Naturkatastrophe schön: Japan? Der Twin-Tower?

splitter 7, die ästhetik (die ethik, die poetik) Eine Ästhetik der Gewalt? Nie und nimmer. Peter Rosei zieht eine Grenze als Autor, die in uns Lesern erkennbar wird, die er allerdings im Text in Frage stellt, in den Fiktionen von sich, die aus seinen Figuren, seinen Dialogen und seinem Denken herrühren, die alle zusammen, aber nicht nur ihn, sondern vielmehr sein Werk ausmachen —  ein Werk, das nicht einiges, sondern die Art der Erfahrung an sich ins Spiel bringt, in seinem gestalterischen Auftreten stets bedacht wirkt, einfach gesetzt, mit einer Art von Genauigkeit, von der er wohl weiß, dass sie in der

Literatur unerreichbar ist, nicht aber die immer wieder im Detail ansetzende Untersuchung von Kernen, die es (in und außerhalb von uns) gibt: jene wie Liebe — als Selbstsucht, oder Automatismus — als Freiheit etc. , die ihn bewegen, den Autor, der weiß, dass er nur in der Gegenwelt die Wahrheit sagen kann und umso stärker die reale herausarbeiten muss —

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wäre das also die Literatur der Lüge als Wahrheit. Sie ist dabei kein augenscheinliches Experiment an der Form, wohl aber eines im Denken, das auf der Suche nach seinen sprachlichen wie bildlichen Konstituenten ist, in der Perspektivenbestimmung auf dieses Ziel der Wahrheit hin, von der Rosei weiß, dass auch sie ein Bestandteil eines Spiels der Kommunikation aus Bild und Wort ist.

splitter 8, das sprachspiel als handlungsspiel Ein Spiel, das wir alle spielen, müssen, wollen, gespielt haben, spielen werden, indem wir es spielen und uns an seinen Regeln ergötzen wie abmühen, sie behaupten wie verwerfen, sie konservieren wie revolutionieren, von wem und von wo her sie immer auch kommen mögen. Ich liebe Euch. Ich hasse euch. Worin liegt der Unterschied zwischen diesen Aussagen, wenn es ein Spiel ist, das in beiden Formen Wahrheit ist, aber in der Anwendung, im Gebrauch?! Blutiger oder blühender Ernst oder nur Geste, Rhetorik. Rosei verfolgt eine Doppelstrategie, die seine Helden nicht erkennen. Für sie gibt es nur eine Wahrheit, oder keine, wodurch sie das Spiel der Möglichkeiten in eines der absoluten Wahrheit bringen, die sich nicht kippen lässt ins Gegenteil und wieder auferstehen, wenn es begriffen werden würde, in und durch die List. Seine Figuren scheitern daran, weil sie diese List, die sie im Sinn der Täuschung annehmen, unterschätzen oder übertreiben, also maßlos sind in ihrer Defensive oder in ihren Attacken damit und darin. Sie vergessen, dass das Spiel ein Dialog ist, querdurch, der auch in Teile zerbröckeln kann, in Einiges an Erfahrung und nicht in die ganze auf einmal. Der Dialog, der die Maschine stürzt, die formale, aber immer bereit ist, das Kalkül mitzudenken, um genau dieses zu durchschauen. halt: Von wem eigentlich? Schaut da noch wer? Gibt es da noch eine individuelle Instanz hinter dem Denken? Hinter den sozialen Regeln, hinter der ökonomischen Maschine? Es ist die Kunst, die da ihre Rolle spielt, als Wirklichkeit der Möglichkeit, und wir fragen mit ihm:

Einiges an Erfahrung — Zur Poetik Peter Roseis

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Was ist denn Wahrheit im Kunstwerk anderes als lebendige Wahrscheinlichkeit, und wo kann sie gestaltet, ausgestellt, und damit erprobt, überprüft, verworfen oder neu gegründet werden?! Wo anders frage ich mich und sie, weil es Peter Roseis Werk ist, das uns und mich und sie und das wohl auch ihn, den Autor danach fragt, ihn und uns zu den Versuchen einer Antwort verlockt

splitter 9, die poetik — mit den Mitteln seiner Poetik, die ich als fragmentarisch bezeichnen möchte, ihre inhaltlich-formale Balance betreffend. Blicken wir in sie, so ist im ersten Lese-Moment ein Ungewicht zu erkennen, keine Balance zwischen Form und Inhalt in sich gegenseitig generierender Gestalt. Es scheint, als erzähle der Autor etwas, wofür ihm die Sprache nur als Instrumentarium dient, welche die Form unbehelligt lässt. Und so den Avantgarden, wenn schon nicht entgegen operiert, so doch deren experimentelles Schreiben außer Acht zu lassen. Aber, aber: Das wird durch den zweiten Blick auf Roseis Schreiben zumindest zu relativieren sein: Zwar scheint der Erzähler der späteren Romane eine konventionell intakte Erzählsprache zu schreiben, die aber, aber, aber: eine Doppelbödigkeit, wenn nicht eine Dreifachbödigkeit besitzt, die den eingangs angesprochenen mehrdimensionalen Sequenzen entspricht. Ich darf sie demonstrieren, indem ich nicht die Erzählungen an sich, die meiner Meinung nach, nicht Erzählungen (narrativ theoretisch gesehen) sind, indem ich nicht die Romane an sich, die meiner Meinung nach, nicht nur Romane sind, betrachte, sondern Roseis Ansätze zur Poetik, oder wie er es einmal gar nicht so unbescheiden sagte, seine:

Beiträge zu einer Poesie der Zukunft. (als jener splitter 10 — aus den bis jetzt erwähnten gebildet — im auge, der nicht den balken verstellen soll, hoffe ich) Die Zukunft liegt bei Peter Rosei in der Gegenwart des Gesprächs, in dem es um das Sehen und das Hören, auch um das Lauschen geht.

Der Sinn ist nur der treibende Schaum auf den Wellen des Unsinns.

Ein Satz, eine Aussage, eine philosophische Metapher für das, worum es geht, in der Literatur, in der Poesie, nämlich um den Sinn. Hier um den der Sprache, vielleicht aber auch um den des Lebens.

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Obwohl der Autor und Denker Rosei Grenzen zwischen der Sprachform und Lebensform zu ziehen vermag. Das ist eben der Unterschied zur Avantgarde. Nicht alles ist Sprache oder nicht Sprache, nicht nur Sagen oder nur Zeigen. Bei Rosei kommt es zur Mischung aus beiden, die in der Erzählweise steckt, treibt —  und die in der Geschichte als Erzählung und in der Geschichte als Historie integriert ist, in eine Situation, sozial wie ökonomisch, individuell wie kollektiv, integriert ist oder aus dieser heraus wächst —  und IST! Und bestimmt, weil sie als Bestimmtes, sagen wir ruhig als Wahrheit von den Figuren erfahren wird, die aber in Wirklichkeit, die bei Rosei nicht in der Sprache und nicht in den Dingen allein liegt, eben das Andere, das Aushandelbare wäre, sein könnte: die Utopie des Zentrums im Rande, des Erfahrbaren — von Hier nach Dort ein Entwurf zu einer Reise ohne Ziel —  was an das Fragmentarische erinnert: als poetologische Form und als geschichtsphilosophische. An den durchlässigen Kreislauf, der Geschichte ist im doppelten Sinn, aber durchbrochen werden könnte, würde er als Welle erkannt werden, auf der Sinn als Schaum treibt und unter dem Unsinn ist, der ihn trägt. Es ist nicht der Sinn oder der Unsinn selbst, es ist der Schaum, und hier umarmt Rosei Platon mit Wittgenstein, der uns aufruft, uns doch zu trauen, Unsinn zu reden. Aber auch auffordert, diesem Unsinn zu lauschen. Und der nachsetzt mit:

Denk nicht, schau! Roseis Figuren denken, und sie denken geschichtlich im Kreis. Der Erzähler allerdings schaut und lässt Unsinn als Sinn und diesen im Unsinn erscheinen (wie in Platons Höhle ist der Schein die Wirklichkeit). Der Weltsinn aber, jener der Vernunft als jener der Geschichte, der die Helden bestimmt, ist nicht irgendwo richtig und nicht irgendwie logisch, sondern genau dort, wo er von ihnen gebraucht wird: Einiges an An den Orten der Gewalt: Erfahrung — Zur Poetik Zwischen den Geschlechtern, den Generationen, in der Familie, am Land Peter Roseis genauso wie in der Stadt: Und der als solcher für die Vollstrecker des großen Tötens somit als Recht und wahr erfahren wird.

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Und der als solcher auch nicht ausgedrückt ist, als der andere, der umgeschriebene Sinn des Un-Sinns. Hier lässt uns die Form der Texte Roseis im Stich — weil sie nicht stechen will durch Äußerlichkeit, da diese dem Geschichtsbild der Vernunft nicht entsprechen würde. Trotzdem ist Roseis Befund, nein, seine Schau ein Schauen, das nicht in Resignation verharrt oder ausweglos erscheint, und dies auch in der Handhabung der Form auszudrücken sucht. Nach Kafka. Nach Beckett: ist er ein Meister des Zufalls in der Geschichte, der Erzählung und der Historie. Den er aber nicht beliebig setzt, sondern der seinen Figuren angeboten wird, um den Kreislauf der ewigen Wiederkehr und des Gefangenseins im Milieu zu durchbrechen. Aber da die meisten seiner Figuren — wenn er nicht selbst der Reisende ist, also Auto-Bio-Graph, und wahrlich kein Held — dies nicht durchschauen, weil sie nur im Blick haben, was zählt, regiert demnach das Rechnen zur Berechnung des Selbst wie das der Umwelt. Ohne allerdings die hohe Stufe des Dandy zu erreichen, Spieler zu sein, mit allen Obsessionen der Anarchie — diese Gegenfiguren gibt es bei Rosei nur schlummernd, und auch das macht den Unterschied zu den Figuren Becketts oder Walter Serners aus: Es gibt keine Tigerin, keinen Malloy, die Ausgewiesenen. Es gibt die Durchschnittlichen, die allerdings wachsen könnten oder verschwinden, in der Geschichte, aber die Poetik entwickelt diese Figuren bewusst und beabsichtigt, und das funktioniert so: Die Parabel, die grundlegende rhetorische Figur, die Roseis Werk kennzeichnet, wird bei ihm nicht zum Gleichnis, stellvertretend für etwas. Sie ist Handlung, die weder die innere Imaginationskraft nach Außen stülpt, noch die äußere Determination ins Innere verschiebt. Sie ist nicht beispielhaft, nicht das Besondere im Allgemeinen, nicht das Allgemeine im Besonderen. Sie ist das, was es ist, damit das, was sie ist, ist — mimetische Gegenwart: Herabstürzende Vögel sind herabstürzende Vögel. Bellende Hunde sind bellende Hunde. Erbarmungslose Städte sind erbarmungslose Städte. Wüste Landschaften sind wüste Landschaften.

Kein magischer Realismus, keine expressionistisch-symbolisch verkehrte Außen-Innenweltebene. Und dennoch: Dazu kommt ein mehr als erweiterndes Und — dieses:

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Die Roseische Parabel ist eine realitätssuchende Realität der Schreibweise, die weiß, dass es Montage gegeben hat, die weiß, dass es Metaphernverbote gegeben hat, die weiß, dass es Formenauflösungen gegeben hat, und die dieses Wissen umpolt in eine die Zeit- und Raumverhältnis neu setzende Form, diese in die herkömmliche Erzählweise trägt, einbringt, und so, die Parabel zum neuen Genre, das sie selbst gründet, und das wir erst bezeichnen lernen werden, erhebt. Dieses Wissen von den avantgardistischen Schreibweisen, zu der für ihn sicher auch die Schrift Kafkas zählt, schwingt als Nuance in der Schreibeweise Roseis, und das klingt dann Kafka abwandelnd so: Mit größtmöglichem Gleichmut und doch unaufhaltsam sich fortzubewegen erscheint in [sic] Angesicht des unerbittlichen, tödlichen Lebensschauspiels als höchstes Ziel. Oder, poetologisch ausgerichtet, so:

Addio Kafka! (Wie es ein Freund von mir einmal formuliert hat). Ich beschreibe da eine ganze Poetik, … diese Poetik führt von Kafka fort wie eine der Ausfallstraßen aus einer der Metropolen. Wir zeigen/erforschen die Welt mit Hilfe des ganzen systemischen Reichtums, den uns diverse Disziplinen in die Hand geben: Geschichtsschreibung, Soziologie, Ethnographie, Nationalökonomie etc. Aber das ist uns zu wenig. Wir versuchen weiterzusehen, weiterzuerzählen: Was dort kommt, wo das von den Systemen definiert Feld aufhört? — Wir sind unterwegs und wollen es sein. Jetzt komm, Zufall! Jetzt komm, Phantasie! Und an Wittgenstein gesendet so:

Gott sei dank gibt es nicht so viele Bücher, wie es Straßen gibt oder Häuser oder Menschen. Einiges an

Das ist der Wittgensteinsche Plan der Sprache als Stadt. Das Labyrinth. Erfahrung — Zur Poetik Was dagegen hilft, ist die andere Ordnung — die des Buches aus Sprache in Peter Roseis Wort und Bild. Roseis Buch der Meta-Allegorie: Roseis Blick wird zum Blick aus Blicken, der die Figur, die Menschen, die Dinge, die Natur, die Kultur, die Sprache (nicht als Montage etwa) neu

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gestaltend einfließen lässt in das Bewusstsein, wodurch es in diesem zum Scheitern in der vorgestalteten Logik führt. Wieder aus Distanz erzählt, nie nur registriert oder protokolliert. Das ist ein Versuch, ein literarisches Experiment, das hier läuft, ein Weiterschreiben der Avantgarde ohne formale Expressivität. Was analysiert wird, und das reicht über die Parabeltechnik, auch über die Kafkas hinaus, sind Modelle, die sich im Bewusstsein ausbreiten. Die sich in den Figuren, und auch in uns im alltäglichen Leben, als Tatsachen und Gegebenheiten geben, unerkannt in ihrer eben modellhaften Konstruktion. Und die unseren freien Willen als solchen ausweisen könnten, aber eben auch den unfreien, den wir dann als ganz anderes Problem erachten könnten. Im Umgang mit beiden — als Dialog zwischen Modellen aus Sprache und Bild. Also die Wahl hätten. Wenn wir sie haben. Doch ist es entscheidend, diese Frage zu stellen, um sich über die Probleme klar zu werden, jene die vorher da sind. Die einfachen?! Rosei setzt hier an. Nicht um die Positionen des sich als unfrei erweisenden freien Willens geht es ihm, den er in Form einer Parabel aufzeigt und darstellt, sondern um — die Möglichkeiten. Die Möglichkeiten einer ganz anderen Welt, die Entscheidungen, besser, Weichenstellungen, früher zu stellen hätte, um Utopie des Gemeinsamen im Individuellen zu werden und die Möglichkeit als Wirklichkeit erklärt, sie erhandelt und sie vom Modell aus her erkennt und durchschaut. Das wäre dann das tätige Schauen, das neben dem Lauschen einen anderen Dialog erzeugen würde. Was dazu hilft, führt sogar, ist der Zufall der Phantasie. Ich schließe hier Roseis soeben zitierten Ausspruch, was die beiden Satzteile und Begriffe anbelangt, kurz. Insofern ist beides nicht gegeben, und das tut gut. Mir zumindest. Weder der Zufall noch die Phantasie, sondern beide sind eins, sie fallen uns zu, wir fangen sie auf, nicht nur ein und geben sie frei im freien Fall der Möglichkeiten. Dort zerstört die Natur nicht nur aus Schuld des Menschen. Sie zerstört in sich. Und er auch. Das wird dann klar. Die Natur kann sich nicht entscheiden. Der Mensch hätte die Wahl — des Zufalls als Phantasie. Doch diese ist verkümmert, wird nicht erkannt, also entsteht Anarchie, die nichts bewirkt, sondern die nur zerstört. Der Fall ist dann Zerfall. Tatsächlicher und nicht symbolischer oder verweisender. Das ist die Nuance, die er schreibt und die die Welt als literarisches Projekt ist:

Arbeitslosigkeit und deutscher Idealismus, Weltwirtschaftskrise und der Mond, Klima und das Bewusstsein, Vegetation und Kalkül, Landschaft als die Natur des Menschen, und die Abstraktion der Landschaft als ihr Ursprung in der Gesellschaft, geistig defekt und körperliches Gottprothesentum, … Komödie Mann und Frau Die Wolken Der Aufstand 15000 Seelen

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Dies alles erweist sich als Entwurf und in ihm alles Gestalt — was gestalten heißt, und das heißt wiederum für Rosei, der als Autor gestalten will: Utopie der Literatur quer durch! Sie hat Tradition, sie ist real, so und so: Das historische Gestaltungselement des Triptychons gibt uns die rhetorische Figur, in die Roseis Parabel eingearbeitet ist, vor: als Ansicht der Einsicht, zeigt sie das gestalterische Spiel von Form und Inhalt. Als dreiteiliges Gerüst ist es ein Ganzes der Wahrnehmung, das in heterogene Teile gegliedert ist, aber nicht in diese zerfällt. Bei Rosei wird es ein imaginäres Buch aus Büchern. Es sind die fünf genannten Bücher, die 15000 Seelen zum Projekt der Parabel aus Parabeln machen. In einer Gestalt der verschiedenen Realitäten, die nicht ineinander verwoben sind, sondern wie Satelliten um den Kern, der leer ist, kreisen, und jeder für sich Realitätscharakter hat. Jede dieser sie innehabenden Welten ist in ihrem Moment möglich: In der Gestaltung seiner jeweiligen Form, die ihre eigenwillige Zeit und ihren eigenwilligen Raum verlangt (stilistisch, dinglich, figürlich). Nicht in avantgardistischer der Gleichzeitigkeit, sondern in der jeweilig spezifischen Möglichkeit. Diese erforscht der Autor Peter Rosei, hier differenziert er, sucht dem Inhalt seine Form. Aber als Dichter sozusagen so gezeigt, schreibt er in der Weise jenseits des Stils und diesseits der Sprache, individuell wie allgemein und kommt und strahlt von jenem Nullpunkt der Literatur aus, den Roland Barthes einmal als Schreibweise erträumt hatte.

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Ich war ein anderes. Heute gibt es zwei Namen, O Heim oder Heim O. Kommt drauf an, wie wir ihn sprechen lernten, oder ihn im Neusprechen frisch erfahren. Wie London. Oder Londres. Oder: Paris liegt in Texas. Wir erfahren es im Film, auf der Landkarte, im Namensverzeichnis. Längst sind wir dafür verantwortlich, dass wir am Morgen als neue Form aufwachen. Der Stoff geht mit und ist nur auf diese Weise das andere, das in uns steckt oder rausdrängt, sich traut, vielleicht trauernd feiert. Zeigen wir das, ist es wahr. Das Werk, das Zeichen, die Betrachter. Unverschämt alles, das heißt, voller Scham. Und das bedeutet die Verführung für jedes Geschlecht. Ist es Zwei? Eine ungebundene Doppelherrschaft von Ich und Ich (Kapital und Macht). Diese real imaginierte Lebensweise braucht keine in den Mund und in das Auge (vor)gesetzte Ware. Sie, Auge, Mund, sind Medium, und das ist, kurz, die Freiheit (Schminke). Geht’s dir schlecht, ist es nicht gut, geht’s dir gut, ist es schön. Und unheimlich. Die Angst ist sozusagen dein Geheimnis, aber mehr als Furcht vor dem Alltäglichen stellst du aus. Die Differenz der Leere (Akademie oder Angewandte), die sinnlose Angst, ist somit aufgehoben, nicht überwunden. Sie ist ein Hub aus dir in uns. Gestell gestellt (Kostüm). Das bist du dir wert, aber im anderen Zustand (Körper). Ich sehe das alles voller Staunen und ein wenig mit Glück. Dass die Möglichkeiten bestehen und trotzdem jederzeit, im Binnen-Traum und Draußen-Raum, Verwandlung suchen. Ferdinand.

Die Bilder von Tobias Pils — sind Zeit

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Sie nehmen sie und schenken sie. Sie bewegen sich auf den Betrachter zu und mit ihm fort. Sie wandeln sich in ihm, da er sie in der Nuance der Eigenzeit verschiebt und neu schafft. Dennoch bleiben sie bestehen, ja, sie sind in ihrem Bestehen Grundformen des Dialogs. Dieser fordert weder die Bejahung noch die Verneinung ein, wohl aber Entscheidungen, wenn auch ohne Zwang, für dieses Bild in diesem Moment, also in der Zeit! Die Bäume, so sie welche sind, sind Bäume aus der Erfahrung des Sehens, aber auch aus der Möglichkeit des Entwurfs. Ihre Äste aber erblühen im Wort der Zuschreibung. Ihre Zeit aus Zuständen eröffnet sich — keine Gegenstände, sondern Gegenden, und sie sind heiter und schwarz zugleich. Das ist nicht metaphorisch gemeint, sondern psychisch und physisch. Innere Wirkung und äußere Materialität bilden eine Art von assoziativer Erkenntnis. Nämlich: eine Erkenntnis der Vermischung aus verschiedenen Bereichen der Wahrnehmungen, die sich die Empfindungen rein bewahren wie die dazugehörigen oder sie bezeichnenden Wörter. Oder sie in den Dreck ziehen, aus dem sie nie kommen, sondern der in uns steckt. So dürfen sie das nächste Bild auslösen, das auch eines außerhalb von uns Schauenden ist. Der Dialog hört also nicht auf. Er ist in der Zeit der Bilderfassung, die sich ständig neue Rahmen sucht, die auch in den Wörtern liegen, in deren Bedeutungen, die in die Bilder integriert werden. Und dort nie Hof halten, sondern Zirkus treiben, eine Art Karneval der Leere, das mag sein, aber sie ist die Fülle.

Zu Peter Handke

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Obwohl ich, mich einer Gesellschaft nähernd, nicht vorhatte, auch nur ein Wort zu sagen, räusperte ich mich vorher unwillkürlich Eine innere Gesprächsgebärde —  was sonst wäre ein Räuspern beim Zugehen auf eine Gesellschaft? — wer ist das, eine kleine Gruppe, Bekannte, Unbekannte, ist es die ganze, die große, abstrakte Gesellschaft? Die Reaktion des sich Annähernden äußert sich, ohne sich zu veräußern, also bleibt die Grenze des Raumes gewahrt, vor allem die eigene, aber bereits sie ist die der anderen, das Räuspern öffnet den Raum, es kann seinen Anfang oder sein Ende bedeuten, aber die Bedeutung liegt in der Aufnahme des Räusperns durch die Sehenden und Hörenden, die möglicherweise Sehenden, die möglicherweise Hörenden — sehen sie hin, hören sie her? Der Raum einer unmittelbaren Repräsentation wird mitgestaltet, oder, es wird MÖGLICH, ihn zu gestalten, eine Zeitspanne lang ist er so im Stadium des Jetzt, ohne bestimmtes Geschehen, die aussagenlose Erfahrung verweigert kurz ihre logische Kausalität, ­— in der etwa bei Betreten eines Waldes die Bäume ihren Namen zugesprochen erhalten; hier die Menschen in ihrer Gruppe. Die Umkehrung des Verfahrens wird möglich, — die Bäume entlocken oder evozieren im Betrachter die Namen durch Beobachtung, der Wald besteht aus gefundenen oder erfundenen Namen der Bäume; hier werden die Vielen, die Wenigen, die Einigen zur Gesellschaft durch die räuspernde Benennung. Das Sich-anders-Äußern, so wie Schielen Erkenntnis ist? Ist es ein Zurückweisen oder ein Zuruf, ein verdrehter Gruß, eine verquere Botschaft —

die aus einem gegenwärtigen Erwarten her rührt, das auf logisch-kausal abgestimmte Semantik verzichtet, aber eine Bedeutung zu stiften beginnt, die sich mit jenen Schritten einstellt, die im Raum dieses Jetzt gesetzt werden? Innehalten — Innewerden — Weitersehen?

Es ist die in Bewegung gesetzte Selbstschau, die nach außen dringt, die sich von außen füllt — Handke: Das Wehen im Gras. Das ist es

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Kafka: Die Weißnäherinnen in den Regengüssen Handke: Jeder Vogel fliegt anders Kafka: Ein Käfig ging einen Vogel suchen Keine Metapher taucht auf. Sie schlummert jedoch in den mimetischen Bildsetzungen durch die Worte. Weniger in dem, was wahrgenommen wird, mehr in dem, WIE wahrgenommen wird. Dieses ahnt seine sprachliche Erweiterung und Beschränkung durch metaphorisches Sprechen. Lust und Skepsis darin suchen eine Verknüpfung von Bild und Wort in anderer, einfacher Art, die sich im Detail, im Moment der Beobachtung prozessual ergeben könnte. Das Räuspern wäre die Vorstufe hierfür, vorsprachlich wie jenseits der Sprache verbindet es weniger die Münder und die Ohren, sondern die Kehle (die Seele) mit den Augen, öffnet das redende Schauen.

Zu Peter Handke

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Zum Begriff des Neuen, des Experiments, des Zitats. Anmerkungen über Methode und Ort im Feld möglicher Avantgarde heute S

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Die Vorhut, die Speerspitze — Saint Simon hat den Begriff der Avantgarde geprägt, seine Schüler haben ihn hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle der Kunst verfeinert: Der Künstler, der Gelehrte, der Industrielle schreibt Olinde Rodrigues und berührt die Entwicklungsstränge der kommenden Avantgarde — die Nähe zur Wissenschaft und zur Ökonomie, stellvertretend für Gesellschaft, Staat, soziales Umfeld und den damit verbundenen Abhängigkeiten, Verzahnungen und Differenzen war damit eingeläutet. Auch Gabriel Desire Laverdant versucht die Aufgabe der Kunst und die Rolle der Künstler zu bestimmen. Die Verbindung von Sozialutopie ohne kommunistische Schule mit ästhetischen Vorstellungen war gegeben — der Künstler blieb aber noch Schöpfergott, neben dem Arbeiter, dem Ingenieur. Aber die Differenz zu etwas Anderem, zu anderen, vielleicht zum Anderen war gesetzt. Mit den Berufen auf ein Vorne-weg, auf die unmittelbarste und schnellste Macht und auf die neuen Ideen gab es automatisch das Hintere, das Träge, das Alte, einen Komplex, der sich mühevoll nachzuschieben hatte auf jene Positionen hin, die die Vorderen bereits eingenommen und längst wieder verlassen hatten. Wenige gegen viele, Elite gegen Masse, Gruppe, Feld gegen Gesellschaft, Kollektiv, Grenzen, Absetzung trotz des Vorhabens Grenzen zu sprengen, gesellschaftliche über den Weg der Kunst. Das war die Richtung, vorher die Kunst, dann die Gesellschaft. Saint Simon und die Seinen haben den lebhaftesten und entschiedensten Einfluss auf die Phantasie und die Gefühle des Menschen vorgegeben, was folgte war trotz Richtung Allgemeinwohl entscheidend für die Entwicklung der Kunst, weniger für die Gesellschaft, die Herausdifferenzierung begann — Barock, Kennzeichen: Methodik; Romantik, Kennzeichen: Gegenöffentlichkeit, Futurismus, Dada, Surrealismus, Kennzeichen: kein Epochenziel, freie Stilverfügung. Was Rodrigues als Wurzel der gesellschaftlichen Folgelosigkeit von Kunst erkannte, das Fehlen eines gemeinsamen Impulses, und einer allgemeinen Idee wurde auch in der Verneinung und Verwerfung dieser Prinzipien im Lauf des kommenden Jahrhunderts umgesetzt. Laverdants an ethische Grundlehren erinnernder Leitsatz: Das Schöne (Kunstobjekt) ist umso perfekter, je mehr es als Ideal des Guten reflektiert erfuhr nicht selten seine Umkehrung (siehe Futurismus, Dada, Aktionismus), aber die Frage könnte sein, ob nicht das Gute als moralisches Prinzip oder Moralität an sich hinter der Kunst und ihren konstanten Aktionen auffindbar wäre, auch wenn es Zurückweisung und Attacken erfährt — weil es eben ein Konstrukt darstellt, das von einer bestimmten Gesellschaftsschicht festgelegt, zusammengebaut wurde und wird. Gegen dieses Konstrukt — das war’s auch! Mit der Herausdifferenzierung ging es nicht mehr um die Kunst, sondern um das System Kunst, dieses wird befragt, zersprengt, neu gebildet, wieder verlassen. In diesem Schema des Ab- und Aufbruchs kommt es zu leichten Verschiebungen in der Ausrichtung, plötzlich bewegt sich die Elite in Richtung Masse, der Werkbegriff bröckelt nicht mehr innerhalb der ästhetischen Gattungen und innerhalb der Materialbestimmtheit, sondern er orientiert sich auf Richtung werklos, abwesend bis hin zu sozialem Status, Rinnstein Arbeit, dort Leben oder denen, die dort sind, helfen —  Kennwort: Minimal Art, Konzeptkunst, Situationismus, Happening, Aktionismus, Kontextkunst.

Der Raster ist grob, ich weiß, aber wie ihn anders legen, um jene Stelle zu finden, in die ein heute arbeitender Künstler oder Schriftsteller passen könnte, wenn er überhaupt darauf aus ist, zu passen. Einer zu sein, der sich zur Avantgarde zählt, Avantgardist sein verpflichtet, zu was? Nie selbst sich als solcher zu verstehen, gar zu bezeichnen, einer zu sein, sondern die Arbeit es sein zu lassen, nämlich zuzulassen, dass diese wo hinführt, wo so, ich betone s o noch niemand war.

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Das ist nicht die Einforderung der Innovation, des neuen oder die Auflösung des Alten, aber auch keine Aufforderung zur Klitterung, zur Zusammenstoppelung, zum Remixed/Remake oder sonst was. Was ist es dann, Rolle: Autor, Dichter, Name: Ferdinand Schmatz?! Werk. Der Autor im Werk, das Werk ohne Autor, Ich ist eine Gruppe, der Autor ist eine Gruppe, wie und wo? Da wäre der Rand, die Gruppen am Rand, ich im Rand drin. Aber sitzen nicht auch diese Gruppen durchaus sattelfest im System als notwendiges und gebrauchtes Teilsystem. Wieso sich also dazuzählen (lassen)? Was bringt es, sich als Rand zu deklarieren — wieder spricht nur eines für den Rand, die Arbeit. Die kommt nicht von allein, also welche Arbeit, noch einmal welcher Autor? — Für einen, der die Wiederkehr der Selbstinszenierung des Autorenindividuums aus der Distanz, befremdet, beobachtet, hält es sich die Waage zwischen individuellem Eingriff und Geschehenlassen, beides Verfahrensweisen, Methoden unter dem Aspekt der Beobachtung jener Prozesse, die sich dann wiederum gegenseitig beeinflussen, steuern, die künstlerische Hervorbringung weitertreiben oder umbiegen, abstoppen. Was hervorgebracht wird — ein ästhetisches Gebilde, eine Synthese, ein abwesendes Werk, eine Analyse, ein Urteil, eine gesellschaftliche oder individuelle Wahrheit, eine kollektive oder individuelle Identität — auf diese Fragen lassen sich nicht einzelne Antworten geben, weil die Fragen selbst in einem Komplex oder Feld von Abhängigkeiten stehen, die eine Isolierung in Teilaspekte schwer möglich machen. Klar scheint, dass sich weniger die Kunst aus der Gesellschaft raushält, als sie von dieser rausgehalten wird oder — in Form liberaler Politik — eingekauft wird, einverleibt ohne es zu verschweigen. Das einstige Revoltieren gegen die Tendenz, in einer Reservation für das Schöne befriedet zu werden (Franz Kaltenbeck in kriterium Zum Begriff der Avantgarde, 1977) ist längst dem Schulterschluss gewichen, kritisch Neuen, innerhalb der Gesellschaft zu agieren, dafür sogar von dieser Gesellschaft desdes Experiments, gefordert zu werden, gleichsam dem Staat oder der Institution Staat, Gedes Zitats. Anmerkungen sellschaft, Politik Arbeit abzunehmen, um letztlich auf diese Weise befrieüber Methode det zu werden. Klar, die Gesellschaft selbst ist ein Konstrukt, die Kunst und Ort im möglicherweise auch, aber geht jemand daran, wie Artaud oder Unica Zürn Feld möglicher Avantgarde zum Beispiel einst, dieses Konstrukt zu verlassen, dann ist das Ergebnis heute der Wahnsinn, der individuelle Tod. Heute erfährt selbst dieses sich Wegbegeben Integration in das interessegefüge der macht (Kaltenbeck). Was also tun ?

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Aufstand ade, Fortschrittsglaube weg, das Unbegreifliche auf die Ebene des Verstehens holen, das waren die Ansätze um 1980. Ich teile sie zumindest ansatzweise. Kaltenbeck paraphrasierend darf ich für mich sagen: Ich lege das, was mir am Verstehensvorgang meiner Werke bekannt ist, in den Text. Meine Arbeit gibt nicht vor, Gesetzmäßigkeiten entzogen zu sein, aber was ihr in ihrem Tun zur Regel wird, übertritt sie. Sie ist subversiv, sofern sie fundamental ist. Sie misst sich an den Institutionen der Gesellschaft, z.B. an der Wissenschaft, indem sie die Fragen nach ihren Voraussetzungen nicht verdrängt. Sie sucht die Bedeutungen nicht nur, sie erzeugt sie auch. Sie betreibt Politik, indem sie die Probleme des Sinns nicht in der Ideologie verkommen lässt. Sie knüpft an Traditionen an, die von der Macht verkannt sind. Ich darf zunächst beim Bild des Wegbewegens und der Integration bleiben, möchte aber den Moment der Beobachtung noch einmal betonen, nämlich in einem umfassenden individuellen wie nach außen gerichteten Sinn. Ich nenne diesen Moment der Beobachtung das, was einst als das Neue gegolten haben mag, als Innovation, die sich oberflächlich gesehen als neue Form präsentierte oder als solche empfunden wurde, optisch, also syntagmatisch wie inhaltlich, also semantisch wie ordnungsumbildend, wenn nicht ordnungszerstörend, also grammatikalisch. Die von mir gemeinte heutige künstlerische Beobachtung und Transformation dessen, was den Entstehungsvorgang des Werkes und deren wie dessen Voraussetzungen im individuellen wie kollektiven Umfeld betrifft, setzt etwas andere Prinzipien als die des Bruchs und der Neusetzung, vielleicht jene der Künstlichkeit und die damit verbundene Rolle des Zurücktretens hinter das Ich und seine festgefahrene Beobachterposition voraus. Das heißt, Voraussetzungen zu schaffen, um einen Blick zu entwickeln für die Annahme, nicht eine fest umrissene (mehr oder minder sprachlich sanktionierte) Identität, sondern eine oder mehrere Vorstellungen davon zu haben. Zu untersuchen, was das sein konnte, was Ich so ist, und die mühevolle Arbeit, diese Vorstellung zu bestätigen, zum Handeln zu bringen in Abstimmung auf das spezielle Umfeld der anderen Modelle, die jene anderen von sich haben und die das jeweilige Ich von ihnen hat, dass diese sie von es haben, und so fort. Das klingt kompliziert. Aber im Grunde läuft es so, und das ganz einfach, wir nennen es Verstehen, Austausch von Information, aber wo bleibt die Botschaft, die ganz individuell gesetzt den anderen erreichen soll, den Hörer, den Rezipienten? Wie stimme ich sie ab, auf ihn ein, zunächst, durch jene Verfahren, Haltungen, Abstimmungen, die die historischen Avantgarden kennzeichneten? 1) Die bewusste Kritik an den Ausdrucksmitteln damals, heute: ist es das Wiederaufgreifen historischer Vorlagen ohne den Anspruch der wildwuchernden Collage oder der die konventionellen Sinnordnungen demaskierenden Montage? Auch das, was Zitat hieß, das die Quellen nicht nennende

Einbauen von Zitaten in den Text erfährt Verwandlung durch den Einsatz des reinen Zitats, wie bei Heimrad Bäckers nachschrift, der seine Quellen gleichberechtigt mit den Zitaten in den Text setzt; oder durch das falsche Zitat bei Paul Wühr. In dessen Mailiedern etwa klingen Zitate an, aber — wie Renate Kühn treffend für die Arbeiten von Wühr feststellte —: Der Ton ist richtig, das Zitat ist falsch. Für meine Arbeitsweise entscheidender ist jener Prozess der Umwandlung oder Um-Sinnung von eingebrachten Texten oder Zitaten, den ich bei Reinhard Priessnitz und seiner Abkehr von der Montagetechnik der konkreten Poesie, der Wiener Gruppe und der historischen Avantgarden als Gedankenmontage bezeichnet habe. Das Zitat kehrt wieder aus dem Gedächtnis, wo es richtig gespeichert, Vorgänge in Gang setzt, die zu sprachlichen Veräußerungen führen, die dann vom dichterischen Beobachtungs-Subjekt verwandelt werden, an dieses Zitat erinnern, aber in einem progressiven, aktiven Sinn, und nicht nur als Reminiszenzen verstanden werden dürfen.

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2) Das untrennbare Bündnis von Revolution und Kunst damals — heute fehlt es am alten Rollenspiel von Sieger und Verlierer. Es gibt keinen Krieg mehr, keinen Kampf. 3) Die durchgehende Kritik an der Funktion des Handelnden und der Beziehung zwischen ihm und den Rezipienten weicht in jener Literatur, die sich bewusst außerhalb des avantgardistischen Kanons (sic!) stellt, dem Schulterschluss mit dem Leser. Es scheint plötzlich doch den Kontrakt zu geben, keine wie immer elitäre sich gebende Experten mehr, kein Einarbeiten darf als Voraussetzung gelten. Für die Ablehnung der sozialrevolutionären Lösung bedarf es keiner großen Geste, der event entschädigt und stört, das genügt. 4) Die Kritik an der Zweckhaftigkeit des Werkes und an der Funktion der Kunst damals ist heute in einer Literatur, die fragt: Wozu Avantgarde?, lauwarm geworden. Die Machbarkeit ist durch das in Inbesitznehmen der medialen Umsetzungen ein Muss, aber die Negation der Traditionen der Kunst bleibt so etwas wie ein Topes. Es fehlt an der Radikalität von Opposition und Negation. Das Spiel wird mitgespielt, Madonna, die Slam poetry, ein mildes Aufflackern von Auseinandersetzung mit dem, was Sprache in Bezug auf die Modelliierung von Welt zu leisten imstande ist und nicht, nichts außer Gegenrhythmus und Versekleinkunst. Zum Begriff 5) Das Neue damals, erfährt heute seine Modifikation, versucht durch das Neuen, Ausschöpfen der Form Leerstellen zu füllen, in Nischen der Moderne ein- desdes Experiments, zudringen durch Durchforschung der Tradition, wobei die Mittel eben nicht des Zitats. Anmerkungen als frei verfügbare Stile verstanden werden.

6) Der Schock damals, die überraschende Zerstörung oder der schroffe Eingriff in öffentliche Ordnungsmuster mit dem Ziel ihrer Verdunkelung, gleichsam ein antiaufklärerisches Programm, weicht heute der Transparenz, der Darlegung der dichterischen Mittel, der Bekanntmachung der Machart, der Erforschung dessen, was als dunkel galt, als hermetisch, als unübersetzbar.

über Methode und Ort im Feld möglicher Avantgarde heute

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7) Das Bündnis von Revolution und Kunst, aber auch der völlige Rückzug aus dem politischen Engagement damals, wird heute als unmöglich erkannt und es kommt zu einer Vermischung beider Positionen ohne Manifestcharakter. Die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft wird eingeschränkt auf die im sozialen und systemimmanenten Feld, das an dieses soziale grenzt. Die Anschlussmöglichkeiten zwischen den Systemen Kunst und Gesellschaft zu strapazieren, nicht sie zu vereinen, nicht sie zu durchbrechen, ist angesagt. Die mediale Bedingtheit wird nicht attackiert, sondern zur Stärke umgemünzt, aber der Bezug zur Körperlichkeit feiert seine Rückkehr, aber es ist nicht mehr die unnachgiebige Selbstzerstörungswut des Aktionismus, diese erfährt ihre Optimierung und Einbettung in Festivals, mediale Inszenierungen wie Theater, TV oder Videos, auch ein Spiel — wenn dies alles möglich ist, wenn dies alles stimmt, was ich hier registriere (nicht ganz wertfrei, obwohl ich mir Mühe gebe): Wo sind dann die Fakten, die Ansatzpunkte, wo ist das Gerüst der Moderne, ihre Kultur heute vor: deren Hintergrund Adorno über die Avantgarde philosophieren, die Surrealisten und Dada agieren konnten mit diesem Wissen über sich, wo wäre heute der Ort einer avantgardistischen Theorie und gar ihr Platz der Praxis als Kunst gleich Leben? Ist die Avantgarde zur Leerformel geworden?! Peter Bürgers hier kurz referierte und auf gegenwärtige Veränderungen oder Anzeichen hin umgebogene Thesen seiner Theorie der Avantgarde gehen von der Grundprämisse aus, dass die historischen Avantgarden versuchten, der Erfahrung ihrer gesellschaftlichen Funktionslosigkeit zu begegnen durch die Demonstration und durch das Programm einer Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben. Aber stimmt diese Annahme überhaupt, folgen wir ihr nicht blind, weil die Griffigkeit des Bildes von der Funktionslosigkeit und vom Abmühen der Avantgarde um eine einheitsstiftende Identität des ganzen Künstlermenschen oder Menschenkünstlers, herzuhalten hat für einen Stellvertreterkampf, der von einigen wenigen probiert wurde und sich als gescheitert erwiesen hat? Was erlaubt, die Sache abzuhaken, wozu noch einmal den Anlauf nehmen? Das Lästige, Anstrengende und Gefährdende dieser Bemühungen, auch den Registrator und Beobachter betreffend, sich damit zu ersparen, Fragen auszuweichen, die eigene Rezeptionsgewohnheiten wieder in Frage stellen, die nach eigenen Überprüfungen verlangen würden, zu reflektieren, nicht nur über das Was, sondern wieder einmal auch über das Wie?! Denn Burgers These von der Funktionslosigkeit kann genauso gut umgekehrt formuliert werden: dass die (avancierte) Kunst — und das wäre immer noch eine Möglichkeit für heute, und ich sehe sie auch so, ohne sie avantgardistisch zu benennen — den Versuch startet, diese Funktionslosigkeit nicht nur zu überwinden, sondern: durch die damit verbundene künstlerische

Arbeit, Kunst auf nicht völlig neue, aber denn doch sich erst zu erarbeitende andere Weise zur Organisation von Erfahrungen zu verwenden. Diese Organisation und dieses Durcharbeiten zu den Erfahrungen dieser Art, wobei ich frage, welche, nach ihrem Was und Wie, möchte ich etwas grob und unscharf mit dem Begriff des gegenwärtig Experimentellen umschreiben.

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Welcher Art wären diese Erfahrungen und was wären sie wert, für wen und für was werden sie heute gemacht, wenn sie überhaupt gemacht werden? Ich möchte im engeren Feld der Literatur bleiben und hier einige Beispiele aufgreifen, die mir beispielhaft für jenes Schreiben sind (und diese auch an den von Kaltenbeck formulierten Kriterien messen), mit dem ich meinte, etwas so zu probieren, um so wo hinzukommen, wo so noch niemand war. Ich weiß, diese Formulierung reizt, sie klingt nach elitärem Gehabe, Niemandsland, aber eigenes, nach Forschergebärde, Eroberungsallüren — doch nichts davon schwebt zum Beispiel der Dichterin Inger Christensen und dem Dichter Paul Wühr vor, um zwei für gegenwärtiges avanciertes Schreiben signifikante Beispiele herauszugreifen (wo das Neue, das Zitat, des Experiment Umschreibung erfahren). Selbstkritik als Kritik an der Handhabung der Sprache, der vorgegebenen und übernommenen, die dann verwandelt wird in Form dieser Kritik, ist eines der Kennzeichen ihrer Spracharbeit — und diese Selbstkritik hat auch Peter Bürger für die Avantgarde als Angriff auf das autonome Teilsystem Kunst herausgestrichen. Nur wird vor allem bei Christensen der Angriff als solcher nicht mehr im Sinn des Kampfes, der zu Niederlage oder Sieg führt, gesetzt, sondern er, der Angriff — als Begriff und als Sache — weicht jenem der Suche und jenem des Prozesses innerhalb von selbstgewählten Modellen, Traditionen — rhetorischer wie wissenschaftlich zugezogener, zum Beispiel mathematischer Art — sich selbst das prozesshaft steuern, die alten avantgardistischen Obsessionen der Ordnungsauflösung hinter sich lassen, und zu Modellierungen greifen, die innerhalb eines gesetzten Rahmens jene Erfahrungen zulassen oder evozieren oder als unmöglich erscheinen lassen, die so vorher so nicht gemacht worden sind. Ich möchte auf dieses zwei so ein wenig eingehen, sie durchleuchten, so ein wenig klarmachen:

so 1: — s o gearbeitet, das verlangt nach Darstellung der Methode: Wie wird hervorgebracht? Wie wird produziert? Unter welchen Bedingungen? Welches Material wird wie eingesetzt? Was macht Christensen: Sie sucht sich ein Gegenmodell zum alltäglichen Modell, sie will umverstehen, gegenverstehen, sie wählt die Fibonacci-Reihe und transformiert sie in die Literatur, auf ein Modell der Sprache, der Rhetorik. Verse entstehen, die ihre Form als ihren Inhalt erzeugen aus der gewählten Gegenregel oder überhaupt dem Regelfinden. Dieses Finden der

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Regel umkreist dann in ihren Ergebnissen semantisch wie syntaktischer Art etwas, oder besser: bringt etwas hervor, was Wissen ist, Gefühl oder Einsicht, die bereits Handlung bedeuten kann, aber noch nicht als solche im Gebrauch steht: Wie bei Gustaf Sobin wird die Rolle der Dichterin eine des Mediums. Stimmungen und Empfindungen werden als Grundlagen abgelehnt, sie bilden zumindest nicht die Ausgangspunkte für die dichterische Arbeit, das dichterische lch bleibt gleichsam generalisierbar, ist, wie gesagt, Medium: Das Gedicht ist etwas, das durch den Dichter gesprochen wird, im Gegensatz zum Gedicht, das von ihm gesprochen wird. Anders gesagt heißt das, dass zwischen thematischem Impuls und thematischer Konstellation eine Distanz gelegt wird, die nicht aufhebbar ist, und: dazu kommt dann noch eine weitere Distanz, jene zwischen der thematischen Konstellation und ihrer konkreten sprachlichen Realisierung. Dazwischen, in diesem Prozess des Wandels, der aus der Distanzsetzung kommt, liegt das Unsagbare, das dennoch ein Sagen erfährt. Dort ist mein So, wo noch niemand war! — obwohl es im Kern, als Kern alle betrifft, würden sie diesem Prozess ausgesetzt werden oder ihm folgen und sich das Christensche Modell wählen, ästhetisch wie sozial. Die soziale Bezüglichkeit ist durch die Wahl in dieser Situation des Schreibens, des Denkens, des Redens gegeben, von diesem Individuum in diesem solzialen Feld zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort. Hier spielt der Zufall nicht mehr die Rolle des Objektiven, sondern die Aktualisierung des Zufalls, der erkannt wird in einer bestimmten sozialen wie ästhetischen Situation, die nicht Ereignis ist, Projekt, sondern momentane Selbstbestimmung und Ausreizung dieser in Bezug auf alle ihr vorgegebenen wie zu umlaufenden oder unterwanderbaren möglichen Anschlusspotentiale hin.

so 2: so noch niemand war — also ich allein, Solipsist auf der Heide ohne jeden Funken von gesellschaftlicher Relevanz ? Na ja: Die der Literatur oder Dichtung unterstellte gesellschaftliche Wirkungslosigkeit ist weniger auf die Schwierigkeit der Rezeption zurückzuführen und auch nicht auf die Forderung nach Auseinandersetzung, die über den unmittelbaren Sinnesrausch (der heute von den konservativsten philosophischen Autoritäten eingefordert wird, ohne allerdings dem Aktionismus und seiner avantgardistischen Funktion auch nur ansatzweise gerecht zu werden) hinausgeht, sondern unter anderem auch darauf, dass es die Literaturwissenschaft versäumt hat, eine umfassende Theoriebildung zu erstellen. Jedes moderne Gedicht, und das Beispiel Christensen, aber auch jenes etwa von Thomas Kling oder Franz Josef Czernin belegt es, präsentiert sich in seinem Vollzug als momentane Erfindung einer neuen Organisation von Sprache oder zumindest einer Umorganisation dieser Sprache und ihrer in ihr wirksamen Kräfte von semantischer, syntaktischer und grammatikalischer Art.

Diese Parameter sind in jedem sozialen System wirksam und fordern auf ihre Weise den Anschluss, gleichsam an ihre Verfassung, den das moderne Gedicht verweigert oder umschreibt. Nicht dass das gegenwärtig avancierte Gedicht auf normfreie Erfahrung von Sprache setzt wie dies die Avantgarde bei Dada noch erhoffte, aber das Risiko des Hervorbringens neuer Prozeduren von Verfassungen via Sprache, das geht es ein und müsste demnach Modell sein für die sich ständig verändernden Diskurse der sozialen Systeme, Gottseidank oder leider ist es dies nicht!

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Auszüge aus einem Gespräch zwischen Thomas Feuerstein und Ferdinand Schmatz, November 2011

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Wer oder was spricht, auch und besonders aus mir? Mit dieser Frage beschäftigen sich Autoren seit Sappho über Hölderlin bis heute. Besonders in der Moderne kam es zu Relativierungen, was die Rolle des Autors als sprachmächtigen Gestalter anbelangte, die später im französischen Strukturalismus und in der Postmoderne zur Zurückdrängung des Autors führten. Man sprach vom Tod des Autors, nebenbei gesagt eine unglückliche Metapher, um die der Sprache inhärenten Regelwerke zu betonen. Die Materialität der Sprache rückte in den Vordergrund und Sprache verwandelte sich in eine Maschine, die selbsttätig Texte produziert. Damit wurde der Autor zum Maschinisten, der einerseits von einer eigenständigen, von ihm unabhängigen Apparatur instrumentalisiert und in Besitz genommen wird. Der Autor kann sich aber andererseits auch die dominante Sprachmaschine zunutze machen, indem er sie als materiellen Träger von Erfahrung und Erkenntnis geistig nutzt. Die beiden Ebenen von Herr und Knecht auseinanderzuhalten ist schwierig, da im Prozess des Schreibens der Geist des Autors und die Materialität der Sprache sowie die in ihr vorgegebenen Sinnformen, die in den Wörtern verankert sind und dann in Sätzen zum Ausdruck kommen, nicht getrennt werden können. Weiters ist die physikalisch-wissenschaftliche Trennung von Geist und Körper dem Schreibenden fremd, denn sie sind immer verwoben und bilden eine Einheit. Als Autor interessiert mich, diese Prozesse zu analysieren, zu trennen und wieder ineinander zu führen. Darin sehe ich einen wesentlichen Bestandteil meiner Arbeit, meines Schreibens und Dichtens. Ich untersuche Sprache aber nicht unter dem Aspekt einer festgelegten ideologischen Botschaft, sondern ich warte aufgrund verschiedener Beobachtungskriterien auf das, was sich als Botschaft einstellt. Ich verfolge ein Thema, bis ich die Intention verspüre, etwas auszudrücken, ohne den sprachlichen Ausdrucksmechanismen blind zu vertrauen. Das heißt, ich misstraue der Sprache als Maschine oder als mir gegenüberstehenden Apparatur, die einfach da ist und viel mit mir zu tun zu haben scheint, aber gleichzeitig auch etwas ganz Anderes, Fremdes ist. Aus den Erfahrungen des Schreibens lernt man, dass der Prozess des Hervorbringens, und poiesis heißt, ja eigentlich machen, hervorbringen — ein geteilter Prozess ist, der sich symbiotisch verbindet. Je nach Gewichtung kommt der Autor oder das Material stärker ins Spiel und bringt sowohl verschiedene Stadien meiner Identität als auch eine ästhetische Form zum Ausdruck. Die Frage, ob die

Sprache mich spricht oder ich der Autor bin, der spricht und schreibt, ist an diesem Punkt nicht mehr entscheidend. Erst dadurch entstehen Komplexitäten, die für die Wahrnehmung und die Leser erkenntnisreich und lustvoll zugleich sein können.

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Regelwerke Aus der Tradition der Moderne entwickelten sich Positionen, wie jene der französischen Gruppe Oulipo, die mit speziellen apparativen Regelwerken Texte herstellen. Wenn Jacques Roubaud kombinatorische Texte mit mathematischen Ordnungen verbindet, um mittels sogenannter contraintes (Formzwänge) den Zufall auszuschalten, entstehen Regelwerke, die wie Sprachmaschinen funktionieren. Der Autor agiert dabei als eine Art Ingenieur. Georges Perec schrieb beispielsweise einen Roman ohne den Buchstaben e oder Raymond Queneau Hunderttausend Milliarden Gedichte (frz.: Cent Mille Milliards de Poèmes), ein experimentelles Ensemble von Sonetten, das durch Zerschneiden und Falten immer neue Verse generiert. Der maschinelle Aspekt der Sprache wird stark betont, wobei die Sprachmaschine eine vom Autor über Regeln und Algorithmen selbst konstruierte ist. Die Sprachmaschine besitzt folglich eine Doppelstruktur, die eingangs erwähnte der Alltagssprache, die aus uns automatisch spricht und jene der Kunst und Dichtung. Wir haben es mit zwei unterschiedlichen Sprachdämonen zu tun, die ich in meiner Arbeit untersuche und zum Teil in einen Dialog setze. Das Entwerfen poetischer Sprachmaschinen ist, oder war mir zumindest als Vorstellung oder Idee doch sehr nah, da es in Wien eine große Tradition gibt, die vom Wiener Kreis über die Wiener Gruppe bis in die Gegenwart reicht. Der philosophisch wesentliche Kopf der Wiener Gruppe, Oswald Wiener, versuchte Bewusstsein über Maschinen und künstliche Intelligenz zu erklären. Er formulierte bereits vor Jahrzehnten Fragen zum freien Willen, die erst heute auf breiter Ebene debattiert werden. In seinem Text die verbesserung von mitteleuropa, roman und dem darin vorgestellten bio-adapter geht es um die Maschinenhaftigkeit von Bewusstsein, Sinn und Bedeutung, die sich bei Wiener letztlich auf Regeln und Programme zurückführen lassen. Als Dichter gehe ich, bescheiden, na ja, einen Schritt zurück und vergleiche in meiner Arbeit verschiedene eher poetologische als wissenschaftliche Ansätze, aber ich stehe dieser Tradition des Durchleuchtens, auch dessen, was ich selber mache, wie ge-

Die Methode ist Phantom und das Phantom ist Methode — Gesprächsnotizen1

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sagt, nahe. Die Frage ist: schreiben wir frei und ist Sprache ein unabhängiges Medium freier Erkenntnis oder sind wir Werkzeug der Sprache? Diese Fragen sind immer auch Teile des Schreibprozesses, denn der Schreibakt ist ursächlich mit der Problematik des Verstehens verbunden. Eine Maschine versteht ohne Bewusstsein perfekt, denn sie lässt das, was sie nicht versteht, einfach weg. Das ist eine sehr reine und entschlossene Form, die mich irritiert, weil sie mir die künstlerischen Mittel der Fehlersetzung aus der Hand nimmt. Es gibt viele Arten des Schreibens und Sprechens, aber vereinfacht drei: erstens die gebräuchlichste, bei der das Unbewusste der Sprache und ihre Konventionen im Vordergrund stehen, zweitens jene u.a. von Oulipo, wo die Sprache als Maschine und Welt erzeugender Mechanismus aufgrund vom Autor selbst gesetzter Regeln in Betrieb genommen wird und drittens jene, wo ich als Autor eine komplexe Gestalt (das Gedicht, den Roman …) baue und die Sprache in Gang setze, um wiederum die eigenen und fremden Regeln und Mechanismen, die ich selber aufgebaut habe, zu stören und zu hinterfragen. Da ich auf den Begriff des Rauschens aus bin, möchte ich die Regeln brechen, um neue zu finden oder die falschen Automatismen in mir, die vielleicht mit mir mehr zu tun haben als die richtigen, zu erkennen. Dies ist alles auf einer mechanischen-reinen und einer geistig stolpernden Ebene gedacht, und es eröffnet so neue Felder und Freiheitsgrade. Zwischen Reinheit im Sinne des klaren Sprechens und Rauschen muss nicht zwingend ein Widerspruch liegen. Denken wir an den Film Geheul für Sade (Hurlements en faveur de Sade, 1952) von Guy Debord, der wie John Cages multiklangliche Elemente aus Rauschen und Flimmern besteht. Auch wenn wir vordergründig nur Rauschen wahrnehmen, sind diese Werke von einer tiefen Reinheit geprägt. Und da sind wir beim Engelhaften des Daimons, wo sich die Klarheit wortlogisch durch eine mathematische Formel wie bei Frege ausdrücken lässt und dennoch Rauschen bleibt. Der Daimon steht also in seiner Doppelstruktur als Bote und Botschaft für unterschiedliche Systeme von Ordnung und Unordnung. In der Mathematik gibt es die Schulen von Hilbert und Gödel, die mathematische Erkenntnis gleichsam als sprachbedingt oder sprachfrei betrachten. Wie in der Vorstellung von Humboldt kann Welt nur durch Sprache erfasst werden. Dagegen stellt sich der Ansatz, dass Vernunft sprachlos ist. Mich interessieren beide Haltungen, in der Lektüre, aber auch in der Anwendung auf ein künstlerisches Forschen hin.

Bewusstseinsdunkelheit S

Als Autor befinde ich mich auch in einem Dialog mit Regelwerken, und wenn man Regelwerke modernistisch und kybernetisch als Dämonen bezeichnet, befinde ich mich in einem Dialog auch mit diesen. Allerdings geschieht dies nicht okkultistisch, sondern poetisch. Das heißt, der Autor erfüllt nicht nur die Regeln der Sprachmaschine oder entwirft neue, sondern er begibt sich auf eine Metaebene, die er im Text mitreflektiert. Dieser emergente Sprung ist notwendig, denn nur so können analytische und metaphysische Verfahren abseits einer postmodernen Verglitterung parallel untersucht und angewandt werden. Das eröffnet die Möglichkeit, andere Positionen einzubeziehen und vertraute permanent in Frage zu stellen. Zwar setzt diese Methode klassische Programme der Moderne fort, aber nicht im Sinne einer fortschrittsideologisierten Avantgarde. Unabhängig davon kann die Empfindungs- und Bewusstseinsdunkelheit eine abgrundklare Schönheit bergen, die mit der regelkonstruierten Sprachapparatur allein nicht zu produzieren gelingt, egal wie man sie in Gang setzt. In einem Gedicht beispielsweise, das sowohl die rhetorischen Kriterien und den Formenkanon eines Gedichts erfüllt als auch überschreitet und verletzt, stecken intentional diese Fragen nicht alleine als theoretisches Konstrukt, sondern bilden einen angewandten Aspekt dichterischer Arbeit. Das Changierende, Prozessuale des Schreibens ermöglicht, mich sowohl als Beobachter einzuschleusen und gleichzeitig die Beobachterrolle im Sinne des blinden Flecks zu durchbrechen. Als Autor kann man sich selbst nur über die Schulter schauen, indem man die Regeln verletzt und gezwungen wird, eine andere Perspektive einzunehmen. Blickt man anstatt von links nach rechts, von unten nach oben auf den Text, stellen sich nicht unmittelbar neue mathematisch formalisierbare Erkenntnisse ein, wie es vielleicht Oswald Wiener verlangen würde, aber aufgrund des Changierens, das auch in den Buchstaben stecken kann — rinks und lechts, das kann man nicht verwechsern — ergeben sich vorher noch nicht so dargestellte Repräsentationen, eben aus Relationen durch Präsentation. Wenn ich beispielsweise ein Gedicht mit dem Titel Butter schreibe, dann laufen bildlich wie wörtliche Automatismen und Vorgänge ab und setzen sich verschiedene ästhetische Kriterien in Gang. Der Titel gibt den Kontext vor, aber sobald Butter nicht im Titel steht, stellt sich die Frage, ob die Leserschaft überhaupt erkennt, dass es sich um eine Speise handelt. Mallarmé legte Freunden einen Text ohne Titel vor und

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fragte, um was es geht. Die einen antworteten ein Herz, die anderen einen Baum. Mallarmé aber sagte nein, es geht um eine Kommode. Das Entscheidende für Mallarmé war nicht semantische Eckpfeiler zu setzen und das Gedicht dazwischen fest zu positionieren. Es ging ihm auch nicht darum, semantische Gemeinplätze neu darzustellen und rein ästhetische Erfahrungen auszulösen, sondern die Beziehungen zwischen den einzelnen Strukturen aufleuchten zu lassen und somit Beziehungen herzustellen, die noch nie erfahrbar waren, auch im sozial-ökonomischen Feld. Das mindert aber die Bedeutung des Titels keineswegs, er steuert denn doch das Verstehen mit, aber die erwartete semantische Zuordnung tritt insgesamt in den Hintergrund oder wird umgepolt. Das ist keine Revolution, aber eine Art Rebellion. Der Daimon zwischen Medium und Programm Im Prozessualen schaukeln sich interessante Komplexitäten hoch, die etwas Dämonisches bzw. besser Daimonisches haben, denn der Daimon ist in der griechischen Mythologie und bei Platon ein Bote oder Zwischenwesen, das zwischen Formen bzw. Ideen und den Menschen vermittelt. Der Daimon ist folglich gleichzeitig Medium und Inhalt bzw. Programm. Er ist Medium im Sinne der Übermittlung und Programm im Sinne einer Macht, eines Inhalts oder Information, die sich wiederum eines Menschen als Wirt oder Medium bedient. In der christlichen Theologie spricht Augustinus vom Dämon als gefallenen Engel, als Luftwesen mit einer gewissen geistigen Kraft der Vermittlung und Instanz, die bezogen auf den christlichen Aspekt des Teuflischen eine Verbindung zu dunklen Mächten herstellt und von einem Menschen Besitz ergreift. Der Daimon als gefallener Engel ist sowohl Überbringer einer Information als auch eine Kraft, die materiell inkarniert. Diese Tradition eines zweifachen Wesens reicht bis Searle und dem Geist in der Maschine. In diesem Spannungsfeld begreift sich der Mensch als Wesen unterschiedlicher Schichten und Ordnungen. Ich ist ein anderes oder auch ein zweites, ein drittes, zum Teil etwas Verborgenes, aber auch etwas sehr Klares. Der Begriff Unidualität trifft diesen Umstand wunderbar. Bei Nietzsche taucht dieses paradoxe Prinzip auf, indem der Mensch in der Dualität ein einer ist. Der Begriff Daimon erweist sich genau darin als komplex und brauchbar, indem er nicht eindeutig ist; er beschreibt weder das Gute noch das Böse, weder die Ordnung noch die Unordnung, lässt sich nicht auf Form oder Inhalt redu-

zieren und lädt sich in unterschiedlichen Kontexten und Zeiten mit unterschiedlichen Bedeutungen auf. Er steht in der katholischen Tradition für das Abtrünnige, das Dunkle, die Versuchung und den Zweifel, in der Tradition der Aufklärung und Moderne für rationale Prozesse wie etwa der Dämon bei Laplace. Und aus diesen Differenzen ergeben sich beunruhigende Wechselwirkungen, denn wenn ein Dämon in der Maschine alles berechnen kann und wie bei Laplace alle Zustände des Universums in der Vergangenheit und Zukunft kalkulierbar macht, hat das etwas Bedrohliches. Aus der Vernunft und der Maschine entspringen daher die dämonischen Mächte seit der Moderne. Für die Literatur bedeutet dies, dass sobald eine umfassende Regel in der Lage ist, Sprache zu beherrschen, der Autor nicht mehr selbst Texte zu schreiben braucht, sondern nur noch als eine Art Meta-Autor Rahmenbedingungen für die Regeln und Software bestimmt. Nach Oswald Wiener heißt Verstehen, eine Regel finden und sofern diese Regel auf einer Turingmaschine läuft, generiert sich ein Dämon, der einen bestimmten Weltzustand — sei es in Form einer Wettervorschau oder eines literarischen Textes — produziert. Früher wären der Nihilismus und das Dämonische in den dunklen Wäldern zu finden gewesen, wo Gott tot ist und die Barbaren wohnen. Heute spricht man vom Nihilismus der Transparenz, denn das Klare erweist sich als scheinheilig Reine und das Transparente hat sich zu dem gewandelt, was wir früher katholizistisch als das Dämonische beschrieben haben. Das Scheinheilige liegt also auch im Schein und Glanz der Medien, den die Protagonisten weder begreifen noch einsehen wollen und können, da es nicht um Erkenntnis und utopische Erneuerung, sondern um Machterhalt geht. Insofern ist das dunkle Dämonische heute das gleißende Scheinwerferlicht der nihilistischen Transparenz, der eigentliche blinde Fleck der anderen Macht in und über uns. Schwerelosigkeit Arthur Rimbaud hat während des Schreibens vermutlich nicht theoretisch gedacht und er wäre am Klaren und Luziden im hier gebrauchten Sinn nicht interessiert gewesen. Er war von einer Art Besessenheit ergriffen, die ihn in einen Zustand des Erfasstseins versetzte und ihm tiefe Einsichten in die Ordnung der Dinge gewährte. Das betrifft aber nicht nur Rimbaud, sondern begegnet uns beispielsweise auch in der russischen Volks- und Liedkunst, die meist mündlich übertragen wird. Roman Jakobson hat dies

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untersucht und ist auf überraschende Gesetzmäßigkeiten der Vokalverteilung gekommen, das heißt auf ein daimonisches Prinzip der Ordnung. Obgleich die Texte mündlich tradiert werden, also einem nietzscheanisch-dionysischen Prinzip der Unordnung des Gesprochenen unterliegen, bleibt die Struktur über Generationen erhalten. Parallel stieß Jakobson bei der Analyse der Gedichte von Welimir Chlebnikow auf eine ähnliche Struktur. Chlebnikow hat als Dichter bewusst eine neologistische Sprache, eine Soundsprache entwickelt, die ebenfalls eine Art Daimon war, der zwischen Ordnung und Chaos ein schwebendes Dazwischen einnahm und dennoch das bewusste Setzen von Vokalen und Silbenfolgen erlaubte. Chlebnikow ging dabei nicht kanonisch-rhetorisch wie die Barockdichter vor, die erstmals Regeln und rhetorische Figuren in den Vordergrund rückten. Anders wie später Oulipo oder auch Oskar Pastior, der barocke Formen wie Sonett, Anagramm oder Akrostichon wiederentdeckte, schaffte er einen Zustand der Schwerelosigkeit, der das Chaotische in die Ordnung und die reinen Regeln ins Rauschen überführte. Mit Pastior diskutierte ich, ob der Glaube an die sprachliche Materialität an seine Grenzen stößt. Werden nach bestimmten Regeln und Verfahren Vokale geordnet, erhalten die Buchstaben von A bis Z eine spezifische Welt konstituierendes Gewicht, und diese Gewichtung allein gibt vor, was der Autor zu schreiben hat. Textlich kann sich daraus eine phantastische Form ergeben, aber die Möglichkeit des Autors inhaltlich zu arbeiten, ist eingeschränkt. Wo liegt hier der Erkenntnisgewinn? Das Einbringen von Inhalt und Botschaft in Texten muss nicht automatisch konservativ sein, progressiv wird es aber erst, wenn sich diese Botschaft aus dem Prozess der Werkbildung heraus entwickelt und so die Einbindung anderer Erfahrungsmomente ermöglicht, die etwa das dialogische Verhältnis von Bild und Wort stärker als die Regel des Wortes zur Textmaschine betonen. Bild und Handlung Bilder evozieren Automatismen der Wahrnehmung, die wiederum Wörter wachrufen, und umgekehrt assoziieren wir über Wörter Bilder. Obgleich Bildwissenschaft und Bildhandlung vermehrt im Gespräch sind, wurde mir bei einigen Buchbesprechungen vorgeworfen, ich würde im Roman Durchleuchtung nur Bilder schreiben. Das ist für mich ein Kompliment, denn diese Art der Untersuchung von Wahrnehmungsverhältnissen, die nicht

nur im Inneren liegen, sondern auch von außen über die Sprache und über bildgebende Verfahren zu erfahren sind, ist ein essentielles Thema. Bei Freud gibt es Wortvorstellungen und Sachvorstellungen. Wenn ich schreibe, stelle ich mir das Wort bildlich vor; ich sehe Wörter, die sofort ein Bild erzeugen, aber ich sehe auch das Wort in seinen Bestandteilen, den Buchstaben vor mir. Damit füllt sich bildwörtlich der Schreibtisch und es entstehen neue Beziehungen zwischen Dingen, Bildern und Wörtern. Wie Lacan sagte, liegt alles am Tisch, man muss nur hinsehen und die Signifikanten verbinden. Das ist daimonisch im modernen aufgeklärten Sinn des Luziden, aber auch dämonisch im Sinne der Bewusstseinsdunkelheit. Vielleicht klingt es im ersten Moment mythisch, doch wir brauchen nicht alles rational verstehen. Es gibt eine wortlose Erkenntnis, die nicht zuletzt der bildenden Kunst nahe steht, wo es Arbeiten gibt, die aufgrund einer Übersetzung in Worte banal werden oder ihren Sinn verlieren. Entscheidend ist, dass das Verhältnis der auftauchenden Objekte in Bezug auf ihre Funktion im Kontext des Erwartungshorizonts gestört wird. Damit meine ich nicht nur eine Verschiebung von Objekten ins Museum wie bei Duchamp, sondern literarisch gesprochen Vermischungen von Metapher und Metonymie, die zu einer Störung konventioneller Handlungen führen und neue Handlungskontexte erschließen. Während die Metapher ein vergleichendes Sinnbild ist, zielt das Metonymische auf den Satzbau, das heißt, die Metapher tauscht aus und die Metonymie kombiniert. Jakobson sagte, die entscheidende Literatur ist die der Projektion der Metapher auf die Metonymie. Ich drehe das auch in meine Rezeption von Kunstwerken weiter, weshalb mir die Nähe nicht nur zur konzeptuellen Kunst gegeben ist. In diversen Hybriden aus Wort und Bild stecken Handlungen, die zu neuen Funktionen und Vermittlungen führen, etwa zwischen dem Metaphysischen und technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen. Dieses Hybride des Daimonischen, das zwischen Materialität des Wortes und der Geistigkeit des Bildes und umgekehrt vermittelt, fasziniert mich und geht einen Schritt weiter als das Daimonische im Sinne der Festlegung und Kontrolle von und durch Regelapparaturen. Im metaphorisch-metonymischen Werk der Verfransung ergeben sich Vielschichtigkeiten, die sich untereinander verknüpfen und gleichzeitig einen neuen Blick auch auf die gesellschaftliche Bedingtheit künstlerischer Produktion freigeben. Bei Nietzsche ist, wie gesagt, der Dämon das Ungeheure, Wilde und unsere Sprache nichts anderes als ein bewegliches Heer von Metaphern. Die Arbeit an der Metapher ist daher notwendig, um

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zu einem ganz anderen Verhältnis zwischen Sprache und Alltag zu gelangen. Bei Nietzsche bedeutet das Ungeheure aber nicht nur eine Art von Wildheit, sondern auch die Suche, ja den Willen nach und zur Ordnung. Die Ordnung ist eine Grenze, die wie in Zarathustra immer von wilden Überschreitungen gekennzeichnet ist, dem Dionysischen und gleichzeitig eine Zähmung desselben im Sinn eines neuen Strukturaufbaus zu erreichen sucht. Genau diese Grenze ist das Untersuchungsfeld für die Kunst und in der Kunst. Ingenium Beim Schreiben habe ich eine Form im Kopf, die dem jeweiligen Inhalt entspricht oder die sich beim Schreiben herausbildet. Obgleich ich überzeugt bin, dass ich nach Regeln oder Gesetzen schreibe, schreibt es sich auch in mir: Die Methode ist Phantom und das Phantom ist Methode. Die Überführung von Inhalten in die materielle Form der Sprache ist ein wechselseitiger Prozess. Sprachlich haben wir keine Atome wie in der Physik oder Moleküle wie in der Chemie, aber wir haben Buchstaben. Durch diese Vorstellung der Materialität kommt es zu Bedeutungsaufladungen der Buchstaben. Wenn ich Buchstaben sehe, lese ich einen Inhalt, der auch völlig überraschend sein kann. Ich lese beispielsweise die Buchstaben LEBEN im Sinne eines alltäglichen und banalen Begriffs, sehe aber plötzlich ein Palindrom oder Anagramm und lese NEBEL. Nebel wird zu einer buchstäblichen Erfahrung meines Lebens, die von einer ingenieurhaften Beobachtung gewisser Stoffe, Buchstaben, Wörter usw. ausgeht, die gleichsam chemisch neu zusammengesetzt werden. Im Barock findet sich der Begriff Ingenium, wie ihn Octavio Paz herausgearbeitet hat. ingenium und cocepto sind die Begriffe, um die es geht. Im Wort Ingenium steckt Ingenieur und in ihm steckt auch Genie — der römische Daimon —, der sich heute in den Wort- und Bildfabriken manifestiert und verselbständigt hat. Als Autor stört mich aber genau diese Art der Manifestation und Verselbständigung, da das Buch zu einem objekthaften Produkt im Sinne einer Verdinglichung des Geistes wird. Natürlich vollzieht sich die Materialisierung unwillkürlich im Schreibakt, aber sie befriedigt letztlich nicht und darum sucht man nach neuen Formen und überschreitenden Verbindungen zu anderen Medien. Verfransung ist das entscheidende Prinzip, da ein Medium immer zu einem anderen drängt, und nur so kristallisiert sich das Hauptmedium heraus. Das Buch wäre das Hauptmedium, aber der Weg dazwi-

schen geht durch alle Fabriken des Ingeniums und der Offenbarung. Auf Bruno Latour bezogen könnte man sagen, dass die Welt nicht nur Text und der Text nicht nur Welt ist, sondern dass es einen Dialog benötigt. Wir schauen nicht nur auf die materialisierten Textwesen und erkennen die Türschwelle als Allegorie des Portiers, sondern begreifen, dass die Schwelle zu uns spricht. Das verdeutlicht uns die Übergänge, ohne unwillkürlich einen fetischisierenden Umgang mit den Dingen herbeizurufen. Die Dinge werden nicht alleine über ihren Gebrauch, sondern vor allem über ihre Bezüge zur Welt und zur Sprache verständlich. Sie besitzen eine Art Eigenleben und senden Botschaften aus. Deswegen befinden wir uns in einem Dialog mit den Dingen und die Dinge sprechen zu uns. Beim Betrachten von Kunst ist uns das selbstverständlich und deine Arbeiten führen dies auch explizit vor, dass in den Objekten immer auch ein Ingenium, ein Text, eine Handlungsanweisung oder wie du sagst, ein Daimon, steckt.

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Impressum

Autor

Ferdinand Schmatz Universität für angewandte Kunst Wien, Institut für Sprachkunst Lektorat

Verena Moritz Gestaltung und Satz

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