Leo Baeck Werke: Band 6 Briefe, Reden, Aufsätze
 9783641248475

Table of contents :
10.1.19423
Inhalt
Einleitung
Religion
LEBEN UND WIRKEN
Rabbiner in Oppeln, Dusseldorf und Berlin
Feldrabbiner im 1. Weltkrieg
Die Weimarer Jahre
Im nationalsozialistischen Berlin
Terezin
Nach der Shoa
ÜBERGREIFENDE THEMEN
Zionismus und Israel
Progressives Judentum
Amerika
KORRESPONDENZEN
Das Ende einer Epoche
Zeittafel
Namenregister

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Herausgegeben von Albert H. Friedlander (London) † Bertold Klappert (Wuppertal), Werner Licharz (Frankfurt a.M.), Michael A. Meyer (Cincinnati/Ohio), im Auftrag des Leo Baeck Instituts, New York Die Herausgeber danken Marianne C. Dreyfus, James N. Dreyfus und Richard B. Dreyfus für die Erlaubnis, Leo Baecks Werke wieder im Druck erscheinen zu lassen.

Band 1 Das Wesen des Judentums Band 2 Dieses Volk Band 3 Wege im Judentum Band 4 Aus Drei Jahrtausenden. Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte Band 5 Schriften aus der Nachkriegszeit Band 6 Briefe, Reden, Persönliches

Gütersloher Verlagshaus

Band 6

Briefe, Reden, Aufsätze Herausgegeben von Michael A. Meyer In Zusammenarbeit mit Bärbel Such

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Copyright © 2003 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Umschlagfoto: Leo Baeck Institut, New York Satz: Weserdruckerei SatzWeise GmbH, Bad Wünnenberg ISBN 978-3-641-24847-5 www.gtvh.de

Baeck 6 p. 5 / 5.7.2006

Baeck 6 p. 6 / 5.7.2006

Baeck 6 p. 7 / 5.7.2006

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael A. Meyer

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Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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LEBEN UND WIRKEN Rabbiner in Oppeln, Dsseldorf und Berlin

. . . . . . . . . . .

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Oppeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezension zu Der Kalam in der Jdischen Literatur. Von Martin Schreiner (26) – Orthodox oder ceremonis? (31) – Zur Rabbinerausbildung (35) – Religion des Volkes und Religion des Individuums (36) – Das Kleine und das Grosse (40) – Gemeindeleben (43) – Ansprache fr einen Barmitzva (47) – Abschiedspredigt in Oppeln am 1. Oktober 1907 (49) – Aphorismen (55)

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Dsseldorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christliche Kultur (59) – Jdische Kultur (62) – Die Umkehr zum Judentum (63) – »Natrlich« und Aehnliches (69) – Zur Frage der Christusmythe (73) – Unsere Stellung zu den Religionsgesprchen (80) – Englische Frmmigkeit (83) – Wahrheit und Gerechtigkeit (87) – Gesetzesreligion und Religionsgesetz (91) – Das Judentum unter den Religionen (95) – Gestern und morgen (103)

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Erste Jahre in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Amtseinfhrung in Berlin am 27. Dezember 1912 (107) – Der Stil des Lebens (108) – Die Schpfung des Mitmenschen (112) 7

Baeck 6 p. 8 / 5.7.2006

Inhalt

Feldrabbiner im 1. Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Das Drama der Geschichte (120) – Du sollst! (124) – Draussen und Drinnen (128) – Die Kraft der Wenigen (130) – Berichte des Feldgeistlichen Rabbiner Dr. Leo Baeck an den Vorstand der jdischen Gemeinde (133) – Brief an Martin Buber (142) Die Weimarer Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 »Die Lehren des Judentums« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Sittlichkeit als Grundforderung des Judentums (144) – Wille zum Leben (146) – Wahrhaftigkeit (148) – Der soziale Charakter des Judentums (151) – Der ewige Friede (154) – Inbegriff von Sittlichkeit, Liebe, Gerechtigkeit und Heiligkeit (156) – Die Auseinandersetzung mit dem entstehenden Christentum (157) – Abweichungen der christlichen Religionen vom Judentum in den Grundgedanken. Einleitung (162) – Jdische Anerkennung individueller Glaubensauffassung (165) Vermischte Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Zedakah (172) – Entwickelung und Wiedergeburt (173) – Die Ehe als Geheimnis und Gebot (179) – Okkultismus und Religion (185) – Vorwort zu Aim Pallire. (188) – Das unbekannte Heiligtum (188) – Die jdischen Gemeinden (193) – Mensch und Boden (201) – Gedanken und Soziologie des Großstadtjuden (201) Vorahnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Brief an Caesar Seligmann (204) – … alles wahre Ideale erstorben (206) – Vorwort zu Friedhofsschndungen in Deutschland (207) Im nationalsozialistischen Berlin

. . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Politisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Das deutsche Judentum und die Erneuerung Deutschlands (210) – Trauer um Hindenburg (211) – Ansprache auf der Trauergedenkfeier fr Reichsprsident Hindenburg (211) – An den Herrn Reichskanzler Adolf Hitler (213) Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Das Judentum in der Gegenwart (216) – Umwlzung und Umwandlung (220) – Religionen (223) – Der jdische Geist (224) – Chukkat haggoj (226) – Das jdische 8

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Inhalt

Jahr (227) – Der jdische Mensch (232) – Die Existenz des Juden (245) – Die Gestalt des deutschen Judentums (253) – Schpfungsordnungen (259) – Die Wste (262) – Zeiten und Tage (264) Kunst und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Fr den Kulturbund Deutscher Juden (268) – Kunst und Leben (268) – Sprache (270) – Bildungsenge? (271) – Zum Sportereignis des Jahres im Sportbund des Reichsbundes jdischer Frontsoldaten (273) – Zum Geleit eines Katalogs (273) – Europa (274) – Die Ferne (280) Gemeinde und gemeinsame Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 An die deutschen Juden! (284) – Religise Erneuerung (286) – Unsere Gemeinde (287) – Erklrung der Reichsvertretung (288) – Wie gestalte ich den Schabbat? (289) – Saar-Kundgebung der Reichsvertretung (290) – Erziehen und Helfen (291) – Ansprache zur Erffnung der Jdischen Winterhilfe (292) – Wahrheit und Gemeinsamkeit (293) – Die jdische Sozialarbeit umspannt die Welt! (294) – Pflicht hrt nie auf (295) – Hineni – hier bin ich! (296) Ermutigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Recht und Pflicht! (299) – Tag des Mutes (300) – Die Freien und die Unfreien (301) – Tage und Leben (302) – Zurckhaltung (303) – Was sollen wir denn tun … (304) – Zukunft des Judentums (305) – Festrede des Großprsidenten zum 50. Stiftungsfest der Lessing-Loge des Bne Briss (306) – »Trstet, trstet mein Volk« (311) – Ansprache zum Kol Nidre des Vershnungstages 6. Oktober 1935 (312) – Die Reichsvertretung an die Juden in Deutschland (313) An und fr Einzelne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Briefe an Alfred M. Cohen in Cincinnati (316) – Leo Baeck an Dr. Rubinow in Cincinnati (320) – Brief an Dr. Morgenstern in Cincinnati (321) – Brief an Dr. Samuel Schulman in New York (322) – Zu Martin Bubers 60. Geburtstag (323) – Brief an Lily H. Montagu in London (323) – Brief an Chief Rabbi J. H. Hertz in London (325) – Leo Baeck an Max Grnewald (326) – Briefe an Manfred Swarsensky in London (327) – Brief an Immanuel Lw in Szeged, Ungarn (330) – Brief an Hans Hirsch in Ithaca, New York (331) – Referenz fr Wolfgang Hamburger (332) – Brief an Rudolfo 9

Baeck 6 p. 10 / 5.7.2006

Inhalt

Lb in Buenos Aires (332) – Brief an Hans Schffer in Schweden (333) – Brief an Ilse Blumenthal-Weiss in Holland (334) Terezin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Postkarte an Immanuel Lw in Szeged, Ungarn (339) – Postkarte an Dr. Rant (339) – Hermann Strauss zum Geburtstag (340) – Vortrge in Theresienstadt (341) – Geschichtsschreibung (342) – Brief an Else Nathan in Tel Aviv (358) – Briefe in Auszgen (359) – Vision und Geduld (361) – Briefe an H. G. Adler in London (365) – Geleitwort zu H. G. Adlers Theresienstadt (366) Nach der Shoa

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Das neue Deutschland und seine Vergangenheit . . . . . . . . . 369 Ein Gesprch mit Leo Baeck im Aufbau (370) – Eine Botschaft von Leo Baeck (371) – Brief an Constantin Cramer von Laue in Hildesheim (373) – Referenz fr Hans Walz (375) – Brief an Hans Walz (376) – Juden und Deutsche (376) – Antwort an Bonn (377) – Auszug aus einem Interview in Kopenhagen (379) Das Erbe des deutschen Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Brief an Salo Baron in New York (381) – Brief an Hermann Muller in New York (382) – Brief an Georg Landauer in Jerusalem (383) – Brief an die JRSO (385) – Brief an Monroe Goldwater in New York (386) – »Die Idee bleibt« (387) – Brief an Henrique Lemle in Rio de Janeiro (390) – Die deutschen Juden (390) – Erbe und Aufgabe (392) – Bewhrung des Deutschen Judentums (394) Die neue jdische Gemeinde in Deutschland . . . . . . . . . . . . 399 Brief an Dr. Farbstein (399) – Brief an Nathan Peter Levinson in Berlin (401) – Brief an Robert Raphael Geis in Karlsruhe (403) – Brief an die Arbeitstagung jdischer Juristen in Dsseldorf (405) Aufstze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Vom Gewissen (407) – Das Schema (409) – Pessach (414) – Individuum und Gemeinschaft (415) – Staat und Kultur (417) – Die vier Stationen des Lebens (421) – Leben und Kunst (436) – Gerechtigkeit (440) – Menschlichkeit (444) – Frieden (447) – Voraussetzungen der Toleranz (453) 10

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Inhalt

BERGREIFENDE THEMEN Zionismus und Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Brief an Emil Bernhard-Cohn in Berlin (461) – Der Aufbau Palstinas und das deutsche Judentum (461) – Das Palstinawerk (464) – Stellung des religis-liberalen Judentums zum Zionismus (468) – »Agency«-Kundgebung (469) – Unsere Hoffnung (471) – ber das jdische Palstina – Ein Interview (472) – Brief an Werner David Senator in Jerusalem (475) – Judentum und Zionismus (477) – Brief an J. L. Magnes in Jerusalem (480) – Kooperation in Palstina – Ein Appell (480) – Religise Erziehung in Palstina (482) – Das berleben des Geistes (485) – Brief an Hans Paeschke in Mnchen (487) – Gutachten vom Oktober 1951 (488) – Brief an David Werner Senator in Jerusalem (491) – »… und ber die Staaten wird der Spruch getan« (491) Progressives Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Brief an Lily H. Montagu in London (497) – Die Bedeutung der Londoner Tagung (497) – Die Botschaft des Judentums an das Individuum (499) – Fragen des jdischen Ehegesetzes (504) – Das Zusammensitzen von Mnnern und Frauen in der Synagoge Prinzregentenstraße in Berlin (507) – Rede auf der Tagung der World Union for Progressive Judaism in London, 1930 (511) – Brief an Lily H. Montagu in London (515) – »Ideen kmpfen heute miteinander« (515) – Die Zukunft des Liberalen Judentums (517) – Die Prinzipien der Progressiven Bewegung des Judentums (520) – Die Mission des Judentums (525) Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Amerika (532) – Briefe von Baecks Amerika-Reise 1925 an Natalie Baeck in Berlin (536) – Rede vor einer Bne Briss Loge (539) – Gebet im Reprsentantenhaus am 12. Februar 1948 (549) – Ein Meilenstein in dem Leben eines Volkes (550) – Ansprache zum Grndungstag des Hebrew Union College in Cincinnati (550)

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Inhalt

KORRESPONDENZEN Micha Josef Berdyczewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 Ismar Elbogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Franz Rosenzweig

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576

Hermann Graf Keyserling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 Paul Graf Thun-Hohenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 Chaim Weizmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 Ludwig Meidner Albert Einstein

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633

Ernst Ludwig Ehrlich Gertrud Luckner

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643

Gershom Scholem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Robert Raphael Geis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 Ernst G. Lowenthal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661 Rudolf Jaser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Theodor Heuss

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683

Das Ende einer Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699

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Einleitung

Der sechste und letzte Band der Leo Baeck Werke unterscheidet sich von den vorhergehenden nicht nur darin, daß die einzelnen Beitrge relativ krzeren Ausmaßes sind, sondern auch darin, daß er Aspekte Leo Baecks widerspiegelt, die in seinen Hauptwerken und lngeren Essays, wie sie in den Bnden 1 bis 5 zu finden sind, weitaus weniger sichtbar werden. Diese Texte – Anprachen, Reden, Zeitungsartikel und Briefe – zeigen einen Mann, der sich nicht nur mit Fragen der jdischen Theologie beschftigt, sondern auch mit Belangen des tglichen Lebens unter Juden und Nicht-Juden. Gerade die Krze dieser hier aufgenommenen Dokumente erfordert eine grßere Direktheit und Konzentration. Die Briefe enthalten zuweilen eine offene Enthllung persnlicher Meinungen, deren gedruckte Bekanntmachung Baeck nicht erlaubt htte. Weitaus mehr als in seinen theologischen Werken lernen wir hier den Menschen Baeck kennen, der seine Pflichten als Rabbiner und Lehrer zu erfllen sucht, sich aktiv in verschiedenen jdischen Organisationen bettigt und whrend der Nazi-Jahre mit den physischen und psychischen Belastungen seiner Fhrungsrolle unter den Juden kmpft. Der Baeck, der aus diesen Dokumenten hervortritt, ist ein bemerkenswerter Gelehrter auch außerhalb des jdischen Umfeldes. Sogar zu Zeiten seines Lebens, in denen ihn seine praktischen Aufgaben stark in Anspruch nehmen, ist er ein unersttlicher Leser von Bchern zur Philosophie, Religion und Politik. Sein Bekanntenkreis ist groß und nicht auf die jdische Gemeinde beschrnkt. Leider enthllt Baeck jedoch selten etwas ber sich selbst. Seine Briefe sind voller Ideen, aber, mit Ausnahme der Familienkorrespondenz, bar jedes Ausdrucks von Gefhlen. Denen, die Baeck persnlich kannten, fiel seine Reserviertheit auf, die sich auch deutlich in allen Gattungen seiner Schriften zeigt. Wie Baeck in einem Brief zugibt, fiel es ihm schwer, ber sein inneres Leben zu schreiben. Er zog es zumeist vor, sich mit abstrakten Themen 13

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Einleitung

auseinanderzusetzen als ber Menschen zu schreiben, es sei denn, er rhmte die Tugenden einer seiner engen Freunde. Zu gegebenem Anlaß konnte Baeck jedoch eloquent und berzeugend sein und sich durch die Kraft und Form seiner Argumente leicht Gehr verschaffen. Und falls eine Situation Herzlichkeit verlangte, so besaß Baeck auch die Fhigkeit zu ermutigen und, wenn ntig, Trost zu spenden. Der Großteil dieses Bandes ist krzeren Beitrgen gewidmet, die Baeck entweder zum mndlichen Vortrag oder fr die Presse schrieb. Die meisten sind an bestimmte Phasen seines Lebens gebunden und sind deshalb in chronologischer Reihenfolge aufgefhrt, geordnet nach den Zeitabschnitten, in denen sie verfaßt wurden. Somit knnen wir in dem ersten Teil dieses Bandes Baecks intellektuelle Entwicklung und seine praktischen Aufgaben von seinem ersten Rabbinat in Oppeln bis zu den letzten Jahren seines Lebens in London und Cincinnati verfolgen. Obwohl sich bestimmte Themen durch die Dokumente ziehen, wiederholt sich Baeck in seinen Aussagen nur selten. Wenn ein Thema mehr als einmal auftaucht, so wird es zumeist von einem neuen Blickwinkel aus betrachtet, und die Diskussion erffnet neue Perspektiven. Obgleich der erste Teil hauptschlich aus kurzen Aufstzen besteht, finden sich hier außerdem einzelne Briefe, die nicht Teil einer grßeren Korrespondenz sind und die sich eng auf die Geschehnisse der jeweiligen Zeit, zu der sie verfaßt wurden, beziehen. Unter dem Titel »bergreifende Themen« prsentiert der zweite Teil des Bandes Baecks Schriften zu drei Themenkomplexen, mit denen er sich fast sein Leben lang beschftigte und die daher hier thematisch angeordnet sind: »Zionismus und Israel«, »Progressives Judentum« und »Amerika«. Jedem dieser Themen ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Der dritte Teil des Bandes besteht aus Korrespondenzen, von denen manche recht umfangreich sind. Sie wurden in chronologischer Reihenfolge aufgefhrt und beginnen mit Briefen an den hebrischen Autor Micha Josef Berdyczewski, von denen der erste aus dem Jahre 1896 stammt. Den Abschluß bildet der Briefwechsel mit Bundesprsident Theodor Heuss, der erst im Jahre 1951 begann. Die Anzahl der erhaltenen Briefe von Baeck erscheint nicht groß, wenn man sie zum Beispiel mit den tausenden vorhandenen Briefen von und an Gershom Scholem und Martin Buber vergleicht. Baeck hatte an ihn adressierte Briefe in seinem Schreibtisch in Berlin hinterlassen und konnte sie nach dem Krieg nicht mehr auffinden. Wir mssen annehmen, daß die erhalten gebliebenen Briefe von Baeck an andere, deren Anzahl sich nur auf wenige Hunderte beluft, lediglich einen relativ kleinen Teil seiner Korrespondenz ausmacht. Aus den vorhandenen Briefen, von denen sich manche heute in Archiven, manche in Privatbesitz befinden, wurden 14

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Einleitung

hier etwas mehr als hundert ausgewhlt und aufgenommen. Es sind die Briefe von grßter Substanz und oft auch die, in denen ein bestimmtes Thema aufgegriffen wird, das sich in anderen Briefen wiederfindet. Dort, wo nur ein bestimmter Teil eines Briefes von anhaltendem Interesse ist, wurde der Rest des Briefes nicht abgedruckt. Alle persnlichen Grße und Unterschriften am Ende der Briefe wurden ausgelassen. Nur ein kleiner Anteil der hier aufgefhrten Briefe sind Briefe an Baeck. Dieses ergibt sich nicht nur daraus, daß viele dieser Briefe verloren gingen, sondern auch daraus, daß dieser Band den Schriften Baecks und nicht denen seiner Korrespondenten gewidmet ist. Wo Briefe an Baeck vorlagen, wurden relevante Informationen daraus bisweilen in Fußnoten aufgenommen. Dieser Band vereinigt Schriften, Reden und Briefe von Baeck in sich, die weit weniger bekannt sind als seine Hauptwerke. Manche jener Dokumente wurden verffentlicht, jedoch im allgemeinen in Zeitungen oder Zeitschriften, die nicht mehr einfach zugnglich sind. Andere Texte liegen in Manuskriptform vor, entweder als Maschinenschreiben oder als Handschriften. Die Auswahl des verffentlichten Materials wurde besonders durch die Zuhilfenahme der Leo Baeck Bibliographie von Theodore Wiener »The Writings of Leo Baeck: A Bibliography« in Studies in Bibliography and Booklore 1:3 (June, 1954), S. 108-144 beschleunigt, die Baecks Werke fast bis zum Ende seines Lebens umfaßt. Am Anfang jedes Kapitels und jeder Korrespondenz findet sich eine kurze Einleitung. Sie hat den Zweck, die Dokumente in ihren Kontext einzuordnen und auf die Hauptthemen, die sie behandeln, zu verweisen. Anmerkungen dienen dazu, Individuen, Ereignisse und Publikationen zu identifizieren, soweit diese nicht allgemein bekannt sind. Außerdem finden sich hier bersetzungen hebrischer oder lateinischer Passagen, sowie Erklrungen spezifischer historischer Hintergrnde. Bei der Identifikation der Personen erwies sich der Band von Joseph Walk: Kurzbiographien zur Geschichte der Juden 1918-1945 als besonders hilfreich, der 1988 unter der Schirmherrschaft des Leo Baeck Institutes, Jerusalem bei K. G. Saur erschien. Die Orthographie der Originale wurde nicht verndert, nur typographische Fehler wurden korrigiert. Baeck war fr den Großteil seines Lebens mit einer Institution in Berlin verbunden, die 1872 als die Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums gegrndet wurde. Whrend der Zeiten intensiven Antisemitismus’, zuerst von 1883 bis zum Ende des 1. Weltkrieges und dann wieder von 1934 bis zu ihrer Schließung 1942, wurde der Status der Hochschule auf den einer Lehranstalt reduziert. In diesem Band wurde 15

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Einleitung

in den Einleitungen und Anmerkungen ausschließlich die Bezeichnung Hochschule gebraucht. Ein Band wie dieser erfordert Hilfestellung aus vielen verschiedenen Richtungen. Aber niemandem gebhrt mehr Dank als meiner Mitarbeiterin an diesem Projekt, Brbel Such, die mir fast von Anfang an zur Seite stand. Frau Such war an der Auswahl der aufgenommenen Texte beteiligt, sie war verantwortlich fr die Entzifferung fast aller handschriftlichen Materialien, fr die bersetzung aller Einleitungen und Fußnoten ins Deutsche und fr die Vorbereitung des Manuskriptes zur Publikation. Ich bin ihr fr ihr Engagement, die hohe Qualitt ihrer Arbeit und fr den angenehmen Charakter unserer professionellen Beziehung sehr dankbar. Wesentlich fr den Erfolg dieses Projektes war die hochgeschtzte Untersttzung von Marianne C. Dreyfus und Rabbi A. Stanley Dreyfus. Ganz zu Anfang war es mir vergnnt, einige Tage im Hause Dreyfus in Brooklyn zu verbringen, wo ich das Baeck-Material, das sich im Besitz von Leo Baecks Enkelin Marianne befindet, untersuchen und einen Großteil auf lange Zeit ausleihen durfte. Ich bedanke mich außerdem bei dem Jewish Philanthropic Fund of 1933 fr die finanzielle Untersttzung, die er dem Leo Baeck Institute in New York fr die Leo Baeck Werke leistete und die hauptschlich fr diesen Band gebraucht wurde und sein Erscheinen mglich machte. Ein besonderer Dank geht an den verstorbenen Fred Grubel, der die Gelder fr dieses Projekt sicherte. Eine Anzahl von Archiven und Bibliotheken haben durch die Bereitstellung von Dokumenten, Bchern und Zeitschriften Untersttzung geleistet. Fr jeden Beitrag, der hier aufgenommen wurde, folgt die Quellenangabe unmittelbar dem Text. Gesondert erwhnt werden sollen jedoch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Leo Baeck Institute Archives in New York (besonders Frank Mecklenburg), der American Jewish Archives und Klau Library in Cincinnati (besonders Kevin Proffitt) und der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum (besonders Hermann Simon), die mir alle bei meinen persnlichen Besuchen ußerst hilfreich zur Seite standen. Viele Privatpersonen haben auf verschiedene Weise zu der Fertigstellung dieses Projektes beigetragen, indem sie beispielsweise einen schwierigen Text entzifferten, Anspielungen auf Personen oder Ereignisse besonders in den Korrespondenzen identifizierten, die Zusendung persnlicher Briefe von Baeck anboten oder einen Hinweis darauf lieferten, wo weitere Materialien gefunden werden konnten. Die folgenden Personen, die hier alphabetisch aufgefhrt werden, waren besonders hilfreich: Ingrid Belke, Anne Bender, Richard Cohen, William 16

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Einleitung

Cutter, Ernst Ludwig Ehrlich, Albert Friedlander, Yael Geis, Wolfgang Hamburger, Renate Jaser, Thomas Jersch, Wolli Kaelter, Adam Kamesar, Ccile Lowenthal-Hensel, Hans George Hirsch, Avner Holzman, Dov Kulka, Nathan Peter Levinson, Robert Liberles, Amy Merrill-Willis, Arnold Paucker, Sanford Ragins, Ingeborg Samson, Richard Sarason, Julius Schoeps, Mark B. Shapiro, Itta Shedletzky, Herbert Strauss, Annegret Such, Manfred Voigts und Armin Wallas. Am Anfang und am Ende von Band 6 findet sich je ein Dokument, das in keines der Kapitel hineinpaßt und dem aufgrund seiner Krze und Tiefe des Ausdrucks eine besondere Plazierung innerhalb des Bandes gebhrt. Das erste mit dem Titel »Religion« fand sich unter Zeitungsausschnitten im Hause Dreyfus. Es ist nicht in der Bibliographie Wieners aufgefhrt und bietet keinen textinternen Hinweis darauf, aus welchem Jahr es stammen mag. Dennoch bringt es mit einzigartiger Prgnanz und Eleganz Baecks grundlegendes Verstndnis von Religion zum Ausdruck und spielt auf Ideen und Themen an, die andernorts in diesem Band und den fnf vorhergehenden Bnden aufgegriffen und ausgeweitet werden. »Religion« bietet dem Leser einen hervorragenden Ausgangspunkt zur Lektre. Der letzte Beitrag dieses Bandes steht ebenfalls isoliert da. Er trgt den Titel »Das Ende einer Epoche« und erschien im Jahre 1956 unmittelbar nach Baecks Tod in englischer Sprache als Frontispiz der ersten Ausgabe des Leo Baeck Institute Year Book. Wie »Religion« ist auch »Das Ende einer Epoche« epigrammatischer Natur. Der Holocaust war fr Baeck das Ende einer Epoche. Das jdische Volk jedoch war seiner Ansicht nach zur Wiedergeburt fhig. Es mßte lediglich die neuen Aufgaben in Angriff nehmen und so den Anfang einer neuen Epoche in der Geschichte des jdischen Volkes setzen. Michael A. Meyer

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Religion

Religion ist der innerste Sinn des eigenen Daseins, nichts usserliches und nichts Hinzugekommenes, nichts Erworbenes und nichts Gelerntes. Sie ist Leben vom Leben der Seele. Sie wohnt im Herzen, sie ist die innerste Natur des Menschen. Gott suchen, das ist nach Gutem streben; Gott finden, das ist Gutes tun. Das Judentum ist nicht nur ethisch, sondern die Ethik macht sein Wesen aus. Ohne den Gottesglauben gibt es keine Ethik, ohne Ethik gibt es keinen Gottesglauben. Das sittliche Bewusstsein belehrt ber Gott. Gott ist der Urheber der Sittlichkeit, dem allein die rechte Tat dient. Jede sittliche Tat, jede Entscheidung zum Guten ist eine Bekundung und Verwirklichung des Gttlichen, ist der klarste Gottesbeweis, ist das deutlichste Zeugnis von Gott, das einer ablegen kann. Am Menschen wird Gott erkannt. Die messianische Zeit wird gekommen sein, wenn alle Menschen das Bse meiden und das Gute tun. Wer nicht im guten Handeln Gottes gewiss geworden ist, wird auch durch kein innerliches Erlebnis Gottes Wesen erfahren. Der Ursprung dieses Guten, dieses Sittlichen kann nicht in dem endlichen begrenzten Menschen gefunden werden; es verlangt einen unbedingten, absoluten Ursprung, der der Ursprung von allem ist. Dieser kann daher allein in dem einen Gotte sein, aus dessen Wesen das Gesetz des Sittlichen folgt. Die Gewissheit der Existenz Gottes wird allein durch das gegeben, was Gott unserem Dasein, unserer Seele ist, durch den inneren Zusammenhang, den unser Leben dadurch gewinnt, durch alles das, was ihm darin an sittlicher Kraft gewhrt ist, durch das Ahnen des Geheimnisvollen, des Ewigen und Unendlichen, durch das Lauschen und Hren auf das Verborgene in uns und um uns. Dieses undatierte Dokument befindet sich im Besitz von Leo Baecks Enkelin Marianne Dreyfus.

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LEBEN UND WI RKEN

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Rabbiner in Oppeln, Dsseldorf und Berlin

Oppeln Leo Baeck begann seine Universitts- und Seminarstudien 1891 im Alter von achtzehn Jahren. Zwei Jahre studierte er in Breslau an der dortigen Universitt und gleichzeitig an dem konservativ orientierten Jdisch-Theologischen Seminar. Dann entschloß er sich zu einem recht ungewhnlichen Schritt: Er verließ Breslau, um seine rabbinischen Studien an dem liberalen jdischen Seminar in Berlin, der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums, fortzusetzen. Auch hier fhrte er seine allgemeinen Studien an der Universitt weiter und bekam 1895 fr seine Arbeit »Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland« die Doktorwrde verliehen. Zwei Jahre spter, 1897, wurde er zum Rabbiner ordiniert und trat in der schlesischen Stadt Oppeln nicht weit von Breslau seine erste Stelle an. Dort verblieb er ein ganzes Jahrzehnt, whrend dessen er heiratete, Vater seines einziges Kindes, einer Tochter, wurde und sein erstes bedeutendes Werk, Das Wesen des Judentums (1905), verffentlichte. Baecks frheste verffentlichte Schriften, seine Dissertation eingeschlossen, erschienen noch whrend er in Berlin war. Zwei davon haben wir hier aufgenommen. Bei der ersten handelt es sich um die Rezension eines Werkes von dem bekannten jdischen Erforscher des mittelalterlichen Judentums und Islams, Martin Schreiner. Sie ist von Interesse, da Baeck hier sein Engagement fr einen ernsthaften Dialog zwischen den Religionen demonstriert, wie er auch im Mittelalter zwischen Juden und Muslimen existierte. Außerdem zeigt sich hier, daß Baeck der rationalen muslimischen philosophischen Schule der Mutaziliten gegenber der mit ihr rivalisierenden orthodoxen Aschariten den Vorzug gibt. Der zweite Beitrag bietet die hier erstmals geußerte und spter oft von ihm wiederholte Ansicht Baecks, daß das Judentum im Gegensatz zum Christentum keine Dogmen besitze. Damit meint er, 23

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daß es seit dem Untergang des alten Sanhedrins innerhalb des Judentums kein autoritatives Organ gegeben hat, das Glaubensartikeln Geltung verschaffen konnte. Folglich sei das Judentum der Vernunft gegenber offen gewesen, und es sei zu keiner Kluft zwischen Bekenntnis und Erkenntnis gekommen. Unterschiede zwischen Juden, so argumentiert Baeck, seien auf praktische Fragen beschrnkt. Baeck wrdigt hier zum einen die Zeremonien des Judentums als »die Sprache, in welcher religise Gedanken zum Ausdruck gelangen« und zum anderen die jdischen Volkssitten, die aufgrund ihrer Altertmlichkeit und ihres Vermgens, Zusammenhang innerhalb der jdischen Gemeinschaft zu wecken, Respekt verdienten. Außerdem jedoch fgt Baeck, als Anhnger des liberalen Judentums, hinzu, daß die Zeremonien des Judentums »auch in der Tat zu uns sprechen, uns etwas sagen [mssen], dies ist der Maßstab fr ihre Beurteilung«. Nachdem Baeck seine Stelle in Oppeln angetreten hatte, wurde er Mitglied des neu organisierten Rabbinerverbandes in Deutschland, der Rabbinern aller religisen Richtungen offenstand. Auf einem Treffen des Verbandes in Berlin im Juni 1898 intervenierte der fnfundzwanzigjhrige Baeck whrend einer Diskussion ber die Stellung des Rabbiners in bedeutendem Maße. Khn schlug Baeck vor, daß alle Rabbinatskandidaten alle drei der Rabbinerseminare in Deutschland besuchen sollten, das orthodoxe Rabbinerseminar in Berlin eingeschlossen. Diese kurze Rede ist fr seinen lebenslangen Wunsch bezeichnend, Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen innerhalb des deutschen Judentums zu minimieren. Sie weist außerdem auf seine sptere Fhigkeit hin, weitreichendes Vertrauen unter den deutschen Juden zu gewinnen. Whrend seiner Jahre in Oppeln schrieb Baeck zudem eine Buchbesprechung mit dem Titel »Religion des Volkes und Religion des Individuums«, die anscheinend nie verffentlicht wurde. Darin verteidigt er den Talmud als ein Beispiel der Religion des Volkes, welche notwendigerweise zugleich triviale und hehre Anliegen einschließe. Dies ist ein Thema, das Baeck kurz danach in einem Essay wiederaufnimmt, welches in dem populren illustrierten jdischen Journal Ost und West, herausgegeben von Leo Winz in Berlin, verffentlicht wurde. Dieser kurze Aufsatz, der in demselben Jahr wie Das Wesen des Judentums erschien, ist ebenso wie dieses grßere Werk polemisch. Baeck argumentiert hier, daß das Judentum gemß seiner eigenen Kategorien verstanden werden msse, und nicht gemß derer, die vom Christentum geliehen seien. Drei der hier aufgenommenen Dokumente beziehen sich direkt oder indirekt auf sein Rabbinat in Oppeln. Das erste davon, »Gemeindele24

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ben«, stellt heraus, was in der Großstadt an jdischem Gemeindeleben verloren gehe. In einer Zeit, in der die deutschen Juden in hohem Maße verstdtert waren, rhmt Baeck hier die jdische Gemeinde mittlerer Grße, die weder so klein sei, daß sie keine kommunalen Einrichtungen tragen knne, noch so groß, daß sie Gleichgltigkeit und Indifferentismus hervorbringe. Seine »Ansprache fr einen Barmitzva« ist ein einzigartiges unverffentlichtes Dokument, von Interesse nicht nur, weil wir Baeck in einer Rolle sehen, die wenige Spuren in der Literatur hinterlassen hat, sondern auch, weil Baeck in seiner Ansprache an diesen jungen Mann besonders die Pflichterfllung betont, ein Thema, das er in seinen spteren Schriften regelmßig wieder aufgreift. Baecks Abschiedspredigt in Oppeln ist die einzige Predigt, die von seinem ersten Rabbinat erhalten geblieben ist und zudem eine der wenigen erhalten gebliebenen berhaupt. Sie ist von Interesse, da sie Baecks Rollenverstndnis eines Gemeinderabbiners zum Ausdruck bringt. Außerdem enthlt sie seinen weithin bekannten Ausspruch, daß er whrend seines gesamten Jahrzehnts in Oppeln nicht einmal das Wort »ich« von der Kanzel aus gesprochen habe. Am Schluß dieses Kapitels steht eine Auswahl von Aphorismen, die Baeck wohl fr sich selbst sehr frh in seinem Leben niedergeschrieben hat. Wahrscheinlich stammen sie aus seinen Tagen als Student. Mit Hinblick auf Baecks sptere Fhrungsposition unter den deutschen Juden whrend der Nazi-Herrschaft ist der erste Aphorismus auf seiner Liste besonders interessant: »Die Lebensphilosophie des Menschen hlt so lange vor, bis er selber einmal in die Lage kommt, sie brauchen zu sollen«.

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Rezension zu Der Kalam in der Jdischen Literatur. Von Martin Schreiner. Religionsphilosophische Studien knnen nur dort zu gedeihlicher Entwicklung gelangen, wo Glaubensgemeinschaften zu einander in nhere Beziehungen treten. Der allein, welcher in lebendigem geistigen Verkehr mit Anhngern anderer Bekenntnisse steht, wahrt sich den freien, unbefangenen Blick, welchen jede philosophische Errterung und vor allem die der religisen Vorstellungen unbedingt erfordert. Freiheit von Vorurteilen, die den wahren Philosophen charakterisieren, erwirbt man nur dadurch, daß man sich mit fremder Anschauungsweise bekannt macht und sich in dieselbe hineinzuversetzen bemht. Alle modernen religionsphilosophischen Untersuchungen gehen daher denn auch von umfassenden religionsgeschichtlichen Betrachtungen aus. Es ist interessant, daß schon Maimonides 1 nachdrcklich darauf hinwies, wie wichtig es sei, diese beiden Wissenschaften methodisch zu verbinden; er erzhlt selbst von den eingehenden Studien, die er ber Religion und Kultus heidnischer Vlker angestellt hat. Und noch mehr: Nur durch die Berhrung mit anderen Religionen wird berhaupt die Anregung dazu geboten, das eigene Religionssystem theoretisch auszubilden. Wo sich die Anhnger der verschiedenen Bekenntnisse streng von einander absondern, entsteht kaum ein Verlangen nach tieferer Begrndung der religisen Ideen. Man ist so selbstzufrieden, so sich selbst genug, daß man kein Bedrfnis empfindet, sich selbst ber das Rechenschaft zu geben, was man glaubt. Unterdrckt eine Konfession die andere, so ist in noch viel hherem Grade jeder Anreiz zur philosophischen Behandlung der Religion geschwunden. Der Sieger glaubt Recht zu haben, weil er die Macht hat. Da sich, aus Furcht, kein Widerspruch gegen seinen Glauben erhebt, so meint er, daß es keinen gibt und keinen geben kann. Und der Unterdrckte ist in seinen Augen stets der Gute, der Gerechte, der Tugendhafte, er ist im Besitze der Wahrheit. Daß seine Gegner und seine Religion ohne Sittlichkeit sind, das beweisen sie ihm ja selbst dadurch, daß sie ihn knechten und qulen. Wer grausam und gewaltttig sei, der zeige, daß ihn kein Strahl gttlichen Lichtes erleuchtet habe. Es ist in dieser Beziehung in den religisen Verhltnissen nicht anders, als in den politischen und sozialen. Nur dann, 1. Moses Maimonides (1135-1204) war der berhmteste jdische Religionsphilosoph und Rechtsgelehrte des Mittelalters.

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Rezension zu Der Kalam in der Jdischen Literatur

wenn Parteien auf gemeinsamem Boden nebeneinander wirken, kommen sie zu einer freieren, philosophischen Betrachtung dessen, was sie trennt, und was sie trotz aller Gegenstze wieder eint. Durch diese Tatsachen wird es verstndlich, daß die ersten religionsphilosophischen Systeme der Juden Lndern angehrten, welche unter der Herrschaft des Islams standen. Sehr viele mohammedanische Machthaber bewiesen den Andersglubigen gegenber ein hohes Maß von edler, staatsmnnischer Bildung. Besonders die pyrenische Halbinsel erfreute sich unter manchem maurischen Frsten einer Toleranz, wie sie sptere Zeiten kaum je wieder kannten. Die Liebe zu den Wissenschaften und Knsten vershnte und einte die verschiedenen Bekenntnisse. Zumal die Juden nahmen an allen geistigen Interessen lebhaften Anteil. Sie hatten sich mit Sprache und Literatur des herrschenden Volkes schnell vertraut gemacht, sie pflegten intimen Umgang mit mohammedanischen Gelehrten und wetteiferten mit ihnen auf allen Gebieten der Kultur. Ihre religisen Fhrer waren weit entfernt, diese Bestrebungen als Abfall vom Glauben der Vter zu brandmarken, sie bemhten sich vielmehr, die fremden Errungenschaften fr das Judentum nutzbringend zu machen. Hierdurch war der geeignete Boden fr eine Philosophie der Religion geschaffen. Der Gaon Saadja 1 suchte, als der erste jdische Religionsphilosoph, in systematischer Weise zu zeigen, daß Wissen und Glauben sich nicht widersprechen, daß die Offenbarung auch vor dem Richterstuhl der Vernunft bestehe. Von ihm zieht sich dann bis zu Maimonides, der den Mittelpunkt des religisen Denkens im Judentum des Mittelalters bezeichnet, eine stattliche Reihe trefflicher Religionsphilosophen, deren Systeme auf dem Boden muslimischer Kultur erwachsen. Der großen Schrfe wegen, mit welcher die monotheistische Idee vom Islam entwickelt wurde, mußten sie sich diesem verwandt fhlen. Man nahm deshalb schon seit langem an, daß sie unter dem Einfluß mohammedanischer Theologen stnden. Nachgewiesen wurde dies jedoch nicht, es blieb im großen und ganzen eine bloße Vermutung. Zum erstenmal hat nun Dr. Martin Schreiner 2 diese Frage in seiner vorliegenden Schrift auf Grund 1. Saadja ben Josef (882-942) leitete die talmudische Akademie in Sura, Babylonien und war die fhrende rabbinische Autoritt seiner Zeit. 2. Martin (Mordechai) Schreiner (1863-1926). Fhrender Wissenschaftler fr mittelalterliches Judentum und Islam. Der Schler Ignaz Goldzihers hatte gerade aus Ungarn kommend eine Professur an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums in Berlin angetreten, als Der Kalaam in der jdischen Literatur 1895 erschien.

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einer genauen Kenntnis der Quellen scharfsinnig und grndlich behandelt. Er weist bei den einzelnen Religionsphilosophen der genannten Periode nach, wie weit sie, unbeschadet einer bald grßeren, bald geringeren Originalitt ihrer Anschauungen, in ihrer Problemstellung, ihrer Methode und ihrer Terminologie von der Scholastik des Islams, dem sogenannten Kalam, abhngig sind. Schreiner hat die Tatsache und den Umfang dieser Einwirkung endgltig und unwiderleglich dargelegt. Wer sich knftig mit der Geschichte der jdischen Religionsphilosophie beschftigt, wird vor allem auf das Schreiner’sche Werk zurckgehen mssen.[tab]In seinen wesentlichen Abschnitten ist dasselbe, wie ja auch nicht anders mglich, bloß fr Fachgenossen geschrieben. Nur einen Punkt mchte ich aus seinen Resultaten hervorheben, da dieser auch fr weitere Kreise Interesse hat. Im Kalam treten zwei Richtungen hervor, die der Mutaziliten, welche eine Vermittlung zwischen Offenbarungsglauben und Vernunft anstrebten, und ihnen gegenber die Aschariten, welche sich streng an das Wort des Propheten hielten. Schon frhzeitig gewann das Ascharitentum vollstndig die bermacht innerhalb des Islams, die Bevlkerung, unter welcher die Juden lebten, war von streng ascharitischer Gesinnung. Trotzdem hat diese orthodoxe Richtung auf jdische Denker auch nicht den mindesten Einfluß ausgebt. Um so enger schlossen sie sich an die Mutaziliten an. Diese rationalistischen Theologen, die unter ihren Glaubensgenossen einsam dastanden, fanden im Judentum verstndnisvolle Aufnahme und immer wachsende Anhngerschaft. Sie waren die Vorbilder und Fhrer seiner Denker – so lange, bis die Lehre des Aristoteles durch die Vermittlung der Araber ihre Renaissance erlebte. Vor dem Glanze des »Philosophen« verblichen die Mutaziliten. Seitdem seine Ideen durch den »Fhrer« 1 des Maimonides in die jdische Religionsphilosophie eingefhrt wurden, ist die Einwirkung des Kalam so gut wie vernichtet. Ein bedeutsames Zeichen dafr, daß das Judentum den Fortschritten der Wissenschaft nie feindlich gegenbertritt, sondern sie als Mittel fr die Frderung der Religion betrachtet. Jdische Chronik 2 (1895/96): S. 90-91. Wiederabdruck in Leo Baeck-Heft. Hg. Jdisches Lehrhaus Zrich, Sept. 1959. S. 9-11.

* 1. Bezieht sich auf Maimonides’ philosophisches Hauptwerk Fhrer der Unschlssigen (1190).

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Orthodox oder ceremonis? Wenn man den Begriff Dogma nicht gar zu weit faßt, kann man behaupten, daß das Judentum keine Dogmen habe, wenigstens nicht mehr, seit es die Grundlage einer einheitlichen Organisation im Synhedrion verloren hat; deshalb hat es auch keine Orthodoxie. Dogmen, d. h. verbindliche Bekenntnisformeln, kann nur eine geistliche Behrde aufstellen, die im Namen der Gesamtheit sprechen darf, und auch befugt ist, gegen den, der sich nicht fgen will, unter Umstnden gewisse Maßregeln zu ergreifen. Nur wer solche Autoritt besitzt, vermag gewissen Stzen den Stempel der Rechtglubigkeit aufzudrcken und sich und seine Anhnger als orthodox zu bezeichnen. Hier gilt es, daß wer die Macht hat, auch die Wahrheit hat. So waren im alten jdischen Staat bald die Sadduzer und bald die Phariser die Rechtglubigen, je nachdem die eine oder die andere Partei am Ruder war. In ihrer vollen Konsequenz zeigte sich diese Dogmenbildung bei den christlichen Sekten, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung mit den Waffen die Gltigkeit und Richtigkeit einer Glaubenslehre entschieden, und dann spter, nach der Reformation, als das Prinzip aufgestellt wurde, daß der Landesherr auch der Glaubensherr sei. Wie die Zerstrung des zweiten Tempels die Israeliten zwang, endgltig den Schritt vom Opfer zum Gebet zu machen, so bewahrte sie die gleichzeitige Vernichtung der politischen Selbstndigkeit vor einer Dogmatik. Gewisse Anstze zu einer solchen sind zwar schon bemerkbar; man stimmte damals darber ab, ob der Optimismus oder der Pessimismus der Wahrheit entspreche; man stellte Artikel auf, deren Leugnung die ewige Seligkeit verwirkte, wobei man sich freilich mit der alten Ansicht im Widerspruch befand, daß auch edle Mnner anderen Bekenntnisses, die doch an fast alle jene Punkte nicht glaubten, des Heils im Jenseits teilhaftig wrden. Allein es blieb bei solchen Anfngen; die geschichtliche Entwicklung verhinderte den weiteren Ausbau. Im Mittelalter hat dann der eine und der andere Religionsphilosoph den Lehrinhalt des Judentums in eine Anzahl von Stzen festzulegen versucht, aber die Dogmen konnten diese nicht werden, weil eben die hierzu ntige Autoritt fehlte. Fr unsere Religion ist es ein Vorteil, daß sich die Verhltnisse so gestalteten. Sie erhielt sich hierdurch Jugendfrische und Beweglichkeit. Der Bewußtseinsinhalt und die Anschauungsweise zweier Generationen gleicht sich nie, und je hher die Menschen stehen, desto weniger. Kaum je wird das Sinnen und Erkennen eines Geschlechts so beschaffen sein, wie das des vorhergehenden. »Die Zeiten ndern 29

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sich, und wir ndern uns in ihnen.« Zumal vom religisen Denken gilt dies, weil es, wie nichts anderes, in der innersten Individualitt wurzelt. Jede Epoche soll sich ber das, was sie glaubt und hofft, klar zu werden suchen; aber die Form, in welche sie dies kleidet, fr allgemein und ewig verbindlich erklren, das heißt den Nachkommen die eigene Auffassungsweise aufdrngen. Derartiges fhrt nur dazu, daß sich zwischen Glauben und Wissen eine allmhlich immer tiefere Kluft ffnet. Wenn wir heute die Werke eines unserer großen mittelalterlichen Religionsphilosophen lesen, so finden wir dort vieles, was auch fr uns seine Bedeutung noch keineswegs verloren hat, aber auch manches, was uns vllig fremd geworden ist. Wren nun irgend einmal seine Ideen als verbindliche Dogmen erklrt worden, deren Anerkennung allein zum Juden mache, so stnden heute viele unserer Glaubensgenossen vor einem unseligen Zwiespalt zwischen Bekenntnis und Erkenntnis, hnlich wie es gegenwrtig in protestantischen Kreisen der Fall ist. Andrerseits ist es fr manche, die geneigt sind, auf dem Erworbenen auszuruhen, nur ein Anreiz zu trger Selbstzufriedenheit, wenn ihnen ihr religiser Besitz genau verbrieft und versiegelt bergeben wird. Die Religion bleibt vor dem Erstarren und dem Versteinern nur dann bewahrt, wenn jede Generation sie sich von neuem erringen muß, dadurch, daß sie fr das berkommene die moderne Form zu finden sucht. So allein wird die Glaubenslehre immer wieder zur Glaubenswahrheit. Im Talmud ist dies ausdrcklich hervorgehoben; es wird gesagt, daß ein jeder sich daran machen msse, »die Thora zu lernen«, denn sie sei kein Erbteil, das in den Schoß falle. 1 Benjamin Franklin erzhlt in der Lebensbeschreibung etwas hnliches einer Sekte, die den Namen »Tunker« fhrte. ber sie waren die merkwrdigsten Gerchte verbreitet; man bezichtigte sie der sonderbarsten Dinge. Beim Zusammentreffen mit einem ihrer Fhrer forderte Franklin diesen auf, den Verleumdungen dadurch den Boden zu entziehen, daß er die Glaubensartikel der Sekte und die Regeln ihrer geistlichen Zucht verffentliche. Der Mann erwiderte, daß ein solcher Vorschlag auch schon im Kreise seiner Genossen gemacht, aber nicht angenommen worden sei, und zwar aus folgendem Grunde: »Als wir uns zuerst als Religionsgesellschaft zusammenschlossen,« sagte er, »da hatte es Gott beliebt, unseren Geist so weit zu erleuchten, um uns einsehen zu lassen, daß einige Lehren, welche wir frher fr Wahrheit gehalten hatten, Irrtmer, und daß andere, die wir fr Irrtmer angesehen hatten, wirkliche Wahrhei1. Sprche der Vter 2,12.

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ten waren. Von Zeit zu Zeit hat es dem Herrn gefallen, uns weitere Erleuchtung zu gewhren, unsere Grundstze vervollkommneten und unsere Irrtmer verminderten sich. Nun sind wir aber nicht gewiß, daß wir schon am Ende dieses Voranschreitens und an der Vollkommenheit geistlichen oder theologischen Wissens angekommen sind. Wir frchten vielmehr, daß, wenn wir unser Glaubensbekenntnis drucken ließen, wir uns durch dasselbe gleichsam gebunden und eingeschrnkt fhlen und vielleicht abgeneigt werden wrden, eine weitere Vervollkommnung anzunehmen, und daß es unseren Nachkommen in noch weit strkerem Maße so gehen wrde, weil sie annehmen wrden, daß, was wir ltermnner und Grnder getan haben, etwas Geheiligtes sei, wovon niemals abgewichen werden drfte.« Ich fhre diese schlichte Rede, von der uns Franklin berichtet, unverkrzt an, weil sie in trefflichster Weise das zum Ausdruck bringt, was auch im Judentum stets wirksam blieb. Sie entspricht auch dem Geist der Bibel, denn in der ganzen heiligen Schrift kommt, worauf Mendelssohn 1 aufmerksam gemacht hat, ein »du sollst glauben« nicht vor. Jeder hat die Freiheit, das Wort Gottes nach eigenem besten Wissen und Verstehen aufzufassen und auszulegen, aus ihm zu schpfen, wonach er drstet, mgen auch frhere Zeiten nach anderen verlangt und deshalb auch anderes in ihm gefunden haben. Die heilige Schrift darf uns nicht nur nie ein veraltetes, sondern nicht einmal ein altes Werk werden. In der Periode der Aufklrung sah man darin, daß sich so viele verschiedene, ja entgegengesetzte Bekenntnisse auf ein Buch beriefen, ein Zeugnis dafr, daß es unklar und daher ungttlich sei. Wir hingegen erkennen hierin vielmehr einen Beweis fr seine ewige Wahrheit; es ist ja auch dieselbe Rede, welche die heilige Schrift an den Knaben, den Jngling und den Greis richtet, und doch hrt jeder etwas anderes. Die Spuren hiervon treten im talmudischen Schrifttum deutlich hervor; es gibt wenige religise Ansichten, mgen sie einander noch so sehr widersprechen, fr die sich aus ihm nicht Autoritren beibringen ließen. Der Begriff »jdische Religion« schließt so im Grunde nichts weiter ein als die berzeugung, daß die Lehre vom einig einzigen Gott mit allen ihren Konsequenzen, wie sie im Schoße des Judentums gehegt wurde, die wahre Religion sei. Die Idee einer besonderen Auf1. Moses Mendelssohn (1729-1786). Jdischer Philosoph der Aufklrung und Bibelbersetzer, frderte die Akkulturation der Juden in Deutschland. Mendelssohn hatte bereits argumentiert, daß das Judentum, anders als das Christentum, keine Dogmen enthalte, die im Gegensatz zur Vernunft stnden.

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gabe und Mission, welche der jdischen Gemeinschaft obliegt, ist darin ohne weiteres enthalten, denn an eine Wahrheit glauben, heißt zugleich auch an die Auserwhltheit und Bestimmung aller ihrer Anhnger glauben. Dies ist so im kleinsten, wie im grßten, beim Wagnerianer – si parva licet componere magnis 1 – nicht minder wie beim Israeliten. Jeder Erkennende und Erleuchtete ist ein Auserwhlter. Fr alle weitere Ausgestaltung, die sich mit dieser Grundlage vertrgt, ist innerhalb des Judentums Raum. Das Gegebene, das Offenbarte bleibt; aber in dem Gegebenen entdeckt jede Epoche etwas anderes, diese vielleicht mehr, jene weniger. Es sind ja auch nicht immer dieselben Bestandteile der religisen Lehre, die zu jeder Zeit gerade im Vordergrunde der Beachtung und Wertschtzung stehen. Das Judentum ist insoferne eine dogmenlose Religion und deshalb die Religion. Keine Partei innerhalb desselben hat daher das Recht, sich als orthodox zu bezeichnen; denn wo es keine Dogmen gibt, gibt es auch keine Orthodoxie. Was verschiedene Gruppen innerhalb des Judentums scheidet, liegt nicht im Glauben, sondern in der Art und Weise der Gottesverehrung, in der Ceremonie. Eine religise Ceremonie ist jede Handlung, welche einen religisen Gedanken ausprgt und zu sinnflligem Ausdruck bringt; sie hat also, im Gegensatz zum eigentlichen religisen Pflichtgebot, ihren Zweck außer sich. Die Beobachtung der Speisegesetze ist z. B. die bung einer Ceremonie, durch die uns die Idee der Heiligung – d. h. nach der Grundbedeutung des entsprechenden hebrischen Wortes der Absonderung – dargestellt werden soll. 2 Das ganz Eigenartige an den Ceremonialgesetzen des Judentums besteht darin, daß sie sich nicht auf den kirchlichen Gottesdienst beschrnken, sondern auch das ganze profane Leben in ihren Kreis ziehen, es rituell 3 zu gestalten und so zu einem Gottesdienste zu machen suchen. Um die Art und den Umfang, in dem alles dies noch fr unsere Tage ntig oder zweckdienlich ist, bewegt sich vor allem der Streit der Parteien. Die gewhnlich »orthodox« genannte Richtung bezeichnen wir daher richtiger als die ceremonientreuere. 1. Lat.: »Wenn es erlaubt sei, ein Kleines mit einem Großen zu vergleichen«. 2. Das hebrische Wort »Keduscha« bedeutet zugleich Heiligung und Absonderung. 3. Anmerkung Baecks: Als Ritus bezeichnet man in der katholischen Kirche die Gesamtheit aller Ceremonien, die miteinander ein Ganzes bilden; man spricht also vom Messeritus, Taufritus, usw. Wir verstehen unter Ritus die bliche Ordnung des Cultus; wir haben z. B. einen portugiesischen oder einen polnischen Ritus. »Rituell« wird in einem weiteren Sinn gebraucht, es bedeutet: »dem Ceremonialgesetze entsprechend«.

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Wir knnten sie auch »traditionstreu« oder »konservativ« betiteln, weil sie, wenn auch nicht in dem Umfange, wie sie gern behauptet, das Beispiel der Vorfahren auf ihrer Seite hat. Aber eben nur das Beispiel, kein Dogma. Der Schulchan-Aruch 1 ist keine Dogmenanschauung, ebensowenig wie der Talmud. Wir kennen keinen heiligen Joseph Karo, ebensowenig wie einen Sankt Abaja oder Sankt Rabba. 2 Der heilige Geist ruht nicht bloß auf einer Generation. Der Name »orthodox« fr eine bestimmte Partei im Judentum ist chukath hagoj, das heißt etwas Nichtjdisches oder besser Unjdisches. Mit dem Gesagten soll aber nicht etwa Bestrebungen das Wort geredet sein, die unsere alten Bruche gnzlich verbannt wissen wollen. Die Religion kommt in der Wirklichkeit nur als geschichtliche Religion vor, die durch die Jahrhunderte hindurch weitervererbt wird. Als reine Seele kann sie, weil zu wenig faßbar, nicht berliefert werden, sie muß in einer gewissen Verkrperung und Versinnbildlichung den Menschen nahe treten. Eine sogenannte natrliche Religion existiert nur in Systemen, nicht aber im Leben. Diesen Zweck erfllen die symbolischen Ceremonien, sie sind die Sprache, in welcher religise Gedanken zum Ausdruck gelangen. Aber sie mssen auch in der Tat zu uns sprechen, uns etwas sagen, dies ist der Maßstab fr ihre Beurteilung. Eine gottesdienstliche bung, die fr uns nichts mehr bedeutet, ist nicht religis, sondern ceremonis; wer sie nie vernachlssigt, ist noch kein frommer, sondern bloß ein ceremonieller Mensch. Freilich wird dies bei den verschiedenen Menschen verschieden sein. Der eine hat grßere Fhigkeit fr symbolische Gottesverehrung und ein tieferes Bedrfnis nach ihr als der andere, was bei ihm religis ist, ist bei jenem schon ceremonis und umgekehrt. Feste Normen fr dieses Gebiet aufzustellen, drfte heute schwer sein. Bemerkt sei, daß auch die sthetische Wirkung nicht außer Acht zu lassen ist. Wir haben aber unter unseren gottesdienstlichen Handlungen auch solche, die der genannten Anforderung kaum gengen, und die wir dennoch nicht wrden missen wollen. Sie sind fr die meisten rein ceremonis und doch ganz und garnicht vom bel. Es gibt auf allen Gebieten menschlichen Lebens gewisse Dinge, die von den Vorfahren berkommen sind, ber deren Sinn und Bedeutung wenige sich Gedanken machen, und noch wenigere unterrichtet sind,

1. Jdischer Gesetzeskodex verfaßt in Safed (Palstina) von Joseph Karo (14881575). 2. Abaja und Rabba waren jdische Gelehrte aus dem Zeitalter des Talmuds.

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und trotzdem bt sie jeder gern, weil sie zur Volkssitte geworden sind. Sie ragen aus der Vorzeit in die Gegenwart hinber und bilden so die Verbindung mit den Altvtern. Sie schlingen ein einigendes Band um die Gesamtheit; ein jedes Volk und berhaupt jede Gemeinschaft, vor allem die religise besitzt sie und muß sie besitzen. Man hat garnicht zu fragen, ob sie eine wertvolle Idee zum Ausdruck bringen, das Alter allein adelt sie schon. Es ist bezeichnend, daß in der deutschen Sprache das Wort »ehrwrdig« – d. h. der Ehre wert – fast mit dem Wort »alt« identisch ist. Der Respekt vor dem Alter ist der menschlichen Natur angeboren. Whrend der franzsischen Revolution wurde aus dem Jura ein Mann von 120 Jahren mit einer Gesandtschaft nach Paris geschickt. Als er in die Nationalversammlung trat, erhoben sich alle in spontaner Regung von ihren Sitzen, um dem Alter ihre Verehrung zu bezeugen. Der Greis, ein geborener Leibeigener, hatte nie in seinem Leben etwas getan, was besonderen Respekt abgentigt htte, seinen Jahren allein erwies man die Ehrerbietung … Wer der Religion die alten Sitten – ich mchte dieselben die institutionellen Ceremonien nennen – raubt, nimmt ihr einen guten Teil ihrer Ehrwrdigkeit. Diese zwei Arten der Ceremonien, die oft miteinander verwechselt werden, sind wohl voneinander zu scheiden. Bei der ersteren ist es unbedingt ntig, daß sie religise Gedanken in uns errege; sonst ist sie nicht bloß wertlos, sondern wird sogar leicht schdlich, insofern sie den Menschen zu dem Glauben bringt, er habe mit ihrer bung einer religisen Pflicht Genge getan. Fr die zweite ist dies dagegen kein absolutes Erfordernis, ihre Bedeutung liegt in erster Reihe auf anderem, man mchte sagen, auf politischem Gebiet. Es wre daher z. B. kein Argument gegen die Beschneidung, wenn einer sagte, daß sie ihm keinen religisen Gedanken versinnbildliche. Selbst wenn dies der Fall wre, so behielte sie doch ihre ungeschmlerte Bedeutung, weil sie – von ihrem Charakter als biblisches Gebot ganz abgesehen, denn es sind ja auch noch andere biblische Gebote außer Kraft getreten – zu einer jdischen Institution geworden ist, die den unentbehrlichen Zusammenhang zwischen den Gliedern der Gemeinschaft herstellen hilft. Die Notwendigkeit jeder einzelnen Ceremonie der ersteren Gattung muß und darf jeder fr sich, vor dem Richterstuhl seines Gewissens, entscheiden. Hierbei gilt die eine Einschrnkung, daß alles hierher zu Stellende, was zum ffentlichen Gottesdienst gehrt, der Entscheidung der Gemeinde unterliegt, der sich jeder, der am ffentlichen Gottesdienst teilnehmen will, zu fgen hat. Hier darf es kein Diskutieren darber geben, ob etwas fr unsere Zeit noch passend sei oder nicht, sondern darauf kommt es 34

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Zur Rabbinerausbildung

an, festzustellen, ob etwas sich als allgemeine jdische Sitte dartut und im Gemeinschaftsbewußtsein noch seine Wurzel hat. Jdische Chronik 3 (1896/97): S. 237-243. Wiederabdruck in Leo Baeck-Heft. Hg. Jdisches Lehrhaus Zrich, Sept. 1959. S. 13-19.

* Zur Rabbinerausbildung Was den Vorschlag betrifft, daß eine besondere Kommission gewhlt werden soll, um denjenigen, die bei ihr das Examen als Rabbiner ablegen wollen, die Gelegenheit zu bieten, so sind dagegen von Herrn Dr. Auerbach 1 gewichtige Grnde geltend gemacht worden. Es sind ja dazu die drei Seminare 2 da, bei denen kann man jederzeit das Examen ablegen. Es hat sich schon seit einiger Zeit eine hbsche Sitte herausgebildet, daß die jungen Leute von einem Seminar zum anderen gehen. Es wre gut, wenn die jungen Leute aus der Lehranstalt einmal zum Hildesheimer’schen Seminar 3 gingen. Weshalb soll der Mensch nur eine Richtung haben? (Große Heiterkeit) – Sie mssen mich, bitte ausreden lassen, meine Herren! – Ich meine, ein Mensch soll nicht bloß eine Richtung haben in der Methode, in der er sich unterrichten lßt. Das wre ein Wunsch, den der Rabbiner-Verband aussprechen sollte, daß hier die Anstalten sich entgegenkommen sollten. Es wird sich dann eine gegenseitige Duldung unter den verschiedenen Richtungen herausbilden. Ich sehe es wirklich nicht ein, weshalb nicht jemand zwei Jahre in der Lehranstalt oder im Hildesheimer’schen Seminar und zwei Jahre in Breslau sein sollte. Das wrde nachher alle die Bedenken, die vom Referenten vorgebracht worden sind, unntig machen. Er wird es dann gar nicht ntig haben, sich an eine andere Kommission zu wenden. Verhandlungen und Beschlsse der Generalversammlung des Rabbiner-Verbandes in Deutschland. Berlin, 1898. S. 61.

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1. Selig Avi’ezri Auerbach (1840-1901). Orthodoxer Rabbiner in Halberstadt. 2. Das Rabbiner-Seminar fr das orthodoxe Judentum in Berlin, das [konservative] Jdisch-Theologische Seminar in Breslau und die [liberale] Hochschule (Lehranstalt) fr die Wissenschaft des Judentums in Berlin. 3. D. h. zu dem von Esriel Hildesheimer gegrndeten Rabbiner-Seminar.

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Religion des Volkes und Religion des Individuums Es ist das Geheimnis grosser Naturen, dass sie scheinbar Unvereinbares in sich vereinen. Die schnsten Lehren der Moralredner, dass gewisse Eigenschaften einander ausschliessen, werden durch diese Ungesetzmssigkeit berragender Persnlichkeiten zu nichte gemacht. Je hher der Mensch aufsteigt, desto mehr stellt sein Wesen eine eigene Kategorie dar, nach der allein es beurteilt und in die allein es eingeordnet werden kann. Auch in seelischer Hinsicht schafft die Differenzierung Neues, zwar keine neuen Arten, aber neue Individuen. Jeder grosse Mann ntigt zur Aufstellung einer neuen Psychologie; er bringt etwas, was vorher unbekannt war, zur Wissenschaft von der menschlichen Seele herzu. Es ist deshalb oft ein falscher Vorwurf, der dem Dichter gemacht wird, dass es nicht denkbar sei, wie ein Held von solcher Art pltzlich aus so ganz anderem Wesen heraus handeln knne. Die Wirklichkeit ist romanhafter als der wundersamste Roman. Und nicht nur der Gegensatz wertvoller Eigenschaften kann in derselben Seele zur Einheit der Persnlichkeit zusammengeschlossen sein; auch das Niedrigste und das Hchste wohnen in ihr leicht nebeneinander. Vom Erhabenen zum Lcherlichen ist bloss deshalb nur ein Schritt, weil beides so oft in demselben Menschen beisammen ist. Fr die Heldenverehrung ist es freilich ein arges Ding, dass bei grossen Mnnern die eine Hlfte ihres Wesens und Lebens uns zwingt, die andere, die schlechte, mit in den Kauf zu nehmen. Liebe und Hass malen gern nur mit einer Farbe; Liebe und Hass wollen glauben, und glauben kann man nur an die einheitlichen Charaktere, an die ganz guten und an die ganz bsen. Fr den Geschichtsglauben giebt es nur Lmmer und Bcke, nur Wohlthter und Unholde. Zumal wenn die Jahrhunderte ein Bild weit zurckgerckt haben, stellt diese Betrachtung sich ein. Denn mit geistigen Grssen verhlt es sich umgekehrt, wie mit den krperlichen: je weiter sie von uns entfernt sind, desto grsser erscheinen sie uns, so gross, dass nur noch die scharfen Umrisse dem unbewaffneten Auge sichtbar sind. Es ist gegenber diesem Glauben die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, in dem anscheinend so Einfachen das Rtsel zu finden. Sie soll im Grossen auch das Kleine und im Kleinen das Grosse, das Schlechte im Guten und das Gute im Bsen aufweisen, um aus Gttern und Teufeln Menschen zu gestalten, die einst ber die Erde dahingegangen waren, und das Geheimnis ihres widerspruchsreichen Wesens zu erklren. Mit der Psyche der Gesamtheit verhlt es sich ebenso wie mit der 36

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des Einzelnen; Grosses und Kleines wohnen hier friedlich und vertrglich neben einander. Und in hellerem Lichte knnen wir hier den Gegensatz sehen. Was bei der Seele des Individuums nur durch Betrachtung des ererbten und erworbenen seelischen Besitzes sich drftig erklren lsst, kann hier zu deutlicherer Erkenntnis gebracht werden. Zumal bei den geschichtlichen Religionen, deren Entwicklung vor unserer Beobachtung daliegt, knnen wir das Zusammentreffen und die Vereinigung der Gegenstze uns vor den Blick fhren, und gerade die Religionen bergen ja das Kleinste neben dem Erhabensten in sich. Wie konnte dieser ungleiche Bund zwischen so verschiedenen Elementen geschlossen werden? In einem krzlich erschienenen Buche 1 ist diese Frage fr ein Entwicklungsstadium einer Religion, fr das talmudische Judentum, beantwortet worden, aber die Antwort hat fr alle Glaubensrichtungen ihre Geltung. Der Talmud stellt die Psyche eines halben Jahrtausends dar; er ist kein Buch, sondern eine Litteratur, die geistige Welt einer ganzen Epoche. Es ist schon deshalb selbstverstndlich, dass er die buntesten Bestandteile enthlt in jeder seiner Schichten, von der primren bis zur tertiren. Wir sehen in ihm das Hchste und Erhabenste; die Religion kann nicht mehr verinnerlicht, die Ethik nicht mehr gelutert werden als es im Talmud geschieht. In geschichtlichem Betracht ist es besonders zweierlei, was ihn hoch stellt. Er erklrt das Judentum nicht fr die alleinseligmachende Religion, sondern spricht den Frommen jedes Glaubens die ewige Seligkeit und damit die sittliche Ebenbrtigkeit zu, und sodann erkennt er nur die sittlichen Handlungen als »gute Tathen« an, durch die man »den Willen Gottes thut.« Aber wir sehen im Talmud auch das Kleinste und Kleinlichste. Quisquilien der Sabbatvorschriften, der Reinheitsgesetze und aller Ceremonialsatzungen werden mit der peinlichsten Sorgfalt dargestellt und mit einer Bedeutsamkeit des Tons vorgetragen, als ob sie von unentbehrlicher Wichtigkeit wren. Wie kommt in der Psyche, aus der dieses Werk hervorgegangen ist, dieses Kleine neben dieses Erhabene? Stern 2 giebt darauf die Antwort: das eine ist die Religion des Individuums, das andere die Religion des Volkes. Jede Glaubensgemeinschaft, so fhrt Stern aus, ist eine ecclesia militans, sie kmpft den Kampf ums Dasein. Die Religion wird ein Mittel im struggle for life, den die Gesamtheit zu bestehen hat. »Fr 1. Anmerkung Baecks: Dr. Simon Stern: Der Kampf des Rabbiners gegen den Talmud im XVII. Jahrhundert. Vorher geht: Religion des Individuums und Religion des Volkes. Breslau: Schlesische Verlagsanstalt, 1902. 2. Dr. Simon Stern (1856-1930). Rabbiner in Saaz und Redakteur der Jdischen Chronik.

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den Einzelnen ist die Religion die Erfllung der Sehnsucht, aus der Alltglichkeit herauszukommen, die Stillung seines metaphysischen Bedrfnisses, die Weisheit, die alle Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Zweck des Daseins beantwortet, das Mittel, den ehernen Naturmechanismus, von dem man umklammert ist, zu durchbrechen, um von dem erbarmungslosen Gesetze von Ursache und Wirkung nicht ewig abhngig zu sein.« Fr die Gesamtheit »ist die Religion ein Mittel sich behaupten und stehen bleiben zu knnen, indem ihre Vorschriften die Glieder enger an einander knpfen und dadurch widerstandsfhiger machen.« Das ist der Grund, weshalb die unzhligen Satzungen entstanden sind; sie waren fr die Gesamtheit von Vorteil. Und darum fhrt der Einzelne, der gegen Vorschriften und Glaubensstze ankmpft, weil sie seiner Vernunft widersprechen, zumeist einen vergeblichen Streit, denn sie sind nicht um des Einzelnen willen da, sondern wegen des Wertes, den sie fr die Fortdauer und die Solidaritt des grossen Ganzen besitzen. Das Individuum will durch die Religion ber die Alltglichkeit erhoben und von allem Leid erlst sein; deshalb bilden fr ihn, wofern er es ernst meint, die Sittengesetze und die religisen Grundgedanken den wichtigeren Teil der Religion. Fr die Erhaltung der Gesamtheit haben gerade die entgegengesetzten Elemente, die usseren Formen des Glaubens und des Gottesdienstes, die grssere Bedeutung, weil sie einen Schutz gegen ussere, auflsende Einflsse bilden. Ja im Kampf ums Dasein muss die Gemeinschaft aus Rcksicht auf ihr Wohl und Gedeihen oft auf Anschauungen beharren, die dem Individuum im Fortschritt der Erkenntnis immer unannehmbarer werden, und auf die Erfllung von Vorschriften dringen, die mit der Entwicklung des sozialen Lebens das Individuum in immer drkkendere Fesseln einengen. Dazu kommt, dass so manche Satzung, selbst wenn ihr Motiv im Laufe der Zeit fortgefallen ist, doch kraft des Gesetzes der Beharrung bleibt und in Folge der steten bung zu einem Bestandteile des religisen Inventars wird. Man muss an das alte Wort denken: senatores boni viri, senatus mala bestia. 1 Dem Einzelnen ist seine Gottesfurcht, seine Demut und sein frommes Vertrauen, Schutz und Schirm; der religisen Gesamtheit als solcher ist die ussere Form des Glaubens ihr Panzer und Schild. Das ist der Grund, weshalb neben dem Erhabenen und Grossen so viel Kleines und Kleinliches sich im Talmud findet: jenes war die Religion des Individuums, dieses gehrte zur Religion der Gesamtheit. Die vielen 1. Lat.: »Die [rmischen] Senatoren sind gute Mnner, der [rmische] Senat ist eine schlimme Bestie«.

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Vorschriften der Ceremonialsatzungen waren das Produkt des Volkswillens und des Volksgeistes, der, bewusst und unbewusst, den Kampf ums Dasein kmpfte. Beides konnte sehr wohl in der Volkspsyche neben einander existieren. Diese Erklrung, die Stern nur auf das talmudische Judentum anwendet, gilt ebenso sehr – und das ist der beste Beweis fr ihre Richtigkeit – fr jede andere Erscheinungsform der Religion und der religisen Gemeinschaft. Was fr das Judentum, welches bekanntlich keine eigentlichen Dogmen besitzt, die alles umfassende und berflutende Ceremonialsatzung ist, das ist fr das Christentum die Dogmatik. Diese ist die Religion der Gesamtheit als solcher, das Band der Solidaritt, das Mittel fr die constante Fortdauer der Gemeinschaft geworden. Deshalb waren es meist stumpfe Waffen, die der Einzelne gegen das Dogma fhrte; es hat trotz aller Gewissensnot so mancher seiner Bekenner die Jahrhunderte berdauert. Es ist kein absichtsloser Zufall, dass zur Zeit, als der Katholizismus durch das Wanken der weltlichen Macht des Papstthums in eine Krise zu treten schien, durch das Vatikanische Konzil das Dogma neu stabilisiert wurde, als Schild im Kampfe um die Erhaltung. Und ebenso wenig ist es ein Zufall, dass in der protestantischen Kirche noch heut das alte Apostolikum das offizielle Glaubensbekenntnis ist, trotz allen Anfechtungen, die es von Gliedern der Gemeinschaft erfahren hat. Wenn man fragt, wie z. B. im Katholizismus die innige Herzensfrmmigkeit, wie ein Franz von Assisi, ein Thomas a Kempis sie gepflegt hat, neben und in den Kammern der Dogmatik bestehen konnte, so ist auch hierauf die Antwort die, dass das eine die Religion der Gesamtheit, das andere die des Individuums ist. Stern fhrt seine These fr das ganze Gebiet des talmudischen Religionsgesetzes durch; sein Buch ist die beste Einleitung in dieses alte Wunderwerk. In der zweiten Hlfte seiner Schrift wird die Doppelnatur des Talmuds ad hominem demonstriert durch eine Schilderung von dem Leben und Denken des Leon da Modena, 1 des heftigsten Gegners, der dem Talmud aus dem Kreise derer, die ihn lehrten, entstanden ist. Das Problem der talmudischen Psyche tritt in der problematischen Natur des Rabbi von Venedig, des Zeitgenossen des Uriel Akosta, 2 klar vor uns hin – auch dieses ein Beweis da-

1. Leon da Modena; auch Leon Modena (1571-1648). Rabbiner und populrer Prediger in Venedig. Stern, wie einige andere Historiker, glaubte, daß Modena der Verfasser des anti-talmudischen Werkes Kol sakhal war. 2. Uriel Akosta; auch Acosta (1585-1640). Berhmter Heretiker in der jdischen Amsterdamer Gemeinde.

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fr, dass alles Eigenartige und Grosse rtselhaft ist; wre es nicht rtselhaft, dann wre es nicht eigenartig. Handschrift. Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Signatur: CJA,1, 75D Ba 1, Nr. 18, #13241, Bl. 1. Als Baeck diesen Text verfaßte, hatte er die Schreibweise seines Familiennamens noch nicht gendert. Soweit uns bekannt, nicht vorherig verffentlicht.

* Das Kleine und das Grosse Je hher der Mensch aufgestiegen ist, desto weniger passt er in die bestimmten Linien und Umrisse hinein, in denen jede Zeit gern ein fr allemal die Grenzen seelischer Art, die Gebiete des Vereinbaren und Unvereinbaren festlegen mchte. Jede grosse historische Gestalt stellt eine eigene Kategorie dar. Sie bringt etwas Besonderes, etwas, was bis dahin unbekannt war, zur Wissenschaft von der menschlichen Seele herzu. Sie ist anders als alle die brigen. Aber das wird leicht vergessen; grosse Erscheinungen werden oft von der Kritik in die methodischen Regeln der Gegenwart hineingezwngt. Dann gehen sie natrlich verkrmmt, verkrzt und verschroben aus diesem Prokrustesbett hervor. Ganz besonders die Beurteilung des Judentums hat hufig unter den Zwangsbestimmungen seelischer Einheitlichkeit und geschichtlicher Gesetzmssigkeit leiden mssen. Unsere wissenschaftliche Terminologie ist zu einem wesentlichen Teil durch die christliche Scholastik und die an sie sich anschliessende Logik gestaltet worden. Mancher Fachbegriff ist ganz eigentlich auf die abendlndische Geschichte, ihre Ereignisse, ihre Grenzen und ihre Ziele zugeschnitten. Er passt auf dieses bestimmte Kulturgebiet allein und kann Beziehungen und Verhltnisse, die auf anderen Voraussetzungen beruhen, nur unvollkommen decken. Um ein Beispiel anzufhren: die disparaten, sich kreuzenden Begriffe der Nationalitt und der Glaubensgemeinschaft, als der beiden wichtigsten Formen grossen geistigen Zusammenhanges, sind aus dem Leben der europischen Vlker abgeleitet und passen, streng genommen, bloss hierauf. Nichtsdestoweniger wird hufig ohne weiteres auch fr die israelitische Gesamtheit die bekannte Frage aufgestellt: Nationalitt oder Glaubensgemeinschaft? Es wird ganz ausser acht gelassen, dass das Judentum eine Kategorie fr sich bildet, etwas sui generis ist, etwas, worauf sich die einer ganz anderen Entwicklung entnom40

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Das Kleine und das Grosse

menen Begriffe von Nationalitt und Glaubensgemeinschaft gar nicht anwenden lassen. Das Judentum ist eine besondere Art fr sich und findet darum unter jenem Entweder-Oder keinen Platz. Und ebenso verhlt es sich mit den Fragen, ob der Glaube Israels Volksoder Weltreligion, Gesetzes- oder Glaubensreligion gewesen sei u. dergl. mehr. Was sich in der Psyche manches Gelehrten unserer Tage nicht vertragen zu wollen scheint, konnte sich in der, vielleicht grsseren, Seele eines Propheten, eines Psalmisten oder eines der Weisen Israels sehr wohl vereinen. Innerhalb des Judentums wiederum ist es seit langem vor allem der Talmud, der von seinen Gegnern nicht in dieser Sonderart begriffen wird. Er ist, ganz wie die Bibel, eine Welt fr sich – nicht nur ein Buch neben anderen, sondern ein ganzer, bestimmter Literaturzweig. Es ist wahr, er bietet dem Denken und Auffassen, das durch das allgemeine Schrifttum der Gegenwart erzogen ist, mancherlei Schwierigkeiten; es ist nicht leicht, sich in ihn so hineinzudenken, dass man mit ihm denkt. Er enthlt in jeder seiner Schichten, von den primren bis zu den tertiren hin, die grssten Gegenstze. Wir sehen in ihm das Hchste und Erhabenste: die Religion kann nicht mehr verinnerlicht, die Ethik nicht mehr gelutert werden, als es hier geschieht. Aber unmittelbar daneben steht das Kleinste und Kleinlichste: Quisquilien der Sabbatvorschriften, der Reinheitsgesetze und der sonstigen sogenannten Zeremonialsatzungen werden nicht nur, was ja selbstverstndlich ist, mit peinlichster Sorgfalt dargestellt, sondern auch, was das Bezeichnende ist, mit der gleichen Bedeutsamkeit des Tones vorgetragen, wie jene tiefsten Fragen des Menschenlebens. Und alles, das eine wie das andere, wird aus der Bibel herausgelesen, und auch sie wird so zum Buche vom Erhabenen wie zum Buche vom Kleinlichen. Oder um es ad hominem zu zeigen: Ein Mann, wie Rabbi Akiba, 1 dessen ganzes Leben dem Judentum geweiht war, der fr die Befreiung des jdischen Volkes gewirkt und gekmpft hat, war doch mit ganz demselben Eifer und demselben Ernst bemht, »die Hkchen und Tpfel der Thora« zu ergrnden. Er war freilich ein Lehrer der Thora und tat es um dessentwillen, aber er tat es mit dem ehrfurchtsvollen Bewusstsein, damit ebenso fr sein Volk und seine Religion zu arbeiten, wie damit, dass er den Weg des Messias bereiten half oder in den Tod fr seine berzeugung ging. Um das zu begreifen, ist es erforderlich, sich das Verhltnis Israels 1. Akiba ben Josef (um 50-135). Palstinensischer Gesetzeslehrer und Mrtyrer whrend der hadrianischen Verfolgungen.

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zu der heidnischen Welt, die es umgab, klar zu machen. Man kann sich den Gegensatz, oder genauer gesagt, die sittliche Kluft zwischen Judentum und Heidentum gar nicht schroff genug denken. Um sie in ihrer ganzen Tiefe zu schildern, mssten die Sittengeschichte Griechenlands und Roms und die Kulturgeschichte der asiatischen Vlker ausgemalt werden. Fr das Denken der Heiden hatte man im Judentum volle Anerkennung; man gestand ihnen nicht nur das Suchen nach Wahrheit, sondern auch einen gewissen Besitz derselben zu und pries angesichts ihrer Weisen Gott dafr, dass »er von seiner Weisheit den Menschen mitgeteilt hat«. Aber geschieden, weit geschieden wusste man sich im Lebenswandel, in ethischer Hinsicht. Es war damals unter den Juden tiefinnerste Empfindung, in einer anderen, reineren Atmosphre zu leben; man war, aus aufrichtigem Herzen heraus, Gott dafr dankbar, wie ein altes Wort es sagt, dass »man zu denen gehrte, deren Weg nach den Gotteshusern und Lehrhusern fhrte, nicht nach den Sttten der Gladiatorenkmpfe und der Unzucht«. Wohl am lautesten und deutlichsten spricht hier, dass die berschrift der Sittlichkeitsgebote, der Reinheits- und Keuschheitssatzungen, welche lautet: »ihr sollt heilig sein!«, 1 in dem alten Midrasch wiedergegeben ist mit den Worten: »ihr sollt euch absondern!« Wenn man hrte: »ehre Vater und Mutter! liebe deinen Nchsten! bet Gerechtigkeit! haltet das Haus heilig!« – immer klang es aus diesen Geboten als ein klarer Unterton hervor: »ihr sollt anders sein als die Heiden!« Als die grossen Lehrer Gamliel, Josua, Eleasar und Akiba in Rom waren, wo sie, wie der alte Bericht es erzhlt, es staunend mit ansahen, dass die Marmorsulen, die toten Steine im Winter bekleidet wurden, um sie gegen Schnee und Frost zu schtzen, und daneben arme Menschen frieren und verkommen konnten – musste ihnen nicht alles das gleichsam wieder zurufen: seid anders, euch ist eine andere Welt gegeben! 2 Und diese ganze Eigenart Israels hatte ihren idealen und doch gewissermassen sichtbaren Ausdruck in der Existenz der Bibel. Die heilige Schrift war durch das israelitische Volk geworden, und das israelitische Volk war durch sie geworden. Wenn sie aufgerollt wurde, da erneuerte sich gleichsam, wie damals gesagt wurde, die Offenbarung vom Sinai, die Auserwhlung Israels. In der Tat, in ihr machte sich die israelitische Welt kund gegenber der heidnischen Welt. 1. Lev 19,2. 2. Die Geschichte erscheint zuerst im Midrasch, Bereschit Rabba 33,1, als eine homiletische Interpretation des Psalmenverses 36,7. Unser Dank geht an Richard S. Sarason fr diesen Verweis.

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Musste da nicht dieses Buch, das solches zum Ausdruck brachte, so gross, so gewaltig und wundersam erscheinen, dass jedes noch so unbedeutende Wort in ihm zu reden anfing, dass selbst »die Hkchen und Tpfel der Thora« zu sprechen schienen! Auch das Kleinste musste so seine Bedeutung erhalten, wenn es zur Thora gehren sollte, wenn es ein Steinchen in der Mauer zu sein vermochte, durch die das Judentum gegenber dem Heidentum erhalten werden sollte. Das Kleine konnte und durfte jetzt neben dem Grossen stehen, die minutise Sabbatvorschrift neben den Geboten der Gerechtigkeit und der Liebe. Und auch seine Weihe hatte das Kleine; denn es gehrte ja hinein in die Welt der Bibel, in die Welt des Judentums, auch in ihm lebte das Grosse. Das erst gibt den rechten Massstab fr die Wrdigung der so reichen und so widerspruchsvollen Literatur, die den Namen Talmud fhrt. Sie hat ihre ganz bestimmte, sicher ausgeprgte Individualitt, und darum steht ber allen Widersprchen die Harmonie. Auch die »Hkchen und Tpfel der Thora« gehren in sie hinein: sie gehren so sehr in sie hinein, dass sie im Mittelalter, als die jdische Religionsphilosophie seine neue Welt in der Bibel entdeckte, wiederum und in neuen Tnen zu sprechen begannen. Fremdartig und rtselhaft will uns heut so manches von alledem erscheinen, aber alles Eigenartige ist schliesslich so. Wre es nicht geheimnisvoll, dann wre es nicht von eigener Art. Ost und West. Illustrierte Monatsschrift fr modernes Judentum 5 (Sept. 1905): S. 529-532.

* Gemeindeleben Es ist schon oft hervorgehoben worden, wie viel fr die Kultur und das Geistesleben in Deutschland die kleine Stadt bedeutet. Ihr entstammen fast alle die Fhrer und Vorkmpfer des Volkes, die Mnner der Wissenschaft wie die Mnner der Umsicht und Tatkraft. Die große Stadt zieht sie an sich, aber der kleine Ort hat sie erzeugt. Immer und berall gewinnt der deutsche Genius, nach einem Worte Wilhelm Raabes, 1 ein gut Teil seiner Kraft aus »dem Philisterium«, d. h. aus der begrenzten, engeren Sttte. 1. Wilhelm Raabe (1831-1910). Deutscher Schriftsteller und einer der bedeutendsten Vertreter des poetischen Realismus.

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Vom Leben der deutschen Juden kann ein hnliches gesagt werden. Es hat seine strksten Wurzeln und seinen festen Rckhalt in den kleineren Gemeinden. Das gilt nicht bloß in dem rein ußerlichen Sinne, daß die kleinen Gemeinden fr die große der Mutterboden sind, der ihr immer neuen Zuwachs hinsendet, daß die Mnner der großen Gemeinde zum betrchtlichen Teil die Kinder der kleinen sind. Noch weit mehr trifft es in einer viel wesentlicheren Hinsicht zu. Die kleineren Gemeinden sind nmlich die eigentlichen Sitze des Gemeindelebens, der allgemeinen Teilnahme am Judentum. Das Leben lehrt es allenthalben, daß, je enger ein Kreis ist, desto wichtiger darin die Stellung des einzelnen ist, sowohl tatschlich, als auch seinem Empfinden, seinem Selbstbewußtsein nach. Denn je begrenzter die Gemeinschaft ist, ein um so volleres Maß an Opferwilligkeit ist zu ihrer Erhaltung ntig, um so gewichtigere Anforderungen mssen an einem jeden in ihr gestellt werden. Die Familie verlangt beispielsweise Tugenden, die der Staat nicht zu beanspruchen braucht. Und mit den Pflichten, die obliegen, nimmt das Gefhl zu, etwas zu bedeuten, ein Glied der Gesamtheit zu sein. In der kleineren Stadt merkt und empfindet der Brger, daß er Brger ist und in der kleinen und mittleren Gemeinde weiß jeder, daß er zur Gemeinde gehrt. Jeder wird notwendig hier herangezogen; der, welcher sich abseits stellt, hat die mehr oder minder peinliche Gewißheit davon, und ebenso haben sie die anderen alle, die ihm gegenberstehen: er kann nur mit Absicht abseits sein, nicht aber, weil er vergißt oder vergessen wird. Hier gibt es daher ein umfassendes und bewußtes Gemeindeleben, die Leistungen der Gesamtheit sind das Ergebnis der vereinten Krfte. Die Geschichte des Judentums in Deutschland weiß viel von der Kleingemeinderei, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, zu erzhlen. Die Abneigung gegen die allzu große Zentralisation war allgemein, man liebte es, Gemeinden in der Gemeinde zu schaffen; jede Zunft, jede Berufsgenossenschaft bildete gern eine besondere religise Vereinigung. Oft mag die Eigenbrdelei dabei mitgespielt haben, aber im Grunde war es sein ungesunder Zug, dieser Zug zum Kleingemeindeleben. Nicht zu verkennen ist es, wie sehr auch die Liebe zur Gemeinde damit zusammenhngt. Es ist echt menschlich, daß mit der Grße der Opfer, die man bringt, die Treue und Hingebung zunimmt. Das hat seine ideale Seite; den Eltern sind z. B. ihre Sorgenkinder in der Regel am innigsten ans Herz gewachsen. Es hat aber auch seine recht nchterne Seite: die meisten halten nur das hoch, was Anforderungen an sie stellt, oder prosaisch gesprochen, was sie etwas ko44

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stet. Die kleinere Gemeinde liegt jedem ihrer Mitglieder schon deshalb an der Seele, weil er seine Zugehrigkeit zu ihr an seinem Beutel sprt. Die große Gemeinde bedeutet den meisten ihrer Angehrigen nicht genug, weil sie von ihnen auch in materieller Hinsicht zu wenig fordert. Das mag recht naturalistisch klingen, aber es ist, wie gesagt, ein echt menschlicher Zug, der sich darin ausspricht und der darum nicht außer Betracht zu lassen ist. Je grßer die Gemeinde ist, desto weniger wird in ihr jeder Einzelne beansprucht, ein großer Teil der vorhandenen Krfte wird nicht gebraucht und ist also, der Wirkung nach, berflssig. Und es ist ein Daseinsgesetz bei jedem Organismus, daß das Einzelleben, das nicht gebraucht wird, schließlich aufhrt, an dem Gesamtleben des Organismus teilzunehmen und endlich abstirbt. Die Gleichgltigkeit des Indifferentismus vieler, mit seiner Folge, dem Abfall, ist eine notwendige Begleiterscheinung des allzu großen Wachstums der Gemeinde. Ein eigentliches Gemeindeleben kann sich hier nicht entwickeln; eine Gemeinde von vielleicht 50 000 Seelen ist im Grunde ein Widerspruch in sich, eine contradictio in adjecto, wenn anders jener Name eine Vereinigung bezeichnet, in der sich prinzipiell die religise Einwirkung auf jedes ihrer Glieder erstrecken soll. Man kann die zentralisierten Großgemeinden mit den Latifundien vergleichen; alle die Nachteile, die diesen eigen sind, finden sich in gewissem Sinne auch hier. Die nchterne, bestimmte Zahl tut es am augenflligsten dar, wo sich die Leistungskraft offenbart. Man braucht nur einmal, etwa aufgrund des statistischen Jahrbuches des D.I.G.B., 1 das Verhltnis der Aufwendungen zusammenzustellen, die in den Gemeinden weiten und engeren Umfangs fr die allgemeinen Zwecke gemacht werden; es kommen Zahlen heraus, die zu denken geben, und vor denen die großen Summen, mit denen die Budgets der Großgemeinde blenden, alsbald sehr viel von ihrem Glanze verlieren. Und dieser Vergleich wird noch beweiskrftiger und packender, wenn man auch gewissermaßen das Schwereverhltnis in Betracht zieht, die Besitztmer nmlich, die materielle Potenz hier und dort abwgt. Ein deutliches Bild gewinnt man schon, wenn man etwa die Mitgliederzahlen prft in den gemeinntzigen Vereinigungen, die sich ber ganz Deutschland erstrecken. Vergleicht man beispielsweise die einzelnen Vereine fr jdische Geschichte und Literatur, so ergibt sich: auf 1000 Seelen kommen in den mittleren und kleineren Gemeinden durch1. Deutsch-Israelitischer Gemeindebund; der 1869 gegrndete Verband der jdischen Gemeinden Deutschlands.

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schnittlich ungefhr 80 Mitglieder des Vereins, in Großberlin dagegen kaum neun Mitglieder. Diese Zahlen sprechen deutlich, und sie sind nur ein Fall aus der steten Regel. Den schroffen Gegensatz zu dieser Hypertrophie der Großgemeinde, die zum Indifferentismus vieler fhren muß, bildet die Atrophie der Kleinsten, der winzigen Gemeinden. Wir haben in Preußen eine nicht unbetrchtliche Zahl solcher, die nur acht, zwlf oder zwanzig Familien umfassen; von den grßeren Zentren zu weit entfernt, mssen sie sich selbst zu Gemeinden zusammenschließen. Die Opfer sind hier groß, sehr groß; nicht selten erreichen die ordentlichen Gemeindeabgaben die Hhe von 200 % der Staatssteuer. Jeder Einzelne nimmt es auf sich. Aber alle Opferwilligkeit ist unzureichend, sie ermglicht kaum, und nur in primitiver Form, die unentbehrlichsten Institutionen des Gemeindelebens; dasselbe kann sich nicht entwickeln aus Mangel an Mitteln; alles Mhen erlahmt schließlich, weil es zur Ergebnislosigkeit verdammt ist. Es ist nicht ntig, Einzelbilder zu entwerfen, die trben, schwierigen Verhltnisse sind oft genug geschildert worden. Diese beiden Gegenstze bilden das große Problem der preußischen Judenheit: Einerseits die Frage der Großgemeinden oder wir knnen fast sagen, die Berliner Frage; denn Berlin umfaßt ja mehr als ein Viertel der Juden Preußens. Und andrerseits die Frage der ganz kleinen Gemeinden. Welches die Lsung ist, steht klar vor den Augen aller, die sehen wollen; es ist die materielle Untersttzung und Hebung der ganz kleinen durch die großen und leistungsfhigen, und es ist die Schaffung eines eigentlichen Gemeindelebens in den großen Gemeinden. Das ist das Ziel; den praktischen Weg dahin zu finden, ist die Aufgabe der Berufenen. »Wo ein Wille ist, da findet sich auch ein Weg.« Allgemeine Zeitung des Judentums. 6. Okt. 1905. S. 471-472.

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Ansprache fr einen Barmitzva den 11. August 1906 – bsp vbu 5666 – Yjela efej Ykjlfe tua Ytde lk va vtkgf Deuteron. 8,2. »Gedenke des ganzen Weges, den der Ewige, dein Gott, dich fhrt«. »Gedenke des Weges, welchen der Ewige dich fhrt!«, so spricht der heutige Tag zu dir, und in diesen Worten der Schrift ist alles inbegriffen, wofr er dir gesandt ist, alles was ihn zum Tage der Feier fr dich macht. Gedenke deines Lebensweges, blicke zurck in die Zeit, die hinter dir liegt! Nur wenige Jahre umfaßt sie, nur kurz ist die Strecke, die du bisher zurckgelegt hast. Kurz und doch so reich! Kannst du ermessen, was alles sie umschließt! Kannst du ermessen, wie viel Liebe und Treue in dein Leben hineingelegt ward, wie viel dir geschenkt worden, was wohl so manchem vorenthalten bleibt! Und wenn du das erwgst, was so dein Leben enthlt, mußt du dir nicht sagen, daß dein Dasein doch schon zu bedeutungsvoll ist, als daß es auf drrem, ertraglosem Pfade verlaufen sollte, daß es zu wertvoll ist, als daß es mit Geringerem sich begngen drfte? Mußt du dich nicht fr zu gut halten, als daß du ein gewhnlicher, ein nur ganz alltglicher Mensch werden solltest? Es ist eine Gefahr fr die Entwicklung des Lebens, wenn einer sich unterschtzt, wenn er es gering nimmt mit sich selber. Du darfst dich nicht mit dem begngen, was gerade ntig ist; aufwrts sollst du immer den Blick richten, empor zu der Hhe der Pflicht, zu der Flle der Aufgaben. Nur das Notwendige leisten, das heißt schon zu wenig tun; nur das ben, was leicht ist, das heißt bereits mßig sein. Mit dir darfst du nie vllig zufrieden sein, du darfst nicht gengsam sein in der Erfllung der Pflicht. Nicht nur dieses oder jenes Gebot, sondern das Gebot, das ganze Gebot wird von dir verlangt. Ein ganzer Mensch zu sein, sollst du darum streben. Nur so wirst du deinem Leben einen Inhalt und eine Bedeutung geben, welche wert ist all der Gte, auf der es sich aufbaut. Und wie ein ganzer Mensch, so sollst du ein ganzer Jude zu sein trachten. Auch in den Pflichten gegen die Religion und gegen die Glaubensgemeinschaft darfst du es nicht gering mit dir nehmen, nicht bald von dir selbst zufriedengestellt sein. »Gedenke des Weges, den Gott dich fhrt«. Den Weg Gottes sollst du gehen. Dein Leben wird dich an so vielen knstlichen Brunnen vorbeifhren, aus denen die Menschen mhsam den kargen, schalen Trank fr ihre Ehr47

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furcht, fr ihre Eitelkeit, fr ihr Verlangen nach Genssen herausschpfen. Vergiß nicht, daß du in der Religion den Quell lebendigen Wassers besitzt! In vieler Menschen Tren wirst du in deinem Leben eintreten. Vergiß nicht, daß die Tr des Gotteshauses dir immer offen steht, daß du auch hier heimisch sein kannst, hier die seelische Stille und das Verstndnis fr dich selber zu finden vermagst, die im Getriebe des Tages nur zu oft dem Menschen abhanden kommen. Hier wirst du immer von neuem an diesen Tag gemahnt sein und durch ihn die Bedeutung deines Lebens begreifen. »Gedenke des Weges, den Gott dich fhrt«, darin ist alles beschlossen. Gedenke dessen, damit du ein ganzer und gerader Mensch, ein ganzer und gerader Israelit seiest. So spricht der heutige Tag zu dir, und so kndet es auch das Bibelwort, welches du dir zur Mahnung fr deinen Lebensweg bestimmt hast: »Yjvjfs jk jnftrj tujf wv Geradheit und Redlichkeit werden mich behten, denn ich hoffe auf dich, o Gott!« 1 Geradheit und Redlichkeit werden in diesem Worte von dir verlangt, und sie bezeichnen nichts anderes, als du soeben vernahmst. Du bist gerade, wenn du das Bewußtsein in dir tragen darfst, daß du durch dich selbst etwas bedeutest, daß du wert bist des Lebensweges, den Gott dich gehen lßt. Und die Redlichkeit, sie ist mehr, als im Alltglichen dieses Wort bedeutet; sie ist die Treue gegen die Pflicht, die nicht mkelt und feilscht und von ihrer Schuldigkeit nichts abzieht. Redlich ist nicht der schon, der sich vom Unrechten fern hlt, sondern erst der, welcher seine ganze Pflicht erfllt. Wenn du diese beiden Tugenden dein eigen nennst, dann wirst du, wie dein Bibelspruch es sagt, behtet sein in allem, was du beginnst, behtet in deinem Vorwrtskommen und Weiterschreiten. Denn du sollst nicht bloß darauf blikken, was du erreichst, sondern ebenso sehr, auf welchem Wege du es erlangst. Auf rechtem Pfade zum rechten Ziel heißt Gott dich gehen. Das ist »der Weg, den Gott dich fhrt«. Gebet und Priestersegen. Ansprache zu Eric Kassels Barmitzva in Oppeln. Handschrift. American Jewish Archives, Cincinnati, M.C. Nr. 637.

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1. Ps 25,21.

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Abschiedspredigt in Oppeln am 1. Oktober 1907 Meine andchtigen Zuhrer! Wie Moses von den Kindern Israels Abschied nimmt, erzhlt uns der Thoraabschnitt unseres Festes, 1 und diese Stze gewinnen heute fr uns einen besonderen Ton. Immer von neuem richtet der Prophet seine mahnende Rede an das Volk. Es ist, wie wenn die Sorge um die Zukunft, der Wunsch fr die Zeit vorzuarbeiten, wo er nicht mehr da sein werde, ihn nicht ruhen lasse, ihn stets von neuem aufriefe, damit er im letzten Augenblick ein letztes Wort noch an die Seelen lege, ein Wort, das vielleicht doch noch bewirke, was alle die Reden vorher nicht bewirkt, und sich erhalte und nachklnge in manchem Herzen. Es ist der Glaube an die Macht des Wortes, die aus Moses herausspricht, die Zuversicht, daß das Wort, wie er sagt, ein Zeuge bleiben knne, der in bedeutungsvollen Stunden dem Menschen zur Seite tritt. Ob das nicht aber der Glaube ist, den man gern einen frommen Glauben nennt, fromm, weil er fr diese Welt zu gut, der tatschlichen Begrenztheit menschlichen Tuns allzu fremd zu sein scheint? Wie viel wird doch ernst und aufrichtig gesprochen, wie viele gute Lehren werden verkndigt und gehrt – mßte nicht die Welt schon vollkommen sein, wenn Worte wirken knnten! Wenn Rede, treue, rechtschaffene Rede die Bande der Sorge und des Elends htte lsen knnen, wren dann nicht jeder Jammer und jede Klage auf Erden schon verklungen, entschwunden wie eine Sage aus vergangener Zeit! Aber dennoch drfen wir von der Bedeutung der Rede nicht gering denken. Es dringen doch mehr Worte in uns ein, und sie dringen tiefer ein, als wir selber oft glauben. Wir erkennen es, wenn sie eines Tages erwachen und aus der Tiefe des Gewissens oder aus dem Innersten des Gemtes wieder emporsteigen. So sehr wir sie auch entschwunden gemeint und oft auch sie zu vergessen uns bemht, eines Tages beginnt es doch, erst zu tnen und anzuklingen, und dann lauter und lauter zu sprechen, als ein Zeuge, wie es Moses sagt, als ein Zeuge entschwundener Stunden des Ernstes und der Weihe, als ein Zeuge fr uns oder wider uns. Wie oft erneuert sich nicht ein Trost, wie oft lebt nicht eine Mahnung wieder auf. Wie oft gedenken wir nicht manch eines Satzes, der sich im Gotteshause an uns ge-

1. Simchat Tora, an dem der letzte und der erste Toraabschnitt zusammen gelesen werden.

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wendet hatte, und wir begreifen dann wohl, daß auch uns, den Kindern der Gegenwart, das Gotteswort etwas bedeuten kann. Um das zu sein, um zu uns zu gelangen, hierzu muß dasselbe von Zeit zu Zeit verkndet werden. Unsere Religion kennt freilich nicht den Unterschied zwischen Priestern und Laien, sie gewhrt niemandem eine hhere Stellung im Gotteshaus. Stufen fhren zur Kanzel hinauf, doch sie sind nur Stufen von Holz oder Stein, sie fhren nicht ber die Gemeinde empor. Auch der, welcher von diesem Platze aus das Wort an die Gemeinde richtet, bleibt nur ein Glied der Gemeinde. Es ist das Ideal unserer Religion, daß, mit dem Propheten zu sprechen, die ganze Gemeinde aus Gottesgelehrten bestnde, jeder sein eigener Lehrer der Religion werde und sich selbst das Gotteswort verknde. Aber bis diese verheißenen Tage gekommen, muß, wie ja in manch anderem auch, das, was alle sein sollten, noch durch ein besonderes Amt ersetzt werden, durch das Amt dessen, der das Gotteswort verkndet. Es ist die notwendige Teilung der Arbeit, die dieses Gebot stellt. Auch die Arbeit fr die Religion kann gefrdert werden, nur wenn ihr jemand seine ganze Kraft, den ganzen Beruf seines Lebens weiht, sein Wirken darin findet, ihre Lehren zu gewinnen und darzubieten, so daß die anderen sie nur zu empfangen brauchen. Aber diese Teilung, diese Bildung eines Berufes und Amtes bringt auch ihre großen Gefahren mit sich. Wie oft scheint es nicht, als glaube mancher in der Gemeinde, daß fr die Religion bereits gengend gesorgt sei, wenn es einen gebe, der ihren Aufgaben und Lehren seine Tage widmet. Das Amt des einen nehme allen den anderen ihre Pflichten ab, die Pflicht, Stunden der Gottesruhe und der Weihe zu haben, die Aufgabe, fr das Leben hhere Maßstbe zu finden, die Pflicht, dem Ernst des Daseins immer wieder ins Antlitz zu schauen. Braucht es diesem Irrtum gegenber erst gesagt zu werden, daß der, welcher das Amt im Gotteshause bekleidet, nur anregen und hinweisen, aber nichts ersetzen oder abnehmen kann, daß das religise Ideal die Arbeit aller fordert! Kommt so zu der Gemeinde leicht von der Tatsache des Amtes die Gefahr, so nicht minder zu dem, der das Gotteswort verkndet. Wie leicht kann er der berhebung anheimfallen, da er von einem hheren Platze aus und gleichsam in hherem Tone redet, da niemand ihm widerspricht, seiner Anklage oder seiner Verteidigung kein Urteil anderer den Anschluß gibt. Scheint nicht schon darin, daß die Rede, die er an die versammelte Gemeinde richtet, als die Verkndigung des Gotteswortes bezeichnet wird, eine Anmaßung zu liegen? Ist es nicht in der Tat anspruchsvoll, dasjenige so zu benennen, was 50

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doch immer, so hoch es auch aufwrts strebt, nur eine enge menschliche Rede ist, – menschliche Worte, die zudem wissen, daß gerade das Tiefste, was einer empfindet, das Heiligste, was ihm an die Seele gewachsen, kurz: das Eigenste der Persnlichkeit, das so gern sich offenbaren mchte, in kein Wort gefaßt, durch keine Rede wiedergegeben werden kann. Wer knnte es ernst mit sich nehmen, ohne dies pochenden Herzens immer wieder an sich zu erfahren, ohne, zumal bei einem Rckblick, schmerzvoll zu begreifen, wie tief die Kluft zwischen dem Sollen und dem Knnen, zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit ist! Und dennoch sollte der, welcher zu der Gemeinde spricht, es stets sich vorhalten, daß er das Gotteswort verknden soll, denn diese Bezeichnung Gotteswort, sie will in Wirklichkeit nur das Ziel, nur die Hhe der Aufgabe hervorheben. Nichts Menschliches, das liegt darin, soll an seiner Rede sein, das will sagen: nichts von jener menschlichen Eitelkeit und Selbstliebe, von jener kleinlichen Eigenschtelei und Selbstgeflligkeit, die nicht an die Sache, sondern bloß an Personen denkt und darum anstatt der Religion bloß dem eigenen kleinlichen Ich dient. Nur, wo ein rechtschaffenes Denken sich in redlichen Worten auszusprechen strebt, wo eine ehrliche berzeugung, streng gegen sich selbst, nach ihrem Ausdrucke ringt, wo die seelische Art waltet, die unsere Weisen als die Ehrfurcht vor der Gemeinde bezeichneten, nur dort wird das Gotteswort verkndet. Dort allein kann auch dem Wort ein bleibender Erfolg beschieden sein. Ob er wohl auch von diesem Hause ausgegangen? Diese Stunde des Abschieds begleiten Zweifel und Bedenken, begleitet das Bewußtsein, daß das Leisten so weit hinter dem Wollen zurckbleibt und daß, wenn dennoch manches Wort hier in die Seele gedrungen, es deshalb geschehen ist, weil die Seelen sich ffneten, weil die Herzen so bereit waren, zu empfangen und aufzunehmen. So ringt denn vor allem die Empfindung der Dankbarkeit gegen die Gemeinde in dieser Stunde nach ihrem Ausdruck. Meine Andchtigen, in dem Jahrzehnt der Wirksamkeit, das nun seinen Abschluß findet, ist von diesem Platze aus das Wort »Ich« nie gesprochen worden, denn der, welcher hier spricht, soll sein Ich vergessen, und nur das vor Augen haben, um dessentwillen er spricht. Aber in einer Stunde, wo die Pflicht der Dankbarkeit das Wort sucht, der Dankbarkeit, die doch nur von Person zu Person sich aussprechen kann, da darf und soll das Ich auch hervortreten. Ich nehme heut mit innigem Danke Abschied von dieser Gemeinde, in der ich, von immer herzlicherem Wohlwollen begleitet, mit Empfnglichkeit gehrt, in Glck und in Befriedigung mein Amt 51

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fhren konnte. Ich nehme Abschied von dem Gotteshause, dem ich einst das Wort der Weihe sprechen durfte, das mir mein Gotteshaus geworden ist. Ich nehme Abschied von der heranwachsenden Jugend, der mein Mhen und Streben gegolten hat, und die mir meine Jugend gewesen. Ich nehme Abschied von dem Erbe, das meine Vorgnger mir bereitet, zumal der Mann, der fast ein halbes Jahrhundert hier gearbeitet und gewirkt und der Gemeinde ihren Charakter gegeben. 1 Lehrend habe ich hier gelernt und reicher an seelischen Erfahrungen und seelischen Besitztmern, als ich gekommen, scheide ich von hier. Die Person, sie darf und sie kann vergessen werden, denn sie bedeutet nichts gegenber der Sache. Der Einzelne muß zurcktreten hinter der Pflicht, die sich fortsetzt von Geschlecht zu Geschlecht. Der, welcher die Religion verkndet, mag der Erinnerung entschwinden, wenn nur das, was er verkndet, die Treue gegen den Glauben, in die Seelen sich eingepflanzt hat. Ja, die Person, sie soll vergessen werden, damit die Sache um so mehr in den Herzen lebe. Menschen kommen und gehen, aber die Pflicht bleibt, die Pflicht, die die Antwort gibt auf alle Fragen und Zweifel des Lebens. Sie ist das Feststehende und das Gewisse in dem Wechsel der Tage und der Verhltnisse. Wenn die Treue gegen sie, und damit die freudige, bereitwillige Treue gegen unsere Religion in den Herzen von alt und jung lebendig ist, dann ist das Wort, das in diesem Hause und zu dieser Gemeinde gesprochen worden, zum Segen und zum Heile geworden! Amen. Abschieds-Predigt des Herrn Rabbiner Dr. Leo Bck. Gehalten in der Synagoge zu Oppeln am 1. Oktober 1907. Gedruckt ohne Angabe des Ortes.

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1. Adolph Wiener (1812-1895) war von 1853 bis 1895 Gemeinderabbiner in Oppeln. Sein Nachfolger von 1895 bis Anfang 1897 war Hermann Vogelstein (1870-1942), von dem Baeck sein Amt bernahm.

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Aphorismen

Die Lebensphilosophie des Menschen hlt so lange vor, bis er selber einmal in die Lage kommt, sie brauchen zu sollen. Wenn die Menschen in einen sauren Apfel beissen mssen, reden sie sich schliesslich ein, er sei eigentlich sss. Es giebt einen Ausgleich zwischen Verstand und Herz: wenn man das Gute thun fr die grsste Klugheit hlt. Menschliches Thun ist ersetzlich, menschliche Persnlichkeit ist unersetzlich. Manch einer begrbt sich selbst: mit seinen Hoffnungen und Illusionen trgt er immer wieder ein Stck von sich selbst zu Grabe. Wenn es keine Feigenbltter gbe, wrde die Nacktheit nicht als nackt gelten. Bei manchen grossen Mnnern zwingt uns der eine Teil ihres Lebens, den anderen mit in den Kauf zu nehmen. Auf sittlichem Gebiete soll jeder ein Genie sein. Die lngste und vornehmste Ahnenreihe hat der Mann der Kunst und der Wissenschaft. Der Tor versteht alles, der Weise begreift alles. Den Toren ist alles klar, den Weisen wird alles klar. Gemt: das, was der Mensch ist; Charakter: das, was der Mensch wird. Gemt muss man haben, Charakter muss man erwerben. Der Verstand macht alt, das Herz macht jung. Gott suchen heisst: Gutes wollen; Gott finden heisst: Gutes thun. Was wir unseren Eltern schulden, ohne es ihnen erstatten zu knnen, das zahlen wir unseren Kindern ab. Was uns die Vorfahren gewesen, sind wir unseren Nachkommen; was die Vergangenheit von 53

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uns zu fordern hat, geben wir der Zukunft. Dies ist das feste sittliche Band, welches die Generationen verknpft. Die Liebe ist kein Besitztum, das wir geniessen knnen, sondern eine Aufgabe, die wir treu erfllen sollen. Die Menschen sind nie undankbarer als im Augenblicke des Verlustes: sie vergessen ganz, dass sie dasselbe, was sie verlieren, doch auch besessen hatten. Es giebt nur ein wirklich folgenschweres Ereignis in unserem Leben, und das ist unsere Geburt. Jedes Lebensalter des Menschen lebt in seiner eigenen Welt. Eine Welt und darin eine Flle von Leben, das ist die Natur. Ein Leben und darin viele Welten, das ist der Mensch. Es ist viel leichter, lange Zeit traurig zu sein, als lange Zeit lustig. Was den Menschen mit der Erde verknpft, sind nur seine Wnsche. Wer alle seine Wnsche oder keinen seiner Wnsche erfllt she, der htte sich berlebt. Die verschiedenen Jahrhunderte lernen immer Neues und wollen immer anderes, aber sie fhlen immer dasselbe. Was alles uns treffen wird, bleibt uns verborgen; wie alles uns treffen wird, darber knnen wir uns klar werden. Der Blick in unsere Zukunft, das ist der Blick in unser Herz. Bildung ist nicht Wissen, sondern besttigtes Interesse fr Wissen. Um ein Buch zu besitzen, muss man es verstehen. Wer reden kann, ist sicherlich kein Redner. Der schlimmste Zwang ist der, dass jemandem etwas solange eingeredet wird, bis er es schliesslich selber glaubt. Eine halbe Wahrheit ist schlimmer als eine Unwahrheit, halbes Wissen ist schlimmer als Unwissenheit.

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Aphorismen

Nicht so sehr darauf, wie reagiert wird, kommt es an, als vielmehr darauf, dass reagiert wird. Jeder hat seinen Beruf verfehlt, der seine Pflicht nicht mit Freude thun kann. Um achten zu knnen, muss man auch verachten knnen. Um andere achten zu knnen, muss man sich selbst achten drfen. Die Selbsterkenntnis ist der erste Segen der Tugend und der letzte Fluch des Lasters. Gesinnungslosigkeit ist geistige Heimatlosigkeit. Es giebt keine grssere Anmassung, als die, dass wir von einem verlangen, wir sollen ihm gleichgltig sein. Auch am Ende ihres geistigen Horizontes fngt fr viele der Himmel an. Unsere Lebensgrundstze sind die nachtrgliche Entschuldigung fr unsere Lebensweise. Es ist gar nicht so leicht, bescheiden zu sein; man muss schon etwas sein und etwas geleistet haben, um bescheiden sein zu knnen. Es ist das trbste Leichenbegngnis, wenn wir dem Charakter eines Menschen das letzte Geleite geben. Duldung ist ein Almosen. Es ist die Frage, ob nicht ein dummer Mensch durch einen Klugen noch mehr gelangweilt wird, als der Kluge durch ihn. Beim Zweifel stehen bleiben, heisst: das Scheidewasser hher schtzen als das Gold. Jeder Glaube muss paradox sein; fr das Klare und selbst fr das Wahrscheinliche braucht man kein Glauben.

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Wahre Unschuld ist der Schirm der Tugend, gemachte Unschuld ist der Fcher der Eitelkeit. Der Einsiedler gebraucht das Heilmittel als Lebensmittel. Eigentum ist materielles Kapital, Eigentmlichkeit ist ideelles Kapital. Mit geistigen Grssen verhlt es sich umgekehrt, wie mit den Krperlichen: je weiter sie von uns entfernt sind, desto grsser erscheinen sie uns. Sich bescheiden mit dem, was einem beschieden, ist Bescheidenheit; sich bescheiden mit dem, was einem nicht beschieden, ist Faulheit. In einem wird der anthropozentrische Standpunkt immer bleiben: im Betenden; wer betet, sieht sich fr den Mittelpunkt der Welt an. Wir halten es schon fr eine arge Ungerechtigkeit gegen uns, wenn jemand anderer Ansicht ist als wir. Lorbeeren sind bekanntlich kein Nahrungsmittel. Versprechungen sind wie Spielkarten, die nur dann einen Wert haben, wenn ein anstndiger Mensch sie ausgiebt. Aphorismen sind zurckgelegte Zinsen des Gedankenbesitzes. Fast jeder Mensch trgt seinen Januskopf; der Gegenstze fhig zu sein, ist die Vorbedingung der Individualitt. Die ganz gleichfrmigen, ebenmssigen Wesen existieren meist nur in den Wnschen und Vorurteilen von Liebe und Hass; denn Liebe und Hass wollen glauben, und glauben kann man nur an die einheitlichen Charaktere, an die ganz guten und an die ganz bsen. Die Erkenntnis sieht in jeder Seele das Rtsel der Persnlichkeit, das durch ein Schlagwort der Parteien sich nicht lsen lsst. Undatierte Handschrift. Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. CJA, 1, 750 Ba1, Nr. 25, # 13248.

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Dsseldorf

Die Reformbewegung innerhalb des deutschen Judentums befand sich, obwohl sie an Anhngern gewann, seit Mitte des 19. Jahrhunderts im intellektuellen Verfall. Zwar hatte sie ihre Botschaft vorgebracht, jedoch schienen ihre Energien damit erschpft. Um die Jahrhundertwende aber erfuhr das liberale Judentum eine Neubelebung, die durch die Grndung von Vereinigungen liberaler Rabbiner und liberaler Laien gekennzeichnet war. Einer ihrer fhrenden Rabbiner, Caesar Seligmann aus Frankfurt a. M., grndete 1908 eine neue intellektuelle Zeitschrift fr die Bewegung, die sich besonders an die »kultivierte, aber nicht gelehrte ffentlichkeit« richtete, und die sich mit zeitgenssischen, jdischen Anliegen auseinandersetzte. Die Zeitschrift erhielt den Namen Liberales Judentum. Ein Jahr zuvor war Baeck von Oppeln im Osten nach Dsseldorf im Westen gezogen, wo er fnf Jahre bleiben sollte. Whrend dieser Zeit schrieb Baeck regelmßig fr Seligmanns neue Zeitschrift, die zum bedeutendsten Forum fr die Schriften seiner Dsseldorfer Jahre wurde. Baecks Beitrge im Liberalen Judentum, die den Hauptteil dieses Kapitels ausmachen, konzentrieren sich darauf, die Unterschiede zwischen Judentum und Christentum, insbesondere dem Protestantismus, herauszustellen. Die Artikel wenden sich an gebildete Juden, von denen sich viele darber unsicher waren, wo die Grenzen zwischen Judentum und Christentum lgen. Sie sind darauf ausgerichtet, die Leser zu berzeugen, daß die zwei Religionen nicht essentiell dieselben seien, und daß das Judentum besonders die Person anziehe, fr die der moralische Bestandteil in der Religion eine zentrale Rolle spiele. Die Artikel spiegeln eine Situation wieder, in der es wenig bis gar keinen Dialog zwischen jdischen und christlichen Theologen gab, und in der jede Seite Argumente formulierte, die ihren Glauben rechtfertigten, indem sie ihn mit dem anderen kontrastierten. Baecks Beitrge sind apologetische und deutlich polemische Reaktionen auf die Darstellung des Judentums als eine minderwertige, legalistische Form von Religion, wie sie von Seiten der christlichen Historiker und Theologen betrieben wurde. In dieser Hinsicht hneln sie seinen frheren und spteren extensiveren Schriften, jedoch sind seine Argumente hier eher an den durchschnittlichen jdischen Leser als an den Gelehrten gerichtet. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts waren einige deutsche Juden zu der Ansicht gelangt, daß moderne Kultur im wesentlichen einen christlichen Charakter habe, und daß es, um als kultiviert zu gelten, notwendig sei, seinen jdischen Glauben zugunsten des christlichen 57

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aufzugeben. Baeck argumentiert hingegen, daß moderne westliche Kultur, anders als die mittelalterliche, nicht an eine religise Gruppe gebunden sei. Sie sei stattdessen eine gemeinsame Basis fr Juden und Christen gleichermaßen. Baeck begrßte die Tatsache, daß der liberale Protestantismus seine Wurzeln in der Hebrischen Bibel und im frhen rabbinischen Judentum wiederentdeckte, aber er wies zugleich auf wesentliche Unterschiede hin, die zwischen den beiden Religionen bestehen blieben. Unter diesen ist auch der Glaube an die Gttlichkeit Jesu, sowie daß das Christentum von der Historizitt Jesu abhnge, whrend das Judentum, als ein Glaube, der eher auf dem Inhalt einer offenbarten Ethik als einer Inkarnation basiert, gnzlich unabhngig von der Historizitt Moses’ sei. In einem Artikel stellt er den fundamentalen Unterschied zwischen einer Religion, die auf Glauben, und einer, die auf Gerechtigkeit und Gewissen basiert, heraus. In einem anderen macht er den Unterschied zwischen Gnadenreligion und Gesetzesreligion deutlich, wobei er die letztere auf moralische, und nicht auf rituelle Gesetze bezieht. In einem dritten Beitrag richtet er seine Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen einer kirchlichen Religion, in der eine Hierarchie die Autoritt innehat, und einer Religion wie das Judentum, die lediglich aus Gemeinden besteht, in denen die religisen Entscheidungen dem Individuum berlassen sind. Obwohl der Ton dieser Essays berwiegend polemisch ist, ruft Baeck dazu auf, daß Anhnger eines Glaubens nicht nur die eines anderen tolerieren, sondern auch den Inhalt anderer Religionen respektieren sollten. Zwei Essays in diesem Kapitel liegen außerhalb des polemischen/ apologetischen Rahmens. Das eine, ein Lob der »Englischen Frmmigkeit«, zeigt eine Affinitt zwischen den freien Kirchen in England und dem Judentum auf, die darin bestehe, daß beide einen Nonkonformismus gegenber einer Mehrheitsreligion darstellten. Fr Baeck liegt ein Grundbestandteil des Judentums, den er wiederholt in seinem spteren Schriften betont, in seiner Position des Nonkonformismus und des Widerstands gegenber bestehenden Tendenzen in den Gesellschaften, in denen es besteht. Das zweite Essay, das den polemischen Rahmen sprengt, schrieb Baeck fr das Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde Berlin, kurz bevor er in die preußische Hauptstadt zog. Es mag dazu gedient haben, der Gemeinde ihren neuen Rabbiner vorab vorzustellen. Mit dem Titel »Gestern und morgen« ruft es die Juden dazu auf anzuerkennen, daß ihre reiche historische Vergangenheit ihre seelische Heimat sei. Erben einer so bedeutenden Tradition zu sein, habe Konsequenzen: »Vergangenheit bedeutet Verpflichtung«. Fr die Juden Berlins, von denen viele zu den assimiliertesten in Deutschland gehrten, war dieses erste Wort an die Gemeinde eine Aufforderung, sowohl 58

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Christliche Kultur

Menschen die um ihr Gestern wissen als auch Menschen des Heute zu sein. * Christliche Kultur Ein Kapitel aus jener Philosophie, die nur die nachtrgliche Entschuldigung darstellt fr das, was man getan hat, weil man es eben hat tun wollen, ist berschrieben: der Eintritt in die christliche Kultur. Wer vom Judentum fortgeht und ins weitgeffnete Tor der Kirche einzieht, aber es vor sich und vor den Menschen nicht wagen kann, von religisen Grnden dieses Schrittes zu reden, der spricht gern von dem Gebot, seine Zugehrigkeit zur europischen Gemeinschaft der christlichen Kultur ußerlich zu bekunden. Vielleicht beruft er sich dabei auch auf die Wissenschaft, vielleicht auf Mommsen 1 – freilich hierin keinen klassischen Zeugen, da er dazu neigt, religise Fragen als staatsrechtliche zu betrachten, so wie er es von der alten rmischen Religion her gewohnt war. Er hatte es gesagt, und je und je wird es ihm nachgesprochen, daß das Wort Christenheit das einzige Wort sei, das den Charakter der heutigen internationalen Kultur zusammenfasse. Wie steht es hierum? Gab und gibt es eine christliche Kultur? Fr das Mittelalter ist die Frage in gewissem Sinne zu bejahen. Die Kultur, die das Abendland damals besaß, war eine rmisch-katholische, eine geistliche Kultur. Den bekehrten Vlkern wurde die alte Bildung, die lateinische Zivilisation, durch die Kirche gebracht. Man darf das Christliche und berhaupt das Religise darin nicht zu sehr betonen. Ihre umfassendsten Siege hat die Kirche ja durch das errungen, was an ihr, streng genommen, nicht christlich war. Der allgemeine sittliche Stand im Mittelalter war, so sehr es edle, rhrende Einzelerscheinungen gab, ein derartiger, daß die Kirche selbst es abwehren wrde, in ihm das Walten einer christlichen Kultur, im vollen Sinne des Eigenschaftswortes, zu finden. Es war im wesentlichen nur eine kirchliche Gleichfrmigkeit, die die Vlker unter dem Namen der katholischen Christenheit zusammenfaßte. Das Kirchliche war das Einigende und das Beherrschende, so sehr, daß fr die allgemeinen Kultur- und Bildungsfaktoren wenig Raum blieb; die Glaubensfragen drngten alle anderen zurck. In diesem Betracht 1. Theodor Mommsen (1817-1903). Deutscher Historiker mit dem Arbeitsschwerpunkt rmische Antike.

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bietet das Mittelalter das Bild einer christlichen Kultur; es zeigt die europischen Nationen als Kinder der Kirche. Aber schon vor den Tagen seines Ausgangs treten durchaus andere Gestaltungen hervor. Das Drngen nach neuer Bildung und neuem Lebensinhalt, wie es sich damals zu regen begann, war zum wesentlichen Teil ein Kampf fr die weltliche, gegen die kirchliche Kultur. Zwar wurden diese Bestrebungen noch einmal zurckgedrngt, fr lange Zeit, fr volle zwei Jahrhunderte. Es entstehen Kirchen neben der katholischen. Ihnen waren engere Grenzen gezogen, aber in diesen trachteten auch sie danach, die Welt und ihre Kultur kirchlich zu gestalten. Erst dem Jahrhundert der Aufklrung gelang es endgltig, die freie Bahn zu ffnen. Die neue Kultur, die sich nun weiter entwickeln kann, ist nicht nur unkirchlich, sondern zumeist kirchenfeindlich. Die Mnner, die ihre ersten Trger und Frderer waren, haben ihre Gedanken nur im Streit mit den herrschenden religisen Gewalten durchsetzen knnen. Der Weg, den sie dem Fortschritt im geistigen und gesellschaftlichen Leben gewiesen haben, nimmt seine Richtung durchaus unabhngig vom Christentum; er ist bestimmt durch den Gegensatz oder zum mindesten durch die bewußte Gleichgltigkeit gegen die Kirche. Wenn wir die europische Kultur unsrer Tage nach ihrem Anfange und ihrem Wesen zerlegen, so finden wir: sie ist alles, nur nicht christlich. Sie ist geschaffen und herbeigefhrt worden durch die großen Entdeckungen, durch die gesellschaftlichen, staatlichen und wissenschaftlichen Umwlzungen in unseren und der Vter Tagen. Aber dies alles ist, von einzelnen Erscheinungen in der englischen Welt abgesehen, erreicht worden ohne oder gegen die Kirche. Sie stand entweder dabei oder dagegen, und sie hat hchstens die Ergebnisse hier und da sich nutzbar zu machen gesucht. So gehrt die christliche Kultur einer Vergangenheit an; nach ihr verlangen, heißt das Mittelalter zurckbegehren. Nur innerhalb des Klosterbezirkes hat sie heut noch ein Gebiet. Wen der Wunsch, ihr zuzugehren, aus dem Judentum fortdrngt, der muß daher, um sie zu finden, als ehrlicher Mensch durch das Tor treten, hinter dem die Gelbde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit herrschen. Oder etwa, er mßte, falls ihn diese Romantik nicht lockt, den zweiten Weg gehen, der zur christlichen Kultur heute noch hinbringt, den, der nach dem Sdosten unseres Erdteils fhrt, dorthin, wo die interessanten Vlkerschaften streiten und die Konfession allein die nationale und staatliche Zugehrigkeit bezeichnet. Dort ist die Kultur noch im eigentlichen Sinne die kirchliche und die christliche, mag sie nun eine griechische oder eine bulgarische oder armenische 60

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Christliche Kultur

Aufschrift tragen. »Geh’ ins Kloster oder geh’ nach Mazedonien!« so antworten wir darum dem klugen Mann, der von dem Gebote spricht, der christlichen Kulturgemeinschaft sich zuzurechnen. Zum Schluß noch eine prinzipielle Frage: Ist nicht christliche Kultur berhaupt ein widerspruchsvoller Begriff? Die Religion hat es mit der Persnlichkeit, mit der individuellen seelischen Welt zu tun; diese soll durch den bleibenden Inhalt der Religion versittlicht und veredelt werden. Die Kultur dagegen kennt weniger den Einzelmenschen mit seinem besonderen Wnschen und Hoffen als vielmehr das wogende und wechselnde soziale Leben mit seinen allgemeinen staatlichen, geistigen und wirtschaftlichen Interessen, die ihre Frderung heischen. Eine Religion, die die gesamte Kultur eines Landes ergreifen und bestimmen mchte, entfernt sich damit notwendig von ihrer eigensten Aufgabe, dem persnlichen Werte des Menschen immer reiner zu dienen. Sie kommt nur zu bald dazu, das individuelle religise Recht mit seinen Ansprchen hinter andere Zwecke, weltlicher Art, zurckzusetzen, wenn nicht gar es zu erdrcken. Wofr ja z. B. die Zeiten und Lnder, in denen eine christliche Kultur weithin herrschte, den Beweis liefern. Wir geben gern dem Wort von der christlichen Persnlichkeit, von der Frmmigkeit, von dem Familienleben des Christen sein volles Recht, stellen freilich das Ideal, wie es alledem entsprechend, sich im Judentum verwirklicht hat, seines Wertes bewußt davor. Aber das Wort von der christlichen Kultur und ihrer umfassenden Bedeutung weisen wir entschieden zurck, auch deshalb schon, weil wir darin den Widerspruch zu dem innersten Wesen der Religion erblicken. Das Problem der Kultur fragt keinen: wie denkst du deinen Gott? Die Arbeit an ihr steht den Bekennern jedes Glaubens offen, um so mehr, je weniger ein Glauben die Kultur fr sich allein beansprucht. Alle knnen sich hier zusammenfinden, und der Reichtum an mannigfaltiger religiser Eigenart ist dabei nur zum Segen. Je persnlicher einer durch seinen religisen Charakter geworden ist, desto inhaltvoller wird der Anteil sein, den er zu dem Werke der allgemeinen, allen gemeinsamen Kultur herzutrgt. Liberales Judentum 1.13 (1909): S. 311-312.

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Jdische Kultur Das Mittelalter bietet wie das Bild einer christlichen, so das einer jdischen Kultur. Aber der Grund, der die eine und der die andere entstehen ließ, ist ein durchaus verschiedener. Whrend jene aus dem Streben nach Expansion hervorging, daraus, daß die Religion alle Lebensgebiete in den Kreis ihres Einflusses zu ziehen suchte und vermochte, zeigt sich in der jdischen Kultur das Ergebnis einer Begrenzung. In einer Zeit, in der die herrschenden Gewalten den Juden von allem abzusperren sich bemhten, blieb die Religion das einzige Gebiet, wo er souvern sein konnte. Hier nur konnte er seine Persnlichkeit in ihrem Wunsche, sich zu bettigen, ungehemmt entfalten. Nicht jener Drang, den Machtbereich der Religion ber alles auszudehnen, kommt so in der jdischen Kultur zum Ausdruck, sondern der starke seelische Selbsterhaltungstrieb, dort, wo man allein frei sein durfte, sich tief auszuleben, das Eigene, das man hatte, ganz zu durchdringen. Die christliche Kultur war extensiv, und sie hat darin eine eindrucksvolle Weite gewonnen; die jdische Kultur war intensiv, und ihr Bedeutung liegt in ihrer sich selbst gengenden Kraft. Eine religise Energie ist so fr das jdische Leben im Mittelalter bezeichnend. Sie konnte sich um so entschiedener entwickeln, da ihr ein bestimmender Zug des Judentums entgegenkam – des Judentums, nicht der Juden in dem Sinne etwa, wie z. B. Goethe meinte, daß »in ihrem Wesen Energie der Grund von allem sei«. Es ist der israelitischen Religion wesentlich, daß sie den Willen zur Tat, die Treue gegen das Gebot stark betont und ihn zum Merkmal der Frmmigkeit macht. Was als religise Forderung feststeht, wird von allen verlangt, nicht bloß von einzelnen, die darin die anderen vertreten sollen. Die vita religiosa, die religise Kultur soll von allen getragen werden, die lebendige religise Kraft allen zugehren. Noch ein anderes diente damals dieser Energie: die grbelnde Gewissenspein des Mittelalters, die fr das Unglck, das nur zu oft hereinbrach, eine Erklrung suchte und sie, nach der Art der Freunde Hiobs, in Snden fand, die die Vergangenheit belasteten. Diese vermeintlichen Snden sollte dann jeder Tag shnen, immer inniger sollte das persnliche Leben zu jeder Zeit von Handlungen durchdrungen werden, die der religise Gedanke schuf. So war es die alte Auffassung im Judentum, daß die Vershnung und Erlsung auf das stetige Tun des Menschen, auf seine Tatkraft gegrndet wird. Man empfand das als besonderes Eigentum, als Gegensatz zu der Lehre, 62

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Die Umkehr zum Judentum

die in der Erlsung ein bernatrliches Geschehen sucht, dessen Wirkungen geheimnisvoll dem Menschen zu teil werden, – einer Lehre, die leicht dazu kommen kann, den Tatwillen zu beschwichtigen, wie Tolstoi es einmal sagt: »Man tut, was man will – und lßt sich erlsen«. Dies ist so der Charakter jener jdischen Kultur: Sie will es dem Menschen geben, sich in der Religion auszuleben, sie will sein persnliches und husliches Leben mit der Religion bis ins Kleine und bisweilen Kleinliche durchdringen. Das gab sie ganz, aber sie beanspruchte nicht, mehr zu sein. Sie gewhrte darum jeder weltlichen Kultur ihr uneingeschrnktes Recht. Alles, was an neuer Wissenschaft in das Ghetto eindringen konnte, fand dort offenen Sinn und rasche Aufnahme. Das Bezeichnendste ist, wie das kopernikanische System in der Kirche und wie es im Kreise des Judentums empfangen wurde. Auch das wurde als eine Eigentmlichkeit des Judentums, als seine Kultureigenschaft empfunden. In der Polemik gegen das Christentum sprechen jdische Denker des Mittelalters es aus, daß in ihrer Gemeinschaft auch die Kultur, die durch die Wissenschaft gebracht wird, verstndnisvoll anerkannt werde. Darum wurde es den Juden auch, als sie aus dem Ghetto heraustreten durften, leicht, fast selbstverstndlich, daß sie ohne Zgern, ja enthusiastisch, der neuen weltlichen Kultur, die das achtzehnte Jahrhundert endgltig heraufgefhrt hatte, sich erschlossen. Den besten Geistern im Judentum gibt es ihre Eigenart, daß sie, getreu den großen Denkern des Mittelalters, sich dessen bewußt waren, wie sie durch die weltliche Kultur sich bereicherten und damit ihre Religion bereicherten. Die Religion konnte bleiben, was sie im Mittelalter wesentlich war: Sache der innersten Persnlichkeit und Weihe des Hauses, der energische Ausdruck des seelischen, sittlichen Selbsterhaltungstriebes, der Sehnsucht danach, sich in heiligen Aufgaben auszuleben. Weil sie das war, konnte sie Anteilnahme und Freude an der allgemeinen Kultur fordern. Liberales Judentum 1.14 (1909): S. 332-333.

* Die Umkehr zum Judentum Die Geschichte des Judentums beschrnkt sich nicht auf den Kreis seiner Bekenner. Einen wesentlichen Teil seines Lebens und seiner Bedeutung bildet auch die stille Wirksamkeit, die seine Ideen in der 63

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Entwicklung anderer Religionen, vor allem der christlichen Bekenntnisse, entfaltet haben. Fast jede religise Wandlung stellt hier eine bewusste oder unbewusste Auseinandersetzung mit den Gedanken des Judentums dar, eine Abkehr von ihnen oder eine erneute Hinneigung zu ihrer Richtung. Es hat eine Zeit gegeben, wo sich im Christentum eine entschiedenere Hinwendung zu den Lehren der Synagoge anzubahnen schien. Es war im Jahrhundert der Renaissance, als die geraden Wege zu den Quellen der Weisheit gesucht wurden. Die humanistische Reformation, die an den grossen Erneuerer des klassischen Altertums Erasmus von Rotterdam anknpft und in seinen Landsleuten, dem Dichter Coornheert und dem Staatsmann Hugo de Groot, und vor allem in dem Italiener Fausto Sozini ihre Vorkmpfer fand, durchbrach die Mauern des kirchlichen Dogmas. Man wendete sich gegen Erbsnde und Genugtuungstod, gegen Gnadenwahl und Dreieinigkeit, man predigte die Kraft des sittlichen Tuns, die Freiheit und Frmmigkeit, die es auch ausserhalb der Kirche gebe, man begann besonders auch die Lehre des Judentums zu wrdigen. Allein diese tapfere, hoffnungsreiche Bewegung vermochte keine dauernden Siege zu erringen. Viele Fhrer waren bei ihr, aber nur ein kleines Heer, und die Ketzergerichte lichteten die Reihen. Die Massenerfolge kamen denen zu, die die alten Begriffe festhielten, vor allem der lutherischen Reformation, die dem Papst den Gehorsam aufsagte, aber dogmatisch ganz auf dem Boden des mittelalterlich-katholischen Dogmas blieb. Seitdem sind drei Jahrhunderte vergangen. Aber wer die gegenwrtigen Wandlungen innerhalb des Protestantismus verfolgt, der begegnet in ihnen wieder jenen alten Renaissance-Tendenzen, jener damals begonnenen Umkehr zum Judentum hin. In der evangelischen Kirche wird heute oft das Losungswort vernommen: »Fort von Paulus, zurck zu Jesus!« Alle die Gedanken und Wnsche, die sich in dieser Parole aussprechen, sie knnten mit ebenso viel oder wohl noch mehr Recht und Deutlichkeit auch in den Satz gefasst werden: »Fort vom christlichen Dogma, zurck zur Lehre des Judentums!« Freilich will man es so nicht Wort haben. Vielleicht liegt hierin auch der tiefere Grund, weshalb so viele Fhrer gerade des liberalen Protestantismus – im Gegensatz zu Mnnern der positiven Richtung, die, des eigenen Glaubensbesitzes gewiss, die Religion Israels eher zu begreifen bereit sind – so beharrlich das Judentum und seine religise Bedeutung totschweigen. Man spricht nicht gern von dem Wege, den man zurckgehen soll. Aber darum bleibt er doch der 64

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Die Umkehr zum Judentum

Pfad, dem so manche, die das Dogma verlassen haben, suchend sich zuwenden. Wie stellt sich der liberale Protestantismus zu den Glaubensstzen, die das offizielle Bekenntnis seiner Kirche sind? Zu oberst ist der Gottesbegriff, die Trinitt, die Festsetzung dreier wesensgleicher Personen in der Gottheit. Mehr als ein Jahrtausend stand dieser Begriff im Mittelpunkt aller Geistesarbeit der Kirche. Der umfangreiche christliche Talmud ist voll von der dialektischen Mhe, die ihm zugewandt wurde. Luther und Zwingli haben in ihrer Reformation ihn uneingeschrnkt bernommen als den Ausdruck auch ihres Gottesglaubens; auch die evangelische Kirche tauft den, der in ihre Gemeinschaft aufgenommen werden soll, im Namen des dreieinigen Gottes. Der liberale Protestantismus hlt an dieser Glaubensformel fest; nur, dass sie fr ihn eine blosse Formel ohne den ganz entsprechenden Inhalt zu sein scheint. Vom heiligen Geist predigt auch er zwar zu Pfingsten. Jedoch es ist nicht mehr der heilige Geist, den der Evangelist Johannes gelehrt hat, den die alte Kirche in ihr Bekenntnis aufgenommen, und von dem der dritte Artikel der lutherischen Confession spricht, nicht mehr die wirkliche gttliche Person, die, nachdem der Sohn zum Vater zurckgekehrt, dessen Werk auf Erden fortsetzt. In der liberalen Lehre und Predigt ist der heilige Geist nur noch ein Gedankengebilde, etwa ein ethischer Begriff, der Geist der Wahrheit, der berzeugung, des Enthusiasmus, d. h. ein Begriff, der der kirchliche nicht mehr ist, aber dafr dem Kenner des Judentums eine jdische Frbung nicht gut verleugnen kann. Wer brigens der Polemik der positiven protestantischen Theologie gegen die liberale nachgeht, kann es auch wahrnehmen, wie sehr selbst fr jene immer mehr die dritte Person in der Gottheit, und damit die Trinitt, in den Hintergrund tritt. Die Gottheit Jesu steht fr die orthodoxe Lehre allerdings als sicherer Glaubensgrund fest. Ob auch fr die liberale, ist schwer zu entscheiden, wenn man die Stze liest und hrt, die davon reden sollen. Denn eine bestimmte, nchterne Antwort vernimmt man kaum je. Dafr wird meist ein kunstvolles Spiel mit schnen Worten vorgefhrt, um entweder die Frage abzuweisen oder den Bescheid zu umgehen. Den Ton hatte der grosse Begriffsmeister Albrecht Ritschl 1 angegeben. »Eine Autoritt, welche alle anderen Masstbe entweder ausschliesst oder sich unterordnet, welche zugleich alles 1. Albrecht Ritschl (1822-1889). Liberaler Theologe im Gttingen des Wilhelminischen Zeitalters, dessen Identifikation von Christentum und Kultur und Auf-

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menschliche Vertrauen auf Gott in erschpfender Weise regelt, hat den Wert der Gottheit« – mit dieser, je nachdem man will, viel- oder nichtssagenden Rede hatte er die genaue Frage, ob Jesus eine Gottheit sei, genugsam beantwortet gemeint. hnlich, nur in poetischen Klngen, die freilich an die katholische Heiligenverehrung stark erinnern, legt z. B. Martin Rade, 2 einer der selbstndigsten und freiestgesinnten Kpfe aus Ritschls Schule, sein Jesus-Bekenntnis ab: »Jenes schlechthinnige Abhngigkeitsgefhl, das nach Schleiermacher die Religion bedeutet, heftet sich wieder an die Person Jesu an … Wenn es um uns dunkel ist, und der ewige heilige unsichtbare Gott uns aus den Augen schwindet, suchen und finden wir Jesum, halten uns an seine Wahrheit, seine Wirklichkeit, setzen unser ganzes Vertrauen auf ihn, glauben an ihn, lieben und frchten ihn ber alle Dinge … Warum sollen wir auch nicht andchtig sein zu ihm, ihn nicht rufen, nicht mit ihm reden d. i. zu ihm beten!« Als Zeugnis persnlichen religisen Lebens wird man dies, zumal bei diesem Manne, respektieren mssen. Aber einen klaren Bescheid auf die klare Frage, ob Jesus nun ein Gott ist oder nicht, wird wohl kaum einer darin aufzuspren vermgen, darin so wenig wie in vielen Stzen anderer, die sich in der gleichen Richtung bewegen. Das eine lsst sich jedenfalls daraus erkennen, dass im modernen Protestantismus die kirchliche Lehre von der Gottheit Jesu zwar im Wortlaute angenommen bleibt, aber ihr eigentlicher Inhalt nur noch dialektisch hin und hergeschoben wird. Das religise Bewusstsein beginnt eben daran zu tragen und darunter sich unsicher und unbehaglich zu fhlen, und es trachtet nach dem strengeren Monotheismus hin. Will man diese Entwickelung kennzeichnen, sie lsst sich nicht gut anders benennen als eine Rckkehr zum Judentum oder, wenn es manchem Ohre so besser klingen sollte, zum Alten Testament. Auf das Dogma von Gott folgt das Dogma von der Welt. Sie scheidet sich, so ist es Anfang und Ende des evangelischen Lehrsystems, in zwei grosse Teile, die einander schroff gegenberstehen und einander bekmpfen: die Welt des Gottessohnes und der Gnade und die Welt des Teufels und der Erbsnde – die gttliche und die widergttliche Menschheit. Erlsung und Heil sind das ausschliessliche Reservat der Kirche; alles ausserhalb ihrer ist dem Verderben und der Hlle verfallen. Luther hatte diese Gedanken, die auf Augustin ruf zur christlichen Pflichterfllung im beruflichen Alltag dem brgerlichprotestantischen Selbstverstndnis des Kaiserreichs entsprach. 2. Martin Rade (1857-1940). Ev. Theologe, Mitbegrnder und spter Herausgeber der Zeitschrift Christliche Welt, die er zu einem Forum des theologischen Liberalismus in Deutschland ausbaute.

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Die Umkehr zum Judentum

zurckgehen, aus dem Katholizismus ganz bernommen, ja sie vielleicht noch schrfer ausgeprgt. Jedoch, wie sehr sie auch Grundangeln evangelischer Glubigkeit sind, der moderne Protestantismus will davon nicht mehr viel wissen. Wer spricht hier noch bestimmt vom Reiche des Teufels und von der Erbsnde, durch die alle, die nicht der Kirche angehren, der ewigen Verdammnis anheimgegeben sind? Das alles begrbt man, mit Worten oder im Stillschweigen. Dafr beginnt man allmhlich die universelle Lehre zu verknden, dass die gttliche Gnade und die Seligkeit allen Menschen, die nach dem Rechten streben, beschieden sind, dass es eine Frmmigkeit auch ausserhalb der Kirche gibt, dass der heilige Geist auch dort waltet. Das sind keine paulinischen und keine augustinischen und auch keine lutherischen Ansichten; wohl aber hatte schon de Groot hervorgehoben, dass dies alles seit altem fester Grundsatz im Judentum ist. Aber vielleicht das Bezeichnendste ist, dass der moderne Protestantismus sich in sehr wenig lutherischer Weise bemht, »eine ethische Religion« zu sein. Fr Luther stand der Glaube, der lediglich in sich selbst seinen Zweck hat, obenan; die Ethik tritt dahinter durchaus zurck, als ein blosser Anhang der Heils- und Erlsungslehre. Mit welchem Selbstgefhl verkndete nicht eine ganze Generation liberaler protestantischer Theologen, wie unvergleichlich diese evangelische Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben erhaben sei ber die jdische Anschauung, dass es auf das Tun des Menschen vor allem ankommt! Wie stolz blickte man herab auf das »Gesetz« des Judentums, das von diesem Glauben nichts weiss und immer nur gebietet: du sollst und du sollst nicht! Aber nun fngt der Protestantismus selber an, recht »gesetzlich« zu werden. In dem neuesten System der christlichen Lehre, von H. H. Wendt, 1 z. B. ist von jenem christlich-lutherischen Glaubens- und Erlsungsbegriff kaum etwas Wesentliches mehr zu entdecken; und was findet man? Die ganze alte jdische Vershnungstags-Predigt! Die sittliche Gesinnung und Tat, so liest man, bildet den Mittelpunkt der Religion, das Handeln des Menschen bringt ihn Gott nahe und entfernt ihn von Gott, Snde und Schuld sind Sache der Willensentscheidung, die Vergebung hngt nicht ab von einem einstigen wunderbaren Ereignis, sondern Reue und Sinnesnderung sind die einzige Bedingung dafr – also samt und sonders Gedanken, die das Judentum seit Jahrhunderten der Kirche entgegenstellt. Man kann 1. Hans Hinrich Wendt (1853-1928). Ev. Theologe der Literaturkritischen Schule; Ritschlianer.

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zwar zugestehen, dass gewisse Anstze, aber nur gewisse, zu dieser »ethischen« Richtung sich im Calvinismus bereits zeigen. Aber der Calvinismus ist auch in vielfacher Hinsicht weit alttestamentlicher als das Luthertum. Allenthalben zeigt so ein Blick auf die Wandlungen im modernen Protestantismus, dass sie die Tendenz haben, aus dem Gedankenkreise der Kirche hinaus- und zu dem Ideengebiet des Judentums hinzufhren. Diese Entwickelung soll in ihrem Recht und ihrem Wert nicht kritisiert werden; ja, wir bewundern den Reichtum der geistigen Krfte, die in ihr wirken. Aber wir erlauben uns zu betonen, dass sie nichts anderes ist als eben eine Hinwendung zum Judentum, dass also seit der Zeit der Renaissance sich keine andere reformierende Weiterbildung der Kirchenlehre hat einstellen knnen, als die, welche die Wege des Judentums wieder zu betreten beginnt. Allerdings, die bestimmte, scharfe Grenze zwischen dem Judentum und dem Protestantismus besteht nach wie vor. Vor allem ist es ja die Frage der Gottheit Jesu, die den Bekenner des einig-einzigen Gottes deutlich und entschieden von drben trennt, auch von dem liberalen Protestantismus, der ebenfalls betet: »Jesu, erbarme dich unser! Jesu, hilf uns!« Damit gibt es keine Verstndigung und kein Paktieren, auch nicht durch irgend ein Mittel poetischer Sublimierung. Von hier gehen dann die anderen Scheidelinien aus. Es wre eine Versndigung an der geschichtlichen Aufgabe des Judentums – an der Aufgabe, der gerade die moderne Entwicklung der evangelischen Lehre unfreiwillig eine Apologie geschrieben hat – wenn wir diese Grenzen verrcken oder verwischen wollten. Wir mssen es heute so entschieden, wie je, betonen: Es ist ein Herabsteigen von dem hheren religisen Standorte, wenn ein Jude sich dem herrschenden Bekenntnis, und sei es auch der liberale Protestantismus, unterwirft. Das hat vor Jahren auch ein weitblickender protestantischer Denker, der Jurist A. F. Berner, 1 hervorgehoben in einer Betrachtung des gebotenen Zukunftsweges seiner Religion. Er sprach es offen aus: »Das Judentum war und ist zur unwandelbaren Behauptung des reinen Monotheismus berufen. Nur diejenigen Juden knnen uns frdern, welche sich auf keine Transaktion einlassen, mit ihrem Gewissen nicht kapitulieren.« Das wird auch noch fr lange gefordert werden mssen. Denn es ist kaum anzunehmen, dass der liberale Protestantismus sich radi1. Albert Friedrich Berner (1818-1907). Verfasser des Lehrbuches des deutschen Strafrechts.

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»Natrlich« und Aehnliches

kal aller der Elemente werde entschlagen wollen, die fr das religise Denken des Judentums den Anstoss bilden. Nur eine kirchliche Revolution knnte dies bewirken. Und dazu ist der moderne Protestantismus zu historisch gerichtet. Revolutionen werden nur von rein rationalistischen Geistern gemacht. Die letzte Erfllung der alten Renaissance-Ideen liegt in weiter Ferne. Aber so fern sie auch ist, deutlich sehen wir, wie sehr dem Protestantismus, so oft er die »Rckkehr zu Jesus« sucht, immer nur die Richtung zum Judentum hin brigbleibt. ber die Geschichte unserer Religion, die nun doch mit dem Jahre 70 1 nicht hatte aufhren wollen, suchte man oft die Stille des Schweigens auszubreiten. Aber mgen auch manche Gelehrten, wie es scheint, das Judentum totschweigen wollen, die vorwrtsschreitenden Ideen beginnen um so lauter von ihm zu sprechen. Korrespondenz-Blatt des Verbandes der Deutschen Juden (Juli 1909): S. 1-5.

* »Natrlich« und Aehnliches Es ist eine kritische Regel, am mißtrauischsten gegen Stze zu sein, die sich »bekanntlich« »von selbst verstehen«. »Selbstverstndlich«, »unmglich« und »natrlich« dienen hufig nur dazu, die Schwche der Behauptung mglichst stark zu bertnchen: Man weiß es nicht genau, und deshalb ist es natrlich so; man kann es nicht beweisen, und darum muß es so sein. Nur zu oft verhlt es sich wirklich gerade umgekehrt, als es sich bekanntlich verhlt. Es ist eine Art von unbewußter Klugheitslist, um so entschiedenere Worte zu nehmen, je mehr es an Grnden mangelt. Die Sachkunde spricht weit behutsamer. Vor einigen Jahren erschienen, von Johannes Weiß 2 herausgegeben, »die Schriften des Neuen Testaments neu bersetzt und fr die Gegenwart erklrt«; das Werk hat schon nach kurzer Zeit in zweiter Auflage seine Verbreitung gefunden. Der Herausgeber hat die Erluterung zu den drei lteren Evangelien geschrieben; sie ist in vieler Hinsicht belehrend, aber auch psychologisch interessant durch den

1. Jahr der Zerstrung des 2. Tempels durch die Rmer. 2. Johannes Weiß (1863-1914). Ev. Theologe, betonte den futurisch-eschatologischen Charakter der Reich-Gottes-Verkndigung Jesu.

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Gebrauch, den sie von jenen Tnchwrtern macht. Es verlohnt sich, das an einigen Beispielen darzulegen. Der Tufer Johannes ist in der Wste Juda aufgetreten; er ruft zur Buße auf und macht die alte Verkndigung vom Tage des Gerichts lebendig. »Aber die Juden«, so erklrt unser Kommentator, »beziehen diese Weissagung natrlich auf die Heiden; die werden durch den Zorn Gottes vernichtet werden, damit Israel endlich zu seinem Recht komme. Fr sich selbst befrchten sie nichts davon«. Also spricht J. Weiß. Aber wie sprechen die Tatsachen? Die Botschaft vom Tage des Gerichts, an den der Tufer glaubt und an den er seine Zuhrer gemahnt, ist in der Gedankenwelt des Volkes von den Propheten gebracht worden. Sie waren die Propheten aus der Vter Tagen, aber ihre Rede galt auch in des Tufers Zeit als Gegenwartsspruch, ihr Wort damals wie einst als der Verknder des Kommenden. Fast alle hatten sie von dem Tage des Herrn gesprochen. Vornan Amos, der den Grundtext dafr geschaffen hat: »Vernehmet das Wort, das der Herr gegen euch, ihr Israeliten, redet, gegen das ganze Geschlecht, das ich aus Egypten hergefhrt habe: ›Euch habe ich erkannt von allen Geschlechtern der Erde – darum strafe ich an euch am hrtesten alle eure Missetaten!‹« 1 Das rchende Ungewitter vom Herrn fhrt wohl ber die ganze Erde hin, aber ber Israel bleibt es stehen, um ber ihm sich mit der ganzen Gewalt zu entladen und alle Frevler und hochmtigen im Volk zu zerschmettern. Ebenso predigen es nach Amos die Propheten, jeder in seiner besonderen Art, Hosea und Jesaias, Micha und Jeremias bis hin zu dem letzten der Propheten, Maleachi. Immer ist es Israel, das zuvrderst vor dem Tage des Herrn zittern muß. Die Heiden und das Gericht, das ber sie kommt, so faßt Karl Marti 2 es in seiner Geschichte der israelitischen Religion zusammen, »bilden nur den Rahmen zu dem Gerichte ber Israel«. Diese sittliche Anschauung, die die Gottesfrchtigen und Frevler, wo immer sie seien, einander gegenber sieht, ist auch darnach, bei den apokalyptischen Schriftstellern, festgehalten worden. Wie einer der besten Kenner dieser nachprophetischen Zeit, W. Baldensperger, 3 hervorhebt, wird fr sie »die Unterscheidung von gerechten und ungerechten Individuen zu einem wesentlichen Hauptstck des religisen Glaubens … und dadurch verliert der alte 1. Am 3,1-2. 2. Karl Marti (1855-1925). Herausragender Gelehrter der Hebrischen Bibel, Professor in Basel und Bern und Befrworter der Judenmission. 3. Wilhelm Baldensperger (1856-1936). Bibelwissenschaftler der Religionsgeschichtlichen Schule. Verfaßte Das sptere Judenthum als Vorstufe des Christenthums (1900).

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Adelsbrief der Abrahamskindschaft an Wert.« Nicht anders ist es in dem talmudischen Schrifttum ausgesprochen, auch hier ist der ernsteste Akt am Tage des Herrn das Gericht ber die Frevler in Israel. So ist es der deutliche geschichtliche Tatbestand, und ihm gegenber sei die Erklrung, die J. Weiß gibt, in ihrer ganzen Bestimmtheit nochmals hierher gesetzt: »Die Juden beziehen diese Weissagung natrlich auf die Heiden; fr sich selbst befrchten sie nichts davon.« Ein anderes Beispiel: Die Bergpredigt enthlt den Satz: »Ihr habt gehrt, daß gesagt ist: du sollst deinen Nchsten lieben und deinen Feind hassen.« 1 Dieses letztere Wort »und deinen Feind hassen« ist ein odiser Zusatz, durch den eine sptere, gegen das Judentum gerichtete Absicht den biblischen Spruch von der Nchstenliebe zu ergnzen verstanden hat. Wie dieses angebliche alte Wort vom Haß nicht in der Bibel steht, so widerspricht es auch ihrem Geiste und allen ihren Stzen. Es widerspricht auch den Lehren des Talmud, der es vielfltig einschrft, dem Feinde Gutes zu tun – und manchem wird diese bestimmte Wohltat, die dem Feinde erwiesen werden soll, dieses Gebot der Stunde, als die entschiedenste Feindesliebe erscheinen, die sonst nur zu leicht in ein leeres Gefhl verschwimmt. Gegen alle diese Tatsachen vermag J. Weiß auch nichts anzufhren, was jenem tendenzisen Zusatz irgend ein geschichtliches Recht beilegen knnte. Allein, was man nicht erweisen kann, das stellt man als »natrlich« hin. Und so tritt denn an den Platz der historischen Zeugnisse folgende Erklrung: »In der Lehre und Praxis der Schriftgelehrten muß das Gebot (von der Nchstenliebe, die auch dem Fremden zuteil werden soll) anders gedeutet und gehandhabt worden sein. Denn Jesus zitiert es mit dem Zusatz: ›und deinen Feinde sollst du hassen‹, als ob er zu dem alttestamentlichen Wort gehrte. Es muß also diese Erweiterung im Synagogen-Unterricht gebruchlich gewesen sein. Oder Jesus muß aus Erfahrung gewußt haben, daß das Wort so ausgelegt zu werden pflegte.« In der Tat, es muß und muß und muß so gewesen sein, da ja die Tatsachen bereinstimmend bekunden, daß es so nicht gewesen ist. Um diese »selbstverstndliche« Beweisart zu kennzeichnen, gengt es, nur ein letztes Beispiel noch anzufhren. Es ist ein Glaubenssatz, mit dem die moderne protestantische Theologie an die Erklrung des Neuen Testaments herantritt, daß dieses den jdischen

1. Mt 5,43.

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Lohngedanken berwunden hat. Nun kommt aber die Verheißung eines reichen Lohnes von Gott im Evangelium klar zum Ausdruck. So im Evangelium Matthaei im sechsten Kapitel, in welchem die bung guter Werke geboten wird mit dem stndigen Kehrsatz: »Dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten ffentlich.« Selbst wer in seinem Kmmerlein betet, wird dessen versichert: »Dein Vater wird dir es vergelten.« Von diesen Worten lßt sich nichts abhandeln und nichts streichen; der »berwundene Lohngedanke« steht hier deutlich als Jesu Meinung. Aber trotz allem, da das jenem Dogma widerspricht, ist es »natrlich« anders gewesen, und so lautet denn die Erklrung, die J. Weiß zu dem Verse des Evangeliums gibt, kurz und bestimmt: »Unmglich kann es Jesu Meinung gewesen sein,« daß Gott das andchtige Gebet besonders belohnt. Diese Erklrung ist deshalb kennzeichnend, weil sie das doppelte Maß sehen lßt, mit dem gemessen wird, und sie auch hierin nur ein Beispiel unter vielen ist. Handelt es sich um das Judentum, so wird das Beste so gewendet, daß es im Grunde doch nicht viel bedeutet; steht aber das Christentum in Betracht, so ist das Geringste alsbald ein Großes, ja ein Weltgeschichtliches. Sagt z. B. das dritte Buch Moses im 19. Kapitel im 34. Verse: »liebe den Fremdling wie dich selbst«, so ist das fr J. Weiß bloß ein »Ansatz zu einer berwindung des Partikularismus.« Wenn dagegen das Evangelium etwa sagt – was brigens im Alten Testament wie im Talmud auch seinen Ausdruck findet –: »wenn du betest, so geh in deine Kammer,« dann stellt das fr ihn »einen großen Schritt zur Verinnerlichung der Frmmigkeit« dar. Diese Zwiespltigkeit wird bisweilen fast zur Komdie. Das Vaterunser hat in den rabbinischen Gebeten seine Parallelen, und Weiß fhrt eine derselben auch an. Aber, wo er von dem Gebet des Evangeliums spricht, bersetzt er: »es komme dein Reich«, und wo er das entsprechende rabbinische Gebet erwhnt, das ebendieselben Worte, den vllig gleichen Text bietet, bersetzt er: »Laß herrschen deine Knigsherrschaft.« Da die beiden Stze nun einmal gleich sind, so sollen sie wenigstens verschieden klingen. Auch das gehrt ins Kapitel vom »Natrlichen«. Zum Schluß soll nicht verschwiegen werden, daß Weiß den trefflichen Grundsatz ausspricht: »Es ist ein unvornehmes Verfahren, wenn man, um die Grße des Wortes Jesu hervorzuheben, die herrschende Auffassung der Rabbinen mglichst niedrig darstellt.« Leider glauben manche bisweilen, wenn sie sich zu einem Grundsatz einmal bekannt haben, brauchten sie ihn nicht mehr zu befolgen. Joh. Weiß macht es, an vielen Stellen seines Kommentars wenig72

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Zur Frage der Christusmythe

stens, schwer, ihn nicht zu denen zu rechnen, welche denken: dixi et salvavi animam meam. 1 Liberales Judentum 2 (Jan. 1910): S. 10-12.

* Zur Frage der Christusmythe I. Am Ausgang des Jahrhunderts herrschte in der modernen protestantischen Theologie historischer Richtung der wohltuende Friede, der sich des Erreichten freut. Sie hatte gesiegt durch die ußeren Erfolge: sie hatte, von Greifswald abgesehen, die preußischen Fakultten erobert und im brigen Deutschland die Lehrsthle immer mehr ihrem Einfluß unterworfen; sie hatte, trotz Strafprozessuren, nicht nur die Anerkennung, sondern schließlich die Gunst der Gebietenden gewonnen, die theologia militans war zur theologia triumphans geworden. Dieser Erfolg war kein ußerlicher bloß; er entsprach dem wirklichen, dem geistigen Einfluß, der allgemeinen Geltung auf dem Felde der Wissenschaft. Von Gttingen, von den Kathedern Albrecht Ritschl’s 2 und Wellhausen’s, 3 war der Sieg ausgegangen. Diese beiden Meister, so war es die berzeugung, sind die Fhrer zum Ziel geworden; sie haben, einander ergnzend, die Geschichte und die Bedeutung der Religion den Weg zur Offenbarung erst verstehen gelehrt, der eine, der jngere, die Entwicklung Israels und seines Glaubens, der andere das Wesen Christi und sein Werk. Sie reichen einander die Hand und halten gemeinsam den Lorbeer, wie die Dichterfrsten auf dem Denkmal zu Weimar. Man braucht nur die zahlreichen, inhaltvollen Schriften aus dem großen Schlerkreise dieser beiden Mnner zu lesen; es klingt aus ihnen das Frohgefhl hervor, daß nun die Rtsel gelst wrden, daß endlich die Klarheit gewonnen sei, nachdem die Jahrhunderte blind gewesen. Wie vieles auch noch zu tun sei, an Suchen und Prfen im Einzelnen, das ei-

1. Lat.: »Ich habe gesprochen und habe meine Seele gerettet«. 2. Albrecht Ritschl, (1822-1889). Liberaler protestantischer Theologe im Gttingen des Wilhelminischen Zeitalters. 3. Julius Wellhausen (1844-1917). Christlicher Bibelwissenschaftler, berhmt insbesondere fr seine kritischen Prolegomena zur Geschichte Israels (1883).

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gentlichste Ergebnis stehe fest, und der bestimmte Weg sei gewiesen. In diese befriedigte Stimmung drngten sich schon vor der Wende des Jahrhunderts immer ernstere Zweifel ein, zunchst gegen Wellhausens siegreiche Lehre. Der alte Kulturboden Asiens gab seine Denkmler her, und sie zeigten ein anderes Bild jener Tage, als es die weithin waltende Schule dieses Mannes gezeichnet hatte. Seine wissenschaftlichen Verdienste sind groß und unbestreitbar, auch dort, wo er geirrt hat, aber sein System, das so lange geherrscht hat, gehrt wohl endgltig der Vergangenheit an. Er hatte die religise Geschichte Israels seit den großen Propheten als einen tiefen Abstieg zur Versteinerung, zur Erstarrung im Gesetz geschildert, als einen Niedergang, aus dem erst Jesus in seiner »hinreißenden Einfachheit« wieder emporgefhrt htte, hher hinauf, als alle die frheren, die Propheten und Weisen, gelangt waren – er, der Meister der Religion, »ein gttliches Wunder in dieser Zeit und dieser Umgebung«. Hier war Wellhausen mit dem lteren Fhrer, mit Ritschl, zusammengetroffen. Diesem war es bei seiner Darstellung der Anfnge des Christentums die erste Voraussetzung gewesen, von der er ausging, daß dem Judentum in der Zeit Jesu das Verstndnis fr die wahre Religion verloren gewesen und es erst durch Jesus wieder entdeckt und zur letzten Vollendung erhoben worden wre. Jesus hat die »neue Frmmigkeit« und die »neue Sittlichkeit« gebracht, er hat als erster und in unvergleichlicher Weise Gott als seinen Vater erlebt, er hat den unersetzlichen Wert der einzelnen Menschenseele begriffen, erst er hat das Gottesreich, das in uns ist, die wahre Nchstenliebe und die sittliche Freiheit, die nicht nach Lohn und Vergeltung fragt, gepredigt. Fr Ritschl, und mit ihm fr seine Schule, ist dies die feste Grundannahme, an die sie von vornherein glauben, daß alles, was Jesus verkndet habe, ein Neues gewesen sei oder zum mindesten durch seine einzigartige Persnlichkeit einen neuen Charakter erhalten habe. Hierin meinen sie, um einen Ausdruck der Logik zu gebrauchen, das heuristische Prinzip fr Erklrung der Evangelien zu besitzen, durch das sie den rechten Sinn jedes Satzes finden knnten. Ihre Exegese ist also eine durchaus dogmatisierende; wertvoll, echt und wahr ist fr sie im wesentlichen das, was sie als wertvoll, echt und wahr wnschen. Hinter dieses Gebot des Wunsches tritt jedes Bedrfnis, unbefangen zu prfen, wie es wirklich damals gewesen sei, durchaus zurck. Als so feststehend gilt der Satz von der Einzigartigkeit der Verkndigung Jesu, daß bisweilen, wenn berlieferte Tatsachen dieser behaupteten Originalitt denn doch zu sehr widerstreben, kurzerhand erklrt wird: 74

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Zur Frage der Christusmythe

es kann gar nicht anders als so gewesen sein, es muß sich so verhalten haben, so nmlich, wie es das Dogma von der Unvergleichlichkeit bestimmt hatte. In dieser Monatsschrift ist das vor kurzem an einigen Beispielen erlutert worden. 1 Diese gesamte Auffassung ließ sich halten, so lange man die Evangelien ganz isoliert, als einen Hhenstand fr sich, betrachten durfte. Sie mußte in ihrer Grundlage ins Wanken geraten, je mehr es zu Tage trat, wie sehr das, was diese Schriften erzhlten, in eine Welt hineingehrte, in der es mancherlei desselbigengleichen gab. Von drei Seiten aus wurde dies dargetan. Zunchst durch die Geschichte des Judentums, das in der Darstellung der Predigt Jesu immer nur als der Hintergrund gedient hatte, welcher die Schatten aufnahm. Schon seit lngerem hatte es die Wissenschaft des Judentums aufgezeigt, daß alles fast, was die Worte Jesu knden, auch sonst aus der jdischen Weisheit jener Tage uns edel und deutlich entgegenklingt. Man hatte dies ignoriert, und das Vorurteil wirkt heute noch fort, aber auf die Dauer lassen Tatsachen sich nicht bersehen. An sie schlossen sich dann die wertvollen Ergebnisse an, die das Studium der sogenannten apokalyptischen Literatur gezeitigt hatte, welche in den Jahrhunderten zwischen dem Abschluß der Bibel und dem Untergang des jdischen Reiches entstanden ist. Sie bewies, daß so manche Anschauungen, so manche Stimmungen und Erwartungen, die als den Evangelien eigentmlich galten, schon vorher und anderwrts ihren Ausdruck gefunden hatten. Ein hnliches ergab sich dann auch aus der vergleichenden Forschung, die die Religionen Vorderasiens neben das Christentum treten ließ; sie zeigte, wie sich hier Parallelen zu dem bieten, was das Neue Testament ber die Bedeutung des Todes Jesu und ber seine Auferstehung lehrt. So verlor das, was als unvergleichlich verkndet worden war, immer mehr von seiner Besonderheit. Je dogmatischer man diese betont, je selbstgewisser man alles behauptet hatte, desto mehr konnte sich nun die Neigung einstellen, alles radikal zu verneinen. Ein Extrem erzeugte das andere. Liberales Judentum 2 (Mrz 1910): S. 68-70.

1. Bezieht sich auf Baecks Artikel »Natrlich’ und Aehnliches« (siehe oben), der in der Januarausgabe des Liberalen Judentums erschien.

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II. Seit Lessing das Bedenken in die Welt hinaustrug, dass Samuel Reimarus, 1 damals noch der Wolfenbtteler »Ungenannte«, gegen die Glaubwrdigkeit der alten christlichen Urkunden gerichtet hatte, ist dieser Zweifel nicht mehr verstummt. Er blieb, so kindlich auch dem spteren Geschlecht seine Antwort dnken mußte, in der er nun selbst den Grund jener alten Berichte hatte bestimmen wollen. Reimarus war in seinem Denken noch ganz in das Zeitalter der Aufklrung eingeschlossen, in dieses Jahrhundert, das der Druck des berlieferten, unter dem es litt, ungerecht und fast unduldsam gegen die Vergangenheit hatte werden lassen. Was geschichtlich geworden war, erschien damals nur allzu leicht als ein Gemachtes, als ein Erzeugnis menschlicher berechnender Absicht, als das knstliche Dunkel vor dem natrlichen Licht. Hatte die Rechtglubigkeit gelehrt, daß das Neue Testament vom Himmel offenbart worden wre, so verkndete der Sohn der Aufklrung jetzt, daß kluge Priester es erdichtet htten, um ihre irdischen Zwecke damit verfolgen zu knnen. Der Zweifel gefiel, aber mit dem neuen Bescheide konnte, wie gesagt, das neunzehnte Jahrhundert sich nicht mehr zufrieden geben. In der Schule der Romantik und Hegels hatte es zu viel geschichtlichen Sinn und Verstndnis fr das unbewußte Sinnen und Sagen im Volke erworben. Fr den Mann, der das kritische Werk des »Ungenannten« fortfhrte, fr David Friedrich Strauß, 2 sind die Evangelien daher auch nicht mehr Erfindungen aus Pfaffensinn; er sieht in ihnen ein Natrliches: Gebilde der »absichtslos dichtenden Sage«, entstanden aus der Phantasie der glubigen Gemeinde. Aber auch fr ihn sind diese alten Erzhlungen mithin ohne geschichtlichen Wert, und es war hiernach nur der gegebene weitere Schritt, wenn bald darauf Bruno Bauer 3 zu der letzten Konsequenz auch hinleitete, daß »selbst die reine Existenz eines Mannes namens Jesus nichts ist, als eine freie Schpfung des Selbstbewußtseins«. Mit dieser radikalen Verneinung schloß die Revolutionszeit ab. 1. Hermann Samuel Reimarus (1694-1768). Deutscher Rationalist, bekannt als anonymer Autor der radikalen Wolfenbttler Fragmente, die von Lessing herausgegeben wurden. 2. David Friedrich Strauß (1808-1874). Anhnger Hegels und Exeget des Neuen Testaments, der in seinem Werk Das Leben Jesu die historische Jesu-Figur in Frage stellte. Strauß lehrte eine Zeit lang in Tbingen. 3. Bruno Bauer (1809-1882). Hegelianer, ev. Theologe und Historiker, der die Evangelien als literarische, nicht historische Texte gelesen wissen wollte. Gegner der Emanzipation der deutschen Juden.

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Zur Frage der Christusmythe

Um die Mitte des Jahrhunderts besnftigte sich dann wieder der Sturm und Drang. Die sorgsame, unbefangene Quellenforschung, die durch die Tbinger Schule eingeleitet wurde, befriedigte das kritische Bedrfnis, indem sie ihm eine Flle von Aufgaben darbot. Die Zeit des Grabens und Prfens, die Einzelarbeit begann. Aber sehr bald begab diese sich unter den Schutz einer neuen Rechtglubigkeit, einer vermittelnden Theologie; Tbingen wurde von Gttingen besiegt. Die Ritschl’sche Schule – die im ersten Teil dieses Aufsatzes geschildert worden ist – gewann weithin ihren Einfluß, und in ihr stand die geschichtliche Forschung, so vllig frei sie im Einzelnen schaltete, im wesentlichen wiederum innerhalb der Schranken eines verpflichtenden Glaubenssatzes, des Satzes von der Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit Jesu. Auch das war eine Orthodoxie, als deren Gegenspiel schließlich ein gleicher Radikalismus auftreten mußte, wie einst gegen die alte Strengglubigkeit. Hatte in dieser das Dogma von der Gottheit Jesu die Verneinung durch einen Reimarus, einen Strauß und Bauer wachgerufen, so weckte der neue Glaubenssatz von der Einzigartigkeit eine hnliche Leugnung des Ganzen durch Mnner wie Kalthoff 1 und Drews. 2 Wiederum erhob sich der Kampf gegen die Existenz eines historischen Jesus, und die Angreifer stritten jetzt mit den neuen Waffen, die die vergleichende Religionsgeschichte und die Mythenforschung gewhrten, und auf dem breiteren Felde und unter der regeren Anteilnahme, wie sie die weite ffentlichkeit unserer Zeit verstattete. Ganz besonders in der herrschenden, liberalen protestantischen Theologie erregte der neue Angriff die Gemter aufs tiefste. Begreiflicherweise, denn fr sie ist die Person des geschichtlichen Jesus ein und alles in der Religion. Es ist am besten in solchen Fragen, eine Richtung sich selbst bezeugen zu lassen; zwei ihrer hervorragendsten Mnner, Harnack 3 und Jlicher, 4 mgen es daher aussprechen. Der erstere hat es vor lngerer Zeit betont: »Die Theologie muß eine 1. Albert Kalthoff (1850-1906). Der ev. Theologe vertrat eine »Sozialtheologie«, nach der die in den Evangelien zum Ausdruck kommenden sozialen und ethischen Gedanken fr die Entstehung des Christentums entscheidend gewesen seien, nicht die historische Existenz Jesu. 2. Arthur Drews (1865-1935). Der Professor fr Philosophie in Karlsruhe leugnete die historische Existenz Jesu und erklrte die christliche berlieferung zur Christusmythe. 3. Adolf von Harnack (1851-1930). Deutscher Kirchenhistoriker und einer der einflußreichsten liberalen Theologen des 19. und frhen 20. Jahrhunderts. Autor von Das Wesen des Christentums (1910). 4. Adolf Jlicher (1857-1938). Herausragender liberaler ev. Theologe und Kirchenhistoriker.

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Fhrerin der Kirche bleiben; denn ihre Hauptaufgabe – wenn sie auch eine geschichtliche Wissenschaft geworden ist – kann doch nur die sein, das Bild der Persnlichkeit Jesu Christi, des Herrn und Heilandes, sicherer zu erfassen und darzustellen.« Und noch entschiedener hat vor kurzem Jlicher erklrt: »Ist Jesus eine ungeschichtliche Gestalt, so wre unsere Religion in ihrer bisherigen Form verloren, ebenso wie wenn der Gottesgedanke als widervernnftig erwiesen wre.« Die Religion ist so ganz eigentlich auf eine geschichtliche Brgschaft, auf eine beizubringende historische Beglaubigung angewiesen, d. h. im Grunde auf etwas Zuflliges. Das Judentum steht hier auf einem viel festeren Boden. In den letzten Jahrzehnten sind Bedenken gegen die historische Wirklichkeit Mosis kund geworden – die Entdeckungen der jngsten Zeit haben allerdings seine Existenz wie sein Werk nur noch sicherer bezeugt. Das Judentum konnte alle diese Zweifel mit ruhiger Gelassenheit anhren, in dem klaren Bewußtsein, daß es sich um eine Frage der Geschichte handelt, aber um kein Problem der Religion. Unsere Religion bleibt dieselbe, und die Lehre, die an den Namen Moses anknpft, bleibt ungemindert in ihrer Kraft und ihrem Wert, auch wenn kein Mann Moses existiert haben sollte. So sehr ist die religise Wahrheit fr uns alles, daß der, der sie verkndet haben mag, hinter sie vllig zurcktreten kann. Das Wesen der Religion finden wir ausschließlich in den Ideen, die die Brgschaft ihrer Gewißheit in sich tragen; wir suchen es in keiner Person und keiner menschlichen Existenz, die von einem geschichtlichen Nachweis oder einer richtigen Theologie ihre Beglaubigung erst erwarten muß. Uns offenbart sich die religise Geschichte in der lebendigen, unendlichen Entwicklung des religisen Gedankens, nicht in dem Zeugnis von einer einzigartigen alles tragenden Persnlichkeit, in der das religise Ideal seine letzte Erfllung, seine einzige Verwirklichung gefunden htte. Daher schließt das Judentum an den Vater der Propheten die Reihe der Gottesmnner an und an sie die Weisen und Denker aller Jahrhunderte; keiner schenkt das Ganze, und keiner stellt das Ganze dar. Das ist ein bezeichnender Unterschied gegen die anderen Religionen, die in dem einen Gotama Buddha, dem einen Zarathustra, in dem einen Jesus Christus, dem einen Mohammmed die Hhe der Religion gewonnen und beschlossen sehen. Das Judentum ist geschichtlich seinem innersten Wesen nach, der neue Protestantismus nur insofern er eine historische Persnlichkeit, auf der er beruhen will, sich zu verbrgen sucht. Diese seine Theologie hat im Dienste dieses Strebens reiche, wertvolle Forschungen gezeitigt, und trotzdem vermag sie die Angriffe 78

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Zur Frage der Christusmythe

gegen die Geschichtlichkeit Jesu nicht vllig zurckzuschlagen. Ihr fehlt eines, was dazu unbedingt erforderlich ist, die gengende Kenntnis des jdischen Bodens, aus dem das Urchristentum hervorgewachsen ist, und der ganzen Atmosphre, die es dort umgab. Das lteste heidnische Zeugnis ber das Leben Jesu stammt aus langer Zeit – fast einem Jahrhundert – nach seinem Tode. Ob der Mann, der Griechen und Rmern von den Juden und dem Judentum erzhlte, ob Flavius Josephus 1 ber ihn berichtet habe, ist vllig zweifelhaft. Und ob die Briefe, die den Namen des Paulus tragen und die die christliche Glaubenslehre begrnden, vor dem zweiten Jahrhundert verfaßt seien, wird von beachtenswerten Forschern bestritten. Und die vielgenannten Redequellen endlich knnen als mehr denn vermutet nicht gelten. Es gibt nur einen sicheren Boden der Beweisfhrung: Man muß das Leben des damaligen jdischen Volkes kennen, das Denken und Empfinden jener Tage, das, was damals gelehrt und gehtet wurde, was damals erwartet wurde und deshalb auch zu kommen bereit war, man muß vor allem auch den Namen erfassen und wrdigen, unter dem Jesus fortgelebt hat, den Namen Messias, Christus, in seinem jdischen Gehalt und seinem Geprge, kurz, man muß die Juden und das Judentums kennen, dann erst gewinnt man den festen Grund fr den Aufbau der Geschichte. In dem Kampfe, den die protestantische Theologie jetzt fhren muß, rcht es sich, daß sie dogmatisch und willkrlich an vielen Tatsachen vorbeisah, die fr das Verstndnis des Judentums jener Zeit unentbehrlich sind. Ihnen allen, diesem ganzen wichtigen Gebiete, muß sich die Wissenschaft, der es um ein geschichtliches Verstndnis zu tun ist, unbefangen zuwenden. Anders wird der Satz von der bloßen Christusmythe sich auf die Dauer nicht widerlegen lassen. Liberales Judentum 2 (April 1910): S. 92-94.

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1. Josephus Flavius (ca. 37-100). Der als Joseph ben Matthias in Jerusalem geborene jdische Historiker gelangte nach der Belagerung Jerusalems unter der Schutzherrschaft des Titus nach Rom, wo er Werke ber jdische Geschichte verfaßte.

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Unsere Stellung zu den Religionsgesprchen Auf einer Veranstaltung der »Vereinigung fr das liberale Judentum in Deutschland« in Berlin zu dem Thema Die Berliner Religionsgesprche ußerte sich Leo Baeck wie folgt: Wie stehen wir der Frage gegenber, ob Jesus Christus gelebt hat, wie weit erfaßt uns dieses Problem, das in den Berliner Religionsgesprchen vor die große ffentlichkeit trat? Der Antwort hierauf geht eine fernere Frage noch voran: Berhren uns denn berhaupt die geistigen Kmpfe, von denen andere Religionen erregt werden? Haben wir nicht genug mit uns selber zu tun, und ist es nicht schließlich das Klgste auch, wenn sich draußen zwei streiten, still hinter sich die Tre zu schließen und hchstens einmal zum Fenster neugierig hinunterzuschauen? Allein, wer unsere Geschichte kennt, weiß, daß das Judentum ein solch zaghaftes, weltfremdes Sonderdasein nie gefhrt hat. Es gab Zeiten, und sie liegen ja noch nicht in grauer Vergangenheit, in denen man unsere Vter ins Ghetto hineinpreßte, aber auch dort hat keine Mauer vermocht, den geistigen Zusammenhang mit dem, was die Jahrhunderte bewegte, ihnen zu versperren. Was fern und nah sich auf den Feldern des Glaubens abspielte, faßten sie als ein geschichtliches Erlebnis auf, als etwas, was die israelitische Gemeinde, was die Mutter der Religionen auch anging. Unsere Religion hat uns immer gelehrt, den Blick in die Ferne zu richten, in die Zukunft, auf die wir hoffen. Aber ganz ebenso sollen wir auch immer in die Weite schauen, zu allen Vlkern, zu allen Bekenntnissen hin, um den großen Horizont, den Blick auf das menschheitumfassende Leben der Religion zu gewinnen. Wir haben keine Angst davor, daß unter uns einer zu viel von Religion und Religionen erfahre, daß einer in diesem Wissen zu weit gehen mchte; wir wollen keinem Scheuklappen anlegen. Sich hineinzufhlen in das seelische Ringen und Streben des anderen, das ist ja auch ein Stck Menschenliebe. Das ist ein Teil der Achtung, die wir seinem Glauben schulden, mit der wir freilich von den anderen nicht gerade verwhnt werden. Wer selbst Religion besitzt, wer um die Klarheit seiner berzeugung gekmpft hat, der wird auch dem, was seinem Mitmenschen ein Heiligtum ist, Ehrfurcht entgegenbringen, diese Ehrfurcht vor dem Glauben hegen, die der Anfang aller echten Toleranz ist. An ihr hat es unter uns nie gefehlt und soll es nie fehlen. Als in Berlin Meyerbeers Hugenotten zum ersten Male aufgefhrt 80

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Unsere Stellung zu den Religionsgesprchen

wurden, soll Friedrich Wilhelm IV., dem ja ein Witz ber vieles ging, gesagt haben: »Katholiken und Evangelische schlagen sich die Kpfe blutig, und der Jude macht die Musik dazu!« Solche Musik ist unter uns nicht erklungen, solches »Judentum in der Musik«, 1 um mit Richard Wagner zu sprechen, hat es nicht gegeben. Wir kennen den Gesang, den man im Judentum damals anstimmte, als Katholiken und Reformierte, Lutheraner und Wiedertufer das scharfe Schwert gegen einander fhrten; wir kennen die Lieder, die von Juden damals gedichtet worden sind. Kein Laut der Schadenfreude klingt daraus hervor, kein billiger Triumphgesang, sondern nur der Ton der frommen Hoffnung, daß trotz allem einst die Menschen insgesamt als Brder sich zusammenfinden werden. Dem Judentum hat es nie an der geistigen Unbefangenheit, diesem besten Liberalismus, gefehlt, allem, was weltgeschichtliche Bedeutung besitzt, diese auch zuzugestehen. Wir betonen mit Stolz, daß das Judentum nie eine bloße Konfession geworden, die alleinseligmachend das Himmelstor vor den Andersglubigen zuschließt, sondern immer Religion geblieben ist. Wie sehr es das immer geblieben, das hat sich vornehmlich in dieser Freiheit gezeigt, mit der es anderen Religionen gerecht zu werden, ihnen ihren Wert zuzuerkennen vermocht hat, obwohl es nicht immer gerade Religion war, die es von den anderen, zumal vom Christentum, erfuhr. So ist es fr uns geschichtliche Pflicht und geschichtliches Recht, den Streit, der jetzt die Gemter im Protestantismus erregt, auch an uns herandringen zu lassen, und wir wnschten nur, daß man uns das gleiche tte, daß vielleicht unsere evangelischen Mitbrger sich einmal, mit unbefangener Sympathie, offen ber die Fragen unterhielten, die die deutsche Judenheit bewegen. Wir haben heute den Anfang gemacht. Aber wenn so das Problem auch, dem jene Religionsgesprche galten, unsere Anteilnahme weckt, die Antwort, die es finden mag, ist fr uns bloß eine historische Angelegenheit. Fr unser Judentum hat es nichts zu bedeuten, ob die Geschichte Jesu das Bild eines wirklichen Lebens oder nur ein Mythos ist. Denn was im Christentum groß und heilig ist, das alles, wir drfen es getrost aussprechen, das alles ist ein altes, sicheres Besitztum unserer Religion. Es gibt in der christlichen Literatur keinen edlen und frommen Satz, der nicht seit altem und langem auch aus dem jdischen Schrifttum uns deutlich und edel entgegenklingt. Mit allem Respekt, den wir den An1. Anonym verffentlichtes Essay aus dem Jahre 1850, in dem Wagner behauptete, daß Juden kein wahres Talent fr Musik besßen.

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dersglubigen schulden, aber auch mit all der Selbstachtung, die wir uns schulden, sprechen wir es aus: wir haben nicht Neues im Neuen Testament erhalten, fr uns ist das Neue Testament, soweit es Sittlichkeit und Frmmigkeit verkndet, ein Altes. In ihm steht ja auch – und davon verlautet allerdings seltener die Kunde – manch anderes noch außer dem Vaterunser, und man knnte seine Geschichte recht eigenartig zusammensetzen von dem fnften Kapitel im Evangelium Marci an, das von dem Besessenen in Gadara erzhlt, dessen bse Geister Jesus in eine Herde von Schweinen hineinfahren hieß, so daß diese, bei zweitausend an Zahl, sich in den See strzten und darin ertranken, bis hin zur Erzhlung von dem Herodes, der von Wrmern zerfressen ward, zur Strafe fr seinen Hochmut. Man knnte so das Christentum und seine alten Urkunden zeichnen, und das wre nur die Methode, die gegen Juden und Judentum immer beliebt worden ist, diese Methode, die darin besteht, daß jedes Spinngewebe und jedes Staubkgelchen, das irgendwo in irgend einem Jahrhundert in irgend einer Ecke des Judentums vergessen blieb, hervorgeholt und triumphierend in die Hhe gehalten wird: »Seht, das ist das Judentum!« Jedoch, wir steigen nicht hinab, wir wollen diese unnoble und unredliche Art, die gegen uns gebt wird, nie nachahmen; wir wollen die geistigen Kmpfe mit sauberen Hnden und sauberen Waffen fhren. Wir beurteilen das Christentum vor allem nach dem, was in ihm hoch steht. Wenn wir so das Hchste und Beste ins Auge fassen, wir knnen auch dann nur wiederholen: das alles besitzen auch wir in unserem religisen Gut, das ist unser gesichertes Eigentum. Und das alles wiederum, was im Fortschritt der Tage ernste, denkende Christen in ihrem berlieferten Glauben als drckend empfinden, wovon ihr religises Gewissen loszukommen sucht, das ist es gerade, wovon das Judentum sich freigehalten, wogegen es immer gekmpft hat, und was in die christliche Kirche damit erst hineingedrungen ist, daß sie sich vom Judentum entfernt hat. Darum, wenn kluge Leute zu uns kommen und uns sagen, unsere Bestimmung sei es, in dem herrschenden Bekenntnis aufzugehen und unterzugehen, antworten wir ihnen: »Mit Verlaub, ihr Herren, soll es denn eine Bekehrung geben, dann bekehret euch zu uns! Zu uns mget ihr kommen, wenn ihr die Lehre der Wahrheit sucht; wir sind nicht von gestern und ehegestern erst, und wir sind nicht bloß fr morgen und bermorgen.« Vielleicht gibt es zaghafte Gemter, denen es bedenksam erscheint, das aller Welt zuzurufen. Allein wir leben in einer Zeit, wo das Wehen eines hheren Geistes wieder ber die Erde geht, und 82

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Englische Frmmigkeit

wer sich versteckt, der ist dieser Zeit und ihres Geistes nicht wert. Als vor zwei Menschenaltern die Strme des Vlkerfrhlings 1 auch nach sterreich hinberfuhren, da sprach dort ein Mann, Adolf Fischhof, 2 ein Wort, das bald ein geflgeltes wurde: »Wer in Tagen, wie diese, keinen Mut besitzt, der gehrt in die Kinderstube hinein!« Wenn auch unter uns manch einer sich am liebsten ngstlich fortschleichen mchte vor der Pflicht, sich zu bekennen, wenn Juden in Haltung und Wort zu sagen scheinen: »Entschuldige vielmals, daß ich existiere!« dann rufen wir ihnen zu: »Wenn ihr in dieser Zeit nicht sagen noch wissen wollt, wer ihr seid und was ihr seid, dann httet ihr in der Kinderstube bleiben sollen, in die ihr hineingehret!« Wir sind eine Minderheit, und vielleicht ist ein Teil unseres geschichtlichen Berufes, das zu sein, durch unsere Existenz schon den Satz zu vertreten, daß es wahre Gerechtigkeit erst dort gibt, wo sie auch jeder Minoritt zu teil wird. Wir fhren den Kampf um sie, diesen Kampf um unser Recht. In ihm mgen wir es beherzigen, was so oft vergessen wird: Keine Minoritt, die ihren eigenen Glauben hat, kann ihre Gleichberechtigung durchsetzen, so lange sie nicht fr ihre Religion den Respekt erkmpft hat. Wir haben gestritten und streiten um Stellung und mter; aber das alles wird auf die Dauer nichts fruchten, wenn wir nicht fr unsere Religion vor allem streiten, um ihr die Achtung zu erringen, die ihr zukommt. Die echte, die ehrliche und aufrichtige Anerkennung werden wir uns endlich erwerben, nur wenn wir offen und stolz es immer bekennen: »Wir wissen, wer wir sind und weshalb wir es sind; wir sind Juden, weil wir Gott ber uns wissen und die Wahrheit auf unserer Seite; wir sind Juden, weil wir berzeugt sind, in unserer Religion die Zukunft zu besitzen.« Liberales Judentum 2 (Juni/Juli 1910): S. 123-126.

* Englische Frmmigkeit In keinem Lande ist der Wunsch, das Judentum zu begreifen, seit langem ein so aufrichtiger, wie in England. Er pflegt hier aus einem 1. Die Revolution von 1848. 2. Adolf Fischhof (1816-1893). Jdischer Politiker in sterreich und einer der Anfhrer der Revolution von 1848.

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religisen Bedrfnis hervorzugehen und nicht, wie anderwrts meist, bloß aus politischen Gedanken. In Deutschland handelt es sich, wenn man vom Judentum spricht, fast stets um die Fragen der Verfassung und des Rechts oder die sozialen Fragen, in England vor allem um das Glaubensproblem. Das liegt nicht nur daran, daß hier seit mehr als einem Menschenalter die Gleichberechtigung verwirklicht ist; denn es verhielt sich so bereits, als fr sie noch gekmpft werden mußte. Damals schon, als Cromwell die einst Vertriebenen wieder in das Reich aufnehmen sollte, war es vornehmlich die Macht des Glaubens in diesem Manne und in seinen Puritanern, worauf die Juden vertrauen durften. So mssen es denn innere Grnde wohl sein, religise Zusammenhnge, die im englischen Volk eine Teilnahme fr das Judentum wecken. Man darf diese Beziehungen allerdings nicht sowohl bei der Staatskirche suchen, als vielmehr bei dem freien, nonkonformistischen Kirchentum. Aber gerade dieses gibt ja dem religisen Leben des englischen Volkes das eigenartige Geprge. Was England drinnen wie draußen in der Welt gewesen und geworden ist, ist es nicht zum mindesten durch seine »unabhngigen« Christen geworden. Fr das letzte Jahrhundert gilt besonders das Wort Lord Palmerston’s, daß Englands Entscheidung schließlich doch immer dem Gewissen der Nonkonformisten folgen msse. Diese »independenten« religisen Gemeinschaften sind unter Verfolgungen und Bedrckungen herangewachsen, sie haben ihr Joch in der Jugend getragen. Es lßt sich nicht verkennen, wie viel das fr das religise Empfinden bedeutet und wie viel dem Judentum Verwandtes dadurch gegeben ist. Man braucht nur andere Kirchen in Vergleich zu ziehen. So manches, was an dem deutschen Protestantismus mißfllt, wie die allzu selbstgefllige, lehrhafte Weise, die bisweilen zur Herrschaft der frommen Redensart wird, geht darauf zurck, daß ihm kein Geschick eine Mrtyrerzeit abgefordert hat. Ihm haben vom Anbeginn an Frsten den sicheren, geschtzten Boden bereitet. Wohl hat es auch in Deutschland Glaubenskmpfe gegeben, aber es waren Kriege der evangelischen Machthaber gegen die katholischen, Schlachten zwischen Sldnerheeren. Glaubenszeugen, die fr ihr Gewissen in den Tod oder ins Elend gingen, hat der deutsche Protestantismus kaum gekannt; hier steht auch die Hochkirche vor ihm. Nchst den Juden sind es die englischen Nonkonformisten, die bis in die neue Zeit hinein es am meisten haben beweisen mssen, wie viel sie fr ihre berzeugung zu dulden bereit sind. Noch 1843 hat das vereinigte Knigreich das ergreifende Schauspiel erlebt, daß 84

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Englische Frmmigkeit

vierhundertundsiebzig schottische Geistliche ihre Pfarrhuser und das sichere Dach ihres Daseins verließen und in die ungewisse Zukunft hinauszogen, um dafr das Gewisseste, die Treue gegen sich selbst, zu wahren. An den Erinnerungen aus der Heldenzeit der Verfolgungen erbauen sich noch heute die Freikirchen im englischen Volk, und dort hat man darum das unbeugsame Gewissen und den starken Wahrheitsmut der Juden immer begriffen. Es ist mehr als bloß rednerischer Schwung, es ist das Gefhl eines seelischen Zusammenhangs, wenn der große geistliche Volksmann Spurgeon 1 die Juden einmal als die »großen Nonkonformisten der Welt« gepriesen hat. Der Begriff des Indepedenten, d. h. der Persnlichkeit, die den Anspruch darauf hat, ein »Dissenter«, ein Andersglubiger zu sein, anders als die Vielen und die Herrschenden im Lande, ist berhaupt in England zum ersten Male staatsrechtlich ausgeprgt worden. Hier ist zuerst der mittelalterliche Grundsatz untergraben worden, daß es die Aufgabe des Staates und seiner Kultur sei, in den »hheren« kirchlichen Zwecken aufzugehen, hier ist zuerst dem religisen Gedanken die Freiheit zugesprochen worden, sich in mannigfaltiger Weise innerhalb des Staates auszugestalten. Whrend Deutschland nur seine Landeskirchen hatte oder, was dasselbe ist, Frstenkirchen, wurde hier im unabhngigen Staat der Platz fr die unabhngigen Volkskirchen der Dissenters geschaffen. Was der inneren englischen Geschichte die Eigenart gibt, ist neben dem streitbaren Eifer fr das politische Recht des Volkes dieses Ringen um das religise Recht des Individuums. Der Kampf der Juden um die Emanzipation ist hier nichts anderes gewesen als ein Teil in dem großen Kampf, den die Dissenters fr ihre Stellung im Staate gefhrt haben. Aber nicht nur auf dieser Gemeinsamkeit des Erlebens und Erstrebens beruht die Sympathie, deren sich das Judentum seit langem in England erfreuen kann. Es ist auch eine wesentliche innere Verwandtschaft, die dabei mitwirkt. Wenn Deutsche, die nach dem Inselreiche gekommen sind, das schildern, was sie dort am Kirchenwesen beobachteten, dann stellen sie immer zuoberst den »gesetzlichen Zug«, der die englische Religiositt kennzeichnen soll; die strenge Sonntagsheiligung, die Abstinenzbewegung, die volkstmlichen sozialen Einrichtungen und hnliches bieten die Beispiele fr diese Behauptung. Es liegt viel Wahres hierin. Gegen die englische Frmmigkeit, zumal die indepedente, kann sich in der Tat 1. Charles Haddon Spurgeon (1834-1892). Populrer Prediger und Kritiker der Church of England.

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der Vorwurf der »Gesetzlichkeit« richten, dieser selbe Vorwurf, der seit altem besonders gegen das Judentum erhoben wird und der in Wirklichkeit ein Lob nur ist. Das »Gottesgesetz« steht obenan wie dort, so hier, oder genauer: weil dort, deshalb auch hier; denn die Geschichte des Puritanertums zeigt, was das Alte Testament hier bedeutete. Fr die englischen freien Kirchen ist es ganz wie fr das Judentum die erste und letzte Forderung, daß die Religion sich im Leben beweisen, daß mit ihr Ernst gemacht, daß sie gelebt werden soll. Nicht im Glaubensgefhl, sondern in der moralischen Energie, in der sittlichen Entschlossenheit, die das ganze Dasein durchdringen und veredeln will, wird der Weg zu Gott gefunden; wer immer das Gute bt, ist Gott nahe. In seinem Buch von »vergangenen Zeiten« hat John Ruskin 1 es ausgesprochen, woher diese Anschauung ihm stammt; er rhmt es als »den alten Lehrsatz des jdischen Glaubens, daß Dinge, die man schn und recht tut, stets mit der Hilfe und im Geiste Gottes getan sind.« Auch an das ffentliche Leben dringt in England die Forderung heran, die das Gottesgesetz stellt. Begreiflicherweise! Je weniger man den Staat kirchlich fr sich beansprucht, um so mehr kann und muß man moralisch von ihm verlangen. Selbst fr die anderen Vlker fhlt diese Religiositt sich sittlich mitverantwortlich, und auch das geht auf ihren gesetzlichen Charakter zurck. Wo der Glaube, wie z. B. im deutschen Protestantismus, vor allem gilt, der Glaube, in dem ja etwas Trennendes liegt, da die Bekenntnisse verschieden sind, rcken die Schranken zwischen den Menschen vor. Wo das Gottesgesetz seinen sittlichen Anspruch stellt, ist das Gemeinsame da, das alle verbindet. Es gibt das Glaubensbekenntnis eines bestimmten Kreises, aber kein Sittengebot, das sich nur auf ihn bezge. Gesetzliche Frmmigkeit ist es, die sich in England so furchtlos und unerschrocken gegen jedes Verbrechen auf Erden erhoben hat, ob es nun gegen die orthodoxen Armenier oder gegen die russischen Juden, gegen das Volk von Neapel oder gegen die Neger am Kongo verbt worden war. Man denke gegenber alle dem nur an die stumme Gleichgltigkeit, mit der die protestantische Kirche Deutschlands dem Despotismus und der Leibeigenschaft immer zugeschaut hat. berhaupt erstreckt sich das soziale Bewußtsein, das diese Religiositt auszeichnet, – die evangelisch-soziale Bewegung in Deutschland hat von dort erst ihren Schwung erhalten – zu weitem, sittlichen Horizont; er ist heute z. B. in dem Eifer fr die große Friedensbewegung zu erkennen. Messianische Gedanken wirken 1. John Ruskin (1819-1900). Englischer Essayist und Sozialkritiker.

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Wahrheit und Gerechtigkeit

darin mit lebendiger Kraft, und sie knnen dem, der es in der Geschichte des Judentums noch nicht beobachtet hat, zeigen, wie eng der Zusammenhang ist zwischen dem Gottesgesetz und diesen prophetischen Ideen, die an eine fortschreitende Verwirklichung der Sittlichkeit glauben lehren. Die Frmmigkeit ist dort wie hier messianisch, weil sie gesetzlich ist. In diesem Doppelten, dem hnlichen Schicksalslauf und dem gesetzlichen Zug, ist die Verwandtschaft zwischen dem Judentum und den freien Kirchen England begrndet. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß daneben die trennende Verschiedenheit steht mit ihren wesentlichen, bestimmenden Gegenstzen, wie die Christologie, die Prdestinationslehre und andere Widersprche des Glaubens. Aber es verlohnt sich doch, die inneren Zusammenhnge aufzusuchen und in dem Verbindenden das Eigentmliche, die alten Gedanken, die fortwirken und neu werden, zu erfassen. Die vergleichende Religionsgeschichte darf sich nicht auf die Ergrndung des Gewesenen beschrnken, sie muß ebenso sehr die Glaubensformen, die wir lebendig vor uns sehen knnen, betrachten. Dies sollte weit mehr geschehen. Nicht zum mindesten das Judentum wrde dann besser begriffen werden und sich selber auch besser begreifen. Liberales Judentum 2 (Feb. 1910): S. 33-35.

* Wahrheit und Gerechtigkeit Es gibt tatschlich einen Unterschied zwischen alttestamentlicher und neutestamentlicher Moral. Allerdings geht er nach ganz anderer Richtung, als z. B. die protestantische Theologie anzuzeigen geliebt hat. Sie sprach und spricht gern von der hheren Sittlichkeit, die das Neue Testament gebracht habe, und die ber die Lehre des Judentums weit emporfhre. Aber eigentmlicherweise hat sie dabei immer vergessen, an zwei Grundbegriffen der Ethik diesen Fortschritt einmal genau aufzuweisen, an dem der Wahrheit und dem der Gerechtigkeit. Hier htte sie zu Ergebnissen gelangen knnen, die auf einen anderen Weg fhren. Es lßt sich nmlich nicht bersehen, welche Wandlung zunchst der Begriff der Wahrheit in der christlichen Literatur erfahren hat. Schon das eine fllt auf: die Mahnung zur wahren Rede und die Warnung vor der Lge kommen, von einem Satze abgesehen, der das Schwren untersagt, in den Evangelien zu keinem bestimmten Aus87

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drucke, und auch in den brigen Teilen des Neuen Testaments treten sie so gut wie garnicht in den Kreis des Gebotes. Glauben und Demut, Dulden und Hoffen, Mitleid und Wohlttigkeit werden oft und innig gerhmt, aber die Wahrhaftigkeit suchen wir vergeblich daneben. In der folgenden christlichen Literatur zeigt sich der gleiche Mangel, und er tritt um so mehr hervor, da das Alte Testament und das nachbiblische jdische Schrifttum aufs eindringlichste jene Tugend gefordert hatten. Dieser Mangel ist nicht zufllig; denn im Neuen Testament ist aus dem alten Worte von der Liebe zur Wahrheit etwas ganz anderes geworden. Sie bedeutet hier nicht zuerst die Lauterkeit der Rede und ihre bereinstimmung mit dem geheimsten Gedanken, nicht die Reinheit der Lippen und die Geradheit des Herzens, sondern das Wort benennt hier vor allem die Hingebung an die neue Botschaft, an das Geheimnis der gttlichen Erlsungsgnade. Wahrheitsliebend ist jetzt der Rechtglubige, der Orthodoxe; wer des rechten Bekenntnisses ermangelt, mag er auch ehrlichen und aufrichtigen Sinn bewhren, gilt als Knecht der Lge. Die Forderung, glubig zu sein, die hier alles beherrscht, hat auch den Begriff der Wahrheit sich unterworfen und ihm den Stempel aufgedrckt. Von ihrem ethischen Sinn und Wert hat die Wahrheit damit viel verloren und ein dogmatisches Geprge dafr erhalten. Ihren ersten Platz hat sie jetzt nicht bei den sittlichen Pflichten, sondern bei der kirchlichen Lehre und Satzung; sie verlßt das Verhltnis des Menschen zu seinem Nchsten und bestimmt vorerst seine Beziehung zu einem Geheimnis des gttlichen Heiles. Ihr wesentlicher Besitz muß so nicht mehr zu jeder Stunde errungen und erhalten sein, er wird ein fr allemal gehorsam angenommen. Kurz, sie betrifft nicht mehr das Gewissen des Menschen, sondern sein Bekenntnis; dieses wird der oberste Maßstab fr Wahrheit und Lge. Das war eine verhngnisvolle Fortbildung. Der neue, dogmatische Begriff nahm dem alten, sittlichen seine Kraft. Je mehr man bei der Lge an die Ketzerei dachte und an die Rechtglubigkeit bei der Wahrheitsliebe, desto weniger hrte man aus dieser von alle dem heraus, was gegen den Nchsten gebt werden sollte. Die Umbiegung des Begriffes wirkte auf die ganze Auffassung zurck. Die Glubigen gewhnten sich, um ein Wort Leckys 1 zu gebrauchen, die Liebe zur Wahrheit mit dem, was sie Liebe zu ihrer Wahrheit 1. William Edward Hartpole Lecky (1838-1903). Irischer Historiker der Geschichte Englands mit besonderem Interesse an der Geschichte der Religion und Moral.

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Wahrheit und Gerechtigkeit

nannten, zu verwechseln. Dazu kam, daß ein wesentliches Stck der Aufrichtigkeit, die der Mensch sich schuldet, von der Kirche verurteilt und verwehrt wurde. Nicht durch berlegung, sondern durch Unterwerfung, so wurde es verkndet, knnte die Wahrheit erworben werden. Bedenken und Zweifel, die sich gegen sie richten wollten, wurden als sndiger Irrtum verworfen und mit den Strafen des Diesseits und Jenseits bedroht und dagegen der bereitwillige Gehorsam, der nicht prfen, sondern annehmen wollte, mit dem Ehrenwort der Treue, dieser Schwester der Wahrhaftigkeit, ausgezeichnet. Die Liebe zu ihr sollte darin sich zeigen, daß die eigenen Gedanken unterdrckt wurden. Mußte damit nicht auch ein Stck des Gebotes verloren gehen? Nicht um mit Begriffen zu spielen, werden diese Folgen und Folgerungen hier vorgebracht; denn das alles ist leider geschichtliche Wirklichkeit gewesen. Wenn irgend etwas der geistigen Beschaffenheit des Mittelalters, und in das Mittelalter gehrt auch die lutherische Kirche hinein, eigentmlich war, so ist es ein gewisser Mangel an Wahrheitssinn und Wahrheitsliebe. Es ist ein bitteres Wort, welches Herder gesprochen hat, daß »die Redensart christliche Wahrhaftigkeit mit der Redensart punische Wahrheit gleichgestellt zu werden verdiene.« Aber wer jene Jahrhunderte kennt, wird dieses Wort verstehen. So wenig die Moral des Einzelnen angezweifelt werden soll, so bestimmt spricht doch die Geschichte davon, wie vieles dadurch verwirkt und verschuldet worden ist, daß das Neue Testament das Wahrheitsgebot aus dem Kreise des Gewissens in den des Glaubens hinberfhrte. Aber vielleicht noch verhngnisvoller ist die Umgestaltung gewesen, die der Begriff der Gerechtigkeit hier erfahren hat. Es ist eine Hhe der jdischen Moral, daß sie das Bild des Gerechten geschaffen hat, des Menschen, der seine beste Frmmigkeit in dem beweist, was er fr seine Mitmenschen tut. Diese ideale Frmmigkeit konnte auch dem Heiden zugesprochen, auch er vor Gott hingestellt werden, und ein Band der Humanitt umschlang damit alle. Dem trat das Neue Testament entgegen wiederum mit dem alles beherrschenden Glauben; ihm wurde wie die Wahrhaftigkeit so die Gerechtigkeit unterworfen. »Gerecht ist, wer an diesen glaubet«, so lautet der neue Grundsatz, an dem dann auch spter Luther mit besonderer Starrheit festgehalten hat. Es kann garnicht entschieden genug betont werden, was das besagt. Also nicht mehr darin, daß der Mensch strebend und wirkend sich bemht, wird er gerecht, rechtschaffen und fromm, sondern dadurch, daß er glaubt. Wir besitzen in dem kirchlichen Schrifttum 89

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Aufzhlungen der Tugenden, und der Kehrreim ist: Mag einer sie immer erwerben – wenn er den Glauben nicht hat, so kann er nicht gerecht werden und vor Gott nicht bestehen, und das ewige Feuer ist sein Erbe. Die Unglubigen mgen die edelsten Vorzge beweisen, in allen guten Taten sich bewhren, sie sind doch nicht fromm und nicht gerecht, und alle ihre Tugenden sind, wie Augustin in seinem Buche vom »Gottesstaate« erklrte, Lastern gleich zu achten. Nur der Orthodoxe ist rechtschaffen und gut; der Ketzer ist immer ein Verworfener. Und auch die Kehrseite fehlte nicht: jede Nachsicht wird gebt, wenn der Frevler nur dem rechten Bekenntnis folgt; das Unrecht des Glubigen wird durch seinen Glauben zugedeckt. Die christliche Literatur enthlt Lobreden auf die schlimmsten Gewaltherrscher; sie waren zwar Verbrecher, aber orthodox, und »wer an diesen glaubt, ist gerechtfertigt.« Menschliche Vorzge bedeuteten so ohne den rechten Glauben nichts – war es da nicht ein Schluß, der allzu nahe lag, daß es minder wichtig, und schließlich, daß es zwecklos sei, sie auch zu erstreben? Die Folgerung ist nicht ausgeblieben. Alle Gewaltsamkeit, alle die grausame Unduldsamkeit des langen Mittelalters, das Leiden und die Qual, mit der es dem Menschen heimgesucht hat, nicht zum mindesten alles das, was wir Juden erdulden mußten, geht aus dieser Umwertung hervor, die die Gerechtigkeit erfahren hat. Auch hier hat der neue Begriff dem alten Inhalt fortgenommen. Da man immer nur an das Recht dachte, daß der Glubige von Gott hat, so verlor man den Sinn fr das Recht, das der Mensch dem Menschen gewhren soll. Man wußte sich gerecht durch den Glauben und bemhte sich darum weniger, es durch die Tat zu werden. Die schlichte weltliche Gerechtigkeit verschwand hinter der bernatrlichen, geistlichen, die nchterne Aufgabe, die diese Erde stellt, hinter dem Streben nach dem Heil, welches die Kirche dem Glubigen verheißt. Die Moral wurde durch das Bekenntnis zurckgedrngt – das ist der neutestamentlich-kirchliche Weg der Entwicklung. Erst die soziale Bewegung der Gegenwart hat die alte jdische Gerechtigkeit wieder zu Ehren und zur Wirklichkeit gebracht, ganz wie die neue Ethik den alten Begriff der Wahrheit. An diese Umwertung zweier wichtiger Begriffe sollten alle die sich erinnern, die von der neutestamentlichen Moral reden. Vielleicht denken sie dann auch noch an die weitere Tatsache, daß das Evangelium wichtigen sittlichen Geboten, denen des Familienlebens, der Rechtsordnung und der brgerlichen Arbeit, fremd oder gleichgltig gegenbersteht, und daß ein anderes grundlegendes Gebot, das der Nchstenliebe, dort nur mittelbar, als ein Zitat aus dem Alten Testa90

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Gesetzesreligion und Religionsgesetz

ment, erscheint. An jenem Wort von der neuen Sittlichkeit wird danach wenig brigbleiben. Es ist in der Tat nur eine Redensart, der bisher bloß das Gesetz der Trgheit zu gute kam. Die moderne protestantische Sittenlehre beweist es selber. Denn sie muß immer, wenn sie Ethik lehren will, wieder alttestamentlich werden, sie muß die Wahrheit und die Gerechtigkeit mit ihrem alten Begriffe wieder aufnehmen. Vielleicht wird sie auf diesem Wege auch einmal dazu gelangen, das alles offen auszusprechen, und so gegen das Judentum Wahrheit und Gerechtigkeit, im alten, jdischen Sinne, zu ben. Liberales Judentum 3 (Juni/Juli 1911): S. 121-123.

* Gesetzesreligion und Religionsgesetz ber Bedeutung und Wert, die das Gesetz im Judentum hat, gehen die Urteile auseinander. Vielleicht finden sich manche Meinungen wieder zusammen, wenn einmal die Begriffe der Gesetzesreligion und des Religionsgesetz festgestellt werden. Das Wesen des Menschen, oder was dasselbe ist, sein Verhltnis zu Gott, ist in zwiefacher Weise von den Religionen aufgefaßt worden. Der einen erscheint der Mensch als selbstndige Persnlichkeit, als verantwortlicher Urheber seines Tuns, als Subjekt der Tugend, wie der Snde. Das Gute und das Bse sind vor ihn hingelegt, er kann zwischen ihnen whlen, oder wie die Religion bald zu ihm spricht, er soll zwischen ihnen whlen, ein fr allemal; er kann es, weil er es soll, und die Freiheit wird damit sittliche Aufgabe, die ihm gestellt wird. Wie er sie erfllen kann, lehrt ihn die Religion, indem sie ihm zeigt, was das Gute ist, das er whlen soll, oder, wie sie es lieber ausdrckt, was der gttliche Wille ist. Die Religion ist hier also eine Verkndigung des Gebotes, des Gottesgesetzes. Aber sie kann das sein, nur weil sie dem Menschen gesagt hat, daß er das Subjekt seines Tuns ist. Auf Grund dessen allein kann sie dieses bestimmte Tun, dieses Gesetz seines Handelns ihm abfordern, darf sie ihm gebieten, daß er den gttlichen Willen zu dem seinen mache, um in der guten Tat schpferisch und frei zu werden. Das Verhltnis des Menschen zu Gott, sein Wesen ist so vor allem ein ethisches, d. h. eine Beziehung, die sich auf die Wahlfreiheit des Menschen grndet und ihn durch die Gebote des gttlichen Willens zur sittlichen Freiheit zu erheben sucht. 91

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Eine Religion, die derart durch das »du sollst« das Wesen des Menschen bestimmt, wird am krzesten Gesetzesreligion genannt, und eine solche Gesetzesreligion, die einzige in der Geschichte der Menschheit, ist die israelitische, die jdische Religion. Sie ist es, weil sie »dem Menschen sagt, was gut ist und was Gott von ihm fordert«, und darum von dem Satze ausgehen kann: »heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott,« 1 sie ist es, weil sie die Religion der Gerechtigkeit und der Menschenliebe, des Sittengebotes und der prophetischen Mahnung ist. Fr diese Gesetzesreligion haben die Propheten gestritten, und nur in ihr haben sie zeigen knnen, was das Gottesgebot ist. Was sie bedeutet wird noch schrfer der Gegensatz dartun. Denn ihr steht gegenber die Religion, die am besten als Gnadenreligion bezeichnet wird. Hier wird das Wesen des Menschen darin gefunden, daß er bloßes Objekt ist: Objekt der Erbsnde, so daß, wenn eine Snde durch ihn begangen wird, nicht er sndigt, sondern die Sndhaftigkeit, in der er geboren ist, sie wirkt, und Objekt des Heiles, so daß, wenn ein Gutes durch ihn geschieht, nicht er es bt, sondern die Gnade es schafft, die auf ihn herniedergekommen ist. Er whlt nicht das Gute oder das Bse, er ist vielmehr dazu erwhlt worden; er ward erniedrigt und er wird erhoben. Durch sich selbst ist er nichts; was er ist, ist er durch die Wunderwirkung der Erbschuld und der Gnade, und darum ist ja auch das Wunder, das in der Gesetzesreligion etwas religis Nebenschliches bloß ist, hier das Fundament, auf dem der Glaube beruht. Was einer also an Gerechtigkeit und sittlicher Arbeit leistet, alles, worin er Subjekt sein will, ist fr die Erlangung des Heils ohne die wesentliche Bedeutung; diese seine Taten sind bloße opera legis, »Werke des Gesetzes«, die nichts schaffen. Sein Grundverhltnis zu Gott ist nicht das ethische, in welchem ihm das Gottesgesetz den Weg des Lebens zeigt, sondern das bernatrliche, das jede menschliche Selbstndigkeit ablehnt und ganz auf die berirdische erlsende Gnade Gottes verweist; die Verkndigung von ihr ist die Religion. So ist es die Lehre des Christentums, und sie bezeichnet den tiefen Gegensatz gegen das Judentum. Sie ist die Grundlehre geblieben, und die Reformation z. B. hat sie nur zu neuer Schrfe ausgeprgt; sie ist die einzig lutherische, wie sehr auch der moderne Protestantismus sich hier und dort bemht, »gesetzlich« zu werden, allerdings ohne es einzugestehen, wie sehr er damit jdisch wird. Als Gesetzesreligion und Gnadenreligion stehen Judentum und Christentum einander gegenber. 1. Lev 19,2.

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Gesetzesreligion und Religionsgesetz

Jedoch wenn dem so ist, eine Frage bleibt doch noch brig: Ist das Judentum denn nur in jenem hohen, sittlichen Sinne Gesetzesreligion, ist nicht sein Gesetz doch noch etwas mehr und dadurch im Grunde so viel weniger? Hat es denn nicht auch sein sogenanntes »Religionsgesetz«, die weite Flle der Satzungen und Bruche, der Zeremonien und Institutionen? Gewiß, das Judentum hat das alles, in reichem, berreichem Maße. Aber das alles, und das ist nun das Wesentliche, ist doch nicht das Gesetz der Religion, sondern das alles ist nur das Gesetz der Religionsgemeinde. Jede Glaubensgemeinschaft braucht ein ußerliches, Greifbares, etwas Aufweisbares, durch das ihre einzelnen Glieder zusammengefgt werden, die Gemeinde hergestellt und erhalten wird. Die Gnadenreligion hat dieses Band sich bereitet, wie es ihrem Wesen entsprach, indem sie dem Wunder von der Schuld und Gnade die bestimmte Formulierung, die Fassung in das Bekenntnis gab. Damit wurden die Glubigen zusammengeordnet, die Gemeinde des Heils wurde abgegrenzt, um ihrer Existenz willen sind die Stze des Dogmas festgestellt worden. Dies blieb das eigentliche Band, wie sehr auch die Mnner der Gnadenreligion durch die staatliche Hilfe manch anderes noch erhielten, wodurch die Gemeinde zusammengeschlossen, eine feste kirchliche Ordnung geschaffen worden ist. Das Judentum hat dieses Beistandes entraten mssen, es ist keine Kirche geworden, und es hat keine geistlichen Gewalten gehabt. Um so strker ist in ihm darum das Bedrfnis geworden und geblieben, die Mittel bereit zu haben, durch die die Einzelnen auch ußerlich zur Gemeinsamkeit zusammengefhrt, dieser die sichere Verfassung gegeben wurde. Es ist kein Zufall, das sich das Verlangen in der Zeit am entschiedensten regte, in der das staatliche Leben, das bisher der Religionsgemeinschaft einen Rckhalt geboten hatte, mehr und mehr verfiel, um schließlich unterzugehen. Der alte Kreis hatte sich gelst, und die Notwendigkeit trat ein, die Mittel der Zusammenfgung fr die Zerstreuten zu gewinnen, und je schwerer dann, nur zu bald und nur zu oft, die Bedrngnis wurde, desto eindringlicher sprach dieses Gebot immer wieder zu den Seelen. So ist das Gesetz der Religionsgemeinde entstanden, das Gesetz, denn das Judentum, dessen Grundprinzip doch die Forderung ist, die an den Menschen gestellt wird, konnte auch alles dies, was der Herstellung der Gemeinde galt, nur in der Form der Forderung schaffen. Auch hier mußte das »du sollst« das leitende Motiv sein, und jeder Einzelne ist auch hier wieder Subjekt, er schafft frei und selbstndig mit an dem Bande der Gesamtheit, er hlt und erhlt das Gesetz der Religionsgemeinde. 93

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Dieses Gesetz der Gemeinde ist oft nicht bestimmt genug von dem Gesetze der Religion geschieden worden; weil beide das Tun fordern, schienen sie ineinander zu gehen. Unsere alte religise Literatur ist an diesem Grenzfehler unschuldig; sie hat die beiden immer genau auseinandergehalten. Sie hat nur die Taten, die das Gesetz der Religion fordert, aber nicht jene anderen, »gute Taten« genannt; sie hat nur den Verstoß gegen diese, aber nicht gegen jene anderen, als sndhaft bezeichnet und in das Schuldbekenntnis des Vershnungstages aufgenommen; sie hat ausschließlich den, der sie bt, gerecht und fromm genannt, und erst dem Jargon einer neueren Zeit ist jener andere Gebrauch des Wortes »fromm« vorbehalten gewesen. Das Mißverstndnis hatte einen Grund auch in einem Vorzuge dieses Gesetzes. Der ußeren Zusammenfgung der Gemeinschaft sollten seine Handlungen gelten, aber darum durften sie doch nicht religis gleichgltig sein. Wenn sie die heilige Gemeinde sichern sollten, so mußten sie heilige Mittel sein, Handlungen, die wie Zeichen auf das Gottesgebot hinwiesen und vor denen man Gott loben durfte, daß er durch sein Gebot den Menschen geheiligt hat. Das Gesetz der Religionsgemeinde mußte, wofern es seine Daseinswrde haben wollte, seine Beziehung zu dem Gesetze der Religion besitzen; es mußte, wie das alte Wort lautet, ein »Zaun um die Lehre« sein, dann erst konnte es als der schtzende Zaun um die Gemeinde dastehen. Darin war ihm eine Weihe gegeben, aber darin lag doch auch die Gefahr, daß es mit dem Gesetze der Religion verwechselt werden konnte. Und noch eines kam hinzu. Es gab keine Behrde, die diese Verfassung festlegen oder revidieren konnte. Die Gemeinschaft war kein organisiertes, rechtlich zusammenhngendes Ganzes, sie blieb eine Diaspora; jede Gemeinde war ein Vereinzeltes, auf sich Angewiesenes. Ja noch mehr; im Grunde – das ist dem Judentum eigentmlich geworden – war jedes Haus bereits eine Gemeinde fr sich, und so kam es im wesentlichen dazu, daß alle jene Mittel eigentlich auf die Schaffung und Erhaltung des jdischen Hauses hinzielten. Die Verfassung der Gemeinde wurde der Zaun um das Haus, und das erklrt es auch, weshalb die Satzungen so zahlreich und peinlich wurden, denn es ist eine Regel, daß, je kleiner der Kreis ist, desto mehr zu seiner Sicherung verlangt wird. Erhielt damit dieses Gesetz eine neue Wrde, so stand wiederum die Versuchung nahe, es mit dem Gesetze der Religion in eines zu stellen. Aber die Grenzlinie zwischen den beiden ist darum doch ganz wesentlich und ganz unverkennbar. Sie unterscheiden sich so klar und bestimmt, wie eben Religion und Gemeinde unterschieden sind. Das Gesetz der Religion stellt die Aufgaben, die sich aus dem Wesen des 94

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Das Judentum unter den Religionen

Menschen und seiner Beziehung zu Gott ergeben, die sittlichen Aufgaben der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit und der Menschenliebe, die um ihrer selbst willen zu erfllen sind. Das Gesetz der Religionsgemeinde enthlt die Pflichten, die aus der Zugehrigkeit zur Gemeinschaft, welche immer wieder geschaffen und gesichert werden soll, hervorgehen, die um der Gemeinschaft willen zu beobachten sind; sie dienen nicht der religisen Idee, sondern der Trgerin der religisen Idee, der großen oder kleinen Gemeinde. Die Aufgaben der Religion bleiben; sie sind stets dieselben, und mit ihnen, diesen Geboten der sittlichen Freiheit, der Gesetzesreligion steht und fllt das Judentum; ber sie gibt es keinen Streit der Parteien in ihm und kann es keinen geben. Die anderen, die Gebote der Gemeinde, mssen den Bedrfnissen der Zeit folgen; sie haben ihr Existenzrecht verloren, sobald sie die Gemeinde nicht mehr erhalten, sondern hemmen, oder sobald sie nicht mehr Hinweise auf ein Religises sind, sondern nur noch ein leeres Werk, das eben bloß noch gebt werden soll; sie knnen hier und jetzt noch etwas bedeuten und dort und dann nichts mehr sein, und um sie geht daher der Kampf der Parteien. Die einen sind das Gesetz der Religion und darum ihr eigener Zweck, die anderen sind das Gesetz der Gemeinde und darum nur Mittel zum Zweck. Diese sind die ewigen Gebote des gttlichen Willens, jene die zeitlichen Satzungen der Glaubensgemeinschaft. Liberales Judentum 4 (Aug. 1912): S. 174-177.

* Das Judentum unter den Religionen Die Frage nach der Stellung des Judentums unter den Religionen lsst sich zunchst statistisch beantworten. Es gibt auf Erden ungefhr 1600 Millionen Menschen, und unter diesen sind etwa 10 Millionen Juden. Also jeder Jude sieht sich von den Andersglubigen umgeben, aber immer erst der 160ste unter diesen sieht einen Juden. Vielleicht sind wir deshalb noch immer die grossen Ungekannten auf Erden. Allerdings Heinrich von Treitschke 1 hat einmal behauptet, wir Juden htten die merkwrdige Eigenschaft, uns zu multiplizieren; wenn irgendwo zwanzig von uns wren, so meinte man als1. Heinrich von Treitschke (1834-1896). Historiker an der Universitt Berlin. Autor des judenfeindlichen Essays »Ein Wort ber unser Judentum«, 1879 verffentlicht in den Preußischen Jahrbchern.

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bald, es wren zweihundert da. Aber mag vielleicht etwas Wahres daran sein, mag unsere kleine Zahl durch eine Beweglichkeitspotenz ein wenig ausgeglichen werden, auch dann ndert es sich doch nicht, dass es unser Schicksal war und bis auf weiteres bleiben wird, berall eine kleine Minderheit, die Minoritt zu sein. Wir sind immer die Wenigen gewesen. Wir haben nie die Bequemlichkeit gehabt, dass unsere Ansichten sich mit den herrschenden deckten, und wir den Beweis fr unsere berzeugung darin finden konnten, dass alle ringsumher dasselbe meinten und dachten. Im Weltparlament haben wir immer auf der linken Seite gestanden als unseres Herrgotts allertreueste Opposition. Um Gottes willen haben wir immer im Widerspruch gestanden gegen die Ansichten, die die Welt regierten, und die mit dem Glanze des Erfolges und der Macht umkleidet waren. Wir sind, um ein Wort des englischen Volksmannes Spurgeon 1 zu gebrauchen, stets die »grossen Nonkonformisten« gewesen, die grossen Andersseienden, die, die ihren Glauben fr sich haben wollten. Es ist kein Zweifel, wir haben dadurch unser eigenes Antlitz erhalten. Wir existieren nicht bloss, sondern wir sind etwas, wir stellen einen eignen Stil in der Menschheit dar. Aber wenn wir so auch seit jeher in der Opposition sind, so treten wir doch den anderen Religionen mit bereitwilliger Anerkennung ihrer Bedeutung gegenber. Unsere Geschichte schon hat uns die Toleranz gelehrt, und zwar nicht bloss die, die da sagt: mag jeder nach seiner Fasson selig werden. 2 Das wre nur die theoretische, die indifferente Toleranz. Und wir wissen es ja auch aus eigener Erfahrung, dass z. B. der grosse Knig, der ihr dieses bekannte Wort prgte, in praxi sie nicht immer bewiesen hat. Die wahre, die praktische Toleranz steht nicht bloss gleichgiltig dem andern gegenber, sondern sie grndet sich auf die Sympathie, sie sucht in das Wesen des andern einzudringen, die Seele des andern zu verstehen. An dieser Duldsamkeit fehlt es ja leider noch oft. Und was sollen wir Armen sagen, darf doch selbst die mchtigste unter den herrschenden Kirchen, die katholische, mit Recht sich darber beschweren, dass man sie hufig nur nach den usserlichkeiten beurteilt, nach den Rcken der Priester und nach den Kutten der Mnche! Aber wenn irgendwo, gilt in Fragen der Toleranz das Wort: »cucullus non facit monachum.« 3 »Wer den Rock kennt, der kennt noch nicht die Seele.« 1. Charles Haddon Spurgeon (1834-1892). Populrer Prediger und Kritiker der Church of England. 2. Diese Aussage wird Friedrich dem Großen zugeschrieben. 3. Lat.: »Die Kutte macht noch keinen Mnch«.

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Das Judentum unter den Religionen

Erst diese Toleranz, die die Seele sucht, ist die echte Duldung; und erst sie gewhrt dem Menschen auch die innere Unabhngigkeit zum Urteil ber sich selber. Sie gibt ihm das Recht, ja noch mehr, sie gibt ihm die Pflicht, seine eigene Art deutlich zu betonen. Sich zu verstecken und sich zu verleugnen, ist nicht nur Feigheit, sondern auch Intoleranz, Intoleranz im niedrigsten, unsympathischsten Sinne. Von Toleranz und von Sympathie wegen sind wir darum befugt und sind es allen anderen schuldig, offen und frei zu bekennen, wer wir sind. Ohne Scheu und ohne Bedenken drfen und sollen wir es aussprechen, welches unsere Eigenart ist, unsere Stellung gegenber den anderen Religionen. Wie stehen wir also ihnen gegenber? Wie sind wir? Denn nicht der Inhalt des Glaubens soll hier dargelegt werden, nicht das Wesen der Religion, fr die unsere Vter gelebt haben und gestorben sind, und die uns, wie ihnen einst, Gehalt und Wert des Daseins ist; nicht um das Was handelt es sich hier, sondern um das Wie, um die Art, wie wir diesen unseren positiven Glauben ausgeprgt haben. Wie sind wir also unter den Religionen? Das erste, was unterscheidend an uns hervortritt, – aber das nun folgende Wort darf nicht in seinem Schlagwort-Sinne genommen werden, sondern nur in seiner wirklichen Bedeutung – ist der unorthodoxe Zug. Wir alle, die Konservativsten ganz ebenso sehr wie die Liberalen, sind unorthodox, und vielleicht sind es bisweilen die ersteren noch mehr gewesen als die letzteren. Es war keine blosse Laune, sondern es war ein tiefes Verstndnis fr die Eigenart, wenn die hervorragendsten Fhrer unserer Konservativen die Benennung orthodox und Orthodoxie fr sich auf das entschiedenste ablehnten, wenn sie als Gesetzestreue, als Hter der Tradition oder sonstwie bezeichnet werden wollten, nur eben nicht als orthodox. Mit Recht! Keine Partei unter uns ist so; orthodox wird einer immer erst, wenn er vom Judentum fortgeht. Das ist unsere alte Eigentmlichkeit: wir haben aus der Religion kein System gemacht, sie durch keine dogmatischen Formeln eingegrenzt. Die Bibel schon ist nirgends abschliessend, sie bleibt fragenreich und briglassend. Zu der Bibel kam dann die mndliche Lehre, der Talmud, und auch seine Art ist es, dass er nie und nirgends fertig ist. Dasselbe sehen wir im Mittelalter. In ihm ist eine Besonderheit die Flle von Kommentaren, die sich Schicht um Schicht bereinander erheben. Kaum ist ein Werk erschienen, so bemchtigt sich seiner alsbald der Widerspruch und schreibt einen Kommentar, und zu dem Kommentar tritt dann alsbald der neue Widerspruch, der Super-Kommentar, und zu ihm der Super-super-Kommentar und so oft bis ins dritte Glied. Es wre 97

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leicht, darber zu spotten; aber es liegt etwas Tiefes, Ernstes darin: der Sinn fr die Endlosigkeit alles Wissens, das Gefhl dafr, dass eine Frage nie abschliessend beantwortet, nie letztlich erledigt ist, dass sie immer wieder aufgenommen, immer wieder anders gefasst werden muss. Hierin scheiden sich die Anschauungen. Der Orthodoxe ist der fertige Mensch, der seine endgltigen Antworten hat, seine Stze besitzt, die alles erledigen. Der Unorthodoxe ist der, der von vornherein sich dessen bewusst ist, dass er immer von neuem suchen und forschen und streben muss, dass, wie ein Wort in unseren Sprchen der Vter 1 sagt, jedes Problem immer wieder umgekehrt und umgewendet werden soll, damit die neue Antwort darauf gefunden werde. Solche Unorthodoxen sind wir immer gewesen. Ja, wenn man die viel berufene jdische Physiognomie – nicht in ihrem Muskel- und Knochencharakter, und auch nicht in dem, was die Ghetto-Jahrhunderte mit ihrem Zwange des engsten Zusammenlebens, mit ihrer einen, alles uniformierenden Ttigkeit gegeben hatten, und was nun mit dem Aufhren des Ghetto mehr und mehr geschwunden ist und schwindet – wenn man das jdische Antlitz in seinem geistigen, seelischen Charakter, in dem, was in ihm ausgedrckt ist, am krzesten kennzeichnen sollte, man knnte sagen: wir Juden haben ein unorthodoxes Gesicht. Uns steckt seit altem die Philosophie im Blute, dieses Forschen und Grbeln, dieses Prfen und Wgen. Schon die lteste Streitschrift, die gegen das Judentum, vor etwa achtzehn Jahrhunderten, geschrieben wurde, macht uns das zum Vorwurf. »Das Forschen und Grbeln«, so heisst es dort, »ist die Art von Philosophen und Rabbinern«, und etwas rabbinisch sind wir in dieser Beziehung wohl alle immer gewesen. Die Unkenntnis stellt sich unsere Vter im Mittelalter gern als eine Gemeinschaft von Krmern und Trdlern vor. Und Krmer und Trdler haben sie ja leider sein mssen, weil man jeden anderen Bezirk des Erwerbes vor ihnen versperrt hatte. Aber wenn sie es so auch in ihrem Erwerbe sein mussten, in ihrem Wesen sind sie es nie geworden. Inmitten ihres so trockenen, nchternen Lebens haben sie immer diesen Drang zu sinnen und zu forschen, diesen philosophischen Zug sich gewahrt. Auf ihrer Stirn ist es immer licht gewesen, so, wie wir auf Joseph Israels’ 2 Bild es sehen, dem »Sohne des alten Volkes«, diesem Trdler, in dessen Gesicht so vieles seltsam 1. Ein Traktat des Mischna, des ersten Teils des Talmuds. Baeck bezieht sich hier auf 5,22. 2. Joseph Israels (1824-1911). Hollndisch-jdischer Maler. Das Bild »Ein Sohne des alten Volkes« befindet sich im Rijksmuseum in Amsterdam.

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sich mischt: Resignation und Spannung, Mdigkeit und Erwartung, Ergebung und Zhigkeit, und alles umrahmt von Hinflligkeit, Armut und Elend; aber auf diesem Bilde ist doch ein Leuchten und Glnzen, alles hat sein Licht, es bekommt sein Licht von der Stirn des armen Trdlers her, und erst das gibt allem den Ausdruck, und jetzt blickt dieser Mann uns mit dem Antlitz des Philosophen an, des Menschen, der trotz allem ber den Dingen bleibt, ber den rmlichen, kmmerlichen Dingen, und mit eigenen Gedanken nach Anfang und Ende von allem fragt – ein Mensch, den das Leben zu Boden beugt, und doch ein Unorthodoxer! So sind die Juden auch in den schlimmsten und den trockensten Zeiten gewesen: das Licht blieb auf ihrer Stirn. Es mag ja ein verfhrerischer Gedanke sein, jener orthodoxe Gedanke des fertigen Menschen, und alle Religionen ausser dem Judentum haben ihn in der einen oder anderen Form, und nicht nur die Religionen; auch so manche moderne Richtung, auf welchen »ismus« sie immer endigen mag, schwelgt in dem satten Gefhl, dass der Tag der Herrlichkeit nun angebrochen, dass alle wesentlichen Fragen beantwortet, alle Rtsel und Geheimnisse gelst seien. Dem gegenber ist es jdische Art, unorthodox zu bleiben, d. h. den Respekt zu wahren vor der Unergrndlichkeit und Unendlichkeit, vor der Tiefe des Rtsels und vor dem Abgrund des Geheimnisses, daran festzuhalten, dass dem Erkennen so wenig wie dem Ahnen je ein letztes Mass angelegt, ein sperrender Riegel vorgeschoben werden darf. Wir wissen, uns ist nur das Streben nach der Wahrheit gegeben; kein Sterblicher hat je der Gottheit ins Antlitz geschaut. Das ist unsere Glubigkeit, unsere unorthodoxe Art, zu glauben, und sie gibt uns den besonderen Platz unter den Religionen. In ihr liegt ein Weiteres, Wesentliches schon begrndet: Wie wir die Unorthodoxen sind, so sind wir die Nichtkirchlichen. Wir hatten und haben jdische Gemeinden, aber wir hatten nie eine jdische Kirche; wir konnten vermge unserer geschichtlichen Eigenart es zu einer geschlossenen kirchlichen Organisation nicht bringen. Auch das gibt uns eine Besonderheit. Bei uns ist jeder Einzelne Trger der Religion, jeder Einzelne mit der ganzen Kraft des Rechts und mit der ganzen Schwere der Pflicht sein eigner Priester, sein eigner Diener am gttlichen Wort. Das Volk, das die Rechtssicherheit des Einzelnen geschaffen hat, rhmt sich des Satzes: »Mein Haus ist meine Burg«; im Judentum ist der Begriff gestaltet worden: Mein Haus ist mein Tempel. Wir drfen es eingestehen, wir leiden oft unter dieser Flle der Rechte, unter diesem Individualismus; er wird leicht zu einer Schwche, sobald sich die Fragen der Macht und der Wucht 99

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einstellen. Aber mag er denn auch einen Mangel bedeuten, so ist er doch immer auch eine Kraft der Eigenart, eine starke Besonderheit gegenber der Kirche. Denn in der Kirche – und das gilt von einer jeden – glaubt nicht der Einzelne als solcher, sondern die Kirche glaubt, und der Einzelne steht in diesem Glauben der Kirche. Es liegt unstreitig etwas Grosses, etwas Imponierendes oft in dieser Geschlossenheit; wir erkennen das offen an. Aber darum drfen wir es auch offen aussprechen: In dieser Geschlossenheit ist jeder Einzelne eingeschlossen. Kirche und Glaubensselbstndigkeit bezeichnen einen Gegensatz, und es ist ein unmgliches Werk, ihn einfach berbrcken zu wollen. Man kann nicht eine Kirche haben wollen und doch die unkirchliche Glaubensselbstndigkeit fr jeden Einzelnen verlangen. Jede Kirche, wie immer sie sei, muss es sich vorbehalten, dass sie den Ausdruck des Glaubens fr alle ihre Glieder massgebend bestimme; sie kann es dem Einzelnen nicht zugestehen, dass er das fr sich tue. Es kann nicht heissen: Kirche und Glaubensselbstndigkeit, sondern nur: Kirche oder Glaubensselbstndigkeit. Weil wir diese Selbstndigkeit seit altem haben, darum haben wir keine Kirche bilden knnen, sondern besitzen nur die Gemeinden. Die Gesamtheit ist fr uns in den Einzelnen. Unsere grosse Gemeinschaft grndet sich auf die gleiche Geschichte und die gleichen Ideale; sie ist nur durch den Gewissensernst der Einzelnen zusammengehalten. So vieles Missverstndnis, so mancher unntze Wortstreit geht darauf zurck, dass der Begriff der Kirche, der uns von den grossen Gesamtheiten ringsumher seit altem als ihre Benennung vertraut ist, auch auf das Judentum angewendet wird, obwohl er doch gerade einen Gegensatz zu ihm bezeichnet. Hieran drfen wir auch die erinnern, die den bequemen Weg von uns fortgegangen sind. Sie sind fortgegangen von unserer Gemeindefreiheit zu einer kirchlichen Gebundenheit. Sie sind fortgegangen vom Judentum, aber sie sind nicht auch bergetreten zu einer Religion schlechthin, sondern zu einer bestimmten, eingegrenzten Kirche mit ihrem Kirchenglauben und ihrer Konfession. Damit ist das dritte und letzte auch bereits ausgesprochen, was unsere besondere Art kennzeichnet. Wie wir unorthodox und nichtkirchlich sind, so sind wir nichtkonfessionell. Jede Kirche, die eine mehr, die andere weniger, aber doch eine jede, ist alleinglubig, alleinseligmachend. Sie stellt ihrem Wesen nach den rechten Glauben, die Orthodoxie voran und muss deshalb erklren, dass es wahre Glubigkeit, wahre Frmmigkeit nur in ihrem Kreise gibt. Darin besteht ihre Konfessionalitt, ihre Alleinglubigkeit. Eine Konfession in diesem begrifflichen Sinne ist das Judentum nie gewesen. Wir ha100

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Das Judentum unter den Religionen

ben immer den Religionsgedanken vorangerckt, d. h. in dem Tun des Menschen das Wesentliche erblickt, was ihn emporhebt. Wir sagen jedem: tue deine Pflicht, be die Gebote Gottes, dann weisst du alsbald von Gott, und dann erfhrst du alsbald, wie deine Religion ist; Gott suchen, das heisst nach Gutem streben, Gott finden, das heisst Gutes tun. »Frchte Gott und wahre seine Gebote, das ist der ganze Mensch«. Damit ist das Humane vorangesetzt, das, was alle eint, weil dessen jeder Mensch fhig ist, wohin immer die Vorsehung ihn gestellt hat. Wohl haben wir unseren Glauben, unseren bestimmten, festen Glauben, in dem wir leben, und mit dem wir in den Tod hineingehen; wir haben unsere positive Religion, und in ihr finden wir die Religion; wir schreiben uns eine geschichtliche Sendung zu, und wir fordern von uns das Verstndnis fr sie; wir sind positive Juden. Aber als alleinglubig und alleinseligmachend haben wir uns darum nie bezeichnet. Es ist ein alter Grundsatz unter uns, den der Talmud schon wie ein Sittengesetz gefasst hat: »Fromme gibt es in allen Gemeinden auf Erden« – oder anders noch ausgedrckt: um fromm und gottesfrchtig zu sein, muss man nicht erst ein Jude werden. Das ist unsere unkonfessionelle Art, glubig zu sein, unser unkonfessionelles Ideal, und in ihm gewinnen wir die innere Unabhngigkeit, den reinen Religionsgedanken zu betonen und damit jede echte menschliche Art zu begreifen, jedem Bekenntnis sein Recht und seinen Wert zu geben. Wir wissen es, dass nicht alle Menschen gleich sein knnen. Es gibt zu viel verschiedene Kpfe, zu viel verschiedene Gesichter auf Erden, und, wie ein Wort unserer Weisen sagt: »Gott hat sie alle geprgt«. Es knnen nicht alle in derselben Weise sehen und denken und glauben, und der Fortschritt der Zeiten besteht ja nicht so sehr in dem Gleichmachen, sondern weit mehr in der Herausbildung der Flle der Eigenart. Mag jeder auf seinem Wege Gott suchen, wenn er nur eben Gott sucht. Unser Zukunftsgedanke ist nicht sowohl das eine herrschende Bekenntnis der Zukunft, »die eine Herde unter dem einen Hirten«, als vielmehr – man spricht ja heute oft von den vereinigten Staaten der Kultur als einem schnen Zukunftsbild und so knnten wir sagen: – die vereinigten Religionen der Kulturwelt; so etwa knnte unser Gedanke von den kommenden Tagen gefasst werden, die Idee von der Zeit, da »Gott einzig ist und sein Name der Einzige«. 1 Solche Humanitt ist doch wohl die zuverlssigste Toleranz, die echte Duldung, die uns heisst, jedem seine Art zuzugestehen, und die damit uns das Recht wie die Pflicht 1. Zach 14,9.

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gibt, zu sagen, wer wir sind und wie wir sind, wo unser Glaube seine Wege und sein Ziel findet. In diesem humanen Charakter vollendet sich die Eigenart des Judentums; denn er zeigt es, dass unsere Besonderheit keine Sondertmelei ist, sondern ein wertvolles menschliches Besitztum. Weist nicht die Entwickelung der Zeiten, zumal der Gegenwart, darauf hin? Wenn wir mit der Sympathie, mit der wir andere Religionen betrachten wollen, das sehen, was sich in ihnen wieder regt, was in ihnen als neues Gut im Ringen und Kmpfen der Geister erstrebt wird, was ist es, was dort so vielerwrts ersehnt wird von den Trumenden und Suchenden? Ist es nicht, wenn wir es mit drei Worten ausdrucken sollen, dass ihre Religion einst sein mchte weniger orthodox, weniger kirchlich, weniger konfessionell? Und wenn wir mit einem Worte es bezeichnen sollten, knnten wir nicht fast sagen: was sie erstreben, ist doch im Grunde, dass ihre Religion jdischer, dem Judentum nher sein mchte? Es ist kein Hochmut, wenn wir das behaupten; denn es besagt doch nur, dass es eine allgemein menschliche, eine humane Art ist, in der wir, diese Gemeinde der Nonkonformisten, glauben. Wir hatten unsere Eigenart zuerst negativ ausgedruckt. Jetzt sehen wir es deutlich, wie die Grenzlinien zur Richtung nach dem Ideale werden. Wir stehen in der Opposition um Gottes Willen und um der Menschheit willen. Darum erstreben wir die Freiheit fr jeden menschlichen Gedanken, die Freiheit, die nie satt ist noch sich fertig dnkt und nie am Ende zu stehen meint, die Freiheit, die frei wird in der Ehrfurcht vor dem Ewigen und Heiligen, vor der Erhabenheit des Gottesgebotes und des Sittengesetzes. Wir erstreben das Recht und die Pflicht jedes Einzelnen, dass er es wisse, dass die Religion ihr ganzes Wort und ihr ganzes Gebot an ihn richtet, damit jedes Haus ein Tempel des Herrn, ein Gotteshaus werde. Wir erstreben die Einheit aller Menschen, den Sieg der Humanitt, dass sie alle sich zusammenfinden in dem Glauben an den einen Gott, im Streben nach allem Guten und sich dessen bewusst werden: »Haben wir nicht alle einen Vater, hat nicht ein Gott uns alle erschaffen! Wie sollten wir lieblos handeln, der Bruder gegen den Bruder?« 1 Ist diese unsere Sache, die wir fhren, eine Sondertmelei, oder ist sie nicht vielmehr die Sache der Menschheit, die Sache der kommenden Tage? Leopold von Ranke 2 hat es ausgesprochen: »Das Grsste, was dem 1. Mal 2,10. 2. Leopold von Ranke (1795-1886). Einflußreicher deutscher Historiker der Neuzeit.

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Menschen begegnen kann, ist es wohl, in der eigenen Sache die allgemeine zu verteidigen«. Das ist das einzige, dessen wir uns rhmen wollen: wir haben unseren Platz, aber auf ihm verteidigen wir ein allgemein Menschliches, die Hoffnung der Zukunft. Hierin finden wir unsere Grsse, und Grsse kann doch wohl mehr sein als Flle und Herrschaft. Das ist der tragende Satz unseres Programms, des Programms der Opposition: nicht Macht, sondern Grsse! Im Bewusstsein dessen sehen wir um uns und blicken wir in die Zukunft hinaus. Der Richter, der in tausend Jahren sein wird, mag dann entscheiden. Wir hoffen auf den Richterspruch der Geschichte. Vortrag gehalten auf der Hauptversammlung des Verbandes der Deutschen Juden am 5. November 1911. Korrespondenz-Blatt des Verbandes der Deutschen Juden Nr. 11 (Nov. 1912): S. 915.

* Gestern und morgen Es ist der Wunsch vieler und ihr Stolz, Menschen von heute zu sein, oder wie man drben in der neuen Welt noch ausdrucksvoller sagt: up to date-men. Ein Mensch von gestern, das klingt wie ein mitleidiges Wort, wie ein Vorwurf beinahe, und uns Juden wird er gelegentlich gemacht. Neben dem halb staunenden, halb ehrfurchtsvollen Ton, in dem etwa Grillparzer 1 es vom Volk des alten Bundes sagt: »wir andern sind von heut, sie aber reichen bis an der Schpfung Wiege«, tritt hufiger noch der andere, der des Bedauerns und des Tadels, daß dem Juden zu viel vom Vergangenen und zu wenig vom Gegenwrtigen eigne, daß er im tiefsten Wesen von der frheren Welt her sei, daß er wie ein Mensch von gestern dastnde. Es ist wahr, wir Juden sind von gestern schon und von ehedem. Allein, wer ist das nicht? Niemand ist von heute erst, auch nicht der einmal, der das Licht der Welt jetzt erblickt hat. Jeden trgt von Anbeginn an das Leben der Geschlechter, die ihm vorangegangen sind; sie alle haben mit an ihm geschaffen. Einen Menschen knnten wir ganz verstehen, wenn wir nicht nur die Geschichte seines Daseins, sein kleines Gestern, ins Auge faßten, sondern ebenso sehr sein großes Gestern, die Art und die Weise derer, von denen er herkommt, zu

1. Franz Grillparzer (1791-1872). Dramatiker des Biedermeier.

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berblicken vermchten. Uns allen, den Menschenkindern, gilt das Wort des Buches Hiob: »von gestern sind wir«. 1 Aber hier beginnt nun das Drama des Lebens. Wir haben diese unsere Vergangenheit nicht gewhlt; wir sind in sie hineingeboren worden. Ohne unser Zutun treten wir in den umschriebenen Kreis unseres Daseins ein, und wir mssen uns, so scheint es doch, in ihm zurechtsuchen oder mit ihm abfinden; er ist das Schicksal, das uns gestellt ist. Es gibt wohl in jedem Leben Augenblicke, in denen die Seele an diesem Gestern zerrt, von ihm ledig werden mchte, um ohne Vergangenheit zu sein. Wen haben noch nicht einmal Gedanken umschwirrt, qulend und fragend, wie ganz anders er sich emporschwingen wrde, wenn er ganz allein, so wie von heute erst, da hinziehen knnte und nicht alles das, was er dem Gestern schuldig ist, ihn zurckhielte, mit Geboten wie mit Ketten, mit den hemmenden Pflichten, mit denen sein Lebensplatz ihn zu sich zieht! Vergangenheit bedeutet Verpflichtung. Man hat im letzten Jahrhundert zuweilen von der Not der jdischen Seele gesprochen; sie ist nichts anderes gewesen als dieser Kampf mit der Vergangenheit, dieses Anstemmen gegen Wurzel und Stamm. Es ist das Bild des Propheten Ezechiel, vom Baum, der aus seinem Boden herausgewollt hat und, jetzt oder dann, verdorrt ist. Das ist bisweilen die Tragik des Juden gewesen und leider weit hufiger noch die Komik. Aber es hat nicht das eine zu sein brauchen, geschweige denn das andere sein mssen. Die Vergangenheit, in die einer eintritt, soll ihm das große Besitztum, der Grund oder, was dasselbe ist, die Tiefe seines Daseins werden. Es ist die wichtigste Aufgabe des Lebens, daß der Mensch sich selbst entdeckt und dadurch den Glauben an sich erlangt, diesen Glauben, von dem alle wirkliche Lebensfhrung abhngt. Aber finden knnen wir uns nur, wenn wir unser Gestern gefunden haben; unsere Vergangenheit, die kleine wie die große, ist unsere seelische Heimat, und nur in ihr haben wir den Weg zu uns. Aller Lebensernst und schließlich auch alle Lebensfreude grnden sich darauf, daß wir diesen Willen zu uns selbst gewinnen, daß wir das, was wir im tiefsten und besten sind, auch sein wollen. Nicht jedem kann in seinem Erfahren und Wirken eine Weite gegeben sein, aber jeder kann dadurch, daß er sich entdeckt, eine Persnlichkeit, ein Eigenmensch werden. Wer auf sich verzichtet, oder vor sich selber sich versteckt, wird seelisch heimatlos und unsicher und damit im Grunde ein unpersnlicher Mensch,

1. Ijob 8,9.

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ein Vagant auf Erden. Er muß, falls es ihm nicht zum Trauerspiel wird, die Komdie des Lebens spielen. Fr uns Juden ist das alles schrfer noch geprgt, weil unser Gestern so groß und so inhaltsvoll ist. Das Wort Vergangenheit, das Wort Geschichte hat fr uns den ganz besonderen Ton; unsere Persnlichkeit, die uns eigen sein soll, kann nur auf ihn gestimmt sein. Wenn wir unser Judentum gefunden haben, entdecken wir uns selbst. Der Wille zu ihm ist der Wille zu uns, nur er gibt es, daß wir den Glauben an uns gewinnen, er gibt unserer Seele den Charakter, die eigene Art. Sollte die Wahl schwer sein, die Antwort auf die Schicksalsfrage, was wir uns und der Gesamtheit, dem kleinen und dem großen Leben schulden? Einer, der sein Judentum erfaßt und dadurch sich begreifen gelernt hat, bedeutet eine Persnlichkeit mehr. Ein Gleichgltiger oder abgewendeter unter uns, das bedeutet im innersten Grunde doch nur: einer mehr, der im eigentlichsten ohne das Charaktergeprge ist, und das heißt doch, bei allem ußeren Glanze vielleicht, das immer: ein Dutzendmensch mehr. Als ganze Juden werden wir am besten und am ehesten ganze Menschen, Persnlichkeiten sein. Alle sittliche Arbeit fr die Zukunft hngt von diesem klaren Verhltnis zum Gestern, hngt davon ab, daß der Mensch sich gefunden hat. Um wahrhaft vorwrtszuschreiten, nicht nur ein Emporkmmling zu sein, braucht er das natrliche Selbstgefhl, die Sicherheit und Bodenstndigkeit des Wesens, und sie erhlt er nur durch diesen Willen zu sich selbst. Wir sehen es im Großen in der Geschichte. Alle jene Vlker, die etwas fr die Zukunft geleistet haben, sind auf den Schauplatz der Kulturarbeit getreten, sind also modern geworden, von der Zeit an, wo sie ihre Vergangenheit begreifen gelernt, den geschichtlichen Sinn gewonnen haben. Das unterscheidet den Kulturmenschen von dem Wilden, daß er sein Gestern versteht. Wir knnen es besonders im Lande der up to date-men sehen. Wer von heute bloß sein will, ist fr heute nur und wird nur zu bald sich berlebt haben. Sein sicheres Morgen wird nur der besitzen, der im Gestern fest wurzelt. Als unseres Selbst bewußte Juden werden wir fr die Kultur und fr die Zukunft etwas bedeuten, und das ist doch wohl die beste Modernitt. Solche Gedanken knnen besonders in diesen Tagen vor dem Neujahrsfeste zu uns sprechen, das mit seiner Wende der Zeiten uns daran erinnert, daß unser kleines Gestern wieder eine Spanne grßer geworden ist. Es ist ein Neujahrswunsch, alt zu werden, aber doch nicht alt zu sein, von gestern zu sein und doch auch von heute. ber das Alter gibt es einen anmutigen Aufsatz, den Ludwig Bam105

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berger 1 geschrieben hat. Er hat ihn verfaßt, als er die Schwelle des achten Jahrzehnts bereits berschritten hatte, und er war ja schon vordem ein khler Kopf, der die klaren Begriffe nur aufnahm. Auch er hatte sich die Frage vorgelegt, ob man sich im Alter innerlich noch jung, oder wie er mit seinem spttisch-sorgsamen Wort sich ausdrckte, »nicht unjung« erhalten knnte. Und er gab sich und anderen die Antwort, daß dies abhnge von der »Kontinuitt des Ich« – er htte auch sagen knnen: von dem lebendigen Verstndnis fr das Gestern; das machte es, daß der alte Mensch im Grunde doch der junge Mensch bliebe. Das Wort ist so treffend, daß wir von dem kleinen Gestern es auch auf das große anwenden knnen, auf unseren Anteil an dem Leben der Gesamtheit, in das die Vorsehung uns hineingestellt hat. Wie knnen wir in ihm, mit all seiner Vergangenheit, doch immer innerlich jung und neu, hoffnungsfrisch und zukunftsfreudig bleiben? Auch hier, fr dieses große Leben, das uns mit den frheren Geschlechtern verknpft und auf die kommenden hinweist, lautet die Antwort: wir mssen die Kontinuitt des Ich bewahren, wir mssen das sein wollen, was wir sind. Als Menschen, die um ihr Gestern wissen, werden wir Menschen des Heute sein, die fr das Morgen arbeiten. Da wir begreifen, was unsere Vergangenheit uns ist, werden wir verstehen, was wir der Zukunft zu geben haben. Das ist im großen wie im kleinen Leben die bleibende Jugend, oder wenn es einem besser klingen sollte, Modernitt. Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde zu Berlin 2 (Sept. 1912): S. 115-116.

1. Ludwig Bamberger (1823-1899). Jdischer Politiker und konom; finanzpolitischer Berater Bismarcks und Reichstagsmitglied.

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Erste Jahre in Berlin Baecks erster Aufenthalt in Berlin dauerte weniger als zwei Jahre. Er begann gegen Ende des Jahres 1912 und endete, als Baeck im September 1914 seine Ttigkeit als Feldrabbiner aufnahm. In Anbetracht der kurzen Zeit und der Notwendigkeit, sich an sein neues Umfeld zu gewhnen, schrieb Baeck nur wenig. Drei seiner Schriften sind hier jedoch von Interesse. Die erste ist ein Auszug aus der Ansprache zu seiner Amtseinfhrung vom 27. Dezember 1912, in welcher er verspricht, sich gnzlich den Aufgaben seines neuen Rabbinats zu widmen. Im Vergleich zu seiner alten Gemeinde befand er sich nun in einer aufgeschlosseneren und kultivierteren Umgebung, und in seiner Predigt zu den Hohen Feiertagen des Jahres 1913 mit dem Titel »Stil des Lebens« weist Baeck darauf hin, daß wahrer Lebensstil eine Integritt beinhalte, die nur dort erreicht werden knne, wo eine religise Basis vorhanden sei, die Vornehmheit, Ausgeglichenheit und Harmonie hervorbrchte. Er fordert hier eine Balance zwischen dem Leben fr den Tag (unschuldige Vergngen), dem Leben fr das Jahr (praktische Errungenschaften) und dem Leben fr das Leben (die Verkrperung religiser Werte). Der dritte Aufsatz, »Die Schpfung des Mitmenschen«, widmet sich Baecks fundamentalem Verstndnis der jdischen Ethik. Andere Menschen seien als Mitmenschen zu betrachten, nicht als Fremde, sondern als Individuen, geschaffen als Ebenbild Gottes. Die biblische Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit, die alle Menschen miteinander verbindet, ist fr Baeck die religise Basis, die dem ethischen Imperativ zugrunde liegt: »Du sollst ein Mitmensch sein«. Sie ist außerdem das Fundament von Frmmigkeit, wie Baeck sie versteht. Nicht fromme Taten im privaten Bereich machen den frommen Menschen aus, sondern die Teilnahme an einem kollektiven Streben nach der Besserung der Menschheit. * Amtseinfhrung in Berlin am 27. Dezember 1912 Nur wer die Gegenwart erklren kann, kann die Schrift erklren. Wir leben in einer Zeit, in der eine religise Welle wieder ber die Lnder geht und unserem Judentum wieder neue Wasser der Frische zugefhrt werden; in einer Zeit, in der man, trotz allem und allem, doch das Wort wiederholen mchte, daß es eine Lust ist, in ihr zu leben. Unser Judentum hat wieder seine Gegenwart, seine Brgschaft der Zukunft! Wir hatten lange zu sehr in der Vergangen107

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heit gelebt. Wir hrten und sprachen fast nur von dem Gotte der Ahnen, von dem Ewigen, auf den unsere Vorfahren vertraut, der unsere Vter behtet hat in den Zeiten der Not. Gewiß, wir halten fest an dem Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs, aber wir sollen Gott nicht nur hinten in der Vergangenheit sehen, wir sollen Gott bei uns und vor uns sehen; er ist unser Gott und der Gott unserer Kinder und Enkel bis in die sptesten Geschlechter. In unserem Leben und in dem Leben, das von uns ausgeht, soll die Religion ihre Kraft gewinnen. Das ist die große Aufgabe und an diesem Platze darf einer nur soviel gelten, wie er ihr dient, wie er fr sie nicht nur seine Arbeit, sondern sich selbst gibt. ber sein Knnen hinaus vermag keiner zu dringen, aber der Mensch darf es nicht leicht nehmen mit dem Knnen. Von ihm hngt die Bahn ab, der Weg, den wir gehen, und von Gott hngt dann das Ziel ab, das einer erreicht. So mge Gottes Huld ber dem, was diese Stunde beginnt, walten! Mge sich erfllen, was in Israel seit altem die Antwort auf ein gutes Wort ist: Boruch atho adonaj elohenu melech hoaulom hatauw wehametiw – »Gelobt seist Du o Gott, Herr der Welt, Du bist gtig und erweisest Gutes. Auszug aus Leo Baecks Rede zu seiner Amtseinfhrung in der Neuen Synagoge zu Berlin. »Amtseinfhrung«. Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde zu Berlin 3 (10. Jan. 1913): S. 5-6.

* Der Stil des Lebens Es ist eine entscheidende Zeit, wenn es uns zu Bewußtsein kommt, daß der Weg unseres Lebens seine endgltige Bahn und seine Begrenzung erhalten hat. Wir alle sind einmal wie in den Jahren so in den Hoffnungen jung gewesen; wir hatten daran geglaubt, daß unsere Kraft oder unser Glck uns zur Hhe des Erfolges und vielleicht zum Ruhme fhren werde. Aber die Tage sind dann gegangen und mit ihnen die Hoffnungen, und die Weite ist nur zu bald zur Enge geworden. Jahr um Jahr hat seine Schranke aufgerichtet, bis wir endlich, ob wir es wollten oder nicht, es einsehen mußten, daß unser Dasein nun in seinem Kreise ist, in dem es eingeschlossen bleiben wird. lter werden, heißt auch kleiner werden und sich begngen mssen. Das Gefge der Welt scheint es so zu verlangen. Wohl will jeder zu den Begabten und den Berufenen gehren, aber die Menschheit 108

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braucht fr ihre Aufgaben nur wenige berragende und emporfliegende Geister. Wessen sie vor allem bedarf, sind die Menschen der treuen Arbeit, der schlichten Pflichterfllung, die Menschen, die ihren geraden Weg gehen. Sie kann jene Großen oft weit eher entbehren als diese Kleinen; das Genie darf der Gast eines Jahrhunderts sein. Mehr, so scheint es, will sich auch nicht gestalten. Die wirklichen starken Begabungen bleiben selten, weit seltener, als mancher Elternstolz wohl meint. Nur die Fhigkeit, an seinem Platze zu arbeiten, ist jedem Gesunden gegeben; in ihr hat jeder die sichere Hoffnung und die Kraft seines Lebens. So ist es das Daseinsgesetz auf Erden. Aber wer es an sich und an seinem Harren und Wnschen erfhrt, wer von seinen großen Erwartungen, diesen Bildern der Jugend, Abschied nehmen soll, empfindet es, daß ein Teil seines Lebens damit endet. Eine Wende der Jahre ist es, und sie entscheidet, im Unbewußten meist und allmhlich, ber unser Wesen und Leben. Bei ihr steht es, ob einer nun ganz aufhren wird, nach Besonderem und Hherem noch zu streben. Es ist so die Geschichte manches Lebens: man wird nach und nach innerlich geringer und wird schließlich, trotz Erfolg und Schimmer, die vielleicht kommen, eine alltgliche, eine gewhnliche Natur; die Seele mndet im Sande. Mit den Jahren, in denen die Jugendtrume entschwinden, um der ruhigen Wirklichkeit des Arbeitskreises und des Berufes Platz zu machen, mit diesen Jahren, die so gern die besten genannt werden, hrt fr so manchen das Beste auf. In dieser Zeit wird darum die Religion wie zum bestimmenden Lebensschicksal. Ein Denker, der, wie wenige, die Menschen und die Vlker gelehrt hat, sich begreifen und einander verstehen, der auch so stark wie wenige unter der Macht jdischer Ideen war, Thomas Carlyle, 1 hat in die Einleitung seines Buches ber das Heldentum den Satz gestellt, daß »die Haupttatsache in Bezug auf jeden Menschen seine Religion« ist; sie sei »sein Grundwesen, das alles andere bestimmt«. Er nennt sie daher auch die »heldenmßige Form des Daseins«. Das ist ein Wort, das wie das meiste, was Carlyle sprach, vielleicht allzu auserwhlt und hinausgerufen klingt. Wir wrden in schlichterer Sprache sagen: Die Religion will es geben, daß in unsere Seele etwas Eigenes und Besonderes kommt. Mit einem Worte unserer Tage knnte es auch so ausgedrckt werden: unser Dasein erhlt durch sie seinen Stil und seine Stimmung. Wir 1. Thomas Carlyle (1795-1881). Britischer Essayist, Historiker und Philosoph. Verfasser des Werkes On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History (1841).

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brauchen den Glauben an uns; das Leben trotz mancher Gewinne erfllt ihn nicht; aber die Religion, unser Judentum wenigstens, kann ihn uns bringen. Lebensstil ist Lebenseinheit, und was er bedeutet sehen wir am Klarsten dort, wo er fehlt. Man knnte die Menschen in drei Gruppen teilen. Die einen leben fr den Tag – das sind die Oberflchlichen, ußerlich in der Ttigkeit oder ußerlich im Genuß; sie haben nur eine Lebensmanier. Die anderen leben fr das Jahr – das sind die Menschen der Arbeit, die Ntzlichen und Schaffenden; sie haben eine Lebensart, eine Lebensweise. Und endlich die letzten, die leider die wenigsten sind, die fr ihr Leben leben, die nicht bloß etwas tun und nicht bloß etwas leisten, sondern etwas sind, denen darum ihr Dasein ein ganzes ist – nicht nur eine Reihe von verkleideten oder nackten Tagen, nicht nur eine Zahl von bringenden oder verlierenden Jahren. Sie allein haben die Lebenseinheit. Auf den Sinn fr dieses Ganze kommt es an, und ihn will unsere Religion geben, indem sie mit ihrem Gebote die bestimmte feste Bahn des Lebens von uns verlangt. Kein Menschliches ist ohne Wendungen und Wandlungen, ohne Irrpfade und Umwege; wir gehen durch enge und durch verschlungene Tage. Aber das Leben kann trotzdem sich immer treu bleiben, sich gleich in seinem Willen und seiner Richtung. Es ist dem Judentum eigentmlich, daß es nicht sowohl von den Zielen, als vielmehr von dieser Richtung des Daseins zu uns spricht, nicht sagt, was jeder werden, sondern was er sein soll. Das Ziel ist in Gottes Hand, dem Menschen ist der Weg gegeben; er ist das Deutliche und Bestimmte. Von ihm hngt die Einheit unseres Lebens ab. Und wenn uns bisweilen dnkt, als falle es fr zu viele in seine grßeren oder geringeren Kleinigkeiten auseinander, so liegt die Schuld eben hieran, daß unser Hoffen immer nur weiß, was alles wir erlangen mchten, und zu rasch vergißt, wie allein wir es erlangen sollen. Zumal mit der Jugend wird zu viel von den Zielen gesprochen und zu wenig von dem rechten, dem einzigen Wege. Vielleicht kommt sie dann manchmal dazu, irgend etwas zu werden, aber sie verliert es darber stets, etwas zu sein. Hiermit hngt auch die Hast zusammen, an der die Gegenwart oft leidet und die besonders den Juden unserer Zeit, nicht immer mit Unrecht, zum Vorwurf gemacht wird. Die Arbeit des Tages reibt auf, und das Haus ist heute vielen nur der Platz fr ihre Mdigkeit, nicht die Sttte ihres Ruhens, ihres Friedens. Ralph Waldo Emerson, 1 der 1. Ralph Waldo Emerson (1803-1882). Amerikanischer Essayist und Philosoph des Transzendentalismus.

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in dem Lande, in welchem die Eile als das Gebot der Stunde gilt, wie ein Prophet verehrt worden ist, hat »die Hast« fr »das Gewhnlichste, das es gibt« erklrt. Er wollte damit nicht der Trgheit oder der Langsamkeit das Wort reden, sondern nur das sagen, daß jedes Leben eine Stille und eine Geschlossenheit braucht, wenn es nicht ins Niedrige hinabsinken soll. Die Unruhe, in der der Mensch immer nur an das Werden und nie an das Sein denkt und darum zu sich selber nicht kommen kann, ist der Gegensatz zu dem, was die Religion schaffen will, zu dem, was der Stil, die Gehobenheit des Daseins genannt werden darf. Die Religion schenkt immer eine gewisse Vornehmheit, eine Ausgeglichenheit und Harmonie, die in ihrer Art durch nichts ersetzt werden kann, sie gibt sie der Seele wie dem Hause, dem innerlichen wie dem ußeren Heim. Fast mchte man sagen: sie gibt eine gewisse Schnheit. Und das ist nicht bloß ein Vergleich. Alles, was ein ganzes und geschlossenes ist, alles, was eine Ruhe erzeugt, ist schn; anders drckt auch die sthetik es nicht aus. Wer um sich zu blicken pflegt, um im Angesicht der Menschen die Seele sich spiegeln zu sehen, der kann oft wahrnehmen, was das biblische Wort meint, daß so manchem Gottes Antlitz leuchtet. Es sind andere Zge, wenn die Seele nur im Alltglichen wohnt. Religion und Gleichgltigkeit stehen auch als das Vornehme und das Gewhnliche einander gegenber. Aber wie immer wir es nennen, ob Stil, Einheit oder Sammlung, Ruhe oder Schnheit, es ist immer dasselbe: der Sinn fr den Weg des Lebens, den Gott geboten hat. Das Verstndnis hierfr kmpft mit dem Alltag. Wir mssen es daher lernen, immer wieder diesen Blick fr das Ganze zu gewinnen, damit es uns nicht ber den Einzelheiten mit ihrem Begehren und Drngen entschwindet. Wir mssen gewissermaßen von Zeit zu Zeit einmal innehalten und ein wenig zurcktreten, um den Gesamteindruck auf uns einwirken zu lassen. Das ist ein Bild, das aus dem Schaffen des Knstlers hergenommen ist. Was hier die Pause der Betrachtung heißt, das nennt die Religion ihre heiligen Stunden, ihre Feiertage. Gerade unsere Zeit mit ihrem Hasten und Treiben braucht sie, wenn sie die Einheit des Lebens trotz allem festhalten will. Wir sollten diesen Tagen der Ruhe nicht aus dem Wege gehen. Sie sammeln immer wieder das Zerstreute. Aber im Gange des Daseins kommen sie selten oder nie zu uns, wenn anders die Religion sie uns nicht bringt. Jedes Leben kann seine Hhe haben. Wohl zieht um ein jedes sich, frher oder spter, sein kleiner Umkreis, der bis zum Ende bleiben wird, und manch Sehnen und Hoffen der Jugend muß dann in die 111

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Wirklichkeit heruntersteigen, und manch einem sinkt damit sein Los mehr und mehr ins Gewhnliche; er hat den Tag und vielleicht das Jahr, aber nicht das Leben. Wir sollen, gewiß, auch der leichten Stunde uns freuen, wir sollen ernst und unermdet fr das pflichtenvolle Jahr arbeiten, aber noch mehr als das alles ist doch das ganze Leben. Von ihm spricht unsere Religion zu uns, und darum ist sie die »Grundtatsache« unseres Daseins. Sie bewahrt dem Leben seinen Wert, auch wenn der Tag der harten Bestimmtheit gekommen ist. Sie gibt ihm seinen Sinn und seinen Stil, seinen Weg und seine Einheit, seine Vornehmheit und seine Ruhe. Das sind viele Namen, aber es ist immer dasselbe; es ist der eine Gedanke an unseren Gott, den Gott unserer Vter. »Der Stil des Lebens«. Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde zu Berlin 3 (10. Okt. 1913): S. 119-120.

* Die Schpfung des Mitmenschen Alle unsere Gewißheit des Lebens und damit auch unsere beste Freude an ihm hngt davon ab, daß es fr uns einen Sinn gewinnt, der ber die Alltagskreise hinausgeht. Erst wenn wir ihn ergriffen haben, wird unser Dasein ein Ganzes, erst dann ist es ein Menschenleben und nicht bloß eine Reihenfolge von Tagen, und es wird wie zu einem Gebote: Du sollst leben. Die Offenbarung, die Israel zuteil geworden ist, kommt denn auch in diesem einen zusammen, daß die Bedeutung des Lebens erschlossen wurde. Der »Bund« zwischen Gott und den Menschen wurde erfaßt, und er gab den Sinn, in welchem sich Tag an Tag und Anfang und Ende zusammenfgten, so daß das Dasein ein ganzes und eines wird – von Gott und bei Gott. Damit ist das Menschenleben erst geschaffen worden. Der Fragen des Daseins waren jetzt um so mehr, je mehr das Dasein bedeuten knnte. Die Mnner, die wir die Gottesmnner nennen, unsere Propheten, haben die Antworten darauf gegeben, das Gesetz, in dem sich alles formte und bestimmte. Sie sind Bildner und Gestalter des Menschenlebens geworden. An den Ideen, die sie ins Dasein fhrten, hat sich dann jenes Wort vom Segen des Erschaffens bewhrt: »Seid fruchtbar und mehret euch und fllet die Erde!« 1 Von ihnen sind Geschlechter von Gedanken ausgegangen. Sie haben 1. Gen 1,28.

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die Welt des Lebens weit und reich gemacht. Kraft von Israels Kraft wirkt fort und fort im Besten vom Gute der Menschheit. Eine Idee zeugt heute ganz besonders hiervon, da sie von Israel in die Welt gezogen und in der Gegenwart siegreich weitergedrungen ist: die Idee vom Menschen. Sie steht da als eine der ersten und einleitenden unter denen, die dem Leben sein Gebiet geben, und es knnte scheinen, als htte sie frher als jede andere aus dem Nachdenken hervortreten mssen. Aber das Einfache und Ursprngliche erffnet sich nicht immer zuerst. Vorstellungen vom Volk und seinen Aufgaben, von Staats- und Standesehre waren vielerorts erfaßt und gestaltet worden, als dort das Menschenrecht und die Menschenwrde noch ungekannt waren. Diese zu schaffen, war das grßere Werk. Der griechischen Philosophie war es gelungen, sich mit ihren Begriffen dem Menschen zu nhern. Sie war, nachdem sie lange nur die Natur durchforscht hatte, schließlich zu ihm gekommen. Nun lernte sie ihn in seinem Gegensatz zur Welt, in seinem eigenen Dasein kennen, das verstehen, was ihm gehrt und seine Gabe ist. Die menschliche Individualitt gewann ihr Selbstbewußtsein und ihre Forderung der Freiheit, sie erhielt auch ihre Selbstbesinnung und den Wunsch nach der Selbstvervollkommnung, in der das Glck gewhrt sei. Aber dieses Selbst, dieses bloße Ich bezeichnet hier alles oder zum mindesten das Wesentlichste; es ist hier Ziel und Schranke. Der Mensch steht in seiner Besonderheit da, aber nur in ihr; Menschenrecht ist bloß das Eigenrecht der Persnlichkeit, sie gilt fr sich oft bis dahin, daß nur der Starke oder der Kluge recht haben soll. Der Mitmensch wird noch nicht entdeckt; er bleibt im Gewissenlosen des Unbegriffenen. Ihn hatte allein der israelitische Genius erkannt, lange bevor die Philosophie des griechischen Volkes ihren Weg begonnen hatte. Dem israelitischen Denken, wie es die Propheten geformt haben, ist es eigen, daß es den Sinn von allem in der Einheit sucht. Es bezieht darum alles Vergngliche auf das Bleibende, jedes Irdische auf das Ewige. Das Wort Spinozas, daß es nur sub specie aeternitatis, »unter der Form der Ewigkeit«, erfaßt werden knne, ist im Grunde ein echt jdisches Wort. Schon die Propheten haben es gelehrt: Erst der Gedanke an den einen Gott erschließt die Bedeutung von allem. Die Welt versteht nur der, der es weiß, daß sie des Ewigen ist, sein Werk und seine Welt. Der Mensch wird begriffen, nur wenn er als der Mensch Gottes oder, wie das alte biblische Gleichnis es sagt, als das Kind Gottes, als das Ebenbild des Ewigen erkannt ist. Das erst gibt ihm seinen Platz und seine Aufgabe, das allein bestimmt ihn als 113

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Menschen. Der einzige Gott lehrt wie die Einheit der Welt so die Einheit des Menschenlebens erfassen. Der Grundsatz des Menschentums, sein Wesen ist so gewonnen. Die Gottesebenbildlichkeit ist das, was jedem zukommt, jedem sein Geprge gibt, mir nicht mehr, aber auch nicht weniger als irgendeinem andern. Wir gehren alle zu Gott, wir sind alle dieselben. Im Wichtigsten und Entscheidenden sind wir gleich, alle ohne Unterschied; in jedem Menschen ist das Grßte. ber die Grenzen, welche die Vlker und die Rassen, die Stnde und die Kasten, die Krfte und Gaben abstecken wollen, geht die Einheit und geht die Hoheit des Menschlichen. Wer immer ein anderer ist, mag er fern oder fremd oder auch feindlich zu mir stehen, er gehrt zu mir, als Wesen von meinem Wesen, mit mir von Gottes wegen verbunden. Er ist, wie das biblische Gleichniswort, das alles enthlt, es besagt: mein »Bruder«, mein »Nchster«. Ich kann an mein Leben glauben, nur wenn ich an das seine glaube. Nur wenn ich vor ihm Ehrfurcht hege, habe ich die Ehrfurcht vor dem, was das Beste, das Menschlichste in mir ist. Damit ist erst der Mitmensch geschaffen und somit erst das ganze Menschenleben: Ich und der andere als ein Untrennbares, als sittliche Einheit. Seinen klassischen Ausdruck hat das in dem Satze der Thora gefunden, der gewhnlich bersetzt wird: »Liebe deinen Nchsten wie dich.« 1 In der ganzen Treue des Sinnes und dem eigentlichen Gehalte des Wortes sagt er: »Liebe deinen Nchsten, er ist wie du.« Auf diesem »wie du« liegt der ganze Nachdruck. Darin ist jene Einheit alles Menschlichen ausgesprochen, die den Sinn des Erdenlebens erschließt und die weit mehr bedeutet als das unbestimmte Wort von der Liebe. Der soziale Gedanke von dem einen Menschengeschlecht und dem einen Menschenrecht und nicht bloß das verfliegende Gefhl hat diesen Satz gebildet. In dem starken Empfinden dafr, wie von dieser Idee hier alles abhngt, hat einer der großen Lehrer aus dem Geschlecht nach der Zerstrung des Tempels, Simon ben Asai, die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit noch vor jenen Satz von der Nchstenliebe gestellt. Ben Asai sagt: »Liebe deinen Nchsten wie dich! das ist ein großes Wort, aber grßer noch ist das andere: ›dies ist die Geschichte des Menschen: als Gott den Menschen schuf, machte er ihn in seinem Ebenbilde‹ – der Satz trgt die ganze Thora.« 2 Die berzeugung von der Einheit alles Beseelten, dieser Gedanke vom Nebenmenschen, 1. Lev 19,18. 2. Sifra 4, S. 98,12.

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Die Schpfung des Mitmenschen

ist in der Tat der feste Grund der Thora, der Religion, die ihre Forderung stellt. Er gibt erst der Nchstenliebe ihre soziale Bestimmtheit, nur er verhtet es, daß sie in die bloße gerhrte Empfindsamkeit zerfließe. Aber die soziale Idee wiederum gewinnt ihre ganze Sicherheit und ihre Weite nur durch diesen religisen Grund, den das Judentum ihr gegeben hat. Er lßt kein Beengen und kein Mkeln und Deuteln zu. Nicht unser Wohlwollen oder unsere Bereitwilligkeit schenkt es jetzt dem andern, daß er unser Mitmensch ist, und nicht eine gesellschaftliche Einrichtung oder eine staatliche Anordnung gibt es ihm, sondern er ist es kraft Gottes. Der eine Gott hat ihn dazu gemacht, und niemand kann es ihm daher nehmen oder mindern. Erst hiermit ist der Mitmensch auf seinen festen Boden gestellt, auf den Grund des bleibenden Menschenrechts. Auf diesem baut sich dann das weitere auf. Jede Einsicht, so ist es die dem Judentum eigene Lehre, ist zugleich ein Gebot, jedes Recht schließt seine Aufgabe in sich. Das Judentum kennt keinen Satz, der bloße Aussage bleiben drfte; das Wort ist in ihm ein »Wort, das getan werden soll«. So wird es denn zur Forderung: du sollst ein Mitmensch sein. Die Einheit aller wird zur gemeinsamen Verantwortlichkeit, zur Pflicht aller gegeneinander. Was wir dem andern gewhren, ist unsere Schuldigkeit und ist sein Recht. Wenn wir es ihm erweisen, so haben wir nur Gerechtigkeit, »Zedokoh«, 1 gebt. Versagen wir es ihm, so haben wir ihm etwas vorenthalten, was ihm gebhrt, oder wie ein Bibelwort von den alten Lehrern aufgefaßt wurde: ein Raub wird an ihm begangen, ein Raub an seinem Menschenrecht. Ein sittlicher Zusammenhang verbindet damit alle und gewhrt allen den menschlichen Gruppen und Gesamtheiten den Sinn ihres Lebens, ihren Wert und Zweck. Der Begriff der menschlichen Gesellschaft tritt hervor, der großen Gemeinschaft, in der jeder, wes Vaters er ist, von vornherein seinen Platz haben kann und haben soll. Es gibt jetzt nichts mehr, was nur den einzelnen anginge und trfe: kein Unrecht, das gegen ihn bloß gebt wrde, und keine Not, die er ganz fr sich zu tragen htte. Jeder Frevel gegen einen ist ein Verbrechen gegen alle Menschen und jedes Bedrfen des einzelnen an alle eine Forderung. Das erst ist die »Zedokoh«, die soziale Gerechtigkeit, diese Bestimmtheit der sittlichen Pflicht, die ber das Ungewisse des bloßen Wohlwollens, welches schenken und verweigern kann, uns emporfhrt. 1. Hebr.: »Wohlttigkeit«, buchstblich »Gerechtigkeit«.

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Rabbiner in Oppeln, Dsseldorf und Berlin – Erste Jahre in Berlin

Doch das alles bedeutet zugleich ein Grßeres noch. Diese Gerechtigkeit ist im Judentum als Gottesdienst erkannt worden, und damit hat sich erst ihr ganzer Sinn, die Einheit in ihrer Mannigfaltigkeit, offenbart. Wir sollen Gott dienen, Gott von dem unseren geben; aber, so lehrt es das Judentum, das einzige, was wir aus Eigenem Gott geben knnen und was darum Gott von uns fordert, ist das Gute und Rechte, diese Erfllung der Gebote Gottes; in ihr allein ist Gott fr unser Tun gleichsam erreichbar. Daher ist es ein Weg zu Gott, wenn wir unseren Menschenbruder suchen; denn in ihm findet unsere Pflicht ihre Flle der Aufgaben, an ihm ein wesentliches Ziel. Am Mitmenschen knnen und sollen wir Gott dienen, Gott das unsere darbringen, das, was aus unserem Freien und Eigenen kommt. Nur der, welcher die Gerechtigkeit bt, der »Zaddik«, ist ein Frommer. Der eigentmliche Zug der jdischen Religion offenbart sich hier: in ihr steht nicht die Verheißung, sondern die Forderung vornan; der Mensch ist freie, sittliche Persnlichkeit, von ihm wird die rechte Tat, seine Gerechtigkeit gefordert. Hierin liegt der bezeichnende Unterschied gegenber Glaubensrichtungen, fr welche Heilstatsachen das Wesentliche sind, die Gnade, die ber den Menschen kommt, das Große und Entscheidende seines Lebens ist, das, was ihn zu Gott fhrt und ihm alles gewhrt. »Gott und die Seele und nichts weiter«; um es mit dem Worte Augustins zu sagen, ist dort der Inhalt der Religion, und es gibt daher dort eine Frmmigkeit auch ohne den Mitmenschen. Der Einsiedler, der nur in der Verzkkung seines Gemtes lebt, der fr keinen Nebenmenschen wirkt, sondern sein ganzes Dasein mit der Sorge fr seine kleine oder große Seele befaßt, kann der wahrhaft Fromme, der Heilige sein. Der jdischen Religion ist das Leben des Einsamen, in wie erhabenen Gedanken und Empfindungen es auch aufgehen mag, ein Stckwerk nur; ihm fehlt zur Bewhrung des Menschentums der Menschenbruder. Eine Frmmigkeit dessen, der allein und fr sich bleibt, ist hier ein Widerspruch in sich; es gibt keine Frmmigkeit ohne den Mitmenschen. Wohl kennt auch das Judentum das Wort – sein Psalmist hat es gesprochen –: »Wen habe ich im Himmel, und außer Dir begehre ich nichts auf Erden!« 1 Aber das ist hier der starke Trost dessen, der sein Leben erfllt weiß, nur wenn er die Menschen sucht, und darum, wenn sie ihn verkennen und verstoßen, immer gewiß ist, daß Gott ihm bleibt, als dessen Ebenbild, trotz allem, sie allesamt auf die Erde gesandt sind. Es ist das »und dennoch« der Gerechtigkeit, die im Namen Gottes am Sinn des Lebens festhlt. 1. Ps 73,25.

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Die Schpfung des Mitmenschen

Dem Judentum ist die soziale Forderung ein Wesentliches und Notwendiges der Religion, der Weg dazu, daß das Leben in seiner Bedeutung erfaßt wird. Es ist kein Zufall, daß der Gedanke dieser Daseinsaufgabe sich immer an ihm, mittelbar oder unmittelbar, genhrt hat. Er hat lange das Schicksal des Judentums geteilt, unbekannt oder verkannt zu sein. Die Gegenwart hat ihm eine Bahn geffnet. berall, wo er vorwrtsdringt, wirkt der Genius Israels, der den Mitmenschen geschaffen hat. Soziale Ethik im Judentum. Hg. Verband der Deutschen Juden. Frankfurt a. M., 1914. S. 9-15.

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Feldrabbiner im 1. Weltkrieg

Nahezu vier Jahre, fast die gesamte Dauer des 1. Weltkrieges, diente Leo Baeck als Feldrabbiner. Wie fast alle deutschen Juden untersttzte er den Krieg, und wie sie glaubte Baeck, daß das Anliegen der Deutschen gerechtfertigt, und daß es die Pflicht der deutschen Juden als deutsche Staatsbrger sei, am Kriegsgeschehen teilzunehmen. Dennoch zeigte er keine Begeisterung fr Krieg als solchem; er war kein deutscher Chauvinist. Whrend des Krieges dienten dreißig jdische Geistliche als Feldrabbiner, deren Ttigkeit von der Armee zwar begrßt, denen aber im Gegensatz zu den protestantischen und katholischen Geistlichen kein offizieller Rang verliehen wurde und deren Gehlter von den jdischen Gemeinden bezahlt wurden. Von Zeit zu Zeit gelang es den Feldrabbinern, sich zu treffen, und trotz ihrer unterschiedlichen religisen Ansichten verlief ihre Zusammenarbeit harmonisch. Whrend der Jahre zunchst an der westlichen und dann an der stlichen Front gehrte es zu Baecks Hauptaufgaben, verwundete Soldaten in den Feldlazaretten zu besuchen und Schabbat- und Feiertagsgottesdienste abzuhalten. Regelmßig sandte Baeck Berichte seiner Ttigkeiten an die Jdische Gemeinde in Berlin, die dann in ihrem Gemeindeblatt abgedruckt wurden. Eine kleine Auswahl ist aufgefhrt. Wenn sich die Gelegenheit ergab, verffentlichte Baeck außerdem lngere Texte, in denen er sich mit dem Krieg auseinandersetzte. In seinen Berichten geht Baeck auf die Unterschiede zwischen Stadt- und Armeeleben ein. Das letztere gebe eher Gelegenheit zur Besinnung auf sich selbst, zur Konzentration auf das menschliche Dasein im Gegensatz zu menschlichen Aufgaben. Baeck stellte weiterhin fest, daß den jdischen Gottesdiensten die vertraute Umgebung der heimatlichen Synagoge fehlte, gleichzeitig aber auch deren hierarchische Struktur. Bei einem Armeegottesdienst stand der Rabbiner nicht auf der Kanzel ber den Gemeindegliedern. Vielmehr wurde er ein integraler Teil der Ge119

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Feldrabbiner im 1. Weltkrieg

meinde, sang zusammen mit den Soldaten und half so, ein Gefhl religiser Gemeinschaft zu schaffen. Das vorherrschende Thema aller dieser Schriften ist Baecks feste berzeugung, daß Kriege einen moralischen Zweck haben mßten, der die unmittelbaren Ziele der kriegsfhrenden Nation transzendiere. Ein gerechter Krieg, so glaubte Baeck, msse fr »die Zukunft des Menschengeschlechts« gefhrt werden. Er msse den Zweck haben, eine gerechtere und friedlichere Gesellschaft zu schaffen als vorher existiert habe. »Heimatgefhl« bedeutete fr ihn weniger eine Verbundenheit mit dem Boden als eine Vorstellung von Gerechtigkeit, die die Heimat verkrpern solle. Dieses Kapitel schließt mit einem kurzen Brief an den deutsch-jdischen Philosophen Martin Buber, den Baeck kurz nach Beendigung seines Kriegsdienstes schrieb. In ihm schlgt Baeck vor, daß jdische geistliche Fhrungspersnlichkeiten sich in Debatten ber Krieg und Frieden, Politik und Moral einbringen sollten, die das bevorstehende Ende des Krieges aufwarf. * Das Drama der Geschichte In schweren Tagen lernen wir die Bibel erst wahrhaft verstehen. Wer sie jetzt liest, besonders so manchen Psalm, vernimmt erst ganz, was sie ihm sagen will. Sie kann jetzt zu allen sprechen, auch zu der Oberflchlichkeit, die nur in leichten Stunden einhergegangen war, und die nun tiefer wird, da sie die Not des Lebens und seine Tiefe erfhrt; auch die Gedankenlosigkeit beginnt nun zu denken. Es ist eine Zeit fr die Heilige Schrift gekommen; wir sollen sie heute immer wieder lesen. Sie ist ein Buch des Kampfes, und das gibt ihr ein eigenes gegenber anderen, stillen religisen Schriften. Sie ist ein Buch von der Lebensmhe, die jeder, der Einzelne wie das Volk, bestehen muß, wenn er zu sich kommen soll. Wohl ist ihr Ideal, das sie hoch hlt, der Friede. Aber nicht den Frieden, der als Wundergeschenk in den Schoß fiele, kndet sie – das wre der Friede des Mrchens –, sondern den Frieden der Wirklichkeit, der das Ziel und den Lohn des Schaffens und Tragens sein soll. Sie ist darum ein Buch fr sorgende, ringende Menschen vor allem und insofern auch ein Buch des Krieges. In ihr ist nichts von jener gleichmtigen Ergebung, die alles zulßt, von jenem Quietismus, der immer nur zusieht. Aus ihr dringt das »und dennoch« hervor, die entschiedene Zuversicht, die sich im 120

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Das Drama der Geschichte

Namen Gottes den vielen entgegenstellt; in starker Bewegung heben und senken sich ihre Stze. Einer der neueren Nachdichter der Religion, ein Mann nicht unseres Glaubens, hat das Bild gebraucht: »Aus dem ganzen alten Testament heraus weht ein krftiger Luftzug wie vom Ozeane her.« Es ist ein Wind, stark und herb, und er wird oft zum Sturme, der einherbraust. In harten Zeiten, in den Tagen, in denen das Drama des Geschehens sich vollzieht, kommt unsere Bibel immer zu Ehren. Wir erleben es heute selbst bei ihren gesteigertsten Worten. Mancher, der ber den »richtenden, eifervollen Gott des Judentums« absprach oder spottete, fngt jetzt an, ihn zu begreifen und ihn anzurufen. Manch einer, der von dem »jdischen, zrnenden Gott« geredet hatte, betet nun gewiß bisweilen mit dem Psalmwort, das, hart und ernst, eine schwere Stunde der Bedrngnis geboren hatte: »Gott, des die Rache ist, Ewiger, Gott, des die Rache ist, erscheine! Erhebe dich, du Richter der Erde, bring die Vergeltung ber die bermtigen! Wie lange sollen die Frevler, Ewiger, wie lange die Frevler noch jauchzen?« 1 Wenn den Menschen das Behagen umgibt und er in der Sorglosigkeit dahinlebt, dann hat er es leicht, starken Geistes zu sein und an sich zu glauben. Dann wird er auch die tiefe Sehnsucht nach dem Recht kaum begreifen, den Ruf nach der ewigen Gerechtigkeit, daß sie den Frevel beuge und die Unschuld aufrichte. Sowie aber die erste Not ber ihn kommt und Unwahrheit und Arglist ihn einmal angreifen, sowie er die Unsicherheit und Ungewißheit alles Menschlichen erfhrt, da beginnt er alsbald berzeugungsvoll zu werden und den Spruch zu erwarten, den eine hhere Macht fllen soll. Schwere Zeiten machen glubig, und auch die Kampfesworte der Bibel sprechen dann zur Seele. Kampf ist nicht Streit und Zank. Der zankende Streit wird von Kleinen um Kleinliches gefhrt; der Kampf gilt der Idee, den großen Aufgaben der Geschichte. Unsere Propheten haben diesen Begriff des Kampfes geschaffen, weil sie den Begriff der Weltgeschichte schufen. Sie haben das gewaltige Vertrauen darauf gelehrt, daß das Geschehen einen Sinn, eine Bedeutung hat, und daß es darum zu einem Ziele fhrt. Aber sie wußten, daß in dieser Welt des Endlichen und Mangelhaften sich jedem Sinn nur zu bald eine Sinnlosigkeit entgegenstellt, und daß darum das Vernnftige, das Gute und Wahre, sich der Thorheit, des Schlechten und Falschen erwehren muß. Alle Weltgeschichte, so hat Goethe, diesen prophetischen Gedanken auf-

1. Ps 94,1-3.

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nehmend, gemeint, geht zurck auf einen Kampf zwischen Glauben und Unglauben. Es ist ein schwerer, wechselvoller Kampf; sein Weg geht bald aufwrts, bald weithin abwrts. Zu denen, die an das Gute glauben und sich dafr einsetzen wollen, treten Zweifel und Bangigkeit oft heran. Gott ist geduldig, weil er ewig ist; aber wir endlichen Menschen, denen die Grenze des Daseins gesetzt ist, wir sind ungeduldig, uns wird die Zeit des Hoffens und Erwartens meist zu lang. Wenn solche Stimmung kam, dann blickten die alten Propheten und Dichter Israels in die Ferne, zurck und hinaus. Und wenn sie das Schlechte fr seine Zeit triumphieren sahen, dann ergriff sie, gegenber alle dem schließlich die berlegene Ironie, die jeden Zweifel bezwang. Ihnen war es, in einem wundersam khnen Gleichnis, als lachte der ewige Gott derer, die sich erhoben hatten und sich mchtig dnkten fr ihre Jahre: »Der im Himmel thronet, lacht ihrer, der Herr spottet ber sie. Aber einst wird er mit seinem Zorn zu ihnen reden und mit seinem Grimme sie dahinschrecken.« 1 Was dieses Gleichnis dichtet, das kndet uns die Geschichte. Es ist fr uns Menschen schwer, wenn nicht unmglich, die tiefsten Zusammenhnge des Geschehens, in seinem Kommen und Gehen zu begreifen. Die Geschichte ist ein Drama gttlicher Gedanken. Aber eines erkennen wir, wenn wir die Jahrhunderte berblicken, als den Sinn von allem: nur das Wahre und Gute ist das Wirkliche und kann darum fr die Dauer bestehen, und es setzt sich durch gegen alle Verfolgung und Bedrckung. Daß ist der weltgeschichtliche Grundgedanke, den die Propheten daher immer betonen, und er wird besttigt, wenn man ber den Wandel der Zeiten, das Werden und Vergehen, hinschaut. Geblieben ist aus alten vergangenen Tagen nur, was gut an ihnen war. Gewiß, die einzelnen Ereignisse, denen ja das Jahrhundert oft gehrt, sprechen meist von dem Menschlichen, allzu Menschlichen. Aber das letzte Ergebnis, so spt es kommen mag, zeugt von dem Gottesgericht, zeugt davon, daß nur das Gute die unberwindliche Kraft der steten Wiedergeburt besitzt. Das Bse hat, wie Immanuel Kant in seiner etwas gewundenen Sprache es ausdrckte, »die von seiner Natur unabtrennbare Eigenschaft, sich selbst zuwider und zerstrend zu sein.« Und dasselbe hatten, weltgeschichtlich, schon die Propheten Israels in jenem anderen Wort gewaltiger Ironie ausgesprochen: »So mhen sich die Vlker um ein Nichts und die Nationen um ein Leeres und ermatten!« 2 Das 1. Ps 2,4-5. 2. Jer 51,58.

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Schlechte kommt, und es kommt wieder, aber doch nur, um endlich zu vergehen; weltgeschichtlich betrachtet, ist es die Mhe um das Vergebliche. Wahrhaft existenzfhig ist nur das Gute. Daher hat nur das Volk eine Zukunft, das sein sittliches Ideal hat, seine Zukunft als eine sittliche Aufgabe ansieht. Jedes Volk muß sich vor Gott seine Existenzberechtigung immer neu erwerben, immer wieder dartun, daß es seines Daseins wert ist. Es muß sich seinen Platz schaffen, auf dem es fr die Menschheit arbeitet, durch den es fr die Weltgeschichte, fr die Kultur der Gesamtheit das Seine beitrgt. Sowie ein Volk an sich allein denkt und fr sich allein da sein will, dem nationalen Egoismus also nur folgt, dann existiert es wohl und hat vielleicht auch eine Macht fr krzere und lngere Zeit; aber es lebt nicht oder lebt nicht mehr, in dem tieferen Sinne, daß es fr das große Ganze, fr die Menschheit auch da ist. Es hat nicht den Zusammenhang mit dem Inhalt der Weltgeschichte, der die Dauer gibt; es bedeutet in dem großen Drama des Geschehens bloß das, was berwunden werden muß. Nur die sittlichen Krfte sind am letzten Ende die Lebenskrfte, sie sind das wahrhaft Wirkliche. Die Vlker allein, die im Dienste der Kultur stehen, haben sich daher als lebensfhig erwiesen und haben in den Kmpfen der Jahrhunderte bestanden. Die Gerechtigkeit bleibt schließlich doch das Weltgesetz. Jeder Krieg ist eine Flle des Leides. Er legt denen, die ber ihn zu entscheiden haben, eine Last nicht auf die Schultern nur, sondern weit mehr noch, auf das Gewissen; es gibt keine Verantwortung, die gleich schwer wre. Nur eines kann die Seele befreien: das Bewußtsein, daß der Krieg ein weltgeschichtlicher ist. Ein weltgeschichtlicher Krieg, das will sagen, daß er dem großen Ganzen gilt, daß er fr die Kultur und Gesittung, daß er fr die Zukunft des Menschengeschlechts gefhrt wird. Alles ehrliche Rechtsgefhl hngt davon ab, daß man sich selber achten darf. Von den Vlkern und ihren Kmpfen gilt dasselbe. Der Krieg allein ist ein berechtigter, in welchem ein Volk vor sich Respekt haben und Respekt behalten darf, es empfinden darf, daß eine Entscheidung ihm in die Hand gelegt ist. Ein solcher Kampf wird schließlich dem Gegner auch Achtung abntigen und kann den Weg zum Ziele bahnen. Es darf keinen Krieg geben um des Krieges willen und nicht einmal des bloßen Friedensschlusses wegen, der wieder eine Zeit der Ruhe schafft. Er hat seinen Sinn nur, wenn er der Zukunft dienen will, dem großen Frieden der Kultur. Das starke Wehen der Weltgeschichte zieht jetzt durch die Gemter. Jetzt ist es die Zeit zu lernen und gottesfrchtig zu werden, den Sinn des Geschehens zu begreifen. Ein neuer Akt in dem großen 123

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Drama der Geschichte hat begonnen. Vlker treten gegeneinander im Ringen der Tausende; sie schlagen ihre Schlachten. Aber das letzte Ergebnis, das einst sein und bleiben wird, bestimmt Gott allein. Es ist ein Wort der Wissenschaft von der Natur, daß nur das »Brauchbarste« sich fortsetzt. Ganz so ist es in der Welt der Menschheit, und »brauchbar«, lebensfhig ist nur das Sittliche, das Gute; es bringt den Frieden. So sagt es uns die Bibel, und darum ist sie wieder das Buch des Tages und das Buch von der Zukunft. Es gibt in ihr einem Psalm von den Kriegen und dem Frieden. Anfang und Mitte und Ende sind in ihm dasselbe Wort: »Gott ist uns eine feste Burg.« 1 Aber dazwischen wogt und tost es von Kampf und Waffenlrm: »es toben Vlker, Reiche wanken, die Erde erzittert.« 2 Jedoch das alles klingt dann aus in dem frohen Satz: »Er wird die Kriege ruhen lassen bis ans Ende der Erde, den Bogen wird er zerbrechen und zerhauen den Speer, die Streitwagen verbrennen im Feuer. Lasset darum ab, und erkennet, daß ich Gott bin, erhaben unter den Vlkern, erhaben auf Erden.« 3 Das ist das Ziel unserer Hoffnung: die Vlker werden Gott erkennen, sie werden sich und einander achten. So ist es der letzte Sinn im Drama des Geschehens. In tiefernster Stimmung gehen wir den Tagen der religisen Feier entgegen, den »ehrfurchtsgebietenden Tagen«, 4 wie das alte Wort sie nennt. Wir halten fest an unserem Glauben, der von der Zukunft spricht, von dem großen Neujahr und dem großen Tag der Vershnung. Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde zu Berlin 4 (Sept. 1914): S. 111-112.

* Du sollst! Zum Feste der Offenbarung In dem Kriege, dessen Monate wir aufrecht durchschritten haben, wurde es wieder erkannt, daß nicht Hand und Fuß, sondern Herz und Gewissen das meiste bedeuten. Es wird oft und mit Recht gesagt, daß das Volk, das die strkeren Nerven hat, den Sieg behalten werde. 1. 2. 3. 4.

Ps 46. Ps 46,7. Ps 46,10-11. Auf hebr.: »Jamim Nora’im«, die jdischen Hohen Feiertage.

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Du sollst!

Aber hinter den Nerven wohnt die Kraft des Wollens und die Fhigkeit des Denkens; auch im Geistigen, und in ihm vor allem, vollzieht sich der Kampf, Seele stemmt sich gegen Seele. Nur wenn sie die starke Ausdauer hat, die die Wochen des Wartens und die Stunden der Spannung berwindet, kommt der schließliche Erfolg. Es sind sittliche Krfte, die letzten Endes die Entscheidung bringen. Wie wir sind, davon hngt alles ab. Wir haben in diesen Monaten von uns manches erfahren. Frher war es oft, als gingen die Tage in ihrer Reihe an uns nur vorber wie ein Zug von Bildern, bald einfrmig und ermdend, bald bunt und erregend. Jetzt ist es denen, die im Angesichte der Gefahr stehen, oft, als erlebten sie jeden neuen Tag neu, ja noch mehr: wie ein altes jdisches Gleichnis es meint, so, als htten sie den Tag, der kommt und geht, mit schaffen geholfen. Mit dem Stolz dessen, der Hand angelegt hat, kann mancher bisweilen sprechen: es ward Abend, und es ward Morgen, ein Tag. Wir holen anders Atem als frher; das Bewußtsein dessen, was wir gekonnt, weitet die Brust. Mannigfaltig ist diese Kraft erlebt worden, von jedem an seinem Platz und auf seinem Weg, von dem einen in strmendem Mut, von dem andern in standhafter Geduld. Bald galt es zu erwarten, bald galt es zu berwinden. Aber alles beruhte immer auf einem, das allein stark gemacht hat. Dieses eine, so haben wir es immer wieder erfahren, ist das Bewußtsein von dem »Du sollst«, diese stete Mahnung des Gewissens, das zu uns spricht, dieser seelische, sittliche Nerv, der in uns schwingt. Wer solche Spannkraft seines innersten Wesens hat, der hat die »strkeren Nerven«. Diesem »Du sollst« wird heute in den Gemeinden Israels das Fest gefeiert, das alte Fest der Offenbarung, die Erinnerung an die Verkndigung der Zehngebote. Von der Kindheit her sind sie jedem von uns vertraut, aber erst in der ernsten Zeit erlebten wir ganz, welche Kraft in ihnen wohnt, in ihnen, wie in all dem Gebietenden, das aus unserer Bibel an uns herantritt, Gebot an Gebot, Pflicht an Pflicht mit diesem nie endenden: beginne, tue, entscheide dich! Wenn man diese fordernden Worte der heiligen Schrift liest, dann kann es dnken, als dringe es an unser Ohr und an unsere Seele so hnlich wie gleiche Schritt und Tritt derer, die hinausrcken, wie der Rhythmus des Marsches, der den Weg bezwingen will. Wie oft haben wir sie in diesen Tagen gesehen und gehrt, diese Reihen derer, die hinauszogen ins Ungewisse der Zukunft, ins Ungewisse der Pflicht. Ganz tnt es durch die Bibel hindurch in ihrem so mannigfaltigen und doch immer gleichen: du sollst, du sollst! Es klingt darin etwas, was zum Kampfe auffordert, zum Kampfe um des Gewissens willen, zum 125

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Kampfe fr Wahrheit und Recht, hin zum Ziele des Friedens unter den Menschen. Nur die Zukunft ist dunkel, die Pflicht ist klar! Jahrhundert um Jahrhundert ist es so, seit dem Tage der Offenbarung, in die Welt hinausgedrungen, und so ist es uns, denen daheim wie denen draußen, jetzt wieder machtvoll vor die Seele getreten. Dieses »Du sollst« ist das große Erlebnis der Zeit. Was darin zu uns spricht, ist mehr als das alltgliche Wort von der Pflicht. Wir haben alle, die Jungen wie die Alten, unsere Aufgaben immer gehabt, die die Stunde uns brachte, und wir haben schlecht und recht daran gearbeitet. Aber man kann seine Pflicht ben bis ins Geringste hinein und bt sie wie ein Tagewerk, sie bleibt kalt und seelenlos. In dem, was das Gebot der Bibel meint und will, wohnt ein strkeres. Es liegt darin etwas Eifervolles und fast Leidenschaftliches, etwas, was aus der Begeisterung kommt und den Mut verlangt, etwas, was erfllt werden soll aus der Gewissenskraft heraus und um Gottes willen, etwas was vollbracht werden kann, nur wenn es getan wird, wie das alte Bibelwort, das zum Worte unseres Gebetes geworden ist, es verlangt, »von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzer Kraft«. 1 Ein solcher Geist, fast wie ein Sturm, war an dem Tage der Entscheidung im deutschen Volke lebendig geworden. Ein Vorwrtsdrngen kam in die Pflicht und gab ihr den großen Zug. Alle die Hunderttausende, sie eilten in den Kampf hinaus. Wo immer der Arm sich hob, war nicht nur der Muskel, war auch die Seele gespannt. Das Bewußtsein, daß es geboten ist, diese Gewißheit, in der allein das Vertrauen auf Gott beruht, lebte in allen. Der biblische Geist wehte durch das Land, unsere heilige Schrift wurde wieder ergriffen. Wir haben es erfahren drfen, wiederum einmal in der Geschichte: es gibt keine große Zeit, ohne daß das Gewissen erwachte, ohne daß es im Namen Gottes vernommen wurde: »du sollst!« An unserm Feste der Offenbarung drfen wird dessen gedenken. Diese seelische Kraft, diesen Mut zu uns selbst haben wir Monat um Monat nun zu bewhren. Jeder Tag verlangt das Seine in den großen Opfern und in den kleinen Mhen. Einst hatte vielleicht manch leichter Sinn dichtend vom »frischen, frhlichen Kriege« gesungen. Die Wirklichkeit ist anders, sie ist hrter und strker und eben darum so viel grßer als die Phantasie. Der harte Ernst der Zeit verlangt den ernsten, ganzen Menschen, den Menschen, welcher weiß, wer er ist. »Tue deine Pflicht, dann weißt du, wer du bist,« so hat Goethe es an den Anfang seine Sprche der Weisheit gestellt. Es 1. Dtn 6,5.

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ist ein treffliches Wort, aber unser Fest der Offenbarung fhrt tiefer hinein, es spricht zu uns das strkere Wort: bringe Opfer, dann weißt du, wer du bist und was an dir ist. So haben unsere Weisen das »Du sollst« der Bibel immer aufgefaßt und uns gelehrt: »nur, wer Opfer bringt, weiß um sein ganzes Herz, seine ganze Seele, seine ganze Kraft.« Und so empfinden wir es jetzt alle, ber jedes Besondere und jedes Scheidende hinweg, wir Kinder des Vaterlandes. Wir erfahren an uns und aneinander, wer wir sind. Wer so die Grße der Zeit erlebt hat, der ist innerlich gewachsen, und er hat mitgeschaffen an dem endlichen Siege, mitgearbeitet an den kommenden Tagen. Ein Krieg des Krieges wegen wre nur Zerstrung und Vernichtung, ein Krieg um des Friedens willen mchte neues begrnden. Wir wollen Aufbauen. Nach dem neuen Deutschland zieht unsere Sehnsucht in den stillen Augenblicken, da wir trumen, ihm gilt unser Wille und unsere Tat in den harten Stunden, da wir ausharren und da wir vorwrtsschreiten. Wir denken an die Zukunft. Sie wird von Gott bestimmt, und von uns errungen. So viel steht vor uns an großer Zeit, wie unter uns große Menschen sind, wie wir selbst ganze Menschen sind, die es an ernsten Tagen erfahren, was sie tun sollen. Wie wir sind, daran ist alles gelegen. Erinnerung und Hoffnung erwachen am Feste der Offenbarung in uns. Wir denken daran, was die heilige Schrift der Menschheit geschenkt hat, unsere Bibel, fr die Israel einer ganzen Welt oft widerstehen mußte. Welch Großes es ist, erleben wir jetzt. Sie hat uns und allen es gepredigt in die Herzen hinein, daß nicht die Macht, sondern die Kraft siegt, daß das Gebot Gottes, das »Du sollst« es ist, das stark und groß werden lßt. So hat sie es gelehrt von Geschlecht zu Geschlecht und hat damit die Zuversicht eingepflanzt, wie in die, welche einst kmpften, so in uns, daß die Wahrheit durchdringen wird, daß das Recht doch Recht bleiben muß. Gott spricht, und das Wort Gottes entscheidet. Darum sind auch wir des Sieges gewiß. Bis sein Tag kommt, wollen wir, was immer die Stunde fordert, die Treue ben, an unserer Stelle und auf unserem Wege. Gott spricht zu jedem von uns: Du sollst! Wenn du es vernimmst, wirst du es knnen. Zum Schowuausfest … 1915. Ein Gruss an die jdischen Soldaten im deutschen Heer. Hg. Verband der Deutschen Juden. [Berlin], 1915. S. 5-8.

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Draussen und Drinnen »Dieses Gebot, das ich Dir heute gebiete, ist Dir nicht verborgen und nicht zu fern. Nicht ist es im Himmel, dass Du sagen msstest: wer steigt fr uns zum Himmel hinan und holt es uns und verkndet es uns, dass wir es tun. Und nicht jenseits des Meeres ist es, dass Du sagen msstest: wer fhrt uns dorthin, jenseits des Meeres, und holt es uns und verkndet es uns, dass wir es tun. Sondern es ist Dir sehr nahe, in Deinem Munde und in Deinem Herzen, dass Du es tuest«. (V. Buch Moses, Kapitel 30, Vers 11-15) Es ist uns ein gewohntes Wort geworden, dass wir hier »draussen« im Felde stehen. Wir sind draussen, und das kann hart und rauh klingen. Im Vaterlande drinnen, in unserer Heimat, in unserem Hause, zu dem unsere Gedanken hinziehen, dort ist es warm und hell, dort sind die Unseren, dort walten und hten Behagen und Frieden, dort ist das schtzende Dach ber dem Haupte. Aber wir hier sind draussen und halten die Wacht im Kalten und Grauen, im Sturm und Regen und Schnee, und wie aus weiter Ferne blicken wir nach der Heimat aus, fast wie zu einem Sternenlichte hin, das in die dunkle Nacht seine Strahlen hinaussendet. Wir empfinden es alle tief, was es bedeutet, das Heim zu entbehren, den Platz, wo nicht nur unser Fuss ruht, sondern unser Herz auch wohnt. Wohl haben wir in neuer Selbstndigkeit gelernt, vieles uns zu bereiten, Hand in Hand mit der kameradschaftlichen Treue neben uns. Wie viele Geschicklichkeit und arbeitende Kunst, die wir kaum vermutet, ist von Woche zu Woche mehr in uns allen hervorgewachsen. Wir haben unsere Sttte des Rastens und Wohnens; sie ist meist unser Werk, und wir sind stolz darauf. Aber wir haben doch kein Heim. Vielleicht schon deshalb nicht, weil wir immer nur unter Mnnern sind, es keine sorgende weibliche Hand hier gibt. Ein Heim ist es nicht; wir sind draussen. Darum wird jeder Gedanke an die Zukunft zum Gedanken an unser Haus, zu dem Wunsch, einst drinnen in der Heimat wieder zu sein. So soll es auch unser Hoffen und Sehnen, unser Gebet immer bleiben. Aber wenn so unsere Empfindungen heimwrts fliegen, so soll doch eins immer mit ihnen gehen, immer sie begleiten. Wir wollen stets daran denken, was alles uns gegeben worden ist seit dem Tage, da wir hinausgezogen sind. Die Monate, in denen wir hier draussen stehen, haben uns vieles gebracht, was uns ein Besitztum bleiben kann. So manches wir entbehren mssen, durch vieles sind wir dafr hier reicher geworden. 128

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Draussen und Drinnen

Eines ist es zuerst. Unser Blick dringt jetzt weiter und tiefer, die Welt um uns ist grsser geworden. Wie vieles mehr als frher hat sich vor uns geffnet. Wir haben Menschen sehen und hren gelernt, die einst neben uns im Vaterlande gelebt hatten, nur neben uns; sie kannten uns nicht noch kannten wir sie. Hier draussen hat die gleiche Pflicht und das gleiche Geschick uns alle zueinander gefhrt; wir haben begonnen, mit einander zu leben, Auge und Ohr hinzuwenden, zu verstehen, um verstanden zu werden. Und es gibt doch kein besseres Wissen, als um Menschen zu wissen, sie zu entdecken und ihnen die Hand zu reichen, einen Blick in ihre Seele zu tun. In frheren Tagen daheim hatten wir gemeint, die Welt, die grosse Welt, von der man spricht, das sei der weite Markt der Eitelkeit, jene sich dehnende Breite des usserlichen und Nichtigen, jenes Schimmern von Flitter und Schein; dorthin zu gelangen und dort zu gelten, das ist so oft der Weg des Irrens und Suchens und Mhens gewesen. Wenn die erste ernste Stunde hier draussen gekommen ist, dann ist das alles hinter uns versunken. Wir sind dessen inne geworden, dass die wahre, die grosse Welt die ist, in welcher der Mensch den Menschen findet. Sie hat sich fr uns weiter ausgedehnt. Wir stehen draussen in dem erhebenden Sinne auch, dass die Feinde berall zurckgehalten und zurckgedrngt sind, dass nicht auf des Vaterlandes Acker das Vaterland verteidigt werden muss; jenseits der Grenzen steht unsere Wacht. Es ist der harte Gang des Krieges, dass Vernichtung seinen Weg bezeichnet. Wir sehen rings um uns her, was er zerstren musste, um zum Siege zu dringen. Aber wir wissen das andere auch: Er hat ebenso sehr seine stillen, fast knnte man sagen, seine friedlichen Pfade. Dankbarkeit kann zurckbleiben berall, wohin wir im Dienste der Waffen gekommen sind. Die Ehre und die Wrde des Vaterlandes und mit ihr die Ehre und die Wrde unseres Glaubens sind in unsere Hand gelegt. Die Menschen im fremden Lande, sie sollen es erfahren, wer wir sind, es erfahren durch die Geradheit und Rechtschaffenheit, die wir beweisen, durch die Freundlichkeit und Gte, die wir ben hier draussen im Lande des Feindes. Viele dieser Menschen haben Schweres erduldet, ihre Herzen sind durchpflgt, durchackert worden, sie sind empfnglich geworden fr jedes Korn des Guten, so dass es aufwachsen kann als Frucht der Zukunft. Jeder kann dazu helfen. Zu jedem von uns ist hier draussen diese Stunde gekommen, Rechtes zu tun. Sie hat uns, wenn wir sie genutzt, innerlich reicher gemacht, und unsere Welt ist grsser geworden. Das ist unsere Welt rings um uns her. Aber wir haben sie gewon129

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nen, und wir knnen sie besitzen, nur weil hier draussen eine andere Welt erstarkt und gewachsen ist, die Welt in uns, unser inneres, seelisches Leben. Wir mssen hier des Heims entraten, welches unser Haus schenkt; aber dafr haben wir mehr und mehr, oft ohne es zu merken, es gelernt, in ein anderes Heim einzukehren, in das Heim unseres Herzens und unseres Wesens, in ihm heimisch zu werden. Im Vaterlande drinnen hatte es in unserem Dasein so vieles gegeben, was uns umherzog und umhertrieb. Wir gingen hierhin und dorthin, und darber sind wir an uns meist vorbeigegangen. Wir haben den Sinn umhergeschickt, suchend und trachtend, und darber hatten wir ganz vergessen, uns auf uns selber zu besinnen. Wir kamen zu viel zu anderen, und wir sind zu wenig zu uns selber gekommen, zu unserer Seele, zu unserem Gewissen, zu unserem Gemte. Hier draussen haben wir jeder einmal die stillen Stunden erfahren, in denen wir nachdachten, nicht ber die Dinge rings umher, die kommenden und gehenden, sondern ber uns, ber das, was wir sind. Unser Leben trat vor uns hin; wir standen vor uns selbst und fragten uns, was wir geworden, was unser Leben bedeutet hat, bis jetzt, und nun bedeuten soll. Es war uns, wie wenn Gott uns riefe: »Wo bist Du!« So haben wir gelernt, bei uns zu sein, mit uns und unserem Gotte zusammen, einmal Zwiesprache zu halten in unserer Seele. Hier draussen hat manch einer erst sein Drinnen gefunden: er hat zu sich selber gelangt. Wir denken des Tages, den Gott uns schenken mge, an dem wir, nach Opfer und Pflicht, wieder drinnen im Vaterlande sein werden, um in Jahren des Friedens zu wirken und zu schaffen. Dann soll, was wir hier gewonnen haben und hier geworden sind, unser Besitztum bleiben. In unserem Heim soll es leben als der Segen einer grossen, ernsten Zeit, der Zeit, da wir draussen standen. Sabbathgedanken fr jdische Soldaten. S. 1-4. Gedruckt ohne Angabe von Ort und Datum, wahrscheinlich 1915.

* Die Kraft der Wenigen Unser Channukafest, das uns von den Makkabern erzhlt, sagt uns, daß der Geist mehr bedeutet als die Zahl, es feiert die Kraft, die in den Wenigen wohnt. Man knnte die ganze Menschheit teilen und sondern: die einen wollen nur in der Menge sein, und in ihr allein fhlen sie sich geborgen; die anderen finden in ihrer Seele die Festig130

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Die Kraft der Wenigen

keit, und sie knnen darum ihren Platz bei den Wenigen haben. Seit es ein Menschenleben gibt, sind dies die beiden großen Parteien auf Erden, und der Kampf zwischen ihnen, das ist der eigentliche Inhalt der Geschichte der Vlker; zwischen ihnen wogt es im Aufstieg und Niedergang. Bisweilen erhebt sich der Ansturm der Vielen, und ihm gegenber will manchen ein Zagen erfassen. Dann ist immer die Zeit fr die Predigt unseres Channukafestes gekommen, fr sein Wort der Gewißheit, daß zuletzt der Geist doch immer entscheidet und ihm daher die Zukunft gehren muß. So tragen wir denn auch heute in uns die starke Zuversicht, daß Deutschland in seinem Kampfe gegen die Feinde rings umher erfolgreich bleiben wird, und wir Israeliten im Lande, wir empfinden dieses Vertrauen besonders innig und tief. Denn es ist unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart und noch fr lange hin die kommende Zeit, daß wir die Wenigen sind. »Ihr seid die Wenigen unter den Vlkern«, 1 diese Worte hatte Moses an den Anfang unseres religisen Lebens gesetzt, und sie sind die Richtung und ein Sinn unseres Weges geblieben. Wenn von der Sendung Israels gesprochen wird, so steht gewiß zuerst vor uns die »Lehre der Wahrheit«; in ihr hat Israel seine Daseinspflicht und seine Daseinskraft gewonnen. Aber ebenso sehr sollte an dieses andere dann immer gedacht werden, daß es vom Anbeginn her unsere Aufgabe ist, gegenber den Vielen zu stehen; und die Bedeutung, die darin liegt, ist keine geringere. Denn so lange es ein Judentum gibt, ist bewiesen, daß die berzeugung sich nicht meistern und nicht zwingen lßt durch die Mehrheit. Da wir da sind, ist dargetan, daß die Idee noch strker sein kann als die Zahl. Es ist nicht immer ein leichtes Los, das uns damit zugeteilt ist. Wo ußere Macht nicht ist, muß die innere Kraft wachen. Wo nur wenige sind, muß im Leben eines jeden das Gewissen standhalten, jeder ein Ganzer sein. So ist es von uns allen gefordert, als ein Ernstes und Großes; aber keine edlere Tapferkeit als diese kann sich bewhren, keine, die mehr fr die Zukunft kmpft. Sie hatte manchen unter uns bisweilen gefehlt. So manche sind im Laufe der Zeiten zaghaft geworden und schließlich untreu und gingen von uns fort; sie meinten, sicher und getrost zu sein, nur wenn sie unter der Menge stnden; sie wollten einige von den Vielen sein. In diesen Monaten ist kriegerisches Heldentum oft bewiesen worden. Wir haben alle erfahren, worin und wann es sich zeigt. Mutig sein, das heißt: auch allein und einer von wenigen sein knnen, auf 1. Dtn 7,7.

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seinem Posten ausharren und seinen Weg gehen, auch wenn nicht die Vielen vor ihm und neben und hinter ihm sind. Wohl gibt es auch eine Massentapferkeit; sie ergreift den einzelnen, wenn er sich inmitten der Menge sieht, und reißt ihn mit, und er teilt, da er unter allen den anderen ist, mit ihnen den starken Sinn. Er hat, wie ein bitteres Wort es sagt, bloß die Herdennatur. Die wahre Tapferkeit ist ein Grßeres. Sie besitzt erst der, welcher auch allein zu stehen vermag; nur er ist eine Persnlichkeit. Unserem Vaterlande wird die Zukunft wichtige Aufgaben bringen, und eine jede von ihnen wird ganze Mnner, Persnlichkeiten fordern. Sie hatten der vergangenen Zeit im Kreise mancher Pflicht gefehlt; es gab viel Zaghafte und Kleine im Lande. Zu selten wurde die brgerliche Tapferkeit gefunden. Daß sie nun aufwachse, das ist ein Zukunftswort, das zu uns spricht; denn nur durch sie wird auch der Frieden ein Sieg werden. Diese brgerliche Tapferkeit, sie ist in ihrem Grunde und in ihrem Wesen keine andere als die, welche wir im Kriege, in Drang und Not und Sturm, jetzt erfahren. Auch sie ist nichts anderes als die Kraft, fest zu bleiben, mag man auch allein oder bei den Wenigen nur sein. Sie ist eine Tapferkeit des Gewissens, dieselbe, wie sie vor uns Juden als unsere geschichtliche Aufgabe, als das Gebot von jeher, steht. Erst in diesem sittlichen Mut wird der Mensch, wie draußen so daheim, selbstndig und in seiner Seele aufrecht, so daß er einer von den Freien ist und als einer mehr bedeuten kann als viele. Erst in der Tapferkeit wird der Mensch tapfer. Der Kampf fr das Rechte und Gute lßt ihn innerlich sicherer und gerader werden; es ist, wie wenn von der Kraft Gottes etwas in ihn einzge. Ein Wort eines unserer Weisen sagt es: »Mache Gottes Willen zu dem deinen, so wird Gott deinen Willen zu dem seinen machen.« 1 So ist es: In der Standhaftigkeit seines Gewissens wird der Mensch seiner gewiß und in sich stark; er fhlt es: er steht auf Gottes Seite und in Gottes Kraft. Solche Mnner braucht das Vaterland, es braucht diese Tapferen, die in der Pflicht sich finden, im Kampfe so erfahren, wer sie sind, und solcher Mnner bedarf ebenso unsere Glaubensgemeinde, um ihretwillen und um der Gesamtheit willen. Nur wer sich treu bleibt, kann anderen treu sein, kann dem großen Ganzen das Seine leisten. Die erste Vaterlandsliebe ist die, ein Mensch zu sein, der aufrecht auf seinem Platze steht und den Mut hat, bei den Wenigen zu sein, wenn es not tut, auch gegen die Vielen. Auch zur Liebe gehrt die Tapferkeit; sie erst gibt allem die Kraft und den Wert. 1. Sprche der Vter 2,4.

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Berichte des Feldgeistlichen Rabbiner Dr. Leo Baeck

Fr andere ist sie eine Eigenschaft, eine beste und hchste; fr uns Juden ist sie noch mehr, fr uns ist sie das Fundament unseres Wesens und Daseins. Wer sie nicht besitzt, kann nicht ein Jude sein, kann nicht aufwachsen auf diesem Boden, auf den die Vorsehung ihn gestellt hat. Wenn einer inmitten der Mehrheit wohnt, so darf er vielleicht bisweilen sich vergessen oder sich verlieren, denn er ist unter vielen einer. Wer unter den Wenigen steht, muß immer ein Ganzer sein, einer, der den Mut zu sich und zu seiner Pflicht in der Seele trgt. Von Feinden umringt, hat jetzt das deutsche Volk es so erfahren und bewiesen. Wir, die Kinder unserer Glaubensgemeinde im Vaterland, wir wissen es so von ehegestern und ehedem. Wir haben im Kriege wie im Frieden, das Erbe der Makkaber zu hten. Wie sie werden auch wir immer wieder es erleben, was das Prophetenwort unseres Channukafestes kndet, das Wort von der Kraft der Wenigen: »Nicht durch die Menge und nicht durch die Macht, sondern durch meinen Geist, so spricht der Herr der Heerscharen!« 1 Verfaßt in seiner Eigenschaft als Feldrabbiner bei der Armee von Scholz. Zum Chanukkafest 1915. Ein Gruss an die jdischen Soldaten im deutschen Heere. Hg. Verband der Deutschen Juden. [Berlin], 1915. S. 2-5.

* Berichte des Feldgeistlichen Rabbiner Dr. Leo Baeck an den Vorstand der jdischen Gemeinde Bericht I. 27. September 1914 Ganz ergeben berichte ich ber die erste Woche meiner Ttigkeit als Feldgeistlicher; ich bitte, die ußere Form dieses Schreibens mit den schwierigen ußeren Verhltnissen entschuldigen zu wollen, denn ich benutze einen Koffer als Tisch. Ich habe am 13. d. Mts. Berlin verlassen. Um bis zu dem augenblicklichen Sitze des Oberkommandos der I. Armee, dem ich berwiesen bin, zu gelangen, waren Bahn- und Wagenfahrten ntig, die Tage erforderten. Whrend dieser Zeit habe ich nur einmal ein fnfstndiges Nachtquartier machen knnen. Diese Fahrten, die ber L. – R. – Ch. – C. – St. O. fhrten, haben aber das Gute gehabt, mich 1. Sach 4,6.

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mit verschiedenen Truppenteilen zusammenzufhren und mich damit fr meine Ttigkeit vorzubereiten. Meine eigentliche dienstliche Ttigkeit begann demgemß erst mit dem 20. d. Mts. Auf Grund von Besprechungen, die ich mit einem Adjutanten des Oberkommandos, und von Unterhaltungen, die ich mit einigen evangelischen und katholischen Divisionspfarrern hatte, habe ich mir folgenden Arbeitsplan fr die erste Woche aufgestellt, den ich auch habe durchfhren knnen. Ich habe mich fr je 2 Tage zu den Kriegs- und Feldlazaretten und zu Truppenteilen mit festen Standorten verweisen lassen. Dies erforderte, daß ich immer wieder das Quartier wechselte und tglich von 7 Uhr frh bis 7 Uhr abends fahrend und reitend unterwegs war, von Ort zu Ort. Aber es wurde dadurch erreicht, daß man mich im Gebiete der Armee mglichst rasch und mglichst weithin kennen lernte und daß ich selbst mglichst bald einen berblick und eine Ttigkeit gewann. Die Ttigkeit findet ihre große Schwierigkeit in der weiten rumlichen Ausdehnung und in der Vereinzelung der jdischen Mannschaften. Die Linien des Gebietes, das der jdische Feldgeistliche amtlich zu verwalten hat, erstrecken sich, nach verschiedenen Richtungen, ber 40-70 Kilometer, ber oft sehr schwierige Wege hin. Zudem befinden sich zur Zeit die Truppen fast smtlich in Stellung in den Schtzengrben, und es ist nicht berall mglich, an sie heranzukommen. Es ist viel Geduld erforderlich. Meine wesentliche Aufgabe bestand so in dem Besuche der Feld- und Kriegslazarette. Ich habe sie zu einem großen Teile, bisher 9, besucht, und ich habe in fast allen jdische Verwundete angetroffen, denen es offenbar eine große Wohltat war, besucht zu werden. Den Angehrigen aller, die ich traf, habe ich briefliche Nachricht gegeben. Einen Gottesdienst habe ich bisher aus den geschilderten Grnden nicht abhalten knnen. Ich begebe mich aber heute nach C., wo mehrere große Lazarette sind, in denen ich nach jdischen Verwundeten fragen will. Dort, in C., ist auch eine etwas grßere Anzahl von jdischen Mannschaften und rzten. Ich habe daher bereits alle Anordnungen getroffen, um dort am Dienstag Abend und am Mittwoch Vormittag den Jom Kippur-Gottesdienst abzuhalten. Außerdem hat das Oberkommando, auf mein Ersuchen, einen Tagesbefehl erlassen, daß alle jdischen Mannschaften, soweit die Kriegslage es gestattet, von Dienstag 5 Uhr bis Mittwoch 7 Uhr abends dienstfrei bleiben und zu gemeinsamen Gebeten sich zusammentun sollen. Ich habe, soweit es mglich war, an der Hand der Feldgebetbcher einzelner Soldaten die Anleitung zu solchen Gottesdiensten gegeben. 134

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Berichte des Feldgeistlichen Rabbiner Dr. Leo Baeck

Wenn ich ber den Erfolg mich aussprechen darf, so ist er am grßten bisher in ideeller, moralischer Beziehung. Ich habe es beobachten knnen, wie sehr die jdischen Mannschaften das bloße Bewußtsein erhob, daß ein Rabbiner sich bei den Truppen befindet. Von den Kommandostellen erfahre ich jedes Entgegenkommen und persnliche Liebenswrdigkeit. Die kommandierenden Generle erkundigen sich persnlich nach der Art und dem Erfolg meiner tglichen Arbeit. Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde zu Berlin 4 (Nov. 1914): S. 140-141.

Bericht Nr. 48. 20. September 1916 In den beiden ersten Wochen des September habe ich Gottesdienste abgehalten in Schdern, Sziwischki, Beuki, Uzjany und Smolina. In der zweiten Woche des Monats fand auch, wie schon frher wiederholt, eine Konferenz der Rabbiner an der Ostfront statt. Diese Tagungen mit ihrem Austausch der Erfahrungen und der gegenseitigen Belehrung, die dieser bringt, geben den Rabbinern im Felde die Mglichkeit, die Arbeit aller einheitlich zu gestalten. Fr die Feldgeistlichen der anderen Bekenntnisse ist von vornherein dieser Zusammenhang damit gewhrleistet, daß die gesamte Militrseelsorge durch den Feldprobst, den evangelischen und den katholischen, geordnet und geleistet wird. Verhltnismßig frh wurde dann in den einzelnen Bereichen des Feldheeres die gemeinsame Ttigkeit der Pfarrer dadurch noch besonders erleichtert, daß einer von ihnen als sogenannter »Referent« bestimmt und damit betraut wurde, alles Erforderliche fr die Teilung der Aufgaben und ihr Ineinandergreifen in die Wege zu fhren. Aber auch hier hatte sich schon bald das Bedrfnis nach Zusammenknften in weiterem und engerem Kreise herausgestellt; das mndliche Wort und die persnliche Fhlung knnen strker und anregender wirken, als alle schriftlichen Darlegungen. Den jdischen Feldgeistlichen fehlte jene dienstliche Zusammenfassung, ihnen fehlte selbst der Referent. Zwischen den einzelnen Kollegen lag zudem ein verhltnismßig weiter Weg, im Osten, nach der Zeit gemessen, die er verlangt, ein noch weiterer als im Westen, und eine nachbarliche Beziehung war daher kaum mglich. So wurden die Konferenzen, die mit ihrer Aussprache und ihren Anregungen eine einheitliche Arbeit anbahnen sollten, ein wesentliches Erfordernis. Der Rckblick auf eine grßere Reihe dieser Tagungen im Westen 135

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wie im Osten erlaubt es, zu sagen, daß sie ihre Aufgabe erfllt haben. Es war stets unausgesprochener Grundsatz, daß die Regeln und Leitstze der Arbeit nicht in einer berstimmung einzelner durch die Mehrheit festgelegt werden sollten, sondern ausschließlich durch die bereinstimmung aller. Sie hat sich auch immer erreichen lassen, trotz aller Verschiedenheit in den Anschauungen und in den Temperamenten; sie hat sich eingestellt, weil der verstndnisvolle Wille vorhanden war, die Person der Sache, und nicht die Sache der Person, dienen zu lassen, und die besonderen Wnsche in die große Aufgabe einzuordnen. Es war stets das erforderliche Maß von Disziplin wirksam, ohne welches ein geordnetes und rasches Zusammenarbeiten nicht mglich ist. Es htte verwunderlich sein mssen, wenn es hier anders gewesen wre. Zeigte hier doch jeder Blick, wie ein Ziel erreicht werden kann, nur wenn der Gedanke des Gemeinsamen und sein Gebot in allen leben. Die Sorge um die Individualitt mit ihrer Eigentmlichkeit ist etwas Wertvolles und Notwendiges in der Pflege des Gemtes und des Geistes. In der Welt der Arbeit, die auf unserer Erde nur ein Zusammenarbeiten sein kann, muß zu der Individualitt, wenn sie ein Segen sein soll, der starke Sinn fr den Zusammenhang und den Zusammenhalt hinzukommen. Erst dieser Sinn fr Disziplin gibt der Individualitt ihren festen Boden, auf dem sie, in Gemeinschaft mit anderen, etwas schaffen kann. Htten die Konferenzen der Rabbiner im Felde auch nur dieses eine deutlicher gezeigt und gelehrt, sie bedeuteten schon dadurch allen, die zu ihnen zusammenkommen, eine Frderung fr jede Arbeit, welche die Zukunft bringen wird. Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde zu Berlin 6 (Nov. 1916): S. 128.

Bericht Nr. 49. 9. Oktober 1916 In der zweiten Hlfte des September habe ich in Steinensee, Tschepukany, Busowa, Schdern, Sziwischki, Nowo-Alexandrowsk Gottesdienste abgehalten; sie fanden vornehmlich an den beiden Neujahrstagen statt. ber sie, wie ber die Gottesdienste am Vershnungstage soll der nchste Bericht Genaueres mitteilen. Ihm mgen heute einige allgemeinere Gedanken ber unsere Feldgottesdienste vorausgeschickt werden. In der gemeinsamen Andacht soll etwas verbunden sein, was eigentlich auseinanderstreben und fast gegen einander zu stehen scheint; Andacht und Gemeinsamkeit scheinen einen gewissen Wi136

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Berichte des Feldgeistlichen Rabbiner Dr. Leo Baeck

derspruch zu bedeuten. Jede innige starke Andacht isoliert den Menschen. Sie lßt ihn zu sich selber kommen, so daß er mit sich und seinem Gotte allein ist; sie schafft fr ihn eine Einsamkeit mitten unter den Menschen. Wer betet, zieht sich aus der Welt zurck, um sich selber zu finden und sich selbst zu gengen. Aber andererseits gehen doch von dem Gebete derer, die neben uns stehen, wieder Schwingungen der Andacht aus, die uns ergreifen, so daß unser Empfinden mit ihnen mitschwingt, und es in uns lauter zu klingen beginnt als vorher. Unsere Stimmung erhlt ihren strkeren, volleren Ton, wenn wir in denen, die neben uns beten, die Gemeinschaft dessen erfahren, was wir glauben und erhoffen; wir wissen es nun, daß wir nicht allein vor unserem Gotte stehen. Der Gottesdienst soll darum der Seele beides gewhren, die Augenblicke sowohl, in welchen sie in sich bleibt und alles ringsumher vergißt, wie auch die, in welchen sie um die Genossen des Gebetes wissen darf, mit ihnen sich zusammenschließt. Im Gemeindegottesdienst der Heimat hat die Gemeinsamkeit ihren weiten Platz. Schon das Gotteshaus selbst, von allem draußen trennend und alles drinnen verbindend, dann der Gesang von Kantor und Gemeinde, die alten ehrwrdigen Formen, alles wirkt dahin, immer wieder zusammenzufassen, die Gemeindestimmung zu erzeugen – so sehr, daß es bisweilen scheinen knnte, als sei dem Bedrfnis nach Einsamkeit, dem stillen Gebete, in welchem die Seele ihr Alleinsein finden soll, nicht immer genug ihr Raum gelassen. Im Gottesdienste hier draußen ist es umgekehrt. Es gibt dem Gemte sehr leicht seine stille Andacht, in welcher es fr sich selbst bleibt, und auch die Predigt kann ja eine gewisse Einsamkeit schenken; denn sie spricht wahrhaft zu dem Zuhrer, wenn er unter dem Empfinden steht, es werde zu ihm und von ihm gesprochen, zu ihm vor allem und fast zu ihm allein. Was der Feldgottesdienst aber erst suchen und bereiten mußte, ist die Gestaltung des Gemeindegottesdienstes. Es fehlt das Gotteshaus, es fehlen die gewohnten Linien der Gemeinsamkeit, es fehlt viel von den altvertrauten ußeren Formen, und es stellte sich daher als Aufgabe ein, das alles doch in gewissen Grenzen zu gewhren. Diese Aufgabe konnte nicht berall in gleicher Weise ihre Lsung finden; schon die jeweiligen ußeren Verhltnisse waren mitbestimmend. Wenn nach gelegentlichen Schilderungen ein Urteil gebildet werden darf, so scheint es z. B., daß bei den jdischen Feldgottesdiensten in der sterreichischen und ungarischen Armee die Vorbereitung und Zurstung ganz wesentlich darauf hingerichtet sind, mglichst einen Eindruck der Synagoge zu bieten. Der Blick wird 137

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auf eine »heilige Lade« hingelenkt, der Rabbiner wird auf die Kanzel, der Vorbeter an seinen Tisch gestellt; Rabbiner und Gemeinde sollen wie in der Heimat vor einander stehen. Im Gegensatz hierzu ist fr unsere Feldgottesdienste in der deutschen Armee eher eine gewisse Gleichgltigkeit gegen den Raum und die ußere Herrichtung bezeichnend; der Rabbiner ist hier weit mehr in seine Gemeinde hineingestellt, und als einer aus der Gemeinde spricht er zu ihr. Um so mehr mssen dafr hier die geistigen Elemente des Zusammenschlusses, das Gemeindegebet und besonders auch ein Gemeindegesang, bedeuten. Wenn mit ihm der Gottesdienst einklingt, so ist sofort ein starker, innerer Zusammenhang derer, die zusammengekommen sind, gegeben; die Stimmung ist zusammengefgt, wie wenig auch alles ußere rings umher dafr gewhren mag. Es hat sich in unseren Feldgottesdiensten die Sitte herausgebildet, vor der Predigt, die am Beginn des Gottesdienstes steht, das sogenannte »Altniederlndische Dankgebet« zu singen, ein Lied das einen starken biblischen Ton hat. Seine bliche Textform stammt von einem jdischen Verfasser, E. Weyl, und sie ist in der evangelischen Kirche, in die, besonders fr ihre Feldgottesdienste, das Lied Eingang gefunden hat, mannigfachem Widerspruch begegnet, vor allem durch den bekannten Theologen, Professor Karl Budde, 1 und es sind andere Texte vorgeschlagen und auch eingefhrt worden. Fr unsere Andachstunden hier draußen ist das Lied ein gewohnter Eingang geworden; in seinen Klngen werden die, die zusammenstehen, sogleich auch zusammengefaßt. Unter unseren alten gottesdienstlichen Melodien treten dann hier die Lewandowskischen 2 hervor, und es lßt sich immer wieder beobachten, wie viel es bedeutet, daß sie in allen unseren Berliner Synagogen als fester Kanon allen vertraut gemacht werden. Wo in unseren Feldgottesdiensten Berliner Mannschaften beisammen sind, ist sofort, wenn diese Melodien erklingen, ein sicherer Gemeindegesang gegeben, der bald alle mit erfaßt. Wo Menschen vereinigt sind, bedarf es fr ihr Beisammensein einer gewissen Kultur, oder genauer: erst, wenn eine gewisse Kultur vorhanden ist, gibt es ein wahres Beieinandersein. Im Gottesdienste stehen wir vor Gott, aber doch auch beieinander als die Gemeinde, die vor ihrem Gotte versammelt ist. Daher bedarf der Gemeindegot1. Karl Budde (1850-1935). Professor fr Altes Testament in Bonn, Straßburg und Marburg. Vertreter der Literarkritischen Schule. 2. Louis Lewandowski (1821-1894). Komponist synagogaler Musik und Chorleiter der Neuen Synagoge in Berlin.

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tesdienst auch einer gottesdienstlichen Kultur. Auch hierfr hat diese ernste Zeit wertvolle Erfahrungen gegeben. Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde zu Berlin 6 (Nov. 1916): S. 129.

Bericht Nr. 51. 18. November 1916 Der diesmalige Bericht gibt einen ganzen Monat und auch die folgenden Berichte sollen diesen Zeitraum umfassen. In der Zeit vom 15. Oktober bis zum 15. November habe ich, neben kleineren Andachten bei einzelnen Truppenteilen, Gottesdienste abgehalten in Tschepukany, Busowa, Steinensee, Nowo-Alexandrowsk, Schdern, Sziwischki, Rubinen, Bortkischki, Wilkomiesto und Uzjany. Es sind zum Teil weite Entfernungen, die hierbei zurckzulegen sind; der Weg von dem einen Orte bis zum anderen erfordert bisweilen die Zeit vom frhen Morgen bis zum spten Abend. Aber diese Stunden auf den einsamen winterlichen Straßen, auf denen einem oft lange hin kein Mensch begegnet, und nur hin und wieder ein Haus, das sich am Boden verkriecht, von dem Menschen, der da war, erzhlt, auf denen nichts ans Ohr dringt, als nur immer der einfrmige Tritt der Hufe oder das Rollen der Rder und hier und da der schwirrende Flug oder das heiserne Schreien der Krhen, und nichts in der nun wieder erstarrten, eintnig grauen Landschaft den Blick festhalten will, diese langsamen, einsamen Stunden knnen dafr die Muße geben, alle die Worte und Bilder dieser Tage nochmals zu berdenken. Unter allen Erlebnissen drngen sich je lnger, desto mehr die moralischen Erfahrungen auf. Ein kurzer Krieg knnte im Sturme des Empfindens gefhrt werden, ein langer Krieg, mit seinem Auf und Nieder des Geschehens und Erleidens, fordert die moralischen Krfte; sie bedeuten fr die Standhaftigkeit bis zur letzten Entscheidung so gut wie alles. Deutlicher als irgendeine geschichtliche Zeit hat die Gegenwart es hben und drben offenbart, wie der starke Wille, der Mut zu sich selber, dieser moralische Faktor auf die Dauer nur dort bleiben und wachsen kann, wo ein jeder das Bewußtsein hegen darf, daß er zum Staate gehrt und daß der Staat auch auf ihn rechnet. Daher ist ja auch die lebendige Spannkraft der westlichen Feinde Deutschlands eine tiefere und grßere als die des stlichen Feindes, und selbst in ihm konnte sie so lebendig sein, wie sie immerhin doch ist, allein vermge der Festigung des brgerlichen Staatsgefhls, wie sie sich dort seit den Ereignissen des Jahres 1905 139

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Feldrabbiner im 1. Weltkrieg

vollzogen hat. Zur Durchfhrung des Krieges gehrt darum, zumal heute, wo es auf jeden ankommt, der Sinn fr das Moralische, und zu ihm wiederum gehrt ein gewisses Maß von Psychologie, d. h. der Fhigkeit, das Seelenleben der Menschen zu verstehen, zu begreifen, wie sie empfinden, was sie erhebt und worunter sie leiden. Man mchte fast sagen, ein gewisses seelsorgerisches Gefhl muß heute jeder, der leiten will, haben, sei er nun in einen engeren Kreis hineingestellt oder in den weiten, umfassenden. Hier draußen kann jeder, der sehen will, seine moralischen Beobachtungen und Erfahrungen machen. Man hat hier mehr Menschen kennen gelernt und andere Menschen, und man hat sie nher kennen gelernt, als es sich in den Friedenszeiten meist fgte; wohl wir alle haben vom Wesen anderer vieles entdeckt. Es ist ein wertvolles Lebensbesitztum in Menschen hineingeblickt zu haben; aber wie von aller Erkenntnis gilt auch von dieser das Wort, daß, wer sein Wissen mehrt, oft auch seinen Schmerz mehrt. 1 Denn neben den guten, erquickenden Erfahrungen stehen die bedrckenden, und sie haften meist tiefer im Erleben und lnger im Erinnern, als die guten, und es wachsen dann die Verstimmungen auf, deren Frucht die Verbitterung sein kann. Der oberste Beamte des Reiches 2 hat in einer seiner Reden vor den Volksvertretern gesagt, das deutsche Volk habe in diesem Kriege, inmitten der Verleumdungen und Gehssigkeiten, die es so bitter erfuhr, die Sentimentalitt verlernt. Auch die bitteren Erfahrungen, die innerhalb des Staates gemacht werden, knnen diese Wirkung haben, daß Menschen den Glauben an einander einbßen, und gleichsam auch die Sentimentalitt verlernen. Fr den Staat bedeutet dies eine Schwchung, eine Einbuße an Kraft. Alle seine Brger, ob sie den Rock des Krieges oder des Friedens tragen, mssen den moralischen Charakter in sich selber und in anderen achten, um so das Gefhl fr einander zu hegen. Sonst wrden die inneren Gegenstze und Kmpfe schließlich von der Art manchen Krieges sein, der moralische Zusammenhang ginge verloren. Diese ernsten Jahre haben wechselnde Zeiten gebracht. Es sind zuckende Stunden, die zu bestehen sind, wenn die Gefahr drohend herandringt; aber sie knnen doch wie ein Gewitter sein, in welchem viel Stickiges, viel Kleinlichkeit, viel berhebung und Engherzigkeit wieder einmal hinweggeweht wird. Wenn Wochen und Monate des Stillstandes kommen, hier hinter den Linien des sogenannten Stellungskrieges, dort in den Gebieten und Rumen, in de1. Koh 1,18. 2. Reichskanzler Bettmann-Hollweg.

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nen sich das Gefhl der vlligen Sicherheit einnistet, wenn alles Erregende und Aufrttelnde einer neuen, so bald gewohnten Alltglichkeit gewichen ist, dann kann es geschehen, daß sich die Alltagsgesinnung grau auf alles legt und der seelische Stillstand auch eintritt. Und im Leben des Charakters wird der Stillstand sehr bald zur Enge. Jeder Tag hat seine Menschen, und jede Zone, drinnen und draußen, hat die ihren; die Grenzen ziehen sich hin und her. Wo einer steht, wird immer daran erkannt werden, ob er sich ber die Enge erhebt, ob er den Sinn fr das Moralische hat, diesen Sinn fr das, was andere empfinden, diesen Sinn fr die Verantwortlichkeit, die heute auf jedem ruht, diesen Sinn fr die wahrhaft großen Gedanken. Wenn irgend wann, so gehen heute von den Gedanken die Krfte aus, die Krfte, welche die Zeit braucht. Wer zu sehen versteht, der beobachtet immer wieder, in wie viele Menschen, nicht zum mindesten in den einfachen Leuten, das Verlangen nach den großen Gedanken lebt, diese Sehnsucht nach der Gerechtigkeit, dieses Begehren nach dem Guten und Rechten, das im Vaterlande wirklich werden soll. Es sind nur wenige, denen ein Stck Boden gehrt, in welchem die Heimat ihnen greifbar ist. Den meisten hat das Schicksal dieses versagt, und sie sind nicht die Schlechtesten und nicht die Geringsten. Ihnen muß das Heimatgefhl, da es so wenig im Faßbaren hat, sich um so fester im Moralischen grnden, in dem starken Wunsche nach dem Hohen und Edlen, das im Frieden, dem das Kmpfen gilt, seine Erfllung finden soll. Gerade hier draußen kann man es immer wieder erkennen, wie stark sich der Sinn fr Heimat und Vaterland im Sinne fr die Gerechtigkeit verankert. Sie ist es, die in schwankenden Stunden die Gemter wieder festhlt. Nur die moralischen Krfte knnen die Entscheidung bringen, knnen die Geduld und Ausdauer geben, bis diese kommt, und das Gefhl fr die Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach ihr, ist die strkste, die lebendigste moralische Kraft, die, welche im Grunde alles andere umfaßt. Solche Gedanken weckt die einsame Wegstunde, in der sich die Eindrcke von Tagen sammeln. Vor den Fßen der Pferde fliegen die Krhen auf, und in die Erinnerung treten die schwermtigen Verse des Dichterphilosophen: »Die Krhen schreien und ziehen schwirren Flugs zur Stadt, bald wird es schneien – weh dem, der keine Heimat hat!« 1 Um Heimat und Vaterland geht es in dieser Zeit. Wer das Recht antastet, der untergrbt den besten Schutz der Heimat, den starken Boden des Willens zu ihr. Wer fr die Gerechtigkeit 1. Aus dem Gedicht »Vereinsamt« von Friedrich Nietzsche (1844-1900).

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Feldrabbiner im 1. Weltkrieg

eintritt, der hat damit das Vaterland verteidigt; denn er gibt denen, welche kmpfen und standhalten, neue Gewißheit, neue moralische Kraft, er festigt in ihnen das Bewußtsein, daß sie die Heimat besitzen und fr die Heimat ausharren und feststehen. Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde zu Berlin 6 (Dez. 1916): S. 142.

* Brief an Martin Buber Berlin, 24. September 1918 Hochgeehrter Herr Doktor! Der Gedanke ist an mich fters herangetreten, aus mir heraus wie von anderen, daß wir zu den Fragen, die jetzt im Kampfe der Geister stehen, den Fragen von Krieg und Frieden, von Politik und Moral, sagen mßten, was wir dazu zu sagen haben – wir, das heißt: solche, die fr viele andere sprechen. Wir durchleben jetzt auch Geistesgeschichte, und das Judentum kann vor ihr nicht gut abdanken noch sich verbergen. Darf ich mir die Anfrage an Sie vor allem, hochgeehrter Herr Doktor, erlauben, ob Sie es fr richtig halten, die Aufgabe in einem kleinen Kreise, an dem Sie teilnehmen knnten, zu besprechen. Martin Buber. Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Hg. Grete Schaeder. Bd. I: 18971918. Heidelberg, 1972. S. 538.

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Die Weimarer Jahre

»Die Lehren des Judentums« Von 1921 bis 1929 verffentlichte der Verband der deutschen Juden das fnfbndige Werk Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Es beinhaltete Quellenmaterial der Hebrischen Bibel, rabbinische Literatur, mittelalterliche jdische Philosophie und Schriften moderner jdischer und christlicher Autoren. Jeder Band befaßte sich mit einem anderen Thema der jdischen Lehren: Die Grundlagen der jdischen Ethik, die sittlichen Pflichten des Einzelnen, die sittlichen Pflichten der Gemeinschaft, die Lehre von Gott und Judentum und Umwelt. Die Quellen fr die Bnde wurden von zwei jdischen Historikern gesammelt: die der ersten vier von Simon Bernfeld, die des letzten von Fritz Bamberger. Außer den eigentlichen Quellen beinhaltete jeder Band Einleitungen zu den verschiedenen spezifischen Themen der einzelnen Bnde, die von deutschen Gemeinderabbinern und jdischen Gelehrten geschrieben wurden. Baeck verfaßte mindestens eine Einleitung fr jeden der Bnde. Sie wurden hier mit aufgenommen, da sie Baecks Annherung an jedes dieser Themen aufzeigen. Sie sind nicht lediglich einleitender Natur, sondern selektiv und interpretativ und weisen auf die Elemente hin, die Baeck den jdischen Traditionen entnahm, um seinen eigenen Ansichten Gestalt zu geben. Drei Tendenzen lassen sich in diesen Einleitungen klar feststellen. Erstens neigt Baeck dazu, den Texten einen universellen Charakter zu verleihen. Er betont das Anliegen des Judentums, auf das Wohl aller und nicht nur auf das der Juden hinzuwirken. Die jdische messianische Vorstellung vom Gottesreich umfasse die Menschheit. Zweitens hebt Baeck die Ethik des Judentums hervor. Wie auch in seinen frheren und spteren Schriften stellt er heraus, daß das Judentum keine Dogmen besitze, und daß sein Anliegen nicht das Seelenheil des Einzelnen, sondern die Erlsung der Welt sei. Das Ziel des Indivi143

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duums sei die »Erfllung des Guten auf Erden«. Gott verstand Baeck als »Urquelle alles Lebens und der Urgrund alles Sittlichen«. Drittens zeigt Baeck auf, inwiefern sich das Judentum vom altertmlichen Heidentum und vom Christentum unterscheidet. Besonders in seinen Einleitungen zum letzten Band betont er, daß Paulus von einem Urchristentum ausgegangen sei, das noch Teil des Judentum gewesen sei, und erst, indem er die Lehre des von Urbeginn an gewesenen Weltheilands einfhrte, habe er eine fundamentale Trennung zwischen Christentum und Judentum geschaffen. Im Christentum habe so der persnliche Glaube den zentralen Stellenwert eingenommen, den im Judentum weiterhin die Ethik besaß. * Sittlichkeit als Grundforderung des Judentums Im Judentum ist die sittliche Forderung ein Grundstzliches, ein Tragendes der Religion. Die Ethik ist hier zur Religion nicht hinzugefgt, sondern ein Wesentliches in ihr. Ohne sie gibt es hier keinen Glauben an die Bedeutung des Lebens noch an das, was ber das Leben hinaus geht. Das Neue, das der Glaube Israels der Welt gebracht hat, wurzelt in diesem bestimmten ethischen Charakter, der ihm eigen ist. Der Monotheismus Israels ist der ethische Monotheismus. Die Einheit Gottes ist erkannt worden, weil die gttliche Heiligkeit erkannt worden ist. Der eine Gott, den die Propheten verkndet haben, ist der eine, nicht etwa weil er allein das ist, was die Gtter der Heiden zusammen sind, sondern er ist der eine, weil er anders als sie ist, weil das eine Gute in ihm seine Wirklichkeit und Gewißheit hat. Neben dem einen sittlichen Gott knnen keine andern Gtter sein, weil die Sittlichkeit nichts andres neben sich duldet. Der einig-einzige Gott und der heilige Gott, das bedeutet hier das gleiche. Der eine Gott verkndet dem Menschen, was das eine Gute ist: Gerechtigkeit und Liebe zu ben. Darin liegt der Unterschied zwischen ihm und den vielen Gttern. Der Glaube an den einen Gott ist so aus der Unteilbarkeit der Gewissensforderung hervorgewachsen. Der Satz: »Hre, Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig« 1 und der andre Satz: »Du sollst lieben den Ewigen, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen,

1. Dtn 6,4.

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Sittlichkeit als Grundforderung des Judentums

mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft« 1 gehren unlsbar zusammen. Mit all dem, was in uns ist und was uns gegeben, knnen wir nur dem einen Gotte dienen, und nur der eine Gott kann es gebieten, daß das ganze Herz, die ganze Seele und die ganze Kraft des Menschen sich ihm hingeben. In der sittlichen Einheit seiner Seele wurde dem israelitischen Menschen die Einheit Gottes bewußt. Gott erkennen bedeutet hier nicht, sein Wesen verstehen, sondern sein Walten begreifen, den Weg des Rechten sehen und gehn, den Gott gewiesen hat, den einen Weg, der fr alle die verschiedenen, mannigfaltigen Menschen der gleiche ist. Die Wege Gottes sind die Wege, die der Mensch suchen soll. Auf ihnen kann er sich Gott zuwenden, Gott anhangen. Erst durch die Treue gegen Gottes Gebot, gegen die sittliche Forderung, die von ihm dem Menschen gestellt ist, tritt er vor den einen Gott hin, um ihm zu dienen. Je mehr wir wahre sittliche Menschen sein wollen, desto nher sind wir Gott, desto nher ist er uns. Wir knnen ihn immer finden, wenn unser ganzes Herz sich seinem Gebote zukehrt. Hierdurch gewinnt das Leben des Menschen seinen Sinn. In ihm ist ein Wirkliches: das Gute. Und dieses Gute, dieses Sittliche vermag der Mensch zu schaffen, er vermag es zu verwirklichen. Darin bildet er sein Leben, er wird ein Schpfer des Guten, das Ebenbild des einen Gottes. So viel des Guten gibt es auf Erden, wie Menschen Gutes tun, Gutes ins Dasein rufen. Das Leben ist von Gott dem Menschen gegeben, und er selbst soll es gestalten und bereiten. Dadurch, daß er das Rechte bt, »erwhlt er das Leben«, wird er der Schpfer seines Daseins. In der sittlichen Tat wird damit der Mensch des Knnens, das in ihm ist, bewußt, in ihr kann und soll er sich entscheiden, in ihr erfhrt er um seine Freiheit. Das Gute und das Bse ist vor ihn hingestellt, damit er whle. Auch die Freiheit ist eine sittliche Aufgabe, die Gott in das Menschenleben hineingelegt hat, damit sie erfllt werde. Der Wille zum Guten ist der Wille zur Freiheit und der Wille zum Leben. Das Leben zu whlen und zu gestalten, das ist die Forderung, die das Judentum an den Menschen richtet. Das Leben des Menschen steht so nicht unter der Schicksalsbestimmung, die ber ihn verhngt ist, sondern unter der Entscheidung, die er selbst trifft. Sein Ziel ist ihm gegeben, zu dem seine Freiheit ihn hinfhrt. Er vermag, wenn er von ihm sich abgewendet hatte, umzukehren, um jetzt den Weg zu gehen, auf dem er Gott fin1. Dtn 6,5.

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det. Er kann sich vershnen, sich reinigen. Seine Tat, die sittliche Tat, ist es, die die Vershnung schafft. Nicht das Wunder und nicht ein Sakrament bringt sie, sondern die Freiheit, die in ihn gelegt ist. Und in der Vershnung schafft sich der Mensch dann die neue Freiheit und damit die neue Verantwortung; sie wird zum Wege, zur neuen Aufgabe. Wie dem einzelnen ist dieses Ziel der Menschheit gesetzt. Ihr Ziel ist die Erfllung des Guten auf Erden, die Verwirklichung dessen, worin allein die Menschheit ihr Leben findet, ihr Leben erwhlt. ber ihr steht das unendliche sittliche Gebot, mahnend und fordernd. Die Zukunft wird damit zur Aufgabe. Der Sinn der Geschichte ist, daß das Gute mehr und mehr sein Dasein besitze. Nur in ihm hat sie ihr Bestehendes und Dauerndes; nur das lebt weiter, was durch die sittliche Tat leben will. In dieser Gewißheit liegt der Glaube des Judentums an die Zukunft. Im Judentum sind die Gedanken oft mannigfaltige Wege gegangen. Aber in diesem Einen sind sie immer bereingekommen und zu diesem hat die Entwicklung immer bestimmter hingefhrt, daß Frmmigkeit und Gottesfurcht sich auf die sittliche Tat grnden, daß der Mensch Gott findet, nur wenn er weiß, daß Gott in der Erfllung des Guten ihm den Inhalt seines Lebens gegeben hat. Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Hg. Verband der Deutschen Juden. Band 1: Die Grundlagen der Jdischen Ethik. Berlin, 1920. S. 11-13.

* Wille zum Leben Dem Judentum ist der Wirklichkeitssinn eigen. Er hat nichts von jenem Realismus, der nur das kennt und anerkennt, was sich ergreifen und fassen lßt. Alle die Wirklichkeit, die sich in Macht und Menge und Herrschaft kundtun will, wird von ihm im Gegenteil als das Vergngliche und Nichtige erklrt. Er ist der Sinn fr die Wirklichkeit, die sich im Guten erschließt, der Sinn fr die Deutung des Lebens, die sich in der sittlichen Tat erffnet, der Sinn dafr, daß der Mensch diese wahre Wirklichkeit zu schaffen vermag. Aus dem Willen zum Guten, aus dem Drange, zu gestalten und zu wirken, geht dieser Wirklichkeitssinn hervor. Der Wille zum Leben wird hier von der Religion nicht nur gewrdigt, sondern gefordert. Gott hat dem Menschen das Leben gegeben, »das Leben und das Gute«. Das Leben ist so dem Menschen der Besitz, den er hten, die Aufgabe, die 146

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Wille zum Leben

er lsen soll. »Du sollst leben«, auf diesem Gebot bauen sich alle andern auf; »damit du lebest«, auf diese Verheißung grnden sich alle andern. Damit ist ein bestimmtes, bejahendes Verhltnis zur Welt, in der der Mensch lebt, bereitet. Sie ist nicht Schein und nicht Trug, sie ist nicht die Sttte des Elends und der Pein, sondern sie ist das Gebiet der Lebensaufgabe, das Feld der Pflicht. Das Leben des Menschen gehrt in die Welt hinein, so sehr, daß sie, wie die wundersame Gleichnisrede der Bibel es in immer neuen Bildern zeigen will, teilnimmt an seiner Freude und an seinem Leid, an seiner Frmmigkeit und an seiner Schuld, daß sie mit ihm jubelt und mit ihm klagt. Von dem Acker, den der Mensch bebaut, bis hin zu dem Gottesreich, an dem er arbeiten soll, damit es auf Erden aufgerichtet werde, in allem ist die Welt ihm gegeben, daß er sie gestalte, daß er den Willen zum Guten, den Willen zum Leben in ihr bewhre. In seinem Wirken und Schaffen soll er den Segen erleben, der ihm in der Welt gewhrt wird. »Du sollst dich freuen all des Guten, das der Ewige, dein Gott, dir gibt.« 1 Auch das Judentum kennt freilich die Abkehr von so manchem, was das Leben enthlt, es kennt auch seine Askese. Jede Religion weiß von dem, was im Dasein nur krperlich, was in ihm gewhnlich und niedrig ist. Das Judentum zumal weiß, daß den wahren Willen zum Leben nur der hat, der auch den Willen hat zum Ertragen und Entsagen. Besonders der Gedanke des Gesetzes, des Weges, den Gott gezeigt, des Gebotes, in dessen Erfllung der Mensch erst seine Freiheit findet, hat hier die Selbstzucht gelehrt, es gefordert, daß der sittliche Wille, der die Grenzen setzt und die Richtung weist, strker sei als das bloße Begehren. Das große »Du sollst nicht« ist im Judentum wie in keiner andern Religion erklungen. Daraus ist der Wunsch auch hier hervorgegangen, um Gottes willen die Kraft des Verzichts zu beweisen, um der Idee willen auch so manches sich zu versagen, was erlaubt sein kann, und dadurch zu bewhren, daß der Geist dem Krper zu gebieten vermag. Das Judentum hat seine Nasirer 2 gehabt, es hat seinen Kreis der Essener 3 besessen und derer, die ihnen nachfolgten, bis hin zu dem Kreise des

1. Dtn 26, 11. 2. Sich durch Enthaltsamkeitsgelbte Gott Weihende. 3. Neben den Pharisern und den Sadduzern eine der drei Parteien im Judentum der Zeit des Zweiten Tempels, dessen Mitglieder zurckgezogen von der Welt lebten.

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Mystikers Isaak Lurja; 1 es hat seine Fasttage gehalten und die Gelbde gekannt; es hat dem Verbotenen die Grenzen gedehnt. Dort, wo den Krper die Notdurft des Alltags umgibt, hat es die Speisesatzungen aufgestellt. Wie immer sie zu Anfang gemeint waren, in ihnen ist das Judentum seinen Weg der Askese gegangen, nicht den zur Entsagung und Kasteiung als Selbstzweck, zur Abttung des Fleisches, sondern zur freien Erhebung ber das nur Irdische. In ihnen hat es einen bewußten Willen zur Selbstzucht erzogen. In ihnen und in allem dem andern Verbietenden hat der Jude die Mßigung gelernt, es gelernt, sich ber das Begehren zu erheben und strker zu sein als die Materie. Auch darin fand der Wille zum Leben seinen Ausdruck. Es war Wille zu dem Leben, das der Mensch nicht nur empfngt, sondern das er gestaltet. Dies war hier das Entscheidende. In dem Gebote Gottes zeigte das Judentum dem Leben seine Bedeutung, und so konnte es hier gefordert werden: »Du sollst das Leben whlen, damit du lebest, du und deine Nachkommen.« 2 Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Hg. Verband der Deutschen Juden. Band 1: Die Grundlagen der Jdischen Ethik. Berlin, 1920. S. 116-117.

* Wahrhaftigkeit Das Gebot des Unbedingten ist im Judentum geschaffen worden. Das Gute ist die Aufgabe des Menschen, zu welcher er durch seinen Gott, der ihn geschaffen hat und der ihm gebietet, verpflichtet ist; bei allem »du sollst«, das an ihn ergeht, spricht das Wort: »Ich bin der Ewige, dein Gott«. Das Leben des Menschen hat so sein EntwederOder, sein absolutes Gebot; er soll den Weg gehen, der der Weg Gottes ist. Die Entschließung des Menschen, seine Wahl wird verlangt; durch die Bibel wie durch das religise Schrifttum, das ihr folgt, zieht sich die Forderung hindurch: Beginne, entscheide dich! In diesem einen besonders erweist sich das Judentum als das Unantike in der Antike, in diesem unbedingten Ernstnehmen, das ihm eigen ist, in dieser Abweisung alles Opportunismus, in dieser Ablehnung aller religisen Gleichgltigkeit und aller sittlichen Neutralitt, in diesem 1. Isaak Lurja (1534-1572). In Safed lebender Mystiker, der eines der Systeme der Kabbala schuf. 2. Dtn 30,19.

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Wahrhaftigkeit

Bewußtsein, daß Gott gebietet, in diesem Kategorischen, wie es aus dem Worte spricht: Mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und deiner ganzen Kraft! Hierin ist die Wurzel der Wahrhaftigkeit, wie sie das Judentum fordert. Aus dem Glauben an den einen Gott ist dieses Unbedingte, dieses Kategorische des Gebotes und der Verantwortung erwachsen. Es gibt auch einen Monotheismus und einen Polytheismus der Moral. Dem einen Gott entspricht das eine Gebot, das eine Sittliche: »Ganz sollst du sein mit dem Ewigen, deinem Gott.« 1 Wie keine andern Gtter neben ihm sind, so kann neben seinem Gebot kein andres gelten, kann es keine doppelte Moral, keine doppelte Wahrheit geben. An dem Glauben an den einen Gott haben die Menschen gelernt, was Aufrichtigkeit der Seele ist – und Aufrichtigkeit bedeutet Ganzheit, Ganzheit des Willens, des Fhlens und des Denkens. An ihm haben sie gelernt, was religise Wahrhaftigkeit, was berzeugung ist, religise, sittliche berzeugung und nicht geistige bloß, – persnliche berzeugung von dem Wahren, die den ganzen Menschen erfaßt, so daß er in ihr lebt und um ihretwillen zu sterben bereit ist. Die Einheit Gottes fordert die unbedingte Wahrhaftigkeit, die Entscheidung zwischen Gut und Bse, zwischen Lauterkeit und Verkehrtheit. »Lehre mich, Ewiger, deinen Weg, ich will wandeln in deiner Wahrheit, laß mein Herz eins sein, daß ich deinen Namen frchte!« 2 Wahrheit ist so die Aufgabe, die dem Menschen gestellt ist, die Aufgabe der Wahrhaftigkeit. Gott ist der Gott der Wahrheit, und der Mensch soll der Mensch der Wahrhaftigkeit sein; er soll in Lauterkeit des Herzens den geraden Weg gehn. Wahrheit ist ein Gebot, aber kein Geschenk, eine sittliche Verpflichtung, aber kein Glaubensstck, Sache des Gewissens, aber nicht Angelegenheit des Bekenntnisses. Sie besitzt im Judentum den sittlichen Sinn und nicht den dogmatischen Charakter, der ihr anderwrts gegeben worden ist. Sie ist in ihrem Wesentlichen etwas, was der Mensch ben, was er bewhren und erfllen soll. So steht es als das Ideal des Menschen nebeneinander: »Er wandelt in Geradheit und bt Recht und redet Wahrheit in seinem Herzen.« 3 So rhmt es auch der Prophet: »In meinen Satzungen wandelt er und meine Rechte bewahrt er, Wahrheit zu ben« (Ez. 18, 9). Die Tat steht, wie immer im Judentum, voran. Und es erweist sich so im Leben der Seele. Die gerade Tat erzeugt den geraden Gedanken, der rechte Weg fhrt zur Einsicht in das 1. Dtn 18,13. 2. Ps 86,11. 3. Ps 15,2.

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Rechte, das Werk der Wahrheit bringt zur Wahrhaftigkeit, ganz wie der krumme Wandel das krumme Denken im Gefolge hat. Unser Handeln bestimmt unser Urteil, wir glauben an das, was wir tun. Da so in der Wahrheit dem Menschen eine sittliche Aufgabe gestellt ist, so ist sie etwas, was er dem Mitmenschen erweisen, worin er mit ihm leben soll; denn alle sittliche Leistung wird zur Leistung am Nchsten. Schon das Wort der Bibel, das sie benennt, das Wort Emet, sagt dies; denn es bezeichnet nicht nur die Wahrheit, sondern die Treue auch; es wird gleichbedeutend mit Gerechtigkeit und Redlichkeit. Und die Wahrheit wird so zu dem, was dem Mitmenschen geschuldet ist. Wie es bei aller Tat, die am Mitmenschen gebt werden soll, bei aller Zedaka, 1 im Judentum der Grundsatz ist, daß er auf sie den Anspruch hat, so daß wir ihm etwas »vorenthalten«, wenn wir sie ihm nicht gewhren, so auch bei der Wahrheit. Sie steht dem Mitmenschen zu, bis in ihre geheimsten Grnde, bis zu den verborgensten Gedanken hin, und es ist darum – der Talmud hat dieses Wort gewagt – ein Diebstahl, den wir gegen ihn begehen, wenn wir die Wahrheit ihm gegenber verletzen; wir »stehlen Gedanken«, wenn wir gegen ihn unwahrhaftig sind. Diese Strenge der Auffassung ergibt sich im Judentum auch schon daraus, daß die Wahrheit das Gebot Gottes ist, Gottes, der das Geheimste schaut, der »Herz und Nieren prft«. 2 Das Wort des Talmud, daß »Gott das Herz verlangt«, 3 gilt auch ihr. Schon der Psalmist hatte es so bekannt: »Siehe, Wahrheit im Innern begehrst du.« 4 In der Wahrheit ist die Gesinnung gefordert, sie bedeutet die Lauterkeit und Echtheit, die Geradheit und Ehrlichkeit der Seele. Sie ist die unbedingte bereinstimmung des Wortes mit dem Gedanken und der Empfindung, die Wahrheit, die einer »im Herzen redet.« So hat es sich im Judentum durchgesetzt. Wohl wird aus den Kindheitstagen Israels von List und Tuschung berichtet, von aller der, an welcher eine Kindheitsphantasie ein Ergtzen hat. In den Erzhlungen menschlicher Vergangenheit steht z. B. die Geschichte von Jakob, dem Listigen, neben dem, was das hellenische Volk von seinem Odysseus, dem Listenreichen, gesungen hat. Aber gerade hier zeigt sich das Charakteristische der israelitischen Auffassung. Denn das Eigentmliche an Jakobs Leben ist nicht die List, die zu tuschen vermochte, sie gehrt in die Geschichte seiner Irrungen und Wand1. 2. 3. 4.

Hebr.: »Wohlttigkeit«, buchstblich »Gerechtigkeit«. Ps 7,10. BT Sanhedrin 106b. Ps 51,8.

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lungen. Was ihm in der biblischen Erzhlung seine Bedeutung gibt, ist der sittliche Kampf, in dem er mit sich gerungen und sich berwunden hat, ist der Weg, den er dadurch gefunden hat, so daß er nicht mehr Jakob heißen soll, sondern Israel. Die Wahrhaftigkeit behlt Recht, sie ist die Antwort. Ihren idealen Ausdruck hat sie dann schließlich in der Forderung des Martyriums gefunden. Es ist nicht genug, daß alles, was wir sprechen, wahr sei, wir sollen die Wahrheit auch bezeugen, wir sollen bereit sein, sie dadurch zu beweisen, daß wir unser Leben hingeben, daß wir unser Dasein opfern, um sie zu behaupten, sie zu verwirklichen. Unsre Wahrhaftigkeit wird so zur Tat, unsere Gesinnung zur sittlichen Leistung, die alles einsetzt. Hier tritt wieder jenes Kategorische, Unbedingte hervor, jenes Gebot der Entscheidung, das dem Judentum sein Eignes ist. Im Martyrium vollendet sich die Wahrhaftigkeit, die Ganzheit, die der Mensch in ihr bewhrt. Das Martyrium ist darum die letzte Erfllung des Wortes: Gott zu lieben mit ganzer Seele. Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Hg. Verband der Deutschen Juden. Band 2: Die sittlichen Pflichten des Einzelnen. Berlin, 1921. S. 7-9.

* Der soziale Charakter des Judentums Das Judentum besitzt von der Zeit seiner Propheten her den Gedanken der Verpflichtung gegen den Mitmenschen und der Verantwortung fr ihn; vom Judentum ist dieser sittlich-soziale Gedanke der Welt gegeben worden. Er hat hier den dynamischen Charakter, d. h. er wirkt als eine Forderung, die an den Menschen gerichtet ist, und in der, von Geschlecht zu Geschlecht mehr, die Gesinnung gestaltet wird. Einen hnlichen Gedanken hatte auch die griechische Philosophie, aber ihm war der statische Charakter eigen, d. h. er grndete sich auf die Idee vom vollkommenen Gesetz, das den vollkommenen Staat schafft, welcher die Menschen erzieht und verbindet. Der Anfang des Sozialen ist im Judentum die Anerkennung des Menschen durch den Menschen. Das Menschenrecht ist hier vor allem das Recht des Mitmenschen, das Leben, auf das er neben uns Anspruch hat. »Dein Bruder soll mit dir leben.« 1 Schon dieses Wort »dein Bruder« enthlt hier alles; es ist der Keim, aus dem alles Wei1. Lev 25,36.

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tere erwchst. Der Mensch und der Mitmensch gehren hier zueinander. Der andere ist derselbe wie ich, er ist in allem Wesentlichen und Eigentlichen mir gleich, er ist Wesen von meinem Wesen, die Wrde, die mich zum Menschen macht, ist auch seine Menschenwrde. »Du sollst deinen Nchsten lieben wie dich selbst.« 1 Seine Kraft gewann dieser soziale Gedanke hier dadurch, daß er nicht bloß ein ethischer, sondern ein religiser ist. Der andere, der neben mir in der Nhe oder der Ferne lebt, ist mein Nebenmensch, weil Gott ihn geschaffen, wie er mich geschaffen hat, zu ihm spricht und ihn hrt, wie er zu mir spricht und mich hrt. Ursprung und Ziel des Lebens, die mein Leben umschließen und bestimmen, sind Anfang und Zweck auch seines Lebens. Gott, der mich zum Menschen gemacht hat, hat jeden neben mir ebenso zum Menschen gemacht, jeden daher als meinen Mitmenschen neben mich gestellt. Durch Gott ist er mein Nchster geworden. Jede Tatsache – das ist das Eigentmliche des Judentums – ist zugleich Aufgabe. So wird es, wie es ein von Gott Gegebenes ist, daß alle Menschen neben mir meine Mitmenschen sind, zum Gebote fr mich, daß ich sie zu Mitmenschen mache. Ich soll ihr Leben mit dem meinen verbinden, alles an ihnen tun, wodurch ihr Menschentum mit dem meinen geeint wird. Und da im Menschentum der Inhalt des Lebens gegeben ist, so ist auch in dem Gebote des Mitmenschentums der Inbegriff der Pflicht, der gesamte Umkreis des Gebotes gegeben. Am Mitmenschen gewinnt unsre Aufgabe die Flle ihrer Wege und Ziele, der Dienst Gottes den Reichtum seines Sollens und Knnens. Religiositt ist hier ein Soziales. Es gibt keine Frmmigkeit ohne die Arbeit fr den Mitmenschen. In allen Pflichten gibt es ein Nebeneinander und ein Nacheinander, eine drngende und eine wartende Stunde. Aber grundstzlich, durch das Gebot Gottes, sind wir jedem zur Erfllung des Mitmenschentums verpflichtet. Nicht darf durch Wohlwollen und Neigung ein Kreis ausgesondert werden, sondern jeder Mensch, auch der Fremde und Andersgeartete, auch der, der uns ein Feind war oder ein Feind noch ist, hat auf uns Anspruch. Jeder ist unser Bruder und unser Nchster und hat darum das Anrecht auf uns, das Anrecht seines Menschentums auf unser Mitmenschentum. Was wir ihm tun, ist darum nicht ein briges, ein Außerordentliches, sondern ist Zedaka, Gerechtigkeit, das schlichte selbstverstndliche Gebot. Mit seiner Erfllung haben wir nur getan, was die Pflicht verlangt.

1. Lev 19,18.

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Das Soziale stellt die positive Gerechtigkeit dar neben der bloß negativen, gesetzlichen. Durch sie wird die sittliche Gemeinschaft geschaffen, der Staat in seinem positiven, sozialen Sinne, die Gesellschaft sittlich Zusammengehriger, der Staat der Zedaka. Menschliche Aufgaben und menschliche Werke schließen nun die zusammen, die der gemeinsame natrliche oder geschichtliche Boden trgt. Nicht bloße Interessen mit ihren Ntzlichkeiten, sondern Gebote mit ihrer Sittlichkeit verbinden und einen jetzt und stellen die Gesamtheit, den Zusammenhang her. Wer allein stehen, nur fr sich wirken und arbeiten will, hat gegen diese Gemeinschaft, gegen diesen Staat schon ein Unrecht getan, auch wenn er im negativ brgerlichen Sinne untadlig dasteht. Erst die soziale Pflichterfllung macht hier zum Brger, der Staat ist ein Staat der Mitmenschen. Was wir dem Mitmenschen so erweisen, sollen wir auch seiner Seele tun; wir sollen »seine Seele kennen«, auch »die Seele des Fremden«. Alle Schuldigkeit soll ihre Wrme, ihren Herzensatem haben. Die Gerechtigkeit soll ihr Innerliches, ihr Gemt durch die Nchstenliebe erhalten; und wo jene vielleicht erspart bleibt, die Stunde ihrer Pflicht nicht erfhrt, dort behlt diese doch immer den Raum ihrer Mglichkeit. Die Nchstenliebe gehrt in das Soziale hinein, sowie das Sehnen und Fhlen in das Wesen, in das Menschentum des Mitmenschen hineingehrt. Wir sollen auch innerlich an ihm Anteil nehmen, das Verlangen seines Gemtes, das Wohl und Wehe seines Herzens begreifen. Nicht die Hand nur, sondern die Seele auch soll im Sozialen lebendig sein. Die Gemeinschaft soll eine Gemeinschaft innerlich Verbundener, eine Gemeinschaft des Friedens sein. Seinen letzten und hchsten Ausdruck hat der soziale Gedanke dann in dem jdischen, messianischen Gedanken vom Gottesreich gefunden. Alle Menschen sollen in diesem Sozialen sich zusammenfinden, die Menschheit der Zedaka schaffen. Es gibt Grenzen, die die Macht setzt, Schranken, die der Nutzen aufrichtet; fr das Gebot, fr die soziale Pflicht gibt es keine staatlichen Grenzen, keine vorteilhaften Schranken. Die Entscheidung zum Mitmenschen sieht berall die Nhe, sieht immer den Nchsten, den Menschenbruder. Alles Menschliche ist hier im Horizont. Die Lnder und die Tage werden im Gebote geeint. Im sozialen Gedanken werden die Menschen zur Menschheit. Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Hg. Verband der Deutschen Juden. Band 3: Die sittlichen Pflichten der Gemeinschaft. Berlin, 1923. S. 7-9.

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Der ewige Friede Wir knnen die Idee der Geschichte nicht denken, ohne zugleich die Frage nach der Aufgabe und dem Ziel aller Geschicke, die Frage nach dem geschichtlichen Ideal zu stellen. Wenn die eigentlichsten Gesetze der Geschichte die Gebote sind, die in ihr verwirklicht werden sollen, so muß vor dem Blick, vor der Hoffnung und der Erwartung eine Wirklichkeit stehen, der alle Zeiten zustreben, in der diese Gebote ihre Erfllung finden sollen. Wenn Gott den Menschen einen Weg gehen heißt, so fordert dieser Weg sein Ziel; wenn das Wort Gottes zum Menschen spricht, so verlangt es seinen Tag, der ihm bestimmt ist. Alles Gottesgebot hat seine Verheißung, seine Brgschaft. Man kann von dem Guten nicht wissen, ohne die Gewißheit zu hegen, daß ihm die Zukunft gehrt. In der großen Zukunftshoffnung eines Menschen spricht sich das aus, was ihm der Sinn der Geschichte ist. Die Propheten haben das sittliche Problem der Weltgeschichte erfaßt. Der Gedanke des Bleibenden, dessen, was allein bestehen kann, hatte sich ihnen erschlossen. Sie sahen ein Vergngliches und ein Dauerndes im Leben der Vlker. Vergnglich ist alles, was der bloßen Macht dient; alle Gewalt ist dazu da, um frher oder spter zusammenzubrechen. Mag sie immer wieder errichtet werden, sie strzt doch immer wieder zu Boden. Ihr stetes Ergebnis ist, daß sie sich selbst vernichtet. Der Glaube an sie ist der Glaube an das Nichtige und ist so Gtzendienst. Bleibend ist allein, was von Gott Zeugnis ablegt, das Gute also, das, was dem Rechte dient, das, was das Gebot Gottes verwirklicht. Die Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit fr immer; sie kann unterdrckt, aber nie besiegt und nie vernichtet werden. Sie allein besteht von Geschlecht zu Geschlecht, sie allein gibt die Dauer, die Existenz fr die Zeiten. Nur das, worin sie lebt, ist wahrhaft Geschichte. Es gibt nur eine Zukunft, die des Guten, die der Gerechtigkeit. Das Bleibende ist aber auch immer das Verbindende. Die Macht und ihre Gewalt trennen, sie bedeuten die Bedrckung, den Kampf und den Krieg. Ihre Moral ist die doppelte Moral, diese Abgtterei, die das beanspruchende Urteil nur dem Sieger und die leistende Pflicht nur dem Besiegten, die Forderung nur dem Starken und den Dienst nur dem Schwachen zuschreibt. Das Gottesgebot und die Gerechtigkeit dagegen verbinden und einen; sie fhren die Menschen und die Vlker zusammen in dem einen Gebot, in dem einen Guten, dem einen Recht, dieser Anerkennung des einen Gottes. Sie schaffen die eine Menschheit. Das Trennende ist das Vergngliche und Ver154

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Der ewige Friede

gebliche, das Einigende ist das Bleibende und Wahrhaftige. So kann die Zukunft nur die sein, in der es eine in Gottes Gebot geeinte Menschheit gibt, oder, wie das Gleichnis des Propheten Zephania es sagt, »der Ewige den Vlkern eine lautere Sprache schafft, daß sie alle den Namen des Ewigen anrufen, ihm Schulter an Schulter zu dienen« (3, 9). Die Zukunft ist die Zeit der Vershnung. Nicht nur in dem Sinn ist sie es, daß die Vlker sich finden. Sie ist es auch in einem weiteren Sinn. Jedes Volk kann sich dem Wege der Zukunft zuwenden. Die Wahl ist ihm gegeben und ihm aufgelegt, es kann und es soll sich in ihr entschließen; keinem ist sie erlassen und keinem wird sie abgenommen. Wenn ein Volk sich fr das Vergngliche entscheidet, so geht es abwrts dem Niedergange entgegen. Aber jedes Volk kann, wenn es auch in die Irre gegangen, doch wieder umkehren, es hat eine lange Zeit vor dem Ende, es kann die Vershnung finden und damit sich wiederfinden und wiedergeboren werden. Diese Vershnung mit Gott fhrt zum Leben, zur Dauer hin; erst durch sie gewinnt ein Volk wahrhaft seine Geschichte und seine Zukunft, und auch in diesem Sinn ist darum die Zukunft der Menschheit die Zeit der Vershnung. Fr diese Vershnung, fr diese Bedeutung und Zukunft der Geschichte hat die Bibel das Wort Frieden geschaffen. Sie meint mit ihm nichts Sentimentales, nichts, was sich in der bloßen Schwrmerei entldt. Der Friede, von dem die Propheten sprechen, schließt eine sittliche Aufgabe, ein Gebot in sich, er bezeichnet einen Weg, den die Menschen gehen, den sie bahnen sollen. Der Mensch, der von Gott weiß und sein Gebot erfllt, hat den Frieden. Alles Streben nach Macht lßt ruhelos und unstt werden, im Dienst der Gerechtigkeit findet der Mensch seine Sicherheit und seine Ruhe. Wo der Frieden ist, dort ist das Reich Gottes, er ist die Welt, in der das Gute seine Erfllung hat, in der der Mensch seine Einheit mit Gott besitzt. Das gibt das Bild der kommenden Zeit. Sie ist die Zeit, in der alle Gewalt und aller Frevel, alles Rohe und Wilde, alle Zwietracht und aller Krieg geschwunden sein werden, in der alles Werkzeug ein Werkzeug des Guten, alles Streben und Trachten ein Streben nach dem Rechten sein wird, in der alle menschliche Gemeinschaft sich auf Wahrheit und Gerechtigkeit, auf Frieden und Freiheit grnden wird. So hat der Psalmist es geschildert: »Liebe und Wahrheit begegnen sich, Gerechtigkeit und Frieden kssen sich. Wahrheit sproßt aus der Erde hervor, und Gerechtigkeit schaut aus der Hhe hernieder« (85,11-12). Diese Zuversicht hat die Bibel der Menschheit gegeben, und von ihr lebt seitdem alle menschliche Hoffnung. Das war fr die Propheten auch das Bild der Zukunft Israels. Das 155

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Schicksal Israels ist fr sie das Schicksal der Religion, und der Weg und das Geschick der Religion und damit der Menschheit sind der Weg und das Geschick Israels. So tritt die Geschichte Israels hier in den Mittelpunkt der Geschichte der Menschheit; inmitten der Hoffnung der Menschheit steht die Hoffnung und der Trost Israels. Das Heil der Menschheit ist fr die Propheten das Gut, welches von Zion ausgegangen ist. »Von Zion geht die Lehre aus und das Wort des Ewigen von Jerusalem« (Jes. 2, 3 u. Micha 4, 2). Alle Menschen werden sich in dem einen Gott zusammenfinden, dessen Wort zuerst in Israel verkndet worden ist: »Mein Haus wird ein Haus des Gebetes genannt werden fr alle Vlker« (Jes. 56, 7). Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Hg. Verband der Deutschen Juden. Band 3: Die sittlichen Pflichten der Gemeinschaft. Berlin, 1923. S. 212-214.

* Inbegriff von Sittlichkeit, Liebe, Gerechtigkeit und Heiligkeit Es ist einer der bestimmenden Gedanken der Religion Israels, daß Gott heilig ist, und heilig sein bedeutet in dem Gehalte, den dieser Begriff in seiner Entwicklung hier gewonnen hat: unterschieden sein, anders sein. So haben die Lehrer des Talmud auch dieses Wort aufgefaßt. Gott ist heilig, das will sagen, daß Gott ber alles erhaben ist, daß er anders ist, anders als alles Natrliche und Irdische, anders als alles Menschliche und Profane. Er ist anders, und darum ist er der Einzige, kein Mythisches, kein Bild, keine Gestalt kann ihn bestimmen; nichts gleicht ihm. »Wem wollt ihr mich vergleichen, daß ich ihm hnlich sei!« 1 Gott ist der »Heilige Israels«. Das, was anders, was von der Welt und ihren Geschicken unterschieden ist, wird vom Menschen im Guten erlebt. Das sittliche Gefhl ist das Gefhl, ber etwas emporgehoben und erhaben zu sein, etwas zu eigen zu haben, was anders ist, anders als alles bloß Natrliche. Wie sehr der Mensch der Welt auch angehrt, so erfhrt er, daß in ihm etwas ist, was nicht die Welt ist, etwas, wovor er Ehrfurcht hegen darf. Wenn das Gebot des unendlich und ewig Gebietenden in ihm lebendig wird, empfindet er es so. Aber es ist doch nicht das Sittliche allein, was er darin erlebt. Er erfhrt zugleich, daß sein Leben aus dem ewigen Leben kommt, daß sein Leben ihm gegeben worden, daß es vom Geheimnis umfangen wird, daß sein 1. Jes 46,5.

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Leben seinen Grund nicht in sich hat, sondern in Gott. Erst in diesem demtigen Empfinden wird das sittliche Gefhl zur Religion, ist die Ethik auch Gottesglauben. Diese Einheit von Demut und Ehrfurcht ist das Gefhl vom Heiligen. Gott ist heilig, bedeutet demnach, daß er der Urquell alles Lebens und der Urgrund alles Sittlichen ist, daß er der Gebende und der Gebietende, der Liebevolle und der Gerechte ist. Gottes Liebe besagt: Gott gibt alles; alles was ist, ist seine Schpfung, offenbart seine Gnade. Gttliche Liebe ist daher nicht ein mythologisches Wort von dem bevorzugten Schicksal einzelner Menschen, sondern der Ausdruck dafr, daß unser aller Leben mit Gott verbunden ist und zu ihm gehrt, daß er uns allen immer gegenwrtig ist, daß unser Dasein in ihm seinen Sinn und Wert hat. Alles Wort der Liebe, alles, worin diese Verbundenheit sich aussprechen kann mit ihren innigsten Worten, wird darum zur Bezeichnung dessen, was Gott fr die Menschen ist. Aber was Gott fr uns ist, besagt zugleich auch, was er von uns verlangt. Alle gttliche Liebe ist zugleich gttliche Gerechtigkeit. Wie Gott gibt, so fordert er. Er hat vor den Menschen das Gute und das Bse hingelegt, damit der Mensch whle und sich entscheide; er hat ihn geschaffen, damit er selber sein Leben schaffe und aufbaue, damit er Ewigkeit mit der Stunde gewinne. Gott hat ihm alles Gute gegeben, damit er selber Gutes be und Gutes verwirkliche, damit er Gott diene. Gott ist der Liebevolle und der Gerechte, beides ist in ihm eines; darum ist er, der Heilige, der Einzige und Eine. Daß Gott voll Liebe ist, haben auch andere Religionen ausgesprochen; daß das Gute vom Menschen gefordert wird, ist auch in mancher Philosophie verkndet worden. Was dem Judentum sein Besonderes gewhrt, ist diese vllige Einheit des Gebenden und Gebietenden, diese Heiligkeit Gottes. Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Hg. Verband der Deutschen Juden. Band 4: Die Lehre von Gott. Berlin, 1924. S. 7-8.

* Die Auseinandersetzung mit dem entstehenden Christentum Die lteste christliche Gemeinde, d. h. die Gemeinde derer, die durch den Glauben verbunden waren, daß in Jesus der Messias erschienen sei, stand in ihren Personen wie als Gemeinschaft durchaus im Bezirke des Judentums. Sie gehrt in den jdischen Gesamtbereich ganz so hinein, wie andere Gruppen, welche dieser damals um157

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schloß, wie etwa die Essener 1 auf der einen und die Sadduzer 2 auf der anderen Seite. Die Gedanken und die Hoffnungen, die sie hegt, sind durchaus jdische; sie will nur das jdische Leben haben, und sie hat auch nur den jdischen Horizont. Was sie kennzeichnet, ist, daß sie, zumal in ihren ersten Jahren, von einer starken eschatologischen Stimmung bewegt ist, von dieser Erwartung der nahenden Endzeit und ihres Gerichtes, daß sie darin einen Gehalt ihres Glaubens und eine Kraft ihres Lebens besitzt. Sie ist von dem schwrmerischen, stets bereiten Enthusiasmus erfllt, und ihre ethischen Forderungen sind demgemß auch auf das baldige Kommen des Letzten eingestellt, sie will die Gemeinde der Gerechten des Weltendes sein. Aber alles das ist damals, ganz so wie nicht selten frher und spter, innerhalb des Judentums ein eigentmliches Element gewesen. Wenn weiterhin diese Gemeinde in Jesus glubig den Messias, den Christos des jdischen Volkes und in dem, der ihm vorangegangen war, in Johannes, dem Tufer, den neuen Elia erblickte und Stze der Bibel auf das alles hindeutete, wenn sie dann, nachdem Jesus den Tod am Kreuze erlitten hatte, an seine Wiederauferstehung und seine Wiederkehr zum Tage des Gerichtes glaubte und dieser seiner Wiederkunft harrte, so war auch ein solches Hoffen in seinem Grunde und seinem Ziele durchaus ein jdisches Hoffen jener und auch manch anderer Zeit. Eine Besonderheit im Judentum, aber keine Trennung von ihm war darin gegeben. Von den bungen und Formen in der alten Gemeinde gilt ein Gleiches. Die Taufsitte, wofern sie in dieser frhen Zeit des Christentums schon ihre allgemeine Bedeutung hatte, ist etwas, was sich dem Kreis der Bruche des Judentums einordnet. Die Sitte, in der sich das »Herrenmahl«, das Abendmahl, gestaltet hat, ist, ehe sie unter dem Einfluß hellenistischer Mysterien ihren sakramentalen Charakter erhielt, etwas, was im Jdischen seinen Platz hat und nur aus ihm heraus verstanden werden kann. Sie war zunchst nichts anderes als ein messianisches Gedenken in der Pessachhaggada; denn da diese die messianische Zuversicht auch aussprach, so war es ein Gegebenes, daß die Anhnger Jesu, die auf sein Wiederkehren hofften, ihn hier nannten, »des Todes des Herrn gedachten, bis daß er wiederkommt« (1 Korinther 11,26). 1. Eine der drei Parteien im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels, dessen Mitglieder zurckgezogen von der Welt lebten. 2. Religionspartei der Priester aus der Zeit des Zweiten Tempels, die den Glauben an die Auferstehung von den Toten ablehnte.

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Auch in ihrer ganzen Einstellung zu dem sogenannten »Gesetze« steht die Gemeinde auf dem jdischen Boden. Sie hlt an der Beschneidung, an den Speise- und Reinheitsvorschriften und ebenso an der Synagoge und berhaupt an dem Kultus des damaligen Judentums fest. Ja sie kehrt sich gegen die, welche sich von dem allen abwenden wollen. Ihre heilige Schrift und ihre religise Sprache berhaupt ist nur die des Judentums, wenn auch vielleicht »Sprche Jesu«, hnlich wie ja im Judentum Sprche mancher Lehrer, berliefert wurden und vielleicht auch niedergeschrieben worden sind. Ihre Predigt will eine Botschaft an die Juden sein, und die darin gegebene Mission erstreckt sich daher zunchst nur auf den Bezirk der jdischen Gemeinden, und sie ist darin partikularistischer als manche andere Richtung im damaligen Judentum. Alles in allem: es fand keinerlei Absonderung vom Judentum und den Juden statt, geschweige denn ein Ausscheiden aus der jdischen Gesamtheit. Das Urchristentum steht im Judentum jener Zeit, es stellt in ihm eine, allerdings besonders bedeutungsvolle und wirksame, messianische Bewegung dar, eine tiefe Bewegung neben anderen hnlicher Art in jenen wie in frheren und spteren Tagen. Der Widerstand, den es gefunden hat, ist darum nur ein gleicher wie der, dem vielfach diese anderen auch begegnet sind. Der Widerspruch des Judentums setzt erst mit dem Gegensatz gegen das Judentum ein, der in der neuen und dann entscheidenden Phase des Christentums, in der paulinischen Theologie und Mission eintritt, und der sich, wie gegen das Judentum, so gegen das Urchristentum richtet. Er bewirkt sehr bald eine innere und ußere Trennung, eine immer mehr feindliche Scheidung vom Judentum und von der jdischen Gemeinde. Und diese Loslsung ist zugleich und in gleicher Weise die von der alten christlichen Gemeinde, von dieser Gemeinde der Genossen und Jnger Jesu, soweit diese an sich und ihrer alten Art festhielt. Die Richtung und der Wille der paulinischen Lehre fhrten bewußt aus dem Judentum und aus dem alten Christentum heraus und zur Gegnerschaft gegen sie. Aus dem jdischen messianischen Glauben, wie ihn die alte christliche Gemeinde in dem Glauben an die Messianitt Jesu gehegt hatte, war hier, in der paulinischen Theologie, unter dem bestimmenden Einfluß des orientalisch-hellenistischen Mysterienglaubens ein ganz anderes geworden: der Christusmythus. Auch hier steht Jesus im Mittelpunkt. Aber es ist nicht mehr der Jesus, welcher gemahnt, gelehrt, gefordert und verheißen hatte, und von welchem seine Gefhrten und Schler erzhlten, dem sich hier das Denken und Hoffen zu159

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wendet. Er ist hier ein ganz anderer, und nur der Name ist geblieben. Er ist hier der mythische Weltheiland, der von Urbeginn an gewesen, der das Prinzip der Welt ist, durch den »alles geschaffen worden«. Der Glaube an ihn wird das Entscheidende, und hinter ihn tritt hier Gott, der fr Jesus alles gewesen war, fast zurck; Gottes Bedeutung ist hier eigentlich nur, daß er diesen Heiland in die Welt gesandt hat, daß er »der Vater unseres Herrn Jesu Christi« (Rmer 15,6 ff.) ist. Vor der alten Religiositt des Gottvertrauens und des Gehorsams gegen Gottes Gebot, ja an ihrer Stelle steht somit hier das Mysterium des Weltheilands, welches alles besagt und alles gibt. Nur wer sich ihm zuwendet, ist der Glubige und ist das Glied der Gemeinde, und nur der erwirbt es zu eigen, dem die Sakramente der Taufe und des Abendmahls zuteil werden. In ihnen wird das Mysterium wirklich und dinglich dargereicht, sie sind mehr und ein ganz anderes als ein Symbol, als ein Zeichen der Erinnerung und der Hoffnung; sie sind ein Sachliches und Wesentliches, das ergreifbare Mittel der Erlsung, der Vereinigung mit dem Heiland. Wer sich glubig durch sie mit dem Christus verbindet, ist dadurch des Gnadenwunders teilhaft. Er wird mit dem ewigen Leben ausgestattet, von der ganzen gegenwrtigen Welt, ihrem Irdischen, Endlichen und Sndhaften befreit; er ist der Gerechtfertigte, der Erlste. Inhalt der Religion sind nunmehr Mysterium und Sakrament, ein Glaube und ein Tun, die von dem vllig verschieden sind, was der Gemeinde Jesu ihre Frmmigkeit innerhalb des Judentums gewesen war. So mußte der Kampf zwischen dem Judentum und dem neu gewordenen Christentum einsetzen, besonders als dieses, nachdem es in den Lndern des Mittelmeeres zu einer geltenden Kirche und zu einer Macht im rmischen Reiche geworden war, auch auf dem Boden Palstinas Fuß gefaßt hatte. Es war ein gegenseitiges Angreifen und Abwehren. Der neuen Kirche waren das Judentum und das jdische Volk, die einst erkoren und nun doch verworfen sein sollten, ein Anstoß oder wenigstens eine Verlegenheit, und diese selbe Schwierigkeit bot ihr im Grunde ihr eigener Ursprung, die alte christliche Gemeinde. Um diesen Vorwurf zu beseitigen oder abzuschwchen, hat die Kirche ihr kanonisches Schrifttum, das Neue Testament, darauf hin geformt, daß die Vergangenheit sich der siegreichen Gegenwart einfgte und unterordnete. Besonders die alten Berichte ber das Leben und Lehren Jesu, die Evangelien, erhielten diese endgltige Gestalt. Auch sie wurden jetzt zu einem wesentlichen Teil Streitschriften gegen die Gemeinde des Judentums und damit vielfach, wie sich nicht verkennen lßt, auch gegen die erste christliche Gemeinde. Vor al160

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lem geht hierauf die harte Rede zurck, welche gegen die Phariser 1 gehalten wird, im Widerspruch zu dem noch feststellbaren alten Bericht, wo sie neben Jesus, aber nicht gegen ihn – gegen ihn waren nur die Sadduzer gewesen – gestanden hatten. Aber ebenso mußte sich die jdische Gemeinde gegen die Kirche wenden. Sie mußte ihr altes religises Eigentum gegenber dem, wozu die Kirche es umgebildet hatte, als den religisen Wahrheitsbesitz feststellen und festhalten, und sie ist damit erst zur ganzen Deutlichkeit seiner Eigenart gekommen. Jetzt, wo dort, in der Kirche, der Christus, neben den einen Gott gestellt, Gottheit geworden war, trat hier der ganze Sinn der Einigkeit und Einzigkeit Gottes, der ganze Wert des strengen Monotheismus in das Bewußtsein; das Wort »der Ewige ist einzig« erhielt seinen vollen Ton. Wenn dort das Erlsungsmysterium seinen Platz gewonnen hatte, so wurde hier nun alles Mittlertum um so bestimmter abgewiesen. Man sprach: »Wenn ein Mensch dir sagt: »Ich bin Gott«, so trgt er; »Ich bin der Menschensohn«, so wird er es bereuen; »ich steige zum Himmel empor«, so redet er und wird es nicht vollfhren« (jer. 2 Taanit II, 1). All das Pathos des Eigenen verkndet sich nun gegenber dem Mittler zwischen Gott und den Menschen. »Heil euch, ihr Israeliten, vor wem lutert ihr euch, und wer lutert euch? Nur euer Vater im Himmel!« (Joma 3 VIII,9). Jetzt, wo dort gelehrt wurde, wie der Erlser in der Gestalt des Menschen gemß dem Worte der Deutung in wundersamem Leben und Sterben erschienen sei, jetzt wurde es hier um so lebendiger betont, daß Gott allein der Erlser sein knne; das Wort des Propheten wurde zum tglichen Gebet: »Unser Erlser ist der Herr der Heerscharen, sein Name ist der Heilige Israels« (Jesaja 47,4). Jetzt, wo die Botschaft von dem Verheißenen zur Gegenwart der Erfllung in der Kirche umgeprgt worden war, jetzt wurde von der jdischen Gemeinde um so bestimmter der Gedanke der messianischen Zukunft, des Weges zu den »kommenden Tagen« hervorgehoben. Dem gegenber, daß der Glaube, dessen Inhalt das Mysterium und das Sakrament waren, das Gebot und sein Gesetz berwunden und beseitigt habe, wandte sich nun dem Gebote die ganze Liebe und Treue zu. Dem gegenber, daß der Christos der Logos sei, daß er den Sinn des Alls erschließe, wurde nun um so stolzer dargetan, daß die Religion Israels mit ihrem gesamten Ausdruck, 1. Zur Zeit des Zweiten Tempels die Partei der Lehrer des zweifachen Gesetzes, d. h. des schriftlichen und mndlichen. 2. Talmud des Landes Israel; im Gegensatz zum babylonischen Talmud. 3. Traktat in der Mischna, d. h. in dem frheren Teil des Talmud.

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ihrer Tora dieser Logos sei, daß sich in ihr die Bedeutung von Welt und Leben offenbare. Die Erwhlung Israels, der weltgeschichtliche Platz des Judentums wurde neu idealisiert. Im Kampfe mit der Kirche ist die jdische Religion damals von neuem ihrer selbst ganz bewußt geworden. Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Hg. Verband der Deutschen Juden. Band 5: Judentum und Umwelt. Leipzig, 1929. S. 56-60.

* Abweichungen der christlichen Religionen vom Judentum in den Grundgedanken. Einleitung Der grundstzliche Unterschied zwischen Judentum und Christentum wie er von der paulinischen Theologie herkommt, hat seinen entscheidenden Ausgangspunkt in der Lehre vom Menschen. Es ist die alte biblische Auffassung, die ihren immer deutlicheren Ausdruck dann gesucht hat, daß der Mensch im Gleichnis Gottes geschaffen ist, daß damit eine schpferische Kraft ihm innewohnt und die Fhigkeit der Entscheidung, die Freiheit ihm gegeben hat, so daß das Gottesgebot als sittliche Aufgabe vor ihn hintreten kann. »Siehe, ich habe heute vor dich hingelegt das Leben und das Gute und den Tod und das Bse« (5 Mos. 30,15). Er, das Geschpf, kann darum selbst das Leben, das ihm gegeben worden ist, gestalten, er kann es zu seinem Leben machen; er kann das Gute darin verwirklichen, indem er das Gebot Gottes erfllt, und er kann, wenn er irregegangen ist, umkehren. Und weil er es kann, daher soll er es. Dieser Anschauung steht die andere gegenber, die im Menschenleben nur das Gewordene und Vorherbestimmte sehen will, ausschließlich das Kreatrliche in ihm findet. Dem Menschen ist damit die Kraft des Beginnens und der Umkehr, das reine und freie Persnliche abgesprochen; er erscheint in seinen Wegen und Zielen als schlechthin abhngig von der hheren, der gttlichen Macht. So ist es die paulinische Theologie geworden. Ihr zufolge vermag der Mensch von sich aus und durch sich selbst nichts zu sein, es ist ihm nicht verliehen, das bestimmte Subjekt seines Lebens zu werden, das Gute aus seiner Kraft hervor in sein Dasein zu fhren und diesem damit die sittliche Form zu geben. Die Bedeutung dessen, was die wahre Beziehung des Menschen 162

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Abweichungen der christlichen Religionen vom Judentum

zu Gott ist, erfhrt hier einen vlligen Wandel. Es war das Thema der prophetischen Rede, die Mahnung und Verkndigung an das Volk gewesen, daß der Mensch nur durch die sittliche Tat, durch Gerechtigkeit und Liebe, Gott in Wahrheit dient. Das Einzige, was er Gott darzubringen vermge, sei das Gute, das er vollfhre, und dadurch allein verbinde er sich mit Gott, werde er fromm. In der kirchlichen Theologie wird diese Anschauung abgelehnt. Da der Mensch, wie hier gelehrt wird, aus sich hervor das Gute zu leisten nicht imstande ist, so ist ihm auch nicht gegeben, durch seine freie Tat, durch die eigene Handlung des Sittlichen, Gott zu dienen. Jene prophetische Auffassung wird als die alte, die jdische, als »das Gesetz« verworfen, an dessen Stelle nun der Glaube mit seinen Sakramenten treten soll. In diesen, in der Wunderhandlung der Taufe und des Abendmahls, so ist es jetzt der Glaube, fließen in den Menschen Strme gttlicher Gnade ein, und durch sie allein wird er zu Gott in Beziehung gebracht, mit Gott geeint; sie geben die Erlsung vom Sndhaften und Irdischen. Ihrer teilhaftig zu werden, das ist hier Gottesdienst, ist hchstes Erlebnis, das dem Menschen gewhrt sein kann, ist Innerstes der Frmmigkeit. Der fromme Mensch ist so nur ein Empfangender, nur Objekt, und zu ihm treten dann spter die eingesetzten Verwalter des Sakraments hin, die Priester, die es darreichen; er hrt auf, im Dienste Gottes ethisches Subjekt, Persnlichkeit zu sein. Um die ganze Bedeutung dieser Erlsung aufzuzeigen, wird die ganze Erlsungsbedrftigkeit des Menschen, seine ganze Armut dargetan. Sein Wesen ist von dem Fall des ersten Menschen her das Irdische und Schuldhafte, die Snde macht sein Wesen aus. Dem Judentum war sie ein Individuelles: der einzelne Mensch sndigt, indem er durch sein Tun sich gegen das Gebot Gottes entscheidet. In der kirchlichen Lehre ist sie Wesensbestimmung, Gattungsbezeichnung der Menschheit; sie ist Erbsnde, Erbschuld. Der Mensch ist aus der Snde hervor geboren, und sie bleibt darum sein Schicksal, wenn es nicht durch das Wunder der Gnade aufgehoben wird, die ihn aus dem Irdischen, Sndhaften heraus in eine hhere Welt hineinstellt. Die Ethik verliert hiermit den zentralen Platz, den sie im Judentum gehabt hatte. Denn das »Gesetz«, gegen das sich Paulus gewandt hat, ist nicht etwa nur die sogenannte Zeremonialsatzung, sondern »Gesetz« ist fr ihn alles Gebietende in der Bibel, jedes Du sollst, das in ihr steht. Das alles in seiner ganzen Bedeutung ist nun fr berwunden erklrt. Inhalt des neuen Bundes ist ausschließlich die Erl163

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sung; sie tritt hier an die zentrale Stelle des Ethischen. Des Gnadenwunders teilhaftig zu werden, das ist es, was die Kirche verheißt, was in ihr gegeben sein soll. Und die Erfllung dessen ist immer in der Gegenwart gewhrt. Whrend das Gebot, da es im Menschlichen und Geschichtlichen nie am Ende ist, immer wieder fordernd nach einem letzten, messianischen Ziele hinweist, ist hier dieser Idee der Zukunft ihr eigentlicher Sinn genommen. Das Mysterienwunder nimmt ihre Stelle ein. Dieser neue Glaube bestimmt dann auch die Gottesidee. Gott ist jetzt, wie der paulinische Ausdruck lautet, »der Vater unseres Herrn Jesu Christi«. Denn Gottes eigentliche Gabe an die Menschheit ist, daß er Jesus Christus gesandt hat; Gottes Wesen, das die Liebe ist, wird in diesem einen befaßt. In der Person Jesu, in seinem wundersamen Leben und Sterben ist die Brgschaft der gekommenen Erlsung, der alle Zuversicht sich zuwendet, gegeben. An ihn glauben, ist der Anfang der Gnade. Er steht so zwischen Gott und der Menschheit. Er ist der Mittler zwischen ihr und Gott, so daß der einzelne Mensch nicht mehr unmittelbar vor Gott hingestellt ist. Er vertritt die Menschheit vor Gott und Gott fr die Menschheit. Und der weitere Schritt des Glaubens und des Denkens ist dann gegeben: Gott, der Erlser, insofern er den Menschen sich offenbart und naht, ist der Christus; in Christus ist, wie die Sprache der Theologie sagte, Gott »Mensch geworden«. Der Kreis der Begriffe schließt sich so. Da der Mensch ausschließlich in seiner Geschaffenheit erfaßt, als keiner Reinheit und Freiheit des Willens fhig hingestellt wird, so kann das Gebot, das sich an seine Entscheidung wendet, fr sein Leben keine wahrhafte Bedeutung haben. Da derart das Gebot ihn nicht innerlich befreien kann, so kann er nur durch das Gnadenwunder erlst werden. Durch das Sakrament vollzieht sich dieses Wunder in ihm, und damit es in seiner absoluten Bedeutung dastehe, muß die vllige Gefangenschaft des Menschen, die Ursnde, die ihn umfaßt, aufgezeigt werden. Da es ihr gegenber nur die vllige Erlsung gibt, so wird diese zum Wesen der Religion, und der, welcher sie verbrgt, der Christus, tritt demnach vor die Menschheit zu Gott hin. Es ist ein geschlossenes System des Glaubens, in ihm ist der Unterschied zwischen Judentum und Christentum enthalten. Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Hg. Verband der deutschen Juden. Band 5: Judentum und Umwelt. Leipzig, 1929. S. 67-69.

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Jdische Anerkennung individueller Glaubensauffassung Die maßgebende Fassung und Festlegung von religisen Begriffen und Formeln ist dem Judentum im großen und ganzen ferngeblieben. So sehr die Grundgedanken der Religion, die Einheit und Einzigkeit Gottes, die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der sittliche Charakter der Frmmigkeit, das messianische Ideal, das Geheimnis alles Letzten, immer feststehen, so ist ihre dogmatische Bindung doch nicht erfolgt. Der gedankliche Ausdruck des Glaubens hat immer die Freiheit und den Raum seiner Mannigfaltigkeit gehabt. Nicht einmal, was bisweilen als ein Mangel hingestellt wird, ein bestimmtes Glaubensbekenntnis ist ausgeprgt und fr verbindlich erklrt worden. Einer der einflußreichsten Lehrer, Moses Maimonides, hat zwar im zwlften Jahrhundert ein solches verfaßt, und es ist dann spter, besonders in einer poetischen Form, die es erhalten hatte (Jigdal), in das Gebetbuch aufgenommen worden und hat weithin weihevolle Volkstmlichkeit erlangt. Aber ein verpflichtendes Bekenntnis, das die Zugehrigkeit zum Judentum bedingte, ist es nicht geworden. Es war ein Glaubensgebet, Gegenstand darum mehr der persnlichen Andacht als der geltenden Glaubensverpflichtung. Es ist auch selbstverstndlich, daß das Judentum seit jeher seine Stze hatte, die in ihrer klassischen Prgung einen Glaubensinhalt aufzeigten, Stze, an denen der Jude seiner selbst bewußt wurde und den Glaubensgenossen erkannte. Es braucht nur auf den Satz (5. Mos. 6,4) hingewiesen zu werden: »Hre, Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig« und den ihm folgenden: »Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft« oder auf die Stze der »dreizehn Eigenschaften Gottes« (2 Mos. 34,6): »der Ewige, der Ewige, Gott, barmherzig und gndig, langmtig und reich an Liebe und Treue, der Liebe bewahrt bis ins tausendste Glied, Schuld und Fehl und Snde verzeiht und rein werden lßt,« auch auf das Sanctus (Jes. 6,3) »Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen, voll ist die ganze Welt seiner Herrlichkeit.« Sie alle sind unzweifelhaft Stze, in denen der Glaube der Gemeinde, zu deren Besitztum sie geworden waren, sich immer wieder aussprechen wollte. Aber auch sie sind, ganz abgesehen davon, daß in ihnen keine begriffliche feste Formulierung gegeben ist, ganz eigentlich zu Gebeten geworden; die Andacht vor allem versenkt sich in sie, und jedem Denken ist damit die Freiheit gegeben, sich in sie zu vertiefen, jedem Gefhl das Recht, sich in sie hineinzuempfinden. Das gleiche gilt von dem Hymnus, der zwei bestimmende Glaubensstze, den von dem einen Gotte, 165

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dem Gotte Israels, und den von dem Gottesreiche auf Erden verkndet (Alenu). Im dritten Jahrhundert fr das Neujahr verfaßt, ist er seit dem Mittelalter zum feierlichen Abschluß jedes Gottesdienstes geworden. Auch er ist Bekenntnisgebet und hat diesen Gebetscharakter bewahrt; eine Bekenntnisformel stellt auch er nicht dar. Verschiedene Grnde kommen zusammen, um eine dogmatische Bindung des Glaubensausdruckes einerseits nicht mglich, andererseits weder geboten noch erforderlich sein zu lassen. Zunchst ist hierfr die Tatsache von Bedeutung, daß sich im Judentum nie eine dauernde obrigkeitliche, sei es staatliche oder kirchliche, Instanz gestalten konnte, die eine Lehrgewalt oder ein jus in sacra auszuben imstande gewesen wre. Wenn auch die Zeit einer geschlossenen Staatlichkeit in Palstina gewisse Anstze zur Bildung einer Glaubensbehrde aufzeigt, so hat doch sehr bald die Geschichte – und hierin spricht nicht nur ein Geschehen, sondern ein Wesenszug – nach anderer Richtung gefhrt. Das Glaubensgut, das depositum fidei, wurde dem einzelnen Lehrer als solchem zur Wahrung und Darbietung anvertraut; er wurde der Reprsentant der lebendigen Tradition des Judentums. Er konnte darum eine freie Befugnis erlangen und ein Recht der Lehre und Entscheidung ausben, das in anderen Religionen nur eingesetzten konstituierten Autoritten zustand. Eben darin hatte auch der Bann (Cherem) seine Begrenzung, den das Judentum kannte; er war im jdischen Mittelalter nicht selten ein geeignetes, vielleicht notwendiges Mittel zur Sicherung der Rechtsprechung in den Gemeinden, da diese jeder Vollstreckungsmglichkeit ermangelte, aber hufig wurde er auch ein bedenkliches, allerdings oft recht stumpfes Instrument fr den Kampf gegen mißfllige Gedanken. Nicht eine Kirche sprach ihn hier aus, nicht eine Vertretung der Glaubensgesamtheit, sondern nur ein Lehrer, ein Rabbiner, sei es auch in Gemeinschaft mit zwei anderen oder mit Vertretern der Gemeinde, oder gelegentlich einmal eine Synode. Und gegen diese einen konnten darum immer die anderen treten, was dem Bann ein Wesentliches seiner Geltung und Wirkung nahm. Er hatte im großen Ganzen nur rtliche Bedeutung, er hat die Mannigfaltigkeit der Gedanken kaum je zu hindern vermocht. Im Grunde war er hier in der Art, wie er ausgesprochen wurde, nichts anderes als die Kehrseite der Lehrbefugnis des einzelnen Lehrers. Der Freiheit der Gedankenbildung kam dann eines hier entgegen. Im Judentum war die maßgebende Formung des Glaubensinhalts ein geringeres Bedrfnis als in anderen Religionen. Das Judentum hat immer das Sakrament, dieses mystische Gnadenmittel, abge166

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Jdische Anerkennung individueller Glaubensauffassung

lehnt, durch welches die Teilnahme an der Gottheit und dem religisen Gut erreicht und gewhrt werden soll. Zu diesem Gnadenmittel, dieser heiligen Sache, tritt stets als ein Wesentliches der heilige Satz, das Symbolon, die berlieferte Formel, die in endgltiger bestimmter Ausprgung den Glaubensbesitz darreicht. Dogma und Sakrament gehren zusammen; sie bedingen und tragen einander. Da das eine im Judentum fehlte, war auch das andere in ihm nicht erforderlich. Die sakramentslose Religion konnte dogmenlos sein; der Darlegung der Glaubensideen konnte eine grßere individuelle Selbstndigkeit gewhrt bleiben. Sie konnte um so grßer sein, da das Judentum sich nicht als Kirche ausgestattet hat. Das Gnadenmittel erfordert die Gnadenanstalt, welche, durch ein bernatrliches gestiftet, die in den Sakramenten gegebene Wunderwirkung, diesen sinnlich-bersinnlichen Schatz, verwaltet und ausspendet. Zu dem Sakrament und seinem Dogma gehrt so die Kirche. Sie fehlt darum dem Judentum; an ihrer Stelle steht hier, in ihrer Vielfltigkeit, die Gemeinde. Diese ist ein selbstndiges Gebilde fr sich, selbstndig nach mancher Hinsicht auch in der Erfassung der Lehre. In ihrer Mannigfaltigkeit hat sie daher auch eine Mannigfaltigkeit und Freiheit im Geistigen ermglichen, nicht selten auch eine Zufluchtssttte fr Gedanken gewhren knnen, welche verfolgt oder beengt wurden. Ihr Eigenrecht nahm der Geschlossenheit des großen Ganzen oft viel, bedeutete aber oft auch viel fr den Platz des Besonderen. Wie die Freiheit des Lehrers hatte die der Gemeinde ihre Nachteile und Vorzge neben und in einander. Ein Ferneres wirkte dann noch ebenso und vielleicht noch mehr auf eine gewisse Freiheit der Gedanken hin. Das Wesentliche und Entscheidende der Frmmigkeit ist im Judentum das Tun des Menschen, die Erfllung des Gottesgebotes, der Mizwa. Die Tora, die Lehre, ist nicht eine Lehre vom Glauben, sondern eine Lehre vom Tun. Auf dieses richtet sich die ganze Forderung, ihm und nur ihm ist die ganze, ins Einzelne gehende Bestimmtheit zugewiesen und zuerkannt. Dem Gedanklichen und Lehrhaften war damit ein weiterer Raum gelassen. Es war um so mehr der Fall, da ihm gegenber die Forderung galt: du sollst forschen. Das Neuerfassen des Alten und das Weiterdenken war damit verlangt. Das Suchen und Zweifeln, das Erklren und Widerlegen konnte sich auswirken. Der einzelne Forscher und Lehrer erhielt damit sein Recht. So sehr die Grundgedanken und die Grundlinien im Judentum feststehen, konnte daher keine Persnlichkeit und auch keine Richtung fr die allein maßgebende erklrt werden. Man hatte vielfach 167

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die Freiheit in der Wahl der Autoritt. Es gab keine causa finita, 1 gegen den einen Lehrer konnte immer die Berufung an den anderen statthaben, gegen den vergangenen an den lebenden und gegen den lebenden an den vergangenen. Der Widerspruch zwischen den Autoritten verminderte nicht die Autoritt. Um nur ein Beispiel anzufhren: der »Mischne Tora« des Maimonides und die »Bemerkungen« seines dezidierten Gegners Abraham ben David 2 wurden, zueinandergestellt, wie zu einem literarischen Werke vereint, obwohl es in vielen Fragen kaum einen strkeren Gegensatz gibt als den zwischen ihnen beiden. Beide stehen sie als anerkannte Lehrer des Judentums da. In derselben Weise sind mannigfach Mnner trotz allen Zwiespaltes der Gedanken zur Einheit des Buches und der Autoritt verbunden worden. Die Gemeinde des Judentums erkannte sich die vielen Lehrer zu. Deshalb haben Konflikte, die bis an die Prinzipien des Glaubens herandrangen, und in denen Autoritten gegeneinander traten, in manchen Zeiten die Gemeinden zerreißen knnen, ohne doch am letzten Ende die Einheit des Judentums zu bedrohen; die Autoritten von hben wie von drben hrten nicht auf, Autoritten des Judentums zu sein. Deshalb ist es auch trotz der Schwere und der Erbitterung so manchen Kampfes zu keiner Sektenbildung gekommen. Die einzige Ausnahme, die des Karertums, 3 besttigt nur die Regel; denn fr seine Entstehung sind mehr politische Grnde als religise entscheidend gewesen. Ein Zwiefaches, das eigentlich eines ist, wirkte dahin, daß dieses autoritative Recht des einzelnen Lehrers nicht zu einer Auflsung der Gesamtgemeinde fhrte. Das erste ist das auf dem lebendigen Geschichtsbewußtsein beruhende Gemeinschaftsgefhl, dessen wesentliche Kraft immer eine religise, geistige war. Man fhlte sich, trotz des Fehlens aller ußeren Bindungen, so sehr als eine Gemeinschaft des Lebens, man wußte so sehr um die gemeinsame Vergangenheit und die gemeinsame Zukunftsidee, und der gemeinsame Besitz von Bibel und Talmud bekundete dies so deutlich, daß die Gesamtheit alle diese Verschiedenheit der Lehrer und der Richtungen in sich beschließen durfte. Und das andere, das ja im Grunde dasselbe ist, war die in allen lebendige berzeugung von einer stetigen Tradition im Judentum. Alle die Lehrer von hier und dort sah man in eine Kette der berlieferung eingegliedert, welche nie abriß. So 1. Lat.: »Eine abgeschlossene Angelegenheit«. 2. Abraham ben David aus Posquires, auch Rabad genannt (um 1125-1198). 3. Jdische Sekte des Mittelalters, die die mndliche Lehre der rabbinischen Autoritten nicht anerkannte.

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Jdische Anerkennung individueller Glaubensauffassung

sehr ein jeder von ihnen das Recht seiner Zeit und seiner Entscheidung besaß, so schien das Ganze der Lehre doch erst in der Succession der Lehrer, in ihrer Reihe bis zu den »Letzten« hin, gegeben. Dieses doppelte Band hat die verschiedenen Richtungen und Generationen immer zusammengefgt und zusammengehalten. Ohne dogmatische Gebundenheit und ohne kirchliche Geschlossenheit lebte so stets ein Gesamtjudentum, im Dasein und im Bewußtsein, mit einem Maße geistiger Mannigfaltigkeit und einer individuellen Lehrfreiheit des Einzelnen, wie sie die anderen religisen Gemeinschaften in den jeweiligen Zeiten kaum aufweisen. Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Hg. Verband der deutschen Juden. Band 5: Judentum und Umwelt. Leipzig, 1929. S. 201-205.

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Vermischte Schriften In den fnfzehn Jahren, die zwischen seiner Rckkehr nach Berlin 1918 und seiner Annahme der Prsidentenschaft der Reichsvertretung der deutschen Juden 1933 lagen, nutze Baeck seine Zeit fr seine Pflichten als Gemeinderabbiner, fr seine Lehrttigkeit an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums und fr verschiedene organisatorische Aktivitten. Außerdem schrieb er Essays zu unterschiedlichen Themen, von denen einige in seine 1933 erschienene Sammlung Wege im Judentum aufgenommen wurden. Hier haben wir sieben Aufstze ausgewhlt, die nicht in dem Band enthalten sind. Zusammen betrachtet zeigen sie die Bandbreite von Baecks Interessen. Der erste dieser Aufstze, »Zedakah«, kehrt zu einem Thema zurck, dem sich Baeck frher bereits gewidmet hatte: das jdische Konzept des Mitmenschen. Hier spricht er jedoch nicht nur von der persnlichen Verantwortung, die eine Person der anderen als deren Mitmensch schuldet, sondern auch von der Rolle des Konzepts innerhalb des Staates und der Gesellschaft. Das Prinzip von Zedakah, also Gerechtigkeit, die dem Mitmenschen zuteil wird, ist fr Baeck die moralische Grundlage fr die Existenz des Staates und darber hinaus, die »wahre menschliche Gesellschaft … die Gemeinschaft der Zedakah«. Whrend der frhen Zwanziger Jahre litt Deutschland heftig unter den Folgen des verlorenen Krieges auf die nationale Moral und Wirtschaft. Baeck muß gesprt haben, daß auch in den jdischen Gemeinden der Schicksalsgedanke, der unter manchen Schriftstellern bereits im spten 19. Jahrhundert aufgekeimt war, den optimistischen Fortschrittsgedanken, der vorher herrschte, ersetzt hatte. In einem Artikel im Berliner Jdischen Gemeindeblatt bat er seine Leser zu bedenken, daß jdische Geschichte die beste Widerlegung der Lehre vom Schicksalsgesetz biete. Wenn die Juden nur zu dem Weg zurckkehrten, die zu ihrem Eigensten fhre, so werde eine jdische Renaissance, die bereits begonnen habe, erblhen. Zwei weitere Artikel setzen sich ebenfalls mit der damaligen Situation der deutsch-jdischen Gemeinschaft auseinander. Der eine wurde fr den Band Zehn Jahre deutsche Geschichte. 1918-1928 geschrieben, in welchem die Autoren damalige Trends innerhalb verschiedener Gruppen der deutschen Gesellschaft untersuchen. Baeck richtet seinen Beitrag ber die Juden Deutschlands vor allem an ein nicht-jdisches Publikum und weist darauf hin, daß das deutsche Judentum als ein Resultat des Krieges seine Gemeinden im Osten mit ihrer regsamen Religiositt verloren, und daß notwendige finanzielle Einschrnkungen schdigende Auswirkungen auf jdische kommunale Einrichtungen 170

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gehabt htten. Trotzdem befand sich das deutsche Judentum in den spten Zwanziger Jahren, zwischen der Inflation von 1923 und der 1929 beginnenden Wirtschaftskrise, auf dem Wege der Besserung. Baecks Beitrag zu diesem Band ist von historischem Interesse und zeigt außerdem sein Verstndnis der tieferen Bedeutung der damaligen Ereignisse. In einem weiteren Artikel kehrt Baeck zu einem frheren Thema zurck: dem Preis der Urbanisierung. In einem romantischeren Ton als sonst fr die meisten seiner Schriften blich rhmt Baeck die Verbindung zwischen »Mensch und Boden«, die die Juden, die in kleinen lndlichen Gemeinden im Einklang mit der Natur lebten, kennzeichne. Der Stadtbewohner, der dort zum Rationalisten und Intellektualisten werde, lebe auf einem knstlichen Boden, der gegenber dem der Natur minderwertig sei. Whrend dieser Jahre kam Baeck mit dem deutschen Popularphilosophen Hermann Graf Keyserling (siehe unten Baecks Korrespondenz mit Keyserling) in Kontakt, der 1925 ein Werk verffentlichte, das tiefgehende Analysen zur Bedeutung der Ehe beinhaltet. Baecks Beitrag zu diesem Band, der den Titel »Die Ehe als Geheimnis und Gebot« trgt, stellt die Institution der Ehe in den Rahmen seiner Theologie. Fr Baeck ist wahre Ehe »Ausdruck des Geheimnisses«, das er mit Gott dem Schpfer assoziiert, dessen Wesen außerhalb des menschlichen Verstndnisses liege. Wie das Judentum mit seinem Gebot, das aus dem gttlichen Geheimnis hervorgehe, so besitze auch die Ehe ihr Gebot, ihre Ethik der absoluten Loyalitt. In diesen Jahren nahm die Mystik fr Baeck einen grßeren Stellenwert ein, und er konzentrierte sich nun zunehmend auf die religise Erfahrung des Einzelnen. Er glaubte jetzt, »daß alles, was die Propheten verkndeten, in dem Geheimnis, welches sie erfuhren, wurzelte«. Gleichzeitig stellt er aber in dem hier aufgenommenen Artikel »Okkultismus und Religion« heraus, daß, obwohl diese »Verbundenheit mit dem Geheimnis« ihnen die Kraft gebe, religise Revolutionre zu sein, es der Inhalt ihrer Botschaft sei, der sie zu wahren Propheten mache. Abschließend findet sich in diesem Kapitel eine Einleitung, die Baeck fr die deutsche Ausgabe eines Buches des franzsischen Autors Aim Pallire, Le Sanctuaire Inconnu, schrieb. Unter dem Einfluß des italienischen Rabbiners Elia Benamozegh hatte sich Pallire der jdischen Gemeinde in Paris angeschlossen, ohne jedoch formal zum Judentum zu konvertieren. Baecks Vorwort besitzt seinen eigenen Wert, da es auf bedeutsame Weise zwischen einer persnlichen religisen Odyssee, die sich auf das Selbst konzentriert, und die Baeck als »religise Eitelkeit« bezeichnet, und einer religisen Suche, die nicht in der Person, sondern in religisen Ideen begrndet liegt, unterschiedet. Die Anziehungs171

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kraft, die die Ideen des Judentums auf Pallire ausbten, gebe Anlaß zum Nachdenken fr Juden wie fr Nicht-Juden. * Zedakah Das Judentum hat den Begriff des Mitmenschen entdeckt. Ich und der andere sind hier eine sittliche Einheit. Es gibt im Grunde keinen anderen; wer immer als ein anderer besteht, wie fern und fremd er mir sei, er gehrt zu mir. Gott, der uns alle geschaffen, hat ihn mit mir verbunden. Der Bund Gottes mit mir ist zugleich der Bund, der den anderen mit mir zusammenfhrt. Jeder Mensch ist der Mensch neben mir, mein Bruder, mein Nchster. Gott hat ihn dazu gemacht. Nicht erst mein Wohlwollen, mein Mitleid, meine Zuneigung schenkt es ihm, nicht erst eine gesellschaftliche Einrichtung oder eine staatliche Anordnung weist es ihm zu, bald mehrend, bald mindernd. Er ist es durch Gott und ist es darum unbedingt. Der Arme ist »mein Armer«, der Bedrftige ist »mein Bedrftiger«, der Fremdling, der neben mir weilt, »mein Fremdling«. Er ist es von Gottes Gnaden, es hngt von keiner Voraussetzung ab. Gott hat ihn dazu gemacht, und in der Religion wird alles Gegebene zur Aufgabe, alles, was da ist, zur Pflicht. So wird es zum obersten Gebote: wir sollen Mitmenschen sein. Es ist meine Pflicht, den Menschen neben mir, den Gott als meinen Mitmenschen geschaffen, auch selbst zu meinem Mitmenschen zu machen. Meine Tat soll ihn dazu werden lassen. Ich soll ihm alles das zugestehen und gewhren, ihm alles das erhalten und bringen, wodurch er der Mensch neben mir, mein Mitmensch wird. Ich soll ihm helfen und beistehen, alles fr ihn leisten, damit er lebe, neben mir lebe; ich soll ihn durch meine Gesinnung und mein Handeln als den erkennen und anerkennen, den Gott neben mich gestellt hat. Das ist die jdische Gerechtigkeit, die Zedakah. Gerechtigkeit besteht so hier nicht bloß darin, daß jeder Eingriff in das Recht des anderen vermieden oder verhindert wird. Sie ist hier mehr, sie ist hier ein unbedingt positives, eine soziales Gebot, sie ist die aufrichtige ttige Anerkennung des anderen, die Verwirklichung seiner Gleichheit, des Menschenrechts, das Gott ihm verliehen hat. Menschenrecht ist hier nicht bloßes Eigenrecht, sondern das Recht des anderen, des Mitmenschen, das Recht, welches er auf uns hat. Was wir dem anderen gewhren, ist unsere Schuldigkeit, ist sein Recht. Er hat den Anspruch auf uns. Er ist, wie ein alter Spruch es 172

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sagt, »der Eigentmer der Wohltat,« die wir ihm erweisen sollen, und wir »enthalten sie ihm vor,« wenn wir sie ihm nicht gewhren. Oder wie ein anderer Satz, der ein Bibelwort erklren will, meint: wir »berauben den Armen,« wenn wir nicht an ihm tun, was wir tun knnen; wir nehmen ihm das, was sein Besitztum von Gott ist, das Recht, als unser Mitmensch dazustehen. Damit ist der ideale Begriff der Gesellschaft geschaffen. Sie ist die sittliche, soziale Gemeinschaft. Die Menschen gehren sittlich zusammen; nicht Interessen und Bestrebungen verbinden sie dauernd, sondern menschliche Aufgaben und Pflichten. Diese erst schaffen die wirkliche Gemeinschaft. Jeder, der im Lande lebt, soll mit den anderen leben drfen: mit dem Anspruch auf ihre Hand, die ihm gibt, und auf ihr Verstndnis, das »seine Seele kennt« – in einer Gemeinschaft von Menschen. Der wahre Staat ist ein Staat der Zedakah, sie erst gibt ihm sein sittliches Dasein und damit sein Daseinsrecht vor Gott. Und es erweitert sich zu dem Begriff der menschlichen Gesellschaft, der großen Gemeinschaft, die alles auf Erden umschließt und zusammenhlt. In ihr gibt es nichts, was den Einzelnen nur anginge, kein Unrecht, das nur gegen ihn verbt wrde, keine Brde, die ihm blos auferlegt wre, keine Not, die er allein zu tragen htte. Jedes Verlangen des Einzelnen, all sein Bedrfen und all sein Leid ist eine Mahnung, eine Forderung, die an alle ergeht. Jeder, der Menschenantlitz trgt, wo immer er lebt, ist unser Mitmensch. Die wahre menschliche Gesellschaft ist die Gemeinschaft der Zedakah. Zedakah 1 (1921): S. 2-3.

* Entwickelung und Wiedergeburt Die Frage bewegt in unseren Tagen und besonders in unserem Lande manch nachdenkliches Gemt, ob wir vor einer Zeit des Aufstieges oder des Niedergangs sind. ber der Gegenwart liegt es wie eine Dmmerung. Ist es die, die den Morgen beginnt, oder die, die das Hereinbrechen der Nacht kndet? Steht Europa vor einem neuen Abschnitt oder am Ende seiner Geschichte? Jedes Jahrhundert hat seine Stimmung, und seine ganze Beschaffenheit und Art kommt darin zum Ausdruck. Wohl das glcklichste der neuen Zeit war das achzehnte. Die Menschen fhlten sich damals mndig geworden, man war berzeugt, ber eine frhere Zeit 173

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nun hinausgeschritten zu sein, in neuen Tagen zu leben. Etwas von dem Frohgefhl des Menschen, der nach einer bedrckenden Nacht zu einem frischen, sonnigen Morgen erwacht ist, erfllte damals die Gemter. Man sah sich vom Lichte umstrahlt, man glaubte an alles Gute und Edle, man glaubte an die Vernunft, an Erkenntnis und Wissenschaft, man betrachtete sich selbst ein wenig bewundernd und gerhrt ob seiner eigenen Tugend und Aufgeklrtheit. In seiner Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts berichtet Hermann Hettner 1 von einer Urkunde, die 1784 zu Gotha in den Knopf eines Turmes gelegt worden ist. In ihr erzhlt diese Zeit von sich selbst: »Unsere Tage fllten den glcklichen Zeitraum des achtzehnten Jahrhunderts … Aufklrung geht mit Riesenschritten … Glaubenshaß und Gewissenszwang sinken dahin. Menschenliebe und Freiheit im Denken gewinnen die Oberhand. Kste und Wissenschaft blhen, und tief dringen unsere Blicke in die Werkstatt der Natur … Blickt nicht stolz auf uns herab, wenn ihr hher steht und weiter seht als wir; erkennt vielmehr aus dem gegebenen Gemlde, wie sehr wir mit Mut und Kraft euren Standort emporhoben und sttzten. Tut fr eure Nachkommenschaft ein Gleiches und seid glcklich!« Uns Menschen von heute dnkt diese Stimmung allzu hoch gefhlt und das Wort allzu klingend, aber das alles war damals ehrlich empfunden, und es hat zur Tat auch immer werden wollen. Die mit solch tnender Rede sich und einander ergtzten, hatten zumeist auch das ernste Streben, um in der Sprache der Zeit zu sprechen, Nutzen zu stiften und Glck zu schaffen, Erziehung und Unterricht zu frdern, den Staat zu versittlichen und das brgerliche Ehrgefhl zu wecken. Wir Juden knnen dankbar davon erzhlen. Das Verstndnis fr unser Recht, das Bewußtsein der Pflicht gegen uns hat damals in den Lndern zu erwachen begonnen. In einer Idee hat jene Zeit alles zusammengefaßt, was sie als Stimmung und Hoffnung in sich trug, in der Idee der Entwicklung. Man sah in der Geschichte den Aufstieg. Von dieser Gewißheit war man erfllt, daß sich die Menschheit in ihrem Wissen und Knnen, in ihrer Sittlichkeit und Frmmigkeit immer weiter fortbilde, daß, sobald nur alle Hemmnisse von ihnen genommen seien, die Vlker von Stufe zu Stufe einander frdernd und tragend, zu immer weiterer Hhe gelangen werden. Es gelte nur, alle lastenden Trmmer fortzurumen, jede beengende Schranke zu beseitigen, und alles werde sich frei entfalten, jede Kraft zum Guten werde sich regen 1. Hermann Hettner (1821-1880). Literaturhistoriker, dessen Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts erstmals 1872 erschien.

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und werde aufwrts tragen. Die Entwicklung sei das Natrliche und Gegebene. Auf dem Denkmal am Grabe von Leibnitz ist das Bild einer Spirale, und unter ihr stehen die Worte: »Inclinata resurget.« »Sei sie auch zusammengepreßt, sie steigt wieder empor.« Das ist das Sinnbild des Glaubens jener Zeit; man glaubte an den Fortschritt und den Aufstieg. Der Blick richtete sich in eine Gewißheit hinaus. Es gibt kaum einen weiteren Gegensatz gegen dieses Hochgefhl als die seelische Stimmung ein Jahrhundert danach. Die helle Zuversicht, aus der das Vertrauen auf alles Gute hervorstrahlte, ist mehr und mehr einem dunklen Pessimismus gewichen. Er ist zur Atmosphre der Zeit geworden, Gewlk lastet ber dem Empfinden. Die Seelen, die selbstbewußt sich der Entwicklung gefreut hatten, ergehen sich nun im Mißbehagen und in dem Zweifel, der die eine Gewißheit nur hat, daß der Abstieg, mag der Schritt auch bloß allmhlich hinabfhren, doch unabwendbar sei. Der Entwicklungsgedanke ist zum trben Schicksalsgedanken geworden. Von solchem Wandel weiß die Geschichte auch sonst zu berichten. Es scheint wie eine Bestimmung, wie eine natrliche Folge zu sein, daß der Optimismus der Entwicklung schließlich in der trben Niedergangsstimmung endet. Denn was ist Entwicklung? Solange man jung ist oder solange das Geschick, indem es gelingen und glcken lßt, den Schein der Jugend schenkt, bedeutet Entwicklung den Aufstieg. Wenn man lter wird oder wenn das Leben zu geben aufhrt und zu nehmen beginnt, dann bedeutet sie Abstieg. Als das Bild, das die Natur draussen ihm zeigt und das sein eigenes Dasein ihm darstellt, tritt es so vor den Menschen hin. Draußen steht vor ihm eine Entwicklung, und deren Gesetz ist: blhen und wachsen, um zu welken, zu verdorren und zu vergehen. Und dieses selbe ist in seinem Leben. »Wie die Bume des Waldes, so sind die Geschlechter der Menschen,« so hatte schon der griechische Dichter gesungen, und ergreifender noch und mannigfaltiger klingt ein gleiches Lied aus unserer Bibel hervor: »Am Morgen blht es, um zu vergehen, am Abend ist es welk und ist verdorrt.« 1 »Alles Irdische ist Gras und all seine Pracht wie die Blume des Feldes. Das Gras verdorrt, die Blume welkt, wenn des Ewigen Hauch sie hat angeblasen – frwahr, das Volk ist Gras.« 2 Auch die Entwicklung des Lebens ist es: jung sein und sich im Lichte entfalten, um alt zu werden und dahinzuschwinden. In seinem ußeren Wandel lßt es so das Dasein immer wieder 1. Ps 90,6. 2. Jes 40,6-7.

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sehen. Und scheint es nicht das Innenleben des Menschen ebenso zu zeigen? Wieviel Abgestorbenes und Verdorrtes scheint nicht in jeder Seele sich zu sammeln! Verblhte Hoffnung, verkmmerte Sehnsucht, vertrocknete Freundschaft und Liebe, verwelke Ideale, alles das, was einst in ihr gewesen und schließlich abgefallen ist! Und kndet nicht der Gang der Geschichte dem, der auf sie zurckblickt, das Nmliche? Auch sie schließt doch das alles in sich ein: Bltentrume, die verblichen, sprießende Hoffnungen, die verweht, Zukunftslieder, die verstummt sind. So will es doch als das stete Ergebnis der Geschichte vor uns stehen. Der große Naturforscher Darwin, der den Begriff der Entwicklung zum Gesetz der mannigfachen Lebensformen und -Arten hinstellte, hatte, wie im Nachklange jenes Optimismus, von der »natrlichen Auslese« gesprochen, die im Kampfe des Daseins das »berleben des Brauchbarsten«, die Fortdauer des Tchtigsten bewirke. Ein halbes Jahrhundert danach hat eines der eindrucksvollsten Geschichtswerke, Otto Seecks 1 »Geschichte des Untergangs der antiken Welt« pessimistisch fr die Menschenwelt das Entgegengesetzte erklrt und an dem Niedergang der griechischen Staaten und des rmischen Reiches es aufzuweisen gesucht, daß nmlich all das Ringen und Kmpfen, gerade umgekehrt, gewissermaßen das berleben des Unbrauchbarsten herbeifhre, daß die Besten und Edelsten hinweggerafft und die Niedrigen, die Gewhnlichen briggelassen wrden – »denn Patroklus liegt begraben und Thersites kehrt zurck.« Das ist es doch, was die Entwicklung bedeutet. So war es mehr und mehr die Stimmung der Zeit geworden, aus der unsere Tage hervorgegangen sind, und in manchem Land hat das Unglck sie noch weiter und tiefer als anderswrts sich dehnen lassen. Was ein Jahrhundert zuvor jung gewesen, war nun gealtert und erkaltet, was damals sproßte, war nun vertrocknet. So wie man damals in der Entwicklung den Aufstieg sah, so nun den Niedergang. Was wrde heute in einer Urkunde stehen, in der unsere Zeit von sich selbst, von dem, was sie erreicht hat und was sie erwartet, erzhlte! Als der unharmonischste Ton, in dem diese Mißstimmung spricht, wird die Feindschaft gegen die Juden vernehmbar. Auch das, was in ihr sich kndet, ist ein Teil dieses Unbehagens, dieses Mißempfindens, ganz wie einst es ein Ausdruck des Frohgefhls, in

1. Otto Seeck (1850-1921). Professor in Greifswald und Mnster. Seine Geschichte des Untergangs der antiken Welt (1897) wurde noch im Jahre 2000 nachgedruckt.

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dem die Vlker lebten, gewesen war, daß man sich fr unser Recht einsetzte. Auch Zeiten sind jung und sind alt, jung oft durch das Glck und alt durch die Leiden. Diese Stimmung hat auch ihren Beweis, ihre Philosophie sich immer wieder bereitet, ihre letzte besonders geistvoll und beredt und mit neuen Ausblicken. Europas Untergang hat begonnen, so ist es die Antwort, zu der hier die Lehre der Entwicklung hinfhrt. Denn jedes Land und jedes Volk und jeder Erdteil hat nur seine bestimmte Zeit. Was lebendig, persnlich und kraftvoll in ihm gewesen war, verkalkt und erstarrt und verfllt schließlich, was sinnvolle Kultur, innere Form war, wird ußerliche Zivilisation, eine Schale ohne Kern, eine harte Ader, in der sich nichts Lebensvolles mehr bewegt. So ist gypten gestorben und Babylon, so die griechische und die rmische Welt, und so wird nun unser Europa untergehen. Nichts kann es mehr abwenden, denn es ist so ein Schicksalsgesetz. Das Empfinden unserer Zeit und unseres Landes hat hier seinen letzten Ausdruck gewonnen. Aber ist diese Lehre nicht mehr als die Philosophie einer Stimmung, ist sie nicht prophezeiende Wissenschaft? Ist es darum so, daß der Glaube an die Entwicklung, wenn er eine Zeit lang Glaube an den Aufstieg gewesen ist, dann schließlich immer zum Glauben an den Niedergang werden muß? Oder ist es eine andere Erkenntnis, welche die Geschichte mit ihren Jahrhunderten uns gewhrt? Wo der Gedanke von der Entwicklung allein der leitende ist, dort wird sein Weg immer der vom Optimismus zur pessimistischen Stimmung und Lehre sein. Aber es gibt eine andere Art noch, das Leben der Vlker zu schauen. Ein Volk hat seinen Platz in der Geschichte dadurch, daß es eine bestimmte wertvolle Eigenart hat, die ihm zugehrt, seine bestimmte Aufgabe, die ihm gestellt, sein bestimmtes Problem, das vor sein Leben gesetzt ist. Und die Bedeutung, das eigentliche Leben eines Volkes, besteht eben in dieser Eigentmlichkeit, in dieser Aufgabe, in diesem Problem. Seine wahre Geschichte und sein wechselndes Geschick ist die Art, wie es seinen Charakter, seine Bestimmung, sein Gebot erfaßt und verwirklicht, ob es sie entweder immer neu darzustellen und auszubilden versucht oder sie verkmmern macht und entschwinden lßt. Ein Volk verliert sich, wenn es von diesem seinem Eigenen, von dem, was sein Schpfer ihm gegeben hat, sich entfernt, ein Volk verirrt sich, wenn es nur an den Rndern, an der bloßen Außenflche dieses seines Eigenen bleibt, ein Volk findet sich wieder, erst wenn es dieses sein Eigenstes wiederfindet, sein Wesen wiedererlangt. Das ist sein Leben und Sterben. Es lebt wahrhaft, nur wenn dieses Eigene, dieser 177

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sein Wert in ihm leben kann, und es stirbt, wenn diese Eigenart, diese seine Aufgabe, dieses sein Problem und Ideal in ihm ersterben muß. Also nicht bloße Entwicklung, sei es in dem optimistischen Sinne, sei es im pessimistischen, bedeutet die Geschichte der Vlker, die eine Geschichte haben, sondern ein Besitzen und Verlieren, ein Sicherhalten und Sichfortwerfen, ein Sichgewinnen und Sicheinbßen. Die Geschichte erzhlt von Untergngen, aber sie erzhlt auch von Wiedergeburten. Ein Volk ist untergegangen, wenn es groß ward nur in seinen Verirrungen, in seinen Untugenden, wenn alle die Kraft, die in ihm war, in seine Fehler, in seine Mngel hineinfloß und damit zu der Krankheit wurde, an der ein Volk stirbt. Aber so manches Volk hat wieder aufleben, hat neu geboren werden knnen, weil seine Kraft in seine sittliche Aufgabe, in seinen wahren Wert wieder hineindrang und damit zur Daseinskraft, zum Lebensquell in ihm geworden ist. Es gibt hier keinen notwendig gegebenen Gang von der Jugend zum Alter, von der Zuversicht zur Enttuschung, vom Anfang zum Ende, sondern ber das Leben entscheidet die Treue gegen sein wahres Selbst oder die Untreue, der Weg zu sich hin und der Weg von sich fort. Fr die Vlker auch, und fr sie nicht zum mindesten, gilt das Wort: »Siehe, ich habe heute vor dich hingelegt das Leben und das Gute und den Tod und das Bse.« 1 An die Stelle des Gedankens der Entwicklung oder wenigstens neben ihn tritt darum der von der sittlichen Entscheidung und der Renaissance, der Wiedergeburt. Diese Idee ist der Widerspruch gegen das Schicksalswort vom Untergang. Sie gibt erst die rechte Einsicht in das Werden und Wandeln der Kulturen, das Kommen und Gehen der Nationen, sie zeigt, wo die Epochen, die Lebenszeiten der Vlker beginnen und enden. Kein Volk brauchte vor einem »Zu spt« zu stehen. Wenn es, nachdem es sich verirrt, den Weg wieder geht, der zu seinem Eigensten hinfhrt, wenn es so zu seinem Charakter wieder hingelangt, so erfhrt es einen neuen Anfang, eine Renaissance. Es vermag ber sein Ziel zu entscheiden, ber Sein und Nichtsein, ber den Gang der Auslese. Wo Machtverlangen, Gewalt und bermut alles bestimmen sollen und damit alle Volkskraft in seine Fehler hineingeleitet wird, dort wird die Auslese der Geschichte zur Auslese der Schlechtesten und Unsittlichen und damit zur innerlichen Zerstrung. Wo dagegen die Volkswerte, die Ideale sicher lenken, dort ist die Auslese der Geschichte eine Auslese der Besten; die drren

1. Dtn 30,15.

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Die Ehe als Geheimnis und Gebot

Bltter fallen ab, und die starken Zweige bleiben, es bleibt der »berrest«, von dem der Prophet spricht, dieser »heilige Same«. 1 Darum ist die jdische Geschichte die klassische Widerlegung der Lehre vom Schicksalsgesetz und Untergang. Sie erzhlt davon, wie das jdische Volk Lebenskraft und Jugend immer wiedergewonnen hat, wenn es sein besonderes Problem, seine besondere Bestimmung, die ihm sein Schpfer in sein Leben eingepflanzt hat, wieder erfaßte, wenn es zu seinem eigenen Leben, zu seinem Judentum zurckkehrte. Nur wenn der Jude sein Judentum verlor, dann stand er unter dem Schicksalsgesetze des Abstieges – bis daß er sein jdisches Leben und damit den neuen Anfang wieder erlangte. In der jdischen Geschichte tritt es so am eindrucksvollsten vor uns hin, aber es hat im Dasein auch eines jeden Volkes, das seine Stelle in der Geschichte besitzt, seine Wahrheit. Stehen wir am Ende oder vor einer Wandlung der Geschichte Europas? Wo das bloße Gesetz der Entwicklung vor dem Blicke steht, dort wird er nur Aufstieg und nur Abstieg sehen, dort hat jedes Jahrhundert nur seine Stimmung himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrbt. Erst wenn die Vlker das Gebot ihres Weges, dieses Gebot der Entwicklung erkennen, dann gewinnen sie ihre Freiheit und ihren Weg; den, der zu ihrem Leben fhrt. Auch fr die Geschichte gilt das Wort des Propheten: »Kehret zu mir zurck, und ich werde zu euch zurckkehren, spricht der Ewige der Heerscharen.« 2 Das ist das Wort von der Entwicklung und der Wiedergeburt. Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde zu Berlin 14 (Mai 1924): S. 79-80.

* Die Ehe als Geheimnis und Gebot Sein eigentliches Lebenslos, die Grundtatsache seines Lebens ist jedem Menschen gefgt und bereitet worden. Das Erste und Entscheidende seines Lebens hat er nicht gemacht, sondern es hat ihn gemacht. Er hat das Los der Geburt empfangen, ohne seine Wahl ward er geboren. Aber eine andere Bindung seines Lebens, die von gleicher Schicksalsbedeutung ist, von gleichem Vermgen des Fgens und Umschließens, wird vom Menschen selber bewirkt, sie gehrt seinem Wollen und Tun zu. Wenn zwei Menschen sich durch 1. Jes 6,13. 2. Sach 1,3.

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die Ehe vereinen, dann werden sie einander zu einem Schicksalsbeginn, der das Schicksalsgebiet ihres Lebens wird. Mag wie immer Wunsch und Wahn, die Gewalt des Anziehenden und das Verhngnis des Berckenden sie ergriffen und gehalten haben, es ist doch so, daß sie einander nun ihr Lebensgebilde, ihren Erdenbezirk, ihres Gesichtes Kreis bestimmen. Es ist so, daß zwei Menschen einander ihr Leben geboren werden lassen. Das andere Lebenslos, die andere Tatsache des Lebens wird die Ehe. Fr das, was einer ist, wird es entscheidend, wie er sich zu den Tatsachen seines Lebens verhlt, ob sie fr ihn nur da sind, oder ob sein Empfinden und Denken sie erfaßt. Alles Empfinden und Denken richtet sich im letzten immer auf das Geschick hin. Das Geschick ist der Seele bleibende Heimat auf Erden. Die Linie zwischen dem Heiligen und Profanen erstreckt sich hier. Es gibt nichts Gewhnlicheres, nichts Banaleres als ein Schicksal, das im Empfindungslosen und Gedankenlosen bleibt, und nichts Sinnvolleres, nichts Vornehmeres als ein Schicksal, das empfunden und gedacht wird. Die Geburt, die der Mensch empfangen hat, kann es ihm so sein, das eine oder das andere. Und ebenso die Ehe, die er geschlossen hat. Sie kann ihm das Heiligtum des Lebens bedeuten, und sie kann die Trivialitt des Daseins werden, seine Plattheit, in der alles Eigene versickert. Indem eine Tatsache, im Empfinden und Denken ergriffen wird, hrt sie auf, in sich schon zu gelten. Sie wird zum Ausdruck von etwas. Und aller Ausdruck im Menschlichen ist Ausdruck des Geheimnisses oder, was dasselbe besagt, des Unendlichen und Ewigen, denn als Geheimnis tritt das Unendliche, Ewige in unser Dasein ein. Ausdruckslosigkeit ist Geheimnislosigkeit. Was sich im Endlichen und Begrenzten erledigt und erschpft, ist ausdruckslos. Wahres Empfinden und Denken ist in seinem Grunde dieses Empfinden und Denken des Geheimnisses. In ihm erst erschließt sich der Sinn unseres Lebens, alles Letzte kann nur in ihm gesagt sein. In Gott ist jedes Geheimnis letzte Klarheit, im Menschen ist letzte Klarheit das Geheimnis. Das Verborgene ist das Auftuende; offenbaren kann sich nur das Geheimnis. Dichtung und Gestaltung, das Wissen, das ein Glauben ist, das Denken, das ein Schauen ist, kommen aus der Kraft, die hieraus hervorwchst. Der Mensch, um dessen Wesen ein Licht scheint, ist der Mensch des Geheimnisses. So hat Rembrandt in seinen spten, grßten Jahren den Menschen gemalt, den Menschen als Ausdruck des Geheimnisses. So sind in der Bibel die Menschen. Das ist die Antwort auf die Frage der Ehe auch: Ehe ist Ausdruck des Geheimnisses. Jene Linie zwischen dem Banalen und Heiligen 180

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dehnt sich hier. Wenn die Ehe nur als etwas da ist, was zwischen zwei Menschen ist, von ihnen geschlossen, wie so viele sich zusammenschließen, dann kann sie, gewiß, eine ehrbare und ntzliche sein, die beiden Menschen knnen viel freinander tun, und sie knnen das auch erfllen, was so oft als die moralische Aufgabe der Ehe bezeichnet wird, das Natrliche in den Bereich des Sittlichen emporzuheben. Es gibt eine Ehe, welche bewußte Trivialitt ist, und vielleicht ist sie von manchem Standpunkte aus die beste; die sogenannte gute Ehe ist meist sie. Was sie entbehrt, ist das Ethische, das doch ein anderes ist als moralische Wohlanstndigkeit, als Einfgung in die Sitte der Zeit und das Gesetz des Staates. Ethik der Ehe ist Ethik der Offenbarung, zu der die Ehe wird, sie wurzelt in dem Gottesgeheimnis, das zwei Menschen ineinander erleben. Das schließt sie fr das Leben zusammen. Die Ethik der Ehe kann, man mchte fast sagen, nur eine mystische sein. Verbundenheit im Geheimnis, Verbundenheit fr immer, sucht ja jede Mystik; so gern nimmt darum die religise Mystik ihre Bilder von der Ehe her. Wie wenig ist doch, was selbst ein Kierkegaard als das Besondere der Ehe hinstellt, daß sie dauernde Offenheit und volles Vertrauen bedinge und fordere. Nur das Banale kann die stete Offenheit haben. Das Letzte im Menschen kann sich wohl offenbaren, aber nie aussprechen. Zwei Menschen, jeder mit seinem Ich, mit seinem innersten Glck und Leid, zwei Schicksale stehen einander gegenber und wollen zu einem werden. Diese Spannung reicht ber alle gepredigte Moral hinaus. Das Geheimnis in ihr erleben und es hten und aneinander glauben, das ist die Ethik der Ehe. In dem, was sie fordert, ist dann lebendige Kraft, und nicht bloß der Satz des Tugendkatechismus, auch deshalb schon, weil darin die stete Sehnsucht lebt. Alle Sehnsucht auch ist Sehnsucht nach dem Geheimnis. Sie ist nicht ein Begehren danach, etwas zu gewinnen, was man nicht hatte, etwas, dessen man entbehrte, zu erlangen. Sie kommt nicht von den Sinnen her und ist nie auf ein Krperliches, Begrenztes, Irdisches gerichtet, sondern immer auf das Verborgene, auf das, was unter allem Erfaßbaren, als die Tiefe des Lebens, lebt. Sie will nicht eine Vermehrung, eine Hinzufgung, eine Ergnzung, ein Fllen eines Leeren. Sehnsucht kommt aus der Flle; die Erflltheit, die Ganzheit des Menschen hegt sie. Sie ist eine Spannung: eine Gewißheit, die ein Fragen, eine Habe, die ein Suchen ist, ein Glck, welches dichtet; alles Glck dehnt sich zu Geheimnis hin. So hat der Mensch die Sehnsucht nach dem Geheimnis seines Ich, nach der Unendlichkeit und Ewigkeit, aus der er geschaffen, die Sehnsucht zu jenem hheren, weiteren Leben, das sein Leben ist. 181

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So hat er die Sehnsucht nach dem Geheimnis des Du, die Sehnsucht, daß er das Geheimnis, welches er in sich erfhrt, in der Verbindung mit dem anderen Menschen erlebe. Mancher vermag von jener ersten Sehnsucht so ganz in die Tiefen gefhrt zu werden, daß diese andere in ihm sich nicht regen mag. Dem Genie kann es so gefgt sein. Ihm allein kann das Recht und die Macht der Ehelosigkeit gewhrt bleiben. Aber diese andere Sehnsucht, die, welche sich in der Ehe offenbart, ist Sehnsucht, gleich wie jene, und in ihrem Tiefsten auch ein Geniales wie sie, ein Geniales, das in dem Menschen auch, der ohne das Genie des Gestaltens ist, sich begibt. Sie erhlt die Ehe zwischen zwei Menschen lebendig, in ihr spricht sich jenes Ethische der Ehe aus. Sie hat ihr Bleibendes, weil es sie zum Ewigen hinzieht; Sehnsucht ist Lebenssehnsucht. Es gibt keine Sehnsucht fr Stunden. Sie ist die Treue der Ehe. Auch alle Treue ist in ihrem Grunde Treue gegen das Geheimnis. Der Oberflche, dieser wandelnden, brechenden, alternden knnten wir nicht treu sein. An dem Ergnzenden knnte uns nur die Stetigkeit des Gewohnten, die so oft mit der Treue verwechselt wird, festhalten. Wir knnen treu sein nur gegen das Geheimnis, das immer gleiche, immer gegenwrtige, immer junge, das immer sich offenbarende. Der Untreue ist der Geheimnislose. Ihm offenbaren die Tatsachen seines Lebens nichts, nicht die eine, welche er empfangen, und nicht die andere, welche er bereitet hat. In der Treue beweist der Mensch, daß ein Seiendes, ein Wesen seines Daseins in ihm ist, ein Bleibendes im Kommen und Gehen seiner Tage. Das Wesen der Ehe ist: Treue von Geheimnis zu Geheimnis. Um des Geheimnisses und der Treue willen ist die Ehe in unserem Leben. Ohne die Treue wrde sie nur Ergnzung fr schwindende Stunden sein und nur Gelegenheit der Sinne, Erregung, die in der Niedergeschlagenheit endet, etwas, was durch sein Werden stirbt – nicht stirbt, um zu werden, sondern wird, um zu sterben. Durch die Treue ist sie der Glaube von Mann und Frau aneinander, an das Geheimnis, das beide umfngt. Alles Geheimnis ist das eine. So fern der eine Gott ist von den Gttern, so fern und geschieden ist das Geheimnis von den Geheimnissen. Geheimnisse sind Geheimnisse der Stunden und Augenblicke, das Geheimnis ist das Geheimnis des Lebens. Auch der Tod endet es darum nicht. Er endet die Geheimnisse, aber nicht das Geheimnis, wie er die Stunden beschließt, aber nicht das Leben. In den Geheimnissen wird der Sinn fr das Geheimnis vernichtet. Sie sind das, was nur unter der Oberflche ist und an ihr bleibt und an ihr festhlt; sie scheinen Tiefe und sind Seichtheit. Sie enthllen und zeigen, aber 182

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Die Ehe als Geheimnis und Gebot

sie offenbaren nicht; ils parlent toujours et ne disent jamais rien. 1 Geheimnisse sind Spiele mit ihren Zwielichtreizen, das Geheimnis ist das ernste Heiligtum der Seele, das Eine, welches das ganze Herz verlangt. Heimat des Geheimnisses ist die Ehe, und darum kann sie nur die Ehe des einen mit der einen sein. Der Bruch der Ehe ist der Verrat des Geheimnisses an die Geheimnisse. Darum wird er den Propheten Israels ein Gleichnis fr den Verrat gegen Gott. Gott, der Eine, wird verkauft fr die Gtter. Geheimnisse haben ihre Verlockungen, das Geheimnis hat sein Gebot. Keine Offenbarung kann dem Menschen zukommen, die nicht auch forderte. Darin, daß es zum Gebote wird und nie ohne das Gebot ist, erweist sich das Geheimnis; seine Wahrheit, seine Echtheit hat darin das Kennzeichen. Geheimnis ohne Gebot ist Trugbild der Tiefe. Der ewige Grund bedeutet immer auch die ewige Aufgabe, diese stete Richtung mit ihrem Ziel, ganz wie das allein wahrhaft Aufgabe und Ziel ist, was aus dem Geheimnisse hervorkommt. Wieder tritt hier die Ethik der Ehe hervor, und sie gewinnt nun ihr Unbedingtes, ihr Kategorisches. Das gibt ihr das Unbeirrbare und Unminderbare, daß sie nicht aus menschlicher Einrichtung kommt, sondern aus dieser Tiefe hervorwchst. Menschen, die zum Geheimnis der Ehe einander geworden, sind damit einander zum Gebote der Ehe geworden. Sie haben sich verbunden, und fr ihr Leben verbunden zu sein, ist ihnen damit zum Gottesgebot geworden. Ihr ganzes Leben sollen sie durcheinander verwirklichen und gestalten. Das Geheimnis hat sie an dieses Gebot gebunden, ohne dieses Gebot kann keine Ehe sein. Sie wre sonst nur ein Spiel mit einem Schemen des Geheimnisses. Das Gebot ist das Absolute der Ehe, und es erhebt damit aber auch ber alle bloße Gebundenheit und alles Schicksal. Auch einer Gefahr steht es entgegen, die in die Ehe besonders hineintritt, der Gefahr des Alltags. Auf dem blumigen Pfade der Poesie war die Ehe geschlossen worden, in den Bereich der Prosa wird sie hingefhrt. Das ist die graue Gefahr der Ehe. Die heranwachsenden Kinder, diese sich gestaltenden, sich nahenden, sich entfernenden Rtsel, knnen neue Poesie in die Jahre hineintragen, aber auch um sie will zu bald sich die Alltglichkeit herumlegen. Es ist selten, daß die Ehe an der Tragik bricht; es ist ein Hufiges, daß sie an der Prosa stirbt. Im Alltag, der den ganzen Raum gewonnen, leben zwei Men-

1. Franz.: »Sie reden stndig, aber sie sagen nie etwas«.

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schen, die einander alltglich geworden sind, nebeneinander – die Ehe als Prosa. Nur das Gebot kann dem begegnen. Das Gebot der Ehe gilt dem ganzen Leben, und es zieht darum auch die kleinen und geringfgigen Stunden in seinen Kreis. Es wird zum »Gesetze« der Alltglichkeit, alles soll seine Erfllung sein. Um das Geheimnis zu hten, um das Gebot zu wahren, soll das Kleine sein Gottesdienstliches haben, seine Poesie gewinnen. Nichts darf neben dem Gebote hergehen. Dem Alltag der Ehe soll seine Freiheit gegeben sein, die ihn ber das Begehrende und Niederziehende emporhebt, diese Freiheit durch das Gesetz. Das ist das große Wagnis, welches die Frmmigkeit vollbringt, ihr »sapere aude«, 1 daß sie die Religion in den Alltag hineinstellt, mit ihr seine Stunden ergreift, die Stunden der Prosa: »wenn du sitzest in deinem Hause und wenn du gehst auf dem Wege, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.« 2 Dieses Wagnis erreicht sie auch in der Ehe. Auch die Tragik kann vor der Ehe stehen. In Drang und Rausch oder in der Tuschung des Blicks knnen Menschen einander finden, ineinander das Geheimnis verlangen, Menschen, die dann einander zum Widerspruch und zur Aufreibung des Lebens werden. Menschen knnen allmhlich auch einander gegenstzlich, einander anders werden. Es ist das Problem der Trennung der Ehe, der Zerbrechung ihres Gebotes, der Auseinanderreißung ihres Geheimnisses, das hier sich erhebt. Dieses Problem ist nicht das der Ehe bloß, es ist ebenso das der Geburt. Auch das eigene Leben mit seinem Gebilde und mit seinem Gemchte kann den Menschen zum Widerspruch und zur Aufreibung werden, und das Problem der Trennung von dem eigenen Leben steigt vor ihm auf. Nicht geringer und nicht minderen Ernstes als die Frage des Handanlegens an das eigene Leben, der Scheidung vom Erdendasein ist die Frage des Handanlegens an den Lebensbund, den man geschlossen, der Scheidung der Ehe. Was die eine bedeutet, dieselbe Schwere, bedeutet die andere. Nur aus diesem ganzen Ernste heraus darf sie an den Menschen herantreten. Knnen zwei Menschen, die einander zum Geheimnis, einander zum Gebote geworden sind, voneinander gehen? Und wenn die Worte der Tafeln zerbrochen werden – das alte Gleichnis sagt: »Die Buchstaben leben weiter.« Das Gebot des Lebens, fr das ganze Leben ist immer ein Weg, der zur Tragik auch hinfhren wird. 1. Lat.: »Wage zu wissen!«. 2. Dtn 6,7.

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Es gibt ein Nein der Tragik, das Nein, welches der Mensch spricht, der, nicht im Wahn oder in der Furcht, sondern aus der Tragdie heraus selbst seinen Erdenweg endet. Und es gibt ein Ja der Tragik, das Ja, welches emporhebt und vershnt, in welchem das Gebot spricht, das zuletzt doch berwindet und befreit. Geheimnis und Gebot ist die Ehe, ganz wie die Geburt, ganz wie dann das Kind. Die Geburt des Menschen, seine Ehe und dann das neue Leben, das Kind, das von ihm ausgeht, das sind die drei Tatsachen, in denen das Leben wird und sich verwirklicht – geboren werden und gebren und der Bund der Ehe, der beides verbindet. Man kann nur sie alle, sie drei zusammen verneinen, nie das eine ohne das andere. Nur wer die Geburt und das Kind verwirft, kann die Ehe verwerfen. Und zusammen nur knnen sie bejaht sein. Sie sind das große Ja des Lebens. In ihnen spricht das Ja der Antwort, in der der Mensch seinem Gotte antwortet. Und so wird die Ehe selbst zum Gebote. Es ist das Gebot, Leben zu geben und Leben zu erziehen. So hat einer der alten Weisen des Judentums es gemeint, als er sagte: »Der Mensch, das Ebenbild des Ewigen, das ist: Mann und Frau – nicht der Mann ohne die Frau, und nicht die Frau ohne den Mann, und nicht Beide, wenn Gott nicht wohnt, wo sie wohnen.« 1 Offenbarung des Ebenbildes des Ewigen, das ist die Ehe in ihrem Geheimnis und ihrem Gebot. Das Ehe-Buch, eine neue Sinngebung im Zusammenhang der Stimmen fhrender Zeitgenossen. Hg. Hermann Keyserling. Celle, [1925]. S. 392-398.

* Okkultismus und Religion Es ist oft versucht worden, einzelne wissenschaftliche Erkenntnisse als fr die Religion wesentlich hinzustellen. Man glaubte dadurch zur Religion einen wissenschaftlichen Zugang zu erffnen, im Namen der Wissenschaft zu ihr hinfhren zu drfen. Kants großes Verdienst ist es, daß er dem entgegengetreten ist. Weder die Wissenschaft noch die Religion htte von diesem Bndnis auf die Dauer einen Nutzen gehabt. Die Wissenschaft nicht, denn manchen ihrer Stze wurde, weil die Religion von ihnen ausgeht, ein besonderer Charakter gegeben, ein dogmatisches Geprge wurde ihnen aufgedrckt; sie sollten jeder Kritik enthoben sein. Sie bedeuteten dar1. Gen Rabba 22,4.

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um eine Hemmung oder eine Verlangsamung des wissenschaftlichen Fortschritts. Aber ebenso wenig und noch weniger hat dieser Bund fr die Religion ein Gutes gebracht. Denn sie wurde durch ihn mit dem Schicksal wissenschaftlicher Stze in eins gesetzt; waren diese in Zweifel gezogen oder widerlegt, so schien auch sie dadurch in Frage gestellt. Die Selbstndigkeit und Eigenart der Religion ist hierdurch immer gefhrdet worden. Eine Neigung zu solchem Zusammenschluß hat sich besonders dort eingestellt, wo die Menschen okkulten Phnomenen nahe treten wollen, das heißt Erscheinungen, in denen verborgene, bisher nicht erkannte Krfte des seelischen Lebens und der Weltwirklichkeit sich offenbaren sollten. In ihnen vor allem sollte das All der Religion sich auch erschließen. Sie scheinen in eine Welt hineinblicken zu lassen, die hinter unserer Welt als eine Welt tiefsten Grundes und wirklichen Seins liege, in eine Welt des Jenseits, in die Welt auch, in die der Tod hinein trge. Jene Welt, zu der sonst nur das Ahnen und seine Dichtung hinauszogen, scheint nun der Beobachtung und dadurch der Wissenschaft sich zu erschließen. Es ist kein Zweifel, daß es in dem weiten Bereiche des Unterbewußten Bezirke seelischen Lebens gibt, die bisher nicht erforscht sind und deren Aufdeckung neue wichtige Erkenntnisse gibt und in Aussicht stellt. Es sei nur an die Bereicherung erinnert, welche die Seelenkunde seit lngerem durch die Tatsachen der Suggestion und der Hypnose und jetzt durch das neu erschlossene Gebiet der Psychoanalyse erfahren hat. Auch die Religions-Psychologie hat dadurch wichtige Einsichten gewonnen. So manche Vorgnge im Seelenleben der Propheten werden uns jetzt deutlicher. Die Wissenschaft von der Religion wrde sich selber berauben, wenn sie hieran vorbergehen wollte. Aber das, was durch die Beobachtung okkulter Vorgnge sich hier erffnet, ist, so hoch auch der wissenschaftliche Wert eingeschtzt werden mag, fr die Religion als solche ohne wesentliche Bedeutung. Es ist das, was den Propheten Israels mit den Sehern anderer Vlker gemeinsam gewesen ist und was in Israel selbst ein Primitives der Religion darstellte. Das, worin der israelitische Prophetismus sein Charakteristisches und Eigentmliches hat, worin er seine weltgeschichtliche Stellung besitzt, bleibt vllig unabhngig von irgendwelchen okkulten Phnomenen. Nicht vermge von Erlebnissen im Gebiete des Okkulten sind die Propheten das, was sie sind. Ihr Eigenes und Besonderes ist davon vllig unabhngig. Was sie zu Propheten macht, ist einerseits das kategorische Gebot, das sie sprechen heißt, dieses Nichtandersknnen, dieses Erfahren der Of186

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fenbarung, diese Ausschaltung alles persnlichen Trachtens und Strebens, und andererseits vor allem der Inhalt dessen, was sie sprechen, das Neue, das Große, das sie verknden. Das, was sie geschaffen haben, ist, wie in allem Genialen, das Entscheidende. Die Religion, die von ihnen herkommt, ist abseits aller Sphre des Okkulten. Ein Gutes kann, ganz abgesehen von den wissenschaftlichen Ergebnissen, die Erforschung der okkulten Gebiete haben. Sie hat die Erkenntnis dessen gefrdert, daß der Bezirk des Bewußten nur ein Teil und wohl nur ein kleiner des Seelenlebens ist. Damit wird der Begriff davon gegeben, daß die Linien unseres Lebens weiter verlaufen, als die Beobachtung des zu Messenden und zu Berechnenden zeigt. Der Sinn fr die Hintergrnde des Lebens ist damit lebendiger geworden, fr das, was heute auch Schicksal genannt zu werden pflegt. Ein Weg zu etwas Weiterem kann damit auch erffnet sein, der Weg zum Verstndnis des Geheimnisses. Gerade fr die Einsicht in den israelitischen Prophetismus ist dies von großem Wert. Als um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die moderne Theologie den geschichtlichen Platz, den er einnimmt, deutlicher zu erkennen begann, erfaßte man vor allem mit gutem Grunde die neuen ethischen Werte, die er geschaffen hat, die neue Sittlichkeit und den neuen Gottesdienst, die neue Frmmigkeit und die neue Hoffnung, die er gelehrt hat, und man war dazu geneigt, Wesen und Eigentmlichkeit der Propheten nur darin zu finden, daß sie eine neue Ethik verkndet hatten. Man betrachtete sie oft ein wenig professorenhaft und allzu brgerlich. Ein Zwiefaches wurde dabei bersehen. Zunchst das – geistig, nicht politisch – Revolutionre der Propheten, die Tatsache, daß sie eine Entwicklung, die sich bis dahin vollzogen hatte, verwarfen und vernichteten, daß sie Gedanken, die bisher herrschten, zerbrachen, daß sie ein vllig neues Prinzip in die Welt der Religion einfhrten. Und sodann wurde es nicht gengend beachtet, daß alles, was die Propheten verkndeten, in dem Geheimnis, welches sie erfuhren, wurzelte, ihnen ein Erlebnis des Unergrndlichen war. Ohne das wren sie nicht Propheten gewesen. Diese Verbundenheit mit dem Geheimnis hat ihnen auch die Kraft des Revolutionren gegeben. Dem Verstndnis dafr kann vielleicht in gewissem Maße die Erforschung der okkulten Phnomene dienen. Aber mehr vermag sie, soviel sie an sich auch bedeutet, der Religion nicht zu geben. Sie kann im Gegenteil oft von der Religion fortfhren. Denn wenn das Okkulte das Ziel der Sehnsucht vieler wird, so spricht darin nicht selten nur eine triviale Neugierde, die wie jede bloße Neugierde se187

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hen und wissen mchte, wo sie nicht sieht und nicht weiß, jene Ehrfurchtslosigkeit, die alles zu haben und alles zu verstehen meint. Es gibt keine Religion ohne die Ehrfurcht, ohne die Andacht gegenber dem Geheimnis. Und vor allem: okkulte Erkenntnisse sind noch keine Religion, nicht einmal ihre Peripherie, geschweige denn ihr Mittelpunkt. Wenn sie Religion sein sollen, dann bildet sich ein Religionsersatz, der Name einer Religion ohne ihren Gehalt, eine Technik an Stelle der Gebote, der Anschein ohne die Wirklichkeit, eine jener Ersatzreligionen, die zumal in bergangszeiten nicht selten sind. Sie knnen wirkliche oder vermeintliche Erkenntnisse, Fhigkeiten und Fertigkeiten gewhren. Aber sie haben nicht das, worin die Religion ihr Eigenes erst besitzt, das Gebot Gottes, den Weg, der dem Menschen gewiesen ist. Am Gottesgebot scheidet sich die Religion von der Ersatzreligion. Die wahre Frmmigkeit hat den Respekt vor jeder Wissenschaft, vor jeder neuen Erkenntnis, vor der des Okkulten wie vor der jeden anderen Gebietes. Aber ihr Eigenes vernimmt sie in dem Worte: »Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der Ewige von dir fordert, nicht anderes, als Recht zu tun, Liebe zu ben und in Demut zu wandeln mit deinem Gotte.« 1 Jdisch-liberale Zeitung. 13. Mrz 1925. S. 1.

* Vorwort zu Aim Pallire. Das unbekannte Heiligtum In einem steht das jdische religise Schrifttum, literarisch betrachtet, hinter anderen zurck; es weist keine »Bekenntnisse« auf. Ihm fehlt ein Werk, das neben den Konfessionen Augustins oder den Beichten Kierkegaards seinen Platz htte. Wenn einer von diesen Bchern herkam, mag er es hier entbehrt haben. Aber, was literarisch als ein Mangel erscheint, ist im Religisen wohl ein Besseres oder zum mindesten ein Besonderes. Eine Eigenart des Judentums spricht sich darin aus. In ihm ist der Mensch immer und unmittelbar vor Gott hingefhrt, in die Unendlichkeit und Ewigkeit hineingestellt. Was ist dann aller menschliche Zweck, was ist Gott gegenber auch alle literarische Absicht und Kunst! Wenn hier das Ich sein Ir-

1. Mi 6,8.

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Vorwort zu Aim Pallire

ren und Finden gekndet hat, so ist das literarische Streben weit fern geblieben, eher ist, unbewußt, das Gegenteil wirksam geworden. Das Ich hat hier gesprochen, nur wenn es in seiner Not hat sagen mssen, wie es sucht und bangt und doch gewiß ist. Das Gebet ist hier die Rede des Ich von sich selbst. Nicht an die Menschen, geschweige denn an einen Kreis von Hrern oder Lesern, an ein Publikum, richtet sich dieses Wort, in welchem die Seele sich auftut – oder an die Menschen eben nur, weil das Ich, wenn es, von seinem Innersten und Eigentlichsten redend, Gott fragt und ruft, nicht das eine bloße Ich nur ist, sondern der Mensch, in welchem die Menschen, jeder, in dem das gleiche ringt und strebt, sprechen. Das »Bekenntnis« ist das Kind eines Geistes, der ein anderer ist als der jdische, der biblische. Er stammt aus der Welt der griechischen Redekunst und Sophistik. Wenn Augustin seine »Konfessionen«, die Geschichte seiner Bekehrung geschrieben hat, wenn er darin mit seiner Meisterschaft sein Leben zur Bhne macht, auf der er seine Seele auftreten lßt und sein Ich darbietet, damit die Menschen es sehen und hren, wenn er in aller Hingegebenheit sich doch niemals der geistreichen Formel und des Wortspiels entschlgt, so hat er damit ein Buch, ein Kunstwerk verfaßt, das ganz in die Geschichte der griechischen Rhetorik hineingehrt. Sie hatte solches gewollt, gekonnt und gelehrt; er ist auch hier ihr Schler. Aber gerade hier scheidet sich die Welt der Bibel von der Griechenlands und darum bleibt ja die Bibel auch in der griechischen Sprache ein so ungriechisches Buch, und im Neuen Testament zeigt sich gelegentlich gerade an diesem »Bekennen«, wo die Grenze zwischen hier und dort ist. An einem Augustin und an den Großen, die seinen »Konfessionen« folgten, bis zu Kierkegaard hin, lßt die wunderbare Begabung diesen Zug zur bloßen Dialektik der Selbstbetrachtung, zur Kunst der Selbstbespiegelung oft vergessen. Aber das Absichtliche ist meist bei ihnen auch nicht zu verkennen. Dieses Absichtliche ist immer das Kennzeichnende und Entscheidende. Nur die Naivitt des reinen Dichtens vermag, neben der Reinheit, der Ungewolltheit, des Betens, den Menschen von den Faltungen und Wandlungen seiner Seele sprechen zu lassen, ohne daß er ein großer oder kleiner Artist, ohne daß er ein Rhetor oder Schauspieler wird. Und wenn mit ihrer kleinen Absicht die kleinen Geister es tun, so ist es nur immer wieder ein Kapitel aus dem Buche von dem menschlichen Trachten, gesehen zu werden, von der mannigfaltigen Eitelkeit, die sich freilich, wenn sie religise Eitelkeit ist, so gern Demut nennt. Vieles, vielleicht das meiste dessen, was als »Bekenntnis«, als religise Erweckung oder Bekehrung vor die Menschen hingetreten ist, gehrt dahin. 189

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Die Ausnahmen sind selten. Darum ist es ein seltenes Buch, das hier vor den deutschen Leser hingefhrt werden soll. Es ist das Buch von einer Bekehrung zum Judentum oder richtiger von einer Entwicklung zum Judentum hin; denn eine eigentliche Bekehrung im ußeren Sinne, einen bertritt, zeigt es nicht auf. Das gerade ist sein Charakteristisches. Denn das Sachliche, das Objektive, und die Idee sind in ihm immer das Bestimmende, das, um dessentwillen es geschrieben ist. Nirgends tritt ein gewollt Persnliches, ein Trachten, das Ich in ein Drama des Weges und eine Glorie des Zieles zu stellen, hervor. Nichts von einer Darstellung oder auch nur Darbietung des Ich ist in dem Buche. Das Ich steht eigentlich niemals hier im Mittelpunkt; es ist zumeist fast an die Peripherie der Erzhlung gerckt. Nichts auch von einem Hineinfhren des Ich in das Außerordentliche und das Wunderbare ist darin, nichts von dem, was sonst in einer Bekehrungsschrift das bliche ist. Der Mensch, von dem das Buch spricht, ist immer nur zu einfachen Menschen und schlichten Ereignissen in Beziehung gesetzt; das Große kommt nur von den Gedanken her, die groß gedacht sind. Diese Bescheidenheit und Reinheit, diese wahre Demut, die sich auch in der bleibenden Ehrerbietung gegen die Religion zeigt, von der dieses Menschen Weg fortgefhrt hat, ist fr das Buch kennzeichnend. Die absichtslose große Sachlichkeit, das Unartistische und Unspielerische gibt ihm seinen Gehalt, seine Besonderheit. Aber in dieser Objektivitt tritt berall das Persnliche des Menschen mit seiner Bestimmtheit und seinem Reiz hervor. Von einem Sohne der katholischen Kirche, der von ihr in seiner Kindheit und Jugend umfangen worden ist, kommt dieses Buch. Das, was ihr eigen ist und ihr einen Reichtum gibt, der weite Gesichtskreis, der Sinn fr das Große, Umfassende, in dem sich die Zeiten einen und die Lnder verbinden, und darum auch fr die Tradition und die Bestndigkeit, der Sinn dann fr das Symbolische, der hinter dem Tage das Ewige, hinter der wechselnden Sttte das stete Unendliche erfaßt, alles das lebt in diesem Manne und spricht sich in dem aus, was er hier schreibt. Und es ist ein Franzose, der es schreibt, ein Mann aus diesem Volke, das reich ist an dem tapferen Streben, den Widerspruch zwischen Idee und Wirklichkeit zu berwinden, reich darum an Missionaren des Glaubens wie an Vorkmpfern der Gerechtigkeit und Freiheit, reich darum auch an Mnnern, die dem Gedanken seine ganze Deutlichkeit geben wollten. Auch wenn das Buch es nicht erzhlte, die Art dieses Menschen wrde es uns knden, welcher religisen Welt und welchem Lande er entstammt – er, dieser eigene Mensch, der Eigenes zu uns spricht, denn er wchst ins 190

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Vorwort zu Aim Pallire

Eigene, ins Persnliche hinein, er gestaltet ein Persnliches aus diesen Gaben, die er ererbt und empfangen hat. Neben ihn tritt in unserem Buche mehr und mehr eine der eigentmlichsten Gestalten aus dem Judentum des vorigen Jahrhunderts, der Rabbiner von Livorno, Elia Benamozegh. 1 Was dieser Mann vor einem halben Jahrhundert predigte, hat manches, was in unseren Tagen neu gelehrt wird, vorweggenommen. Es war eine Gunst des Lebens, die den jungen Katholiken, der im Judentum seine Religion suchte, zu diesem Manne hingefhrt hat. Was er besaß und was er doch anders begehrte, konnte er von ihm wieder empfangen. In einer Zeit, in der viele unter den Rabbinern das Judentum zu einer bloßen Theologie, wenn nicht zu einer zu behandelnden Historie gemacht hatten oder hatten werden lassen, war es fr Elia Benamozegh die große Antwort geblieben, welche die ganze Menschheit, ja das Universum meinte. Ihm war sein Judentum ein menschheitliches, ein »katholisches« Prinzip, und noch mehr als das: ein kosmisches Prinzip. Es war ihm die Religion der Welt – der Welt im Sinne der Vlkergesamtheit wie im Sinne des Kosmos. Er begriff, wie die Geschichte des Judentums weit ber die eigentliche Gemeinde seiner Bekenner hinausgreift, und die alte talmudische Lehre von der Religion der »Shne Noahs« 2 gewann damit fr ihn einen neuen Inhalt. Und die Menschheit konnte er nicht ohne das Universum verstehen und auch das Universum so nicht ohne die wirksame Kraft des Judentums; diese alten mystischen Gedanken waren ihm seines Denkens Leben. Wie immer man ber seine Theorien urteilen mag, der große Zug, das Zeugnis der Wahrheit war ihm alles. Und er fragte darum nicht zuerst, welcher Schritt des jungen Menschen, der zu ihm herankam, der jdischen Gemeinde mehr oder minder ntzlich sein werde, oder welcher Schritt diesen selbst zu leichterem oder schwererem Wege fhren werde. Er fragte vorerst, was der Wahrheit entspricht und was groß ist. Aber im Mittelpunkte unseres Buches steht doch, auch wenn es nicht gewollt war, sein Autor, der Mann, der es geschrieben hat, nicht um von sich, sondern um vom Judentum zu sprechen. Und damit steht hier im Mittelpunkte ein Problem, das der jdischen Mission. Unter den jdischen religisen Problemen hat es heute seine besondere Bedeutung. Von wo aus einer immer seinen Standpunkt 1. Elia Benamozegh (1822-1900). Beeinflußte Aim Pallires spirituelle Entwicklung hin zum Judentum. 2. Sieben biblische Gesetze, die von den Rabbinen fr Nicht-Juden als ebenso bindend angesehen wurden wie fr Juden.

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nimmt, ob von einem Gebiet in sich gefgter jdischer Heimsttte oder von den jdischen Gemeinden berall in der Welt, vor jedem, dem seine Religion mehr ist als eine bloß ererbte oder erworbene Gewohnheit seines Lebensbezirkes, vor jedem steht diese Frage, was seine jdische Religion der Welt zu verknden hat, welches ihr Platz in der Welt ist. Und es ist fast eine persnlichste Frage; denn der Jude wird am letzten Ende nur so viel vor sich selber und nur so viel vor der Welt gelten, wie seine Religion ihr zu sagen vermag und zu sagen bereit ist. Die Not hatte den Menschen des Judentums lange nur darauf hingewiesen, sich in seiner religisen Eigenart zu erhalten, also nur zu sich und den Seinen von der Kraft und Grße seiner Religion zu sprechen. Aber eine Zeit hat geendet, und eine Zeit hat neu begonnen. Fr das Judentum ist es ein Gebot dieser Zeit, dort wieder anzuknpfen, wo einst das Geschick eine Entwicklung abgerissen hatte, die Aufgabe des Wortes an die Welt wieder zu begreifen. Es wrde eine Aufgabe einer Wiedergeburt sein, der Wiedergeburt, welche Mensch und Gesamtheit nur selbst sich bereiten. Unser Buch betont es in eindrucksvollen Stzen, wie die jdische Religion die eigentliche Lebenskraft einer jdischen Gesamtheit ist. Das Judentum gibt den Juden ihre Geschichte und Zukunft. Eine Lebenskraft, zumal eine so starke wie die des Judentums, kann wohl eine lange historische Periode hindurch in sich ruhen. Aber schließlich muß sie doch wieder, wenn sie nicht verkmmern soll, sich zu dehnen und zu weiten beginnen. Gewiß liegt die wesentliche Kraft der Religion in dem religisen Individuum, und nicht die Zahl ist darum in ihr das Entscheidende. Aber eben um das, was dem religisen Individuum gegeben sein soll, um den wirksamen Ausdruck des Universalismus handelt es sich hier. Auch das ist richtig, daß die Verbreitung der Juden ber die Lnder, ber die verschiedenen Atmosphren der Welt hin und der dadurch ermglichte lebendige geistige Austausch eine seelische Inzucht verhten kann. Aber die Gefahr der Verkleinlichung bleibt heute trotz alledem. Nur ein Atmen in der großen Menschheitswelt, das Bewußtsein, um ihretwillen zu leben, gibt den großen Zug, der eine Religion erst wahrhaft eine Religion sein lßt. Dieses Problem ist das Wichtigste, was unser Buch uns sagt. Das Buch bringt noch anderes uns nahe, so daß wir aufhorchen. Es erzhlt, wie stark den religisen Menschen, der von draußen kommt, die Besonderheit des jdischen Gottesdienstes, der eigene Stil, den dieser sich geschaffen hat, erfaßt. Es erzhlt, wie die hebrische Bibel und das hebrische Gebet eine seelische Wirkung ausben, wie die heilige Sprache ein Unnennbares, das nur empfunden 192

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und erlebt werden kann, in sich schließt. Es erzhlt, wie eine jdische Predigt, wenn sie nur wie Reden sonst sein will, dem Fremden als eine Verkleinerung der jdischen Religion erscheint. Das alles sollte uns aufmerken lassen. Aber es tritt doch zurck hinter das Eigentlichste, was uns hier gesagt ist, hinter diesen Grundgedanken, daß das Judentum zur Welt hingewiesen ist, so wie die Welt des Judentums bedarf. Keine Bekehrungsschrift ist trotzdem dieses Buch. Ein religiser Mensch will hier nur erzhlen, was er gesehen, was er erfahren, was zu ihm gesprochen hat. Gerade dadurch gibt es so viel, denn es gibt Gedanken. Es will nachdenken machen, uns Juden und die anderen. Aim Pallire. Das unbekannte Heiligtum. Berlin, 1927. S. 1-10.

* Die jdischen Gemeinden Fr die deutschen Juden hat der Ausgang des Weltkrieges seine besonders ernsten, sorgenschweren Folgen gehabt. Die Landesteile, welche im Westen und Osten abgetreten werden mußten, waren Gebiete mit einer verhltnismßig zahlreichen jdischen Bevlkerung. Noch mehr als die Zahl bedeutete ein anderes: sie umschlossen viele lebensfhige und lebenswillige Mittel- und Kleingemeinden. In ihnen, die von Geschlecht zu Geschlecht wie eine große Familie waren, hatte die Religiositt eine Wurzelhaftigkeit und Traulichkeit, deren die große Gemeinde entraten muß. Sie gaben dem einzelnen sowohl ein lebendiges Gemeinschaftsgefhl wie das persnliche Bewußtsein eines Wertes fr das Ganze. Etwas von dem, was Wilhelm Raabes 1 Wort meint, der deutsche Genius komme von der Gasse der Kleinstadt her, zeigte sich auch an dieser Frmmigkeit. Auch an ihr ist oft erfahren worden, daß der kleine Daseinsbezirk Krfte schafft und der große sie dann verzehrt. Unter dem Anwachsen der Großstdte, wie es die kapitalistische Zeit in einer bitteren Notwendigkeit brachte, hatte das jdische Gemeindeleben schon schwer zu leiden, umso mehr als hier die starken, festhaltenden Krfte des platten Landes fehlten, da die land1. Wilhelm Raabe (1831-1910). Deutscher Schriftsteller und einer der bedeutendsten Vertreter des poetischen Realismus.

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wirtschaftlichen Berufe hier Jahrhunderte hindurch verwehrt gewesen waren. In den großen Stdten hatten sich aus den Menschen der kleinen die großen Gemeinden gebildet, sie hatten oft auch deren Religiositt aufgebraucht. Der verlorene Krieg fgte nun zu diesem Gewordenen, Allmhlichen das Jhe hinzu, er nahm eine Flle kleiner Gemeinden fort. In dem Opfer an Menschenleben, von dem zwlftausend Gefallene zeugen, und in dem Opfer an Heimat und Gut stehen die deutschen Juden neben den anderen im Vaterlande, in der Einbuße an Gemeindeleben sind sie hrter noch betroffen worden. Vor allem ergab es so der Verlust von Posen und Westpreußen und auch von Ostoberschlesien. Hier waren Sttten einer auch geistig sehr regsamen jdischen Religiositt gewesen, ein Boden fruchtbarer Kraft fr das große Ganze. Die Menschen aus diesen Gebieten wanderten, mit geringen Ausnahmen, aus der Heimat fort, in der seit altem ihre Familien gewohnt hatten, sie wollten Brger ihres Vaterlandes bleiben; dieser Auszug der Juden aus Posen und Westpreußen ist eines der geschichtlichen Ereignisse unserer Zeit. Wurden diese Menschen damit der deutschen Judenheit auch erhalten, so waren ihre Gemeinden doch verloren. Die weitaus meisten hatten zudem die Großstadt aufgenommen, sie bot die mannigfaltigeren Wohnungs- und Erwerbsmglichkeiten. Eine noch grßere Gemeinde war nun da, aber kein Ersatz, weder dem einzelnen noch der Gesamtheit, fr die vielen kleineren Gemeinden. Auf den Rckgang der Geburtenziffer, eine Folge der fortschreitenden Verstadtlichung, der schon vor dem Kriege die Sorge geweckt hatte, und den die Kriegs- und Nachkriegszeit hatte anwachsen lassen, hat diese Umschichtung dann weiter hingewirkt. Ein betrbendes Ergebnis weist die Volkszhlung von 1925 auf. Die Zahl der Juden im Deutschen Reiche betrgt danach 564379, neun Tausendstel der Gesamtbevlkerung. Dies besagt, fr das dem Reiche gebliebene Gebiet, zwar eine Zunahme von 29257 Seelen seit dem Jahre 1910, aber sie ist so gering, daß sie, bevlkerungspolitisch, eine Abnahme bezeichnet. Sie wird zudem noch durch die Tatsache eingeschrnkt, daß im Jahrzehnt zuvor ein, allerdings meist berschtzter, Zuzug aus Osteuropa erfolgt war. Whrend des Krieges waren ostjdische Arbeiter nach Deutschland gebracht worden, um leer gewordene Pltze auszufllen; die Wirren und Nte der folgenden Zeit hatten dann andere noch, Menschen aller Berufe, nach dem alten Nachbarlande, mit dem sprachliche, geistige und wirtschaftliche Beziehungen verbanden, gefhrt. Fr die meisten ist Deutschland nur ein Durchgangs194

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gebiet fr wenige Jahre geworden. Einen Ausgleich des Verlustes haben sie nicht geben knnen. Zu all dieser Einbuße im Lande kam die an Weltgeltung. Seit dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, diesem Beginn der neuen Zeit im Judentum, waren in ihm die deutschen Juden, zumal wenn dieses Wort im Sinne des großen deutschen Sprachgebietes genommen wird, die fhrenden geworden. Die bestimmenden religisen Gedanken waren von ihnen ausgegangen, ihre Theologie und Philosophie hatte den Weg zu den Juden aller Lnder genommen, im sozialen und kulturellen Wirken fr die Gesamtheit standen sie vornan. Die geistige Geschichte der Juden im neunzehnten Jahrhundert ist ganz wesentlich eine Geschichte der deutschen Juden. Auch der deutschen Sprache war damit ein weitreichender Einfluß gewhrt, sie war die Sprache der Wissenschaft vom Judentum geworden. In der Judenheit der alten und neuen Welt bedeuteten die deutschen Juden weit mehr, als es ihrer Zahl entsprach. Die Niederlage Deutschlands hat vieles von dieser Geltung zunchst in Frage gestellt; auf die Fhrung so manchen gemeinsamen Werkes mußte vorerst verzichtet werden. Der allgemeine Verlust Deutschlands in seiner Stellung in der Welt war so noch ein ganz besonderer Verlust, den die deutschen Juden erlitten. Verschrft hat alles dieses der Rckgang und Niedergang der Vermgen, wie ihn die Jahre des Whrungsverfalls dann brachten. In den jdischen Gemeinden, in denen einerseits der alte feste Besitz, andererseits die Besitzlosigkeit selten war, hat er die breiten Schichten getroffen. Diese, in denen herkmmlicher Fleiß, ererbte Sparsamkeit und reger Familiensinn oft einen Wohlstand geschaffen hatten, waren die eigentlichen Trger der vielfltigen Leistung, die das Gemeindeleben ausmachte. Durch die Entwertung des Geldes, welche diese Kreise besonders heimsuchte, ist damit die Gemeinde in ihrem Knnen berall schwer beeintrchtigt worden; viele, welche in der Frsorge und im Wohltun immer die Gebenden gewesen waren, mußten jetzt Empfangende sein. Im Gefolge dieser Verarmung, die in ihrem Umfange den Außenstehenden wenig bekannt ist, trat bisweilen eine Verelendung ein. Eine Tatsache spricht hier deutlich. Whrend die jdische Wanderfrsorge sich vor dem Kriege fast ausschließlich Auslndern zuwenden mußte, waren in diesen anderen Jahren unter denen, deren sie sich anzunehmen hatte, zu einem Drittel Personen deutscher Staatsangehrigkeit. Von den Gemeinden konnte ihre Aufgabe so bisweilen kaum erfllt werden; manche unter ihnen waren nicht einmal mehr in der Lage, einen Beamten angemessen zu besolden. Aber die Not zog 195

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ihren Kreis noch darber hinaus. Es war alte jdische Auffassung, daß das Wohltun jedem einzelnen als Pflicht obliege, und daß der Bedrftige einen religisen Anspruch auf Hilfe habe. Infolgedessen erstreckten sich hier die freie Wohlfahrtspflege und die geordnete Liebesttigkeit recht weit, und eine stete Opferwilligkeit diente ihnen. Neben ihnen stand als Angelegenheit der Gesamtheit dann auch die Frsorge fr die theologischen Bildungsanstalten, fr die Pflegesttten der Wissenschaft des Judentums; sie waren ein besonderer Stolz der deutschen Judenheit und stellten einen Teil ihrer Weltgeltung dar. Auch sie, welche freie Fakultten waren, ohne die Frderung seitens des Staates, hatte die Bereitwilligkeit der einzelnen geschaffen und erhalten. Jetzt waren die Stiftungen entwertet und die Beitrge versiegten. Die Pflichten, die bisher innerhalb der Gemeinschaft erfllt waren, mußten nun unmittelbar von der, schwcher gewordenen, Gemeinde bernommen werden, so daß sie wiederum von ihren leistungsfhigen Mitgliedern noch mehr beanspruchen mußte. Die Anforderung war eine betrchtliche, und sie hat hier und da, zusammen mit dem Anreiz von kirchenfeindlichen Gruppen her, zum Austritt aus der Gemeinde gefhrt, den die neuen, gesetzlichen Bestimmungen ohnehin erleichterten. So war der Notstand groß, und er gibt erst den Maßstab, um die Arbeit zu wrdigen, die fr Erhaltung und Aufbau vollbracht worden ist. Eigene Krfte haben sie im wesentlichen durchgefhrt. Wohl sind in der schwersten Zeit staatliche Aushilfen und Beihilfen gewhrt worden, wohl wurde den Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen ein Beistand von auslndischen, ganz vornehmlich amerikanischen Glaubensgenossen zuteil. Aber das Entscheidende ist die Selbsthilfe gewesen. Das erste Erfordernis war, die Gemeinde enger zusammenzuschließen, um das Knnen der strkeren planmßig fr die schwcheren nutzbar zu machen. Es konnte nur durch eine Freiwilligkeit geschehen, vor allem in dem wichtigsten Gebiete, in Preußen, das zwei Drittel der deutschen Judenheit umfaßt. Die Gemeindeverhltnisse waren hier durch ein Gesetz von 1847, das noch in Kraft ist, geregelt. Dieses war aus Gedanken und Bestrebungen hervorgegangen, welche der jdischen Religionsgemeinschaft nicht wohlwollend waren. Es lehnt jeden kirchlichen Begriff einer jdischen Gesamtheit, jeden rechtlichen, verbindlichen Zusammenhang der Gemeinden ab; es erkennt nur die Gemeinde fr sich und als einzelne an. Ohne es zu wollen, war es damit allerdings einer Eigenart entgegengekommen, die sich im Judentum entwickelt hatte. Dieses ist, vermge des Verlaufes seiner Geschichte, mehr in der Form der Ge196

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meinde, kongregationalistisch, als kirchlich verfaßt; es ist darin dem Kalvinismus und dem Puritanertum verwandt. Die Gemeinde als solche ist hier Trgerin der religisen Einrichtungen. Was lebendige geschichtliche Eigentmlichkeit geworden war, wurde nun in Preußen starr gesetzlich zugewiesen. Eine fast unbegrenzte Unabhngigkeit der Gemeinde ist angeordnet, eine jede ist wie ein Staat fr sich. Das hat, wie jede Kleinstaaterei, sicherlich auch sein Gutes gehabt. In jeder Mannigfaltigkeit konnte sich das Gemeindeleben gestalten, jede Besonderheit war mglich, und der Wetteifer wurde geweckt. Aber daneben standen die Nachteile. Auch die kleinste Gemeinde war auf sich selber gestellt, und das besagte doch nur zu oft, daß sie ihrer Ohnmacht berantwortet sein sollte. Schon vor dem Kriege, besonders mit der Verkleinerung der kleinen Gemeinde, waren diese Schden sichtbar geworden; nur hatte die durchschnittliche Wohlhabenheit und die damit verknpfte Opferfhigkeit – in nicht wenigen Gemeinden betrugen die Gemeindesteuern, zu denen meist noch freiwillige Spenden kamen, weit mehr als 100 % der Einkommensteuer – sie nicht so bedrohlich in die Erscheinung treten lassen. Es war damals auch einiges zu ihrer Abhilfe geschehen. Der 1869 gegrndete Deutsch-Israelitische Gemeindebund hatte, vor allem auch in Preußen, den Schwachen manchen Beistand geleistet; aber seiner Ttigkeit fehlte das feste Gefge. In zwei Provinzen, Hannover und Hessen-Nassau, besaßen die Gemeinden, von der vorpreußischen Zeit her, eine gewisse behrdliche Zusammenfassung; aber sie kam eben nur diesem einen Gebiete zu Gute. Allgemein mußte in der Not der Tage die Vereinzelung der Gemeinde und die Verkmmerung, die daraus folgen konnte, ganz zum Bewußtsein gelangen. Die neuen Aufgaben, die sich so ergaben, verlangten die neuen Formen des Zusammenschlusses. Aus diesem Erfordernis hervor ist der Preußische Landesverband jdischer Gemeinden geschaffen worden, der sich nach vorbereitender Ttigkeit dann auf Grund allgemeiner Wahlen im Jahre 1925 konstituierte. Trotz einzelner Mngel, die ihm noch anhaften, so einer berorganisation, diesem Entgegengesetzten gegenber dem Frheren, hat er bereits in den wenigen Jahren seines Bestehens segensreich gewirkt; er hat es vermocht, den Gemeinschaftswillen zu festigen, einen Ausgleich in der Leistung zwischen den Gemeinden anzubahnen. Dieser Zusammenschluß konnte dann auch eine stetige und gesicherte Beziehung zu den staatlichen Stellen herbeifhren. Es wurde schon sehr bald erreicht, daß, auf Antrag der Regierung, der preußische Landtag Beihilfen an berlastete Gemeinden in seinen Haushalt einstellte, um 197

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ihnen die Frsorge fr den Religionsunterricht zu ermglichen oder zu erleichtern, und um ihren Lehrern und Rabbinern ein Mindesteinkommen sowie eine Alters- und Hinterbliebenenfrsorge zu sichern. Diese Zuweisung hatte ihre materielle und noch mehr ihre moralische Bedeutung; denn sie zeigte einerseits den wirksamen Wert der Zusammenfassung und gab andererseits die Gewißheit, mit dieser eigenen Arbeit in die große staatliche eingefgt zu sein. Die Bereitwilligkeit, Opfer zu bringen, wurde damit gefestigt. Dieser eigentliche Landesverband umfaßt den bei weitem grßten Teil der preußischen Gemeinden aller religisen Richtungen; nur einige wenige blieben eigenbrdlerisch bei Seite. Eine kleine orthodoxe Sondergruppe begrndete einen eigenen Verband, um ihre besonderen Aufgaben und Interessen zu pflegen. In mancher Beziehung gnstiger hatten die Verhltnisse in den sddeutschen Staaten gelegen. Hier bestanden seit langem festere Zusammenfassungen, zum Teil solche ffentlich rechtlicher Art, denen auch staatliche Mittel zuerkannt waren. Aber hier stellte sich dafr die Abwanderung und Abnahme der jdischen Bevlkerung vor ernste Fragen; in Bayern betrug diese Verminderung mehr als zehn, in Hessen mehr als fnfzehn Hundertstel. Auch hier ist die Aufgabe bald begriffen worden; die gegebenen Bindungen wurden verstrkt, neue geschaffen. Ein hnliches gilt von den wichtigsten außerpreußischen Gebieten Norddeutschlands. Vornehmlich ist hier Sachsen zu nennen, in dessen Gemeinden die große Zahl von Zugewanderten gewisse Schichtungen und bisweilen Gegenstze bewirken konnte, die ihren Ausgleich verlangten. Zwischen allen diesen Landesverbnden besteht eine Arbeitsgemeinschaft, die wohl in Blde die bestimmtere Verfassung eines Reichsverbandes der jdischen Gemeinden Deutschlands gewinnen wird, als Vollendung des Werkes einer selbst gewollten neuen Ordnung. Neben dieser Zusammenfgung der Gemeinden, und zum Teil vor ihr, vollzog sich eine Zusammenfassung der Wohlfahrtspflege. Jener alte, immer festgehaltene Grundsatz, daß die soziale Hilfeleistung einem jeden als seine Pflicht zugewiesen sei, hatte eine Flle von einzelnen und mit einander verbundenen Krften, von Individualitten und Vereinen regsam gemacht. Aber dieser, vor allem menschlich wichtige, Vorzug hatte den Nachteil eines hufigen Nebeneinander und Durcheinander; in der Art, wenn auch nicht in der Wirkung, des Wohltuns konnte bisweilen eine gewisse Verschwendung liegen. Die alte Zeit des Wohlstandes konnte dies noch mglich erscheinen lassen; die harte Gegenwart mußte dem zu begegnen suchen. Man konnte an manches anknpfen, was vor dem Kriege er198

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kannt und begonnen worden war; damals schon hatte man dahin gestrebt, alles, was vorhanden war, und was sich bettigen wollte, planmßig zusammenzufgen, und bereits im Herbst 1917 war dann die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden begrndet worden. Es war allerdings, hnlich wie in den Gemeindeverbnden, leichter, sie zu begrnden, als sie durchzugestalten. Es war auch mit ihr, hnlich wie dort, eine Gefahr verbunden, die jede Organisation begleitet, die aber im Wohlfahrtswesen noch mehr besagt, die Gefahr der Brokratisierung, durch welche an die Stelle der persnlichen Leistung vieler die beamtete Ttigkeit einiger tritt. In allem Wesentlichen ist es hier aber gelungen, die Wohlfahrtspflege fast berall zur Gemeinsamkeit und Einheit der Arbeit zusammenzufgen und doch in den einzelnen das Bewußtsein persnlicher Verpflichtung lebendig bleiben zu lassen. Durch den Zusammenschluß war dann auch hier die maßgebende Vertretung gegenber den Behrden und gegenber den anderen Wohlfahrtsverbnden sowie die Zusammenarbeit mit ihnen ermglicht. Auch hier sind dadurch Hilfsmittel von den Lndern und vor allem vom Reiche erwirkt worden; in verstndnisvoller und mannigfaltiger Art wurde diese Frderung, zunchst auf Grund des Finanzausgleichgesetzes und dann vornehmlich durch Kredite an die Anstalten, gewhrt. Der erreichte Weg bot auch den einzelnen Gruppen der Wohlfahrtspflege die Bahn, so dem jdischen Frauenbunde und der Hauptstelle fr jdische Wanderfrsorge. Neue Richtungen konnten gewiesen, neue Gedanken verwirklicht werden. Wie alle Einrichtungen der deutschen Judenheit kam dieser Gemeinschaftswille ihren Schulen der Wissenschaft zu Gute. Hier htte auch nur der Stillstand einen Rcktritt bedeutet. Man erkannte, daß man durch ideale Gter einbringen mßte, was an materiellen verloren war; man ging bewußt dieser Idee aus den einstigen Tagen von Preußens Erhebung nach. So sind gerade in der schwersten Zeit die drei theologischen Anstalten ausgebaut worden; durch neue Lehrsthle und durch neue Aufgaben wurde der Kreis der Arbeit erweitert. Neben ihnen ist dann 1919 in großzgigem Plan durch die Tatkraft und Opferwilligkeit einiger Persnlichkeiten ein Forschungsinstitut geschaffen worden, das den Beginn einer Akademie fr die Wissenschaft des Judentums bilden soll. In gleicher Weise haben die verschiedenen Gesellschaften, die der fachgemßen oder volkstmlichen Verbreitung dieser Wissenschaft dienten, ihre Ttigkeit stetig weiterzufhren und auch auszudehnen vermocht. So viel immer wieder von der persnlichen Opferfhigkeit verlangt werden mußte und muß, so war allen diesen mannigfaltigen Bedrfnissen 199

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doch jetzt in ihrem Notwendigsten, dank den Landesverbnden, eine gewisse Sicherheit gewhrt. Und wie berall war hier im Geben zugleich ein Empfangen: die Leistungen haben neuen Willen zur Einheit geschenkt. Diese vielfache Bereitwilligkeit wurde mglich, weil sie aus dem Religisen erwuchs. Hiervon kann mit wenigen Worten gesprochen sein, aber es ist das Wesentlichste, das im Tiefsten Geschichtliche. Den deutschen Juden ist seit altem eine ernste und klare Verbundenheit mit ihrer Religion eigen, der Sinn fr das, was die Zeiten eint; die Juden in den rheinischen Landen, ihrer ltesten deutschen Heimat von anderthalb Jahrtausenden her, hießen einst weithin bei ihren Glaubensgenossen »die frommen Deutschen«. Das neunzehnte Jahrhundert mit all dem Vernderten und in mancher Beziehung Revolutionren, das es brachte, hat dann hier manchen Blick beirrt; die neuen Tage haben bisweilen kurzsichtig oder auch blind fr das Bleibende gemacht. Sie hatten auch ihr Auf und Nieder, und daneben gab es die Verschiedenheiten nach Generationen und Landschaften; das Radikale blieb allerdings hier selten. Schon in den Jahren vor dem Kriege war danach, besonders von der Jugend und auch von der Jugendbewegung her, ein lebendigeres Gefhl fr das Geheimnis, fr den seelischen Wert des Religisen wieder rege geworden und hatte mannigfach seine Gestaltungen und Formen gesucht; man hat damals schon von einer jdischen Renaissance gesprochen. Erlebnisse im Kriege und nach ihm, Erfahrungen von dem, was ber das Land und was ber die Gemeinde hinausreicht, haben dann vielfltig das religise Empfinden vertieft, das religise Streben verstrkt. Die Angriffe auf Juden und Judentum haben eben dahin gewirkt, sie haben den religisen Besitzesstolz geweckt und gefestigt, dieses Bewußtsein von dem seelischen Gut, das man von den Vtern berkommen hatte. Wenn alles, was die Zeit fgte, manche auch zu extremen Gedankenrichtungen, die vom Judentum fortfhrten, hingezogen hat, im Wesentlichen ist eine bestimmtere Frmmigkeit erwacht, und alle Richtungen im deutschen Judentum haben ihren Anteil an ihr gewonnen. Aus ihr hervor konnten erst die Bereitschaft und die Entschiedenheit kommen, die in den Gemeinden das Werk auf sich genommen haben, zu sorgen, zu erhalten und zu festigen. Dieses Jahrzehnt ist auch hier eine Zeit der Geschichte wie wenige. Es ist schwer, von ihm ohne ein rhmendes Wort zu berichten angesichts der Not, die ber die jdischen Gemeinden wie selten ber eine Gemeinschaft hereingedrungen war, angesichts des Opfers und 200

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der Hingebung, der Geduld und des Zukunftsglaubens, die den Aufbau vollbracht haben. Sptere Geschlechter, denen die Ferne den Blick fr die Linien des Ganzen geben wird, werden die Grße der Leistung ganz wrdigen knnen. Zehn Jahre deutsche Geschichte, 1918-1928. Berlin, 1928. S. 439-444.

* Mensch und Boden Gedanken und Soziologie des Großstadtjuden Das 19. Jahrhundert hat fr die Juden Europas und vor allem Deutschlands eine wesentliche nderung ihres Lebensumkreises gebracht. Bis dahin war die kleine Stadt ihr Daseinsbezirk gewesen und mit ihr eine Nachbarschaft des Ackers, der Wiese und des Waldes. Wenn auch die unmittelbare Beziehung zum Erdboden seit Jahrhunderten, auch schon in Palstina, fr sie zumeist aufgehrt hatte, so war doch die eigentliche Trennung von dem Boden, von dem, was er den Sinnen, dem ganzen Empfinden und Denken gibt, nicht eingetreten. Er blieb im Lebensbezirk des Juden. Im 19. Jahrhundert begann alles das sich zu ndern. Die wirtschaftliche Umwandlung und die politischen Vernderungen fhrten den Juden besonders Deutschlands in die große Stadt hinein, in diese große Stadt, welche zudem von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sich mehr noch dehnte und immer weiter den Menschen umschloß. Die Juden in Deutschland sind heute schon zu einem wesentlichen Teile Großstadtmenschen. Und das bedeutet, daß ein Ursprnglichstes und Unmittelbarstes alles Daseins und aller Natur ihnen mehr und mehr in die Ferne gerckt ist. Sie leben auf dem Boden der großen Stadt, der anders als der Boden der Natur ein knstlicher, erst hergestellter ist. Sie leben nicht mehr in der Welt der Natur, und auch nicht in ihrer Nachbarschaft. Sie besuchen gleichsam immer nur fr gelegentliche, kurze und vorbergehende Zeiten die Natur, und selbst bei diesen seltenen Wegen zu ihr sind sie von einer Atmosphre der großen Stadt begleitet. Damit vollzieht sich nur zu leicht eine psychologische Wandlung. Das Ursprngliche, Unmittelbare und Natrliche kann dem Menschen verloren gehen. Alles, was ihn umgibt, ist ein Aufgebautes und Hergestelltes. Er erfhrt nicht oder nur oberflchlich und selten davon, daß es ein Wachsen, ein Werden und Entstehen gibt. Der große 201

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Rhythmus der Welt tritt nicht mehr an ihn heran. Er hat nicht mehr das große Erlebnis von Erde und Himmel. Zwischen ihm und der Erde ist die Straße der Stadt, ber die er hineilt. Zwischen ihm und dem Himmel sind die sich dehnenden Dcher mit ihren endlosen Reihen. Er erfhrt nicht mehr den Horizont, in welchem Himmel und Erde sich zu berhren scheinen. Auch das große Erlebnis des werdenden Morgens und des hereinbrechenden Abends hat er nicht mehr. In der Flle des knstlichen Lichtes, das von berall her, durch immer neue Technik immer blendender und fast aufreizend, sein Auge trifft, entschwindet fr ihn das Kommen und Gehen des natrlichen Lichtes. Er hat nicht mehr das große Erlebnis der Finsternis, des ernsten, dunklen Schweigens, des Friedens der herniedersteigenden Nacht, und er hat nicht mehr die große Erfahrung der auf- und niederziehenden Sonne, die am Himmel vor seinem Auge ihre Bahn geht. So sind die eigentlichsten, tiefsten Erlebnisse, welche die Natur schenkt, den Großstdtern vorenthalten. Das alles wirkt in das Empfinden und Sinnen hinein. Da der Mensch in der Großstadt mehr das Fertige als das Wachsende, mehr das Hingestellte als das Werdende sieht, so wendet sich auch sein Denken dem Fertigen, dem Hingestellten zu. Er hat fertige Urteile, abgeschlossene Meinungen, endgltige Ansichten ber alles und jedes. Das Geheimnis und das Rtsel hren auf, aus den Tiefen und Hintergrnden zu ihm zu sprechen, das Bedeutsame, das Symbolische verliert fr ihn Rede und Sinn. Er wird der bloße Rationalist, der Intellektualist, der berall Erreichtes und Erreichbares sieht. Damit verkmmert auch leicht dem Gefhl mehr und mehr die Verbindung mit seiner bleibenden Wurzel, mit dem Ursprnglichen des Lebens. An die Stelle des natrlichen Empfindens tritt die knstliche Bewegtheit, die Eile der Verdrossenheit und des Vergngens, an die Stelle der Freude tritt die Abwechslung oder die Erregung mit ihrem immer wandelnden Programm, an den Platz des verstehenden Humors tritt der ber alles abfllig sprechende Witz. Und fr den Juden gilt das vielleicht noch mehr als fr viele andere, da ihm das Erbe einer Geistigkeit von den Jahrhunderten her mitgegeben ist; sie kann nun zum bloßen Rationalismus und Intellektualismus werden. In den frheren Generationen hatte die Religion davor schon bewahrt, sie hatte alles Empfinden und Denken immer zu dem Urquell hingeleitet und hatte den Willen ber alles bloß Ntzliche und Verstandesmßige hinausgefhrt. Mit dem Schwinden der Religiositt entschwand auch dieses Gebende, dieses Helfende und Verhtende, und das Oberflchliche begann zu herrschen. Wenn diese Gefahr erkannt ist, dann ist auch ein wichtiger Weg 202

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der Heilung und Befreiung gewiesen. Es ist der Weg zum Boden zurck, zu seinem Urtmlichen und Ursprnglichen, zu alledem, was Erde und Himmel in ihrer Ursprnglichkeit, die Erde, auf der der Mensch steht, und der Himmel, zu dem er emporblickt, seinem Leben und seinem Wege gewhren. Wir wissen es, daß es nur fr wenige unter uns, nur fr Vereinzelte mglich sein wird, diesen Weg zu suchen und diesen Platz sich zu bereiten. Aber das, was diese wenigen tun und wozu wir alle ihnen helfen sollen, wird mehr und mehr fr die Gesamtheit eine Bedeutung gewinnen. In denen, welche nicht selbst sich zu der Verbindung mit dem Acker hinwenden knnen, wird nun die Teilnahme an ihm wiedergeweckt. Die, welche selbst zu ihm nicht hingehen, werden nun ihn ihrem Denken und Empfinden, in ihrem Ausblick und ihrem Verstndnis zu ihm hingewendet. Wenn auch nur wenige zu ihm zurckkehren, wenn aber dafr hinter ihnen die große Gesamtheit steht, durch ihren Beistand, durch ihre Erkenntnis, durch ihr Empfinden und Hoffen gleichsam mit ihnen geht, dann wird eine Verbindung mit dem Ursprung, ein Weg aus der großen Stadt zur Natur hinaus fr die auch vollbracht, welche in der großen Stadt bleiben. Aus dieser Gemeinsamkeit, welche Arbeit und Hilfe gibt, kann fr viele ein neues Fhlen und ein neues Denken, eine neue Gesundheit erwachsen. Der Schild 10.9 (1931): S. 68.

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Vorahnungen Mit dem wachsenden Einfluß der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik hatten die deutschen Juden zunehmend unter antisemitischen Ausschreitungen zu leiden. Obwohl sich niemand vorstellen konnte, was in den nchsten zwanzig Jahren geschehen wrde, sah Baeck schon eine große Gefahr in der Art, wie sich manche Deutsche gegenber den Juden und ihrem Glauben verhielten. In einem wahrscheinlich aus dem Jahre 1926 stammenden Brief an seinen Kollegen Caesar Seligmann, den liberalen Rabbiner in Frankfurt am Main, bemerkt Baeck, daß es immer blicher geworden sei (sogar unter manchen Juden), sich Deutschtum zu einer Ersatzreligion zu machen. Nachdem am jdischen Neujahr 1931 ungefhr eintausend Mitglieder der SA auf dem Kurfrstendamm Juden angegriffen hatten, schrieb Baeck, daß, wenn eine Person allen Respekt fr das verloren habe, »was dem Mitmenschen die Welt der Ehrfurcht ist, dann ist ihm alles wahre Ideale erstorben; die Rohheit ist ihm zum Ideal geworden«. Und seine Worte, die er als Vorwort fr einen kleinen Band mit dem Titel Friedhofsschndungen in Deutschland: 1923-1932 schrieb, muten hchst prophetisch an. Hier attackiert er nicht nur die schndlichen Taten selber, sondern auch das Versumnis, auf sie zu reagieren, und er schließt: »Aber wenn das Volk als solches, als ganzes mitschuldig wird durch Schweigen, durch Dulden, durch Zuschauen, dann zerstrt die Untat den Boden, auf dem allein das Volk besteht; er bricht unter ihm zusammen«. * Brief an Caesar Seligmann Berlin, 2. September [1926] Sehr verehrter Herr Kollege, es tat mir leid, daß Sie so frh schon abreisen mußten. ber das, was Sie zuletzt sagten, htte ich gern mit Ihnen noch gesprochen. Einige Zeilen sollen es ein wenig ersetzen. Es ist wahr, daß wir zwei Grnde unseres Wesens in uns entdekken. Wir entdecken sie in uns, und ganz ebenso jeder andere in sich, wenn er ein Denkender ist. Schon Kant hat gesagt, daß jeder Mensch ein Brger zweier Welten ist, und es gilt in viel weiterem Sinne noch als er es sagte. Jedem Menschen ergeben sich daraus Aufgaben und mit den Aufgaben Konflikte. Alles Martyrium ergibt sich daraus. Menschen gehren dem Reiche des Staates und dem Reiche Gottes 204

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Brief an Caesar Seligmann

an. Wessen Gesetzen sollen sie mehr gehorchen, wenn der Konflikt eintritt? Welcher Gewissenszwiespalt hatte an manch ehrlichem Pazifisten im Kriege gezerrt, welcher Zwiespalt zwischen den Forderungen des Nationalen und Internationalen an so manchem ehrlichen Sozialdemokraten! Wo es diesen seelischen Konflikt gibt, dort kann die Stunde kommen, wo es heißt, zu optieren – fr das Irdische oder das Ewige. kf Yrtam Yl'Yl 1 Optieren heißt, bereit sein, ein Mrtyrer zu werden, den Primat der Religion und ihres Gebotes anerkennen, ihren Primat gegenber allem. So haben es die Juden Spaniens getan, als die Frage: Gott oder Heimat? vor sie hintrat. Sie htten die Heimat behalten knnen, nur wenn sie die Religion verlassen htten, und um die Religion zu behalten, haben sie die Heimat verlassen. Auch die Juden Palstinas htten eine gleiche Entscheidung, wenn sie an sie herangetreten wre, getroffen, sie wren von dem Lande Israel fortgezogen, um dem Gotte Israels die Treue zu wahren. All solches Martyrium ist umso ernster, je strker das, was um des Hheren willen aufgegeben werden soll, an die Seele gekettet ist. Es ist ein geistiges und moralisches Unglck Deutschlands, daß viele Fhrende, seit langem, von den beiden Reichen nichts wissen, daß man aus dem Deutschtum eine Religion gemacht hat. Anstatt an Gott zu glauben, glauben sie – lutherische Pfarrer voran – an das Deutschtum. Es ist der eigentliche Nationalismus, wenn man nur das Volkstum und nicht die Welt Gottes kennt. (In parenthesi: Es ist die geistige de mancher Centralvereinler, 2 daß sie aus dem Deutschtum auch so eine Art Ersatzreligion fr sich machen wollen). Wo man der Welt Gottes fremd ist, dort bleibt man auch dem Martyrium fremd, dem, das man selber bewhren soll, wie dem, das andere beweisen. Weshalb ist denn die deutsche Revolution eine Revolution ohne Mrtyrer gewesen? Wo ist der Junker oder der Universittsprofessor, der fr die Hohenzollern zum Mrtyrer geworden ist? Weshalb begreift man im heutigen Deutschland das jdische Martyrium so wenig und so gar nicht? Wir Juden wurzeln tiefer als alle die anderen in der intelligiblen Welt, in der Religion. Wir sind das Volk Gottes, darum hat der Konflikt uns tiefer und hufiger – ja nicht nur hufig, sondern stetig – erfaßt. Dies ist der tragische Zug in unserer Geschichte – die Trag1. Gen 12,1. »Gehe aus deinem Vaterlande«. Gott gebietet Abraham, Mesopotamien zu verlassen und ins Gelobte Land zu ziehen. 2. Der 1893 gegrndete Centralverein deutscher Staatsbrger jdischen Glaubens setzte sich fr die staatsbrgerlichen Rechte der Juden Deutschlands und fr die Bekmpfung des Antisemitismus ein.

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Die Weimarer Jahre – Vorahnungen

die nicht im kleinen, brgerlichen, sondern im erhabenen Sinne, die Tragdie, durch die die Geschichte geistig und groß wird. Gerade diese letzten Jahre haben uns zu diesem Eigenen in uns strker hingefhrt, wir haben es tiefer wieder erfahren, wie wir im Reiche Gottes wurzeln. Die Jahreszahl des Datums auf dem Briefbogen ist durch einen Tintenfleck verdeckt. Es ist aber anzunehmen, daß es sich um das Jahr 1926 handelt. Leo Baeck Yearbook 2 (1957): S. 45.

* … alles wahre Ideale erstorben In manchem Tun und Streben, das uns widersteht oder uns zuwider ist, kann vielleicht doch ein noch so geringer idealer Kern enthalten sein. Wir sollten bemht bleiben, ihn zu suchen, und, knnen wir irgend ihn entdecken, ihn anerkennen. Eines wird immer der letzte Erweis sein, ob er, wie verborgen auch immer, vorhanden sei. Wer imstande ist, fr das Innerste und Tiefste, fr das Heiligtum des Anderen ein Empfinden zu bewahren, in dem wohnt doch noch etwas vom Ideal. Ist einer auch dieses Gefhls nicht fhig, versndigt er sich mit rohem Wort und roher Hand gegen das, was dem Mitmenschen die Welt der Ehrfurcht ist, dann ist in ihm alles wahre Ideale erstorben; die Rohheit ist ihm zum Ideal geworden. Seinem Beginnen und Trachten den idealen Kern noch zuzusprechen, das wrde bedeuten, sich selbst vom Gewissen loskaufen, dem sittlichen Gebote entweichen, das von uns fordert, das Niedrige zu verachten und zu verwerfen. Jede schmerzliche Erfahrung soll aber zu uns und von uns auch sprechen. Sie sollte erneut uns mahnen an Schlichtheit und Echtheit, an das, was zumal am Tage der Ehrfurcht und was auf dem Wege sich ziemt, der vom Hause des Menschen zum Gotteshause fhrt. C.V.-Zeitung 10.38 (Sept. 1931): S. 457.

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Vorwort zu Friedhofsschndungen in Deutschland

Vorwort zu Friedhofsschndungen in Deutschland Es gibt eine Geschichte menschlicher Worte, des Sprechens und Aufrufens von Menschen, aber es gibt auch eine Geschichte dessen, wozu Menschen geschwiegen haben, und sie ist eine Geschichte menschlicher Enge und Niedrigkeit. Wenn so oft Verbrechen und Untat sich weithin dehnen konnten, es ist fast immer geschehen, weil die Gewissen verschlossen und die Lippen stumm blieben, die sich zum Worte des Rechtes und der Sittlichkeit htten ffnen sollen. Schuldig sind die, welche ein Bses verben, aber schuldig, zumal vor dem Gericht der Geschichte, sind die auch, die einen Frevel sehen oder um ihn wissen und still dazu sind; sie sind die, welche, ohne es zu wollen, ihm erst den Weg bereiten. Nur wo Unfreiheit ist, kann die Gewalt ihre Bahn haben, und niemand ist unfreier als der, welcher stumm ist dort, wo er reden, wo er mahnen und warnen sollte. Wenn solches Schweigen ber dem Lande lastet, dann will eine Hoffnung noch daran festhalten, daß manche deshalb nur schweigen, weil sie von dem Frevel noch nicht wissen. Und es wird darum zur Pflicht, ihn jedem, der einer der Freien sein will, aufzuzeigen und darzutun. Es ist so eine Pflicht auch gegen Volk und Vaterland. In jedem Volke sind Unrecht und Snde; sie kommen und gehen, und das Volk bleibt. Aber wenn das Volk als solches, als ganzes mitschuldig wird durch Schweigen, durch Dulden, durch Zuschauen, dann zerstrt die Untat den Boden, auf dem allein ein Volk besteht; er bricht unter ihm zusammen. Vlker sind versunken, erst wenn sie vorher verstummt waren, wenn der Widerspruch gegen die Snde, der Spruch des Rechts seine Menschen nicht mehr gefunden hat. Es ist darum Hoffnung fr das Vaterland, darauf zu hoffen, daß die, welche erfahren werden, auch vermgen werden zu sprechen. Friedhofsschndungen in Deutschland: 1923-1932. Dokumente der politischen und kulturellen Verwilderung unserer Zeit. Hg. Central-Verein Deutscher Staatsbrger Jdischen Glaubens. 5. Aufl. Berlin, 1932. S. 1.

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Im nationalsozialistischen Berlin

Politisches Die Machtbernahme der Nationalsozialisten 1933 machte den deutschen Juden deutlich, wie sehr sie einer zentralen Organisation bedurften, die ihre Interessen gegenber der neuen antisemitischen Regierung Adolf Hitlers vertrat. Leo Baeck, weithin als geistliche und gemeindliche Fhrungspersnlichkeit respektiert, galt als berparteilich und wurde fast ausnahmslos als die Person angesehen, die am fhigsten war, einer derartigen Institution vorzustehen. Im September 1933 wurde er zum Prsidenten der Reichsvertretung der deutschen Juden (der spteren Reichsvertretung der Juden in Deutschland) ernannt, ein Amt, das seine weiterlaufenden Pflichten als Rabbiner und Lehrer zunehmend zeitlich beschrnkte. Whrend der Monate, die zwischen Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und der Grndung der Reichsvertretung lagen, gab Baeck ein Zeitungsinterview, aus dem hervorgeht, daß er zu diesem Zeitpunkt noch glaubte, es sei den Juden mglich, unter »den neuen Herren in Deutschland« zu leben. Politisch hatte Baeck der Linken nie nahe gestanden, und er nutzte die Gelegenheit, den Bolschewismus als den »heftigste[n] und erbittertste[n] Feind des Judentums« anzuprangern. Er brachte außerdem seine berzeugung zum Ausdruck, daß das Ideal der »Erneuerung Deutschlands« von den deutschen Juden geteilt wrde. Der Tod des Reichsprsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 war fr die deutschen Juden Anlaß zur aufrichtigen Trauer. Obwohl sich Hindenburg nicht als besonderer Freund der Juden erwiesen hatte, so war er doch der Auffassung gewesen, daß deren Loyalitt zu Deutschland, besonders die der Kriegsveteranen, anerkannt werden sollte. Sein Tod rumte das letzte Hindernis fr Hitlers Krieg gegen die Juden aus dem Weg. Eine Erklrung im Namen der Reichsvertretung und eine Gedenkrede, die Baeck in einem Gedenkgottesdienst in einer Berliner Synagoge hielt, bezeugen Baecks aufrichtigen Respekt fr den 209

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Im nationalsozialistischen Berlin – Politisches

Mann, der danach strebte, ber den Interessen politischer Parteien zu stehen. In seiner Gedenkrede vergleicht Baeck Hindenburg mit dem biblischen Abraham, den Jesaja als einen Fels beschreibt. Fr Baeck war Hindenburg wie Abraham: fest, herausragend und aufrecht wie ein Fels. 1934, etwas mehr als ein Jahr vor den Nrnberger Gesetzen, konnte Baeck noch immer von Deutschland als Vaterland und von »unserem deutschen Volke« sprechen. Aber der Antisemitismus hatte bereits gehssigere Ausmaße angenommen, nicht zuletzt in der Mai-Ausgabe Des Strmers, dessen Titelseite die Darstellung eines Ritualmordes einnahm, der angeblich von Juden begangen wurde. Im Namen der Reichsvertretung schrieb Baeck an den Reichskanzler: »Vor Gott und Menschen erheben wir gegen diese beispiellose Schndung unseres Glaubens in feierlicher Verwahrung unsere Stimme.« Derartige Proteste, so wurde wenig spter erkannt, waren nicht nur vergeblich, sondern konnten auch gefhrlich sein. * Das deutsche Judentum und die Erneuerung Deutschlands Die nationale deutsche Revolution, die wir durchleben, hat zwei ineinandergehende Richtungen: den Kampf zur berwindung des Bolschewismus und die der Erneuerung Deutschlands. Wie stellt sich das deutsche Judentum zu diesen beiden? Der Bolschewismus, zumal in seiner Gottlosen-Bewegung, ist der heftigste und erbittertste Feind des Judentums. Die Ausrottung der jdischen Religion ist in seinem Programm; ein Jude, der zum Bolschewismus bertritt, ist ein Abtrnniger. Die Erneuerung Deutschlands ist ein Ideal und eine Sehnsucht innerhalb der deutschen Juden. Mit keinem Lande Europas sind Juden in jahrhundertelanger Geschichte so tief und so lebendig verwachsen wie mit Deutschland. Keine Sprache Europas bedeutet fr sie soviel wie die deutsche. Wir Juden hier hegen den ehrlichen Wunsch und die ehrliche Hoffnung, daß wir in Ruhe auch unser Verhltnis zu den neuen Herren in Deutschland aufrichtig werden gestalten knnen. Auszug aus einem Gesprch mit dem Berliner Korrespondenten des »Intransigeant,« das Leo Baeck in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Deutschen Rabbiner-Verbandes fhrte. Israelitisches Familienblatt 35.14 (1933): 2. [6. April]

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Trauer um Hindenburg

Trauer um Hindenburg Tiefe innige Trauer um den Heimgang des Reichsprsidenten erfllt die deutschen Juden. Als ein Mann, dessen Persnlichkeit dem Gedanken der tapferen Pflicht seine Wirklichkeit gab, als ein Mann, der dem Alter, das die Bewhrung eines Lebens erwarb, seine Grße verlieh, als ein Mann, der das gemeinsame Ganze immer sah, immer auf das Vaterland, das alle umschließt, den Blick richtete, als ein Mann der Geschichte stand Hindenburg vor der Welt. In der Treue der deutschen Juden wird sein Bild alle Zeit bleiben. Depesche der Reichsvertretung der deutschen Juden an das Bro des Reichsprsidenten, unterzeichnet von Leo Baeck und Otto Hirsch. C.V.-Zeitung 13.32 (1934): 1. [9. Aug.]

* Ansprache auf der Trauergedenkfeier fr Reichsprsident Hindenburg Wenn in dieser Stunde des treuen Gedenkens die Gestalt des verewigten Reichsprsidenten vor uns steht so, wie manche von uns, Auge zu Auge seine Zge hatten sehen drfen, und wie sie jedem im Volke Jahr um Jahr immer vertrauter geworden waren, dann gewinnt fr uns ein Bild neue, persnliche Bedeutung, das am gestrigen Sabbath die Vorlesung aus dem Buche des Propheten Jesaja vor uns hingestellt hatte. Auf den Mann ist dort mahnend hingewiesen, den das Volk Israel als den Heros seiner Vergangenheit vor sich sah, auf Abraham, und er ist dort genannt: ein Fels. 1 Wenn irgend ein Vergleich uns das Eigentmliche des heimgegangenen Reichsprsidenten nahebringen kann, so ist es dieser. Wie ein Felsblock, ein aus der Ebene unvermittelt emporragender stand Hindenburg seit zwei Jahrzehnten vor den Augen des deutschen Volkes. Schon das Geschichtliche seines Lebens tritt in diesem Bilde vor den Blick. Es gibt Menschen, die in einem allmhlichen Aufstiege zu geschichtlicher Hhe gelangen; allmhlich, nach und nach, erfhrt ihr Volk und erfhrt die Welt um sie. Es ist das Bezeichnende an Hindenburgs historischem Geschick, daß, nachdem ein Menschenalter hindurch nur ein enger Kreis von dem Werte dieses Mannes gewußt hatte, nachdem das Lebenswerk und die Lebensfgung 1. Jes 51,1-2.

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dieses Mannes beendet schienen, er nun fast pltzlich in seiner Grße, in seinem Geschichtlichen vor der Aufmerksamkeit, vor der Verehrung der Menschen steht – wie ein einsamer Felsblock in der Ebene. Aber das Wort »Fels« hat in unserer Heiligen Schrift noch einen eigenen Gehalt. Es bezeichnet hier ein Wesen, das in sich ruht, das seine Sicherheit und Festigkeit, seine Bestndigkeit und Stetigkeit in sich hat, auf das darum ein Verlaß ist, immer der gleiche, derselbe Verlaß. So war es Hindenburg gegeben, das war sein Wesen. In allem Wandel der Erscheinungen und allem Wechsel der Geschehnisse rings umher blieb er immer er selbst, unbeirrt und unerschttert, immer fest und immer aufrecht, in sich ruhend, sich getreu. Sein Wesen blieb unberhrt vom Kommen und Gehen der Zeiten – ein Fels, der dastand. Darin hat er in den zwei Jahrzehnten, in die ein Schicksal sondergleichen zusammengedrngt ward, unserem deutschen Volke so Unvergleichliches bedeutet. Eine bleibende Mahnung, ist darin allen im Lande gegeben; sie spricht, weit ber diese Stunde hinaus, zu uns Menschen und unserer Art. Man knnte die Menschen in zwei Gruppen scheiden. Die einen, die leider so wenigen, vermgen festzustehen, auf ihrem Platze und in ihrer Gewißheit, sie vermgen in sich, in ihrer tiefen berzeugung, in dem Grunde ihrer Seele, in dieser Verbundenheit mit dem Gebote des ewigen Gottes die Kraft, das Licht, das Gesetz ihres Daseins zu besitzen, und sie vermgen darum zu den Menschen diese ihre Kraft, dieses ihr eigenes Leuchten hinzufhren. Sie sind, um dieses Bild auch zu gebrauchen, gleichsam Fixsterne des menschlichen Lebens. Und die anderen, die oft so vielen, sind gewissermaßen Planeten, planetarische Existenzen im Leben. Sie haben nur ein Bedrfnis und eine Fhigkeit, sich immer um einen anderen zu bewegen, von ihm die Art und den Kreis ihres Daseins, die Erscheinung und den Glanz ihrer Tage zu empfangen, allein durch einen anderen etwas zu sein. Bedeutsam spricht hier das Leben und Wesen des verewigten Reichsprsidenten zu uns allen, und es ist darin zu uns deutschen Juden heute auch manches gesprochen; denn unser Lebensrecht und unsere Lebensstrke sind durch das eine allein uns gewhrt, daß wir in uns, in der Gewißheit unseres Platzes, in der Gewißheit des Gebotes von Gott die Sicherheit unserer Tage besitzen. Aus dieser inneren Festigkeit, in der die Persnlichkeit Hindenburgs ihre Gestalt gewann, ergab sich das andere, wodurch er vor seinem Volke stand: die Bestimmtheit, mit der er ber alles Parteimßige erhaben blieb. Er hat immer daran festgehalten, daß er fr 212

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An den Herrn Reichskanzler Adolf Hitler

alle auf seiner hohen Stelle war, von ihm galt es sicherlich, daß er keine Parteien kannte. All jenes Parteitreiben, das nicht dem großen Ganzen dienen, sondern das große Ganze, das Gemeinsame sich dienstbar, sich ntzlich machen will, jenes Parteimßige, dem die berzeugung zum Mittel im Trachten nach dem Erfolge wird, das alles lag diesem Manne fern – auch zu uns deutschen Juden sollte hierin so manches sprechen. Er war ber den Parteien. Nichts war er darum weniger als ein Politiker, denn er war – es darf so gesagt werden, nicht eine Figur, sondern eine Gestalt. Darin wurzelte ja auch die unbeirrte, nie schwankende Vornehmheit seines Wesens. Das ist an dem so ruhigen, fast unbewegten Buche der Lebenserinnerungen 1 dieses Mannes ein Ergreifendes: auf keiner der Seiten dieses Buches steht irgend ein Wort einer Herabsetzung, geschweige denn einer Entehrung eines Gegners. Dieser Mann hat niemals durch die Erniedrigung eines andern sich eine eigene Grße herzustellen gesucht. Auch darin steht er seiner selbst gewiß da, aufrecht wie ein Fels. Tiefe, schmerzliche Trauer um seinen Heimgang erfllt uns deutsche Juden, uns inmitten aller im Deutschen Vaterlande. Es wird manche Stunde im deutschen Lande sein, in der viele Hindenburg herbeisehnen, sehnsuchtsvoll nach ihm hinblicken werden. Das, was er gewesen, bleibt als eine unvergngliche Gewißheit, als eine unbeirrbare Mahnung »Schauet hin zu dem Felsen!« 2 Hindenburg. Trauergedenkfeier in der Synagoge Prinzregentenstraße am Sonntag, den 5. August 1934 veranstaltet von der Bundesleitung und dem Landesverband Berlin und Mark des Reichsbundes jdischer Frontsoldaten. Druckschrift. Leo Baeck Institute Archives, New York.

* An den Herrn Reichskanzler Adolf Hitler Der »Strmer« verbreitet eine Sondernummer, 3 die unter ungeheuerlichen Beschimpfungen und mit grauenerregenden Darstellungen das Judentum des Ritualmords bezichtigt. Vor Gott und Menschen

1. Paul von Hindenburg. Aus meinem Leben. Leipzig, 1920. 2. Jes 51,1. 3. Der Strmer war eine antisemitische Wochenzeitung, die von 1923 bis 1945 in Nrnberg von Julius Streicher herausgegeben wurde. Im Mai 1934 und Mai 1939 erschien jeweils eine Ausgabe zum Thema »Jdische Ritualmorde«.

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erheben wir gegen diese beispiellose Schndung unseres Glaubens in feierlicher Verwahrung unsere Stimme. Telegramm der Reichsvertretung der deutschen Juden an den Reichskanzler, unterzeichnet von Leo Baeck. Jdisch-liberale Zeitung 14.35/36 (1934): Sonderbeilage.

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Judentum Whrend der Jahre im nationalsozialistischen Berlin konzentrieren sich Baecks Schriften zum Judentum auf die sich widersprechenden Konzepte von Schicksal und Freiheit. Zu einer Zeit, in der die deutschen Juden gezwungen waren, unter einem sich verschlechternden Schicksal zu leben, auf das sie keine direkte Kontrolle ausben konnten, strebte Baeck danach, ihnen bewußt zu machen, daß sie eine innere Freiheit besßen, der ihnen nicht weggenommen werden knne. Indem er wieder einmal das Judentum den damaligen Trends der christlichen Theologie entgegensetzte, lehnte Baeck den wiederaufgelebten Dualismus ab, der die Welt in zwei Schicksalsgebiete teilte, einen des Lichtes und einen der Finsternis. Es war außerdem blich geworden, von Schpfungsordnungen zu sprechen, die Baeck als eine neue Form der protestantischen Prdestinationslehre ansah, und die im Gegensatz zu Willensordnungen, ein Charakteristikum des Judentums, stehe. Im jdischen Glauben wrden Licht und Finsternis nicht als gegeben angenommen, sondern seien Richtungen, zwischen denen das Individuum selbst zu whlen habe. Auch wenn es sich der Finsternis zugewandt habe, so knne es immer noch bereuen und sich fr den Weg des Lichtes entscheiden. In einer Reihe von Aufstzen bemhte sich Baeck darum, den jdischen Geist, den jdischen Menschen und die jdische Existenz zu definieren und sie denen der christlichen entgegenzustellen. Seiner Ansicht nach sei der jdische Geist nicht in einer zur Absolutheit gemachten Gegenwart verankert, sondern in der noch unbestimmten Zukunft. Er sei »der Geist der großen Aufgabe«. Die Juden seien zwar tatschlich in einer entsetzlichen Gegenwart gefangen, aber sie sollten sich dennoch nicht hilflos fhlen. Stattdessen »[zwingt uns] das Geschick heute zu unserer inneren Freiheit, weil es uns zu unserem eigenen Maßstab zwingt«. Jdischer Glaube und die Einhaltung religiser Gebote seien effektive Mittel, diese innere Freiheit zu gewinnen. Der Glaube an Gott sei »eine Befreiung vom Schicksal, Befreiung von der Zeit«. Der Sabbat und die jdischen Feiertage bten den Juden im nationalsozialistischen Deutschland außerdem die Mglichkeit, die Umstnde der Zeit zu bezwingen und ber ihre Situation hinauszuwachsen. »Es ist ein Volk, Israel«, so schließt Baeck einen Aufsatz, »das die Zeit berwunden hat, und es wird strker als sie sein, solange es am berwinden festhlt, am Sabbat, an der Feier und am Fest«. Whrend sich Baeck in seinen frheren Schriften fast ausschließlich darauf konzentriert hatte, die Unterschiede zwischen dem Wesen des jdischen Glaubens und dem des Christentums herauszustellen, befaßt 215

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Im nationalsozialistischen Berlin – Judentum

er sich nun außerdem mit der historischen Existenz der Juden, indem er ber die unterschiedlichen Daseinsbedingungen der ostdeutschen und westdeutschen Juden schreibt. Er stellt das Judentum den antiken Griechen gegenber, die den Menschen als Objekt angesehen htten. Die Juden dagegen verstnden sich als Subjekte der Geschichte, deren historische Existenz nicht von Konflikt und Tragdie getragen wrde, sondern von Aufgabe und Gebot. Fr sie habe historische Existenz auch bedeutet, »immer die Umgebenen« zu sein. So htten sie nie eine »gesttigte Existenz« gefhrt, ob nun ihre Bedrohung von Verfolgung oder von Assimilation ausging. Folglich seien die Juden immer gezwungen gewesen, ihr Dasein neu zu berdenken und, was Baeck am wichtigsten ist, es mit Gott in Verbindung zu bringen. Es sei diese Beziehung zu Gott, die den Juden ber die Geschichte erhebe, sogar whrend er in ihr lebte. Sein Verhltnis zu Gott weise ihm außerdem den Weg zum Messiasreich oder Gottesreich, welches als ein Maßstab zur Beurteilung der Gegenwart diene. Zwischen der Gegenwart und der messianischen Zukunft liege eine Wste. In vergangenen Zeiten mußten Moses und die Israeliten die Wste durchqueren, die zwischen Knechtschaft und dem gelobten Land lag. Gleichfalls, so deutet Baeck an, wrden die deutschen Juden eine Wste durchqueren mssen, wenn ein neues Leben fr sie beginnen solle. In einem spten Essay (1938/39), welches die zunehmend hoffnungslose Lage der Juden in Deutschland widerspiegelt, zeigt Baeck den Unterschied zwischen Tagen und Zeiten auf, um ein jdisches Bewußtsein zu erwecken, daß ber die nur auf den Tag bezogene Geschichte hinausgeht. Der Bereich des jdischen Volkes sei »oberhalb der Tage, dort, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins werden«. * Das Judentum in der Gegenwart

Dem jdischen Menschen ist in der Gegenwart ein ganz Besonderes zugeteilt. Er erfhrt, daß er in einen Mittelpunkt gerckt werden soll, daß mancherwrts ein geschichtliches Wollen und Werden in der Stellung zu ihm den eigenen Ort und die eigene Richtung zu bestimmen sucht. Auch hieraus spricht die Frage, die oft gestellt worden ist, ob das Judentum jemals, oder zumindest seit dem Schwinden seines staatlichen Platzes, Subjekt einer Geschichte gewesen sei, ob es nicht seit je, oder wenigstens seit sehr langem, in dem Schicksal stehe, im216

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Das Judentum in der Gegenwart

mer nur Objekt der Vlker und der Gruppen, der Bewegungen und Bestrebungen zu sein. Wird unter Geschichte nur das Gegeneinander und Nebeneinander von Gewalten, das wechselnde Spiel von Macht und Ohnmacht verstanden, dann ist in der Tat Geschichte fast immer nur am Juden geschehen. Begreift man aber als Geschichte ein Anderes, ein lebendiges Wirken von Krften – und wer hinter den Episoden, diesem Hereinkommenden, die Epochen, dieses Haltende, Anhaltende erschaut, wer hinter dem Stande der Ereignisse, der Konstellation, die fhrende Bahn erblickt, der erkennt diese wahre Geschichte –, dann ist das Judentum, seit es ist, ein lebendiges, wirksames Subjekt der Geschichte. Es ist das gewesen und ist es geblieben mit all dem Bedeutsamen, dem Schweren und Fordernden, das darin gegeben ist; wen immer sein Judentum wahrhaft erfaßt hat, ist dessen alsbald gewiß geworden. Aber das, was heute dem Judentum so oft und so vielfach zum Geschicke wird, ist doch noch ein Anderes. Was es ist, zeigen schon die großen, Jedem sichtbaren Umrisse, in denen sich heute ein neuer Glaubensdrang abzuzeichnen beginnt. Unsere Zeit erfhrt das Wiederaufleben eines religisen »gnostischen« Dualismus. Einst an der Wende der alten Zeit war er in den nach Westen vordringenden orientalischen Religionssystemen bestimmend gewesen, und die Welt des Altertums ist schließlich durch ihn zersetzt und zerstrt worden. Nur das Judentum hat damals, allerdings in schweren geistigen Kmpfen, seinem Einbruch zu widerstehen vermocht. Der Glaube, von dem er lebt, der sich eine letzte, untrgliche Erkenntnis, eine »Gnosis«, beimißt, ist die Annahme zweier in einer krperhaften Mitgift sich darstellenden Schicksalsreiche, die im All einander gegenberstehen, eines Schicksalsgebietes des Lichtes und eines Schicksalsgebietes der Finsternis. Er hat immer dann die Gemter ergriffen, wenn ein Zwiespalt, ein Riß im eigenen Innern so stark, so qulend empfunden worden ist, daß er auch in die Schpfung und in die Geschichte hinausverlegt wurde, so daß auch sie durch diesen Zwiespalt bezeichnet sein sollten. Dieses alte Meinen und Denken aus jener Wende der Tage ist heute, fast mit den gleichen Mythen, wieder lebendig geworden und in ihm wiederum auch ein ganz Besonderes und Bezeichnendes. Denn so wie einst, in einer von jenen stlichen Formen der Religion, einer, deren sich damals die junge christliche Kirche in entscheidendem Ringen erwhren mußte, als jenes große Reich des Dunkels das Judentum erscheint, so wird es, in demselben Bilde, auch heute von so manchen Glaubenden geschaut. Der Kampf zwischen Licht und Finsternis soll ihm gelten. Ins bergeschichtliche hinein wird hier das Judentum geho217

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Im nationalsozialistischen Berlin – Judentum

ben, in jenen mythischen Bereich hinein, in welchem Schicksalswelten gegen einander stehen,– ein bergeschichtliches Subjekt der Geschichte. Aber auch auf diesseitigerem Boden sieht sich das Judentum heute auf einen Platz gerckt, vor dem Gedanken sich scheiden und Meinungen sich erregen. Innerhalb des deutschen Protestantismus hat sich vielfach gegenber den Fragen, die sich aus den Beschaffenheiten, den Bestnden und Zustnden dieser Welt ergeben, eine neue Art der theologischen Beantwortung durchgesetzt, die von einem Glauben an »Schpfungsordnungen« ausgehen will und sich hierfr, sei es mit Recht oder Unrecht, auf die Lehre Luthers beruft. Gesellschaftliche, staatliche, volkhafte, lebensfrmige, auch wirtschaftliche Gestaltungen, die man in der Vergangenheit erkennen will oder fr die Zukunft sucht, werden hier als eine Schpfungsordnung bezeichnet oder wenigstens mit ihr begrndet. Gott habe umschließende Bestimmtheiten, Gegebenheiten, Hhen und Niederungen, Gegenstze und Unterschiede gestiftet und sie als ewige Gesetze in die Menschenwelt gelegt; wer sie nicht anerkenne oder sie beeintrchtigen wolle, der vergehe sich gegen Gott und seinen Schpferwillen. Nicht der geschaffene Mensch als einzelner, sondern dieses Andere, ihn Umfassende, als ein Endgltiges, Schicksalsmßiges, in das der Einzelne nur eingefgt sei, sei das von Anbeginn an Gedachte und Verordnete, der unverbrchliche Wille des Schpfers. Nur in ihm knnten darum der Sinn und die Aufgabe des Lebens gewiesen sein, und alle wahre Frmmigkeit, alle Hingebung an den Willen Gottes knne ihren Grund nur in dem glubigen Wissen hiervon besitzen. Und wiederum will, auch hier, fr manchen Glubigen das Judentum als der große Widerpart der Geschichte, ja fast als Widerpart Gottes erscheinen. Denn sein Glaube, daß Gott die Arten, die Stmme, die Gattungen, die Vlker, gewiß, als Formen des Menschentums geschaffen hat, aber in ihnen als das Wesentliche den einzelnen Menschen, jeden mit eigenem, unvergleichlichem Geprge, jede Seele als Ebenbild des einen Gottes, sein Glaube, daß damit die Kraft, zu Gott zu kommen, zu ihm zurckzukehren, neu zu werden und fromm zu sein, in jeden Menschen gelegt sei, in das Kind des Ostens wie in das des Westens, und daß diese Kraft strker sein knne als alles Schicksal, als alles Einfgende und alles Gewordene, sein Glaube, daß dieses Gesetz des Schpferischen im Menschen allen Gesetzen des Geschaffenen an ihm erst Bedeutung, Wert und Gehalt gibt, daß dadurch erst alles Werdende sich zum Gebilde gestalte, alle Menschengeburt zum Menschentum, dieser Glaube des Judentums ist in der Tat der große Widerspruch zu jener Lehre von den Schick218

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Das Judentum in der Gegenwart

salsordnungen. Und er ist damit in Wahrheit ja auch ein geschichtlich Bestimmendes, ein Subjekt der Geschichte. Auf jeden Juden dringt es so heute immer wieder ein, wie vielerlei Denken und Sinnen und Whnen sich um ihn, um seine Art und seine Religion bewegt, und wie oft er, weil man ihn in seinem Besonderen und Geschichtlichen nicht begreift, ins Seltsame und Wunderliche bersteigert wird. Was Paulus in seinen Tagen von seinem Glauben und seiner Predigt sagte, daß sie den einen »ein rgernis«, den andern »eine Torheit« sei, das hat in Wirklichkeit das Judentum immer erfahren, und in unseren Tagen mehr denn je. Dem einen ist es das rgernis, der Anstoß, dem anderen die Torheit, das Unverstndliche. Immer wieder drngt es sich so dem Juden in der Gegenwart auf, und es muß ihm zum Erlebnis werden. Es ist die Gefahr, daß dieses Erlebte dem Juden hier zum inneren Drucke und dort zu einer geistigen berheblichkeit werde. Beides wrde einen verhngnisvollen seelischen Notstand bedeuten. Ihn zu berwinden, ist die entscheidende Aufgabe. Sie kann erfllt werden nur durch das lebendige Bewußtsein von dem eigenen Geschichtlichen, von dem Platz, den es gewiesen hat, von dem Wege, zu dem es mahnt, von dem Persnlichen und zu Behauptenden, das es fordert. Das Judentum hat sich selbst immer in seinem Prophetischen, mit dem es einst begonnen hatte, wiedergefunden, in diesem Willen, »zu rufen«, in dem Aufrufe zur Selbstbesinnung, dem Aufrufe des Menschen zum Menschen. Ihn muß der Jude selbst am strksten vernehmen, ihn an sich immer wieder gerichtet wissen. Dadurch wird er seiner selbst gewiß werden, dadurch wird er seine Geschichte erleben – ein Subjekt vor allem seiner eigenen Geschichte. Der heute noch lebendigste Dichter des vergangenen Geschlechts, Dostojewski, ein Mann, der von uns Juden nicht immer freundlich sprach, dem aber diese große Gewißheit, in der das Judentum steht, daß jeder Mensch zu Gott gelangen, jeder Mensch neu werden knne, der große Glaube war, von dem seine Dichtung lebte, hat das Wort gesprochen, mit dem er von dem Tiefsten seines Denkens und seines Hoffens Rechenschaft ablegte: »Auf das Entdecken des Lebens, das ununterbrochene, das ewige Entdecken und durchaus nicht auf das Entdeckte selber kommt es an.« Darin ist die starke seelische Mglichkeit, die stete seelische Pflicht fr den Juden in der Gegenwart aufgezeigt. Er soll sein Leben entdecken. Kaum je ist diese Aufgabe so nahe und damit so deutlich an ihn herangetreten, und kaum je ist diese Aufgabe so sehr ein Unabweisbares, ein Gebot seines Lebens und seines Bestehens fr ihn geworden. In drngenden, drohenden Tagen sich selbst zu entdecken und damit in seiner Ge219

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Im nationalsozialistischen Berlin – Judentum

schichte neu zu werden, Subjekt der eigenen Geschichte zu sein, noch keine Zeit hat es so gefordert, noch keine Zeit so sehr sich dafr dem Juden aufgetan. Das neue Geprge, die neue Gestalt des Juden, der neue Jude, der, der wieder sein Leben entdeckt hat, darin offenbart sich das Ziel, dem heute alles im Judentum der Gegenwart, von mannigfachen Wegen her, sich zuwenden kann. Der Morgen 9 (1933): S. 237-239.

* Umwlzung und Umwandlung Alles Gesamtleben, aller Kosmos ist in ein Gesetz eingefgt, und in ihm scheint das Menschheitliche, Geschichtliche in einer nmlichen Weise wie das Welthafte, das Gestirnmßige geordnet zu sein. Es ist das Gesetz, daß alles Einheitliche, alles Zusammengestimmte und Geschlossene immer wieder und immer gleich eine Bewegung von oben nach unten und von unten nach oben, diese Bewegung um sich selbst vollzieht, und daß sie zu der Form wird, in der sich Sein und Werden, Bleibendes und Vergngliches einen. An der Welt, die sich in den Gestirnen erschließt, ist dieses Gesetz am deutlichsten erkennbar geworden. In der Welt, die sich uns Menschen in den geschichtlichen Kreisen auftut, geht ihm erst ein anfangendes Suchen und Mhen nach. Es ist wie ein erstes Ahnen, wenn heute mancher Blick hier und dort Aufgnge und Untergnge von Kultursphren zu erschauen, von weiten Fernen her es zu erkennen meint, wie einst der eine Geschichtsteil der Erde, dann wieder der andere einem zentralen Lichte zugekehrt und danach im Wandel der Bewegung jetzt dieser, dann jener vom Dunkel bedeckt war. Es ward Abend und es ward Morgen und wieder Abend und wieder Morgen, so scheint es auch fr die Weltenzeiten zu gelten. Jenes große, bestimmende Gesetz will so sich auch hier bezeugen, und die Wandlungen, die Bewegungen, die so sich vollenden, sie wren dann die eigentlichen Umwlzungen, die revolutiones im Dasein der Menschheit. An einem kann es wohl am ehesten fr uns sichtbar werden. Einst, wohl etwa den vierten Teil eines Jahrzehntausends hindurch, hatte der Orient in der Tageszeit gestanden, war er der bestrahlte Bereich des Menschheitlebens auf unserer Erde gewesen. Danach war der Occident ins Licht getreten und so nach und nach der geschichtliche Vordergrund geworden, und der Orient war nach und nach ins Dun220

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Umwlzung und Umwandlung

kel, in den nchtigen Raum des Vlkerdaseins gerckt worden. Jetzt geht wieder ein Viertel des Jahrzehntausends dem Ende zu. Versinkt jetzt diese Lichtzeit des Westens? Vollzieht sich wieder in der Bewegung von Tag zu Nacht die Umwlzung der geschichtlichen Sphre? Wird es der neue Morgen, die Wende eines Erwachens fr den Orient sein, und hebt der Abend, die scheidende Zeit, fr den Occident an? Ist es so, daß sie beide nie zugleich im Lichte sein knnen – for East is East, and West is West, and never the twain will meet? Die Umdrehungen der Weltkrper, diese revolutiones orbium coelestium, fhrt das Gesetz ihres Ganges um einen gemeinsamen Mittelpunkt. Und zu dem Sinnen und Suchen, das sich auch den Sphren des Geschichtlichen zuwenden will, wird oft die Frage hingelangen, welches fr dieses Kreisen der Mittelpunkt ist, der es bestimmt und von dem her diese Sphren ihren Tag und ihre Nacht erhalten. Es ist die alte Antwort des Glaubens, voll der Bedeutung, die sich in immer neuen Gleichnissen ihren Ausdruck bereitet hat, daß der eine Gott, »bei dem das Licht wohnt«, dieser Mittelpunkt ist, so daß alles Menschenleben, alles Vlkerdasein, das ihm zugekehrt ist, das Licht empfngt, und alles, was von ihm abgekehrt ist, im Dunkeln bleibt. Alles das, was das Wort von der Offenbarung besagt, alles, was zu uns aus dem Satze des Jesaja spricht: »Die Finsternis bedeckt eine Erde und eine Dunkelheit Vlker, aber ber dir strahlt der Ewige, und sein Leuchten ist ber dir zu sehen«, 1 das alles wrde damit seinen letzten und eigentlichen Sinn erhalten. In Gottzugewandtheit und Gottabgewandtheit, in Gottesnhe und Gottesferne wrde sich die Umwlzung, die revolutio des Geschichtlichen vollziehen. Hierin tritt zugleich ein Weiteres vor das Denken hin. Wie im Einzeldasein, so kann im Geschichtlichen die Gnade der Besonderheit und Persnlichkeit, die Kraft der Freiheit erwachen, diese Gabe und Kraft, sich selbst zum Gesetze der Sphre zu werden und damit aus dem allgemeinen Sphrengesetze herausgenommen zu sein. Ein Volk, ein Gemeinschaftsdasein kann, ebenso wie der einzelne Mensch, vermge dieser Gabe, dieser Kraft die Offenbarung zu eigen gewinnen, sie zum Gesetze seines Lebens, seines Eigenen machen, alles in seinem Leben, in seiner Sphre derart zu dem einen Gott hinwenden und hinbeziehen, so, daß dies alles gewissermaßen theozentrisch wird. Damit kann ein Volk ber das große Gesetz der Umwlzung, der revolutio, emporgehoben sein; es steht trotz ihrer in der Richtung zum Lichte, in diesem Bunde mit dem ewigen Gott. 1. Jes. 60,2.

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Im nationalsozialistischen Berlin – Judentum

Stetigkeit, Gesetz seiner Geschichte ist nun, daß es im »Lichte des Ewigen geht«, daß es »mit Gott geht«, daß es stetig Licht empfngt und so auch Licht aussenden kann. Es vermag die Epoche, die Umwlzung der Sphre zu berdauern; es vermag, wie ein biblisches Wort sagt, »von Welt zu Welt« zu sein. Die Sphre wendet sich, und es bleibt doch im Licht. Das Große und Bleibende der Geschichte oder was dasselbe besagt, die Geschichtsbedeutung der Religion kndet sich hier. Es gibt, im Einzelnen wie im Volke, eine Genialitt als Geschenk, gleichsam durch das Gestirn, durch die Sphre gewhrt, und es gibt eine Genialitt als Entscheidung, durch den Menschen selbst, durch sein Religises verwirklicht. Es gibt ein Leuchten darin, daß dem Menschen, dem Volke das Licht erstrahlt, und es gibt ein Leuchten darin, daß ein Mensch, ein Volk sein Leben dem Lichte zugewendet, zugeordnet hat. Und beides kann auch eines werden, alle Begabung zur Entscheidung, alle Entscheidung zur Begabung. Alle echte Religion, alles wahrhaft religise Tun ist diese Entscheidung, dieser Wille und diese Kraft zur großen Ausnahme um Gottes willen, zum großen Anderssein, weil Gott es gebietet. So kommt zu dem Gesetze der Sphre, dem Gesetze der Umwlzung dieses andere Gesetz, das ein Volk in sich selber aufstellt oder ber sich selbst verhngt. Es gibt eine Wandlung, eine Umwandlung auch. Ein Volk kann sich zum Lichte, zum Wege in der Offenbarung, zum Bleiben vor Gott bestimmen, und ein Volk kann sich zum Dunkel, zum Widergttlichen verkehren, sich selbst zur Finsternis verurteilen. Es ist ein glubiges Dichten im Judentum, das mannigfach seinen Ausdruck gefunden hat, daß das Volk Israel, die Gemeinde des Judentums in der bleibenden Zukehrung zum Lichte, in diesem steten Bunde mit Gott sei. Die alte Haggada 1 sagt: Gott hat Abraham, den Stammvater Israels ber die Sphre der Erde emporgehoben, und seitdem gilt es, daß das Gesetz des Gestirns nicht das Gesetz fr Israel ist. Und ebenso ist es hier seit je der Glaube, daß dies so geblieben sei und so bleiben werde, weil in Israel die Gabe und die Kraft der Umwandlung, der Teschuwa 2 sei. Durch sie werde es immer wieder zum Lichte hingewandt, kehre es immer wieder zum Bunde Gottes zurck, um wieder neu zu werden; Bleibendes und Wandelndes wrden in ihr zu einem. Dies ist ein Eigenes, eine bestimmende Ausnahme in der Ge1. Die Legenden und andere nicht-halachische, d. h. nicht-gesetzliche Abschnitte der rabbinischen Literatur. 2. Hebr.: »Die Umkehr vom sndigen Leben«.

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schichte: Israel ist geblieben in allen den Umwlzungen der Geschichte, und noch mehr, seit Israel im Lichte des einen Gottes geht, ist kein Volk gestorben, das irgend einen Anteil am Geiste und Gehalte Israels erworben und aufbewahrt hat. Es gibt eine Entscheidung fr und gegen das jdische Volk, und sie scheint eine Entscheidung ber Licht und Finsternis, ber Aufgang und Niedergang zu sein. Das Wort, das an seinen Stammvater erging: »ich werde segnen die dich segnen, und die dich lstern, werde ich verfluchen«, 1 ist ein geschichtliches geworden. Das große Gesetz der Umwlzung und der Umwandlung scheint auch hier zu sprechen. Almanach des Schocken Verlags 5694 (1933/34): S. 9-14.

* Religionen Religion ist sicherlich das Konservativste; denn in ihr spricht das, was bestndig ist im Wandel der Geschlechter. Und sie ist ebenso das Revolutionre; denn in ihr widerspricht das, was stetig gebietet, stetig in allem Wechsel der Mchte und Erfolge. Darum ist in ihr, wenn sie lebendig ist, die starke Kraft der Geschichte, die grende wie die wahrende. Und wenn sie erschlafft, weil sie zu sprechen und zu widersprechen verlernt hat, dann wird sie zu Krankheit und Schwche[tab]in der Geschichte, trotz glnzendem Schein. Wo Unruhe und Unrast in den Vlkern sind, zutiefst kommt es aus einer Krisis des Religisen hervor. Gesundheit bedeutet, auch fr die Religion, Selbstndigkeit; die beiden bedingen einander. In einem bßt die Religion diese Unversehrtheit, diese Freiheit ein, darin, daß sie politisch wird, sei es, daß sie es werden will, sei es, daß sie dazu sich fhren lßt. In dem Politischen, auch wenn sie es erwhlt und sich nicht nur ihm ergibt, hrt die Religion auf, selbstndig zu sein; denn sie wird darin immer und allzu bald bloßes Werkzeug der Politik, Werkzeug des Staates, der die Politik handhabt. Sie darf und sie kann nicht mehr aus Eigenem sprechen und widersprechen; sie verliert das eigene Wort, das Wort von Gott, diese Kraft, zu wahren und zu bewegen. Vom Judentum aus knnen wir es hben und drben deutlich sehen. Wir haben es am Judentum selbst im vergangenen Jahrhundert erkannt. Es war ein entscheidender Mangel der sogenannten Reform 1. Gen 12,3.

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im Judentum, daß sie fr einen politischen Zweck das Religise gestalten wollte. Um staatsgefllig und staatswohlgefllig zu sein, hat sie Formen und auch Gehalt des Glaubens umzubilden gesucht, und bisweilen haben dann im Kampf gegen sie auch die Gegner das hnliche unternommen, ein fremdes Ziel bestimmend sein lassen. Die Religion wurde politisiert; ihre Freiheit, ihre Gesundheit wurde beengt. Ganz so haben wir es an anderen Religionen erfahren, in dem zumal, was uns von ihnen zuteil geworden ist. Wie oft schienen die Kirchen uns zugewandt zu sein nicht zu religiser, sondern zu staatlicher, machtgemßer Absicht. Wie oft stellten sie vor dem Juden nicht sowohl ein Tor zum Glauben dar als vielmehr eine Tr, durch welche allein oder am ehesten der Zugang zu staatsbrgerlichen Pltzen bereitet wurde. Das Zeichen, das als Sinnbild eines erlsenden Heiles aufgerichtet sein sollte, war zum kaudinischen Joche 1 geworden, unter dem hindurchschreiten mußte, wer zu Bezirken staatlicher Geltung gelangen wollte. Ein politisches Instrument war die Religion, und wer will ermessen, wieviel in der kirchlichen Krisis der Gegenwart von da her heraufgelangt ist. Leid und Not der einen Religion rhren innerlich auch an die andere, sind ihr auch eine Not und ein Leid. Zu ihnen allen ist das Wort des Propheten Jesaja gesprochen: »Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht.« 2 Im Eigenen nur, in der Kraft, fest zu sein und entgegen zu sein, zu sprechen, und zu widersprechen, ist ihnen der Bestand gegeben. Jdische Rundschau 39.36 (1934): S. 9. [4. Mai]

* Der jdische Geist Der jdische Geist, der Geist des Judentums, wie ihn dessen Geschichte gebildet hat, ist fr jeden Juden die große Mglichkeit seines Lebens. Aus den Jahrhunderten dieses Geistes ist das seelische Dasein eines Jeden von uns entstanden, und alles, woraus einer geworden ist, bedeutet fr ihn die Entscheidung: der Mensch whlt sei-

1. Joch, durch das die bei Caudium geschlagenen Rmer schreiten mußten; in bertragenem Sinne: schimpfliche Demutigung. 2. Jes. 7,9.

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Der jdische Geist

ne Vergangenheit und bestimmt damit sich selber Gegenwart und Zukunft. Eines ist vorerst dem Judentum eigentmlich, das nmlich, woraus ihm Geist erwchst. Geist wurzelt hier im Gewissen oder, was in der Sprache der Bibel dasselbe meint, in der Gottesfurcht. Er ist darum nichts weniger als bloßer Intellekt; er will nicht um des Sehens willen sehen, sondern, um das Rechte zu sehen. Erkennen bedeutet ihm zuerst und vor allem: das Gebot Gottes erkennen, um Geradheit und Gerechtigkeit, um Treue und Ehre wissen. Darum sind hier Einsicht und Gte, Klarheit und Wohlwollen, gleichsam Kopf und Herz, in ihrem Grunde und in ihrem Streben eines. In diesem Bestimmten, woraus dieser Geist hervorkommt, ist zugleich gegeben, wogegen er sich richtet. Eigenes ist immer auch eigener Widerspruch. Weil dieser Geist aus dem Gewissen emporwchst, darum ist er der Widerspruch gegen alles Gewhnliche und Gemeine, gegen alles Starre und Rohe, gegen alles ußerliche und Anmaßende, gegen alles, was nur gelten und scheinen, gegen alles, was unterdrcken und niederzwingen will. Aber er ist daher auch nie Widerspruch um des Widerspruches willen, nie Eigensinn und berheblichkeit. Er wendet sich gegen so manches in der Tapferkeit dessen, der auf seinem Platze, dem Platze des Gewissens, steht, in der Demut dessen, der an seiner Seele festhlt. Woher dieser Geist kommt, das weist ihm auch, wohin er sich richtet. Weil er seine Wurzel im Gewissen hat, darum ist in ihm das Aufrufende und Gebietende, ist in ihm ein Sehnsuchtsvolles und Hinausziehendes. Er glaubt nie, angelangt zu sein, nie, am Ende zu stehen; er hat nie die fertigen Antworten. Es weiß, wie jede erfllte Pflicht wieder andere Pflichten verlangt. Aber das ist hier nie ein Weiterwollen um des Weiterwollens willen, nie jene Unrast, die immer Neues, Wechselndes begehrt, nie jene niedrige Hast, der das Morgen nie frh genug kommt. Es ist in diesem Geist vielmehr der Ernst, der den Weg begreift, den weiten, den er gehen soll, das Gottesgebot erkennt, das unendliche, das er verwirklichen soll. Das alles, das ist der jdische Geist, der Geist aus dem Judentum hervor, die große Mglichkeit fr jeden Juden. Jude sein heißt, in eine Aufgabe hineingeboren sein. Jdischer Geist ist der Geist der großen Aufgabe. Der Schild 13.28 (1934): Beiblatt S. 1. [27. Juli]

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Chukkat haggoj Das Wort dieser berschrift, ein Begriff des jdischen Religionsgesetzes, bedeutet »fremde Satzung«, und es will in seiner Krze besagen, was in den Stzen enthalten ist, die das achtzehnte Kapitel des dritten Buches der Tora beginnen: »Nach dem Tun des Landes gypten, darin ihr saßet, sollt ihr nicht tun, und nach dem Tun des Landes Kanaan, wohin ich euch bringe, sollt ihr nicht tun, und in ihren Satzungen sollt ihr nicht gehn. Was vor mir Rechtens ist, sollt ihr tun und meine Satzungen wahren, in ihnen zu gehn. Ich bin der Ewige, euer Gott!« 1 Es will also vor dem Juden die Mahnung aufrichten, sich selber nicht abhanden zu kommen, den ihm von Gott bestimmten, ihm eigentmlichen Maßstab durch keinen anderen verdrngen zu lassen. Was dieses Gebot meint, das haben unsere Tage auferlegt. Heute mssen wir jdisch denken und damit selbstndig denken, mag vielleicht auch dieser noch oder jener den Sinn unseres Wortes nicht begreifen und nach Lcken und Spalten ausschauen, um zu anderen Wegen berzulaufen. Das Geschick zwingt uns heute zu unserer inneren Freiheit, weil es uns zu unserem eigenen Maßstab zwingt. Denn er bedeutet doch nicht eine Enge fr uns, sondern eine Weite, nicht eine Schwche, sondern eine starke Festigkeit und Sicherheit. Wir knnen unbeirrt in der Welt leben, in all ihrer Erstreckung und ihrer Menschlichkeit, jeder Nhe in ihr und jeder Ferne erffnet und jeder Tiefe erschlossen, erst wenn wir dieses eine vermgen: mit unserer jdischen Seele darin zu leben, unseren eigenen, den jdischen, den unabhngigen Sinn zu wahren. Es wird in unseren Tagen von unserer Bibel viel gehandelt; hier wird sie vorgesucht, und dort gemieden, dort verworfen. In einer Bereitschaft, die wir allzu lange gehegt, das bestimmende Urteil ber unser Eigenstes von außen her zu beziehen, waren wir dazu selbst geneigt, es ber unsere Heilige Schrift von dort her zu empfangen. Zusprechende oder auch nur duldende Worte ber sie wurden gern gesammelt; fr Moses und die Propheten wurde irgend eine Gutheißung oder, um den Ausdruck aus der Biedermeierzeit zu gebrauchen, eine Wohlmeinung von anders her zu unserem Zeugnis und zu unserem Beweise. Der Schatz unseres Glaubens – das will uns doch unsere Bibel sein – wurde wie zu einer Schatzkammer der Approbation. Wir sollen aber innerlich frei bleiben. Maßstab fr unser 1. Lev 18,3-4.

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Das jdische Jahr

Gottesbuch darf uns nur unser jdisches Wissen sein, alles andere ist chukkat haggoj. Und das ist doch auch der letzte Sinn unseres Chanukkahfestes: dieses Eigene festhalten, Eigenes denken, Eigenes hoffen, fr Eigenes kmpfen. Jdische Rundschau 39.96 (1934): Chanukkah Beilage S. 5. [30. Nov.]

* Das jdische Jahr In einen Raum und in die Zeit ist der Mensch mit seinem Dasein hineingestellt. Raum in seinem Umgebendem kann er oftmals verndern und in seinem Trennendem mannigfach berwinden. Nicht um den Raum, sondern immer um einen Raum, einen bedingten, einen verhltnismßigen erfhrt der Mensch. In der Zeit dagegen, in ihrem Ablauf sind wir Menschen befangen. Sie ist immer die Zeit. In ihr sind um unser Leben Gesetze gelegt, bleibende, stetigem von einem Fernen her, einem fast Jenseitigen kommend, von der Sonne her, die der Erde den Lauf bestimmt, von dem Monde, der um sie seine dauernde Bahn zieht, und von unbekannten, nur geahnten Mittelpunkten, die der Weltenbewegung eine letzte Linie vorschreiben. Raum kann sich von uns zum Weiten bis ins Unbegrenzte hinaus dehnen, Zeit tritt aus einem Unendlichen, Unergrndlichen an uns heran. Sie tritt an uns heran und in uns hinein durch den Beginn unseres Daseins, und sie wird zu unserem Dasein, zu den Stunden und Monaten und Jahren, die unser Dasein ausmachen. Wir werden durch sie gewandelt, durch sie gefhrt und beendet. Denn Zeit ist geschehen; unsere Zeit ist das, was mit uns geschieht. So ist denn seit je in der Zeit, aber selten nur im Raum, den Menschen das Geschick erschienen. Nornen, Parzen, Moiren, die den Faden des Daseins spinnen und messen und schneiden, diese Gttinnen der Zeit sind die alten Schicksalsgottheiten der Vlker. Und zu den Gestirnen, die dem Wechsel der Tage seine Kreise zuteilen, zog der heischende, suchende Blick hinauf, um von ihnen Wege und Ziele menschlichen Lebens, Zeichen des Gelingens und des Versagens, des Glckes und des Leides zu erlangen. Zeit ist Schicksal, und in dem Glauben an den einen Gott ist auch dem Vergnglichen, Sterblichen Befreiung vom Schicksal, Befreiung von der Zeit zugeeignet. Die besondere Gabe der Religion Israels ist 227

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es so. Sie hat es zuerst, und wohl auch endgltig, vermocht, die wandelnden Tage aus einem bloßen Geschehen, aus bloßer Zeit, emporzuheben und sie zu einem bewußten, religisen, sittlichen Handeln des Menschen, zu seiner Aufgabe werden zu lassen, so daß nun sein Geist und sein Wille sie bestimmt, ihnen Sinn und Folge und Weg verleiht, ihnen Klang und Ausdruck und Rhythmus gewhrt. Durch Sabbat und Feiertag ist die Musik der Woche, die Komposition des Jahres hier geschaffen worden, eine Zusammenstimmung des Wechselnden, eine Harmonie der Sphren auf Erden. Durch sie ist der Mensch von der Schicksalszeit erlst. Er ordnet und eint nun die Zeit, indem er ihr immer von neuem eine Bedeutung gibt; er heißt sie Sinnvolles sprechen und legt in sie einen Widerspruch hinein gegen das, was sie bis dahin war, gegen das bloße Dahingehen. Die Komposition der Zeit berwindet das Geschick, das in ihr war. Das erste berwindende ist der Sabbat. Er unterbricht die Bewegung und ihr Geschehen. Woche um Woche heißt er das immer Gleiche der Zeit anders sein, das immer Dahingehende der Zeit stille stehen. Der Geist des Menschen, seine Selbstbesinnung und seine Entscheidung tritt jetzt in sie ein. Sein Wille errichtet vor der dahinfließenden Zeit Schleusen, die er schließt, so daß ein Beenden der Zeit und ein Beginnen der Zeit ihm zur Vollmacht wird, so daß ein Wiederanfang, eine Wiedergeburt der Zeit ihm anvertraut ist. Der Mensch hat nun die Zeit, er besitzt sie; er vermag immer wieder fr einen Tag jenseits ihrer zu sein, um dann neu in sie einzutreten. Damit ist ihm ein Schpferisches zuteil geworden, etwas, was ihn mit dem ewigen Gotte verbindet, dem Gotte der Ewigkeit, der in der Schpfung die Sonderung der Zeit, die Hawdala 1 vollzog. »Ein Zeichen fr immer zwischen Gott, dem Schpfer, und den Kindern Israels«, 2 ein immerwhrender Bund ist der Sabbat. Denn das ist das Schpferische: frei im Anfang das Ziel bestimmen, im Beginne das Ende setzen, im ersten Tun um den Sabbat wissen. So rhmt es die Schpfungsgeschichte von Gott: »Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn, da er in ihm ruhte von all seinem Werke, das er, Gott, geschaffen hatte, um es zu tun.« 3 Und so ist es zum Menschen gesagt: »Bedenke, und wahre, den Sabbattag, daß du ihn heiligest.« 4 Sabbatheiligung, Kiddusch, seelisches Innehalten, und Hawdala, Erwhlung der Zeit, sind ihm anvertraut, damit es 1. 2. 3. 4.

Zeremonie am Samstag abend, die den Schabbat von der Werkwoche trennt. Angelehnt an Ex 31,17. Gen 2,3. Ex 20,8.

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ihm gegeben sei, die Zeit zu erfllen und zu verwirklichen und Heiligung, Segen von oben in sie einzufgen, so daß ihm in die Seele seines Erdendaseins Seele der Ewigkeit – neschama jetera – eintritt. So wird der Sabbat die große Befreiung von Schicksal und Knechtschaft, Besiegung aller Untertanschaft und darum wie fr den Herrn, so fr den Sklaven geboten. Die Zeit, dieses Ende ohne Ende, hat nun ihren Abschluß und ihre Erneuung. Bloße krperliche Rast ist ein Mssen, berwundensein des Menschen durch die Bewegung, durch die Zeit. Sabbat, dieses Seelische ist ein Sollen, berwinden der Bewegung, der Zeit durch den Menschen. Ein Sabbathaftes ist auch der Feiertag, und vor allem sind es das Neujahr, Rosh Haschana, und der Vershnungstag, Jom hakkippurim. Durch eine Woche voneinander geschieden, gehren sie doch als ein Ganzes zusammen und fgen durch diese Einheit zugleich die trennende Woche in sich ein. Sie wollen beide demselben seinen Ausdruck geben, dem gebietenden Gedanken, daß die Zeit des Menschen zur Geschichte des Menschen wird, zum Geschick einer Geschichte oder zur Freiheit einer Geschichte. Oder wie ein Satz des Buches Hiob, wie Raschi 1 ihn erklrt hat, und wie er dann zum Gebete an den beiden Feiertagen geworden ist, dies zum wundersamen Bilde macht: »Durch die schreibende Hand eines jeden Menschen beschließt Gott, damit er alle Menschen erkenne, die er gemacht hat.« Die Zeit ist hier das Buch des Menschen geworden, das er verfaßt, dessen Seiten er schreibt. Neujahr und Vershnungstag legen es vor ihn hin, fragen ihn, ob es Buch des Schicksals werde oder Buch der Freiheit. Der Rosch Haschana fragt ihn zuerst. Dieser Tag wird hier nicht, wie sonst, und das ist sein Eigentmliches, an Himmel und Erde abgelesen; er wird nicht begangen, wenn die Sonne ihre Wende hat, der Kreis neu beginnt, oder wenn die Natur ihre Wandel hat, durch die Wrme zu neuem Leben geweckt wird; er hat auch nicht seine Sttte im Abschnitte der Arbeit, wenn Geschft, Beruf und Amt ihre Folge haben. Am jdischen Neujahr beginnt nichts und endet nichts in der Welt, nichts auf Erden und am Himmel – es sei denn, daß ein Monat schließt und anhebt so wie die anderen Monate des Jahres. Es ist nicht ein Tag von dem, was ist, sondern ein Tag dessen, was sein soll. Im Menschen soll etwas aufhren und anfangen. Der Sterbliche soll neu werden, er, der Vergehende wiedergeboren; um ihn handelt es sich hier, nicht um Erde und Himmel. Ein Tag der Entscheidung wird hier gefeiert, der sittliche Wille wird aufgerufen, daß er in die 1. Raschi (1040-1105). Franzsisch-jdischer Exeget der Bibel und des Talmud.

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Zeit eintrete, in das Buch der Schpfung die Freiheit eines Menschenlebens einschreibe und damit Zeitenschicksal berwinde. Das ist hier Neujahr. Damit ist dem anderen Teile des Ganzen, dem Vershnungstag, sein Platz gegenber der Zeit gewiesen. Zeit geht immer weiter, die Zeit des Menschen immer wieder vom Gestern durchs Heute zum Morgen hin. Zeit kann nicht umkehren, Daseinsschicksal nicht umgewandt sein. Gestern und was es bedeutete, kann nicht fortgenommen werden. Aber es ist die große Paradoxie dieser Religion, daß sie den Menschen dem Zeitenlaufe entgegenstellt. Sie kann es ihm durch den Jomkippur gebieten und dadurch, daß sie gebietet, es ihm als den letzten Sinn seines Lebens zusprechen, daß er inmitten der Zeit und trotz der Zeit umkehre, daß er den Gang seines Lebens wende. Er soll und er kann aus der Zeit heraustreten. Er erhebt sich zu Gott und damit ber den Schicksalswandel der Zeit; er steht in dem Weg des Ewigen und lßt das Gestern und dessen Zeichen vorbeiziehen. Wie durch den Rosch Haschana an die Stelle des Verhngnisses das sittliche Gericht, die Entscheidung des Menschen gesetzt wird, so durch den Jomkippur and die Sttte der Unabwendbarkeit die Umkehr des Menschen. Die Zeit, die unabnderlich dahingehende, sie ist das Unvershnte; Umkehr, diese immer wieder mgliche, fhrt die Vershnung herbei. Der Mensch wird vershnt, er hat durch den großen Sabbat die Zeit besiegt. In der Zeit sind die Zeiten, die Zeiten des Firmaments und des Erdbodens, die Daseinszeichen des Jahres mit Saat, Reife und Ernte. Zu ihnen und ihrem Schicksalhaften sind die drei Feste hingestellt als die drei »Bestimmtheiten zur Freude«. Daß es im Wechsel ein Bestndiges, ein Gesetz gibt, gewissermaßen eine Ordnung im Schicksal, erlebt der Mensch durch die Jahreszeiten. Daß dieses Gesetz zugleich ein »Bund« Gottes mit dem Menschen ist und so ein Sinnhaftes fr ihn sein soll, daß der Mensch, in die Welt hineingestellt, dennoch nicht nur ein Teil von ihr sein soll, ein Teil von ihrem Wandel und ihrer Stetigkeit, das wollen die drei Feste ihm sagen. In einem vorerst und ursprnglichst tut es sich kund, daß ein Wesen beseelt ist, daß es mehr noch ist als Natur und Naturzeit: darin, daß es dankbar zu sein vermag. Darum spricht die Bibel auch von der Seele des Tieres, das neben dem Menschen ist; denn das Tier kann gegen den Menschen dankbar sein. Mit bewußtem Willen Dankbarkeit hegen, das ist dann Grund und Beginn fr die Freiheit, fr das Schpferische, fr den Bund Gottes mit dem Menschen. Dankbarkeit ist das, was strker ist als Bewegung und Zeit. Sie berwindet das Vergessen, dieses Hinabsinken der Seele zur Vergangenheit; sie macht das, was gewesen, 230

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Das jdische Jahr

zu etwas was ist, was bleibt. Durch Dankbarkeit wird ein im Wandel Feststehendes geschaffen, sie ist berwindung des Zeitenschicksals. Und sie ist der Grund und Beginn der Freude auch; denn alle wahre Freude wchst aus einer Dankbarkeit hervor und ist darum schon ein Erfreuen ebenso wie ein Sichfreuen. Solche »Bestimmungen zur Freude« sind die drei Feste, Peßach, Schawuot und Sukkot. 1 In ihnen ist der Weg zu hherem Platz auch gewiesen, zur Welt der Geschichte hin. Ein Bestndiges im Wechsel ist wie in der Natur, so in der Geschichte, und schicksalhaft erscheint hier gerade dieses Bestndige. Denn in allem Wandel der Jahrhunderte bleibt immer gleich das Dasein des Menschen, sein Schicksal. Die Geschichte geht von Geschlecht zu Geschlecht, aber in ihr erfaßt immer das Gleiche den Menschen, dieses Gleiche, daß in seinen Tagen sich Kmmerlichkeit und Leerheit, Suchen und Verzagen, Sorge und Leid drngen, daß im Geschehen der Jahre Unrecht dem Rechte Gewalt anzutun sucht und Macht der Ohnmacht den Fuß auf den Nacken setzen will. So steht vor uns ein Bestndigkeitsschicksal in der Geschichte, in ihrer Bewegung, in ihrer Zeit, so daß sie selbst nur noch Zeit, nur Bewegung zu sein dnkt. Aber die drei Feste wollen dem auch entgegentreten; sie berwinden auch dieses Geschick, indem sie ihm die Idee der Geschichte entgegenstellen. Die Idee ist das Seiende, sie ist jenseits der Zeit und der Zeiten; sie ist das Wahre, das Gute, das Rechte, das ein Schaffendes ist und daher unabhngig vom Kommen und Gehen der Tage. Sie ist nicht das Bleibende im Wechsel, sondern gerade der Widerspruch gegen das, was im Wandel das Bestndige, das Schicksal bleiben will. Die Idee zeigt die große Mglichkeit, die große Freiheit in der Geschichte, die Mglichkeit, dem Geschehen Stillstand zu gewhren, umzukehren zur Gerechtigkeit, Wahrheit und Gte. Sie ist das Sabbatliche im Gange der Geschichte. Von dieser Idee die drei Feste zum Menschen, daß er sie zu eigen habe, daß er an sie glaube in der Dankbarkeit und zur Freude und so das erlebe, was anders ist als die Zeit und ihr Schicksal. Dreifach ist die Idee, das Wahre, Gute, Rechte, hier gefaßt. Im Peßachfest ist es die Freiheit, an dem Auszuge aus dem Lande gypten, aus dem Hause der Knechte, ergriffen. Im Schawuotfest ist es das gebietende Gotteswort, an der Offenbarung am Sinai und der Antwort des Volkes: »Wir werden tun und werden hren« 2 erfaßt. Im Sukkotfest ist es die frohe Zukunftsgewißheit, das Messianische, an 1. Die drei Pilgerfeste im Frhling, im Sptfrhling und im Herbst. Sie erinnern den Auszug aus gypten, die Offenbarung und den Zug durch die Wste. 2. Ex 24,7.

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der Wanderung durch die Wste zum Lande der Erfllung hin erfahren – Abschluß und Vollendung zugleich fr das, was Rosch Haschana und Jomkippur verkndeten. Freiheit, um das Gebot zu empfangen, Gebot, um die Zukunftsgewißheit zu erlangen, Zukunftsgewißheit, damit alle Dankbarkeit, alle Freude ihren letzten Sinn gewinne, das sind die drei »Bestimmungen zur Freude«, die die Zeit besiegen. Und eines klingt in dem allen, dem Sabbat, der Feier, dem Fest, mit vollem Ton immer wieder auf, eine Melodie, welche wiederkehrt in dieser Komposition des Jahres: Es ist ein Volk, Israel, das die Zeit berwunden hat, und es wird strker als sie sein, solange es an dem berwindenden festhlt, am Sabbat, an der Feier und am Fest. Auch das ist das jdische Jahr. Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5695. Berlin, 1934/35. S. 8-18.

* Der jdische Mensch Als eigentliches Zeugnis und als Lebenserweis eines Volks- und Zeitenraumes steht doch der Mensch selbst da, der Mensch nicht durch das vorerst, was er schafft und bereitet, sondern vermge dessen, was er ist und was er vor sich bedeutet; der Mensch, nicht als der Einzelne, der ber andere hinausragt, sondern als der, in welchem sich die Art aller neben ihm auch darstellt. Dieser Mensch, der gestaltet wurde, ist die grßte schpferische Leistung einer Gemeinschaft und eines geschichtlichen Gebietes. An ihm offenbart sich ihr Stil; ihr Wesen, ihre Lebensrichtung ist an ihm objektive Form geworden. Erst von ihm aus knnen dann Leistung, Dichtung und Kunst in ihrem Bestimmenden verstanden werden. Insofern tritt auch ein jdischer Stil, ein Stil des jdischen, geschichtlich hervor, ja er ist einer der ausgeprgtesten und strksten in der Menschheit. Es gibt ihn in seiner Besonderheit, weil es den jdischen Menschen in seinem Eigentmlichen gibt. Der jdische Mensch tritt seit zweieinhalb Jahrtausenden vor den geschichtlichen Blick. So manches an ihm hatte schon durch das kleine Land gestaltet werden knnen, in dem er die Tage seiner Bildsamkeit und seines Wachstums gehabt hatte. Dieses Land hatte menschliche Zge zu formen vermocht. Es ist eng und in seiner Enge noch dazu von der Welt abgetrennt; den Osten und den Sden umfngt ein Wstengrtel, den Norden riegelt ein Gebirge ab, den 232

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Der jdische Mensch

Westen die Brandung einer fast hafenlosen Kste. Das Land schließt so in sich die Menschen ein, es behlt sie bei sich. Aber in dieser seiner Begrenztheit zwischen Meer und Berg und de hatte es berall, wie kaum sonst eines, hierin von Hellas z. B. unterschieden, die vielen Nachbarn neben sich, die bald bedrngenden, bald beschrnkenden; es ntigt die Menschen hierhin und dorthin zu blicken, vom Andersartigen zu wissen. Und noch mehr: es war damals, bei all dieser naturhaften Abgesondertheit, ein Land zwischen Lndern, wie es das heute wieder zu werden scheint. Zwei der alten großen Handelsstraßen durchzogen das Land, die eine vom Nil zum Euphrat hin, die beiden Reiche antiker Zivilisation verbindend, die andere von den phnizischen Hfen zu den arabischen, damit zugleich nach Indien und Afrika hinausfhrend. Die Ferne und Weite der Welt traten so in das Land ein und ließen ihre Geschehnisse, ihre Kunde und ihre Wunder vernehmen. In sich bleibend, in sich zurckgezogen lenkte so das Land doch auch wieder hinaus; ein Festhalten und ein Hinaustragen, ein Volkhaftes und ein Welthaftes ergriffen und verlangten in gleicher Strke den Menschen. Die Polaritt, die Spannung der Krfte, die auseinandertreten und sich wieder vereinen wollen, ja der Kontrast mußte hier zur Aufgabe werden. Noch mit anderem war sie hier in besonderer Weise gestellt. In diesem Lande, um das die Natur so eng die Grenzen gezogen hat, sind die Gegenstzlichkeiten der Natur. Zonen von Nord und Sd sind hier zur Nhe zusammengefhrt; tropische Luft aus der Wste und von der Senke des Toten Meeres, gemßigte von der See her und Klte von den Bergen begegnen einander fast unmittelbar. Auch damit erfassen Widersprche und Kontraste das Land und in ihm den Menschen, daß er sie bestehe. Ein Gleiches fordert der Boden von denen, die auf ihm wohnen wollen. Er ist fast berall hart und schwer, in Berg und Steine gefgt, und die Wste, die vordringen will, greift zudem mancherwrts nach ihm. Aber er ist doch wiederum, wenn ihn die Mhe bezwungen hat und ihn dann stetig erringt, gesegnet. Es ist weder ein Endgltiges und Schicksalhaftes in ihm noch ein Nahes und Schnelles, er will berwunden werden; tgliches Brot bedeutet da tglichen Kampf. Ihn konnte der Mensch hier fhren lernen. Dieser Kampf wiederum konnte in dem Lande ein Eigenes entfalten. Zog nmlich hier der Sinn des Menschen die Straßen hinaus, so erfuhr er vielfltig von großen Reichen, die eine Flle des Volkes leicht umfaßten. Sie lagen ihm vor dem Blick, und sie konnten Grße bezeichnen. Aber sein eigenes Land, die Sttte seines Lebens war in den Grenzen des Kleinen und, durch Gebirge zerteilt, war es den Be233

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wohnern noch kleiner; eine Erstreckung, eine ausgreifende Weite mußte hier ganz anderes bedeuten. Hier war sie ein Fortnehmen des Raumes, »bis daß kein Raum mehr im Lande ist«; hier war sie etwas, wogegen sich der Widerstand des einzelnen Menschen kehren mußte. So hat der Daseinsboden in diesem Lande zum sittlichen Problem werden knnen, das Nebeneinanderleben zur Frage des Gottesgebotes. Gegen eine Grße, wie sie Assur 1 und Mizrajim 2 zeigten, durfte hier ein anderer Wert, ein anderer Stolz treten, der menschliche Wert und Stolz: gegen die Ausdehnung das Recht eines jeden, gegen den bloßen Besitz die Satzung, die alle bindet. Das Land ward so in das sittliche Gesetz hineinbezogen, der Boden des tglichen Brotes wurde zum Boden des Menschenrechts, so daß er aus einem Gegenstand der Macht zu einer religisen Aufgabe wurde. Dasein und Pflicht, gleichsam ußeres und Seelisches konnten hier ihre Einheit beanspruchen. Im Gange der Geschichte hat dann aber der Bereich und mit ihm die seelische Linie dieser Menschen eine weitere Richtung gewonnen. Berglnder wie Palstina setzen dem Raume der wachsenden Generationen die natrliche Grenze, sie mssen viele ihrer Kinder in die Ferne schicken. Sie sind Lnder der Auswanderung und der Kolonisation. Man versteht die Besonderheit des spteren jdischen Volkes erst dann, wenn man auch seine kolonialen Krfte erfaßt, es als ein Volk von Kolonisatoren erkennt. Das, was mit dem Wort Diaspora, Zerstreuung, benannt zu werden pflegt, war in Wirklichkeit ein großer kolonisatorischer Vorgang, wie ihn hnlich in alter Zeit nur noch die Griechen und spter die Englnder besitzen. Alle die Gemeinden rings um das Mittelmeer und dann die großen Strme und Straßen entlang – schon vorher war durch die dauernde Ansiedelung eines Teils des Volkes in Mesopotamien im Gefolge geschichtlicher Ereignisse ein großes koloniales Gebiet neben das Mutterland gestellt worden – sind die Kolonien Palstinas, die Magna Palstina. In ihnen allen mit all ihrer Mannigfaltigkeit konnten sich seelische Zge gestalten, wie sie dem Kolonialmenschen eigen werden: der starke lebhafte Akzent, die Beweglichkeit, die Mischung von naivem Wirklichkeitssinn und Romantik, von Bestimmtheit und Sehnsucht, die Verbindung von Verwurzeltheit in dem Lande und Wanderungsfhigkeit, von Treue gegen die neue Heimat und Heimweh. Mit einem eigenen Tone sprach dann, daß diese Menschen nicht, um sich von dem Druck einer geistigen, sozialen oder religi1. Assyrien. 2. gypten.

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sen Not zu befreien, aus ihrem Volke fortgezogen waren, wie einst griechische Exulanten, wie dann spter Puritaner und Refugis. Sie waren als Kinder des Hauses fortgegangen und konnten es umsomehr bleiben, sie konnten Menschen sein, die an ihren neuen Tagen und ihrem neuen Boden festhielten und deren Seele doch zu Vtertagen und zum Vterboden hinzog. Das, was in ihnen einst durch das alte Land hatte geformt werden knnen, daß sie Menschen innerhalb des Landes waren und doch zugleich Menschen innerhalb der Welt, eigengeschichtlich und weltgeschichtlich, eigenstndig und doch universell, daß sie beides hatten und dessen bewußt waren, den Mittelpunkt und den Horizont, all das verstrkte sich in den Kolonialmenschen. Als Palstina dann anderen gehrte und sie Kolonisten ohne ein Mutterland wurden, blieb es ihnen so trotz allem ein Eigentum, so daß dann in unseren Tagen gleichsam Kinder der Kolonie zurckkehren konnten, um auf dem Boden der Vorfahren Kolonisatoren zu werden. Allein dies alles, in seiner Besonderheit und seiner Mannigfaltigkeit, wre doch nur im Bereiche des Mglichen verblieben, es wre wohl niemals in die Tiefe der Seele gedrungen und zu ihrer Kraft geworden, wenn nicht schon ganz ursprnglich ein Wesentliches und Eigentliches zu formen begonnen htte, ein Wesentliches, wodurch alles andere erst bedeutsam und bildend hat werden knnen. Denn diese Menschen haben als Entscheidendes erfahren, daß an ihnen das Wunder des Anfangs geschah, ein Wunder der Offenbarung, und daß es ihnen zur Geschichte geworden ist. Ein Religises ist so zu ihrem Persnlichsten geworden, zu dem des Volkes und dem eines jeden in ihm; es wurde ihnen zur Aufgabe und zur Bedingung des Lebens. Es war hier so sehr Bestimmtheit und Bestimmung des großen Ganzen, daß der Einzelne nur dadurch, daß er es zu eigen gewann, sich als den Menschen der Gemeinschaft ausweisen konnte: Nicht ein Ziel, dem Stunden oder Jahre nachstrebten, sondern der Weg, den die Gemeinschaft vor sich erblickte, auf dem allein sie eine Bestndigkeit, eine Stetigkeit, eine Tradition besitzen konnte. Nur wenn der Anfang, in dem sie geschaffen war, diese Wundertatsache ihrer Geburt, auch die Wundertatsache ihrer Geschichte blieb, konnte sie gestaltend, schpferisch sein, so daß sie ihr Leben hatte und nicht eine bloße Existenz, ihre Wirklichkeit und nicht eine bloße Erscheinung, ihr Menschentum und nicht eine bloße Gebundenheit. Erst durch dieses Religise ist alles das, was das Land zu geben und die Kolonie dann weiter zu entwickeln vermochte, wirklich und formhaft geworden. Das ganze Eigentmliche dieses jdischen, dieses religisen Gei235

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stes – und seitdem er in Menschen aufgegangen ist, hat alles Menschliche dadurch einen neuen Sinn gewonnen – ist, daß er allem, was ist, und allem, was sein soll, einen entscheidenden Mittelpunkt aufgezeigt hat. In dem sogenannten Heidentum ist es das Kennzeichnende, daß hier das Denken, Gebieten und Hoffen und in gewissem Sinne auch das Leiden ein geozentrisches ist. Ein Stck Erde bedeutet den Mittelpunkt, sei dieses Stck Erde nun der Acker, das Land, oder sei es die Stadt, der Staat. Von diesem Mittelpunkte her war jedes Meinen und Fordern bestimmt. Er lenkte das Maß der Gedanken und Geschehnisse, der Pflichten und Schicksale. Von ihm aus waren die vielen Linien gezogen nach der Welt droben und nach der Welt ringsumher; der Gtter wurden viele und der Menschheiten viele. Von diesem Mittelpunkt her erhielten sie Grad und Wrde. Als dann spter die Philosophie alles auf den Menschen bezog, das Urteil ein anthropozentrisches wurde, blieb damit doch das Grundstzliche gleich: das Stck Welt, das der Mensch war, wurde nun der Mittelpunkt. Von ihm gingen die Linien aus zu den Gebieten, den Tagen, den Geschicken; er wurde der Maßstab, und neben das Vergtternde trat wie immer das Anarchische. Das Eigene, das in der Weltgeschichte Neue und Offenbarende, das den Geist Israels geprgt hat, ist, daß hier der eine, ewige Gott der Mittelpunkt wurde, die Bestimmung fr alles, fr das Seiende wie fr das Gebietende. Von ihm gehen die Linien aus, so daß von ihm her alles den Sinn und den Wert empfngt. Alles, Mensch, Staat und Land, Tat und Gesetz, Hoffnung und Gewißheit, hat nur dadurch Bedeutung und Wesen, daß es von diesem Einen her den Bestand und den Weg seines Daseins hat. Nur wenn ein Menschliches, ein Gesellschaftliches, ein Bodenhaftes von Gott aus begriffen wird, ist seine Wirklichkeit und Wahrheit erkannt. Das Eigene und eigentmlich Jdische ist also nicht, daß die Gottheit zur Einheit, zur Idee gefhrt worden ist – auch die antike Philosophie ist dazu gelangt, und der heidnische Imperialismus hat dahin gefhrt. Das Besondere und Unvergleichliche ist hier vielmehr das Theozentrische, diese Einzigkeit Gottes, die Tatsache, daß hier fr alles, fr jedes Sein und Werden und Gelten, fr jede Richtung und jedes Gebot in Gott das eine Zentrum erfaßt worden ist. Vom Standpunkt des einen, einzigen Gottes, vom Standpunkt der Einheit, der Ewigkeit und Unendlichkeit wird hier alles betrachtet, und es ist damit aus seiner sonstigen und bisherigen Stellung herausgehoben. Der neue Sinn und Wert ist allem gegeben. Von Gott gehen die vielen Linien aus, die Linien des Schaffens und Gebietens, so daß nun auch das Geringste bedeutsam wird, wenn es mit ihm verbunden dasteht, und jedwedes, ein 236

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Der jdische Mensch

Mensch, ein Volk, ein Staat, ein Land, eine Kultur, ungltig und leer wird, sobald es nur fr sich sein will. Nur darin, daß es von Gott herkommt, hat ein Wesen seine Autonomie und seine Autochthonie. Dem Juden ist hiermit der erste eigentmliche, und bisweilen befremdende, Zug seines Menschentums gegeben worden: er hat es als eigen zu gewinnen vermocht, von dem einen Gotte aus zu denken, zu wollen und zu hoffen, von ihm aus, auch mit all der Ironie, die daraus klingen kann, zu urteilen und zu schaffen. Alle Zeiten und Gebiete waren durch dieses Theozentrische in eine Gemeinschaft gestellt. Ein jedes hat das, was zu ihm gehrt, und auch die Ferne gehrt zu ihm; es gibt jetzt nichts Vereinzeltes oder Vereinsamtes, nichts Abgesondertes und Fremdes, nichts Gleichgltiges, Bedeutungsloses und Schweigendes mehr. Und ein jedes weist zugleich ber sich hinaus; es hat in seinem Dasein das, was ber das bloße Dasein hinausreicht, seinen Sinn und seine Beziehung; es trgt sein Zeichen, das von einem Jenseits zeugt. Alles gewinnt damit eine Distanz, die rumliche und die zeitliche; von dem einen Mittelpunkt her gesehen rckt auch das, was emporragt oder dauert, wie in ein Schattenhaftes hin. Aber alles hat zugleich sein Pathos; jeder Tag, der zum Menschen kommt, spricht Ewigkeit; aller Raum, der ihn umgibt, kndet Unendlichkeit; aller Boden, auf dem er steht, benennt Tiefe. So ist es die weitere Paradoxie im Wesen des Juden, daß sich dieses beides in ihm einen kann: der Sinn fr die Verbundenheit, in der alles vernommen wird, und der Sinn fr den Abstand, in dem alles zur Ferne weist, so daß ein Pathos der Distanz wie ein Pathos des Urgrunds hier aus der Seele dringt. Dies alles, die Verbundenheit, die Jenseitigkeit, die Distanz, das Pathos, gewinnt aber dann sein Eigenstes, dieses Eigene und Besondere, das es hier eben ist, darin erst, daß im Judentum das Eine immer auch das Fordernde, der Mittelpunkt alles Seins zugleich der alles Sollens ist. Das Schpferische ist hier immer das Gebietende. Daß von Gott die Linien des Menschlichen ausgehen, das bedeutet daher auch, daß der Mensch von Gott gesendet ist – und dieser Gedanke der Sendung tritt an die Stelle dessen, was im Heidnischen die Idee der Tugend und Tchtigkeit ist. Das Leben des Menschen wird zur Aufgabe, die Gott ihm stellt, zu dem ihm von Gott gewiesenen Wege, den er gehen soll. Und daß Gott ihn sendet, besagt zugleich, daß er in die Unendlichkeit hineingestellt und hineingeschickt ist, daß er sich mit keiner Gegebenheit, mit keiner Begrenztheit, mit keiner Rast begngen darf. Alles Geschehnis wird zur Frage, die an ihn gerichtet ist; alles, was vorgeht, bezeugt ein Gericht, alles was kommen will, verkndet Zuknftigkeit. So kann des Menschen Seele nie237

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mals taub und stumm, niemals fr sich nur sein, in Selbstgewissem und Selbstzufriedenem, und niemals fertig sein in einem menschlich Endgltigen, in einem irdisch Vollfhrten. Der Glaube, daß der Mittelpunkte und der Gtter viele seien, gab die Mglichkeit sich von dem einen zum anderen hinzuwenden, diese Mglichkeit des Entgehens, der Ausflucht und der Ausrede. Der Mensch des einen, einzigen Gottes, dieser Mensch des Theozentrischen, ist der, welcher nicht ausweichen noch sich entziehen kann; er ist der Mensch, vor dem immer und berall die Forderung steht. So prgte sich die weitere Eigentmlichkeit in die Seele des Juden, daß sie die Seele geworden ist, zu der immer das Gebot spricht, der nie das Ende des Tuns noch das Ziel der Antwort kommt. Damit hat der Begriff des Tragischen einen neuen, den jdischen Sinn gewonnen. In dem griechischen Volke, welches das Wort und die in ihm benannte Dichtung geschaffen hat, bezeichnete er ein Erfaßtsein des Menschen durch ein Schicksal, das nach ihm gegriffen hat, und dem er, gehalten oder haltungslos, erliegt. Schicksal ist dort die außerordentliche Linie, die als das Außergewhnliche ber den anderen allen sich hinzieht, ber dem allem also, was vom Lande und Staate oder vom einzelnen Menschen gebend und bestimmend ausgeht; es ist die Linie, die sich von irgendwoher aus dem fernsten Bereiche, aus dem Dunkel, grundlos und sinnlos zu irgend einem Menschen hin richtet. Dieser tragische Mensch ist darum in der Verlassenheit und Hilflosigkeit, er kann nichts und niemand mehr anrufen; nur auf zwei Hhen, dort, wo Prometheus bis zum Letzten an sich festhlt, und, in anderer Weise, dort, wo den sterbenden dipus der heilige Hain der Gttinnen der Unterwelt umfngt, zeigt ein Grßeres seine Umrisse. Diese Tragdie ist darum im wesentlichen Schicksalstragdie, so daß im Entscheidenden ein Schicksal Subjekt und der Mensch nur Objekt ist; sie ist dagegen gewendet, daß der Mensch die Mitte bedeuten wolle, wie es damals die Philosophie fr das Individuum und die Tyrannis fr einen Herrschenden bewirken konnte. Auf die Hybris, die berhebung, die durch jene gelehrt und auf das allzu sichere, das durch diese gebracht schien, stßt hier die unberechenbare Linie aus der finsteren Ferne, die Geschickesmacht aus dem Dunkel. In der jdischen Seele besitzt das Tragische – dieses Wort in dem weiteren Sinn genommen, den ihm die sptere Zeit gegeben hat – den vllig verschiedenen, den neuen Gehalt. Hier erwchst es in dem Erleben des Menschen, der von Gott her bestimmt, von Gott gesendet und damit als Schaffender und Erfllender in eine Unbegrenztheit hinein, vor den endlosen Weg hin gestellt ist. Hier steht dieser ganz andere, der jdische tragische Mensch da, dieser 238

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Mensch, der das Unendliche der Verantwortung empfindet, der an dem Leiden der Welt trgt, an ihrem Chaotischen und Gewaltsamen, den die große Hoffnung, die Erwartung dessen, was kommen soll, treibt, dem das Martyrium, dieses Zeugnis dessen, daß der Mensch den Mittelpunkt in Gott hat, zur Entscheidung und zur Kraft des Lebens geworden ist. Diese Tragdie will nicht Furcht und Mitleid wecken, sondern Ehrfurcht und Nachfolge bewirken; ihr Gegenstand ist nicht der Konflikt, sondern das Gebot. Nur Menschen mit einem Zwiefachen konnten dessen fhig und dem gewachsen sein: Menschen mit dem Wissen um das Geheimnis und mit der Tiefe der Phantasie. Geheimnislosen und phantasielosen Menschen bleibt alles Tragische fern, und sie erkennen und begreifen es an keinem Menschen. Dem Juden ist durch seine Religion das Irrationale zu der großen Gewißheit seiner Seele geworden, mochten die Ausdrucksformen seines Denkens auch oft rationale, in Gesetzen und zu Zielen hin geordnet sein. Dieser Mensch des Irrationalen, des Geheimnisses ist der, in welchem die Empfnglichkeit fr das Unendliche erwacht ist, der unter allem das Verborgene, hinter allem das Jenseitige zu erfassen beginnt, dem sich das Symbolhafte, Gleichnishafte alles Erschaffenen erschließen will, der Mensch, der an allem die Linie sieht, die von dem einen Mittelpunkt dahin fhrt. Darum ist er zugleich der Mensch der religisen, dieser im tiefsten knstlerischen, Phantasie, nicht jener schweifenden, unstten, schwrmenden, in der sich die Sinne ausgeben, sondern dieser wissenden, ahnenden, in der sich die Seele erfllt, dieser antwortenden Phantasie, welche weiß, weil sie sich mit keiner Oberflche, mit keinem Zeitlichen und Irdischen begngt, welche ahnt, weil das Jenseitige, das Unendliche, Ewige sie anruft, die darum eben so sehr eine Phantasie der Gte wie des Blickes, eine berlegenheit des Herzens wie des Auges ist. Selbstsucht, Kleinlichkeit, Haß, Neid, das alles ist immer Mangel an einer echten, wahrhaften Phantasie. Durch diese Erschlossenheit fr das Irrationale und durch diese Phantasie haben hier Menschen um das Heilige erfahren, um die Ehre Gottes, von der die Welt umfaßt ist, um die Allmacht, in der die Erhabenheit des Sittlichen aufgerichtet ist, um die Offenbarung, die aus dem Unergrndeten hervorkommt, um das unbedingte »du sollst«, das aus dem Unerforschlichen spricht, und um das Sabbatliche auch, dieses Heraustreten der Seele aus dem Gange der Tage. Durch dieses Zwiefache, das in der Wurzel eins ist, hat der jdische Mensch bestimmende, unterscheidende Zge seines Wesens erhalten. Weil vermge des Anfangswunders dieser Mensch geschaffen worden ist, haben Land und Kolonie ihm in seine Seele eintreten 239

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knnen. Glaubenskrfte, zumal wenn sie zur Geschichte werden, ziehen wie kaum sonst etwas den Pflug durch die Seele und geben ihr eine Bildsamkeit, eine Plastizitt. Ohne dieses Religise htte jenes andere entweder nichts geformt oder nur etwas, was in der Ebene der Anpassung, in der Flche der Ntzlichkeit geblieben wre. Nun aber konnte die eigentmliche Spannung, die Polaritt, in der sich all das Gegenstzliche des Landes entfalten wollte, in den Menschen eindringen und das weiter gestalten und verinnerlichen, was schon vom Religisen her wurde oder geworden war: die Gabe, Widersprche in sich aufzunehmen, um ihnen die lsende Einheit zu geben, Kontraste zu einem Bereiche des Heiligen emporzufhren und damit aufzuheben. Vor allem auch das Gegenber von Volkhaftem und Welthaftem, von einer starken Verbundenheit mit dem Boden und einem Hinausdringen zu den Weiten hat nun in dem jdischen Menschen diese seelische Einheit gefunden, die ihn seither bestimmt: das Sondergeschichtliche und das Menschheitliche fgten sich zum Einklang, sie wurden fr einander zur Antwort. Der Platz, den das Land angewiesen hatte, an den Straßen der Welt und an dem Ausblick in die Welt, dieser Platz, auf den danach auch wieder die Kolonie hinstellte, gab dieses selbe, dieses geschichtliche Bewußtsein, im eigenen Volke und inmitten der Vlker zu wohnen, in der eigenen Zeit und in den Zeiten zu sein. Das Abgesonderte und das Allumfassende war in diesen Menschen im Grunde eines. Jenes Ringen mit dem Boden und jenes Warten auf den Boden wiederum hat den jdischen, den religisen Optimismus, der die Dinge und die Geschehnisse nicht betrachtet, sondern, wo es not tut, mit ihnen kmpft, diese vertrauende Zuversicht auf das Schließliche, die sich streitend und leidend auf die Seite der Zukunft stellt, diesen geduldigen, sich nicht beugenden, immer wieder beginnenden Glauben an das Letzte weiter wachsen zu lassen. Das, was dem Kolonialmenschen eignet, das Ineinander von Bestimmtheit und Sehnsucht, von Bindung an das Umgebende und an das Ferne, hat dem dann noch eine besondere Linie eingezeichnet. Und endlich jene stete Frage, die in dem engen Lande der Raum an das Volk richtete, sie hat jetzt ihre Antwort in dem deutlichen, allen geltenden Gebote erhalten mssen, abseits alles wechselnden Vorteiles, aller auf- und niedersteigenden Macht. Denn eine jede Frage wurde hier zur religisen, und Antwort konnte immer nur vom Gottesgesetz verkndet sein; das Soziale ist zur Wesenseigenschaft geworden. Im Religisen haben Land und Kolonie das ihre geben knnen, um den jdischen Menschen zu gestalten. Die Zge sind dann durch ein Doppeltes mehr noch ausgeprgt 240

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worden. Zunchst durch eine starke religise, sittliche und geistige Tradition, in der diese Menschen lebten. Menschen der Kolonie knnen, wenn sie nicht in ihrer Kultur herabsinken sollen, nicht ohne ein lebendiges Traditionsgefhl sein. Hier zumal, wo die Kolonien vereinzelt waren und ihnen der unmittelbare rumliche Zusammenhang fehlte, mußte der geistige Zusammenhalt um so inniger, die Autoritt der Geschichte – und darauf grndet sich doch Tradition – um so gefestigter sein; ohne sie wren die Kolonialmenschen innerlich und ußerlich auseinandergefallen. Die Religion hat hier, weil sie hier die Geschichte geboren hat, die große Tradition geschaffen und ist durch sie dann auch wieder bewahrt und gesichert worden; die Tradition hat Kindespflicht an ihr gebt. Von einander getrennt, in der Umgebung, im Schicksal und auch in der Bildung unterschieden, haben diese Kolonien die Aufeinanderfolge ihrer Tage, wo immer sie ihnen beschieden waren, als eine gemeinsame Erbfolge der Tage, als eine Sukzession in der Gemeinschaft erfassen knnen. Durch die Tradition ist es so gewesen, und beides war durch sie geeint und hat in dieser Einheit die Menschen geformt: das Dasein auf dem bestimmten tragenden Platz und das Dasein in der Gesamtheit, das Leben im Jetzt und das Leben im berlieferten. Tradition ist hier nicht bloß Historisches; sie ist der Weg vom Frheren zum Zuknftigen. Denn Geschichte bedeutet jetzt – und auch das ist ein Bildendes, ein eigentmlich Jdisches geworden – nicht nur Vergangenheit mit ihrem Weiterdauern, sondern den Weg, welcher zur Zukunft fhrt. Geschichtliche Erkenntnis ist hier immer Prophetie. Sie vermag rckwrts zu schauen, weil sie vorwrts geschaut hat. Sie versteht, was geworden ist, weil sie begreift, was sein und werden soll; hierin hat die biblische Geschichtsschreibung ihr ganz Bezeichnendes. Wissen um die Tradition und messianische Gewißheit, Festhalten an dem berkommenen und Festhalten am Zukunftsglauben sind nur der zweifache Ausdruck einer und derselben seelischen Kraft. Darum hat sich der Jude nie der Zeit zu ergeben brauchen, so sehr sie gegen ihn zu zeugen schien; denn ber ihr stand fr ihn seine bleibende Geschichte; Vergangenheit, Gegenwrtiges und Zukunft waren fr ihn eins. Zeit war fr ihn nicht der Kronos, der seine Kinder, die Zeiten, verschlingt, sondern Zeit war fr ihn das Zeugende und Gebrende von Geschlecht zu Geschlecht; sie besagte das, was war und was kommen soll, bis alle Tage erfllt seien. Sie meinte darum Hoffnung. Das hat zumal dem Juden der Kolonie das Geprge gegeben. Er konnte gewissermaßen außerhalb der Zeit stehen, die ihn berwinden wollte. Den Menschen, denen das Tragi241

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sche fern war, konnte er dann als der Ahasver, 1 der Zeitlose, erscheinen. Hierzu kam, vielleicht noch tiefer die Zge eingrabend und auch jene Tragik vertiefend, wie sie sich im Judentum gestaltet hatte, das starke und geschichtliche Gefhl einer Unterschiedenheit. Das Volkstum Palstina und danach die Gemeindekolonie waren rings vom Heidentum umgeben. Der Jude erfuhr im Bereiche seines Entscheidenden, des Religisen, daß er anders war. Und da alles, was er im Religisen erlebte, ihm zum Gebote wurde, so wurde auch dieses, daß er anders war, ihm zur Sendung und damit zu einem Sinn seiner Geschichte. Der bejahende Gedanke der Erwhlung, aber damit doch zugleich der des messianischen Zieles und der einstigen Gemeinschaft aller sprach in ihr. Es wurde zur Linie der Bestimmung, zur Linie, die von dem einen Gotte ausging, anders zu sein. Im Mittelalter hat dann dieses Bewußtsein der Unterschiedenheit seinen eigenen Zug erhalten. Das Christentum und danach der Islam hatten die Lnder erobert, in denen die jdischen Gemeinden waren, und diese eine wie diese andere Religion, vor allem aber das Christentum, war geschichtlich und geistig aus dem Judentum hervorgekommen – das ist ja auch der Grund, weshalb hier Antisemitismus, zumal in neuerer Zeit, so manchesmal und mancherwrts nichts anderes als ein Selbsthaß ist, dieser Haß gegen das, was in einem erbhaft und wesenhaft und daher von einem unablsbar ist, dieser Selbsthaß, wie ihn auch entwurzelte Juden bisweilen gegen sich hegen. Dem Christentum und dem Islam gegenber sprach oft im Juden, mit all der Spannung, die sich darin ausdrcken konnte, sowohl das Unterschiedene wie das Einigende, das Gegenstzliche wie das Verbindende. Ja er konnte und mußte in ihrem Geschick ein Stck eigenen Geschickes, gleichsam ein Stck jdischer Geschichte erleben; er durfte in ihrem Wege etwas von dem eigenen Wege erblicken. Wenn von dort zu ihm hingesehen wurde, so erschien er den Menschen als ein Vergangener, ein berholter und berwundener. Wenn er zu ihnen hinschaute, so stand vor ihm eine Geschichte, welche seine Geschichte auch war, und das will sagen: nicht nur ein Frheres, Vergangenes, aus dem er und sie geworden, sondern eben so sehr und noch mehr eine Zukunft, die von ihnen beiden sprach. Zu dem Gedanken einer Verantwortlichkeit, der religisen Verantwortung fr die Welt, in deren Mitte er lebte, durfte das ihm werden und damit zu einem Sinne des Weges, den er wie eine 1. »Der ewige Jude«, der der Legende zufolge wegen seiner Schuld gegen Jesus durch die Welt wandern muß.

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Vorhut der Menschheit, wie ein immer Voranschreitender und Vorangestellter ging, ein immer Bedrohter und Ausgesetzter im Gange des Geschehens. Mensch des Gewesenen war er fr die anderen, Mensch des Werdenden und des Kommenden war er vor sich; dieser Kontrast, den er innerlich zu lsen hatte, hat seelische Linien in ihn eingezeichnet. Manche Besonderheit dieses Geprges hat sich durch die Jahrhunderte in einer bald umgebenden, bald bedrngenden Geschichte und unter wechselnden wirtschaftlichen und politischen Verhltnissen entwickeln knnen; sie stellte sich, zum Beispiel, an den sephardischen 1 und den aschkenasischen 2 Juden dar. Aber whrend des jdischen Mittelalters und innerhalb seiner Einheitskultur waren die seelischen Zge doch gleich und bestndig geblieben. In der Einheit der Kultur war zudem eine stetige Einheit einer Wissenschaft, der talmudischen, der Traditionswissenschaft entwickelt worden. Sie hat oft auch eine Bildungseinheit gegeben und hat, zumal als solche, in gewissem, wenn auch bisweilen berschtztem Maße ihre Eigentmlichkeit an dem jdischen Gesamtdenken, aus dem heraus sie geboren war, wieder ausgeprgt. Ihre Besonderheit ist zunchst der assoziative Charakter. Sie will weniger Begriffe zerlegen, auflsen und entfalten als vielmehr sie von berall her heranfahren, sie verbinden und vergleichen, erste bedingende Anfnge und letzte mgliche Enden an ihnen aufweisen, gemeinsame und sich trennende Wege aufzeigen. Ihre Dialektik und ihre Logik sind die der Phantasie. Das Einzelne wird aus einer Einheit und Ganzheit, nicht aus der bloßen Allgemeinheit, herausgeholt, gewissermaßen von den »Vtern« hergefhrt; das Ganze und damit das Eine, nicht das Einzelne oder der Teil, ist hier das erste. Auch hier wird so wieder das Denken durch eine Idee der Einheit gelenkt. Sie ist hier eine ganz charakteristische, die der einen Bibel, der Offenbarung des einen Gottes, einer Einheit also, die nicht in einer Zusammensetzung der Teile, sondern durch den Ursprung besteht, so daß jedes Wort darin das andere trgt und bestimmt, jedes Wort darin aber auch – das ist das Weitere – mehr besagt als sein bloßer Wortlaut meint. Nicht auf ein Begrnden als vielmehr auf ein Ergrnden kommt es hier also an. Weil der Ursprung derselbe, die Offenbarung die eine ist, mssen immer wieder die Stze, auch von der Ferne, an einander herangebracht und muß immer wieder jeder Satz zu noch tieferer Tiefe hin verfolgt werden. Zu aller Wissenschaft gehrt hier 1. Bezeichnung fr die spanisch-portugiesischen Juden. 2. Bezeichnung fr die ost- und mitteleuropischen Juden.

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darum auch die Mystik. Zusammendenken, Zuendedenken und Erschließen, das ist hier die eine Aufgabe, die nie fertige. Diese ganz eigentmliche Weise hat sich im jdischen Denken gestaltet, und auch sie hat der Einheitskultur des Mittelalters einen bezeichnenden und bestndigen Ausdruck gegeben. Im letzten Jahrhundert hat sich dann aber dieses einheitliche Gefge oft verndert, wenn nicht gar aufgelst. Wie berall, und weil berall, hat in dieser Zeit auch im Judentum eine Verweltlichung ihren Raum gewonnen und das Religise zurckgedrngt. Jene alte Einheitskultur hrte nun auf, die Juden wurden in die Lnder eingegliedert, und auch die koloniale Art trat damit zurck. Aus der alten Gemeinschaft wurde nun fr viele die bloße Gesellschaft, aus der Tradition die bloße Konvention. Mit der Verdnnung oder dem Entschwinden des Religisen war dem seelischen und dem geistigen Wesen der nhrende Boden, der Boden der Kraft und der Wrde, beeintrchtigt oder entzogen. Juden ohne Religion und ohne Tradition sind innerlich dem Tage und der Meinung anheimgegeben. Die Polaritt des Wesens wurde nun leicht zur Gespaltenheit und Zerrissenheit oder zur Unrast und Vielgeschftigkeit; der Mensch der Charakterisiertheit wurde zum Menschen, der immer suchte, was er sein und was er sagen und was er tun sollte. Die seelische und geistige Gabe wurde zum bloßen Talent, die Fhigkeit seelischer und geistiger Verbindung zur bloßen Verstandesrichtung oder zum Intellektualismus, der Zukunftswille zu einem hastigen Trachten nach einem Morgigen, nach einem Modernsten. Die Eigenschaften verdrngten so die Eigenart, und sie verdrngten damit, so gern viele dieser Juden sich ihres Menschentums rhmten, mehr und mehr den Menschen. Es gab mehr Reflexe als Licht; es war, wenn man das Bild von Peter Schlemihl umkehren darf, wie wenn der Schatten, der oft im Lichte von irgendwoher leuchtende Schatten, den Menschen verloren htte. Aber dieses Wort spricht, wie wir hoffen drfen, schon von einem Gewesenen. Die jngsten Jahrzehnte haben die Wiedergeburt des jdischen Menschen erfahren, die Wiedergeburt einer Einheit aus dem Judentum hervor. Der jdische Mensch will wiederkehren. Der Morgen 10.12 (Mrz 1935): S. 527-38.

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Die Existenz des Juden Wenn man das jdische Dasein, die jdische Existenz zunchst durch ein Wort umreißen sollte, so knnte man sagen: Die Juden sind, seit sie auf Erden leben, immer die Umgebenen. Sie haben immer – auch in den Jahrhunderten, in denen das eigene Staatsleben auf dem Boden Palstinas seine wechselvolle Geschichte hatte – »inmitten« der anderen gelebt. Sie waren immer umgeben und oft umfaßt und umringt. Es ist schon kennzeichnend, wie das Wort saviv (ringsum) in der Bibel gebraucht wird. Es ist dort fast immer gebraucht als ein Wort, um die Existenz der Israeliten zu benennen. »Die Vlker«, das bedeutet immer: »Die Vlker ringsum«. »Die Menschen«, das bedeutet immer: »Die Menschen ringsum«. So ist es damals gewesen, und so ist es immer geblieben, ja immer strker zum Ausdruck gekommen. In der Diaspora, in dem Leben inmitten der Vlker, hat dieses Ringsum diese Umgebenheit, diese Umringtheit noch den ganz anderen Inhalt und die ganz andere Wirkung gehabt. Inmitten der Vlker, inmitten der Menschen – nun, das bedeutet doch immer wieder gesehen, immer wieder gehrt, immer wieder befragt! Das war das Schicksal des Juden in all diesen Jahrhunderten bis heute: Immer wieder gesehen; der eine von vielen. Immer wieder gehrt, der eine von den vielen. Und damit, dadurch ist ja immer der Anschein geweckt worden, als seien die Juden zahlreicher, als sie in Wirklichkeit sind. Darum erschienen sie immer so unheimlich, weil sie immer gesehen, immer gehrt wurden, und der Anschein wurde lebendig, als seien sie mchtiger, als seien sie im Irdischen bedeutungsvoller, als sie es eben in Wahrheit sind. – Die immer Umgebenen, das bedeutete darum so eine gefhrdete Situation. Das Wort, das von Nietzsche stammt und in hnlicher Weise von seinem lteren Zeitgenossen, dem ebenso einflußreichen Dnen Kierkegaard gebraucht wird, dieses Wort »gefhrdete Existenz«, gefhrdete Situation, das ist ein Wort, das auf den Juden und fr ihn geprgt zu sein scheint. Immer umgeben zu sein, das ist in der Tat eine gefhrdete Existenz. So ist jdische Existenz immer diese gefhrdete Existenz, diese gefhrdete Situation. Es ist das geringste, daß dieses Dasein im Wirtschaftlichen so oft, ja zumeist, gefhrdet war, daß immer wieder Formen der Wirtschaft, die man geschaffen hatte, zerstrt oder eingeengt wurden, daß immer wieder das, was Juden in ihrem Dasein aufgebaut hatten, ihnen genommen oder zerstrt wurde. Das war, wie gesagt, immer noch das geringste. Die ei245

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gentliche Gefhrdung lag im Geistigen, im Menschlichen, im Seelischen, im Jdischen. Immer umgeben sein – das bedeutet doch: immer sich behaupten mssen, sich innerlich, seelisch, im Wesen, im Leben behaupten mssen; immer wieder gesehen werden, immer wieder beobachtet sein, das bedeutet doch die Gefahr, daß einer sich selbst verliert, daß er meint: Da sein bedeute gesehen werden; Formen des Daseins, Formen des Lebens, das bedeutet: die Formen finden, die eben dem Rechnung tragen, daß man immer wieder gesehen, immer wieder gehrt werde. Die seelische Gefhrdung war die entscheidende. Und sie hat in der Zeit vor allem immer wieder ihre bedeutungsvolle und verhngnisvolle Wirkung gehabt. Die Gefahr der vlligen Assimilation, die Gefahr, in der eben derjenige lebt, der immer umgeben ist, wurde die eigentliche jdische Gefahr. So ist begreiflich, daß die jdische Geschichte immer wieder ein Anfangen ist. So stehen schon die Jahrhunderte der Propheten vor uns. Immer wieder mußte begonnen werden, immer wieder mußten die Altre des Baal gestrzt werden. Immer von neuem beginnen – das ist die Geschichte der Propheten. Und ganz ebenso ist es dann in der hellenistischen Zeit gewesen, in der tannaitischen Zeit, 1 in der das Christentum entstand, in der mittelalterlichen Zeit, in der die Kirche die Juden bedrohte; so war es in der Zeit der Renaissance, so im 19. Jahrhundert, und so ist es bis jetzt: immer wieder anfangen. Nicht nur wirtschaftlich, nicht nur in den Existenzbedingungen und -mglichkeiten, sondern – was weit entscheidender ist! –: geistig immer wieder beginnen, seelisch immer wieder beginnen, jdisch immer wieder anheben. Das ist diese gefhrdete Existenz, die die jdische Geschichte kennzeichnet. Und das eigentlich Charakteristische ist nun, daß diese gefhrdete Existenz, diese außerordentliche Form der Existenz die gewohnte wird, zur Regel wird, zur Geschichte geworden ist. Auch andere Vlker, andere Gemeinschaften, andere Menschen haben Zeiten einer außerordentlichen Existenz gehabt, haben solche Zeiten der Gefhrdung durchgemacht; aber das sind dann die Ausnahmen, die kurzen, schnell vorbergehenden Perioden. Fr den Juden dagegen ist das Außerordentliche der Existenz nicht eine Periode, sondern die Epoche. Nur das Aufhren der Gefhrdung ist jeweils die kurze Periode. Der Jude steht immer – von seltenen Un1. Die Zeit der ersten talmudischen Lehrer.

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Die Existenz des Juden

terbrechungen abgesehen – in der außerordentlichen Existenz, in dieser gefhrdeten Situation, er muß immer wieder eine Stellung zum Leben finden – es muß sich immer wieder der Einzelne mit dem Leben auseinandersetzen und die Gesamtheit mit der Geschichte. Der Jude kann nie im Behagen der Gedankenlosigkeit ausruhen. Dieses irdische Glck: nicht denken mssen, dieser irdische Friede der Gedankenlosigkeit ist dem Juden immer versagt geblieben. Er muß immer denken; er kann nie in der satten Existenz sein, die sich keine weiteren Gedanken mehr macht. Gesttigte Existenz – das ist das Heraustreten aus der jdischen Existenz. Satte Form des Daseins, das ist niemals die Form des jdischen Daseins, das ist die Negation der Form des jdischen Daseins! Der Jude muß sich immer auseinandersetzen. Das ist sein Dasein, das ist die Form, in der er kraft seiner Geschichte allein existieren kann. Aber auch dieses Denken hat sein ganz Besonderes, sein Charakteristisches. Wenn man – um zunchst in weiterer Entfernung die Umrisse deutlicher zu sehen – die Menschen der Bibel und die Menschen des Talmud sich vergegenwrtigt, so findet man bei diesen Menschen ein ganz Eigentmliches. Es ist, wie wenn ihr Blick immer wieder in die Weite hinausshe. Wenn wir die Mnner der Bibel uns vergegenwrtigen: Abraham, der hinausgeht aus seiner Heimat in das unbekannte Land, das Land, das Gott ihm zeigen wird – es ist, wie wenn der Blick dieses Menschen in die Weite gekehrt ist, hinaussieht ber das Nahe, das Nchste und Unmittelbare. Und wenn sein Sohn, sein Enkel umherwandert, wenn dann das Volk Israel aus gypten in das Land zieht, das ihm angelobt ist, das es aber nicht kennt, das Land in der Ferne, oder wenn die Propheten von kommenden Tagen sprechen, wenn die Mnner des Talmud von den Epochen der Geschichte erzhlen, die zu den letzten Tagen hinfhren – immer ist der Blick dieser Menschen in die Ferne hingerichtet. Es ist, wie wenn sie starr auf ein fernes Ziel hinblickten. Der berhmte Theologe Karl Barth 1 hat einmal auf das Kreuzigungsbild von Matthias Grnewald 2 hingewiesen, um die Menschen der Bibel zu kennzeichnen, auf dieses Bild, auf dem Johannes der Tufer in einer so ganz – fast mchte man sagen – bermenschlichen Weise die Hand ausstreckt, um auf etwas, das keiner sieht, 1. Karl Barth (1886-1968). Schweizer protestantischer Theologe und Gegner des Nazismus. 2. Matthias Grnewald (Schaffensperiode 1500-1530). Deutscher Maler religser Themen im gothischen Stil.

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das nur er erblickt, hinzuweisen. Und von dem Blick dieses Menschen Johannes auf dem Bild von Grnewald sagt Karl Barth, das sei der jdische Blick. Und von der Hand sagt er: das ist die jdische Bewegung der Hand. Diese Hand, dieser Blick kennzeichnen das Eigentmliche der jdischen Existenz, dieser außerordentlichen, dieser gefhrdeten Existenz. Diese Existenz bedeutet immer eine gefhrdete Situation. Sie ist die Existenz des Menschen, der immer denken muß, der gezwungen ist, sich auseinanderzusetzen. Aber ber all das Gefhrdete hin, ber all das Bedrohende hinaus, ber alle Auseinandersetzungen hin sieht dieser Mensch irgendwohin in die Weite. Er streckt irgendwohin die Hand aus nach irgendetwas, was nur er sieht, nicht die andern – so wie der Tufer auf dem Grnewaldschen Bilde die Hand ausstreckt. Er sieht auf etwas hin, was jenseits ist, jenseits aller irdischen Erfolge, jenseits aller sogenannten historischen Erlebnisse, jenseits alles dessen, was ihn umgibt. So ist seine Existenz die umgebene, die umringte Existenz, die doch irgendwie jenseits dessen, was ihn gefhrdet und bedroht, so daß er in irgendeiner Form jenseits aller Gefhrdungen und Bedrohungen ist. Das ist das Charakteristische, das, wodurch allein das Ertragen dieser gefhrdeten Existenz, dieser umgebenen Existenz mglich wurde: dieses Hinausblicken zu einem Jenseits hin, zu etwas, was jenseits alles Bedrohenden und Umgebenden, alles Gefhrdenden und Umfassenden ist. Dieser Blick zu einem Jenseitigen, diese dahin ausgestreckte Hand, das gibt dieser gefhrdeten und umgebenen jdischen Existenz erst ihr Eigentliches, ihr Charakteristisches. Der Jude sieht nach dem Jenseits hin. Und sein Denken ist nach diesem Jenseitigen, nach dem, was jenseits alles Umgebenden und Gefhrdeten liegt, hingelenkt, es ist dahin gewendet. All sein Denken, all seine Auseinandersetzung mit den Dingen bekommt daher erst Sinn und Deutung. Dieses Jenseitige ist es, nach dem sein Denken, sein Schauen, die Bewegung, die Richtung seiner Hand hingelenkt ist. Dieses Jenseitige ist es aber auch – und das ist das weitere Kennzeichnende – was den großen Gehorsam verlangt. Das Nahe, das Umgebende, auch das Gefhrdende verlangt den Gehorsam; aber das ist der kleine Gehorsam. Das, was jenseits aller irdischen Erfolge, jenseits aller historischen Erlebnisse liegt, jenseits alles Umgebenden, Gefhrdenden – das verlangt den großen Gehorsam. Denken in dieser jdischen Existenz, Erkennen, Begreifen in die248

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ser jdischen Existenz, das ist Anerkennen dieses Jenseitigen. Denken, das ist hier zugleich Gehorsam, Gehorsam gegen Gott. Es gibt kein jdisches Denken, das nicht zugleich dieser Gehorsam, dieses Anerkennen ist. Eines ist hierbei wieder charakteristisch: Wenn in der Bibel das Wort gebraucht wird: »Den Ewigen erkennen«, so bedeutet das immer: dem Ewigen gehorchen, den Ewigen anerkennen. Rechttun, das ist Gotteserkenntnis. Wenn der Prophet Jeremia zu Jojakim, dem Sohne Josias spricht, wenn er von dem Vater des Knigs, von Josia, zu ihm redet, dann sagt er zu ihm: »Dein Vater hat doch dem Armen und Bedrckten sein Recht verschafft. Das heißt mich erkennen. So spricht der Ewige.« 1 Erkennen, Denken, das ist hier: Anerkennen, Gehorchen. Der große Gehorsam, wie ihn das fordert, was jenseits alles Umgebenden und Bedrohenden liegt. Darum ist jdisches Denken nie – wenn man so sagen darf – jenes Theaterdenken gewesen, fr das die Welt eben das große Schauspiel, das Theater ist, das man betrachtet. Denken ist hier nicht Betrachten. Denken ist hier auch nicht Anstaunen. Fr dieses Denken ist die Welt und ist das Leben nicht eine Sammlung von anregenden Dingen, von sthetischer Befriedigung. Kunstliebe ist ja gewiß oft nichts anderes als das Ausweichen vor der Wirklichkeit, die Flucht vor dem Gebote. Das ist kein jdisches Denken. Jdisches Denken heißt Gehorsam; es ist ein Denken, welches das Gebot in sich schließt. Dieses Denken ist darum ein Gestalten des Lebens, ein Gestalten der Wirklichkeit, eine Umbildung dessen, was drinnen ist. Erfllen, das Gute verwirklichen – das ist hier Denken. Und so kann das Wort Existenz hier eine ganz besondere Bedeutung bekommen. In der neuzeitlichen Philosophie wird oft von dem existentiellen Denken gesprochen. Durch Kierkegaard ist dieser Begriff und diese Forderung in die Philosophie hineingelangt. Existentielles Denken, das ist das Denken, welches in die Erkenntnis den Erkennenden mit hineinbezieht, so daß es keine Erkenntnis, kein Denken geben kann unabhngig von dem Menschen, unabhngig von dem Denkenden und Erkennenden. Das ist ein Begriff, der fr das Verstndnis jdischer Daseinsform seine ganz besondere Bedeutung hat. Jdisches Denken, das ist eben das Denken, in das der Mensch mit eingeschlossen ist, das ihn angeht, ihn, in seiner bestimmten, konkreten Wirklichkeit, in seiner bestimmten, konkreten 1. Nach Jer 22,16.

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Stunde, in der er jetzt ist. Dieses Denken, das den Menschen umgestaltet, in dem er anders wird, dieses Denken, in dem sein Leben neue Formen, neuen Sinn, neue Bedeutung erhlt. Vor dieses Denken ist das Leben hingelegt. Der Philosoph Heidegger 1 hat – gewollt oder ungewollt – einen biblischen Gedanken zum Ausdruck gebracht, indem er sagt (mit einem guten eigenen Wortspiel): »Dasein, das ist nicht ein Vorhandensein, sondern ein Zuhandensein, etwas, was vor den Menschen hingelegt ist, daß er es forme, bilde, gestalte.« Das ist jdisches Denken, welches zuschaut, nicht das Denken, welches trumt, und mge es trumen von der hchsten Idee, von dem wundersamsten Ideal, mag es hinschauen auf das herrschende Grßte und Erhabenste: jdisches Denken trumt nicht, schaut nicht, sondern es ist das Denken, welches das Gebot sich zu Eigen genommen hat, dem Gebote gehorcht, das, was das Gebot befiehlt, erfllt und verwirklicht, so daß das Leben immer zu Hnden ist,[tab]immer wieder das Leben vor dem Menschen liegt, daß er es gestalte.[tab]Das ist dieses Jenseits, zu dem der Jude immer hinblicke, so daß er hinwegsehen kann ber das Umgebende, hinwegsehen kann ber das Gefhrdende, nicht trumt von der Zukunft, nicht eine Zukunft betrachtet und anschaut, sondern zu dieser Zukunft hinarbeitet, die Hand nach ihr ausstreckt, die Hand ausstreckt zu dem, was kommen wird, weil es kommen soll; denn das, was sein soll, wird sein. Gehorsam des Denkens, Denken, das verpflichtet, das ist jdisches Denken. Und dieses verpflichtende Denken, das ist jdisches Dasein, jdische Existenz, ist jdisches existentielles Denken. Es ist verpflichtendes Denken, und alles Verpflichtende meint den Einzelnen, spricht das Wort Du. Der Jude vernimmt in seinem Dasein immer dieses Wort Du. »Du bist der Mann«, so hatte schon der Prophet Nathan zum Knig David gesprochen; und dieses Du, es zieht sich durch alles in der jdischen Religion, in der jdischen Geschichte hindurch. Du bist gemeint. Du, das Individuum, der Einzelne, bist zum Denken, zum Gehorsam verpflichtet. Keiner kann es dir abnehmen. Keiner kann fr dich hintreten, keiner kann fr dich ber das Umgebende hinausblicken. Von jedem ist alles gefordert. Wie das alte Wort sagt: Von jedem ist das Prophetische, das Priesterliche gefordert. Dieses Du, dieses Konkrete, Individuelle, das ist das Eigentmliche der jdischen Existenz. In der jdischen Existenz schafft der Einzelne die Gemeinschaft, aber die Gemeinschaft schafft 1. Martin Heidegger (1889-1976). Deutscher Existenzialist und Befrworter der Nationalsozialisten. Autor von Sein und Zeit.

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nicht ihn. Nicht die Kirche braucht daher die Frmmigkeit des Einzelnen zu gestalten, sondern die Frmmigkeit des Einzelnen gestaltet die Gemeinde. Der Einzelne, der hinwegsieht in die Ferne, ins Jenseits, der Einzelne in seiner gefhrdeten Situation, in dem Außerordentlichen seiner Existenz, das er in seinem Krperlichen wie in seinem Seelisch-Geistigen erlebt. So wird die Existenz ihm zum Erlebnis, so erfhrt er das Existente in sich, so hat er durch seine Existenz Erlebnisse Tag um Tag. Der Einzelne in dem Außerordentlichen seiner Situation, das zum Gewohnten, zur Regel wird, er ist gefordert. Von ihm wird dieses Denken, dieser Gehorsam verlangt. Der Jude kann damit nicht zufrieden sein, daß er zur Gesamtheit gehrt. Hier gibt es nur soviel Gesamtheit, wie es Einzelne gibt, echte Gedanken gibt. Gedankenlosigkeit in der Gesamtheit – das wre der Widerspruch zur jdischen Existenz. Der Einzelne wird verlangt. An ihn richtet sich die Frage. Von ihm ist der Gehorsam gefordert, gefordert in jeder Stunde. Das ist das Eigene der gefhrdeten, der außerordentlichen Situation, daß sie immer neu wird, immer anders wird, immer andere Menschen beansprucht und fordert. In einer Existenz, in der das Außerordentliche eben das Außerordentliche, das Seltene ist, da ist der Tag gleich dem Tage, die Stunde gleich der Stunde, und im letzten vielleicht Jahrhundert gleich Jahrhundert. Wo aber das Außerordentliche zur Form des Daseins wird, wie im jdischen Dasein, dort ist nie der Tag wie der Tag; der neue Tag wird nicht sein wie der jetzige, heutige. Immer neu ist die Situation, immer neu wird die Frage gestellt, immer neu wird das Denken, der Gehorsam gefordert. Soviel wie es Tage und Stunden gibt, gibt es hier Fragen. Soviel wie es Tage und Stunden gibt, sind hier die Gebote ohne Ende, ohne Zahl. Weil das gefhrdete Dasein, das außerordentliche Dasein immer wieder seine neue Stunde hat. Jede Stunde fordert und jede Stunde verlangt. Das ist die Existenz des Juden, das ist sein existentielles Denken. Er kann niemals denken, ohne sich einzusetzen. Nicht die Gefahr bloß, sondern das Denken verlangt ja den Einsatz. In jeder Stunde, wenn er denkt, muß er sich einsetzen. Immer neu tritt an ihn die Forderung heran. Es ist wie eine Forderung, die ber menschliches Knnen hinausgeht. Und sie ginge ber menschliches Knnen hinaus, sie ginge ber menschliche Existenz hinaus, wenn nicht eben diese Fhigkeit wre, hinauszuschauen zu dem, was jenseits ist, jenseits des Umgebenden, jenseits des Umringenden und Bedrohenden, jenseits dessen, was der 251

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Tag, die Stunde schickt, das, auf die Weite gerichtet, jenseits aller historischen Ereignisse, aller geschichtlichen Erfolge liegt, jenseits liegt, weil es im Bereich Gottes liegt. Jdische Existenz kann nie Existenz an sich sein, sie kann nie Existenz des Menschen in sich selber sein. Jdische Existenz ist immer Existenz vor Gott. Der Jude lebt vor Gott, nicht in Gott – dann wrde es kein Jenseits geben, dann knnte der Mensch das Umgebende und Bedrohende nicht berwinden, nicht darber hinweg in die Ferne sehen und die Hand nach der Ferne richten zum Jenseitigen hin. Der Jude lebt vor Gott. Vor Gott. Und darum ist er ber das Umgebende im Letzten erhoben, darum ist er im letzten ber das Gefhrdende hinbergestellt, hinausgefhrt. Darum kann sein Denken Gehorsam sein; denn es ist nicht der Gehorsam gegen das, was das Heute gebietet und morgen das Gegenteil befiehlt, gegen das, was wechselt im Laufe der Generationen, anbetend und morgen verbrennend, verbrennend und morgen anbetend; es ist der Gehorsam gegen den Einen, der Gehorsam gegen Gott und sein Gebot. Nur in diesem Gehorsam kann der Jude leben. Nur in diesem Gehorsam gegen den einen Gott ist diese außerordentliche Existenz, dieses gefhrdete Dasein mglich, ja mehr als mglich: er ist ihm letzte Forderung und letzte Antwort. Nur im Gehorsam gegen Gott ist der Blick in die Ferne zu dem, was kommen wird, weil es kommen soll, mglich und bedeutend. Jdisches Denken – der Gegensatz zu ihm ist Denken, das zu nichts verpflichtet, Denken, wie es im geruhigen Sinn, im wohltuenden Traum, im hinblickenden Schauen immer wieder von Menschen gelebt wurde. Das ist nicht jdisches Denken und jdische Existenz. Jdische Existenz, das ist das Denken, welches verpflichtet, jeden Einzelnen verpflichtet und in jeder Stunde verpflichtet. Man kann nicht mit dem Kopf ein Jude und mit dem Herzen etwas anderes sein, und auch nicht mit dem Herzen ein Jude und mit dem Kopf etwas anderes. Es ist anderwrts oft so versucht worden und – vielleicht – mglich gewesen. Friedrich Heinrich Jacobi, 1 der Bekannte Lessings und der Freund Goethes, meinte, er sei mit dem Herzen ein Christ und mit dem Kopf ein Heide. Das ist ein Beispiel des Denkens, das zu nichts verpflichtet, weil es kein Denken vor Gott ist. Jdisches Denken aber verpflichtet. Es ist Denken vor Gott. 1. Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819). Deutscher Philosoph und Autor.

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Die Bibel enthlt ein Buch, das ein Mann geschrieben hat, der beinahe ein jdischer Friedrich Heinrich Jacobi geworden wre: Das Buch Kohelet. Dieses Buch beginnt mit einer Lebensphilosophie und fhrt sie zunchst von Kapitel zu Kapitel zu der Lebensphilosophie, die zu nichts verpflichtet. Aber dann ist in diesem Manne der Jude lebendig geworden, der Jude erwacht; dann ist jdische Existenz in ihm rege geworden, und er hat all dieses nichtverpflichtende Denken bei Seite geschoben und das Wort gesprochen, das wir alle kennen: »Der Schluß von allem ist: Frchte Gott und halte seine Gebote; denn dieses ist der ganze Mensch.« 1 Das ist in der Tat der ganze Jude, und das bedeutet in der Forderung »jeder Jude« Leben vor Gott, Existenz vor Gott, Denken vor Gott, Denken, welches verpflichtet im Gehorsam gegen Gott, jeden verpflichtet und zu jeder Stunde verpflichtet: »Frchte Gott und halte seine Gebote« – das ist im letzten der ganze Jude, jeder Jude, die jdische Existenz. Lehrhausvortrag vom 30. Mai 1935. Leo Baeck Institute Bulletin 81 (1988): S. 9-16.

* Die Gestalt des deutschen Judentums Das deutsche Judentum, wie es sich durch die Jahrhunderte gestaltet hat, ist von zwei Gebieten her bestimmt, die in ihrem Gegebenen wie in ihrer Entwicklung gesondert sind, so daß sich hier Unterschiede auch der jdischen Kultur und der jdischen Art bildeten: von dem alten deutschen Land im Westen und Sden, wohin Vorfahren aus Italien und Frankreich gekommen waren, und von dem Siedlungslande im Osten, nach dem schon verhltnismßig frh Kaufleute vorgedrungen waren, und das dann spter den vor Verfolgungen flchtenden Nachkommen eine Zuflucht gewhrt hatte. Die alten westlichen und sdlichen Gemeinden, die an den Bischofssitzen und dann den Handelsstraßen entlang entstanden waren, hatten ein eigenes Geprge, das sie wahrten und weitergaben. Fr wie lange auch oft an vielen ihrer Pltze ihr Dasein im Gange der Zeiten beendet wurde, so behielten doch die im ußeren getrennten Abschnitte eine innere Einheit; ein eigenes Leben setzte sich geschichtlich fort. Die religise Weise und die wissenschaftliche Arbeit zeugen von einem stetigen Charakter. Eine schlichte, klare 1. Koh 12,13.

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Vernnftigkeit war hier, vielleicht ein Erbe von Rabbenu Gerschom 1 und Raschi 2 her, kennzeichnend geworden; ein gesunder Menschenverstand, der nicht allzuviel grbelte, gab seine Bescheide. Es war hier wenig von dem philosophischen und knstlerischen Genius, wenig auch, so sehr die Fernen ihre Kunde hierher sandten, von der hinausreichenden Kraft des Gesichts zu finden, wie sie sich unter den Juden Spaniens und Sdfrankreichs damals offenbarten. Nicht ein Meer, sondern Flsse bestimmten wie die wirtschaftliche so die geistige Richtung und den gesamten Ausblick. Ebensowenig hat die Form, mit der sich spter das weite, stliche Flachland auch in den Juden dort ausdrckte bald als der hinausziehende, sehnsuchtsvolle, bilderreiche Traum bald als der in sich selbst hineindrngende und sich hineinbohrende, oft spitzfindige Scharfsinn, hier in der umgrenzten Landschaft einen Raum gewonnen. Aber dafr ist schon frh ein Sinn fr die Wirklichkeit, ein Streben zum Wesentlichen hier heimisch gewesen, eine ruhige Sachlichkeit und Gegenstndlichkeit, die nach der Deutlichkeit und nach der sicheren Weitergabe der Lehre trachtet. Ganz besonders war darum hier auch eine pdagogische Weise zu Hause, ein Wunsch, zu erlutern und darzulegen. Nicht das Esoterische, das Geheimnisvolle, Geweihte und Verkndete, sondern das Exoterische, das Gemeinfaßliche, das sich Aussprechende, die Weisheit, die sich an alle wendet, hatte hier den eigentlichen Platz. Und in dem allen lebte ein starkes Empfinden fr das Menschliche und Gtige, ein Verlangen, um sich zu sehen, das Verbindende und Einigende zu erfassen und festzuhalten. Mit dem Zuge zum Volkstmlichen, das die Erkenntnis zu den breiten Schichten tragen will, verbindet sich die Sittenpredigt, auch die Bußdisziplin, das Begehren, zu bessern und zu erziehen. Die »Zuchtbcher« sind hier ein charakteristisches Schrifttum. Auch die Lehre vom Ritual und auch die Mystik, die von Italien her gekommen war, gewinnt hier diese hervortretende moralische Linie. Nicht sowohl ein Individualismus, eine Sondertmlichkeit des Gedankens, als vielmehr ein Gesamtheitsdenken, ein Zusammenfassen wird hier das Kennzeichnende. Wie die Geschichte der werdenden deutschen Stdte zur Geschichte der jungen jdischen Gemeinden wird, so tritt in sie auch als innerer Gehalt manches Reichsstdtische ein; das Verstndnis fr Verfassung und 1. Gerschom ben Jehuda. Bedeutender jdischer Gelehrter im Deutschland des 10.-11. Jahrhunderts. 2. Rabbi Salomo ben Isaak (1040-1105). Jdischer Bibel- und Talmudexeget in Frankreich.

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Gliederung, fr Stetigkeit und Recht wurde ein Besitztum dieser Gemeinden. Daher der Wille zum Zusammenhalt, zu Vereinbarung, zu zusammenfhrender Ordnung im ffentlichen Leben. Die Einrichtung der freien Synode ist hier zuerst geschaffen worden. Und das alles war getragen durch die »deutsche Frmmigkeit«, die man spter gern rhmte, diesen fr das Gottesgebot immer bereiten Willen, diese schlichte Glubigkeit, die kein Zweifel anficht, die mehr Antworten hat als Fragen, der das einfache Gottvertrauen vor Allem steht. In den stlichen Gemeinden haben die deutschen Juden ihr jngeres Dasein, eine bereits mitgegebene Geschichte. Die alte Heimat hatte viele vertrieben, und das Kolonisationsland jenseits der Elbe, nach dem hin schon die Unternehmungslust des Kaufmanns aus dem alten Bezirk gefhrt worden war, hatte ihnen eine bleibende Sttte gewhrt, von der sie sich dann auch bisweilen wieder nach dem Westen zurckwandten. Der Raum ihrer Jahre, in dem sich jetzt mit festgehaltenem Alten ein Neues seelisch verweben sollte, war die Ebene. Diese Landschaft, wo Traum und Dialektik, Mystik und Scharfsinn wohnen konnten, hat auch ihnen das ihre verliehen, hat ihrem Empfinden, ihrem Denken und auch ihrer Wissenschaft Linien eingezeichnet. Nicht das Meer wie fr die Juden des europischen Sdens, nicht die Flsse wie fr die Juden West- und Sddeutschlands, sondern die Landwege, die oft endlosen, waren hier die Bahn, auf der Menschen, Stimmungen und Gedanken wanderten. ber die Grenze hinaus leitete sie oft zu weiten Fernen, zu Auslndischem und Fremdartigem hin. Zu Wundersamem und Seltsamem konnte sich der Gesichtskreis dehnen; Lnder anderen Wesens, Vlker anderer Erscheinung gelangten vor den Blick und ließen ihre Kunde und ihr Geheimnis vernehmen. Besonders auch auf den Straßen nach dem Sdosten des Erdteils, dem Orient zu, zog es her und hin; Mystik und Messianismus kamen von dort als Keime und als Gebilde in die jdischen Gemeinden herein. Das alles hat auf den Klang des Seelischen und auf den Ton der Frmmigkeit eingewirkt und hat ihm oft, verglichen mit dem einfacheren des Westens, etwas Zusammengesetzteres, bisweilen ein Problematischeres, Fragenreicheres, doch auch oft etwas Inhaltvolleres gegeben. Das Verschiedenartige trat auch noch unmittelbarer zu diesen Gemeinden hin. Die deutschen Stdte, an die sie sich anlehnten, standen hier in slawischem Lande. Nicht nur die Juden, auch die Christen, die aus dem alten Deutschland gekommen waren, lebten hier als Kolonisten in einem Volke, von dem sie abgesondert waren, auch sie waren hier die Anderen, die Fremden. Spter kamen dann noch 255

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bisweilen weitere Gruppen mit eigenen Zgen, ausgewandert oder verjagt wie die Juden, in diese oft so kleinen Stdte hinein, Hussiten, bhmische Brder, Calvinisten aus Frankreich, Salzburger. Menschenkinder mannigfachen Geprges trafen hier aufeinander in den Gassen der Stadt. Schon Katholiken und Protestanten wohnten hier unmittelbarer als in den alten deutschen Bereichen nebeneinander. Sie waren hier als Menschen neben Menschen, nicht nur als Territorien neben Territorien gestellt. Im mittleren und westlichen Deutschland gab es nur das andersglubige Gebiet; hier gab es den andersglubigen Menschen. Und er war hier in der Mannigfaltigkeit. Hier waren die Juden darum nicht die einzigen anderen, hier hoben nicht sie allein sich ab; sie waren hier andere unter anderen, eine Besonderheit unter Besonderheiten. Und das alles war in einen stdtischen Rahmen hineingefgt, der enger war als im alten Deutschland, der zu einer gewissen Nhe, zu einer geistigen Bekanntheit und Vertrautheit ntigte. Der Sinn wurde auf das Charakteristische, auf das Gekennzeichnete hingelenkt; die Andacht zum Eigentmlichen und zum Kleinen wurde geweckt. Auch davon hat das Denken und ebenso die Frmmigkeit in diesen Gemeinden ihre Linien erhalten. Sie war nicht reine Milieufrmmigkeit wie im Westen, ganz durch die Gesamtatmosphre der Gemeinde bestimmt, sondern innerhalb dieser Milieufrmmigkeit waren hier Zge einer Individualfrmmigkeit, einer Religiositt, die dem Einzelnen als solchem mehr aufgibt und mehr von ihm fordert. Beide Gebiete, das alte Deutschland sowohl wie das Siedlungsland, haben auch von Bhmen und Mhren gelegentlich Zuflsse und geistige Einwirkungen, vornehmlich auch in der Zeit des Buchdrucks, empfangen. Mit Deutschland politisch oft verbunden, hat dieses Land, von Deutschland durch Gebirge abgeschlossen und nur nach Sdosten sich ein wenig ffnend, seinen eigenen Bereich, dieses Land, von dem der alte Chronist rhmt, daß durch seinen Boden kein Fluß, der außerhalb des Landes entspringe, die Ufer ziehe. Seine eigne, aufgewachsene Kultur hat es denn auch seit Altem, und in ihr wohnte ganz eigentmlich eine jdische Kultur und ein jdisches Gemeindeleben, im eigentlichen Bhmen und im Mhrischen Land durch mancherlei Abtnungen wieder unterschieden. Eine anziehende Mischung von Naivitt und Phantastik, von einer Gemeindesondertmlichkeit, einer Gemeindestndigkeit und einer Weltoffenheit und Weltfreudigkeit ist hier kennzeichnend. Menschen mit einer zwiefachen Umgebung, deren eine hier zudem bewußt gegen die andere stand, der slawischen und der deutschen, waren auch hier die Juden und daher auch hier nicht die einzigen Anderen 256

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im Lande. Hatte diese Umwelt auch nicht so viele Besonderheiten wie die des ostdeutschen Juden, so hatte sie dafr einen grßeren Reichtum und eine ltere, lebendigere Tradition. Wie rege und wie stetig im einzelnen die Zusammenhnge mit dem jdischen Deutschland, dem westlichen wie dem stlichen, waren, zeigt schon die Familiengeschichte der Jahrhunderte. Aber die Gestalt dieses deutschen Judentums hat wesentliche Prgungen von hier nicht erfahren knnen. Ein hnliches gilt von den Beziehungen zu den alten, mit der deutschen Kultur einst mannigfach verknpften Mittelpunkten im galizischen Polen. So rege und lebendig persnliche und geistige Einwirkungen oft von dort kamen, so haben sie doch keine formgebende Bedeutung erlangt. Ebenso sind die gelegentlichen Zuwanderungen portugiesischer Juden und einzelne Verbindungen mit Holland nur auf Nebenwegen geblieben. Dafr hat ein anderer, durch geschichtliche Verhltnisse gebrachter Vorgang das Bild des deutschen Judentums dann weiter bestimmt. Das mde zu Ende gehende Mittelalter hat im alten Deutschland – bis auf Worms und vor allem Frankfurt, das denn auch eine Besonderheit in der gemeindlichen Geschichte seitdem hier aufweist – die Juden fr lange aus den Stdten vertrieben und auf das flache Land gefhrt. Sie verloren so die Verbindung mit der stdtischen Kultur und meist auch mit dem Welthandel, der von den Stdten ausging; sie wurden dafr in den landschaftlichen Bezirk eingefgt. Ihrem Denken, ihrem Wesen, ihrer Religiositt und auch ihrem Krperlichen sind damit eigene Zge gegeben worden, die des platten Landes eben: eine gesunde, zhe Kraft, die konservative, bedchtige, bisweilen langsame, aber dafr stetige Art, die beharrliche, manchmal ngstliche Treue gegen die berlieferte Form, die Hinneigung zum Brauch und zur Satzung, gelegentlich auch zu ihrem Aberglubischen und Kleinlichen. Da jetzt mit dem Fortzug aus den Stdten die geistigen Mittelpunkte auch fehlten, wurde der wissenschaftliche Sinn schwcher; das Alte wurde gehtet, aber neue Gedanken kamen kaum mehr hervor. Als im letzten Jahrhundert dann Aufklrungsideen in die Gemeinden und in ihren Gottesdienst eindrangen, wurde auch dieses Fortschrittliche sehr bald zu einem Konservativen; es wurde zu einem berlieferten, zu einem Festgestellten und Festzuhaltenden. Den ostdeutschen Juden hatte die andere Fgung das Wort gesprochen; sie waren vom flachen Lande zumeist ferngehalten, und die Stdte, die vielen kleinen Stdte dieses Gebietes waren ihr Bereich. Ihre Weise war, wie sehr sie dem Lande hier nahe blieben, doch die stdtische, die mehr gedankliche, die bewegliche und bis257

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weilen auch unruhige. In diesen Stdten, unter ihren Brgern aus manchen Lndern und in ihren Lateinschulen, hatte oft der Humanismus mit seiner Gelehrsamkeit und seiner Dichtung einen Platz, und nicht so selten fand das jdische Schrifttum, besonders auch das kabbalistische, seine Kenner und Jnger. Stdtische geistige Art und Bildung konnten hier an die Juden nahe heranreichen. Auch das hat sie zugnglicher und reger gemacht; Wandlungen, neuen Zielen, neuen Begriffen durften sie leichter erschlossen, Vernderungen leichter zugewandt sein. Damit auch trat wieder der Einzelne mehr hervor; die Persnlichkeit, die Individualitt, gelegentlich die Absonderlichkeit, konnte eher ihre Geltung gewinnen. Selbst das Konservative, das auch hier, wie immer und berall im Jdischen, im Grunde von allem war, hatte sein Bewegteres und war oft mehr ein Weiterschreitendes, als daß es nur bestanden htte. Immer blieb das geistige Streben lebendig, der suchende, forschende Sinn bestimmte schließlich alles. Durch diese unterschiedenen Daseinsbedingungen haben sich derart die Eigentmlichkeiten noch verstrkt, die fr die beiden Gebiete der deutschen Juden schon kennzeichnend geworden waren. Von Bedeutung fr die jdische Gesamtheit wurde es dann, daß mit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die deutsche Geschichte mehr und mehr das Schwergewicht staatlicher Kraft und staatlichen Lebens nach dem Osten verlegte. Die Tatsache, daß in der Persnlichkeit Friedrichs des Großen und in seinem sich dehnenden Herrschaftsbereich die strkere Bewegung gegeben war, die Tatsache ferner, daß der Befreiungskrieg nicht von dem alten Deutschland, von dem alten Reiche, sondern von dem stlichen Siedlungslande ausging, hat ber ein Zeitalter entschieden, und auch fr das jdische Leben in Deutschland ist das wichtig geworden. Die ostdeutschen Juden haben mit ihrer Art dadurch ein gewisses bergewicht erhalten. Auch das Aufwachsen der neuen Hauptstadt, zu der es viele von ihnen und verhltnismßig wenige aus dem Westen und Sden hinzog, hat dazu beigetragen. Zudem tat sich ihnen der geistige Raum der neuen Zeit, all das Vielfltige, Bewegte und Erregte, das in ihm war, mannigfach auf; so manches sprach hier zu ihrer Besonderheit und vermochte diese auch zu vernehmen; ihrem Eigentmlichen war hier oft der Platz geboten. ber alles Gelegentliche und Zufllige hinaus ist diese Verschiedenheit des jdischen Geprges in den beiden Gebieten – sie trafen bisweilen in der Mitte, der geographischen und der geistigen, zusammen – eine geschichtliche. Sie ist es auch im Sinne des geschichtlichen, bleibenden Wertes. Sowohl in dem Eigenen wird er 258

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offenbar, das sich in jedem der beiden Felder der Sonderart bewegte, als auch in der Polaritt, der Schwingung und Wechselbeziehung zwischen beiden, die sich innerhalb des Ganzen immer wieder seelisch, geistig und gesellschaftlich vollzog. Die Unterschiedenheit ist eine lebenschaffende, fruchtbare geworden. Zu der geistigen Spannkraft und der geistigen Ausdehnungsfhigkeit der deutschen Juden hat sie wesentlich beigetragen. Man knnte sie vielleicht durch die Begriffe verdeutlichen, in die Josef Nadlers 1 Literaturgeschichte den Gegensatz zwischen den klassischen Denkformen des Mutterlandes und den romantischen des Siedelraumes zu fassen sucht. Die ersteren sind hier durch die Worte »von der Idee aus«, die letzteren durch die Worte »zur Idee hin« bezeichnet. Bei aller Getrenntheit und Besonderheit der jdischen Art lassen sich diese Begriffe auch auf sie anwenden. Die westdeutschen und sddeutschen Juden hatten ihre stetigen Linien, den hergebrachten Stil des Tuns und Denkens, die feststehende Religiositt; sie kommen zumeist von etwas Gegebenem her. Die Juden des Ostens sind mehr dahinschreitend und zielbedrftig, sie suchen die Aufgaben, streben Wegen zu, sie gehen den Fragen nach, zu den Gedanken hin. »Von der Idee aus zur Idee hin« – so ist es auch hier ein Erklrendes oder zum mindesten ein Erluterndes. In beidem zusammen und in seiner Spannung innerhalb der Einheit und Gemeinsamkeit hat sich die Gesamtgestalt des deutschen Judentums geformt, haben sich seine eigentmlichen Zge gebildet. Alle die Persnlichkeiten, die fr das deutsche Judentum bestimmend geworden sind, haben von da her ein Charakteristisches. Auch dadurch ist das deutsche Judentum ein Geschichtliches geworden und so ein Bleibendes in der Menschheitsgeschichte. Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5696. Berlin, 1935/36. S. 53-63.

* Schpfungsordnungen Jeder Einzelexistenz ist es wesentlich, daß sie ihre Gegebenheit hat. Sie ist in ein Vorhandenes hineingestellt, sie ist immer relativ abhngig, immer in Bezug auf etwas: sie hat ihre Umstnde und ihre Einordnung. 1. Josef Nadler (1884-1963). Verfasser der Literaturgeschichte der deutschen Stmme und Landschaften in 4 Bnden (1929-1932).

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Es ist ein Problem, das die Theologie des fteren beschftigt hat, ob denn nicht diese relativen Abhngigkeiten in der absoluten Abhngigkeit alles Geschaffene begrndet, diesen irdischen, zeitlichen Bestimmtheiten also nur Ausdrucksformen der unendlichen, ewigen Bestimmtheit, der Schpfung durch Gott seien. Schon der mittelalterliche Streit zwischen Realismus und Nominalismus geht zu einem Teil auf diese Frage zurck. Sie ist dann wieder und betonter innerhalb der neuen, protestantischen Scholastik gestellt worden; die neue Theologie im Protestantismus ist ja in vielem eine Erneuerung der Scholastik mit allem ihrem Eigentmlichen: der Dialektik, dem Primat der Begriffe, der Auflsung der Stze in die einzelnen Begriffe. Hier, in dieser Schpfungstheologie, werden die Verbundenheiten des menschlichen Daseins, die Einordnungen, durch die es in ein Gesamtes hineingefhrt ist, seien sie natrlicher, seien sie geschichtlicher und staatlicher Art, als »Schpfungsordnungen« erklrt: sie seien durch Gott, als den Schpfer des Himmels und der Erde, festgesetzt: wir ehrten ihn, indem wir sie begriffen: wir dienten ihm, indem wir sie achteten und pflegten. Und dieser Weg kann recht weit fhren, so weit, daß diese Theologie fast zu einer ethnologischen und geographischen wird: das auf Erden Gewordene, das Lnder- und Vlkerbild, wie menschliches Streben und Trachten, menschliche Macht und Ohnmacht es haben werden lassen, erscheint schließlich hier als die Prdestination, als die Form, welche Gottes Schpferwille zu der großen Gewißheit der Menschheit, zu ihrem Leben und ihrer Zukunft gemacht habe. Verlockt hatten nach dieser Richtung hin schon Hegelsche Gedanken, in denen das Verstehen einer Wirklichkeit zu ihrer philosophischen Rechtfertigung und Anerkennung, zu ihrer Vernunft geworden war, und sie hatten sich zudem fr diese Theologie eng an die Luther’sche Lehre von den gottgewollten »Stnden« und »Stiften« anschließen knnen. Nicht auf das Evangelium, das ohnehin in dieser Hinsicht vor manche Schwierigkeiten stellte, sondern auf diese »Schpfungsordnungen« wird hier die Sozialethik gegrndet. Das Fundament fr diese, das so gesuchte, schien nun vorhanden zu sein, und der Theologie, die auf ihm stand, konnte es je nach dem Bedrfen jetzt leicht werden, das, was man bewahrt wissen wollte, auf gttliche Ordnungen zurckzufhren, und fr das, was man durchgesetzt wnschte, diese Ordnungen aufzubieten. Wie sehr im Bereiche alles Menschlichen jene Abgrenzungen und Abhngigkeiten und damit ihre Ordnungen stetig und bestimmend sind, bedarf keiner Errterung. Alles menschliche Dasein, das des Einzelnen wie das der Gesamtheiten, lebt in der Beziehung, und alle 260

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Schpfungsordnungen

Beziehung besagt eine Einheit in der Verschiedenheit. Ob nun die Einheit als ursprnglich und die Verschiedenheit als die in dieser Einheit gewordene Vielheit aufgefaßt oder umgekehrt die Besonderheit als anfnglich und alle Einheitlichkeit als gewordene Verbindung genommen wird, jedenfalls hat alle menschliche Existenz, wie sie geschichtlich geworden ist, ihre Ordnungen. Aber das, worum es sich hier in dem Problem der Schpfungsordnungen handelt, ist ein anderes. Denn hier ist eine entscheidende Frage gestellt, und von der Antwort auf sie hngt das Letzte der sozialen Ethik und berhaupt der Kultur ab, die Frage nmlich: Sind die Ordnungen der menschlichen Existenz ganz in der Welt des Natrlichen befaßt, oder bedeuten sie etwas, was darber hinausgehoben sein kann und soll? Waltet in ihnen nur das Natrliche der Schpfung, oder will sich in ihnen eine Kraft kundtun, die der Welt des Natrlichen abgeht, eine Kraft der Entscheidung und Freiheit? An dieser Frage trennen sich die Bahnen: die Bahn einer »natrlichen« Gesellschaftslehre, die nur zu oft zu einer materialistischen wird, und die einer religis-sittlichen. Dort erscheint eine bestimmte Ordnung, sei sie Trennung oder Einheit, als eine endgltige, endgltig wie alles nur Natrliche und am Ende darum auch schicksalsmßig. Hier ist in allen Ordnungen die Forderung eines gebotenen Weges, ein immer weiter Weisendes, vorwrtsweisend wie alles, woran sich die sittliche Freiheitsaufgabe, die Gebotserfllung des Menschen bewhren soll. Es ist daher begreiflich, daß jene Schpfungstheologie, und in ihrem Gefolge jene politische Theologie, da ihren Platz findet, wo eine Gnaden- und Prdestinationslehre vorerst nur den natrlichen Menschen anerkennt und jede ursprngliche Freiheitsanlage in ihm ablehnt. Von der Frage, ob dem Menschen seine Existenz als ein Platz nur oder als ein Gebot, ob sie als eine Ordnung der Schpfung nur oder als ein zu erreichendes Ziel zugeeignet ist, davon hngt die Richtung alles sozialen Denkens ab. Naturhaft-endgltig oder sittlich-kategorisch, das ist auch hier der Gegensatz. Werden menschliche Ordnungen als die sittliche Aufgabe des Menschen erfaßt, so ist damit zugleich begriffen, daß sie als ein Vorhandenes, Gegebenes vor ihr stehen. Jede sittliche Aufgabe kommt von einem Wirklichen her, das zu einer hheren Wirklichkeit erhoben werden soll. Aus Besonderheiten und Mannigfaltigkeiten soll so immer wieder hhere Ordnung und damit hhere Einheit gestaltet sein. Die formende Kraft, die Schpfung im sittlichen Sinne, soll sich beweisen. Das Gegebene ist anerkannt, mit aller seiner Unterschiedenheit und Gegenstzlichkeit als ein Tatschliches anerkannt, aber es ist hier nicht der fertige Sinn des Daseins, die unabnderliche 261

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Schpfung, sondern es ist hier der sich immer erneuernde Beginn, es ist das, woran die sittliche Forderung ihrer selbst bewußt wird. Nicht von der Vergangenheit her, diesem Gebiete des Endgltigen, sondern von der Zukunft her, diesem Gebiete des Ideales, des zu Erfllenden, ist hier alles bestimmt. Vor das Denken tritt hier nicht das allein, was da ist, nicht nur, was geworden ist, sondern vor allem, was werden soll, das also, was den sittlichen Willen des Menschen aufruft. Nicht auf Schpfungsordnungen, sondern auf Willensordnungen baut sich hier die soziale Ethik auf. Alle soziale Ethik ist darum hier messianisch. Die messianische Idee ist der eigentliche Widerspruch gegen die Lehre von den Schpfungsordnungen. Dieser Gegensatz betont sich fast schon in der prophetischen Predigt, wenn sie die Zukunft verheißend, »den neuen Himmel und die neue Erde«, gewissermaßen die neue Schpfungsordnung verkndet. Dieselbe Richtung ist gezeigt, wenn die Haggada, die den Begriff »Schpfungsordnung« ssiduro schel olam kennt, sie als die Ordnung betrachtet, deren Bestand und Form von dem Tun der Menschen auf Erden abhngt. Zwischen zwei Ideen ist hier eine Correlation, eine wechselseitige Beziehung zwischen Schpfung und Gottesreich: es ist dieselbe Beziehung wie zwischen Wirklichkeit und Verwirklichung. In der Schpfungsordnung liegt als Aufgabe das Gottesreich. Daher konnte das alte Alenugebet sich des Wortes bedienen: »Die Welt gerade zu machen, zu ordnen durch das Gottesreich.« Das Gottesreich wird so der Maßstab der »Schpfungsordnung«, an ihm hat sie sich zu beweisen und zu rechtfertigen. Hier zeigt es sich, worin der eigentliche Mangel jener Theologie der Schpfungsordnungen liegt; ihr fehlt die Idee des Messianischen, die Idee des Gottesreiches, diese Idee, an der sich die Gehalte der Religionen sondern. Jdische Allgemeine Zeitung 16.22 (1936): Beilage S. 3. [27. Mai]

* Die Wste Palstina und Griechenland erscheinen wie zusammengehrig, der Osten und der Westen eines Gesamtgebietes. So verschieden sie nach außen hin gebildet sind, dieses gegliedertste und dieses ungegliedertste der Lnder, dieses Land, das nach dem Meere hinaus, und dieses Land, das in die Wste hinein greift, so zeigen sie, mit den Inseln zwischen ihnen, in ihren Bergen und Ebenen doch eine Grundform, die ihnen gemeinsam ist. Wer auf dem Wege durch das 262

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Die Wste

Mittelmeer um sich blickt, steht immer wieder unter diesem Eindruck. In diesem Bereiche liegt Palstina an besonderer Stelle. Es ist in ihm der Bezirk, an dem sich die Wste bricht – nicht nur der Oasenkreis in der Wste, nicht das Gebirge, das vor ihr ragt, auch nicht das Fruchtland, das ein Strom inmitten der Wste bereitet, sondern das Land, das die Natur vor die Wste gesetzt hat, so daß sie an ihm endet. Sie sieht der Mensch, wenn er hier um sich schaut, so wie der Grieche das Meer sieht. Wie die Gesnge Homers vom Meere erzhlen, so die Bcher Mosis von der Wste. Das Volk, das diesem Lande seine Geschichte gegeben hat, lebte in zwei Erinnerungen, und beide wurden ihm zu einer religisen Kraft, in der Erinnerung an die Knechtschaft und in der Erinnerung an die Wste. Immer wieder gedenkt dieses Volk dessen und soll dessen gedenken: Gott hat dich aus dem Hause der Knechte herausgefhrt, Gott hat dich in der Wste umhergefhrt. Die Knechtschaft, das ist der große Gegensatz, der Widerspruch, die Mahnung an das, was nicht mehr sein soll, so wie Freiheit die große Gewißheit ist, die Zuversicht dessen, was sein wird. Wste ist nicht Gegensatz; das ist sie in Zarathustras Religion. Nirgends ist gesagt: Er hat dich aus der Wste herausgefhrt. Nachdrcklich ist gesagt: Er hat dich in ihr geleitet. Wste ist das, was durchzogen werden muß. Was diese Welt vor der kommenden Welt ist, das ist die Wste vor des Menschen Besitz und Erbe auf Erden. Wenn ein neues Leben beginnen soll, muß die Wste durchwandert werden. Wenn der Prophet sich besinnen will, kehrt er in der Wste ein. Der Irrtum ist oft wiederholt worden, Israels Monotheismus sei ein Kind der Wste, von ihrer berall gleichen Art geboren und von ihr zeugend. In Wahrheit steht dieser Monotheismus vor der Wste; er hat ihr einen Sinn gegeben, so daß der Israelit sie immer vor sich sieht und immer zugleich weiß, was sie bedeutet. Sie ist in Israels Religion das, was davor und daneben ist, dieses oft so breite Daneben, in dem der Mensch oft so lange gehen muß, ehe er zum Ziele gelangt. Die Wanderung durch sie ist der Umweg, der fr den Menschen so oft zum Wege wird, fr ihn, der so oft Gott nachgeht im Daneben, in der Wste. Die Bibel ist ohne sie nicht zu denken und nicht zu begreifen. Grenzgebiete einer Welt, Westen und Osten, sind Hellas und Palstina, in so vielem verschieden und in so manchem, so will es bisweilen scheinen, doch zusammenkommend. Eine alte Frage des Nachdenkens ist, was wohl Griechenland aus Eigenem gestaltet, 263

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und was es empfangen und nur weitergebildet hat, und aus dieser Frage steigt die Frage hervor, ob die beiden Vlker, Hellenen und Israeliten, die in dem Schrifttum ihrer alten großen Zeit kaum Kunde von einander weisen, auch nichts von einander gewußt haben. Hat eines dem anderen gegeben, haben sie einander gegeben? Deutlich sehen wir nur das Verschiedene, das Besondere der beiden Vlker, dieser beiden, von denen, seit sie ihr eigenes Leben gefunden, Jahrhunderte leben. Und in dem Eigensten Israels ist es ein Eigenes, daß die Menschen in ihm um den Auszug aus der Knechtschaft wissen, und daß sie wissen, was die Wste besagt und bedeutet. Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5697. Berlin, 1936/37. S. 157-159.

* Zeiten und Tage Die Menschheit lebt, seit sie zu denken begann, von einigen wenigen Fragen. Immer wieder ringt der menschliche Geist mit ihnen. Wie nach dem alten jdischen Worte der Zug des Geschehens ist, daß ein Rad durch Welt und Zeit hindurch zieht, ein Oben immer wieder und immer wieder ein Unten, so ist es im Ganzen der Ideen. Sie steigen auf und nieder. Nachdem sie die Tage erfaßt hatten, nachdem Gemter mit ihnen gekmpft, versinken sie und sind verklungen, um dann wieder, wenn die Zeit gekommen, im Kreise des Gesichts zu erscheinen und wieder die Antwort zu verlangen. Es sind die alten Gedanken, und was dem neuen Tag gegeben wird, ist nur, daß er neu sie suche und neu sie dann forme. Das ist Gottes Werk: er hat geschaffen, daß es fort und fort die Wege gehe. Was ist weiter erlangt worden, seit er die ersten Fragen gebildet? Seit die Menschheit zu erfahren anfing, erlebt sie dieselben Geschikke. Sie kommen und gehen: das Leid und die Freude, das Bangen und das Hoffen, die Enttuschung und die Erwartung, das Abseits und die Verbundenheit. Sie ziehen empor und ziehen hinab. Immer wieder wird der Mensch geboren, und sie sind dieselben in ihren Zeiten. Niemand, wer immer er sei, kann ein neues Schicksal festlegen. Erst wenn das geschhe, daß Menschen hergestellt wrden, in menschlicher Absicht durch Hnde und Werkzeug, dann gbe es ein Bleiben dessen, was Menschen in ihrem Tage bestimmen. Solange der Mensch das Kind von Vater und Mutter ist, im Dunkel gewor264

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Zeiten und Tage

den, tritt sein Tag in seine Zeit, in die, welche das Rad des Geschehens heraufgefhrt hat. Ein Mensch kann Tage besitzen, aber keine Zeiten geben. Was ist hinzugetan worden, seit Gott die ersten Geschicke werden ließ ? Schicksale und Gedanken haben ihre Zeiten, und die Menschen haben darin ihre Tage. Alles, was Menschen ihre Wege heißen, ist der Drang der Tage in die Tage. Alles, was sie Geschichte heißen, ist der Kampf ihrer Tage mit den Zeiten. Sie meinen so oft, Geschichte zu ergreifen, sie glauben so gern, ein Geschick und ein Denken zu bereiten; aber sie sehen nur den Tag und erfassen nicht die Zeit. Nur wer oberhalb von allem stnde, so daß er das Auf und Nieder she, wßte um das, was ist. Wie unser Sinn den Gang der Erde, auf der wir sind, nicht erfhrt, so wird die Bewegung der Zeiten, darein die Geschlechter gestellt sind, nicht erfaßt. Ein Gesetz aus der Ferne, aus dem Unendlichen hervor, trgt sie und fhrt alles. Wie oft auch Menschen wollten und forschten und rangen, was davon haben sie in ihren Bereich gefhrt? Sie haben sich dafr ihr eigenes Gebiet zu bereiten gesucht. Durch die Tage in die Zeiten hinein haben sie Straßen angelegt, indem sie erzhlten und aufzeichneten, was sie gesehen, gehrt und gelernt hatten, und das alles miteinander zu Wegen verbanden. Geschicke in der Menschheit, Bezirke des Wissens erschienen so vor dem Blick, und der Tag erfuhr so von einer Vergangenheit, die zu ihm gehrte, von einer Gegenwart, in der er stehe, damit er sie zu einer Zukunft fortsetze. Je und je in seinem Tage dachte nun der Mensch vorn angelangt zu sein, oberhalb der Tage; er meinte die weite Bahn zu erkennen, die zu ihm hinfhrte, zu ihm in seinem Wollen und Trachten. Ihm schien es gegeben, Richtung und Gang zu lenken, den Weg der Geschlechter vorzuschreiben. Immer wieder ist es so geschehen. Und was ist geblieben, wo sind die Ziele, die erreicht worden wren? In dem Ewigen, in Gottes Bestimmung sind die Zeiten, im Endlichen, in der Menschen Trachten sind die Tage. Es ist eine Verbundenheit mit dem ewigen Gotte verheißen worden, sie stellt in die Zeiten hinein. In diesem Bunde mit Gott werden die Fragen, die wenigen, immer wiederkehrenden zur Antwort, die Schicksale, die immer gleichen, zum Geschicktsein. Dem jdischen Volke ist dieser Bund zum Bescheide und zur Fgung geworden; es ist das Volk, das um die Zeiten weiß. Nur in den Zeiten kann es, wenn es an sich festhalten will, sein Leben haben. Sein Bereich ist oberhalb der Tage, dort, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins werden. Dort sind die Zeichen und die Ziele; denn dort gibt es den einen Weg, die 265

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eine Geschichte nur, den Weg Gottes, die Geschichte, welche Gott, den Ewigen, verkndet. In den Gebieten der Tage sind die wandelnden Grenzen gezogen, bald vorwrtsgerckt, bald rckwrtsgeschoben. Die Zeiten sind in der Unendlichkeit; das Gebot, nicht die Linie der Trennung, ist hier vorgezeichnet. Die ganze Welt tritt darum hier vor den Blick. Wer in den Tagen nur sein kleines oder großes Dasein hat, der will von ihnen das Seine gewinnen, fr sich und gegen die anderen. Wer in den Zeiten lebt, der hrt, was zu allen spricht, der sieht, was zu allen kommen will. Er erfhrt um die Forderung, die jedem gilt, und wird darum so manchem, so oft zum Vorwurf und rgernis. Auch er erlebt, wie Geschehen und Denken sich durch die Menschheit bewegen; seine Tage werden von ihnen erfaßt, und Schicksal und Irrtum sind auch sein. Aber er vermag, sich zu den Zeiten zu erheben und zuletzt immer doch den Spruch des Ewigen zu vernehmen. Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5699. Berlin, 1938/39. S. 8-11.

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Kunst und Kultur Der Ausschluß der Juden von der aktiven ffentlichen Teilnahme an deutscher Kultur und Kunst brachte eine Wiederbelebung jdischer Kultur hervor, welche sogar die Untersttzung der deutschen Behrden fand, deren Wunsch es war, die Unterschiede zwischen den zwei Kulturen herauszustellen. Die Erschaffung einer spezifisch jdischen Kultursphre veranlaßte Baeck, seine Ansichten ber die Beschaffenheit der Kultur im allgemeinen aus Perspektive des Judentums und ber jdische Kultur im besonderen auszudrcken. In einem kurzen Absatz zur Einleitung einer Ausgabe der Monatsbltter des Kulturbunds Deutscher Juden wrdigte Baeck den Wert des kulturellen Ausdrucks als eine Quelle innerer Strke in schweren Zeiten. Obwohl er Kultur und Kunst sicherlich schtzte, war es charakteristisch fr Baeck, die beiden mit hheren, religisen und sozialen Zwecken in Verbindung zu bringen. Er verachtete jene Juden, deren Leben von »sthetischem Getriebe und Modernittsgehabe« angetrieben wurde. Kunst sei nur ein »Blick in die Welt«, wohingegen die Ausbung sozialer Verantwortung einen »Weg in die Welt« biete. Ebenso mßten die Veranstaltungen der jdischen Sportvereine ber krperliche Bettigung hinaus einen Zweck verfolgen. Besonders »heute« sei es ihre Aufgabe, die deutschen Juden zu strken, moralisch sowie physisch. Bedenkt man die disproportionale Rolle der deutschen Juden in der Weimarer Kultur, sowohl als Knstler als auch als Publikum, und ihre Begeisterung fr europische Kultur im allgemeinen, so ist es nicht verwunderlich, daß viele von ihnen sich in eine »Bildungsenge« gezwungen sahen. Baeck jedoch bewertete diese Verwehrung nicht ausschließlich negativ. Die Juden knnten nun ihre »Bildungstreibjagd« aufgeben und herausfinden, daß der Weg zu wahrer Bildung »der Weg zu uns selber« sei. Seine Haltung zu Kunst war hnlich. Die christliche Kunst hatte die Juden ausgeschlossen, und sie hatten stattdessen ihren Platz in der europischen Kunst gefunden. Aber seine Verinnerlichung der europischen knstlerischen Werte, welche im Christentum verwurzelt blieben, htte den modernen Juden seiner eigenen Kultur und Tradition entfremdet und so zu einer tiefen innerlichen Spaltung gefhrt, die nur durch eine Rckkehr zum jdischen Glauben als Grundlage aller Kreativitt berwunden werden knne. Baeck argumentierte, daß nur durch Gott »sein Leben und sein Wesen das Knstlerische [gewinnt]. Dieses Jdische ist fr ihn darum keine Enge, sondern weiteste Weite …«. Als immer mehr deutsche Juden aus Deutschland nach Palstina, in die Vereinigten Staaten, nach Sdamerika, Australien, Sdafrika, ja, in jedes Land, das sie aufnehmen wrde, auswanderten, nahmen sie 267

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die Traditionen des deutschen Judentums mit sich, die kulturellen und die religisen. In seinem kurzen Aufsatz »Die Ferne« aus dem Jahre 1938 weist Baeck auf die große »Erstreckung der geistigen Gemeinschaft« hin, welche in der Vergangenheit die jdische Existenz gekennzeichnet hatte. Das derzeitige Schicksal der deutschen Juden trieb sie wieder einmal in die Ferne. Ihre Muttergemeinde war im Verschwinden, aber ihr Anteil an europischer Kultur und besonders der religise Glaube ihrer Vorfahren wrde sie auch weiterhin vereinigen: »Etwas von der Musik ewiger Offenbarung will auch heute in den Herzen tnen, um die Welten zu verbinden, die Fernen zu einen«. * Fr den Kulturbund Deutscher Juden Wenn einer Gemeinschaft von Menschen ihr Eigentmliches, Besonderes zum Bewußtsein kommt, dann gewinnt sie ihre Kultur, und sie beginnt damit als Gemeinschaft, im geistig-geschichtlichen Sinne, zu leben; sie erfhrt, wofr sie da sein soll. In ihrer Kultur hat sie so ihre Lebenskraft und ihr Lebensrecht. Wir deutschen Juden werden schwere entscheidende Zeiten bestehen, wenn wir es begreifen und erfassen, was unser Eigenes und Inneres, welches unsere Kultur ist. Kulturbund Deutscher Juden. Monatsbltter 2.1 (1934): S. 1. [Jan.]

* Kunst und Leben Appell zu der Aktion des Zentralausschusses fr Hilfe und Aufbau Was bedeutet es, daß wir hier an diesem Abend zu diesen Stunden beisammen sind? Wir haben ja das innere Recht, zu diesem Abend zusammen zu sein, nur wenn das alles hier auch seinen Sinn hat, der ber diese Stunden hinausreicht. Dieser Abend will bedeuten, daß wir alle, von unserem jdischen Standorte, unserem jdischen Platze aus in die Welt hinausblicken, daß wir um unseres Jdischen, um unseres Menschlichen willen in die Welt hinaussehen, in die Welt des Großen, diese Welt der Tragdie, und in die Welt des Kleinen, diese Welt der Komdie, um das Große in seiner Grße und das Kleine in seiner Kleinheit zu sehen. 268

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Kunst und Leben

Es ist das Eigene, das Geniale, das Persnliche Shakespeares, daß er in der Kraft seines Denkens und Gestaltens den Menschen mit der Welt zu verbinden vermochte. Sein Genius hat die weite Flle der Wirklichkeit, der Natur, der Geschichte und des Schicksals umfaßt und sie in Menschengestalt eingefgt, sie zu dem menschlichen Standpunkt und auch der menschlichen Verantwortung hingefhrt. Er hat eine Synthese, eine Verknpfung und Verwebung zur Einheit, zwischen Welt und Menschlichem zu gestalten vermocht, mit allen den Problemen auch, die darin gegeben sind – er ist ja auch mehr ein Meister der Probleme als der Lsungen. Durch seine Kunst knnen wir in die Welt hinaussehen lernen. Wir Juden des vorigen Jahrhunderts, zumal wir deutschen Juden, haben uns viel darum bemht, und uns viel daran hingegeben und auch daran fortgegeben, die Welt durch die Kunst zu eigen zu gewinnen. Wir haben uns zu sehr darin und daran fortgegeben, und wir haben dadurch zumeist unseren jdischen Standort verloren – und nur vom jdischen, durch die Jahrtausende geschaffenen Standort aus knnen wir wahr uns zutiefst die Welt sehen. So viele von uns hatte eine Schausucht und Schaugier, eine Hrsucht und Hrgier erfaßt und hatte diese Menschen durch ihre Tage hindurch und in ihren Tagen umhergetrieben. Wir kennen sie, um sie mit einem Worte des Aristophanes zu benennen, diese »zehntausend Mnnlein und Weiblein«, deren Lebensinhalt es war, Kunst zu sehen, Kunst zu hren, ber Kunst zu sprechen, diese sthetisch Verkleideten, die immer dem Modernen nachwandelten. Sie haben den jdischen Standort verloren, und sie haben darum auch nie von der Welt etwas erlebt aus einem Grunde vor allem. Ihnen war das, was die Kunst zeigte, bloßer Stoff, Stoff der Schausucht und Hrsucht, des Verlangens nach Neuem und Wechselndem, nur Stoff, aber nicht Kraft, und es ist ihnen darum auch nicht zur Kraft geworden. Und es gibt nur eine Kraft im Menschlichen, die sittliche, die religise Kraft; alles andere Knnen ist nur Macht oder Talent, nur Gewalt oder Fertigkeit. Das Jdische und Menschliche ist in jenem Treiben verzehrt worden. Eines kann hiervor retten, das ist die Besinnung auf den Sinn des Lebens, und alles Leben erschließt sich uns im eigenen, uns Juden im jdischen Leben. Diese Besinnung auf uns, diese echte Selbsterkenntnis wird zur inneren Befreiung. Selbsterkenntnis ist nicht ein Blick in den glatten Spiegel, sondern ist der Blick zu der Pflicht, zu der ernsten, Opfer gebietenden Pflicht. So hat der Meister, der nach Shakespeare als Grßter wieder Welt und Leben sah, Goethe es gesagt: 269

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»Versuche deine Pflicht zu tun und du weißt gleich, was an dir ist. Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.« Im Opfer, das wir bringen, lernen wir wahrhaft in die Welt hinaussehen, von unserem jdischen Standort aus in sie hineinblicken. Das Opfer fr Menschen befreit von sthetischem Getriebe und Modernittsgehabe. Der heutige Abend ist der Kunst geweiht, diesem Blick in die Welt, und er ist zugleich einem Entschluß geweiht, diesem Wege zur Welt. Er will die Arbeit unseres Zentralausschusses fr Hilfe und Aufbau einleiten, dessen zweites Jahr mit alten und neuen großen, unentbehrlichen Aufgaben vor uns hintritt, und dazu aufrufen, daß jeder nach seinem Knnen fr dieses große Werk eintrete und beitrage. Wer das erfllt, dem erschließt sich das Leben, der ist dann gereift und geprft, die Kunst zu erleben, in ihr die Welt zu erfahren, als Jude die Welt mit ihren Fragen und Geboten. Am 9. Mai 1934 fand im Theater des jdischen Kulturbundes Berlin die Erstauffhrung von Shakespeares Lustspiel »Was Ihr wollt« statt. Die Veranstaltung war zugleich Auftakt einer Aktion des Zentralausschusses der deutschen Juden. In seiner Eigenschaft als Prsident der Reichsvertretung der deutschen Juden hielt Leo Baeck vor der Vorstellung obige Ansprache an das Publikum. Jdische Rundschau 39. 38 (1934): S. 5. [10. Mai]

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Sprache Sprache ist Daseinsbesitztum menschlicher Gemeinschaft. Das will sagen: sie ist hier berliefert, von Geschlecht zu Geschlecht, und wird doch immer wieder, durch jedes neue Leben, geboren – ein Erbe und nur zu empfangen, und doch eine Aufgabe, die sich stets wieder stellt. Beides zusammen wird daher zu ihrer Wirklichkeit und Wesenheit: das berkommene, die Sache, die im Wandel beharrt, und das Persnliche, der Ausdruck, den das Ich verleiht; sie ist hier die Sprache aller einst und jetzt und ist die Sprache jedes Einzelnen in seinem Heute. Und wie der Mensch ist sie in Innerlichem und ußerlichem, im Erhabenen und Gewhnlichen gebildet, und wie in ihm kann dieses eine und dieses andere ihr zur Gegenwart und zur Zukunft werden. Auch die Sprache eines Volkes hat daher ihr Schicksal; sie hat ihre kleinen und ihre großen Zeiten. Bald soll sie nur brauchbares Werkzeug des Alltags sein oder tnendes Mittel der Selbstsucht, bald dr270

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Bildungsenge?

fen Wahrhaftigkeit und Verlangen nach Recht, Vornehmheit und Sehnsucht in ihr leben. Sie kann so Wandlungen ihres Gehaltes erfahren und durch alles das, was in ihr bestimmend wird, und sie hat so ihre Siege und ihre Niederlagen – und das sind die eigentlichen, die entscheidenden Siege und Niederlagen eines Volkes. Sie gewinnt neuen Bereich und verliert alten, ererbten durch das, was sie der Welt zu bedeuten beginnt, Ausdruck eines Hohen oder Ausdruck eines Niedrigen inmitten der Menschheit. Aus Ehrfurcht vor der Sprache, Ehrerbietung damit gegen Menschen, deren Suchen und Hoffen in dieser Sprache ringt und den Reichtum der Besonderheit ihr schenkt, grndet sich aller Sinn fr eine weite Gemeinschaft, alle Liebe zu ihr und ihrer Heimat. Ist die Kraft dieser Achtung im Schwinden, dann wird das Empfinden fr die Gesamtheit im Weichen sein, und die Kultur, die im Lande lebt, wird sich verengen. Denn das ist doch einende Bildung, Kultur: die Fhigkeit der einen, innerhalb des verbindenden Ganzen einem Eigentmlichen Form und Wort zu geben, und diese Fhigkeit der anderen, Verstndnis und Herzensscheu dem entgegenzubringen. In der Sprache wohnt so eine sittliche Aufgabe auch, und wir deutschen Juden drfen wissen, daß sie zu uns hintritt, daß wir sie, heute zumal, erfllen sollen. Sprache des Menschen, Seele seiner Sprache ist das, was durch seine Worte offenbart ist. Von einem Ernst und einer Geradheit, von einer Tapferkeit und einer Hoffnung, von einer Frmmigkeit und einer Ehrfurcht, von einer inneren, demtigen Grße kann die Sprache eines Menschen zeugen. Es ist ein Gebot, auch der Kultur, daß die Seele des Juden spreche und die Seele des Juden hre. Almanach 1934-1935. Kulturbund deutscher Juden. Berlin, [1934]. S. 6.

* Bildungsenge? Manchen mag die Frage bedrcken, ob die Juden in Deutschland, als Gesamtheit zumal, heute nicht in eine Bildungsenge hineingefhrt worden seien. Aber weniger als irgendwann brauchte uns heute solche Sorge zu beugen. Denn durch nichts weniger als durch eine Erstreckung des Stoffes, als durch eine Lage der Zeit, als durch Rume der Beziehung ist Bildung bedingt oder bewirkt. Unter der Menge der Bildung hatten wir Juden in Deutschland lange Zeit nur gelitten. Immer wieder Neues, immer wieder Anderes 271

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hatten wir in uns hineingenommen. Wer kannte nicht den beengten, bedrngten Troß, der, um nur nicht berholt zu werden, nur nicht zurckzubleiben, in ermdendem Wettlauf zu jedem Schaubild, zu jedem Tonspiel, zu jedem Buche hineilte. Das war doch die jdische Hast, von der, mit Grund, spttisch geredet wurde. Von ihr sind wir freigemacht, freigezwungen worden. Wir knnen heute gebildeter sein, als manches frhere Geschlecht, das dieser Bildungstreibjagd beflissen war. Denn Bildung ist Vertiefung, und immer in so Weniges nur kann sich der Mensch, auch der begabteste, vertiefen. Wer drei oder vier Werken, die in der Menschheit geschaffen worden sind, nahezukommen sucht, um in sie einzudringen, der lebt in der Bildungsflle. An jeden begrenzten Gegenwartsaugenblick hatten wir uns gefesselt und ließen uns von ihm mitzerren; auch das war Bildungsenge. Wer erinnert sich nicht – wohl uns, daß es eine Erinnerung nur sein darf – an die von jener nie endenden Pein Gefaßten, sie wrden nicht die Jetzigen, die Modernen sein. Das war doch wirklich jene jdische Angst, von der hhnisch gesprochen wurde. Von ihr hat uns ein Schicksal ledig werden lassen. Wir knnen heute wieder unabhngig vom nur Kommenden, Gehenden sein. Zu dem Echten, Bleibenden, zu dem, was in den Jahrtausenden seinen Platz hat, und von dem niemand uns trennen kann, vermgen wir uns hinzuwenden. Hierfr knnen wir wieder den Blick gewinnen. Wir knnen in der Bildungsweite sein. Von Richtungen nach hier und dort, zu allen berall, hatten wir Wert, Gehalt und Bedeutung einzubringen gewnscht. Wer weiß nicht um das Gewimmel derer unter uns, deren Dasein dieses stete Nachgehen, dieses stete Beziehen war, die allenthalben wohnen wollten. Ihnen hat, leider mit Fug, das bittere Wort von dem jdischen Nachlaufen und berlaufen gelten mssen. Davon sind wir durch ein Geschick jetzt fortgeholt worden, und den geraden Weg zur Bildung knnen wir jetzt finden. Er ist der Weg zu uns selber. Denn die Bildung ist seelische, geistige Empfnglichkeit und die daraus erwachsende Ausdrucksfhigkeit; sie wird sich natrlich und echt in dem Innersten und Eigentlichsten des Menschen immer formen, uns Juden daher in unserem Jdischen. Wir knnen heute gebildet sein; wir knnen in unserer Bildungsfreiheit leben. Das ist es, was heute fr uns anbrechen will. Jdischer Kulturbund. Monatsbltter 3.7 (1935): S. 1. [Juli]

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Zum Sportereignis des Jahres im Sportbund des Reichsbundes jdischer Frontsoldaten Bereitschaft und Gemeinschaft, dies beides zusammen will das Ziel des jdischen Bundes auch sein, der die Leibesbung pflegt – Bereitschaft und Gemeinschaft in ihrer idealen Bedeutung. Das, was in seinem ursprnglichen, edlen Sinne das Wort »Askese« meint: Strkung des sittlichen Willens ebenso wie des krperlichen Knnens, des krperlichen um des sittlichen willen, das soll vor jedem hier bestimmend dastehen. Dem Judentum dienen, nur das kann darum die hchste, die alles umfassende Aufgabe hier auch sein. Menschen des Ertragens und Entsagens erziehen, Menschen der aufrechten Seele in aufrechten Krpern heranbilden, Menschen dazu fhren, daß sie ihr kleines Ich hinter den großen Gedanken zurcktreten lassen, daß sie jdische Menschen werden, bewußt und ernst am jdischen Gebote und am jdischen Leben festhaltend, entschlossen, sich als Menschen jdischer Bereitschaft und jdischer Gemeinschaft zu bewhren, so allein ist es heute zumal Gehalt und Gebot des jdischen Sportbundes. Der Schild 15.27 (1936): S. 1. [3. Juli]

* Zum Geleit eines Katalogs Der Tag, welcher bedrngt, macht Menschen zu Menschen gleichen Schicksals: er fhrt Wege zusammen. Die Nhe des anderen wird entdeckt, seine sttzende, aufrichtende Nhe. An seinem Geschick befreit sich das eigene, lst es sich aus der Vereinzelung. Zur Selbsterhaltung wird jetzt das Soziale, nachdem es in umhegter Zeit so oft nur um der Geltung, um des Gesellschaftlichen willen dagestanden hatte. Jetzt erfasst es die Seelen als das große Gebot. Aber auf der Bahn des Geistes auch – und auch die Kunst spricht hier – wollen nun die Wege zusammenkommen, um Nhe und Befreiung zu geben. Gleiches Geschick ohne Gemeinschaft des Geistes wre nur Not aller. Erst wenn einer sich am anderen im Geistigen erkennt, wird das zusammenfgende Schicksal zum einigenden Selbstbewusstsein. In friedlichen Jahren kam Bildung als ein Zubehr zum Menschen, angeschafft und angelegt; in harter Zeit tritt der Geist als Gebot des Lebens an uns heran.

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Beides, das Soziale und das Geistige, hat in der Religion seine starke Wurzel. Durch beides will aus ihr Selbstbehauptung erwachsen. Katalog fr die Reichsausstellung jdischer Knstler im Jdischen Museum Berlin. Frhjahr 1936. Druckschrift.

* Europa Der Gegenstand der Kunst ist nach Taines 1 bekanntem Wort »ein Stck Natur, durch ein Temperament hindurch gesehen«. Aber er hat doch wohl den weiteren Bereich. Das ganze Universum mit allem, was es umfaßt, will sich in der Individualitt des Knstlers brechen, um das Kunstwerk werden zu lassen. Alles, was da ist, kann und will im Kunstwerk etwas bedeuten. Dadurch eben, daß das, was kommt und geht, zugleich etwas zu bedeuten beginnt, etwas zu bedeuten vermag, sich in einem Menschen, und durch ihn fr andere, mit Bedeutung erfllt, wird es zum Vorwurf und Besitze der Kunst. Ihre Gaben und ihre Mittel sind verschieden, aber entscheidend in all dem Mannigfaltigen wird diese Bedeutsamkeit. Zu dieser Bedeutsamkeit gelangt ein Wesen, ein Ereignis, wenn es einen Zusammenhang von sichtbarer und unsichtbarer Welt ahnen und erleben lßt. Alles ußere hat hier ein Inneres, alles Daseiende und Geschehende sein Seelisches. In ihm offenbart sich etwas; es ist nicht bloß ein Gegenstand, sondern zugleich, wie die Klassiker des vorigen Jahrhunderts sagten, ein Symbol. Es weist auf etwas hin, was hinter ihm ist und wovon es lebendig zeugt, auf ein Allgemeines, Umschlingendes, Bleibendes, auf ein Unerforschliches, auf einen Sinn, einen Gehalt, ein Schicksal, eine Bestimmung. Etwas, was grßer, hher ist, als der Gegenstand an sich ist, spricht aus ihm, etwas, was danach verlangt, bedeutet und gedeutet zu werden. Der Knstler erfhrt es so, und durch sein Gestalten vermittelt er es anderen; vermge dessen, was er ist, erfhrt er es, und durch das, was er kann, vermittelt er es. Wenn ein Mensch, und jedem kann es so gewhrt sein, hinter seinem Ich und seinem Geschicke ein Grßeres erfaßt, will in sein Persnliches ein Knstlerisches und in sein Leben ein Bedeutsames, etwas von einem Kunstwerk kommen. Letztes und tiefstes Kunstwerk, letzte und tiefste Bedeutsamkeit wird so die Frmmigkeit, die den 1. Hippolyte Adolphe Taine (1828-1893). Franzsischer Kritiker und Historiker.

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einen Gott erlebt. Sie erlebt das Letzte und Tiefste. In ihr hebt gleichsam Gott an nicht nur zu sein, sondern zu bedeuten; Gott fngt an sich zu offenbaren. Fr den Frommen ist darum Gott immer sein Gott. Was das meint, kann am Kunstwerk sein Gleichnis haben: der wahre Maler hat den Baum gemalt, weil er ganz sein Baum geworden ist; der Dichter hat den Menschen gestaltet, weil er ihn als seinen Menschen erlebt hat. Und der Vergleich kann weiter ziehen. Jedes wahre Kunstwerk ist Ausdruck einer starken echten Liebe – das unterscheidet ja den Dilettanten und den Artisten von dem Knstler; sie treibt eine Neigung, vielleicht eine große, aber nicht die Liebe, die diesen umfaßt und erschttert. Alles kann zum Kunstwerk werden, wenn es in dem, der es zu formen vermag, solche Liebe erweckt, daß sie ihn sehend, hrend, erkennend macht und durch sie irgendein Wesen auf Erden ihm sein Wesen ist. So auch weiß der Fromme Gott als seinen Gott, so liebt er ihn mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und ganzer Kraft. Es ist das Bedeutsame dieser Frmmigkeit, daß Gott, der eine Gott, sich allein und selbst ihr offenbart. Gtter knnen in Bildern bedeutsam werden; von ihnen kann es Bilder geben, wenn der Knstler hinter ihnen das, was grßer, mchtiger und erhabener ist, als sie selbst sind, erlebt. Den einen Gott darf kein Bildnis und keine Gestalt darzustellen suchen; denn hinter ihm ist kein Hheres und Mchtigeres mehr, er ist »der Erste und Letzte«. Er offenbart nichts anderes und keinen anderen, sondern nur sich selbst; er bedeutet nichts anderes, sondern sich selbst allein. Hinter ihm ist auch nichts Unsichtbares mehr. Auf ihn als »den Ersten und den Letzten« kann nur hingewiesen werden, und er kann bezeugt sein nur durch das fromme Leben, die fromme Tat mit ihrem Erleben. Alles Symbol darf hier nicht Darstellung sein, sondern bloß Zeichen und Mahnung, daß der Mensch nicht vergesse. Nur das Wort, das gewissermaßen nicht sagen, sondern besagen will, das der Mensch nicht sprechen, sondern nur vermitteln mag, in dem nicht er selbst, sondern der eine Gott geehrt werden soll, nur die Musik, die mit nichts, was hinzustellen und darzubieten trachtet, sich verbindet, die so ist, daß sie nicht sowohl vernommen als vielmehr empfangen werden soll, kann hier den Bereich haben. Frmmigkeit wird hier das Entscheidende. Jeder echte Knstler, so will es oft scheinen, ist unterwegs zur Frmmigkeit, alle wahre Kunst, ob sie es weiß oder nicht, ist in ihrem Ziele religise Kunst; denn das, was als Unsichtbares, Unerforschliches hinter dem Sichtbaren erlebt wird, will zu dem Ersten und Letzten, dem Ewigen hinfhren. Alles Urteil ber Knstler und Kunst bestimmt sich daran, wie weit sie suchend oder erreichend 275

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auf diesem Wege sind. Es gibt auf ihm die Abschnitte, vor dem Letzten Vorheriges und Einstweiliges, vor dem Großen oder Grßten ein Kleineres, das an sich, in seiner Art, ein Großes sein kann. Und im Kleinsten kann sich ein Großes und in dem, was groß zu sein meint, eine Geringheit bekunden. Die Kunst hat ihre Zeiten und ihre Gestalten. Wie das vom Schaffenden gilt, so von jedem Menschen, der ein Hheres, Umfassenderes erfhrt und in dessen Wesen und Sein damit ein Bedeutsames, Knstlerisches eintritt. Auch auf diesem Wege kommt der eine zu Nherem, gelangt der andere zur Weite hin. Alles, worin wahres Heimatempfinden, Gruppenempfinden, Volksempfinden lebt, hat hier seine Richtung oder seine Erfllung, sein Suchen oder sein Ziel. Epochen knnen an dem einen und dem anderen innerlich gekennzeichnet sein und ihre Geschichte darin besitzen. An einem Erlebnis zumal, einem, in dem Zeiten sich knstlerisch begreifen wollten, an dem europischen kann es sich so aufzeigen, und wir Menschen unserer Tage, wir Juden besonders, hinter denen dieses Erlebnis als ein Vergangenes, fast wie unsere Vergangenheit zu liegen scheint, knnen manches Verstehen von da aus erlangen. Die Idee eines Europa ist eine verhltnismßig junge. Die Gemeinschaft der europischen Vlker und Lnder fand lange ihren bestimmten Ausdruck in dem Worte »Kirche«, und dann, besonders seit der Reformation, in dem Worte »Christenheit«. Kirche, Christenheit, das war es in der Tat, worin eine Gesamtheit und Einheit, die hinter allem stand, worin darum eine Bedeutsamkeit des Daseins erlebt wurde. Wo immer Menschen und Tagen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit ein Knstlerisches eignete, hatte es darin sein Geprge. Eine große Geschichte, die Geschichte einer Vlkereinheit, besaß daran ihr Symbolisches. Darum hatte die Idee der Kirche ihr Korrelat, ihre gegebene Beziehung in der Idee des Reiches, des imperium, dem sie seine Bedeutsamkeit gab, und das imperium, das war das imperium romanum; rmisches Reich, das war das Reich schlechthin. In ihm hatten sich einst Europa und das vordere Asien vereint, staatlich und geistig und ebenso dann kirchlich. Die zwei gestaltenden Krfte, die in der Kirche lebten, der Glaube und das Naturrecht, waren beide von Asien her, aus dem stlichen Bereiche des imperium gekommen, der Glaube von den Juden, das Naturrecht von den Stoikern des Orients. Diese eine Idee von Kirche und Reich hatte in den Kreuzzugsgedanken gewirkt, und wenn die aus der Kirche geborene Renaissance die lateinische und griechische Bildungswelt zu verbinden suchte, so hatte sie sich darin als geistige Wiederherstellung des imperium auch empfunden. Das Wort 276

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»christlich« und das Wort »rmisch« in seinem umfassenden Sinn sprachen dasselbe aus. Kirche und imperium, bald ineinander bald beieinander als Einheit empfunden, waren das, worin jene Jahrhunderte eine Bedeutsamkeit erfahren hatten, sich zu einem Knstlerischen hatten gestalten knnen. Mit der Reformation begann dann hier ein Wandel. Die Staaten, die Teile des imperium, brachen in die Kirche ein, so wie vorher, in der Zeit des niedergehenden imperium, die Kirche in die Staaten eingebrochen war. Kirchliche Gebiete und Gter wurden in weltliche umgewandelt, die Kultur wurde mehr und mehr verstaatlicht und damit skularisiert, neben und gegen den kirchlichen Humanismus trat ein selbstndiger, weltlicher. Der Begriff »Christenheit« hrte mehr und mehr auf, das innerlich Verbindende und Einigende, das Bedeutsame der Volker und Menschen des Erdteils zu bezeichnen. An seiner Stelle erlangte jetzt ein neuer Begriff seine Geltung, der Begriff »Europa«. Er hrte nun auf, ein Geographisches oder Historisches nur zu benennen, er wird das Wort fr ein Allgemeines, das sich in allem Besonderen kundtun kann, das hinter dem Besonderen, Einzelnen steht, um ihm eine Bedeutsamkeit und ein Knstlerisches zu geben. Diese neue Bedeutsamkeit bereitete sich auch bald ihre eigentmliche Form, die der Bildung. Der Mensch Europas, das ist der gebildete, der humane Mensch, die Bildung, das ist die neue Vlkereinheit. Sie ist auch die neue, weltliche Religiositt, die die alte ersetzen will, zumal dort, wo die Aufklrung, dieses legitime Kind des Absolutismus, ihren Bereich gewann. Der gebildete Mensch ist jetzt der wahrhaft fromme Mensch, er besitzt die echte Religion. Zudem hatten Humanismus und Aufklrung die Dogmen erweicht oder zurcktreten lassen, auf Vernunft und Moral, auf Denken und Tun mehr als den auf Glauben wird jetzt der Nachdruck gelegt; sie werden der Sinn des Lebens. Von daher will jetzt in den Menschen Europas sein Knstlerisches kommen. Zu ganz besonderem Geschehnis und Erlebnis wurde das fr die Juden Europas. Als die Vlker des Erdteils in der Kirche, in der Christenheit ihre Einheit und ihr Symbolisches besaßen, konnten die Juden nur außerhalb der Gesamtheit gestellt sein. Das, was den Menschen hier ihr Gemeinsames, ihr Bedeutsames war, das, worin sich ein Knstlerisches ihres Wesens aussprechen konnte, das Christliche, war gerade das, was sie von den Juden ganz eigentlich schied, und worin die Juden selbst sich in ihrem Persnlichsten geschieden fhlten. In diese mittelalterliche Welt konnte der Jude eintreten nur, wenn er aufhrte, Jude zu sein. Jetzt dagegen, wo der neue Begriff mit seinem symbolischen Gehalt vorgedrungen war, wo nicht mehr 277

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die Christenheit, sondern Europa sich in dem Menschen darstellen sollte, wo der gebildete, tugendhafte Mensch die knstlerische Gestaltung dieser neuen Idee geworden war, jetzt, so schien es, vermochte der Jude auch innerhalb des großen Ganzen zu sein, innerhalb dessen, was alle seelisch einte, was ihnen allen das Bedeutsame ihres Lebens war. Auch er konnte nun der europische, der gebildete, der aufgeklrte, der europisch fromme Mensch sein, das knstlerische Bild konnte sich auch an ihm darbieten. Aber damit war er in eine ernste Problematik hineingefhrt. Als ein Mensch voller Bedeutsamkeit, einer tiefer noch als die der anderen in den Zeiten verwurzelten, hatte er dagestanden. In den Judenbezirken des Mittelalters lebten Menschen, die um des einen Gottes willen, den kein Abbild darstellen darf, fernab von allem Kunstgebilde sein wollten, die aber ein Leben zu eigen hatten, das im sinnvollsten Sinne ein knstlerisches war. Alles, was sie erfuhren und taten, war erfllt von symbolischer Kraft, offenbarte den einen Gott und zeugte von ihm. Sie selbst waren das Zeugnis dessen, der »der Erste und der Letzte« ist. Wohl niemals ist ein Leben so ganz Bedeutsamkeit gewesen wie dieses jdische Leben. Es konnte nur das sein, oder es konnte nicht mehr sein. Nun zog die Fgung der Tage den Juden in den Bezirk der Bedeutsamkeit Europas hinein; nur noch neben ihr, vielleicht berhaupt nicht mehr sollte seine eigene da sein. Dem Christen Europas war ein allmhlicher bergang gewhrt gewesen und damit ein, oft leichter, Ausgleich der Welten. Er brauchte sich nicht von sich selbst zu entfernen; aus der Welt und der Idee der Christenheit waren Welt und Idee Europas geworden. Dem Juden schien im raschen Wechsel von Zeit und Geschick der Eintritt einen Austritt oder zum mindesten eine, oft qulende, Spannung zu besagen. Es war eine harte Aufgabe, und sie hat ihre Mhen und ihre Opfer abverlangt. Ein Geringeres darin war, daß eine innere Verbindung mit der neuen Bedeutsamkeit bisweilen allzu sehr gewollt und gesucht wurde und wie alles Absichtliche leicht eine bertreibung oder Verzerrung bewirkte – es kam nicht von bloßer Bswilligkeit und Feindseligkeit her, wenn der Jude damals so oft Gegenstand des Witzes und Spottes wurde. Auch das war gegenber dem Entscheidenden ein Geringeres, daß so manche sich verloren und den Rckweg oder den Ausweg nicht mehr fanden, und daß sie so in der Welt rings umher den Juden und das Judentum als beendet, als berholt und entamtet erscheinen ließen – es war nicht bloße Gleichgltigkeit oder Gedankenlosigkeit, wenn viele ringsumher die Geschichte und den Sinn des Juden nicht sahen. Das Entschei278

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Europa

dende war ein anderes; es kam daher, daß dort auch, wo das Jdische feststehen wollte, so selten und so spt begriffen wurde, wie jdische und europische Bedeutsamkeit zueinander bezogen wren. Auch dort meinte man oft das Jdische vom Europischen her betrachten zu sollen, betrachten zu mssen; man dachte, daß das Jdische vom Europischen her seine Bedeutsamkeit empfinge, daß dem Juden nur von hier aus ein Knstlerisches in sein Leben gelange, daß also das Europische fr das Jdische sinngebend und damit schließlich die Richtung weisend wre. Dies war das entscheidende Versehen und Vergehen – diese Worte in ihrem Wrtlichen genommen. Weg und Gang von Generationen waren jetzt hiervon bestimmt, um so mehr, da hier ein weiterer Einfluß noch geltend wurde. Durch die franzsische Revolution war die liberale Aufklrung zurckgedrngt worden – jede Revolution wirkt schließlich gegen Humanismus und Liberalismus; die christlichen Krfte Europas konnten wieder mehr hervortreten. Aus ihnen war ja die neue weltliche Kultur ursprnglich hervorgegangen, und diesem Geschichtlichen hat sie sich auf die Dauer nicht ganz entziehen knnen. Als sie in ihrer Philosophie ihrer selbst bewußt wurde, ist sie auch dessen mehr und mehr bewußt geworden; der Weg von Kant zu Schelling und Hegel, von Voltaire zu Chateaubriand lßt es deutlich erkennen. So waren der Jude und das Judentum, als sich ihnen das neue, das weltliche Europa erffnet hatte, sehr bald und weithin doch in einem christlichen Europa. Sie standen im Strahlenbereich nicht nur Europas, sondern auch des Christentums. In eine ganz neue seelische Lage und zu einer ganz neuen Aufgabe waren sie damit gefhrt. Im Mittelalter hatten sie durchaus neben allem Christlichen gelebt, innerlich noch mehr als im ußeren. Die eigene Bedeutsamkeit fhlte man durch die christliche niemals auch nur zur Frage geworden. Jetzt war es anders. Jetzt hatte man den eigenen Kreis dort, wo sich der des Christentums erstreckte. Nicht nur im ußeren war es so, sondern im Geistigen, dort besonders, wo auch diese Zeit ein Verbindendes fand, im Bezirke der Bildung. Das Problem der Bedeutsamkeit des Jdischen mußte sich jetzt einstellen. Auch hier ist es ein Schicksal geworden, daß so manchem der Blick und damit so oft der Weg beirrt worden ist. So mancher Jude schaute auf das Jdische vom Christlichen her; das Dahinterstehende, das, was die Bedeutung wies, war fr ihn das Christentum. Namen und Geschicke sprechen hiervon, Geschlecht um Geschlecht mehr als ein Jahrhundert lang. Dem Juden, wo immer er lebt, aber dem Juden Europas beson279

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ders, kann sein Dasein ein bedeutsames werden – und anders vermag er von Eigenem, Persnlichem auch heute und heute zumal nicht leben –, nur wenn er sein Judentum als Letztes, Offenbarendes und Entscheidendes hinter allem erkennt, es als das erfaßt, wovon hier in seinen Tagen und rings um seine Tage alles den letzten Sinn, die letzte Bedeutung, die letzte Symbolik fr ihn erhlt. Nur von seinem Judentum her kann er seelisch das alles begreifen, was im Wechsel und Wandel den Raum fllt und die Zeit bewegt. Auch Europa, auch das Christentum kann er nur so betrachten, wenn anders er sein Besonderes, sein Selbst erreichen will – das Judentum bedeutsam hinter Europa, hinter dem Christentum, nicht umgekehrt. Erst in der Bedeutsamkeit, die von dem Ewigen, dem einen Gotte her kommt, erlebt er, der Jude, sich und alles andere wahrhaft. Nur von daher gewinnt sein Leben und sein Wesen das Knstlerische. Dieses Jdische ist fr ihn darum keine Enge, sondern weiteste Weite des Begreifens, des Begreifens von allem Menschlichen; es ist fr ihn das Knstlerische des Erfassens, es fhrt ihn dahin, wo das Verstehen zum Ahnen wird, wo das Offenbarende anhebt. In der europischen Welt, in der Zeit Europas ward dem Judentum ein inhaltsvolles Stck seiner Geschichte zugewiesen. Auch wenn Europa aufhrte, als eine Vlkergemeinschaft, als eine geistige, sittliche Einheit zu bestehen, wenn es den Erdteil nur benennen sollte, in welchem es die Vlker gibt, so bliebe doch dem Juden, seinem Glauben und seinem Leben, hier sein Platz, wenn er nur immer um die eigene Bedeutsamkeit weiß, wenn dieses Knstlerische, dieses Gestaltende, das von dem Ersten und Letzten zeugt, zum steten Ausdruck seines Lebens, seines Persnlichen und Besonderen geworden ist. Der Morgen. 12.11 (Feb. 1937): S. 481-87.

* Die Ferne In der allgemeinen Auffassung und auch in geschichtlichen Darstellungen wird nicht selten die Meinung geußert, daß erst das vorige Jahrhundert den Gesichtskreis der Juden gedehnt, ihren Blick ber die Enge hinausgelenkt habe. Es ist sicherlich richtig, daß diese Zeit den Juden in die europische Bildungswelt hineingestellt und ihm Bezirke erschlossen hat, die ihm bis dahin unbekannt oder verwehrt gewesen waren. Sein Platz wurde gerumiger, sein Dasein mannig280

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Die Ferne

faltiger, er hrte nun andere Stimmen. Aber es darf hierber doch nicht verkannt werden, wie sich damals sein Ausblick auch zu beschrnken begann, wie der Weg aus seinem Mittelalter in seine neue Zeit, der ihn in Freie zu leiten versprach, ihm so manche Hhe und Weite genommen hat. Fr das jdische Denken und Sinnen in damals vergangenen Tagen war es bezeichnend gewesen, daß es zu den Bahnen des Kosmos hinzog. Die Welt, die von den Gestirnen herschaute, gehrte zu ihm. Es war, wie wenn die Gassen des Ghettos bergingen in die Straßen des Alls – in sie vorerst und nicht in die Wege ringsumher. Im Buch von dem »Sohar«, 1 dem »Lichtesglanz«, ist von der ewigen Musik gesprochen, in der sich Bund und Weg der Gestirne, in der sich Sinn und Gang der Offenbarung ordnen. Von ihr her klang es in jede Enge hinein; die Seele des Juden vernahm sie, er hrte die Fernen. Aber er sah auch ber trennende Gebirge und Meere hin. Man vergißt oft, welche Erstreckung die geistige Gemeinschaft der Juden damals besaß. Wenn wir etwa aus Mesopotamien, in der Zeit vom 9.–12. Jahrhundert, erfahren, daß ein Lehrer aus Sura mit der spanischen Gemeinde Lucena im Briefwechsel stand, daß zu einem Lehrer in Pumbedita 2 Schler von Italien und von der pyrenischen Halbinsel kamen, daß ein Mann aus Kiew sich an einen Lehrer in Bagdad mit der Bitte um einen Rechtsbescheid wandte, oder wenn wir wissen, daß die Werke Raschis, des Lehrers aus der Champagne, ein Jahrhundert nach seinem Tode in Turkestan, in Urgendsch gekannt sind, dann begreifen wir den Bereich jdischen Lebens in jener Zeit. Auch Entdecker- und Abenteuerfreude hat Juden damals in die Ferne gefhrt. So mancher ist, um zu suchen und zu sehen, nach sagenumwobenen Lndern des Ostens gezogen, so mancher war unter denen, die in den Tagen des Kolumbus und des Vasco da Gama nach neuen Straßen des Meeres hinausfuhren, so manche waren unter den merchant adventurers und den gentlemen adventurers, von denen die Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts erzhlt. Es war allenthalben eine Weite, zu der sich das Dasein der Juden des Mittelalters erstreckte. Heute hat das Schicksal uns wieder zu den Rumen der Welt hingefhrt. Kolonisatoren, Kolonisten ziehen hinaus. Kolonien werden 1. Das bedeutendste Buch der jdischen Kabbala, verfaßt in Spanien in den letzten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts. 2. Sura und Pumbedita waren die Sttten der großen jdischen Akademien in Mesopotamien.

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gegrndet, die bleiben sollen, wenn die Muttergemeinde schwindet. Juden aus Deutschland sind einst allenthalben Erbauer von Gemeinden, Erbauer auch von Husern jdischer Wissenschaft gewesen. So soll es heute wieder sein. Wie einer hinauszieht und wofr er hinauszieht, darin gestaltet sich das Geschick. Welch Klang ber die Fernen zu den Seelen dringen kann, darin ist ein Bestimmendes. Etwas von der Musik ewiger Offenbarung will auch heute in den Herzen tnen, um die Weiten zu verbinden, die Fernen zu einen. Der Morgen 14 (Aug. 1938): S. 181-182.

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Gemeinde und gemeinsame Pflicht Whrend die Juden zunehmend vom ffentlichen Leben in Deutschland ausgeschlossen wurden, gewann die jdische Gemeinde eine neue wichtige Bedeutung hinzu. Seit dem 19. Jahrhundert hatte sich ihre Funktion weitgehend auf religise Bedrfnisse und die soziale Wohlfahrt beschrnkt. Nun wurde sie, beinahe so wie in vormodernen Zeiten, zu einer Gemeinde, die alle Aspekte des Lebens einschloß. Baeck nannte sie eine »Lebensgemeinde«. Der Jude, der sich ihr ausschloß, wurde paradoxerweise zum »Ghettojuden«. Als Vorsteher dieser erweiterten Gemeinde war es Baecks Aufgabe, sie zu strken, der Spaltung durch enggefaßte Parteiinteressen entgegenzuwirken und ein attraktives Konzept dafr zu anzubieten, wie sich das Leben innerhalb dieser neuen jdischen Gemeinde gestalten knne. Zu den Verantwortungen der Gemeinde in den frhen Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft gehrte es, bei der Berufsumschichtung behilflich zu sein und das jdische Ausbildungswesen so zu erweitern, daß die steigende Anzahl der jdischen Kinder, die von den ffentlichen Schulen verwiesen wurden oder sie verließen, um der Schikane ihrer Lehrer oder Mitschler zu entgehen, aufgefangen werden konnte. In seinen Zeitungsartikeln und Mitteilungen im Namen der Reichsvertretung betont Baeck, daß jdische Bildung seelische Erneuerung hervorbringen knne. Fr die jdische Schuljugend, die nun nicht lnger am Samstag die Schule besuchen mußte, knne die neue Situation zu einer bedeutungsvolleren Einhaltung des Schabbats fhren. Ab Mitte des Jahrzehnts, als sich die wirtschaftliche Lage der deutschen Juden immer weiter verschlechterte, konzentrieren sich Baecks Schriften zur Gemeinde darauf, auf gegenseitige psychologische und materielle Untersttzung zu dringen. Auf der Erffnungsveranstaltung der Jdischen Winterhilfe im Jahre 1935 sprach er von »Mitdenken, Mitfhlen und Mittragen«. Bald wurden »Pflicht« und »Opfer« zu immer wiederkehrenden Schlsselworten. In einem frheren Zeitalter hatten die deutschen Juden den Juden aus Osteuropa Hilfe geleistet. Nun sei Bedarf im eigenen Kreise entstanden. Er versuchte, die Mitglieder seiner Gemeinde zu der Erkenntnis zu erziehen, daß sie, indem sie anderen halfen, ihr inneres Wesen fnden. ber die Pflichtbeitrge, die sie dem Gesetze nach machen mußten, hinaus, sollten sie außerdem, wenn noch irgend mglich, freiwillige Beitrge leisten. Im Jahre 1942 mußte Baeck zugeben, daß die auf weitreichendem Gebiet arbeitende Gemeinde des Jahres 1934 zu einer »Gemeinschaft der Helfenden« reduziert worden war. * 283

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An die deutschen Juden! Geleitwort von Leo Baeck Ein Doppeltes kann das Leben der Menschen sein, von der Zeit erkannt werden und eine Zeit erkennen. Von einer Zeit erkannt werden, darin liegt das Schicksal der Menschen, in dem Schuld und Verhngnis sich verknpfen und verweben. Wir Juden haben immer in allem Geschick auch das eigene Vergehen gesucht, in allem Verhngnis unser Irren bekannt. Eine Zeit erkennen, darin liegt die Freiheit des Menschen, in der Wille und Fgung sich verbinden und einen. Wir Juden haben immer, Gott und seiner Bestimmung vertrauend, den Mut und die Entschlossenheit gehabt, zu beginnen und zu erneuern. Aus Wirrnis und Verwirrung, von der Zeit erkannt, den Weg zur Zukunft, die Zeit erkennend, zu finden, das ist die große berwindung des Schicksals, das ist die Aufgabe, die uns gestellt ist. Kundgebung der Reichsvertretung der deutschen Juden In Tagen, die hart und schwer sind, wie nur je Tage der jdischen Geschichte, aber auch bedeutungsvoll, wie nur wenige gewesen, ist uns durch die gemeinsame Entschließung der jdischen Landesverbnde, der großen jdischen Organisationen und der Großgemeinden Deutschlands die Leitung und Vertretung der deutschen Juden bertragen worden. Kein Parteigedanke, kein Sonderwunsch hat daraus gesprochen, sondern allein und ganz die Erkenntnis dessen, daß Leben und Zukunft der deutschen Juden heute durch ihre Einigkeit und ihr Zusammenhalten bedingt sind. Darum ist es die erste Aufgabe, diese Einheit lebendig werden zu lassen. Jede Organisation und jeder Verband sollen in ihrer Lebenskraft und in ihrem Aufgabenkreise anerkannt sein, aber in allen großen und entscheidenden Aufgaben darf es nur die eine Gemeinschaft, nur die eine Gesamtheit der deutschen Juden geben. Wer heute Sonderwege geht, wer heute sich ausschließt, der hat sich an dem Lebensgebot der deutschen Juden vergangen. Im neuen Staate ist die Stellung der einzelnen Gruppen, auch derer, die zahlreicher und strker sind als wir, eine ganz andere geworden. Gesetzgebung und Wirtschaftsfhrung haben ihren gewiesenen Weg, eingliedernd und ausgliedernd. Wir sollen dies einsehen, ohne Selbsttuschung; nur dann werden wir jede einzige Mglichkeit beobachten knnen und um jedes Recht, um jeden Platz, um jeden Lebensraum zu ringen imstande sein. 284

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An die deutschen Juden!

Die deutschen Juden werden als arbeitnehmende und arbeitgebende, schaffende Gemeinschaft im neuen Staate sich bewhren knnen. Eigene Gedanken, eigene Aufgaben zu verwirklichen ist uns nur auf einem Gebiete, aber einem entscheidenden gewahrt, auf dem unseres jdischen Lebens, unserer jdischen Zukunft. Hier sind die bestimmtesten Aufgaben gestellt. Neue Pflichten jdischer Erziehung sind zu erfllen, neue Bereiche jdischer Schulen sind zu schaffen und alte zu wahren und zu schtzen, damit dem heranwachsenden Geschlechte seelische Festigkeit, innere Widerstandskraft, krperliche Tchtigkeit gegeben werden. Zu Berufen, die ihr einen Platz im Leben zeigen, soll unsere Jugend in besonnener Auswahl herangebildet und umgeschichtet werden, damit ihr Dasein einen Ausblick gewinne. Das Bestehende wie alles Begonnene und Versuchte soll hier zusammengefhrt werden, um zu helfen und zu sttzen. Allem Zersetzenden soll entgegengearbeitet, dem Aufbau auf dem religisen Fundament des Judentums alle Kraft geweiht werden. Viel von einstiger wirtschaftlicher Sicherheit ist uns deutschen Juden genommen oder beeintrchtigt worden. Innerhalb dessen, was uns bleibt, soll der einzelne aus der Vereinzelung herausgefhrt werden. Stndische Verbindungen und Zusammenschlsse, soweit zulssig, knnen vorhandene Krfte erhhen und dem Schwachen einen Rckhalt geben, knnen Erfahrungen und Beziehungen fr alle nutzbar machen. So manchem wird die Sttte der Arbeit und des Berufs auf deutschem Boden versagt sein. Vor uns steht die Tatsache, der gegenber alles Fragen und Meinen aufhrt, die deutliche, geschichtliche Notwendigkeit, unserer Jugend Neuland zu bereiten. Es ist zur großen Aufgabe geworden, Pltze zu erkunden und Wege zu bahnen, wie auf dem heiligen Boden Palstinas, dem die Vorsehung eine neue Zeit gefgt hat, so berall, wo Charakter, Schweiß und Tchtigkeit des deutschen Juden sich bewhren knnen, niemandem Brot nehmend, sondern anderen Brot schaffend. Hierfr, wie fr alles andere, erhoffen wir den verstndnisvollen Beistand der Behrden und die Achtung unserer nichtjdischen Mitbrger, mit denen wir uns in der Liebe und Treue zu Deutschland begegnen. Wir bauen auf den lebendigen Gemeinschaftssinn und das Verantwortungsbewußtsein der deutschen Juden, wie auch auf die opferwillige Hilfe unserer Brder berall. Wir wollen zusammenstehen und im Vertrauen auf unseren Gott fr die Ehre des jdischen Na285

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mens arbeiten. Mge aus dem Leide dieser Tage das Wesen des deutschen Juden neu erstehen! Die Kundgebung ist von Leo Baeck unterzeichnet. Israelitisches Familienblatt 35.39 (1933): S. 1. [28. Sept.]

* Religise Erneuerung Fr uns deutsche Juden ist alles in der Antwort auf eine Frage befaßt, auf die eine Frage, ob eine seelische Wiedergeburt, eine Erneuerung in uns bereitet wird, ob eigentmliche, wesentliche, innerliche Krfte, die geruht hatten, Krfte, die aus unserem Judentum wachsen, wieder lebendig und bewirkend werden knnen. Leid und Druck werden seelisch ertragbar, sie knnen aus dem Erdulden zum Schaffen fhren und im Letzten zu einem Segen werden, wenn in ihnen, trotz ihrer oder durch sie, etwas in unserem Innenleben befreit oder erhoben wird, von ihm etwas genommen wird, wodurch es frher beirrt und beengt war. In der Antwort darauf, ob uns deutschen Juden heute solches gegeben wird, ist unser Schicksal bestimmt. Neu werden ist in der Natur ein Gesetz; in der seelischen Welt ist es eine religise Entscheidung, ein Werden aus einer Freiheit. Alle Erziehung, ja aller Unterricht, sobald er ber das bloße Fachliche und Werkmßige hinaustritt, ist Heranbilden zu dieser Entscheidung, Heranfhren zur Verantwortlichkeit. Denn das Ziel aller Erziehung ist doch, daß der Mensch – und so der Jude als Jude – sich selber zur Aufgabe wird, daß er, mit einem letzten Sinne des Lebens verbunden, es weiß, wofr er lebt. Das wieder erfahren, in seinem Fordernden und Gebenden, das bedeutet seelische Erneuerung, und von hier aus, von diesem Jdischen her gewinnt fr uns Erziehen und auch Unterrichten erst eine innere Freiheit. Erneuerung des Judentums durch die Erziehung wird heute zur Frage unserer Zukunft. Familie und Schule sind zu ihr zusammengefhrt. Israelitisches Familienblatt 36.5 (1934): S. 2. [1. Feb.]

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Unsere Gemeinde Fr uns deutsche Juden bedeutet heute die Gemeinde mehr denn je. Seit altem schon ist sie den Ihren immer wieder Zuflucht und Halt geworden, beruhigend und bergend, wie eine trauliche, engere Heimat inmitten der großen. Wenn uns Juden Heimatsinn, Heimatliebe, diese seelische Verbundenheit mit dem Boden, der unsere Kindheit trug, mehr vielleicht als vielen anderen im Lande zu eigen ist, so daß wir ber alle Trennung im Raum und ber alle Entfernung der Tage mit dieser Sttte unseres werdenden Daseins verwachsen bleiben, auch dieses Heimatsgefhl wurzelt zu einem wesentlichen in der Gemeinde. Es bleibt in uns tiefer und strker, wenn unsere beginnenden Jahre von einer Gemeinde umfaßt und umhegt waren. Aber heute ist uns unsere Gemeinde noch mehr: sie ist uns fast wie ein Heim, wie ein schtzendes Haus. Eine Geborgenheit inmitten so mancher Einsamkeit, eine Beruhigung in aller Unrast ist uns durch sie gegeben. Es ist, wie wenn jetzt so viele von uns einander erst fnden, einer dem anderen auch innerlich nher gerckt werde. Und mehr denn je will so mancher in seines Daseins Bedrngnis oder in seiner Seele Notdurft dies heute erfahren, daß kein Jude verloren oder verlassen ist, so lange es seine Gemeinde gibt. Die große Zuversicht, diese Hilfe, die uns nottut gegen Verzagen und gegen Verbitterung, der Glaube an einen Weg, an eine Zukunft, will durch die Gemeinde immer neu werden. Dem Juden, der ohne sie wre, der neben ihr stehen wollte, wrde auch sein Menschentum beeintrchtigt werden, sein Seelisches sich verengen. In der Gemeinde leben, das gewinnt heute den ganzen Gehalt, den vollen Ton. Wie sollte ein Jude heute leben, in seinem Menschentum leben, wenn er das Bewußtsein von seiner Gemeinde nicht htte. Wer heute mit seiner Seele, mit seinem Opfer, mit seiner Hoffnung außerhalb der Gemeinde bliebe, der wre – dies Wort in seinem absprechenden Sinn genommen – Ghettojude. Damit erwachsen der Gemeinde, fast von Monat zu Monat, neue Aufgaben. Sie soll den Raum, die Hilfe und die Eingliederung fr das gewhren, worin wir alle, die Alten und zumal die heranwachsende Jugend, unser Menschentum bewhren knnen oder, mit anderen und doch dasselbe besagenden Worten, fr alles das, was Gottesdienst sein kann. Vieles, was einst neben ihr den oft weiten Platz hatte, verlangt jetzt in ihr die sichere Sttte. Sie, die sich einst inmitten eines vielgestaltigen Lebens vielleicht hatte beschrnken drfen und sich damit begngte, der Andacht, der Predigt, dem Religionsunterricht und dem Wohltun an Lebenden und Toten einen Bereich zu 287

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Im nationalsozialistischen Berlin – Gemeinde und gemeinsame Pflicht

schaffen, soll jetzt Gemeinde des jdischen Lebens sein. Es darf von ihr erwartet werden, daß sie zu all dem Alten so viel des Neuen in sich einfge: Erziehung, Schulung und Bildung, ja auch Erholung, Ausspannung, Erhebung durch die Kunst, und in diesen gestaltet sich ja das Wesen des Menschen meist noch mehr als in seiner Arbeit. Damit wird unsere Gemeinde nicht etwa verweltlicht – das Judentum kennt ja keine Scheidung von Bezirken der Religion und Bezirken des Lebens –: vielmehr kann vieles, was bisher oft weihelos und wrdelos war, nun eine Weihe und eine Wrde empfangen. Nur wenn politisches Trachten, parteiische Einseitigkeit sich dessen bemchtigen wollte, dann wrde unsere Gemeinde verweltlicht und entweiht. Nur dann bestnde auch die Gefahr, daß an Stelle eines schaffenden Aufbauens ein geschftiges Getriebe trte. Zur geschichtlichen Aufgabe unserer Gemeinde ist es geworden, Lebensgemeinde zu sein. Damit ist ein Letztes noch gesagt. Pflichten, die aus dem Ernste der Zeit geboren sind, lassen Grenzen und Sonderungen zurcktreten und fordern die Gemeinschaft, die Einheit. Wir sind jdische Gemeinden auf deutschem Heimatboden, jede mit ihrer Art, jede mit ihrer Sorge, ihrem Leid und ihrem Gebot. Aber ber all dem Verschiedenen steht die eine, uns allen auferlegte gleiche Not, vor uns allen die eine gleiche Aufgabe. Not und Aufgabe fhren uns zusammen, enger denn je. Wir knnen heute nur die eine jdische Gemeinde im deutschen Lande sein, die eine jdische Gemeinde »Deutschland«, die große Lebensgemeinde. Das zu verwirklichen, dem seine Weihe zu geben, das tritt vor uns als die heilige Mahnung hin, als Zeichen unserer Geschichte. Gemeindeblatt der Jdischen Gemeinde zu Berlin 24.2 (1934): S. 1. [2. Feb.]

* Erklrung der Reichsvertretung In bereinstimmung mit der großen Mehrheit der deutschen Juden und unter Zustimmung der Vertreter aller Organisationen hat die Reichsvertretung der deutschen Juden an die verschiedenen jdischen Gruppen die dringende Mahnung erlassen, in dieser ernsten Zeit den polemischen Richtungskampf einzustellen. Die verschiedenen Gruppen hatten denn auch, ohne damit irgend etwas von ihrer Eigenart aufzugeben, bis vor kurzem diese gegenseitige Bekmpfung unterlassen. In letzter Zeit ist aber wieder bedauerlicher Streit 288

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Wie gestalte ich den Schabbat?

ausgebrochen. Die Reichsvertretung muß deshalb mit allem Nachdruck feststellen: Vaterlndische Gesinnung und Zuverlssigkeit und Hingabe an das deutsche Vaterland sind, ebenso wie jdische Gesinnung und Treue gegen das Judentum, kein Sonderbesitz irgendwelcher Gruppen der deutschen Juden. Die Anhnger keiner Gruppe des deutschen Judentums haben es an vaterlndischer Treue fehlen lassen. Keine Gruppe darf es fr sich allein beanspruchen, die vaterlndischen Gesamtaufgaben des deutschen Judentums zu vertreten. Dieses Recht kommt der Reichsvertretung der deutschen Juden zu. Sie weiß es zu wahren und auszuben. Erklrung der Reichsvertretung der deutschen Juden, unterzeichnet von Leo Baeck. Die Redaktion der Jdischen Rundschau verffentlichte außerdem folgende Anmerkung:

Welche Polemik hier gemeint ist, ist unseren Lesern bekannt. Der Bundfhrer des Reichsbundes Jdischer Frontsoldaten hat in der Zeitschrift »Der Schild« einen Aufsatz verffentlicht, der in ziemlich unverblmter Weise die These aufstellte, die deutschen Zionisten seien in ihrer vaterlndischen Zuverlssigkeit den Mitgliedern des von ihm vertretenen Bundes nicht gleichzustellen. hnliche Auslassungen sind auch weiterhin in der Presse des R.J.F. erschienen, und es wird kaum ein Hehl daraus gemacht, daß diese Agitation des R.J.F. darauf abzielt, in Deutschland eine gnstigere Position fr die ihm angehrigen Juden auf Kosten anderer Juden zu erstreben. Die soll – vielleicht – ngstliche und leichtglubige Gemter unter den deutschen Juden veranlassen, ihre innerjdische Haltung demgemß einzurichten. Die Kundgebung der Reichsvertretung hat offenbar die Absicht, die durch diese Auslassungen des R.J.F. heraufbeschworene innerjdische Auseinandersetzung zu mißbilligen. Jdische Rundschau 39.53 (1934): S. 6. [3. Juli]

* Wie gestalte ich den Schabbat? Unserer jdischen Schuljugend ist jetzt eine Mglichkeit gegeben, die Stunden des Schabbats zu eigen zu gewinnen. Die jdischen Schler knnen auf Antrag der Erziehungsberechtig289

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ten am Sonnabend vom Schulbesuch befreit werden. Der Unterricht am Sonnabend ist durch die Einfhrung des Staatsjugendtages neu geregelt. An diesem Tage findet fr das 5. bis 8. Schuljahr wissenschaftlicher Unterricht nicht mehr statt. Anregungen, die die Reichsvertretung den Gemeinden bermittelt, wollen aufzeigen, wie der Schabbat fr unsere Jugend gestaltet werden kann, damit sie es wieder lerne, den Schabbat zu halten. Fr ein Werk seelischen Ausbaus, fr die innerliche Aufrichtung soll eine Grundlage bereitet werden. Ein feierlicher und festlicher Schabbat soll die Freude am Judentum und damit die Freude am Leben strken. Wir rechnen darauf, daß unsere jdischen Eltern sich dieser großen Mglichkeit erffnen und dieser bedeutungsvollen Aufgabe Verstndnis entgegenbringen. Appell der Reichsvertretung der deutschen Juden an die jdische ffentlichkeit, unterzeichnet von Leo Baeck und Otto Hirsch. Jdische Rundschau 39.91 (1934): S. 7. [13. Nov.]

* Saar-Kundgebung der Reichsvertretung Nach fnfzehn Jahren der Trennung ist die Saar zu Deutschland zurckgekehrt. In geschichtlicher Stunde entbieten wir den jdischen Gemeinden im Saarland ein Wort herzlicher Verbundenheit. Ihr seid jetzt wieder mit uns zusammengeschlossen und wir mir Euch. Gemeinsam ist uns wieder unser Schicksal, gemeinsam Arbeit, Sorge und Aufgabe. Pflichten sind Euch neu gestellt; wir teilen sie mit Euch. Gegenseitig wird unsere Hilfe sein. Dem Gebot und der Hoffnung unseres deutschen Judentums treu, werden wir zusammenhalten. Die Reichsvertretung der deutschen Juden an die jdischen Gemeinden des Saargebietes, unterzeichnet von Leo Baeck. C.V.-Zeitung 14.3 (1935): S. 1. [17. Jan.]

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Erziehen und Helfen Die Aufgabe, zu erziehen und zu helfen, steht seit einem halben Jahrhundert als die unsere vor uns. In ihr haben wir unser Daseinsrecht und unsere Daseinspflicht. Manch andere war im Gange der Jahrzehnte zu uns hingetreten; wir hatten ihr den Weg gebahnt und haben dann die Fortfhrung anderen berlassen. Diese eine und große ist unsere eigenste geblieben, und sie verlangt uns heute mehr denn je. Wir erwarten und beanspruchen es von jedem, der unserem Kreise zugehren will, daß er in seinem Handeln wie in seiner Haltung die Wrde der Persnlichkeit bewhre, daß er an sich selbst ein Werk der Erziehung leiste. ber uns Juden ist zumal in Deutschland seit Generationen Wandel um Wandel gekommen, und jeder Wechsel der Verhltnisse bedroht die innere Sicherheit unseres Wesens, beeintrchtigt die Gestaltung des Daseins und bringt nur zu leicht zu bertreibungen des Denkens oder des Gehabens hin. In ruhigen Zeiten, in der Stetigkeit der Umstnde und der Umgebung formt sich das Leben fast von selbst; in schwankenden und zerrendes Tagen wird hier alles zur Aufgabe. Sie in der gegenseitigen Erziehung zu lsen zu suchen, wird heute mehr denn je zu bestimmtem Gebote. Wir in unserem Kreise sollen es immer deutlich vor uns sehen. Wer sich uns anschließen will, muß bereit sein, auch im Helfen mehr als andere zu leisten, die ganze Pflicht darin zu sich sprechen zu lassen. Wir haben Zeiten ußeren Gedeihens gehabt, und in ihnen war es leicht geworden, dort, wo es not tat, einen Beistand zu schenken. In dem, was ihm leicht fllt, empfngt der Mensch seelisch nicht viel. Erst wenn von ihm das Schwere gefordert und erfllt ist, wird er innerlich bereichert. Heute knnen wir um dieses ganze Geben wissen, um das Ganze der Hilfe: heute drngt die Not an die Tore heran und beansprucht das Opfer. Wir knnen heute den Sinn und den Segen des Wohltuns erleben, vornan wir in unserem Kreise; im Gewhren wie im Empfangen knnen wir es erfahren. Vieles, was so von uns gefordert wird, scheint uns bisweilen ber unsere Kraft hinaus zu gehen. Aber aus unserem Judentum hervor, mit der Kraft unseres Judentums knnen wir auch das verwirklichen, was ber die Kraft zu sein dnkt. In unserem Glauben, der uns erfllt, werden wir dem Werke der Erziehung und der Hilfe zu dienen vermgen, und das ist es, um dessentwillen wir weiter arbeiten wollen. Der Orden Bne Briss. Mitteilungen der Großloge fr Deutschland (Mai/Juni 1935): S. 39.

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Ansprache zur Erffnung der Jdischen Winterhilfe In den nchternen Worten, die von unserer Winterhilfe sprechen, ist uns ein Großes gesagt. Wir stehen vermge der Winterhilfe, die uns bergeben ist, vor einer Aufgabe, die uns groß und bedeutungsvoll gestellt ist. Das bedeutet zugleich, wir sind zu einer Freiheit hingefhrt. Denn das ist sittliche Freiheit: eine Aufgabe besitzen, die kein anderer einem abnehmen kann, der man sein Selbst, sein ganzes Herz, seine ganze Kraft zuwenden darf. Alles Große im Menschenleben ist eine Gelegenheit, eine Mglichkeit. Die Vorsehung schickt dem Menschen nichts Erflltes, sondern sie schickt ihm die Stunde, die Gelegenheit. Alle Schuld ist versumte Gelegenheit und aller Segen im Leben des Einzelnen wie der Gesamtheiten ist begriffene, benutzte, verwertete Gelegenheit. Zu uns ist nun die Stunde geschickt, die Stunde, Menschen zu helfen, Menschen zu finden und darin uns alle zusammenzufinden. Die Stunde ist bei uns, damit wir sie ergreifen. Um uns erhebt sich das Schicksal. Es droht uns oft zu erdrcken. Aber das wre das Schlimmste, wenn das Leben mit seinem Druck uns sinnlos werden sollte. Aller wahre Glaube ist Glaube, der sich ber das Schicksal erhebt, ist der Wille, der in diesem Glauben erwchst, der Wille zu gestalten und zu schaffen, das Gesetz zu erfllen. Durch unsere Winterhilfe knnen wir strker werden als das Schicksal. Wir sehnen uns nach einem Lichtstreifen am Horizont. Wir warten auf dieses Licht. Wir sollten ber dem Warten nicht das Licht vergessen, das wir entznden knnen und das uns in der Finsternis leuchten soll. Wieviel Helligkeit, wieviel Wrme knnen wir in uns und in anderen schaffen. In uns dadurch, daß wir geben, in anderen dadurch, daß wir ihnen geben durch Mitdenken, Mitfhlen und Mittragen. Es gibt nur eine Einigkeit, die, welche durch die Pflicht geschaffen wird. Dadurch, daß sich einer in den anderen hineinversetzt, hinein empfindet, dadurch, daß so allen ein gleiches Licht leuchtet, von dem einen bereitet, den andern weitergetragen. Vor 36 Jahren im Monat Tischri, 1 hat Bialik 2 in einem Gedicht, dem bewegtesten, dem erlebtesten vielleicht, das er geschaffen hat, zur Hilfe aufgerufen! Jeden Funken Kraft und Licht, den Gott in die Brust uns gab, wir wollen sie sammeln, sie zusammenfgen in eines. 1. Der siebte Monat des Jdischen Jahres. 2. Chajim Nachman Bialik (1873-1934). Berhmter hebrischer Dichter der Neuzeit.

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Wahrheit und Gemeinsamkeit

Richtet auf das Volk, erhht das Geschlecht, holt hervor das Licht, holt hervor das Licht. So hat er gesprochen und so spricht er zu uns in dieser Stunde. Vor uns steht die Aufgabe, vor uns diese Freiheit, vor uns die Gelegenheit, vor uns die Stunde, vor uns das Opfer: Holt hervor das Licht, holt hervor das Licht! C.V.-Zeitung 14.43 (1935): S. 1. [24. Okt.]

* Wahrheit und Gemeinsamkeit Menschen bedrfen eines Alleinseins, einer Einsamkeit, und bedrfen der Gemeinschaft des Verbundenseins – einer Einsamkeit, damit sie sich nicht unter den anderen verirren, der Gemeinschaft, damit sie sich nicht an das Ich verlieren. Eine Stunde des Alleinseins kommt, wenn die Seele letzten Gedanken nachgeht, wenn sie die Wahrheit sucht um der Wahrheit willen, sich nicht von den Zwecken verleiten, von den Ntzlichkeiten umfangen lßt. Der Wahrheit begegnet der Mensch auf einsamem Wege. So ist menschliches Alleinsein anders als das, welches ein beraubendes Schicksal wirkt. Gemeinschaft tritt in das Leben ein, wenn ein Mensch das Gebot Gottes erfllt. Er beginnt das Einende zu erleben, er wird des Verbindenden gewiß, sobald er ein Freies, ein Persnliches fr den anderen tut. Ein Opfer bringen, ist der Anfang der Gemeinschaft. So ist menschliche Verbundenheit anders als die, welche ein Knstliches oder Erzwungenes fgt. Wundersam sich verwebend ist in uns Juden, dem Einzelnen wie der Gesamtheit, nach beidem ein Begehren eingepflanzt. In uns regt sich Verlangen und Grbeln nach der letzten Wirklichkeit hin, dieses Verlangen im Einsamen; ein Alleinwohnen, ein Nichtbegriffensein ist darum so oft unser Schicksal. Und in uns wohnt Trachten und Sehnen zu allen den anderen hin, dieses Sehnen nach der Verbundenheit; ein Suchen, ein Zurckgewiesensein wird darum so oft uns zum Geschicke. Jdischer Anteil, jdisches Los ist es so auf Erden, um dort, wo wir selbst sind, uns zur Erfllung zu sein. Im jdischen Bereiche knnen wir beides sein, Menschen des Einsamen und Menschen der Verbundenheit, beides in einem. Mit jedem Opfer, das hier gebracht wird, an so manchem Tage doppelt und dreifach gefordert, gelangt jeder eine zu sich selber, das Letzte seines Wirklichen, seines Ichs 293

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erfassend, und kommen wir alle zueinander hin, das Tiefste aller Verbundenheit, aller Einheit ergreifend. Wahrheit und Gemeinschaft wollen heute fr uns Juden zu einem werden. Israelitisches Familienblatt 37.46 (1935): S. 2. [14. Nov.]

* Die jdische Sozialarbeit umspannt die Welt! Jede Krisis, jeder Wandel der Lage, ob er geistiger, wirtschaftlicher oder sozialer Art ist, ndert die Richtung und meist auch die Erstrekkung des Blickes. In ruhigen Tagen hat der Mensch seine bestimmte Umgebung, er hat seine Umrahmung; er besitzt einen Umkreis, den er bersehen und fr eine Welt halten kann, und das Behagen solcher Tage ist darin wesentlich gewhrt, daß so an das Auge und das Denken des Menschen kein besonderer Anspruch gestellt ist, daß er den immer gleichen Bezirk seines Lebens haben darf. Jede starke Bewegung der Zeit erschttert und verschiebt dann aber diese vertrauten Grenzen. Manches, was bisher nahe und gewiß gewesen war, rckt in eine Ferne, und Fernes mit all der Frage, die in ihm wohnt, in oft bengstigende Nhe. In den Raum der Gewohnheit dringt die Auseinandersetzung; die Wege fhren nicht mehr heran, sondern hinaus, so oft zu dem fort, was unbekannt oder unbeachtet gewesen war. Und das macht die menschliche Unruhe dieser Tage aus, daß die alten Einstellungen des Kopfes und des Herzens nun nicht mehr gelten oder nicht mehr gengen, daß der Mensch beginnen muß, neu zu denken und, was noch schwerer ist, neu zu fhlen. Vor allem die soziale Aufgabe erlebt diesen Wechsel. In ruhiger Zeit hatte sie ihre Nhe und damit die gebannten, festgelegten Pfade; in kritischen Jahren wird das andere, das noch nicht Erfahrene und Gekannte, von ihr verlangt. Bisher hatte sie nur Tagesfragen; jetzt steht die Lebensfrage vor ihr. Zum ersten Male hatte die jdische soziale Arbeit es so erfahren, als die vielen Tausende aus dem alten russischen Reiche den Zugang zu neuer Heimat gesucht hatten, und danach, unter ernsteren Verhltnissen, als nach dem Kriege der Drang zum Westen Menschen von dort in Bewegung setzte. Aus der Wohlfahrtsaufgabe begann damals Sozialpolitik zu werden – soziale Politik in dem echten Sinne, daß sie ihre Gebote nicht durch einen Raum, sondern durch die Zeit empfngt, daß sie nicht nur Hilfen, 294

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Pflicht hrt nie auf

sondern Wege und Ziele kennt, daß sie nicht nur fr morgen und bermorgen, sondern fr eine Generation wirkt und schafft. Mehr denn je ist dies heute das Entscheidende der jdischen Arbeit in Deutschland geworden, und das Neue ist jetzt, daß sie dem eigenen Kreise gilt. Sie ist jetzt Arbeit fr uns selbst. Aber sie ist damit, und das ist hier das Kennzeichnende, doch zugleich Arbeit fr die große Gesamtheit, an uns und durch uns fr die Gesamtheit, fr sie nicht weniger als fr uns geleistet, in dieser Art wohl zum erstenmal in der Geschichte jdischer sozialer Arbeit unternommen. Sie ist damit zugleich ein bedeutungsvolles Erziehungswerk. Denn es gibt keine echte soziale Aufgabe, die nicht auch zur Erziehungsaufgabe wurde. Menschen sollen und wollen dazu erzogen werden, daß sie in einer Zeit schwerster Not nicht flchten, nicht vor sich und nicht vor anderen, sondern sich finden und aufrecht zu neuen Wegen gehen. Der jdische soziale Geist muß heute in Kontinenten denken – er darf sich nicht einmal an einem Kontinente sein Genge sein lassen –, und es ist heute sein Geschick, in Kontinenten auch zu leiden. Darum ist heute Zusammenarbeit, die keinen ausschließt, und von der keiner sich ausscheidet, die große Forderung; sie ist heute Lebensbedingung und Lebenskraft aller jdischen sozialen Arbeit. Kein Land und keine Organisation darf sich heute dem Wahn oder der Selbstgeflligkeit einer splendid isolation hingeben. Fr sich sein oder im eigenen Bezirk nur arbeiten wollen, das wre »das Leugnen des Grundes«. Das Soziale, das Verbindende, will nicht nur der Inhalt, sondern zugleich die Form unseres Schaffens sein. Menschen und Zeiten sollen verbunden werden. Um die Zukunft aller handelt es sich. Jdische Wohlfahrtspflege 6 (1936): S. 89-90.

* Pflicht hrt nie auf Weigere nicht Gutes dem, dem es eignet, wenn es im Vermgen Deiner Hand ist, es zu tun. (Sprche Salomos) Pflicht hrt nie auf. Mit jedem Tage, der kommt, wird sie neu geboren. Pflicht hat immer ihren Anfang und nie ihr Ende. 295

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So tritt unsere Sammlung »Jdische Pflicht« in einem zweiten Jahre an uns heran. ffnen wir ihr alle wiederum bis zum Beginn unseres Neuen Jahres unsere Tr, ffnen wir ihr alle Herz und Hand. Tut Eure Pflicht, damit wir unsere jdische Pflicht erfllen knnen. Alte und Kinder, Bedrftige und Kranke haben ein Recht auf unseren Beistand. Unsere Hilfe msste versiegen, wenn Euer jdisches Pflichtbewußtsein erlahmt. Jdische Gemeinschaft bedeutet heute mehr denn je: Gemeinschaft der Helfenden. Helfen, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzen Vermgen ist Jdische Pflicht. Berlin, im Juni 1942 Ein Aufruf der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, unterzeichnet von Leo Israel Baeck. Jdisches Nachrichtenblatt Berlin. 12. Juni 1942. S. 1.

* Hineni – hier bin ich! Wie oft haben unsere Vter diese Antwort gegeben, wenn ihr Opfersinn aufgerufen worden ist, Wie oft haben auch wir in den vergangenen Jahren es dankbar erfahren, wie uns die Bereitschaft zu Leistungen gewhrt wurde. Voller Vertrauen und Zuversicht knnen wir uns darum von neuem an unsere Mitglieder wenden. Beitrge der Pflicht werden von ihnen geleistet, und wir wissen, wie betrchtlich diese sind. Aber nur, wenn darber hinaus auch freiwillig erhebliche Mittel aufgebracht werden, knnen wir die uns obliegende Hilfsarbeit fr die Juden im Altreich auch weiterhin durchfhren. Von ganzem Herzen danken wir denen, die bisher dazu beigetragen haben, diese Hilfsarbeit zu ermglichen. Unsere eindringliche Mahnung ergeht aber auch an alle diejenigen, die bisher noch nicht nach Massgabe ihrer Leistungsfhigkeit ber die Pflichtbeitrge hinaus dem Ruf der Gemeinschaft gefolgt sind. Jeder weiss aus seinem persnlichen Bereich, wie dringend unsere Frsorgeaufgaben geworden sind und dass wir zu ihrer Bewltigung aller Mittel bedrfen, die jeder Einzelne bei strengster Prfung seiner Opferfhigkeit zu spenden vermag. Die freiwilligen Spenden, die wir fr unsere Arbeit zu fordern be296

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Hineni – hier bin ich!

rechtigt und verpflichtet sind, dienen unserer Gemeinschaft und daher auch jedem, der unserem Rufe folgt. Darum bitten wir um euer Opfer; ihr schenkt es denen, die dessen bedrfen, und ihr schenkt es auch euch selbst. Wir sind dessen gewiss, dass von uns allen die Antwort kommen wird, die zugleich eine Bewhrung in unserer Gemeinschaft ist: Hineni – hier bin ich! Aufruf der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, wahrscheinlich aus dem Jahre 1942. Genaue bibliographische Angaben liegen uns leider nicht vor. Bundesarchiv, Abt. Potsdam. Leo Baeck Institut Mikrofilm 456.

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Ermutigung Als Rabbiner, der gleichzeitig das Amt des Prsidenten der Reichsvertretung inne hatte, wurde Baeck Seelsorger der gesamten deutsch-jdischen Gemeinde. Er sah es als seine Pflicht an, denjenigen Kraft zu verleihen, die am verzweifeln waren, und ermutigte die deutschen Juden, ber die Gegenwart hinauszusehen, in die sie »hineingestellt« waren, sich entweder der Vergangenheit oder der Zukunft oder einfach Gott zuzuwenden. Die vormoderne jdische Vergangenheit sei eine Zeit der ußeren Unfreiheit, jedoch der inneren seelischen Freiheit gewesen und knne so als Modell fr die ihr hnliche gegenwrtige Situation dienen. Doch anders als nach der nationalsozialistischen Rassenlehre bestimme im Judentum die Vergangenheit nicht die Gegenwart. Die jdische Geschichte, die auf die Zukunft ebenso wie die Vergangenheit ausgerichtet sei, lege keine Fesseln an, sondern befreie. Gleichfalls dienten die in der Tradition verankerten jdischen Feiertage der Erneuerung, so beispielsweise das jdische Neujahr, das, indem es die Erschaffung der Welt feiere, zu einer Erneuerung der Welt durch menschliches Leben aufrufe. Sehe man lediglich die Realitten der Gegenwart an, so erscheine das gesamte Judentum zukunftsarm, wenn nicht zukunftslos. Betrachte man aber die Zukunft als Aufgabe, so schfen sich die deutschen Juden selbst eine Zukunft. Baeck wußte, daß es in einer Zeit, in der die Juden tglich Demtigungen erlitten, wesentlich war, daß sie ihre Selbstachtung bewahrten oder sie zerrissen innerlich. Den Respekt fr sich selbst und fr die anderen Juden zu erhalten, nicht Mitleid zu suchen, sei eine Form des Widerstandes gegen die nationalsozialistischen Unterdrcker, ein Zeichen ihrer Strke. Innere Strke zu besitzen bedeute außerdem, in einer Zeit, in der Autoritt vorherrschte, Werten wie Freiheit und Individualitt gegenber loyal zu bleiben, und in einer Zeit, in der rassische Loyalitt sich durchsetzte, an seinem Glauben an das Menschentum festzuhalten. Aber die ultimative Antwort an den Unterdrcker liege in dem Beharren, daß die Juden letztendlich nur gegenber Gott verantwortlich seien. Das ist das Thema zweier bekannter Botschaften an seine jdischen Mitbrger aus dem Jahre 1935. Im Sommer dieses Jahres schrieb Baeck: »Unsere Ehre ist unsere Ehre vor Gott«. Und im Herbst griff er dieses Thema erneut in einer Botschaft auf, die in allen Synagogen am Vorabend des Jom Kippur, dem jdischen Vershnungsfest, verlesen werden sollte, aber zuvor von den Nazis konfisziert wurde: vor Gott »beugen wir uns, und wir sind aufrecht vor den Menschen«. Spter, 298

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Recht und Pflicht!

im Jahre 1938, konnte Baeck nur noch auf Emigration hoffen und wieder einmal betonen, wie wichtig es war, im Glauben an Gott zu verbleiben. * Recht und Pflicht! Es ist ein altes Wort vom Wandel des Geschehens, daß »sich ein Rad in der Welt bewegt«, ein Auf und Nieder, ein Oben und Unten des Geschehens. Das Leben des Menschen erfhrt es und das Leben der Vlker und ihrer Gestalten. Wer gewonnen hatte, verliert; und wem genommen war, dem wird wieder gegeben. Aber eines ist im Gange der Tage ausgerichtet worden, daß es der große Widerspruch sei gegen den Wandel, daß es im Wechsel der Lose das Bestndige sei: das Recht. Das ist der Sinn und das Wesen des Rechts, daß es besteht, daß es nicht an ein Rad der Ereignisse geflochten sei, daß es dastehe, fest und unabhngig von dem, was eintritt und was fortzieht. Geschicke kommen und Geschicke gehen, aber das Recht bleibt. Wenn es nicht bleibt, ist es kein Recht. In aller Dasein wechseln Erwartungen und Sorge, Enttuschung und Zuversicht. Der Tag bringt sein Helles und bringt sein Trbes, und in der Seele des Menschen wird es licht oder wird es dunkel. Was einkehren wird, ob Leidvolles, ob Frohes, das ist seinen Blicken verschlossen. Aber eines kann er wissen und soll er wissen: er soll dessen bewußt sein, wie er sein soll zu jeder Stunde, die da nahen mag. Was seine Pflicht ist, das steht deutlich vor ihm. Das ist als das Klare, als das Bestimmte immer vor ihn hingestellt, als die Gewißheit seines Lebens im Wandel des Empfindens. Hoffnungen gehen und Hoffnungen kommen, aber die Pflicht bleibt, und in ihr bleibt der Mensch. »Frchte Gott und wahre seine Gebote, das ist der ganze Mensch!« 1 C.V.-Zeitung 12.9 (1933): S. 17. [2. Mrz]

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1. Koh 12,13.

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Tag des Mutes Alles echte Glauben ist ein seelischer Mut, ein Mut, der Welt und dem, was sie Ergebnisse und Tatsachen nennt, zu widersprechen, um Gottes willen so zu manchem Ja, das in ihr herrscht, Nein zu sagen, so manchem Nein, das in ihr gilt, das Ja entgegenzusetzen. So ist das Judentum, seit es ist, der große Glaube auf Erden. Es ist dieser große Mut der Seele, um des einen Gottes willen dem Drngenden und Schweifenden, dem Erfolg und dem Glanz zu widerstehen und festzustehen. Ein Jude, der dem einen Gotte nicht glaubt, – und das ist noch ein anderes, als nur an ihn glauben –, ihm nicht glaubt mehr als den Menschen, hat seine jdische Seele verloren. Aller Menschen Leben ist eine Auseinandersetzung zwischen Sehnsucht und Sattheit, Sattheit des Denkens und Wollens, zwischen Glauben und Feigheit, Feigheit im Begreifen und Beginnen, zwischen dem Mut der Seele und der Bequemlichkeit des Seins, dieser Bequemlichkeit, die noch in dem, was gestern war, sich bergen, und noch, wenn es entschwunden ist, sich an ihm festhalten will. Das Gegenstzliche gegen den Glauben, ist die Illusion, ist die Angst des Menschen, der dem Wirklichen und seinem Ernst ausweicht und mit sich spielt und sich verfhrt, um nicht das eigene Leben zu fhren. Und fhren bedeutet immer: sehen; bedeutet: wissen, was werden soll. In leichten Tagen versteht sich alles von selbst, in ihnen knnen Sattheit und Gewohnheit so rasch zur Weisheit werden, kann sich der Unglaube dehnen und weiten. In schweren Tagen wird alles, alles Denken und Wollen und Tun zum Gebote des Mutes, zur Aufgabe, die zu lsen ist, und der Mensch ohne Glauben ist in ihnen ohne Boden und ohne Ziel, ohne Erde und ohne Himmel. Auch darum kann der Jude nie ohne den Glauben sein, denn er ist, seit er ist, der Mensch der schweren Tage, der Mensch der Entscheidungen. Er vermag nicht, wenn er Jude sein will, ohne Rosch Haschana, ohne sein jdisches Neujahr zu sein. Es ist ein ganz anderes um unseren Rosch Haschana als um Neujahr sonst. In ihm will nicht nur ein Jahr anfangen, sondern ein Neues, eine Welt beginnen. Der Schofar, 1 der Klang der Weltenwende ist sein Ton. Wenn der Schofar ruft, beten wir: »Heute ward eine Welt geboren, heute wird eine Welt geschaffen.« In der Welt des Leichten kann der Rosch Haschana ein Selbstverstndliches werden, gleich1. Widderhorn, das an den jdischen Hohen Feiertagen geblasen wird.

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Die Freien und die Unfreien

sam ohne den Schofar sein; in der Zeit des Schweren, Schicksalsvollen tritt er vor uns als das, was er ist, als Tag des Mutes, des Glaubens, der Tag, der von der Schpfung zu uns spricht, von der Welt, die neu werden will in unserem Leben. Wieder glauben, es wagen, neu zu werden, das ist Gebot und Sinn des Rosch Haschana. Immer wieder beginnen, immer wieder erneuern knnen, so ist es ja die Kraft des Juden. »Fr alle Tage der Feier«, so sprach einer der alten Lehrer aus einer Zeitenwende, Rabbi Jose ben Kezarta, »ist von der Feiergabe gesagt: ihr sollt darbringen. Vom Rosch Haschana ist gesprochen: ihr sollt machen, ihr sollt erschaffen. So soll der Rosch Haschana euch segnen, daß ihr euch selbst machet, euch schaffet in neuer Schpfung« – um Gottes willen neu geworden, wahrhaft Menschen des Glaubens. C.V.-Zeitung 12.36 (1933): Beilage S. 1. [20. Sept.]

* Die Freien und die Unfreien Vergangenheit ist ein Erbe und kann damit zum Hemmnis auch werden – »weh dir, daß du ein Enkel bist!« In einer Hinterlassenschaft zumal kann diese Enge bereitet sein, in der, aus welcher eine alte Unfreiheit weiterwirkt. Es ist heute in unserem Lande blich geworden, die Menschen unter die Ahnenprobe zu stellen, und sicherlich, sie kann so manches erkennen lassen und ein besonders Belehrendes an diesem Beschrnkenden eben, das aus der Erbschaft eines Knechttums dem Einzelnen wie der Gesamtheit zukommen kann. Manches wird verstndlich, wenn vor den Blick dieses Vorfahrentum tritt, die Reihe der Unfreien, der Diener, ob sie nun Livreen trugen oder nicht, die Reihe der Dienernaturen, der Dienerseelen. Jedes Gebiet auf Erden erzhlt davon, und auch unser jdischer Bereich hat davon zu berichten. Hinter uns Juden liegen weithin Zeiten ußerer Unfreiheit und innerer, seelischer Freiheit doch, und dann wiederum eine Zeit ußerer Freiheit und innerer, seelischer Unfreiheit auch. Von ihr aus kann vieles, was in unseren Tagen den Hoffenden und Arbeitenden betrbt, begreiflicher werden: all diese unfreie Art, unterwrfig und auf sich selbst verzichtend hier, und berheblich, unduldsam dort, Gemeinschaft ablehnend. Gemeinschaft verleugnend hier, und Beziehungen nachtrachtend, Gesellschaften nachjagend dort. So manche Erscheinung, so manche Parteiung, so manche subalterne Machenschaft in unserer Mitte 301

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Im nationalsozialistischen Berlin – Ermutigung

wird von daher faßbar – der Knecht, der Diener ist wieder lebendig geworden. Eines nur vermag aus jedem »Hause der Knechte« herauszufhren, der große Gedanke, das Gebot von Gott. Die Gewißheit, die in einem großen, frommen Gedanken gegeben ist,– nur in reinen, freien Seelen erwchst er, und die Seelen, die sich ihm erffnen, werden damit rein und frei – diese Gewißheit dessen, was mehr ist als der Tag, sei es der ehemalige, sei es der heutige, dieser freie, ehrfrchtige Wille zu sich selbst, diese große Liebe zum Gebot lst von aller Erbschaft der Enge, von allem Unfreien los. Sie macht damit die Vergangenheit zur wahren Geschichte, zu der, welche nicht nur war, sondern wird. Fr das Denken und Sprechen der Bibel ist dies bezeichnend, daß das Wort Geschichte, das in anderen Sprachen seinen Sinn meist zu der Vergangenheit kehrt, hier vor allem nach der Zukunft gerichtet ist. Geschichte, »toladot«, das erzhlt hier, gewiß, von etwas, was gewesen ist, aber es besagt doch wesentlich das, was kommt, das, was beschieden sein soll und beschieden sein kann, es bedeutet das Kinderland, das neue Feld. Geschichte wird hier eine Mahnung zur Zukunft, zum Bahnen des eigenen Weges, zur Verwirklichung des Gottesgebotes. Wer es so erfhrt und es so besitzt, der wird, woher immer er kommen mag, ein Eigener mit seiner eigenen Aufgabe, mit der großen Liebe zu den Menschen, den nahen und den fernen, wie sie jeder erlangt, der sich selber gewinnt. So ist es der Weg ins Freie, der Weg des Freien. Jdische Rundschau 38. 93 (1933): S. 831. [21. Nov.]

* Tage und Leben Wer immer nur im Tage bleibt, dem ist sein Dasein auch nur eine Reihenfolge von Tagen. Tritt ihm dann eine Zeit der Not hemmend, widersprechend, brechend in das Stetige seiner Tage ein, dann scheint ihm sein Dasein zerrissen zu sein; der Tag von jetzt scheint sich an die Tage von einst nicht mehr zu fgen. Wie viele Menschen, wie viele von uns erleben es heute so. Aber hinter allen Tagen und unter ihnen, sie fassend und haltend, ist etwas, was mehr ist als nur die Reihe der Tage. Hinter allem und unter allem, was kommt und geht, bedrckt oder erhebt, ist dieses seelische, geistige Gewebe von Geschichten und Individualitt, von Vergangenheit und Wille, dieses Eigentliche unseres Daseins, das, 302

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Zurckhaltung

was in allem bleibt. Wer hierum weiß, um dieses sein Eigenes, der erst hat ein Leben und nicht nur eine Folge von Tagen, und will dann ein Geschehen, den Tag vom Tage trennen, sein Leben, dieser Sinn, diese Einheit, diese Heimat seiner Tage fllt nicht auseinander. So mancher hat es heute so erfahren in aller Drangsal, trotz allem Leid. Es ist heute wie ein großer Zwang ber viele gekommen, ber uns Juden und ber die, welche gegen uns stehen. Fr sie ist es der Zwang, sich mit uns auseinanderzusetzen, nach uns zu fragen, ber uns nachzudenken, ein Letztes der Antwort und der Beziehung zu suchen. Und fr uns ist es das zwingende Gebot, das unablehnbare, das unabweisbare, das Eigene unseres Lebens zu erkennen, ein Letztes der Antwort auf uns selbst zu finden, den Sinn unseres Lebens und damit unser Jdisches, unser Judentum zu erkennen. Nur der unter uns, welcher sein Leben hat und nicht bloß seine Tage, wird das vermgen, wird das gewinnen. Das, was jenem seine Tage auseinanderreißt, lßt diesen seines Lebens, seiner Bedeutung gewiß werden. Wenn dann eines Tages das kommen mag, wozu eine letzte Auseinandersetzung fhren kann, fhren will, nicht gewollt von den Wollenden und Handelnden, aber zu ihnen kommend oder ber sie kommend, wenn die Mglichkeit eines endlichen Verstehens und Begreifens dann nahen mag, des Verstehens seiner selbst und damit des anderen, wenn dieses zusammenbringende, verbindende Begreifen anbrechen will, nur der, der wahrhaft sein Leben hat, wird darum ringen knnen, wird das zu erreichen vermgen. C.V.-Zeitung 12.46 (1933): S. 2. [30. Nov.]

* Zurckhaltung Wenn den Menschen ein Schicksal trifft, so bleibt ihm eines, wodurch er dem Schicksal begegnen kann: die Haltung. Alle Haltung kommt aus einem Seelischen hervor, und nichts hat daher weniger mit ihr gemein als das, was bisweilen sich ihren Namen beilegt, jenes ußerliche, Knstliche, das durch eine hergestellte Gemessenheit doch nur eine innere Schwche zu verbergen sucht. Wahre Haltung ist immer Offenbarung eines seelischen Besitzes, sie ist der Ausdruck der inneren Festigkeit und Wrde. Kaum etwas widersprach ihr darum mehr als jenes, einst so hufige, sogenannte gesellschaftliche Streben, das den Platz im Kreise der Menschen und 303

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oft auch die Meinung und die Richtung immer nur von anderen empfing. Seiner selbst durch ein Sittliches gewiß sein, sich selbst eine Antwort geben knnen, die Antwort der Seele, das allein fhrt zur Haltung. Der Anfang aller Haltung ist darum die Zurckhaltung, diese Fhigkeit, bei sich und in sich zu bleiben, sich zu hren und sich zu sehen. Der haltungslose Mensch ist der, dem es ein Wert seines Lebens ist, von anderen gesehen und gehrt zu werden, dem das Geltungsbedrfnis die seelischen Bedrfnisse und schließlich die seelischen Krfte verdrngt hat. Von dem englischen Knig Eduard VII. wird erzhlt, daß er den Begriff des Gentleman – und der Gentleman ist der Mensch von Haltung – dahin bestimmt habe, dieser sei der Mensch, der von einem Ende der Stadt bis zum anderen gehen knne, ohne bemerkt zu werden. Und was vom Gentleman gesagt ist, gilt ebenso und vielleicht noch mehr von der Lady. Nicht bemerkt zu werden, das bedeutet nicht, sich verstecken, sondern: die gebotene Zurckhaltung, diese wahre Schlichtheit und Echtheit bewhren. Wenn, um ein Beispiel anzufhren, jdische Mnner und Frauen meinen, ihre Stunden der Ausspannung und Erholung so haben zu wollen, daß sie auffallen mssen, oder dort, wo sie dann still oder laut hinausgewiesen werden, dann haben sie damit dargetan, daß sie jedenfalls zu denen nicht gehren, die der englische Knig als Gentlemen, als Ladies bezeichnete. Vielleicht kann heute durch die Zurckhaltung noch ein Besonderes gegeben werden. Vielleicht entdecken, wenn sie gebt wird, so manche ihr Heim, entdecken Mann und Frau einander und ihre Kinder und einen Kreis von Freunden und entdecken, daß sie, die so lange Menschen der Meinung und Mode waren, Menschen von Haltung zu sein imstande sind. C.V.-Zeitung 13.5 (1934): S. 1. [1. Feb.]

* Was sollen wir denn tun … Bestimmend, geschichtlich ist erst die Wiedergeburt, die eine ganze Gemeinschaft erlebt. Nur die Gesamtheit kann sie erfahren, die von den Anfngen her ein Eigenes hat, zu dem sie immer wieder zurckkehren darf. Und das ist dann dieses Erneuertwerden, daß sie so aus ihrem eigenen Ursprunge wieder hervorsteigt, das wieder erwhlend, wozu Gott sie erwhlt hat. 304

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Zukunft des Judentums

Hierin hat fr uns Juden die Generation, in der wir sind, ihre Bedeutung. Vorher schienen Jahrtausende unseres Lebens durch Jahrzehnte unterbrochen zu sein; das, worin sich das Wesen des Juden durch die Reihe der Geschlechter gebildet hatte, indem alles Denken, Kmpfen und Hoffen seinen Sinn in der Religion suchte, dieses Eigene schien verdrngt zu sein. Nun ward endlich der Zusammenhang wiedergefunden; der Ursprung durfte zur Gegenwart wieder hingelangen, der Anfang seinen Weg wieder haben. Es kam so, weil es so kommen mußte, weil wir eben Juden, Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs sind. Diese Tage knnen geschichtlich werden; denn harte, heimsuchende Tage heben das Gegenwrtige, Augenblickliche auf und fhren zu dem Bleibenden zurck, sie fhren daher oft auch die zurck, die noch nicht erfaßt waren, noch nicht gefunden hatten. Ihnen zuerst und uns allen darin zu helfen, das ist die große Aufgabe fr Lehre und Gottesdienst, die Aufgabe unserer Gemeinden, damit, was ernste Stunden des Lebens gefgt hatten, Wiedergeburt des Lebens werde. Israelitisches Familienblatt 36.23 (1934): S. 2. [Juni]

* Zukunft des Judentums Zukunft bedeutet fr den einen Geschehnis und Zufall und bedeutet fr den anderen Aufgabe und Ziel. Was geschehen wird, das hngt von diesem Zuflligen, diesem Ungefhr ab, in welchem menschliche Macht und Macht der Verhltnisse einander hemmen oder heben. Was sein wird, ist dadurch bestimmt, daß Menschen Aufgaben erkennen und sich Ziele setzen, daß sie an das glauben, was kommen soll. In der Welt der Ereignisse und ihres Zufalls ist darum das Judentum zukunftsarm, wenn nicht zukunftslos; denn es hat nie die Macht. Nur in der Welt, die in der Aufgabe das Bleibende sieht, in dieser Welt wahren Zieles und damit wahrer Geschichte hat es seine Zukunft. Die Gewissheit dessen, wozu der Mensch berufen ist, gibt hier die Gewissheit der kommenden Tage. Jdisch-liberale Zeitung 16.53 (1934): S. 1. [3. Juli]

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Festrede des Großprsidenten zum 50. Stiftungsfest der Lessing-Loge des Bne Briss Wrdiger Prsident und liebe Brder! Es sind drei Generationen, von denen das halbe Jahrhundert erzhlt, auf das diese Stunde zurckblicken lßt, und es sind Generationen in tieferer Bedeutung, als sie sonst durch dieses Wort umfaßt wird. Denn wir lteren haben es zweimal erlebt, daß eine tiefe Caesur, ein tiefer Einschnitt durch unser Leben hindurch gezogen worden ist. Zweimal drngt eine Vergangenheit die entschwundenen Tage noch weiter zurck, zweimal, und das andere Mal noch tiefer als das erste Mal, mußten wir neu lernen, neu in die Tage hinauszublicken, neu uns geistig und seelisch im Leben zurechtzufinden. Was uns diese Tage bedeuten, die wir jetzt durchleben, durchleben mssen und durchleben wollen, wie sie geschichtlich geworden sind, das wird eine sptere Zeit erst deutlich erkennen. Oft will es uns bednken, als gehe jetzt die Zeit ihrem Ende zu, die eine große, gewaltige Zeit war, die Zeit, die mit der Renaissance begann, in der das Individuum in seine Selbstndigkeit und Unabhngigkeit hineingefhrt wurde, die Zeit, der große Denker, Dichter, Knstler Europas zugehren, und als beginne jetzt eine Zeit, von der wir empfinden, daß sie als eine andere Zeit anhebt, deren deutliche Umrisse, deren Inhalt, deren Weg und Ziel wir aber noch nicht zu erkennen vermgen. In jener Zeit, in der die Lessing-Loge ihren Weg begann, schrieb Jakob Burckhardt, 1 ein Mann, dessen Bcher uns heutzutage oft prophetisch dnken und uns modern erscheinen – ein Buch wird ja immer wahrhaft modern, wenn es 30 Jahre und mehr alt ist, und ein Buch, das nicht nach drei Jahrzehnten modern und neu erscheint, ist ein Buch, das nur fr den Tag geschrieben ist –, in jener Zeit, in der die Lessing-Loge ihr Dasein anfing, schrieb Jakob Burckhardt an einen Freund: »In dem angehenden zwanzigsten Jahrhundert wird die Autoritt wieder ihr Haupt erheben, und ein schreckliches Haupt.« Uns dnkt das heute, wenn wir es wieder lesen, wie ein prophetisches Wort. Vielleicht ist es so, daß jetzt die Zeit, die vor Jahrhunderten, vor fast fnf Jahrhunderten begann, die dem Einzelnen das Recht eigenen Lebens und eigenen Strebens geben wollte, die Zeit, welche die Individualitt entbunden hat, nun, so knnte es scheinen, 1. Jakob Burckhardt (1818-1897). Schweizer Kunsthistoriker, besonders bekannt fr seine Geschichte der Renaissance in Italien (1867).

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zu Ende gehe, und als ob wieder wie im großen Pendelschlag der Geschichte die andere Zeit beginne, in der, wie Burckhardt meinte, die Autoritt, der das Individuum sich beugen soll, ihre Tage – und Tage der Zeit sind Jahrhunderte – zu besitzen anhebe. Aber wie dem auch sei, wir Menschen sind in unsere Zeit hineingestellt, wir drfen nicht viel fragen, warum und weshalb. Wir sollen nur nach dem fragen, was unsere Aufgabe ist. Vor uns steht immer das Gebot: Du bist in deiner Zeit, und deiner Zeit sollst du das geben, was von dir gefordert ist. Ein Geschlecht kommt, und ein Geschlecht geht, aber die Pflicht bleibt ewig. Von der Pflicht spricht der heutige Tag. Welches ist die Pflicht, um derentwillen unsere Logen gegrndet worden sind, diese Pflicht, um derentwillen wir trotz der Nte der Tage aushalten bis zuletzt? Man knnte sie mannigfach bezeichnen, wie sehr sie die eine, die gleiche Pflicht ist. Wir knnen sie zunchst nennen: die Pflicht, ein Jude zu sein. Uns dnkt das heute selbstverstndlich, daß dieses Wort gesprochen wird, das Wort von der Pflicht, von dem Gebote, ein Jude zu sein. Es hat Tage gegeben, an die wir zurckdenken, in denen fr manche von uns, fr manche auch in unserem Kreise es wie eine Brde erschien, Jude zu sein, Jude sein zu mssen, wie eine Last, welche die Vorsehung uns auferlegt hat, die wir tragen sollen, tragen mssen, weil die Vorsehung es uns bestimmt hat. Wenn uns irgend eines in unseren Tagen wieder gegeben worden ist, so ist es diese Erkenntnis oder – das Wort Erkenntnis ist zu schwach – dieses seelische Erleben, das zu unserer inneren Gewißheit geworden ist, daß wir Juden sein drfen, weil wir es sein sollen. Meine lieben Brder! Fr uns ist es das große Recht unseres Lebens, das Recht, das niemand uns nehmen kann, daß wir Juden sind, daß wir Juden sein drfen und Juden sein sollen. Alle Rechte, fr die wir kmpfen, haben ihre Bedeutung fr uns erst dadurch, daß sie sich auf diesem Rechte aufbauen, welches das Fundament von allem ist, was uns als Recht zustehen kann, auf diesem inneren Rechte und dieser inneren Freiheit, daß wir Juden sind. Wenn wir zurckblicken, und jeder Rckblick bedeutet eine Kritik, welche begreift, aber nicht etwa die herabsetzt, die in frheren Tagen ihre eigenen Gedanken hatten, dann sehen wir, wie es der Grundgedanke in dem Kampfe um die Emanzipation war, daß das gleiche Recht fr uns Juden erreicht werden sollte, wie es aber damals dessen ermangelte, daß man sich und andere dessen gewiß werden ließ, daß alle Rechte, die uns zuteil werden knnen, Wert und Kraft erst dann gewinnen, wenn sie sich aufbauen auf der Ge307

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wißheit, daß unser strkstes und edelstes, unser eigenstes Recht das ist, Jude zu sein. Man wollte so oft Rechte des Juden erkmpfen fr Menschen, welche noch Juden waren und vielleicht eines Tages es nicht mehr sein wrden. Man hatte es vergessen, daß das Recht allein Bedeutung und Bestand hat, das sich auf das Innerste und Eigenste, auf das Wesen des Menschen grndet, auf das, was er von Gottes Gnaden ist. Von Gottes Gnaden sind wir Juden, und was wir von der Menschen Gnade sein knnen, es wird bestehen und Bedeutung haben erst durch das eben, was wir von Gottes Gnaden sind. Man hat so einst bei dem, was man an Rechten erlangen wollte, das Judentum vergessen. Vielleicht hatte in stillem Hintergedanken bei so manchen, die als Freunde fr uns eintraten, vielleicht selbst bei manchem von uns, das Judentum als der Preis gegolten, der eines baldigen oder spteren Tages fr die Rechte bezahlt werden sollte, die man uns Juden gewhrte. Ohne das Judentum kann es aber fr uns eine Emanzipation, die Dauer haben wird, nicht geben. Wenn unsere Logen eine geschichtliche Bedeutung haben, so ist es die, daß hier – mag sein, zuerst nur in der großen Kraft des Unbewußten – der Mut und die Einsicht bestand, das Wort Bne Briss, Shne des Bundes, zum bestimmenden Worte zu machen. Shne des Bundes, das heißt doch: Juden wollen wir sein. Der Gedanke der Menschheit war das feste, bestimmte Ziel, aber im Namen des Judentums, im Namen dessen, daß wir Juden, daß wir Bne Briss sind, wurde hier Humanitt, wurde Menschheit gelehrt. Dies ist das Erste, wovon dieser Tag der Feier zu uns spricht. Mit dem, was unser Name »Bne Briss« uns sagen will, spricht es uns mahnend und verheißend an. Und das Andere, es spricht aus dem Namen Lessing zu uns, uns es ist doch im Grunde ein Gleiches. Es ist fr uns eine Bedeutung Lessings geworden, daß er das Wort Jude zu einem Ehrennamen, zu einem Adelsprdikat gemacht hat. Er hat eines seiner ersten Stcke »Die Juden« genannt, und wer es damals las, fr den mußte dies ein ganz Neues sein. Und in Lessings »Nathan« ist es dasselbe. Jude, das ist auch hier das Wort von der Ehre und Wrde. Aber seine Bedeutung fr uns liegt hierin nicht allein. Man hat in Lessing oft nur den Mann gesehen, der in seiner Zeit Freiheit, Unabhngigkeit, Selbstndigkeit des Einzelnen verkndet hatte. Gewiß, er hat das verkndet, aber er hat vermocht und hat es tun drfen, weil er ein Anderes auch immer geboten, verkndet und vorausgesetzt hatte: das Gesetz, welches bindet. Auch in allem, was er ber Fragen der Kunst oder des Geschmackes sprach, war ihm Voraussetzung 308

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Festrede des Großprsidenten

immer das Gesetz, welches bindet. Wenn er ber Fragen der Religion sprach und dann allem Pfaffentum und aller Muckerei den Kampf ansagte: er konnte den Kampf erklren, weil er sich gebunden wußte in das große Gesetz des Guten und Wahren. Gerade in den Zeiten der Freiheit ist die Bindung an ein Hheres dem Menschen erforderlich. In Tagen politischer Beengungen und Begrenzungen, geistiger Einschrnkung und Hemmung knnte eher noch die Bindung an ein Hheres, Geheimnisvolles entbehrt werden. Menschen, die im Hause der Knechte sind, knnen sogenannte »Freigeister« sein. Menschen, die in freien Tagen leben wollen, sie bedrfen des Gesetzes von Gott. Als Israel aus gypten befreit wurde, da wurde es zum Sinai, zum Berge des Gesetzes, gefhrt. Nur der vermag in der Freiheit zu bleiben, der das Gesetz besitzt. Man kann es in der Geschichte der letzten Jahrhunderte deutlich wahrnehmen. Nur die Vlker haben die Freiheit bewahrt, die in ihrer Frmmigkeit, in ihrer Bindung an ein Hheres, Jenseitiges eine Festigkeit bewhrten. Warum haben Englnder, Hollnder, Schweizer, um diese Beispiele zu nennen, Jahrhunderte lang Freiheit bewahrt und Freiheit bewiesen, warum ist bei ihnen die Freiheit geblieben? Weil sie Vlker der Frmmigkeit sind, die von dem Gesetze weiß, das den Menschen an ein Hheres bindet. Wir verstehen so manches in unseren Tagen deutlicher und besser, wenn wir das erkennen. Und war das Erste, woran dieser Tag uns erinnerte, das Gebot, das uns zum Rechte wird, Jude zu sein, so ist die zweite Mahnung, durch Lessing uns nahegebracht, die an das Gesetz, das dem Menschen von Gott gegeben und das ihn zu Gott hinfhrt. Das Dritte, von dem unsere Feier spricht, ist dann das Menschentum. Es ist heute nicht immer ein beliebtes Wort, wenn vom Menschen gesprochen wird. Der Mensch tritt heute oft hinter dem Gewande zurck, das ihm angelegt wird, sei es ein Gewand, das die Natur ihm angelegt hat, in Form und Farbe und Gestalt, sei es ein Gewand, das Menschen ihm angelegt haben. Wir halten fest an dem Worte Mensch, an dem Worte vom Menschentum, aber wir beginnen nicht damit. Fr uns ist es ein dritter, ein letzter Ausdruck. Zunchst spricht zu uns unser Recht, Jude zu sein; danach spricht zu uns das Gesetz, und erst wenn dieses beides uns zur Gewißheit geworden ist, dann ist das Wort Mensch und Menschentum in unserem Munde keine bloße Phrase, die zu nichts verpflichtet, keine bloße Redensart, die eine Ausflucht aus so manchem ist, sondern dann ist dieses Wort Wirklichkeit und Wahrheit. Wann und warum haben so manches Mal Juden vom Menschentum, von dem Menschsein gesprochen? Wenn sie von ihrem Juden309

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tum fortgehen wollten, dann sprachen sie vom Menschentum. Wenn das große »Du sollst« zu schwer fr sie war, wenn sie sich ihm entziehen wollten, dann redeten sie vom Menschentum, dann wollten sie Menschen sein. Menschentum hat Wert und Gehalt und dauernden Bestand nur dann, wenn dieses beides vorangeht, das Wissen um den Auftrag, den Gott gegeben hat, und das Wissen um das Gesetz, um die große Verpflichtung, die große Bindung an das Hhere. Wenn dieses beides vorangeht, dann allein knnen wir wahrhaft von unserem Menschentum reden, dann ist Menschentum nicht mehr Ausrede und nicht mehr Redensart, dann ist Menschentum Wirklichkeit unseres Lebens. Auch das war bisweilen vergessen worden, und es wurde ein Weg unseres Ordens, daß er diesem Sinne des Menschentums seinen Platz gegeben hat, auf dem allein es bestehen kann. Von diesem allem, von diesem Dreifachen, das im Grunde eines ist, will diese Stunde zu uns sprechen. Jede Feier ist eine Mahnung, und nur, wer sie vernimmt, hat einen Tag wahrhaft begangen. An den Bund, an das Gebot und an das Menschentum unseres Lebens sind wir gemahnt. Und wenn in dieser Stunde Lessing in den Kreis, der sich nach seinem Namen vor einem halben Jahrhundert genannt hat, trte, wir knnen dessen wohl gewiß sein, daß er mit seinen Worten dieses Dreifache an uns herantreten ließe, und aus ihm hervor die große Gewißheit, den großen Trost uns geben wrde. Meine lieben Brder! Wir feiern diesen Tag anders, als die Mnner vor uns es gedacht hatten, als sie am Tage der Grndung hoffend hinausblickten, anders, als die Brder es meinten, die vor 25 Jahren den Tag feierten. Die Tage sind andere geworden. Eine große Zeit scheint zu Ende zu gehen; eine andere Zeit, die vor der Geschichte erst sich rechtfertigen soll, scheint in den Wegen des Werdens zu wandeln. In diese Zeit sind wir Juden hineingestellt. Wir Juden sind, seit wir auf Erden sind, eine Vorhut auf Erden. Es ist aber nicht leicht, vorn angestellt zu sein. Die ersten Pfeile treffen immer den, den die Geschichte in die vordere Reihe gestellt hat. In ruhigen Tagen, in Tagen ohne Streit wissen wir nicht darum, in ernsten Tagen aber erleben wir es immer wieder. Es ist ein schweres Erlebnis, aber doch auch ein großes. Denn es gibt uns das Bewußtsein unserer geschichtlichen Aufgabe, unseres geschichtlichen Platzes. Wir sollten diese Seite unseres Geschickes auch betrachten, und auch das ist der Sinn der Feier, die uns heute vereint. Gewiß, jeder Einzelne von uns leidet, trgt Brde und Last, Brde und Last fr sich, Brde und Last fr die Seinen. Aber als Gesamtheit ist uns nicht 310

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»Trstet, trstet mein Volk«

Last, sondern Aufgabe gegeben, als Gesamtheit, als Gemeinschaft drfen wir aufrecht in die kommenden Tage sehen. Von unserer Wrde und Haltung wird alles abhngen. Mitleid ist eine Empfindung, die wenige Tage, wenige Wochen nur dauert. Mitleid mit uns wrde uns in der Welt nicht vorwrtsbringen, wie rasch wre es geschwunden. Aber eines bleibt auf die Dauer, eines setzt sich immer durch, der Respekt. Wenn die Welt um uns Respekt vor uns haben kann, dann wird das Empfinden der Menschheit sich immer uns zuwenden. Von unserer Wrde, von der Achtung, die wir einflßen, ist alles bedingt. Wenn es mir vergnnt ist, in dieser Stunde unserer lieben LessingLoge, einer der besten in unserem Distrikte, auf die oft die Blicke sich lenken, fragend, ob unsere Lessing-Loge aufrecht auf ihrem Platze stehen wird, die Glckwnsche der Großloge in dieser Stunde darzubringen, so will aus ihnen Dankbarkeit dafr sprechen, daß sie fest und stark und treu geblieben ist, daß sie ihrem Namen Treue bewahrt hat, starke Dankbarkeit, aus der Gewißheit hervorkommend, daß der Geist, den sie in ihrer Mitte gepflegt hat, bleiben wird zum Segen fr Sie alle, meine lieben Brder, und, Gott mge es geben, fr kommende Geschlechter. Und wenn ich in dieser Stunde als Zeugnis dieser Dankbarkeit und dieser Gewißheit diesen Hammer neu in die Hand Ihres wrdigen Prsidenten lege, so will es ein Sinnbild dessen sein, daß wir stark bleiben wollen trotz allem, durch allen Wandel der Zeiten bleiben wollen, was wir von Gottes Gnaden sind, festgehalten durch das, was uns bindet und damit verbindet, treu dem wahren Menschentum, treu dem, was das Wort Bne Briss uns sagt und was uns entgegenklingt aus dem Namen Lessing – Lessing-Loge der Bne Briss. 50. Stiftungsfest. Lessing-Loge IX Nr. 349 U.O.B.B. Breslau, 1935. S. 4-11.

* »Trstet, trstet mein Volk« »Trstet, trstet mein Volk« 1 ruft uns der heutige Sabbat zu. Woraus kann uns in diesen Tagen, in denen wir durch eine Flut von Beschimpfungen hindurchgehen mssen, Trost erwachsen? Er er1. Jes 40,1. Lesung zum »Schabbat nachamu« im Sommer jeden Jahres, die mit diesen Worten beginnt. Im Jahre 1935, als Baeck diese Worte schrieb, fiel der Schabbat nachamu auf den 10. August.

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wchst aus der Antwort, die unser Glauben, die unsere Ehre, die unsere Jugend uns gibt. Allen Schmhungen stellen wir die Hoheit unserer Religion entgegen, allen Krnkungen unser stetes Bemhen, in den Wegen unseres Judentums zu gehen, seinen Geboten nachzukommen. Die wahre Ehre gibt sich jeder selbst, er gibt sie sich durch ein Leben, das unantastbar und rein, schlicht und aufrecht ist, durch ein Leben von jener Zurckhaltung, die das Zeichen innerer Strke ist. Unsere Ehre ist unsere Ehre von Gott, sie allein wird bestehen. Unsere Jugend – gibt sie uns nicht ein Beispiel der Anspruchslosigkeit und des Mutes, auf neuen Wegen dieses schwere Leben zu meistern? Lasset uns, Eltern und Lehrer, ein Geschlecht heranziehen, streng und hart gegen sich selbst, hilfsbereit gegen jeden anderen, mit starkem Krper und frischem Geist, glubig und fest sich verwurzelnd im Judentum. Lasset Euch nicht niederdrcken und laßt Euch nicht verbittern. Vertraut auf Den, dem die Zeiten gehren. Robert Raphael Geis. Leiden an der Unerlstheit der Welt. Mnchen, 1984. S. 211.

* Ansprache zum Kol Nidre des Vershnungstages 6. Oktober 1935 In dieser Stunde steht ganz Israel vor seinem Gott, dem richtenden und vergebenden. Vor ihm wollen wir allesamt unseren Weg prfen, prfen, was wir getan und was wir unterlassen, prfen, wohin wir gegangen und wovon wir ferngeblieben sind. Wo immer wir gefehlt haben, wollen wir offen bekennen: »wir haben gesndigt«, und wollen mit dem festen Willen zur Umkehr vor Gott beten: »vergib uns!« Wir stehen vor unserem Gotte. Mit derselben Kraft, mit der wir unsere Snden bekannt, die Snden des Einzelnen und die der Gesamtheit, sprechen wir es mit dem Gefhl des Abscheus aus, daß wir die Lge, die sich gegen uns wendet, die Verleumdung, die sich gegen unsere Religion und ihre Zeugnisse kehrt, tief unter unseren Fßen sehen. Wir bekennen uns zu unserem Glauben und zu unserer Zukunft. – Wer hat der Welt das Geheimnis des Ewigen, des einen Gottes gekndet? Wer hat der Welt den Sinn fr die Reinheit der Lebensfhrung, fr die Reinheit der Familie offenbart? Wer hat der Welt die Achtung vor dem Menschen, dem Ebenbilde Gottes gege312

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Die Reichsvertretung an die Juden in Deutschland

ben? Wer hat der Welt das Gebot der Gerechtigkeit, den sozialen Gedanken gewiesen? Der Geist der Propheten Israels, die Offenbarung Gottes an das jdische Volk hat in dem allen gewirkt. In unserem Judentum ist es erwachsen und wchst es. An diesen Tatsachen prallt jede Beschimpfung ab. Wir stehen vor unserem Gott: auf Ihn bauen wir. In Ihm hat unsere Geschichte, hat unser Ausharren in allem Wandel, unsere Standhaftigkeit in aller Bedrngnis ihre Wahrheit und ihre Ehre. Unsere Geschichte ist eine Geschichte seelischer Grße, seelischer Wrde. Sie fragen wir, wenn sich Angriff und Krnkung gegen uns kehren, wenn Not und Leid uns umdrngen. Von Geschlecht zu Geschlecht hat Gott unsere Vter gefhrt. Er wird auch uns und unsere Kinder durch unsere Tage hindurch leiten. Wir stehen vor unserem Gott. Sein Gebot, das wir erfllen, gibt uns Kraft. Ihm beugen wir uns, und wir sind aufrecht vor den Menschen. Ihm dienen wir, und wir bleiben fest in allem Wechsel des Geschehens. Demtig vertrauen wir auf Ihn, und unsere Bahn liegt deutlich vor uns, wir sehen die Zukunft. Ganz Israel steht in dieser Stunde vor seinem Gotte. Unser Gebet, unser Vertrauen, unser Bekennen ist das aller Juden auf Erden. Wir blicken aufeinander und wissen von uns, und wir blicken zu unserem Gotte empor und wissen von dem, was bleibt. »Siehe, nicht schlft und nicht schlummert Er, der Israel htet«. 1 »Er, der Frieden schafft in den Hhen, wird Frieden schaffen ber uns und ganz Israel«. 2 Trauer und Freude erfllen uns. Schweigend, durch Augenblicke des Schweigens vor unserem Gotte, wollen wir dem, was unsere Seele erfllt, Ausdruck geben. Eindringlicher als alle Worte es vermchten, wird diese schweigende Andacht sprechen. Ernst Simon. Aufbau im Untergang. Tbingen, 1959. S. 39-41.

* Die Reichsvertretung an die Juden in Deutschland An der Wende der Jahre ist es uns geboten, deutlich das zu sehen, was ist, und klar zu erkennen, was sein soll. Lastender noch als in frheren Jahren war jetzt Monat um Monat 1. Ps 121,4. 2. Satz aus dem jdischen Gebetbuch.

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Im nationalsozialistischen Berlin – Ermutigung

die Schwere des Geschehens auf uns gelegt. Keinem ist es erspart geblieben. Alles ußere unseres Daseins wurde davon erfaßt und bedrckt, und immer wieder drohte es auch das Innere unseres Lebens zu ergreifen, unserer Seele den Atem zu nehmen. Wie oft haben uns Zweifel umringt, wie oft hat fast Verzweiflung uns berwltigen wollen. Wir wissen um alles, was gekommen, um alles, was da ist. Um so fester und bestimmter wollen wir deshalb unseren Blick dahin richten, wo unsere Geschichte es uns klar zeigt, wie in allen unseren Generationen Versunkenes wieder zur Zukunft geworden ist, wie sich uns stets das Leben, das beendet schien, erneuert hat. Auch wir sehen es jetzt, wie neue Sttte der Heimat berall auf Erden von unserer Jugend errungen wird, wie damit auch fr die lteren ein Platz sich zuzursten beginnt. Wir drfen stolz auf das sein, was unsere jdischen Menschen, in neuen Formen des Daseins arbeitend, fr sich und fr uns alle vollbringen. Wohl ist es ein langsames Werden und ein mhevoller Weg; aber alles, was bestehen soll, verlangt seine Zeit und fordert sein Bauen, Stein um Stein. Wir Juden sind das Geschlecht, das zu erwarten vermag; die Geduld ist unsere Kraft. Von einem hngt alles ab, davon, daß wir wissen, was sein soll. Wir sollen unseren großen Glauben, den Glauben unseres Judentums, in uns wahren, in uns lebendig erhalten. Das bleibt uns doch gegeben, daß wir in ihm leben, in ihm unsere Kinder erziehen knnen. Und nur wo er ist, wird uns wahrhaft Sttte unserer Zukunft bereitet sein. In ihm wollen wir alle fest sein, in Schlichtheit und Geradheit, in Echtheit und Rechtschaffenheit, die einen zur Ferne hinausziehend, die anderen eine Stunde, die auch sie zu Neuem fhrt, erhoffend. In unserem Glauben haben wir immer aufrecht dagestanden. Wir Juden sind das Geschlecht, das des Ewigen gewiß ist. So wir mit Gott sind, wird Gott mit uns sein. Unterzeichnet von Leo Baeck und Otto Hirsch, erschien kurz vor dem jdischen Neujahr. »Die Reichsvertretung an die Juden in Deutschland«. C.V.-Zeitung 17.38 (1938): S. 1. [22. Sept.]

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An und fr Einzelne Die meisten der Briefe, die Baeck in dem Jahrzehnt vor seiner Deportation nach Theresienstadt am 27. Januar 1943 schrieb, sind verloren gegangen. Einige interessante und wichtige Briefe jedoch sind erhalten geblieben und befinden sich in Archiven oder im Privatbesitz. Sie spiegeln Baecks schwierige Situation als Prsident der Reichsvertretung und seit 1939 der weitaus weniger unabhngigen Reichsvereinigung der Juden in Deutschland wider. Insbesondere zeigen sie einen Mann, der sich bemht, anderen so gut zu helfen, wie es die Beschrnkungen seiner Position zuließen. Seit 1924 war Baeck Großprsident des deutschen Distriktes des Internationalen Ordens Bne Briss gewesen. Als die Nazis an die Macht kamen, war zu frchten, daß sie den deutschen Bne Briss auflsen wrden, und es wuchs die Notwendigkeit, Mitgliedern, die ihre Stellung verloren, behilflich zu sein. Baeck wandte sich an den in Cincinnati lebenden internationalen Prsidenten des Bne Briss, Alfred M. Cohen, und bat um finanzielle Untersttzung und politische Hilfe durch die amerikanische Regierung. Er korrespondierte auch mit einem anderen Bne Briss Bruder, I. M. Rubinow, ber einen Plan, jdische Kinder nach Amerika zu schicken. Dem Orden in Deutschland gelang es, bis April 1937 fortzubestehen, zu welchem Zeitpunkt die Gestapo ihn nach Razzien seiner Logen und seiner Institutionen und nach Hausdurchsuchungen bei seinen Mitgliedern auflste. Zwei erfreuliche Ereignisse werden in diesem Kapitel erinnert: Zum einen erhielt Baeck 1935 in Abwesenheit die Ehrendoktorwrde des Hebrew Union College. Wie er an den Prsidenten des HUC, Julian Morgenstern, schrieb, konnte diese Auszeichnung ihm »in ernsten, verantwortungsvollen Tagen […] neue Gewissheit und Zuversicht« verleihen. Das andere Ereignis war Martin Bubers 60. Geburtstag 1938, den Baeck zum Anlaß nahm, seiner Wertschtzung des Mannes und dessen Arbeit Ausdruck zu verleihen. blicher als erfreuliche Ereignisse waren die Anfragen, die von Seiten der Freunde, Kollegen und Studenten an Baeck gerichtet wurden, die Deutschland verlassen konnten. Bei diesen Briefen handelt es sich zumeist um Referenzen, die ihnen in den jeweiligen Emigrationslndern behilflich sein sollten. Manchmal kamen Erkundigungen von außerhalb Deutschlands zuknftige Emigranten betreffend. So schrieb Baeck beispielsweise einen kritischen Brief ber einen jngeren rabbinischen Kollegen in Berlin, den er beschuldigte, seinen Pflichten als Rabbiner der belagerten deutsch-jdischen Gemeinde den Rcken kehren zu wollen. Es war Baecks Ansicht, daß die Rabbiner, denen keine 315

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

unmittelbare Gefahr drohte und zu denen er sich selbst auch zhlte, so lange wie mglich in ihrem Amt bleiben sollten. Als Rabbi Manfred Swarsensky jedoch keine Wahl blieb und er Deutschland verlassen mußte, war Baeck bereit, ihm mit guten Ratschlgen zur Seite zu stehen. Die Briefe Baecks aus den Jahren 1938 – 1943 schließlich spiegeln die furchtbare Situation der Juden wider, die sich noch in Berlin befanden. An seinen Rabbinerkollegen Max Grnewald schreibt er: »Wir sind weiter bemht, im ›Und dennoch‹ zu bleiben«. In einem Brief an Hans George Hirsch wrdigt Baeck dessen Vater, Otto Hirsch, der ein enger Mitarbeiter Baecks in der Reichsvertretung gewesen war. Er war kurz vorher nach Mauthausen deportiert worden und kam dort bald ums Leben. In einem Brief an einen Freund, der in Argentinien Zuflucht gefunden hatte, schreibt Baeck: »Der Kreis ist enger und einsamer geworden. Ich stehe in der tglichen Arbeit, um zu helfen und zu ntzen, wo es mglich ist, und ich bin dankbar, wann immer ich einem Menschen etwas sein kann«. Der Kreis um ihn wurde tatschlich kleiner. Unter Zuhilfenahme der notwendigen Euphemismen informiert Baeck Hanns Schffer im November 1942, daß eine seiner engen Mitarbeiterinnen, Cora Berliner, bereits deportiert wurde, die Verschleppung einer anderen, Hannah Karminski, kurz bevorstehe. In dem letzten Brief, der hier aufgenommen wurde, datiert 12. Dezember 1942, weniger als einen Monat vor seiner eigenen Deportation, schreibt Baeck der Schriftstellerin Ilse Blumenthal-Weiss von seiner »oft schweren und vergeblichen Arbeit«. Es war zur Notwendigkeit geworden, mit Mensch und Gott »Geduld« zu haben. * Briefe an Alfred M. Cohen in Cincinnati Saarbrcken, 1. Mai 1933 Diskret! Lieber Bruder Cohen, 1 Ich bin hier fr einige Stunden, um unsere Saar-Loge 2 zu besuchen, und ich benutze die Mglichkeit, einen Brief von jenseits der Grenze 1. Alfred Morton Cohen (1859-1949). Rechtsanwalt in Cincinnati, Ohio, demokratischer Politiker und internationaler Prsident der jdischen Bruderschaft Bne Briss von 1925 bis 1938. Im Jahre 1933 besuchte er die World Conference of Jews in London, die zugunsten der Juden in Deutschland abgehalten wurde. 2. Saar-Loge der jdischen Bruderschaft Bne Briss. Durch den Versailler Vertrag

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Briefe an Alfred M. Cohen in Cincinnati

an Sie abzuschicken, um das zu ergnzen, was ich Ihnen durch Dr. Schnabl 3 aus Wien mitteilen liess. Wir mssen in Deutschland mit der Mglichkeit rechnen, dass unser deutscher District durch behrdliche Verfgung aufgelst wird. Man hat uns bisweilen nahegelegt, hnlich wie die Freimaurer und die Odd Fellows 4 es in Deutschland getan haben, uns freiwillig aufzulsen. Wir haben dies auf das Bestimmteste und Entschiedenste abgelehnt. Wir wollen, bis wir vielleicht der Gewalt weichen mssen, aufrecht auf unserem Platze stehen und die Aufgaben und Arbeiten erfllen, die uns als B.B. 5 obliegen. Bisher ist keine unserer Logen in ihren Arbeiten dauernd gestrt worden. Zu Beginn des vorigen Monats fanden berall die Wahlen der Beamten und die Einfhrung derselben statt. Ebenso werden regelmssig Sitzungen abgehalten und die Beitrge fr die einzelnen Logen und die Gross-Loge einbezogen. Es treten jetzt, wie an die jdische Gesamtheit in Deutschland, so an unsere Logen ganz besonders schwere Aufgaben heran. Viele unserer rzte und Rechtsanwlte, und auch nicht wenige Angestellte in Geschften sind ihrer Existenz fast ganz beraubt; und es liegt uns ob, fr sie Sorge zu tragen. Wir bemhen uns, solange unsere Krfte ausreichen, dies nach besten Krften zu tun. Wie lange unsere Krfte ausreichen werden, ist schwer zu sagen; dies hngt von der allgemeinen Entwicklung im Lande ab. Wir sind deshalb bisher nicht an unsere Ordensleitung herangetreten, um irgendwelche Hilfe von ihr zu erbitten. Wir halten es aber fr unsere Pflicht, darauf hinzuweisen, dass dies eines Tages vielleicht notwendig werden wird, und wir bitten deshalb Vorbereitungen zu treffen, damit Mittel vorhanden seien, um die notwendige Hilfe zu leisten. Wir werden nicht eher, als dies unbedingt notwendig sein wird, eine Bitte um Hilfe aussprechen. Wir werden unsere eigenen Krfte bis aufs usserste anspannen. Aber wenn wir – trotz unseres Wunsches und unserer Hoffnung, dass dies nicht notwendig sein wird – uns eines Tages um Hilfe materieller Art an unsere Ordensleitung wenden, mssen wir darauf rechnen knnen, dass uns diese Hilfe sofort zur Verfgung steht. An unsere Saar-Loge treten jetzt ausserordentlich schwere Anforwurde die Saar zum autonomen Gebiet, bis sie 1935 per Volksentscheid wieder an Deutschland angeschlossen wurde. 3. Moritz Schnabel. Großprsident des 12. Distriktes des Bne Briss in sterreich. 4. Der Independent Order of Odd Fellows ist eine philanthropische Bruderschaft, die im 18. Jahrhundert in England gegrndet wurde und sowohl Juden als auch Christen offensteht. 5. Bne Briss.

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

derungen heran. Es wird Ihnen bekannt sein, dass das Saargebiet, welches zwischen Deutschland und Frankreich liegt, unter internationaler Verwaltung steht, und dass die Reise von Deutschland nach dem Saargebiet ohne besondere behrdliche Genehmigung erfolgen kann. Infolgedessen wenden sich Viele, welche aus politischen Grnden Deutschland verlassen zu mssen glauben, oder denen eine wirtschaftliche Existenz in Deutschland unmglich geworden zu sein scheint, in grosser Zahl zunchst in das benachbarte Saargebiet, und in erster Linie nach der Hauptstadt Saarbrcken. Die Israel. Gemeinde in Saarbrcken, und in ihr unsere Saar-Loge, wendet sehr grosse Mittel auf und leistet auch persnlich Ausserordentliches, um den vielen Hunderten, welche Hilfe und Rat suchen, Beistand zu leisten. Die Anforderungen scheinen schon jetzt ber die Krfte der Saar-Loge hinauszugehen. Es wre daher zu empfehlen, ihr besonders zur Seite zu treten. Briefe an uns nach Deutschland, an unsere Berliner Adresse, knnen, wenn sie nichts Politisches und nur sachliche Mitteilungen enthalten, an uns direkt gesandt werden. Wenn die Briefe Weiteres enthalten sollen, so knnen sie fr uns an Herrn Heinrich Moritz, Heinestrasse 9, Saarbrcken (Saargebiet) geschickt werden. Es wird Sorge getragen werden, dass die Briefe, oder jedenfalls der Inhalt der Briefe, sicher an uns gelangen. Von meinem persnlichen Ergehen kann ich Befriedigendes melden. Es tritt ein sehr grosses Mass von Arbeit, welches starke Anforderungen an Krper, Seele und Geist stellt, tglich an mich heran. Ich bin dankbar dafr, dass die Gesundheit und Kraft vorhlt, um der Arbeit gerecht zu werden und zu raten und zu helfen, so weit es mglich ist. Gott helfe weiter! B’nai B’rith Archives, Washington.

* Berlin, November 1933 Dear brother Cohen! It is my heartfelt desire once more to express, what a very great and special joy it has meant to me, that I could see you again and speak to you of all the questions and troubles that are agitating all of us. The mere fact of being together with you has given me relief and consolation and strength. I could feel, how fully you understand all that moves me, and how the cares that fill my heart equally fill and move your heart. Let me thank you most sincerely! 318

Baeck 6 p. 319 / 5.7.2006

Briefe an Alfred M. Cohen in Cincinnati

There is one thing, I wish once more specially to emphasize. We here have never had any doubt, that from the part of our American brethren and especially and foremost from yourself, dear brother Cohen, we may count upon deepest sympathy and most faithful feeling. I am convinced that the meeting we were granted has fully given you that certainty. I hope you had a good passage and have found all you love in best health. I would be happy, if it were granted to me soon again to look in your eye and hear your voice and find relief in talking things through with you. With God’s will in better days! Leo Baeck im Namen der Großloge fr Deutschland VIII.U.O.B.B. (E.V.). B’nai B’rith Archives, Washington.

* Berlin, 21. Dezember 1933 Dear Brother Cohen! The American Consul-General Mr. Geist 1 has intimated to us that we might ask you, whether you would not deem it useful to suggest to the State Department, that it should confidentially point out to the German Authorities, how greatly the numerous American friends of the German B’nai B’rith District are filled with anxiety about the German Lodges. Our American friends know, that the B’nai B’rith have in Germany as well as in the other countries always been and are the most loyal citizens, that they have at all times faithfully fulfilled their duty to their country and have done their best in all fields of social and cultural work, and how greatly it is to the benefit of the country that the Order should continue its activities without encumbrance. You are informed about the situation in detail, also, that the disturbances, that occurred against Lodges in several towns, were not caused by the Central Government’s Authority. We feel bound in the interest of our Brethren and the idea of our Order to forward this suggestion given by consul Geist to you. We need not emphasise that the whole matter must be treated as most strictly confidential, not only on our behalf, but especially with regard to Consul Geist, who has placed himself at our service in the kindest way. We readily and confidently leave everything further in 1. Raymond Geist, der gerade zum amerikanischen Generalkonsul in Berlin ernannt worden war, war Quker und zeigte sich der Not der verfolgten Juden in Deutschland gegenber verstndnisvoll.

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

the hands of the Administration of our Order and hope that the measure suggested may help to render our Lodges some reassurance, which is sorely necessary to grant an undisturbed work of the Order. B’nai B’rith Archives, Washington.

* Leo Baeck an Dr. Rubinow in Cincinnati Berlin, 29. Januar 1934 Sehr verehrter, lieber Bruder Dr. Rubinow! 1 Haben Sie sehr herzlichen Dank fr Ihr Schreiben vom 8. Dezember v. J. und Ihre Ausfhrungen ber die Absicht, jdische Kinder aus Deutschland nach den Vereinigten Staaten zu berfhren und sie dort in die Obhut amerikanischer jdischer Familien zu nehmen. Sie wissen, dass ich bereits bei unserer Aussprache hierber den Standpunkt vertreten habe, dass Kinder bis zum vierzehnten Jahre, wenn nicht ein zwingender Grund fr eine Trennung spricht, am besten im Kreise der Familie verbleiben und dass es wesentlich wichtiger erscheint, jungen Menschen nach dem schulpflichtigen Alter die Mglichkeit einer geordneten Ausbildung fr die Zukunft zu geben. Ich habe mich hier mit dem Hilfsverein der deutschen Juden, bei dem die Frage durch Br. Dr. Bernhard Kahn 2 aufgeworfen worden ist, in Verbindung gesetzt, um von ihm zu hren, wie weit dort die Angelegenheit bereits gediehen ist. Die Umfrage ist noch nicht abgeschlossen. Bisher sind dort etwa neunzig Kinder gemeldet, die sich etwa auf 35 Orte verteilen. Ich will die Angelegenheit aber auch unseren Logen nahe bringen, um von ihnen zu erfahren, ob im Logenkreise ein Interesse fr die berfhrung von Kindern nach Amerika vorhanden ist. Sobald ich weitere Nachrichten habe, lasse ich wieder von mir hren.

1. Isaac Max Rubinow (1876-1938). Wirtschaftswissenschaftler, zionistische Fhrungspersnlichkeit und Sekretr des Independent Order of B’nai B’rith von 1929 bis 1936. Fhrend in den Bemhungen, den Juden im nationalsozialistischen Deutschland zu helfen. 2. Bernhard Kahn (1876-1955). Generaldirektor des American Joint Reconstruction Fund, lebte ab 1933 in Frankreich, ab 1939 in den USA.

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Brief an Dr. Morgenstern in Cincinnati

Darf ich Sie bei dieser Gelegenheit auch um einen Bericht ber die letzte Sitzung des Executivkomitees bitten. Leo Baeck im Namen der Großloge fr Deutschland VIII.U.O.B.B. (E.V.). B’nai B’rith Archives, Washington.

* Brief an Dr. Morgenstern in Cincinnati Berlin, 1. Mai 1935 Lieber Herr Dr. Morgenstern! 1 Mein cable vom 29. April, das gewiss rechtzeitig zu Ihnen gelangt ist, hat Ihnen meinen aufrichtigen, herzlichen Dank bereits berbracht. Lassen Sie mich durch diese Zeilen Ihnen und der Fakultt wie dem Board of Governors es wiederholen, mit welch inniger Dankbarkeit mich die Auszeichnung 2 erfllt, die Sie mir zu teil werden lassen, und wie tief mich die gtigen, ehrenden Worte bewegen, durch die Sie dieser Ehrung ihren Ausdruck geben. Wenn irgend etwas mir in ernsten, verantwortungsschweren Tagen neue Gewissheit und Zuversicht geben kann, so ist es die wertvolle Anerkennung, die Sie meinem Leben und meiner Arbeit in so freundlicher Weise gewhren. Das alte rmische Wort sagt, dass der Mensch ein zusprechendes Wort annehmen drfe: »laudari a laudato viro.« So darf ich das aufnehmen, was Sie zu mir gesprochen haben. Durch ein usseres Zeichen auch, ein Zeichen besonderer Wrde, bin ich jetzt mit dem Hebrew Union College, mit seiner Geschichte, seiner Gegenwart und seinen Hoffnungen verbunden. Es soll mein Bestreben sein, dem College, dem ich nun zugehre, Treue zu bewhren und der Auszeichnung, die es mir verliehen hat, den persnlichen Wert zu geben. Ich brauche es Ihnen nicht zu sagen, welch ausserordentliche Freude es fr mich wre, wenn ich am 25. Mai im Kreise des College sein und aus Ihren Hnden, lieber Dr. Morgenstern, das Diplom entgegennehmen drfte. Sie wissen, dass diese Stunde des Zusammenseins mir versagt ist. Meine lebendigen Gedanken und meine dankbaren Empfindungen werden bei Ihnen sein. 1. Julian Morgenstern (1881-1976). Prsident des Hebrew Union College in Cincinnati von 1922 bis 1947. 2. Baeck erhielt 1935 in Abwesenheit vom Hebrew Union College die Ehrendoktorwrde in Hebrischer Rechtswissenschaft. Nach dem Krieg unterrichtete Baeck wiederholt als Gastprofessor an dem College.

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

Empfangen Sie meine herzlichen Grsse und die Versicherung meiner aufrichtigen Verbundenheit und Freundschaft. Morgenstern Papers. American Jewish Archives, Cincinnati.

* Brief an Dr. Samuel Schulman in New York Berlin, 4. November 1939 Lieber Herr Kollege! 1 Zum ersten Male wohl verwende ich mich fr einen jungen Mann bei Ihnen, aber es handelt sich in der Tat auch um einen ganz besonderen Fall, um einen Menschen von besonderem Werte. Dr. med. Werner Hamburger, 25 Jahr alt, hat sein medizinisches Staatsexamen hier in Berlin, was hier etwas nicht gewhnliches ist, mit dem Gesammtprdikat »sehr gut« abgelegt. Nach den Ihnen bekannten Bestimmungen, die jetzt hier gelten, kann er in Deutschland die rztliche Approbation nicht erhalten, und er ist gentigt, wenn er bei seinem Berufe bleiben will, fr den er, nach dem Urteile von Fachleuten außergewhnlich befhigt ist, nach einem anderen Lande zu wandern. Er will zunchst nach New York kommen, und es wrde fr ihn von grosser Bedeutung sein, bei einer prominenten Persnlichkeit eingefhrt zu werden, die ihm mit Rat zur Seite stehen knnte. Darf ich mir daher erlauben, Dr. Hamburger aufs wrmste Ihnen zu empfehlen. Hinzufgen mchte ich, dass Dr. H. jdisches Empfinden und Willen zu allem Jdischen stets bewhrt hat. Lassen Sie mich auch bei dieser Gelegenheit es aussprechen, welch grosse Freude es fr mich war, dass ich in Luzern mit Ihnen zusammen sein konnte. Ich denke oft an das zurck, was Sie zu mir sprachen. Die Lektre Ihres Londoner Referates, das ich mit grsstem Interesse und vielfach belehrt aufs aufmerksamste las, hat meine Gedanken oft zu Ihnen hingefhrt. American Jewish Archives, Cincinnati. MSS Col. 90.

* 1. Samuel Schulman (1864-195). Fhrender Reformrabbiner, der an der Hochschule fr die Wissenschaften des Judentums in Berlin studiert hatte. Mitbegrnder der World Union for Progressive Judaism, deren Prsident Baeck im Jahre 1938 wurde.

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Brief an Lily H. Montagu in London

Zu Martin Bubers 60. Geburtstag Martin Bubers Lebenswerk, in seinem Dichten und Denken, in seinem Helfen, Erziehen und Weisen, ist zu jedem von uns irgend einmal herangetreten, und vielen ist es nahe, viele hat es geleitet. Eine tiefe Dankbarkeit wird lebendig, wenn das Bild dieses Mannes vor uns steht. Von einem nur soll besonders hier gesprochen werden, von dem, was Martin Buber innerhalb unserer Reichsvertretung uns gibt. Er schuf und lenkt hier die Arbeit fr die Erwachsenenbildung. Er schenkt ihr seine Persnlichkeit, sein schauendes Wissen und seine Zwiesprache, seine große Gabe, zu verstehen und zu hren, und nur wer zu hren vermag, der vermag zu sprechen. Von uns Juden in Deutschland ist heute gefordert, daß wir andere Bezirke, andere Rume und Formen des Daseins erringen, daß wir durch den eigenen Entschluß die Notwendigkeit berwinden. Das Entscheidende wird hier die Seele vollbringen; der innere Wandel, das innere Neuwerden bahnt den Weg. Dem will diese Arbeit von Martin Buber dienen. Eine Gemeinschaft wre in den Tagen der Prfung verloren, wenn vor ihr nur Menschen wren, denen irgendeine Wahl, irgendein Hingelangtsein die Bedeutung gbe. Manch Geschichtliches ist im Drucke der Zeit zugrunde gegangen, weil nur diese Menschen da waren, Zu Martin Bubers Wert fgt kein Amt und kein Auftrag etwas hinzu. Er ist einer von denen, die dem Platze, auf den sie gestellt werden, Ehre verleihen. »Leo Baeck zu Bubers sechzigstem Geburtstag«. Informationsbltter der Reichsvertretung der Juden in Deutschland 6.3 (1938): S. 3.

* Brief an Lily H. Montagu in London Berlin, den 5. Januar 1939 Hochverehrte Miss Montagu! 1 Empfangen Sie meinen besten Dank fr Ihren freundlichen Brief 1. Lilian (Lily) Helen Montagu (1873-1963). Mitbegrnderin des liberalen Judentums in England und der World Union for Progressive Judaism im Jahre 1926, der sie viele Jahre als Schriftfhrerin diente.

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

vom 2. 1. Wenn ich erst nach einigen Tagen antworte, so ist es, weil ich nochmals sorgsam berlegen wollte. Es ist immer eine ernste Aufgabe, eine Auskunft ber einen Menschen zu geben. Die Verantwortlichkeit ist eine sehr grosse, ganz besonders, wenn es sich um einen Rabbiner handelt; der Rabbiner wird oft das Schicksal seiner Gemeinde. Es ist viel Unrechtes dadurch getan worden, dass aus gutem Herzen, aber leichtfertig Empfehlungen gegeben wurden. Wir hatten im letzten Jahrzehnt in Deutschland einige begabte junge Rabbiner – Dr. N. 1 gehrt zu ihnen –, in denen das Streben nach dem schauspielerischen und rhetorischen Effekt strker war als die moralische Qualitt, und bei denen das Auftreten mehr galt als die Arbeit. Es war, wie wenn der dandy und der comedian das Ideal geworden wre, und auch die Religiositt nur eine Rolle wre, welche man spielte. Auch die moralische Lebensfhrung entsprach nicht den Anforderungen, die an einen Rabbiner gestellt werden mssen. Die Predigten dieser Rabbiner haben eine Zeit lang einen grossen Zulauf gehabt, aufs Ganze gesehen haben sie mehr Schaden als Segen gebracht. Ein anderes muss auch noch hervorgehoben werden. Dem Rabbiner in Deutschland ist in diesen Monaten eine schwere, aber wichtige Aufgabe gestellt. Viele Rabbiner werden gezwungen, sogleich auszuwandern, weil sie nur unter der Bedingung der Auswanderung aus dem Konzentrationslager entlassen wurden. Dafr sollten die, welche nicht unter diesem Zwange stehen, so lange als nur mglich in ihren Gemeinden ausharren. Heute bedarf hier die Gemeinde des Rabbiners mehr als je. Dr. N. ist wohl derjenige Rabbiner in Deutschland, der am wenigsten in Gefahr ist, denn er ist rumnischer Staatsbrger und geniesst den Schutz der rumnischen Legation; er ist hier so der einzige Rabbiner unter 60 Jahren gewesen, der nicht verhaftet worden ist. Es ist schmerzlich, dass er in diesen Tagen, in denen die Seelsorge des Rabbiners tglich gebraucht wird, in diesen Tagen, in denen die Echtheit des Rabbiners sich erweisen soll, nun schon drei Wochen abwesend ist. Wie der Rabbiner sein soll, sehen wir an dem Beispiel eines anderen jungen Rabbiners, des Ihnen bekannten Dr. Swarsensky. 2 Sofort nachdem er aus dem Konzentrationslager, in welchem er eine vorbildliche Haltung auch bewiesen hatte, entlassen war, hat er unermdlich, trotz kr1. Dr. Max Nussbaum (1910-1974). Liberaler Rabbiner in Berlin. Spter Rabbiner am Tempel Israel of Hollywood in Kalifornien. 2. Dr. Manfred Erich Swarsensky (1906-1981). Liberaler Rabbiner in Berlin von 1932 bis 1939. Ab 1939 Rabbiner am Tempel Beth El in Madison, Wisconsin.

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Brief an Chief Rabbi J. H. Hertz in London

perlicher Beschwerden, von frh bis spt sich an die Arbeit seines Amtes begeben. Ich glaube, dass Dr. N. den Beweis dessen, was er ist, und den Beweis, ob die Zeit ihn gelutert hat, jetzt hier in seiner Gemeinde erbringen sollte. Er hatte sich in ruhigeren Tagen mit allen Mitteln um sein Amt hier bemht; es ist nicht recht, nun in schweren Tagen sofort von dem Amte fortzulaufen. Bemerken mchte ich, dass Dr. N. bestrebt war, sich mir persnlich immer von seinen besten Seiten zu zeigen. Ich habe mir vorgenommen, an unserer Sitzung am 30. Januar teilzunehmen, und ich hoffe sehr, dass mir nichts entgegentritt. 1 Es wird fr mich eine Wohltat sein, an dem meeting teilzunehmen. Entschuldigen Sie, bitte, den ausfhrlichen Brief. Er ist von einem sehr vertrauenswrdigen Menschen in der Maschine geschrieben. World Union for Progressive Judaism Collection. American Jewish Archives. MSS 16 1/8.

Brief an Chief Rabbi J. H. Hertz in London Berlin, 23. Januar 1939 Hochverehrter Herr Kollege, 2 Ich empfinde das Bedrfnis, Ihnen noch einmal aufs herzlichste zu danken, selbst sowohl fr alle die Kollegen, denen Sie geholfen haben, fr ihre aufopferungsvollen Bemhungen um unsere deutschen Rabbiner. Alle die, deren Bleibens hier nicht mehr war, und die durch Sie eine neue Heimatsttte gefunden haben, werden Ihnen fr immer dankbar sein. Ich glaube, Ihnen sagen zu knnen, dass es Ihnen gelungen ist, allen denen, fr die hier eine Wirkungsmglichkeit nicht mehr besteht, das Tor nach draussen zu ffnen. Aber nicht nur um die Rabbiner selbst haben Sie sich dadurch verdient gemacht; den jdischen Gemeinden und Gemeindeverbnden und damit der Gesamtheit der Juden in Deutschland selbst ist dadurch eine Sorge abgenommen worden, abgenommen wirklich in dem Masse, dass nur noch diejenigen der Kollegen hier sein drften, welche fr die hohe Aufgabe der rabbinischen Betreuung jdischer 1. Bezieht sich wahrscheinlich auf ein Treffen der World Union for Progressive Judaism, deren Prsidentenschaft Baeck im Jahre 1938 nach dem Tod Claude Montefiores bernahm. 2. Joseph Herman Hertz (1872-1946). Chief Rabbi der United Hebrew Congregations of the British Commonwealth.

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

Menschen gerade in schweren Zeiten nicht zu entbehren ist. Ich darf wohl mit dem herzlichen Dank fr Ihre bisherige Hilfe die Hoffnung verbinden, dass Sie uns Ihre Hilfe auch in Zukunft nicht versagen werden, und dass Sie und ich im gemeinsamen Zusammenwirken auch denjenigen Kollegen, die jetzt noch hier bleiben, in dem Masse, in dem die Ttigkeitsmglichkeit fr diesen und jenen aufhren sollte, den Weg nach aussen bereiten. Ich will Ihnen gern in jedem einzelnen Fall, der an Sie herantritt, zur Verfgung stehen, um Ihnen unsere Meinung darber zu sagen, ob diese Voraussetzungen bei ihm vorliegen. Im Namen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Dieser Brief befindet sich im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’.

* Leo Baeck an Max Grnewald Berlin, 3. Mrz 1939 Lieber Herr Kollege, 1 wie oft habe ich herzlich an Sie gedacht, aber einige ruhige Augenblicke, zum Schreiben, zwischen Arbeit und Ermdung wollen so selten kommen. Ich hoffe, dass Sie den Platz eines Schaffens haben, und dass Sie getrost sind. 2 Schreiben Sie mir oft einmal, und wenn es nur drei Zeilen sind, wie es Ihnen ergeht und was Sie sehen und hren. Sie schenken mir damit immer eine Freude. Wir hier sind weiter bemht, im »Und dennoch« zu bleiben und, wie Sie vor Monaten sagten, »das Gespenst des Chaos zu bannen«. Es lastet oft schwer auf Kopf und Schulter. Ein Lichtblick ist fr uns, dass das erste transmigration camp erreicht ist. Wenn nur die weiteren Rume und Wege sichtbar wrden. Fr jja 3 bin ich zuversichtlich. Bisher wurde dort nie ein Entschluss gefasst, und der schlimmste Entschluss ist doch, keinen Entschluss zu fassen. Alles verlangen, ist doch nichts anderes als entschlusslos bleiben. Jetzt kommt – soll ich sagen: der Zwang oder:

1. Max Grnewald (1899-1992). Von 1925 bis 1937 Rabbiner in Mannheim und Mitglied des Prsidialausschusses der Reichsvertretung der Juden in Deutschland von 1934 bis 1938, in welchem Jahr er nach Palstina auswanderte. Spter Rabbiner in den U.S.A. und Prsident des Leo Baeck Instituts. 2. Bezieht sich auf Palstina. 3. »Das Land Israel«.

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Briefe an Manfred Swarsensky in London

die letzte Mglichkeit zur Entscheidung. Ein Gebiet des Freien wird bleiben. Ein kleines Zeugnis dessen, dass wir hier irgendwie Subjekt bleiben wollen, ist die Bitte des beiliegenden Schreibens. Ein letztes umfangreiches Heft, ein kleiner Band, der Monatsschrift 1 mchte zeigen: flp wjufmhf 2 Grnewald Collection. Leo Baeck Institute Archives, New York. AR 7204, Box 2, Folder 1.

* Briefe an Manfred Swarsensky in London Berlin, 27. April 1939 Lieber Kollege Swarsensky, 3 haben Sie vielen Dank fr Ihren Brief. Ich freute mich aufrichtig, von Ihnen zu hren. Um mit der Hauptsache zu beginnen: ich rate Ihnen dringend, wenn Sie an die Liberal Synagogue fr den neu eingerichteten Gottesdienst berufen werden, dem ohne Bedenken zu folgen. Sie drfen es mit Freude tun und fr den Ruf aufrichtig dankbar sein. Sie erinnern sich, dass ich Ihnen mehrmals gesagt habe, ich wnschte es Ihnen, um Ihrer Person willen ganz ebenso wie der Sache wegen, dass Sie einen Platz in England gewnnen, auch fr Ihre Eltern wnschte ich es, da es von dort aus, wenn Sie dort ein Amt haben, nicht schwer sein wird, Ihre Eltern herberzuholen. Darum nehmen Sie ohne Zgern an und sprechen Sie dazu eine ektb. 4 Die Wanderung der deutschen Juden geschieht in einer religis vor Antworten gestellten Zeit. Es ist kein Zweifel, dass der, auch in England domesticierte, amerikanische Liberalismus in einer Krise ist; neue Inhalte und neue Formen werden gegeben sein mssen. Es wre ein Unglck fr die Einwandernden wie fr die Heimischen, wenn man daraus, nach einem blen Berliner Muster und durch Menschen, die nichts gelernt und nichts vergessen haben – zwischen denen und sich muss der Ernste heute einen deutlichen Trennungsstrich ziehen – einen job fr »K’hille« 5 -ehrgeiz, -eitelkeit 1. 2. 3. 4. 5.

Monatsschrift fr Geschichte und Wissenschaft des Judentums. Ex 13,18. »Sie [die Kinder Israels] zogen gerstet [aus gyptenland]«. Siehe oben. »Segen«. Hebr.: »Gemeinde«.

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

und -geltungsverlangen werden liesse. Es kann aber ein Grosses sein, wenn der Geist, und nur er und nichts usserliches, des deutschen Liberalismus durch die rechten Mnner sich den Respekt im neuen Lande bereitet hat. Ist der Respekt gewonnen, dann wird die Form, die dem Hebrischen auch seine Bedeutung bereitet, sehr rasch sich gestalten. Die Liturgie, die sich ja leicht einprgt und verstanden wird, sollte von Anfang an nur englisch sein, schon aus Grnden der loyalty und der Dankbarkeit. Die Predigt, die an den Sprechenden wie den Hrenden sprachlich grssere Anforderung stellt, darf zu Anfang deutsch sein; aber aus dem rechtschaffenen Willen hervor, dass das nur ein bergang sein soll. Darum nochmals: sagen Sie froh und frei, wenn eine Anfrage kommt, laut: Ja. Eine Beruhigung kann Ihnen sein, dass Sie mit Bezug auf Amerika keine Bedenken zu haben brauchen. Es scheint fast, dass Sie der Gemeinde dort einen Gefallen erweisen, wenn Sie nicht kommen. Bloss hinzufahren, um hingefahren zu sein, wre eine Torheit, und weder der Prsident noch ein Konsul der U.S.A. wird es Ihnen verargen, wenn Sie das Visum nur als Andenken aufbewahren. Dafr tun Sie das Gelbde, vom Empfang dieses Briefes an und bis zur Ankunft Ihrer Eltern in England, ausser wenn Sie predigen, schlecht und recht nur englisch zu sprechen. Nochmals Dank fr Ihren Brief. Lassen Sie oft von sich hren und auch schon recht bald. An Ihren Freuden wie an Ihren Sorgen nehme ich aufrichtig teil. Ihren Herrn Vater habe ich am letzten Pesachtage gesprochen. Fr Zimet 1 will ich den Platz neben van der Zyl 2 sofort zu erreichen suchen. Im Privatbesitz Ida Swarsenskys, Madison, Wisconsin.

*

1. Erwin Zimet (1912-1990). Prediger und Lehrer in Berlin, wanderte 1939 nach England aus. Spter konservativer Rabbiner in Poughkeepsie, New York. 2. Werner van der Zyl (1902-1984). Liberaler Rabbiner in Berlin bis 1938, dann Rabbiner in London und Direktor des 1956 gegrndeten Leo Baeck College.

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Briefe an Manfred Swarsensky in London

Berlin, 21. Mai 1939 Lieber Kollege Swarsensky, 1 Ihren Brief vom Freitag kann ich in einer freien Stunde alsbald beantworten. Ich will mit dem nicht Erfreulichen, von dem Sie berichten, beginnen, von der zerflossenen englischen Hoffnung. Es ist sehr schade, um Ihretwillen und um der Sache willen, daß es so geworden ist. Und ich frchte, es ist die Schuld der Herren, die Ihnen zuerst die erste und danach die zweite Mitteilung gemacht haben. Das, was ich von dritten Seiten gehrt hatte, fhrt zu diesen Annahmen, daß es gar nicht eigentlich die Frage des Ritus war, welche Hindernisse bereitete –, diese wre zu befriedigender Antwort zu fhren – daß vielmehr arge Taktlosigkeiten und Unverstndigkeiten, verbunden mit einer Neigung zur Eigenherrlichkeit, seitens einiger deutscher Herren die Schuld tragen. Haben Sie einmal mit Miss Montagu 2 und mit Dr. Mattuck 3 eingehend gesprochen? Doch nun Amerika. Ich sehe, nach Berichten, die zu mir gekommen sind, zuletzt von Bluhm – Krefeld 4 und Hahn – Essen, 5 die beide in Gemeinden dort sind, sehe ich die Aussichten des assistant rabbi als besser an. Beide erzhlen Erfreuliches; Bamberger 6 selbst predigt ja in Chicago zudem. So richtig es ist, daß Sie den Antrag an das Coordinating-Com. gerichtet haben, so mchte ich doch raten, daß Sie die Stelle in Chicago antreten und den dortigen Vorstand rechtzeitig von Ihrem Eintreffen unterrichten. Die berufenden Gemeinden drben haben stets, wenn der Vertrag aktuell wurde, ihre Verpflichtungen in der loyalsten Weise erfllt. Zum daneben-Studieren bietet Chicago eine Flle von Gelegenheiten. Ich selbst will rechtzeitig an einige Freunde in Chicago und ebenso an Karpf 7 schreiben. Sehr erfreut hat mich, was Sie ber das Camp schreiben. Der Plan und die Menschen, die dahinter standen, versprachen es. Deswegen hatte ich ja auch dafr an Sie gedacht. Doch lassen Sie sich nichts verdrießen. Sie werden Ihren Weg ge1. 2. 3. 4.

Siehe oben. Siehe oben. Israel Mattuck (1883-1954). Ab 1911 liberaler Rabbiner in London. Arthur Bluhm (1899-1962). Liberaler Rabbiner in Danzig und Krefeld. 1939 Auswanderung in die USA. 5. Hugo Hahn (1893-1967). Liberaler Rabbiner in Essen. Nach 1939 Rabbiner der liberalen Habonim-Gemeinde in New York. 6. Fritz Bamberger (1902-1984). Akademiker an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums. 1939 Auswanderung nach Chicago. Mitbegrnder des Leo Baeck Instituts, New York. 7. Nicht zu ermitteln.

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

hen, hier oder drben. Oder vielleicht auch drben und dann wieder hier. bkt hlr 1 Um den ersten Juni herum will ich in London sein, und wir werden dann ber manches sprechen knnen. Ich teile Ihnen den Tag rechtzeitig mit. Im Privatbesitz Ida Swarsenskys, Madison, Wisconsin.

* Brief an Immanuel Lw in Szeged, Ungarn Berlin, 21. April 1940 Hochverehrter Herr Kollege! 2 Wiederum schulde ich Ihnen vielen Dank. Sie haben mir mit Ihrer Mazzo-sendung – alle vier Pakete sind in bestem Zustande eingetroffen – eine sehr grosse Freude geschenkt; ich bin durch Ihre Gte wahrhaft gerhrt. Ich werde nun meine Mazzot nicht, wie ich zuerst gemeint hatte, numerieren mssen, 1 fr jeden Tag, sondern werde, dank Ihnen, nach Belieben, mit dem behaglichen Gefhl des berschusses essen drfen und werde auch Bekannte ein wenig mit versorgen knnen. Aber seien Sie dessen gewiss, dass mir ebenso viel wie das und noch mehr das Bewusstsein bedeutet, dass Sie und Ihre verehrte Gattin in so gtiger Weise an mich gedacht haben und mir eine Feiertagsfreude bereiten. Lassen Sie mich Ihnen aufs herzlichste danken. Ich hoffe, dass es Ihnen wohlergeht und dass Sie in Ihrer steten Frische in Ihrer Arbeit stehen. Wir alle bewundern Ihre Schaffenskraft. Verleben Sie die Feiertage recht froh und angenehm. Zeitschrift fr die Geschichte der Juden 9 (1972): S. 4.

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1. Ps 45,5. »Ziehe einher [fr die Wahrheit]«. 2. Immanuel Lw (1854-1944). Studierte an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Ab 1878 neologischer Rabbiner und Orientalist in Szeged, Ungarn.

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Brief an Hans Hirsch in Ithaca, New York Berlin, 8. Juli 1941 Lieber Herr Hirsch, 1 Alle Worte wollen mir gering dnken, wenn jetzt nach dem Hingang Ihres Vaters 2 dieser Brief zu Ihnen sprechen soll. Wir Alle, die das Leben mit Ihrem Vater zusammengefhrt hatte, empfinden so tief die harte Tragik, den schweren Verlust; mir selbst ist es, als sei ein Stck meines Lebens mir genommen. – Soll ich dem Sohne sagen, wer der Vater gewesen ist?! Aber das darf ich aussprechen, dass er einer der seltenen Menschen, welche wahre Persnlichkeit sind, gewesen ist. Ihm wurde jede Idee immer alsbald zur Aufgabe, und jede Aufgabe war ihm von der Idee, von dem Ideal getragen. Die Erfahrung und Bewhrung im Practischen einte sich in ihm mit dem lebendigen, immer offenen Sinn fr alles Geistige und Knstlerische. Er war Realist und Idealist in einem, und ebenso in einem der Sohn seines Volkes und der Mensch, das starke Bewusstsein unseres Besonderen verband sich in ihm mit dem steten Verstndnis fr das Allgemeine, das Universelle. Und das Alles, was er war und was er tat, war erfllt von einer echten Vornehmheit, von einer Aristokratie des Denkens und Empfindens. Er war wie ein Geschenk der Vorsehung, dass er in ernster Zeit fhrend in unsere Arbeit trat, und so unersetzlich ist darum der Verlust, den auch wir erleiden. – Ihrer Mutter bemhen wir uns zur Seite zu stehen, sie offenbart in diesen Tagen alle ihre Innigkeit und Tapferkeit. Wir alle wollen unserem lieben Heimgegangenen die Treue und die Dankbarkeit wahren, sie seiner Frau und seinen Kinder bewhren. – Das war doch das Leben Ihres Vaters in seinem Innersten, dass er in seiner Frau und seinen Kindern lebte. Welch’ unvergessliches Leuchten war auf seinen Zgen, wenn er zu Ihrer Mutter hinblickte, wenn er vom Sohn und von den Tchtern sprach. Wie strahlten dann seine Augen und sein ganzes Antlitz. – Sein Andenken ist uns zum Segen. – Ich sende Ihnen und den Schwestern meine innigen Wnsche. Im Privatbesitz Hans George Hirschs, Bethesda, Maryland.

* 1. Hans George Hirsch (geb. 1916). Sohn Otto Hirschs, konnte 1938 nach Amerika auswandern. 2. Dieser Brief entstand 13 Tage nachdem Otto Hirschs Frau Nachricht ber den Tod ihres Mannes im Konzentrationslager Mauthausen am 19. Juni 1941 erhalten hatte.

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

Referenz fr Wolfgang Hamburger Berlin, 29. Juni 1942 Herr Wolfgang Israel 1 Hamburger 2 ist seit dem Wintersemester 1939 Hrer unserer Lehranstalt. 3 Er hat in dieser Zeit smtliche vorgeschriebene Vorlesungen sowohl in den Semestern wie in den Zwischensemestern mit grossem Fleisse gehrt und ebenso mit bestem Erfolge an den bungen teilgenommen. Darber hinaus hat er in privater Arbeit sich mannigfache Kenntnisse erworben. Zu dem Predigtdienste der Gemeinde ist er in regelmssigen Zeitabschnitten herangezogen worden und hat diese Aufgabe mit gutem Erfolge durchgefhrt. Herr Hamburger ist durch seine bisherigen Studien und bei dem besonderen Fleisse, den er ihnen zugewandt hat, in der Lage, in kurzer Zeit bereits die Abschlussprfung, die ihn fr das Rabbinatsamt befhigt, abzulegen. Schon jetzt darf er in der Hoffnung, dass er die Abschlussprfung in einer jetzt mglichen Form in Blde ablegen wird, zu der Ttigkeit des Rabbiners herangezogen werden. Im Namen der Lehranstalt fr die Wissenschaft des Judentums der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, unterzeichnet von Baeck. Das Dokument befindet sich im Privatbesitz Wolfgang Hamburgers.

* Brief an Rudolfo Lb in Buenos Aires Berlin, 18. November 1942 Sehr verehrter Herr Lb! 4 Einige Zeilen, zum neuen Jahr vor allem, sollen wieder einmal zu Ihnen kommen. Die Entfernungen sind trennender noch als vorher, und ein Jahr mit alle dem, was es in sich schliesst, ist wie ein Jahrzehnt. Vielleicht htte ich fter einmal im Gange der Monate an Sie 1. Ab 1938 waren alle deutschen Juden gezwungen, die Namen Israel oder Sara als zweite Vornamen zu fhren, um sie als jdisch erkennbar zu machen. 2. Wolfgang Hamburger (geb. 1919). Schloß 1952 seine rabbinischen Studien am Hebrew Union College in Cincinnati, Ohio, ab und war bis zu seinem Ruhestand in verschiedenen Reformgemeinden in den Vereinigten Staaten ttig. 3. Die Nazis hatten den Status der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums auf den einer Lehranstalt reduziert. 4. Rudolf Lb (1877-1966). Bis 1938 Bankier beim Bankhaus Mendelssohn & Co. in Berlin. 1939 Auswanderung nach Argentinien, spter nach Boston.

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Brief an Hans Schffer in Schweden

schreiben sollen, – das letzte Mal war es vor einem Jahr, und ich hoffe, dass meine Zeilen zu Ihnen gelangt sind – aber im Drange der Arbeit und in der Bedrngtheit der Tage war fr den Weg vom Gedanken zum Brief wenig Raum. Doch meine Gedanken sind oft einmal, mit der Erinnerung und in der Hoffnung, bei Ihnen gewesen. Ich hoffe, dass es Ihnen und den Ihren wohl ergeht, und dass Sie im neuen Sommer und Winter, in der neuen Umgebung und Sprache heimisch geworden sind. Fr das neue Jahr, das herankommt, sende ich Ihnen meine herzlichen, treuen Wnsche. Mgen gute Tage bei Ihnen, bei uns allen in Ost und West einkehren! Was soll ich von mir erzhlen? Der Kreis ist enger und einsamer geworden. Ich stehe in der tglichen Arbeit, um zu helfen und zu ntzen, wo es mglich ist, und ich bin dankbar, wann immer ich einem Menschen etwas sein kann. Von meinen Kindern und meiner Enkelin erhalte ich, zu meiner tiefen Dankbarkeit, regelmssige gute Nachrichten. Auch dafr bin ich dankbar, dass ich mit meiner Gesundheit zufrieden sein darf. Ich wrde mich aufrichtig freuen, wieder einmal von Ihnen zu erfahren, wie es Ihnen ergeht. Leo Baeck Institute, New York. AR-A. 1579 4851.

* Brief an Hans Schffer in Schweden Berlin, 27. November 1942 Sehr verehrter Herr Schffer, 1 Unsere gemeinsame liebe Freundin Hannah 2 ist seit einigen Tagen nicht mehr in ihrer Wohnung, sie steht vor der Abwanderung; 3 Ihr Brief an sie ist mir bermittelt worden, mit der Bitte, ihn zu ffnen und zu lesen, und ich darf annehmen, daß dies auch in Ihrem Sinne gewesen ist. Den Brief, den Sie beigefgt hatten, habe ich, da ich die Adressatin nicht kenne, nicht weitergeben knnen. Frulein Hannah wird uns allen, und, wenn ich von mir sprechen darf, mir ganz besonders, hier in jedem Tage fehlen. Sie war immer 1. Dr. Hans Schffer (1886-1967). Finanzexperte und Mitarbeiter der Reichsvertretung, wanderte 1936 nach Schweden aus. 2. Hannah Karminski (1897-1942[?]). Geschftsfhrerin des Jdischen Frauenbundes und Mitarbeiterin der Reichsvertretung, 1942 deportiert und umgekommen. 3. D. h. Deportation.

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

der gute Geist im Hause, die reine Luft umgab sie, alle haben sie verehrt und geliebt. Wir waren in unserer Arbeitssttte seit lngerem Zimmernachbarn, und schon das war mir ein Beruhigendes und Erfreuendes, sie im Zimmer nebenan zu wissen. Nach der Trennung von unserer Freundin Cora 1 war sie die einzige, mit der ich ber alles, was mich bewegte, sprechen konnte. Daß sie in aufrechter, vornehmer Haltung ist, brauche ich nicht zu sagen. Wo immer sie ist, wird sie den Menschen um sie Haltung geben. Ihr fester, ruhiger Wille wird auch fr ihre Gesundheit, die in letzter Zeit nach Wochen des Schwankens wieder besser geworden war, viel bedeuten. Uns erfllt die Zuversicht auf ein Wiedersehen in guten Tagen und eine Gemeinsamkeit zu neuer Arbeit. Sie waren, sehr verehrter Herr Dr. Schffer, mehrmals so freundlich, mir Grße zu senden. Empfangen Sie, nun auch unmittelbar, aufrichtigen Dank. Es war mir stets eine Freude, von Ihrem und der Ihren Wohlergehen zu hren. Leo Baeck Institute Yearbook 2 (1957): S. 313.

* Brief an Ilse Blumenthal-Weiss in Holland Berlin, 12. Dezember 1942 Verehrte Frau Blumenthal-Weiss, 2 es war fr mich eine Freude, wieder einmal von Ihnen zu hren; ich hatte bisweilen im Stillen gefragt, wie es Ihnen ergehe. Meine herzlichen Wnsche sind bei Ihnen. Vielen Dank fr die Schokolade, die Sie mir beschert haben, sie ist heute wohlbehalten und viel versprechend hier eingetroffen, ich werde sie mir aufs beste schmecken lassen. Aber vor allem, es hat mich sehr bewegt, dass Sie so an mich denken. Haben Sie herzlichen Dank. Ihre Anfrage nun: Von der zweiten Auflage an, die 1922 erschien, 1. Prof. Cora Berliner (1890-1942). Wirtschaftswissenschaftlerin und Sozialwissenschaftlerin. 1933-1942 Vorstandsmitglied der Reichsvertretung und Reichsvereinigung. Im Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie ums Leben kam. 2. Ilse Blumenthal-Weiss (1899-1987). Schriftstellerin. 1937 Emigration nach Holland, 1943 bis 1945 Inhaftierung in den Konzentrationslagern Westerbork und Theresienstadt. Ab 1947 lebte sie in New York, wo sie am Leo Baeck Institut arbeitete.

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Brief an Ilse Blumenthal-Weiss in Holland

ist das Buch ber »Das Wesen des Judentums« 1 in manchen Teilen ein anderes geworden. Ich habe ein Exemplar der letzten Auflage an Sie abgesandt und ebenso das Bchlein ber die Phariser. 2 Ich knnte auch die Aufsatzsammlung »Wege im Judentum«, 3 wenn Sie sie nicht besitzen, Ihnen schicken. Es wrde mir eine Befriedigung sein, wenn Sie auf dem einen oder anderen Blatt dort eine Antwort fnden und damit einen Blick aus der Gegenwart in die Zukunft htten. Wenn ein Buch uns etwas sagt, sagt es auch immer etwas voraus. Aber das Strkste bleibt doch allzeit die Bibel. Sie verlangt allerdings, mehr noch als jede grosse Komposition sonst, ein Eindringen, ein Suchen und Finden. Aber sie wird dann ganz Gegenwart und damit ganz Prophezeiung, auf jeder Seite, in jedem Satze, sodass man bisweilen zuerst fast erschreckt. Es kann ein Entscheidendes fr den Menschen sein, ob er die Bibel lesen kann. Wenn er es kann, wird er nicht mehr ohne sie leben. Wir Juden hatten im Grunde eine ererbte Anlage – wir mssen sie nur entdecken –, zu der Bibel zu gelangen, zu erfahren und zu erleben, was sie meint. Sie kann heute zu einem helfen, vielleicht manchem es berhaupt erst geben, dass die Seele sich bewahrt, dass sie sich weder verbittert noch versteinert. Alles Bewahren ist im Grunde eine grosse Geduld. Es kommt heute viel, oft alles, darauf an, mit sich und mit den Menschen Geduld zu haben. Ein Wort, das im 37. Psalm steht, knnte man, so lsterlich es zunchst klingen mag, bersetzen: habe mit Gott Geduld. 4 Ich kann es begreifen, dass Sie oft ein Verlangen danach haben, mit Menschen sich auszusprechen. Ein Bekannter von mir, den ich schtze, der ein Bibelkenner ist, Dr. Arthur Spanier, 5 lebt in Amster-

1. Baecks Das Wesen des Judentums erschien zuerst 1905 und als stark revidierte Fassung 1922 (siehe Band 1 dieser Werkausgabe). 2. Baecks Die Phariser erschien zuerst 1927 und dann wieder 1934 als Nummer 6 in der Bcherei des Schocken Verlags (siehe Band 5 dieser Werkausgabe). 3. Baecks Wege im Judentum erschien 1933 (siehe Band 3 dieser Werkausgabe). 4. Bezieht sich wahrscheinlich auf Vers 34 des 37. Psalm, der sich folgendermaßen bersetzen lßt: »Harre auf den Herrn […]«. Von allen biblischen Texten ließ sich dieser Psalm am unmittelbarsten auf Baecks Situation im nationalsozialistischen Deutschland anwenden. 5. Dr. Arthur Spanier (1889-1944). Bibliothekar fr Judaica und Lehrer an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Obwohl das Hebrew Union College in Cincinnati Spanier einen Lehrauftrag anbot, verweigerte ihm das American State Department ein Akademikervisum; ein Umstand, der letztendlich zu seinem Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen fhrte.

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Im nationalsozialistischen Berlin – An und fr Einzelne

dam, Merwedeplein 5. Ich will nchster Tage an ihn schreiben; er knnte Ihnen manches geben. Mir selbst gehen meine Tage in der Arbeit, der oft so schweren und vergeblichen, hin. Doch sie bringt immer wieder die guten, glcklichen Augenblicke, wenn es mglich wird, Menschen zu helfen und zur Seite zu stehen. Von Tochter, Schwiegersohn und Enkelin erhalte ich gute Nachrichten, und ich bin von Herzen dankbar dafr. Mit meiner Gesundheit darf ich recht zufrieden sein. Mein Zimmer ist versorgt. Ilse Blumenthal-Weiss. Begegnungen mit Else Lasker-Schler, Nelly Sachs, Leo Baeck, Martin Buber. Privatdruck. New York, 1977. S. 17-21.

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Terezin

Als Leo Baeck im Konzentrationslager Terezin (Theresienstadt), welches die Nazis als »Ghetto« bezeichneten, ankam, war er bereits neunundsechzig Jahre alt. Die vier Monate bis zu seinem 70. Geburtstag war er zu krperlicher Arbeit eingeteilt und zog einen Abfallkarren durch die Straßen des Lagers. Danach wurde er Mitglied des ltestenrats, und seine Hauptaufgabe bestand nun in der Frsorge fr seine Mitgefangenen. Außerdem hielt er Gottesdienste ab, gab akademische Vorlesungen und schaffte es, trotz tglichen Hungers und furchtbarer Daseinsbedingungen, die fast zweieinhalb Jahre im Lager bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Mai 1945 zu berleben. Uns ist aus diesen Jahren nur wenig aus Baecks Hand erhalten geblieben. Nichts konnte das Lager verlassen, das auch nur den geringsten Hinweis auf die wahre Situation der Lagerinsassen lieferte. Es gibt nur zwei Postkarten, die berichten, daß er mit seiner Gesundheit zufrieden sei, er »auf dem Platze meiner Ttigkeit stehe« und daß Gottesdienste zu den Hohen Feiertagen abgehalten worden seien. Neben diesen Postkarten sind jedoch einige Dokumente erhalten geblieben, die ber Baecks ffentlichkeitsarbeit Auskunft geben. Eines davon ist eine Rede, die Baeck anlßlich des 75. Geburtstages eines der Lagerinsassen hielt, welcher in Berlin Arzt gewesen war und im Lager seine medizinische Ttigkeit fortfhrte. Baeck war der Ansicht, daß es die Menschlichkeit eines Arztes, die in Terezin auf eine harte Probe gestellt wurde, sei, die einen Mediziner erst zum Arzt, einen Techniker erst zum Helfenden mache. Whrend der Nazi-Zeit hatte jdische Bildung unter Erwachsenen in Berlin und in anderen Stdten eine bemerkenswerte Bltezeit erlebt. Vorlesungen und Kurse, die sich mit ihrer eigenen Tradition beschftigten, gaben ihrem jdischen Erbe entfremdeten Juden die Mglichkeit, ihre jdische Identitt, die die Nazis zum Zentrum ihres Lebens gemacht hatte, wiederzuentdecken. Vorlesungen zur allgemeinen Phi337

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Terezin

losophie und Literatur trugen dazu bei, daß deutsche Juden ihre Zugehrigkeit zur europischen Kultur, die nun nur in ihren eigenen Kreisen Ausdruck finden konnte, beibehalten konnten. In Terezin wurde diese Lehrttigkeit trotz der schweren Bedingungen fortgesetzt. Die Liste einer Vorlesungsreihe, die Baeck hielt, liegt uns vor. Die Themen sind hauptschlich jdische, behandeln aber auch nicht-jdische Persnlichkeiten, die von Baeck bewundert wurden, so z. B. Plato und Kant. Einer dieser Vortrge mit dem Titel »Die Stellung des Arbeiters in der jdischen Lehre« erscheint besonders angebracht, bedenkt man die vernderten Lebensumstnde der bis dato brgerlichen Juden. Die Vorlesungen, von denen manche auf einem zugigen Dachboden der sogenannten Dresden-Baracken stattfanden und jeweils lnger als eine Stunde dauerten, wurden von bis zu 700 Hrern besucht. Der Text des Vortrages »Geschichtsschreibung«, den Baeck am 15. Juni 1944 hielt, ist uns erhalten geblieben. Er bezeugt Baecks weitreichende Gelehrtheit und sein Vermgen, unter den ungnstigsten Umstnden eine akademisch anspruchsvolle Vorlesung vorzubereiten. Er setzt sich hier kritisch und vergleichend mit der Historiographie griechischer und rmischer Autoren auseinander, bezieht sodann biblische Autoren, besonders die Propheten, in seine Ausfhrungen mit ein und gibt schließlich seinen eigenen Ansichten Ausdruck, die auch als Worte des Trostes verstanden werden knnen: »Wahre Geschichte ist Geschichte des Geistes, des Menschengeistes, der bisweilen ohnmchtig scheinen mag, aber doch zuletzt der berlegene und berlebende ist, weil er, wenn er auch die Macht nicht hat, dennoch die Kraft besitzt, die Kraft, die nicht aufhren kann«. Die Gedanken seiner Zuhrer mssen sich dem Zustand in Deutschland zugewandt haben, als sie Baeck zum Ende seines Vortrages hin sagen hrten: »Ein Volk stirbt, wenn der Geist, wenn seine Aufgabe in ihm erstorben ist. Und es ist das furchtbarste Sterben, wenn dann dem Volk noch eine Machtexistenz bleibt […]«. Nach dem Krieg sprach Baeck gewhnlich nur widerstrebend ber seine Erfahrungen in Terezin, vermutlich, weil die Erinnerung zu schmerzlich war. (Er hatte vier Schwestern und zwei Brder im Holocaust verloren.) Aber er konnte das Thema nicht gnzlich vermeiden. Ihn erreichten Anfragen ber mgliche berlebende, und in einigen Briefen deutete er seine Tortur an. Als H. G. Adler seine Geschichte Terezins schrieb, war Baeck ihm behilflich und verfaßte ein kurzes Geleitwort fr den Band. Ein lngeres Stck mit dem Titel »Vision und Geduld« beschreibt seine Erfahrungen in grßerer Ausfhrlichkeit. Das berleben der Gefangenen habe von anhaltender Geduld, die ein Zeichen von Widerstandskraft gewesen sei, abgehangen und von Phanta338

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Postkarte an Immanuel Lw in Szeged, Ungarn

sie oder Vision – von der Weigerung, sich von den Unterdrckern ihres Seelenlebens und ihres Zukunftsglaubens berauben zu lassen. Er betont außerdem, daß gegenseitige Hilfe, Gottesdienste und die Vorlesungen alle Ausdruck einer inneren Freiheit gewesen seien, die sogar in Terezin nicht aufhrte zu existieren. * Postkarte an Immanuel Lw in Szeged, Ungarn Leo Israel Baeck Mitgl. des ltestenrates Theresienstadt (Bhmen) 8. September 1943 Sehr verehrter Herr Kollege! 1 Auch in diesem Jahre sollen meine herzlichen Glckwnsche fr das kommende Neujahr nicht ausbleiben. Ich spreche sie Ihnen in aller Treue fr Sie und alle die verehrten Ihren aus, mit der Hoffnung, dass Sie alle wohlauf sind. Von mir kann ich berichten, dass ich mit meiner Gesundheit zufrieden bin und auf dem Platze meiner Ttigkeit stehe. Ich wrde mich freuen, bald einmal von Ihnen zu hren. Post erreicht mich unter umstehender Adresse. Schwadron Autographen Sammlung. Jdische National- und Universittsbibliothek, Jerusalem.

* Postkarte an Dr. Rant Theresienstadt, 24. Oktober 1943 Verehrter Herr Dr. Rant, 2 lassen Sie mich Ihnen wiederum aufs herzlichste danken und es Ihnen auch nochmals aussprechen, wie innig mich Ihre Gte bewegt hat. Die vortrefflichen Dinge, die Ihr Paket mir schenkte, tun meinem Krperlichen sehr wohl; aber ebenso viel und fast noch 1. Immanuel Lw (1854-1944). Studierte an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Ab 1878 neologischer Rabbiner und Orientalist in Szeged, Ungarn. 2. Identitt nicht zu ermitteln.

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mehr gibt Ihre Freundlichkeit und Treue mir seelisch. Haben Sie vielen Dank. – Die Feiertage sind hier gut dahingegangen in ihren Gottesdiensten wie in ihrem Gemeinschaftlichen. Ich hoffe, dass auch Sie sie gut verlebt haben und sie empfinden durften. Ich wrde mich aufrichtig freuen, recht bald einmal zu hren, wie es Ihnen ergeht. Im Besitz Prof. Dov Kulkas, Hebrische Universitt Jerusalem.

* Hermann Strauss zum Geburtstag Den Gedanken und Wnschen, welche diese Stunde, 1 die uns hier zusammenfhrt lebendig werden lsst, sei es gestattet, einen Ausdruck zu geben. Ihnen, lieber Herr Geheimrat 2 ist es beschieden worden: Die Heiterkeit, die natrliche, angeborene – es gibt ja auch eine angelernte, konventionelle, die so leicht schaal oder bitter wird, diese echte Heiterkeit mit Ihrer Freude an sich und an den Menschen, mit Ihrer Lust zu erzhlen und sich mitzuteilen, diese frohe Fhigkeit und dankbar zu sein, haben sie durch Ihr Leben begleitet. Der Weg Ihres Lebens ist bis ber die Schwelle des achten Jahrzehnts ein gerader, stetiger gewesen. Von Ihrer sdlichen Heimat, 3 von deren Wesen so viel in Ihnen ist, nach Berlin hin, wo Sie mit der Stadt und der Gemeinde verwuchsen, sind Sie auch dort das Kind der kleinen Stadt geblieben, der kleinen Stadt mit all der Frische und Natrlichkeit, die diese mitgibt, mit ihrem Sinn fr Tradition, mit ihrem Sinn fr das Wachsende und Werdende, fr das Wechselnde im Stetigen, mit all der Begabung, die in ihr aufkeimt – die Kleinstadt produziert, die Grosstadt konsumiert. Die Professoren der Berliner Universitt, welcher Sie angehrten, 4 starben wohl in Berlin, aber sie stammten aus der kleinen und mittleren Stadt. Der Weg hat Sie aufwrts gefhrt, die Kreise weiteten sich Ihnen in der Arbeit, im Erfolg, in der Mglichkeit des Wirkens 1. Sein 75. Geburtstag. 2. Hermann Strauss, Dr. med. (1868-1944). Internist. 1910 bis 1941 Leiter der Inneren Abteilung des Jdischen Krankenhauses in Berlin. 1941 deportiert nach Theresienstadt, wo er im »Gesundheitswesen« ttig war. Er starb 1944, nur wenige Monate vor der Befreiung. 3. Strauss stammte aus Heilbronn. 4. Strauss war ab 1902 Professor an der Charit in Berlin.

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Vortrge in Theresienstadt

und des Einflusses von Jahrzehnt zu Jahrzehnt bis zu den Tagen des letzten Jahrzehntes hin und trotz so mancher Tage des letzten Jahrzehntes, trotz Theresienstadt mit allem, was es Ihnen auferlegt hat, was es von Ihnen gefordert hat. Es will doch scheinen: Sie mchten Theresienstadt nicht missen. Es will dnken als sei Ihr Leben dadurch ein Ganzes geworden, demnach neu, eine ganz andere Frage ist hier an Sie herangetreten. Dem Menschen ist es nicht gegeben, die Fragen, die Rtsel des Lebens zu lsen. Sein Leben, sein Menschentum ist es sie zu erfahren und seine Aufgabe ist es sich an ihnen zu bewhren, einen menschlichen Sinn ihnen zu verleihen. Im Schaffen und im Leiden treten sie heran. In beidem bewhrt sich sein Menschentum an ihnen. Das Menschentum ist doch, wenn wir auf Jahre und Tage zurckblicken, das Entscheidende. Der Mensch ist die Antwort. Wir sollen ihn nicht nach dem beurteilen, was er tut oder er spricht, sondern umgekehrt: wir sollen das, was Menschen tun, was sie sprechen nach dem beurteilen, was sie sind und im Arzte ist das Menschentum doch die letzte und grßte Gabe, durch sie wird aus dem Mediziner der Arzt, aus dem Techniker der Helfer, wird er der, von dem Joschua ben Sirach sagte: »Ehre den Arzt nach Gebhren, denn ein Bote vom Ewigen ist er.« 1 Es gibt eine Flle des Menschentums. Als ein Ideal menschlichen Wesens hat Spinoza das Ihre hingestellt: »Heiter zu sein und Gutes zu tun.« Dieses Ihr Menschentum tritt heute an Ihrem Geburtstage vor uns hin. Dem lieben Menschen Hermann Strauss gelten unsere Wnsche zuerst und vor allem. Pam tn k Terezin.

* Vortrge in Theresienstadt Oberrabbiner Dr. Leo Baeck Themen: Plato Maimonides Spinoza Kant Mendelssohn 1. Sir 38,1.

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Hermann Cohen Die jdische Religionsphilosophie des Mittelalters Die jdische Mystik des Mittelalters Das Problem von Leib und Seele Die Lebenseinheit in Leib und Seele Der Sinn der Geschichte Die Geschichtsschreibung Die Jahrhunderte von der Zerstrung des ersten bis zu der des zweiten Tempels Die Zeit der Makkaber Die Phariser Die Entstehung des Christentums Der Talmud Das Ghetto des Mittelalters Der bergang vom Mittelalter zur Neuen Zeit Das Jahrhundert der Aufklrung Die Anfnge des neunzehnten Jahrhunderts Die Religion der Naturvlker Romantische und klassische Religion Die messianische Idee Soziale Arbeit in der jdischen Gemeinschaft Die Stellung des Arbeiters in der jdischen Lehre Art und Methode der Geisteswissenschaft und der Philosophie Heilige Tage der Feier Pam tn k Terezin.

* Geschichtsschreibung ber Geschichtsschreibung soll am heutigen Abend gesprochen werden, und es ist darum zuerst erforderlich, ber den Begriff der Geschichte zur Klarheit zu gelangen. Geschichte ist, um eine allgemeine Definition zu geben, ein Lebenszusammenhang. In diesem Ausdruck sind die beiden Wortbestandteile, Leben und Zusammenhang, in gleicher Weise zu betonen. Leben zunchst: das will sagen nicht bloss ein Hier- und Dortsein, eine Existenz mit ihrem zuflligen Hin- und Herbewegtsein, ihrem Hin- und Hergeschobenwerden, sondern ein Dasein, das seiner selbst bewusst geworden ist, das seines Gestern und seines Morgen, des Weges, der zu ihm hinfhrt und von ihm weiterfhrt, seines Frheren und Spteren, seiner 342

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Geschichtsschreibung

Bahn und seines Geschickes inne wird. Und Zusammenhang, das ist: nicht nur ein Gemenge, ein gelegentliches Nebeneinander und Beieinander, sondern ein Gefge mit seinen bestimmten Linien, mit seinem Architektonischen und Konstruktiven, mit seinen Gliederungen und Erstreckungen, mit seinem Ineinander, Aneinander und Gegeneinander. Einen solchen Lebenszusammenhang nennen wir Geschichte. Sie bezeichnet also nicht bloss eine Reihenfolge von Tagen, sondern ein Ganzes und Einheitliches, das deutlich von sich weiss, das zum Gegenstand einer Betrachtung, zur Aufgabe der Selbsterkenntnis werden kann. Diese Geschichte kann die eines Einzelnen sein, zumal wenn dieser Einzelne eine entscheidende Persnlichkeit ist oder in einen Vordergrund tritt oder wenn sein Wesen und seine Art fr eine Zeit, fr eine Gruppe, fr ein bestimmtes Gebiet, fr eine bestimmte Epoche bezeichnend und charakteristisch sind. Oder aber es handelt sich – und in diesem Sinn wird das Wort Geschichte vornehmlich gebraucht und soll es auch hier jetzt gebraucht werden – um den Lebenszusammenhang einer Gesamtheit, sei es einer nationalen oder religisen, einer Gesamtheit, die um eine Vergangenheit, einen Schicksalsraum und einen Zukunftswillen erfahren hat, die sich dadurch als Gemeinschaft, als ein Ganzen, als ein von anderen damit Getrenntes erkennt und empfindet. Einen solchen Lebenszusammenhang einer Gesamtheit, die sich so als Gemeinschaft erfasst hat, pflegen wir zumeist Geschichte zu nennen. Die Tatsache eines solchen Lebenszusammenhanges ist eine vorhandene, objektive Tatsache, aber zur geistigen Wirklichkeit, zu einer lebendigen Kraft wird sie erst dann, wenn sie in das Bewusstsein, in die geistige Welt des Menschen, in sein Erkennen und seinen Willen eintritt. Erst, wenn so auf dem Boden einer Geschichte ein Geschichtsbewusstsein erwacht, wenn in einer Gesamtheit sich der Blick fr die bestimmte Linie von der Vergangenheit zur Gegenwart und damit fr eine Zukunftsrichtung auftut, erst dann wird die Geschichtstatsache zu einem inneren Besitz, zu einem Lebenseigentum und Lebensproblem. Der sogenannte Wilde ist ein Mensch ohne Geschichtsbewusstsein, denn er weiss nur um ein Gestern, ein Heute und ein Morgen, aber er weiss nichts von einem Weg, der bis zu ihm hinfhrt und den er fortfhren soll. Geschichtsbewusstsein mit seiner Dynamik ist in Menschen oder in Vlkern erst dann lebendig geworden, wenn in ihnen der Gedanke sich regte und sich festigte, dass ihr Dasein in eine Reihenfolge hineingestellt ist, in etwas also, das zu ihnen hinleitet und das sie fortsetzen sollen. Man knnte mit einem Wort von Edmund Burke, dem grossen englischen Staats343

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mann, – dem einen von dem grossen Dreigestirn, dem Orion, der ber England an der Wende von achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert leuchtet: Pitt, Fox und Burke – sagen, es ist dort erst vorhanden, wo »die Einheit derer, welche waren, welche sind und welche sein werden« erlebt wird. Und erst dort, wo derart ein Geschichtsbewusstsein wirksam geworden ist, kann eine Geschichtsschreibung beginnen. Geschichtsschreibung setzt so immer eine lngere Zeit eines regen Geschichtsbewusstseins voraus. Wenn aus der Humusschicht dieses Geschichtsbewusstseins nun menschliche Krfte erwachsen, in denen ein Doppeltes lebt, die wissenschaftliche Gabe und der wissenschaftliche Drang, Lebenszusammenhngen nachzugehen und nachzuforschen, und der knstlerische Drang, aus einer knstlerischen Gabe heraus, Einheit in diesen Zusammenhngen zu suchen, ein Wesentliches zu begreifen und dieses Wesentliche zu gestalten und zu normen, erst wenn in einem Volk Menschen sind, denen dieses Doppelte verliehen ist, dann wird die Geschichtsschreibung mglich. Oder, um es anders noch auszudrcken: Erst wenn die wissenschaftlich-knstlerische Genialitt vorhanden ist, dem Sinn und dem Gesetz, die sich in einem Lebenszusammenhang kundtun, nachzusinnen und sie darzustellen, erst dann wird eine Geschichtsschreibung geboren. Voraussetzung aller Geschichtsschreibung ist es so – und jede Wissenschaft, sei es eine mathematische, naturwissenschaftliche oder eine sogenannte geisteswissenschaftliche, geht von Voraussetzungen aus –, dass hinter den Erscheinungen ein Sinn, eine Bedeutung wohnt und das in ihnen ein Gesetz wirkt. Gesetz ist in jeder Wissenschaft Voraussetzung und Ergebnis; das Allgemeine des Gesetzes ist Voraussetzung, sein Besonderes ist Ergebnis. Um das alles zu erfassen ist, wie gesagt, das Zwiefache erforderlich, das Wissenschaftliche und das Knstlerische. Im wahren Geschichtsschreiber lebt beides: die wissenschaftliche Fhigkeit, alles Einzelne zu erfassen und zu prfen, und die knstlerische Gabe, das Ganze und Einheitliche und damit die Bedeutung und das Gesetz zu erschauen und darzulegen. Geschichtsschreibung ist ein Zusammenkommen von Wissenschaft und Kunst, von dem Sinn fr das Rationale und das Irrationale, ein Zusammenkommen von Kritik und Phantasie, von Forschung und Intuition. Fehlt das Knstlerische, dann wird vielleicht eine wissenschaftlich-historische Abhandlung geschrieben oder ein gelehrtes Buch ber eine Frage der Historie. Fehlt das Wissenschaftliche, der Wille und die Kraft zur Forschung und zur Kritik, dann entsteht ein historischer Roman, eine histoire romance, die sich mit Personen oder Ereignissen frherer oder ge344

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genwrtiger Zeit befasst. Aber weder das eine noch das andere ist wahrhaft Geschichtsschreibung. Erst das Zusammentreffen von beiden, von Wissenschaft und Kunst, macht die Geschichtsschreibung aus. Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung haben sich begreiflicherweise zuerst und allein in Vlkern entwickelt, in denen eine starke berzeugung von sich selbst, eine Gewissheit der Eigentmlichkeit und der Auserwhltheit wohnte. Zwei Vlker waren es im Altertum, in denen dieses Gefhl der Geprgtheit und Besonderheit lebendig war, die Griechen und die Israeliten. In ihnen beiden, im israelitischen Volke zuerst und dann einige Jahrhunderte hernach im griechischen, hat sich die Geschichtsschreibung gestaltet. Mit den Griechen, obwohl sie die Spteren sind, sei begonnen: Ein Mann voller Persnlichkeit, dessen Zge wir genau erkennen, steht hier am Anfang – Herodot. Sptere Jahrhunderte haben ihn dankbar den »Vater der Geschichtsschreibung« genannt. Er ist eine der wundersamen Erscheinungen des Griechentums, ein Forscher und ein Knstler, ein Mann der genialen Neugierde, des genialen Dranges, zu suchen, zu sehen und zu hren. Ihm hatte das Schicksal der Geburt Gunst erwiesen. Er gehrte einer der griechischen Kaufmannsstdte an der kleinasiatischen Kste an, einer jener Stdte, von denen auch die griechische Philosophie ihren Ausgang genommen hat. Er hat ein bedeutungsvolles Ereignis, den Kampf der Perser und der Hellenen, innerlich nacherlebt. Er selbst sagt, er habe, eine Geschichte geschrieben, damit »die grossen und bewunderungswrdigen Taten der Griechen und der Barbaren nicht in Vergessenheit kmen«. Er war, um ber die Welt, von der er schreiben wollte, Kenntnis zu erhalten, hinausgezogen, oder vielleicht war es auch umgekehrt, vielleicht ist der Drang, Geschichte zu schreiben, in ihm erwacht, als er in dieser Welt umherzog. Land und Geschichte wurden ihm jedenfalls eines, als die Welt Griechenlands und die Welt der Perser, die Welt Asiens, ihre Menschen und ihre Art vor ihn hintraten. Er hat um sich geschaut, er hat gehrt, sein Geist war wie ein Brennspiegel, in dem die Strahlen sich sammelten, der die Eigentmlichkeiten der Vlker reflektierte. Er hatte den Sinn fr die Besonderheit, fr die Gaben, fr die Zge, fr das Geschick eines jeden Volkes. Und er trug die tiefe Sympathie fr alles, was Menschenantlitz trgt, in sich, diese tiefe Gerechtigkeit, die jedem das Recht der Eigenart, das Recht des Persnlichen zugesteht. Und indem er das alles sah und in sich aufnahm, und dann von dem Kampf zwischen Persern und Griechen erzhlen wollte, wurde dieser fr ihn zu einer grossen Auseinandersetzung 345

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zwischen Asien und Europa. Schauplatz seiner Geschichtsschreibung ist der Weltkreis, das, was damals der Weltkreis war. Geschichte ist fr ihn Weltgeschichte. Zwei Kontinente treten gegeneinander, um sich zu messen. Ein bleibendes Thema der Weltgeschichte, das Thema »Asien und Europa«, ist damit angeschlagen. Immer wieder ist der Versuch gemacht worden, die beiden Erdteile miteinander zu verbinden, Europa an Asien oder Asien an Europa zu fgen. Die Perser waren in den Kampf darum getreten, doch er war gescheitert. Alexander der Grosse hatte es umgekehrt von neuem gewagt und geglaubt, dass es ihm gelungen sei; aber bald nach seinem Tode schieden sich Europa und Asien wieder von einander. Caesar und die Kaiser nach ihm hatten das Gleiche unternommen, sie hatten Bollwerke von Europa aus auf asiatischem Boden errichtet, aber die beiden Erdteile blieben getrennt. Im Mittelalter hat der Versuch sich erneut, von Europa her in den Kreuzzgen, von Asien aus vorher in dem Vordringen des Islams und dann in den Einbrchen der Mongolen. Es war zuletzt immer vergeblich. Auch Napoleon hat es angestrebt und hat es aufgeben mssen. Und vielleicht liegt eine grosse politische Kunst der Englnder darin, dass sie Europa und Asien nicht vereinen wollen, dass sie beide in ihrem Bereich lassen, jeden in seiner Eigenart, so wie es Kipling aus dem starken englischen Empfinden heraus gesungen hat: »For East is East and West is West und never the twain will meet«. »Denn Ost ist Ost und West ist West und nimmer werden die beiden einander treffen«. Europa und Asien, das ist der grosse Vorwurf, das Problem der Geschichte fr Herodot. Er erzhlt von den beiden Erdteilen, er erzhlt von den Vlkern und den Menschen dort mit dem offenen Sinn fr Menschen und Vlker in einem liebenswrdigen, naiven Stil, mit der Liebenswrdigkeit, die aus der Sympathie hervorgeht, mit der Gerechtigkeit, die auch die Sonderlichkeiten gelten lsst. Er sucht auch schon nach Gesetzen. Erstes Gesetz ist fr ihn zwar das Tun der Gtter. Fr ihn ist alles, was geschieht, wie ein Schauspiel fr Gtter und Menschen, das grosse Welttheater: Gtter untersttzen Tapferkeit und Klugheit, doch sie beneiden den, der sich hoch erhebt, sie rchen, was gegen sie sich richtet, und sie ben dann Gewalt und Unrecht. Doch hinter ihnen auch steht ein letztes Gesetz, die grosse Vergeltung, das Gesetz der Nemesis, welche eines Tages sie alle trifft, die Menschen, die Vlker und die Gtter. So hat Herodot Geschichte gesehen und geschrieben, universal, in Kontinenten denkend, Suchen und Schauen, Forschung und Kunst miteinander einigend. 346

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An ihn schliesst sich Thukydides. Thukydides ist nur um etwa 15 Jahre jnger als er, aber es ist als ob eine Welt zwischen beiden lge. Denn inzwischen war in Griechenland die Philosophie durch die Sophisten ins Volk gedrungen. Man hatte zweifeln gelernt, und man stellte den Satz auf: »Aller Dinge Mass ist der Mensch«. Das war auch eine Richtschnur des Thukydides. Er hatte ein geschichtliches Ereignis erlebt, den peloponesichen Krieg, den Kampf zwischen Sparta und Athen um die Hegemonie in Griechenland. Die Auseinandersetzung zweier Staaten wurde das Problem, das ihn packte und fesselte. Er spricht zwar auch von Europa und Asien, aber das alles tritt fr ihn in den Hintergrund, denn seine Welt ist die Welt der beiden Staaten Athen und Sparta. Er hat die politische und staatliche Geschichte zu schreiben unternommen, nachdem Herodot Weltgeschichte zu schreiben versucht hatte. Und in dem Kampf der Staaten sieht er Menschen als fhrend und bestimmend vor sich, Menschen als Mass der Dinge. Er sucht Gesetze und findet sie und ihren Sinn in den Motiven der Menschen, in ihrer sittlichen Art, in ihrem geistigen Wesen, in ihrer politischen Gestalt. Er stellt Menschen gegeneinander: Bezeichnend ist, wie er, wenn er ein Ereignis schildert, zuerst Mnner auftreten und ihre Beweggrnde und Gedanken in einer Rede darlegen lsst. Es war die Zeit, in welcher in der Schule der Sophisten die Beredsamkeit ausgebildet wurde, und Staatsmnner diese Kunst zu erwerben suchten, um sie als Waffe im Ringen um den Willen und die Gunst des Volkes zu besitzen. In dem Knnen und Streben, in den Motiven und Ideen von Menschen sieht Thukydides die Wege der Geschichte. Schon deshalb ist er fhig, jedem der Gegner sein Recht zu geben. Er bleibt unparteiisch, obwohl sein Lebensgeschick ihn mit widerstreitenden Empfindungen htte erfllen knnen. Als Fhrer einer Flottenabteilung war er erfolglos gewesen; er war deshalb aus seinem Vaterland Athen verbannt worden und hatte im Schutzgebiet der Spartaner eine Zuflucht gefunden. Dennoch bleibt er gerecht gegen sein Vaterland, das ihn vertrieben hatte, und er buhlt nicht um die Gunst derer, welche die Sieger geworden waren und die ihn aufgenommen hatten. Er schildert was gewesen ist, er stellt die Tatsachen hin und gibt auch Dokumente, in denen Tatsachen sich bezeugen. Er spricht von den Menschen zuerst, aber lsst neben die Menschen den Gang der Begebnisse treten. Und das alles spricht in einem ganz persnlichen Stil, der bestimmt, pointiert, bisweilen allerdings etwas gesucht ist. Man merkt die neue Schule des Denkens und Sprechens, durch die er hindurchgegangen ist. In dieser Weise hat Thukydides als erster im Staat und in der Politik die Geschichte 347

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aufgezeigt, er hat die Geschichte von Mnnern und Gemeinwesen geschrieben, die um den Ruhm und die Vorherrschaft kmpfen. In Herodot und Thukydides ist das Wesentliche dessen, was Geschichtsschreibung in Europa werden sollte, eigentlich vollendet. Die beiden gehren zusammen. Vielleicht hat einer von Ihnen in der Antikensammlung in Neapel oder in einer Abbildung die berhmte Doppelbste von Herodot und Thukydides gesehen, sie beide zu einem Bilde vereinigt wie zu einem Januskopf, beide aus einer Herme, einer Sule hervorwachsend, nach entgegengesetzten Richtungen schauend und doch wie zu einem zusammengefgt. Ob es die Arbeit eines Knstlers ist, der die beiden Mnner gekannt hat, oder ob er Kpfe von ihnen, die Zeitgenossen gestaltet hatten, bentzt hat – wie immer es sein mag – wunderbar ist das Wesen der beiden Mnner geschaut: Herodot, der in die Ferne blickt, fast ein Lcheln in den Zgen, Freude an der weiten Welt, an ihrer Buntheit, Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit, an all dem Schauspiel draussen, und Thukydides, ernst, grbelnd, forschend, mit dem Blick des Menschen, der in sich und in andere hineinsieht, sich in sie hineindenkt, um ihre Motive, die Grnde ihres Handelns zu erforschen und Gesetze des Geschehens daraus zu erfahren. Sie sind die beiden grossen Historiker in der Welt Griechenlands, Wegweiser der Geschichtsschreibung. An sie haben sich andere angeschlossen, aber sie haben nur fortgesetzt, was diese Mnner begonnen hatten. Ohne diese beiden wre wohl keiner der anderen geworden. Aber jeder der folgenden hat doch auch eine neue Linie der Geschichtsschreibung aufgezeigt. Zunchst Polybios, ein Mann, der Tragik erlebt hatte und vor dem sich aus ihr heraus ein Problem erhob. Er war als einer der Fhrer in der letzten Freiheitsbewegung, zu der sich Griechenland gegen Rom erhob, als Geisel in rmische Gefangenschaft gefhrt worden, hatte dann aber bald dort freundliche Aufnahme, Gunst und fast Liebe erfahren. Dieses Geschick dieser Jahre wurde ihm zum Lebensschicksal. In dem Kreise der Scipionen, der Familie der Sieger dieser Epoche, freundlich aufgenommen, lernte er die Eigenart, die Grsse rmischen Staats- und Verfassungslebens kennen; sie hielt ihn seelisch fest und liess ihn nicht mehr los. usserlich befreit, wurde er innerlich gefangen. Das Problem des Mannes aus dem besiegten Volke, der sich geistig und seelisch dem Sieger ergibt, tritt in ihm vor uns hin. Die siegreiche Sache – sie schien damals Spruch der Gtter zu sein. Ihn will Polybios hinnehmen. Aber indem er den Siegern bezeugt, dass sie Sieger sind, sucht er zugleich nach den Gesetzen, nach dem Grunde des Sieges. Geschichte wird ihm zur Geschichte 348

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der Erfolge. In diesem Sinne schrieb er sein Geschichtsbuch; mit ihm wollte er seinem griechischen Volk zeigen, dass kraft des Gesetzes der Geschichte Rom gesiegt hatte. Den strksten Eindruck auf ihn hatte die Verfassung Roms gemacht, das Gefge von Senat, Magistrat und Volksversammlung. Darin erblickte er das Prinzip rmischer Herrschaft. Weil Rom diese staatlichen Einrichtungen besass, hatte es gesiegt; weil sie Griechenland abgingen, hat es unterliegen mssen. Grnde und Wirkungen wollte er darlegen, den Sieg des Siegers aufzeigen und damit seinem Volke begreiflich machen, dass es diesen Tatsachen der Geschichte sich unterwerfen msste. Der Unterlegene hat dem Herrscher die Geschichte geschrieben, ihn vor der Geschichte gerechtfertigt. In einem nchternen, trockenen, fast farblosen Stil hat Polybios das geschrieben. Aber man hat bisweilen, wenn man Einzelnes hier liest, die Empfindung, dass er etwas in sich verschliesse. Es will bisweilen bednken, als behielte er manch letztes Wort zurck, als drfte das Herz nicht sprechen, sondern nur der Verstand. Er war der, der sich innerlich dem Sieger gefangen gegeben hatte. So ist nach ihm oft Geschichte geschrieben worden. Der Vierte in der Reihe ist Tacitus, ein Mann aus anderer Zeit und anderm Kreise, ein rmischer Aristokrat aus der Zweiten Epoche der rmischen Kaiser. Er ist unter den alten Historikern der grsste Knstler. Aber er ist ein Mann, in dessen Wesen der Widerspruch der Eigenschaften und der Empfindungen sich stiess. Zwei Seelen wohnten in seiner Brust. Die eine war die knstlerische. Alles in der Geschichte wurde ihm zum Bilde. Ihm war gegeben, in Tiefen hneinzuschauen, er sah vor sich ein Ringen der Individualitt mit dem Unberechenbaren des Daseins, mit der Fortuna, der Glcksgttin, ein Aufeinandertreffen von Zufall und Charakter, von Persnlichkeit und Schicksal. Das alles sieht er und vermag er zu malen – der grsste Maler des Altertums, wie Racine ihn nannte. Er lsst alles, Menschen und Situationen, vor den Leser hintreten; wer es einmal gelesen, gesehen hat, kann es nicht wieder vergessen. Aber daneben und dagegen ist die andere Seele in ihm: der Hass, das Ressentiment, der Groll. Er ist ein Mensch ohne die Fhigkeit, ja ohne den Willen zur Gerechtigkeit. Das Ressentiment hat ihm den Pinsel gefhrt. Er war ein Mann der gestrzten Aristokratie, des mchtigen Adels der Rom und von Rom aus die Welt beherrscht hatte, und der unter Caesar und seinen Nachfolgern um Macht und Herrschaft gebracht worden war. Er hatte eine Zeit, an der sein Herz und seine Phantasie hingen, untergehen sehen, und diese Zeit wollte und sollte er schildern. Das war das Problem, das vor ihm stand: ent349

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schwundene Tage darzustellen und neuen Tagen gerecht zu worden – auch das eines der grossen bleibenden Probleme der Geschichtsschreibung. Aber zwischen Tacitus und dem Problem stand das Ressentiment und hat das Auge, dieses Auge des Malers, beirrt. Ihm fehlte die Sympathie, die Liebe, die ja auch erst den grossen, den ganzen Knstler macht. Zudem war sein Blick wie magisch dem Bsen, Niedrigen, Dnsteren und Gemeinen zugekehrt. Er sah im Gegner, ja im Andersgearteten den Boshaften, den Niedrigen; er war hier pessimistisch bis zur Leichtglubigkeit hin. Es klingt wie eine Entschuldigung, wenn er von sich sagte, er wolle sine ira et studio ohne den Zorn und ohne den Eifer der Voreingenommenheit, schreiben; man mchte hier fast sagen: qui s’excuse s’accuse – wer sich entschuldigt, klagt sich an. Tacitus hat mit Groll und mit Voreingenommenheit geschrieben. Und in das alles dringt bisweilen eine zweifelhafte Romantik, bisweilen eine Sentimentalitt, die, wenn es gegenber einem Meister wie Tacitus gesagt werden darf, beinahe Widerwillen wachruft. Zudem vermag Tacitus nicht aus dem Standeskreise herauszugelangen. Er bleibt der Aristokrat, der das Volk nicht verstehen will, es ist ihm die Masse in der Ferne. Eines ist charakteristisch: Er erzhlt im Ton einer Entrstung, dass eine Enkeltochter des Caesars Augustus, des Mannes aus dem alten Hause der Julier, die einst Knige gewesen und dann Adelige in Rom geworden waren, den Enkel eines Mannes geheiratet habe, der nur rmischer Ritter, ein Mann aus dem niederen Adel war. Oder er klagt darber, dass die Schwiegertochter des Tiberius einen Ehebruch begangen hat, und es klingt so, als gelte seine Klage eigentlich weniger dieser ehebrecherischen Liebe als dem, dass sie sich einem Manne zugewendet hat, der nicht der hohen Aristokratie zugehrt. Fr Tacitus beginnt der Mensch, um es mit dem Worte eines Reaktionrs des neunzehnten Jahrhunderts zu sagen, mit dem Baron. Der blosse Mensch gar bedeutet ihm nichts. Was ist das Blut der Gladiatoren, das im Zirkus vergossen wird? Es ist wohlfeiles Blut der grossen Menge. So hat Tacitus die Geschichte der ersten rmischen Kaiserzeit geschrieben – ein Historiker ohne den Willen zur Gerechtigkeit, ein Historiker des Ressentiments. Da er sich mit dem Dolche oder dem Schwerte nicht rchen konnte oder wollte, so hat er sich mit der Geschichtsschreibung gercht. Aber in alle dem ist er der Knstler, einer der grossen Knstler, die die Menschheit gesehen hat. Es ist eine Tragik, dass von seinen beiden Hauptwerken, den Annalen, in denen er die Geschichte der Kaiser vor seiner Zeit, und von den Historien, in denen er die erlebte Geschichte schildert, nur die ersten 350

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Teile erhalten sind. Wenn eine Handschrift wieder kme, die uns das Verlorene wieder schenkte, es wre eine Gabe an alle, die Kunst und Knstler zu wrdigen wissen. Vor ihm hatte auf eigener Hhe ein Mann auch als Geschichtsschreiber dagestanden, obwohl sein Name vorerst der des Feldherrn und des Staatsmannes ist, Julius Caesar. Sein Buch ber den gallischen Krieg ist ein Rechenschaftsbericht, den er sich selbst und den Zeitgenossen erstattet. Aber es ist ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung, in dem beides sich eint, der wissenschaftliche Sinn und die knstlerische Gabe, ein Meisterwerk, das darum einen neuen Stil auch gebracht hat, den der grossen selbstlosen Sachlichkeit, den Stil, der nur die Sache sprechen lassen will. Mit diesen fnf Mnnern, den dreien, die in griechischer Sprache, und den zweien, die in lateinischer Sprache schrieben, mit Herodot, Thukydides und Polybios einerseits und Caesar und Tacitus andererseits, ist das, dessen Geschichtsschreibung damals auf europischem Boden fhig war, beendet. Bis zur Neuzeit hin ist nichts Neues, Wesentliches hinzugefgt worden. Es kamen nach ihnen allerdings Historiker, deren Name Achtung einflsste. Zunchst ist Livius zu nennen, der die rmische Geschichte ab urbe condita, vom Beginn Roms an, schildern wollte. Er ist der Mann, der die Masse einer gewaltigen Geschichte und eines weit erstreckten Stoffes meistern wollte. Doch, wenn sein Werk in den uns erhaltenen Teilen auch eine wichtige Quelle unserer Kenntnis der rmischen Geschichte ist, so war doch die grosse Aufgabe ber die Kraft des Mannes; das Werk geht mehr in die Breite als in die Tiefe. Einen eigenen Platz nimmt Strabo ein, der als erster Geschichte und Geographie miteinander verband, aus geographischen Tatsachen geschichtliche Folgerungen zog, eine Linie, die erst im neunzehnten Jahrhundert durch Alexander von Humboldt und Ritter 1 fortgesetzt wurde. Ganz anders ist Plutarch, der bloss Geschichtsbilder, Portraits geben wollte, immer je einen Griechen und einen Rmer als Erscheinungen, als Individualitten nebeneinander stellte, aber losgelst von der Zeit, losgelst von den Gegebenheiten und Voraussetzungen. Schliesslich Suetonius, der ebenfalls in seiner Geschichte der rmischen Kaiser Menschen hatte zeichnen wollen, aber des kritischen Blicken entbehrte, alles nebeneinander trug, Zuverlssiges und Widersinniges, Tatsache und Klatsch, so dass die Darstellung oft zur 1. Karl Ritter (1779-1859). Deutscher Geograph. Verfasser von Die Erdkunde im Verhltnis zur Natur und zur Geschichte des Menschen in 2 Bnden (18171818).

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chronique scandaleuse wird. Alle diese Mnner, so sehr sie ihr Charakteristisches haben, treten doch weit zurck hinter jene Fnf, die die Geschichtsschreibung in Europa in der Form, im Stil, im Motiv nahezu endgltig geschaffen haben. Das andere Volk, in dem Geschichtsschreibung entstand, ist das israelitische Volk. In ihm hat, soweit wir erkennen knnen, schon frhzeitig ein Geschichtsbewusstsein gelebt, begreiflicherweise, denn in seiner Erinnerung hat sein Volksleben mit einem geschichtlichen Ereignis, mit dem Auszug aus gypten, begonnen. Schon frh sind hier knstlerische Geschichtsbilder, die Geschichte der Richter, eines Gideon, eines Abimelech, eines Jephta, die Geschichte Sauls, Davids und Salomos, in eindrucksvollen[tab]Kabinettstcken gezeichnet worden, Bilder, die in den Besitztum der Menschheit eingegangen sind. Aber das alles ist, so lebendig, so charakteristisch, so wundersam im Knstlerischen es auch erscheinen mag, noch nicht das, was als die eigentmliche Geschichtsschreibung des israelitischen Genius zu gelten hat. Diese ganz besondere Auffassung der Geschichte ist die, welche uns die Propheten gegeben haben. Die Propheten suchen zu begreifen, was Geschichte in Wirklichkeit ist, welches die Gesetze in ihr sind. Sie waren Zeugen der Siegeszge gyptens, Assyriens und Babyloniens. Sie sahen, wie Gebude der Macht aufgerichtet wurden, und Gebude der Macht wieder zusammenstrzten. Und sie fragten sich: Ist das Geschichte? Ist das, was die Macht aufrichtet, wodurch sie sich legitimiert, um dann durch eine andere Macht verworfen zu werden, Geschichte? Und gaben die Antwort: Das ist Ungeschichte, das Gegenteil der Geschichte. Und sie sahen neben diesem Kampf der Mchte, diesem Kommen und Gehen, diesem Auf und Nieder einen anderen Kampf, das Ringen des Geistes, des Glaubens der Ideen, den Kampf zwischen Geist und Macht, zwischen Glauben und Selbstsucht, zwischen Ideen und Interessen, und nur, wo Geist ist und die Idee waltet, war fr sie Geschichte. Sie wandten sich mit all ihrem Glauben, ihrer Glut und ihrem Eifer und mit einer Gerechtigkeit, die auch dem Gegner ein Recht zu geben sucht und auch in ihm ein Werkzeug Gottes zu sehen bereit ist, gegen jede Untat der Geschichte, gegen die Geschichte, welcher der Erfolg oder der Zweck Rechtfertigung sein will, sie wandten sich gegen die Politik, die sich ihre Moral schafft, sie wandten sich dagegen, dass derjenige, welcher gesiegt hat, Recht haben soll. Sie sahen Geschichte darum als Geschichte der Menschheit. Volksgeschichte gewann fr sie Bedeutung nur als ein Stck der Weltgeschichte, der Geschichte des Geistes. Sie haben es zudem erfahren, dass ein Volk, seiner selbst und damit sei352

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ner Geschichte bewusst wird nur dann und dort, wo es mit anderen Vlkern zusammentrifft, um andere Vlker weiss, an ihnen sich kennen lernt. So haben sie alle Vlker vor sich gesehen: Jedem Volk ist seine Aufgabe, sein Weg gewiesen, vor jedes Volk ist damit hingestellt das Gute und das Bse, jedes Volk muss sich entscheiden und es kann sich dieser Entscheidung nicht entziehen. Das ist Gesetz der Geschichte, dass jedes Volk sich entscheiden muss, ob es das Bse erwhlen will, die Ungeschichte, die Untat der Geschichte, um dann mit dem Zusammenbruch seines Platzes und seiner Macht frher oder spter das Trmmerfeld auf Erden zu dehnen, oder ob es den Geist, die Idee, das Gute whlen will und dann bisweilen unterliegen oder besiegt werden kann, aber dessen gewiss sein darf, eine Unsterblichkeit, eine Unvergnglichkeit in sich zu tragen. So haben die Propheten im Gang der Geschichte einen grossen Lebenszusammenhang erblickt, so haben sie Menschen und Zeiten geschaut und aufgezeigt. Sie haben damit die neue Weise, Geschichte zu schreiben, gegeben. Das sind so die beiden Formen, in denen sich Geschichtsschreibung gestaltet hat, die griechische und, in ihrer Schule die rmische auf der einen Seite und die israelitische, die jdische auf der anderen Seite. Dort und hier ist Sinn und Gesetz in der Geschichte gesucht worden. Fr Griechenland und Rom sind diese Gesetze erdgebunden, volksgebunden, fr die Denker Palstinas entstammen sie einem allein Bleibenden, einer ewigen sittlichen Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist fr die israelitisch-jdische Geschichtsschreibung der letzte Sinn der Geschichte: Wenn das Recht unterginge, dann htte es keinen Sinn mehr, auf Erden zu leben. Denn leben heisst, fr das Rechte, Gute und Wahre leben, letzter Lebenszusammenhang ist Zusammenhang dieses Echten und Bleibenden, tiefstes Geschichtsbewusstsein ist das Bewusstsein von diesem Bestndigen, geschichtliche Entscheidung ist die Entscheidung dafr oder dagegen, Geschichte schreiben bedeutet, dies in seinen Wegen und Umwegen, seinen Zielen und Hemmnissen aufzeigen und darstellen. Wahre Geschichte ist Geschichte des Geistes, des Menschengeistes, der bisweilen ohnmchtig scheinen mag, aber doch zuletzt der berlegene und berlebende ist, weil er, wenn er auch die Macht nicht hat, dennoch die Kraft besitzt, die Kraft, die nie aufhren kann. Das ist es, was das Altertum an Geschichtsschreibung und Geschichtsdarstellung hervorgebracht hat. Das Mittelalter hat nichts Neues hinzufgen knnen, und ebenso hat die Zeit der Aufklrung, die das Mittelalter ablste, hier nichts Neues zu geben vermocht. 353

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Denn dem Mittelalter geht der Begriff des ringenden Menschen ab, sein Begriff ist der des fertigen Menschen. Das Werk der Geschichte, es wird gelehrt, ist vollbracht, die Zeit ist erfllt, alles, was dem Menschen und der Menschheit gegeben sein kann, ist vollendet worden. Der Mensch wird erlst, wenn er in dieser erfllten Zeit leben will. Das Bild steht fest: die Welt ist die trina machina rerum, 1 in der Mitte die Erdenwelt, darunter die Welt der Verdammnis, darber die Welt der Gnade und Erlsung. Da die Zeiten erfllt sind, kann das Entscheidende nur wieder kommen, aber es kann nicht neu kommen. Dort, wo der Mensch und die Zeiten so betrachtet werden, gibt es kein Geschichtsbewusstsein und darum keine Geschichtsschreibung. Dessen ungeachtet hat das Mittelalter doch einen Geschichtsschreiber erzeugt, einen Mann allerdings, der einerseits ganz mittelalterlich war, aber doch andererseits aus dem Mittelalter heraustrat, ein Genie, das fr sich steht: Dante! Ihn hatte der Zorn zum Geschichtsschreiber gemacht. Es war nicht der Zorn des Ressentiments, nicht der kleinliche Groll, sondern der heilige Eifer, der heilige Zorn, der das Unrecht sieht und zum Unrecht nicht schweigen kann. Er hat seine »Divina comedia« geschrieben, Gttliches in der Sprache des Volkes. Nicht fr die Gebildeten nur, darum nicht lateinisch wollte er schreiben, nicht mit dem Hochmut des ber dem Manne Stehenden, sondern fr das Volk in der Sprache des Volkes, der Komdiensprache, wie man damals sagte. Die divina comedia hat er seinem Volke gegeben. In ihm ist, man mchte sagen, einer der Propheten Israels lebendig geworden. Der unbedingte Wille zur Wahrheit und zum Recht, der Mut und der Hochsinn, in dem er dichtet und schreibt, ist der der Propheten. Alle fordert er vor sein Gericht, vor das geschichtliche Gericht. Die Grossen, die Lebenden und die Gestorbenen, deren Kinder und Nachkommen aber noch lebten, fhrt er hinunter in die Hlle und sagt, weshalb sie die Hlle verdienen oder fhrt sie ins Fegefeuer und sagt, was das Bse und das Gute war, die sich in ihnen trafen, oder er zeigt sie im Paradies, der Sttte der Seligen, um sie als die zu rhmen, welche dem Recht und der Wahrheit gedient htten. Er steht im Mittelalter allein da. Auch in der Zeit der Aufklrung hat es kaum Geschichtsschreibung gegeben. Geschichte galt hier als das Zufllige; das gemeinsame Natrliche wollte man unter ihm finden. Voltaire hat zwar seine Geschichte Ludwigs XIV., seine Geschichte Karls XII. von 1. Lat.: »Die dreifaltige Struktur der [physischen] Welt«. Aus einer Hymne des christlichen lateinischen Dichters Prudentius (2. Hlfte des 4. Jahrhunderts).

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Schweden verfasst, aber sie sind weniger Geschichtsschreibung als literarische oder hfische Geschichtserzhlung, Der wahre, der alte Voltaire, der fr das Recht kmpfte, der gegen den Justizmord an Jean Calas 1 auftrat, spricht in ihnen noch nicht. Erst am Ende dieser Zeit und aus ihr heraustretend, stehen zwei Geschichtsschreiber, Hume und ein Grosser, Gibbon. Dann hat das XIX. Jahrhundert wieder Geschichtsschreibung gebracht. In erwachendem Nationalgefhl ist das Geschichtsbewusstsein lebendig geworden. Der Sinn fr menschliche Eigenart und fr die Besonderheit jedes Volkes vertiefte sich, man suchte wieder Lebenszusammenhnge zu begreifen. So sind die Geschichtsschreiber des neunzehnten Jahrhunderts erwachsen. Um nur die grssten zu nennen: Niebuhr, Ranke und Mommsen in Deutschland, Macaulay und Grote in England, Tocqueville, Taine und, in gewissem Sinne auch er ein Historiker, Emile Zola, in Frankreich. Alle diese Mnner, so bedeutend sie sind, so klassisch ihre Werke dastehen, haben in den Grundlinien nichts zu der Geschichtsauffassung hinzugefgt, welche die grossen griechischen Historiker gegeben hatten. Wohl ist das Material in das Gewaltige erstreckt, wohl ist man dahin gelangt, die Archive zu durchforschen und die Dokumente zu prfen, wohl hat man von Auguste Comte her und dann durch Karl Marx die Kraft des Wirtschaftlichen und Gesellschaftlichen zu begreifen gelernt; wohl hat Taine die grosse Bedeutung des Milieus aufgezeigt, wohl ist dann diesem gegenber darauf hingewiesen worden, dass es einen entscheidenden Kampf des Individuums gegen das Milieu gibt, wohl ist jenem gegenber begriffen worden, wie das Geistige nicht bloss ein berbau ber dem Wirtschaftlichen ist, sondern dass Ideen, berzeugungen ihr selbststndiges Leben, ihre Autonomie gewinnen und auch auf das Wirtschaftliche wieder zurck wirken, wohl haben so die Methoden sich immer mehr verfeinert, aber die alten Grundzge sind geblieben. Geschwiegen sei von allen den kleinen Tacitussen, den Gernegrossen der politischen Geschichte, in denen nur die Schwchen und Gebrechen des grossen Rmers fortdauern. Nur an die Mnner, die das vorige Jahrhundert zu einer Zeit der Geschichtsschreibung gemacht haben, ist hier gedacht. Wir leben in neuen Tagen. Ist ihnen – das ist die letzte Frage – eine neue Aufgabe der Geschichtsschreibung gestellt? Geschichtsschreibung setzt, wie gesagt, voraus, dass beides sich eint, Knstlerisches 1. Jean Calas (1698-1762). Protestantischer Kaufmann in Toulouse, flschlich fr den Mord an seinem Sohn zum Tode verurteilt. Angeblich hatte sein Sohn zum Katholizismus konvertieren wollen.

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und Wissenschaftliches. Karl Capek 1 in seinem Fragment vom »Leben und Wirken des Komponisten Foltyn« hat so schn und so tief wie kaum je zum Ausdruck gebracht, was echte, wahre Kunst ist. Echt ist die Kunst, in der der Knstler sich vergisst, weil er sich ganz der Sache hingibt, wahr ist die Kunst, die nicht gelten will, sondern ganz in der Aufgabe aufgeht, nur der Wahrheit dienen will. Und Wissenschaft ist echt, wenn sie bis zum Letzten forscht, sich von aussen her keine Wege und Grenzen bestimmen lsst, kritisch gegen ihr Objekt, aber kritisch vor allem gegen sich selbst, nie mde, den Irrtum zu erkennen und immer wieder zu beginnen, wenn sie den Respekt vor der Kleinigkeit und dem lebendigen Sinn fr das Grosse hat, wenn auch sie ganz wie die Kunst nur der Wahrheit dienen will. Kunst und Wissenschaft vereint schreiben Geschichte. Aber Grundbedingung, die davor steht, ist,– und so ist die neue und doch alte Aufgabe der Geschichtsschreibung – dass in diesem Manne der Wissenschaft und Kunst das lebt, von dem Herodot geahnt und das die Propheten Israels erkannt und aufgezeigt haben: das Wissen um das, was jedes Volk bedeutet und was darum alle Vlker zusammen sind, was um der Menschheit willen jedem Volk als seine Aufgabe, als sein Geist gegeben ist. Jedes Volk kann seine Aufgabe, seinen Geist besitzen, und dadurch wird es ein geschichtliches Volk. Jedem Volk ist ein Problem gegeben, das ihm zugehrt, mit dem es sich auseinanderzusetzen hat; erst damit gewinnt das Volk seinen geschichtlichen Wert und seine geschichtliche Kraft. Seiner Geschichte gewiss wird ein Volk, wenn es seine Idee erkannt, wenn ein Geist, ein Anteil am Geiste der Menschheit in ihm lebt. Dadurch lebt ein Volk wahrhaft ganz wie der Mensch davon wahrhaft lebt. Ein Volk verusserlicht sich, wenn es nur an der Peripherie seiner Aufgabe und seines Problems leben will und nicht den Mut hat, zum Innern der Aufgabe vorzudringen, ein Volk verirrt sich, wenn ihm der Sinn fr seine Aufgabe, fr die Wirklichkeit seiner Geschichte geschwunden ist. Ganz wie es die Tragik so manches Menschen ist, dass er seine besondere Aufgabe, seinen Geist berall auf Erden, berall bei anderen sucht und zu sich selbst nie kommt, nie in sich seine Aufgabe, seinen Geist entdeckt, ganz so wird es zur Tragik eines Volkes, wenn es sich an andere Vlker verirrt und verliert, in anderen Vlkern sich selber sucht und sein Eigenes, das, was der ewige Schpfer ihm verliehen hat, nicht findet. Ein Volk stirbt, wenn der Geist, wenn seine Aufgabe in ihm erstorben ist. 1. Karel Cˇapek (1890-1938). Weithin als Antifaschist bekannter tschechischer Autor, der im Jahr vor Hitlers Einmarsch in die Tschechoslowakei verstarb.

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Und es ist das furchtbarste Sterben, wenn dann dem Volk noch eine Machtexistenz bleibt und nun alles, der Kreislauf des Daseins, der Kreislauf der Macht in das Geist- und Sinnlose hineindrngt, wenn alles Daseinstrachten sich nun wie in einem krampfhaften Zucken regt, in dessen Windungen das Volk dann zusammenbricht. Aber selbst dann knnte es ein Leben wiederfinden. Ein Volk kann wiedergeboren werden. Es kann, nachdem es sich verloren, sich wiederfinden, es kann zu seiner Idee, zu seinem Gebote wieder hingelangen, um neu zu beginnen. Dies alles ist die Wirklichkeit der Geschichte. Sie aufzuzeigen, ist dem Historiker wie einst, so neu aufgegeben. Damit kann er seinen eigenen Platz in seinem Volk und inmitten der Vlker gewinnen, indem er diesen Dienst an der Wahrheit und damit an der Gerechtigkeit erfllt. In jedem Volke knnte der Geschichtsschreiber der sein, der dem Volk von ihm selbst und von den anderen Vlkern erzhlt, nicht in der Art jener kleinlichen politischen Geschichte, die nur das eigene Volk gelten lassen will, und die anderen herabsetzt,– sie ist nur die Ungeschichte – sondern indem er seinem Volk den Spiegel vorhlt und es dazu fhrt, dass es sich erkenne dadurch, dass es sein Problem, seine Eigentmlichkeit, seinen Charakter, seine Aufgabe, die um des Geistes, um der Wahrheit und des Rechtes willen ihm gestellt ist, erkennt. Auch Historiker haben oft geschwiegen dort, wo sie htten sprechen sollen. Es gibt eine Geschichte des Schweigens in der Menschheitsgeschichte. Wozu haben Menschen, welche sprechen sollten, geschwiegen: Zur Folter und zur Sklaverei, zu Hexenprozessen und Inquisitionsgerichten, zu jeder Vergewaltigung, zu jeder geschichtlichen Untat, die durch Zweck und Erfolg gerechtfertigt sein wollte. Wie oft haben nicht auch Geschichtsschreiber so geschwiegen und wie oft wieder haben sie das gefllige Wort bereit gehabt! Sie haben die »Geschichtsschreibung« hergestellt, die dem Sieger den Mantel des Rechtes und der Wahrheit umhngen wollte, unter dem jedes Verbrechen und jede Gemeinheit verhllt bleiben sollte. Was alles haben sie verschwiegen und was alles haben sie proklamiert! Aber was knnte ein Geschichtsschreiber seinem Volk sein, wenn er das lebendige Gewissen seines Volkes wrde. Das ist ja der entscheidende Fortschritt in der Menschheitsentwicklung, dass sich ein Weltgewissen bildet, dass Menschen nicht schweigen, wo sie reden sollten, und nicht sprechen, wo sie schweigen mssten. Gewissen seines Volkes knnte der Geschichtsschreiber sein und damit das aufnehmen, was die Propheten gewesen sind und gezeigt haben. Der grosse Historiker Ranke, der bedeutendste wohl des neunzehn357

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ten Jahrhunderts, sagt in seiner englischen Geschichte: »Das Grsste, was dem Menschen begegnen kann, ist es wohl, in der eigenen Sache die allgemeine zu verteidigen«. Und das ist ja das Grsste, was auch einem Volk begegnen kann, in seiner Sache die Sache der Menschheit zu verteidigen und zu vertreten, fr sich zu kmpfen und damit zugleich fr die Menschheit zu kmpfen. Das haben einst die Propheten gelehrt. Das ist noch jetzt die grosse Aufgabe der Geschichtsschreibung. Wiedergeburt manches Volkes knnte dadurch gegeben sein, ein Entdecken der grossen Lebenszusammenhnge, ein Sichfinden aller zur Menschheit. Akademische Vorlesung, gehalten am 15. Juni 1944 im Gemeinschaftshaus von Theresienstadt. Das Originalmanuskript befindet sich im Besitz Marianne C. Dreyfus’. Eine englische Fassung erschien im Synagogue Review (Nov. 1962): S. 51-59.

* Brief an Else Nathan in Tel Aviv London, 26. Juli 1945 Sehr verehrte Frau Nathan, 1 Empfangen Sie meinen herzlichsten Dank fr Ihre lieben, guten Worte; sie haben mir eine aufrichtige Freude gebracht. Jakob Edelstein 2 ist leider – und mit ihm seine Frau und sein Sohn – im Sommer 1944 nach dem Osten gekommen. Wir mssen, so schmerzlich es ist, annehmen, dass er in Auschwitz ums Leben gebracht worden ist. Er war von November 1941 bis Januar 1943 in Theresienstadt sogenannter Judenltester gewesen. Er hatte sich dort vor allem menschlich in jeder Situation und jeder Aufgabe gegenber bewhrt. Er hat die Liebe und das Vertrauen aller in einem ganz besonderen Masse sich erworben. Sein Wort galt bei allen. Mir selbst ist er ein treuer Freund gewesen. Er hat mir viel Herzlichkeit geschenkt. Cora Berliner 3 ist im Sommer 1942 nach dem Osten gekommen. 1. Frau Else Nathan lebte zu der Zeit in Tel Aviv, 8 Nahum Street. Sie mag eine Bekannte Baecks aus Berliner Tagen gewesen sein. 2. Jakob Edelstein (gest. 1944). Tschechische Fhrungspersnlichkeit der zionistischen Bewegung, der als Judenltester in Theresienstadt diente. Er wurde am 20. Juni 1944 in Auschwitz erschossen, nachdem er der Exekution seiner Frau und seines Sohnes hatte beiwohnen mssen. 3. Prof. Cora Berliner (1890-1942). Wirtschaftswissenschaftlerin und Sozialwis-

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Briefe in Auszgen

Hildegard Henschel 1 ist mit ihrem Mann in Theresienstadt am Leben und in Gesundheit geblieben. Von den anderen, nach denen Sie mich fragen, weiss ich leider zur Zeit nichts zu sagen. Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’.

* Briefe in Auszgen London, 18. April 1946 … Soll ich von mir auch erzhlen? Von den dunklen Jahren zu sprechen, wird mir nicht leicht. Vier Schwestern sind in Theresienstadt hingegangen, drei von ihnen habe ich nicht mehr sehen knnen, meine beiden Brder sind nach dem Osten verschleppt worden und dort verschollen, ich weiss, wie dnn und vielleicht wesenlos diese Hoffnung ist, aber ich klammere mich an sie fest, eines Tages vielleicht doch noch von ihnen zu hren und sie wiederzusehen. Theresienstadt wurde am 10. Mai befreit. Die letzten Wochen waren von den bsesten gewesen. Von berall her aus den Lagern wurden die Flecktyphus-Kranken in offenen Gterwagen nach Th. gebracht – aus einem Zuge haben wir mehr als hundert Menschen, die unterwegs gestorben waren, herausgetragen, es war wie ein Los, wen die Ansteckung traf, und der Plan war klar, das Lager zu »liquidieren«. Dann kam die Hilfe noch rechtzeitig. Ich selbst darf wohl voll Dankbarkeit sein. Ende Mai wurde ich telephonisch nach Prag nach dem Wehrministerium berufen, um Medikamente, die aus Amerika fr uns gekommen waren, persnlich zu bernehmen. Ein amerikanischer Major, der sie berbracht [hatte], teilte mir mit, dass er auch beauftragt sei, mich mit seinem Flugzeug nach England zu fhren; das englische home office habe mir einen special permit gewhrt. Ich lehnte es vorlufig ab, weil ich noch 4-5 Wochen bentigte, um den Menschen in Th. weiterund fort zu helfen. Ende Juni kam der Major wieder, um mich zu holen. Eine grosse amerikanische »Fortress« brachte mich am 1. Juli senschaftlerin. 1933-1942 Vorstandsmitglied der Reichsvertretung und Reichsvereinigung. Im Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie ums Leben kam. 1. Hildegard Henschel war die Frau von Justizrat Moritz Henschel (gest. 1947), dem letzten Vorsteher der Jdischen Gemeinde in Berlin (1940-1943). Herr und Frau Henschel berlebten Theresienstadt, wo er Mitglied des ltestenrats war, und ließen sich spter in Palstina nieder.

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Terezin

nach Paris, wo ich vier Tage blieb, um notwendige Papiere zu erhalten; ich erfuhr viel Freundlichkeit von den franzsischen Regierungsstellen und wurde vom American »Joint« mit Frsorge umgeben. Am 5. Juli brachte mich dann ein englisches Militrflugzeug nach London, wo meine Tochter, mein Schwiegersohn und meine Enkelin mich sehnsuchtsvoll erwarteten. Ich habe fr so vieles zu danken … * London, 18. Februar 1947 … Vor mir tauchen so manches Mal die Schatten auf, die Schatten derer, die zu Grunde gegangen, die Schatten derer, die zu Grunde richteten. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Bild vor mir steht oder ein Ton in mein Ohr tritt: das jhe Pochen oder Schellen, wenn die Schergen, wie an manchem Tage, um mich hierhin oder dorthin zu holen, Eintritt forderten. Ein Freund hier, dessen Vater mir nahe stand, pflegt zu sagen: time is a good healer (Zeit ist ein guter Heiler). Ob er recht hat? Es ist schwer, aus einer schweren Zeit wieder ganz hergestellt zu werden, und vielleicht dauert doch manchmal die Genesung so lange wie die Krankheit. Aber das letzte und entscheidende Wort knnen doch Dankbarkeit und Hoffnung sprechen. Dankbarkeit und Hoffnung sind, um mit dem Worte meines Freundes zu sprechen, a good healer. * London, 23. Mai 1947 … Es will mir, wenn ich an das denke, an dessen hartem Rande ich in den harten Jahren vorbeigeschritten bin, immer wie in letzter Stunde bewahrt und behtet, fast wie ein Wunder erscheinen, wie ich durch alles hindurchgegangen bin … * London, 23. Juni 1947 … Und damit komme ich zu einer weiteren, einer tiefen Bitte. Ich bitte Sie so sehr, dass Sie die Geduld nicht verlieren, sich durch die Zeit nicht berwltigen noch zu Boden drcken lassen. Sie wissen es, wie ungern ich von mir spreche; es kostet mich eine grosse berwindung es zu tun. Auch jetzt tue ich es nur, weil ich ein wenig hoffe, Sie damit etwas aufzurichten. Es war, achtundzwanzig lange Mona360

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Vision und Geduld

te, mein Sehnsuchtstraum, einmal eines Tages eine Wiese, ein Feld oder gar einen Wald zu sehen, ein Sehnsuchtstraum, einmal an einem Tage ohne Hunger zur Ruhe zu gehen, es war der grosse Traum einmal wieder unter Lebendigen und nicht unter Umkommenden – bisweilen kamen Tag um Tag hundertzwanzig von den dreissigtausend Menschen im Lager um – zu sein. Von all dem noch grsseren Elend dort und all der grossen Sehnsucht will ich schweigen … Die Auszge befinden sich in Marianne C. Dreyfus’ Besitz. Die Adressaten sind nicht mehr festzustellen.

* Vision und Geduld Einer der eigentmlichen Zge des jdischen Wesens und des jdischen Genius ist die Verbindung von Phantasie und Geduld. Es gibt vielfach Menschen mit Phantasie und wohl berall Menschen mit Geduld, aber die lebendige Vereinigung beider, die gegenseitige Durchdringung von Spannkraft und Vision ist ein Besonderes der jdischen Seele. Es liegt darin einer der Grnde dafr, dass dieses Volk immer weitergelebt hat und immer weiterleben kann. Ob das Leben in einem der Konzentrationslager sonst und in Theresienstadt bestanden worden ist, hing usserlich von Umstnden ab: Krankheit, Tortur, Vernichtung konnten es zerstren oder an ihm vorbergehen. Aber ob es innerlich durchgehalten wurde, war wesentlich davon bedingt, ob dieses beides in ihm lebendig blieb, die Geduld und die Phantasie: die Geduld, diese Widerstandskraft, die die Fhigkeit zu leben nicht aufhren liess – vielleicht stirbt ein Mensch erst, wenn er nichts mehr will –, und die Phantasie, diese Imagination, die ihm immer wieder und trotz allem eine Zukunft zeigte – vielleicht hrt ein Mensch erst auf, wenn er bloss die Vergangenheit und den Moment noch sieht. Beides musste da sein. Die Geduld richtet sich auf durch die Phantasie, ohne sie knnte sie in ein blosses Sklaventum sinken, und die Phantasie hat ihre Verbindung mit dem Leben des Tages durch die Geduld, ohne sie wre sie ein Traum im Schlafe des Tages. Auch jeder Wille zum Helfen und jeder Bund zum Helfen braucht dieses beides: die Vision und die Geduld. Denn es gibt auch eine moralische Phantasie und eine Geduld der Moral: diese moralische Phantasie, die uns befhigt, uns in den anderen, in sein Leid und sein Glck hineinzufhlen, hineinzudenken, diese Geduld der Moral, die 361

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es vollbringt, dass wir am Mitmenschen festhalten, das Band zwischen uns und ihm nicht reissen lassen. Selbstsucht ist zu einem grossen Teile Phantasielosigkeit; berheblichkeit und Vorurteil sind zu einem grossen Teil moralische Mdigkeit, Mangel an moralischer Geduld. Wo moralische Vision und moralische Spannkraft zusammenkommen, dort lebt und schafft etwas Jdisches, lebt und schafft der soziale Geist unserer Bibel. Ein Helfer fr die Phantasie und die Geduld will der Bericht sein, der hier vorgelegt wird, damit er gelesen werde. Aber damit er das geben kann, was er geben will, muss er immer zugleich gesehen und von der Seele festgehalten werden. Hinter den Stzen steht ein Bild, das Bild so vieler Tausende von Menschen, die zu den anderen, den Menschen draussen sprechen wollten und nicht sprechen konnten. Jetzt sprechen sie, die Toten und die berlebenden, und sie sollten gehrt werden heute und morgen und bermorgen. Sie sprechen von Qual und von Sehnsucht; sie sollten gesehen und gehrt und nicht mehr vergessen sein. In das Bild, das vor uns hintritt, sollen hier einige Linien noch hineingezogen werden. Was war das erste, was der empfand, der dort eintrat? Wenn er durch das Festungstor, zwischen den Bastionen und Wllen, hineingetrieben war, dann war ein Tor des Schicksals, vielleicht fr immer, hinter ihm zugetan. Er war eingeschlossen. Und drinnen war er noch besonders abgeschlossen, ein Teil der Festungsstadt, der bessere und gesndere, war als Gebiet der S.S. abgetrennt. In einem Raume, der vorher in militrischer Enge kaum mehr als 3000 Menschen hatte beherbergen sollen, waren hier oft fast 45.000 zusammengepfercht, in Kasernen und sonstigen Husern, hart beieinander, dicht bereinander. ber den Strassen war, wenn die Sonne schien, der dicke Staub, den die hohen Wlle nicht hinausliessen, und wenn der Regen oder der Schnee gefallen war, der tiefe, zhe Schmutz, der tglich zu wachsen schien. Und von berall her und berall hin kam das Ungeziefer, das grosse Heer der Kriechenden, Springenden, Fliegenden gegen das Heer der Gehenden, Sitzenden, Liegenden, der Hungrigen gegen die Hungernden – ein stndlicher Kampf bei Tage und bei Nacht. Monat um Monat, Jahr um Jahr war das die Welt, und die Menge verschlang den Einzelnen. Er war eingeschlossen in die Masse, so wie er umschlossen war von Enge und Staub und Schmutz, von den wimmelnden Scharen der Insekten und umschlossen war, fast von innen und von aussen her, von dem Hunger, der nicht enden zu wollen schien – im Lager der Konzentrierten, niemals fr sich allein. 362

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Es war wie ein Symbol, dass jeder seine Transportnummer hatte als erstes und wichtigstes Zeichen seiner Existenz. Sie verdrngte offiziell den Namen, und sie drohte ihn innerlich zu verdrngen. Das war der seelische Kampf, den jeder zu fhren hatte, in sich selbst und im Mitmenschen nicht nur die Transportnummer zu sehen. Es war der Kampf um den Namen, um den eigenen und um den des anderen, der Kampf um die Individualitt, um das Geheimnis. Von Menschen, und nicht bloss von Zahlen und Ziffern zu wissen, das war der Kampf auch, wenn die Toten hinausgetragen wurden, Tag um Tag, der lange Zug hinaus zum grossen Heer. Ein tiefer dunkler Gang in einem Festungswall, beinahe selbst wie ein Massengrab, war die Totenhalle. Dort standen, in langer, langer Reihe oft,– es hat Tage gegeben, an denen mehr als hundert Menschen starben – die drftigen Srge der Toten, immer zwei oder drei bereinander, und die Namen wurden verlesen und das alte Totengebet, das Jahrtausende alte, gesprochen. Und dann wurden die Srge aufgehoben und hinausgetragen, whrend der Psalm gesungen wurde, der seit Geschlechtern die Toten auf ihrem letzten Wege begleitet: »Wer im Geheimnis des Allmchtigen wohnt« bis hin zu dem Schlusse: »Ich werde ihn meine Hilfe schauen lassen!« 1 Es war wie eine Demonstration, ein Stck Freiheit in der Knechtschaft. Draussen standen die grossen schweren Wagen, und die Srge wurden auf sie hinaufgestellt. Etwa fnfzig Schritte war es gewhrt, ihnen zu folgen, die Grenze des Lagers war dann erreicht. Nur die Toten zogen hinaus, zur Verbrennungssttte hin. Es war noch ein anderer Weg, auf dem Menschen aus dem Lager hinauszogen, auch er fr so viele ein Weg zum Tode. Die Transporte nach dem Osten zogen hinaus, manchen Monat Tag um Tag; niemand wusste genau wohin, man wusste nur: nach dem Osten. Eine Wolke des Kummers, des Bangens und des Grauens senkte sich immer neu auf das Lager. Das schien die geheime Parole der Zwingherren zu sein: Niemals die Juden zur Ruhe kommen lassen! Die, welche das Los, der unerbittliche Zufall getroffen hatte, wurden in einer Kaserne zerniert; eine neue Transportnummer wurde ihnen hier gegeben, sie waren andere geworden, ein Leben hatte fr sie aufgehrt. Vor der Kaserne, zwischen zwei Ketten der S.S., stand der Zug der Viehwagen. Menschen wurden hineingepfercht, und der Zug fuhr hinaus aus dem Lager, fort von denen, die noch blieben. Und in das Lager kamen dazwischen die anderen Zge, die neuen Transporte von berall her, neue Transportnummern, zwi1. Ps 91,1 und 16.

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schen Familienangehrigen und Bekannten, die einer wiederfand, fremde Gesichter, fremde Namen, und alle brachten sie etwas aus der Welt draussen, wie aus einem Jenseits, bis auch das Neue alt geworden und schliesslich im Gedchtnis sich alles vermischen wollte: wer war gegangen, wer war gekommen? Es war ein Kampf um den einzelnen Menschen, um den einzelnen Tag. Wie der Mensch, so drohte der Tag in der Masse unterzugehen. Von berall her, aus Raum und Zeit, drang die Masse heran. Aber in ihr, das war die tiefe Erfahrung, die jeder machen konnte, ist immer wieder die Gemeinschaft lebendig geworden. Der Kampf zwischen Masse und Gemeinschaft wurde durchgekmpft. Menschen, die einander nicht gekannt hatten, suchten einander zu helfen, krperlich und seelisch. Sie gaben einander von dem, was sie hatten, von ihrer Habe, von ihrem Geiste. Menschen fanden einander hier und dort. In frhen Morgenstunden und in Stunden des Abends kamen sie zu einem Gottesdienste zusammen, wo immer ein Raum sich bot. Aus Fenstern, aus Gngen der Huser tnte die Stimme der Betenden, der Laut der Bibelvorlesung nach der Strasse hinaus. Oder sie waren zusammen im Dunkel der langen Abende auf dem Boden einer Kaserne, unmittelbar unter dem Dache. Eng aneinander gedrngt standen sie dort, um einen Vortrag zu hren ber Plato, ber Aristoteles, ber Maimonides, ber Descartes und Spinoza, ber Locke, Hume und Kant, oder ber Tage und Fragen der Geschichte, ber Musik und bildende Kunst, ber Dichtung, ber Palstina einst und jetzt, ber Gebot, Prophetie und messianische Idee. Es waren Stunden, diese Stunden alle, in denen aus der Masse sich eine Gemeinschaft erhob und die Enge zu einer Weite wurde. Es waren Stunden einer Freiheit. An solchen Stunden haben Phantasie und Spannkraft sich genhrt. Sie haben es vielen gegeben, dass sie aufrecht durchs Ungewisse und ins Ungewisse gehen konnten. Jeder sollte erfahren, dass er eine letzte Gewissheit in sich tragen durfte, die Gewissheit von Wahrheit, Recht und Frieden. Etwas von dieser tiefen berzeugung, etwas von dieser Geduld und dieser Vision will das Bild dieser Menschen und dieser Tage schenken. Dieser Text wurde am 1. August 1945 in London verfaßt, kaum drei Monate nach Leo Baecks Rckkehr aus Theresienstadt. Er ist wohl die einzige schriftliche ußerung Baecks ber die Zeit im Konzentrationslager. Bulletin des Leo Baeck Instituts 38-39 (1967): S. 216-220.

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Briefe an H. G. Adler in London Cincinnati, 18. Mrz 1949 Lieber Dr. Adler,: 1 Haben Sie vielen Dank fr Ihren lieben Brief. Ich habe mich aufrichtig gefreut, von Ihnen zu hren. In 14 Tagen werde ich mit Elliot Cohen, 2 der mir persnlich sehr nahe steht, zusammen sein und ich will mit ihm persnlich sprechen, um das Interesse, das er schon gewonnen hat, zu vertiefen. Ich schreibe aber vorher an ihn auch einige Zeilen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr es mir am Herzen liegt, dass ihr Buch mglichst bald herauskommt. Ich kann es nur wiederholen, dass es das erste Buch ist, dass dieses Thema wahrhaft behandelt. Ich freue mich schon darauf, die andere Arbeit, die Sie erwhnen, zu lesen. Es ist die treffendste Bezeichnung fr das Lager, wenn Sie von einer Form der Staatssklaverei sprechen. Mitte April will ich wieder in London sein, und ich will Sie dann alsbald verstndigen. Nachlaß H. G. Adler. Deutsches Literaturarchiv/Schiller Nationalmuseum, Marbach am Neckar.

* Cincinnati, 5. November 1953 Lieber Dr. Adler! 3 Aufs herzlichste danke ich Ihnen fr Ihren lieben Brief. So gern htte ich Sie einmal gesprochen; aber ich war nur verhltnismssig kurze Zeit in London. Ich hoffe ebenso zuversichtlich wie dringend, dass die Drucklegung Ihres Buches erfolge. Gerade heute halte ich es fr besonders wichtig, dass es erscheine. Bis dahin will ich fr die £ hundert Sorge tragen, damit Sie diesen Betrag vor Ende dieses Monats erhalten.

1. Hans Gnther Adler (1910-1988). Jude tschechischer Abstammung, der Theresienstadt berlebte und sich nach dem Krieg in London niederließ, wo er zum Historiker des Lagers wurde. 2. Elliot E. Cohen (1899-1959). Ab 1945 Herausgeber des Commentary Magazine, welches einige Artikel Baecks verffentlichte. 3. Siehe oben.

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In Lederer’s 1 Buch fehlt gerade das, was mir als das Wichtigste erscheint. Nachlaß H. G. Adler. Deutsches Literaturarchiv/Schiller Nationalmuseum, Marbach am Neckar.

* Geleitwort zu H. G. Adlers Theresienstadt Manches was in der schwarzen Zeit verbt wurde, knnte berschrieben sein: Die Bosheit als experimentatum. Ein solches Experiment des Willens zum Bsen war in ganz besonderer Weise das ausschließlich fr Juden bestimmte Konzentrationslager Theresienstadt – Terezin –, das fr die Welt draußen gelegentlich Ghetto Theresienstadt benannt wurde. Mit einem Minimum der Mglichkeit gesund zu bleiben, wurde dort ein Maximum an Erkrankungsmglichkeit verbunden; der Daseinsraum wurde durch den Sterbensraum ersetzt. Das war das Eine. In einen immer mehr verengerten kleinen Bezirk wurden immer mehr Menschen hineingepreßt, so daß einer am anderen sich rieb und stieß: jede Selbstsucht mit ihrer Gier sollte aufwuchern und jede Anstndigkeit verkmmern. Das war das Andere. Und das Dritte schließlich war, daß in dieser Enge Juden aus vielen Teilen Europas zusammengedrngt wurden, Menschen also, die seit Generationen heimatlich, kulturell und sprachlich unterschieden waren; jede Eiferschtelei mit ihrer berheblichkeit, so schien es, mußte aufbrechen und jedes Gesamtheitsempfinden verkommen. Dies alles zu schildern ist ein Vorhaben voller Schwierigkeiten, aber es ist von Bedeutung fr die Psychologie des Lebens und die der Moral im Allgemeinen und fr die jdische Psychologie im Besonderen. Dr. H. G. Adler hat diese Aufgabe bernommen, und er ist ihr, es darf gesagt werden, in bewundernswerter Weise gerecht geworden. In seinem Buche ber Theresienstadt verbindet sich die menschliche Gabe, nahe zu bleiben, um sich hineinzudenken und mitzuempfinden, mit der geistigen Fhigkeit, zurckzutreten und die Distanz zu 1. Zdenek Lederer. Ghetto Theresienstadt. bersetzt aus dem Tschechischen ins Englische. London, 1953.

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Geleitwort zu H. G. Adlers Theresienstadt

gewinnen, um der bestimmenden Linien und Formen des Ganzen gewahr zu werden. Mit dem wissenschaftlichen Ernst, der an keiner Tatsache vorbergeht und immer neuen Tatsachen nachforscht, eint sich der knstlerische Sinn, der das, was hinter allem wohnt und wirkt, zu begreifen oder zu ahnen vermag. Jeder, der das, was war, zu erkennen bereit ist, und ein jeder darum auch, dem, an welchem Platze immer, neues Leben anvertraut ist, wird Dr. Adler fr sein Werk tief verpflichtet bleiben. H. G. Adler. Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Tbingen, 1955.

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Das neue Deutschland und seine Vergangenheit In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg zeigte sich Baeck gegenber dem neuen Deutschland und der Mglichkeit, jdische Gemeinden dort erneut zu etablieren, pessimistisch. Eine ganze Generation junger Deutscher, jene, die in der Hitlerjugend aktiv gewesen waren, knne nicht einfach umerzogen werden. Neue Werte knnten nur kleinen Kindern anerzogen werden, die die Nazi-Propaganda nicht korrumpiert hatte. Die Geschichte des deutschen Judentums sei durch den Holocaust zu ihrem Ende gekommen. Die nhrende »Humusschicht« der deutsch-jdischen Kultur sei nicht lnger vorhanden und der Boden Deutschlands entweiht. Die Juden knnten nicht lnger in einem Land leben, in dem »die ganze Nation aktiv an den Verbrechen an den Juden teilgenommen hat, Gefallen daran fand und darauf aus war, von ihnen zu profitieren oder sie billigte und den Verbrechern applaudiert htte, htten sie den Krieg gewonnen«. Aber Baeck wußte dennoch aus eigener Erfahrung, daß tatschlich nicht alle Deutschen die Nazi-Regierung untersttzt und einige ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um dem Regime Widerstand zu leisten. Unter diesen waren alte Freunde Baecks, mit denen er nach dem Krieg korrespondierte und von denen er erhoffte, daß sie in dem neuen Deutschland eine Rolle spielen wrden. Fr einen dieser Freunde, den Geschftsfhrer der Boschwerke in Stuttgart Hans Walz, schrieb er eine Referenz, als Walz bei den Alliierten in Verdacht geriet, mit den Nazis kollaboriert zu haben. Walz hatte deutsche Juden finanziell untersttzt und ihnen geholfen, das Land zu verlassen. Als Baeck im Herbst 1948 zum ersten Mal nach Deutschland zurckkehrte, interviewte ihn die deutsche Presse ber das alte und das neue Deutschland und fehlinterpretierte in einem Fall seine Worte dahingehend, er habe den Deutschen verziehen. Baeck stellte sodann richtig, 369

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daß er zwar nicht an die Gesamtschuld, wohl aber an die Gesamtverantwortung eines Volkes glaube. Er knne denen verzeihen, die ihm persnlich Leid zugefgt hatten, aber nur Gott knne dem gesamten deutschen Volk vergeben. Die Entscheidung der Deutschen Regierung im Jahre 1951, Reparationszahlungen fr die Verbrechen der Nazis zu leisten, sah Baeck als ein Anzeichen dafr, daß sich der neue Staat auf dem Boden des Rechts grndete und erweckte eine neue Hoffnung in ihm, daß »der Weg wieder erkannt wird, auf dem wahres Deutschtum und wahres Judentum sich aneinander wenden knnen«. Dieses Kapitel schließt mit einem Auszug aus einem Interview, das Baeck 1952 in Kopenhagen gab, in dem die tiefe Ambivalenz zum Ausdruck kommt, mit der er Deutschland nach dem Krieg gegenberstand: es war ein Land, das er einst leidenschaftlich geliebt hatte, aber dem er sich nun zutiefst entfremdet fhlte. * Ein Gesprch mit Leo Baeck im Aufbau […] Auf meine erste Frage, ob deutsche Juden, die heute noch im Reichsgebiet leben, dort bleiben oder auswandern sollen bzw. ob emigrierte Juden gegebenenfalls nach Deutschland zurckkehren und sich am Wiederaufbau beteiligen sollen, erwidert Dr. Baeck mit grosser Entschiedenheit: Nein! Die Geschichte des deutschen Judentums ist definitiv zu Ende. Die Uhr kann nicht wieder zurckgestellt werden. Ich habe das schon erkannt, als ich noch in Deutschland war. Als ich damals den deutschen Juden den Rat gab: »Schickt erst alle jungen Menschen fort, Ihr lteren haltet aus, bis Ihr nachkommen knnt!« bin ich als Defaitist verschrieen worden. Und doch war mein Rat richtig, denke ich, denn er hat dazu beigetragen, dass sich sehr viele deutsche Juden durch Auswanderung retten konnten. Eine Rckkehr nach Deutschland? Ich sehe fr Juden keinerlei Mglichkeit hierzu. Zwischen den deutschen Juden und dem Deutschland der Epoche 1933-45 steht zuviel. Soviel Mord, Raub und Plnderung, soviel Blut und Trnen und Grber knnen nicht mehr ausgelscht werden. Es mag einzelne, individuelle Flle geben, in denen vielleicht eine Rckkehr denkbar wre, doch fr die deutschen Juden als Gesamtheit kann sie nicht in Frage kommen, wie es ja auch kaum ein Wiedererstehen eines jdischen Gemeindeund Kulturlebens in Deutschland geben kann! Gewiss werden ein370

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Eine Botschaft von Leo Baeck

zelne Gemeinden, hier und da fortexistieren, doch die nhrende Humusschicht ist nicht mehr vorhanden. Ist nach Ihrer berzeugung und nach Ihren Beobachtungen der Antisemitismus in den Deutschen unausrottbar eingewurzelt, und nicht etwa nur in der Jugend? […] Die Antwort hierauf ist nicht leicht zu geben. Die ltere Generation der Deutschen, jene ber 40 Jahre, hat nicht selten sich anstndig benommen. Doch die Jngeren, und namentlich die Hitler-Jugend, war durch und durch verrottet und pervertiert. Sie ist so verdorben, dass ich nicht sehe, wie Re-Education hier noch helfen kann. Eine Neu-Erziehung der Deutschen hat eigentlich nur Zweck bei den Kindern unter sechs Jahren. Sie ist jedenfalls in meinen Augen das grosse und dornige Problem der deutschen Frage. […] Ob ich je einen Deutschen habe von den Judengreueln abrcken oder dagegen protestieren sehen? Ein ffentlicher Protest war natrlich nicht mglich. Aber ich weiss positiv und kenne eine ganze Anzahl Flle, in denen sowohl Angehrige des Adels und der Arbeiterkreise ihre Emprung vorsichtig geussert haben, doch nie die brgerliche Mittelschicht des deutschen Volkes! Der Mittelstand, allen voran die Universittskreise, haben meist keinen Finger gerhrt oder je ein Wort der Missbilligung gewagt. Wie steht es mit Ihrer angeblichen Ladung als Zeuge zum Nrnberger Kriegsverbrecher-Prozess? Ich habe hiervon nur durch Prof. Weizmann 1 gehrt […] jedenfalls ist bisher an mich noch keine Vorladung ergangen. 2 Sollte sie erfolgen, werde ich ihr natrlich Folge leisten. Auszug aus »Gesprch mit Leo Baeck«. Aufbau. 21. Dez. 1945. S. 1-2.

* Eine Botschaft von Leo Baeck 1. The history of the Jews in Germany – a history of some 1500 years – has come to an end. The cause is not merely an external one; it is not due solely to the fact that Germany lies defeated. The real cause is rather what has been endured and experienced during the past 12 years. There has been too much inner destruction to permit of the re1. Chaim Weizmann (1874-1952). Chemiker und Fhrungspersnlichkeit der zionistischen Bewegung. Spter der 1. Prsident des Staates Israel. 2. Baeck wurde nicht vorgeladen.

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storation of any true spiritual relationship to the German nation, to the German people. Even those Jews who experienced, often in a touching manner, helpfulness, loyalty, and self-sacrifice from individual Germans, and are filled with the desire to show their gratitude for it, realize this. A moral gulf has split us off from the German people. The whole nation participated actively in the crime against the Jewish people, took pleasure in it and sought to derive benefit from it, or condoned it and would have applauded the criminals had they been victorious. Above all, the spiritual leaders either abetted or condoned it, foremost among them the universities. The entire German soil has been desecrated, and many years will have to elapse before the crime is expiated. The few good, decent, and morally courageous Germans who sympathized and suffered with us will certainly feel this as we do. 2. There are a few thousand Jews in Germany today: some who stayed there as fathers and mothers of partly Jewish children, some who have been concealed there, and others who have returned there since the day of liberation. Those who have returned to Germany are largely partners of mixed marriages who had in fact no wish to return to Germany, but rather to their families. There are also among them some who still hoped to rescue a few remnants of their possessions, and even some who sought a place there where they might rest, since no other place seemed open to them. But so far as it is possible to see today, and from the Jewish viewpoint, they form a dying group. It is most unlikely that a new chapter of Jewish history can issue from these people. 3. This group of people, however, should not be ignored. Indeed, following the great losses which the Jewish people has sustained, every single group, no matter how small, is of importance to the whole. It is here that B’nai B’rith lodges could render valuable service, by enabling many people to gain a new support from them. Among those who have remained or returned there is a number of B’nai B’rith brethren in whom the spirit of the lodges is still alive. In a few centers – e. g., Berlin, Hamburg, Frankfurt, and maybe a few more towns – it might be possible to create or restore B’nai B’rith lodges. They could become Jewish centers there, and fulfill an important task by affording both a spiritual and intellectual home for these people. Auszug aus »A Message from Rabbi Leo Baeck«. National Jewish Monthly [eine Publikation des Ordens B’nai B’rith in den Vereinigten Staaten] 60 (Jan. 1946): S. 158-159.

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Brief an Constantin Cramer von Laue in Hildesheim London, 16. Juni 1946 Sehr verehrter lieber Herr von Cramer! 1 Herzlichste Freude und Dankbarkeit empfand ich, als vor wenigen Tagen Ihr Brief vom 25. April zu mir kam. 2 Ich hatte so oft an Sie gedacht, und meine innigen Wnsche waren zu Ihnen hingezogen, und ich bin nun so dankbar, dass ich weiss, dass Sie geborgen sind, per tot discrimina rerum, 3 und im Kreise der Ihren leben drfen, auf vertrautem Platze. Oft habe ich auch an unser letztes Zusammensein in Berlin im Herbst 1942 gedacht, an das, worber wir sprachen, worin unsere Gedanken sich begegneten. Ich hatte damals keinen Zweifel an dem Ausgange des Krieges – meine Fragen bewegten sich nur um die Dauer –, und meine Sorge wandte sich den Tagen und den Menschen nach dem Kriege zu, den Menschen vor allem; denn der Mensch ist doch die strkste, vielleicht die einzige Realitt auf Erden. Wie um Ihretwillen bin ich auch um der Zukunft willen dessen so froh, dass Sie auf Ihrem Platze stehen. In Deutschland ist jetzt ein Vakuum, eine Leere zwischen den Zeiten. Alles wird davon abhngen, welche Menschen und welche Krfte, welche zuerst, es ausfllen werden. Ich habe hier, und auch drben in America, wo ich im Dezember und Januar war, oft im vertrauten Kreise und auch in der ffentlichkeit davon erzhlt, wie ich, und gleich mir andere, Treue und Gte und sittliche Tapferkeit von Menschen, die durch die Scheidewnde von uns abgeschieden werden sollten, erfahren haben, und ich fgte hinzu, dass es mir ein inniger Wunsch, eine Sehnsucht fr meine Zukunft ist, diesen Menschen Dankbarkeit zu beweisen. Ich habe immer gefunden, wie das zu allen denen, die mich hrten, sprach – umso mehr, da sie wussten, was die Grausamkeiten jener Jahre der Bosheit und der Feigheit mir genommen und zerstrt haben. Wir sollten nie aufhren, an die Menschen zu denken, die dessen wahr1. Constantin Cramer von Laue. Intellektueller und Cousin Hans-Hassos von Veltheim-Ostrau (siehe unten Baecks Korrespondenz mit Veltheim-Ostrau), in dessen Hause Baeck ihn getroffen haben mag. Vor dem Krieg war Cramer an der Universitt Knigsberg wissenschaftlich ttig, whrend des Krieges diente er in der Wehrmacht und besuchte Baeck im Jahre 1942 einige Male in Berlin. 2. Cramer hatte an Baeck geschrieben, nachdem er einen Vortrag Baecks im Deutschen Rundfunk gehrt hatte. 3. Aus Virgils neis 1.205. Sinngemß: »nach so viel Kummer und Sorgen«.

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haft wert sind, dass wir an sie denken. Von ihnen kann und darf die Zukunft ausgehen. Erst von da an erhlt die grosse Pflicht zu strafen – sie ist heute ein Gebot – ihren Sinn: es soll der Boden fr die Saat, auch durch das Ausroden, geschaffen werden. Der Gedanke an den neuen Boden und an die Saat soll hier der entscheidende und massgebende sein. Das ist es, was ich in England und America immer zum Ausdruck zu bringen suchte und suche. Und auch das bemhe ich mich immer auszusprechen, dass Recht und Gerechtigkeit nur Menschen, und dass heisst doch: Individuen, vor sich sehen drfen, dass gewissermassen eine Gefahr des Collektivismus hier vermieden werden muss. Man hat so lange immer nur von Nationen und Nationalitten, um von den Rassen und Herden ganz zu schweigen, gesprochen. Man sollte beginnen, an die Menschen zu denken und fr sie zu denken. Alle Religion jedenfalls beginnt damit und sicherlich auch jede Erneuerung in den Vlkern. Herzlich danke ich Ihnen auch dafr, dass Sie mir von Ihren Jahren, die Sie zu bestehen hatten, erzhlt haben. Ich habe alles, jetzt noch, seelisch miterlebt. Was haben Sie doch zu bestehen gehabt, und wie sind Sie gefhrt und beschtzt gewesen! Mge es weiterhin auf Ihren Wegen Ihnen so beschieden sein! Sie erzhlen auch von Hildesheim und haben Erinnerungen in mir erwachen lassen – ich war zweimal fr kurze Zeit dort. Wie ist das Schicksal des Rosengartens und Kreuzganges? Ist die gyptische Sammlung gerettet? Schreiben Sie mir recht bald wieder einmal. Sie schenken mir damit eine Freude. Von mir darf ich vor allem dankbar berichten, dass ich gesund und wohlauf bin, dankbar vor allem dafr, dass ich mit meiner Tochter, meinem Schwiegersohn und meiner Enkelin, die auf mein Drngen 1939, schon am Anfang des Jahres, nach England gezogen sind, hier vereinigt bin. Eine Flle der Arbeit ist hier an mich herangetreten, und es ist gut so. Leo Baeck Institute, New York, AR 4/34.

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Referenz fr Hans Walz To Whom It May Concern Director Hans Walz, 1 the Managing Director of the Boschwerke in Stuttgart, has been well known to me for years. In all this time he has gained my sincerest esteem as a man of an upright disposition, a man of inmost moral courage, of a straight and highly reliable character. In the years after 1933, when this was connected with a certain danger, Director Walz carried on and cultivated a cordial relationship to me. I was at that time President of the »Reichsvertretung der Juden in Deutschland« (Reich’s Association of the Jews in Germany) which comprised all Jewish Congregations and Organisations in Germany. Director Walz always endeavoured to assist me in the tasks which my duty brought, by giving his advice and, not rarely, his help. He also has given from time to time financial help to the Institution which I had to direct. Besides he tried to be of assistance to individual Jews or to support them, and so for many of them, it was at the end often due to him that a way to safety and liberty was found. I often exchanged views with and spoke of my aims to Director Walz and in the frank discussions which always ensued, I found again and again that, deep in his innermost being, out of genuine conviction, he rejected the terrible rgime, which came upon Germany in 1933, and that it was his sincere belief that Germany could only be saved if the country and the German people would be freed from these powers of the depths. It was out of a strong and pure religious feeling that he came to this certainty. I myself had been brought to the Concentration Camp Terezin at the beginning of 1943 from where I was liberated in May 1945 and found residence in this country. When I learned here that Director Walz had been suspected of a relationship to National Socialism and was being kept in custody, I thought it to be my duty – and I have it at heart to do so – to write these lines to give evidence for Director Walz’s purity of character and his rejection of National Socialism. London, 3rd July 1946 Bosch Archiv, Stuttgart. RBA 13/46.

* 1. Hans Walz. Geschftsfhrer der Robert Bosch GmbH., Stuttgart. Untersttzte besonders durch finanzielle Mittel der Bosch Werke die deutsche Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten.

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Brief an Hans Walz London, 1. Juli 1948 Sehr verehrter Herr Waltz, 1 empfangen Sie meinen aufrichtigen Dank fr Ihren freundlichen Brief. 2 Es war fr mich eine ganz besondere Freude, von Ihnen unmittelbar zu hren. Ich habe oft einmal an Sie gedacht und jede Nachricht, die mir von Ihrem Ergehen Gnstigeres berichten konnte, war eine willkommene. Meine herzlichen Wnsche sind bei Ihnen. Ich hatte jede Gelegenheit benutzt, so noch im vergangenen Winter in Washington, auf Ihre Persnlichkeit hinzuweisen, und ich bin berzeugt, dass die Kraft und die Reinheit Ihrer Gesinnung und die Lebendigkeit Ihres Knnens und Ihrer Erfahrung noch Bedeutungsvolles fr den Wiederaufbau bedeuten wird. Oft habe ich an die Stunden des Zusammenseins mit Ihnen, die mir in vergangenen Jahren geschenkt waren, und an die Unterhaltungen, die ich mit Ihnen hatte haben knnen, zurckgedacht. Ich hoffe zuversichtlich, dass es mir geschenkt sein wird, Sie wiederzusehen und mit Ihnen ber so manches, was uns gemeinsam bewegt, zu sprechen. Bosch Archiv, Stuttgart. RBA 13/46.

* Juden und Deutsche Haben Sie vielen Dank fr die so freundlichen Worte, die Sie mir schrieben. Besonderen Dank weiss ich Ihnen, dass Sie mir die DenaMeldung vom 30. September bermittelt haben. Sie enthlt eine bedenkliche Verkndung, und ich habe bereits auf einer Pressekonferenz in Frankfurt am Main am 14. Oktober Anlass genommen, sie richtig zu stellen. Was ich in Hamburg in Beantwortung von Fragen gesagt habe, ist folgendes: Ich wurde gefragt, wie ich ber Kollektivschuld dchte. Meine Antwort war, dass man daran vielfach zweifeln knne, ob es eine

1. Siehe oben. 2. Nicht erhalten geblieben.

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Antwort an Bonn

Gesamtschuld gebe, dass aber daran kein Zweifel bestehen drfe, dass eine Gesamtverantwortung gelte. Ich wurde ferner gefragt, wie ich ber die Wiedergutmachung dchte. Meine Antwort war, sie sei nicht zuerst eine Frage der Gelder, sondern sie sei zuerst eine Frage des Rechtes; an ihr entscheide es sich, wie sich das deutsche Volk zum Recht stelle. Ich wurde des weiteren gefragt, ob ich dem deutschen Volke zu verzeihen bereit sei. Meine Antwort war, dass Verzeihung etwas sei, was sich vom einzelnen Menschen zum einzelnen Menschen hin vollziehe, und dass ich, persnlich, denen, die mir persnlich Bses getan haben, zu verzeihen bereit sei. Aber einem Volke zu vergeben, das stehe Gott allein zu; es wre anmassend, wenn ein Mensch sich hier das Urteil, das nur Gottes sei, zusprechen wollte. Ich fgte hinzu, dass in schweren Tagen mir, und ebenso anderen Juden, von Deutschen Gutes getan worden sei, und dass es mein innigster Wunsch sei, Dankbarkeit zu beweisen; der Jude sei immer dankbar gewesen. Ich wurde hier auch gefragt, wie ich ber die Zukunft des deutschen Volkes dchte. Meine Antwort war, dass mich in vergangenen Tagen mit dem Worte Deutschland die Namen Lessing, Kant, Herder, Schiller, Goethe, Humboldt verbunden htten. Wenn man an diese Namen denke, dann mchte man fast sagen, dass die, welche jene unsagbaren Greuel verbt haben, sie und ihre Helfer, gar nicht Deutsche heissen drften, sondern eben nur Nazis, und nichts anderes seien; auch das sei eine Frage an das deutsche Volk. Die Redaktion des Aufbau bat Leo Baeck um diese Stellungnahme, nachdem sie von verschiedener Seite Zeitungsausschnitte deutscher Zeitungen erhalten hatte, nach denen Baeck auf seinem ersten Deutschlandbesuch geußert haben sollte, er habe den Deutschen verziehen. Aufbau. 19. Nov. 1948. S. 3.

* Antwort an Bonn Viele von uns fhlten sich ergriffen, als sie lasen, wie in Bonn die Mnner und Frauen des deutschen Bundestages aufstanden, um feierlich Zeugnis dafr abzulegen, dass das deutsche Volk nun entschlossen sei, durch Wiederherstellung und durch Erziehung die »furchtbaren Verbrechen« wieder gutzumachen, die es an uns Juden begangen hatte. Und in manchem wurde gewiss zugleich die tiefe 377

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Nach der Shoa – Das neue Deutschland und seine Vergangenheit

Bewegung wieder lebendig, die ihn erfasst hatte, als er, damals oder spter, hrte, wie sich das englische House of Commons voller Trauer und wie zu einem feierlichen Gelbnis, nach dem Bericht des Ministers Eden ber die Greuel der Gaskammern schweigend erhoben hatte. Nachdenklich fragen sicherlich manche: War es eine politische Erwgung oder war es eine moralische Entscheidung, die jetzt dort in Bonn sprach – jetzt endlich, und jetzt in einer Einmtigkeit? Politik lsst sich gern Zeit, denn sie wartet auf die gelegene Stunde und ihre Ntzlichkeit. Moral ist alsogleich entschlossen und handelt rasch, sie weiss, dass ein Gebot auf sie wartet. Doch wie immer das sei, wir sollten das, was jetzt geschah, bereitwillig anerkennen. Wir drfen die Einwirkung nicht unterschtzen, die auch die Politik auf die Moral ausbt. Schwankende Politik schwcht die Moral, verbrecherische Politik zerstrt sie mehr und mehr, wohingegen eine rechtschaffene und darum stetige Politik die Moral im Volke strkt und eine ffentliche Moral zu schaffen hilft. Darum knnen wir das, was in Bonn uns angeboten wurde vertrauensvoll begrssen, was immer auch im Grunde dort aus diesem oder jenem sprach. Es war eine gute Stunde, eine Stunde voller Verheissung. Ein Boden, so hoffen wir, ist jetzt bereitet worden, dass nicht nur einzelne Juden und einzelne Deutsche fr sich zusammenkommen, so segensvoll das war und bleibt, sondern dass Gesamtheit und Gesamtheit einander begegnen und in einer gemeinsamen Sprache miteinander reden, von dem Bewusstsein erfllt, dass sie auch um der Menschheit willen so zueinander sprechen. Eine seelische Verstndigung ist die Aufgabe, die hier gestellt ist. Ein Zweifaches, das aber im wesentlichen eines und dasselbe ist, muss hierin begriffen werden. Das Erstere ist, dass unser Anspruch auf Wiedergutmachung, dieser so wichtige, unerlssliche und dringliche Rechtsanspruch verwirklicht werde, dass die Rechtsatmosphre wieder hergestellt und so die Luft gereinigt sei, so dass wir alle in ihr frei atmen knnen. Und das Andere ist, dass der Weg wieder erkannt wird, auf dem wahres Deutschtum und wahres Judentum sich aneinander wenden knnen. Ehe der schwarze Tag ber Deutschland hereinbrach, hatten sie es begonnen. Vlker und Gemeinschaften knnen einander finden. Es gibt keine Nation und keine Gesamtheit, die ganz sauber und die ganz unsauber ist. berall sind die Guten und sind die Haltlosen, diese Schlechten, und sind die Bsen. Erst das unterscheidet die Vlker und die Gemeinschaften, wie breit die Schicht der einen und der anderen 378

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Auszug aus einem Interview in Kopenhagen

hier oder dort ist. Die Zahl und Strke der einen oder der anderen gibt den Vlkern ihren Wert oder ihren Unwert, und die Geschichte zeigt, wie nur an dem Sinn fr das Recht sich die Wrde eines Volkes, diese seine beste Kraft, entwickelt. An dem Verstndnis fr das Recht scheiden sich die, welche Wrde besitzen von den Wrdelosen, scheiden sich die, deren Moral sich auch in der Politik offenbart, von denen, welchen auch Moral nur ein gelegentliches Instrument fr ihre Politik ist. Auf dem Boden des Rechts knnen Menschen und Gemeinschaften offen zueinander hintreten, um dann einander zu finden. Unsere Antwort auf das, was in Bonn verheissen wurde, ist darum eine des Vertrauens, der Bereitschaft und des Willens zur Menschheit. Aufbau. 19. Okt. 1951. S. 11.

* Auszug aus einem Interview in Kopenhagen Ich habe Deutschland so sehr geliebt, daß mein Herz brechen knnte. Nicht nur seine Menschen, seine Sprache und seine Kultur, sondern auch seine Landschaft. Nirgend sonst sind die Felder so grn, nirgends gibt es einen herrlicheren Duft. Und wo gibt es schnere Blumen und herrlichere Wlder? Als ich aber 1946 1 und auch in diesem Jahre [1952] in Deutschland war und bewundern mußte, was ein fleißiges und strebsames Volk im Wiederaufbau leistet, sagte ich mir dennoch: Dieses Land ist nicht lnger mein Land. Es ist fremder fr mich als etwa Dnemark. Mein Deutschland ist untergegangen fr immer … Erich Lth. Deutschland und die Juden nach 1954. Vortrag in Hamburg. 19. Sept. 1957.

1. Anscheinend ein Versehen Baecks. Sein erster Deutschlandbesuch nach dem Krieg fand im Herbst 1948 statt.

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Das Erbe des deutschen Judentums Nach dem Krieg ließ sich Baeck bei seiner Tochter und ihrer Familie in London nieder, das er in den ihm verbleibenden elf Jahren bis zu seinem Tod im Jahre 1956 als sein Zuhause ansah. Erneut bernahm er aktive Fhrungsrollen in verschiedenen jdischen Organisationen und setzte seine Arbeit als Lehrer und Gelehrter fort. Zu seinen Aufgaben whrend dieser letzten Jahre seines Lebens gehrte es, fr die Interessen der deutsch-jdischen Diaspora einzutreten und das geistige Erbe des Deutschen Judentums am Leben zu erhalten. Vor und whrend des Krieges hatten die Nationalsozialisten eine große Anzahl an jdischen Bchern und zeremoniellen Kunstgegenstnden von jdischen Institutionen und Privatpersonen konfisziert. Nach dem Krieg wurden Organisationen gegrndet, die diese kulturellen Schtze an berlebende jdische Institutionen in verschiedenen Teilen der Welt verteilen sollten. Baeck glaubte fest daran, daß wenigstens ein Teil der Sammlung, die aus dem Besitz der deutschen Juden stammte, den Institutionen zukommen sollte, die dem Andenken des deutschen Judentums gewidmet waren. In London war von deutsch-jdischen Flchtlingen eine Society for Jewish Studies ins Leben gerufen worden, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die deutsch-jdische Tradition der Erwachsenenbildung fortzufhren, und Baeck setzte sich dafr ein, Bcher fr ihre Bibliothek zu erhalten. (Nicht lange danach, im Jahre 1955, richtete eine neue Institution, die bald darauf den Namen Leo Baeck Institute erhielt, eine große Bibliothek in New York ein, die der Erhaltung und dem Studium des deutsch-jdischen Erbes dienen sollte). Baecks Einsatz fr die deutsch-jdischen Flchtlinge und berlebenden, der zu der Wiedererlangung von Bchern und dem Erhalt von Reparationszahlungen fhren sollte, zeigt eine andere Seite seiner Persnlichkeit: die des Partisanenfhrers, der sich mit anderen jdischen Fhrungspersnlichkeiten um das stritt, was er als den rechtmßigen Anteil der deutschen Juden an ihrem materiellen Erbe ansah. In seinen Reden und Schriften erinnerte Baeck nun hufig auch an das geistige Erbe des deutschen Judentums, das fr ihn aus einer Kombination von drei Elementen bestand: Judentum, dem Geist des klassischen Deutschlands und europischer Humanitt. Dazu kam, daß die deutschen Juden ein bemerkenswertes Talent fr kommunale Organisation, fr jdische Bildung und fr Wohlttigkeit als Ausdruck religiser Frmmigkeit entwickelt htten. Sie htten außerdem einen festen Glauben an das Recht entwickelt, den sie auch im Verlaufe dessen Niedergangs im nationalsozialistischen Deutschland behalten htten. Er lobt besonders die Tapferkeit der deutsch-jdischen Frauen unter 380

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Brief an Salo Baron in New York

den schweren Umstnden und die nicht-jdischen kleinen Leute, die, anders als die brgerliche Mittelschicht, nicht Opfer der nationalsozialistischen Ideologie geworden seien. Was aber die meisten Deutschen anbelange, so ußert sich Baeck in einer Rede, habe er frh erkannt, daß das »immer zum Gehorsam bereite deutsche Volk« sich den Nazis nicht widersetzen wrde, und er htte sich deshalb zur Prioritt gesetzt, junge jdische Menschen so schnell wie mglich aus Deutschland heraus zu bekommen. Es sei eine besondere Tragdie, daß das deutsche Judentum zerstreut und zerstrt wurde, gerade als die »kulturelle Entwicklung [der deutschen Juden] einer Hhe entgegen ging«. * Brief an Salo Baron in New York London, April 12, 1949 Dear Dr. Baron: 1 The representatives of the Council of former German Jews 2 have taken part in the decisions of the Board of Directors of Jewish Cultural Reconstruction, Inc., with regard of the disposition of Jewish cultural property in Germany and have approved of the recommendations of the Advisory Committee. They have worked towards a speedy solution of this complicated task and refrained from burdening it with separate claims. Now, that the time of implementation has arrived, and the actual distribution of cultural property has gone under way, we should like to present to you the views of the former German Jews and their reaction to the decisions of the Board of Directors of Jewish Cultural Reconstruction, Inc. These views are shared by the Council of former German Jews in London and were expressed as recently as April 7th at a meeting of the American Federation of Jews from Central Europe, which the undersigned attended. There is a strong feeling amongst them, that the former German Jews who constitute an[tab]articulate element in the United States, England and South America ought to receive a share in the 1. Salo Wittmayer Baron (1895-1989). Fhrender Historiker des Weltjudentums, unterrichtete an der Columbia University in New York. Er war Prsident der Jewish Cultural Reconstruction, welche es sich zur Aufgabe machte, jdische Bibliotheken und Kunstobjekte, die von den Nazis konfiszierte worden waren, fr jdische Institutionen wiederzugewinnen. 2. Bezieht sich anscheinend auf das Council of Jews from Germany, welches deutsch-jdische Flchtlingsgruppen in den Vereinigten Staaten, Israel und England vereinte. Baeck diente als Prsident dieser Organisation.

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cultural property, which at one time belonged to their congregations and institutions. Nor is the claim a merely sentimental one. It expresses the fact that their historical bonds still exist and with them a deeply felt consciousness of their heritage. It continues to live in their congregations and institutions, which already exist or are in the process of formation. Their interest, and the interest of those who work in the field of Jewish research, can be clearly defined. It comprises the area of what is known as Wissenschaft des Judentums, the publications of the Akademie der Wissenschaft des Judentums, 1 and of the Rabbinical Seminaries. The decisions arrived at by the Board of Directors would in our opinion not stand in the way of giving consideration to the interests presented in this letter. It is understood, that we would open the facilities necessary to receive those books. It is also understood, that we make this suggestion on the assumption that our wishes could be acceded to without tampering with the normal procedure of distribution. Finally, we should like to call your attention to the following: The example of Mannheim shows that there are still collections of Jewish books in Christian hands. We strongly feel that a successful search for Jewish cultural property in libraries and monasteries can be undertaken only by people who are familiar with the scene, and who are well acquainted with the personalities involved. Sammlung: American Federation of Jews from Central Europe. Archiv des Zentrum fr Antisemitismusforschung, Technische Universitt Berlin. Box 17, Folder 17.

* Brief an Hermann Muller in New York London, 18. Mai 1949 Lieber Herr Dr. Muller, 2 Haben Sie vielen Dank fr Ihren Brief vom 12. Mai. Mein treuer Freund Sholem 3 ist berall und immer bedacht, was wir ihm ja auch 1. Die Akademie fr die Wissenschaft des Judentums, 1919 in Berlin gegrndet, hatte wichtige Werke zur jdischen Forschung verffentlicht. 2. Hermann Muller (1893-1968). Executive Director der American Federation of Jews from Central Europe von 1943 bis 1962. 3. Gershom Scholem (1897-1982). Forscher der jdischen Mystik, lebte ab 1923 in Jerusalem, wo er ab 1925 an der Hebrischen Universitt lehrte. Siehe unten Baecks Briefe an ihn.

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Brief an Georg Landauer in Jerusalem

nicht verargen knnen, alles fr die Jerusalemer Bibliothek zu verlangen; aber ich glaube, dass die Ansprche, die wir vertreten, wohl berechtigt sind und dass sie in keiner Weise den wohl begrndeten Ansprchen der Jerusalemer Bibliothek Abtrag tun. Den Einwnden von Professor Sholem kann entgegengehalten werden: 1) dass niemand voraus wissen kann, ob eine Institution wie z. B. die hiesige Society for Jewish Studies 1 kurzlebig oder langlebig sein wird, und dass jedem Bedenken, das er haben knnte, und jedem Pessimismus damit Rechnung getragen werden knnte, dass eine Bestimmung getroffen wird, dass die Bcher, welche der Institution berwiesen worden sind, bei dem Aufhren dieser Institution an die Universitt in Jerusalem fallen sollen; 2) die fr Amerika geplante Bibliothek kann dadurch am besten in die Existenz gerufen werden, dass ihr erforderliche Bcher zugewiesen werden und es handelt sich auch fr sie um Bcher, die fr Jerusalem kaum von wesentlicher Bedeutung sind. Auch hier kann die Klausel eingefgt werden, dass bei Aufhren der Bibliothek alle in Frage kommenden Bestnde nach Jerusalem zu berweisen seien. Ich glaube nicht, dass, falls Professor Sholem noch weitere Einwendungen erhebt, es schwer sein wird, diese zu widerlegen, bezw. dem eventuell berechtigten Kern Rechnung zu tragen. Sammlung: American Federation of Jews from Central Europe. Archiv des Zentrum fr Antisemitismusforschung, Technische Universitt Berlin. Box 17, Folder 17.

* Brief an Georg Landauer in Jerusalem Cincinnati, 7. Februar 1950 Lieber Herr Dr. Landauer, 2 Aufs herzlichste danke ich Ihnen fr Ihren Brief, der mir hierher nachgeschickt worden ist. Ich habe mich aufrichtig gefreut, wieder 1. Baeck war Prsident und Prinzipal der 1947 gegrndeten Gesellschaft, vor der er auch regelmßig Vorlesungen hielt. Der Bibliothek der Gesellschaft gelang es, jdische Bcher zu erlangen, die sich vor dem Krieg in jdischem Besitz befunden hatten. 2. Georg Landauer (1895-1954). Leitend in der zionistischen Bewegung und Mitbegrnder der Reichsvertretung der deutschen Juden. 1934 Auswanderung nach Palstina.

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ein paar Zeilen von Ihnen zu erhalten, und ich htte nur gewnscht, dass Sie etwas ber Ihr und Ihrer Frau persnliches Ergehen und ber das Ergehen in Lande geschrieben htten. Aber das lsst sich ja nachholen. Sehr dankbar bin ich Ihnen, dass Sie mir eine Abschrift des Briefes von Dr. Baron 1 gesandt haben. Ich wusste zuerst nicht recht, ob ich mich darber rgern oder darber lachen sollte. Ich habe das letztere vorgezogen, und Sie werden begreifen, warum, wenn ich Ihnen das nachfolgende mitteile: Dr. Salo Baron wurde im Jahre 1895 in Tarnow, Galizien, geboren. Er studierte in Wien, erwarb dort am Jdischen Theologischen Seminar seine Rabbinerwrde und kam im Jahre 1926, d. h. mit 31 Jahren nach den United States. Sie sehen also, welche Mayflower ihn hierhergebracht hat. Erwhnen mchte ich auch, dass es die »Monatsschrift fr Geschichte und Wissenschaft des Judentums« 2 war, die ihm die Mglichkeit gewhrte, seine ersten Arbeiten in seiner deutschen Sprache zu verffentlichen. Gergert hatte ich mich allerdings wenige Wochen, bevor jener Brief geschrieben war, ber etwas anderes: Ich nahm an einer Sitzung der Jewish Cultural Reconstruction Corporation teil. Die Richtlinien ber die Verwendung der in Offenbach gelagerten Bcherbestnde, die von Dr. Baron, vielleicht mit Hilfe von Dr. Starr 3 aufgestellt wurden, machten den Eindruck, dass die Autoren bezw. der Autor, von der Voraussetzung ausgingen, dass diese Bibliotheken einfach in das Eigentum der amerikanischen Juden bergegangen seien, weil sie in der amerikanischen Zone lagerten. Nur mit Mhe habe ich es durchsetzen knnen – gegen eine Front, die, wie blich, aus Baron und Genossen und den vereinigten Orthodoxen bestand – dass wenigstens ein Teil der Bcher fr die in England bestehenden Organisationen, in denen das geistige Erbe der Jdischen Wissenschaft aus Deutschland verwaltet wird, berwiesen wurde. Es ist mir sehr wichtig, dass ich diesen Brief nun besitze. Ich werde eine Gelegenheit finden, ihn, bezw. den Briefschreiber zu charakterisieren. 1. Siehe oben. 2. Die im Jahre 1851 in Breslau gegrndete Monatsschrift fr Geschichte und Wissenschaft des Judentums erschien bis 1939 und war die fhrende wissenschaftliche Zeitschrift auf dem Gebiet des Judentums. 3. Joshua Starr (1907-1949). Als Sekretr der Commission for Jewish Cultural Reconstruction arbeitete er von 1947 bis 1949 an der Wiedererlangung religiser und kultureller Wertgegenstnde, die die Nazis geplndert hatten.

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Brief an die JRSO

Ich bleibe bis Ende Mrz hier und will vor Pessach wieder in London sein. Nachlaß E. G. Lowenthal. Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz. B2, 315.

* Brief an die JRSO New York, March 12, 1954 Gentlemen, Five years ago, when JRSO 1 was established, we eagerly looked forward to a constructive co-operation with JRSO. We strongly hoped that we would be allowed to help in meeting the honest and reasonable issues. The funds which were to be disposed of were funds earned by the parents, the ancestors, and the relatives of those Jews who had lived in Germany and were granted refuge in various countries. These people who through their industry and talent had acquired these funds had a very fine record of social feeling and were always prepared to help Jews in distress, regardless where they lived. From the beginning we stressed the point that these funds should, nevertheless, be used for the benefit of all Jews who were in need. We are conscious of the obligation to follow the example established by the Jews in Germany time and again. We only requested that some part of the money be earmarked for the refugees from Germany and for those who had remained in Germany or for some reason had returned there. The justification of this request seemed to be self-evident to us. From year to year, however, every reasonable request that we placed before the Board of JRSO was in some way or other put off. This melancholy experience lasted for more than four years, but we kept on hoping that finally we should meet with some reasonable understanding. Once an amount of $ 200,000 was granted in the realm of the Claims Conference. 2 It was granted to an American institution, Help and Reconstruction, Inc.; nothing has hitherto been given, in spite of 1. Die 1948 gegrndete Jewish Restitution Successor Organisation beantragte die Rckfhrung ehemals jdischen Besitzes in Deutschland, dessen offizielle Erben umgekommen waren, um ihn bedrftigen Flchtlingen zukommen zu lassen. 2. Die Conference on Jewish Material Claims against Germany wurde 1951 ins

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our urgent demands, to former German Jews in other countries, in spite of the emergencies that prevailed here and there. After we had submitted a detailed memorandum outlining our position in the meeting of JRSO of November 30, 1953, we entered the last meeting expecting that finally the reasonable grant which we had requested and waited for for more than four years, would at last be made. Yet the method of evading the real issue was applied again, and we feel deeply disappointed and disillusioned. Looking back, we think that we are entitled to say that we have shown a great deal of patience and a steady wish to co-operate honestly. But now we do not see any possibility or any hope that our justified requests based on our strong title will be recognized. To our profound regret we are bound to withdraw herewith from JRSO. Baeck unterzeichnet hier im Namen des Council for the Protection of the Rights and Interests of Jews from Germany. »Dr. Baeck’s Letter to JRSO«. AJR Information 9.4 (April 1954): S. 2.

* Brief an Monroe Goldwater in New York 28 May 1954 My dear Mr. Goldwater, 1 Once more, I wish to thank you sincerely for your letter of April 13th. Meanwhile I have consulted all those who share with me the responsibility; they are people in different countries and of different trends of thought. We have considered and discussed each question, and quite especially such arguments as advanced by you. There was agreement that the following points should be definitely stressed: 1) JRSO is not the owner but the trustee of the money that accrues to it. Therefore, JRSO cannot dispose of it autonomously but is bound to keep to the terms on which it was established. These terms show our title. 2) For nearly five years we have been waiting to have this title acknowledged. Time and again we had to put up with postponement after postponement that could look like obstruction. When lastly a Leben gerufen, um die Erlangung und Distribution der Restitutionsgelder von der Deutschen Regierung zu koordinieren. 1. Monroe Goldwater war Mitarbeiter der Jewish Restitution Successor Organisation (siehe oben).

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»Die Idee bleibt«

promise was made it was wrapped up in reservations and restrictions so that, after all, it seemed difficult to place full confidence in it. 3) It is on record that from the beginning and ever afresh, we did emphasise that there is the Jewish people, and that the bulk of the money should be appropriated for the benefit of the great needs and tasks of the Jewish people. What we have claimed on the strength of the special task which was entrusted to us, scarcely amounts to one tenth of the whole. 4) This special task was not picked out by a desire for peculiarity. A tragedy has assigned it. We did not search for it. The lot fell to us, we have to face and to fulfill the task. These are the points, and I do not wish to argue here about details. We have been obliged for the time being to choose freedom of action. But all of us are longing for honest conciliation – of old we have proved to be advocates of true Jewish unity. I think, my dear Mr. Goldwater, that a round table conference should be convened, the sooner the better, and best in England, in which, on our side, members of our »Council« 1 from America, Israel and England would participate. There some problems that did arise in another place, could also be kept in view, and, so I hope, be settled too. May I repeat: True Jewish unity is our aim. Sammlung: American Federation of Jews from Central Europe. Archiv des Zentrum fr Antisemitismusforschung, Technische Universitt Berlin. Box 13, Folder 28.

* »Die Idee bleibt« »Weil des Liedes Stimmen schweigen Von dem berwundenen Mann, So will ich fr Hektorn zeugen.« Es gab ein Deutschland, wir alle wissen es, welches der Welt zugehrte, und von der Welt aufgenommen worden war,– das Deutschland der Klassik, dieser Zeit der großen Dichter, Dichter der Worte und der Tne und der großen Denker, Denker des Geistes und der Hoffnung. Es war das Deutschland, von dem Thomas Carlyle zu England sprach und Ralf Waldo Emerson zu Amerika. Dieses 1. The Council of Jews from Germany (siehe oben).

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Deutschland hatte weithin Menschen erfaßt ganz wie das Frankreich der großen Revolution und das Italien des risorgimento, ganz wie das England Shakespeares und Newtons, Miltons und der anderen Kmpfer fr Freiheit, ganz wie das Amerika Washingtons, Jeffersons, Lincolns und derer, die ihnen folgten in der Bahn ihrer Idee. Uns Juden hatte dieses Deutschland mehr noch bedeutet. Denn es war das Land, von dem in dieser klassischen Zeit die große Forderung des Verstndnisses fr die Juden und des gleichen Rechtes fr die Juden ausgegangen war – dieses Deutschland Dohms 1 und Lessings, Herders und der Brder von Humboldt. Denn es war das Land, auf dessen Boden der Acker fr die Wissenschaft vom Judentum bereitet worden war, und mit dessen Sprache jdische Dichter und jdische Denker in neuer Zeit zuerst wieder sich offenbarten. Weithin sind Juden von diesem Deutschland ergriffen worden. Ganz besonders im Lande selbst ist dieser klassische Geist in die Seelen von Juden eingezogen, vor allem derer, die durch die Universitten gegangen waren; er ist in ihnen oft zur Begeisterung geworden. Er verhieß ihnen, daß sie ein Neues nun sein sollten: Kinder dieses Geistes und seines Landes und Kinder damit Europas. Und um das, wie sie meinten, ganz zu sein, waren so manche bereit, ja wie sie meinten, verpflichtet, mit ihrem ganzen Judentum oder mit Teilen von ihm einen Preis dafr, einen so oft von ihnen verlangten, zu erlegen. Es kann nicht hoch genug eingeschtzt werden, daß trotz alledem und inmitten von alledem sehr bald Juden, die sich dem Neuen, Großen innig erschlossen hatten, des unverußerlichen Wertes ihres Judentums und ihrer großen jdischen Geschichte bewußt geworden sind. Sie waren ihrer Wrde gewiß geworden, dessen gewiß, daß fr alles wahrhaft Geschichtliche, fr alles wahrhaft Große ihnen ihr Judentum den starken Boden der Kraft gab, daß hier nichts zu zahlen sei, weder mit ihrem Judentum fr den klassischen europischen Geist noch mit dem klassischen europischen Geist fr ihr Judentum. Sie sahen auch ein, wie das Beste, was jede Gruppe wie jede Individualitt dem großen Ganzen gewhren kann, ihre Besonderheit, ihre Eigentmlichkeit ist. Diese jdischen Mnner hatten auch mehr und mehr erkennen mssen, wohin Deutschland im Gange der Zeiten gefhrt wurde, sie haben es frher und haben es deutlicher erkannt als Menschen 1. Christian Wilhelm von Dohm (1751-1820). Setzte sich in seinem ber die brgerliche Verbesserung der Juden (1781) fr eine Reform des jdischen Status’ in Deutschland ein.

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anderen Glaubens und anderer Art im Lande. Denn das war doch die tragische Entwicklung, daß Deutschland sich von Europa und der Humanitt zu trennen anfing. Der Antisemitismus war zuerst das bestimmteste Symptom dieser Scheidung und wurde dann bald zu ihrer treibenden Kraft. Diese Mnner, das darf nicht vergessen werden, kmpften nun hier den dreifachen Kampf, den fr ihr Judentum, den fr das klassische Deutschland und den fr die europische Humanitt. Es waren gereifte Mnner, zu welchen die Erfahrungen und die Enttuschungen des Lebens gesprochen hatten, die sich zu diesem Kampfe entschlossen. Aber ein Kampf verspricht einen Bestand, nur wenn auch die Jugend in ihn eintritt. Es war darum bedeutungsvoll, und es hat seinen Platz auch in der Geschichte der deutschen Universitt, daß in einem tapferen Schritt, der Schaffung der ersten Jdischen K. C.-Verbindung, 1 dem bald Schritt um Schritt folgte, so daß die Schritte zum Wege wurden, jdische studentische Jugend sich der Aufgabe dieses Kampfes auftat. Ein Weg wurde gegangen, und das besagt zugleich, daß man geistig nicht stillstand, daß man einstige Irrtmer begriff, daß man immer wieder zulernte. Der Kampf hat mit der Niederlage geendet. Er hat mit der Niederlage geendet, damals als Deutschland, gegen den Widerspruch und unter dem Martyrium der Wenigen, endgltig die Trennung von Europa, von der Menschheit und der Menschlichkeit vollzogen hat, damals als die deutschen Universitten nicht nur vor dem Deutschland der Gewalt und der Niedertracht abdankten, sondern mit dienstbeflissener Raschheit zu ihm bergingen. Aber im Geistigen ist Niederlage keine Widerlegung, geschweige eine Vernichtung. Die Schlacht war verloren, aber die Idee ist geblieben. Auch die Idee gewinnt immer nur die letzte Schlacht. Die Idee bleibt, diese Idee, daß das Judentum, weil es ewiger Wert ist, nie fr ein anderes, was immer es sei, hergegeben werden darf, daß das Judentum jedem Platze, auf den der Jude gestellt ist, die edlere Auszeichnung noch gibt, und jeder Aufgabe, vor der er steht, den tieferen Gehalt noch verleiht. Die Idee bleibt, um in neuen Formen weiterzuwirken. K. C. Bltter. Festschrift. New York, 1946. S. 1-2.

* 1. Der 1896 gegrndete Kartellconvent deutscher Studenten jdischen Glaubens stand auf dem Boden deutschvaterlndischer Gesinnung, versuchte jedoch seine Mitglieder zu selbstbewußten Juden zu erziehen.

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Brief an Henrique Lemle in Rio de Janeiro London, 22. Juli 1949 Lieber Herr Kollege! 1 Den Worten herzlichen Dankes, die ich an Ihre Gemeinde sandte, fge ich diese besonderen an Sie bei. Schon deshalb darf ich es tun, weil ich dessen gewiss bin, dass der Autor der so gtig und so klar, so harmonisch und so schn geformten Worte des Diploms Sie sind. Ihnen persnlich darf ich so danken. Aber es ist doch weit mehr, was mich zu Ihnen sprechen lsst. Die Gemeinde kann das Schicksal ihres Rabbiners werden, aber weit mehr noch und weit hufiger wird der Rabbiner das Schicksal seiner Gemeinde. Wo die Gemeinde durch die Generationen ihre Form und ihre Art erhalten hat, muss der Rabbiner sich mit ihr auseinandersetzen, innerlich vor allem, zu seinem Glcke oder seinem Leid und zu dem ihren. Wenn er dabei sein kann, sie, zudem auf neuem Boden, zusammenzusetzen und herzustellen, Bekanntes in Unbekanntes hineinzufgen, dann ist er es doch vor allem, der seiner Gemeinde Bestimmtheit gibt und Bestimmung bedeutet. So haben Sie es vollbracht, und ich weiss es, zum Guten vollbracht. Der Dank vieler ist Ihnen dafr geschuldet, aller derer vor allem, denen es die grosse Sehnsucht ihres Lebens ist, dass das, was die deutschen Juden geistig geschaffen und seelisch ausgedrckt haben, in den anderen Lndern und im Lande Israel fortlebe, zu etwas Neuem dort werde. Mit meinem Danke ziehen meine innigen Wnsche zu Ihnen hin. Lemle Collection. Leo Baeck Institute Archives, New York, AR 1928.

* Die deutschen Juden Dreimal bisher in seiner Geschichte hat das Judentum ausserhalb Palstinas sich mit der Kultur des Landes, in dem es seinen Platz hatte, lebendig und schpferisch verbunden. Zum ersten Mal war es so in der hellenistischen Welt, danach in Spanien und Portugal und schliesslich im deutschen Sprachgebiet. Jedesmal hat dies mit einer starken Dynamik in die jdische Geschichte, und auch in die Gesamtgeschichte, hineingewirkt, in seinem ersten Male fast explo1. Heinrich (Henrique) Lemle (1909-1978). Jugendrabbiner in Mannheim und Frankfurt. Ab 1940 liberaler Rabbiner in Brasilien.

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siv; man braucht nur an die Entstehung der christlichen Kirche im hellenistischen jdischen Orient zu denken. Und ganz so bietet es sich in seinem dritten Male dar, das freilich zeitlich uns so nahe liegt, dass wir seine letzten Ergebnisse noch nicht bersehen knnen. Immer wieder aber steht man staunend, bewundernd, oft fast erschrocken vor dieser starken, aufreissenden Kraft, vor alle dem, was sie vollbracht hat. Eine Flle von Persnlichkeiten, deren Leistung dauernd der Menschheit zugehren wird, ist innerhalb von fnf Generationen aus der jdischen Gemeinschaft dieses Gebietes hervorgekommen: Denker, Forscher, Dichter, Knstler, Musiker, Gestalter. Aus der Humusschicht von nicht viel mehr als einer halben Million Menschen ist dies hervorgewachsen. Wie mit einem geschichtlichen Pathos spricht schon diese eine Tatsache, dass von den vier oder fnf Mnnern, die in den letzten hundert Jahren am tiefsten, am revolutionrsten die Richtungen Menschlichen Denkens bestimmt haben, drei Juden aus Deutschland sind. Mit einer gleichen Gewalt sind neue Formen des Eigensten, des jdischen aus diesem Boden in dieser Zeit hervorgebrochen, in einer steten, unermdlichen Folge, und haben das Denken, den Willen, das Empfinden aller Juden ergriffen. Nur tief bewegt kann man auch auf diese Strke und diesen Reichtum des Vollbringens hinblicken. Was alles ist hier neu geworden und von hier ausgegangen: die Ideen und Energien der Eingliederung in eine umgebende Kultursphre, die religisen Ideen und Energien eines Liberalismus, einer Orthodoxie, eines Geschichtsbewusstseins, eines Messianismus, eines Humanismus, eines Ringens um die Zionshoffnung, die Ideen und Energien einer Wissenschaft des Judentums, eines Sichselbstbegreifens, einer jdischen Philosophie. Ein Ausserordentliches steht vor uns. Innerhalb der Tragik des furchtbaren Geschehens, dessen unmittelbarste Zeugen wir geworden sind, ist es die besondere Tragik noch, dass dieser historischen Leistung ein gewaltsames Ende gesetzt worden ist. In ihren letzten Jahrzehnten hatte sie noch eine neue Kraft und neuen Glanz erlebt; in einer Grsse hat sie auf jenem Boden aufgehrt. Auf jenem Boden hat sie aufgehrt, aber sie sollte nicht beschlossen sein. Den Menschen von dort, die brig geblieben sind und in vielen Lndern leben, ist etwas anvertraut, was nicht verloren sein darf: ein Wille zum Geistigen, zum Ideellen, zum Humanen, zum Messianischen, zu dem, was gross und was schn und geordnet ist. Ihn zu pflegen, ist allen Juden berall zur Aufgabe gemacht, aber hier will das noch ein eigenes Zeichen des Erbes bedeuten. 391

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In diesem Zeichen war diese Gemeinde »Habonim«, 1 diese Gemeinde der »Bauleute« begrndet worden, die auf ihr erstes Jahrzehnt jetzt zurckblickt. Sie soll eine Gemeinde sein, aber zugleich noch mehr als nur eine Gemeinde. Auf ihrem Platz soll sie von einem Erbe Zeugnis ablegen. Anniversary Yearbook. Congregation Habonim 1939-1949. New York, 1949. S. 3a.

* Erbe und Aufgabe Every human being is a link between past and future generations. If we realise the heritage we have received from our ancestors, we become aware of the task we have to fulfil. It is the endowment of a spiritual heritage which distinguishes cultured communities from savage tribes. Only a man of culture is able to look backwards. Jews have the privilege that they may look back to an older history than others. Their outlook has been shaped by a legacy of 3,000 years. A substantial part of their history, more than one millennium, was connected with German territory. The attitude of the German Jews, of the »Ashkenasim,« is therefore influenced by the German environment in the same way as many characteristics of the Spanish Jews, of the »Sephardim,« are due to their residence on Spanish soil. The geographical position of both countries was a determining factor for the philosophy of Spanish and German Jewry: Spain is a country between the oceans, Germany is a country between the rivers, all of which are running from South to North, dividing the territory into equal portions. Thus, the Spanish Jewish philosophers were bound to think in wide spaces, whereas German Jewish scholars excelled by a sense of orderliness. This sense of orderliness also finds its expression in the organisational field. Effectively working Jewish Communities were amongst the outstanding assets of German Jewry. In the old days, there were the three Communities Speyer, Worms and Mainz, each of them well organised internally, and all three of them united and coordinated for common activities. Similarly, those German Jews, who went as colonisers to the then backwards Eastern territories, established 1. Die Gemeinde Habonim wurde von deutsch-jdischen Flchtlingen in New York gegrndet, um die Traditionen des deutschen liberalen Judentums in Amerika fortzufhren. Sie existiert bis heute.

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Communities and Federations of Communities. There was always a readiness for voluntary centralisation, which left room for dissenting opinions and, at the same time, preserved unity. It is no accident that the word »Einheitsgemeinde« has become an untranslated term in the Anglo-speaking Jewish world. The voluntary basis of this unity is also characterised by the way in which the Ghetto authorities kept discipline. They had jurisdiction, but no executive power, they had law courts, but no police which might be able to enforce court findings. Nevertheless, there was justice and order within these communities. The sense for organisation on a broad and, at the same time, voluntary basis is therefore one legacy left to German Jewry of our days. The second legacy of German Jewry is a strong sense for pedagogical, educational tasks. Rashi’s 1 commentary is a typical example of this didactic approach. When in the 18th Century, at the beginning of the emancipation period, Jewish thinking was confronted with Western European culture, and when German Jews had to bring their own heritage into harmony with the spiritual values of their environments, the establishment of new Jewish schools was amongst the first actions they took. The importance of education was realised by Moses Mendelssohn 2 and his Jewish contemporaries in the same way as it had been realised by Rashi centuries before. The third legacy of German Jewry is the specific piety they developed. Charity was considered as a religious function, actually as the foremost religious function. Whenever help was needed, it was not delayed by long discussions, but granted immediately. In a way, all German Jews were conservative, whatever their specific religious outlook may have been, for also a genuine Liberal has to be conservative, has to have a sense for the past, just as the genuine Conservative has to be liberal in his approach. German Jews combined a sense for tradition with a sense for practical work. These three elements of our past, the sense for voluntary unity, for the importance of education and for a deeply rooted urge to help are the foundations of the tasks we have to fulfil and of the tradition we have to hand over to future generations. In the same way, as there are now, after more than 400 years, Sephardic Communities all over the world, there should be Ashkenasic Communities in 500 years time. By trying to preserve the values of German Jewry we do not 1. Raschi (1040-1105). Franzsisch-jdischer Exeget der Bibel und des Talmud. 2. Moses Mendelssohn (1729-1786). Jdischer Philosoph, der sich fr die jdische Annahme der europischen Kultur einsetzte.

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segregate ourselves from the Jewish Community at large; on the contrary, our specific contribution will enrich all sections of Jewry. The fate of the individual is inseparably linked up with that of the Community, and Jews from Germany have added reason to be faithful to the Community from which they hail and which suffered so heavy losses during the past. They have been entrusted with a great heritage and they have to be conscious of the duties which are lying ahead. Aus einer Ansprache auf einem Treffen der Association of Jewish Refugees in Great Britain. »Heritage and Task.« AJR Information 5.6 (Juni 1950): S. 3.

* Bewhrung des Deutschen Judentums Warum gedenken wir dieses 1. April 1933? Wir gedenken dieses Tages vor allem um der Geschichte und ihrer Wahrheit willen. Es ist ein Gesetz in der Geschichte, wer von der Geschichte nichts lernt, muss Geschichte wiederholen. Darum ist es so wichtig, Geschichte zu kennen und von der Geschichte wahrhaft zu lernen, und deswegen gedenken wir auch dieses schwarzen Tages, des 1. April 1933. 1 Jeder grosse Aufstieg, der dauernd ist in der Geschichte eines Volkes, beginnt mit einer grossen Tapferkeit, nicht mit genialen Menschen, aber mit Menschen einer grossen Tapferkeit. Jeder Niedergang begann mit einer grossen Feigheit. Wir haben es erlebt. Der 1. April 1933 spricht davon. Die Universitten hatten geschwiegen, die Kirchen geschwiegen, die Handelskammern geschwiegen, die Gerichte geschwiegen, der Prsident des Reichs, der den Eid auf die Verfassung geleistet hatte, geschwiegen. Der 1. April 1933 sollte in der Geschichte genannt werden der Tag der grossen Feigheit. Ohne die Feigheit damals wre alles, was gekommen und ber uns gekommen ist, nicht geschehen. Man spricht von dem Boykott-Tag. Die jdischen Geschfte wurden boykottiert. In Wahrheit wurde das Recht boykottiert. Die jdischen Geschfte haben eine zeitlang berstanden, das Recht hat diesen Tag nicht berstanden. Und welches war die Reaktion der Juden auf den grossen Verrat? 1. Am 1. April 1933 stellten uniformierte Nazis vor jdischen Geschften Posten auf, schrieben antisemitische Slogans an die Schaufenster und hielten Kunden davon ab, in diesen Geschften einzukaufen.

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Es war ein Gefhl grosser Verlassenheit; denn die rgste Verlassenheit ist, dass man vom Recht verlassen wird, dass einem das Recht vorenthalten wird. Und das Gefhl der Verlassenheit dehnte und weitete sich. Die Vlker sandten ihre Abgesandten nach Berlin im Jahre 1936 nach allem, was geschehen war, als die Olympische Feier in Berlin von Vertretern aller Nationen begangen wurde. Aber so merkwrdig es klingen mag, der Jude damals in Deutschland fhlte sich nicht verloren. Am Recht in Deutschland war der grosse Verrat gebt worden. Die ussere Rechtssicherheit wurde von Tag zu Tag fast, von Monat zu Monat sichtlich geringer, aber die innere Rechtssicherheit war wohl selten im Juden tiefer und strker als damals. Jedes Recht konnte ja genommen werden, aber ein Recht blieb uns, das Recht rechtschaffen zu sein, das Recht, sauber und anstndig zu sein, das Recht, geistig und gebildet zu sein, das Recht jdisch zu sein. So war doch trotz allem ein starkes Selbstgefhl geblieben, das Bewusstsein, Hter eines Rechts zu sein, das nicht entzogen werden kann. Das Gefhl einer inneren Rechtssicherheit war in den Juden. Ohne das htte alles dies nicht geschehen knnen, was damals von den Juden in Deutschland vollbracht wurde. Zuerst war es eine grosse Planung. In jenen Tagen nahe diesem Boykott-Tag im Jahre 1933 kamen Vertreter der Juden aus allen Teilen Deutschlands zusammen, und der, der beauftragt war, zu ihnen zu sprechen, sagte damals: Dieses Regime wird bleiben, weil es sich einen Schein der Legalitt gegeben hat und auf dem Gehorsam des immer zum Gehorsam bereiten deutschen Volkes ruhen kann. Darum soll unsere Jugend aus dem Lande herausgebracht werden nach Lndern, die Freiheit haben, und die lteren sollten bleiben, damit die Jungen hinausgehen knnen. Die Idee, die dieser Planung zugrunde lag, ist alle die Jahre bis zum Beginn des Jahres 1943, als die letzten Juden aus Deutschland fortgeschleppt wurden, bestimmend geblieben. Hilfe von aussen hat es ermglicht, und dankbar gedenken wir in diesem Lande der Mnner und Frauen, die uns geholfen haben, und nicht zuletzt auch der britischen Konsuln in Deutschland. Sie waren Helfer der Juden. Es war eine grosse Einigkeit damals im Deutschen Judentum. In der Reichsvertretung der Juden in Deutschland waren immer Menschen aller Richtungen zusammen. Wer dieser Reichsvertretung zugehren durfte, empfand es, und wer es berleben durfte, empfindet es als einen grossen Segen, dass er diesem kleinen Kreise angehren durfte, in dem eine Auseinandersetzung der Meinungen, aber immer ein grosses Verstehen, ein Gemeinsames der Gewissen gewesen ist. 395

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Mnner wie Otto Hirsch, 1 wie Julius Seligsohn, 2 Arthur Lilienthal 3 und andere, die dort geholfen haben, sind nicht mehr. In der grossen Tragdie, die im Jahre 1933 begann, ist es eine Tragdie innerhalb der Tragdie, dass damals, als das Verhngnis hereinbrach, eine kulturelle Entwicklung einer Hhe entgegen ging. Sie hatte im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts eingesetzt, eine Renaissance des jdischen Geistes in Deutschland, eine neue Belebung jdischer Kultur. Was damals an geistiger Hingabe, an geistiger Empfnglichkeit, an geistiger Produktivitt bewiesen wurde, was an jdischen Bchern, nicht nur an Bchern jdischer Autoren, sondern jdischen Bchern im hchsten Sinne des Wortes, geschaffen wurde, ist ein Zeugnis, dem kaum ein andres an die Seite gesetzt werden kann. Wer noch daran denkt, wie damals die jdischen Wochenschriften waren, die »C.V.-Zeitung,« die »Jdische Rundschau,« das »Familienblatt,« wie die jdische Monatsschrift »Der Morgen« geschrieben wurde, der weiss, was das bedeutet. Das ist das Grosse dieser Zeit, diese kulturelle Leistung, diese wenigen Menschen, die dem Schicksal im wahren Sinne des Wortes unmittelbar tglich ins Auge blickten, und das leisteten. Und hier ist ein Besonderes hervorzuheben, die Leistung der jdischen Frau in diesen Jahren. Was jdische Frauen in jenen Jahren vollbracht haben in Deutschland in dieser Not, kein Wort reicht daran. Was diese Frauen an Hingebung, an Mut bewiesen haben, weniges kann als Beispiel an die Seite gestellt werden. Wer es mit angesehen hat, wie in Berlin nach der Verbrennung der Synagogen, als die Mnner aus den Husern geschleppt wurden und nach den Lagern gebracht wurden, 4 wie damals die jdischen Frauen das Polizeiprsidium am Alexanderplatz, man kann es nicht anders sagen, erstrmt haben, wie sie dort erklrten, sie wrden nicht weichen, bis man ihnen ihre Mnner zurckgeben wrde oder wenigstens sagen, wo sie hingekommen sind, der hat ein Grosses in der Geschichte erlebt und wird es nie vergessen. Es ist die alte deutsche Erzhlung von den Weibern von Weinsberg, die auf ihren Rcken die Mnner 1. Otto Hirsch (1885-1941). Geschftsfhrender Leiter der Reichsvertretung, umgekommen in Mauthausen. 2. Julius Seligsohn (1890-1942). Prsidialmitglied der Reichsvertretung und Prsident des Hilfsvereins deutscher Juden. 1940 verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. 3. Arthur Lilienthal (1899-1942). Generalsekretr der Reichsvertretung und Vorstandsmitglied der Reichsvereinigung. 1942 nach Rußland deportiert. 4. Bezieht sich auf das Novemberprogrom, die sog. »Reichskristallnacht« am 9. November 1938.

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aus der belagerten Festung heraustrugen. So sind alle jdischen Mnner gleichsam auf den Rcken ihrer Frauen aus Deutschland in die Lnder der Freiheit gelangt, und vielleicht ist es wichtig, neben den grsseren in die Augen fallenden Erscheinungen zweier Namen hier zu gedenken: Hanna Karminski 1 und Martha Hirsch, die Frau von Otto Hirsch. Wer in den letzten Stunden von Martha Hirsch, bevor sie fortgeschleppt wurde, mit ihr zusammen war, hat gewissermassen fr sein ganzes Leben einen Segen empfangen. Aber neben ihnen die Kleinen. Die kleinen Menschen in Deutschland waren gut geblieben. Die Arbeiter haben ihr Frhstcksbrot mit den jdischen Arbeitern geteilt, die Kleinen haben in diesen Jahren den Juden das Leben mglich gemacht, die kleinen Menschen in Deutschland. Was den Charakter anlangt, stand damals dort die Bildungspyramide auf der Spitze: die oben waren die Geringen und die unten die Grossen. Vor allem die christlichen Dienstmdchen haben die Treue vielen bewiesen. Ihnen sollte ein Denkmal errichtet werden. Die jdische Arbeit dieser Zeit war eine eigene Arbeit, man knnte sie eine legale Untergrundarbeit nennen, immer im Legalen, aber in der Verborgenheit. Solche Arbeit kann nur geleistet werden, wenn Menschen da sind, auf die man sich unbedingt verlassen kann, verlassen auf ihre Treue und Loyalitt und Entschlusskraft. Das waren vor allem die Sekretrinnen, wie das technische Wort sie nennt. Wenn hier und in Deutschland Erinnerungen wachzurufen sind, sollen zwei Namen genannt werden knnen, jdische Schicksale in Deutschland: Paula Glck und Johanna Nathan, 2 zwei Waisenmdchen, eine aus Pommern, eine aus Posen, in einem Berliner Waisenhaus zusammen erzogen. Welche Grsse zum Wohle der jdischen Arbeit in diesen furchtbaren Jahren haben diese zwei schwachen Frauen auf ihren Schultern getragen. Man sollte auch sie nie vergessen. Das war das Leben der Juden in Deutschland nach jenem 1. April 1933. Es ist ein Gesetz der Geschichte: Jeder Niedergang beginnt mit einer grossen Feigheit, jeder Aufstieg mit einer grossen Tapferkeit. Tapferkeit ist damals von Juden in dieser Tragdie bewiesen worden. Und das ist die grosse Zuversicht, die uns erfllt, dass – heute vielleicht noch unsichtbar, aber in einer kommenden Generation 1. Hannah Karminski (1897-1942[?]). Geschftsfhrerin des Jdischen Frauenbundes und spter Mitarbeiterin der Reichsvertretung. 1942 deportiert. 2. Paula Glck und Johanna Nathan waren die Sekretrinnen, die das Manuskript ber die Rechtsstellung der Juden in Deutschland abschrieben, zu dessen Autoren Baeck gehrte.

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deutlich erkennbar – ein Aufstieg kommen wird, Aufstieg fr das ganze jdische Volk, Aufstieg fr Lnder, die den Juden Liebe bewiesen haben und ein Aufstieg fr die Menschheit. Daran drfen wir denken wenn wir von diesem 1. April 1933 sprechen. Voller Dankbarkeit, voller Demut und Ehrfurcht drfen wir von ihm sprechen, und, wie das Wort des Psalms es sagt: »Das wird aufgeschrieben werden fr ein kommendes Geschlecht.« 1 »Bewhrung des Deutschen Judentums. Ansprache auf der AJR Kundgebung am 1. April 1953 zur 20. Wiederkehr des Boykott-Tages«. AJR Information (Mai 1953): S. 9.

1. Ps 102,19.

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Die neue jdische Gemeinde in Deutschland Obwohl Leo Baeck nach dem Krieg in Deutschland keine rabbinischen Pflichten bernahm, entstand durch seinen Kontakt mit jngeren Studenten und Freunden, die dort in den frhen fnfziger Jahren Rabbinate antraten, eine erneute Verbindung zu Deutschland. Wenn sich diese mit Fragen, die sich in ihren Gemeinden stellten, an ihn wandten, stand Baeck ihnen durch Antworten, die auf seiner Erfahrung und seinen berzeugungen basierten, zur Seite. Diese Fragen konzentrierten sich auf die Beziehungen der Gemeinden zu Nicht-Juden. Sollte es nicht-jdischen Ehepartnern erlaubt sein, zusammen mit ihren jdischen Gatten auf einem jdischen Friedhof bestattet zu werden? Sollten Individuen, deren Zugehrigkeit zum Judentum fragwrdig war, als Juden angesehen werden? In solchen Fllen neigte Baeck zu nachsichtigen Interpretationen, in dem er sich auf Przedenzflle der Vorkriegszeit ebenso wie auf jdische Rechtsliteratur bezog und beispielsweise auf die nicht-jdischen Ehegatten hinwies, die »ihren jdischen Ehefrauen in schwerster Zeit tapfer und opferwillig die Treue gehalten haben«. In Anbetracht des Verlustes von sechs Millionen Juden im Holocaust sprach Baeck sich fr die Annahme von Konvertiten zum Judentum aus, ohne auf die Erfllung aller Vorschriften des jdischen Rechts zu beharren. In der Arbeit jdischer Juristen, die sich in Dsseldorf getroffen hatten, sah Baeck eine Mglichkeit fr die Juden »aus dem Stamme des Rechts« bei der Wiederherstellung des Rechts in dem neuen Deutschland mitzuwirken. * Brief an Dr. Farbstein London, 16. Juli 1950 Lieber Herr Dr. Farbstein, 1 Lassen Sie mich Ihnen nochmals es aussprechen, mit welch dankbarem Interessse ich Ihre Schrift »Die Stellung des Judentums zum Proselytenwesen« gelesen habe; sie hat mein Nachdenken immer neu erfasst. Darf ich mir gestatten, um meiner Dankbarkeit Ausdruck zu geben, mit einigen Worten auf das Grundstzliche einzuge1. David Farbstein (1868-1953). Rechtsanwalt und aktiver Zionist polnischer Abstammung. Ab 1894 in der Schweiz, wo er bis 1939 Mitglied des Parlaments war. Verffentlichte 1950 Die Stellung des Judentums zum Proselytenwesen.

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hen. ber aktuelle Einzelflle vermag ich mich von hier aus begreiflicherweise nicht zu ussern. Wie ber andere bedeutungsvolle Fragen sind innerhalb des Judentums im Gange der Zeit auch ber die Bedeutung des Proselytentums unterschiedliche Urteile gefllt worden, zustimmende sowie ablehnende. Die Verschiedenheit der Persnlichkeit und die der Umstnde fanden hier ihren Ausdruck. Soweit ich sehe, hat hier die Mehrheit, zumal die der gewichtigen Stimmen, jedoch im bejahenden Sinne gesprochen – hnlich wie dies fr eine vielleicht verwandte Frage, ob »die Frommen der Vlker der Welt am ewigen Leben Anteil haben« durch Zunz 1 in einer bersicht ber die talmudische und mittelalterliche Zeit nachgewiesen worden ist. Das Recht, unter gegebenen Voraussetzungen in das Judentum einzutreten, und die Pflicht, bei Erfllung dieser Voraussetzungen in das Judentum aufzunehmen, sind stets deutlich deklariert worden. Die Tatsache, dass der Talmud und, ihm folgend, die codices des Religionsgesetzes Kapitel mit den entsprechenden Bestimmungen enthalten, ist bereits der klare Beweis dafr. Dieses Recht und diese Pflicht sind auch nirgends als zeit- oder ortsgebunden erklrt worden. Wie frh das Proselytentum im religisen jdischen Gesamtempfinden seinen Platz hatte, ergibt sich daraus, dass das Wort »Ger«, das den Fremdling benennt, ihn, den die Heilige Schrift mit besonderer Liebe umhegt, »in der mndlichen Thora«, diesem alten jdischen Commentar, 2 zur Bezeichnung der Proselyten geworden ist. Schon frh wurde er auch mit dem Ehrennamen »der Gottesfrchtige« benannt und neben alle die andern im Hause Israel gestellt. Durch Jacob Bernays 3 ist ein reiches Beweismaterial zusammengebracht worden. Und in dem alten Gebete steht der fromme Proselyt unmittelbar neben dem klassischen Schriftgelehrten. Die Erfahrung vieler gibt dem allem auch recht. Die, welche Jahrzehnte hindurch und in mannigfachen Pltzen die Mglichkeit besassen, Proselyten zu kennen, wissen es, welch wertvolle Menschen, welch wahrhaft jdische Menschen in ihnen unsere grosse jdische Gemeinschaft zu eigen hat, und wissen es auch, zu welch guten und 1. Leopold Zunz (1794-1886). Mitbegrnder der Wissenschaft des Judentums. Forscher auf dem Gebiet der jdischen Literatur. 2. Im Text: »common tan«. Wahrscheinlich ein bertragungsfehler aus dem Originalbrief. Wahrscheinlicher: »Commentar«. 3. Jacob Bernays (1824-1881). Altphilologe, lehrte am Jdisch-Theologischen Seminar in Breslau. Verffentlichte u. a. Die Gottesfrchtigen bei Juvenal (1877).

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treuen Juden sie ihre Kinder erzogen haben und erziehen; sie haben jdisches Erbe empfangen und dann gewahrt und weitergefhrt. Jede jdische Gemeinde wrde sie in ihrer Mitte nicht missen wollen. Wir mssen dankbar sein, dass wir sie zu eigen haben. Aber es handelt sich hier nicht nur um die Proselyten, sondern es handelt sich ebenso, und fast noch mehr, um unser Judentum. Eine Religion, die nicht nur existieren, sondern leben will, muss wie jeden wahren, echten Gedanken, so jedem wahrhaftigen echten Menschen erschlossen bleiben. Nur so kann sie auf die Dauer in der Gewissheit ihrer Wahrheit leben. Ein Glaube, der seine Tore verrammelte, wrde innerlich verkmmern. Was keine Not vollbringen konnte und kann, wrde er selber vollziehen, er wrde im Angesicht der Menschen abdanken. Um das grosse Vertrauen, um die Bejahung unseres Judentums handelt es sich hier. Stellungnahme erschienen unter »Zum Proselytproblem« in der Jdischen Rundschau (Zrich-Maccabi). 3. Sept. 1950. S. 4.

* Brief an Nathan Peter Levinson in Berlin Cincinnati, 2. Mrz 1951 Lieber Rabbi Levinson: 1 Mit aufrichtiger Freude haben mich die guten Nachrichten erfllt, die Ihr Brief vom 12. Februar mir gebracht hat. Ich hatte schon in den vergangenen Monaten des fteren viel erfreuliches von Ihrer Arbeit auf dem wichtigen Platz, der Ihnen anvertraut ist, erfahren knnen. Meine Absicht, die ich eine Zeitlang gehegt habe, im Frhjahr fr ein Paar Wochen nach Deutschland zu kommen, lsst sich nicht ausfhren. Aber es ist mglich, dass im September sich die Gelegenheit bieten wird. Ich hoffe jedoch, dass es Ihnen mglich sein wird, zusammen mit Ihrer Frau an der Konferenz der World Union 2 in der zweiten Juliwoche in London teil zu nehmen und ich dann die Freude haben werde, Sie beide dort zu sehen. Nun Ihre Anfragen: 3 1. Nathan Peter Levinson (geb. 1921 in Berlin). Student Leo Baecks an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums, danach Rabbinatsstudium in Amerika. 1950 bernahm er das liberale Rabbinat in der Viersektorenstadt. 2. World Union for Progressive Judaism, dessen Prsident Baeck zu der Zeit war. 3. Levinson verffentlichte Baecks Stellungnahme unter: »Dr. Baeck und die Ha-

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1. Es ist in Berlin seit Jahrzehnten die bung gewesen, die die Billigung des Rabbinats gefunden hatte, dass nicht-jdische Ehegatten, Mnner oder Frauen, die einen solchen Wunsch gehegt hatten, neben dem jdischen Ehegatten auf unserm Friedhof in Weissensee beigesetzt werden drfen. Die Flle, in denen Ehemnner ihren jdischen Ehefrauen in schwerster Zeit tapfer und opferwillig die Treue gehalten haben, sind ganz besonders in diesem Sinne zu beurteilen und die Beisetzung in Weissensee darf wohl kaum verweigert werden. 2. Einem Juden, der zu einer anderen Religion bergetreten war und nun den Wunsch hegt, zur jdischen Gemeinde zurck zu kehren, darf die Wiederaufnahme in die Gemeinde nicht verweigert werden. Die religionsgesetzliche Richtung ist hier eine ganz eindeutige. Das einzige, was unter Umstnden bei der Wiederaufnahme verlangt werden kann, ist, dass der betreffende, falls er in der Lage dazu ist, den Wohlfahrtsinstituten der Gemeinde eine Spende zuwendet. 3. Was das Kind einer Mutter anbelangt, die bei der Geburt des Kindes einem christlichen Bekenntnis zugehrte, so ist ein zweifaches zu unterscheiden: a.) Wenn die Mutter von Geburt Jdin ist, so ist auch ihr Kind von Geburt an der jdischen Gemeinschaft zugehrig und eine besondere Aufnahme in die Gemeinde ist darum nicht erforderlich. b.) War die Mutter nicht-Jdin und ist zum Judentum bergetreten, so besteht kein Bedenken, dass ihr minorennes Kind als der jdischen Gemeinde zugehrig betrachtet wird, vorausgesetzt, dass die Mutter als die Erziehungsberechtigte vor dem zustndigen Amtsgericht eine entsprechende Erklrung abgegeben hat. 4. In der gleichen Weise ist die Frage zu beantworten, ob ein Vater die Religionszuge-hrigkeit seines unmndigen Kindes entscheiden darf. D. h.: Ist die Mutter jdisch, so ist das Kind ohne weiteres als der jdischen Religionsgemeinschaft zugehrig zu betrachten. Ist die Mutter nicht jdisch, so darf der Erziehungsberechtigte die Religionszugehrigkeit des Kindes bestimmen und das Kind darf in die jdische Gemeinschaft aufgenommen werden. 5. In der Frage der Aufnahme von Proselyten sollte vor allem die Persnlichkeit dessen, der in das Judentum aufgenommen zu werden wnscht, betrachtet werden. Handelt es sich um eine besonders

lacha II«. Mitteilungsblatt des Oberrates der Israeliten Badens fr die angeschlossenen Gemeinden 27.1 (Jan. 1975): S. 1.

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Brief an Robert Raphael Geis in Karlsruhe

wertvolle Persnlichkeit, so sollte ein Bedenken betr. der Aufnahme nicht bestehen. Im Privatbesitz Nathan Peter Levinsons.

* Brief an Robert Raphael Geis in Karlsruhe London, 17. Februar 1955 Lieber Kollege Geis, 1 Den Rat, den Sie in Ihrem Briefe vom 8. ds. M. erbeten hatten, bin ich gern bereit zu geben – es ist ein Rat; denn eine Entscheidung zu treffen, bin ich nicht befugt. 1. Eine Wahrscheinlichkeit spricht dafr, dass Herr S. durch den zustndigen katholischen Geistlichen vor Vornahme der religisen Trauung in einer durch das kanonische Recht zugelassenen Form getauft worden ist. Herr S. msste daher aufgefordert werden, eine eidesstattliche Erklrung dahin abzugeben, ob dies tatschlich der Fall gewesen ist. Bejaht er den Akt der Taufe, so msste es ihm anheimgestellt werden, seinen Austritt aus der katholischen Kirche, in die er durch den Akt der Taufe eingetreten war, vor dem Pfarrer, der die Taufe vorgenommen hatte oder vor dessen Stellvertreter oder Nachfolger, bezw. zu deren Hnden zu erklren und danach vor einer zustndigen Stelle die Erklrung seines Wiedereintritts in die jdische Religionsgemeinschaft abzugeben. Nach altem jdischen Gesetz hat er nicht aufgehrt, ein Jude zu sein, aber staatliches Gesetz und Herkommen fordern eine solche Erklrung des Wiedereintrittes. Wenn er dieses alles erfllt, ist er als baal-tischuwah 2 zu betrachten. Er gehrt so wieder der jdischen Religionsgemeinschaft im allgemeinen und seiner Gemeinde im besonderen an. 2. Wenn Herr S. im Dienste der Gemeinde weiter verbleiben will und die Gemeinde oder wenigstens ihre sehr grosse Mehrheit damit einverstanden ist, so besteht kein Bedenken dagegen. Es wrde aber ratsam sein, dass eine gewisse Pause, etwa 1 Monat, eintrete, damit es »vor den Augen der Gemeinde« 3 erkennbar werde, dass gewisser1. Robert Raphael Geis (1909-1972). Vor dem Krieg liberaler Rabbiner in Mnchen, Mannheim und Kassel. 1952 Rckkehr nach Deutschland und Ttigkeit als Landesrabbiner in Karlsruhe bis 1956. 2. Hebr.: »Reuiger«, »Rckkehrender«. 3. Biblische Redewendung.

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massen ein neuer Abschnitt seines Lebens mit der tischuwah 1 beginne. 3. Erklrt Herr S., dass keine Taufe erfolgt sei, so handelt es sich mehr um ein Problem, das die katholische Kirchenbehrde angeht als um eines, das die jdische Gemeinde betrifft. Von seiten der jdischen Gemeinde sollte in diesem Falle hier nur das eine verlangt werden, dass Herr S. in einer von Ihnen zu bestimmenden Form seinem Bedauern darber schriftlich Ausdruck gibt, dass er die Tatsache der katholischen religisen Trauung – aus Grnden freilich, die menschlich verstndlich sein knnen – 7 Jahre lang verheimlicht hat und weiter zu verheimlichen gewnscht htte. 4. Dem alten Herkommen entsprechend, knnte von Herrn S. auch verlangt werden, dass er als usseres Zeichen seines Bedauerns und seiner Reue einen seinen Verhltnissen entsprechenden Betrag, so bald es ihm mglich ist, einer jdischen Wohlfahrtsstelle zufhre. 5. Was die Ehefrau anlangt, so sind wir nicht berechtigt, irgend etwas von ihr zu verlangen oder ihr auch nur nahezulegen. In ihrem status wie in ihrer Stellung zu der jdischen Gemeinde ihres Wohnortes, bezw. innerhalb dieser jdischen Gemeinde, hat sich nichts gendert. Wir sind auch nicht berechtigt, gegen sie einen Vorwurf zu erheben. 6. In einigen frheren Zeilen habe ich schon darauf hingewiesen, dass der vorliegende Fall nach der Analogy von Vorkommnissen in der Marannenzeit 2 betrachtet und beurteilt werden kann. Wir besitzen ein Gutachten von Juda Minz 3 ber die Giltigkeit einer Marannen-Trauung. Dieses Gutachten betrifft einen Fall, der mit dem hier vorliegenden nicht unmittelbar zu vergleichen ist, aber es stellt einige allgemeine Grundstze auf, die fr unseren Fall ihre Bedeutung haben. Dieses Gutachten ist in der Antology von Winter und Wnsche »Die religionsgesetzliche Literatur« 4 bersetzt. Falls Sie ber Einzelnes noch meine Ansicht zu hren wnschen, so stehe ich Ihnen gern zur Verfgung. Es wrde mich, obwohl es fr 1. Hebr.: »Reue«, »Rckkehr«. 2. Juden, die in Spanien und Portugal seit dem letzten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts gezwungen worden waren, zum Christentum berzutreten und ihren Glauben aus Angst vor der Inquisition im Geheimen praktizierten, wurden Marranos genannt. 3. Juda ben Elieser Halevi Minz (ca. 1408-1506). Italienischer Rabbiner, der sich mit der rechtlichen Zugehrigkeit zum Judentum derer auseinandersetzte, die gezwungenermaßen zum Christentum bertraten. 4. Jacob Winter und August Wnsche. Die jdische Literatur seit Abschluß des Kanons. 3 Bnde. Band 2: Die rabbinische Literatur. Trier, 1894.

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Brief an die Arbeitstagung jdischer Juristen in Dsseldorf

den vorliegenden Fall nicht entscheidend ist, interessieren, die Bescheinigung des Pfarrers von R. abschriftlich zu erhalten. Geis Collection. Leo Baeck Institute New York.

* Brief an die Arbeitstagung jdischer Juristen in Dsseldorf Cincinnati, 8. Dezember 1951 Sehr geehrte Herren! Zu Ihren Beratungen sende ich Ihnen meine aufrichtigen, herzlichen Wnsche. An unsere Tage tritt wieder die alte Erkenntnis mahnend heran, dass »die Welt auf Wahrheit, Recht und Frieden beruht«. 1 Es gibt kein Recht ohne die Wahrheit und keinen Frieden ohne das Recht. Wo die drei getrennt werden sollen, wo eine Gewaltherrschaft das Recht ohne die Wahrheit haben will und eine Machtbegier einen Frieden ohne das Recht, dort lebt weder die Wahrheit noch das Recht noch der Frieden. Auch die beste Verfassung, sei es die, auf welche ein Staat sich grnden will, sei es die, welche Vlker zu vereinen sucht, bleibt ohne sittliche Wirkung und ist darum unwirklich, wenn das Recht der Wahrheit, dieses echte Recht, das allein den Frieden schafft, nicht Tag um Tag und berall seine Richter und seine Anwlte besitzt. Jdische Juristen, diese Juristen aus dem Stamme des Rechts, die diesem Rechte dienen wollen, dienen darum ihrem Lande und der Welt. Gedruckt durch die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland. Dsseldorf-Benrath. Ohne Angabe des Datums.

1. Sprche der Vter 1,18.

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Aufstze Das vorherrschende Thema der Aufstze, die Baeck nach dem Krieg verfaßte, ist der Vorrang des Einzelnen gegenber der Gemeinschaft. Nach Baeck werde der Wert des Individuums nicht durch eine Gruppe, eine soziale Schicht oder ein Volk bestimmt. Es sei einzigartig, da es in Gott verwurzelt sei. Vielleicht war es seine Erfahrung mit einer Gemeinschaft, die Amok gelaufen war, die ihn zu der Ansicht gelangen ließ, daß eine gerechte Gesellschaft und ein gerechter Staat sich auf die Freiheit des Einzelnen und besonders auf sein Recht, anders zu sein, grnden msse. »Die Unterschiedlichkeit«, so schreibt Baeck, »ist das natrliche Maß, whrend die Gleichheit verflacht und den Menschen unnatrlich macht«. Und er fgt hinzu: »Wir Juden sind die letzten, die diesem Idol [der Gleichheit] geopfert wurden«. Der Vorrang des Individuums innerhalb der Gesellschaft sei jedoch nicht die einzige Beschrnkung, die dem Staat auferliege. Es knne auch eine Beschrnkung von Außen geben: die, die Baeck Weltgewissen nennt, und die er als eine hoffnungsvolle Entwicklung ansah, die sich aus dem Krieg ergeben knne. Toleranz, ebenso ein modernes Konzept, wenn auch lter als die Vorstellung des Weltgewissens, wird zum Thema eines Essays, in dem Baeck festhlt, daß sie auf zwei Ebenen existiere. Die erste Ebene sei erreicht, wenn man den negativen Befehl befolgt, sich nicht in das Leben der anderen Person einzumischen, Unterschiede jedoch ignoriert. Die hhere Ebene erfordere die Befolgung eines positiven Befehls: das Charakteristische und Besondere im Anderen zu schtzen und so nicht einfach seinem Dasein nachsichtig gegenberzustehen, sondern seiner Unterschiedlichkeit Respekt zu erweisen. Innerhalb der jdischen Tradition weist Baeck auf die historische Annehmbarkeit Andersdenkender hin und stellt heraus, daß sogar der grßte mittelalterliche Gelehrte, Moses Maimonides, der Kritik seiner Zeitgenossen ausgesetzt war. Aber Freiheit in all ihren Erscheinungsformen erfordere Opfer. Das, so Baeck, sei die zentrale Botschaft des jdischen Feiertages Pessach. Besonders bemerkenswert in dieser Schaffensphase Baecks ist die außergewhnliche Breite seines Wissens, sein Vermgen, sich in denkwrdiger Weise (und in der englischen Sprache) mit Themen auseinanderzusetzen, die außerhalb des Zustndigkeitsbereichs eines Mannes zu liegen schienen, dessen Ausbildung und Ttigkeiten sich auf die jdische Religion und Kultur konzentriert hatten. In einer Reihe von vier Aufstzen diskutiert er die vier Stationen des menschlichen Lebens: Kindheit, Jugend, Erwachsenendasein und Alter. Mit bemerkenswerter 406

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Vom Gewissen

Einsicht zeigt er die besonderen Qualitten einer jeder Lebensstation auf. In hnlicher Weise gelingt es ihm in einer Reihe von drei Essays ber Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Frieden, auf originelle Art die dringendsten Fragen, die sich im Nachkriegseuropa stellten, anzusprechen. Hier ist es wieder das Individuum, das mehr als die Gemeinschaft zhlt. Gerechtigkeit grnde sich nicht auf Gesetze, sondern auf gerechte Menschen, und deshalb sei es die erste Pflicht des Staates, seine Jugend ein Gerechtigkeitsideal zu lehren. Aber Gerechtigkeit allein, obwohl fundamental, sei nicht ausreichend. Menschlichkeit sei erforderlich, um der Gerechtigkeit ein menschliches Antlitz zu geben, um gegenseitiges Verstndnis zu schaffen. Nur dort, wo sowohl Gerechtigkeit als auch Menschlichkeit herrschten, knne es wahren Frieden geben – nicht nur in seiner rmischen Form (pax) als ein Pakt zwischen Sieger und Besiegten, sondern auch in seiner biblischen Form (schalom) als die Erfllung des menschlichen Lebens vor Gott. Auch hier hnge das Wohl der Gemeinschaft von dem Wohl des Einzelnen ab, von seinem Vermgen, Frieden zu verkrpern. * Vom Gewissen In bergangsperioden, so wie wir sie heute durchmachen, steht man pltzlich der Frage gegenber, ob es berhaupt so etwas wie Entwicklung und Fortschritt in der Menschheitsgeschichte gibt. Optimisten und Pessimisten beantworten sie verschieden. Eine Tatsache jedoch ragt klar und ber jeden Zweifel erhaben aus dem Lauf der Geschichte heraus: nmlich, dass sich in den letzten 200 Jahren eine Art Weltgewissen entwickelt hat. Die Geschichte geht weiter, langsam und auf und ab; einen ununterbrochenen Fortschritt gibt es nicht. Das ist unmglich, denn mit jeder Generation werden die alten Probleme und moralischen Pflichten neu geboren. Technischer Fortschritt kann ungeschmlert auf die Nachwelt bergehen – moralischer Fortschritt muss immer von neuem erstrebt und vollendet werden. Und doch drfen wir sagen, dass wir in einem Zeitalter leben, das sich der Existenz eines Weltgewissens bewusst ist. Dieses Gewissen hat sich manchmal deutlich, dann wieder weniger deutlich, bemerkbar gemacht; zeitweise hat es viele Anhnger gefunden, die darauf hrten und sich dafr einsetzten; manchmal ist es wieder zum Schweigen gebracht worden. Seine Geschichte zeigt ein auffallendes und hufiges Auf und Ab; aber es hat eine Geschichte, es ist da, und 407

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das ist die Hauptsache. Wir brauchen nur zurckzublicken auf Tage, die vergangen, aber nicht verloren sind, um Mnner und Frauen zu treffen wie Voltaire, Rousseau und Zola in Frankreich; William Wilberforce, 1 Lord William Bentinck, 2 Charles Dickens und Florence Nightingale in England; Abraham Lincoln und Harriet Beecher-Stowe in Amerika; Tolstoy in Russland. Sie sind Beispiele des neuen Geistes, der mit ihnen auf die Welt kam; sie bezeichnen einen neuen Abschnitt in der menschlichen Geschichte, sie versuchten, dem Weltgewissen eine Stimme zu verleihen. Gewissen ist derjenige Teil im Menschen, der nicht das Selbst zum Mittelpunkt hat, und an dem darum alle teilhaben knnen. Im Gewissen wird die Harmonie zwischen dem Individuum und dem Universum hergestellt. Es bringt jene Richtung im Menschen zur Erscheinung, die sich nicht mit der eigenen Person oder Gruppe oder dem Volk beschftigt, sondern darber hinausgeht und oft den Tendenzen des Individuums widerspricht. Es wird nicht von Ntzlichkeits-Grnden beeinflusst. Es geschieht indessen oft, dass das, wozu das Gewissen uns antreibt, nicht nur das Richtige, sondern auch das Ntzliche ist – obgleich dem Gewissen das Ergebnis gleichgltig ist. Es reprsentiert das moralische Gesetz, das an alle die gleiche Forderung stellt und bereit ist, allen menschlichen Wesen ihren Anteil zu geben. Es hat wie jedes moralische Gesetz das Ziel, alle zu einem gemeinsamen Zweck zusammenzuschliessen. Wesentlich ist, dass die ffentliche Meinung sich in ein ffentliches Gewissen verwandelt. Die Kernprobe ist folgende: das Gewissen beschftigt sich niemals mit etwas Vagem, Unbestimmtem, sondern stets mit etwas fest Umrissenem; es sieht nicht in die Zukunft, sondern bleibt in der Gegenwart; es stellt eine bestimmte Forderung, jetzt, und wendet sich an eine bestimmte Person und ihre Pflicht. Es besteht darauf, eine klare Entscheidung zu treffen, wenn es auf Unrecht, Gedankenlosigkeit oder Vernachlssigung stsst. Ein Gewissen, das bereit ist, Konzessionen zu machen, ist kein Gewissen mehr. Kompromisse mgen ntig und wichtig sein, um Menschen verschiedener Interessen und Neigungen zusammenzuhalten, um in der menschlichen Gesellschaft zusammen zu leben und zu arbeiten. Aber wenn es um Recht

1. William Wilberforce (1759-1833). Englischer Philanthrop und Befrworter der Abschaffung des Sklavenhandels. 2. Lord William Bentinck (1774-1839). Fhrte als Generalgouverneur von Indien progressive Reformen durch.

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oder Unrecht geht, so steht nur ein Weg offen, und man darf einzig und allein auf die Stimme des Gewissens hren. Fr diejenigen, die die Bibel kennen, ist dies weder neu noch ungewhnlich. Es ist die besondere und ewige Leistung der Propheten, dass sie im Namen des Gewissens sprachen. Sie wollten das Gewissen der Vlker der Welt erwecken. Sie wurden vom eigenen Gewissen angetrieben, zu sprechen, zu sich selbst, zu ihrem Volk und ber ihr Volk hinaus. Daher kommt es, dass das jdische Volk ein so starkes Gefhl fr das ffentliche Gewissen besitzt; daher stammen seine besonderen demokratischen und sozialen Tendenzen. Und da nun einmal das Weltgewissen lebt, so ist es in sich selbst eine Grundlage und Garantie fr das Weiterleben und die Freiheit des jdischen Volkes geworden. Die Welt von heute sieht in die Zukunft, und jeder fragt: Haben wir die Zukunft fr uns gewonnen, haben wir einen Sieg errungen? Und die Geschichte antwortet: Wo kein Gewissen ist, kann kein Sieg sein. Die Zukunft ruht auf der Kraft des ffentlichen Gewissens, des erwachten Weltgewissens. Aufbau 11.48 (Nov. 1945): S. 1-2.

* Das Schema Every man is a world in himself. He has something which is altogether his own, belonging only to him – his thoughts, his wishes, his fortune and his burden, that of which no one else knows, only he and God know of it. Every one is, as the mediaeval phrase has it, »Individuum ineffabile,« »an inexpressible, undefinable individual,« with an individuality which cannot be comprehended in words or ideas. Every man has similarly also his own eyes by which he takes the world into himself, his own ears through which the world impresses itself on him. No one else sees exactly what he sees, and no one else hears exactly what he hears, even when others see or hear the same thing. Just as every one has a world of his own in himself, so everyone has as his own the world which comes to him. Between individuals there are, however, similarities, outer and also inner, which constitute almost a common possession. Many men see or hear in a similar way. There is a further kinship among men in that in some the capacity of seeing and in others the capacity of hearing is the stronger and more finely developed faculty. There 409

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are, so to speak, ocular and aural natures. It is possible to hold the view that perhaps also peoples are differentiated in the same way, that there are ocular and aural peoples. It has also been said – is it true? – that men have sharper vision while women have more sensitive hearing, and that the spirit has vision and the soul hears. It is possible also to ask which is the higher organ, the more refined gift, the ear or the eye, both in the realm of the physical and in the realm of the soul or spirit, the eye which can see only in the light or the ear which can hear also in the dark. It would be difficult to say. Our Bible speaks of both seeing and hearing, often and impressively. Both are commanded: Thou shalt see, thou shalt hear! But the injunction to hear seems sometimes to go further and deeper than the injunction to see. Wherever it calls for the apprehension of the ultimate and highest, it commands: Thou shalt hear! We all know the verse which is preeminently an injunction to hear, the verse in Deuteronomy, which is the basis of our Faith, the peculiar possession of the community of Israel. Wherever there are Jews it is said and understood; by it Jews recognise one another. It is the verse: »Hear O Israel, The Eternal is our God, the Eternal is one!« 1 It is the great commandment about hearing, it can always say to us much that is new. Yes, its first word is »Hear!« and this word may never be omitted or suppressed. We are commanded: »Hear«; no more is required of us but also no less. Above all no less. »Hear,« it is a warning against thoughtlessness. »Hear,« – that is fully required of us. We should always bind ourselves anew to that which the next sentence says to us. We should devote to it our spirit and our feeling. »Hear« is never addressed only to the ear, it is addressed to our inner life. There is also a deafness of the soul, a hardness of hearing of the heart and of the spirit. We should take the commandment into ourselves and always grasp it anew as if we heard it for the first time. »Hear« it; that and no less is required of us. But also no more. We know in our religion no restriction on thought, no belief which remains imprisoned in fixed ideas, in formulae and dogmas. Every generation may, nay more, should, evolve its own expression of faith and so every individual should attain to a personal expression of his faith. When he has heard and truly heard, he may speak. The principle, the idea, is fixed, always, however, with freedom and scope for diversity of expression and interpretation. The tradition of Judaism was nearly always a living tradition, no sec1. Dtn 6,4.

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tional view was declared to be the only orthodox or standard one. The great religious thinker and leader of the middle ages, Moses ben Maimon, 1 who was born in Spain and lived as an exile in Egypt, and of whom people dared to say in his time: »From Moses, the Prophet, to Moses the son of Maimon, there arose no one like Moses,« this Maimonides produced a book in which he aimed to present all the teachings, commandments and hopes of Judaism. With a mixture of pride and humility he called it »Mischne Torah,« repetition of the Torah, Deuteronomy. Almost as soon as the book was published, another recognised scholar, Abraham ben David of Posquires in Southern France, 2 wrote a commentary on it, in which he had something to say on almost every sentence, at times with vehement and ardent opposition. Soon after printing came in, this book of Maimonides was printed together in the same volume with the contradictory, hostile notes of Abraham ben David; it has frequently been reprinted, but never without the notes. These two men contradicted one another but the teachings of both are brought together and as it were unified in one work. These two men contradicted one another but both of them stand as recognised teachers of the community. It is instructive to consider that old, and often reprinted, book with thesis and antithesis brought together on an equal plane. It is as if it said to us »Hear.« »Hear,« that is expected from us no less and no more. The Shema then continues with »Adonai, the Lord,« which occurs with emphasis in both its parts. The word Adonai is used for the proper name to designate the one Being, the Eternal. Only once a year, on the Day of Atonement, in the Temple of Jerusalem, might it be pronounced, and then by the High Priest. It had to remain in the sphere of the inexpressible, the mysterious. With deep awe should man approach it, the admonition also applies to it: »Take your sandals of your feet, for the place whereon you stand is holy ground.« 3 Mystery surrounds the Eternal Being. This mystery encompasses the whole world, it encompasses our life. We should experience awe before it, so that we may be filled with awe before the Eternal God. All seeking in the field of knowledge must always come to a frontier, beyond which the great mystery begins. The limit may be pushed back but the mystery cannot be cleared away. All contemplation of our life, even if it looks back over decades or seeks to penetrate the 1. Moses Maimonides (1135-1204). 2. Abraham ben David, lebte von ungefhr 1125-1198 in der Provence. 3. Ex 3,5.

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depth of the soul, ultimately reaches a point where it comes upon the mysterious. Behind all which is discovered remains the undiscoverable. That is true of the starry cosmos as well as in the world of man. But this mystery is still the greatest, fundamentally the only certainty which surrounds us. There is one certainty which comes out of the definable, it is small and ephemeral and there is a certainty which is strong and permanent; it emerges out of the deep mystery. It is, above all, the moral certainty, the certainty of the commandment, »Thou shalt, I am the Eternal!« not a definition nor a dogma, but a great living certainty. All things come and go, become and change; but behind all is the eternal certainty, full of mystery, with its command – the Eternal, God, the Lord. Of the eternal God it is said: He is our God. It states a positive demand. The God of philosophy is only an idea, the final attainment of thought; this affirms a knowledge of God. The God of religion is our God, God of our life. Not only is the knowledge of God affirmed here, but the living bond with Him, the constant relation of our life to Him. The value and reality of all religion, and especially of our religion, consists in that it is the religion of our life, that it directs all our days and our deeds, our thoughts and our striving. We have our Holy Scriptures, the book of our religion, but it must not be allowed to happen that when the door of the ark is closed in which the book of instruction from God, the Torah, stands, that the Torah is also shut up in it, that the curtain is drawn over religion. We have our Houses of God, the places of prayer and religious instruction, but it must not be allowed to happen that when the doors of the Synagogues are closed religion is at the same time shut up in it. Religion must not be the prisoner of the Synagogue. Freedom of Religion implies also, and chiefly, religion in life, and this freedom depends on us. Our whole life should be in the service of God, it should become a Tabernacle of God, a Kingdom of God, as our teachers express it. That is the meaning of the words »Our God.« That is what we should »hear.« The Eternal is our God, then the declaration continues: »The Eternal is One.« The Eternal is One, that too is not only a philosophical principle, but a principle of life. One God means also and above all: One Law of life, one morality, one right. There is a polytheism and dualism of morality, a twofold and manifold morality; there is a polytheism and dualism of right, a double and manifold right. This polytheism of morality and right is the real heathendom. Our declaration opposes it. God is the one God; there cannot be two or more kinds of right, not a right for the great and a right for the small, and another right for those in between, not a right for those that are within and 412

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another right for those that stand without. There cannot be two or more kinds of morality, a morality for the rich and a morality for the poor, a morality for the strong and a morality for the weak, a morality for him who orders and a morality for those who have to obey. And similarly there is only one kind of wrong; that which is wrong when one does it is also wrong when perpetrated by others. One right, one morality for all, that is the meaning of monotheism. That is implied in the statement: »The Eternal is One.« Men should hear it every day of their lives. But there is a word that comes before it, at the very beginning, linked with the word »hear.« It is the word »Israel.« To the people of Israel and among the people of Israel was our declaration spoken for the first time. Since ancient days it has been its possession and therefore its duty; as it is said by the first word of the old profession of faith which was written for the New Year and later became the concluding prayer of our Services: »Alenu« – »It is our duty.« It has become our aim. Israel and universalism, both have their place in our religion. It always has humanity in mind. Universalism is inseparable from it. But Israel, too, is inseparable from it. Long ago one of the ancient teachers of the Talmud derived this idea from the Shema; and the popular Bible commentator of the middle ages, Rabbi Salomo Yizchaki of Troyes, called Rashi, 1 introduced the saying of that teacher into his commentary on it. He said that the word »Adonai,« Eternal, occurs twice in our verse to show that He is certainly the God of Israel, but equally He is the God of all men, and that He should be equally God to the one as to the other. Both relations have equal emphasis, both have equal stress. »Hear, O Israel!« comes first, however. We should, so to speak, always hear more than others hear, open our souls more deeply and more widely. There is a historic duty, a historic task, which imparts to every individual duty and task its individual power, its special significance, its special purpose. And so there is a Jewish duty, a Jewish task. We should be the hearing ones among men and therefore the answering ones; we should be the first to comprehend and realise all goodness and righteousness, all which God commands. We shall, so to speak, be pioneers of humanity, the vanguard of history. »Hear, Israel,« so it is said. This proclamation is thousands of years old. Days have come and gone, men have come and gone, history has moved from East to West, and from West to East, from North to South and from South to 1. Raschi (1040-1105).

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North. But the truth of God and His Kingdom remains always. Over all change and flux stands the great command to »hear.« Shema, Yisrael, Adonai Elohenu, Adonai Echad. Hear, O Israel, the Lord is our God, the Lord is One! Ansprache gehalten in der Liberal Jewish Synagogue in London. »The Shema«. Liberal Jewish Monthly 16 (Dez. 1945): S. 77-79.

* Pessach Since the early beginnings of our religion, the Spring Festival has been celebrated as the Festival of our Freedom. To celebrate it, we put on our tables the Bread of Misery. 1 At times this Bread of Woe has not been more than a symbol, whilst, alas, at others it was very real. But at all times the Festival and its token have spoken a plain language. They have reminded us that there cannot be freedom without sacrifice. To be free means above all to be true and faithful to one’s own self. And to be true to one’s own self means to be prepared to forgo and to deny oneself many a thing if the duty commands. There is a civic freedom, every individual’s right to his own personal and private sphere of life into which the community, the State, may not intrude without compelling reasons. There is a political freedom, the right of the individual to share in the administration and the government of the community to which he belongs. For continuity and strength this twofold freedom relies on a third freedom – moral freedom. Moral freedom is the determination of the individual to create from within a set of moral values and to apply it. Moral freedom is the privilege – and also the obligation – to harbour and to show this spirit the outcome and blessing of which is faithfulness. Wherever men live in this moral freedom, civic and political freedom will truly keep alive. It is to this moral, this spiritual freedom that we devote the Spring Festival. We remember and we confess to the roots of this freedom which has gained strength from the sacrifices of the faithful. We realise there is a reward for our keeping faith with Judaism and in making sacrifices for its sake, that there is a blessing bestowed on those who yearn for the true freedom and who are willing to undergo 1. Die »Mazza«, das ungesuerte Brot.

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Individuum und Gemeinschaft

hardship to-day for the sake of the morrow. This, then, is our Passover. »Passover«. AJR Information 1.4 (April 1946): S. 27.

* Individuum und Gemeinschaft Eine Gemeinschaft ist eine Vereinigung von Einzelwesen. Also ein Zusammenschluß von Mnnern und Frauen mit eigenen Wesenszgen, eigenen Sehnschten, Wnschen und Empfindungen. Wir knnen daher sagen: Eine Gemeinschaft verbindet Menschen miteinander, die durch Krfte beseelt sind – oder sein knnen, die gegen diese Gemeinde gerichtet sind oder zumindest die Gesetze der Gemeinschaft zu verletzten pflegen. Das gilt sogar fr die natrlichste und kleinste Gemeinschaft: die Familie. Wir knnen diesen Widerstreit auch noch weiter verfolgen. Je reicher eine Gemeinschaft an großen Persnlichkeiten und reinen Einzelwesen ist, um so vielgestaltiger wird sie an Lebensfhigkeit und starken Krften sein. In derartigen Gemeinden finden wir Menschen, bei denen jene gegen die Gemeinschaft gerichteten Krfte besonders stark ausgeprgt sind. Eine Gemeinschaft ohne diese kraftvollen Persnlichkeiten neigt leicht dazu, starr und unbiegsam zu werden und unter Umstnden auseinanderzufallen. Keine Gemeinschaft kann ihre dynamischen Krfte und Widerstandsfhigkeit erhalten, wenn sie nicht fhig ist, diese Individuen ein- und unterzuordnen. Es sollte jedem klar sein, daß es sowohl Gruppenindividualitt als auch Einzelindividualitt gibt. Menschen knnen durch ihre Verwandtschaft, oder was sonst sie in Gemeinschaft fesselt, verbunden sein. Solche gemeinsamen Faktoren mgen ererbt oder spter im Leben erworben sein, sie mgen als Ziel verfolgt oder auch das Ergebnis des Zusammentreffens von Zeit und Ort sein. Wir finden deshalb hufig innerhalb der großen Gemeinschaft kleinere Gemeinden mit gruppenartigen Wesenszgen – so den Familienkreis, die religise Gemeinde, die politischen Parteien, Handels- und Gesellschaftsgruppen und viele andere hnlicher Art. Die Renaissance war der Anfang einer neuen Epoche und zugleich der Beginn des erwachenden Persnlichkeitsgefhls, das Erwachen der Einzelpersnlichkeit oder der Persnlichkeitsgruppen oder auch ganzer Vlker. In dieser Zeit wurde die Person wieder entdeckt. Diese Entdeckung von neuen Kontinenten und Zonen und der natr415

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lichen Gesetze und Krfte, die bisher unbekannt waren. Worte, wie Mensch, Kirche, die Gemeinschaft von Volk und Staat, gewannen besondere Bedeutung und neue Wichtigkeit. Die Feindschaft zwischen Gemeinschaft und Einzelperson tauchte als Streitfrage zwischen Einzelperson oder Gruppen in dieser Zeit auf. In dieser Zeit entwickelt sich die Feindschaft zwischen Persnlichkeit und Gemeinschaft, die Feindschaft zwischen Gleichmachung aller und der Unterschiedlichkeit im Persnlichen. Die Unterschiedlichkeit ist das natrliche Maß, whrend die Gleichheit verflacht und den Menschen unnatrlich macht. Der Unterschied ist wie der zwischen Natur und knstlichem Produkt. Man ist schnell geneigt, Gleichmaß anzuwenden, das fr jeden leicht erfllbar ist. Wenn alle Menschen gleich ausshen, sich gleich bewegen wrden und dieselbe Denkungsart htten, dann wre es wahrhaftig nicht ntig, viel zu denken. Schließlich fhrt die Gleichmachung aller unvermeidlich zu einem Mangel an Denken, zur Gefhlsklte und Teilnahmslosigkeit, bis durch allgemeine Forderung nach Entfaltung Einhalt geboten wird. Das Verlangen nach Verschiedenheit und nicht in der Allgemeinheit unterzutauchen, zwingt die Einzelperson zu immer neuer berlegung und Anteilnahme, und bereits dadurch schpft und bildet sich neues Leben. Die Feindschaft zwischen Recht und Auffassung bei der Einzelperson oder Gemeinschaft bleibt daher der entscheidende Faktor. Geschichtlich betrachtet gibt es eine sich stndig entwickelnde Kraft, und unter Umstnden entspringt diesem Ringen ein Segen fr die gesamte Menschheit. Ein ehrlicher Kampf richtet sich immer nach dem Gegner, nach seiner Stellung und nach seinem menschlichen Werte. Wollte man diese Betrachtung nicht aufrecht erhalten, wre man gezwungen, menschliches Empfinden zu verleugnen und in diesem Kampf der Ideen andere Bilder der Verherrlichung an ihre Stelle zu setzen. Wir Juden sind die letzten, die diesem Idol geopfert wurden. Wir stellten etwas Unterschiedliches dar, etwas in seiner Besonderheit Verschiedenes, und diese besondere Note wurde durch Jahre hindurch bewahrt und beweist sich als Zeichen unserer selbst und als Beweis unserer ureigensten Anlagen. Wir wurden stets mit kritischen Augen von unserer Umwelt angesehen. Wir sind und waren immer in der Minderheit. ber tausend Jahre hatten wir als Einwanderer unter den Vlkern der Erde gelebt, bis dann in unseren Tagen das jdische Problem wieder entstand und ein hartes Geschick die Juden in alle Lnder zerstreute. Als Juden haben wir mehr als geschichtliches Interesse an der Lsung dieser Frage und dessen 416

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Grundgedanke Individualitt,– auch bei Nichtbereinstimmung – in dem notwendigen Kampf der Ideen vorzuherrschen hat. Unsere eigene Existenz hngt davon ab. Es gibt kein Recht, das schließlich nicht auch Pflichten mit sich bringt. Die Pflicht eines Menschen, der Recht beansprucht, ist, der Gemeinschaft zu dienen. Man gibt seine persnlichen Eigenheiten, um der Gemeinschaft zu dienen, und um daraus wieder Nutzen zu ziehen. Keine Person oder Gruppe darf nach persnlichen Rechten fragen, bevor sie nicht der Gemeinschaft gedient htte. Ein außergewhnliches Geschick, das durch besondere Persnlichkeitswerte gegeben ist, legt auch zur selben Zeit außergewhnliche Pflichten auf. Wir Juden besitzen wertvolle Veranlagungen, die uns entwicklungsmßig auf geistigem Gebiet in Religion und Moral berliefert wurden und ihre besondere Note in der Persnlichkeit tragen. Wir sind verpflichtet, diese Note bestndig aufrecht zu halten und sie der heutigen Zeit anzupassen. Diese berlieferung trgt den Stempel mannigfacher Einflsse, von langen Zeitlufen, von Entstehungsgebieten und selbst von Einflssen der Geschichte. Wir haben dadurch den Gemeinschaften, in denen wir leben, viel zu bieten. Sie werden nicht nur mit dem, was wir ihnen gerade geben, befruchtet, als auch zu einem großen Teil dadurch, mit dem was wir sind und vorstellen. Hier ist unser Glcksfall, dem Leben in den Gemeinschaften eigenes Geprge zu bringen und dahingehend beizutragen, daß die Einzelperson zum Segen fr die Gemeinschaft und die Gemeinschaft zum Segen fr die Einzelperson wird, die in ihr lebt. Verffentlicht als Fortsetzung. »Individuum und Gemeinschaft«. Der Weg 1.1 (1946): S. 1. »Individuum und Gemeinschaft«. Der Weg 1.2 (1946): S. 3.

* Staat und Kultur Neben die bekannte Definition, in der Benjamin Franklin den Menschen dahin bestimmen wollte, dass er »das Werkzeuge machende Lebewesen« sei, kann noch eine andere treten, die besonders von Hellpach 1 hervorgehoben worden ist. Danach ist der Mensch das Lebewesen auf Erden, das von seinen Grosseltern weiss. Auch damit ist ein Charakteristisches hervorgehoben. Fr das Tier 1. Willy Hugo Hellpach (1877-1955). Deutscher Sozialpsychologe.

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beschrnkt sich die normale Beziehung der Generationen darauf, dass das Muttertier das junge Tier kennt, welches es in sich getragen hatte und geboren hat, und dieses Kindestier die Mutter; es ist schon kein Allgemeines und Feststehendes mehr, dass ein Gleiches oder hnliches von dem Vatertier gelte gegenber dem Kindestier, das von ihm gezeugt worden war. Erst der Mensch, und auch er wohl nur im Gange der Zeit, ist dazu gelangt, dass sein Blick zu den Grosseltern und umgekehrt zu den Enkelkindern reichte, und dass durch das Mittel der Sprache und spter der Schrift dann ein Wissen von frheren Tagen zu den spteren hingefhrt wurde. Dadurch ist die eigentmliche menschliche Gemeinschaftsform geschaffen worden, und sie ist – darin liegt wieder ein wesentlicher Unterschied vom Tiere, dessen Gemeinschaftsform immer im Gleichen bleibt – entwicklungsfhig gewesen. Die Familien bedeuten hier ein ganz anderes als bei dem Tiere, und aus diesen Familien ist hier die Sippe geworden, die wieder ein ganz anderes ist als die Herde, und aus den Sippen dann der Stamm, der ein ganz anderes ist als die Rasse. Einen massgebenden neuen Abschnitt in der Geschichte menschlichen Lebens und menschlicher Gemeinschaft hat es dann bezeichnet, dass schweifende Stmme von Jgern und Viehzchtern zum geregelten Ackerbau bergegangen sind. Durch ihn und durch die aus ihm sich ergebende Sesshaftigkeit verband sich der Stamm dauernd mit einem bestimmten Stck der Erde, mit einem bestimmten Lande, auch seine Wohnung wurde jetzt sesshaft, an die Stelle des Zeltes trat das Haus, an die Stelle des Lagers das Dorf und schliesslich die Stadt; die Zeit der Wanderung des Stammes war beendet; er wusste nun, wohin auf Erden er gehrte. Damit lernte der Stamm und lernten die Sippen, Familien und Menschen in ihm ein Wichtiges: sie lernten Grenzen zu ziehen und Grenzen anzuerkennen. Und damit lernten sie, Gesetze zu schaffen und Gesetze zu wahren; die ersten Gesetze sind sicherlich Gesetze der Grenze gewesen. Die Grenze wurde nicht nur Linie fr Platz und Besitz, sondern ebenso Schranke gegen Willkr und Gewalt. Ihnen wurde durch das Gesetz nun die Grenze festgelegt. Um Grenzen und Schranken zu wissen, Grenzen und Schranken zu achten, darauf bauen sich seitdem menschliches Zusammenleben, menschliche Gemeinschaft und auch Verbindung zwischen den Generationen auf; sie stehen und fallen mit dem Gesetze, das dem Begehren und Verlangen die Grenze bestimmt. Schrankenlosigkeit wird zur Zerstrung der Gemeinschaft. Auf diesem Boden hat ein Zweifaches entstehen knnen. Zunchst der Staat. usserlich gesehen war er anfnglich die befestigte Stadt 418

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Staat und Kultur

mit dem sie umgebenden Ackerland und Dorfgebiet, und in vielen Sprachen bezeichnet ja ursprnglich dasselbe Wort die Stadt und den Staat. Aber in seinem Wesen ist er von Beginn an der Platz der Gesetze, und darin hat er seine eigentliche Entwicklungskraft. Die Entwicklung des Gesetzes, dieser Idee der Grenze, ist zur Entwicklung des Staates geworden: zu seinem Wachstum und Aufstieg, wenn das Gesetz erstarkte, oder, wenn es schwcher und inhaltlos oder zum Werkzeug der Willkr wurde, zu seinem Niedergange. Mit dem Staate zugleich entsteht das Bewusstsein einer Geschichte, dieses Bewusstsein einer grossen Gemeinsamkeit der Erinnerungen, Erlebnisse und Hoffnungen, einer bleibenden Verbindung derer, welche waren, und derer, welche sein werden. In dem einen Volke hat dieses Bewusstsein eine Strke und Weite gewonnen, in dem anderen ist es matt und eng geblieben, und es lsst sich beobachten, wie dort, wo der Sinn fr das Gesetz lebendig ist, auch das Geschichtsbewusstsein lebt und sich dehnt. Das andere, was sich auf dem Boden jener dauernden Gemeinschaft hat entwickeln knnen, ist die Kultur – dieses Wort so genommen, wie der deutsche Sprachgebrauch es verwendet. Kultur ist die Durchdringung der Gemeinschaft mit einem Geist, sodass vor dem Gesetz und der Geschichte eine sittliche Idee steht und diese sittliche Idee dem Gesetze und der Geschichte den Weg weisen kann und die Gemeinschaft so nicht nur durch Boden und Geschick gegeben ist, sondern durch einen gemeinsamen wahren Geist. Damit erst gewinnen Volk und Staat einen inneren Wert, eine eigene Wrde. Ganz wie der einzelne Mensch eine Persnlichkeit werden, d. h. ein seelisches, geistiges, sittliches Besitztum in sich entfalten kann, sodass alles, was er tut, was er denkt und spricht, was er erhofft und ersehnt, nun Ausdruck dieser seiner inneren Habe wird und er eine Bedeutung hat nicht nur, und vielleicht nicht einmal zuerst, durch das, was er leistet, sondern vorerst durch das, was er ist, durch seine Persnlichkeit eben, ganz so kann und soll es dem Volke, dem Staate beschieden sein. Sie knnen eine sittliche, eine geistige Kultur haben – diese allein ist ja wahrhaft Kultur – und damit der Menschheit etwas geben schon dadurch, dass sie da sind. Vor jedem Volke steht so seine sittliche Pflicht, die grosse Pflicht der Kultur. Seine Bedeutung, sein Platz in der Menschheit hngt davon ab, dass es sie begreift. Das Ideal, das Gesamtgebot ist eines, aber zu ihm fhren die mannigfachen Wege; jedes Volk kann hier seinen Weg haben und auf ihm zu einer Zukunft gelangen. Ein Volk verirrt sich, wenn es neben diesem Wege des sittlichen Gebotes sein Leben haben will, ein Volk verliert sich, wenn es von diesem Wege fortgeht, 419

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ein Volk betrgt sich, wenn es Scheinideen und Irrgedanken folgt, ein Volk droht zu sterben,wenn der Wille zum sittlichen Ideal in ihm erstorben oder erttet worden ist. Hat ein Volk den sittlichen Geist so verstossen, dann ergiesst sich alles, was es kann, nur in die Gebrechen und Mngel hinein, um sie gross zu machen. Erst wenn ein Volk danach sich erkennt und umkehrt, den Weg zum sittlichen Ideal, den Weg der Kultur wieder findet, erwacht in ihm wieder das wahre Leben, die ihm verliehene Kraft. Eine Zeit seiner Geschichte beginnt wieder. Kultur, ganz wie die Staatsform, schwebt nicht ber den Kpfen, sondern stellt sich in Menschen dar, sie wird in Menschen Wirklichkeit. Wie jede Kultur durch einzelne Menschen geschaffen worden ist, so hngt ihr Dasein in jedem Volke davon ab, dass die Menschen wahrer Kultur in ihm leben, in ihm leben knnen. Ein Volk sinkt herab, wenn die Menschen des Geistes in ihm gesunken sind und sich untreu wurden, oder wenn es sie aus sich ausstiess. Es gibt nur soviel Wahrheit, Gerechtigkeit, Geradheit, Gte in einem Volke, wie es in ihm Menschen der Wahrheit, Gerechtigkeit, Geradheit, Gte gibt. Und nur solange noch solche Menschen im Volke geblieben sind oder in ihm wieder erwachen, zeigt sich ein Weg zur Wiedergeburt, zur Zukunft. Auf jeden einzelnen Menschen kommt es an. Es liegt ein tiefer geschichtlicher Sinn in der alten biblischen Erzhlung, dass die Stadt bewahrt bleiben wird, »um der zehn Gerechten willen, die in ihr sind.« 1 Durch die echten Menschen, die in ihr sind, gewinnt eine Gemeinschaft ihre Kraft und ihre Wrde. Wo das Umgekehrte gelten will, wo der Mensch erst von der Gruppe, von der Klasse, dem Volke her seinen Wert empfangen soll, dort sind immer an die Stelle der Kultur alle die usserlichkeiten und die Zgellosigkeiten getreten, in denen Fanatismus, Arroganz und Chauvinismus ihren Kampf gegen den Geist fhren. Die Geschichte spricht hier deutlich. Der Mensch steht in der Geschichte. Denn ihm ist es verliehen, dass er die kennen kann, von denen er hergekommen ist, und an die denken kann, die von ihm ausgehen. In ein Geschick von Generationen ist er hineingestellt. Er steht im Volke und im Staate, Schicksal empfangend und Schicksal gebend. Volk ist neben Volk, Staat neben Staat gestellt, jedes in seinen Grenzen und mit seinen Gesetzen. Zusammen sollen sie die Menschheit sein. Jedes Volk, jeder Staat hat

1. Gen 18,32.

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sein Eigentmliches, den charakteristischen Ton, die Besonderheit der Kultur. Zusammen sollen sie die Menschheitskultur schaffen. Unverffentlicht, aus dem Jahre 1946. Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’.

* Die vier Stationen des Lebens 1. The Child or Concerning Genius There is a wondrous period in every life. It comes once and never again. It is the time of childhood. A child has bigger eyes than an adult. With wide eyes, it looks at the world; and in its expression shines a message which seems to say that it feels its gaze returned by the big eyes of all the things it sees. As man matures, his eyes grow narrower. It is unusual for one grown, to retain that bigness of eye; and such a one we say still has the eyes of a child. All understanding of the young begins with the realization that the child’s view of things is different from ours. The child looks out on the world amazed and wondering. This is the essential characteristic of its expression. One might even say there is something of the philosopher in the child; for surprise and wonder are the beginning of all true philosophy. The child sees and hears everything for the first time; for it everything is new; it has no preconceived ideas, but only fresh and new perceptions. Each experience impresses it as if it were happening for the first time. »There is nothing new under the sun« could have no meaning to a child. We should allow the child its astonishment, and not lead it too early on the path of study. To encourage seeing and hearing is the beginning of all education. Every child is a poet, an artist; every child has its genius. It sees with its own eyes and hears with its own ears, not as so often happens later in life, with the eyes and ears of others. It lives entirely in its own world; and this it is that makes the artist and the poet. Always and everywhere is the child surrounded by miracle; for it, every experience is unusual, extraordinary. It has the unique gift of ingenuousness and originality. It lives immediately in the world; there is nothing between the child and the things it sees and hears; no acquired theories, no traditional laws, no design, no ulterior motive obtrudes. The child lets the world stream into itself, and reaches out into the world, the universe of all created things; it lives at one with 421

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the whole wide world. From this world, its own world, we should not want to remove the child, to dispossess it. In this respect the best education is to let the child be a child; the best teacher is he who does not want to teach. Because a child is what it is, because it is a child, childhood is the period of life’s great achievement. No man, not even the wisest, will ever again learn as much or as thoroughly, as he did in childhood. The child learns to see and to hear, to know and to recognize; it learns to talk and to associate words with objects; anew it pursues the art, which according to the old story, the first man, Adam, practised, of assigning names to all creatures. A child wants to learn everything; it searches and explores and is the great discoverer; it asks about everything, about the near and the far, the past and the future, as if nothing were alien to it, as if everything were its rightful domain. We may recall Plato’s theory that man’s soul once knew all things, but forgot everything when it was born into this world, and that therefore all learning is nothing but remembering. Therefore we should not drive or press a child; we should give it time. One picks up slowly, another quickly, but in them all dwells the great passion to know. Education often means only to stand by and watch and clear away obstacles – though not all of them, for if man is to perfect his way in the world, he needs must some time encounter obstacles. A child can assimilate so much, because it possesses the wonderful gift of imagination, that faculty of childhood. For it, everything is alive; everything fascinates it; nothing passes it by without calling to it; all things speak to it; with everything it wants communion: with animals, flowers and stones, with clouds and stars. Through its imagination, distance draws near, and fantasy becomes familiar. For it, thinking and seeking, never rest; all things are related; there is no boundary between real and unreal. Therefore it is very rarely the case that a child lies. A child does not lie, it invents; its imagination speaks, and imagination does not know fixed barriers, neither those between things seen and those imagined, nor those between fabrication and fact. But a child sees clearly, just because it sees with imagination; it feels instinctively because it loves, and it sympathizes with everything because of its imagination. Cold, hard men are men without imagination. We should not repress the child’s imagination. It can be blighted if pain and work and worry befall the child too soon, and can also be stifled if an excess of attention or of material things surrounds and constrains it. One should allow a child space, the wide space of its own imagination, in which it wants to live, and live its best. Education can provide one benefit only: clean atmosphere, 422

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fresh air, in which the child’s soul, this soul of imagination, can flourish. Children possess a lively impulse to activity, as well as imagination; and so they love to play. Huyzinga, 1 a Dutch historian, suggests that man, commonly defined as homo sapiens, the reasoning being, should rather be described as homo ludens, the creature that plays. With regard to the child, this description is indeed apt. Every child plays, and plays with everything; and play is the great teacher. At play, children enjoy their own free world, and gradually learn freedom and responsibility. Indeed, whatever a child does learn it learns through play. It sees no difference between playful and serious. Playing is serious; and to be serious for the child is also to play. But as it matures, little by little and more and more, the child learns, through play, the serious business of life. Thus it learns rules, laws and commandments; it learns the difference between »me and thee,« it gets to know that other being which also has hands and feet; it gets to know the community with its laws »thou shalt« and »thou shalt not.« Play is the free school through which the child passes, to gain admittance in due course to formal education. Therefore all teaching is first of all, if we may use the phrase, »joining in play.« Such is childhood; and we can best understand and educate the child when we remember our own childhood. However much life may deny, one thing it confers on all alike: all are born into the world, to start life as children. With every child a new world is created; each birth is heralded with the phrase which ushered in the world’s creation: »In the beginning.« With every child a new world starts, its world of genius. Every man retains as much genius as persists from infancy. To us, the older generation, children are entrusted, each child to its parents and teachers, all children to society at large. To every generation the task is set, to make new life grow up. New life can come on only if space and opportunity are afforded to childhood, so that it may continue as long as nature permits, until nature itself transforms the body and soul of the child into that of the young man. There is a violation of humanity and of human potentiality whenever childhood is prematurely curtailed. Want and suffering can have this effect; and it is a sad and shameful sight to behold children of the poor gazing upon the world with aged eyes. And this same fate may befall children of the well-to-do, if parental ambition presses them too hard, or 1. Johan Huizinga (1872-1945). Historiker sptmittelalterlicher europischer Kultur.

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if they are overindulged. To allow the child its childhood, this is our great task and our great opportunity. Children are little alongside of their elders, who tower above them. Physically they look up to adults, and therefore also spiritually, with respect and sometimes, perhaps, with fear. But there should also be respect of the grown-up for the little one, of the elder for the child. The one cannot exist without the other. The child takes from us and the child gives to us. All education is reciprocal give and take. Children are entrusted to us, that the world may live on. Every child is a question put to us, often a puzzle which we must solve. Its big eyes question, to-day silently, tomorrow perhaps aloud. »If thy child ask thee …« 2. Youth or Thought and Hope Childhood is the precious gift which falls to the lot of every life – as it were through grace. Youth is the mighty summons, the greatest of life, which comes to every man. The two are of equal duration, twelve, thirteen or perhaps fourteen years. The latter follows the former, developing out of it, sometimes more quickly, sometimes more slowly. But between them is a distinct break, a cleft. This break develops gradually, but the result is a deep severance, in many cases perhaps the deepest in life. Unlike the child, the youth does not receive his days as a gift. He must undertake to make them his own. That which formerly was play has now become serious. Heretofore the days had followed one another, all round about the child and for his contemplation; and curiously he had observed them. Now the youth is set upon a path which he must follow. Distant goals are set before him, and he must try to reach them. The days of childhood are like a dream; now the days of youth are real life, life with its dust and stones, its twists and turns. A transformation takes place. Even the body becomes something other from that which it had been, its very growing, a different kind. The child’s growth had been almost continuously quiet, tranquil, harmonious; the youth’s is often turbulent, even painful. Sometimes it seems as if the limbs, stretching and expanding, have to find room in the body. The child is not aware of its growing; the youth is continually conscious of his growth. He realizes that he has a body. He makes discoveries regarding it; he feels what he has not felt before. His body becomes an object of his attention. And now there is discovered also a difference in the relation be424

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tween the growing individual and the older generation. The child had to look up to his elders; and they could pick him up and carry him about. The growing youth steadily approaches adult stature, until at last his eyes are on a level with theirs. No longer does he look up to them; he looks directly at them. He walks beside them, walks as they walk. No longer do they seem so tall and strong; he has grown up to them, and with them he could match his strength. He begins to feel himself their equal and feels free to draw comparisons. He begins to realize the strength of his body, and also its weakness, and with satisfaction or regret he contemplates his stature and physique. The difference between the sexes opens up before him. Every youth experiences what the wondrous old Bible story tells of the first human couple: »And the eyes of them both were opened.« 1 Now he sees things differently from before. He sees the same world, but be sees it in a different way. Faces and figures begin to speak to him in a new and amazing fashion. And in his own eye often there appears this new-found expression. One moment his face is radiant; the next it is veiled and dark. He has entered upon the new world of his discovery. Now comes that testing of what was indicated by the cleanness of atmosphere in which the child grew, whereby the soul may retain its purity. Here the physical experience converges with the spiritual. For just as with his body, so in his inmost self, the realm of his soul, youth works its transformation. The soul begins to mature. Here too the young man begins to perceive and experience as he never did before. Unaccustomed motives and impulses stir within his being. At times it is as if some power were tugging at him and within him – the nature of which he cannot fathom. He is beginning to discover his soul. His self-consciousness begins to emerge and to assert itself. He is aware of his ego. And this ego reacts to life’s impact, sometimes attracted and sometimes repelled. Magnetic forces spring to life; power streams from him and to him, circuits are completed and are broken. A world of the ego is created, a new world of manhood. Personality, with its desire and its will, has come to life. That personality becomes all the livelier as one of the greatest and most potent of human capacities develops. From the soul grows the gift of thought, mind and intellect. Man begins to reflect, to examine and to judge. For the child all things were of one piece; it had seen everything as a whole. Now the intellect begins to distinguish and discriminate. To the child’s mind all things appeared simply and 1. Gen 3,7.

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naturally; but the youth is possessed of an intellect upon which all perceptions break, which reflects all images, refracts the light, and makes it variegated and colourful, but sometimes also distorts and disfigures it. The intellect differentiates and distinguishes between near and far, between things within reach and those which are beyond our grasp. It distinguishes also between past and future, that which has been and that which is to be. Man comes to understand space and time. They become – if one may use Kant’s term in a more popular sense – the forms of his perception and his knowledge. Between the world and the individual now stands man’s intellect, his mind. The youth becomes acquainted with doubt and with the intellectual joy in criticism. Sometimes doubt brings torment; but it is an important instrument of thinking; it helps to find the truth and to achieve conviction. Therefore the teacher should never repress it in the young, and never condemn it. For doubt is often a proof of sincerity and frankness, and can be of great help in the business of education. But even stronger than the power of criticism in the youth, is that other capacity of his intellect: building, hoping. Hope is the distinctive quality of youth. Doubt, if it persists, makes one old; but hope preserves youth. It gives the happy sense of freedom. In the midst of the world, man finds himself in many ways restricted; he meets obstacles and hindrances. But if hope raises before him the image of his future, he is free; his spirit can soar up and onwards. Youth is the time of hope. Thus youth lives a twofold life, sees a twofold world, has a twofold ego. He possesses his life in the world of reality; but also he has his life in the world of his thoughts and hopes. He has his ego which is cast in the often all too narrow world of facts, and his ego which lives in his thoughts and hopes. Into the former world and life he was born and initiated; the latter he built himself, and this world it is that shows his true nature. Decisive for man’s development and real destiny is not only the outward life and the world of his environment, but equally that other world, which hope unveils to him, that world of his ideas and ideals, which is entirely his own. This may well be the effective world for youth. For this world may mean a world of grandeur, goodness and righteousness, and it may become a world of meanness and vulgarity. It can lift him up or drag him down. There is a well known saying, that in his imagination, everyone has been at some time a hero and at sometime a criminal. For youth indeed this is true. This world of freedom is the distinguishing characteristic of youth; it is the evidence of its newly aroused thought and hope, the proof of its reality. 426

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From this point the education of young people must proceed. Education can seldom give, but it can always help. It must always try to discover where it can be of service and how it can be useful. The beginning of all education is attention. Always carefully and continually to observe that second ego, that second life of the young man, to devote attention to it and co-operate with it, that that second ego should become a moral ego, and that that second world, should become a world of duty and right ideals and so should persist, vital and strong, that it may bring to being true life, this should be the aim in the education of youth. The youth is set upon a path. He has to tread the course; no one can relieve him or do it for him. He cannot be carried, and he should not be pulled or driven or pushed. And the young man wants to make his own way. So, education can only mean guidance, help, which is given by showing a way. It is best imparted by men who themselves pursue the right course, and whose influence issues from their character and personality. Personality teaches by virtue of the fact that it exists. It elicits confidence, which flowers when there is agreement in the realm of thought and hope. The young man longs to be able to give his confidence. So he searches for friendship – he searches among his fellows, among his teachers, and of course in father and mother. Youth is the great task of life. That task is entrusted to a partnership consisting of the young man himself and those who are to guide him. Both share this task. Youth should educate itself as it can in truth, because it already knows how to think and to hope. But it must be given help and support through the understanding and companionship of men who think and hope with youth. Such is the education, and such is the friendship which is the due of youth. 3. Maturity or Prose and Poetry Childhood and youth are the short periods of life. They pass away, and are soon a memory. They are succeeded by life’s extensive season, its centre, the period without special designation, which lies between youth and age. Childhood and youth were counted in years; now one may reckon in decades. Youth was on the march; man has arrived. He has gone forth from parents and teachers, and stands on his own ground and on his own feet. His whole life becomes more and more determined, more and more defined. He ceases to grow; novelty and increase are no longer the experiences of his body, and his countenance grows fixed. Now, distinctive characteristics imbue his nature; his character becomes 427

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explicit and set. Now he has his occupation, he acquires his own home, his own family, that special sphere in the midst of the great world. Home and calling determine the limits of his existence. The child with its imagination possessed the earth; the young man, with his ideas and longings, fared forth to all the world. Now, man possesses his own sphere of life, which encompasses him; he belongs to a definite, limited portion of the world. This sphere may be narrow for one and wider for another, but it has become the precinct of every man’s existence, and from year to year he realizes more deeply that his life will remain within its compass. Even his ideas and hopes have their limits; they soar no longer to the boundless heights. Occasionally a man, to cite Ibsen’s phrase, still »waits for the miracle to the journey’s end«; but the extraordinary no longer breaks into his experience. His life remains within its orbit. There have always lived individuals who rebelled against this limiting and fixing of life. Out of their midst went forth the adventurers: nameless ones, who were overwhelmed and lie hidden in forgotten graves, and the famous ones, who achieved success and to whose names memorials are reared. And besides the adventurers, there are the »borderland« individuals, who chafe at the limits of their own circles, and who strive to live in other spheres besides their own. Some of them have become great benefactors, rousing the conscience of men of different sorts and different places, and bridging[tab]gaps between men’s separate spheres. But many of them have been driven to and fro, and have merely played with their lives and lost them, having struggled for a different setting and having only lost their own. There is the great exception, the genius. No limits can confine the genius; his territory is the whole world. There exist very few geniuses. Some centuries produced three or four in quick succession, but many centuries produced none. It is good that they are not many; a genius is like an earthquake, and too many earthquakes, the world cannot survive. But even a genius seeks at last his definite place, his own domain with his own limitations. One need only think of Shakespeare, who one day permitted his genius to rest, to become the man of a definite place. And it was the same (to mention only poets) with others: Dante, who until his dying day carried with him a longing for a certain place, the scene of his old home, or Goethe, in whose breast there battled continually the longing for his own domain, with the impulse to genius. Perhaps this is a distinction between the real, true genius and the specious one: the real genius is distinguished by the gift of great patience, a genius for patience, but perhaps also by a constant passion for his destined sphere. 428

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As a general rule, it is surely true that, in maturity, »nel mezzo del camin di nostra vita,« 1 a reconciliation is achieved between man and his domain, whether only circumstance or intention has brought the two together. Now the tension between man and his place can become the story of human life. Man can become the fate of his domain, and the place can become the fate of man. There are men who own their places, and there are others whose places own them, on the one hand, masters, even despots, of their sphere, and on the other, servants, even slaves, of their positions. It is the foremost task in social service, to teach the former sort of people to acquire the will also to belong to their respective spheres, and to help the other sort to perceive and to dare to believe that their spheres also belong to them. To give the place something of the soul of man and to give the soul of man something of the atmosphere of the place, might well be the goal in this endeavour. Man’s domains are of many kinds: they may be narrow or broad, they may closely confine the range of vision, or they may afford a spacious view. But whatever the sphere in which man finds himself, it will not escape routine, restriction and petty detail. In every station, even the highest, there are many tiny duties; even the greatest task begins with respect for detail. And everywhere there is also dullness and bleakness. The overriding peril of life comes to be that man’s days are consumed by dullness, triviality and routine, and there develops a sort of routine of the soul. Mere utility can get hold of a man, and prosiness can master him. Once he had been a child full of imagination and poetic vigour; but now the old imagination fades away in the midst of the routine of life. Once he had been a young man, full of ideas and hopes, full of longing; but the old expectations and ideals were bashed against the confines of his place in life. He retains his separate days, but he has lost the way of life; he still has intentions, but vision fails. Poesy has faded and died away, and potent prosiness stands over him. Existence becomes a succession of days. A man who lives for the day is still better than he who lives only for the hour. But he no longer lives in the fullness of life. He may call himself a realist; but »realism« is often a cloak behind which hide pettiness, weariness, timidity or retreat from the command. Every life, especially in the years of maturity, is cast into the struggle between poetry and prose. It is the struggle between interest and commandment, between utility and ideal, between the immediate and the distant view, between the moment and life. It is the struggle for the song of life. We 1. Ital.: »In der Mitte unseres Lebensweges«.

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make mention of charity, love, selflessness, self-sacrifice, devotion, faithfulness, faith, piety – in them all, it is the poetry of life which inheres. How much of it remains in being, is the measure of the true value of life. It can dwell in any kind of place, man can recapture it within himself, and can make it shine again from out his being; ever again it can triumph over the prose of life. Only it seems as if there are people who are afraid or even ashamed to possess it. It seems as if one must tell these people: You are bolder, nobler, more pious and more holy than you realize; there is more poetry in you than you want to confess; come, know your true self! A twofold help is given man to support him in his struggle with prose. The first is religion, which is at once help and fulfilment, for it is essentially the supreme gift which can preserve or even renew the spirit of childhood and youth. A pious man can never be wholly prosaic, and at heart can never be old, for something of his childhood and youth remains within his soul. And the second help is young life growing up before our eyes. In it we can re-live our own childhood, our own youth. So it is that he who would teach and guide must have kept alive or have restored within himself the spirit of childhood and of youth. The two kinds of support are inseparable. Children can lead us back to piety, and piety endows us with grace to understand and teach the child. No complete life, no life of achievement, can be without prose, and there should be no life without poetry. Man should acquire his settled position, his existence were not justified if he achieved it not; but at the same time he must hold fast to the long way of life, without which his own fulfillment can never be realized. He can gain and guard them both. He can occupy his appointed position, which belongs to him and to which he belongs, but at the same time he does not leave the highway of life; he is, as Beethoven says of the artist and as can be said of every man, »always en route.« He possesses work and ideal, calling and longing, his special sphere and the wide world. He gives prose its place, but still he claims his poetry. His is the life entire. 4. Old Age or Man of Two Worlds At some time, for one earlier, for another later, every man comes to the realization that he is entering upon the last stage of his life, old age. He contemplates his own person, and observes that his figure is not what once it was. He looks about him, and recognizes that a new generation has grown up and asserts its title. Counting his years, he must admit to himself that the course remaining before him is neces430

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sarily shorter than that which lies behind him. The words of the Psalm, »The days of our years are three-score years and ten, or even by reason of strength four-score years,« 1 these words, which formerly had sounded to him like a song from afar, like a tale from others’ lives, have now become a proposition applicable to his own life. He realizes that he is face to face with old age. Length of days is impossible without old age. Some men appear startled when they are seized with this certainty. Like the head of Medusa, which transfixes all who behold it, the vision of old age rises before them, and they wish that they could avert their gaze. Some people even try to deceive themselves as to the passing of the years; they strive to hold them back; they exert themselves to capture the semblance of former years. It is an utterly futile effort; and for some may issue in tragedy, in that they are spiritually crushed; and others it may plunge into a comic situation in which their very character fades away. But one can understand this desire, for old age does not come overnight, there are years of transition. The French language has an expression for this transitional period, the half serious, half playful phrase, »entre deux ages,« »between two stages of life.« It is a period in which it may well happen that men do not know to which stage they belong, and sometimes want to cling to years which have passed. But there comes a day when this transition is complete, and old age has set in. Old age has set in. This need not mean anything grievous or melancholy. Old age too is a season of our life. It can and should have its own significance, as did life’s former stages. Old age also can give life new vigour, can make life’s power grow. Only now, the emphasis lies more and more on the inner life, the gifts and faculties of the spirit. Already in former periods, the life of the soul was decisive; its purity, its verve, its imagination endowed life with import and direction. Now, in old age, when bodily strength declines, everything depends on spiritual vigour, and this can still flourish and bear fruit. As regards intellectual capacity and achievement, casual observation in any sphere of life reveals the truth that they are not determined by years. This same conclusion is clearly envident in the history of genius. Kant became what he is for us after two parts of his life were spent; his three monumental works, which mark a turningpoint in the history of philosophy, he gave to the world between his fifty-seventh and his sixty-sixth years, and even after that he undertook and completed other important works. Further examples are 1. Ps 90,10.

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Pindar, Sophocles and Plato in antiquity, Michelangelo, Titian and Goethe in modern times. They all continued to produce their immortal works to the end of their long lives. And still more examples abound. Genius has sometimes matured early, sometimes late; in some instances genius has burned itself out quickly, in others it has maintained its vigour to the end. Evident as all this is in the intellectual and artistic spheres, a similar observation may be made in the spiritual sphere generally, and especially in regard to the heart’s endowment, the gifts of sympathy and understanding. One may speak of genius in the domain of the heart, genius in feeling and sympathy, and this genius is forever young and continually renews youth. This lively spiritual endowment may be enjoyed by all. It seeks to live in every man; for it has its roots in common humanity and flourishes in all that the individual experiences and in all that through which the individual finds self-realization. It is primarily evident in, and ever dependent upon an inner persistence of childhood and youth. For there is an inner childhood and youth which can never grow old. It endows old age with peculiar grace, with a simple charm, a soulful attraction; it enables old age to remain near to the new generation. We have all met men who display this propensity, men from whom a soulful vigour and youthfulness shine forth. He who retains this inner liveliness is armed against many an evil with which old age is threatened; for, like every other period of life, this last one also has it special pitfalls. The commonest danger is for a man to be overwhelmed by the past. He compares the time in which he now lives, and in which many things to which he was accustomed can no longer correspond to the familiar usage – he compares this time with that other, in which he fared forth on the way of life. And because he then looked forward to the whole of life before him and could set his own goals, those earlier days seem to have been the better. He becomes a »laudator temporis acti,« »a eulogist of the vanished age,« who fails to understand the present and turns away from it, sullen, soured or contentious. Furthermore, as a man becomes older, the circle of his memories widens and he comes to enjoy living in them, for within their compass he is lord alone, whereas the realm of daily life he needs must share with others. So memory comes to fill the spaces of his soul, leaving room for little else. He begins to retire into his memories, and so easily he can come to subsist, ignoring the present and devoid of hope. And further, memory smoothes and softens, like a radiant sunset after a stormy day. The ache of life’s troubles, the strain of 432

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the burden, the agony of sorrow, these are no more, for pain is not stored up in memory. But bright and happy recollections live on. And so old times appear the better. As in the life of individuals, so also in the life of nations. Ever again in the course of history »the good old times« are praised. Ever again – and so it is a vain endeavour to try to discover those good old times in truth; however far back one goes, one will find that every generation has spoken of them – they are everywhere and nowhere. Along with this danger which confronts old age, one may readily encounter another peril, closely related to the former. Through the passage of years, everyone gets to know many individuals; and to get to know men often means to experience disillusion. Many a man disappoints himself; and now, being unwilling to admit this as he looks back upon life, he tries to believe that others have disappointed him; and a hatred generated against himself, he strives to deflect upon others. The philosopher of modern pessimism, who at the same time was the philosopher of exaggeration, Arthur Schopenhauer, a man of kindly disposition, whose misfortune and fate it was that, perhaps through the fault of his mother, he enjoyed too little childhood and youth and so was too soon overcome by old age, made a collection of his experiences with men, and called it »alimentum misanthropiae,« »food for misanthropy.« This is indeed a peril of the aged: contempt for one’s fellowman. Perhaps sometimes there might be some good in it; it can bestow an inner independence in respect of agitation of the moment; perhaps there can be no great love of man, without a tiny drop of contempt. But it still remains a particular danger of old age. The same danger can confront noble characters, especially men with a strong sense of duty, in a worthier way. In such cases, the danger is that, though a man works hard and performs much service for his fellow men, yet he does all this without real affection for mankind. All his life long he had fought for ideals and has been misunderstood; he has striven to make men happy and has found disappointment for himself; he has learned the loneliness of the man who is given to the service of high aims. He still struggles for these aims, gallantly he does his duty, but the old enthusiasm, the heartfelt yearning for his fellow man, that, in old age, has faded or passed away. There exists a moving letter written to his sister, by General Gordon, 1 a truly pious man, and as pious men not infrequently are, a 1. Charles George Gordon (1833-1885). Britischer Soldat und Verwalter, der sich fortdauernd mit der Bibel auseinandersetzte und ein tiefgehendes Pflichtgefhl besaß.

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genius of adventure. In the service of God there must always be something of adventure. He wrote that the older he became (he never really became old) the more he accustomed himself to do for his fellow men all that he could without asking whether they appreciated it or not, for such is the way of God, Who causes the rain to fall and the sun to shine upon the just and the unjust alike. This inner tiredness is a danger of old age, which easily can beset the best of men. If this danger can be overcome, and if a warm heart can remain along with a lively sense of duty, then indeed the grace of old age will come to finest flower. Most decidedly old age has its gifts and graces. To be sure, it is prone to constant aches and pains, woes and worries; the body becomes, if one may say so, narrower and drier. But the spirit becomes correspondingly ampler and fuller. It has experienced much; it has learned that much is illusory and much evanescent, that what glitters may prove to be dross, and that which is dull, gold, that quick success is often doomed to collapse, and much tedious effort frequently achieves lasting progress. In the school of life man has learned to discriminate, to gauge, and to judge. For herein lies true judgment: to see the great as great and the small as small, and to distinguish between the momentary and the lasting. Such is the wisdom of old age, and such, its grace. To be sure, old age suggests deprivation. He who is old is likely to be lonely. A husband loses his wife, a wife, her husband, brothers, sisters, friends, all pass away. Leopold Zunz, 1 the great figure in the modern movement called »science of Judaism« is reported to have said in his old age: »Friends are never born; they only die.« All this is true; but it is not the whole truth. For men who really have lived for one another, go on living in one another. What we have truly possessed, can never be wholly taken away from us. It is not merely a world of memories that persists; but the reality of life endures. So testifies the truth of love and faith. And something else. As long as each day yields its fruit, man lives mainly in this world. But when a dear one, whom he has truly loved and who has truly loved him, is taken away, then he finds his roots in two worlds, in this world and in the world beyond. Here and there, he now lives, here and there his spirit takes root. Nothing worldly can crush him any more. The horizon of his life has now extended; he looks into new distances. As he gets old, the prospect of his earthly life must needs become narrower – how many days can remain to 1. Leopold Zunz (1794-1886). Mitbegrnder der Wissenschaft des Judentums.

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him? But now a greater future beckons him: a future on the earth, the life of the new generations that follow after him, and a future of the secret of the world beyond, the secret of eternity. Thus also does he live in two worlds. Stronger and livelier than ever before, reality now stands before him; and stronger and livelier than ever before, he feels it in himself. Everything round about him and within him merges into one profound unity. He begins to live so as to penetrate more deeply into the secret which envelops all and inheres in everything. This secret has become for him the liveliest reality. Thus has he entered into the sanctum of true piety – for no man can be pious without awareness of mystery; piety is the sense for the secret. He has entered into a world in which he achieves complete assurance, which naught can destroy or impair. Something of what the child had, comes back to man in his old age, only in a more serious way, and now he is aware of it. He seeks and beholds what lies beyond all things, he seeks and beholds the reality behind appearance. Something the young man had, he also possesses now, only more clearly and on a grander scale. He thinks broadly and trusts firmly; he has his ideas of life. And he possesses something of that quality so needful to man in his prime, but now on a higher plane. He possesses his own poesy; be looks down upon much of the mere prose of life. Thus old age possesses that for which it is intended; it need not come as mere fate. To guard and enrich the soul is the great opportunity and the great task set for it. Old age is often called decline. It need not be. A man who has become old, can stride upon the mountains of life, looking down into the valley from which he has climbed, and at the same time gazing up to heaven. He is a man of two worlds. Eine Reihe von vier Aufstzen zusammengefaßt unter dem Titel »The Four Stages of Life«. »The Child or Concerning Genius«. Synagogue Review 12 (Jan. 1946): S. 33-35. »Youth or Thought and Hope«. Synagogue Review 12 (Mrz 1946): S. 49-52. »Maturity or Prose and Poetry«. Synagogue Review 12 (April 1946): S. 61-63. »Old Age or Man of Two Worlds«. Synagogue Review 12 (Mai 1946): S. 73-75.

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Leben und Kunst Every art combines, in its creative work, two elements. On the one hand, it is a science involving needful patience, a technique, with all the inevitable accompanying application. No one can become an artist without mastering some field of knowledge. One must have so steeped himself in his subject, so learned it step by step, so integrated it into himself, that his attainment not only exists in the sphere of abstract ideas, but can function in the world of reality. Without this science and this industry, no genius can be revealed. John Constable, of whose pictures one may often think, as of a vision, the inspiration of a moment, nevertheless used to say: »Painting is a science, in which pictures are the experiments.« The real artist, like the man of science – for in the last analysis, science too is an art – sets a problem which he strives to solve with ever new methods and ever new means – the experiments sometimes succeeding, and sometimes coming to grief. In truth the life-work of great artists has been continuous experiment: one need but recall Leonardo da Vinci and Michelangelo. Such is the truth, because every art, and likewise every science, is a struggle with the matter to which it wants to give a form. And, each kind of material demands specific skills, particular experiences and its appropriate technique. Without learning that is starting ever anew, without perseverance which does not flinch before fatigue or failure, no work of art can ever be created. But, obviously, technique and diligence of themselves cannot create a work of art. Of even higher import is that other element which provides the basis and the substance of art: that deep and potent endowment, that artistic personality, in which there live the power and the passion to create. Authentic and genuine endowment cannot be suppressed; it is bound to break through one day. Art is never passive, never placid; in the work of art as in every form of creative work, there lives excitement, yes even convulsion, that quality which Plato had in mind when, with reference to the poetic genius, he said that in him lives a »heavenly madness.« In modern times, the same idea was expressed in milder form by Emile Zola, that scholar-poet, who contemplated and struggled to express the march of the generations and the movements of the masses of humanity. Thus he sought to explain the function of art: »Un objet d’art, c’est un coin de nature vu travers d’un temperament«; »An object of art is a bit of nature, seen through a temperament.« Indeed, the artist beholds a bit of nature, but he does not regard it without emotion; he is possessed by it; it will not release him, he is forced to portray it; that objective entity 436

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he must imbue with a particular form, a characteristic aspect, that form and that aspect which in that moment had confronted him. These two are both essential: that particular personal endowment, that inspiration, by virtue of which an individual sees, hears or experiences something which other men do not, or not to the same degree, see, hear or experience; and also the knowledge, the technique, which enables that individual to make such a representation of his own novel experience that others too may be able to share it and to possess it for their own. In other words, an experience takes possession of the artist, because from out of it there speaks to him something special and unique, through it there is unfolded to him a new and particular significance. An object or an event acquires significance, when it reveals something, that is to say, when it induces an experience or an intimation of the unseen, the secret. The object or the event thereby displays its inner being, its soul. The ordinary man knows but the externality of objects, events and persons. The artist experiences, through all outward appearances, an inner reality, which testifies to that which is more great, more lofty and more true. He grasps the inmost meanings; they are to him unfolded. It has been rightly said of the works of Rembrandt, especially of those of his mature age, that, when one contemplates them, one appreciates how, for that artist, behind the figures which he portrays, there looms reality, invisible, universal, sublime, eternal, which somehow, in light or in shadow, manifests itself. But this observation applies in truth to every artist; every artist seeks to portray, not only what is set before his eyes, but also, and perhaps even more, that which lies beyond. Herein lies the explanation on artistic grounds, of the impossibility of portraying the one Eternal God. The very nature of art precludes any sort of likeness or image of the Eternal One. For beyond Him, there can be nothing higher, nothing more sublime; He is »the first and the last and besides Him, there is no god« (Isa. 44, 6). He can reveal only Himself, Himself alone and His own being; He testifies to no other thing, no other being, beyond Himself, there subsists in Him no significance other than His own self. There is no further unseen reality beyond Him; He is Himself the invisible, the soul of all created things. He is the »I am that I am.« Art could indeed make images of the idols, and in later times, of persons in the godhead, for beyond these, a mightier, an absolute Being was felt or believed to exist; but of the one God, there can be no image. We cannot contemplate Him in relation to anything beyond Himself; we must relate all things to Him. We cannot represent Him, but can only bear witness 437

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to Him, bear witness by means of the pious life, through the good deed, which man performs for the sake of God. A man who thus witnesses to God through his life, becomes an artist himself, and his life, a work of art. His life acquires significance, for everything in his life that is important and genuine, is related to God. Through all that he sees or does or thinks, is he conscious of the one and only God, who is the beginning and the end of all reality. Beyond every decision in life, he hears a great command, beyond every question, a great assurance, beyond every frustration, a great secret: the command, the assurance, the secret, which inhere in the one and only God. This is the meaning of »holy.« To be holy means to know and to demonstrate through one’s life that the value of one’s days consists not only in the material that is provided for them, nor yet in their visible achievement, but rather in the capacity of man to recognize and grasp, through all the passing circumstances, that which is abiding, essential and mysterious, and to appreciate that he is allied with the hidden but most certain source of all reality, the one God, so that his changeful hours are transformed into a life, an integrated life, which is something more than a succession of days. Herein also lies the significance of the phrase, »man was created in the image of God«; for this phrase also suggests that man can experience, and through his life should bear witness to, his portion in that Reality from which all creation flows, and from whose mysterious presence issue all life, all law, all knowledge and all faith. He who holds such conviction and who fashions his life by that conviction, is possessed by an artistic, yes the highest, artistic spirit. His mortal, finite life becomes for him the manifestation of immortality and infinity, the revelation of the reality beyond all things, on which all things depend. Unbeknownst to himself he has made his life a work of art. All that we have described as characteristic of the artist is suggestive of that which seeks expression in the life of every man. Man is born without choice, but he proceeds on his way, as a man with a will and with a temperament; he confronts life, full of enquiries, doubts, desires and hopes. The days of his life, with their endowments and their obligations, are the material with which he has to struggle, in order to mould it and fashion it. Each day, as it were, is the experiment of his life. How often must he start anew and make a fresh attempt, how often must he overcome error and disappointment. Such is the lot of the artist, the lot of all endowment, and such is the destiny of life. For an endowment waits for development in every man, the endowment for his individual life; indeed one may 438

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say, some genius invests every man, the genius of his unique and personal existence. But no genius can flower without struggle, without patience, without industry. These attributes every man needs, if he would give form to his life. He needs endurance to struggle and patience to submit: he needs these for himself and also in his relations with others, as he seeks to perform the tasks which his own life and the lives of others, set before him. Through this, man’s spiritual, moral patience, the artistic element of his life develops: his life’s endowment comes to flower. This power can grow only out of a deep love; what Zola called »temperament« is in truth this love. It is this that distinguishes the true artist from the mere dilettante, from him who only plays with his talent. There are also dilettantes, triflers of life; such are they who possess not this deep love. To this love alone is the secret, the soul of life, unlocked. Love alone enables man to apprehend the spiritual, to see and to hear that which must remain concealed from the loveless, the indifferent, who concern themselves only with externalities. And where love takes possession, she invests with faithfulness; there is no true love without loyalty. This love and this loyalty are for the task itself and for the object of the task; and so they can never reach satiety. Love never feels itself complete; there can be no finished love, no accomplished loyalty. Love never abandons the task, but through performance is evermore renewed, is ever again revived. Of the artist, Beethoven says that he is always en route. This applies also to the man who is the master of his life and who consciously fashions it; he moves from task to task, »from strength to strength« (Ps. 84, 8). Beethoven’s phrase touching the artist is identical, in the deepest sense, with the Psalmist’s commendation of the pious. The pious man never thinks he has attained his goal; throughout his life, he is ever en route. What the artist experiences through his creative work, man experiences through his life. And so, all that has here been said of the artist and his work, applies to a still wider and even more momentous sphere, for it all appertains to religion and to the life of piety. For the substance of religion is the experience of the revelation of God in the world and in life; to the worldly man, the universe is only the universe, and life is merely life. The religious temper is the capacity to feel the spirit, the mystery, in all things; the worldly man is he who has no sense of mystery. Religious belief is the conviction of and the reliance on that reality which love alone can know and feel; the worldly man is he who lacks the force and fortitude of love. The fear of Heaven is the constant vision of Goodness and Righteousness, and the constant 439

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obedience to His commands; the worldly man understands naught but expediency and temporal advantage. Faith in God is the capacity to pronounce the sublime »nevertheless« in the teeth of passing circumstances, and, sustained by this inner patience, to proceed through life; the worldly man is buffeted by the fortune of each passing day and accepts the verdict of each passing season, and only through worldly success can justify his life. Piety is the employment of life as a witness to that which man, ever conscious of God’s presence in the world, can be; to the worldly man, life is but the factual sum of the achievements of an individual’s faculties. The creative element in man which applies itself to very life, to form it and to fashion it, to make it life in truth – that is religion. It has often been pointed out that Judaism lacks what in other faiths is called religious art. It has already been explained that such religious art finds no place in Judaism because the divine Unity is necessarily beyond all representation; only His creations and the creatures made in His image can be portrayed. But this reputed deficiency has another, and an equally weighty cause. A mighty truth is here suggested. Judaism is concerned first of all with the artistic faculty and power with which every human personality is endowed, with the artistic venture which his own life offers every man. So, for Judaism, the artistic impulse and the artistic urge are directed primarily to life itself. The gaze of Judaism is fixed on the portrayal of the individual life. »Life and Art«. Synagogue Review 12.8 (1947): S. 109-111. [April]

* Gerechtigkeit From the earliest times, justice has been held up before mankind as a command. But the word that expresses the idea of justice has, in the course of time, conveyed a variety of meanings. The idea has often been conceived in a negative way: to do no harm to anyone; and frequently also in a positive way: to give to everyone his due. Sometimes its purport has been confined to what men do and what profits them; thus, the ethics of the Greeks and the Romans for the most part represented justice as the way in which the various interests of men are brought into harmony, the way in which that which men should give and that which they should receive are reconciled. At times, the significance of the concept has been broadened and deepened to des440

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ignate that virtue from which all other virtues derive their vital strength; Biblical wisdom in particular has seen in justice the effective source of fulfilment of all of life’s potentialities, so that for it, the just man is identical with the pious man. Once again, the field to which justice is to be extended, has not always been the same in human thought. Sometimes, justice was thought to consist only in loyalty towards a formal code, that is in legalism; whereas at other times it was conceived as demanding the acknowledgement of an eternal law, high above all human legislation, that is, a morality in the highest and best sense of the word. And finally, the word justice met the same fate as other words denoting virtues: it became a cloak behind which many an egoism could hide: one spoke of justice and thought of advantage; one said justice and meant power. So the question is forced upon us: what indeed is justice, that true justice that should stand before mankind as an enduring command? First of all, we can make this simple, fundamental assertion: justice is that which the ancient wisdom of many peoples has called »the golden rule«: »What thou dost not desire others to do to thee, do thou not unto others.« 1 This dictum expresses in a simple way the idea contained in another famous sentence, namely, the sentence with which Kant, in the characteristic and charming style which he created for his philosophy, expounded his »categorical imperative«: »Act always as if the maxim whereby thou dost act, were to become through thy will a universal law of nature.« One could express the same idea more simply: Before acting, always ask thyself whether thou dost desire that exactly the same should be done to thee and to those who are dear to thee. Ask thyself whether thou dost agree that, what thou intendest to do, should be made a universal law, a law applicable at all times and in all places to thee and thine. It sounds so simple – perhaps one who fancies himself intellectually superior may say, so elementary! Yet with this simple, elementary demand justice begins. Justice is the demand for, and the acknowledgement of the fact that there exists one standard. There can be only one justice. Wherever there are two kinds of right, two kinds of weights, two kinds of measures, there, justice is destroyed. This is again an elementary expression, this image of a standard by virtue of which a yard has to be a yard and a quart a quart, everywhere and always. But this is the true representation of what justice is, or at least, of what justice starts with. It was, therefore, a turning point, in the history of human justice, 1. Babylonischer Talmud, Schabbat 31a.

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when peoples demanded that they should be told clearly and distinctly what was right and law in the land, the one, reliable, enduring standard for all, when they demanded that this law should be inscribed on stone or written down, so that everybody in the land should know what was law, and everybody could appeal to it. For this reason, the old lawgivers were honoured by the nations; for this reason the greatness of Rome – for Rome became mighty primarily through its law – began when at the conclusion of its bloodless, glorious revolution, the »secessio in montem sacrum,« 1 the formulation and writing down of the Law of the Twelve Tables, the one law for all alike, was achieved by the Roman people. The one and equal law, this law which creates right, is a way to justice. For this true law purposes to give expression to the idea that a judgment which is applied or awarded to any man, should also be applied or awarded to any other. Its propositions are intended for universal application, and justice can issue from them. Here we behold an original, important, indispensable departure. But it is only a beginning. To believe that thereby the goal is already achieved, the goal of justice, this were a fatal mistake; and it is a mistake to which, unfortunately, history often testifies. In order that the goal of justice may be achieved, one thing must never be forgotten, one thing which sounds so self-evident, but which needs be repeated over and again, namely, that in the life of man everything gets its vitality, its reality, through man alone. Law provides statutes, often important and decisive, but justice is not a matter of statutes, but is the work of man. Human beings are here concerned. Even the best law is weak and is doomed to die, without the right men to apply and to protect it. Even the most explicit law can be evaded or perverted. It has been pointed out with good reason that it were better for a people to have an inferior law but excellent officials and judges to administer it, than to have an exemplary law in the hands of unworthy men. But history shows how often this truth has been forgotten. Not infrequently men have thought that they had liberated a nation when they had given it laws in which the idea of freedom inhered, that they had led a nation to justice when they had prepared for it laws which expressed the idea of justice. Such imagining has always proved but a brief dream, to be followed inevitably by a gloomy awakening. It is men of justice that count. The essential course is the education of just men.

1. Lat.: »Rckzug zum Heiligen Berg«.

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Such is the true path also, because behind the law, if it is to be a reality, must stand the power of justice, that is the strong and determined will of just men. The best law remains unreal, and will be flouted, unless there are at hand those who guarantee and defend it, who vouch for and enforce it. A law with no power behind it is a »passing shadow.« Therefore it is often necessary to engage in struggle for the right, a struggle in which the individual pleads in his own behalf the right of all men, and, for the sake of justice, defends his own right. The struggle for one’s individual rights becomes in truth the struggle for justice, by virtue of the fact that it is at the same time, and from an essentially noble motive, a struggle for the rights of all men. A selfish claim in which an individual demanded right for himself alone, would be the denial of justice. This, and this only, is justice: that we should recognize and demand all that we claim and seek as right for ourselves, with the same determination, as right for others, for all others, everywhere. To see oneself in one’s fellowman, and to discover one’s fellowman in oneself, so that the right of oneself and that of one’s fellow, the right of one’s fellow and of oneself, become one, herein is revealed the capacity for justice, and from hence develops the will to justice. And the right of one’s fellowman means, first of all, the right of him who has nothing else but the right, his God-given right, the right of the weak and dispossessed. The power and distinction of Biblical law derive from the fact that it is written from the point of view of the humble and weak, the poor, the needy, the widow, the fatherless, the stranger, the slave. Here was something novel in the history of law. For everywhere else it was from the position of the powerful and rich that laws were promulgated. It was a new age of justice that opened with Biblical law – the age of a positive, social justice. It was indeed a »new song« when the Seventy-second Psalm, the last of »the prayers of David the son of Jesse« proclaimed with regard to the justice of the rulers: »He shall judge the poor of the people, he shall save the children of the needy, and shall crush the oppressor … he shall deliver the needy when he crieth, the poor also, and him that hath no helper.« (Psalm 72, 4 and 12) True religion is based on the recognition of the one God; and the recognition of God is real and true only if it becomes the recognition of man whom God has created; and the recognition of man is first and foremost the recognition of his right, of the uniform and impartial, positive right that is due to all alike. Religion is not only justice; but no true religion is possible unless it is a religion of true justice. 443

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The great task of religion is to raise up men who are possessed of this quality of justice. Through such just men, peoples and states have become great, and they have continued great and strong as long as they have maintained their loyalty to justice. Where justice prevails, there do men truly live together. It is the foundation of all human society. Erster Aufsatz einer Trilogie zu den Themen Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Frieden. »Justice«. Synagogue Review 22.5 (Jan. 1948): S. 69-70.

* Menschlichkeit The first need of humanity, if men are to form a society, is justice – the recognition that there is one law which is valid for all. Justice is the foundation of everything. Through it, man gains self-respect: an attitude which is quite different from pride, and which is indeed the antithesis of pride, and the best protection against it. Nothing can replace justice, not even charitableness and kindness. It is an interesting phenomenon that men have always been more inclined to act charitably towards a person than to treat him justly. Perhaps they even thought secretly that it was no longer necessary to treat him justly, since they had granted him something seemingly better – an act of kindness. It was, to give an example, infinitely easier to bestow gifts and kind words on slaves than to offer them their freedom. There is an interesting history of the appeasement of the urge for justice by acts of charity. It is true we should not weary of acting charitably. This goes without saying. Yet everyone, even the charitable man, should be reminded frequently that justice is something which cannot be discharged or redeemed by anything else. It has no substitute. Yet justice, to many, seems harsh and inflexible. There must often be the temptation to prefer virtues of a softer, gentler character. And, indeed, justice cannot exist without a certain degree of severity – without the resolve to defend and preserve it by destroying or chaining injustice. Justice is imperfect; moreover, if it is weakened by the lack of will and strength to be punitive, it becomes, in consequence rendered incapable of asserting its authority. This is undoubtedly true. But justice achieves its full competence – and the resolve to be severe obtains, one might almost say, its consecration – only when it is inspired by humanity. Humanity makes justice legitimate. 444

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Menschlichkeit

The question may arise: »What is humanity, what does this word mean which is so often loosely and rashly used?« Humanity, it must be stressed from the start, has nothing to do with sentimentality. It makes quite definite claims upon our minds and wills. The commandment to be humane refers to something that is quite sober and simple. All humanitarianism starts with a recognition of the differences between men. There is only one justice, and it applies one standard to all, but men are different. There are no two alike. And in order to be humane, one has to accept this genuinely and honestly. Each person, each group, is entitled to its individuality. Thus the other person differs from myself or from us. Perhaps he is the very opposite of us in some respects. Yet he is a man; he too was conceived and born of a woman, and has had to experience growth, thoughts, feelings and desires; he, too, has sought and erred. Just like you and me, he is a man. Thus he is different from all other men, having peculiarities, his individuality. He is the individuum ineffabile, the inexplicable individual. The recognition of these facts is the preliminary condition for humaneness; it is the first decisive step towards it. Whenever this fact, and the right to differentiate which derives from it, are ignored, suppressed or denied, whenever uniformity is praised and required, and justice dispensed only to those who are alike – to those who say and mean the same things, and whose features and clothes are similar – then, step by step, inhumanity arises, and humanity is categorically denied. What humanity really means may be explained by an idiom which is characteristic of the English-speaking nations: to agree to differ. This expression conveys something inherently humane, and it is the particular strength of these nations that, for a long time, they have been capable of expressing this attitude and living up to its implications. For this reason, they were generally prepared to meet, with compromise and co-operation, those individuals, groups and peoples who differed from them. They were ready to tolerate opposition, both outside and within their country, and to give it its rightful place. To understand that each personality and each group has its own life and its own fate, and that each is an expression of a higher Power by whom each life was formed as an individual being – such understanding is at the root of all humanity. That is why humanity must be added to justice. Justice measures everybody by the same standards. Humanity, however, indicates that those who are to be measured are different human beings. Each of these is a world unto himself. Justice and humaneness belong to445

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gether. Humaneness, if dissociated from justice – yes, even justice in its punitive sense – would be a futile and empty conception, a mere phrase: whereas justice itself, without the will to humaneness, would be rigid and inert, a lifeless monument. There is another thing. True justice becomes humanity in that it comes from the heart and goes to the heart. What this means might be explained in the words of an Austrian poetess who died during the First World War, Marie Ebner Eschenbach, 1 who said: »No man is so great that he can afford to be merely just to others.« Merely just! Surely this means being without the readiness to understand or to see oneself in the other person and the other in oneself. No man is so great that he may not discover something in himself that in others he condemns and must condemn. No man is without faults, without the »human« traits in the ironic sense of the word. No one is without this human quality, if only because in every man the problems of mankind are re-lived. The biological law formulated by Herbert Spencer, 2 that the life of the species is repeated in the life of the individual, applies equally, or even more strongly, in the psychological sphere. This means that man has to undergo all that the former generations have endured. Each man carries in himself his heritage. One may inherit a good quality which should be cultivated, protected and handed on for one’s own sake and for the sake of generations to come. Another man may inherit an evil quality which has to be kept in check and resisted for his own sake and for that of his descendants. Life is a synthesis of heredity and individuality, though often the synthesis is not achieved and there is only the conflict between the two. There is no average »normal« man. He could only be artificially produced. So long as men are born, each one is an individual problem. To understand this, and to realize that it arises in each individual anew – that is humanity. Humanity means understanding of the other man. Men will continue to exist on this earth only if they are capable of living together; and this they will achieve only if they are human and just: unreservedly just for the sake of humanity, and humane for the sake of justice. Justice is the foundation; upon it, and upon it alone, can and should humanity be built, in order that a human society may be firmly founded, a society in which all shall have their place to live 1. Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916). Deutsche Schriftstellerin des Realismus. 2. Herbert Spencer (1820-1903). Englischer Philosoph, bekannt dafr, daß er die Prinzipien der Evolution auf verschiedene Wissensgebiete anwandte.

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Frieden

for the high tasks for which the Creator has made them, each with his individual nature, each with his unique personality. Zweiter Aufsatz einer Trilogie zu den Themen Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Frieden. »Humanity«. Synagogue Review 22.6 (Feb. 1948): S. 85-86.

* Frieden The word »peace« is one in which a variety of meanings have been compounded; it is like a single stem grown into a unity out of various roots. There are, in particular, two meanings completely different from which it has sprung and which it now comprises; and it is necessary to be clear about these two. One of them grows out of the Latin character of the word, the other from the Biblical. As is well-known, the word »peace« is derived from the Latin pax, and it has been the destiny of the concept and idea which were to find their expression in this word that most people, at most times, have understood in this word only that meaning, or predominantly that meaning which this Latin word pax, conveys. That is why »peace« is understood mostly in its legal aspect, which is the aspect foremost in the connotation of pax. Thus, in the course of history the question of peace was especially a question of law, and the problem of law is certainly one of the most important and decisive. Literally, the Latin word pax means the pact, the agreement, the formula on which parties, after shorter or longer negotiations, have come to an understanding, the statement on which they have ultimately agreed and which they have then solemnly confirmed or signed or sworn to. Thus »peace« is here something that is made. And the word has a particularly important and majestic sound if it is nations that have thus come to an agreement, if it is nations that thus make peace. A treaty is concluded and ratified in order that the parties, the nations, should resolve a quarrel, that discord should be prevented or that a war should be ended, that nations might again live alongside or in relation one to the other. Such a state and condition of peace, therefore, need not be a relation of kindness or friendship; the state of peace is a state of agreement by contract. Such an agreement by contract and the peace which rests on it are undoubtedly important and good things. Such a peace puts an end, though perhaps, and at first only outwardly, to a quarrel, a discord, a 447

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war; it opens up roads which were barred, gates which were closed. Bridges which had been broken down are rebuilt. It allows peoples and groups to approach one another again. Such a peace is surely a necessary first step, an indispensable start. But it is only a start; it affords the approach to a course of action; it is not yet the course itself. Everything depends on whether the course is pursued, in what manner it is pursued, and what end its pursuit determines. History displays to us treaties of peace that were abortive, and others that were most productive, treaties static and dynamic: that is, treaties from which there were no results, and others from which much ensued. One may say that the treaty of peace is an instrument, important and essential, but yet only an instrument, to be used for the fashioning of the desired objective. Decisive, therefore, are the agent by whom the instrument is used, the purpose for which it is used, in what way it is used, and, finally, how long will it be found useful, how long it will retain power and authority. History yields many examples. The German statesman Bismarck in his Thoughts and Recollections, 1 written in the evening of his long life, testified to what he had learnt from history and experience. He says in that book, with the remarkable candour which was sometimes peculiar to him: »All treaties of peace in this world are provisory, temporary, valid only for the present, so to say, till further notice.« This sentence is full of a dangerous irony, full of a fatal contempt for mankind; but, unfortunately, it can be supported by history. And pessimism regarding man and regarding history may well find corroboration in this context. But it is just here that the decisive factor obtrudes. Like all acts of justice, every treaty, with the peace which rests on it, presupposes, if it is to be a true treaty – and a true peace – an authority which guarantees and safeguards it and endows it with purpose and duration. But where is that authority to be found, whereby is that authority to be created? History seems to answer: Victory along with whatever of power and wisdom issue from it, gives that authority. According to a French saying, the results of a struggle may be »ni vainqueurs ni vaincus« (neither victors nor vanquished), and surely sometimes in the course of the centuries struggles have ended like that. For the most part, however, conflicts have been ended by victory on the one side and defeat on the other; and, therefore, primarily, the fact of victory, and certainly often rightly so, has determined the features of the treaty and of the peace. Yet, the fact of victory, however impressive it 1. Gedanken und Erinnerungen (1898).

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is and whatever strong moral forces may express themselves in it, cannot in itself be that prevailing and permanent authority, that guarantee for peace, for the simple reason that victory is rarely an enduring state. And neither can the possession of power be that authority; for power too is something unstable and changing; power can also outlive itself. This explains the fundamental need, long realized, and since the beginning of modern times insisted on ever anew, that peace should not be founded merely on victory or on power; that neither victory nor power alone should give the authority for the making of peace, but that a supreme authority should be created, an authority which would stand not only above the vanquished but also above the victor, not only above the powerless, but also above the mighty. The demand and the hope was for a law that would have jurisdiction over all contracting parties and from the outset bind them all – a law, the ultimate source of which would reside not in one nation or in several nations, but in something of a higher order, a law which would apply not only to one nation or to several nations, but to all nations. We may here recall the phrase coined by John Wyclif 1 and made famous by Abraham Lincoln with reference to the government of the people; and we may well apply that phrase to the longed-for comprehensive authority: a law of all nations, by all nations, for all nations. This was the hope, wherein all that is embodied in the Roman word pax seemed to find its ultimate fulfilment. One hoped to create – to quote the terms which Hugo Grotius 2 used – the jus gentium (the law of the nations) as the jus pacis et belli (the law of peace and war) applying to and binding all, an authority above all and for all. But once more the same question arises which arose again and again whenever the character and the value of such a »peace by law« was considered. It is the question: who will enable this law, which is to be the authority above all and for all, to assert itself, and who will preserve and sustain its power to decide and to command, so that it can guarantee true peace? Whence will it derive the power to maintain itself and therewith true peace, to maintain itself always, and against any force on earth? What is there to prevent its becoming merely an instrument in the hands of any powerful nation? For this indeed is the question: shall power be maintained to serve peace, or shall peace be kept to serve the mighty?

1. John Wyclif (ca. 1328-1384). Englischer Reformtheologe. 2. Hugo Grotius (1583-1645). Hollndischer Jurist und Humanist.

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This is the problem. A law, a pact, a peace, that cannot maintain itself will sooner or later become mere semblance and delusion, fit for mockery and derision. A law, a pact, a peace can maintain itself only if there is power at its disposal. How then can it be assured and guaranteed that power, being necessary, will serve the law, the pact, and will not attempt to gain power over the law, the pact? That is the question of all questions! The answer can be found, so it would seem, if it is recognized that the significance of peace acquires its full truth and vigour if it is understood as growing from another root, and from this other root first and foremost. This other is the living root which sinks deep into the soil of the Bible and draws from it its inexhaustible and neverfailing strength. In the word »peace« as it is found in the Bible, in the concept and idea contained in this word, there speaks a meaning quite different from that originally vested in the word pax, by which the old Latin version translated that biblical word because there was no other, no completely adequate, word available. It is true that in the most ancient times this word did not possess its full meaning among the people from which the Bible emanated; but it acquired it early, through the Prophets and the Psalmists. So always does religion imbue old words with new significance or new vigour. There are many examples of such enrichment in the record of our religion; one need, for instance, only think of the new content and wealth which the word »love« gained through the Bible. In the Bible, the word »peace« does not mean anything constituted, anything legal; it means the fulfilment of human life. It is nothing agreed upon or imposed, nothing that is made, but rather the state to which man is to attune his life, the condition of life which God imparts to the man who heeds and follows His word, who »walks with God.« Peace is that wherein man’s life becomes whole, becomes complete. That is the precise meaning of the Hebrew word shalom, which in the Bible means peace, completeness, fulfilment of life. When people bid one another farewell, and wish one another that their lives may ever prosper, they say to each other: »Go in peace.« In the world of ancient Latin and Greek, before the Bible had entered the world of these languages, no one would, no one could have spoken thus. Peace, therefore, is the last and best of all blessings, the last and best of all that the grace of God bestows as his share on any man. It is inner completeness and harmony, and the steadfastness and restfulness in man that ensue therefrom. So, the greatest of Biblical 450

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blessings ends: »and give thee peace.« 1 The word »peace« here speaks to every human individual, to point a goal to strive for and a way to follow; this word promises to him and demands of him – for in religion every promise is at the same time a demand, and every demand at the same time a promise. So this »peace« suggests first of all the relation of man, of every human individual, to God. Man attains peace when he can meet the test before God, and he will retain peace as long as he is able to meet that test. Not what men grant to him or take from him, command him or forbid him, is here primary and decisive, but what God grants to be man’s share and his task. If man grasps that and upholds that, then he experiences peace. And this relation to God then determines also his relation to men and to affairs – not, as so often is the case, the other way round, that human relations and earthly circumstances become decisive for man’s relation to God. Peace rests on the harmony of the individual with God, and on the inner certainty which is thereby established towards men and affairs. That is the meaning which the word »peace« has acquired through the Bible. From all this we can conclude that there is as much peace in the world, not as there are treaties of peace, but as there are human beings who embody peace. Law and order, statutes and institutions are important and necessary. But what do these good things avail if there are no good men? Indeed, man has been hindered in his development whenever he conceived the idea that he received his value and dignity, his realization and significance, from institutions and canons which allotted him his place, or from the group, profession, party, community, or nation to which he belonged. No, it is the other way round: every institution and order, and equally every community, acquires its value, its dignity and realization through the individuals composing it; the individual is always and forever the important and significant consideration. There is as much greatness and goodness in the world as there are great and good men. Thus, ultimately, peace depends on individual human beings. But just as in one sense there is an overrating of groups and communities, so there is in another sense an underrating of them; and herein too there lies a great obstacle in the way of humanity. It has often been suggested, and it is still suggested that God’s commandment, that morality and righteousness, concern only the relationships of individuals, and not those of communities, groups, parties, or States; that one must not measure the group, the party, and above 1. Num 6,26.

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all the State, by moral standards. And not infrequently a philosophy, a principle has been founded on this opinion: the philosophy of the raison d’tat, which would attribute to the State the right to follow only its advantage, to stand outside or above morality – that State expediency which has so often been the enemy of peace. But peace, so the biblical word teaches, is the relation to God which knows no exception, and which is universally binding. Where the understanding of this is feeble, peace rests on feeble foundations; where that understanding is lacking, peace cannot prevail. The strength and consistency of that knowledge is the strength and consistency of peace. Herein lies the answer to the question as to the source of the authority, the permanent, the lasting authority, binding upon all. There is only the one true, lasting authority: the one God. The individual experiences it in his personal life; peace is in his life if his will and his action, his endeavour and his hope, have acknowledged this authority; if it is not only for the sake of a pact, not only for the sake of a law, not only for the sake of anything which the Roman word pax connotes that he pursues his course or maintains his position; if, rather, he seeks his goal and determines his path for the sake of God and in His spirit. So speaks experience in the sphere of the individual human being. And if a similar experience can be achieved in the sphere of communities and of nations, then the soil will be prepared in which peace can take root. Those roots will be strong, and from them peace will grow, because yet other invigorating sap will flow into its stem. Of this strength, too, does the Bible speak, combining it with the vigour of peace; it is the strength of justice, righteous and human justice. That, and that alone, is the strength of peace; only through that can peace live and prevail. The Prophet Isaiah speaks of it: »Then judgment shall dwell in the wilderness, and righteousness remain in the fruitful field. And the work of righteousness shall be peace; and the effect of righteousness, quietness and assurance for ever.« (Isaiah 32,16-17). It is on righteousness, on justice and humanity, that peace rests. Peace is, in the words of the prophet, the work of righteousness, the effect of righteousness. Such peace is not an instrument for the service of the strong and the mighty, nor a guarantee to them of that which they possess or which they have acquired. It means, and means first and foremost, the service of the weak, the few, the miserable, the assurance to them of human justice, the guarantee and safeguard to them of what God has decreed for them. Such is living peace, true peace. God and His true justice are here the supreme, the lasting 452

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Voraussetzungen der Toleranz

authority. Freedom and authority here support each other, have indeed become one; and so true community has become a reality. We have spoken here of the two conceptions that have combined in the word peace, of the Roman and of the Biblical conception. They differ, differ greatly; yet the one word may comprise both of them. And one might say: it can be so indeed, for man’s nature and man’s life comprise both of them. Every human being lives, so to speak, in two worlds. He belongs to the outer world, this world with its divergencies and contrasts, its differences and disputes, with all manner of occasion for strife and friction. Here in this world, in order to make living together possible, in order to keep the machinery in gear, there must be within every nation and in the community of nations, laws, agreements, institutions and pacts, all that the Roman word pax implies; and the principle of Roman law must be maintained: pacta sunt servanda (pacts must be kept). But man belongs also to another world, the invisible world of his individuality and personality, the world which he grasps in his soul, the world in which he is immediately connected with God; not only indirectly as in the outer world, but connected with that which God commands and promises, connected with the great harmony, with the great certainty, with all that which the Biblical word calls peace, with this world of religion. Whatever the outer world of man would set in order and bring to perfection receives its best strength and its highest realization through that which is born from this inner world of man, which this inner world brings to life. Therefore it may be said that there will be more peace on earth if there is on earth more true religion. Dritter Aufsatz einer Trilogie zu den Themen Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Frieden. »Peace«. Synagogue Review 22.9 (Mai 1948): S. 134-137.

* Voraussetzungen der Toleranz Toleration, neutrality, and sound common sense are psychologically related to one another. They are all based on a sense for what is essential, a sense of proportion and importance, a sense for what does and does not matter. On this sense depends a clear understanding of your way and purpose, and therefore true and lasting achievement. And, further, by this sense is conditioned all real seriousness, both 453

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taking things seriously and being taken seriously. If we try to share in mind and spirit in everything that goes on in the land, or even in the whole world, if we try to approve or disapprove of everything, then our thoughts and feelings and opinions can quickly lose their significance, for ourselves as well as for others. It is only when trivialities are recognised for what they are that there is room for great things to unfold properly in our lives. It is a strength of the English character that it possesses this sense of proportion, this common sense. And perhaps it was a specially common defect of German character that people treated trivial and secondary matters in the style and with the passion proper to deep questions of Weltanschauung; so when a really important issue arose there was scarcely any room, scarcely any seriousness, left for it. This was often the beginning of intolerance. Again, every man – at least every man whose thoughts and feelings have not atrophied or silted up – has his own inner possession, which belongs to him alone, his holy place, which has been given to him, or which he has won for himself. But this personal and holy possession can persist only if it retains its sanctity. This special possession must not be dragged into every trivial occasion. A deep conviction would gradually become superficial. Something that was once spoken with the whole heart and soul would become idle chatter. Faith, inner certainty, can not so to speak be continually handed out in small change. Intolerance often grows from quarrels about peripheral matters conducted with an excitement and passion which should properly belong only to the great central questions. A man’s sense of his own holy things has a chastity of its own, and it produces chastity. So he will only approach with a kind of inner trembling the place where he suspects the presence of another man’s sanctities. Intolerance is basically unchastity. A sense of tolerance has developed only very gradually in the modern world. It was a great advance when the right to believe differently, to be a dissenter, was given its first legal expression in the Glorious Revolution. Where this was established as an axiom, it was the state which became the great school of tolerance. Religious societies and political parties whose principles really demanded the negation of one another, learned to live together in a single historical unity, almost in a single unity of destiny. There was no longer any effort made to give explicit utterance to basic axioms or final consequences. But people were careful to avoid the chronic state of making a fundamental decision upon every question. Psychologically the beginning was a kind of armistice of unlimited duration. Then there followed an unwritten non-aggression pact, and men came to value 454

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Voraussetzungen der Toleranz

the economy of strength which resulted from this. The tolerance which developed in this way was at first merely negative, mere aloofness. But it is a psychological law in moral growth that from the root of »Thou shalt not« there grows »Thou shalt«, and this is the fulfilment of »Thou shalt not«. So this negative tolerance grows into positive tolerance. First you grow accustomed to treating the other, that is the man who believes and thinks differently, not as any enemy who has to be constantly, or even occasionally, attacked; and then the way is open to trying to understand him. Then we begin to learn to approach him, to let him look into our own heart, so that he in his turn gradually opens a door into his heart. The inner motives of ourselves and of the other man come to light, and we begin to speak from heart to heart. And then one day we realise how much we have in common. We begin to acknowledge his life, to appreciate him, and we find that we can scarcely appreciate ourselves unless we honourably appreciate him, or at least something in him. It is this sense of something in common, and the resultant appreciation of the other as something that is inseparable from a true appreciation of ourselves, which is true and complete and positive tolerance. Our understanding of him becomes a knowledge of what binds us to one another, and from this knowledge there grows a sense of likeness, even of identity of human dignity, in him and in us. We learn that the two cannot be separated. Each man retains his personal convictions from which he neither wishes nor ought to depart. The content of each man’s faith and conviction and hope is different, and it may even be definitely opposed to the other. But the ground, as it were, in his heart where this faith and conviction and hope grow, and where they draw their best and purest strength, is related and similar to the other, perhaps even identical. For the genuine and honourable qualities, the devotion and the loyalty, which struggle for expression in the one as in the other, are the same in spite of their opposition. It becomes possible to find oneself in the other, perhaps to find oneself anew; you find yourself again in him. True self-respect is awakened by a respect for the other. So we reach a new inner certainty and freedom by this kind of positive and free tolerance. It is only in this inner freedom that we are in a position to confess ourselves truly, that is, to disclose our innermost real life. That first tolerance which was based on aloofness, on keeping our distance – and which was an important beginning – necessarily called a halt before the most profound levels of our life. For this most profound and personal part of our life there was an agreement (tacit or expli455

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cit) of complete silence. You feared to confess what was nearest your heart, lest it should hurt the other, and so cut the bonds which bound you to him. You often behaved as if the distinctive thing, the special characteristic of this man and the community he represented, in actual fact did not exist. The great danger of this, of course, is that you overlook and miss the essential thing. You have the impression that you just do not look one another in the face. You can become so accustomed to being silent about the decisive difference between you that you meet only to avoid what is best and most real. The feeling can arise that the whole truth between men does not need to count, and even should not count. That is why it is so important, so necessary for moral progress, that in the long run tolerance should not just be mere reserve or aloofness, but should rise into inner freedom. Those last and most real questions should also, most of all, be exposed openly and in their whole, undiminished significance, with that love for truth which is essential for true self-respect and respect for the other. This is demanded even by the great law of love of the other. This does not mean that the aloofness of which I have spoken is not still necessary in its proper place. For you must not make those inmost and deepest things into a subject of everyday chat and therefore of chatter. They must always remain extraordinary and holy. But in their own time, when the need is there, they must come forth, and then they must be clear and unambiguous. It is each man’s task to be ready to give himself to the great whole, that is, to give his best and most real life. And it is his duty, which he ought not to avoid, to show openly and freely what his faith and certainty and confidence really are. The community which is created by such a readiness is strong and enduring; it will prove its worth in difficult hours. There is a lively hope today that a European community, and a community of east and west, can be created. In this hope, too, the beginning must be with that first tolerance, with its sense of proportion, and its economy of forces, both spiritual and material. But the great task which is set by free and positive tolerance should always be kept in view – the tolerance, I mean, which discloses and appreciates what is characteristic and special to the other, and which both shows and demands respect. Inner freedom on both sides will meet in this kind of tolerance. They will go into the future together, true to themselves and to one another. Teil der Serie »Toleranz« im Dritten Programm des B.B.C. »Conditions of Tolerance«. The Listener (27. Aug. 1953): S. 339.

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BERGREIFENDE THEMEN

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Zionismus und Israel

Baeck war kein politischer Zionist. Er gehrte nicht der Zionistischen Vereinigung fr Deutschland an, und er nahm nicht an zionistischen Kongressen teil. Er war auch nicht fr die Errichtung eines jdischen Staates in Palstina. Anders jedoch als einige liberale Rabbiner war er kein Gegner der Zionisten. Seit den frhen Jahren seiner Karriere befrwortete er die jdische Besiedlung Palstinas und die dortige Einrichtung einer jdischen Heimsttte, welche sowohl als eine Zuflucht fr verfolgte Juden, als auch als ein Zentrum fr jdisches Leben dienen knnte. Als Rabbi Emil Cohn 1907 von seinem Amt als Rabbiner der Jdischen Gemeinde in Berlin suspendiert wurde, weil er sich offen fr die zionistische Bewegung ausgesprochen hatte, schrieb Baeck ihm einen Brief, in dem er seine Anteilnahme an Cohns Lage und seine Bewunderung fr dessen »stetige Gesinnung« zum Ausdruck bringt. In einer Rede, die er bereits 1925 in Knigsberg hielt, drngte er seine Zuhrer nicht nur, die jdische Besiedlung in Palstina zu untersttzen, sondern er sprach außerdem von der Mglichkeit – welches sein deutschjdisches Publikum erstaunt haben muß – »ob nicht einmal die Enkel derer, die heute sicher dastehen, werden ausziehen mssen nach dem alten Lande der Vter«. Als Beispiel fhrte er Spanien an, wo Juden jahrhundertelang in Frieden gelebt hatten, schließlich aber unterdrckt und dann im Jahre 1492 des Landes verwiesen wurden. Baeck sah das jdische Palstina jedoch nicht nur als eine Zuflucht in Zeiten der Not, sondern auch als ein großes Experiment des jdischen Idealismus’ und stellte seine Werte den brgerlichen Werten der meisten Juden in Deutschland gegenber. Er gebrauchte die bliche zionistische Rhetorik und sprach von der Erschaffung »de[s] neue[n] Mensch[en], de[s] neue[n] Jude[n]«. Er hielt Palstina fr eine neue Chance fr das liberale Judentum und bedauerte, daß das dortige religise Leben von orthodoxen Juden dominiert wurde, die nach der 459

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bergreifende Themen – Zionismus und Israel

Grndung des Staates die religisen Kompetenzen der nicht-orthodoxen Rabbiner einschrnken wollten. Zusammen mit seiner Frau verbrachte Baeck im Jahre 1935 eine kurze Zeit in Palstina und kehrte dann 1947 fr einen siebenwchigen Aufenthalt dorthin zurck. Jeder dieser Besuche rief erneute Begeisterung in ihm hervor: fr die Landschaft, fr die Rolle der deutschen Immigranten in der neuen Gesellschaft, fr die bahnbrechenden Ideale der jungen Leute, die den vernachlssigten Boden fruchtbar machten. Er war der Ansicht, daß in einer Zeit, in der so viele europische Juden Flchtlinge oder, nach dem Krieg, displaced persons geworden waren, die zionistische Bewegung eine gttliche Vorsehung erfllte. Gleich anderer deutsch-jdischer Intellektueller wie Martin Buber und Ernst Simon und dem amerikanischen Rabbiner Judah Magnes, der der Hebrischen Universitt vorstand, war Baeck fr die Errichtung eines einzigen Staates in Palstina, der sowohl die Araber als auch die Juden einschloß. Er war berzeugt, daß die Anwesenheit der Juden in Palstina beiden Vlkern zugute kommen wrde und wandte sich gegen fanatischen Nationalismus auf beiden Seiten. Zusammen mit Albert Einstein verffentlichte er am 12. April 1948 einen Appell in der New York Times, in dem sie beide Seiten dazu aufforderten, von Extremismus und Terrorismus abzusehen und einen Krieg zu vermeiden. Mit der Grndung des Staates Israel einen Monat spter wurde Baeck zu seinem entschiedenen Befrworter und reiste im Jahre 1951 erneut in das Land. Aber er blieb auch weiterhin besorgt um das, was er eine »Atmosphre der Engstirnigkeit« nannte, welche, so befrchtete er, in Chauvinismus umschlagen knne. Deshalb betonte er, wie wichtig es sei, fr eine breitangelegte humanistische Erziehung der israelischen Jugend zu sorgen, die der Tradition des deutschen Judentums folgte. Da es sich bei dem jdischen Staat um eine soziale Gemeinschaft handelte, glaubte Baeck, daß Israel den Weg der Zukunft reprsentieren knne. Er bedauerte, daß das Interesse am Zionismus unter den amerikanischen Juden nachzulassen schien, als der Staat erst einmal fest gegrndet worden war. Und er kam zu diesem Schluß: »wo immer er [der Jude] lebt, dieser Staat Israel geht ihn an, ja wirkt auf ihn ein, ob er es will oder nicht, und bedeutet fr ihn ein geschichtliches Schicksal«. *

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Brief an Emil Bernhard-Cohn in Berlin Oppeln, den 30. April 1907 Sehr geehrter Herr Kollege, 1 Sie waren so freundlich, mir die kleine Druckschrift zuzusenden, in der Sie ber Ihre Suspension 2 berichten. Ich habe meiner Erinnerung nach nicht die Ehre, Sie persnlich zu kennen, ich weiss auch nicht, ob wir gerade sogenannte Parteigenossen 3 sind. Aber die wachsende Teilnahme und Ergriffenheit mit der ich Ihre Erlebnisse, wie Sie sie schildern, verfolgt habe, haben Sie mir persnlich so nahe gefhrt, dass es mir ein aufrichtiges Bedrfnis ist, Ihnen ein Wort herzlichster Sympathie auszusprechen. Was Ihnen widerfahren ist, ist so illiterat, so unreligis und so unjdisch, dazu man kaum begreifen will, wie es im Namen einer Jdischen Religionsgemeinde, die sich liberal nennt, hat geschehen knnen. Ebenso unfassbar ist es mir, wie das Berliner Rabbinatskollegium dazu schweigen konnte; aber vielleicht hat es nur noch nicht gesprochen. Ich selbst will, soweit ich vermag, darauf hinarbeiten, dass der Rabbinerverband mit der Angelegenheit befasst wird; ich kann es mir nicht denken, dass das letzte Wort schon gesprochen sein sollte. Lassen Sie mich auch den herzlichen Wunsch aussprechen, dass Sie Ihrem Beruf erhalten bleiben mgen. Unser Stand ist nicht so reich an Mnnern von eigener, stetiger Gesinnung, dass er sich einfach damit abfinden knnte: ein Mann ber Bord! Leo Baeck Institute Archives, New York. AR 0292.

* Der Aufbau Palstinas und das deutsche Judentum […] Wenn die Frage gestellt wird, wie das gestaltet werden wird, was in Palstina sich vorbereitet, welche Richtung das alles dort nehmen wird, ob es den Wnschen jedes Einzelnen entsprechen wird, so gibt 1. Emil Bernhard-Cohn (1881-1948). Rabbiner und Schriftsteller. 2. Bernhard-Cohn wurde im Frhjahr 1907 von der Jdischen Gemeinde Berlin wegen seiner zionistischen Aktivitten suspendiert. Zu seiner Verteidigung verffentlichte er Mein Kampf ums Recht (1907) und Die Geschichte meiner Suspension (1907). 3. Bezieht sich wahrscheinlich darauf, ob Cohn ein liberaler oder konservativer Rabbiner war.

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es darauf eine Antwort nur: das alles bleibt der Zukunftsentwicklung vorbehalten, deren Entrtselung und Bestimmung Menschenhnden entwunden ist. Wo ein Neues entsteht, dort beginnen Gedanken mit einander zu kmpfen, und der Gedanke, der der strkste sein wird, wird siegen. Wer von uns davon berzeugt ist, daß der Gedanke, den er vertritt, der strkste ist, daß dem die Zukunft gehren muß, der wird nicht daran zweifeln, daß dort auf jdischem Boden in der Arbeit, die den Ideen dient, seine Idee die entscheidende sein wird. Es werden dort sicherlich auch Ideen und Interessen miteinander kmpfen. Die ganze Weltgeschichte ist ein solcher Kampf der Ideen und der Interessen, aber wer den Glauben daran hat, daß am letzten Ende die Idee siegen wird, der wird auch diese Gewißheit in sich tragen, daß das Land, das dort geschaffen wird, kein Gebiet bloßer Interessen sein wird, sondern daß dort Gedanken sich verwirklichen werden, Gedanken, die es verdienen, daß sie leben und im Leben sich erfllen. Und wenn dann die andere Frage gestellt wird, die Frage, die fr viele eine so sorgenvolle ist, ob denn nicht nhere, dringlichere Aufgaben hierselbst auf uns warten, ob nicht der dringende Verfall jdischer Kultur-Institute in Deutschland uns dazu zwingt, zunchst ihnen jedes Opfer zu bringen und das Opfer fr Palstina unseren Brdern in glcklicheren Lndern zu berlassen, bis an einem besseren Tage fr uns die Stunde auch kommen wird, wo wir an ihnen teilnehmen knnen. Aber demgegenber ist eines zu sagen: Geben wird am Geben gelernt. Wer Opfer fr das eine zu bringen beginnt, der gewinnt dadurch die Fhigkeit, fr das andere auch sein Opfer herzugeben. Wir sehen es, wenn wir die Menschen beobachten. Die einen bringen fr nichts ihre Opfer und das eine gibt ihnen immer nur den Grund, auch fr das andere nichts zu geben. Sie werden die sein, die auch fr Palstina nichts geben werden. Sie werden fr jede Not in der Nhe bereit sein, so wie sie bereit sind, das Opfer zu bringen, das ber den engen Gesichtskreis hinaus fhrt und darum ein Opfer fr die Ferne zu sein scheint, das aber in Wirklichkeit ein Opfer fr das Nahe und fr das Nchste ist, das es ein Opfer fr den Juden, fr das Judentum ist. Eine Philosophie allerdings muß abgelehnt werden: die Philosophie, welche nur darin besteht, den Grund zu finden, um nichts zu tun. Es gibt eine Philosophie, die nur die Entschuldigung fr die eigene Engherzigkeit, fr die Kargheit und die Selbstsucht ist, die Philosophie, die immer dem »Nein« dient. Goethe hat einmal gesagt: »Gott ist, wenn wir hochstehen, fr uns alles, stehen wir niedrig, so ist er nur ein Supplement unserer Armseligkeit.« Was hier von Gott 462

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Der Aufbau Palstinas und das deutsche Judentum

gesagt ist, kann auch von den Grundstzen gesagt werden, die der Mensch hat. Wenn wir hochstehen, dann bedeuten unsere Grundstze fr uns alles, die Wahrheit unseres Lebens. Stehen wir im Niedrigen, in der Engherzigkeit und in der Engsichtigkeit, dann sind unsere Grundstze nur das Supplement unserer Armseligkeit. So wird es bei jedem, wenn er sich prft, mit dem Worte, das er zu dem Palstinaproblem spricht, immer sein. Steht er hoch, ber dem Kleinlichen, so wird er das »Ja« sprechen, vermag er sich nicht ber das Alltgliche und Enge zu erheben, so wird er wie in so vielem anderen, so auch hier, mit dem »Nein« antworten und alle seine Grnde werden nur dazu da sein, um seine Enge vor sich und der Welt zu verteidigen. Fr uns ist Palstina kein Problem mehr, sondern eine Tatsache, die Gott vor uns hingestellt hat. In der Geschichte kommt es immer darauf an, die Tatsachen zu erkennen, zu sehen, was ist. Was sein wird, knnen wir nicht wissen. Wir knnen nicht wissen, was in Palstina sein wird, und wir knnen nicht wissen, was hier in Deutschland sein wird. Wir knnen es nicht wissen, aber wer will daher sagen, ob nicht einmal die Enkel derer, die heute sicher dastehen, werden ausziehen mssen nach dem alten Lande der Vter. Auch in Spanien, wo die Juden in den Jahrhunderten der Sicherheit gelebt hatten, war einst der Tag der Wanderung dann gekommen. Was werden wir antworten, wenn einst die Enkel fragen und Vorwrfe erheben werden, warum der Vater, der Vorfahr nicht mitgeholfen hat an dem Werke, das aufbauen will und aufbauen soll fr den Sohn, fr den Enkel, und wenn wir an das Heute denken, welches Urteil werden die Menschen auf Erden ber uns Juden fllen, wenn die Gelegenheit, die geboten wird, fr die Suchenden, fr die um ihres Judentums willen Wandernden, fr die Umhergeworfenen, fr die Fragenden und Zweifelnden einen Platz, eine Sttte der Arbeit, ein Land des Eigenen, zu schaffen und diese Gelegenheit, diese Stunde durch Lauheit, durch Engherzigkeit, durch Eigensinn nicht gentzt und dadurch vernichtet worden ist. Wir sollen mit großen Worten sparsam sein, aber hier muß es gesagt werden, wenn diese Stunde[tab]nicht begriffen und nicht erfllt wird, es wre ein hilul haschem, eine Entweihung des gttlichen Namens vor den Augen der Vlker der Welt. Darum gibt es fr uns nur ein »Ja«, das »Ja« der Pflicht, als Antwort auf die Frage, die Palstina heute an uns richtet. Wer die erste Pflicht bt, dem erhellt sich alsbald ein Dunkel, eine Ungewissheit. Wo das Wort, das bloße Wort am Anfang stehen will, dort bleibt der Zweifel, bleibt die Unsicherheit. Wo die Tat am Anfang steht, dort kommt die 463

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Klarheit, dort kommt die Zuversicht und der Glaube. Deshalb wollen wir mit dem Opfer beginnen, mit dieser Antwort der Tat, die wir geben. Dann werden wir die Antwort alsbald vernehmen, welche die Zukunft uns gibt … Auszug aus einer Rede Leo Baecks, gehalten in Knigsberg. »Aus einer Rede, gehalten in Knigsberg«. Der Aufbau Palstinas und das deutsche Judentum. Reden, Aufstze, Dokumente. Hg. Keren Hajessod. Berlin, [1925]. S. 1315.

* Das Palstinawerk Meine Damen und meine Herren! Wenn wir am heutigen Abend hier zusammengekommen sind, so ist es deshalb nur, weil wir hier vor Ihnen ein Wort der Belehrung und der Aufklrung auszusprechen wnschen. Nichts liegt uns ferner, als bloß polemisieren zu wollen. Es ist immer ein bles und gefhrliches Ding, nur zu polemisieren; wer das tut, lßt sich vom Gegner nur allzu leicht zur Niedrigkeit des Niveaus herunterziehen. Es ist außerdem ein Nutzloses. Man sollte nie mit Menschen, die bloß Meinungen haben, ber Meinungen streiten. Es hat auch keinen Zweck, Menschen, die zum Nicht entschlossen sind, von diesem Nicht abbringen zu wollen. Dante hat gesagt: Der Wille, der nicht will, ist unbezwingbar. Dante meinte es in dem Sinne, daß der Mensch wohl krperlich gentigt werden kann, daß aber nichts seinen Willen zu zwingen vermag. Aber dieses Wort ist so wahr, daß es die weitere Bedeutung noch hat: Wie die Gtter mit der Dummheit vergeblich kmpfen, so kmpft alle Einsicht und aller Idealismus vergeblich gegen die, die nicht wollen, bei denen alles Raisonnement, alle Philosophie, alle Weltanschauung nur dazu dient, um ihr Nichtwollen nachtrglich zu rechtfertigen. Um alles das handelt es sich also am heutigen Abend nicht, sondern darum eben nur, vor Ihnen auszusprechen, was Gedanken und Ziel aller derer ist, die zu der Arbeit des Keren Hajessod 1 sich zusammengefunden haben. In dem Mannigfaltigen, das so zu Ihnen gesprochen wird, soll ein Wort jetzt herausgehoben werden: Das Wort von der Neutralitt. Was bedeutet denn Neutralitt? Ein Mensch, ein lebendiger 1. Palstina-Grundfond, eine neutrale jdische Institution zum Aufbau Palstinas, 1920 von der zionistischen Bewegung gegrndet.

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Das Palstinawerk

Mensch ist nie neutral. Der Tote ist es vielleicht. Aber der lebendige Mensch reagiert auf alles, er wehrt sich gegen das, was auf ihn eindringt, und nimmt Stellung zu dem, was rings um ihn ist. Kein Mensch, der ein Herz in sich hat und ein Gewissen in sich trgt, kann je neutral sein. Wenn also das Werk des Keren Hajessod ein neutrales genannt wird, so ist damit nicht etwa gesagt, daß die, die zu diesem Werk sich zusammentun, etwas von ihrer Eigenart, etwas von ihrer berzeugung, etwas auch nur von ihrem Temperament aufgeben sollen. Von dem Zionisten, der in den Kreis der Arbeit an diesem Werk hineintritt, wird nicht etwa gefordert und kann nicht etwa verlangt werden, daß er aufhre, Zionist zu sein, oder gar, daß er seinen Zionismus verberge. Gott behte uns vor diesen versteckenden Menschen! Und von dem, der in der Weltanschauung des Zentralvereins 1 sein Eigenes findet, wird ebensowenig etwa beansprucht, daß er auch nur das Geringste von seiner berzeugung, von seiner Weltanschauung fortgebe. Neutralitt bedeutet nicht, das sacrificium intellectus, das Opfer der Vernunft von irgendeinem fordern zu wollen. Was bedeutet es dann nun, wenn dieses Werk ein neutrales genannt wird? Meine Damen und Herren! Jeder Mensch ist eine Welt fr sich. Aber wenn Menschen zu gemeinsamer Arbeit sich zusammentun wollen, dann mssen sie sich eine gemeinsame Welt bereiten, in die sie eintreten, ohne etwas von ihrer Welt herzugeben, ohne etwas von ihrer Welt einzuschrnken oder zu mindern. So ist es in dem alltglichen Leben der Ntzlichkeit schon. Die Menschen arbeiten in den Aufgaben des Tages zusammen. Von keinem wird, wenn er sich in diesen Kreis gemeinsamer Ttigkeit hineinstellt, erwartet, daß er ein Glaubensbekenntnis ablege oder ein Glaubensbekenntnis abschwre. Er bleibt in seiner Welt, aber er tritt mit dieser seiner Welt in diesem Falle in eine Welt praktischer Arbeit, eine Welt des Nutzens hinein, in der er mit anderen sich verbindet, mit anderen zusammensteht. Das nennen wir ein Neutrales. Wir Menschen im Leben knnen, wenn wir nicht Einsiedler werden wollen, jeder in seiner Einde oder seiner Hhle, zusammenleben nur dadurch, daß sich solche Gebiete der Neutralitt berall, hier und dort, auf Erden auftun. Es wrde ja auch ein Vaterland, eine Heimat, einen Staat nicht geben knnen, wenn Menschen sich nicht so in einer gemeinsamen Welt zusammenwßten, ohne daß sie frchten mßten, etwas von ihrer 1. Der 1893 gegrndete, nicht-zionistische Centralverein deutscher Staatsbrger jdischen Glaubens.

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eigenen Welt einzubßen. Allerdings, in frheren Zeiten hatte man oft gemeint, man knne nur mit denen zusammenleben und ein Gemeinsames gewinnen, die in der gleichen persnlichen Welt wren, die man selbst zu eigen habe. Das war die Zeit, in der man den protestantischen und den katholischen Staat forderte, in der von jedem, der in diese gemeinsame Welt eintreten wollte, die man Staat nennt, erst der Eid auf einen bestimmten Glauben abverlangt wurde. Es ist einer der grßten Fortschritte, der in den letzten Jahrhunderten sich gestaltet hat, daß wir den wahren Gedanken der Gemeinsamkeit begriffen haben, der Gemeinsamkeit, die keinem etwas von seiner berzeugung nehmen will, die im Gegenteil den am hchsten in der Gemeinschaft schtzt, der sein Ich entschieden postuliert und sein Ich entschieden etabliert. Es wre darum ein Mangel des Keren Hajessod-Werkes, wenn halbe Zionisten und Halbe von der anderen Seite sich zusammenfnden. Echte Neutralitt ist, wenn ganze Menschen von hier und ganze von dort zusammenkommen, Menschen, die ihr Ideal festhalten und in der berzeugung weiterleben, daß ihrem Ideal die Zukunft gehrt. Damit geht von der Freiheit des Einzelnen nichts verloren. Was ist denn der Gegensatz zur Freiheit? Gegensatz zur Freiheit ist nicht immer die Unfreiheit, sondern Gegensatz zur Freiheit ist sehr oft die Feigheit. Auch die grßte Gegnerin der Neutralitt, der wahren, echten, ist die Feigheit. Sie bewirkt es, daß mancher sich frchtet, mit anderen zusammenzukommen und zusammenzuarbeiten, mit anderen, die so ganz anders sind als er. Er ist in der Sorge, daß ihm von seiner berzeugung etwas verlorengehen mchte, daß die anderen ihn vielleicht berzeugen knnten, daß von dem, was ihm Wahrheit ist, ihm etwas genommen werden wrde! Wer seiner berzeugung nicht gewiß ist, wer Furcht davor haben muß, daß sie unterwegs ihm verlorengehen knnte, der scheut allerdings vor dem Wege zurck, der ihn zum Zusammenarbeiten mit den anderen hinfhrt. Er frchtet sich vor diesen neutralen Werken, vor diesen neutralen Gebieten. Um mit anderen zusammenzukommen, muß man selber etwas sein. Neutralitt ist ein Boden der Freien. Die beste Freiheit ist die Fhigkeit, den anderen mit seiner rechten Art und auf seinem geraden Weg anzuerkennen. Und darum ist die fruchtbarste Neutralitt die, welche Menschen nicht zu den bloßen praktischen Zwecken des Tages zusammenbringt, sondern Menschen mit ihrem verschiedenen Akzent und ihrem verschiedenen Ton zusammenfhrt, zu dem Respekt vor einem echt Menschlichen, vor dem Versuch, ein Ideal zu verwirklichen. Meine Damen und meine Herren! Das Ideal zu erfllen im Sinne 466

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Das Palstinawerk

der Aufopferung und des Martyriums, das kann nicht allen gegeben sein. Aber wem das nicht erreichbar ist, dem kann eines wenigstens gewhrt sein: Der Respekt vor solchem Ideal, wenn es irgendwo sich offenbart. Alle Tugend und alle Frmmigkeit beginnt mit der Ehrfurcht. Ein ehrfurchtsvoller Mensch, das ist ein frommer Mensch, und wir fgen hinzu: er ist wahrhaft ein Jude. Der Jude hat Ehrfurcht vor jedem Idealismus. Wir leben in einer Zeit, in der die Ntzlichkeit herrscht, und in der die Menschen vielleicht mehr fr das Gleichgltige geben, als fr das Notwendige. In solcher Zeit besonders bedrfen wir, damit die Ehrfurcht in uns nicht schwach werde, des Blickes auf einen Idealismus. Wir sehen es heut, wie jdische Menschen hinausziehen um eines Ideals willen, wie sie dorthin ziehen, wo sie sicherlich kein Nutzen erwartet, sie nicht und vielleicht nicht einmal die, fr welche wir Juden ja vor allem leben, die Kinder. Nur um eines Ideals willen wandern sie hinaus, Menschen, Juden, junge und alte. Wer sollte davor nicht Ehrfurcht haben! Mgen wir uns wie auch immer scheiden, mag der eine rechts stehen und der andere links und der andere in der Mitte,– in der Ehrfurcht vor solchem Idealismus sollten wir zusammenkommen. Meine Damen und Herren! Es liegt ein Segen in einem einmal begonnenen Werke. In einem einmal begonnenen. Denn es gibt ja Menschen, denen immer, an jedem Tage, etwas zum Anfangen gerade fehlt. Aber in dem begonnenen wohnt ein Segen. Es lßt nicht wieder los. Gewiß, Hindernisse sind auf dem Wege dieses Werkes. Es wre tricht, von ihnen schweigen zu wollen. Aber Schwierigkeiten lassen das Werk nur noch lieber gewinnen. Wer wollte das nur lieben, was auf der leichten, glatten Bahn vorwrts geht. Das einmal angefangene Werk hlt uns fest, und es schenkt uns eines noch: Es gibt den Menschen verschiedener Art den Segen, daß sie lernen, einander verstehen, einander achten. Wenn ein Werk, das so wahrhaft neutral ist, indem es Menschen zusammenfhrt, die an sich festhalten, wenn es dieses eine nur brchte, daß diese Menschen miteinander sprechen, einander hren, einander erkennen, dann wre es schon ein Werk, der Mhe wert. Schon dann trge dieses unser Werk sein Heil in sich. Und wir sind doch gewiß, daß es den Segen noch in sich birgt, daß es gelingen wird, weil es gelingen muß, da der jdische Idealismus, das Beste des Juden, in diesem Werk lebt. Vortrag auf einer Kundgebung Deutscher Juden im ehemaligen Herrenhaus zu Berlin am 4. Mrz 1926. Stenographischer Bericht. Das Palstinawerk. Hg. Keren Hajessod. Berlin, [1926]. S. 14-17.

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Stellung des religis-liberalen Judentums zum Zionismus Einer Bewegung gegenber kommt es vor allem darauf an, sie in ihren tiefsten Problemen und Motiven zu begreifen. Bei der Gegenberstellung von Liberalismus und Zionismus macht sich ein theoretisches Problem geltend. Das Problem des Ich. In aller Religion steckt ein Ich, das von ihr nicht loszulsen ist. In der jdischen Religion gleichfalls, sie ist nicht zu lsen vom jdischen Menschen. Hermann Cohen 1 wollte diese Lsung durchfhren, aber wir sehen heute, daß dieser Standpunkt seiner Theorie der Wirklichkeit widerspricht. Der jdische Mensch ist eine geschichtliche Wirklichkeit. Alles Menschliche erscheint nur in der Form der Besonderheit. In einer Gesamttheologie des Judentums knne das Wesen des Judentums nur den ersten Teil bedeuten, dem als zweiter zu folgen htte die Psychologie des Judentums und als dritter ein solcher, der zu heißen htte: der jdische Mensch. Das Judentum ist nur zu verstehen aus der jdischen Gesamtheit. Es gibt 600 000 deutsche Juden. Gehren wir nur zu ihnen, so wren wir blutarm. Wir gehren zur ganzen jdischen Gemeinschaft. Betrachten wir die soziologische Struktur des deutschen Judentums, so mssen wir es aussprechen: Wir sind Bourgeois. Und zugleich mit dieser Feststellung erhebt sich die Forderung, seelisch aus der Bourgeoisie herauszugelangen. Religion einer Bourgeoisie kann es nicht geben, Bourgeoisiereligion ist Entartung. Ein Exponent des Verlangens, aus der Bourgeoisie herauszukommen, ist der Zionismus. Wir sprechen in unseren Predigten immer von der Erfllung, von der Verwirklichung. Was verwirklichen wir denn? Die Sehnsucht, etwas zu verwirklichen, regt sich darum; auch sie spricht im Zionismus. Die jdische Predigt unserer Zeit krankt daran, daß ihr eine Flle von lebendigen religisen Problemen fehlt, weil der Prediger nur den brgerlichen Zuhrer vor sich meint. Ein starker Nhrboden der Probleme, mit dem jedes gesunde Brgertum verbunden sein muß, fehlt zu oft. In Deutschland tritt gegenwrtig ein allmhliches Aufhren der bisherigen Orthodoxie in Erscheinung. Die Orthodoxie geht ber in den Zionismus. Soll nun der Zionismus religis nur durch die Orthodoxie gelenkt werden? Damit verurteilen wir den Liberalismus zur Ausschaltung aus einem Wesentlichen. Auch der Liberalismus muß im Zionismus fr seine religisen Ideale wirken. 1. Hermann Cohen (1842-1918). Jdischer Philosoph der Neokantischen Schule.

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»Agency«-Kundgebung

Auch mit dem Einstrmen des Ostjudentums nach Deutschland erwchst dem religisen Liberalismus ein wichtiger Aufgabenkreis, dem er sich nicht entziehen darf. Die Frmmigkeit der Ostjuden ist Milieu-Frmmigkeit. Mit dem Fortfall des Milieus fllt leicht jegliche religise Gesinnung weg. Der religise Liberalismus knnte mit seiner Individualfrmmigkeit hier erzieherisch wirken. Diese Einflußnahme ist aber unmglich, wenn man diese Kreise durch antizionistische Stellungnahme vor den Kopf stoßen wrde. Eine solche Stellungnahme ist dem Ostjuden einfach unverstndlich. Ebenso unverstndlich wie dem grßten Teil der jdischen Jugend in Deutschland. Antizionismus ist fr diese heutige Jugend eine Art Scholastik. Wer den Zusammenhang mit der Jugend nicht verlieren will, muß sich das vor Augen halten: alt ist erst der, der den Zusammenhang mit der heranwachsenden Generation verliert. Im Zionismus selbst geht eine sichtbare Wandlung vor sich, ein deutlicher Zug zur persnlichen Religiositt macht sich bemerkbar. Der Vorwurf des Atheismus ist ungerecht. Der Prozentsatz der Atheisten ist unter den liberalen Nachlufern vielleicht grßer als unter den Zionisten. Fr Palstina gilt die Frage: Wie soll sich dort das jdische Leben entwickeln: Soll Palstina bergeben werden einerseits der Orthodoxie, andererseits dem russischen Nihilismus? Hier erwachsen dem religisen Liberalismus wichtige Pflichten. Man spricht von der Krisis in Palstina. Diese Krisis knnte aber auch vielerwrts eine Krisis im Judentum werden. Denn wenn die Enttuschung in Palstina eintreten sollte, so knnte sie fr viele zu einer Enttuschung am Judentum werden, wenn nicht der Liberalismus durch sein von ihm bewiesenes Verstndnis fr ihr Ideal bereit und fhig wre, sie in seine Gedanken und seine Zuversicht auch eintreten zu lassen. Beitrag zum Thema: »Stellung des religis-liberalen Judentums zum Zionismus«. »Verhandlungsbericht der Tagung der Vereinigung der liberalen Rabbiner in Deutschland«. Jdisch-liberale Zeitung 7.14 (1927): S. 4.

* »Agency«-Kundgebung Unser inniges Empfinden, unsere tiefste Trauer wendet sich allen denen, Brdern und Schwestern, zu, alt und jung, die ihr Leben dort fr Kiddusch Haschem, fr die Heiligung des gttlichen Namens, 469

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hingegeben haben. 1 Alles Empfinden, wenn es bloßes Empfinden bleibt, Mitleid, das nichts anderes ist als ein bloßer Erguß des Gefhls, ein solches Empfinden und ein solches Mitleid knnen etwas Unmoralisches sein. Unmoralisch deshalb, weil der Mensch dann meint, etwas schon geleistet zu haben, seiner Pflicht schon genug getan zu haben, wenn er Mitleid empfunden hat. Wenn wir von diesem Abend in unsere Arbeit, in unser Leben hinausgehen und nichts anderes mit uns brchten als dieses bloße Mitleid, dann wre es besser, wir wren hier nicht zusammen gekommen. Alles Empfinden hat seinen Wert dadurch, daß es den Menschen in der Sphre der Tat, der Entscheidung emporhebt, daß es den Menschen dazu fhrt, daß in ihm der Wille sich befestigt, etwas zu leisten, etwas zu tun. Man mchte darum ein Wort Spinozas hier umwandeln, wenn es sich um das handelt, was uns der heutige Abend geben soll: Wir sollen hier nicht bloß weinen, und wir sollen hier nicht etwas verwnschen, sondern wir sollen arbeiten und unsere Pflicht erfllen. Als vor einem Vierteljahrhundert von einem Fanatiker in der franzsischen Kammer in die Reihen der Abgeordneten eine Bombe geworfen wurde, hat der damalige Kammerprsident Brisson ruhig gesprochen: la sance continue, die Sitzung geht weiter. Man knnte gegenber dem, was geschehen ist, ein hnliches Wort sprechen: die Arbeit wird fortgesetzt (strmischer Beifall), nicht nur fortgesetzt, sondern doppelte Opferwilligkeit, doppelte Hilfsbereitschaft soll jetzt hinter der Arbeit stehen. Wir sind fern vom Schrecken gewesen und aus einer Zeit, die mehr als ein Jahrzehnt zurck liegt, wissen wir, wie leicht diejenigen, die fern vom Schrecken sind, sich in großen Worten ergehen. Worte, und seien es die schnsten und besten, mssen uns jetzt fern bleiben. Nur unsere Tat, nur unsere Hingebung, nur unser Opfer darf gegenber dem, was geschehen ist, unsere Antwort sein. Und was soll diese unsere Arbeit sein? Wenn wir an Palstina denken, an das Neue, das dort aufgebaut wird, das jetzt fr einen Moment gestrt ist, aber wie ein zurckgedrngter Strom mit doppelter Energie, mit doppelter Gewalt weiter dringen will, wenn wir an das denken, was dort aufgebaut wird – es ist nicht eine Angelegenheit der Technik, und so sehr wir wissen, was es bedeutet, daß Juden zum Boden, zur Landwirtschaft wieder zurckgefhrt worden sind, es ist doch nicht eine Frage der Landwirtschaft nur. Was dort vor unsere Hoffnung hintritt, ist der neue Mensch, der neue Jude. Diesen Menschen kann man nicht tten. Er ist unzerstrbar, er ist 1. Im August 1929 tteten Araber um die 70 jdische Mnner und Frauen in Hebron, in Safed wurden 18 Juden umgebracht.

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Unsere Hoffnung

unsterblich. Huser knnen vernichtet werden. Dieser Mensch bleibt. Wenn dort der neue Jude geschaffen werden soll und im Werden ist und wohl schon geworden ist, er ist dorthin nicht gekommen, um zu nehmen, sondern er ist hingekommen, um zu geben. Jede wahre Kultur hat den inneren Drang in sich, zu geben, anderen etwas zu bedeuten. Eine jdische Kultur, die dort Inzucht treiben wollte, um innerhalb ihrer zu bleiben, das wre eine Kultur, die kein wahres Leben htte. Jede Kultur will hinausdrngen zu all den Menschen ringsumher, jede Kultur will geben, will schaffen. Und so ist es um die jdische Kultur auch bestellt, die dort geschaffen werden soll. Sie will nicht den Juden nur etwas sein, sondern den Arabern auch, allen den anderen im Lande, und das soll darum die Antwort, die zweite, auf das sein, was dort geschehen ist, nun doppelt Kultur dort schaffen, um doppelt den anderen im Lande zu geben. Das soll die Vergeltung sein, Kultur zu schaffen auch fr sie. Daß Jdisches und Arabisches einander viel geben knnen, hat eine der stolzesten Epochen unserer Geschichte bewiesen. 1 Unser starker Glaube ist es, daß alle dort begreifen werden, es erkennen werden, daß die Juden hingekommen sind, um keinem etwas zu nehmen, aber allen etwas zu geben. Dazu knnen auch wir helfen, durch das, was wir hier tun und durch die Opfer, die wir bringen. Es ist ein altes Wort, nicht ein jdisches nur, sondern fast ein allgemein menschliches: daß das Opfer shnt. Wenn Blut vergossen wird, unschuldiges Blut, dann ist der Boden entweiht. Diesen Boden wollen wir alle entshnen. Wir wollen Shneopfer bringen, damit das alte Wort wahr werde: Sein Volk entshnt Seinen Boden. (Großer Beifall.) Rede auf der [Jewish] Agency Kundgebung. Jdische Rundschau 34 (1929): S. 465.

* Unsere Hoffnung Zweimal hat dieses Land seine Geschichte gehabt und von diesen beiden Zeiten lebt seitdem eine Welt. Soll jetzt die neue Zeit der Geschichte beginnen? Zwiefach war in diesen beiden Zeiten die Richtung dieses Landes, das eine Mal war sie nach Osten gekehrt, das zweite Mal, sehr bald, nach Westen hin gewandt. Wohin wird es jetzt gewendet sein? 1. Das jdische »Goldene Zeitalter« im muslimischen Spanien im 10.-12. Jahrhundert.

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Zwischen Meer und Wste hat Palstina immer wieder den Bergen abgewonnen werden mssen. Es ist noch nie eine Sttte der Macht gewesen, sondern immer nur eine Sttte der Kraft, des Gedankens, des Gebotes, der Hoffnung. Nicht Reichtum, sondern Gedankentum, Gebotetum, Hoffnungtum hatten hier ihren Platz. Wird es wieder eine Sttte sein, in der dies alles anhebt, wird es eine Sttte der Kraft werden? Drei Jahrtausende hindurch liegt dieses Land vor dem Blicke der Geschichte. Zahlreiche Vlker haben auf dem Boden des Landes ihren Platz und ihren Raum sich bereitet. Aber in den drei Jahrtausenden ist das Land immer nur dann eine Sttte der Grße geworden, wenn Juden hier ihren Platz und ihren Raum hatten. Wird es sich jetzt so erfllen? Wenn ein Jude diese Frage stellt, so darf er eine Antwort nur geben: Wir Juden, wir leben, seit wir sind, von der Hoffnung. Unser Blick ist zur Zukunft hin gekehrt und das Wort von der Zukunft spricht zu uns der ewige heilige Gott allein. Gottes Wort und Gottes Verheißung, das ist fr uns Zukunft, unsere Zukunft. Und wann immer wir so hofften, ist es die Jahrtausende hindurch an uns wahr geworden: »od lo owda tikwatenu: wenn wir hofften – unsere Hoffnung ist niemals zunichte geworden.« Hanna Kubatzki, Passagierin des Dampfers »TelAviv«, zeichnete fr die Jdische Rundschau diese Ansprache Leo Baecks auf, die er bei einer Feier an Bord hielt, als das Schiff sich Palstina nherte. »Unsere Hoffnung. Eine Ansprache von Leo Baeck«. Jdische Rundschau 40.19 (1935): S. 1. [5. Mrz]

* ber das jdische Palstina – Ein Interview Welche Eindrcke empfingen Sie, Herr Doktor, whrend Ihres Palstina-Besuches vom Land und dem Jischuw? Mein Aufenthalt in Palstina war, da ich mit der »Tel Aviv« 1 auch zurckfuhr, kurz bemessen. Dieser Umstand bezeichnete eine Beschrnkung, aber auch eine gewisse Aufgabe. Da ich mich nur eine knappe Woche im Lande aufhalten konnte, fand sich zu ins einzelne gehenden Erfahrungen natrlich kaum Gelegenheit. Daraus ergibt sich der grundstzliche Vorbehalt, daß die Gesamteindrcke, nach denen Sie mich befragen, dadurch begrenzt 1. Die »Tel Aviv« befand sich auf ihrer Jungfernfahrt nach Haifa, an der auch Leo und Natalie Baeck teilnahmen.

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ber das jdische Palstina – Ein Interview

waren, daß es nicht mglich wurde, im Lande selbst Einzelheiten des Aufbauwerkes zu beachten. Andererseits ward es dadurch, daß ich das Land nach verhltnismßig wenigen Tagen wieder verlassen mußte, gegeben, daß ich Erez Israel nur als Ganzes auf mich wirken lassen durfte. Es war etwa so, wie man an die Lektre eines Buches geht, um dessen Grße, Sinn und Bedeutung man weiß, ohne es bisher gelesen zu haben. Man tut gut, wenn man ein solches Buch zuerst rasch, in einem Atem, ausliest, und seine einzelnen Kapitel erst spter, whrend einer zweiten Lektre, Seite fr Seite in sich aufnimmt. Was mich, von der Stunde meiner Ankunft an, zunchst ergreifen mußte, war die Landschaft Palstinas. Das Lngsgebirge bestimmt den Charakter des Landes. Die große Geschichte des Landes steht damit im engsten Zusammenhang. Whrend in anderen Kulturlndern gerade die Ebene bestimmend ist und etwa das Entstehen vorwiegend stdtischer Kultur begnstigte, gab in Palstina das Gebirge dem Wesen und der Geschichte seiner Menschen eine andere Richtung. Hier regiert sozusagen nicht die Horizontale, sondern die Vertikale. Stets ist man, schon rein optisch, dazu gefhrt, von oben nach unten und von unten nach oben zu blicken, und vielleicht gibt diese Tatsache auch eine Erklrung fr so manches Menschliche und Geschichtliche im Lande. Die Menschen? Ihre gesellschaftlichen Beziehungen? Die wirtschaftlichen Perspektiven? Da scheint es entscheidend, daß sich Palstina nicht, wie die Lnder Europas, in einem staatlichen, weitgehend festgelegten, sozusagen erstarrten oder bisweilen konvulsivischen Zustand befindet, sondern in einer Periode des Wachsens. Das Land wchst. Es dehnt und streckt sich sichtbar in jedem Betracht. Darum ist wiederum sein Schicksal weniger durch die Stdte, ihre besonderen Probleme und besonderen Gedanken bestimmt, als vielmehr durch das Land als Ganzes, durch seine Wirklichkeit und seinen Aufbau. Daher ist nach dem Urteile vieler Sachkenner eine Landflucht nicht zu besorgen; die Stadt scheint vielmehr fr so manche nur ein bergang zum Lande, der Weg zu einem spteren Erwerbe von Boden auf dem Lande zu sein. Und wie das Land wchst und sich reckt, so lebt in den Juden dort das starke Empfinden, daß sie mit dem Lande wachsen, daß das Leben zu ihnen kommt, daß sie Menschen der Zukunft sind. Verstndlicherweise gibt es auch in Palstina, wie berall dort, wo ein Organismus im Wachsen begriffen ist, natrliche Wachstumserscheinungen; manches hat noch sein Unausgeglichenes und Eckiges. Auch das gehrt zur Entwicklung des Landes. 473

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bergreifende Themen – Zionismus und Israel

Welchen Eindruck haben Sie vom Leben der in den letzten beiden Jahren aus Deutschland nach Palstina gewanderten Juden gewonnen? Die Menschen dieser »deutschen Alijah« bilden heute schon nach dem, was von verschiedenen und entgegengesetzten Seiten her erfahren werden konnte, ein wertvolles Element der jdisch-palstinensischen Bevlkerung. Zum erheblichsten Teil haben sie sich bereits gut eingegliedert. Wenn gelegentlich von Spannungen zwischen den Palstinensern, die schon jahrelang im Lande sind, und den neuen Ankmmlingen gesprochen wird, so scheint es sich in sehr vielen Fllen weniger um wirkliche Gegenstze zu handeln, als vielmehr um etwas, was in das Gebiet blicher, oft scherzhaft hingehender Auseinandersetzungen gehrt. Daß sich der deutsch-jdische Einwanderer gut in die Gegebenheiten Palstinas fgt, zeigt sich am einfachsten daran, daß er sich im allgemeinen energisch um die hebrische Sprache bemht. Der Prozeß seiner Eingliederung wird ferner auch durch seine Fhigkeiten auf wirtschaftlichem, besonders auch auf industriellem Gebiete erleichtert. Und dazu tritt die auch in Palstina weithin anerkannte charakterliche und geschftliche Zuverlssigkeit des deutschen Juden. Er ist im Begriff, sich den ihm angemessenen Platz im Ganzen des Aufbauwerkes zu sichern. – Hin und wieder werden Bedenken dagegen laut, daß sich deutsche Juden in besonderen Siedlungen landsmannschaftlich zusammenschließen. Man befrchtet, daß dieses ihre Eingewhnung erschwere. Es ist wohl aber eher das Umgekehrte anzunehmen, daß nmlich das Einleben in die besonderen Bedingungen Palstinas, vornehmlich fr ltere, durch derartige Zusammenschlsse vorerst gerade gefrdert wird. Zu einem sehr wesentlichen Teil ist es auch der vortrefflichen und frdernden Hilfsttigkeit der Hitachduth Ole Germania, der Organisation zur Untersttzung deutsch-jdischer Einwanderer, zu verdanken, daß sich die Meisten derer, die seit 1933 ins Land kamen, heute schon heimisch und geborgen in Palstina, ihrer neuen Heimat, fhlen. Geht der Palstina-Aufbau wirklich, wie es gelegentlich behauptet wird, planlos vor sich, oder steht er unter einer zielbewußten Leitung? Wer die fhrenden Persnlichkeiten des Aufbauwerkes und ihre Arbeit kennt, wird von immer neuem Respekt dafr erfllt, wie planmßig und wohlberlegt das große Werk geleitet wird. Nicht dankbar genug kann anerkannt werden, was die verantwortlichen jdischen Instanzen in Palstina fr die Entwicklung des Landes leisten. 474

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Brief an Werner David Senator in Jerusalem

Dr. Leo Baeck schloß mit folgenden Stzen: Wenn irgend etwas in der Geschichte der Juden zeigt, daß eine Vorsehung ber uns waltet, wenn sich das alte talmudische Wort irgendwann bewahrheitet hat, daß Gott vor das Leiden das Heilmittel und die Heilung setzt, so ist es die geschichtliche Tatsache, daß ein jdisches Palstina heute wieder Wirklichkeit ist: ein Land, das Juden Monat fr Monat und Jahr fr Jahr in steigendem Umfange aufnehmen kann und aufnehmen will. Aus vielen Gesprchen sprach, oft ergreifend, immer wieder das ehrliche, innige Verlangen der Juden des Landes nach Brdern aus Deutschland. Die Bedeutung des Palstina-Werkes fr uns deutsche Juden, wie fr die Juden in aller Welt, findet darin ihren klarsten und hoffnungsreichen Ausdruck.« »Der Prsident der Reichsvertretung ber das jdische Palstina. Ein Interview mit Leo Baeck«. Israelitisches Familienblatt 37.12 (1935): S. 2. [21. Mrz]

* Brief an Werner David Senator in Jerusalem Berlin, 9. November 1937 Lieber Herr Dr. Senator, 1 Meine Gedanken sind diesem Briefe schon oft vorangegangen; Sie wissen, wie oft ich herzlich an Sie denke. Vor allem lassen Sie mich Ihnen aufrichtig fr Ihre beiden Schreiben danken. Was Sie mir sagen und berichten ist fr mich immer ebenso wertvoll wie wohltuend. Mir wird es immer mehr zur Gewissheit, dass die eigentliche Aufgabe der sogenannten Nichtzionisten der Jewish Agency 2 jetzt beginnt, weil sie die sind, welche unvoreingenommen und unbelastet die Frage der Beziehung zu den Arabern betrachten knnen und vielleicht auch – doch darber wage ich kein Urteil – die am ehesten Geeigneten sind, Fden zu diesen hin hier oder dort anzuknpfen. Es kommt viel darauf an, recht bald einmal eine Aussprache zwischen den Menschen dieser nichtzionistischen Gruppe, am besten auf Ihre Initiative hin und unter Ihrer Leitung, herbeizufhren. Es will mir scheinen, dass jetzt der psycho1. Werner David Senator (1896-1953). Sozialpolitiker und Fhrungspersnlichkeit in verschiedenen jdischen Organisationen in Berlin. Immigrierte 1935 nach Palstina, wo er in der Verwaltung der Hebrischen Universitt in Jerusalem ttig wurde. 2. Senator war von 1930 bis 1935 Vertreter der Nicht-Zionisten in der Jewish Agency Exekutive.

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logische Moment fr den erneuten Versuch zu einer Verbindung mit den Arabern gekommen ist, und dass heute das aufgenommen werden knnte, was 1921 versumt oder nicht gengend ernst genommen worden war. 1 Die Basis knnte natrlich nur die sein, dass Juden und Araber eine gemeinsame Front fr den erneuten Versuch und Beginn eines einheitlichen Palstina bilden; die Juden mit der Motivierung, dass sie den eigenen Staat, wie ihn England jetzt vorschlgt, 2 und die Teilung, zu der er fhren wrde, nur als die letzte Aushilfe, als das ultimatum refugium ansehen, dass sie zu jedem Versuch, die Einheit zu erhalten, bereit wren. Es msste dann, um das eigentlich Politische, das immer trennen wird, nicht im Vordergrunde zu lassen, die wirtschaftliche Cooperation, d. h. das Programm der gemeinsamen Erschliessung der distressed areas in Palstina, in den Vordergrund des Zukunftsprogrammes, mit dem begonnen werden soll, gestellt werden. Ich verweise auf die kurze Denkschrift, die ich, an Weizmann 3 adressiert, im Sommer Ihnen abschriftlich zugesandt hatte. Es will mir dnken, als sei jetzt der letzte und das bedeutet doch der entscheidende Moment dazu. Der Tod von Felix Warburg 4 hat mich tief bewegt. Es ist schwer, gegen einen Menschen, zumal einen, der in anderen Gebieten und in anderer Sphre lebt, gerecht zu sein; vielleicht steht, um ein Wort von Marie Ebner-Eschenbach 5 anzufhren, »berhaupt kein Mensch so hoch, dass er gegen einen anderen nur gerecht sein drfte.« Es war doch eine gewisse Tragik im Leben des Verstorbenen, die wie jede Tragik, aus einer Kollision von Pflichten, aus einem Widerspruch von berechtigten Empfindungen hervorging, dass nmlich er, der Deutsch-Amerikaner, das ist der deutsche Jude, und der Amerikaner, als der wirkliche oder vermeintliche Fhrer von Anti-Zionisten ein Fhrer der Jewish Agency geworden war. Wir merken es 1. 1921 war eine arabische Delegation zu einem informellen Treffen mit dem Zionistenfhrer Chaim Weizmann nach London gekommen. Das Treffen verlief jedoch negativ, da die Araber nicht bereit waren, den Zionisten irgendwelche Rechte in Palstina zuzugestehen. 2. Im Juli 1937 schlug die von den Briten berufene Peel Commission eine Teilung Palstinas in einen jdischen und einen arabischen Staat vor. 3. Chaim Weizmann (1874-1952) hatte 1935 das Amt des Prsidenten der Zionistischen Weltorganisation wieder angetreten, welches er bis 1946 innehatte (siehe unten Baecks Korrespondenz mit Weizmann, 3. Dezember 1936). 4. Felix Warburg (1871-1937). Hamburger Bankier und Philanthrop, wirkte in New York als Nicht-Zionist fr den Aufbau einer jdischen Heimsttte in Palstina. 5. Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916). Schriftstellerin des Realismus.

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jetzt, wie er seinen Platz hatte und darum fehlen wird. Schmerzlich ist es, dass sein Sieg in Zrich ein Pyrrhus-Sieg 1 fr ihn persnlich war oder, wenn man so sagen muss, mit einer Einbusse seines Persnlichen errungen war. Aber wir alle mssen doch dankbar an ihn zurckdenken. Lassen Sie recht bald wieder von sich hren und rechnen Sie nicht allzu sehr mit mir, wenn ich nicht so pnktlich antworte. Central Zionist Archives, Jerusalem. S25/3246.

* Judentum und Zionismus Why does a religious Jew live in the hope that the National Home will be built up in Palestine? Why does he cling to that task, working and cooperating with others to create a Home for all Jews who need it? What impels the religious Jew, whose religion transcends the claims of an hour, a political party, interest or passion, to such action? The religious Jew demands the creation of the National Home if only on rational and ethical grounds. Although religion is neither mere reason nor mere ethics, yet it can never be without reason nor without ethics. And reason says that mankind cannot afford – today even less than formerly – the wanton waste of unreclaimed regions of desert, swamp and rocky desolation. Rather should these lands be entrusted to those pioneers who through labour and sacrifice can make them fertile. Ethics say that it is a commandment of life to give life to the soil. Judaism would add that there is but one eternal owner of the soil, the one God, who has given the earth to mankind »to dress it and keep it« and that the man who allows his portion of the soil to fall permanently into decay and ruin forfeits his right of possession. All moral right of possession is founded on this law and the right of colonisation and settlement issues therefrom. It is on this basis of reason and morality that Jews base their claim to develop Palestine. Decades of devoted labour have given proof of the validity of this

1. Warburg, ein Gegner des Teilungsvorschlages, war es gelungen, den nichtzionistischen Teil des Jewish Agency Rats, der sich 1937 in der Schweiz traf, zu berzeugen, seine Position zu untersttzen. Die Zionisten stimmten jedoch geschlossen fr die Teilung Palstinas. Warburg starb whrend er einen Kompromiß auszuhandeln versuchte.

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claim and every true claim must thus give proof of its reason and morality. The voice of humanity, or what is the same thing, the voice of human right, chimes in with this argument, for humanity can only find expression in human right. And, although religion is not mere humanity, yet it can never lack humanity nor be opposed to human rights; human right is based on the recognition that every man has the right to live. And this right to live does not only mean, important as it is, the right to escape murder, torture, oppression, robbery, persecution, but surely, first and foremost, it means the right to the soil necessary to support life as well as a place in which to live. To take root somewhere so that he may grow and bear fruit for his own fulfilment as well as for the good of his fellow man, is man’s fundamental right. To condemn the soil to be fruitless is a violation of the right of possession; to condemn human life to be fruitless is a violation of all human right. Therefore it is a violation, even a rejection, of human right to keep man in such circumstances that he is driven to despair, to profound despair, because he is denied freedom and the good use of the special powers and abilities with which he is endowed. Judaism would add, God Himself has so endowed a man; and each man will have to render account for his gifts before God. Those Jews who today seek the way to Palestine, after passing through suffering and torment, want to go there not in order to acquire wealth, not to lead lives of pleasure, not to be supported by others, but to work there and to find hope. It is this human right that these immigrants invoke. Reason, morality and humanity thus speak with one voice. When they have so spoken in any age, and have been heard, it has been a great age for a people; one might almost say a time of liberation and redemption. In such times, when a people has been liberated from inhuman conditions and conscience has been appeased, the debts due to reason, morality and humanity have been paid. In such days, history has always taken a step forward. Today, an historic issue is at stake. And at such a moment there must be a religious vision. Many communities have been able to create individual and valuable ways of life and culture, styles of living which have been full of significance and thus, by the very fact of their being, they have been able to give something to mankind. The historic right of such communities is founded on these contributions. Among the achievements of the Jewish people, second only to their conception of God as One, Almighty and Redeeming, is the fact that they have been able to create an individual way of life and thus justify their right to survive. 478

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In ancient times, even whilst living in the midst of a pagan world, the Jews created in Palestine a community free from slavery, caste or domination by a single class. In this community no individual owned and exploited large estates, neither did the town live at the expense of the country, nor the country blackmail the town. In the Middle Ages when four evils were prevalent throughout the world, the evils of ignorance, brutality, drunkenness and prostitution, the Jewish people founded, wherever they were, communities of clean, healthy life where learning, kindness, piety, sobriety and morality reigned. And now, in our time, Jews have once again started to create an individual and novel social order on that old soil; a social order which is based on the respect of all for the individual human being, and on the respect of each for his fellow and for the community. Thus, with a minimum of decrees, this order achieves the maximum of order and through it land, labour and possessions are controlled by moral precepts. This community animated by such ideals will one day show how it can respect the rights of a people of different origin and faith. Religion would say that an order such as this can stand God’s judgement. Judaism may add one word in support of an experiment which reason, morality, human right and the lesson of history all approve. It is only possible to understand Judaism and the Jewish people by recognising that a call from God has gone forth to them and that the Jewish people has a particular vocation. This people is unique, it fulfils »a word spoken but once« by the Creator of the world. What is imperative here is beyond superficial understanding; everyday yardsticks cannot measure it nor mere reasoning penetrate its depth. This People is a People of the Chosen Way. Much of the Jewish religion rests on an understanding of this, and in some essential matters the Christian faith depends on it. There, in the Christian faith, too, was a welling up of understanding and a release of religious springs. The re-creation of Palestine belongs to this order of religious events; one can think of it and speak of it only with veneration. In the midst of a clamour of voices, let this voice from above be heard; for the word of God speaks here. »Judaism and Zionism. A Liberal Jewish View«. Some Religious Aspects of Zionism. A Symposium. London: Palestine House, [1947]. S. 13-16.

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Brief an J. L. Magnes in Jerusalem London, 27. Juni 1947 Sehr geehrter Herr Professor, 1 Wir gestatten uns Ihnen zu Ihrem 70. Geburtstage unsere herzlichsten Glckwnsche auszusprechen. Mit tiefer Dankbarkeit wrdigen wir das grosse Werk, das Sie als Prsident der Hebrew University fr die jdische Wissenschaft leisten. Gerade wir, die Vertreter der Juden, die einstmals in Deutschland gelebt haben, haben eine ganz besondere Dankbarkeit dafr zu empfinden, wenn nach der ungeheuren Tragdie, die unser Volk heimgesucht hat, die Werte des jdischen Geistes und der jdischen Wissenschaft erhalten und weiter gepflegt werden. Wir sprechen den Wunsch aus, dass es Ihnen noch recht lange vergnnt sein mge, in voller Gesundheit Ihrer grossen Aufgabe zu dienen. Leo Baeck im Namen des Council for the Protection of the Rights and Interests of Jews from Germany. Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem. P3/232.

* Kooperation in Palstina – Ein Appell Both Arab and Jewish extremists are today recklessly pushing Palestine into a futile war. While believing in the defense of legitimate claims, these extremists on each side play into each other’s hands. In this reign of terror the needs and desires of the common man in Palestine are being ignored. We believe that in such a situation of national conflict it is vitally important that each group and particularly its leaders uphold standards of morality and reason in their own ranks rather than confine themselves to accuse their opponents of the violation of these standards. Hence we feel it to be our duty to declare emphatically that we do not condone methods of terrorism and of fanatical nationalism any more if practiced by Jews than if practiced by Arabs. We hope that responsible Arabs will appeal to their people as we do to the Jews. 1. Judah Leon Magnes (1877-1948). Amerikanischer Rabbiner, ab 1922 in Palstina, wo er von 1925 bis 1935 Kanzler, von 1935 bis zu seinem Tode Prsident der Hebrischen Universitt in Jerusalem war.

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Kooperation in Palstina – Ein Appell

Were war to occur, the peace would still leave the necessity of the two peoples working together, unless one or the other were exterminated or enslaved. Short of such a calamity, a decisive victory by either would yield a corroding bitterness. Common sense dictates joint efforts to prevent war and to foster cooperation now. Jewish-Arab cooperation has been for many years the aim of farsighted Jewish groups opposed to any form of terror. Recently a declaration of such a group 1 was published in the American press under the dateline Jerusalem, March 28, 1948, to which we want to draw attention. We quote here some of the key sentences: »An understanding between the two peoples is possible, despite the constant refrain that Jewish and Arab aspirations are irreconcilable. The claims of their extremists are indeed irreconcilable, but the common Jew and the common Arab are not extremists. They yearn for the opportunity of building up their common country, the Holy Land, through labor and cooperation.« The signers of the statement represent various groups in Palestine Jewry. Besides Dr. Magnes, the chairman, those who signed were Dr. Martin Buber, Professor of Jewish Philosophy at Hebrew University; Dr. David Senator, administrator of the university; Dr. Kurt Wilhelm, rabbi of Emeth Ve’Emunah, liberal congregation in Jerusalem; Simon Shereshevsky, a surgeon who belongs to the Mizrachi Zionist religious group, and Isaak Molho of the Spanish Jewish community. Those who signed this declaration represent at the moment only a minority. However, besides the fact that they speak for a much wider circle of inarticulate people, they speak in the name of principles which have been the most significant contribution of the Jewish people to humanity. We appeal to the Jews in this country and in Palestine not to permit themselves to be driven into a mood of despair or false heroism which eventually results in suicidal measures. While such a mood is undoubtedly understandable as a reaction to the wanton destruction of six million Jewish lives in the last decade, it is nevertheless destructive morally as well as practically. We believe that any constructive solution is possible only if it is based on the concern for the welfare and cooperation of both Jews and Arabs in Palestine. We believe that it is the unquestionable right of the Jewish community in Palestine to protect its life and work, and 1. Gemeint ist wahrscheinlich Ihud, eine 1942 gegrndete Gruppe, die sich fr die Frderung der Beziehungen zwischen Juden und Arabern in Palstina einsetzte.

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that Jewish immigration into Palestine must be permitted to the optimal degree. The undersigned plead with all Jews to focus on the one important goal: the survival and permanent development of the Jewish settlement in Palestine on a peaceful and democratic basis, the single one which secures its future in accordance with the fundamental spiritual and moral principles inherent in the Jewish tradition and essential for Jewish hope. New York, April 12, 1948 Leserbrief an die New York Times, unterzeichnet von Leo Baeck und Albert Einstein. 1 »Palestine Cooperation. Appeal Made to Jews to Work for Goal of Common Welfare«. New York Times. 18. April 1948. Teil 4. S. 8.

* Religise Erziehung in Palstina Before commencing this subject I think it is necessary to explain the general common feeling in Palestine – the atmosphere, the air that everyone, old and young, is breathing there. All people in Palestine feel and are convinced that they are pioneers – chalutz. It is the most favourite word in Palestine. You hear it when having a talk with old people, with young people, with children. Children already use this word. When you ask a child what it wants to become the answer will always be: »I shall be a pioneer.« To be a pioneer is the common pride of everybody. All people from the left to the right, the Orthodox and the free thinkers take pride in being pioneers. What is the meaning of this word in Palestine? It means there to conquer the land, this land Palestine, not by means of arms and guns, but to conquer by labour, by sacrifice. To conquer the land, that means to redeem it from bareness, from unfertility, in order that there may be a fruitful garden, a garden of God. One of the most quoted sentences of the Bible are the words from Isaiah: »For the Lord shall comfort Zion. He will make the desert like a garden, and joy and happiness shall be found there.« 2 Thankfulness is the motto of the pioneer. It is repeated by old and 1. Siehe unten Baeck-Einstein Korrespondenz. 2. Nach Jes 51,3.

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Religise Erziehung in Palstina

young. This is the first feeling in the land. Can it be a help for religious education? It is vital to religious education, it can be of benefit to the teacher who will plant religion in the souls of the children. Religious education has two roots: thankfulness and joyfulness. Without joyfulness no thankfulness, without thankfulness no religiousness. The children in Palestine are very joyful and therefore most thankful. The best soil for thankfulness is joyfulness. Without being joyful and thankful a child will have no easy access to religiousness. Therefore, it could be an easy task for the teacher in Palestine to give a religious education to the children. And there is another help for religious education. This is the proximity to nature. Without any nearness to nature religion will scarcely develop in the heart of a child. A child far removed from nature will have perhaps some stony religion. All children in Palestine are near, very near to nature. They see the fields, the gardens, the blooming and the blossoming, and so it is easy for them to thank God for all he has given us. It could be very easy to give a religious education in Palestine. The pioneer in the field, in the garden, that is the first trait and essence of the Palestinian Jew. But there is also another trait, repeated again and again, which sometimes becomes like an outcry, immigration – alijah. The children are speaking every day of immigration. What does this mean? In the language of the Palestinian it means the same as in other countries, in other languages: it means human right, the bill of right, the declaration of right. If they speak of human right they mean immigration. The human right: the feeling and the conviction of everybody in Palestine. It is the right to live on a soil in order to take root in it; in order to bring forth, to bear fruit for their own fulfilment and the good of their fellowman. Immigration is there not a word of politics, but of faith. Pioneer and immigration! The immigrant of today is the pioneer of to-morrow, and the pioneer of today is the immigrant of yesterday. Not to give a man this bill of right is a violation of humanity. All people are united in this conviction. And again there is a question. Is this ideal of immigration able to give help to the teacher? Certainly it is able to do so, first of all regarding Judaism. Judaism is a social religion, a religion of social thought. We believe only what we do. To help is religion. I remember a very moving sentence I heard one day when I was in Germany. I was sitting in a park; it was dark and I could not see the people whom I heard talking. They were gentile working-class women. One woman told the other that a friend of hers had been supported by a Jewish friend in the very best way; and the other woman replied: »But that is the religion, the Jew483

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ish religion.« And this religion is taught in Palestine. The children already are ready to help, to support, to assist. They have the sense of the pioneer and the sense of human right, of immigration, and the result is a wonderful readiness to help. One sees young children, four, five, six years old, helping, supporting, assisting. It could be very easy to teach religion in Palestine. This is the good, the bright side in Palestine; but there is also the dark side, that which is hampering religious education, that which must be overcome. There are special assets in Palestine; there are also deficiencies, defects, and great dangers. Palestine is a small country; its horizon is a small one. The people in Palestine are very often shortsighted and narrowminded. The children are growing up in an atmosphere of narrowmindedness. Palestine is like an island; it has an insular way of thinking, a tendency to regard itself as the centre of the world, as a world in itself. This is the feeling in Palestine, and it is a great danger. It is especially a great danger for the children to think that Palestine is the world. I was told last year when I was in Haifa that there are three types of people in Palestine: those in oriental garments – the Arabs, those in uniform – the English, and those in some kind of European clothing – the Jews. A Jewish woman went to France from Palestine taking her six years old daughter with her. When they arrived at Marseilles, the little girl said: »Look mummy, here, there are only Jews« (i. e. people in European clothes). Only religious education can overcome this shortsightedness and narrowmindedness. This is a great and hard task in Palestine, the great task of religious education. And there is also another danger, a greater danger. Shortsightedness, narrowmindedness engenders nationalism and chauvinism, and chauvinism engenders violence and terrorism, and this engenders false ideals. The task of religious education is to overcome these evils and to establish a standard of right. Without religious education there will be no future, no Jewish future in Palestine. There are some centres for religious education in Palestine. In Haifa there is Dr. Elk, 1 and round his school there is a really religious congregation. There are also centres in Jerusalem and Tel Aviv. The destiny of Palestine will be our destiny. We are connected with a Jewish Palestine. It is our own future which we build up there. We must help religious education in Palestine. Without it there will be no 1. Max Elk (1898-1984). Liberaler Rabbiner in Deutschland, ab 1935 in Haifa, wo er eine Schule und liberale Gemeinde grndete.

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Das berleben des Geistes

Jewish, no human future. It is a wonderful work which was begun there, of human labour and human sacrifice. A sound religious feeling is wanted. The roots are there. We must help, and thus we shall give service to Israel, 1 to Israel in Palestine, to Israel all over the world, service to ourselves, service to mankind. Ansprache bei einem Treffen der Federation of British Progressive Women’s Society im Juni 1948 in London. »Religious Education of Children in Palestine«. World Union for Progressive Judaism Bulletin 20 (Sept. 1948): S. 40-42.

* Das berleben des Geistes Jewish men and women have won a great victory in Israel. Men who had overcome the toughness of soil and climate had to take up arms to defend this soil. In the battle of arms they have won a victory. But in the history of nations the danger of a crisis has always been inherent in victory. More nations have perished in a crisis that followed a victory than have disappeared as a result of defeat. There is only one way to overcome the crisis and to prevent the victory from turning into eventual defeat. If the power of the spirit arises in Israel, this crisis can be mastered. We have witnessed that the builders and defenders of Israel are a generation bound to spiritual values. But this generation will pass, and the burning question before us is, what the countenance of the new generation will be. On the development of new spiritual forces depend the survival of the young state of Israel and the Jewish people. Nostra res agitur – it concerns us. Everyone of us, wherever he may live, would feel it if the victory were not to be permanent, if it were to turn into defeat in the spiritual sense. It all depends on education – on the spirit with which the growing generation comes into contact. Much has been done in Israel. But one crucial element is still missing – or rather is just beginning to grow – that attitude of mind which values and pursues knowledge and ideas for their own sake. Building the school in the village of Israel is one of the most essential tasks before us. Education in the village, the founding of a school 1. Bezieht sich hier auf das Volk Israel. Obwohl der jdische Staat schon im Mai 1948 Israel benannt wurde, bezeichnet Baeck das Land hier noch als Palstina.

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in the rural settlement, is one of the most challenging jobs to be done in Israel. We owe gratitude to Hazorea 1 for their willingness to meet this challenge. A great deal of courage, even a bit of foolhardiness, is needed to undertake so difficult a task, and we should prove to these courageous people that we understand the boldness of their venture. German Jewry, during its history of more than a thousand years, has achieved very much. It has taken a leading part in the intellectual development of the last century. The three decisive spiritual revolutions, the new orientations that humanity won during the last 150 years, all three of them were initiated by German Jews: Marx, Freud and Einstein. But German Jewry achieved its greatest human expression in its united stand from 1933 to the dark end. Never in history had a group of people joined to common work as in the »Reichsvertretung« of the Jews in Germany. Never have people rallied so unselfishly, with such complete devotion, from many places and different schools of thought, to form a true community. Among these people were two martyrs, heroes who died as heroes: Otto Hirsch 2 and Julius L. Seligsohn. 3 We German Jews should never, never forget the names of these two men. The gratitude we owe them knows no bounds. Here at least it can be expressed in a small measure by erecting this school, which will educate a new generation in Israel. This school, which will contribute in avoiding a crisis in Israel, or if it should come, in overcoming it; this school, in which the achievements of German Jews, in fact their very existence, will once more become tangible; a school that courageous people have decided to establish; this school will be dedicated to the names of these two men, Otto Hirsch and Julius L. Seligsohn. We want to show that in our minds they still live, and that we are worthy of their sacrifice for our sake. »Survival of the Spirit. Address by Leo Baeck to the Committee for the Establishment of the Otto Hirsch and Julius Seligsohn Memorial School in Hazorea (April 8, 1949)«. AJR Information 8.5 (1953): S. 6. [Mai]

* 1. Kibbutz sdstlich von Haifa, der 1936 von deutschen Einwanderern gegrndet wurde. 2. Otto Hirsch (1885-1941). Ab 1933 Geschftsfhrer und Vorstandsmitglied der Reichsvertretung der deutschen Juden. Wurde 1941 im Konzentrationslager Mauthausen umgebracht. 3. Julius L. Seligsohn (1890-1942). Ab 1933 Prsidialmitglied der Reichsvertretung. Er wurde 1940 verhaftet und ins Konzentrationslager SachsenhausenOranienburg deportiert, wo er 1942 umkam.

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Brief an Hans Paeschke in Mnchen Cincinnati, 4. November 1949 Sehr verehrter lieber Herr Paeschke, 1 lassen Sie mich vor allem Ihnen nochmals herzlich danken, dass Sie mir so eingehend geschrieben haben; ich bin Ihnen aufrichtig dafr verpflichtet. Ihre Anregungen und Fragen habe ich sorgfltig berdacht. Einige Stze, die ich Ihrem Wunsche folgend einfgen mchte, habe ich auf dem beiliegenden Blatte niedergeschrieben. 2 Leider habe ich einen Durchschlag des Manuskriptes nicht mitgenommen, aber ich merke an, wo diese Stze eingefgt werden knnen. Darf ich auch einige Punkte hier besonders hervorheben: Absicht, und damit auch Grenze, meines Aufsatzes ist in dem Titel ausgesprochen. Das Entscheidende, das, was daher den breiteren Teil des Raumes beanspruchen musste, ist der »Ursprung«, d. h. die Wandlung, die sich im letzten halben Jahrhundert fast berall im jdischen Denken mit Bezug auf Palaestina vollzogen hat. Die Darstellung der »Anfnge« muss sich, wenn man keine histoire romance schreiben will, darauf beschrnken, die einzelnen Faktoren des Spannungszustandes aufzuzeigen, in dem sich der junge Staat befindet. Ich lese Koestler’s 3 Bcher sehr gerne, aber die Grenze zwischen Roman und Wirklichkeit ist in ihnen meist eine fliessende, zum mindesten allzu elastische. Der Kommunismus ist, vor allem im Vergleiche mit anderen Lndern des Orients, in Israel kein Problem und ebensowenig der »Faschismus«, obwohl die Cherut-Partei 4 ihre »faschistischen« Phrasen hat. Bevor ich den Aufsatz schrieb, hatte ich Gelegenheit, diese Frage eingehend mit erfahrenen, klugen Mnnern aller Richtungen in Israel zu errtern, darunter mit dem Leiter einer ganz linksstehenden Siedlung. Der jdische Mensch in Palstina unterliegt bisher keiner anthropologischen Mutation, sondern nur der, die der Wechsel der Be1. Hans Paeschke (1911-1991). Mitbegrnder und -herausgeber der deutschen Zeitschrift Merkur. 2. Nicht erhalten. Baecks Aufsatz ber Israel wurde nicht verffentlicht, da Pieschke ihn fr zu lang befand. 1952 erschien ein anderer Aufsatz Baecks im Merkur mit dem Titel »Israel und das deutsche Volk« (siehe Bd. 5 dieser Werkausgabe, S. 49-61). 3. Arthur Koestler (1905-1983). U. a. Autor von Promise and Fulfilment: Palestine 1917-1949 (1949). 4. Zu der Zeit die rechtsstehende Partei im israelischen Parlament, heute ein Bestandteil der Likud.

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schftigung und die nderung der Aufgaben mit sich bringt. Wer im Lande ist, erkennt alsbald den norddeutschen, den sddeutschen, den polnischen, den russischen, den levantinischen etc. Juden, auch unter denen, die seit Jahrzehnten dort leben. Das Charakteristische ist, dass bei alledem das Gemeinschafts- und Einheitsgefhl so lebendig ist. Das eigentliche Problem ist nicht der Zionismus als solcher – er hat gesiegt, und eine Bewegung, welche siegt und damit am Ziele ist, hrt damit auf, eine Bewegung zu sein – sondern das knftige, und auch schon das gegenwrtige, Verhltnis der Juden Amerikas zu Israel. Wer hren kann, hrt schon jetzt den Konflikt grollen. Doch das verlangt einen besonderen Aufsatz. Der Staat Israel ist nicht im europischen Sinne, geschweige in dem der Treitschke’schen 1 Schule, ein Staat. Er ist in den Formen, in denen er geworden ist, ein settlement, eine soziale Gesamtgemeinschaft, und vielleicht weist er damit allgemein zu einer Zukunftsrichtung hin. Ich habe mich bemht, auch zwischen den Zeilen des Aufsatzes das eine und andere lesen zu lassen. Deutsches Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar.

* Gutachten vom Oktober 1951 Die durch eine Amtsstelle unseres Staates Israel vorgebrachte Weigerung, eine Aufnahme in das Judentum und in die jdische Religionsgemeinschaft anzuerkennen, wenn sie durch einen liberalen Rabbiner vollzogen worden ist, stellt in ihrer Wirkung eine schwere Gefhrdung unseres jdischen Gesamtlebens dar. Diese Rechtsverweigerung ist in einer generellen Form vorgetragen worden. Sie beruft sich nicht auf irgendwelche irgend einem liberalen Rabbiner zur Last fallende, wirkliche oder vermeintliche Verletzung einschlgiger Bestimmungen, wie sie im Schulchan Aruch, Joreh Deah, Kp. 368 und 369, kodifiziert worden sind. Sie spricht vielmehr ohne Einschrnkung allen liberalen Rabbinern die Befugnis ab, den religionsgesetzlichen Akt rechtskrftig zu vollziehen. Sie zweifelt nicht die Beschaffenheit des vollzogenen Aktes als solchen an, sondern den Charakter dessen, der ihn vollzogen hat. 1. Heinrich von Treitschke (1834-1896). Deutscher Historiker und Autor von Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert (5 Bde. 1879-1894).

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Gutachten vom Oktober 1951

Sie will sich daher offensichtlich auf den Paragraphen 3 des Kapitels 368 sttzen, der ganz allgemein bestimmt, dass die Aufnahme vorzunehmen sei, »durch drei zur Rechtsentscheidung Befugte«. Diese Rechtsverweigerung luft so darauf hinaus, die liberalen Rabbiner insgesamt als nicht zur Rechtsentscheidung befugt und die von ihnen vollzogenen religionsgesetzlichen Akte von vorn herein und insgesamt als ungltig und unwirksam zu erklren. Sie tritt damit aus der Sphre einer religionsgesetzlichen Interpretation heraus und wird zu einer Frage der jdischen Gemeinschaft und der jdischen Gesamtexistenz. Es ist zunchst notwendig, sich den geschichtlichen Bereich zu vergegenwrtigen, gegen den sich diese Verweigerung richtet. Das liberale Judentum, in dem der liberale Rabbiner seinen Platz hat, macht seit einem Jahrhundert einen lebendigen und wesentlichen Bestandteil unseres grossen jdischen Gesamtkrpers und Gesamtgeistes aus. Dieses liberale Judentum ist nicht aus den Bestrebungen einzelner Mnner, so hervorragend sie sein mochten, hervorgegangen, sondern ist das Ergebnis der grossen geschichtlichen Umwlzung, durch die das jdische Volk in weiter Erstreckung aus dem »Ghetto« herausgefhrt und in die europisch-amerikanische Kultursphre hineingestellt worden ist und damit eine andere Struktur erhielt. Es ist dieselbe Revolution, aus welcher der Zionismus hervorgewachsen ist. Hervorragende Mnner des jdischen Gesamtlebens und der jdischen Wissenschaft haben diesem liberalen Judentum seine Form gegeben. Starke jdische Krfte sind hier entbunden worden. Durch sie ist es bewirkt worden, dass in vielen Hunderttausenden von Juden, die sonst vielleicht unserem jdischen Volk verloren gegangen wren, der Wille zum Judentum, zum jdischen Leben und zur jdischen Hoffnung erhalten blieb und gesichert wurde. Das sichere Bestehen und Wachstum der liberalen jdischen Gemeinden und in ihnen die Arbeit der liberalen Rabbiner auf dem Felde der rabbinischen Aufgaben sind eine feststehende geschichtliche Tatschlichkeit innerhalb des jdischen Gesamtlebens. Sie trgt als solche ihr Recht in sich. Sie mag in einer geistigen Auseinandersetzung einer Kritik und auch einem Widerspruch begegnen. Aber sie kann nicht durch eine Amtsstelle, auch nicht unter Berufung auf eine Interpretation seitens einer Autoritt, bestritten werden. Die jdische Geschichte hat hier ihre bestimmte positive Entscheidung festgestellt. Die Konsequenzen dieser Rechtsverweigerung mssen klar ins Auge gefasst werden. Sie sind so bedenklich und so weitreichend, 489

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dass man fast vermuten muss, dass die in Betracht kommenden Stellen an sie nicht gedacht haben. Man muss sich doch folgender Tatsache auch bewusst sein: Eine grosse und bestimmende Anzahl der Juden in Zentral-Europa war Generationen hindurch zu liberalen Gemeinden zusammengeschlossen. Ein sehr grosser und entscheidender Teil der amerikanischen Juden war und ist es heute. Liberale Rabbiner wirkten und wirken dort berall. Ihnen die Befugnis zu religionsgesetzlichen Handlungen generell absprechen wollen, wie diese Rechtsverweigerung unternimmt, bedeutet doch notwendigerweise zugleich, einem wichtigen und unentbehrlichen Bestandteile unseres jdischen Volkes die Legitimitt eines wesentlichen Stckes seines jdischen Lebens religionsgesetzlich abzusprechen. Denn seit langem nehmen doch die liberalen Rabbiner, ganz wie die anderen Rabbiner und kraft gleicher staatlicher Autorisation, die Eheschliessung »nach der Satzung Moses und Israels« vor. Ihre rabbinische Handlung, wie diese Rechtsverweigerung es notwendig in sich schliesst, als unbefugt und damit unwirksam hinstellen, besagt, dass diese jdischen Ehen fr ungltig und die aus ihnen hervorgegangenen und hervorgehenden Kinder damit fr unehelich erklrt sind. Diese Konsequenz muss begriffen werden. Sie muss, wenn nicht Einhalt getan wird, zu einem tiefen Schisma in unserem jdischen Volke fhren. Ein hnliches Schisma hatte vor zweihundert Jahren gedroht, als mitnagdische Kreise den chassidischen Rabbinern die Befugnis zu rabbinischen Amtshandlungen absprechen wollten. 1 Damals, innerhalb jenes begrenzteren Bereiches, hatte die drohende Gefahr noch berwunden werden knnen. Heute, in den viel weiteren Erstreckungen und Beziehungen des jdischen Lebens, wrde ein von Medinat Israel 2 eingeleitetes Schisma eine unbersehbare Krisis fr das gesamte Volk und fr den Staat auch herbeifhren. Es scheint, dass an zustndigen Stellen dies nicht erkannt worden ist, und es darf daher zuversichtlich erhofft werden, dass auch dort diese Rechtsverweigerung zurckgewiesen wird. 3 Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’.

* 1. Die Mitnagdim (buchstblich: »Gegner«), die die intellektuelle Elite reprsentierten, lehnten die Autoritt der Rabbiner der chassidischen Bewegung ab, welche dem Gebet mehr Wert als dem Studium beimaßen. 2. D. h. der Staat Israel. 3. Tatschlich erkannte Israel auch weiterhin Konvertierungen an, die von libe-

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Brief an David Werner Senator in Jerusalem Cincinnati, 12. Dezember 1952 Lieber Dr. Senator: 1 Vorgestern hatte ich an Sie geschrieben, und heute traf, zu meiner Freude, Ihr Brief vom 16. November hier bei mir ein. 2 Alles, was Sie in ihm sagen, ber den Amerikanismus, ber das »DemokratischTotalitre«, wie Sie es richtig benennen, ber die Reaktion der »Nehmer«, sollte zu vielen sprechen. (Von Ihrem Ergehen sagen Sie freilich nichts; ich hoffe, ich darf annehmen: pas de nouvelles, bonnes nouvelles). Hier im Lande drngte sich mir auf, wie sehr der Prozess der Auflsung des Zionismus weitergeschritten ist. Die Frage ist, ob sie zu einer stillen Liquidierung oder zu einem ffentlichen Bankrott fhren wird. Der Zionismus ist hier nur noch eine Angelegenheit der lteren und ltlichen Leute beiderlei Geschlechts. Ich bin hier oft mit jungen Leuten des amerikanischen Judentums aus allen Gegenden des Landes zusammen. Immer wieder fllt mir auf, wie uninteressant ihnen der Zionismus geworden ist, so uninteressant, als htte er nie existiert. Es kommt darauf an, etwas, was mit Israel verbinden kann, an seine Stelle zu setzen. Interessant ist mir dabei, welch unangenehme Wahrheiten diesen jungen Menschen gesagt werden knnten und dabei von ihnen aufgenommen werden. Ich habe hier die letzte Wahlwoche mitgemacht. Das Charakteristische ist, dass der Unterlegene doch der eigentliche Sieger ist – er ist heute die strkste moralische Autoritt im Lande – und ausserdem dass er 45 % der Stimmen gewann, obwohl 95 % der Presse gegen ihn waren und die anderen etwa dreimal soviel Geld, als seine Partei zur Verfgung hatte, in die Wahl werfen konnten. 3 Ein gutes Zeichen! Und es kann Hoffnung geben. Scholem Archives, Jerusalem. Arc 4-1599.

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ralen Rabbinern außerhalb Israels durchgefhrt worden waren, nicht jedoch die von solchen in Israel selber. 1. Siehe oben. 2. Nicht erhalten. 3. In den amerikanischen Prsidentschaftswahlen im November 1952 schlug Dwight Eisenhower Adlai Stevenson.

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» … und ber die Staaten wird der Spruch getan« Mannigfache Zge haben sich in unser Rosch haschonoh, unser Neujahrsfest, eingeprgt. Einer der sprechendsten, der am meisten kennzeichnenden, ist der, welcher den »Tag des Gerichtes« kundtut. Eine hhere Macht, so sollen wir es erkennen, fllt ber jeden unserer Tage, und ber unser ganzes Leben dann, das Urteil. Nur wenn wir das begreifen, dann werden wir lernen, ber uns selbst Gericht zu halten. Himmel und Erde gleichsam, Wort Gottes und Wille des Menschen werden damit zu einem. ber uns selbst sollen wir Gericht halten, so ist es eingeschrft. ber andere zu Gericht zu sitzen, ist am Rosch haschonoh nicht verlangt. Und sein Bedingtes htte dies auch nur. Mit Recht ist gesagt worden, daß kein Mensch so hoch stehe, daß er gegen andere nur gerecht sein drfe; Nachsicht und Milde drfen hier nicht selten ihr Wort haben. Aber gegen uns haben wir das Recht und die Pflicht, streng zu sein. Auch den Vlkern auf Erden ist dies gesagt. Das Wort vom Weltgericht steht in den Gebeten unseres Neujahrsfestes. »Und ber die Staaten wird an ihm der Spruch getan«, 1 so lautet hier der eindrucksvolle Satz. Und wieder gilt zuerst dieses: ber uns zu Gericht sitzen, ber sich das strenge Urteil fllen. Und fr jede Gesamtheit im Lande gilt dies auch. Damit sind unsere Neujahrstage, so sehr sie sich an jeden Einzelnen wenden, zu Tagen geworden, die an die Geschichte gemahnen – an die Weltgeschichte, die in ihren Wegen und Umwegen und Irrwegen ein Menschliches ist, aber in ihren letzten Ergebnissen, in ihren Entscheidungen von Gott bestimmt wird. Keiner im Lande darf sich dieser Geschichte seines Volkes, seines Staates, seiner Gemeinschaft entziehen, noch auch der Verantwortung, die darin gegeben ist, und die jeden trifft – schuldig machen sich einige und oft viele, aber verantwortlich sind alle. Und ebensowenig darf sich ein Volk, ein Staat der Menschheitsgeschichte entschlagen wollen. Nur das Volk, das zu ihr entschlossen ist, wird Anteil haben an der großen Geschichte, an der Weltgeschichte. Uns Juden ist diese Pflicht zur Geschichte seit altem, von den Propheten eher, ein Gebot, und unser Geschick hat es auch immer wieder gelehrt. Jede geschichtliche Situation haben wir strker als andere empfunden. Nicht nur der einzelne fr sich, sondern ebenso die Gesamtheit als solche hat es immer neu erlebt, wie wir alle ringsum 1. Aus der Rosch Haschana Liturgie.

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und unmittelbar umgeben waren und die Vielen so oft[tab]gegen uns standen. Geschichte gehrte dem jdischen Dasein zu und formte hier vielfach die innere Welt. So hatte hier das Neujahrswort vom Gericht der Geschichte seinen deutlichen Ton, den jeder vernehmen konnte. In einem besonderen Sinne noch erlebt heute der Jude Geschichte. Der Staat Israel ist ihm zur Geschichte geworden. Dieses Staatswesen ist ihm, was die große Mehrheit anlangt, nicht sein Staat; er ist Brger eines anderen Staates und fordert, es zu sein, und ist so oft stolz darauf, es zu sein. Aber wo immer er lebt, dieser Staat Israel geht ihn an, ja wirkt auf ihn ein, ob er es will oder nicht, und bedeutet fr ihn ein geschichtliches Schicksal. In seinem Gebete kann er von ihm nicht schweigen. Wenn er darum am Rosch haschonoh den alten feierlichen Satz spricht oder vernimmt. »Und ber die Staaten wird an ihm der Spruch getan«, so denkt er nicht zuletzt an den Staat Israel. Er muß an ihn denken. Den Spruch tun, Gericht halten, heißt: ewige Maßstbe an das Gegenwrtige anlegen, Maßstbe also jenseits jedes Ntzlichkeitstrachtens und jeder Leidenschaft, die bleibenden, unzerstrbaren sittlichen Maßstbe also. An ihnen wird Geschichte gemessen, von ihnen spricht unser Gebet. Wenn die Geschichte irgend etwas erkennen lßt, so ist es dieses, daß die Unmoral die vielen Schlachten gewinnt, aber die letzte verliert. Der letzte, der entscheidende Sieg wird dort gewonnen, wo das sittliche Gebot seinen Platz hat. Ohne diese Erkenntnis wren wir Juden in allen den bedrckenden Jahrhunderten innerlich erlegen. Sie ist die große Mahnung auch in dem Gebete, das sich so innig dem Staate Israel zuwendet In einem eigentmlichen Sinne noch knnten die Juden in Deutschland jdische Geschichte erfahren. Sie sind in einen Raum hineingestellt, der auch in der jdischen Geschichte in Europa, mehr als ein Jahrtausend hindurch, ein Raum der Mitte war. Von Ost und West und von Sd und Nord nahm er Juden auf, und dorthin wieder sandte er Juden aus. Aber wo einst die Flle der Gemeinden war, dort dehnt sich heute weithin eine Leere. Doch eine Aufgabe knnte hier eines Tages gestellt sein, die geschichtliche Aufgabe, zu einer Brcke zwischen den Lndern zu werden. Ein bedeutungsvolles Stck jdischer Geschichte knnte sich hier vorbereiten. Auch diesem Gedanken knnte das Gebet sich zuwenden, wenn es am Neujahrsfest jedem, der hren will, mahnend sagt, daß ber jede Gemeinschaft, sei sie groß oder klein, »an diesem Tage der Spruch getan wird«. Eine Aufgabe wird begriffen und ein Mensch wird fr sie befhigt, 493

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nur wenn er unser Rosch haschonoh-Wort ernst nimmt und bereit ist, Gericht ber sich zu halten, ber sich selbst und damit zugleich ber die Gemeinschaft, von der er ein Teil ist. Diese Forderung erhebt unser Rosch haschonoh und zeigt damit, welches die Voraussetzung fr ein wahrhaft neues Jahr ist, fr ein Jahr der Erneuerung. So ist es dann der tiefe Sinn des alten Grußes am Rosch haschonoh: »Fr ein gutes Jahr mget ihr eingeschrieben werden!« Es sei den Gemeinden zugerufen. Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland 8.22 (Sept. 1953): S. 1.

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Progressives Judentum

Die 1926 in London gegrndete World Union for Progressive Judaism vereinte zum ersten Mal liberale und reformierte Juden aus verschiedenen Lndern unter dem Schirm einer internationalen Organisation. Ihr erster Prsident war der englische Gelehrte und religise Intellektuelle Claude Montefiore. Nach dessen Tod im Jahre 1938 bernahm Baeck die Prsidentenschaft, eine Position, die er, zumindest dem Namen nach, bis zu seinem eigenen Tod 1956 innehatte. Sein ganzes Leben lang war Baeck ein entschiedener Anhnger des liberalen Judentums und definierte zu verschiedenen Anlssen, was er als seine Prinzipien und Aufgaben ansah und legte außerdem wiederholt seine eigenen Ansichten als liberaler Rabbiner ber Angelegenheiten der religisen Praxis dar. Eine Krankheit hinderte Baeck daran, an der organisierenden Konferenz der WUPJ im Jahre 1926 teilzunehmen, der er mit großer Erwartung entgegengeblickt hatte. Seine vorbereitete Rede, von einem Mitglied der deutschen Delegation verlesen, rief die Versammelten dazu auf, das Judentum fest in jedem Einzelnen zu verankern, so daß es trotz des graduellen Verschwindens der alten Milieufrmmigkeit berleben knne, aber sie betont außerdem, wie wichtig es sei, das Individuum in die Gesamtheit zu stellen. Zwei Jahre spter, als die WUPJ sich in Berlin traf, hielt Baeck selbst eine große Ansprache, in der er die progressiven Juden darauf drngte, sich nicht lnger den Werten des Zeitalters anzupassen, sondern stattdessen das Zeitalter nach den Maßstben der unverwirklichten Werte des Knigreichs Gottes zu messen (diese Rede ist in Band 4 der LBW, S. 232-240 abgedruckt). Auf der Konferenz des Jahres 1930 in London widmete Baeck seine Ansprache der Bedeutung des Gebets, in dem die eigentlichen Worte weniger wichtig seien als das poetische Vermgen, das gttliche Geheimnis zu erfahren. Von Zeit zu Zeit ußerte Baeck sich in seiner Eigenschaft als Rabbi495

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ner zu praktischen Angelegenheiten, die die jdischen Gemeinden in Deutschland betrafen. Hier aufgenommen sind die Worte, die er 1929 auf einer Konferenz der deutschen liberalen Rabbiner sprach, und die sich mit Fragen des jdischen Ehegesetzes in dem modernen deutschen Staat beschftigten. Baeck war der Ansicht, daß sich der Hauptstreitpunkt hier nicht zwischen liberalen und orthodoxen Juden entspnne, sondern zwischen Religion und dem Staat. Die Ehe sei eine religise und moralische Institution, und deshalb knnten nur religise Autoritten entscheiden, ob eine Ehe legitim sei oder nicht. Im gleichen Jahr verfaßte Baeck ein Gutachten zu der Frage, ob die neue Synagoge, die in der Prinzregentenstraße in Berlin gebaut wurde, die erste Berliner Synagoge sein sollte, in der es Mnnern und Frauen erlaubt sein wrde, zusammenzusitzen. Da er der Ansicht war, daß es wichtig sei, unntigen Streit innerhalb der Einheitsgemeinde zu vermeiden und er außerdem berzeugt war, daß die Sitzordnung eine Angelegenheit entgegengesetzter Empfindungsrichtungen sei, sprach sich Baeck fr einen Kompromiß aus. Er schlug vor, daß die Synagoge in Bereiche mit getrennter und in Bereiche mit gemischter Sitzordnung eingeteilt werden solle. Die Nazi-Jahre hinderten Baeck zunchst teilweise und dann gnzlich daran, eine aktive Rolle in der World Union zu spielen. Nach dem Krieg kehrte er jedoch mit erneuter Kraft zu seiner Aufgabe zurck. Da er der Auffassung war, daß das progressive Judentum selbstzufrieden geworden und vielleicht auch erschpft sei, umriß er neue Aufgaben, die es wieder zu einer Bewegung machen wrden (Vgl. seine Rede auf der WUPJ Konferenz des Jahres 1946, abgedruckt in Band 5, S. 65-71). Prinzipien, so schlug er vor, mßten nicht lediglich Rechtfertigungen fr vergangene Taten sein, sondern mßten »vor uns stehen, um uns zu fhren« und Opfer verlangen. Er brachte außerdem eine Auffassung zum Ausdruck, der er bereits vor dem Krieg gewesen war, daß das reformierte Judentum missionarisch ttig sein solle, um den jdischen Glauben unter den Nationen zu verbreiten. Die jdische Welt hnele nun einer Ellipse mit zwei Brennpunkten. Der eine, reprsentiert durch den Staat Israel, werde ein jdisches nationales Zentrum, der andere, reprsentiert besonders durch die amerikanischen Juden, solle die religise Aufgabe bernehmen, jenen die Botschaft des Judentums zu bringen, die dessen Bedeutung noch nie in Betracht gezogen hatten. *

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Brief an Lily H. Montagu in London Berlin, 19. Oktober 1925 Sehr verehrte Miss Montagu! 1 Empfangen Sie meinen aufrichtigen Dank fr Ihr liebenswrdiges Schreiben. Ich habe es mit ganz besonderer Freude gelesen und habe auch einigen meiner Freunde davon Kenntnis gegeben. Ihr Plan ist die Verwirklichung eines Gedankens, der hier in unserem Kreise oft besprochen worden ist. Auch dem Programm, das Sie darlegen, kann ich in allen Punkten zustimmen. Darf ich nur die eine Frage an Sie richten, wie Dr. Claude G. Montefiore 2 Ihrem Plan gegenber steht. Fr uns ist hier seine Stellung immer von wichtigster Bedeutung. Ich hoffe, dass mein deutscher Brief Ihnen keine Schwierigkeiten bereitet. Wenn es Ihnen Mhe macht, ihn zu lesen, will ich das nchste Mal mich bemhen, Ihnen in meinem besten Englisch zu schreiben. American Jewish Archives, Cincinnati. MS S Col. 16 1/7.

* Die Bedeutung der Londoner Tagung Was die internationale Konferenz der liberalen Juden 3 verspricht? Sie verspricht zunchst, den weiten Gesichtskreis aufzuzeigen. Liberalismus ist fr viele mehr eine Gemeinde-Angelegenheit als eine Angelegenheit des Judentums und darum oft mehr eine kleine, so rasch befriedigte Politik als eine große drngende Idee. Es ist ein Vorzug der Verfassung der meisten jdischen Gemeinden, daß die Gemeinde autonom ist, daß sie das Recht der eigenen Art und der eigenen Richtung hat. Die Ausgestaltung des Kultus- und des Unterrichts-Wesens hat sich an dieser Autonomie entwickeln knnen. Aber eine Gefahr ist in ihr enthalten, die Gefahr des engen Horizonts, die Gefahr, daß manch einer das Judentum mit seiner Gemeinde verwechselt, es vergißt, daß seine Gemeinde, so klein oder so groß 1. Lily H. Montagu (1873-1963). Mitbegrnderin und Fhrungskraft des liberalen Judentums in England, Organisatorin der Grndungstagung der World Union for Progressive Judaism 1926 in London. 2. Claude G. Montefiore (1858-1938). Intellektuelle Fhrungspersnlichkeit des Liberalen Judentums in England und 1. Prsident der WUPJ. 3. Konferenz der World Union for Progressive Judaism in London, 1926.

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sie ist, eine Bedeutung haben kann, nur wenn sie sich als Teil des Ganzen weiß, und die Gedanken, Sorgen und Aufgaben der jdischen Gesamtheit ihr zu eigen werden. Ein liberales Judentum zumal, daß in kleinen Gemeinde-Angelegenheiten sein Gengen findet, verleugnet sich selber; denn der Liberalismus lebt von den großen Problemen. Die Londoner Konferenz will diesen weiten Horizont demonstrieren und damit die echte Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Idee aufzeigen, die mehr ist als eine knstliche Gemeinschaft der Politik. Eben damit will dieses Zusammenkommen der liberalen Juden aller Lnder auch eine Betonung des liberalen Judentums sein. Liberales Judentum ist eine religise Angelegenheit, und alles Religise ist ein Positives. Abwehr und Polemik, Verteidigung und Angriff, so ntzlich sie sein knnen, und so erforderlich sie fr die Juden mancher Lnder noch bleiben, sind doch noch kein Judentum. Und noch weniger ist es die Negation, die bei sich stehen bleibt. Wer nur weiß, was er nicht will, was er nicht tut, was er nicht erstrebt, wer nur immer zu sagen hat, was er verwirft, was er ablehnt, und wovon er sich fernhlt, ist vielleicht dieses und jenes, aber ein liberaler Jude ist er noch nicht. Wir spotten ber den Frmmler, der immer ber alles genau Beschied weiß, was er zu tun habe: wir sollten schrfer noch ber den liberalen Juden absprechen, dessen ganzes religises Wissen es ist, daß er alles weiß, was er nicht zu tun brauche. Die Londoner Konferenz will das Gewissen dafr schrfen, was liberales Judentum ist. Und sie will sagen, was liberales Judentum ist – ein Judentum, daß nicht nur ein Erbe, sondern ein Glauben ist, das mit jedem neuen Geschlecht seine Wiedergeburt erleben will und darum auf jeden einzelnen die ganze Verantwortung der religisen Habe legt, das jedem neuen Gedanken ins Auge sieht, jeder neuen Aufgabe bereit gegenber tritt, jedem neuen Tage das Ohr erschließt, das des Bleibenden und dessen, worin das Judentum lebt, immer wieder gewiß werden will, das vernehmen will, was der Geist des Judentums, seine Seele und seine Hoffnung knden, um es zu verwirklichen, und das Symbol zu formen sucht, worin die Vergangenheit zum Heute wird, und das Heute zu den kommenden Tagen hinweist. Das alles will die Londoner Konferenz mit all der Eindringlichkeit, die das Erfahren der Gemeinsamkeit gibt, wieder sagen. Uns liegt aller Personenkultus fern, aber eines darf zum Schluß hier ausgesprochen werden. Wenn diese erste Konferenz in London zusammentritt, so bedeutet dies fr uns alle ein besonderes Persnliches. Denn wir knnen damit unsere Dankbarkeit und unsere Verehrung fr einen Mann, der dort seinen Platz hat, fr Claude G. Mon498

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Die Botschaft des Judentums an das Individuum

tefiore 1 bezeugen, es ihm bekunden, daß wir wissen, wer er ist. Auch ein Dank, ihm dargebracht ist diese Konferenz, so wenig er, dieser bescheidene, schlichte Mann solches fr sich begehrt. Wir haben wenige wie ihn, einen Mann von solcher Lauterkeit des Wesens, solcher Ehrlichkeit des Denkens, solcher Rechtschaffenheit des Strebens. Wer seine Werke kennt, weiß von dem Manne der Wissenschaft. Aber mehr als die Bcher, so reich sie an Wissen und Knnen sind, ist der Mensch: ein ganzer Mann, ein ganzer Jude, mit seinen sechzig Jahren ein Junger, voll des Temperaments, der Begeisterung und der Lebendigkeit der Jugend, ein Mann, der immer bereit ist, zu kmpfen, aber nie bloß streiten mag, ein Mann, der alle seine Jahre in den Dienst eines großen Gedankens gestellt hat, dem die Idee und die Hoffnung des Judentums sein Leben sind. Das diesem Manne zum Ausdruck zu bringen, auch das ist etwas, was die Londoner Tagung geben soll. Antwort auf die von der Schriftleitung der Jdisch-liberalen Zeitung gestellten Frage: Was erwarten Sie von der Londoner Konferenz? Jdisch-liberale Zeitung 6.27 (1926): S. 1. [2. Juli]

* Die Botschaft des Judentums an das Individuum Die große Leistung des Liberalismus auf politischem wie auf ethischem und religisem Gebiete ist, daß er dem Individuum zu seinem Rechte verholfen, daß er seine Botschaft an das Individuum gerichtet hat. Die Geschichte des Liberalismus ist zu einem großen Teile die Geschichte der Befreiung des Individuums. Der Gang der Geschichte der Kultur wird dadurch gekennzeichnet. Auf den Anfangsstufen der Entwicklung umschließt die Gruppe den Einzelnen vollstndig; der Einzelne gehrt ganz der Familie, der Sippe, dem Stamme, dem Volke an. Nicht das Individuum als solches empfindet, denkt und handelt, sondern es steht in dem Empfinden, Denken und Handeln des sozialen Verbandes, in den es gefaßt ist. Darum ist ja alle alte Kunst Volkskunst, alle alte Literatur Volksliteratur, alle alte Sittlichkeit Volkssitte, alle ursprngliche Religion Volksreligion. Erst allmhlich treten die Persnlichkeiten aus der

1. Siehe oben.

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Gesamtheit heraus; die Individualitten der Knstler, der Dichter, der Denker, der Propheten gewinnen ihren eigenen Platz, von dem aus sie auf die Gesamtheiten wirken, die Gesamtheiten umgestalten. Bei allen Vlkern knnen wir es so beobachten, in der alten Zeit, die ja ihr Altertum, ihr Mittelalter und ihre Neuzeit gehabt, und ebenso in der folgenden Epoche, die ja wieder mit einem Altertum begonnen hat. Aller Aufschwung, den ein Kulturvolk erlebte, hat dadurch angehoben, daß das Individuum von den allgemeinen Gedanken, den allgemeinen Gewohnheiten und Anschauungen, den allgemeinen Idealen sich loslste, daß es seiner selbst bewußt wurde, daß es selbstndig sein wollte. So war es im Volke Israel gewesen in der Zeit, in der seine großen Persnlichkeiten erstanden, so in Griechenland in der Zeit seiner Denker, Dichter und Knstler. So ist es im Jahrhundert der Renaissance und dann spter in dem Jahrhundert der sogenannten Aufklrung gewesen. Immer war dies die Zeit, in der das Recht des Individuums lebendig wurde, und gegen alle bloße Konvention und alle bloße Tradition das Individuum sich durchzusetzen suchte, der Einzelne gegenber der Gesamtheit und oft im Kampfe gegen sie seinen besonderen Weg suchen und sein persnliches Ideal gestalten wollte. Wenn so aber auch der Individualismus und der Liberalismus, in dem er sich ausprgte, mehr oder weniger in allen Kulturgebieten seinen Platz gewonnen hat, so behielten doch immer die alten Gemeinschaftsgedanken und Gemeinschaftsempfindungen ihren breiten Raum. Alle konservativen Krfte sind darin begrndet, ganz wie die liberalen von der Kraft des Individuums herkommen. Der Konservatismus geht von der Gesamtheit aus. Er stellt sie vor den Anspruch des Individuums. Er betont darum vor allem die berlieferte Sitte und den alten Brauch – denn Sitte und Brauch sind ja Ausdruck der Gesamtheit; er betont im Glauben, das quod ubique, quod ab omnibus, 1 er hat den Zug zu dem Stabilisierten, Katholischen, Gleichmßigen, zu dem Glauben, in dem die Gesamtheit ihren fr alle gleichen Glaubensausdruck hat. Darum betont er auch vor allem die Tradition. Das einheitliche Denken und Glauben soll nicht nur die Gesamtheit von Menschen einer Zeit umfassen, sondern seine strkste Kraft darin haben, daß es auch die Gesamtheit der Zeiten in sich schließt, daß alle ihre Generationen das Gleiche sprechen. Demgegenber geht der Liberalismus, wie gesagt, vom Individuum aus. Er erblickt in der Gesamtheit die Zusammenfassung von Individualitten, von selbstndigen Persnlichkeiten, und umso 1. Lat.: »Was berall ist, kommt von allen«.

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strker und reicher ist fr ihn die Gesamtheit, je mehr sie an ausgeprgten, besonderen Menschen umschließt. Im Politischen will er darum ja die Einflußsphre des Staates zugunsten der Wirkungssphre des Einzelnen einschrnken, und auf dem Gebiete der Kunst das Gemeinsame, und berlieferbare hinter den Ausdruck des Individuellen zurcktreten lassen. Auch auf religisem Gebiete ist fr ihn darum nicht die Gleichmßigkeit, sondern das Persnliche, auch mit all seiner Mannigfaltigkeit, das Wertvolle und Erstrebenswerte. Und da mit jeder Individualitt ein Neues beginnt, so stellt er vor die Tradition den Gedanken der Weiterentwicklung, des Fortschrittes. Wie er die Mannigfaltigkeit der Individuen zu ihrem Rechte zu fhren sucht, so auch die der Zeit. Die Perioden der Geschichte erhalten, seit der Liberalismus mit seinem Individualismus sich durchgesetzt hat, ihr Geprge durch seine Auseinandersetzung mit den konservativen Krften. Je nachdem die einen oder die andern strker sind, gewinnt eine Zeit ihren liberalen oder konservativen Charakter. Und dieses Wechselspiel ist umso vielgestaltiger, da der Mensch »kein glatt geschrieben Buch, sondern ein Mensch mit seinem Widerspruch« ist. Er kann mit einem Teile seiner seelischen Tendenzen und seines Lebensideals konservativ und mit einem Teil liberal sein. Er kann in seinem politischen Denken und Streben konservativ und in seiner knstlerischen und literarischen Richtung oder in seiner religisen liberal sein und umgekehrt: er kann in seiner ganzen kulturellen Richtung liberal und in seiner religisen konservativ sein. Aber je strker das Religise in ihm ist, desto mehr wird es doch meist sein ganzes Denken und Streben beeinflussen, obwohl es auch hier Ausnahmen gibt, in denen ein starker Konservatismus auf dem einen Gebiete sich mit einem ebenso starken Liberalismus auf dem anderen in demselben Menschen vereint. Wir haben auch in der Geschichte des Judentums in alter und neuer Zeit Beispiele dafr. Und wie in dem Individuum kann es in Vlkern, die doch auch in der Gesamtheit der Vlker Individualitten darstellen, so sein. Fr das Judentum hat dieser Gegensatz von Konservatismus und Liberalismus noch seine besondere Wichtigkeit. Je strker durch die Grße der geschichtlichen Vergangenheiten, durch die Wirksamkeit der Jahrtausende und ihrer Tradition die konservativen Krfte sind, eine desto grßere Bedeutung gewinnen dann die liberalen Krfte. Eine junge Gemeinschaft kann eher die liberalen Gedanken und Forderungen entbehren, als eine, die auf ihre lange, inhaltvolle Geschichte zurckblickt. Fr das Judentum ist daher, wenn es nicht in seiner Vergangenheit und seiner Tradition unbeweglich werden 501

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soll, die liberale Idee ein Unentbehrliches; sie ist fr unser Judentum, zumal heute, ein Lebenselement. Es kommt noch ein Anderes hinzu. Wenn eine religise Gesamtheit die extensive Ausdehnung gewonnen hat, wenn eine weithin erstreckte Flle der Menschen zu ihr gehrt, dann bedarf sie starker konservativer, die Gesamtheit zusammenfgender Tendenzen, dann kann sie der liberalen eher entraten, da die Grße der Ausdehnung mit alledem, was sie in sich schließt, schon eine Beweglichkeit bringt. Dagegen darf dort, wo diese zahlenmßige Erstreckung eine geringe ist, wie im Judentum, und so die Gefahr der geistigen Inzucht drohen kann, die liberale Idee nicht fehlen. Sie bringt die Bewegung und damit gleichsam die neue, frische Luft. Noch ein Letztes tritt hinzu, und das ist das Aktuellste: ein Erziehungsproblem, die Frage der Erziehung zur Religion und damit die Frage ihrer Fortpflanzung und Weitervererbung. Auch hier sind zwei Richtungen. Die Eine will die Religion nahe bringen durch Umgebung, Sitte und Brauch, sie will fr jeden Tag einen religisen Umkreis herstellen, sie will ein religises Milieu vor allem schaffen. Die Andere will weniger diesen Umkreis als vielmehr einen seelischen Inhalt schaffen, sie will das individuelle Verstndnis und die individuelle Sehnsucht wecken, die Religion zur Persnlichkeitsreligion machen. Es sind zwei pdagogische Prinzipien, die darin sich aussprechen, und in ihnen stehen wiederum Liberalismus und Konservatismus einander gegenber. Die Bildung eines Milieus, in welchem die Generation der Eltern und die der Kinder ihr Gemeinsames haben, hat ihren großen Wert. Es wird dadurch ein entsprechender Umkreis geschaffen, in welchem Alter und Jugend einander finden und beieinander sind, in welchem der Mensch heranwchst und Eindrcke der Kindheit und Jugend gewinnt. Da »das Kind der Vater des Mannes ist«, so werden diese Bilder, die den Menschen in den Jahren seiner ersten Entwicklung als Bilder ihn wie seine Eltern umgeben, fr ihn entscheidend werden knnen. Es ist die Bedeutung aller Sitte und Tradition in der Religion, aller der religisen Formen, welche Haus und Gemeinde erfllen, daß in ihnen dieses Milieu, dieser Umkreis des Tages fr den Menschen geschaffen werden kann. Die strkste Beweiskraft des Konservatismus wohnt ja auch darin, daß durch ihn diese Umgebung, welche Geschlecht um Geschlecht in sich aufnimmt, erhalten und weitergeben wird. Aber es ist eine große Gefahr, wenn die Religion sich hierauf beschrnken wollte, oder auch nur darin ihr Wesentliches zu haben wnschte. Es geschieht oft, daß, wenn der Mensch, der diese religi502

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se Erziehung durch das Milieu erfahren hat, aus seinem Milieu heraustritt, er damit auch aus seiner Frmmigkeit, aus seiner Religion vllig heraustritt. Mit dem Milieu, mit dem Umkreis verliert er auch die Religion. Im Judentum ist es nicht selten so gewesen; zumal die Gegenwart weiß davon viel zu erzhlen. Deshalb ist es ein so Notwendiges, daß die Religion sich bestimmt und entschieden an das Individuum wende, ihm sein Recht gebe, um dann auch seine ganze Pflicht von ihm zu fordern, das Individuum in seinem Eigenen und Neuen begreife, um dadurch von ihm ganz verstanden und ganz ergriffen zu werden. In dem Menschen mit all seiner Individualitt soll die Religion lebendig werden, damit sie ihn nicht nur umgebe, sondern in seinem Ich lebe, und sein Ich in ihr sich entfalte und gestalte. Wenn so die Religion das Individuum zu erfassen vermag, dann bleibt und wchst sie im Menschen, auch wenn das Milieu schwindet oder wenn er das Milieu verlßt. Er bleibt auch dann ein Mensch der Religion. Es ist die große Bedeutung des Liberalismus und seine große Leistung, daß er diese Notwendigkeit deutlich ins Auge gefaßt hat, und ihr Gebot zu erfllen bemht ist. Dadurch ist er das verlebendigende und weiterfhrende Element im Judentum geworden. Seine Schwche ist, daß er bisweilen die Wichtigkeit des Milieus, die große Bedeutung der Formen, den großen Wert des Umgebenden vergessen hat, daß er dadurch besonders der Kindheit und der beginnenden Jugend nicht genug gegeben hat. Das Kind besitzt noch nicht die ausgeprgte Individualitt, es bedarf darum dessen, was anschaulich und bildhaft zu ihm spricht, es bedarf der religisen Formen im Hause und auch in der Gemeinde. Wenn der Kindheit das gegeben worden ist, dann wird die Religion zum Individuum auch sprechen knnen mit alledem, worin das Individuum seinen Ausdruck finden kann. Wenn der Liberalismus das begreift und damit seine eigenste Sendung verbindet, dann wird er die strkste Kraft im Judentum. Liberalismus ist kein Ausschließen des Konservativen, des Gedankens der Gesamtheit und der Tradition. Er wre sonst nicht liberal, sondern radikal. Er stellt das Individuum in die Gesamtheit. So wird er zur Durchdringung des Gedankens der Gesamtheit und der Tradition mit den Krften der Individualitt und des Fortschritts. Dieser Liberalismus ist der Brge der Zukunft. Leo Baeck konnte aufgrund einer Krankheit nicht selbst an der Konferenz teilnehmen. Sein Vortrag wurde von Heinrich Stern verlesen. International Conference of Liberal Jews. London, [1926]. S. 71-74.

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Fragen des jdischen Ehegesetzes Auf ein Grundstzliches sei es gestattet noch hinzuweisen. Es ist in den Darlegungen bisher immer von der Voraussetzung ausgegangen worden, daß es sich in diesem Fragenkomplex nur um einen Konflikt zwischen Liberalismus und Orthodoxie handle. Aber es scheint, als ob damit die Bedeutung der Frage verkleinert werde. Nicht nur um einen Konflikt zwischen Liberalismus und Orthodoxie handelt es sich, sondern um einen Konflikt zwischen Religion und Staat. Die Entwicklung des Staates seit dem 17. Jahrhundert brachte es mit sich, daß er mehr und mehr von den Befugnissen, die bis dahin die Religionsgemeinschaften verwaltet hatten, fr sich okkupiert, fr sich annektiert hat. Whrend der mittelalterliche Staat mit einem Minimum von Befugnissen auszukommen glaubte, verlangt der Staat von heute ein Maximum von Befugnissen. So annektiert er ein Stck nach dem anderen von dem, was in den Hnden der Religionsgemeinschaften gewesen war. Ein Beispiel: das Wohlfahrtswesen, das frher ausschließlich kirchlich gewesen ist, wird mehr und mehr vom Staat beansprucht. Wir Juden drfen an sich dafr dankbar sein, daß der Staat so viel an Befugnissen in Besitz genommen hat. Unsere Emanzipation ist nur dadurch mglich gewesen, daß der Staat fr sich gefordert hat, was bisher die Kirche inne hatte. Aber hieraus geht der Konflikt hervor. Vieles von dem, was Religionsgesetz gewesen, ist Staatsgesetz geworden. Dienemann 1 sagte zu Eingang seiner Ausfhrungen: »Eherecht ist Religionsgesetz«. Aber nur das Eherecht, nur der Eben ha ser, nicht auch der Choschen ha mischpat? 2 Den hat der Staat annektiert. Dazu hat die Orthodoxie geschwiegen. Wiener 3 sagte: »Zwischen Orthodoxie und Liberalismus ist der Wesensunterschied, daß die Orthodoxie ein anderes Religionsprinzip hat.« Er hat recht, oder vielmehr, er htte recht, wenn es eine Orthodoxie gbe. Aber es gibt keine Orthodoxie. Es gibt sie nicht, seit wir den modernen Staat mit der Emanzipation der Juden haben, der so wichtige Teile des Religionsgesetzes annektiert hat. Darum gibt es diese Kluft nicht. Es ist kein Wesensunterschied zwi1. Max Dienemann (1875-1939). Liberaler Rabbiner in Offenbach. Starb kurz nach seiner Einwanderung in Palstina. 2. Zwei Teile des jdischen Gesetzeskodex Schulchan Aruch. Eben ha zer bezieht sich auf Eherecht, Choschen ha mischpat auf Zivilrecht. 3. Max Wiener (1882-1950). Liberaler Rabbiner und Dozent an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Ab 1939 in den U.S.A. Verfasser des bedeutenden Werkes Jdische Religion im Zeitalter der Emanzipation (1933).

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Fragen des jdischen Ehegesetzes

schen dem Liberalismus und der Orthodoxie, kein qualitativer Unterschied, sondern ein quantitativer, seit der Choschen ha mischpat vom Staat unter Zustimmung oder wenigsten Duldung auch seitens der Orthodoxie okkupiert ist. Darum drfen wir das Eherecht nicht isoliert betrachten. Wie wir kein eigenes brgerliches Recht mehr haben, haben wir streng genommen auch kein Eherecht mehr. Wir haben nur noch ein Trauungsrecht, aber kein Eherecht. Was vollzogen wird, ist keine Copulatio, sondern nur eine Benedictio. Es ist nicht mehr ein Rechtsakt, der vollzogen wird, sondern fast nur ein homiletischer Akt, bei uns und bei den Orthodoxen. Aber woher kommt es dennoch, daß an dem Eben ha ser, oder wenigstens dem Ehe- und Traurecht soviel entschiedener, damit es das jdische bleibe, festgehalten wird, als z. B. an dem Erbrecht, das biblisch viel strker fundamentiert ist? Warum ist in dieser Beziehung die Orthodoxie viel bestimmter, und warum sind wir Liberalen mit vollem Recht so viel bedenklicher als in Fragen des Choschen ha mischpat? Der Grund ist ein mehrfacher. Man sollte nicht den ußerlichen Grund nur anfhren, daß in der Zeit, wo der Staat den Choschen ha mischpat zu annektieren begann, die Orthodoxie, vielleicht, weil sie damals noch vorhanden war, den Beruf zur Gesetzgebung noch in sich fhlte, daß dagegen, als der Eben ha ser vom Staat okkupiert wurde, unsere vermeintliche Orthodoxie den Beruf zur Gesetzgebung verloren hatte. Der Grund ist in Wirklichkeit ein tief innerlicher. Wir knnen das Eherecht nicht mit dem Vermgensrecht, dem Erbrecht und dem brgerlichen Recht berhaupt vergleichen. Erstens, weil es sich in der Ehe um ein Geheimnis 1 handelt, vielleicht um das heimlichste Element der Religion. Wo das Geheimnis mitspricht, knnen wir nicht zugunsten des Staates abdanken. Das Verborgene, Heilige greift so tief in das Eheliche hinein, daß wir diesen Bereich nicht dem Profanen berlassen drfen. Zweitens: fr uns ist ein Wesentliches der Gemeinschaftsfaktor. Es gibt kein Judentum ohne jdische Gemeinschaft, und die Zelle der Gemeinschaft ist die Familie und dadurch die Ehe. Um der Gemeinschaft willen mssen wir an der jdischen Ehe festhalten, mssen wir darum auch die Tradition festhalten. Hier knnen wir nicht dem Staat unser Gebiet berlassen, weil es unser eigenstes Gebiet ist. Aber damit ist nun zugleich gesagt, daß ein Konflikt entstehen kann, ein Konflikt zwischen Staat und Religion. berall, wo der Mensch Religion besitzt, wird damit ein Konflikt mit dem Staate mglich. Der religise Mensch ist Brger zweier Welten, der staatli1. Siehe oben Baecks Aufsatz »Die Ehe als Geheimnis« (1925).

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chen und der Welt seiner Religion, die sich ber den Staat, ber die Erde, ber den Kosmos hinaus erstreckt. Weltreligion ist nur dort, wo der Mensch der Religion in diesen zwei Welten lebt, nicht nur der des Staates, sondern der der Religion; und hieraus knnen sich die Konflikte ergeben. Der Staat hat es in gewissem Sinne anerkannt. Paragraph 1588 im BGB 1 sagt, daß die kirchlichen Verpflichtungen in Ansehung der Ehe durch das Gesetz im BGB nicht berhrt werden. Aber die Konflikte knnen tiefer gehen, als dieses Zugestndnis zunchst befaßt. Die Konflikte knnen um der religisen Gemeinschaft willen sein: der Staat gestattet eine Eheschließung um seiner Staatsinteressen willen, und wir mssen sie ablehnen, um der religisen Gemeinschaft willen. Und die Konflikte knnen dann sein um der Ethik willen: der Staat kann etwas als Ehe anerkennen, dem gegenber wir um der Ethik willen und des Geheimnisses wegen sagen mssen: das ist nicht Ehe, es ist hchstens Konkubinat. Und wir knnen dort, wo der Staat Ehe nicht anerkennt, als Juden, als Rabbiner sagen mssen: Um unseres Judentums, um der Ethik willen: das ist Ehe, wir erkennen es als Ehe an. Es ist peinlich, das Wort »ich« zu gebrauchen und von sich zu sprechen. In einer frheren Zeit meines Amtes, in einer anderen Gemeinde, trat ein solcher Fall vor mein Gewissen hin: zwei Menschen, die einander nicht heiraten konnten, weil ein fremder Staat die Ehe, die den einen band, nicht schied; sie konnten, wenn das Gesetz des Staates nur galt, nicht zueinander kommen. Aber die Liebe, das Geheimnis, die Ethik war zwischen ihnen, und ich als Rabbiner habe ihnen gesagt: Kommt kraft eines religisen Bandes, kraft religiser Kopulation zusammen, lebt zusammen. Und ich habe in meiner Gemeinde erklrt: Fr mich sind diese beiden nun Eheleute um der Ethik willen, die auch den Konflikt mit dem Staat verlangt. Das ist das eigentliche, um das es sich hier handelt. Nicht der Konflikt zwischen Liberalismus und Orthodoxie. Er ist vorhanden, aber er ist nicht das eigentlichste. Es ist der Konflikt zwischen Religion und Staat, der Konflikt, den wir ja auch sonst, am tragischsten am Sabbat erleben, Woche um Woche, den wir Rabbiner so erleben knnen am Problem der Ehe, die wir zum Ja des Staates bisweilen Nein sagen mssen um der Gemeinschaft willen, um der Ethik willen, und zum Nein des Staates bisweilen Ja sagen sollen, nicht leichthin, sondern nach ernstester innerlicher Prfung, Ja sagen sollen um der Ethik, um des Geheimnisses, um der Ehe willen. Das ist wohl die Grundfrage. Allem Sonstigen gegenber, den Fra1. Brgerliches Gesetzbuch.

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gen des Konfliktes zwischen Orthodoxie und Liberalismus, halten wir am besten wohl fest an dem, was unser Referent sagte, und halten den Begriff vor allem fest, den Freudenthal 1 in einem Gutachten, das er in der Montefiore-Festschrift 2 verffentlichte, besonders hervorgehoben hat, den »Grundsatz des Gewohnheitsrechtes«. Und damit lst sich auch die Schwierigkeit, die Wiener an sich mit Recht heraushob, daß wir Recht bilden wollen ohne die Mglichkeit, es zu vollstrecken, und auch ohne die Dignitt des Rechtes, weil der rechtgebende Faktor fehlt. Aber das Gewohnheitsrecht hilft sich. Wenn wir zurckdenken: wievieles einst Neue ist selbstverstndlich, ist Gewohnheitsrecht geworden, dem sich niemand mehr entziehen kann. So wird es auch vielfach in Bezug auf dieses Ehe- und Trauungsrecht sein. Das Entscheidende ist, daß wir die Frage in ihrem ganzen Ernste erfassen, und daß wir, jeder in seiner Gemeinde, die ganze Verantwortung fhlen, und wenn wir entscheiden sollen, entscheiden nicht Menschen zu Gefallen, die irgend eine Partei darstellen wollen, und nicht denen zu Gefallen, die vielleicht unsere Gegner sind, sondern aus unserem Gewissen heraus, aus dem Gefhl und der Gewißheit dessen, wofr wir verantwortlich sind. Fragen des Jdischen Ehegesetzes. Stenographischer Bericht der Verhandlungen der Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands zu Berlin am 22. Mai 1929. Berlin, 1929. S. 53-56.

* Das Zusammensitzen von Mnnern und Frauen in der Synagoge Prinzregentenstraße in Berlin Fr die Stellung zu der Frage, wie in der zu erbauenden SynagogePrinz-Regentenstrasse die Pltze der Mnner und der Frauen anzuordnen seien, kommen mehrere Argumente in Betracht. 1. Religionsgesetz und Gewohnheitsrecht Die Frage, welcher Platz den Frauen im Gotteshause zuzuweisen sei, hat weniger durch das eigentliche Religionsgesetz mit seiner ins Einzelne gehenden festen Vorschrift (Halacha) als vielmehr durch 1. Max Freudenthal (1868-1937). Historiker und liberaler Rabbiner in Nrnberg. Mitherausgeber der Zeitschrift fr die Geschichte der Juden in Deutschland. 2. Festgabe fr Claude G. Montefiore (1928).

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das Gewohnheitsrecht mit seinen gewordenen Sitten und Bruchen (Minhag) ihre jeweilige Entscheidung gefunden. Die einzelnen Gebiete und die einzelnen Zeiten haben daher hier ihre Besonderheit und ihre Verschiedenheit; denn es liegt im Wesen des Gewohnheitsrechtes, dass es durch den kulturellen Gesamt-Charakter eines Landes und eines Jahrhunderts ganz wesentlich beeinflusst oder sogar gestaltet wird, bis in den Ritus und Kultus hinein. Demgemss sind die Formen, welche die Sitte berhaupt fr das Leben der Frau jeweils geschaffen hat, auch fr ihren Platz in der Synagoge massgebend geworden. So war in dem Palstina des zweiten Reiches eine genaue Trennung der Geschlechter in dem Gottesdienst, dem des Tempels wie dem der Synagoge, wohl kaum durchgefhrt. Nur fr das Fest des »Wasserschpfens« waren besondere Frauentribnen vorgesehen, aber nicht der gottesdienstlichen Ordnung wegen, sondern nur um der Vorsorge willen, welche sich bei diesem lebhaften Volksfeste empfahl. Aus hnlichen Erwgungen, mit Rcksicht nmlich auf den starken Besuch, wurden in babylonischen Synagogen an den Feiertagen behelfsmssige Abgrenzungen zwischen den Mnnern und den Frauen angebracht. Die bestimmte Trennung setzt erst im Mittelalter ein. Im Orient hat wohl der Islam mit seiner strengen Absonderung eingewirkt; es scheint, dass dort die Teilnahme der Frau am Gottesdienste berhaupt eine seltene war. Auch im Abendlande machte sich eine vernderte Sitte geltend. »Der Umgang mit den Frauen hatte einen Charakter, der heutiger Sitte fast entfremdet ist. Beide Geschlechter waren berall, auch in dem Gotteshause, scharf von einander getrennt; das Tanzen von Jnglingen mit Mdchen wurde stets gemissbilligt, oft verboten, war selbst bei der Hochzeitsfeier nicht gestattet, indem man auf solches Tun den Vers (Sprche 11,21) anwandte: »›Hand mit Hand bleibt nicht rein‹. Mit einem erwachsenen Frauenzimmer allein zu seyn oder einer Verheiratheten die Hand zu geben, war verboten« (Zunz, Zur Geschichte und Literatur S. 171). Dem entsprach es, dass die »Mnnerschul« und die »Frauenschul« von einander geschieden sind; ja dass sie, wie die alte Synagoge in Worms sehen lsst und wie russische Synagogen es heute noch zeigen, eigentlich getrennte Gebude bilden. 2. Die Gegenwart Im 19. Jahrhundert hat der ganze Sittenkomplex eine entscheidende Wandlung erfahren und daher ein neues Gewohnheitsrecht sich vielleicht durchgesetzt. Die Formen des gesamten sozialen, wirtschaftlichen und geselligen Verkehrs, auch die Formen des husli508

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Das Zusammensitzen von Mnnern und Frauen in der Synagoge

chen Lebens, wie sie heute in allen Gruppen beinahe der ganzen Judenheit nach und nach ein Selbstverstndliches geworden sind, widersprechen in jeder Beziehung dem, was die Jahrhunderte zuvor jdische Sitte und Norm fr die Beziehung der Geschlechter gewesen war. Diese Wandlung musste auch auf den Platz der Frau im Gotteshause einwirken. Am weitesten hat sie sich in Amerika geltend gemacht, wo aus mancherlei Grnden, besonders dem der geringen Zahl der Frauen in der kolonialen Zeit, die Frau in allen Kreisen des Lebens sehr hervorgetreten ist. In Amerika, das ja einen sehr betrchtlichen Teil der Judenheit umfasst, ist die alte Trennung der Geschlechter in den allermeisten Synagogen, einschliesslich vieler in ihrer Gesamthaltung wie in ihrem Ritus streng konservativer Gemeinden, aufgehoben. hnlich wirkt im heutigen Palstina die ungezwungene Freiheit der Lebensformen, die sich dort entwickelt. Bei dem sogenannten »Oneg Schabbat«, 1 zwischen dem Mincha und Maarib-Gebet, sind Mnner und Frauen, ohne jede Trennung, in der Synagoge vereint. In Deutschland ist die frhe Sonderung der Pltze geblieben, allerdings allenthalben mannigfach gemildert. Diese Einschrnkung ist bis dahin erfolgt, dass es in den Berliner Betslen an den hohen Feiertagen ein Selbstverstndliches geworden ist, das nicht als eine Neuerung empfunden wird, dass Mnner und Frauen nur durch einen schmalen Gang geschieden sind. Man knnte vielleicht heute im allgemeinen jede gemilderte alte Form als deutsche jdische Sitte, als deutschen jdischen Stil bezeichnen, und das Gefhl fr das Eigenrecht des Heimatlichen knnte hier seine Ansprche erheben. 3. Das neue Problem Das geschichtliche Zeichen der Gegenwart ist die Stellung, welche die Frau in der Gesamtheit des Lebens, in seinem Geistigen, Wirtschaftlichen und Sozialen sowie Politischen erlangt hat; nichts bedeutet heute so sehr eine Umwlzung, eine geschichtliche Revolution. Hierdurch zumeist ist unsere Zeit von der gesamten vorangegangenen mit allen ihren Jahrhunderten wesentlich geschieden, ist sie eine neue Zeit. Alle Richtungen im Judentum sind hiervon erfasst worden, die konservative wie die liberale. In unserer Zeit steht die neue jdische Frau, die das neue Recht der Frau und den alten jdi1. Buchstblich: »Freude des Schabbats«. In Tel Aviv versammelten sich Mnner und Frauen an Samstag Nachmittagen zwischen dem Nachmittagsgebet (Mincha) und dem Abendgebet (Maarib) zu einem jdischen Kulturprogramm.

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schen Wert zu verbinden, beide in gleicher Weise zu verwirklichen sucht. Es ist begreiflich, dass sie sich, wie es erfolgreich geschehen ist, im Gemeindeleben durchzusetzen strebt, und es ist begreiflich, dass sie auch fr den Platz im Gottesdienst gewisse Forderungen erhebt. Es handelt sich hierbei im Wesentlichen nicht um ein »Zeitgemsses«, sondern um eine neue Idee, mit der das Judentum innerlich, sich treu bleibend, heute sich auseinandersetzen muss, in welcher Form immer, so wie es im Gange seiner Geschichte mit so manchem neuen Gedanken und um ihn gerungen und zuletzt, an sich festhaltend, ihn in sich aufgenommen hat. 4. Das Stimmungsmoment In allen Fragen dieser Art und diesen Ernstes sprechen Gefhlsmomente mit. Es ist kein Zweifel, dass das Empfinden so mancher daher spricht, im Gotteshause in der unmittelbaren Nhe der Ihren zu sein, und dass es wieder andere, sehr viele gibt, denen das Frsichsein, diese Grundbedingung der Andacht, inniger erfllt ist, wenn Mnner und Frauen im Gotteshause getrennt sind. Das eine wie das andere Empfinden hat den Anspruch seiner Echtheit, das letztere zudem den einer geschichtlichen Weihe. Das eine kann nicht aus seiner Erfahrung hervor in die des anderen hinein argumentieren. Schwer wird es zu entscheiden sein, welcher der beiden Empfindungsrichtungen die grssere religise Kraft innewohnt. 5. Die gottesdienstliche Kultur Die Wrde des Zusammenseins von Menschen im Gotteshause setzt eine gewisse gottesdienstliche Kultur voraus. Diese war der mittelalterlichen Synagoge, wie sie im Osten bis in unsere Tage fortlebt, unzweifelhaft trotz allem, was dem Fernerstehenden als Unordnung erscheint, in sehr hohem Masse und in sehr bezeichnender Weise eigen. Sie fehlt aber vielfach der Synagoge unserer Zeit, im Gegensatz zu dem katholischen und dem evangelischen Gottesdienste, welcher sie wie ehedem besitzt. Sie ist doppelt erforderlich, wenn die Geschlechter im Gottesdienst nicht getrennt sind. Die Frage, fr die auch im bejahenden Sinne sich manches anfhren liesse, ist, wie weit die Aufhebung der Trennung in dieser Hinsicht erzieherisch wirken wird.

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Rede auf der Tagung der World Union for Progressive Judaism

6. Die Einheitsgemeinde Trotz aller Parteiungen besitzen wir in Deutschland in vorbildlicher Weise die Einheitsgemeinde. Wie viel sie bedeutet, wird dem von uns bewusst, der anderes kennt, und dem Fremden auch, der aus Lndern, wo sie fehlt, zu uns kommt. Die treibenden und die beharrenden Krfte, die autoritativen und die suchenden Elemente sind hier zu einer wesentlichen Einheit verbunden; das Bewusstsein der grossen Gemeinschaft und der gegenseitigen Verantwortlichkeit wird immer wieder lebendig gemacht. Die Einheitsgemeinde fordert dafr von jeder Gruppe eine gewisse Rcksichtnahme auf dieses Gesamtempfinden und damit auf die andere Gruppe; Extreme nach der einen oder der anderen Seite hin werden ihr fern bleiben mssen. Es ist doch immer ein gemeinsames Besitztum, das verwaltet und gewahrt werden soll. – Wenn alle diese Argumente mit und gegeneinander gewertet werden, so kann als Votum sich ergeben, dass in der neuen Synagoge, als ein Versuch, den die nchste Zeit zu bewhren hat, eine Anordnung der Pltze geschaffen werde, der dem Wunsch nach gemeinsamen Familienpltzen in geeigneter und liberaler Weise Rechnung trgt und im brigen die in den Betslen blich gewordene Art einer besonderen Abteilung fr Mnner und Frauen festhlt. 1 »Die Berliner Rabbiner-Gutachten zur Frage des Zusammensitzens in der Synagoge Prinzregentenstrasse.« Jdisch-liberale Zeitung 9.8 (1929): S. 2.

* Rede auf der Tagung der World Union for Progressive Judaism in London, 1930 Meine Damen und Herren: Die Vortrge und Diskussionen des gestrigen Tages hatten zum Gegenstand das Gebet und den Glauben an Gott, und dies, was sie enthielten, ist ein anderes gewesen, als vor Jahrzehnten vielleicht die Geister beschftigte. Es wurde nicht mehr nur darber gesprochen, wie die Gebete beschaffen sein sollen, sondern darber vor allem, was es bedeutet und was es uns gibt, dass wir beten – wie immer wir beten mgen, in welcher Sprache immer, in welchen Worten immer. Dass wir beten, das ist das Entscheiden1. Baecks Kompromißvorschlag wurde nicht angenommen. Schon mit der Einweihungsfeier im September 1930 wurde die Geschlechtertrennung in der neuen Synagoge Prinzregentenstraße aufgehoben.

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de. Und so auch, wenn wir von dem sprechen, was der Gottesglaube uns ist. Wie wir Juden im einzelnen den Gottesbegriff gestalten, gewiss auch das hat seine Bedeutung; aber das Entscheidende und Bestimmende ist, dass wir Menschen wieder, und der Jude vor allem wieder, in Berhrung mit dem Gttlichen kommen. Um uns, um unser Eigenstes handelt es sich bei all diesen Fragen, die uns hier beschftigen, um unser Menschliches und unser Jdisches. Wir drfen es offen aussprechen, wir hatten lange hindurch nicht selten uns selber verloren, wir hatten oft das Verstndnis fr das eingebsst, was unser Wesentlichstes ist, das Verstndnis dafr, dass ein jeder Mensch im Tiefsten und Innersten ein Einzigartiges und Unvergleichliches ist. Im Mittelalter sagte man: »Individuum ineffabile,« »Das Individuum ist ein Unaussprechbares.« Und so ist es in der Tat. Jeder Mensch trgt in sich sein Innerstes, sein Geheimnis, sein Verborgenes, sein Glck und sein Leid, das, wovon kein anderer weiss, das was nur er selber kennt, er selber und sein Gott. Hieraus hervor kommen Gebet und Gottesglauben. Nur der kann glubig sein und nur der wahrhaft beten, wer es einmal in sich entdeckt hat, welch Tiefe, welche Verborgenheit, welche Abgrnde in uns sind, einmal es erfahren hat, wie in uns das Geheimnis wohnt, das Geheimnis, in welchem ja der Ewige, unser Gott auch wohnt. Er wohnt im Dunkel, im Geheimen, aber auch der Mensch wohnt im Dunkel und im Geheimen. Wenn gestern davon gesprochen wurde, dass das Einzigartige im Menschen sich verbinden, sich vershnen solle mit dem einzigartigen Gott, auch das ist dadurch erst gegeben, dass wir einmal das Geheimnis Gottes in uns entdecken und so an Gott glauben. Und wenn wir dieses Geheime erfahren, dann fangen wir an zu beten; denn Beten, das bedeutet, dass wir das aussprechen, was wir zu keinem Menschen sagen knnen, weil kein Mensch, kein anderer es verstehen wrde, das aussprechen, was ein jeder nur dem Ewigen, seinem Gott, zu sagen vermag. Das ist die Wurzel aller Religion, der Anfang alles Glaubens und alles Gebetes. Ohne diesen Sinn fr das Geheimnis, fr das Verborgene werden wir von Gott vielleicht sprechen, vielleicht Begriffe von Gott bilden, aber wir werden niemals mit Gott zusammen sein, niemals wahrhaft an Gott glauben. Ohne diesen Sinn fr das Geheime und Verborgene in uns, das unser Verborgenes mit dem Verborgenen in Gott, unser Geheimnis, mit dem gttlichen Geheimnis verbindet, werden wir vielleicht Gebete singen, Gebete lesen, Gebete sprechen, aber wir werden nie beten, nie durch das Gebet zusammensein mit dem Ewigen. Vielleicht frchten manche sich davor, denn dieses Erleben des Geheimen in uns zeigt uns immer wieder, wie wir im Tief512

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Rede auf der Tagung der World Union for Progressive Judaism

sten allein sind. Auch in der Gemeinde ist wahrhaft betend ja der allein, der inmitten der Hundert oder Tausend sein Alleinsein erfhrt, es erlebt, wie er in sich sein Einzigartiges trgt, wovon er sprechen kann nur aus sich heraus zu dem Ewigen seinem Gott. Das ist Glaube an Gott, und das ist Gebet und es ist, wie man vielleicht mit einem anderen Worte es auch sagen knnte: Poesie. Jeder Mensch ist im Tiefsten ein Poet. Er wird wenigstens als Poet geboren; jedes Kind ist ein Dichter, und jeder ist dann spter im Leben soviel Dichter, wie vom Kinde in ihm geblieben ist, wie er vom Kinde in sich bewahrt hat. Diese Kindheitsgabe, diese Poesie in uns lebendig bleiben lassen, das ist ein Wesentliches der Religion. Wenn vom Kampf der Religion gegen den Indifferentismus gesprochen wird – es ist heute mit Recht gesagt worden, dass es vielleicht mehr und verschiedenere Indifferentismen als Religionen gibt,– so darf dieses eine nicht vergessen werden: das Eigentliche in dem Kampf zwischen Religion und Indifferentismus ist der Kampf der Poesie unserer Seele gegen die Prosa, der Kampf des Geheimnisses in uns gegen diese Oberflchlichkeit, die alles zu erreichen, alles zu verstehen meint, die ber alles sofort ihr bestimmtes Urteil fllt. Der Gegensatz zum religisen Menschen ist der prosaische Mensch, der nchterne, der vertrocknete Mensch, der Mensch, der nichts vom Geheimnis mehr weiss. Das sollte auch aus der Bibel vor allem zu uns sprechen. Die Bibel verstanden, die Bibel gelesen hat der allein, zu dem aus ihr auch das Geheimnis spricht. Wem die Worte »ani adaunoj« 1 Worte nur sind, Worte, die hinter jedem Satze des Gebotes stehen, der weiss nicht, was Gebot ist. Erst wenn uns aus diesen Worten die urewige Verborgenheit, das urewige Geheimnis entgegenklingt, dann erst erschliesst sich uns der Sinn des Gebotes und erschliesst sich uns die Bibel. Es ist wahr, wir wurzeln in der Geschichte. Wir wissen es: das Leben jedes Einzelnen mit seinem Unvergleichlichen, mit seinen Geheimnissen ist aus den Jahrtausenden hervor gebildet; in uns leben jdische Jahrtausende, Jahrtausende jdischen Lebens. Wir wurzeln in der Geschichte, aber wenn wir von der Religion sprechen, dann sollen wir nicht nur Geschichte meinen, dann sollen wir nicht nur die Beweise aus dem herholen, was einst gesagt, was einst gedacht wurde. Das Einst lebt in uns, aber in uns lebt es erst dann, wenn es in uns Gegenwart wird, wenn die Geschichte jedem von uns zu seinem Ich wird, zu seinem Ich, aus dem hervor allein die Geschichte lebt. Man hat bei uns langehin so viel von der Geschichte gesprochen, von der Vergangenheit und ihrer 1. Hebr.: »Ich bin Gott«.

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Religion, und die Religion ist dann bisweilen, wie einmal gesagt worden ist, wie eine Art Ambulanzwagen geworden, ein Krankenwagen, der hinter dem Zuge der Menschen einherfhrt und die Mden und Kranken aufnimmt. Von uns sollten wir sprechen, von unserem Leben, wenn es sich um die Religion handelt. Wenn wir von uns sprechen, dann werden wir wissen, dass es sich um die Poesie und die Prosa unseres Lebens handelt, und die Entscheidung darber, ob wir Poeten, glubige Menschen, Menschen, in denen das Geheimnis lebt, sein wollen oder nur Menschen der Prosa, Menschen des blossen Alltags und seiner Nchternheit. Ein Mann, der ein Kenner und Versteher der Geschichte war, wie wenige, Aristoteles, hat in seinem Buche von der Poesie gesagt. »Etwas Tieferes und Philosophischeres als die Geschichte ist die Poesie.« In der Poesie ist mehr Philosophie als in der Geschichte, mehr auch oft als in mancher Philosophie. Wer der Poesie seines Lebens bewusst wird, der hat im Tiefsten erkannt, der findet Gott, der lernt beten. Es ist gestern gesagt worden, dass an uns Juden ein Eigentmliches ist, das uns manchen Platz auch in der Wissenschaft gibt, dass wir in eigener Weise Wirklichkeitssinn und Phantasie in uns vereinen. In den Besten von uns ist es so. Aber in vielen von uns ist diese Phantasie verloren gegangen, diese Phantasie, die es uns gibt, dass wir das Eigentmlichste und Innerste in uns entdecken, diese Phantasie, ohne die es ja keine Poesie gibt, und ohne die wohl ja auch keine Wissenschaft in ihrem Letzten sein kann, denn in ihrem Letzten und Tiefsten ist auch Wissenschaft fast etwas wie Musik, wie eine Poesie, in der der Klang der Sphren vernommen wird. Um uns handelt es sich so, um unser Eigenstes und Innerstes. Und das will ja Liberalismus sein: in uns, in unserem Persnlichsten Recht und Kraft und Wurzel der Religion entdecken, in uns die Quellen sich auftun lassen, aus denen das Leben, das Ich seine Kraft hat. Einen Konflikt zwischen Mensch und Gott, so ist es gestern auch gesagt worden, gibt es in unserer Zeit. Er wird zum Glauben werden, wenn der Mensch erkennt, was ihn im Tiefsten und Innersten mit Gott verbindet und Gott mit ihm, wenn er dieser Poet wird, oder was dasselbe ist, dieser Glubige, wenn er das findet, was er keinem anderen sagen kann, sondern nur seinem Gott, wenn er das Verborgene erlebt, das Tiefe, das Geheime Gottes und des Menschen, in dem der Mensch seinen Gott findet, so dass er an ihn glauben kann, seinen Gott findet, so dass er zu ihm betet. Second Conference of the World Union for Progressive Judaism. London, 1930. S. 223-226.

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Brief an Lily H. Montagu in London Berlin, 26. Februar 36 Sehr verehrte Miss Montagu, 1 Haben Sie herzlichen Dank fr Ihre freundlichen Zeilen. Ich habe inzwischen an Dr. Dienemann 2 geschrieben, und ich mchte glauben, dass Sie mit dem zufrieden sein werden, was ich ihm geschrieben habe. Das Missverstndnis war durch eine irrige Notiz der JTA 3 entstanden. Man konnte daraus entnehmen, dass die Grndung besonderer Gemeinden schon jetzt gedacht werde. Davon hatte ich Dr. Dienemann sehr bestimmt abgeraten. Dagegen bin ich berzeugt, dass es von grsster Wichtigkeit ist, das Werk des liberalen Judentums in Palstina in jeder Beziehung zu frdern und hierzu alle liberalen Krfte, die dort im Lande sind, aber leider ohne jede Verbindung mit einander sind, zusammenzufhren und zu vereinen. Ich habe die grsste Hoffnung, dass dadurch ein wichtiges Werk ermglicht werden kann. Ich glaube, dass in kaum einem Lande diese religise Arbeit so wichtig ist wie in Palstina. In diesem Sinne habe ich an Dr. D. auch geschrieben. Ich sende ihm auch eine Liste von Namen, die fr die Aufgabe von Wichtigkeit sein knnen. American-Jewish Archives. MS S Col. 16 1/8.

* »Ideen kmpfen heute miteinander« Ideen kmpfen heute miteinander. Der Platz und der Einfluss, den sie behaupten oder gewinnen werden, wird ber eine Zukunft entscheiden. In mancher Wende der Epochen ist es so gewesen, dass, wenn die Gedanken gegen einander trafen, auch das ussere und innere Schicksal des Judentums ergriffen wurde. Mehr als je scheint es jetzt so zu sein. In den Wirbel der Welt ist das Judentum heute hineingezogen. Die Frage des Bleibens, des Untergangs oder Aufstiegs blickt es an. Verschiedene Richtungen wirken, seit etwa fnf Menschenaltern, im Judentum. Vom Standpunkte unserer Tage aus knnen wir sie 1. Siehe oben. 2. Siehe oben. 3. Jewish Telegraphic Agency. Internationale Nachrichtenagentur.

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ohne die Erregung betrachten, die einst ihr Ringen und Streiten erfllen musste, und sie knnen uns jetzt als notwendige Funktionen in unserer Geschichte erscheinen. Die eine wollte das berlieferte bewahren und sichern, die andere es weiterfhren und gestalten. Die eine sah das Judentum vor allem als eine Welt fr sich, die andere sah es inmitten der grossen religisen Welt. Eine dachte zuerst an die Gesamtheit und das Gebot ihrer Existenz, eine andere zuerst an das Individuum, an sein Bedrfen und seine Sehnsucht. Wenn wir heute auf das Ganze hinblicken, werden wir keine aus dem Leben des Judentums fortdenken wollen. Aber ebenso tritt doch etwas hervor: Unter diesen religisen Krften des Judentums kann jetzt die liberale, progressive eine besondere Bedeutung gewinnen. Denn eines steht deutlich vor uns. Das Judentum ist in die religise Problematik der Welt hineingefhrt. Wenn es leben soll, kann es jetzt nicht nur fr sich sein. Knnte es heute der Welt nichts sagen, so htte es abgedankt und auf sich verzichtet. Um die Art und die Form, in der auch das innere Leben der Menschen sich in der kommenden Zeit bestimmen soll, handelt es sich heute. Wrde das Judentum hier nicht seine lebendige Antwort zu geben haben, wollte es hier abseits stehen und nur zu sich und den Seinen sprechen, so wrde es aus der neuen Welt, welche werden will, sich selber ausscheiden. Seiner universellen Gedanken muss das Judentum jetzt wieder bewusst werden. Davon hngt seine Zukunft ab. Dass so zu der Welt der Blick gerichtet ist, das ist ein Wesentliches eben des liberalen, progressiven Judentums. Dazu kommt ein anderes noch. Weite Teile der Judenheit sind heute auseinander gerissen, herausgerissen aus alten Formen des Daseins und des Zusammenhanges, in denen sie geboren waren. Der Einzelne ist mehr als je auch in seinem religisen Leben auf sich selber gestellt. Nur die starke Idee kann ihm heute die Gewissheit schenken in der Ungewissheit, den Weg zeigen in der Weglosigkeit. Die grosse Linie seiner Religion muss ihm in die Seele gezeichnet sein; er muss frei sein von allem Engen, Kleinlichen und ganz von dem bewegt werden, was seit je der umfassende Glaube und die Sehnsucht des Judentums ist. Ohne das wird er auch geistig und religis umherirren in einer wankenden Welt, die ihn usserlich und innerlich umherwirft. Es ist der Sinn des liberalen, progressiven Judentums, dass es diesen grossen Zug aufzeigen und festhalten will. Vielleicht hat mancher in vergangenen Jahren gemeint, die Bahn des liberalen, progressiven Judentums verliere sich, seine Zeit sei vorbei. Wenn wir in den Wandel der Tage hineinblicken, sehen wir, 516

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dass nun, wenn es nur aus der Geschichte gelernt hat, seine eigentliche, wichtige Zeit erst beginnen will. Es darf jetzt vor einem bedeutungsvollen Wege stehen. Soweit uns bekannt, wurde der vorliegende Aufsatz nur in englischer bersetzung verffentlicht. »Looking Forward«. Progressive Judaism round the World 1.11 (1940): S. 4-5. Archiv Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum.

* Die Zukunft des Liberalen Judentums The victory of a movement can often, still more than its defeat, represent a problem, even a crisis. For, when it has victory, it has attained its goal, and therewith halts; it ceases to be a movement. Not until it is able to evolve new ideas, to set itself new tasks and thus set out on roads to new goals, does it anew become a movement. The Liberal movement in Judaism had practically won through at the beginning of this century. Through four generations it had, in often serious conflicts, been able to outline the spiritual direction for the way of the Jews out of the old segregation into the new world of Europe and America, so that it could now make up the shape and the personality of the Jew, thus: that he had the will and the powers to be wholly a Jew, and yet no less, in the traits of his being, a European, an American. This victory was so decisive, that more and more it determined also the conservative attitude. It might suffice to quote one example for this, one that is to-day well nigh forgotten. In the early days of the Liberal movement it had been one of its novel demands that the Jew should discard the old garb and wear the attire of the times; and that demand had frequently roused serious dispute, for the Shulchan Aruch 1 had demanded that the Jew should also in his apparel be distinct from the surrounding world, and in Eastern Europe, indeed, this distinction has been preserved up to the present time. Where is there to-day, or has there been for a long time, any more contradiction in that regard between the Liberal and the conservative Jews of Western or Central Europe or of America? Other examples are close at hand. The Liberal movement had demanded regular sermons in the language of the homeland; that too the conservatives had first 1. Jdischer Gesetzeskodex aus dem 16. Jahrhundert stammend.

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opposed, only to follow later. In the sphere of forms, Liberalism has endeavoured to re-form, and, a part also of that way have the conservatives subsequently followed, further perhaps than they are to-day aware or would admit to themselves or to others. Much that is Liberal has in the course of the last century come to be a reality in the world of Judaism. Thus the Liberal movement has been victorious and therefore had first to come to a standstill. It is a fate similar to that experienced by liberalism in the political sphere, for the same reasons and at the same time. That too had reached the goal and then stood still,– selfsatisfied and maybe somewhat exhausted. It is therefore decisive to overcome that state, and this is only possible, if the will to go on to further goals is brought to life, if – this word should not be misunderstood – discontent again is roused and felt. It is decisive that new tasks are set and thereby the movement made to be a movement again. This may be achieved in a fourfold direction. The first direction is that of learning and teaching; this is not a new one, but it has often been lost. It had been one of the first demands of liberalism, that we should possess a Judaism not only of tradition, but of our own knowledge and thought. In the sphere of religion too, thoughtlessness can lead to homelessness. One cannot feel at home in Judaism without mental participation, and such participation presupposes a certain measure of learning, and that learning again demands a certain measure also of the knowledge of Hebrew. For a life in Judaism, it is so important that one can take as one’s own the classical words of the Bible and of the old prayers, the »holy language.« Herein surely liberalism has not yet gained a victory, here it can again become a movement. The second direction is that which leads to the world of religious forms. Jewish religiousness is more than mere religiousness; it is also a certain style of life, and it unfolds itself as such; it would become narrowed and perhaps starved if it confined itself to the House of God or to rare occasional hours of life, and did not endow the whole way of life with a certain character. But a style is based on forms, and a religious style of life, therefore, on religious forms. One may find that Progressive Judaism, in that fervent desire with which it once broke through the desire to fit itself into the new world and to be at home in it, has not always sufficiently considered the significance of those forms and often given up too great a part of them. To possess and uphold religious forms, without taking them over rigidly or allowing them to become rigid, to fill the old contents with a new 518

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spirit and new warmth, to give to religious life its style, without letting it become mere convention,– that is a task that progressive Judaism has surely not yet, or at least, not yet fully, accomplished. Here lies a wide field yet before it, therein to prepare the way. A third direction points to the social sphere. The divisions of society have changed in many a country; within the last decades a large new class has developed, which Karl Marx, when he set up the horoscope of the time, had not yet seen nor foreseen: the class of employees. Today it forms a strong section, especially of the Jewish community, in most countries; the same that in other religious communities is formed by »the workers« class. In former times, the Jewish community consisted essentially of members who whether wealthy or poor, were their own masters. That had given the Jewish congregations a specific character, and that has changed nowadays. It is necessary especially for Progressive Judaism to recognise this; to consider this new group, to give it its place, and to testify to the awareness of its value, in the community. This could, in the first instance, be done by getting as many as possible of the congregation to take an active part in its religious service, so that they may feel active supporters of the congregation, active elements of the Divine Service. Here an important task is set for Progressive Judaism, herein too it should become a movement. The fourth task is one which the whole world faces, this world which is at present struggling for new ideas and new ways. It was the historic achievement and the historic merit of Liberal Judaism that it taught the Jew to live in the sphere of education and in the specific culture of the country in which he had won his place. But he often stopped at the frontiers of his country and forgot that true religion reaches across and beyond the frontiers of the individual countries, that it means ever to lead Man to the living problems and tasks of Humanity. To fight within Humanity and for Humanity, is the commandment. The times when it grasped that were the best times of the spirit of Judaism. Here, to-day again, are paths to be followed. Here Progressive Judaism can find a task. It is a fourfold path, but in every ascent the paths meet. On the one, the inner assuredness of knowledge is gained; on the other, the form and therein the distinction of life; on the third, the strengthening of the community; on the fourth, universality. Here lie the tasks. To set oneself tasks and to face them, that is: to have a future. »The Future of Liberal Judaism«. Liberal Jewish Monthly 17.8 (Oct. 1946): S. 57-58.

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Die Prinzipien der Progressiven Bewegung des Judentums The subject that is to be treated this afternoon is »The principles of the progressive movement in Judaism.« It is a well-sounding title; it has its rhythm and almost its poetry. But does not this very euphony suggest a certain danger? For there are words and sentences which sound so lovely, which are so full of music that the speaker and the listener alike hear only this music and allow themselves to be captivated by it and thereby forget to ask also what the word and the sentence mean, what is their content and their claim. That is the reason why just those words and sentences which sound beautiful are so easily thoughtlessly heard and thoughtlessly repeated, why they so easily become mere phrases and why thus so often the phrase rules the day. So it is of primary importance that the three conceptions which our subject comprises should be regarded soberly, so that we clearly recognize what they say and what they demand, so that they may appeal not only to our ear and our feeling but also to our reason and our will. What, to begin with, does the word »principle« mean? In its first and original sense the word means the beginning, the starting point and thus also the basis, the fundamental truth. We are to know principles, to possess principles so as to know whence we can and should start, whereon we can and should build. These are important conditions. For a beginning in itself does not mean anything; it is something great, if from it we proceed, if patiently and untiringly we go ahead. But it is little or nothing if we make a beginning only to break off and come to a standstill at the outset. And likewise a basis, a foundation is a substantial and essential thing, if on it we build something. But what is a foundation that just lies there with nothing erected upon it? This is not merely a theoretical reflection, but it relates to ourselves and our movement. We have often seen much of beginning, very much! What indeed has not been begun in the course of the years? But what so often has failed, is the sequel, the carrying on, the realization. How often men laid foundations and then forgot or neglected to build anything upon them. Men had principles, but they did not, or not sufficiently, consider that the principles exist in order that from them a course of action should be determined. What is a principle without the way? The question of principles has yet another aspect. We human beings love principles, we love to appear as persons with principles, as persons with a philosophy of life. But there are genuine and spur520

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ious principles. The genuine principle, which indeed is the rarer one, is that which precedes a man’s course of action, which shows him the way he should go. In the genuine, the true principle, there speaks the holy commandment, the strict imperative, summoning man to follow it, even counter to his convenience, even counter to his advantage. And the other, the spurious principle, is that which appears only after the event. Its philosophy is that of excuse, of justification. One does what one wants or leaves undone what one does not want, and then one provides oneself with the appropriate principle, ready made or to measure, fitting to what one has so long done or left undone, and what one wants to go on doing or leaving undone. The genuine principle governs our will and our actions; the spurious, the supposed principle, is governed by our actions and our desire. This, therefore, is the first statement, the first answer to the questions which our subject puts to us. Our principles, the principles of the progressive movement in Judaism, must be genuine, must be demanding principles, that is to say, must be principles which stand before us to lead us, and we must be prepared to go the way which they demand of us. This is doubly true for the reason that the principles here in question are religious principles and not political or philosophical ones. It is sometimes peculiar to politics to know how to forget, to know at the proper time how not to remember its principles. There, principles at times exist only in order to be proclaimed at solemn occasions, like a flag, so to say, to be unfurled on bright and festive days, and then rolled up again and kept in a lumber room behind closed doors and windows. Our principles must not be only for holidays. And neither, as already said, a matter merely of philosophy. He who is familiar with the history of philosophy knows that it was sometimes characteristic of philosophy to make no pledge, to give no undertaking – or very little. The philosophers of Ethics were not always at the same time the masters and models of their own ethics. A philosopher of the middle of the last century, Schopenhauer, who everywhere in Europe exercised a great influence – an influence also against Jews and Judaism, for we as heralds of optimism were inconvenient and uncomfortable to his teaching of pessimism – once said »Just as a sculptor who shapes the statue of an ideally beautiful human being, need not himself be a handsome man, so a philosopher who proclaims and erects an ethical ideal, need not himself personify the ideal«. That may, perhaps, be philosophy; perhaps philosophy need not constitute an obligation; but that certainly is not the 521

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way of religion. Religion, and that is its marrow and its strength, always and everywhere constitutes an obligation; a religion which does not mean pledge and commitment is a contradiction in terms. That applies to every religion. The Russian writer Tolstoy, one of the greatest poets and one of the noblest human personalities of all times, a man whose name we Jews cannot mention without adding the Biblical phrase, »zichrono livracha,« »his memory is a blessing,« this man who lived within a creed for which the decisive factor is the miracle of salvation, said of the many of his country whose lives were so different from the religion which they, very zealously perhaps, professed: »One does what one likes and allows oneself to be saved.« Religion pledges – that applies to every religion; and yet more than to any other does it apply to our Judaism. For that is the very substance of our Judaism that it is a religion of the commandment, of the deed, of life. It must never come to pass that one could say of us – and this applies to all trends in Judaism – »One does what one likes and calls oneself a Jew.« A Judaism that would not imply a pledge, a promise, would have ceased to be Judaism. Therefore the first principle is that we should have principles, religious and not merely political or philosophical principles, but such principles as lead and commit, principles of life. It is, in other words, the first principle that we must speak of no truth, of no commandment without being prepared to fulfil it. And the second principle – expressed already in our subject – is the principle that our life be a life in our Judaism. In our endeavours we must never forget what our Judaism is and that our Judaism is in question. Rightly and full of love do we speak of our progressive Judaism; but we must not primarily stress the adjective »progressive« and lay too weak a stress on the noun »Judaism.« Judaism remains the substantive. And Judaism did not begin with us; we have inherited it and are to carry it on. It lives in its lasting truths, which each age is ever anew to make its own. Judaism has its own way; and it is the way on which we are set; it is quite a special, a unique way, from generation to generation. We are Jews, that means to say, we are a community, from which we must not separate nor remove ourselves, which we must not forget nor forsake, a community of history, of the spirit and of the future. And all that, Jewish history and Jewish spirit and Jewish future, finds its unity, its entire life and fulfilment, only in our religion. Perhaps other people might be without religion and yet develop their full humanity, perhaps – but surely that cannot be said of the Jew. Indeed, a Jew cannot attain his full human quality, the perfect development of his being, without his re522

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ligion. In the Jew, without his religion something essential is lacking, he so to say lacks completeness, he is, in a way, incomplete, as there are in nature incomplete creatures, in whom the one or other organ is not developed. The Jewish mind, the Jewish soul are not of yesterday nor of the day before, they have been moulded by the thousands of years, and that moulding through all the thousands of years has been by the power of religion. It is through the struggle for the religious idea, the religious demand and the religious hope that the inner being, the enduring essence of the Jew has been shaped. His religion is the vein, the vigour and the value in him; in it he finds all his strength. No realism or pragmatism, no nationalism or chauvinism can replace that. His religion is the Jew’s essential quality. The second principle therefore is: to live in Judaism, to lead a life in which our religion is a reality, a reality of the day and of the way, a life in which the consciousness of our history is alive and therewith at the same time the consciousness of the fact that we Jews are all one great community, which goes through the ages, the community of the people of Israel, a community of history, of the present time and of the future times. And now the third principle: it is not a principle by itself, but one which can have its value and its blessing only if it retains connection with the first two, results from the first two. It is the principle of the progressive movement or, as one may also say, the principle of history in Judaism. Without the idea of history – and in all history there is also growth and development – there is no living Judaism. This idea lived in the prophets; it lived in our great thinkers; in and through it has Judaism in times of crisis come back to itself and to its way. In such days, men of Judaism became certain of themselves by grasping the meaning of the word of Daniel, a book which was written in days of grave crisis: »God changeth the times and the seasons.« 1 God is not a God of one time only. In all times God, as it were, looks upon man and speaks to man; in all times the Jew above all, he yet more than other men, should feel himself called upon by God. We must hear the word of God sounding to us not only from the days that were, the days of our forefathers, but also from the days that are and that will come. We must, so to say, see God not only behind us, but with us and before us. Our Judaism has sometimes gone through crises, and it has been able to make each of these crises a source of new strength, as soon as it openly faced the change of times and gave the new time which it 1. Dan 2,21.

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experienced its new forms and tasks. One of the most serious crises, almost a revolution, were the days which began about a century and a half ago, when the Jews emerged from a secluded Jewish world into a different world, now to live in that larger world as God had willed. It was a new time. New things were now demanded in Judaism and of Judaism. To fulfil this historic demand, that was the task which then and since then men of various trends in Judaism, and foremost the men of the progressive movement, of reform and of reconstruction set themselves. They followed this demand with a strong and honest will and with knowledge, with a devout love for and faith in Judaism. They have greatly achieved. What would have been the fate of the spirit of Judaism and of the community of Judaism in the past century, how many would have been lost to it, but for those men and for that achievement, but for their undertaking to be – we may use a Hebrew word, which once in earlier days had been a motto and a watchword – to be a »moreh nevuchim,« »a guide to those wavering and astray?« It is true that in those days mistakes may have been made in this or that; sometimes here and there the forms were considered more than the tasks, sometimes the three principles were not regarded sufficiently in unison. But in viewing the whole, in considering what had to be achieved and what was achieved, achieved in truthfulness and full of devotion, what has been accomplished and is set before us as a heritage and a task – yes, one can only repeat: what would have been the fate of Judaism without those men and their work, without that third principle too, which they envisaged and accepted and have handed on, the principle which contains the teaching that in religious, in spiritual matters, men must not be mere heirs, but successors, to whom their heritage becomes a task set before them in their own days. Now these three principles stand before us, stand before us as the starting point of our task, the three of them inseparable from each other, as the task which we have to fulfil, that Judaism may live, not in books and in speeches only, but in human beings, that the generation which follows us, can believe and trust us, can believe us that we are in earnest with our principles, honestly in earnest, can believe us that Judaism guides our lives and not only a shadow of Judaism accompanies us, that the present which we grasp with its challenge and its claim, is to us the present of our religion. And if in conclusion the question arises, as to what is the best method, the best way for the realization of these principles – and the question of method above all touches youth – the answer may again be threefold. The first answer to everyone is, begin with your524

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self, then you will forthwith have the way. Therefore do not begin with a programme, but with duty. Therefore do not ask first, what you are against, but what you are for; we have no right to be against anything so long as we are not for something, for something not only by word, but by deed. And the second answer – it follows from the first – is, begin with one duty, one Jewish duty; there are so many, such various duties, but begin with one. He who once has taken anything seriously, will of himself go on to the next duty and to the next again. And the third answer, which follows from the second, begin best with a duty which demands a sacrifice of you, be it a sacrifice of strength or of time or of comfort or of what you possess – shall our brethren of a different school of thought say that they are capable of greater sacrifice? The best, the true testimony of all religion, is always sacrifice; and it is the testimony of Judaism above all – there is no easy Judaism and there must not be – it is the testimony of movement, of activity, of life in Judaism, in progressive Judaism above all, of a Jewish life, which neither passes by life nor makes a pretence of life. We may therefore conclude with one sentence, which may include and unify the whole, a sentence which sounds a truism and yet should ever again be repeated: there is as much Judaism as there are Jews, and as much progressive Judaism as there are progressive Jews who, with their personality, with the duties that they take upon themselves, with the sacrifice that they are willing to make bear witness for themselves. Therein all principles and all methods combine. Such will always be the strength and the justification of Judaism in the world. Ansprache des Prsidenten am 20. April 1947 auf der Sixth Annual Conference of the Association of Synagogues in Great Britain. »The Principles of the Progressive Movement of Judaism.« Synagogue Review 21 (May 1947): S. 127-129.

* Die Mission des Judentums Dr. Blank 1 has laid a strong foundation and I feel, and all of us must feel, gratitude for it; the basis is so firm that it is an easy task to build 1. Sheldon Blank (1896-1989). Professor der Bibel am Hebrew Union College, Cincinnati.

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up something upon its foundation. It is the missionary work of Judaism that is to be treated now. The greatest historian of the last century who was also one of the great Europeans, Giuseppe Mazzini, said: »Nation is Mission«. Indeed, every nation that is able and willing to be the custodian of a great idea feels impelled to be a teacher, to bring this ideal into the consciousness of other peoples. We see today how the two Englishspeaking nations are guardians of the ideal of democracy and are prepared and ready to make other peoples learn this sublime idea. All the more a religious people, a nation that was from the beginning the custodians of the greatest ideas, must feel the task to bring these ideas to all mankind. All the principles of Judaism which Dr. Blank has shown today, all the ideals of Judaism aim to this end, to the mission, to work for the great mission of the Jewish people. It was not a barren ideal; it was a fertile thought. Indeed, in the three centuries before the common era and after it, let us see the admirable work of the Jewish mission. Dr. Blank has told us that imagination runs wild, but imagination need not run wild to see the amplitude, the greatness of this missionary work. It is a conservative estimate if one says that in that time at least one quarter of all Jews were proselytes, or as the old term runs »Godfearing people«; but one day this work of dissemination promising to reach fruition was discontinued. It was not for the reason that religious energy ceased; it was not by reason of religious weakness, but it was because of political reasons. The battle for liberty, the rebellion of Rabbi Akiba and Bar Kochba 1 was violently suppressed by Rome, and hard oppression followed suppression. It was no longer possible; it was forbidden by the law of Rome that Judaism send out its missionaries. Thus this great work had come to an end, but always and everywhere, when some fresh breeze was given to the Jewish mind, when any possibility was granted, the old missionary enthusiasm awoke. We have many an example, but on the whole the last seventeen centuries were the time when Judaism was not able, was not allowed to do the greater missionary work. Has the time now come to continue what had been discontinued? We must regard the circumstances of our days. The last centuries, but first and foremost the nineteenth century, were a period of great missionary work on the part of three great religions – Christianity, Islam and Buddhism. The Christian Churches sent out their mission1. Rabbi Akiba untersttzte die Rebellion gegen die Rmer in Palstina in den Jahren 132-135, die von Bar Kochba gefhrt wurde.

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aries to Asia, Africa, and it was a wonderful work, a great success for the sake of mankind that was achieved. Many people, thousands and thousands of people, were given consolation, comfort, help, clearness of mind; their minds were lifted up. One must speak of that with deep respect and also with profound gratitude. And then the work of Islam in the nineteenth century (work that is not well known, but is one of the greatest religious achievements), the missionary work of Islam met with great success in Africa, South East Asia and Indonesia. A serious crime was committed by Europe against Africa. Three things were brought to Africa: gunpowder, new kinds of alcoholism and some very unpleasant maladies. They were of no benefit to this continent, but the missionary work of Islam was of real benefit. The progress of Islam in Africa was like the triumphal march of prohibition. Many a good thing was done in Africa to many people by this missionary work of Islam. Buddhism in the same way conquered many parts of China and some parts of Japan. Comfort, consolation, peace of mind and strength of soul were given by Buddhism to many people. We must speak about this with deep gratitude, for all that was done to mankind, a part of which we are. But how is now the position? Speaking first of Buddhism. The wars in China have ended and will end for a long time the work of Buddhism. Buddhism was not able to give the people in China and Japan what should have been given them – a great self-respect, a moral self-esteem. Buddhism has given peace of mind, but in cruel days, the people in China, this noble old people, has experienced that peace of mind is not enough in these hard times; they need also self-respect. Islam has been politicised, and through being politicised has lost its religious strength. One can see it. The more Islam became politicised, partly by other peoples, the more its religious strength became weakened. Now Christianity. I speak with some restraint about it, but it is necessary to recall the facts and to speak the truth. There was published six years ago a great book, short in length. I do not know if those here have read it; one reads it time and again with deep emotion; the soul is stirred in reading it. »The Christian Failure,« by Dr. Charles Singer. 1 The book is full of facts, full of truth. The title is not »The Failure of Christianity«. There are two old and new sins of religion. One is the sin of silence – to be silent in the face of crime and 1. Charles Joseph Singer (1876-1960). Doktor der Medizin. The Christian Failure erschien 1943.

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oppression. Many a religion has committed this sin. And the other old and new sin of religion is compromising with the powers of earth and thereby procuring a good conscience. Both sins have been committed by the Christian Churches. They have been silent and they have compromised. They have manipulated and lulled their consciences, and therefore the respect for Christianity has diminished. We who are Jews know what we lack. We must improve many a thing. We must do a new thing, but we have never been silent; we have never compromised. Had we compromised there would have been no Jews. Mankind is hungry and thirsty for that which Judaism can say, what Jews full of Judaism can say. Many an example can be remembered. In the first three decades of our century, I myself have had the experience I am speaking about, and perhaps in other countries it was the same. It was a twofold experience: one, that the children of those who had deserted us returned to us and the second, that Judaism became, so to speak, attractive to the Gentiles, and many a one became a proselyte, educated people, high-minded people. Should we not begin anew? Should we not send out missionaries to Asia, to East Asia and to other places to the people there waiting for us? We are in need of expansion for our own sake. May I be allowed to repeat what I said on Friday. The totality of Jewish history, the totality of Jewish life and destiny, has never been like a circle, a formation with one focus of strength, with only one centre, but always from the beginning it has been like an ellipse, a formation destined and determined by two focuses of strength, by two dynamic centres. In the old days there was the Northern and Southern realms in Palestine, later Palestine and Babylon, later the Sephardic 1 and Ashkenazic 2 phases of culture, later Western Europe and Eastern Europe, and nowadays the Western world and the State of Israel. Two centres, two focuses, and in the same way there must be two centres of mind and energy. Now one centre is a national centre, the State of Israel, and the other should be, must be, for the sake of equilibrium a missionary centre, so to speak, a centre of internationalism. One cannot do without one or the other. One alone would not be good, and the other alone would not be good. There must be equipoise and equilibrium of the two centres. Many a people, many a Jew is afraid of nationalism in Palestine. There is one help against it, to send our missionaries to mankind. Dr. Blank has rightly said that mission is not assimilation, and a good help against assimilation is 1. »Spanisch«. 2. »Deutsch und polnisch«.

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the national life in Palestine. Both should be; one not without the other: both must be, missionary work and a strong life in Palestine: a healthy life in Palestine and strong missionary work. Two focuses and equilibrium between them. But missionary work presupposes missionary workers. There must be men fully living their Judaism, going out to other places to speak about our religion, the commandments, the hope, faith and certainty of our religion. They must go out, and in order to go out we must start somewhere a centre where young Jewish people can be educated and instructed to go out to do this work. Where can this centre be established ? It can only be in America. In America there are five million Jews, a Judaism full of dynamic power. Today there are two strong centres, Palestine and America. In America must be the centre, and this centre could be in Cincinnati. There is the right place, not Cincinnati isolated, the Hebrew Union College separated, but together the Hebrew Union College with the Theological Seminary of America, not isolationism but co-operation. To send out young people this way, these men and women must be of course Jews. Judaism is not something to be written in books, something known and forgotten, learnt anew and forgotten again, but the whole of life. They must be men, really men. In order to be indulgent and kind to others they must be earnest with and severe to themselves; they must be, so to speak, intolerant to themselves so as to be tolerant to others. There must be a trend of asceticism in them. They must be Jewish men, full of Judaism, of the strong Judaism, of the severe Judaism, of the Judaism that does not want a minimum but a maximum. A strong Judaism must live in them and a strong humanity must live in them. They will go out and it will be a wonderful dissemination. Here again, may I be allowed to speak a special word to our American friends who are here, asking them to take it to our friends who were not able to come. On Friday I appealed to our American friends. I told them that their honour was engaged to help, develop and rouse Liberal Progressive Judaism in Palestine, to help first and foremost the admirable educational work full of humanity that is being accomplished there. I repeat it. Shall our friends in Palestine think that they are abandoned? America is strong; Progressive Judaism there is strong. In Palestine Progressive Judaism is weak. The strong must help the weak. And now to other work. A place for missionaries must be established. We can no longer live without it. We would not see the signs of the times without seeing this. Our self-esteem, our self-respect ask 529

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it of us. The Jews of America can do it. They must do it. Here also their honour is engaged, not the one at the cost of the other, but both belong together. The missionary work will be a help to the national work, and the national work in Palestine will be a help to the missionary work. Begin to help, my friends from America, then others will follow you and hail your help. But to come to a conclusion. One thing is necessary, one question stands before us. Our destiny puts this question. Are we great enough for it? We must have great thoughts; we must begin to think highly, nobly, magnanimously. All depends on great ideas. One is inclined often to say: let anybody think what he may, if only he thinks in a great manner, if only the thoughts he thinks are great, noble thoughts. That is the future. There is many an old story in the Talmud that the sanctuary was destroyed by reason of the little-minded, the narrow-minded, the group-minded people. We must free ourselves from the group spirit, from the narrow mind, from the little thought. We must begin to hold the great ideas. Only a people, only a community with great ideas, with the great way of thinking, is able to have a mission, to send out missionaries. All depends on us. We should understand what the present time speaks to us, what it asks from us. May I conclude with the same words with which I concluded on Friday. New days wait for us; they expect us. Our God waits for us. »The Mission of Judaism. Its Later Development and Its Significance for World Judaism Today«. The Mission of Judaism: Its Present Day Application. Sixth Conference of the World Union for Progressive Judaism. London, [1949]. S. 72-76.

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Baeck scheint schon frh ein Interesse an Amerika und dem amerikanischen Judentum entwickelt zu haben. Bereits 1911, als er noch Rabbiner in Dsseldorf war und die Vereinigten Staaten noch nicht besucht hatte, schrieb er einen Artikel ber Amerika, der sich gnzlich auf Gelesenes und vielleicht auf Gesprche mit amerikanischen Juden, die er in Deutschland getroffen hatte, gegrndet haben muß. Er ist der positivste seiner Artikel und Vortrge zu diesem Thema. Er lobt die Trennung von Staat und Kirche, die Abwesenheit religiser Hierarchien und die erweiterte Rolle der Laien im religisen Leben. Er fand Ralph Waldo Emersons Ausspruch, daß Glaube sich durch gute Taten ausdrcken sollte, dem Judentum, so wie er es verstand, sehr frderlich. In seiner kurz zuvor erworbenen Eigenschaft als Großprsident des deutschen Distriktes des Ordens Bne Briss kam Baeck im Jahre 1925 zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten, um an einer Konferenz des Ordens in Atlantic City, New Jersey teilzunehmen. In Briefen an seine Frau Natalie in Berlin beschreibt er auf lebendige Weise seine Eindrkke. Nach seiner Rckkehr hielt er eine Ansprache vor den Mitgliedern des Ordens, die erheblich kritischer ist als sein Artikel von 1911. Hier erklrt er, daß Amerika immer noch ein Kolonialland sei und meint damit, daß es ihm an Kultur mangele – welche nur historische Erinnerung schaffen knne. Es besitze lediglich Zivilisation, das Vermgen, die Probleme der Gegenwart zu lsen. Außerdem sei Amerika, obwohl demokratisch, wenig liberal, da Liberalismus Vielfltigkeit voraussetze, und Amerika, wie er es nun sah, von bereinstimmung dominiert sei. Er stellte fest, daß der amerikanische Bne Briss rcklufig sei, weil seine Mission der Amerikanisierung ausgefhrt worden sei. Als ein positives Zeichen sah er aber Amerikas neue Anteilnahme an Europa nach dem Krieg und hoffte, daß diese Anteilnahme die amerikanischen und die europischen Logen enger zusammenbringen wrde. Nach dem 2. Weltkrieg besuchte Baeck Amerika hufig und erhielt 531

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dort eine Vielzahl von Auszeichnungen. Zweifelsohne die grßte war die Einladung im Jahre 1948 zu einem Besuch bei Prsident Truman und in das amerikanische Reprsentantenhaus, um dort am Geburtstag Abraham Lincolns ein Gebet zu sprechen. Hier ergnzte Baeck Lincolns berhmten Ausspruch, daß »wir der Geschichte nicht entfliehen knnen« mit einer Hoffnung, die seiner eigenen Erfahrung entsprang, daß uns »Geschichte gewhrt« werde. In den Nachkriegsjahren lehrte Baeck mehrere Semester am Hebrew Union College in Cincinnati. Im Jahre 1953 ehrte ihn das College zu seinem 80. Geburtstag und bat ihn, die jhrliche Ansprache zum Grndungstag zu halten. Zufllig begann die wchentliche Lesung der Propheten an diesem Schabbat mit Jesaja 43,21, welcher von Israel als »dieses Volk« spricht. Baeck, der zu dieser Zeit gerade an seinem Buch »Dieses Volk. Jdische Existenz« schrieb, nutzte die Gelegenheit, um von der Rolle zu sprechen, die amerikanische Juden, als Glieder des Volkes Israel, gegenber dem Weltjudentum und auch gegenber der christlichen Welt zu spielen htten, einer christlichen Welt, die nach dem Krieg zum ersten Mal ernsthaftem Dialog offen stand. * Amerika Die Vereinigten Staaten sind fr uns nicht bloß ein Land unter den Lndern. Wir knnen nicht an die Zukunft der Juden und des Judentums denken, ohne dorthin unseren Blick zu richten. Unter den wechselnden Erlebnissen, die der jdischen Gesamtheit in den letzten Jahrzehnten bestimmt waren, steht die große Wanderung, die die Unterdrckten des europischen Ostens nach der neuen Welt gefhrt hat, an geschichtlicher Bedeutung vornan. Genaue Zahlenangaben ber den Umfang dieser Menschenmassen fehlen uns. Doch schon das eine, daß Groß-Newyork in den jngsten Jahren zu einer jdischen Bevlkerung angewachsen ist, die von manchen auf eine Million beziffert wird, gibt ein Bild davon, was Amerika nur ußerlich fr die große jdische Gemeinschaft bedeutet. Aber es handelt sich nicht bloß um die rein wirtschaftliche Tatsache der Bevlkerungsverschiebung, auch im Religisen tritt die Wirkung hervor. Im neuen Lande, in der frischen sozialen und politischen Luft, die sie umweht, werden diese Menschen aus dem Osten auch innerlich anders; ihr Geistesleben, ihre seelische Art, ihr ganzes Verhltnis zur Welt bestimmt sich neu. Nicht nur der Jude wird amerikanisiert, sondern auch das Judentum. Im Dasein unserer Re532

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Amerika

ligion ist eine solche Akklimatisation nichts Vereinzeltes; unsere ganze Vergangenheit kennt sie und erhlt durch sie den besonderen Reiz und Reichtum. Die Flle des Mannigfaltigen in ihr, die Verschiedenheit z. B. zwischen Alexandrinern und Babyloniern im Altertum, zwischen Spaniern und Deutschen im Mittelalter, bestand nie allein in dem Schicksalsunterschied, sondern ebenso in dem des religisen Wesens. Aber so stark und eigenartig wie in Amerika hat sich diese Wandlung noch nirgends vollzogen, wenigstens nicht seit den Tagen, da die arabische Bildung in die spanischen Gemeinden eingezogen war. Kaum ein anderes Land hat aber auch eine solche Kraft bewiesen, die alte Art der Ankmmlinge rasch in sich zu verarbeiten und zu einer neuen Gestalt werden zu lassen. Jedes der Bekenntnisse, die drben heimisch geworden sind, hat sehr bald die amerikanische Haltung angenommen, sogar die so selbstsichere rmische Kirche. Wie entschieden auch die fhrenden Geister des »Amerikanismus«, von Pater Hecker 1 bis Erzbischof Ireland, 2 immer wieder ihre unantastbare Rechtglubigkeit betont haben, so unverkennbar bleibt es doch, wie in den Vereinigten Staaten der Katholizismus etwas ganz anderes ist, als in den brigen Lndern, in denen er herrscht oder wohnt. Eines kommt dieser Amerikanisierung zu Hilfe: die vllige Neutralitt, mit der der Staat jeder Kirche, jeder religisen Richtung gegenbersteht. Keine kann in ihm ihren Freund, keine den Freund der anderen sehen. Um eine Bevorzugung unmglich zu machen, lehnt die Verfassung jedwede gesetzliche Beziehung zu irgend einem Bekenntnis berhaupt ab. Der erste Zusatz zur Konstitution bestimmt: »Der Kongreß darf kein Gesetz geben, das eine religise Einrichtung betrifft oder deren freie Wirksamkeit hindert.« So kennt der Staat weder eine Landeskirche, noch ein herrschendes Bekenntnis; seine Gleichgltigkeit gegen alle bewirkt die Gerechtigkeit gegen alle. Die religisen Gemeinschaften haben, die eine wie die andere, dieselbe Freiheit und damit dieselbe Anerkennung fr ihr »Religionszeichen«, ihren religious brand, um diesen echt amerikanischen Ausdruck Mark Twains zu gebrauchen. Sie stehen gleichberechtigt bei einander und mssen, gern oder ungern, die auf »unserem Kontinent, dem alten,« so seltene Kunst ben, to agree 1. Isaac Hecker (1819-1888). Verteidiger des Katholizismus in einem demokratischen Amerika. 2. John Ireland (1838-1918). Vertrat die Ansicht, daß es keinen Konflikt zwischen der Katholischen Kirche und Amerika gebe.

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to differ, »der Verschiedenheit zuzustimmen«. Die jdische Gemeinde hat daher ihren Platz neben den anderen. Allerdings darf man nicht glauben, daß dieses, was so von Verfassungswegen feststeht, nun auch in der berzeugung aller schon sicher wurzele. Es ist in Amerika nicht eine gelegentliche Anschauung bloß, daß die christlichen Bekenntnisse ihren Vorrang besßen, daß, wie ein bekannter Rechtsgelehrter, Dr. Bryce, 1 es ausdrckte, das Christentum zwar nicht als Staatsreligion, aber doch als nationale Religion anerkannt sei. Ebenso wre es ja auch irrig, wollte man meinen, daß sich zwischen den Brgern der Republik keinerlei Schranken erhben. Der Kastendnkel mit seinem Scherbengericht besteht leider auch drben; gerade in letzter Zeit haben betrbende Vorkommnisse die Aufmerksamkeit wieder darauf gelenkt. Wie bei uns, so leben dort die Ideen und die Gesetze oft mehr ber als in den Menschen. Aber das Judentum hat nichts desto weniger seine unbestrittene Stellung. Wenn der Mann aus dem Osten auf dem neuen Boden auch die trennenden Wnde sich gegenbersieht, so ist das etwas, was gegen ihn, den Juden, sich richtet, aber doch nicht gegen das Judentum. Dieses Zweierlei hat Claude Montefiore 2 wohl im Auge gehabt, als er auf dem Berliner Religionskongreß darauf hinwies, daß, whrend in England die privaten Beziehungen zwischen Juden und Christen den herzlichsten Charakter angenommen htten, in Amerika die ffentlichen Beziehungen zwischen ihnen am weitesten entwickelt wren. Das Nebeneinanderleben der Bekenntnisse kann sich drben um so freier entfalten, da ihre Zahl eine so betrchtliche ist. Seine Gerumigkeit beweist Amerika auch in der Flle seiner religisen Erscheinungen mit ihren Gruppen und Gebilden. Und es ist eine Regel, daß die religise Duldung und Anerkennung mit der Zahl der Parteien und Richtungen wchst. Die Mannigfaltigkeit wird noch grßer dadurch, daß die Gemeinden ihre Selbstndigkeit besitzen und sie entschieden zu verteidigen bereit sind. Die meisten sind unabhngige Republiken, und selbst dort, wo eine bischfliche Verfassung einen engeren Zusammenschluß vieler und damit eine gewisse berwachung mit sich bringt, bleibt der einzelnen doch eine erhebliche Bewegungsfreiheit gewahrt. Zudem stehen die Laien voran; sie ben nicht nur in der Verwaltung ihren Einfluß aus, sondern unmittelbar in der ganzen Gedanken- und Bekenntnisrichtung. Ein gewis1. James Bryce (1838-1922). Britischer Staatsmann, Jurist und Autor. 2. Claude G. Montefiore (1858-1938). Intellektuelle Fhrungspersnlichkeit des liberalen Judentums in England und 1. Prsident der WUPJ.

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ser kirchlicher, fast theologischer Zug, der dem Amerikaner angelschsischer Herkunft eigentmlich ist, – der Amerikaner liebt es zu predigen und angepredigt zu werden – kommt dem entgegen. Selbst die katholische Kirche muß hier die Einwirkung der Laien, die ihr das »amerikanische« Geprge gibt, trotz allem gelten lassen. Fr den Juden ist diese freie Verfassung des Gemeindelebens nichts Neues, wie sie es etwa fr den einwandernden Protestanten ist; er braucht sich hierin nicht erst zu amerikanisieren. Die jdische Gemeinde ist seit jeher eine selbstndige Republik gewesen, von den vereinzelten konsistorialen Gebilden im neunzehnten Jahrhundert abgesehen, und sie ist immer eine Laiengemeinde gewesen, weshalb ja auch etwas so Ungeschichtliches in dem Versuche liegt, sie durch ein rabbinisches Veto zur Monarchie umzugestalten. Und auch in einer anderen Beziehung ist der Jude von vornherein Amerikaner: in der praktischen, sozialen Richtung seines religisen Daseins, wie sie seit jeher dem Judentum eignet. Denn ein gleicher Zug tritt in dem kirchlichen Leben der Vereinigten Staaten seit langem bestimmend hervor, geschaffen durch die zweimalige wesentliche Einwirkung, die es vom Mutterlande her erfahren hat, zum ersten Male, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, durch das Puritanertum und dann, anderthalb Jahrhunderte danach, durch den Methodismus. Beiden Bewegungen war es eigentmlich, daß sie in der Religion den ganzen Nachdruck auf die Bewhrung im Leben, auf den Beweis durch die Tat legten – wie es in einem Gedicht Emersons, dessen großer Einfluß eben dorthin geht, gefordert wird: »Laß in der Tat den Glauben sehen.« Sie haben das erzeugt, was man drben bisweilen »die jdische Temperatur« des Landes genannt hat, d. h. den »gesetzlichen« Sinn, der nach den guten Werken, oder um es wieder mit einer amerikanischen Rede, welche alten Orthodoxen in den Mund gelegt wird, zu sagen, nach den »verdammten guten Werken« strebt. Es drckt sich schon in der kirchlichen Sprache aus; ethical und social sind ihre Lieblingsworte, und die Theologie will gern »moralische Theologie« heißen. So sehr sich die einzelnen Denominationen unterscheiden mgen und so sehr die Neigung zu Stzen und Formeln oft vorhanden ist, jener »jdische« Zug ist allen gemeinsam. So finden die Juden in der Art des Landes, dem viele unter ihnen wie einem verheißenen nahen, mancherlei, was ihnen von vornherein gewohnt und vertraut ist. Nur eines, so mchte man meinen, was im besten Sinne Amerikanertum ist, mßte ihrem eigenen Wesen fremd sein. Fr das Volk der neuen Welt ist weniges so bezeichnend und weniges bietet der Beschftigung mit seinem geistigen Leben, 535

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wenn man z. B. die Werke eines Henry Thoreau oder Walt Whitman liest, einen solchen Reiz, wie das Jugendliche und Naive, das Furchtlose und Heitere, das ihm zu eigen ist, und das seinen besonderen Idealismus darstellt, den es im tiefsten Grunde besitzt. Die Menschen haben drben so viel Raum, wie ihn eben nur die Jugend hat, in ihren fliegenden Wnschen und Hoffnungen ihn zu haben meint. Und in diese jugendfrische Welt kommen nun die Juden, aus dem Lande bedrckender Enge zumeist, wie Leute mit altem Gesicht, dem die hoffnungslose Not sich in die Mienen eingezeichnet hatte. Aber das Wunder geschieht auf dem neuen Boden: die Juden amerikanisieren sich auch darin schnell, daß sie sehr bald die jugendliche Begeisterungsfhigkeit gewinnen oder richtiger zurckgewinnen; denn Jude sein, bedeutet im besten Sinne, Idealist zu sein. Sie werden hier Mnner der freien Luft und des freien Lichts, und auch in ihrer Religion beginnen die neuen Triebe zu keimen. Allenthalben regt es sich, drngend und hebend, im amerikanischen Judentum. Manchen mag es bisweilen bednken, als sei zu viel des Schwelgens und Treibens; aber all die Flle ist doch nur das Zeichen dieser naiven Frische, mit der das neue Land den Juden, sein ganzes Denken und Wesen, erfllt hat. Vielleicht ist es der Anfang einer Renaissance, wie das Judentum sie mehrmals, in seinen glcklichsten Zeiten, erlebt hat, die sich drben vorbereiten mag. Dann wrden in unserer Geschichte die Vereinigten Staaten ihren Platz gewinnen neben Palstina und Babylon und Alexandrien, neben Spanien und Deutschland. Liberales Judentum 3 (Aug. 1911): S. 190-192.

* Briefe von Baecks Amerika-Reise 1925 an Natalie Baeck in Berlin Atlantic City, 24. April 1925 Geliebte Natalie! Nun heute schon will ich in Gedanken, in meinen innigen Empfindungen Deinen Geburtstag mit Dir feiern und mich der Hoffnung freuen, dass diese Zeilen vielleicht gerade am 7. Mai bei Dir eintreffen. Und der Tag selbst soll dann auf dem Schiffe in mein Herz einkehren. Du weißt es, dass ich von dem Tiefsten meines Lebens am wenigsten sprechen kann und will. So will ich die Wnsche, die ich in mir trage und die ja immer bei Dir sind, nicht in Worten hineinlegen. Ihr 536

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Briefe von Baecks Amerika-Reise 1925 an Natalie Baeck in Berlin

bestes spricht ohne sie zu Dir; ihr bestes ist die Verbundenheit unseres Lebens. Mge, was Dir, was uns gegeben ist, uns immer erhalten sein. Die lieben Kinder habe ich gebeten, auf den Geburtstagstisch eine Tasche als mein Geschenk zu legen. Daß Du Dir ein Kleid bei [unleserlich] G. anfertigen lassen mchtest, habe ich Dir, glaube ich, vor meiner Abreise schon gesagt. Ich freue mich, dass Du Dir einen Mantel gekauft hast und auch fr unser Kind einen anfertigst. Hier soll die Tagung heute ihr Ende finden. 1 Was ich auf ihr erreichen wollte, ist im Wesentlichen erreicht, und, was wohl mehr noch bedeutet, es sind manche Beziehungen angeknpft worden, die der Verbindung zwischen Europa und Amerika einmal ntzlich sein knnen. Es wird sich spter zeigen, welchen Wert die Reise gehabt hat, und ob er den Mitteln und der Zeit, welche aufgewendet worden sind, entspricht. Die Aufgabe, die meiner Reise gestellt war, ist jedenfalls mit dem heutigen Tage beendet. Was nun noch dazu kommt, sind mehr persnliche Pflichten der Liebenswrdigkeit, Reden hier und dort und hnliches. Recht zufrieden werde ich sein, wenn die deutsche Prsidentenwahl 2 beendet sein wird. Ich werde immer wieder gefragt, welches nach meiner Ansicht das Ergebnis sein werde. Es ist nach dem, was ich hier hre, kein Zweifel, dass die Wahl Hindenburgs außenpolitisch ein schwerer Schaden fr Deutschland sein wrde, und die Wahl von Marx, die ich erhoffe, Deutschlands Ansehen hier in Amerika sehr heben wrde. Auf dem Wege nach Chicago werde ich das Ergebnis wohl erfahren. An Mama habe ich von Amerika aus direkt noch nicht geschrieben, aber meine Briefe kommen ja immer bald auch zu ihr. Ich muß die Zeit zum Schreiben immer mhsam gewinnen. Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’.

*

1. In seiner Eigenschaft als Großprsident des deutschen Distriktes des Ordens Bne Briss nahm Baeck an dem internationalen Treffen der Organisation in Atlantic City, New Jersey teil. 2. In den Prsidentschaftswahlen vom 25. April 1925 schlug Paul von Hindenburg, der Kandidat der Rechten, den Vorkmpfer der republikanischen Parteien, Wilhelm Marx.

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Chicago, 26./27. April 1925 Geliebte Natalie, diese Zeilen kommen nun also aus Chicago zu Dir. Die Reise hierher habe ich in zwei Abschnitten, einem kurzen und einem langen, zurckgelegt. Ein Herr aus Philadelphia, den ich in A.C. 1 kennen gelernt hatte, sandte fr mich und einen anderen Herrn sein Auto – oder wie man hier sagt: a machine – nach A.C., und ich machte so eine Fahrt nach Philadelphia, 2 Stunden, im Auto durch die frhlingsfrische Landschaft. Mit Hilfe des gleichen Fahrzeuges konnte ich Philadelphia, besonders den prachtvollen Park, kurzum in allen seinen Sehenswrdigkeiten kennen lernen. In der Villa des Autobesitzers nahm ich dann das Mittagsbrot mit großer Eleganz ein und konnte dabei erfahren, dass es, trotz Prohibition, in manchen Husern noch einen Weinkeller gibt. Die Fahrt nach Chicago legte ich in achtzehn Stunden zurck, in dem schnellsten amerikanischen Zuge, dem sogenannten Broadway Limited; hier trgt nmlich jeder der besonders schnellen Zge einen besonderen Namen. Der Zug bietet viele Bequemlichkeiten, man hat eine Stenotypistin, einen Barbier, eine Telegrammannahme im Zuge, ein Aussichtswagen, einen sehr gut ausgestatteten Speisewagen, der auch in das Abteil alle Speisen liefert. Natrlich kostet die Benutzung dieses Zuges auch eine Extragebhr. Dafr wird, wenn der Zug mehr als 55 Minuten Versptung haben sollte, ein Teil des Billetpreises zurckerstattet. Ich lege, da es Hermann 2 wohl interessieren wird, diesen Befundschein und die Bettkarte bei. Chicago ist eine interessante und durch die Lage am Michigansee sowie durch den Parkgrtel auch schne Stadt. Heute, am Dienstag, war ich den ganzen Tag Gast von Mr. Adolf Kraus. 3 Er fuhr mich in seinem Auto von 10-4 Uhr in der Stadt umher, um mir alle Sehenswrdigkeiten zu zeigen, zwischendurch nahmen wir in einem sehr eleganten Club, dem er angehrt, einen milchigen Lunch ein. 4 Er selbst bewohnt mit seiner Frau, wie es hier in Chicago blich ist, in einem Hotel ein appartement – 4 Zimmer und eine kleine interessante Kche –, mit einer wunderbaren Aussicht ber den Michigansee, der wie ein Meer wirkt und auch einen Wellenschlag wie das Meer hat. Zu der Familie gehrt eine deutsche jdische Krankenschwester, welche die leidende Frau pflegt. Sie hatten fr den 1. Atlantic City, New Jersey. 2. Hermann Berlak, Leo Baecks Schwiegersohn. 3. Adolf Kraus (1850-1928). Rechtsanwalt und von 1905 bis 1925 internationaler Prsident des Bne Briss. 4. Anscheinend waren die Fleischgerichte in dem Club nicht koscher.

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Abend – Abendbrot wird um 6 Uhr als Hauptmahlzeit gegessen – ein sehr gutes kstliches Dinner besorgt. Es waren behagliche Stunden, die ich dort verlebte. Von der Ausdehnung der Stadt wird Dir das einen Begriff geben, dass ich zur Heimfahrt von dem Hotel, in welchem Mr. Kraus wohnt, nach meinem Hotel in seinem sehr guten Auto eine volle Stunde Zeit brauchte. Das Hotel, in dem ich wohne und dessen Bild Du auf dem Bogen siehst, ist sehr gut. Ich wohne im zwlften Stock und habe einen schnen Ausblick ber die Stadt und den einen Teil des Sees. Morgen Mittag halte ich hier einen Vortrag mit vorangehendem feierlichen Lunch. Abends um acht Uhr fahre ich, auf der nrdlichen Strecke mit der Michigan-Central Bahn, nach New York zurck. Dort habe ich am Freitag und am Sonnabend einen Vortrag zu halten. Sehr viel Liebenswrdigkeit erfahre ich hier durch Herrn und Frau Dr. Sonderling; 1 er ist hier an einer der zahlreichen Gemeinden Rabbiner. Er riet mir auch, den Tag nach der Heimkehr in Lbeck, das sehr sehenswert sei, zu verleben. Die »Stuttgart« 2 wird voraussichtlich am 15. Mai in Bremen eintreffen. Vielleicht knntest Du durch Hermann feststellen, wann Zge von Bremen nach Lbeck gehen. Habe vielen Dank fr Deinen Radiobrief. Ich freue mich ber die guten Nachrichten von Euch. Die Tage bis zur Heimkehr werden nun rasch vergehen. Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’.

* Rede vor einer Bne Briss Loge Wenn der Europer seinen Weg nach Amerika nimmt, wenn sein Fuss den Boden der neuen Welt betritt, ist es eine ganz eigene Empfindung, die ihn erfllt, die Empfindung, ob er nun in das Land der Zukunft gekommen ist, in die neue Welt, die das Erbe der alten Welt einmal antreten soll. Es ist in der Geschichte immer ein schwieriges Ding, zu prophezeien. Oft in der Geschichte haben neue Mchte da gestanden und den Anspruch erhoben, das Schicksal der kommen1. Jacob Sonderling (1878-1964). Rabbiner am Reformtempel in Hamburg, bevor er 1923 in die Vereinigten Staaten auswanderte. 2. Schiff.

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den Zeit in ihren Hnden zu tragen und es ist in der Geschichte meist anders gekommen. Es ist zwar wahr, daß alle Geschichte eine Geschichte des Wandelns und Wechsels von Weltmeer zu Weltmeer ist. Einst in den frhesten Zeiten war das Mittelmeer das Meer der Welt, Weltgeschichte war das, was an den Ufern dieses Meeres sich abspielte. Dann in spteren Jahrhunderten, die unseren Augen nher liegen, ist der Atlantische Ozean, dieses Weltmeer im historischen Sinne geworden, ist die Geschichte ein Geschehen der Mchte, die an diesem Meere ihren Platz und die Gebiete ihres Einflusses hatte. Ist nun die Zeit des Atlantischen Ozeans auch vorbei, wird die Weltgeschichte nun von dem einen Gestade dieses Ozeans zum anderen hinrcken, oder wird der stille Ozean, das Meer der Weltgeschichte der Zukunft sein? Wer will prophezeien? Vor 30-40 Jahren, als die Zukunftsromane ber Welt in der Mode waren, erschien auch ein solcher Roman vom Leben der Welt im Jahre 2000. Da ist der geistige Mittelpunkt der Welt Timbuktu im Innern Afrikas. Wer will sagen, ob es so sein wird, was im Schosse der Zukunft der noch unverbrauchten Vlker liegen mag? Wenn wir uns vorstellen, dass vielleicht einmal im Jahre 400, im Jahre 300 unserer gewhnlichen Zeitrechnung ein gyptischer Priester aus Theben eine Forschungsreise in das Mittellndische Meer, in den atlantischen Ozean und dann in die Nordsee hinein unternommen htte und er dort das Land des Nebels betreten htte, das Land Galiens und der dann nach seinem gyptischen Theben zurckgekehrt wre und dort im Kreise der Gelehrten ber seine Reise berichtet und geschlossen htte: »Einst wird kommen der Tag, da werden die Palste und die Tempel unseres gyptens in Trmmern liegen, bedeckt vom Staube der Wste, und die Lnder dort, die Lnder des Nebels, des Sumpfes und Urwaldes, an dem kalten Meere des Nordens, werden die Heimsttte der Bildung, des Wissens sein, der Mchtigen ber die ganze Welt!« Wenn dieser Gelehrte so prophezeit htte, dann wrde sicherlich damals im Jahre 300 ein unglubiges Lcheln ber die Gesichter hingezogen sein und doch ist es so gekommen. Wer will sagen, welches das Schicksal der Welt im Jahre 2000 das vor uns liegt, sein wird. Solche Fragen beschleichen den, der zum erstenmale den Boden Amerikas betritt. Und wenn man dann im Lande sich umsieht, mit dem unbefangenen Blick dessen, dem die Gewohnheit noch nicht das Auge in die Enge eingestellt hat, dann drngt wohl eines vor allem sich auf. Amerika ist im Grossen heute noch ein Kolonialland. Zwar blicken die Vereinigten Staaten auf eine Geschichte, die ber ein Jahrhundert sich erstreckt, zurck. Zwar spricht man dort von 540

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den Kolonialzeiten, als einer Zeit, die in der Vergangenheit liegt. Aber es ist doch so. Das Land gibt heute noch immer das Bild eines Koloniallandes und die Menschen dort gewhren den Eindruck von Menschen der Kolonie. Denn was ist das Eigentmliche des Koloniallandes? Das Kolonialland hat die kurze Geschichte, die Geschichte die zu einer bestimmten Zeit begonnen hat und wer in dieses Kolonialland eintritt, der tritt in die kurze Geschichte, die eben erst angefangen hat, ein. »Amerika Du hast es besser, als unser Kontinent der alte, Du hast keine verfallenen Schlsser und keine Basalte«. So hatte Goethe ja schon von Amerika gesungen. Das ist der Gesang vom Kolonialland. Alle die alten Lnder haben ihre Kultur. Kultur bedeutet immer eine lange vertikale Linie, eine lange Verbindung mit den Jahrhunderten. Kultur kann man nicht herstellen, nicht machen, nicht fabrizieren. Kultur kann man nur ererben, in eine Kultur kann man nur hineingeboren werden. Denn wir sind doch nicht geboren worden, erst von den dreissig, vierzig, fnfzig, sechzig Jahren, vor denen der Gang unseres Erdendaseins begann, wir sind geboren worden vor Jahrhunderten schon, in unserer Seele lebt etwas vom Denken und Empfinden, von Generationen. In uns zittern und zucken alle Jahrhunderte, die vor uns geboren sind, alles worum Vter und Vorvter kmpften, alles was Sie erfhlten und erdulteten, was sie ersehnten und erhofften. Etwas von alledem ist doch in uns, in uns erlebt, unser Wesen ist ein Stck davon, unsere Seele ist daraus gebildet und geformt worden. Jeder von uns ist vor Jahrhunderten geboren worden. Mein Leben, das Leben von uns allen, hat vor Jahrhunderten und Aberjahrhunderten begonnen. Das ist Kultur und diese Kultur kann man nicht machen, so wenig man, wenn ein alltgliches als Vergleich gebraucht werden kann, Kohle machen kann. Kohle ist geworden in den tausenden von Jahren. Wir Menschen knnen sie nicht fabrizieren. So kann auch Kultur nicht fabriziert werden. Zivilisation kann hergestellt werden. Denn Zivilisation ist Sache des Werkzeuges, ist das, was der Baumeister, der Schneider, der Schuhmacher fr uns macht. Zivilisation ist das, was gemacht wird, was der Mensch sich kauft, was er in kurzer Zeit sich verschaffen kann. Aber Kultur ist immer Besitztum von den Jahrtausenden her. Und vielleicht ist ein Teil des Grundes, weshalb wir Juden uns von anderen unterscheiden, darin zu finden, dass aus unseren Augen Jahrtausende blicken, in unseren Ohren Jahrtausende das vernehmen, was die Weltgeschichte spricht und verkndet. Das ist Kultur, und die Koloniallnder sind Lnder, die der Kultur entraten. Wenn einer heute nach Australien, nach Amerika zuwandert, 541

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dann scheidet er, ob er es weiss oder nicht, ob er will oder nicht, aus seiner Geschichte aus und tritt in eine blosse Gegenwart ein. Der Europer, der nach Sd- oder Nordamerika geht, hrt auf, frher oder spter, ein Europer zu sein. Er hrt auf, ein Mensch zu sein, der aus Jahrtausenden oder wenigstens aus Jahrhunderten heraus geboren ist und er wird ein Mensch, der erst aus Jahrzehnten heraus geboren ist. Und umsomehr macht sich dies bemerkbar, da diejenigen, die nach Amerika kamen und kommen, doch zumeist Menschen gewesen sind, die zumeist im zweiten Jahrzehnten ihres Lebens standen. Und da ist das Bewußtsein der Geschichte im Menschen noch nicht lebendig. Das Neue fasst ihn strker an als das alte, es wird ihm leichter aus der Geschichte auszuscheiden und in die Gegenwart einzutreten. Die Amerikaner machen auf uns, auf jeden Europer wohl einen Eindruck von Kindern, denn ihre Harmlosigkeit, ihre Unbekmmertheit um das, was in Jahrtausenden geworden ist, macht den Eindruck von naiven, kindlichen Menschen. Das ist der Kolonialmensch: seine Geschichte hat vor Jahrzehnten erst angefangen. In allen Kolonien, es gilt dies von den alten Kolonien der Phnizier, der Griechen, ganz wie von den Kolonien der neuen Welt, hat die Zivilisation vor allem immer sich ausbilden knnen, das also, was mit dem Werkzeug hergestellt werden kann. In Amerika ergreift diese Zivilisation, diese Fhigkeit, alles herzustellen, den Menschen besonders stark. Alles erscheint im Vergleich zur alten Welt addiert, in einer hheren Ziffer, die die Huser nicht vierund sechsstock hoch, sondern vierzig und sechzig, die Strasse nicht von hundert, sondern von hunderttausend Fahrzeugen bevlkert. Das ist die Eigenart der reinen Zivilisation, das ist die Strke und das ist die Schwche Amerikas. Die Schwche Amerikas ist dieser Mangel an Kultur, der eben nicht ererbt werden kann, dieser Mangel, der aus einem weiteren Grunde sich besonders geltend macht, das nmlich die meisten im zweiten Jahrzehnten ihres Lebens dorthin kommen, also in einer Zeit, in der der Mensch in der alten Welt eine Lernender noch ist, vielleicht erst zu lernen beginnt, dort schon ein arbeitender sein muss. Wenn man Persnlichkeiten dort spricht und von ihrem Leben sich erzhlen lsst – und die Menschen dort erzhlen gern, der Amerikaner hrt gerne predigen und predigt gern und darum hnelt auch das Rituale der amerikanischen Logen einer Predigt – wenn Menschen von ihrem Leben sprechen und predigen, erzhlen sie immer, wie ihr Leben ein Leben des Kampfes mit dem Tag war, aber nie des Kampfes mit den Jahrhunderten. Probleme klren die Amerikaner wenig. Er kmpft mit dem Tag und darum hat er die Erfolge, darum schafft er diese technische Zivilisation. Da542

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durch wird auch diese Amalgamierung bewirkt, diese Uniformierung, welche Amerika herzustellen vermag. Wer in die Vereinigten Staaten eintritt, kommt damit in ein neues, in ein junges Gebilde hinein. Er selbst kommt jung hinein und so wird es leicht, dass die Menschen einander angehnelt, angeglichen werden. Es ist die Philosophie Amerikas, diese Philosophie, wie sie brigens auch in der Schulphilosophie des James’schen Pragmatismus 1 sich ausspricht. Schon im usseren ist es so, die Kleidung ist die gleiche, die bartlose Tracht ist im Grunde Ausdruck dieser Uniformierung. Alles was im Menschen sich individuell gibt, wird besiegt, die Sprache ist dieselbe. Das was selbst in kleineren Lndern Europas Provinzen von einander unterscheidet, die dialektische Eigentmlichkeit, ist in Amerika nicht vorhanden. Wer in Deutschland, in Europa von einer Grenze zur anderen reist, bedarf dreier Sprachen, um mit den Menschen in verstndlicher Unterhaltung sich geltend zu machen. In Amerika kann man vom atlantischen zum pazifischen Ozean hinreisen, man kommt aus dem Gebiet der englischen Sprache nie heraus. So wirkt alles zusammen, um die Menschen gleichmssig zu machen. Wenn ein kleines Scherzhaftes angefhrt werden darf: Die mnnliche Haartracht der Frauen ist auch ein Ausdruck dieser Uniformierung Amerikas, das Individuelle, das trennende gilt nicht als das nicht richtige. Allen anderen gleichen, ist der Ausdruck des Wesens dieses Landes. Wenn man in einer Sitzung, wo hundert und zweihundert Menschen zusammen sind, am Morgen einander trifft, wird man von jedem mit dem gleichen Worte empfangen, mit dem gleichen Akzent begrsst. Das ist das Charakteristische und das ist die Grsse dieses Landes auch. Wenn eine Bewegung in diesem Land entsteht, dann rollt sie wie eine gewaltige Walze dahin. Es gibt darum kein Land, in welchem es so wenig Liberalismus gibt, wie in Amerika. Es ist das Land der Demokratie. Aber Demokratie und Liberalismus sind zwei, durchaus getrennte Dinge. Vor einigen Jahren erschien ein Roman, der den Amerikanern der Vereinigten Staaten den Mann aus den mittleren Schichten besonders gut schildert. Ein Roman von Upton Sinclair. 2 Dort ist es geschildert, wie es beinahe die Snde wider den heiligen Geistes ist, wenn einer anders sein will. Sein wie alle sind, das ist die Philosophie des Landes. Darin liegt die Grsse der Gewalt, der Macht die dieses Land auch bringen kann. Darum gibt es ja auch 1. William James (1842-1910). Amerikanischer Philosoph und Psychologe, Befrworter des »radikalen Empirismus«. 2. Gemeint ist wahrscheinlich Sinclair Lewis’ Babbit (1922).

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im politischen Leben im Grossen nur eine Partei. Es gibt nominell zwei Parteien, die Republikaner und die Demokraten. Der Versuch, den La Follette unternommen hat, eine Gruppe zu grnden, ist vllig fehl geschlagen. 1 Aber beide Parteien sind im Grossen dasselbe. Es sind verschiedene Formen fr das, was im Grossen das Gleiche ist. Das ist die Art des Koloniallandes, des Landes, welches mit Bewusstsein geschichtslos sein will, das Land, welches alles das, worin die Jahrhunderte und Jahrtausende differenzierten nicht hat und nicht haben will. Wie wirkt das alles nun auf die Juden dieses Landes? Wenn man Juden des Landes von ihrem Leben erzhlen hrt, aus allem klingt ein tiefer Dank gegen Amerika hervor. Wenn man die Lebensgeschichte, in der unser Ordensprsident Adolf Kraus 2 die Jahre durch Jahrzehnte seines Ringens und Gelingens erzhlt, zu sich sprechen lsst, das ist es vorallem, was an unser Ohr dringt, dieser tiefe Dank gegen Amerika. Man kann es verstehen, wie er nach Amerika kommt, oder vielleicht muss mit einer kleinen Einschrnkung gesagt werden, whrend der Vorkriegszeit nach Amerika kam, unter einem starken Eindruck stand. Er stand unter dem Eindruck eben dieser Gleichmssigkeit und das bedeutet, in eine Richtung hineingefhrt werden, da jeder Weg fr jeden offen ist. Es gibt nichts, was als Erbe in Anspruch genommen wird. Das ganze Land ist gleich, das bedeutet doch, das ganze Land steht jedem offen. Auf der Konventionsgrossloge war ein alter Bruder zum Marshall der Tagung bestimmt, der vielen, die dort hinkamen, seine Lebensgeschichte erzhlte. Er kam als junger Mensch von 14 Jahren aus einer kleinen Stadt Ostpreussens, fing an als Hausierer, und zeigte sein Bild, wie er mit mehreren anderen Hausierern und den Pack den er trug, dargestellt wird und erzhlte dann die zweite Etappe. Er kann sich Wagen und Pferd anschaffen. Der Weg fhrt ihn mit seinen Waren durch das Land. Dann der 3. Abschnitt. Er kann sich ein Huschen kaufen und nun hat er einen stehenden Handel. Mit dem Stdtchen, in dem er sein Huschen hat, wchst er selbst. Aus dem Kaufmann wird ein Bankier. Er tritt in die Politik ein. In die Politik eintreten, das heisst im amerikanischen so viel, wie in die Holz- oder Lederbranche eintreten. Die Politik bringt Einfluss und Macht und die Politik bringt Geld. Er ist zuletzt der Schatzmeister seines Staates und als 1. Robert La Follette (1855-1925). Fhrte 1924 als Kandidat der Progressiven Partei, die er selbst gegrndet hatte, eine erfolglose Wahlkampagne um die Prsidentschaft der Vereinigten Staaten. 2. Siehe oben.

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letztes Dokument seiner Lebensgeschichte zeigt er einen fnfzig Dollarschein, der seine Unterschrift trgt. Weil das Land jung ist, gibt es keine Barrieren und keine Schranken. Man muss sich in das Empfinden denken, der Menschen die das erlebt haben, hineinversetzen. Gewiss: Es gibt auch solche, welche unter die Rder kommen. Aber von denen erzhlt niemand. Es ist die alte Geschichte von dem griechischen Philosophen Diogenes, den einer zum Glauben an Poseidon bekehren wollte und in den Tempel des Poseidon fhrte, wo er ihm alle Gewnder zeigte, welche dort als Weihgeschenke aufgehngt waren, die nach gefhrlicher Seefahrt glcklich in den Hafen hineingelangt waren. Und er fragte Diogenes: »Glaubst Du nun endlich an Poseidon?« Und Diogenes antwortete: »Wo sind die Gewnder derer, die im Meere ertrunken sind?« So ist es natrlich drben auch. Wo ist die Lebensgeschichte derer die untergegangen sind? Aber die Geschichte zeichnet immer nur die Sieger auf und man muss sich nur in die Empfindung derer hineinversetzen, denen Amerika dieses gegeben hat, dieses Land, das nur Gegenwart hat, wo man nicht unter den Lasten der Jahrhunderte seufzt, wo man nur mit dem Tag zu tun hat, Amerika, das Land der Freiheit. In den amerikanischen Logen ist in der Mitte des Tempels ein Altar angebracht und ber ihn die amerikanische Flagge gebreitet. An der Eingangstr der Synagogen, auch der orthodoxen ist in der Regel die amerikanische Flagge angebracht. Als die Konventionsgrossloge erffnet wurde, das war der Beginn, dass die Flagge ber dem Sitz des Prsidenten angebracht wurde und spontan alle die Nationalhymne anstimmten. Das ist dort keine blosse Form, das ist Wirklichkeit des Empfindens. Das ist wie ein Gottesdienst. Wenn die Flagge dieses Landes der Freiheit sich ausbreitet, die Flagge unter der diese Menschen ihren Weg gefunden haben, den ihnen die alte Welt nie erffnet htte. Der Glaube an Amerika ist drben Stck des Lebens. Gepredigt wird zuerst und zuletzt. Immer ber Amerika, das ist dort ein Stck der Religion, keine Form, sondern ehrlicher Glaube und darin haben die Logen Amerikas ihre Aufgabe erblickt, einzufhren in den Glauben an Amerika. Das ist dort eine wahre Aufgabe. Ihnen selbst, so denken diese Brder, hat Amerika das alles gegeben, was sie erreicht haben. Was kann den Neuankommenden besseres gewhrt werden, als dass sie in den Glauben an Amerika eingefhrt werden. Amerika lsst jedem, der hinkommt, zunchst seine Eigenart. Er kann sprechen, in welcher Sprache er will. Wenn man in der Untergrundbahn fhrt, sieht man neben sich eine jdische Zeitung gelesen werden, eine hebrische, eine englische und niemand nimmt Anstoss daran, weil man drben von der Kraft Ame545

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rikas fest berzeugt ist. Frher oder spter wird jeder, der hinberkommt ein Amerikaner. Das wollten die Logen den ihrigen geben und das ist die grosse Aufgabe, welche die Logen drben erfllt haben, eine Aufgabe, fr die sie ursprnglich gegrndet waren, alle die Neuankommenden in Amerika aufzunehmen, ihnen im Tempel, in der Pforte die zum Tempel fhrt, eine Pforte zu ffnen, die sie in das Leben Amerikas hineingeleitet. Diese Aufgabe haben die dortigen Logen wunderbar erfllt. Jeder Fremde war willkommen. Das, was bei uns so leicht wie eine Phrase klingen kann, daß wir jeden edeldenkenden Israeliten einladen, an unseren Arbeiten teilzunehmen, dort war es Jahrzehnte hindurch eine Realitt. Jeder Einwanderer war willkommen, jeder wurde herbeigerufen um teilzunehmen am Leben des Ordens. Es liegt darin etwas Grosses, denn wir Menschen sind doch geneigt jeden, der neu ins Land kommt, als Nebenbuhler zu betrachten. Gewiss, Amerika ist ein Land, in dem viel Platz ist, in dem die Konkurrenz nicht so eng drckt, aber doch ist es wieder einer, der auch sein Stck am Gesamtertrag, den das Land zu vergeben hat, beansprucht. Man hat in ihm nicht den Konkurrenten gesehen, sondern ihn als Bruder willkommen geheissen, indem man ihn auf dem Wege durch den Logentempel in das amerikanische Leben hineinfhren wollte. Im Glauben an Amerika sind diese Logen geschaffen worden, im Glauben an Brderlichkeit und Wohlwollen, welche im Namen Amerikas, im Namen des Landes der Freiheit ihm gibt. Diese Leistung der amerikanischen Logen ist unvergleichlicher Bewunderung wert. Sie haben Generationen von Einwanderern aufgenommen in das amerikanische Dasein, aber damit ist zugleich ein kritischer Punkt fr die Logen in Amerika bezeichnet. Es ist kein Zweifel, dass das letzte Jahrzehnt oder die letzten anderthalb Jahrzehnte schon fast einen Abstieg im Leben der B B-Logen in der neuen Welt bezeichnen. Die Einwanderung in ihrer grossen Flle hat aufgehrt, die die einwandern, knnen nicht unmittelbar heute in das amerikanische Leben hineingefhrt werden, weil sie aus einem Ghetto kommen. Sie bedrfen gewissermassen einer Zwischenstation. So konnten die Logen nicht mehr diese Aufgabe vor sich sehen und so kam eine gewisse Stagnation in das Logenleben hinein. Schon die Ziffern sprechen. Es gibt eine Zunahme, die wegen ihres geringen Ausmasses schon fast eine Abnahme ist. Viele Persnlichkeiten, die in frheren Jahrzehnten fhrend im Orden gewesen wren, bleiben ihm heute fern. Andere Vereinigungen, vorallem die Freimaurer ziehen zehntausende von jungen Brdern an sich. Es ist begreiflich, dass es so ist. Die Aufgabe, die man bisher gehabt hatte, die einem Lebenskraft und Lebensbedeutung gegeben hatte, ist 546

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nicht mehr da. Und so wird das letzte Jahrzehnt bezeichnet durch ein Suchen der neuen Aufgaben. Man hat die neuen Aufgaben gesucht, indem man die Abwehr des Antisemitismus, der hier und da auch in Amerika sich erhebt, aufs Programm gesetzt hat, indem man die Logengedanken nach Norden und Sden, nach Kanada und Mexico hinberfhrte. Aber das ist eine Aufgabe, die nicht kraftvoll genug ist und so steht der Orden drben unstreitig an einem Wendepunkt. Die Tagung in Atlantic-City 1 war fr den der hren wollte – es wurde nie ausgesprochen – charakterisiert durch das Suchen der neuen Aufgaben. Wir in Europa haben diesen kritischen Punkt kaum zu berwinden gesucht. Fr uns ist ja das besondere Ziel, die Ausbildung der Individualitt, die Erziehung des Einzelnen. Das ist eine Aufgabe, die immer neu wird, die mit jedem Bruder, der eingefhrt wird, ihre Renaissance erlebt. In Amerika kennt man diese Aufgabe nicht, weil es der geschilderten Eigenart dieses Landes widerspricht. Das, was uns ein Wertvolles und Unentbehrliches unserer Logensitzung ist, das ist dort ein Unbekanntes. Wenn dort drben dieser kritische Punkt kam, so hat dies auch noch einen anderen Grund. Die Mnner, welche die Logen unseres geliebten Ordens in Amerika zuerst gegrndet hatten, waren Mnner, die aus Europa kamen. Unser Ordensprsident Adolf Kraus ist ein Kind unseres Landes, und mit herzlicher Liebe spricht er immer von diesem bhmischen Lande, aber auch alle die anderen Mnner, sind Mnner, die aus Europa gekommen sind, die doch trotz allem eine Verbindung mit Europa fhlten und in dieser einen Kulturbesitz hatten. Diese Mnner sind nun nicht mehr da, sie sind gestorben oder alt geworden und aus der Leitung ausgeschieden, und die neue Generation ist in Amerika geboren und ganz amerikanisiert, zudem durch die Kriegs- und Nachkriegszeit von Amerika in ein anderes Gebiet des Denkens, in den Gegensatz gegen Europa hineingefhrt worden. Vielleicht haben wir B B in Europa ein kleines Stck Schuld an dieser Trennung, die bisweilen fast eine drohende war, selbst uns zuzuschreiben; man hatte drben in Amerika vor uns in Europa im Stillen und auch unausgesprochen einen grossen Respekt. Man empfand die Kultur, die in unseren europischen Logen lebt, man bewunderte sie. Etwas von dieser Bewunderung ist geschwunden. Nicht durch den Krieg, sondern durch etwas anderes. Als ber manche europische Lnder die Zeit der Not kam, haben viele einzelne sich mit der Bitte um materielle Hilfe nach Amerika gewendet. Es 1. Die Generalversammlung des Bne Briss, an der Baeck 1925 in Atlantic City, New Jersey teilnahm.

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liegt im Wesen des Amerikaners, dass er keinen grossen Respekt vor dem hat, der ihn um etwas Materielles bittet. Er hat die Empfindung in sich aufkommen lassen, dass die europischen B B doch geringer, niedriger seien, als die B B in Amerika, fast mchte man ein hartes Wort gebrauchen, dass wir Bettler gegenber Amerika seien. Das hat den Respekt, den man drben Jahrzehnte vor uns hatte, bedenklich vermindert. Und wenn der Respekt vor uns wieder wachsen soll, mssten wir unbedingt Amerika ein Moratorium gewhren, ein Moratorium des Gebens, ein Moratorium des Gebetenwerdens. Auch das bezeichnet, warum einen kritischen Punkt im Leben der Logen in der neuen Welt. Es beginnt jetzt drben eine neue Zeit, deshalb, weil der Krieg eine Wandlung in den Geistern in sich gebracht hat, eine Wandlung, sehr vielfach zum Schlechteren, aber mannigfach auch zum Besseren. Die Probleme des Jahrhunderts beginnen nun auch allmhlich zu den Amerikanern zu sprechen. Eine neue Literatur beginnt. Whrend der grosse Dichter Whitman ein einsamer geblieben ist, beginnen jetzt die tiefen Gedanken auch zu den Amerikanern zu sprechen und viel wird fr die Logen drben davon abhngen, dass sie sich diesen Gedanken erffnen. Wenn Ihnen das gelingt, dann ist damit das strkste Band des Zusammenhangs mit uns gegeben. Es ist eine stolze Geschichte, auf der das Leben der Logen in Amerika beruht und ihre Geschichte ist ja auch unsere Geschichte. Wir sind als B B von Amerika nach Europa herbergekommen. Der Logengedanke hier, ist ein Kind des Logengedankens drben, das Kind ist anders geworden, als der Vater. Aber Vater und Kind und Kind und Vater fhlen sich miteinander verbunden. Ob drben die neue Welt beginnt, die neue Geschichte – es ruht im Schosse der Zeiten. Wie aber immer es kommen mag, Altes und Neues wird durch eines verbunden, durch das Ideal. Eltern und Kinder, wenn sie von Ntzlichkeiten reden, dann empfinden sie, wie sie getrennt von einander sind. Vter und Shne, aber, wenn sie vom Ideal reden, wenn sie dem Ideal sich erffnen, dann fhlen sie es, wie sie einst sind, verbunden im Innersten und Tiefsten. Drben ist eine andere Art als hier. Aber drben und hben will es ein Weg zum Ideal sein, zu unserem Ideal, dem Ideal des Glaubens an all das Gute, das je im Menschen lebte, das im Menschen immer leben will, der Glaube an Brderlichkeit, an Wohlwollen, an Eintracht. Wir knnen im letzten Ende immer nur glauben an das, was wir tun. Wenn wir Vertreter des Ideals sind, jeder auf seinem Platze, in seinem Knnen, mit seinem Tun, das Ideal verwirklichen, dann glauben wir alle an das Ideale. Und wenn drben in der neuen Welt 548

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und hier in der alten alle die B B, die Zehntausende drben und die Tausende hier, wenn sie alle an das Ideale glauben, weil wir nach dem Ideal handeln und tun, dann bleiben wir verbunden, dann sind wir ein Orden durch nichts getrennt, auch nicht durch das Weltmeer, ein Orden, der kundtut, dass es doch etwas gibt, was mehr ist, als Grenzen und Schranken, dass das Ideal die Menschen zusammenfhrt und hlt. Wir B B dann ein Vorbild fr alle! Dieser unverffentlichte Vortrag entstand wahrscheinlich nach Leo Baecks Amerikareise im April 1925, wo er an der B’nai B’rith Convention in Atlantic City teilnahm. Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. CJA, 1, 750 BA1, Nr. 38, #13261, Bl. 1.

* Gebet im Reprsentantenhaus am 12. Februar 1948 Our Father, our God, we pray unto Thee on this day on which sixscore and nineteen years ago was born that man who came to be Thy servant, »the man in whom is the spirit,« and who for the sake of this land became witness and testimony of humanity, herald of Thy command and Thy promise, to the everlasting blessing of this country and of mankind. 1 Our Father, day by day Thou sendest forth Thy messengers, Thy angels – our chances to be unselfish and righteous, our opportunities to walk in Thy ways – they are the messengers that come from Thee. We must not miss them nor disregard them. Almighty God, Thou choosest people and selectest nations »to bring them into the place which Thou hast prepared«; 2 Thou changest the times and the seasons; Thou makest history enter the world. Thy servant, Abraham Lincoln, in a message to Congress, said, »We cannot escape history,« so help us, O God, that we may not evade history, but may we be granted history. Reverently I pray Thee to bless Congress, its men, and its days. From the bottom of my heart I pray: God bless America. Congressional Record – House. Washington, 1948. S. 1275.

* 1. Gemeint ist Abraham Lincoln, dessen Geburtstag es war. 2. Nach Ex 23,20.

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Ein Meilenstein in dem Leben eines Volkes Today the Jewish people faces a crisis, the crisis indicated by this fact: that nowhere, neither in Israel nor America nor elsewhere, can yesterday’s answers be answers for the present. Our future depends on whether and how our generation will strive for its reply. There is a three-fold sphere of Jewish life today: that of historic achievement, Europe; that of solid reality, America; that of faithful adventure, Israel. Each is an entity in its own right. Israel is not to be Americanized or Europeanized, nor is America to be Israelized. The three today are the components of the Jewish people, each giving its characteristic expression of our Jewish faith. Conscious of themselves they may listen to and learn from and help each other. Together they will struggle for the answer which today’s Jewry needs, to the end that our crisis may prove to be the beginning of a new epoch. »A Milestone in the Life of a People.« Founder’s Day Services Commemorating the Seventy-eighth Anniversary of the Hebrew Union College and Honoring the Eightieth Birthday of Dr. Leo Baeck. [Program] Cincinnati, [1953]. S. 2a.

* Ansprache zum Grndungstag des Hebrew Union College in Cincinnati Today’s Haphtarah 1 starts with an epigrammatical phrase which sounds like a proclamation, like a solemn title to Jewish history. It is one of those terse phrases that are the final result of steady reflection. Frequently the toil of deliberation is an act of condensation and compression; in the course of thought a paragraph becomes a sentence and the sentence at last one word, one concise phrase. And such is the phrase that opens our lesson: ‘am zu, »this people« 2 – in the succinct Hebrew tongue, two short syllables, and the whole of history seems to be held in the phrase – ‘am zu, »this people.« And then the sentence which follows: »This people,« so the Lord says, »This people I have formed for myself; they shall show forth my praise.« (isa. 43.21). 1. Die wchentliche Lesung aus den Hebrischen Propheten, in diesem Fall Jes 43,21-44,23. Diese Ansprache wurde am 21. Mrz 1953 gehalten. 2. Baeck arbeitete zu dieser Zeit gerade an seinem letzten großen Werk Dieses Volk (siehe Bd. 2 dieser Werkausgabe).

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In the Babylonian exile, in a time which, like ours, was a time between times, a prophet spoke this word or, better said, he quoted it – prophets and psalmists used to quote older words – and certainly he had rethought it, intensely retraced the road which had led to it. Earlier, our word had been coined by one of the greatest poets of the Bible, the author of the so-called »Song at the Sea.« 1 To him the aspect of this people Israel walking in the midst of the sea appeared as the symbol of its perennial history: the surging and breaking waves and, in their midst, ‘am zu, »this people.« Twice he thus exclaims: »Thou, in Thy mercy hast led forth this people, which Thou hast redeemed« (ex. 15-13) and their: »Till Thy people pass over, O Lord, till this people pass over that Thou hast gotten« (15.16). What is the meaning of this word? Perhaps the answer will show the angle from which we may view this day – this day that calls to our mind the founder of our College 2 and the heritage he has left us. What does our word mean? Without a doubt, he who molded and he who repeated it wanted to emphasize the thought that the people Israel, this Jewish people, is a people of marked individuality and is therefore able, and is therefore also destined, in the ups and downs of human evolution, to develop and to exemplify moral, spiritual, religious personality. One could also say to exemplify man’s likeness to God, mankind’s relation to God – destined to be not only a people, but »this people« – that is to say: a people of human history, by way of a Human history, for Human history, of and by and for that genuine history that can be a contribution to humanity – in a word: to be an historic people. To be an historic people: this is its appointed task and an exacting task, even as it is hard to be set into historic days – as we in our generation are sorely aware. If today we look back to the years when Isaac Mayer Wise patiently and farsightedly pursued his work, we look at a distinctly different time. On the whole, in this land that was a time when men had a feeling of great accomplishment – that is to say, it was to some extent an easy time. The long combat was finally over, the battlegrounds had become fields of glory, doors of hope seemed to stand wide open, one was convinced one lived in a matchless new world, convinced that a decisive step towards human perfection had been taken. Such an air the founder of our College breathed. 1. Ex 15,1-19. 2. Rabbi Isaac Mayer Wise (1819-1900). Er wurde am 20. Mrz in dem Dorf Steingrub in Bhmen geboren.

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And they who stood at his side and who worked with him may today quite especially be mentioned here, and one of them in particular, one who passed away just fifty years ago, for many years a prized and cherished member of our faculty, for three years the President of our College, Moses Mielziner, 1 born a teacher, a clear-headed scholar, a trusty guide in the two large spheres of the Talmud – the ordered and the complicated – and, not least, a kind and gentle man. If we recall those days and those men, if we read again what they said, some sentiment of envy may awake in us: they were happy men in happy days. They believed the time to be, as it were, a pre-messianic time, on the threshold of fulfillment. Of course, they had their complaints as well, their struggles – protracted and sometimes hot struggles. There was the struggle between the generations, this incessant struggle without which mankind would fall asleep. There was the struggle for the reforming of the Jew and of Judaism, carried on in different ways – the struggle against deforming as well as against »outforming.« There was the struggle for Jewish unity waged against parochialisms, dogmatisms, and presumptions. But always these men could clearly see before them the clear road and the distinct goal that never seemed to recede, towards which they could steadily move onwards. Days were with them; time was their ally. One can understand that they felt a self-satisfaction, naive, perhaps, but always honest and clean, vividly contrasting with the measure of self-glorification that is frequent in our days. In such a manner and in such a time they achieved conspicuously, significantly. First and foremost, time and again, Isaac Mayer Wise should gratefully be praised. The more one considers him the greater the admiration. What later days were able to build they built on the foundations which he laid. And if we ask what gave him this vision and patience, this enthusiasm and realism, we could dare to say: the source his strength flowed from was his consciousness of what the word »this people« was to mean in the highest sense of the word; that is to say, his awareness of an historic task that the Jewish people must confront ever anew. He was an outstanding organizer, one of the most remarkable men that any Jewish community had ever seen. But his aim was not the organization, for the sake of the organization and for the glory of the organization; his aim was the nobility of the Jewish faith and Jewish hope for the sake of which one needed an organization. To him con1. Moses Mielziner (1828-1903). Professor des Talmud am Hebrew Union College und Prsident des College von 1900 bis 1903.

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stantly and vividly spoke something like this word: ‘am zu, »this people I have formed for myself; they shall show forth my praise.« And now, since faithful remembrance is a call to us, the main question of this day, that which we ourselves are asked, is the question whether and how far this word is to us, in our present time, a summons and appeal. We live in other days than Isaac Mayer Wise, in days more problem-filled, days which perhaps are critical. In our lifetime many events have been compressed together. A century ago, a man who had seen »the days of his years« had experienced the particularities of two or three generations and had needed to accommodate himself to their distinctions and their claims. Today, in some lengths of life, men meet not with three generations only, but with three periods of history, contradictory periods with their breaks and dislocations. In our days, men, and quite especially Jews, had and have not only to keep to and to advance in a given direction, but they have to look into the face of a new science, to give ear to ever new voices, and to learn and relearn again and again. Ever afresh, we have to ask ourselves, all of us, what in this troubled, quivering, and expectant world is the destiny of this people, its right to its position and the position of its right. Somewhere and somehow, all of us have come and do come to face this question. More than ever before, it is in our days a serious task to be a rabbi here; and more than ever before, it is therefore a heavy task to be the President of this College. 1 One hard fact is to be added, a vital one. More and more, in all historical and social spheres and mostly in the Jewish sphere, centers have shifted, and America, not wanting it nor prepared for it, has become a focus of duty, American Jewry a focus of Jewish duty now. A hundred years ago, American Jews could be, and had almost entirely to be, engaged in their own Jewish tasks and problems. They lived in a land without precedents, really in a new land, the land of the new. In their Jewish compass, also, they had to embark on attempts and experiments of the new. The sense and the fact of the priceless moral possession that was granted them here did not permit them to shirk this task. They had to launch an American way of Jewish living and Jewish service; they had to set about evolving a kind of American Jewish theology and, in later days, a kind of American Zionist doctrine. In their days, in great measure, they had, so to

1. Nelson Glueck (1900-1971). Bibelarchologe, der 1947 zum Prsidenten des Hebrew Union College gewhlt wurde.

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speak, to be isolationists, and perhaps at times also somewhat selfassertive. All this was their historic role. But since that time the world has changed, indeed. In the world of today, isolationism has been overcome, not, to be sure, by means of the vote of an assembly, but as the result of a forceful development which has transformed all of the relations of nations. Remote peoples have become neighboring peoples and distant problems have come to be nearby problems. Perhaps it is not always wholly pleasant to have close neighbors all around, but such is the world of today and so seemingly will be, and perhaps even more so, the world of tomorrow. This is a general fact, an incontrovertible one, and quite singularly it is a Jewish fact also. And each true fact embraces a duty – an indisputable duty, as a general so a Jewish duty. That is to say: American Jewry as a focus of power now is charged with large and heavy duties, with the great duties which this great Jewish community itself thus imposes and at the same time, with important all-Jewish duties. History has assigned these duties. They were not chosen, but they are to be fulfilled. In the words of the greatest American of the 19th century: »We cannot escape history.« 1 Thus, the American Jew has now to think in terms of the whole of Jewish life and Jewish hope, or not to think at all. Leaders of American Jewry are to prove to be leaders also of ‘am zu, of »this people,« conscious of the new significance which this word has today. One could also put it so: This is the present task in the midst of the world: to try to earn for Judaism religious respect. And much depends thereon. We cannot ask for love, but we can work for respect. Isaac Mayer Wise did so with a noble distinction and here also we are deeply indebted to him and to his friends; but here, too, the days have changed and with the changing days the style also varies. The idea is ever the same but it is always in search of new expression. To illustrate this: for centuries the Jewish people and Jewish ideas were surrounded – surrounded literally and, of even greater significance, encompassed spiritually – by a large Christian world. For a very long time, the history of Jewish-Christian and Christian-Jewish relations was only a painful drama. When one spoke to the other, it was as across a deep gulf. It is not necessary to enlarge upon this fact nor is there any need to speak of it with recriminations today. Censuring past omissions may but help one to evade a present task. New days dawned. First, there was a time of friendly words that hoped for a friendly response. This was necessary as a first approach. But 1. Abraham Lincoln.

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Ansprache zum Grndungstag des Hebrew Union College in Cincinnati

friendly words often mean an evasion, a veil concealing the cardinal points, the points also of »this people.« What we are in need of today is the respect which we are entitled to claim, and the pursuit of this claim entails questions, genuine questions, questions which Christianity asks of Judaism and Judaism asks of Christianity, questions concerning the true points, the true differences. Such questions must arise just because there is common ground, and since there really is a common ground, the questions can be posed by each with a profound sense of the other’s mystery, with a frank and admiringly respectful acknowledgment of the differences between their beliefs, differences that should neither be brushed aside nor explained away. Such questions and answers – it is best to prepare them with all the respect that each one hopes to inspire in the other – and, therefore, on the Jewish side only he will be able and entitled to ask and answer who is himself aware of »this people.« This is only an illustration, though an important one. On the whole, everything depends upon moral and spiritual respect, everything everywhere, and mostly in the Jewish sphere – everything also that concerns the State of Israel. This State will stand and, God forbid, fall – with the moral respect which it will be able to claim as a place of »this people.« May God keep this State! And now, to come to the conclusion. This is Founder’s Day, the day of self-criticism. Our College is a precious heritage bestowed by the founders upon following generations. Each generation must acquire it anew. Each generation is a section in history, the one only a paragraph, the other a chapter. History makes clear what today is to be acquired. Today our College must surely be a College for the Sake of America, but at the same time it is to be a College for the sake of the whole of the Jewish people, the whole of Judaism, the College of ‘am zu, of »this People.« The Jewish people is rich in paradoxes. It is one of these paradoxes, that on this road of spiritual progress the Jew is either a step ahead of the times, or two steps behind the times. The distance between the two, between people and times, is generally larger here than elsewhere. And the Jewish leader, more than any other, must have patience and vision. Each time has its characteristics, and each time has its characteristic personality, its Samuel or its Jephthah, and somehow each impresses itself upon the other. There are also, to cite today’s Sidra, 1 1. Die wchentliche Lesung aus dem Pentateuch. Hier bezieht sich Baeck auf Lev 3,3; 3,13; 3,22.

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»the sin of the priest and the sin of the ruler and the sin of the whole congregation.« They affect one another, people and leader, and there is a mutual responsibility. In this interchange there is a profound consolation: a new generation has been born to step to the fore. This is the great affirmation and the deep comfort also in the history of our College. The new idea, the new task, and the new generation – how much each will leave its imprint on the other, days to come will tell. There is a glow on the horizon. Does it portend the raging or the calming sea? Another day will know, another day of Jewish history. But this is the permanent symbol of our history: in the midst of the waves »this people« goes on. So the Lord says: »‘am zu, this people I have formed for myself; they shall show forth my praise.« An Address by Dr. Leo Baeck Commenmorating the Seventy-eighth Anniversary of the Founding of Hebrew Union College. Cincinnati, 1953. 11 S.

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Micha Josef Berdyczewski Micha Josef Berdyczewski (1865-1921) ist einer der bekanntesten Autoren der modernen hebrischen Renaissance. Von Nietzsche und anderen deutschen Philosophen beeinflußt rebellierte er gegen das normative Judentum seiner Zeit und rief zu einer »Umwertung der Werte« auf. Berdyczewski lehnte die juristische Tradition des Rabbinismus und die seiner Ansicht nach enge jdische Geistigkeit ab und suchte stattdessen seine Inspiration in der Bibel und in den Legenden des Judentums, besonders denen des Chassidismus. Seine Schaffensbreite umfaßte Kurzgeschichten, wissenschaftliche Arbeiten und Anthologien jdischer Folklore. Berdyczewski wurde in Podolien geboren und kam 1890 nach Deutschland, wo er sich zunchst in Breslau (bis 1892), dann in Berlin (bis 1894) aufhielt, bevor er zwei Jahre in Bern verbrachte. Von 1896 bis 1900 lebte er erneut in Berlin und ließ sich dann, nach einem kurzen Aufenthalt in Osteuropa, noch einmal in Breslau (1901-1911) nieder. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens verbrachte er wiederum in Berlin. Aller Wahrscheinlichkeit nach traf Leo Baeck Berdyczewski, als er von 1891 bis 1893 Student am Jdisch-Theologischen Seminar in Breslau war. Der erste kurze Brief Baecks an Berdyczewski (hier nicht aufgenommen) trgt das Datum 9. April 1893. Die Beziehung der beiden Mnner, dem liberalen Rabbiner und dem ikonoklastischen hebrischen Schriftsteller, setzte sich ber gelegentliche Besuche bei Berdyczewski zuhause in Breslau fort, whrend Baeck Rabbiner in Oppeln war. Als Baeck 1912 nach Berlin kam, begann sie erneut und scheint bis zu Berdyczewskis relativ frhem Tod im Jahre 1921 aufrecht erhalten worden zu sein. Da die Briefe, die Berdyczewski an Baeck schrieb, nicht vorliegen, bleibt manches, auf das Baeck sich in seinen Antworten bezieht, unklar. Jedoch vermitteln die ersten beiden der hier aufgefhrten drei Briefe den Eindruck, daß die Briefeschreiber ernsthafte Diskussionen miteinander fhrten, in denen Baeck Einwnde gegen einige Vorstellungen des lteren Mannes erhob. Baeck erscheint in diesen Briefen als der vorsichtigere und zurckhaltendere Denker, der die scharfen Gegenstze, die Berdyczewski geschaffen hatte, zu berbrcken suchte. Dieses wird besonders in dem Brief vom 14. Januar 1903 deutlich, in dem sich Baeck knapp fr Kontinuitt in der jdischen Tradition anstatt eines Bruchs damit einsetzt. Der dritte Brief gibt ber das herzliche Verhltnis Auskunft, das sich zwischen den beiden Familien entwickelt hatte. * 559

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Lissa, 12. Juli 1896 Lieber Berditschewski! Auch in Ihrer Kategorientafel giebt es sicherlich neben dem disjunctiven ein hypothetisches Verhltnis. Zur Zeit des »Krieges aller gegen alle,« wo lauter bermenschen einander gegenber standen, handelte man wohl nur nach dem »entweder-oder.« Heut, wo man leider in die Civilisation verfallen ist, wo es bloss Nebenmenschen giebt oder wenigstens geben soll, kann man so heroisch nicht mehr vorgehen. Da giebt es auch Flle, in denen man das endgltige Thun von gewissen Mglichkeiten und Voraussetzungen abhngig macht. Es ist nicht selten, dass ich jemandem recht gern Geld leihen mchte. Der Wille ist stark – aber die Brse ist schwach. Ich sage dann sofort: »die Erfllung des Wunsches ist unmglich.« Oft ist aber Aussicht vorhanden, dass die Materie, die man Geld nennt, sich frher oder spter gefgiger erweisen wird. Fr den Augenblick ist die Gewhrung des Verlangten zwar unmglich, deshalb aber den Verlangenden ein fr alle mal abweisen, das wre unwillig. Ich sage vielmehr: »Geduld, Geduld«! Der Unwille, der sich in Ihrem Schreiben Luft machte, wre sicher schnell verraucht, wenn Sie einmal den umgekehrten Fall erwogen htten: jemand ist einem anderen Geld schuldig und kann es zu einem bestimmten Termin nicht abzahlen, obwohl er es versprochen hat. Der Glubiger msste da nach Ihrer Theorie etwas sehr Thrichtes sagen, was ich nicht weiter ausfhren will. – Ich habe selbst bis heut, das, was ich erwartete, noch nicht bekommen. Wollen Sie einen anklagen, so klagen Sie, bitte, den an, der es verschuldet. Das wre ein Lied, in das ich einstimmen knnte. Im brigen hatte ich die Absicht, Ihnen zusammen mit Ihren Schriftstcken das Gewnschte von hier aus zu senden. Da Sie das letztere nicht mehr brauchen, so schicke ich Ihnen die Artikel morgen in eingeschriebenem Brief. Ich bin hier wohlbehalten angekommen und gedenke etwa vier Wochen hier zu bleiben. Meine Ankunft werde ich Ihnen rechtzeitig mitteilen, damit die deutschen Lektionen bald beginnen knnen. Fr Ihren litterarischen Plan 1 werde ich hier nach Krften zu wirken suchen. Ginze Micha Yosef. Holon, Israel.

* 1. Bezieht sich wahrscheinlich auf Berdyczewskis Vorhaben, chassidische Legenden zu sammeln, die er 1900 verffentlichte.

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Oppeln, 14. Januar 1903 Lieber Berdyczewski! Empfangen Sie herzlichen Dank fr Ihre Mitteilungen, die mir von grossem Interesse waren. Ich fand Ihre Zeilen erst gestern vor bei der Heimkehr von einer Reise. Kaum aus Breslau zurckgekehrt, war ich durch einen Todesfall in der Familie meiner Frau gentigt, fr mehrere Tage wieder abwesend zu sein. Ich habe deshalb auch erst gestern an Loebner 1 schreiben knnen. Ihrer Ansicht ber die Tiefe der Kluft zwischen Bibel und Talmud kann ich nicht beipflichten. Man zieht die Brcke, wenn man sich folgende Reihe vor Augen hlt: Profeten, jlum, 2 Kohelet, Apokryphen, erste Aggada einerseits und andrerseits lasghj, wjnek vtfv, atgp, 3 manche Stellen in den Makkaberbchern und frheste Halacha andererseits. Anfang hier und Ende dort klaffen auseinander, aber Ende hier und Anfang dort hngen zusammen. In Eile! Quelle: wie oben.

* z. Z. Kolberg, 15. Juli 1903 Lieber Freund! Herzlichen Dank fr Ihre freudige Mitteilung und herzlichsten Glckwunsch. Mge alles, was Sie fr sich vergeblich gewnscht hatten, an Ihrem Sohne und damit schliesslich auch an Ihnen in Erfllung gehen! Mge Ihr Sohn in sich, als Elternerbteil, die Freude an praktischer Arbeit und die Lust am Fabulieren vereinen. 4 Wre ich nicht fern von Oppeln – ich bin seit fast drei Wochen hier – so wrde ich zum eljm vjtb 5 nach Breslau herber gekommen sein. Vielleicht ist es mir bald einmal mglich, in Breslau zu sein und Ihr Kind kennen zu lernen. Meine Frau gratuliert Ihnen bestens und wir bitten Sie, Ihrer Frau Gemahlin 6 unsere herzlichsten Wnsche zu bermitteln.

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Nicht zu ermitteln. »Sprche«. »Esra«, »Levitikus«, »Hesekiel«. Berdyczewskis Sohn, Immanuel Bin-Gorion, wurde 1903 geboren. »Beschneidung«. Im Jahre 1900 hatte Berdyczewski Rachel Romberg geheiratet, eine Zahnrz-

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Ich wrde mich freuen, bald einmal von Ihnen eine Nachricht ber das Befinden Ihrer Gattin und des Kleinen zu erhalten. Wir bleiben noch acht Tage hier. Quelle: wie oben.

tin, die ihn bei seinen literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten untersttzte.

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Ismar Elbogen Ismar Elbogen (1874-1943), dessen wissenschaftliche Arbeit sich besonders auf Liturgie und Geschichte konzentrierte, war einer der herausragendsten jdischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts. Nach seiner rabbinischen Ausbildung am Jdisch-Theologischen Seminar in Breslau und einer kurzen Zeit als Lehrer am Collegio Rabbinico Italiano in Florenz, trat Elbogen 1902 seine Lehrttigkeit an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums an, wo er bald zur zentralen Persnlichkeit des Lehrkrpers und zum Vertreter seiner Angelegenheiten wurde. Durch ein einzigartiges kooperatives Arrangement, an dem sich das Dropsie College, das Hebrew Union College, das Jewish Institute of Religion und das Jewish Theological Seminary beteiligten, war es Elbogen 1938 mglich, nach New York auszuwandern und den Rest seines Lebens als Research Professor fast ausschließlich seinen wissenschaftlichen Arbeiten zu widmen. Whrend seiner Jahre in New York setzte sich Elbogen wiederholt fr die Rettung der noch in Deutschland und an der Hochschule verbliebenen jdischen Gelehrten ein. Tatschlich konnten besonders durch den Einsatz Julian Morgensterns, dem Prsidenten des Hebrew Union College, mit dem Elbogen in Kontakt stand, fast ein Dutzend gerettet werden. Als Baeck kurz nach seiner Ankunft in Berlin im Jahre 1912 seine Ttigkeit als Teilzeitlehrer an der Hochschule aufnahm, entwickelte sich eine langfristige Beziehung mit Elbogen, die sich auf ihr gemeinsames Interesse an wissenschaftlichem Arbeiten grndete. Ein hier aufgenommener Brief vom 21. September 1917 deutet an, wie wichtig fr Baeck die Mglichkeit war, seine wissenschaftlichen Interessen zu verfolgen. Er sorgte sich außerdem um das materielle Wohlergehen seiner Studenten whrend der konomisch schwierigen Jahre nach dem 1. Weltkrieg und war deshalb dankbar, als es Elbogen gelang, geldliche Mittel fr sie zu sichern, whrend er 1922 ein Semester an Stephen Wises Jewish Institute of Religion in New York unterrichtete. Die Briefe, die Baeck whrend der spten 30er und frhen 40er Jahre an Elbogen schrieb, konzentrieren sich auf zwei Dinge: den Versuch, Rabbiner und jdische Gelehrte aus Deutschland herauszubringen und das gleichzeitige Bestreben, die Wissenschaft des Judentums weiterzufhren. In bezug auf das erstere muß Baeck Elbogen im Oktober 1940 mitteilen: »Im allgemeinen ist die Praxis der amerikanischen Consulate seit einiger Zeit eine retardierende und restringierende«. In bezug auf das letztere zeigen die Briefe Baecks Entschlossenheit, die Verffentlichung einer kritischen Ausgabe eines wichtigen jdischen Textes zu Ende zu bringen und noch einen weiteren Band der fhren563

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den wissenschaftlichen Zeitschrift Monatsschrift fr Geschichte und Wissenschaft des Judentums herauszubringen. Wie Baeck es 1939 in einem Brief an Elbogen ausdrckt: »Wir wollen nicht bloss beendet werden«. Stattdessen war es seine Absicht, »in Ehren abzuschliessen«. * Deutsche Feldpost 315 21. September 1917 Lieber Herr Kollege, Sie haben mich fast beschmt, daß Sie im Drange der Zeit auch an mich dachten und mich mit einem Brief erfreut haben, – und nehmen Sie das Wort Freude als keine bloße faon de parler. Meine herzlichen Wnsche, die ich fr Sie und die Ihren hege, sind Sie gewiß. Sie haben jetzt arbeitsvolle Tage und Wochen vor sich, und neben die Wnsche tritt die Bitte an Sie, daß Sie sich nicht zu viel zumuten mchten und Frankfurt ein wenig als Idyll auf sich wirken ließen. Mchte dies Idyll Sie bis zum Tage des Friedens, der jetzt doch Umrisse anzunehmen scheint, friedlich begleiten! Der Heimgang von Israel Lewy 1 ist mir entgangen; unter den Lehrern, die ich in Breslau und Berlin hatte, ist er, neben Schreiner, 2 der gewesen, welcher mir ein wirkliches persnliches Interesse geschenkt hat, und er war der einzige, um dessentwillen mir der Weggang von Breslau schwer wurde. Es ist eigen: ich hatte gerade in der letzten Zeit oft an ihn gedacht; eine Arbeit ber xbmt 3 ging mir durch den Kopf, und ich glaubte, man knnte von Lewy Mnner wie ihn und Josef Karo 4 verstehen lernen. Was Sie ber die Verhltnisse im Berliner Rabbinat schreiben, deutet auf kritische Zeiten hin und auch andere Briefe, die ich in den letzten Wochen bekam, zeigen diesen [?]stand 5 an. So bekam ich von Prof. Guttmann 6 ein in der Form selbstverstndlich sehr lie1. Israel Lewy ( 1841-1917). Talmudischer Gelehrter und Seminarrabbiner am Jdisch-Theologischen Seminar in Breslau. 2. Martin Schreiner (1863-1926). Gelehrter des mittelalterlichen Judentums und Islam, unterrichtete von 1894 bis 1902 an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Eine Geisteskrankheit zwang ihn, den Rest seines Lebens in einem Sanatorium zu verbringen. 3. »Ramban« (Rabbi Moses Nachmanides, 1194-1270). Spanischer Rabbiner, talmudischer Gelehrter und Kabbalist. 4. Josef Karo (1488-1575). In Safed lebender Halachist. Verfasser des autoritativen Gesetzeskodex Schulchan Aruch. 5. Unleserlich. 6. Professor Jakob Guttmann (1845-1919). Gelehrter jdischer mittelalterlicher

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benswrdiges, aber im Inhalt sehr gewagtes Schreiben, in welchem er ber die Berliner Gemeinde, Vorstand und Rabbiner, klagt, daß er dort mit der Feiertagssammlung keinen Erfolg gehabt habe, und mir mitteilt, daß er mich von jeder Beteiligung an dem gesammelten Betrage ausschließen msse – in parenthesi: der Humor von der Sache ist, daß gerade jetzt in meinem Kreise die Breslauer besonders zahlreich sind; selbstverstndlich kommen sie und die anderen auch in diesem Jahre nicht zu kurz –. Ist Ihnen von der Sache, die Guttmann meint, etwas bekannt? Meine Ansicht in den Berliner Rabbinerfragen habe ich Ihnen gegenber schon oft ausgesprochen; es wird besser werden, erst wenn wir das klare Parochialsystem und die Ablsung der Casualgebhren haben. Was mich anlangt, so habe ich nur den einen Wunsch, wenn ich heimkehre, Zeit fr meine Arbeiten zu gewinnen, auch wenn ich manche Opfer dafr bringen muß. Die Wahl von Geheimrat Grnfeld 1 halte ich fr vortrefflich; ich kenne ihn von meiner Oppelner und der Dsseldorfer Zeit. Die Berufung von Jul. Guttmann 2 wre vor fnf Jahren etwas sehr Erfreuliches gewesen; heute ist sie beinahe etwas berflssiges. Die Berufung von Torczyner 3 ist viel dringender, und, was den Mendelssohn Stuhl anlangt, so kann ich nur wiederholen, daß man ihn an die hauptamtlichen Dozenten vorerst verteilen und sie mit der Abhaltung von Mendelssohn-Vorlesungen betrauen sollte – schon um die unzureichenden Gehlter ein wenig zu korrigieren; primum vivere deinde philosophari. 4 Ismar Elbogen Collection. Leo Baeck Instite Archives, New York. Microfilm reel 212.

*

1. 2. 3. 4.

Philosophie und Rabbiner in Breslau. Von 1910 bis 1919 Vorsitzender des Rabbinerverbandes fr Deutschland. Wahrscheinlich Heinrich Grnfeld (1865-1936). Mitinhaber der Familienfirma Leinen- und Gebildweberei F. V. Grnfeld Landeshut/Berlin. Julius Guttmann (1880-1950). Ab 1919 Dozent fr Religionsphilosophie an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Harry Torczyner (1886-1973). Semitist und Bibelexeget, lehrte von 1919 bis 1933 an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums. Lat.: »Zuerst lebe, dann philosophiere«.

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Berlin, 14. Dezember 1922 Lieber Herr Kollege, das war heute frh ein froher Augenblick, als Ihr Brief eintraf, und doppelt froh, als ihm all das Gute entstieg, das Sie ihm mitgegeben haben. Wie Sie doch in all Ihrer Arbeit an so vieles denken und fr so vieles sorgen! Ich habe heute Vormittag schon den Scheck Herrn Dannemann [?] zu treuen Hnden bergeben; er wird provisionsfrei die Verteilung bernehmen. Als ich den Scheck hintrug, war mir zu Mute wie dem Mann aus Kohns 1 Prager Ghettogeschichten, der sich zwei Polizisten zur Begleitung nahm, um sein Geld gesichert an den Bestimmungsort zu bringen. Mangels der Polizisten habe ich wenigstens mit mißtrauischen Blicken um mich gesehen. Die reichen Gaben werden vielen ber den Winter hinweghelfen. Wenn zu den Gebern nur ein Stck der Freude zurckkommt, die Sie hierhergeschickt haben, dann drfen Sie zufrieden sein. Die Briefe an die Adressen, die Sie genannt haben, werde ich alsbald schreiben. Die Summen werden ganz nach Ihren Angaben alsbald zur Versendung gelangen. Ich will einen kleinen Bericht ausarbeiten und nach Ihrer Rckkehr ihn Ihnen vorlegen. Mein Brief, den ich vor einiger Zeit Ihnen schrieb, ist gewiß gut an Sie gelangt, ebenso an Stephen Wise 2 mein Dankbrief. Ich schrieb Ihnen von der Sorge um meinen Bruder; sie ist jetzt, soweit wir urteilen knnen, von uns genommen. Wir drfen hoffen, daß er außer aller Gefahr ist. In der Hochschule haben wir heute die Chanukka-Ferien begonnen. Soweit ich sehe, ist – ich schrieb es Ihnen schon – rechtschaffen gearbeitet worden. Ich glaube, daß Sie zufrieden sein werden. Nur Baneths 3 Erkrankung macht uns unsere Talmudsorge doppelt deutlich. Wir freuen uns alle herzlich auf Ihre Heimkehr. 4 Trotz allem Arbeiten ist die Hochschule ohne Elbogen doch nur ein Torso. Von dem Ergehen Ihrer Gattin und Ihrer Kinder kann ich Ihnen nur das Beste berichten …

1. Salomon Kohn (1825-1904). Verfasser der Prager Ghetto-Bilder (1884) und hnlicher Werke. 2. Stephen Samuel Wise (1874-1949). Rabbiner und fhrende Persnlichkeit des amerikanischen Judentums und der zionistischen Bewegung. 3. Eduard Baneth (1855-1930). Talmudischer Gelehrter, der ab 1895 an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums lehrte. 4. Zur Zeit dieses Briefes lehrte Elbogen am Jewish Institute of Religon, ein Rabbinerseminar, das Stephen Wise gerade in New York gegrndet hatte.

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Einen herzlichen Gruß an Perles. 1 Besten Gruß auch an Stephen Wise. Quelle: wie oben.

* Berlin, 25. Januar 1939 Lieber Herr Kollege, aus den acht Tagen, nach denen ich Ihnen hatte wieder schreiben wollen, sind im Gedrnge der Arbeit, nun wie es scheint, vier Wochen geworden. Inzwischen sind alle Rabbiner, bis auf FuchsChemnitz, 2 und alle unsere Hrer, bis auf Fackenheim, 3 aus der Haft entlassen, aber ich hoffe, dass es auch bald fr die beiden gelingen wird. Es ist mglich gewesen, fr mehrere Rabbiner, z. B. Lazarus, 4 Geis, 5 Laupheimer 6 , Certificate fr Palstina, fr eine Reihe anderer permits fr England zu erlangen. Vor allem ist ein erstes transmigration camp in England – ich war zu diesem Behufe vor ein paar Wochen dort – erreicht worden; van der Zyl 7 und Seligsohn 8 werden in ihm als Rabbiner ttig sein, und ich habe Aussicht, drei bis vier von unseren Hrern als Hilfskrfte dort unterzubringen. Mit Frankreich stehe ich, mit einer gewissen Aussicht, fr einige einen Platz zu erlangen, in Verbindung. Aus Amerika ist noch nichts Greifbares von 1. Felix Perles (1874-1933). Jdischer Gelehrter mit weitreichenden Interessen, der 1922 auch am Jewish Institute of Religion unterrichtete. 2. Hugo Henoch Fuchs (1878-1949). Von 1907 bis 1938 liberaler Rabbiner in Chemnitz. Er wurde im Zuge des Novemberprogroms inhaftiert, konnte jedoch 1939 nach Argentinien auswandern. 3. Emil Fackenheim (geb. 1916). Bis 1939 Student an der Hochschule, konnte nach einer kurzen Inhaftierung in Sachsenhausen nach Kanada fliehen, wo er sich als jdischer Theologe einen Namen machte. 4. Paul Lazarus (1888-1951). Von 1921 bis 1938 liberaler Rabbiner in Wiesbaden. Grndete spter eine liberale Gemeinde in Palstina. 5. Robert Raphael Geis (1906-1972). Liberaler Rabbiner. Siehe unten Baecks Briefe an ihn. 6. Friedrich Elias Laupheimer (1890-1965). Orthodoxer Rabbiner, dem es 1939 gelang, nach Palstina auszuwandern. 7. Werner van der Zyl (1902-1984). Von 1935 bis 1939 liberaler Rabbiner in Berlin. Danach als Rabbiner und spter als Direktor des Leo Baeck College in London ttig. 8. Wahrscheinlich ein Schreibfehler Baecks. Gemeint ist wohl Caesar Seligmann (1860-1950). Liberaler Rabbiner in Frankfurt am Main, der 1939 nach England auswanderte. Whrend dieser Zeit arbeitete Baeck fr die Reichsvertretung eng mit Julius Seligsohn zusammen, daher die Verwechslung des Namens.

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der Central Conf. 1 hierhergekommen, trotz mehrfacher, zum Teil dringender Anfragen. Die Arbeit ist hier gross; wir suchen zu helfen und zu sttzen und vor allem Wege zu bahnen. Die Mhe ist nicht gering, sie muss getragen werden. […] Quelle: wie oben.

* Berlin, 25. April 1939 Lieber Herr Kollege, haben Sie herzlichen Dank fr Ihren l. Brief und seien Sie mir nicht bse, dass meine Antwort erst jetzt zu Ihnen kommt. Meine Gedanken sind oft einmal bei Ihnen beiden. Lassen Sie mich aber vor allem Ihnen wiederum dafr danken, dass Sie so hingebend bemht sind, uns allen zu ntzen und zu helfen. Die letzte Lieferung des Siphre 2 wird jetzt bei Drogolin fertiggestellt; er hat leider nicht ganz dieselben Typen wie unser alter Drucker, aber der Unterschied ist gering; und diese Differenz ist ein kleineres bel gegenber der Gefahr, dass das Werk ein Torso bliebe. Wir bemhen uns, so gut wir knnen, in Ehren abzuschliessen. Dies ist ja auch der Grund, und ich weiss, dass Sie ihn billigen, weshalb wir der Monatsschrift 3 einen anstndigen Schlussband geben wollen; wir wollen nicht bloss beendet werden. Ich hoffe, dass er herauskommen und einen rechtschaffenen Eindruck machen wird, und vielleicht kommt auch dafr einmal irgendwie und irgendwo eine Wiedergeburt. Damit ist auch gesagt, worin wir hier den Sinn unserer Arbeit solang sie noch mglich ist, irgendwie erblicken: in Ehren abzuschliessen. Wir haben zu Pessach unsere Gottesdienste gehabt, nun auch in der Neuen Synagoge und der Levetzowstrasse,

1. Central Conference of American Rabbis, die Vereinigung der Reformrabbiner in Nordamerika. 2. Ein altertmlicher halachischer Midrash zu den Bcher Numeri und Deuteronomium. Eine kritische Ausgabe erschien in Berlin in Fortsetzungen in den Jahren 1934 bis 1939. Die meisten Kopien des letzten Faszikels, der tatschlich in einem anderen Drucktypus erschien, wurden von den Nazis zerstrt. 3. Der letzte verffentlichte Band der Monatsschrift fr Geschichte und Wissenschaft des Judentums, die 1851 von Zacharias Frankel in Breslau gegrndet wurde, trgt das Datum 1939. Der 644-seitige Band erschien unter dem Impressum des Jdischen Kulturbundes in Deutschland mit einem Vorwort Baecks.

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die ein wenig hergestellt wurden. 1 Unsere Schulen arbeiten – die beiden Gymnasien sind vereinigt – es wurde Abiturium abgelegt, wir lesen in der Lehranstalt vorerst weiter und versuchen, anstndige Examina ablegen zu lassen. Versagt hat leider ein grosser Teil der Rabbiner, besonders die »Unentwegten von ehedem.« Manche sind einfach ohne Not verschwunden. Aber einige haben sich doch sehr bewhrt, unter den Jngeren nenne ich vor allem Swarsensky, 2 unter den lteren Dienemann, 3 der nach schweren Wochen auf seinen Platz zurckkehrte und dann, als seine Gemeinde aufhrte, aufrecht hinausging. Sie wissen, dass, als er im Hafen war, sein Leben aufhrte. Sie und ich haben einen treuen, lieben Freund in ihm verloren. xjdbad lp lbh 4 Es wird einsamer, aber das ist ja Menschenschicksal. Ich hoffe, dass es Ihnen beiden wohl ergeht, und dass Sie vor allem mit Ihrer Gesundheit auch zufrieden sein drfen, und dass auch das andere des Daseins Ihnen behagt. Unsere Kinder und unsere Enkelin sind in England, Marianne seit Mitte Januar, die Kinder seit Ende Mrz, unser Schwiegersohn sucht einen Platz irgendeiner Ttigkeit. Mit einem herzlichen Danke will ich, wie ich begann, so auch schliessen: fr Ihre Hillel-Arbeit, 5 mit der Sie mich beschenkt haben. Ich habe sie zweimal gelesen, mit wachsender Freude und Dankbarkeit, ich bin Ihnen fr die Gabe aufrichtig verpflichtet. Die Schrift selber ist wohl schon auf dem Wege zu Ihnen und sie wird Ihnen in ihrem Inhalt wie in ihrer geschmackvollen usseren Form gewiss Freude bereiten. Der Schocken-Verlag war, wie Sie wissen, so leichtsinnig, Aufstze von mir, in einem Bande von etwa 500 Seiten, noch herauszubringen. 6 Schreiben Sie mir bitte offen, ob Sie mit Ihrem Bcherschrank sehr beschrnkt sind. Wenn Sie Platz haben, wrde ich Ihnen den Band gern zuschicken. Seien Sie herzlich gegrsst, Sie beide und Ihre Kinder, besonders

1. Beide Synagogen berstanden das Novemberprogrom. 2. Manfred Swarsensky (1906-1981). Von 1932 bis 1939 liberaler Rabbiner in Berlin. Nach einer Inhaftierung in Sachsenhausen konnte er 1939 in die USA auswandern. 3. Max Dienemann (1875-1939). Von 1919 bis 1938 liberaler Rabbiner in Offenbach. Er starb kurz nach seiner Auswanderung nach Haifa. 4. »Schade um die Verlorengegangenen«. 5. »Die berlieferung von Hillel«. Festschrift fr Leo Baeck. Berlin, 1939. S. 67-78. 6. Bezieht sich auf Baecks Aus drei Jahrtausenden. Fast alle Kopien wurden von den Nazis konfisziert. (Siehe Band 4 dieser Werkausgabe.)

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in Tel Aviv. Lassen Sie recht bald und oft von sich hren. Sie machen mir damit immer eine Freude. […] P.S. Mir fllt noch ein, dass Sie zweimal wegen eines Briefes von Morgenstern 1 anfragten; ich habe einen Brief von ihm nicht erhalten. Quelle: wie oben.

* Berlin, 23. Januar 1940 Lieber Freund, vorgestern schrieb ich Ihnen aus wehmutvollem Anlass, und gestern trafen Ihre Zeilen vom 31. XII, abgegangen am 5. I., ein. Haben Sie herzlichen Dank fr alles, was Sie sagen und mitteilen, mir ist es nahegegangen. Den Brief aus Cincinnati habe ich noch nicht erhalten; 2 Briefe aus U.S.A. erfordern jetzt durchschnittlich 10-11 Wochen; nur der Atlantic Clipper bringt Post in 2-3 Wochen. Ich sehe dem Briefe entgegen, eventuell knnte ein Duplikat via Air Mail geschickt werden. Da ich vom Postverkehr schreibe, mchte ich erwhnen, dass Auslandstelegramme bzw. Kabel einer besonderen Genehmigung bedrfen, die nur in ganz besonderen Ausnahmefllen erreichbar ist. Die letzte Lieferung des Sifre ist bis auf das letzte Pnktchen fertig; wir erwarten nur die Druck- und Papiergenehmigung, die, wie ich annehme, sehr bald einlangen wird. 3 Finkelstein 4 und den Subskribenden werden dann die Exemplare sofort zugesandt. Vielen Dank fr die Mitteilung ber den Aufsatz von Lewy ber die habiru. 5 Ich nehme an, dass der Band des Annual mir zugehen wird. Ich hrte, da ich gerade bei Bchern bin, von einem Buch Schalom

1. Juilan Morgenstern (1881-1976). Zu dieser Zeit Prsident des Hebrew Union College in Cincinnati, bemhte sich, jdische Gelehrte aus Deutschland in die USA in Sicherheit zu bringen. 2. Bezieht sich wahrscheinlich auf den erwarteten Brief von Julian Morgenstern, der in Baecks Brief vom 25. April 1939 erwhnt wird. 3. Siehe den vorangehenden Brief. 4. Rabbi Louis Finkelstein (1895-1992). Kanzler des Jewish Theological Seminary of America in New York, verfaßte wissenschaftliche Arbeiten zu den halachischen Midraschim. 5. Julius Lewy (1895-1963). Professor der Assyriologie am Hebrew Union College in Cincinnati, verffentlichte einen Artikel mit dem Titel »Habiru and Hebrews« im Hebrew Union College Annual 14 (1939): S. 587-623.

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Asch’s 1 ber die Nazarener. Was ist das fr ein Buch, wissenschaftlich oder Roman? In der Lehranstalt halten wir unsere Vorlesungen im engen Rahmen weiter; wir haben einige Hrer, an denen wir Freude haben. Von unseren Kindern und Marianne habe ich regelmssige gute Nachrichten. Ich bin innig dankbar. »Leo Baeck: Letters from War-Time Berlin«. Leo Baeck Institute Yearbook 5 (1960): S. 351-352.

* Berlin, 16. April 1940 Lieber Freund, die Luftpost nach U.S.A. scheint jetzt wieder normal zu verkehren, und so sende ich Ihnen wieder einmal einige Zeilen, vor allem, um Ihnen gute Feiertage zu wnschen und wie Ihnen so Ihrer Frau und Ihren Kindern. Ich schrieb Ihnen zweimal, nach dem Heimgange Ihrer Schwester und in Beantwortung Ihres Briefes vom 5. Januar. Einen Brief aus Cincinnati, den Sie in ihm erwhnten, habe ich bisher nicht erhalten. Allmhlich scheint ja die Post heranzukommen, so traf vorgestern ein Brief von Max Wiener 2 vom 10. Januar ein. Aber ich wrde dennoch raten, diesen Brief von dort nochmals an mich abzuschicken. Wir haben inzwischen die Druckerlaubnis fr die Schlusslieferung des Sifre erhalten; die Versendung erfolgt in Blde. Vor allem gehen dann sofort an Finkelstein seine Exemplare and an Sie das Ihre ab. 3 Desgleichen ist der fertige Mendelssohn-Band 4 genehmigt; auch er wird Ihnen zugesandt werden. Vom hiesigen amerikanischen Konsulat war ich zu einem Gutachten ber die Lehranstalt aufgefordert worden, sie ist auf Grund des-

1. Der jiddische Novelist und Dramatist Schalom Asch verffentlichte 1939 auf Englisch einen historischen Roman mit dem Titel The Nazarene. 2. Max Wiener (1882-1950). Von 1925 bis 1939 Dozent fr Religionsphilosophie an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums. Von 1939 bis 1942 lehrte er am Hebrew Union College in Cincinnati. 3. Zu Sifre und Finkelstein siehe die vorhergehenden Briefe. 4. Ab 1929 verffentlichte die Akademie fr die Wissenschaft des Judentums sieben Bnde einer kritischen Ausgabe (die Jubilumsausgabe) der Werke Moses Mendelssohns. Als letztes erschien Band 14, der das Datum 1938 trug, aber erst spter verffentlicht wurde. Fast alle Kopien wurden von den Nazis zerstrt.

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sen nun als Anstalt von Universittscharakter anerkannt. 1 Fr das Breslauer Seminar haben wir rckwirkend ein gleiches erreicht. Nach den Feiertagen beginnen wir das Sommersemester. Wir haben sogar einige neue Hrer, wir wnschen auch ihnen das Beste. Ich hoffe, dass Sie beide wohlauf sind, und dass Sie Gutes von Ihren Kindern hren. Ich habe von den Kindern regelmssig befriedigende Berichte, ich bin voller Dankbarkeit dafr. Meine Tage gehen in der gewohnten Arbeit hin. »Leo Baeck: Letters from War-Time Berlin«. Leo Baeck Institute Yearbook 5 (1960): S. 352-353.

* Berlin, 26. Oktober 1940 Lieber Freund, […] Lassen Sie mich vor allem jetzt, am Jahresbeginn, Ihnen meine herzlichen treuen Wnsche fr Sie, Ihre Frau und Ihre Kinder aussprechen. Mgen gute Tage zu Ihnen kommen! Wir haben hier die Feiertage in gewohnter Weise verlebt und hatten zahlreiche Gottesdienste, an denen einige unserer Kandidaten ihren Anteil hatten. Inzwischen ist der Antrag aus Cincinnati bei dem hiesigen Consulat eingetroffen, und ich habe von dem wesentlichen Inhalt Kenntnis erhalten – ein Duplikat ist mir nicht zugegangen –; die bliche Anfrage ist seitens des Consuls nach Washington gerichtet worden, zunchst die wirtschaftliche Sicherheit der Gemeinde, sodann, in einer zweiten Anfrage, das Bedrfnis betreffend. Im allgemeinen ist die Praxis der amerikanischen Consulate seit einiger Zeit eine retardierende und restringierende. In der kommenden Woche erffnen wir das neue Semester der Lehranstalt in dem mglichen Rahmen. Eine Vorlesung aus seinem alten Arbeitsgebiet will Lucas 2 halten, der seit einigen Monaten hier lebt. Im Dezember wird uns Tubler 3 wohl verlassen; er hat viel Ar1. Das amerikanische Konsulat hatte zunchst aus der 1934 erfolgten Entscheidung der Nazis, den Status der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums auf den einer Lehranstalt herabzusetzen, geschlossen, daß die Institution keinen Universittscharakter besaß und daher ihre Dozenten kein Anrecht auf akademische Visa fr die Vereinigten Staaten, welche nicht der Quotenregelung unterlagen, hatten. 2. Leopold Lucas (1872-1973). Historiker des jdischen Mittelalters. 3. Eugen Tubler (1879-1953). Historiker des altertmlichen Roms. Zusammen mit seiner Frau ging er 1941 aus Deutschland in die USA, wo er am Hebrew Union College unterrichtete.

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beit und Liebe an seine Aufgabe gesetzt und uns darum viel bedeutet. Er hat so viel Frische und ist, wie stets, so reich an Plnen, dass er ohne Zweifel auf neuem Boden viel leisten und schaffen wird. brigens hat seine Frau 1 sich auch ganz besonders bewhrt und viel gearbeitet. Meine Arbeit geht ihren gewohnten Gang, und in den freien Stunden gibt die Wissenschaft mit ihrem Weg in die Fernen ihre Befriedigung. Ich denke bisweilen an eine Fortsetzung des Evangelienbchleins in einem weiteren entsprechenden Bndchen hnlicher Disposition. Die Apostelgeschichte vor allem hat viel Anziehendes, nach der sprachlichen Seite hin auch. Vor kurzem las ich, mit grosser Freude, wieder einige Kapitel Ihres Buches ber den Gottesdienst. 2 Das Buch bleibt frisch und neu. Von unseren Kindern habe ich, ziemlich regelmssig, befriedigende Nachrichten, ich bin immer dafr dankbar. Unsere Enkeltochter fhlt sich in ihrer Schule sehr wohl und glcklich. Ich hoffe, dass es Ihnen beiden wohl ergeht und Sie von Ihren Kindern Gutes hren. »Leo Baeck: Letters from War-Time Berlin«. Leo Baeck Institute Yearbook 5 (1960): S. 353-354.

* Berlin, 19. Februar 1941 Lieber Freund! Vielen Dank fr Ihren lieben Brief. Eine Nachricht von Ihnen schenkt mir immer eine besondere Freude. Von grossem Interesse war mir, was Sie ber die umfangreiche Arbeit schrieben, mit der Sie befasst sind; aber Sie teilten nichts von dem Inhalt und Titel mit, und so bleibe ich in der Neugierde. 3 Der Band unserer Monatsschrift ist jetzt genehmigt; er wird wohl bald bei dem Buchbinder sein und, wie ich hoffe, Ihnen binnen kurzem zugehen mit dem Wunsche, Ihnen zu gefallen und Sie zu erfreuen. Tublers 4 werden wohl im Mrz ihre Ausreise antreten; sie haben 1. Selma Stern-Tubler (1890-1981). Ehefrau Eugen Tublers, machte sich spter mit ihren historischen Arbeiten zu den Hofjuden und den Juden in Preußen einen Namen. 2. 1913 verffentlichte Elbogen das Standardwerk Der jdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung. 3. Bezieht sich wahrscheinlich auf Elbogens ergnzenden Band zu Graetz’ Geschichte der Juden. Er erschien 1944 auf Englisch unter dem Titel A Century of Jewish Life. 4. Siehe Anmerkungen zum vorhergehenden Brief.

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ihre visa und haben alle sonstigen Vorbereitungen getroffen; sie wollen sich zunchst kurze Zeit in New York aufhalten. Das neue Semester der Lehranstalt wollen wir so gut und schlecht es eben geht durchzufhren suchen; wir wollen Lewkowitz 1 und Lucas 2 etwas strker anspannen. Der Fleiss unserer Hrer ist bewundernswert; man muss bisweilen bremsen. – Erst jetzt habe ich von dem Heimgang von Herbert Loewe 3 gehrt. Ich traure aufrichtig um ihn; er war mir in den letzten Jahre nahe getreten. Sie kennen sicherlich die genaue Adresse seiner Frau, und ich lege darum einige Zeilen an sie diesem Briefe bei. – Von meinen Kindern und Marianne habe ich mit grosser inniger Dankbarkeit erst krzlich wieder gute Berichte erhalten. Von mir kann ich mitteilen, dass ich mit meiner Gesundheit wesentlich zufrieden sein darf und dass ich in der gewohnten Arbeit stehe. »Leo Baeck: Letters from War-Time Berlin«. Leo Baeck Institute Yearbook 5 (1960): S. 354.

* Berlin, 22. Mai 1941 Lieber Freund, Vielen Dank fr Ihren Brief vom 24. III. Sie wissen, welche Freude mir ein Brief von Ihnen immer bringt. Ich kann es mir denken, was alles an Anfragen und Bitten mit jeder Post zu Ihnen kommt, und ich muss so solch ausfhrliche Zeilen von Ihnen doppelt schtzen. In der Freude ber Ihren Brief war mir eine besondere, dass Sie nach Vassar College eingeladen sind und mit Ihrer Frau dort eine Frhlingswoche verleben knnen. Es wird Ihnen beiden sicherlich wohltun. Auf Ihr Buch, dass Ende dieses Jahres beendet sein soll, freue ich mich schon sehr, obwohl ich nicht einmal das Thema weiss. 4 Mit der Freude habe ich nun also begonnen, und ich gehe zu dem sogenannten Sachlichen. 1. Julius Lewkowitz (1876-1943[?]). Zu der Zeit Rabbiner in der einzig verbleibenden Synagoge in Berlin und Dozent fr Religionsphilosophie an der Hochschule. Er wurde in den Osten deportiert. 2. Siehe Anmerkungen zum vorhergehenden Brief. 3. Herbert Loewe (1882-1940). Herausragender Gelehrte der Judaica in England. 4. Siehe Anmerkungen zum vorhergehenden Brief.

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Den Brief ber die Zukunft der Religion, um den unsere Freundin Lily 1 bittet, hoffe ich demnchst ihr schreiben zu knnen; vor unserem Neujahr hatte ich ihrem Bekannten in der Nhe von New York, ich glaube in Brooklyn, ich habe die Adresse verlegt, einige Zeilen ber future of progessive judaism gesandt, aber keine Antwort erhalten. Dem Bericht ber das Religionsgesprch unserer alten Kollegen und Schler sehe ich mit grossem Interesse entgegen. Die Monatsschrift wird jetzt gebunden; hoffentlich knnen wir Ihnen recht bald ein Exemplar schicken. In nchster Zeit kommt der Verleger Felix Kauffmann als immigrant nach New York; die alte Firma J. Kauffmann, die er dort etablieren will, soll auch Auslieferungsstelle und Expositur des Buchverlages des Kulturbundes sein. Vielleicht erleichtert das den Bezug von allem. Von mir persnlich und meiner Arbeit will ich diesmal nicht sprechen, da Sie sich gewiss von Tublers 2 haben ausfhrlich erzhlen lassen. Ich will mit der Freude schliessen, dass Brasch 3 Ihnen gnstige Nachrichten sendet, bestellen Sie ihm, bitte, besten Gruss und Dank. »Leo Baeck: Letters from War-Time Berlin«. Leo Baeck Institute Yearbook 5 (1960): S. 356.

1. Lilian (Lily) Helen Montagu (1873-1963). Mitbegrnderin des liberalen Judentums in England und der World Union for Progressive Judaism im Jahre 1926, der sie viele Jahre als Schriftfhrerin diente. 2. Siehe Anmerkungen zu Baecks Brief an Elbogen vom 26. Oktober 1940. 3. Rudolph Brasch (geb. 1912). Bekam 1937 seinen Abschluß von der Hochschule und emigrierte 1938 nach England. Er wurde spter Rabbiner in Australien.

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Franz Rosenzweig Franz Rosenzweig (1886-1929) wird im allgemeinen als einer der talentiertesten und einflußreichsten religisen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts angesehen. Sein Hauptwerk Der Stern der Erlsung (1921)wirkte bahnbrechend in der jdischen Theologie, seinen bersetzungen der religisen Gedichte des mittelalterlichen hebrischen Dichters Jehuda Halevi gelang es, dem Reim und Rhythmus des Originals treu zu bleiben, und seine bersetzung der Bibel, erstellt zusammen mit Martin Buber, war eine so treue Wiedergabe des hebrischen Textes, wie sie in einer westlichen Sprache berhaupt erreicht werden konnte. In Frankfurt am Main war Rosenzweig an der Grndung des Freien Jdischen Lehrhauses beteiligt, an dem sich erwachsene Juden erneut mit ihrem Erbe vertraut machen konnten. Eine schwchende Krankheit machte Kommunikation fr Rosenzweig in den letzten Jahren seines kurzen Lebens zunehmend schwieriger und fhrte kurz vor seinem 43. Geburtstag zu seinem frhen Tod. Zwischen Rosenzweig und Baeck, die sich persnlich kannten, obwohl sie in unterschiedlichen Stdten lebten, entwickelte sich eine Beziehung, die sich auf gegenseitigen Respekt grndete. Die religise Haltung beider kann nur vor dem Hintergrund der Schriften des neokantischen jdischen Philosophen Hermann Cohen verstanden werden. Baeck, der ltere der beiden Mnner, war tiefergehend vom Rationalismus Cohens beeinflußt worden. In den frhen 20er Jahren jedoch, als Rosenzweigs Stern der Erlsung erschien, nherte sich Baeck Rosenzweig an, indem fr ihn die Existenz des jdischen Volkes fortan einen ebenbrtigen Stellenwert wie das Wesen des Judentums gewann. Baeck teilte auch Rosenzweigs ehrgeizige und weitlufige Plne fr eine Akademie fr die Wissenschaft des Judentums und bedauerte, daß diese niemals ganz ausgefhrt wurden. Die beiden Mnner tauschten ihre Ansichten zu den Arbeiten des anderen aus, so zum Beispiel zu der ersten Fassung von Baecks »Romantische Religion«, deren Herangehensweise Baeck vor Rosenzweig zu rechtfertigen sucht. Der vielleicht interessanteste Brief ist der vom 5. August 1923, in welchem Baeck die Unentrinnbarkeit apologetischen Denkens diskutiert. Sicher gab es Differenzen zwischen den beiden: Baeck blieb der religise Moralist, Rosenzweig zog es zu einer grßeren Wrdigung der rituellen Gebote hin. Dennoch sind Baecks Briefe zumeist voller Anerkennung: fr Rosenzweigs philosophische Schriften, fr seine Einleitung zu Cohens Jdische Schriften, fr seine Halevi-bersetzungen und – trotz einiger scheinbarer anfnglicher Mißverstndnisse – fr seine bersetzung der Bibel. 576

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1923 verlieh Baeck Rosenzweig eine rabbinische Urkunde fr sein jdisches Wissen, das er sich selbst angeeignet und durch seine Studien mit dem Frankfurter Rabbiner Nehemia Nobel erlangt hatte. Sie ist ein seltenes Beispiel fr den Gebrauch von Baecks hebrischem bzw. jdischem Namen: Uri Lipmann. Ebenfalls zu Ehren Rosenzweigs schrieb Baeck einen kurzen Beitrag fr einen Band, der anlßlich seines 40. Geburtstages zusammengestellt wurde. Er ist eine prgnante Aussage darber, wie sich bei Baeck Gebot und Geheimnis, das Ethische und das Mystische ergnzen. * Berlin, 4. Mrz 1923 Sehr verehrter Herr Doktor, ein fleißiger Briefschreiber bin ich nicht, aber ich habe doch ein wenig ungebhrlich lange gezgert, mit einem Worte des Dankes, den ich herzlich empfinde, fr das, was mir Ihre Abhandlung ber das Schelling’sche Systemprogramm 1 gegeben hat. Ich habe sie, ich mchte fast sagen: mit Spannung von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Sie ist echte Philologie und echte Geschichte der Philosophie. Ich habe besonders viel fr meine Bemhungen um die Psychologie der Romantik 2 daraus gewonnen, und ich fhle mich auch darum Ihnen aufrichtig verpflichtet. Wie schade, daß ich von Frankfurt so weit entfernt wohne. Es ist mir so oft, wenn ich ber dieses und jenes nachdenke, als sollte ich Ihre Ansicht erfragen. Im Stillen gehen meine Gedanken oft zu Ihnen hin. Ihr Plan, daß die Akademie 3 das corpus chassidicum 4 herausgeben solle, stßt besonders auch bei Guttmann 5 doch auf Widerstand … Guttmann ist ein ausgezeichneter Mensch, aber in diesen Punkten hat er nicht den Mut zur Courage. Mir tut es aufrichtig leid.

1. Bezieht sich wahrscheinlich auf Rosenzweigs Das lteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1917). 2. 1922 hatte Baeck den Artikel »Romantische Religion« in der Festschrift zum 50jhrigen Bestehen der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums verffentlicht. 3. Die Akademie fr die Wissenschaft des Judentums. 4. Martin Buber und S. Y. Agnon planten die Verffentlichung einer Sammlung chassidischer Texte. 5. Julius Guttmann (1880-1950). Historiker der jdischen Philosophie und ab 1919 Teil des Lehrkrpers an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums

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Es wre fr Buber 1 eine Freude und fr die Akademie die Erkenntnis eines Weges gewesen. Aber die Geschichte der Akademie ist ja leider die Geschichte davon, wie der Nebenweg dem Weg und die Menschen des Nebenwegs den Menschen des Weges sich vordrngen. Aber ich hoffe immer noch, daß Ihr Gedanke sich durchsetzen wird – hierin und in manch anderem. Rahel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, Hg. Franz Rosenzweig. Briefe und Tagebcher. 2. 1918-1929. Haag, 1979. S. 903-04.

* Berlin, 8. Mrz 1923 Sehr verehrter Herr Doktor, ich schreibe Ihnen sofort einige Zeilen, um Ihnen zu sagen, wie ich Ihnen fr das erlesene Wort, das Sie ber die »romantische Religion« 2 schrieben, von Herzen dankbar bin. Das, was Sie ber Ihr Verhltnis zu der Schrift schrieben, ist mir von wesentlichem Wert. Mir selbst sind mancherlei Bedenken vorher und nachher gekommen; sie betrafen zunchst die Schwierigkeit, die darin liegt, daß zunchst ein Bruchstck verffentlicht wird – die Schrift ist, wie in der eigentlichen Ausgabe in der Festschrift auch vorausgeschickt worden ist, der erste Teil eines Buches ber »Klassische und romantische Religion – und das Ganze gibt dem Teil doch erst den Platz. Und sodann: ob es richtig ist, einen Gedanken zu sezieren oder zu prparieren, ihn aus den Verbindungen des Werkes herauszunehmen und ihn »rein« fr sich zu demonstrieren. Aber ich dachte, daß es zunchst einen Wert haben knnte, das Christentum einmal als »reinen« Paulinismus aufzuzeigen, um darzutun, wie es ist – und auch in theoria gewesen ist- wenn es seines jdischen ledig sein, wenn es gnostisch, marcionistisch – cf. Harnack: Marcion – sein sollte oder wollte, daß dann die reine Romantik brig bleibt, daß diese also das »reine« Christentum ist. Die psychologische Wurzel wollte ich darlegen, damit einmal der Gegensatz zwischen dem Christentum, in seiner Restriktion auf das Nichtjdische, und dem Judentum aus dem Katechismusmßigen in das Psychologische und Wurzelhafte gefhrt werde. Ein »reines« judentumfreies Christentum hat es allerdings in praxi et historia nicht gegeben. 1. Martin Buber (1878-1965). Bedeutender Religionsphilosoph. Verffentlichte 1923 sein Hauptwerk Ich und Du. 2. Siehe Anmerkung zum vorhergehenden Brief.

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Aber aus dem Bruchstck soll ein Buch werden, und dann will ich, was Sie mir schrieben, nicht ungeschrieben sein lassen. Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’.

* Berlin, 6. Mai 1923 Sehr verehrter Herr Doktor, Meinem Brief fge ich diese besonderen Zeilen bei, um Ihnen fr Ihren frheren Brief zu danken. Aber das ist die Einleitung nur. Das Eigentliche ist etwas, was mich seit fast zwei Jahren beschftigt. Unser Freund Nobel 1 hatte es in einer langen Unterhaltung angeregt, Ihnen, lieber Herr Doktor, wie unser jdisches Wort sagt, »die eatfe vtve 2 zu geben«. Mir wrde es eine wahre Freude, eine seelische Genugtuung sein. Aber neben dem Gebenden soll der Annehmende stehen. Schreiben Sie mir offen. Rahel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, Hg. Franz Rosenzweig. Briefe und Tagebcher. 2. 1918-1929. Haag, 1979. S. 904.

* Die Krone der Thora 3 Mit dem Beistand Gottes, er sei gesegnet. Der Chawer 4 R. Levi und Sohn des R. Schmuel Rosenzweig, geboren in Kassel, heute Lager habend und Sitz im Zelte der Thora in der heiligen Gemeinde Frankfurt am Main, Stadt und Mutter in Jissrael, der Hchste gebe ihr festen Grund, Amen: Siehe, nachdem seine Augen ihm aufgegangen sind, sehnte er sich in seiner Seele, Forscher zu werden und die verborgenen Schatzkammern zu betreten, den Garten der Weisheit, um erprfen und unterscheiden zu knnen, der Bewandtnis eines Dings und seiner Wirkung nachzuspren, jeglicher Sache ihren Grund zu erstellen. So forschte er und fragte und suchte, umgetrieben war sein Geist, umherflog seine Seele, bis sie im Bezirk unseres Besitzes, des heiligen Besitzes, eine Sttte fand. Dort 1. Nehemia Anton Nobel (1871-1922). Konservativer Rabbiner in Frankfurt am Main und Lehrer Rosenzweigs im talmudischen Schrifttum. 2. Rabbinerwrde; wrtlich: »Genehmigung zu lehren«. 3. Deutsch von Nahum Glatzer 4. Hebr.: »Kollege«.

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war er, und Gott erweckte ihm das Ohr, zu unterscheiden und zu begreifen, zu hren und zu lernen. Er setzte sich einen Meister und ward ein Lernender. Auch um zu lehren gab ER ihm ins Herz ein; da er sah, dass »Zeit ists zu handeln fr den Herrn«, 1 stand er auf, erhob seine Hand, um die Gesamtschaft Jaakobs durch unser Erbgut zu festigen; er wies Ordnung und Mass in unserem Gebiet, um all denen, die sich auf den Weg machen, zu zeigen, wie sie ihn gehen sollen, mgen sie sich nach rechts, mgen sie sich nach links wenden. So ward er Lehrer in unserer Zersprengtheit, las die Schriftliche und lernte die Mndliche Lehre, um aus den Tiefen unserer Thora verborgenen Vorrat zu heben und er mehrte die Botschaft. ER gab ihm eine gelehrige Zunge, und er rief in die Ohren des Einen Volkes Worte der Freiheit und der Trstung, um zu verknden, dass hervorschritt ein Stern aus Jaakob. 2 Er begriffs und leitete die Vielen zur Bewhrung. Darum beschlossen wir, im Einverstndnis mit den Ermchtigten, auf sein Haupt Weihemal der Heiligung zu setzen, Diadem der Thora, Krone des Rabbinats. Diese Rolle sei ihm zu Zeugnis von der Gesamtschaft Jissraels, dass tauglich seine Kraft ist, in der Tempelhalle zu stehn und die Verwahr des Heiligtums zu wahren. ER sein Gott sei bei ihm, dass er erhht werde, hher und hher, dass sich seine Quellen weit hinaus ergiessen, dass SEIN Begehr durch seine Hand geraten mge, auf dass sich hebe die Strke der Wissenschaft Jissraels, die Thora gross und gewaltig werde. Berlin, im dritten Monat, im zehnten des Monats, im Jahre 5683. 3 Uri Lipmann Baeck Rabbiner der heiligen Gemeinde Berlin Dozent an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums. Eugen Mayer, Hg. Franz Rosenzweig. Eine Gedenkschrift. Frankfurt a. M., 1930. S. 6-7.

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1. Ps 119,126. Bezieht sich auf Rosenzweigs Schrift Zeit ists. Gedanken ber das jdische Bildungsproblem des Augenblicks (1917). 2. Num 24,17. Bezieht sich auf Rosenzweigs Schrift Der Stern der Erlsung (1921). 3. 25. Mai 1923.

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Berlin, 26. Juni 1923 Sehr verehrter Herr Doktor! Mit innigem Empfinden habe ich das Dokument, das Sie als »unsern Lehrer« grßt, an Sie abgesandt. Es spricht das aus, was Sie uns gegeben haben und geben, und es will auch ein Wort von der Zukunft sein, die uns vielleicht einen neuen Rabbiner, der von Ihren Zgen vieles haben wird, einmal bringen kann. Rahel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, Hg. Franz Rosenzweig. Briefe und Tagebcher. 2. 1918-1929. Haag, 1979. S. 910.

* Berlin, den 5. August 1923 Sehr verehrter Herr Doktor, herzlichen Dank sende ich Ihnen, daß Sie mich Ihren Aufsatz schon jetzt lesen ließen. 1 Ich habe ihn mit großer Freude und aufrichtigem Dank fr das, was Sie sagen, gelesen; er hat mir in mancher Richtung zu denken gegeben. Die ganze Frage des Wesens ist ein schwieriges geschichtliches Problem; ich habe vor einigen Monaten in einer Auseinandersetzung mit Claude Montefiore 2 einiges geschrieben, wodurch ich mir ein Stck Weges weiter zu bahnen versuchte. Was ist im Grunde eigentlich nicht Apologie? Sind es nicht eigentlich alle platonischen Dialoge, die doch das »Wesen« der sokratischen Philosophie suchen. Und die Reihe geht doch bis Kant und Hegel. »Die Enden unseres Bewußtseins«, um mit Dilthey zu sprechen, von der geschichtlichen Wirklichkeit und von Wert und Ziel sind doch mit einander verwoben. Was ist da nicht Apologie? Und wo ist die Grenze! Gibt nicht am Ende nur die persnliche Kraft eine Bestimmung der Grenze! Es will mir scheinen, daß auch Ihr Schlußsatz das meint. Wo ist auch die Grenze zwischen Verteidigen und Richten und auch zwischen Anklagen und Richten und auch, letzten Endes, zwischen Anklagen und Verteidigen? Haben Sie nochmals vielen Dank. Ich habe Ihren Aufsatz zweimal, mit wachsendem Dank, gelesen. Ihren Rat betreffs der Vorlesung will ich befolgen. In misanthropi-

1. Gemeint ist Rosenzweigs Aufsatz »Apologetisches Denken«. Der Jude 7 (1923): S. 457 ff. 2. Claude G. Montefiore (1858-1938). Intellektuelle Fhrungspersnlichkeit des liberalen Judentums in England und 1. Prsident der World Union for Progressive Judaism.

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schen Momenten scheint es mir oft, als ob die vielen nur das respektieren, was sie gebhrend bezahlen mssen. Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’. Teilweise in: Rahel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, Hg. Franz Rosenzweig. Briefe und Tagebcher. 2. 19181929. Haag, 1979. S. 918.

* Berlin, 5. Januar 1924 ehfnm jarfm 1 Sehr verehrter Herr Doktor, erst gestern, Freitag, Abend habe ich die Korrekturfahnen erhalten, und ich habe nun den Tag ber gelesen und, um fertig zu lesen, bin ich, wie man hierzulande sagt, lfhl udsm Pjofm 2 gewesen. Was ich las, sollte zum Schabbos gehren, und ich habe spt Hawdolo 3 gemacht. Ich habe Ihnen innig zu danken. Die Einleitung 4 ist die, die eine weite Hoffnung gedacht hatte. Kein anderer htte sie so schreiben knnen, und es wird keinen geben, der nicht jetzt Cohens Weg deutlicher sieht und in seinem Antlitz neues erkennt. Ich habe Cohen erst spt, im Jahre 1912, gesehen, und ich stand unter dem Eindruck seiner Naivitt, wie Sie sie schildern. Der Naivitt, die alles sagen kann, und dann unter dem der immer erneuten Entdeckung Freude, von der Sie erzhlen. Ich erinnere mich noch, wie er von seiner Entdekkung, daß der Heilige Geist die Seele des Menschen ist, in seiner eigenen Art berichtete, als ich ihn an der Haltestelle der Elektrischen am Brandenburger Tor traf. – Wie ganz anders sind mir durch Ihre Einleitung jetzt die Linien sichtbar geworden. […] Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’.

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1. »Ende des Ausruhens«, d. h. Ende des Schabbats. 2. »Dem Profanen etwas von dem Heiligen hinzufgen«. 3. Die Zeremonie, die am Samstag Abend den Schabbat von der neu beginnenden Woche trennt. 4. Rosenzweig schrieb eine extensive Einleitung zu der 3-bndigen Ausgabe des jdischen Philosophen Hermann Cohens Jdische Schriften, die die Akademie fr die Wissenschaft des Judentums 1924 verffentlichte.

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Berlin, 27. Juni 1924 Sehr verehrter Herr Doktor! Ich habe Ihren Jehuda Halevi 1 erst lesen und lesen wollen, ehe ich Ihnen schrieb; denn schon nach dem ersten Gedicht ging es mir so, daß mich das erste nicht losließ, und ich erst nach dem Nochmals und Nochmals weiterging. Wer Ihr Buch beim ersten Male schon gelesen haben will, soll es lieber ungeffnet liegen lassen. So werde ich nun seit einem Monat in meinen Stunden, die mir bleiben, immer neu durch Ihr Buch beschenkt. Kann einer den Jehuda Halevi selber anders lesen? Ich weiß nicht, ob schon irgendwo einer Ihr Buch »besprochen« hat, und eine Unzufriedenheit ber den »langen-kurzen Weg«, um mit dem Midrasch zu reden, sich etwa geußert hat. Ich wrde den fragen, ob er den Jehuda selbst schon gelesen und ob er ihn etwa anders, als drei und viermal jedes Lied, ehe das Zusammen von Sprache und Inhalt, von Rhythmus und Gedankengang sich erschloß, gelesen hat. Ein »lesbarer« Jehuda Halevi wfluf oh! 2 – Haben Sie vielen Dank! Und einen besonders großen Dank fr die Anmerkungen. Wenn die bersetzung auch nur sie uns gebracht htte – fnjd. 3 Fast mchte ich sie als ein besonderes Buch fr die wnschen, die die Gedichte nicht lesen knnen. In den nchsten Wochen will ich die homiletischen bungen an der Lehranstalt zu gemeinsamer Vertiefung in Ihr Buch, in einige Seiten, so weit die Wochen es gewhren, noch vergeben. Jeder, der bei den bungen ist, wird ein Buch haben. Zum Schluß den persnlichen Dank an Ihre Gattin und Sie, daß Sie mich mit einem Exemplar Ihres Buches beschenkt haben. Das bleibt mir nun ganz besonders ein Besitztum. Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’. Teilweise in: Rahel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, Hg. Franz Rosenzweig. Briefe und Tagebcher. 2. 19181929. Haag, 1979. S. 991-992.

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1. Rosenzweig verffentlichte 1924 Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi. Deutsch. Mit einem Nachwort und mit Anmerkungen. 2. »Gott bewahre!«. 3. Aus der Pessach-Haggada: »Es wre fr uns genug«.

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Berlin, 17. Oktober 1924 Sehr verehrter Herr Doktor, in meiner alten Heimat, die ich seit Jahren nun leider verloren habe, 1 war es ein guter Brauch, zum etfv vhmu-Tage 2 einen, der uns im abgelaufenen Jahre geistig beschenkt hatte, etwas auf den Feiertagstisch zu setzen, um das vhmuf – vhmjuf 3 zu bewahren. In diesem Jahre der Stabilitt kann man in Deutschland wieder anfangen, manches zu erfllen – ich habe in dieser Woche wieder meinen eigenen blfl 4 gehabt –. Ich bitte Sie daher mit meiner Frau, daß Sie und die Ihren den beiliegenden Kuchen sich in i«j vhmu 5 gut schmecken lassen mgen. Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’.

* Leo Baeck zu Franz Rosenzweigs 40. Geburtstag Das Gebot, das Ethische will das Leben des Menschen sein. In einem Bestimmten Umrissenen will es das ganze Herz und die ganze Kraft des Menschen sammeln. Damit umgrenzt es den Bezirk des Menschen, es macht die Erde zur Welt und die Welt, und auch das Reich Gottes, zu dieser Erde, die der Mensch bewohnt. Wie leicht lsst es den Menschen erdgemss, erdbeschrnkt werden. Das Geheimnis, das Mystische will im Odem der Welt atmen lassen. Es macht den Menschen zum kosmischen Wesen, es dehnt seine Erde zur Welt. Nicht ein Pantheismus, ein Ineinandersetzen von Gott und Welt ist das Mystische, sondern Aufnahme der Welt in den Menschen, Pananthropismus. Wie leicht nimmt es darum den Menschen von seiner Erde, von der Wirklichkeit seiner Aufgabe fort. Jdisches in seinem Eigensten ist die innere Einheit – Einheit daher mit all ihrer Spannung – des Ethischen und des Mystischen, des

1. Baecks Geburtsort Posen wurde nach dem 1. Weltkrieg polnisch. 2. Festtag, an dem der erste und der letzte Abschnitt des Pentateuch vorgelesen wird. 3. Wortspiel: »Du sollst Freude haben – du sollst Freude geben«. 4. Feststrauß, der am Sukkotfest zur Hand genommen wird. Lev 23,40. 5. »Freude des Festtages«.

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Franz Rosenzweig

Erdhaften und des Welthaften, Einheit von Mizwah 1 und Kawwanah 2 oder, was dasselbe bedeutet, von Torah und Sabbat. Martin G. Goldner, Hg. Franz Rosenzweig zum 25. Dezember 1926; Glckwnsche zum 40. Geburtstag. New York: Leo Baeck Institute, 1987.

* Berlin, 9. Januar 1927 […] Buber erzhlte mir, daß zu Ihnen eine Nachricht gelangt sei, ich htte an Ihrer Bibelbersetzung 3 eine absprechende Kritik gebt. Dem Wirklichen ist das so sehr entgegen, daß ich eine Personenverwechslung annehmen mchte. In meinen homiletischen bungen habe ich des fteren zu der bersetzung hinzufhren mich bemht. Ich habe Ihre Eigenart nahezubringen gesucht, indem ich, neben anderem, mit etwas massiver Modellierung, bersetzungskommentar und bersetzungsgedanke oder, wenn es so besser gesagt erscheint, … solche, die dazu da ist, daß sie an Stelle des Urtextes, und solche, die dazu da ist, daß in ihr der Urtext gelesen werde. Als dieses letztere habe ich die Ihre zu kennzeichnen gesucht. Ich halte Ihre bersetzung fr ein Werk, durch das uns nicht nur eine bersetzung der Bibel gegeben, sondern das Wort der Bibel wiedergegeben werden soll. Deshalb schulden wir Ihnen und Buber so großen Dank. Wer hatte, empfngt neu, und wer nicht hatte, kann nun empfangen. Es war, und bleibt, meine Absicht, wenn wir den ganzen Pentateuch lesen drfen, meinen Dank Ihnen ausfhrlich zu begrnden. Diese Zeilen kommen schon jetzt, damit nicht ein Irrtum den Platz behalte. Ich war schon so lange nicht in Frankfurt. Wieder einmal einen Tag dort wnsche ich mir vor allem, um mit Ihnen wieder einmal zusammen zu sein. […] Rahel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, Hg. Franz Rosenzweig. Briefe und Tagebcher. 2. 1918-1929. Haag, 1979. S. 1124.

1. Hebr.: »Gebot«. 2. Hebr.: »Andacht«. 3. Die Schrift. Zu verdeutschen unternommen von Martin Buber, gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Erschien in den Jahren 1925 bis 1929 in Fortsetzungen.

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Hermann Graf Keyserling Hermann Graf Keyserling (1880-1946) war zu seiner Zeit ein weit bekannter Popularphilosoph. 1920 grndete er in Darmstadt die »Schule der Weisheit« als ein internationales Geisteszentrum. Dort veranstaltete er alljhrliche Tagungen zu verschiedenen Themen der Geistes- und Naturwissenschaften, welche berragende Persnlichkeiten sowohl von innerhalb als auch von außerhalb der Universitten und unterschiedlicher religiser berzeugungen anzogen. Durch sorgfltig geplante Vorlesungsreihen versuchte er, die Kluft zwischen akademischen Disziplinen und den Belangen des menschlichen Lebens zu berbrcken. In den frhen 20er Jahren nahm Baeck an einer Reihe dieser Tagungen teil, anscheinend als Reprsentant des jdischen Glaubens. Die Teilnahme gab ihm die ungewhnliche Mglichkeit, fhrende religise und akademische Persnlichkeiten kennenzulernen, die er wohl sonst nicht getroffen htte. Aus der Korrespondenz der beiden geht deutlich hervor, daß Baeck und Keyserling einander sehr schtzten und Keyserling Baecks Teilnahme an den Konferenzen zu wrdigen wußte. Wie Keyserling glaubte auch Baeck, wie er es ihm 1923 schrieb, daß ein Mensch ein Philosoph ist, »nicht nur durch das, was er schreibt, sondern noch weit mehr durch seine Psyche, durch das, was er ist«. Keyserling erkannte, daß Nazismus gegen die Geistigkeit war, die er in Darmstadt zu frdern suchte. Das nationalsozialistische Regime wiederum billigte die Arbeit Keyserlings nicht und war darauf aus, ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Es ist von Interesse, daß Baeck und Keyserling auch whrend der Nazi-Jahre den Kontakt zueinander aufrecht erhielten. In dem letzten Brief, den Baeck nach dem Krieg an Keyserlings Witwe Goedela, die die Arbeit ihres Mannes aktiv untersttzt hatte, schrieb, bringt Baeck noch einmal seine Wertschtzung fr diese ungewhnliche, heute nahezu vergessene Persnlichkeit zum Ausdruck. * Berlin, 2. August 1923 Hochverehrter Herr Graf, meinen herzlichen Dank bitte ich Sie entgegennehmen zu wollen fr die Auszeichnung und fr den seltenen Genuß, die mir durch Ihr Selbstportrt geschenkt worden sind. Als ich von einer Reise ins Freie zurckkehrte, hat es mich hier als ein neuer Blick in einen Kosmos erwartet. Es gibt doch nichts Wundersameres, als die Entfaltung einer erlesenen Psyche nachschauend sehen zu drfen. 586

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Die Philosophie macht nicht den Menschen; sie kann ihm nur, wie Sie schreiben, meutische Dienste leisten; wo sie den Menschen machen soll, dort gehen der Mensch und die Philosophie eigentlich nur neben einander unter gelegentlichen Besuchen einher. Der Mensch macht vielmehr die Philosophie, und nur wenn ein Mensch die Philosophie macht, wird ein Philosoph, ein Mensch, dem ein Kontinent zugehrt, der ein Philosoph ist nicht nur durch das, was er schreibt, sondern noch weit mehr durch seine Psyche, durch das, was er ist. Und nur, wer so ein Philosoph ist, hat die Mglichkeit und damit das Recht, seelisch die Mglichkeit und das Recht, zu sagen, wie er ein Philosoph geworden ist. Sonst wird das Selbstportrt nur ein kleinbrgerliches oder bourgeoismßiges Stck. Die Universitt wre fr Sie nur eine Kette geworden, die Sie bald htten abstreifen mssen, die Kette des Bezirks. Darf ich mir erlauben, Ihnen anbei eine Schrift zu berreichen, die ich Ihnen wohl schon vor lngerem htte vorlegen sollen. Sie schreibt ber romantische Religion, ist aber nur ein Bruchstck, als erster teilweiser Teil eines Werkes ber »Romantische und klassische Religion«, zunchst bewußt einseitig, indem das Problem absichtlich in eine bestimmte Abstraktion gestellt wird. 1 Hermann Keyserling-Nachlaß. Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, Darmstadt.

* Hermann Keyserling an Leo Baeck Darmstadt, 23. Juni 1924 Sehr geehrter Herr Doktor! Ihr gestriges Telegramm hat mich sehr erfreut. Wir betrachten es als fest abgemacht, dass Sie auf unserer nchsten Tagung 2 vom 14. bis 20. September den Vortrag »Tod und Wiedergeburt« 3 bernehmen. ber den Grundgedanken dieser Tagung sind Sie durch das

1. »Romantische Religion.« Festschrift zum 50jhrigen Bestehen der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums. Berlin, 1922. S. 1-48. 2. Eine Tagung von Keyserlings »Gesellschaft fr Freie Philosophie« in Darmstadt. 3. Dieser Vortrag erschien zuerst 1925 in dem von Keyserling herausgegebenen Sammelband Der Leuchter und wurde dann in Baecks 1933 erschienenen Wege im Judentum (siehe Band 3 dieser Werkausgabe) wiedergedruckt.

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letzte Heft des Wegs zur Vollendung, 1 S. 51, orientiert. Ich habe nun folgendes hinzuzufgen, und lege, um mich nicht zu wiederholen, die Abschrift eines Briefs an Romano Guardini, 2 der zuerst fr diesen Vortrag in Aussicht genommen war, der ihn aber nicht bernehmen konnte, bei. Die nchste Tagung wird, mehr als alle frheren, einer genau abgestimmten Symphonie gleichen. Ich beginne mit Umreissung des allgemeinen Rahmens des Grundthemas Werden und Vergehen unter dem Titel »Organische Entwicklung«, darauf wird Prof. Driesch 3 die allgemeine Phnomenologie des Lebens darstellen, das gleiche werde ich darauf unter dem Titel »Geschichte als Tragdie« inbezug auf das Gebiet des geschichtlichen Lebens tun. Darauf wird der Buddhist Paul Dahlke 4 seine rein agnostischen Standpunkte als musikalisches Fermate vertreten: Nun kommt alles darauf an, dass der nchste Vortrag »Tod und Wiedergeburt« so eindrucksvoll wird, dass die vorhergehenden smtlich nur als Vorbereitung auf diesen wirken. Alle vorhergehenden Vortrge werden sich auf der Ebene des Empirischen bewegt haben. Ihre Aufgabe wird es sein, die Tagung auf eine neue Ebene zu heben, indem Sie zeigen, dass es tatschlich eine Wiedergeburt im Geiste gibt, also dass die Behauptungen aller Religionen ein Erlebnis geistiger Wirklichkeit darstellen. Der Mensch muss abnehmen, damit Gott zunehmen kann; nicht ich lebe, sondern Gott lebt in mir; das Ich muss sterben, auf dass Hheres lebe – was ich meine, ist in diesen Sprchen kurz enthalten. In welchem Konfessionellen die Darstellung der religisen Wirklichkeit geschieht, ist von unserem Standpunkt gleichgltig, wie Sie schon daraus ersehen, dass ich mich zuerst an Guardini gewandt habe und nachher an den Calvinisten Carl Barth. 5 Es kommt nur darauf an, dass sich der Vortrag an irgend einer Religion orientiert. Dass das, was Sie persnlich ablehnen und romantische Religion heissen, in Ihrem Vortrag nicht zur Geltung kommt ist gut, denn der nchste, den der Russe Arssenieff 6 unter dem Titel »Auferstehung« hlt, wird alles das sagen, was im Christentum an Apokalyptischem und rein Jenseitigem hinzugekommen ist. Ihr Vortrag 1. Eine von Keyserling herausgegebene Schriftenreihe. 2. Romano Guardini (1885-1968). Italienisch-deutscher Philosoph und Theologe, vertrat eine katholische Kulturphilosophie. 3. Hans Driesch (1867-1941). Entwicklungsphysiologe und Naturphilosoph. Ab 1924 Professor in Leipzig, wo er von den Nazis vorzeitig emeritiert wurde. 4. Paul Dahlke (1865-1941). Arzt und Buddhismusforscher. Grndete1924 »Das buddhistische Haus« in der Gegend von Berlin. 5. Carl [eigentlich Karl] Barth (1886-1968). Neuorthodoxer protestantischer Theologe, spter erklrter Gegner des Nazismus. 6. Genauere Informationen ber Nikolai Arsenieff nicht ermittelbar.

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soll gerade die Wirklichkeit der Wiedergeburt auf Grund des Todes in diesem Leben darstellen und zwar auf Grund einerseits der ganzen bisherigen religisen Erfahrung, dann aber vor allem auch auf Grund Ihrer persnlichen. Es muss zum ergreifenden Bekenntnis der Wirklichkeit religisen Neuwerdens werden. Und gerade das werden Sie besser als irgend ein anderer leisten knnen, denn schon Ihr voriger Vortrag 1 war auf das Problem mglicher Wiedergeburt zugespitzt. Bitte haben Sie die Freundlichkeit zu besttigen, dass Sie diesen Brief erhalten haben. Ich bin berzeugt, dass Ihr Vortrag wieder zum Glanzpunkt der Tagung werden wird. Wenn irgend mglich, machen Sie diesmal bitte die ganze Tagung mit, damit Sie sich bewusst auf das Vorhergehende beziehen knnen. Wo Sie hier als Gast wohnen werden, hoffen wir Ihnen demnchst schon mitteilen zu knnen. Im brigen bietet die Gesellschaft fr Freie Philosophie ihren Vortragenden dieses Mal freie Reise hin und zurck und 200,– Mk. Honorar. berdies wird der Vortrag, der im Leuchter 2 1925 erscheinen wird, vom Verlag extra honoriert. Bitte schreiben Sie mir vor allem auch gleich, ob Sie die ganze Tagung ber bleiben knnen. Es wre dies usserst wnschenswert. Quelle: wie oben.

* Berlin, 25. Juni 1924 Hochgeehrter Herr Graf! Darf ich Ihnen fr Ihren liebenswrdigen Brief meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Durch das, was Sie schreiben, ist mir der Ton, auf den die Tagung abgestimmt sein soll, vernehmbar geworden. Ich will es versuchen, in diesem Ganzen das Eigene und im Eigenen dieses Ganze auszusprechen. Mit starker Erwartung sehe ich den Vortrgen der diesjhrigen Woche entgegen. Es wird mir ein besonderes Geschenk sein, an ihrem ganzen Verlaufe teilzuhaben. Quelle: wie oben.

* 1. »Die Spannung im Menschen und der fertige Mensch« (1923). Als »Vollendung und Spannung« in Baecks Wege im Judentum aufgenommen (siehe Band 3 dieser Werkausgabe). 2. Keyserling war Herausgeber der Sammelbnde Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensgestaltung.

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Oberbrenburg, 12. August 1932 Hochverehrter Herr Graf! Darf ich vor allem fr Ihren freundlichen Brief vom 2. August vielmals danken und ganz besonders fr Ihren Aufsatz in der Klnischen Zeitung, 1 der ihn begleitete. Mir hat selten ein Aufsatz so viel gesagt wie er; Ihre ganze Persnlichkeit spricht wieder aus ihm. Wenn eine sptere Generation die Geschichte unserer Zeit schreiben wird, sie wird von Ihnen neben allem dem anderen dieses eine als ein Bestimmendes erkennen: diesen starken, nie beirrten Mut zur ganzen Wahrheit, die Tapferkeit, die immer durch alle Hllen und trotz aller Verstecke das Ganze und Eigentliche, dieses Wirkliche und diesen Sinn aufzeigt. Von der Klnischen Zeitung, deren Blatt ich wieder beifge, habe ich mir ein paar Exemplare bestellt, um hier und dort die Gelegenheit zu geben, von dem Aufsatz zu wissen. Ich lese jetzt einige Kapitel der Sdamerikanischen Meditationen 2 zum zweiten Male; ich will das Buch in einer englischen und einer amerikanischen Zeitschrift besprechen. Quelle: wie oben.

* Leo Baeck an Goedela Keyserling London, 21. Juni 1950 Hochverehrte Frau Grfin! Lassen Sie mich Ihnen aufs herzlichste dafr danken, dass Sie an mich geschrieben haben. Ich selbst hatte, seit ich Ihre Adresse durch einen Bekannten erfahren hatte, oft einmal daran gedacht, einige Zeilen an Sie zu senden, und ich mache mir Vorwrfe, dass ich es bisher nicht getan habe. Um so mehr fhle ich mich fr Ihren gtigen Brief Ihnen verpflichtet. Wenigen Menschen bewahre ich ein so dankbares und verehrungsvolles Andenken wie dem Grafen Hermann Keyserling. Briefe, die ich von ihm erhalten hatte, htete ich ganz besonders, und ich empfinde es als einen Schmerz, der mich in meinem Persn1. In einem Artikel der Klnischen Zeitung vom 8. April 1932 verlieh Keyserling seiner Ansicht Ausdruck, daß das Wesen der nationalsozialistischen Weltanschauung darin liege, »dass sie zum Geist feindlich steht«. Siehe Ute Gahlings. Hermann Graf Keyserling. Ein Lebensbild. Darmstadt, 1996. S. 237. 2. Sdamerikanische Meditationen. Stuttgart, 1932.

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lichen getroffen hat, dass mein Schreibtisch, der sie barg, zusammen mit allen meinen Bchern und Heften, meinen Bildern und meiner gesamten beweglichen Habe, ins Unbekannte fortgefhrt worden ist – alle Versuche, eine Spur zu entdecken, sind bisher vergeblich geblieben. Hier und in America habe ich in den letzten Jahren des fteren auf ihn hingewiesen, aber ich will es jetzt noch eindringlicher tun. Dem Wunsche, den Sie, hochverehrte Frau Grfin, aussprachen, will ich gern und alsbald nachkommen. Ich erinnere mich sehr wohl an Ihre Frau Schwester, und ich glaube, dass ich offen das alles, dem Sie Ausdruck gaben, auch selbst in diesem affidavit aussprechen darf. Ich schreibe heute noch auch an Ihre Frau Schwester, um sie zu bitten, mir die genaue Form des Vornamens oder der Vornamen, mit denen die Akte in Washington gefhrt ist, mitzuteilen. Ich hoffe, dass es mir im nchsten Jahre gewhrt sein wird, an der Tagung der Keyserling-Gesellschaft teilzunehmen und ich Sie dort werde sprechen drfen. Quelle: wie oben.

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Paul Graf Thun-Hohenstein Es war anscheinend auf einer Zusammenkunft der Schule der Weisheit, von Hermann Graf Keyserling 1924 in Darmstadt einberufen, daß Leo Baeck einen anderen Adeligen traf, Paul Graf Thun-Hohenstein (1884-1963). Thun-Hohenstein war ein konservativer Angehriger des sterreichischen Adels und praktizierender Katholik. Wie Keyserling war er Intellektueller, ohne Akademiker zu sein. Er bettigte sich abwechselnd als Dichter, Essayist, Journalist und als bersetzer literarischer Werke aus dem Franzsischen und Italienischen ins Deutsche. Baeck, dessen Stil und Auftreten zuweilen als dem Adel hnelnd beschrieben wurde, scheint mit ihm eine gemeinsame Sprache gefunden zu haben. Der erste der zwei hier aufgefhrten Briefe stammt aus dem Jahr 1924 und enthllt eine wenig bekannte Seite Baecks: sein weitreichendes Wissen europischer Geschichte und seine moderat konservativen politischen Ansichten. Whrend er England als positives Beispiel anfhrt, beklagt er das Versumnis des deutschen Adels, sich zu einer unabhngigen Kraft entwickelt zu haben, die die Monarchie unter Kontrolle halten knnte. Der zweite Brief, mehr als ein Vierteljahrhundert spter geschrieben, bringt den beiderseitigen Wunsch des Rabbiners und des sterreichischen Adeligen zum Ausdruck, ihre Beziehung wieder aufleben zu lassen. Baeck erscheint besonders glcklich, solche Verbindungen »nach allen den Einsamkeiten, durch die ich hindurchschreiten musste«, zu erneuern. * Berlin, 9. November 1924 Sehr verehrter Herr Graf! Empfangen Sie meinen aufrichtigen Dank fr Ihren freundlichen Brief, ganz besonderen Dank auch dafr, wie Sie in der Allgemeinen Zeitung ber Darmstadt 1 berichtet haben. Es ist so, wie Sie es sagen, daß es die eigentliche, freilich auch die schwierigste Aufgabe des Berichterstatters ist, eben zu berichten. Bloß feuilletonistisch um den Inhalt des Gehrten herumzugehen – oft wie die Katze um den heißen Brei –, ist leichter. Zum Hren ganz wie zum Sehen ist zudem die Fhigkeit der Anteilnahme erforderlich und auch ein gewisses Maß von Wohlwollen, ohne das ist es nicht mglich, wahr zu berich1. Bezieht sich auf die kurz zuvor stattgefundene Tagung der »Schule der Weisheit« in Darmstadt, an der Baeck und Thun-Hohenstein teilgenommen hatten.

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Paul Graf Thun-Hohenstein

ten. Ich bin Ihnen fr diese wahre Art herzlich dankbar, in der Sie den Gedankenweg meines Vortrages 1 gezeichnet haben. Dem, was Sie ber die Aufgabe des Adels im Deutschland und im Europa unserer Tage schreiben, stimme ich ganz bei. Seine Zeit kann jetzt wieder gekommen sein. Vor allem fr den sddeutschen und sterreichischen Adel gilt es. Der norddeutsche hat sich gern in einer gewissen Unbildung und Kulturlosigkeit behagt und mit ihr beinahe geprunkt. Die einzige Verbindung mit einem Geistigen war hier gelegentlich der Pietismus. Auch im Politischen ist er jetzt wieder auf die Seite des Ungeistigen getreten. Im Sden, in dem sterreich selbstverstndlich eingeschlossen ist, hat der Adel viel mehr Instinkt – und menschlicher Instinkt ist Sinn und Ahnung fr ein Geistiges – jetzt bewiesen. Wenn seine Zeit jetzt gekommen sein kann, so hat dies vielleicht noch einen besonderen Grund und Zusammenhang. Der Adel ist jetzt gezwungen, sich zu emanzipieren, seine eigene Basis zu besitzen. Er hatte, seit Richelieu und Mazarin den frondierenden Adel vernichtet hatten und nach dem franzsischen Beispiel ein hnliches sich berall auf dem Kontinent vollzog, seine geistige Basis immer in dem jeweiligen großen oder kleinen Monarchen – tel roi telle noblesse. 2 Wenn der englische Adel bis heute fhrend im Lande ist, so kommt es daher, daß er zu einer Hlfte immer S. Majestt allergetreueste Opposition gebildet hat. Wre er zur Zeit Jakobs II 3 nur Tory, 4 zur Zeit des Oraniers 5 nur Whig 6 gewesen, so wre er politisch lngst zur Abdankung gezwungen gewesen. Aber er hatte eben seine Basis in sich selbst. Vielleicht verdankt es dem auch das Knigtum in England, daß es heute noch besteht. Htten wir im deutschen Reiche, vor allem in Preußen einen Adel gehabt, der sich nicht nur als Kammerherrn, als valet de son matre, 7 betrachtet htte, so sßen wohl die Dynastieen noch auf ihrem Thron. Aber der preußische 1. Baeck hatte einen Vortrag zum Thema »Tod und Wiedergeburt« gehalten. In seinem Bericht hatte Thun-Hohenstein den Inhalt von Baecks Beitrag zusammengefaßt und ihn als »die Sensation der Tagung« bezeichnet. Siehe Armin A. Wallas. »Drei Briefe von Leo Baeck an Paul Graf Thun-Hohenstein«. Jdischer Almanach 1999/5759 des Leo Baeck Instituts. Frankfurt a. M., 1998. S. 20. Extensivere Anmerkungen zu diesen Briefen finden sich in den Fußnoten zu dem genannten Artikel. 2. Franz.: »Wie der Knig, so der Adel«. 3. Knig von England von 1685 bis 1689. 4. Die Partei, die Jakob II. untersttzte. 5. Wilhem III. von Oranien, regierte von 1689 bis 1702. 6. Die Befrworter Wilhelm III. 7. Franz.: »Diener seines Herren«.

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Adel hat immer nur Hurra geschrieen, und wenn er Opposition machte, so geschah es hchstens in verschwiegenen Briefen oder in der Fidelitt der Kasinotafel. Es will mir scheinen, als sei das auch die historische Schuld der deutschen Bundesfrsten gewesen, daß sie keiner Opposition gegen Wilhelm II. fhig gewesen sind oder hchstens einer Familienbrief-opposition. Durch diese geschichtliche Schuld sind die deutschen Dynastieen gefallen. Diese Oppositionslosigkeit ist noch verhngnisvoller geworden durch den Umstand, daß in Deutschland und sterreich eine Generation ausgefallen ist, hier die des Kaisers Friedrich, 1 dort die des Kronprinzen Rudolf. 2 Auf den Großvater folgten zu unmittelbar der Enkel 3 und der Großneffe. 4 Ein hnliches Schicksal hat durch Ludwig II Bayern 5 gehabt. Und in allen diesen Lndern ist dieses Geschick der Dynastie zum Geschicke des Adels geworden, weil die Mnner der ausgefallenen Generation nicht den Willen besaßen, Opposition zu werden. Jetzt hat der Gang der Historie den Adel gezwungen, sein unabhngiges Standesbewußtsein sich zu bereiten – Unabhngigkeit ist ja auch die zuverlssigste Treue –, und darum kann jetzt seine Zeit gekommen sein. Ich wßte auch nicht, wie Deutschland die starken Krfte der Kultur, die in dem Adel mit Kultur und Stil liegen, entbehren knnte. Nicht zum mindesten fr Deutschlands Wiederverbindung mit Europa sind diese Krfte vonnten. Vielleicht ist das auch der beste Teil von Darmstadt, daß dort der Adel vornan seinen Platz in einem Geistigen gewinnt. Auch sterreich ist jetzt gezwungen, sich jetzt auf seinen Wert zu besinnen, fr sich und damit fr Europa etwas zu sein. Vor dem Kriege wollte der sterreicher zu oft und zu sehr als Nichtsterreicher etwas gelten, er vergaß das tu, felix Austria, nube. 6 sterreichs Aufgabe ist, Verbindungen zu knpfen. Auch die Frage hat sich mir oft aufgedrngt, ob nicht die Zusammenkoppelung mit Ungarn sterreichs Verhngnis gewesen, ob nicht durch sie sterreich verhindert worden ist, die wahren Verbindungen, wie die mit dem Tschechentum und den Sdslawen, herzustellen. Die Gegenwart zeigt jedenfalls, wie viel sterreich kulturell und moralisch ohne Ungarn sein kann und wie wenig Ungarn in Kultur und Moral ohne 1. Der liberale Friedrich III., der schon nach wenigen Wochen als Kaiser Deutschlands starb. 2. Liberaler Kronprinz von sterreich, nahm sich 1889 das Leben. 3. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. 4. Der sterreichische Kaiser Karl I. 5. Ludwig II. ertrank im Jahre 1886. 6. Lat.: »Du, glckliches sterreich, heirate!«.

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sterreich ist. 1 Heute ist es nur der Wunsch, daß es so viele sterreicher gebe, daß es ein sterreich geben kann. Doch ich bin ein wenig lang geworden und zu weit in die Politik hineingeraten. Aber Sie haben mir so viel zu denken gegeben, daß mich meine Gedanken weiter fhrten. Haben Sie nochmals vielen Dank, hochverehrter Herr Graf, fr Ihren Aufsatz und Ihren Brief. Armin A. Wallas. »Drei Briefe von Leo Baeck an Paul Graf von Thun-Hohenstein.« Jdischer Almanach 1999/5759 des Leo Baeck Instituts. Frankfurt a. M., 1998. S. 1618.

* Cincinnati,16. Mrz 1950 Sehr verehrter Herr Graf Thun-Hohenstein! Es war heute ein guter Tag fr mich, als mich Ihr Brief hier erreichte, der mir von London nachgeschickt worden war. Meine Gedanken waren oft einmal zu Ihnen hingezogen, ganz besonders seit ich im vorigen Jahre von Ihrem Ergehen hren durfte. Ich muss Sie um freundliche Entschuldigung bitten, dass der Weg vom Gedanken zum Briefe nicht zurckgelegt wurde; im tglichen Kampfe mit der Korrespondenz bin ich so oft der Unterlegene. Um so mehr lassen Sie mich Ihnen herzlich danken. All das Schwere, das Ihnen auferlegt war, erfllt mich mit inniger Teilnahme. Wie viel haben Sie und Ihre Frau Gemahlin doch zu tragen gehabt. Meine herzlichen Wnsche fr Ihr und der Ihren Wohlergehen wollen bei Ihnen sein. Deutlich sehe ich Sie vor mir, so, wie Sie mich – fast ist es eine entschwundene Welt – in Darmstadt 2 auf einem Heimwege eines Tages freundlich begleiteten, und ich erinnere mich an manches Wort, das Sie sprachen. Manches Ihrer Sonnette 3 auch klingt mir noch im Ohr. Ich wrde Ihnen dankbar sein, wenn Sie in einer kurzen Zeile mir den Verlag nennen knnten, in dem vor drei Jahren der Band Ihrer Aufstze, 4 und den auch, in welchem Ihre deutsche Fassung der pseudepigraphen Coelestin-Briefe 5 erschienen ist. Fr 1. Ungarn wurde nach dem 1. Weltkrieg unabhngig von sterreich. 2. Bezieht sich auf ihre Zusammenkunft auf der Tagung der »Schule der Weisheit« 1924. 3. Thun-Hohenstein verffentlichte Sonette (1925). 4. Wege des Lebens. Ein Querschnitt durch sterreichische Traditionen (1946). 5. Giovanni Papini. Pabst Coelestin VI. Briefe an die Menschen. Aus dem Italienischen bertragen von Paul Thun-Hohenstein (1948).

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die Gestalt des letzten Coelestin, des V., 1 hege ich seit langem ein sehr warmes Interesse; es will mir scheinen, dass etwas Rhrendes um ihn webt, und dass der Zorn Dantes ihm Unrecht getan hat. Alles, was Sie mir von sich und den Ihren erzhlten, hat zu mir gesprochen. Wie gern wrde ich Sie einmal wiedersehen und Ihre Stimme wieder hren. ber die Jahre hinweg werden dann bald die Fden sich wieder knpfen. Von mir wird es mir schwer zu sprechen, nach allen den Einsamkeiten, durch die ich hindurchschreiten musste, und nach der ersten grossen Einsamkeit, als vor dreizehn Jahren mir meine Frau genommen worden war; dann kamen die anderen. Aber ich spreche das Dankgebet. Ich durfte meine Tochter, ihren Mann und ihr Kind in London wieder haben, und ich habe berall so viel Gte erfahren. Das Skelett, das im Juli 1945 nach London kam – ich hatte, an manchen Tagen, Turenne’s 2 Wort mir gesagt: »Tremble, carosse, tu marcheras pourtant!« 3 –, ist seitdem wieder zum Aussehen eines menschlichen Wesens gelangt. Seitdem bin ich, weil die Menschen meinten, dass ich raten und helfen knnte, durch die Erdteile gezogen. Jetzt bin ich auf dem Wege nach New York und will am 31. Mrz wieder in London sein. Ich hoffe, den Sommer ber dort zu bleiben. Armin A. Wallas. »Drei Briefe von Leo Baeck an Paul Graf von Thun-Hohenstein.« Jdischer Almanach 1999/5759 des Leo Baeck Instituts. Frankfurt a. M., 1998. S. 1920.

1. Nach einer anderen Zhlung: Coelestin VI. 2. Henri Turenne (1611-1675). Franzsischer Offizier. 3. Franz.: »Zittere Karosse, du gehst dennoch vorwrts«.

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Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau Der hochgewachsene, stattliche Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau (1885-1956) war die bemerkenswerte Kombination eines deutschen Adligen, Kosmopoliten, Weltreisenden, Privatgelehrten und Studenten stlicher Religionen mit einem besonderen Interesse an dem Okkulten. Nachdem er 1927 Schloß Ostrau bei Halle an der Saale geerbt hatte, verwandelte er dieses in eine Sttte west-stlicher Begegnung, in die er religise Intellektuelle aus der ganzen Welt einlud. 1 Obwohl Veltheim ein erklrter Gegner des Nazismus war, trat er dennoch dem »Frdererkreis der SS« bei, um den Konsequenzen einer Denunziation zu entgehen und ein Ausreisevisum fr eine seiner langen Asienreisen zu erhalten. So berlebte Veltheim den Nationalsozialismus unbeschadet, auch wenn seine Familie und viele seiner Freunde von dem Regime verfolgt wurden. Nach dem Krieg wurde sein Anwesen enteignet und von den Russen geplndert, und er floh in den Westen, wo er die letzten Jahre seines Lebens in der Gegend um Solingen verbrachte. Baeck scheint Veltheim in den frhen 20er Jahren auf einer Tagung von Keyserlings Schule der Weisheit (siehe oben) getroffen zu haben und blieb mit ihm danach in engem Kontakt. Er besuchte Veltheim zu mehreren Anlssen auf Schloß Ostrau, und auch Veltheim kam auf Besuch nach Berlin. Die erhaltene Korrespondenz zwischen den beiden, von der hier nur ein kleiner Teil – und in manchen Fllen auch nur Auszge aus den einzelnen Briefen – aufgenommen werden konnte, erstreckt sich ber die Jahre 1923 bis 1947 und ist die umfangreichste Korrespondenz Baecks, die erhalten geblieben ist. Die Briefe behandeln eine Vielfalt von Themen: Politik, Literatur und besonders religise Angelegenheiten. Beide Mnner waren bemerkenswert belesen und tauschten oft ihre Ansichten ber klassische und neu erschienene Schriften aus. Veltheim war wie Baeck »ein Freund von Polaritten« in seinem Denken, und sie beide lehnten materialistische und mechanische Weltanschauungen ab. Jeder der beiden stellte das Individuum ber die Gemeinschaft, und obwohl Baeck Veltheims Okkultismus, der solche Ansichten wie den Glauben an Reinkarnation einschloß, nicht teilte, besaßen beide ein lebhaftes Interesse am Mystizismus. Ihre Korrespondenz whrend der Nazi-Jahre konnte ihre beiderseitige Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie nur andeuten. Die vielleicht deutlichste ußerung findet sich in einem Brief vom 31. De1. Siehe Rolf Italiaander, Hg. Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau. Privatgelehrter und Weltbrger. Dsseldorf: Droste, 1987.

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Korrespondenzen

zember 1940, in dem Baeck schreibt: »Ehe ein Volk strzt, strzt seine Religion«. Sie konnten sich jedoch offener ber die besondere Notlage der in Mischehen lebenden Juden und Christen und der Christen jdischer Abstammung austauschen, die Veltheim ein besonderes Anliegen war. Bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, konnten sie sich außerdem ber amerikanische Texte auseinandersetzen, die sich gegen die nationalsozialistische Ideologie aussprachen. Fr Baeck bot diese Korrespondenz eine Mglichkeit, sich von seiner tglichen und schwierigen Arbeit als Fhrungskraft der jdischen Gemeinden abzulenken und einen gnzlich verschiedenen Diskurs zu fhren. Veltheim lud Baeck auch whrend der Nazi-Jahre wiederholt nach Ostrau ein und besuchte ihn auch weiterhin in Berlin. Auf verschiedenen dieser Besuche konnte Veltheim Baeck mit kostbaren Nahrungsmitteln versorgen, welche Juden nicht lnger erwerben konnten. In den frhen 40er Jahren wird die Korrespondenz zwischen den beiden zunehmend persnlicher: wiederholt verleiht Veltheim seiner Sorge um das Wohlergehen seines »liebe[n] Freund[es]« Ausdruck, und in einem Brief spricht er seine Hoffnung auf eine »bessere Zeit« aus. Die Korrespondenz dauert beinahe bis zu dem Tage von Baecks Deportation im Januar 1943 an. Noch bevor Baeck im Juli 1945 Theresienstadt verlassen konnte, nahm er den Kontakt zu Veltheim wieder auf. Nun aber war es Baeck, der Veltheim Hilfe zukommen ließ, nicht nur durch die Zusendung von Nahrungsmitteln, sondern auch durch die Ausstellung eines Leumundszeugnisses, das Veltheim im Falle eines Verhrs durch die Allierten htte vorlegen knnen. Der Rabbiner wurde nun fr den Adeligen zur Inspiration. Am 30. April 1946, in dem letzten hier aufgefhrten Brief, schreibt Veltheim: »Bitte ersehen Sie, verehrungswrdiger Lehrer und Freund, daß ich Sie und Ihr beispielgebendes Leben im Ertragen der Schicksalsschlge mir zum Vorbild nahm, und dass ich mich bemhe, im ganz kleinen mir noch belassenen Rahmen der Mglichkeiten, Ihrem grossen, umfassenden jetzigen Werke der Vershnung und Liebe nachzueifern«. * Berlin, 19. Juni 1932 Sehr verehrter Herr Baron! Fr so manches habe ich Ihnen wieder zu danken, was Ihr letzter Brief mir gebracht hat. Vor allem fr ihn selber und dann fr Ihren Hinweis auf das Goethebuch. 1 Ich habe es inzwischen zu lesen be1. Carl Gustav Carus. Goethe. Zu dessen nheren Verstndnis. Erstverffentlichung 1843.

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gonnen; ich habe eine wirkliche Erhebung empfunden. Man mchte das Buch berschreiben: der bleibende Goethe. Ganz besonders danke ich Ihnen auch fr die wichtigen Anmerkungen zu dem Brandt’schen Referat. 1 Es ist fr mich und fr die meisten so schwer, sich dem Weg zur Erkenntnis des landwirtschaftlichen Problems zu bahnen. Und, schon ganz instinktiv, tritt mir immer wieder nahe, wie nur von diesem Problem aus der Kampf gegen die Wirtschaftsnot in Deutschland, der Kampf fr die Zukunft gefhrt werden kann. Wenn es nun aber immer so, d. i. staatspolitisch, im besten Sinne sozial und lebendig, genommen und erfaßt wrde, und nicht in den parteipolitischen Gebrauch und Mißbrauch von hben und drben herabgezogen und damit eigentlich verkleinert, ja bagatellisiert wrde. Hiermit sind wir ja in der Nhe der eigentlichen Gegenwartsfrage in Deutschland, und die Frage in dieser Frage ist, wie lange sich diese Regierungsgegenwart erstreckt. Wird, will, soll diese Regierung 2 eine bestehende, ein Bestand sein oder nur eine Schiebewand, die nur vorgeschoben worden ist, um eines Tages weggeschoben zu werden, damit inzwischen hinter der Coulisse ein Bhnenbild oder eine Theaterstadt zurechtgemacht werden kann? Mir kam in diesen Wochen die Erinnerung, was Sie ber den Herrenclub sprachen. Ich bin geneigt, das Bessere und Vernnftigere zu vermuten. Sehr vielen Dank sagen Ihnen meine Frau und ich fr Ihre liebenswrdige Einladung. Wir werden in einem der nchsten Monate wohl einmal Halle passieren und dann mit großer Freude fr ein paar Stunden nach Ostrau kommen. Sind Sie im Juli oder August dort? Ich lege einen Aufsatz bei, der freilich der Fachsimpelei allzu nahe ist; aber ich weiß, daß Sie alles interessiert. Im Privatbesitz Marianne C. Dreyfus’.

* Berlin, 29. Juli 1932 Hochverehrter Herr Baron! […] Ganz besonders danke ich Ihnen fr das, was Sie ber die Zahlen sagen. Wir kommen in ihnen immer wieder zu den Grnden, 1. Karl Brandt, Professor in Berlin und prominentes Mitglied der sozialdemokratischen Partei, befaßte sich mit dem deutschen Siedlungsproblem. 2. Zur Zeit dieses Briefes war Franz von Papen Reichskanzler.

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vielleicht zu dem Grunde des Kosmos. Wenn die Mathematik nicht bloß eine Technik ist, wird [sie] doch immer wieder zu diesem Kosmischen der Zahl gelangen, zu den »Sphren ohne das Was«, von denen das alte Hebrische »Buch von der Schpfung« 1 spricht – »Sphren ohne das Was«, weil hier die Zahl nicht einen Inhalt bestimmt, fr einen Inhalt da ist, sondern »an sich« etwas besagt, ein Prinzipium, einen Grund bedeutet. Ich freue mich sehr, daß Sie, wenn Ihr Weg es fgt, Martin Buber aufsuchen wollen. Er wohnt in Heppenheim auf der Bergstraße; die Bezeichnung der Wohnung kenne ich nicht, aber jeder weiß sie dort zu zeigen. Darf ich einige Zeilen beilegen, um Sie bei Buber anzumelden. Nach dem ersten Augustdrittel wollen meine Frau und ich fr einen Monat in die Berge fahren. Im September werden wir wohl in Halle Aufenthalt haben. Wir fragen vorher an, ob Sie zu Hause sind und ob wir fr ein paar Nachmittagsstunden nicht stren wrden. Eine kleine Lektre sende ich als Drucksache. Quelle: wie oben.

* Berlin, 2. Dezember 1932 Hochverehrter Herr Baron! […] Es ist das Schicksal des Liberalismus geworden, das die Zeit seines Wachsens und Vordringens zugleich eine Zeit des Kapitalismus und des geistigen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Materialismus war. Es ist die historische Schuld des Liberalismus, dass er vor diesen beiden kapituliert oder sich mit ihnen verbndet hat, dass er keinen ernstlichen Versuch unternommen hat, sie zu berwinden. Es ist das Schicksal des Nationalismus geworden, dass er geworden und erstarkt ist in einer Zeit der einseitigen Romantik mit ihrer berbetonung des rein Vitalen, Triebhaften, Dunkeln, und in einer Zeit des bersteigerten Darwinismus mit seiner berbetonung der Zuchtwahl, des Machthaften, des bestial Animalischen. Es ist seine historische Schuld, dass er in diesen beiden seine Sttze, seine Philosophie, seine letzten Grnde und Antworten sich geholt hat. 1. Das mystische Buch Ssefer Jezira. Siehe Baecks gleichnamigen Aufsatz in Band 4 dieser Werkausgabe. S. 261-275.

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Es ist das Schicksal des Sozialismus geworden, dass er sich in einer Zeit des Eroberungszugs der Maschine und der Materie und der dadurch [unleserlich] Anmassung von Sachen und Menschen zu organisieren unternommen hat. Es ist seine Schuld, dass er den durch die Maschine gegebenen Mechanismus und den durch die Masse gegebenen Kollektivismus in den Lebensgedanken und den Gemeinschaftsgedanken hat eindringen, ja diese beiden Gedanken dadurch hat bestimmt werden lassen. Und alle drei, Liberalismus, Materialismus, Sozialismus, haben gerade in ihrem Schuldhaften sich dann auch mit einander verbunden, und daraus sind alle die Formen der Geistlosigkeit und Geistesfeindschaft entstanden, alle die attraktiven Mischgebilde von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus. Quelle: wie oben.

* Berlin, 23. Dezember 1932 Hochverehrter Herr Baron! Mit herzlicher Dankbarkeit habe ich alles gelesen, was Sie an mich und zu mir hin schrieben. In Spinoza und Leibniz, die einander auch persnlich kannten, sind in der Tat Gegenpole des Denkens. Dem einen ist alles im Allgemeinen in der centralen Notwendigkeit modus des einen Seins, der einen Substanz. Dem anderen ist alles in der Individualitt, in der Besonderheit, alles ein Centrum der Mglichkeit, gros de l’avenir. 1 Ganz ausgezeichnet finde ich das, was Sie ber Mathematik und Naturwissenschaft und dann ber Mechanismus und Organismus sagen, und es hngt im erstern mit jenen Gegenpolen zusammen. Alle Mathematik gelangt zur species aeterni, 2 alle Naturwissenschaft zur Monade. Aber beide, auch die Mathematik, die hhere zum mindesten, sind ein Widerspruch gegen den Mechanismus. Mechanismus hat einen Platz im Bereich der Manufaktur des manu factum, des vom Menschen Hergestellten. Alles Geschaffene, alle Kreatur Gottes ist organisch, ist darum wirksam an sich und jenseits der Summe; dass es in der Schpfung nichts Anorganisches gibt, hat uns die moderne Atomwissenschaft gezeigt. Es ist das gros1. Franz.: »zukunftstrchtig«. 2. Lat.: »ewige Sicht«.

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se veu@ 1 der materialistischen Natur- und Geschichtswissenschaft, dass sie den Mechanismus aus seiner Welt des Fabrizierten in die Welt des Geschaffenen-Schpferischen hineinstellt und damit die Welt von Natur und Geschichte zur grossen Fabrik macht. […] Quelle: wie oben.

* Berlin, 31. Dezember 1932 Hochverehrter Herr Baron! […] In allem Denken ist eine doppelte Tatsache, die der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen und die der Einheit oder, was dasselbe ist, der Ganzheit der Vorstellungen. In jedem Einzelakt des Vorstellens ist zugleich eine Totalitt des Vorstellens wirksam; alles was jemals Vorstellung eines Menschen war, bleibt in allem, was dann spter seine Vorstellung wird, mitenthalten. Denken bedeutet nicht nur Einheit in der Menge, sondern ebenso Einheit in der Dauer, und diese Einheit ist hier zunchst nichts anderes als die gegebene Tatsache, die Form des Denkens, aber noch nicht die erlebte, bewusste Einheit, die Einheit als Idee. Diese Einheit oder Ganzheit ist aber nicht nur die Form, die Voraussetzung alles Denkens; in ihr ist auch eine individuelle Kraft wirksam, eine Ichenergie, die Energie eines Persnlichen. In der Totalitt des Vorstellens ist die Totalitt eines Ich lebendig. Verschiedene Arten dieser Ich-aktivitt sind mglich und wirksam. Das Ich kann sich den Vorstellungen, die zu seinem Inhalt gehren gegenber- und auch entgegenstellen – die selbstbewusste, die ethische Ichenergie –, oder es kann diese Vorstellungen zu neuen Gebilden zusammenfgen und weiterbilden – die imaginative, die knstlerische Ichenergie. Das Ich wird durch sich selbst aus der Tatsache zur Idee, zum idealen Ich. Man knnte, sehr gleichnishaft und esoterisch und zugleich sehr problemhaft, von den verschiedenen Personen im Ich, Ich-Vater, Ich-Sohn, Ich-Heiliger Geist, sprechen. Diese Individualitts-energie ist nun hervorgewachsen aus einer Gesamt- und Gemeinschaftsenergie – Elterliches, Sippenhaftes, Stammhaftes, Volkhaftes, Menschheitliches – und damit zugleich mit anderen Individualitts-energien verbunden – Erb- und Milieuund Geschichtsverwandtschaft. Auch hier ist der Einzelakt immer zugleich Totalittsakt – das grosse Gebiet des Hereditren, Historischen, Sozialen –, und auch diesen Inhalten kann das Ich formend, 1. Griech.: »Unechte«.

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gestaltend, bestimmend, bejahend, ablehnend gegenbertreten – politisches, soziales, messianisches Denken –; Erbverwandschaft kann zur Erbfremdheit und -feindschaft werden, Erbfremdheit zur Wahlverwandschaft. Diese Ichenergie ist im Letzten, und wiederum sowohl sensorisch wie motorisch, einer letzten Gesamtenergie, einem Gesamtkosmos zugeordnet, und auch hier ist Einzelakt immer zugleich, strker oder schwcher, Totalakt. Und sie kommt im Letzten, geschaffen-schpferisch, von einer ursprnglichen Einheit und Ganzheit, der gttlichen her. Hier ist das grosse Gebiet des Geheimnisses, der Inspiration und Intuition, der Offenbarung und Prophetie, des Ringens mit dem Gttlichen, des Letzten der Selbstbewusstheit. […] Quelle: wie oben.

* Berlin, 28. Februar 1933 Der Mensch erfhrt Beziehungen zu Menschen und zu Ereignissen, und es ist ihm mglich, zwischen sich und sie seelische Widerstnde einzubauen, seelische Sicherungen einzuschalten. Alle Erziehung, an anderen und an sich, alle Gewhnung, alle Haltung besteht zu einem großen Teile in der Bereitstellung und Ausgestaltung dieser Zwischenschaltungen. In ihnen ist die Freiheit des Willens oder genauer die Sicherung des Willens gegeben. Hier heißt es: du darfst frei sein. Aber wir vermgen auch eine Freiheit zu besitzen, die eine ganz andere weit wesentlichere ist, die Freiheit des Menschen. Sie ist in dem begrndet, was der Mensch in sich als jenseits aller Menschen und aller Ereignisse erlebt; sie ist nicht wie jene etwas Rationales, sondern bedeutet ein Irrationales. Sie besteht in dem Wissen um das, was das allein Wirkliche ist, um die Verbindung des Menschen mit dem Gttlichen. Sie ist nicht eine Sicherung des Willens, sondern eine Gewißheit des Menschen, seine letzte Gewißheit, und dadurch seine Freiheit. In ihr ist eine Befreiung vom Tage und vom Geschehnis und damit ein Wissen um die Zukunft, ein Prophetisches. Man knnte es auch griechisch sagen […] ein Eumenidisches. 1 Quelle: wie oben.

* 1. D. h. Wohlwollendes.

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Berlin, 6. Mrz 1933 Hochverehrter Herr Baron! […] In Tagen der Unruhe geschieht manch Beunruhigendes, aber noch mehr wird phantastisch verbreitet und geglaubt. Wir erinnern uns alle noch an die Nachrichten aus den ersten Augusttagen 1914, von dem gesprengten Cahmener [?] Tunnel, von den Bombenabwrfen auf Nrnberg, von den abgefangenen Goldautos etc. Als einen bezeichnenden Beleg fge ich einen Ausschnitt aus der Hessischen Zeitung bei. In solchen Zeiten befriedigen sich auch die Bedrfnisse der delatores. 1 Diese sind nicht alte Denunzianten im blichen Sinne; sie sind oft ganz brave Menschen, in denen nur der geheime Kriminalkommissar schlummert. Wenn Kriminalromane so viel gelesen werden, so hat das auch den Grund, daß diese geheimen Regungen darin ihre Befriedigung finden. Die Haussuchung bei dem Centralverein 2 geht auf ein derartiges zurck. Ich lege eine Erklrung des Centralvereins in seiner Zeitung bei sowie zwei vertrauliche Mitteilungen, die er mir gemacht hat; diese beiden bitte ich mir zurcksenden zu wollen. […] Quelle: wie oben.

* Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau an Leo Baeck Ostrau, 12. Mai 1933 Hochzuverehrender, lieber Herr Dr. Baeck! Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen erst heute fr Ihr so sehr gtiges Schreiben vom 27. April auf das Herzlichste danke, obwohl ich inzwischen schon viel in Ihrem neuen wundervollen Buche »Wege im Judentum«, welches Sie mir freundlicherweise schenkten, gelesen habe. Manche Beitrge waren mir ja von frher bekannt, andere dagegen neu. Ich freue mich sehr, durch die Lektre dieses Buches mich gerade in dieser schweren Zeit mit Ihnen und den von Ihnen behandelten Problemen in stillen Kontakt allabendlich zu bringen. Jedesmal bin ich ganz besonders froh und glcklich, wenn Sie mir, wie in der letzten Zeit schon fters, melden konnten, dass Ihre 1. Lat.: »Informanten«, »Denunzianten«. 2. Centralverein deutscher Staatsbrger jdischen Glaubens.

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verehrte Gattin und Sie wenigstens persnlich nichts unfreundliches zu erdulden haben. Mein innigster Wunsch ist es tglich, dass es so bleiben mge. […] Ich glaube mich auch bei Ihnen bedanken zu mssen und zu drfen fr die Zusendung der Monatsausgabe der Jdischen Rundschau, 1 von der ich bisher 2 Nummern, No. 3 Mrz/April und No. 4 April/Mai erhielt. Die No. 3 enthlt ja Ihre schne und so sehr treffende, sowie wrdige Erklrung. No. 4 die herrlichen, mich tief ergreifenden Worte Martin Bubers: »Das Erste«. Eingehend habe ich jedes Wort der beiden Monatsausgaben gelesen und durchgearbeitet. Ich wre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie veranlassen wrden, dass mir diese Monatsausgabe auch fernerhin laufend gesandt wird. Legen Sie oder der Verlag Wert darauf, dass ich dem Verlag Adressen aufgebe, an welche die Monatsausgaben gesandt werden und von denen ich annehme, dass sie gut wirken? Das in der jdischen Rundschau Gebrachte macht auf mich einen starken Eindruck der Selbstbesinnung des nationalen Judentums. Manche Selbstanklagen und Selbstvorwrfe scheinen mir aber etwas zu weit zu gehen, wenn auch die Grnde fr die zwangslufige Lage, in welche der deutsche Jude kam, rcksichtslos klar, eindeutig und richtig erkannt sind. Z. B. ist in dem schmerzlichen Artikel: »Wchter, wie weit in der Nacht?« folgerichtig nachgewiesen, dass man vom deutschen Juden jetzt die Quadratur des Zirkels verlangt. Ich vermisse aber in dieser jdischen Rundschau recht sehr eine Stellungnahme zu den Problemen der getauften Juden und der Mischehen, welche durch den Arier-Paragraphen doch nun auch, oft gegen den eigenen Willen, in die Volljudengemeinschaft rckverwandelt werden. Ich empfinde die jdische Rundschau als das Organ des stolzen, traditionsgetragenen Volljuden rein jdischen Blutes und Glaubens, zumal sie fters von: »wir National-Juden« spricht. Selbst in dem wichtigen und klaren Artikel: »Was wird aus unseren Kindern?« ist nicht eindeutig ausgesprochen, ob nun die unter den Abstammungs-Paragraphen fallenden getauften Eltern und Enkel, die sich arisch verheirateten, mit ihren nicht rassigen Angeheirateten nun zum mosischen Religionsbekenntnis zurcktreten bezw. neu eintreten sollen, obwohl ihnen doch eigentlich nichts anderes brig bleibt. Es erhebt sich nun fr mich die Frage, wie die Gemeinschaft der Nationaljuden diese angeheirateten Arier aufnehmen und behandeln wird. Es ist leicht denkbar, dass der Nationaljude diese angeheirateten Mussjuden nicht vollwertig betrachtet, 1. Die Zeitung der deutschen Zionisten.

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ebenso wie die deutsche Regierung sie auch nicht als vollwertige Arier anerkennt. Die grosse Masse dieser, fr meine Gefhle besonders Unglcklichen, wird in der jdischen Rundschau gar nicht behandelt. Denn nur die Stellung der reinrassigen Juden, die im Tempel blieben, ist klar und eindeutig gegeben. Diese Nationaljuden werden in Ihrem Wertvollsten, wie in der Vergangenheit, auch durch die heutigen Schicksalsschlge nicht gebrochen werden knnen, sondern durch den neuen Gang in die Wste nur bewusst auf sich selber zurckgefhrt, um in dieser Wstenwanderung, wie ein fhrender protestantischer Theologe an Martin Buber schreibt, in der Tiefe Gott zu finden, um damit der ganzen Menschheit zum Segen zu werden. So frage ich mich denn immer wieder, was wird aus den getauften Juden und deren blutsmssig oft reinen arischen Ehegatten? Deren Schicksal erscheint mir als das schwerere, ja tragischere denn dasjenige der Nationaljuden persnlich. Ohne die tragenden Blutskrfte des Judentums werden sie von der rein jdischen Gemeinschaft vielleicht nicht als ihresgleichen empfunden, aber vom heutigen Staate als Juden behandelt. Ich erlaube mir gerade Ihnen, hochverehrter, lieber Herr Dr. Baeck, gegenber diese Frage aufzuwerfen, da ich in der letzten Zeit sehr oft schriftlich und mndlich von nun durch den Staat abgestempelten Juden, die aber nicht als solche geboren wurden, ber diese Probleme gefragt worden bin. Sehr gern habe ich in den letzten Monaten und Wochen eine grosse Zahl von Empfehlungsbriefen ins Ausland, besonders nach Frankreich und Amerika geschrieben, um akademisch gebildeten Juden, welche in Deutschland keine Lebensbasis mehr finden knnen, behilflich zu sein im Ausland sich eine solche zu gestalten. Demzufolge fhle ich mich mit angesprochen in dem rhrenden Danke, welchen die jdische Rundschau in der Monatsausgabe No. 4 April/Mai auf Seite 5 unter dem Titel »Jdische Zwischen-Bilanz« bringt. Wenn mir das Geschick auch keine allgemeine Einflussnahme zur Linderung der grossen Not bisher erlaubte, so bin ich doch dankbar und erfreut, dass mir ein persnliches Schicksal, welches mich mit vielen jetzt Verfolgten verbunden hat, gestattet, hier rein menschlich-persnlich helfen zu drfen. Quelle: wie oben.

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Berlin, 4. Juni 1933 Hochverehrter Herr Baron! Der erste, etwas freiere Tag gibt mir endlich die Stunde, Ihnen einige Zeilen des Dankes fr Ihren Brief vom 12. Mai und fr Ihren Aufsatz, den Sie in der Saale-Zeitung verffentlicht haben, zu senden. Beides hat mir, der Aufsatz erneut, wertvolle Anregung geschenkt. Die Frage, auf welche Sie besonders hinweisen, die der sogenannten getauften Juden und der durch die sogenannte Mischehe mit der jdischen Gesamtheit Verbundenen, beschftigt mich, und mit mir manchen anderen, in diesen Monaten immer wieder. Die Frage ist um so dringender, da die Geschehnisse der letzten Zeit eine außerordentliche Strkung und Erweckung des sittlichen, religisen und menschlichen Selbstgefhls innerhalb des gesamten Judentums bewirkt haben; eine innerliche Kraft ist lebendig geworden und hat bezeichnenderweise ganz besonders stark die alle erfaßt, die nur noch lose mit dem Judentum verbunden waren, und hat, was ebenso bezeichnend ist, selbst die ergriffen, die von andersher seinem Bereiche nahegetreten waren. Es ist das Gefhl, in der eigenen Sache eine Sache der Menschheit und damit der wahren, großen Geschichte zu vertreten und dadurch eine Zukunft der Religion zu wahren und zu vollbringen, das Gefhl durch die Ereignisse geadelt zu sein und in die Reihe der großen Aristokratien gestellt zu werden – es gibt ja auch eine Art von Angriffen, welche die Angegriffenen mobilisiert, es ist das Erlebnis der Schwche, der religisen und seelischen Entleertheit der deutschen protestantischen Kirche, in deren Geschick jetzt auch mehr und mehr der deutsche Katholizismus hineingezogen zu werden scheint, das Erlebnis des moralischen Zusammenbruchs der deutschen Hochschulen und auch der deutschen Knstlerschaft. Bei allen Ausnahmen im Einzelnen hben und drben sind das doch die großen und bestimmenden Linien, und von ihnen her kommt jener starke Impuls. Ihm wrde der große Zug genommen sein, wenn man sich von irgend einem absondern oder auch nur fernhalten wollte, den jener Impuls in seinem Innern zu bewegen begonnen hat. So kann die Frage, die Sie stellten, nur die Antwort finden, daß jeder Verbundenheit ihr Platz, offen und frei, bereitet sein soll. Vielleicht ist das auch ein Stck geschichtlichen Geschehens. Was Sie ber Japan und China in Ihrem Aufsatz erneut sagen, zeichnet eine deutliche Zukunft ab, und ich glaube, daß Sie recht sehen. Es ist eigen: Die großen asiatischen Reiche sind immer von Norden her geformt oder beherrscht worden: einst das mesopotamische, dann das der großen mongolischen Chanen, das indische, das mandschurisch-chinesische. Es gibt bestimmte Richtungen der 607

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Weltgeschichte, die sich geographisch vollziehen, Versionen und Retroversionen, natrliche fr die Dauer, gewaltsame fr Intervalle. Der wahre Staatsmann ist der, der diese Richtung, mit dem Blick fr Jahrzehnte, in ihrem Werden erkennt und damit zu nutzen, zu frdern und zu lenken versteht. Kennzeichnend fr den Nicht-Staatsmann, den bloßen Politiker ist, daß er ein schon Vergehendes fr ein Werdendes, daß er ein Temporres, ein Konstruiertes, Gewaltsames fr eine Richtung hlt, ganz abgesehen davon, daß der Politiker immer etwas machen will, whrend der Staatsmann ein Erkennender und Lenkender ist. Vielen Dank, hochverehrter Herr Baron, fr die Hilfe, die Sie Akademikern schenken, die den neuen Lebensraum suchen, um sich den Platz der Existenz zu bereiten. Quelle: wie oben.

* Berlin, 31. Dezember 1934 Sehr verehrter Herr Baron! Meine herzlichsten Wnsche, und mit den meinen die meiner Frau, kommen zum Beginn des Jahres zu Ihnen. Die Menschen scheiden sich an dem, was fr sie ein Neues ist. Den Alltagsnaturen ist es das, was anders als gestern ist: anderes Gehabe, andere Kleidung, anderes Sprechen; den Denkenden, Wissenden ist es das Wiedergeborenwerden des Seienden, Bleibenden, Ewigen. Mge das Jahr Ihnen neu werden, das nie Vergehende Ihnen wiedergeboren werden lassen! Quelle: wie oben.

* Berlin, 30. September 1935 Sehr verehrter Herr Baron! Meine Frau und ich sind nun aus unseren kurzen Ferien wieder zurckgekehrt. Wir waren in Mulchtal, im Kanton Obwalden, und whrend einer Woche fuhr ich von dort tglich nach Luzern, um an den Sitzungen der Jewish Agency for Palestine, 1 die dort stattfanden, teilzunehmen. 1. Baeck war Mitglied der nicht-zionistischen Faktion der Jewish Agency.

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Wenn man die Schweizer kennen lernen will, muß man doch in die Drfer und kleinen Stdte der alten Urkantone fahren. Dort lernt man auch die Schweizer Geschichte verstehen. Dort gibt es die wirklichen Gemeinden, d. h. die Gemeinschaften und Verbnde, in denen jeder ein Unabhngiger, vielleicht sogar ein Eigenbrdler ist, aber jeder die Gemeinschaft, den Verband will, in ihr lebt und sie trgt und, was das charakteristische ist, mit einem starken Geschichtsbewußtsein in ihr lebt. Hier ist der starke und wesentliche Unterschied gegenber den deutschen Bauern und dem deutschen Dorf. Fr Dorf und Bauer ist hier kein geschichtliches Ereignis und keine geschichtliche Tat, so wie es in der Schweiz war und in der Seele jedes Bauern und jedes Brgers der kleinen Stadt lebt, bestimmend gewesen. Hier in Deutschland hat das Dorf eine Vergangenheit, eine Erinnerung und berlieferung, aber es hat keine Geschichte, die fr seine Daseinsform und seinen Daseinswillen entscheidend wurde, und von der her sich der Charakter gestaltete. Der Unterschied, der fast ein Gegensatz ist, geht noch weiter. Den rastlosen Vlkern beginnt ihre neue Geschichte, die Geschichte, in der sie leben, mit einem brgerlichen Befreiungskampf, der glorious revolution Englands, der grande revolution Frankreichs, der Eidgenossenschaft der Kantone u. s. w. Deutschland hat kein entsprechendes geschichtliches Ereignis; denn die Befreiungskriege 1813-1815 waren doch etwas ganz anderes. […] Quelle: wie oben.

* Berlin, 20. Dezember 1939 Hochverehrter Herr Baron! […] Meine Tage ziehen durch stetige, kaum unterbrochene Arbeit hindurch. Es wird manchmal ein wenig schwer, aber die alte carcasse muß, was ja vielleicht auch ganz gesund ist. Und vor allem, ich erfahre, was das Wort des alten Bias aus Priene 1 meint: »Versuche so zu leben, als httest du lange und als httest du kurze Zeit zu leben«. So sei es nun auch fr 1940 vorgenommen. […] Quelle: wie oben.

* 1. Bias von Priene (600-540 v. u. Z.). Griechischer Philosoph und nach Platon einer der sieben Weisen Griechenlands. Bekannt fr seine Aphorismen.

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Korrespondenzen

Berlin, 14. Januar 1940 Sehr verehrter Herr Baron! Empfangen Sie meinen aufrichtigen Dank fr Ihre liebenswrdigen Zeilen und vor allem fr die Freundlichkeit, mit der Sie mein Bchlein 1 gelesen haben und Fragen aus ihm zu mir sprechen lassen. Ich wnschte mir so manche Leser wie Sie. Zunchst das Grundstzliche. Das Bchlein ist ein Versuch, aus den drei alten Evangelien das wieder herzustellen und uns nahetreten zu lassen, was das Geschlecht derer, die Jesus noch gekannt haben, von ihm berichtete und erzhlte. Es muß hierbei begriffen werden, daß die Menschen jener Tage schufen und Dinge sahen und hrten, welche heute die meisten Menschen Europas und Amerikas, besonders die in der Stadt und zum mindesten nach ihrer Kindheit, wegen der intellektuellen, wissensmßigen und technischen Umlagerung ihres Lebens nicht mehr sehen und hren. Das Bewußtsein war damals weicher – man sagt oft irrig: primitiver –, und nur der kann in die Evangelien hineingelangen, der dieses Bewußtseinsreichtums irgendwie teilhaft werden kann. Ein Gleiches gilt von der Sprache jener Menschen. Sie war lebendiger, hinweisender, dynamischer; sie war nicht wie die von heute von dem Marktgngigen und dem Konventionellen zu sehr durchsetzt, sondern fast jedes Wort hatte sein Transcendentes, wenn es gegeben und wenn es empfangen wurde. Und diese Sprache war die Hebrische bzw. Aramische, die in der Bibel und von der Bibel mit Transcendenz erfllte. Man muß nicht nur philologisch von ihr wissen, sondern intuitiv, unmittelbar in ihr fhlen und denken knnen. Jede Sprache ist eine Welt fr sich, jene alte zumal. Insgesamt: All das, das Bewußtsein und das Sprechen war das jdischer Menschen, und nur aus ihrer Gesamtpsyche heraus, die damals schon in die Jahrhunderte zurckreichte und die in die Gegenwart hineinreicht, kann das Evangelium, das alte, erfaßt werden. Die griechisch rmische Welt, in die es sehr bald hineingestellt wurde, war dem zu allermeist fremd geblieben und hat diese Fremdheit durch die Welt getragen.

1. Das Evangelium als Urkunde der jdischen Glaubensgeschichte erschien 1938 in der »Bcherei des Schocken-Verlags« in Berlin (siehe auch Band 4 dieser Werkausgabe, S. 403-473).

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Das Bchlein versucht, nun das Eigene jener Menschen jener Tage sprechen, wieder sprechen zu lassen. […] Quelle: wie oben.

* Berlin, 31. Dezember 1940 Sehr verehrter Herr Baron! Empfangen Sie meine herzlichen Wnsche fr das Jahr, das vor dem Tore steht. Mgen in ihm gute Tage bei Ihnen einkehren! Wir sind in einer Zeit der Krisis, in einer Krisis nicht zum wenigsten des Geistes und der Religion. Ehe ein Volk strzt, strzt seine Religion. Das will sagen: sein Zusammenhang mit der hheren Welt ist gerissen. Und die entscheidende Frage ist, ob sie dort wieder gewonnen, also dieser Zusammenhang wieder erreicht werden kann. Ist er gerissen, endgltig gerissen, dann waltet dort fortan das Schicksal, mit seiner Form der Notwendigkeit, des Nieder- und Untergangs, des bloßen Todes. Schicksal ist dort, wo ein Wesen und Geschehen ganz und nur im Bereiche der geschaffenen, natrlichen Welt ist, ohne die hhere Welt, nur gebunden und darum, in einem wundersamen Gesetz, selber nur in der Fhigkeit zu binden und zu fesseln, so daß alle Macht und alles Gemchte sich nur dahin erstrecken, nur darin auswirken. Wird die Verbindung mit der hheren Welt wiederhergestellt, die Gottlosigkeit berwunden, dann wird in den Wehen und Leiden ein Neues geboren, wieder ein Denken, Wollen und Wirken aus der hheren Welt hervor, aus dem hervor, was ber dem Schicksal, was in der Freiheit ist. Ich las vor kurzem wieder die herrliche kurze Rede von Abraham Lincoln, am 19. November 1863, in Gettysburg, in der es am Schluß heißt: … that this nation, under God, shall have a new birth of freedom … Die Frage steht da. Die Antwort? […] Quelle: wie oben.

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Berlin, 30. April 1941 Hochverehrter Herr Baron! […] Wie unsere Gedanken sich, ohne es zu wissen, begegnet sind. Wie oft habe ich ganz wie Sie jetzt Lincoln’s Gettysburg-Rede gelesen. »A new nation conceived in liberty« … »a new birth of freedom« – wohl der Nation, zu der diese Worte von diesem Manne gesprochen werden durften. Die Constitutionsacte ist eine Einleitung dazu. […] Alfred Schtzes Schrift ber das Schicksal 1 habe ich aufmerksam und dankbar gelesen, durch jede Seite neu angeregt. Ich weiss dem Verfasser aufrichtigen Dank und danke Ihnen, sehr verehrter Herr Baron, dass Sie mich die Schrift kennenlernen liessen. Sie fhrt in das Problem aller Menschen- und Lebensprobleme hinein: die andere Seite der Wirklichkeit zu erfassen, den Zusammenhalt mit der eigentlichen Weltordnung zu erreichen. Vielleicht sind die Wege dorthin, die Wege zu dieser religio manche und verschiedene, und nur als Ich, als individuelles Seelenwesen kann der Mensch diese Verbindung aufnehmen und gewinnen, und so ist der Weg immer ein Ich-Weg, ein individueller. Im Letzten kommt alles auf das persnliche Erleben des Geheimnisses, auf das Ich-Bewusstsein um das letzte Geheimnis an. Wir knnen nicht Gott erleben, sondern nur das Geheimnis, das um ihn ist. Und darum ist das Entscheidende, wie Sie mit Recht schreiben, »das Wahrhaftigkeitsbewusstsein«, »die berwindung von allen Verlogenheiten«, und Wahrhaftigkeit hat ihren notwendigen Bereich im Denken, im Fhlen, im Tun; wo eines von den dreien gengen soll, ist sie noch nicht da, doch ber das letzte will ich nicht sprechen. Quelle: wie oben.

* Berlin, 9. Dezember 1941 Hochverehrter Herr Baron! Oft einmal waren meine Gedanken diesen Zeilen vorangegangen, immer trugen sie vielen Dank mit sich fr die Freude, die Ihr Besuch mir geschenkt, und fr alle Ihre Freundlichkeit, die ich von Ihnen erfuhr. Lassen Sie mich diesen Dank nun auch aussprechen.

1. Alfred Schtze (1903-1972). Verffentlichte 1941 in Stuttgart Vom Sinn des Schicksals.

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Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau

Es hat mir aufrichtig wohlgetan, Sie wieder zu sehen, Ihre Stimme und Ihre Worte zu hren. Alles, was Sie sagten, hat zu mir gesprochen. Ich folge Ihrer Erlaubnis und bermittele Ihnen anbei eine Fortsetzung des Manuskripts, S. 27-46, nebst Titelblatt. 1 Weitere sollen, wenn Sie gestatten, spter folgen. Quelle: wie oben.

* Berlin, 1. September 1942 Hochverehrter Herr Baron! Lassen Sie mich Ihnen aufs wrmste fr Ihre so freundlichen Zeilen danken. Das Empfinden, das aus ihnen zu mir sprach, hat mich innig bewegt. Die letzten Monate waren fr mich sehr arbeitsvoll, jeder Tag war ußerlich und innerlich angefordert. So ist auch mein Manuskript 2 noch nicht weiter gelangt. Entschuldigen Sie es, bitte, daß ich nichts von mir hren ließ. Um so dankbarer bin ich, daß Sie an mich schreiben. Und wie fgen sich die Fden auch in der Doppelheit bisweilen doch zu einander. Am Sonntag sah ich einen Verwandten von Ihnen, Herrn Konstantin v. Cr., 3 den ein Zufall – aber hinter Zufall steht wohl meist ein Autor, und hier waren Sie der Autor – zu mir gefhrt hatte, mit aufrichtiger Freude bei mir. Haben Sie Dank, daß Sie ihn ungewußt und ungewollt zu mir geleitet haben. Er erzhlte mir, daß er morgen bei Ihnen sein wollte und ich trug ihm Bericht und Gruß auf. Ich bin noch auf meinem Platze und in meinem Hause. Wenn eine nderung eintrte, sollen Sie verstndigt werden. Quelle: wie oben.

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1. Ein Teil der 1. Fassung von Baecks nach dem Krieg erschienenen Werk Dieses Volk. Jdische Existenz. Siehe Band 2 dieser Werkausgabe. 2. Siehe den vorhergehenden Brief. 3. Wahrscheinlich Veltheims Cousin Constantin Cramer von Laue.

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Korrespondenzen

Berlin, 29. Dezember 1942 Hochverehrter Herr Baron! Vor Beginn des neuen Jahres wollen meine treuen Gedanken und meine aufrichtigen Wnsche bei Ihnen sein – Gedanken, die zu Wnschen werden, Wnsche, die aus sich Gedanken wieder hervorschicken. Unsere Gedanken begegneten sich oft, und unsere Wnsche finden so einander. In ein Gesamtgeschick und -gebot ist das einzelne heute mehr als seit langem hier eingefgt, dort eingezwngt. Aber wo Persnliches das Persnliche dankbar treffen durfte, will das Individuelle doch auch seinen Raum behalten. Lassen Sie mich darum den persnlichen Wunsch aussprechen, daß in Ihre Tage Gutes, Erhebendes, alles was Gesundheit und Freude gibt, einkehren mge. Darf ich auch nochmals meinem warmen Dank fr alle die Herzlichkeit, die ich von Ihnen erfahren habe, sein Wort geben. Die Feiertage teilt gewiß Ihr Herr Pflegesohn mit Ihnen; ich schließe ihn in meine herzlichen Wnsche ein. Es hat mir immer eine Freude geschenkt, wenn ich ihn sah und mit ihm sprach und an eine neue Generation denken durfte. In einigen ruhigeren Stunden habe ich mein Manuskript ein kleines Stck Weges weiterfhren knnen. Ich lege zehn Seiten eines neuen Kapitels bei, sie bitten um Ihre Gastfreundschaft. Im Geiste sehe und hre ich Sie in Ihrem Hause. Empfangen Sie meine herzlichen Grße. Quelle: wie oben.

* Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau an Leo Baeck Ostrau, 6. Januar 1943 Hochverehrter, lieber Freund! […] beraus erfreuten mich Ihre lieben Wnsche und treuen Gedanken zum Jahreswechsel. Wie schn drcken Sie das aus: »Gedanken die zu Wnschen werden, Wnsche, die aus sich Gedanken wieder hervorschicken. Unsere Gedanken begegneten sich oft, und unsere Wnsche finden so einander!« Ja, verehrter, lieber Freund, so war es seit Jahrzehnten, so ist es heute und so soll es auch in Zukunft und besonders in diesem entscheidungsvoll werdenden neuen Jahr bleiben. – Mgen Sie sich noch lange Ihr starkes Gottvertrauen, Ihren Mut, 614

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Ihre Leidens- und Liebe-Fhigkeit und Ihre aufopfernde Schaffenskraft bewahren, damit sie die kommende bessere Zeit noch erleben und die Spanne, die uns von ihr trennt, gesund berstehen. Im Geiste besuche ich Sie oft in Ihren Rumen und halte Zwiesprache mit Ihnen. Leider wird es im Krper wohl noch lnger dauern, bis einmal wieder die grosse Freude hat bei Ihnen zu sitzen. Quelle: wie oben.

* Berlin, 10. Januar 1943 Sehr verehrter Herr Baron! Lassen Sie mich Ihnen herzlichst danken: fr Ihre lieben Worte, fr die Dichtungen, fr die ganz besondere Raritt. 1 Ich bin durch Ihre Gte innig bewegt. Mchten die wenigen Worte es Ihnen ganz sagen! Von den Strophen von Reinhold Schneider 2 bin ich sehr erfaßt worden. Ich hatte vor einigen Monaten Gedichte von ihm gelesen, aber diese hier erscheinen mir eigener und strker noch. Die Ballade gibt dem, der hrt, viel; er vernimmt das Denken und Empfinden eines, gewiß sehr großen und wesentlichen, Teiles des Volkes dort aus der Vergangenheit und fr die Gegenwart. Welch aufrichtige Freude mir der Besuch Ihres Herrn Pflegesohnes geschenkt hat, der alles selbst und sorglich berbrachte und vor allem mir von Ihnen erzhlte, brauche ich nicht zu sagen. Die Stunde des Zusammenseins verging in Unterhaltung und Aussprache nur zu schnell. Empfangen Sie nochmals meinen wrmsten Dank. Quelle: wie oben.

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1. Veltheim-Ostrau hatte Baeck zur Zeit besonders fr Juden sehr rare Lebensmittel geschickt. 2. Reinhold Schneider (1903-1958). Der katholische Autor gehrte zu den nichtfaschistischen deutschen Schriftstellern, die den Nationalsozialismus aus moralischer bzw. christlicher berzeugung heraus ablehnten.

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Korrespondenzen

Maria von Hollitscher-Bogic´eric´ 1 an Hans-Hasso von VeltheimOstrau Berlin, 30. Januar 1943 Sehr verehrter Herr von Veltheim! Gestatten Sie, daß ich das so Schwere der letzten Tage in wenigen Worten zusammenfasse: Herr Dr. B. ist nicht mehr in seinem Heim, er ist am 28. d. M. mit seiner Haushlterin nach Theresienstadt gereist. Am Tag vorher um 7 Uhr Frh hatte er seine Wohnung verlassen mssen u. ist nicht mehr dahin zurckgekehrt. Herrn Dr. B. ist bevorzugte Behandlung zugesagt worden, sein Hausinventar sollte auf einen Speicher kommen. Seine Mitarbeiter durften bis jetzt Schreibtisch u. Sonstiges richten u. ordnen. Ich habe es heute einer Dame gegenber freiwillig bernommen, Ihnen zu schreiben, aber es fiel mir so schwer u. dies ist der 3. Versuch; am liebsten wrde ich mit Ihnen sprechen, Sie mßten nur die große Traurigkeit entschuldigen. Falls Sie Ihr Weg nach Berlin fhrt, werde ich Ihnen Einiges bergeben, sonst zusenden. Seit bald 2 Monaten bin ich von Bayern zurck, werde vielleicht gegen 10. II. dorthin zurckkehren. Quelle: wie oben.

* Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau an Leo Baeck Ostrau, 12. September 1945 Hochverehrter, sehr lieber Herr Oberrabiner! […] Wie sehr ich um Sie, verehrter, lieber Freund immer bangte, knnte Ihnen Maria von Hollitscher, 2 mit der ich immer in Verbindung blieb, sagen. Sie brachte mir Ihre Sachen hierher, die Sie nach Ihrer Verhaftung noch aus Ihrer Berliner Wohnung retten konnte. Diese, wie auch Ihre letzten Manuskripte 3 sind hier und warten gleich mir auf Sie, um sie Ihrem Besitzer zu bergeben. Ich hatte sie gut verborgen, so daß sie alle die vielen Haussuchungen durch die Gestapo hier berstanden. Auch ich habe viel durchgemacht, und ist es ein Wunder, daß ich im Nazi-Terror nicht unterging wie viele 1. Identitt nicht zu ermitteln. 2. Siehe den vorhergehenden Brief. 3. Wahrscheinlich weitere Teile von Dieses Volk.

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meiner Verwandten und Freunde. Meine Cousine Elisabeth von Thadden wurde vor 1 Jahr enthauptet, mein Vetter Veltheim-Putbus im Februar 45 im K.Z. ermordet u. s. w. – Die amerikanische Besatzung erklrte Schloß Ostrau zum Museum und schtzte es vor Plnderungen. Die Russen jetzt respektieren es auch als Museum. Im Zuge der Bodenreform bin ich nun aller Gter enteignet. Ob und wie lange man mich hier noch wohnen lßt, weiß ich noch nicht. In der Volks-Zeitung der Provinz Sachsen vom 10. 9. 45 steht eine lange Rede des I. Vize-Prsidenten unserer Provinz mit u. a. folgenden Worten: »Wir werden diese ehemaligen Junker aus Drfern und Gemeinden ausweisen mssen und ihnen Asyl zuweisen.« Wenn ich mich auch persnlich gar nicht schuldig zu fhlen brauche an allem, was die Deutschen an Elend, Not und Tod ber die Welt und auch schließlich ber mich und die Meinen brachten, so finde ich es doch sogar irgendwie richtig, daß auch ich nun unter den Vergeltungen weiter zu leiden habe, Vergeltungen, welche dieses Volk, in welches ich diesmal hineingeboren wurde, gerechterweise trifft. Ich bin nun ber 60 Jahre alt, an Asthma leidend und Herzkrank geworden, nachdem ich im Dezember 1945 1 mit Lungen- und Rippenfell-Entzndung einige Wochen auf dem Tode lag. Hoffentlich habe ich nicht mehr zu lange zu leben. Einer meiner grßten Wnsche ist es, Sie verehrter, lieber, getreuer Freund aber vorher nocheinmal wiederzusehen. Lassen Sie mich bitte bald wissen, ob, wie, wann und wo mir dieser Herzenswunsch noch erfllt werden knnte. Bis dahin fhle ich mich, wie Sie so liebevoll schreiben, 2 von Ihren »treuen Wnschen begleitet«. Quelle: wie oben.

* Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau an Leo Baeck Bad Pyrmont, 22. Mrz 1946 Mein allerverehrter, sehr lieber Herr Dr. Baeck! […] Ich werde die nchsten Monate noch hier in Pyrmont bleiben, was dann aus mir wird, wenn ich die Hungersnot berstehen sollte, weiß ich nicht. Von vielen Seiten erhielt ich nun die Gewißheit, daß die Russen in tglicher »Arbeit« durch 3 Wochen im Januar + Feb. 1. Offensichtlich ein Irrtum. 2. Ein nicht erhaltener Brief.

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Korrespondenzen

mein armes Schloss Ostrau gnzlich ausgeplndert haben und alles in Lastkraftwagen fortschafften. Damit ist leider eine international anerkannte Kultur-Insel fr immer vernichtet. – Bitte wenden Sie sich an die Russen in Berlin und an den Prsidenten der Prov. Sachsen in Halle 95 und fragen Sie nach Ihren Manuskripten und Sachen, die ich der Provenzial-Regierung noch ganz besonders bergeben habe. – Gesundheitlich geht es mir wieder ganz gut – ich sage »leider«, denn ohne Lebensinhalt bin ich unendlich lebensmde. – Ob ich Sie wohl noch einmal sehe, wonach ich mich so sehr sehne? Bitte schreiben Sie mir bald – vielleicht ber die Quker, welche oft hier in Pyrmont, einem deutschen Quker-Zentrum, sind. […] Quelle: wie oben.

* Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau an Leo Baeck Bad Pyrmont, 30. April 1946 Aller verehrtester, lieber Herr Dr. Baeck! […] Ich empfinde es als tief beglckend, daß Sie bei all der vielen Arbeit, welche auf Ihnen lastet, so viel und immer wieder alles tun, mir zu helfen und die mich sehr aufrichtende Verbindung mit Ihnen nicht abreißen zu lassen. In all meinen letzten Briefen sprach ich Ihnen schon meine aller herzlichsten Glckwnsche zu Ihrem 73. Geburtstage am 24. Mai aus, was ich auch heute wiederholen darf. Auch heute mchte ich mir erlauben, eine Bitte, die ich in allen meinen letzten Briefen aussprach, zu wiederholen. Bei meiner Flucht aus der rußischen Zone war es mir nicht mglich, meine persnlichen Papiere und Unterlagen mitzunehmen, aus denen ich meinen allseits bekannten Anti-Faschismus und die Verfolgungen, die ich durch die Gestapo zu erdulden hatte, beweisen kann. Ich bitte Sie daher, wenn Ihnen mglich, mir auf einem tunlichst amtlichen oder halb-amtlichen offizisen gedruckten Bogen einer Ihrer Organisationen eine Art Leumundszeugnis auszustellen, mglichst auf Englisch und Deutsch, aus dem hervorgeht, daß Sie mich seit etwa 1920 kennen, daß Sie mich als ehrlichen, kmpfenden Gegner des Nazismus erprobten. Um der Einladung der brit.-indischen Regierung zum internationalen Wissenschaftler-Kongress in Calkutta im Januar 1938 berhaupt Folge leisten zu knnen und mich durch einen 2jhrigen Aufenthalt in Asien den dauernden Verfolgungen der Gestapo zu entziehen, mußte ich im November 1937 als Anwr618

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ter der N.S.D.A.P. beitreten, da ich sonst, wie Ihnen und allgemein bekannt, keinen Auslandspass erhalten htte. Ich habe ja, wie Ihnen bekannt, vielen Juden verholfen, ins Ausland und besonders nach Indien, U.S.A. u. s. w. zu gelangen und dadurch in dauernder Lebensgefahr geschwebt. Das von Ihnen erbetene Leumundszeugnis wrde ich natrlich nur, wenn dringend ntig bei Behrden vorzeigen, z. B. im Falle einer Entnazifizierung, soweit diese fr mich berhaupt in Frage kommt. Vielen Dank im Voraus! Ich weiß nur nicht, auf welchem sicheren Wege mich Ihr Zeugnis erreicht; vielleicht ber Herrn Lamm 1 von der Unrra, 2 wie dieser Brief, denn die gewhnliche Post durch die Zensur und alles braucht Monate, da schon Briefe innerhalb Deutschland 2-4 Wochen reisen. – Lieberweise fordern Sie mich auf Ihnen »ausfhrlich zu schreiben, was meine Tage erfllt.« Sehr viel Schreiberei ist es, um eine Unterkunft als Flchtling zu finden, die ich als eine neue Heimat und Standquartier betrachten drfte, denn ich lebe heimatlos von meinem letzten geretteten, bei der Flucht 3 in meinen Anzug eingenhten Gelde und von Untersttzungen meiner Freunde. Z. Zt. baut die Familie Jagenberg in Solingen, Papiermhle, alte Freunde, ein Zimmer fr mich auf den Trmmern ihres ausgebombten Hauses. Außerdem bemhen sich Freunde in Hessen auf dem Lande (in der amerikanischen Zone), die Genehmigung der Amerikaner und deut. Behrden zu erhalten mich aufzunehmen. Bis sich Solingen oder Hessen entschieden haben, bleibe ich in Bad Pyrmont Pension Ottomeyer, wo es mir nach sehr großen Schwierigkeiten gelang, ab Mitte Mai Unterkommen zu finden. Bis Mitte Mai bin ich hier in Bad Salzuflen untergekommen. Am Schluß Ihrer lieben Zeilen vom 10. III., die ich heute erhielt, schreiben Sie: »Mchte ein Mann wie Sie wieder seinen ganzen Platz gewinnen!« 4 Bezglich eines solchen, einer Stellung oder Arbeit habe ich bisher absichtlich noch nichts unternommen, denn organischerweise muß erst einmal fr mich die Frage geklrt werden, wo ich einen dauernden neuen Wohnsitz finde. Immer wieder wird mir nahegelegt, mich an meine vielen auslndischen Freunde zu wenden. Aber dieses tue ich absichtlich nicht, denn bei der nur allzu begreiflichen Ablehnung aller Deutschen im Ausland, weiß ich nicht, wie weit es meinen alten Auslandsfreunden mglich sein kann, sich mit mir zu belasten. Sie, lieber verehrter Freund, sind der 1. Hans Lamm (1913-1985). Verbandsfunktionr und Pdagoge. Kehrte 1946 aus den USA zurck nach Deutschland. 2. United Nations Relief and Rehabilitation Administration. 3. Aus der sowjetischen Zone. 4. Brief nicht erhalten.

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einzige im Ausland, mit dem ich in Verbindung stehe. Bei allem habe ich, meine Gegenwart und Zukunft betreffend, ein unerschtterliches Vertrauen in die Fhrung Gottes. Dieses darf und muß ich haben, den jeder, der mein Leben kennt, betrachtet es als ein Wunder, daß ich den 12jhrigen Nazi-Terror berlebte, daß ich, als ich im Juli von der ruß. G.P.U. 1 in Halle verhaftet war, da als adliger Großgrundbesitzer wieder frei kam und daß ich todkrank mit 39˚ Fieber am 1. Nov. 45 von der Ruß. in die Brit. Zone, ohne geplndert zu werden, fliehen konnte, nun wieder gesund werde und weiter leben soll. Deshalb hadere ich auch nicht mit meinem Schicksal, bejahe alles, sogar die im Febr. 46 erst erfolgte Plnderung Ostraus durch die Russen, meine entschdigungslose Enteignung, Heimatlosigkeit u. s. w. – Ich fhle und weiß, daß ich die Zeitenreife abwarten muß, bis ich dahin gerufen werde, wohin das Schicksal es will und daß ich mich nur vertrauensvoll offen und bereit zu halten habe, zumal ein Amt, Stellung und Gelderwerb fr mich z. Zt. und in nherer Zukunft nicht erforderlich sind und ich nur anderen, die dieses notwendiger haben, eine Existenzmglichkeit wegnehmen wrde. Die Wartezeit nutze ich damit, daß ich an meinen Buchmanuskripten: der Umarbeitung meiner Tagebcher aus Asien von 1937-1939, wissenschaftlich so gut es mit dem mangelnden Material geht, arbeite, Leidensgenossen schriftlich und mndlich trste und versuche, im Sinne einer vershnenden, bernationalen, reinen Menschlichkeit zu wirken. So wenden sich unzhlige Menschen persnlich und schriftlich an mich, und ich bin Gott dankbar, daß ich schon viel inneres und ußeres Leid mildern durfte. – Bitte ersehen Sie, verehrungswrdiger Lehrer und Freund, daß ich Sie und Ihr beispielgebendes Leben im Ertragen der Schicksalsschlge mir zum Vorbild nahm, und daß ich mich bemhe, im ganz kleinen mir noch belassenen Rahmen der Mglichkeiten, Ihrem großen, umfassenden jetzigen Werke der Vershnung und Liebe nachzueifern. – Wenn ich jetzt manchmal etwas hungere, denke ich nur daran, wie furchtbar es Ihnen damit schon in Berlin und noch viel grausamer in Theresienstadt erging und was Millionen durchmachten und jetzt viel rger als ich zu ertragen haben. – Hoffentlich ist es mir mit diesem Briefe gelungen, Ihnen eine kleine Skizze meines inneren und ußeren Lebens zu geben, wie Sie es so teilnehmenderweise von mir sich erwnschten. Zuversichtlichtst hoffe ich, daß Sie dieser, leider fr Ihre Zeit allzulang gewordene Brief, auch einmal erreicht. Ich wre sehr dankbar, wenn Sie es mich bald wissen ließen und mir sagen wrden, ob Sie mich auf ei1. Russischer Geheimdienst.

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nem, Ihnen erscheinenden rechtem inneren und ußeren Lebenswege als nun schon 61jhrigen erschauen. Nochmals alles Beste und Erfolgreiche fr Ihr neues Lebensjahr und immer wieder innigsten Dank fr all Ihre freundschaftliche Treue, Liebe und Frsorge. Quelle: wie oben.

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Chaim Weizmann Chaim Weizmann (1874-1952), von Beruf Chemiker, war beinahe dreißig Jahre lang die herausragendste Persnlichkeit der zionistischen Bewegung. Zweimal, von 1920 bis 1931 und dann wieder von 1935 bis 1946, diente er als Prsident der Zionistischen Weltorganisation. 1948 wurde er der 1. Prsident des Staates Israel. Seine grßte Errungenschaft innerhalb der Bewegung war die Balfour Declaration vom 2. November 1917, bei deren Herbeifhrung er eine zentrale Rolle spielte. Die Erklrung hlt fest, daß Großbritannien, das bald das Mandat fr Palstina erhalten sollte, die Schaffung einer dortigen nationalen Heimsttte fr das jdische Volk mit Wohlwollen betrachte. Obwohl Weizmann lange Zeit anglophil blieb, zwang ihn seine zunehmende Enttuschung ber Großbritannien schließlich dazu, sich an die Vereinigten Staaten zu wenden, wo es ihm gelang, Prsident Truman fr die zionistische Sache zu gewinnen. Weizmann wurde in Rußland geboren und kam 1892 nach Deutschland, zunchst um dort Biochemie zu studieren. Bald schloß er sich hier einem Zirkel von zionistischen Intellektuellen an. Obwohl er nur bis 1898 in Deutschland blieb, erhielt er auch weiterhin den Kontakt mit Berlin aufrecht, wo sich die zionistische Exekutive bis zum 1. Weltkrieg befand. Baeck und Weizmann werden sich sptestens durch ihre Arbeit innerhalb der erweiterten Jewish Agency kennengelernt haben, die 1929 gegrndet wurde und fr die Baeck als ein Reprsentant der deutschen Juden und Weizmann als Prsident ttig war. Den ersten hier aufgefhrten Brief schrieb Baeck an Weizmann, kurz nachdem dieser 1935 erneut die Prsidentenschaft der Zionistischen Weltorganisation bernommen hatte. In diesem bedeutenden Dokument stellt Baeck dar, was er und »meine Freunde hier« als ein konstruktives und positives Programm fr die Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Juden und Arabern in Palstina ansahen. Baeck spricht sich gegen die Forderung der Araber aus, jdische Immigration arbitrr einzuschrnken und besteht stattdessen darauf, daß nur wirtschaftliche Faktoren das Ausmaß der Einwanderung bestimmen drften. Anstatt jedoch Trennung und Wettbewerb zwischen Juden und Arabern zu frdern, ruft das Programm zur Kooperation auf, besonders dahingehend, daß dland produktiv genutzt und somit die Aufnahmefhigkeit des Landes gesteigert werden knne. Als die britische Regierung 1939 das Weissbuch erließ, das die Immigration nach Palstina auf ein Minimum reduzierte, schrieb Baeck erneut an Weizmann. Er wies darauf hin, daß das Weissbuch den deutschen Juden nun besonderen Anlaß zur Sorge gab, da diese nach dem 622

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Pogrom vom 9. November 1939 verzweifelt nach Fluchtmglichkeiten suchten. In dem letzten Brief versichert Weizmann Baeck seiner Wertschtzung fr ihn und verleiht seiner festen berzeugung Ausdruck, daß die zionistische Bewegung schließlich ihre Ziele erreichen wird. * Berlin, 3. Dezember 1936 Lieber Herr Professor Weizmann, unser aller herzlichen Wnsche und ganz besonders die meinen sind in diesen Wochen bei Ihnen. Es bedeutet fr uns eine Zuversicht und eine Gewissheit, Sie auf Ihrem Platze zu wissen. Darf ich Ihnen, zum Ausdruck dieses lebendigen Vertrauens, meine Gedanken, die auch von meinen Freunden hier geteilt werden, ber die uns alle bewegende Frage aussprechen. Das Wesentliche ist, dass ein konstruktives, positives Programm der Beziehung zu den Arabern vorgetragen werden kann. Schon als Beweis unseres Strebens nach good will among nations ist dies wichtig, aber vor allem deshalb, weil eine Zukunft aufgebaut werden kann nur auf Tatsachen, die, wenn sie auch unbequem sind, doch Tatsachen bleiben. Ein deutliches, bestimmtes Programm zwingt, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Ein nicht ganz vollkommenes Programm ist immer noch besser als das Ausweichen vor dem Programm, als die Programmlosigkeit. I. Grundlage und Voraussetzung alles Programmes ist: Das geschichtliche und vertragsmssige Recht des jdischen Volkes auf Einwanderung in Palstina, zahlenmssig begrenzt nur durch die jeweilige wirtschaftliche Resorptionsfhigkeit des Landes, ist prinzipiell und unzweideutig klarzustellen und unbedingt festzuhalten. Es darf nur von der wirtschaftlichen Resorptionsfhigkeit des Landes die Rede sein. Auszuschliessen ist also sowohl die Frage der politischen Resorption, da sie zur regelmssigen Prfung des zahlenmssigen Verhltnisses des jdischen zum arabischen Bevlkerungsteil fhren msste, wie auch die Frage nach der jdischen Resorption, da sie zur politischen Bevorzugung gewisser Herknfte und zu Spannungen und Spaltungen im Jischuw, 1 von aussen her und von innen her fhren knnte. II. Bestimmte feste Richtlinie des Programms ist: Jede Kantonseinteilung ist abzuweisen. Zunchst setzt ihr die, im Unterschied z. B. von der Schweiz, sehr geringe geologische Glie1. Hebr.: »Die jdische Siedlung in Palstina«.

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derung des Landes fast unberwindliche geographische Schwierigkeiten entgegen. Sodann wrde sie begreiflicherweise von dem augenblicklichen numerischen Verhltnis der arabischen und der jdischen Bevlkerung ausgehen, so dass wir anstatt eines erez jissrael 1 einen galil jissrael 2 htten. Aber vor allem wrde sie den Gegensatz zwischen Arabern und Juden dauernd verschrfen, da aller Voraussicht nach dann neben prosperierenden jdischen Gebieten arabische depressed or distressed areas liegen wrden. III. Wesentliche Punkte des Programmes sind: 1. Die dlndereien, die noch einen betrchtlichen Teil Palstinas ausmachen und ebenso die entbehrlichen Regierungslndereien sind durch gemeinschaftliche Arbeit von Juden und Arabern zu erschliessen und gerecht unter sie zu verteilen. Da auch die Araber einen historischen Anspruch auf das Land erheben, da sie weder auswandern wollen noch expatriiert werden knnen, da sie ebenso wie die Juden, einen Landhunger empfinden, da der freie Wettbewerb zu einer stetigen Preissteigerung fhren muss, so ist die einzige Lsung, dass das Landbedrfnis durch die noch unerschlossenen Gebiete befriedigt werde. Fr ihre Erschliessung msste die cooperation von Arabern und Juden, am besten in der Form von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe, vorgeschrieben werden, fr die verteilten Gebiete msste dann die geschlossene, jedoch nicht kantonsmssige jdische bzw. arabische Siedlung sowie die Verkaufsbeschrnkung des Bodens massgebend sein. Der erhebliche Arbeitsbedarf, der hier geschaffen wrde, wrde hben und drben immer neue Einwanderung erfordern und darber hinaus die Absorptionsfhigkeit des Landes steigern, um von den psychologischen Wirkungen ganz zu schweigen. 2. Es sind ganz allgemein Arbeitsgemeinschaften zwischen Juden und Arabern zu erstreben, am besten auf genossenschaftlicher Grundlage, in der Landwirtschaft, der Industrie, der Wasserversorgung, der Entwsserung, der Aufforstung, dem Verkehrswesen, im Einkauf, in der Standardisierung, im Vertrieb. In dem kleinen Lande und bei der jdischen Dynamik muss die freie Konkurrenz den Anschein einer Verdrngung der Araber durch die Juden erwecken und die Mandatsbehrde notwendig zum Bundesgenossen der Araber machen. Die Abhilfe, die einen Nutzen fr beide Teile bringt, ist die durch cooperation gelenkte competition. In den ersten und entscheidenden Jahren des Aufbaues, in denen die Konsolidation des 1. Hebr.: »Land Israels«. 2. Hebr.: »Gebiet Israels«.

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Jischuw erreicht werden musste, war das Prinzip der jdischen Arbeit richtig und notwendig. Jetzt ist die Zeit gekommen, das Prinzip der cooperation nutzbar zu machen. Verfassungen mssen mit der Entwicklung der Verhltnisse Schritt halten. Auch fr diese Genossenschaften knnte, wenigstens in den ersten Jahren, staatliche Beihilfe beansprucht werden. 3. Die Frage von Unterrichtsgemeinschaften ist ins Auge zu fassen. Erreichbar wre diese Gemeinschaft, die freilich die Kenntnis entweder des Englischen oder der beiden Landessprachen voraussetzte, wohl nur fr handwerkliche und kaufmnnische Fortbildungsschulen und fr landwirtschaftliche Winterschulen sowie fr Hochschulkurse. IV. Programmatischer Wunsch ist: Es ist auf die Dauer unerlsslich, dass fr die jdische Immigration ein Auslass nach Transjordanien geschaffen werde. Es wrde, um von dem Nutzen fr Transjordanien ganz zu schweigen, eine Verteilung der Immigrantion und eine Verlagerung der numerischen Proportion auf ein grsseres Gebiet erreicht werden. Die Besorgnis der Araber, die durch den in dem engen Palstina leicht entstehenden Anschein einer Verdrngung geweckt und genhrt wird, wrde abnehmen, wenn ein weiteres Gesamtgebiet den Blick aufnhme. Der Anschein ist psychologisch und politisch oft bestimmender als die Wirklichkeit. Fr die zu erffnenden transjordanischen Gebiete mssten dieselben Erschliessungsmethoden wie fr die palstinensischen dlndereien gelten. Fr sie wren auch Mittel oder Brgschaften der Jewish Agency in Bewegung zu setzen. Hinzufgen mchte ich, dass wir alle davon berzeugt sind, dass eine regelmssige berprfung der Verhltnisse der Lnder durch Sachverstndige von grossem Nutzen sein wird. Ich nehme an, dass Dr. Senator 1 Ihnen das Telegramm zur Kenntnis gebracht hat, in dem die Hauptpunkte dieses Briefes kurz zusammengefasst sind. Darf ich zum Schluss Ihnen unser aller herzlichen Dank fr Ihre historische Rede vor der Royal Commission 2 aussprechen. Das vorliegende Dokument wurde von Leo Baeck geschrieben und ebenfalls von Otto Hirsch und Friedrich Brodnitz mit den Worten unterzeichnet: »Mit vorste1. Werner David Senator (1896-1953). Sozialpolitiker und Fhrungspersnlichkeit in verschiedenen jdischen Organisationen in Berlin. Immigrierte 1935 nach Palstina, wo er in der Verwaltung der Hebrischen Universitt in Jerusalem ttig wurde. 2. Weizmann hatte sich in einer leidenschaftlichen zionistischen Rede an die

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Korrespondenzen henden Darlegungen sind wir einverstanden«. Eine Antwort seitens Weizmann ist nicht bekannt. Central Zionist Archives, Jerusalem. S25/9783.

* Berlin, 23. Mai 1939 Sehr verehrter Herr Professor! Als Gesamtvertretung der Juden in Deutschland fhlen wir uns verpflichtet, dem Gefhl Ausdruck zu verleihen, das in diesen Tagen unsere Menschen bewegt. Mit tiefer Bestrzung haben die Juden in Deutschland von dem Palstina-Weissbuch 3 der Mandats-Regierung Kenntnis erhalten. Sie empfinden, dass seine Verwirklichung die Abkehr von der Balfourdeklaration 4 und eine Aufhebung des anerkannten Rechts auf das jdische Nationalheim bedeuten wrde. In einer Zeit, in der die Erhaltung und Vermehrung der Auswanderungsmglichkeiten fr die Juden vieler Lnder eine Lebensnotwendigkeit ist, will das Weissbuch die Einwanderung in das jdische Nationalheim hemmen. Der Gedanke einer knftigen Einwanderungssperre muss ihnen allen unfassbar und untragbar erscheinen. Besonders tief empfinden dies die Juden in Deutschland, aus deren Mitte so zahlreiche Menschen in den letzten Jahren in Erez Israel eine neue Heimat aufgebaut haben und unter denen noch so viele sind, fr die der Gedanke des Weges nach Palstina die Hoffnung bedeutet. Indem wir uns zum Mittler dieser Empfindungen machen, fhlen wir uns ihnen im Glauben an den unverusserlichen Anspruch auf das jdische Nationalheim und in dem Willen, an ihm unverbrchlich festzuhalten, verbunden. Leo Baeck im Namen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Das Dokument ist außerdem von Otto Hirsch unterzeichnet. Central Zionist Archives, Jerusalem. L13/145.

* von Lord Peel gefhrte British Royal Commission gewandt, die eine Lsung des Konflikts zwischen Arabern und Juden zu finden suchte. 3. Das Weissbuch, das 1939 in Kraft trat, limitierte in starkem Maße jdische Immigration und Landankauf in Palstina 4. Die Balfourdeklaration ist ein aus dem Jahre 1917 stammender Brief des britischen Außenministers Lord Balfour an Baron Lionel Rothschild, in welchem jener sich fr »die Schaffung einer nationalen Heimsttte in Palstina fr das jdische Volk« ausspricht.

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Chaim Weizmann an Leo Baeck London, 15. Juni 1939 Sehr verehrter, lieber Herr Dr. Baeck, Ich habe in diesen Wochen viele Zuschriften erhalten, aber kaum eine hat mich so tief berhrt wie die Worte, die Sie nach dem Erscheinen des Weissbuches an mich gerichtet haben. Ich bitte Sie, versichert zu sein, dass ich in diesen Jahren immer wieder an Sie, Ihre Haltung, Ihre aufopferungsvolle Leistung gedacht habe, und dass mir Ihr Bild besonders auch in schweren Stunden, die wir durchmachen, vor Augen gestanden hat. Ich bin keineswegs entmutigt oder hoffnungslos; ich weiss vielmehr, dass das Weissbuch nicht das letzte Wort ist, das in unserer Sache gesprochen wurde, und dass das jdische Volk, wenn es nur mutig und vertrauensvoll seine Krfte fr das jdische Nationalheim in Palstina einsetzt, sein Ziel erreichen wird. Central Zionist Archives, Jerusalem. L13/145.

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Ludwig Meidner Ludwig Meidner (1884-1966) gelangte whrend der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als deutscher expressionistischer Maler und Autor zu Ruhm. Nach dem 1. Weltkrieg wurde er aufgrund seiner strengen orthodoxen Beachtung jdischer Rituale zur Besonderheit unter jdischen Knstlern. Whrend der Weimarer Jahre lebte Meidner in Berlin, wo er trotz seiner ablehnenden Haltung gegenber dem liberalen Judentum ein herzliches Verhltnis zu Leo Baeck entwickelte, der 1927 Meidners Trauung mit dessen Schlerin Else Meyer vollzog. Eines von Meidners bekanntesten Gemlden ist das aus dem Jahre 1931 stammende lportrait von Leo Baeck, welches auf bemerkenswerte Weise Baecks schwierige Lebensumstnde der folgenden Jahre ankndigt. Meidner verbrachte die Jahre von 1939 bis 1952 in England und stand auch whrend dieser Zeit mit Baeck in Kontakt. 1948 fertigte er fr die B’nai B’rith Loge in London ein zweites Portrait von Baeck an. Im Jahre 1952 kehrte Meidner allein nach Deutschland zurck. Er war der Ansicht, daß nur das Land seiner Geburt und die Kultur seiner Heimat ihm seine knstlerische Kreativitt zurckbringen knne, die ihm in den Jahren des unglcklichen und verarmten Exils abhanden gekommen war. Nach dem Krieg gewann er die Anerkennung zurck, die das nationalsozialistische Regime ihm genommen hatte, als es seine Arbeiten zur »entarteten Kunst« erklrte und viele seiner Werke zerstrte. Die hier aufgenommenen Briefe von Baeck an Meidner stammen aus den Jahren 1939 bis 1955 und liefern einen Einblick in die anhaltende freundschaftliche Beziehung Baecks zu dem Knstler. * Berlin, 16. August 1939 Lieber Herr Meidner! Haben Sie vielen Dank fr Ihre Zeilen. Ich hatte oft daran gedacht, wie es Ihnen ergehen mag und ob Sie wohl schon in London angelangt seien. Ich hoffe, dass inzwischen auch Ihre Frau sich wieder mit Ihnen vereint hat. Schreiben Sie mir jedenfalls gelegentlich wieder wie es Ihnen Beiden und Ihrem Sohn 1 ergeht. Es ist selbstverstndlich, dass man in neuen Verhltnissen, zumal in einer so grossen Stadt wie London und inmitten von Menschen 1. Der 1929 geborene Sohn David immigrierte nach dem Krieg nach Israel und ließ sich in einem orthodoxen Kibbutz nieder.

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anderer Sprache sich nur nach und nach langsam zurecht finden kann. Ich bitte Sie darum, nicht die Geduld und den Mut verlieren zu wollen. Sie brauchen jetzt beide mehr als je. Tun Sie auch, bitte, Ihrem Garanten 1 kein Unrecht. Er sorgt doch sicherlich fr Ihre Wohnung und Ihren Unterhalt, und das ist doch bereits nicht wenig. Wenn er Ihre Briefe nicht beantwortet, so liegt es vielleicht daran, dass er die deutsche Sprache nicht versteht, vielleicht auch daran, dass er sich, und doch wohl nicht ganz mit Unrecht, sagt, dass einer, dem er, ohne ihn nher zu kennen, so viel Freundliches erwiesen hat, zunchst einmal sich ein wenig einleben und einrichten soll, ehe er mit besonderen Wnschen kme. Also nochmals: bleiben Sie guten Muts! Stadtarchiv Darmstadt. ST 45 Meidner Nr. 60.

* London, 27. November 1947 Lieber Herr Meidner, haben Sie vielen Dank fr Ihre lieben Zeilen. Ich habe es mir schon so lange gewnscht, Sie wiederzusehen, und ich darf auch ehrlich gestehen, dass ich meine Zustimmung zu dem Vorschlage von Herrn Minden 2 nur auf Grund der Bedingung gegeben habe, dass Sie der Autor des Portraits sein sollen. ber die notwendigen Stunden werden wir uns leicht einigen knnen. Allerdings wird vielleicht zwischendurch eine Pause eintreten, da ich aller Voraussicht nach Mitte Januar nach Amerika fr eine Reihe von Wochen werde fahren mssen. Quelle: wie oben. Nr. 61

* London, 16. Juli 1948 Lieber Herr Meidner, vielen Dank fr Ihren Brief. So wie Ihnen erging es mir: nach einer Zwischenzeit habe ich das Bild von neuem betrachtet, und der Ein1. August John, auf dessen Empfehlung hin Ludwig, seine Frau Else Meidner und ihr Sohn wenige Wochen zuvor nach England ausreisen konnten. 2. Henry Minden hatte sich Meidners Bemhungen um Arbeit angenommen und ihm eine Kommission fr ein neues Portrait von Leo Baeck verschafft.

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druck der echten Kunst hat sich verstrkt. Soweit ich urteilen darf, ist es ein gutes Bild, wahrhaft und ehrlich. Im brigen: das Gute ist gut und daher ausserhalb der Kategorie von modern und unmodern. Herzliche Grsse an Sie und Ihre Frau. Wenn es sich noch fgt, kommen meine Tochter und ich noch vor der Reise zu Ihnen, sonst danach. Quelle: wie oben. Nr. 62.

* Cincinnati, 8. Januar 1953 Lieber Herr Meidner! Fr zwei Briefe, die beide mir eine herzliche Freude brachten, bin ich in einer Dankesschuld: fr den zum Rosch-haschanah 1 und nun fr den am neuen Jahresbeginn. Haben Sie vielen Dank. Mit Ihnen freue ich mich ber all das Gute und Liebe, das Ihnen zu teil geworden ist. 2 Ihre Knstlerseele hat nun wieder die Luft, in der sie atmen und sich dehnen kann, und Ihr Auge und Ihre Hand haben die alten und neuen Bereiche. Im stillen danke ich allen Menschen, die Ihnen so viel Freundliches erwiesen haben und erweisen. Eine ganz besondere Freude ist es fr mich, dass Sie Prsident Heuss zeichnen durften. 3 Ich hege fr ihn, und hegte fr seine heimgegangene Frau, eine innige Verehrung. Es ist, wenn ich so sagen darf, ein geschichtliches Stck fr das Deutsche Volk, dass dieser Mann Prsident der Westdeutschen Republik ist. Dr. Adolph Arndt 4 ist mir wohl bekannt. Was Sie ber Hamburg schreiben, habe auch ich empfunden so oft ich dort war. Die Stadt hat einen ganz eigenen Charme. Zum Schluss etwas ganz Persnliches: Meine Enkelin 5 ist mit

1. Zum jdischen Neujahrstag. 2. Meidner war gerade zurck nach Deutschland eingeladen worden, wo er sehr herzlich aufgenommen wurde. 3. Zu der Verbindung zwischen Heuss und Baeck siehe unten. 4. In Bonn war Meidner Gast des Abgeordneten Adolf Arndt gewesen, dessen Tochter er in London kennengelernt hatte. 5. Marianne C. Dreyfus.

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einem Sohne gesegnet worden. Er ist am 20. Dezember, am vbu, 1 geboren. Wir sind alle tief dankbar. Quelle: wie oben. Nr. 63

* London, 24. November 1954 Lieber Herr Meidner, Um ein halbes Jahr bin ich nun lter geworden und habe Ihren lieben Brief noch nicht beantwortet, den Sie mir zu meinem Geburtstage geschrieben haben. Ich hatte immer gehofft, dass mein Weg mich nach Frankfurt fhren werde und ich den Dank, den ich herzlich empfinde, Ihnen mndlich wrde aussprechen knnen. So ist, zumal ich stark auch beschftigt war, die Zeit vergangen. Aber ich habe oft einmal an Sie gedacht und meine herzlichen Wnsche waren zu Ihnen hingezogen. Ich freue mich aufrichtig, dass Sie ein rechtes Feld Ihrer Arbeit auf dem alten Boden, durch den die neue Zeit jetzt ihre Furchen ziehen soll, gefunden haben. Es ist doch gut, dass die Kunst die Tage verbindet und, mehr als vieles andere, Menschen von gestern und von morgen zusammenfhren kann. Sie erleben dies gewiss fast tglich. Ich wnsche es mir oft, Sie wiederzusehen und ich hoffe, dass dieser Wunsch sich mir recht bald einmal erfllen wird. Voraussichtlich werde ich im Frhjahr fr einen Tag nach Sd-Deutschland kommen und ich will dann ein paar Stunden in Frankfurt bleiben, vorerst und vor allem, um Sie wiederzusehen. […] Entschuldigen Sie, lieber Herr Meidner, dass diese Zeilen diktiert sind. Mein Augenarzt schrnkt mir das Lesen und Schreiben ein. Quelle: wie oben. Nr. 64.

* London, 2. Juni 1955 Lieber Herr Meidner, Heute nur einige wenige und diktierte Zeilen. Aber ich hoffe, dass ich recht bald Ihnen mehr werde schreiben knnen. Ihr Brief hat mir eine wirkliche Freude gebracht. Es ist doch gut, dass Sie aus der Luft des Altersheims in die frischere Luft auf dem 1. »Schabbat«.

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freien Lande bersiedelt sind. 1 Ich kann es mir vorstellen, wie wohl Ihnen das neue Leben tut und wieviel Anregung Sie auch fr Ihre Kunst neu gewinnen. Hoffentlich sehen wir uns recht bald einmal wieder. Quelle: wie oben. Nr. 65.

1. Meidner lebte eine Zeit lang in einem jdischen Altersheim in Frankfurt am Main. Spter zog er aufs Land, bevor er nach Darmstadt ging, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte.

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Albert Einstein Obwohl Albert Einstein (1879-1955) von seinen wissenschaftlichen Arbeiten stark in Anspruch genommen wurde, nutzte er sein weitreichendes Prestige und widmete einen Teil seiner kostbaren Zeit, um sich fr politische und moralische Anliegen einzusetzen, die ihm am Herzen lagen. Eines dieser Anliegen war der Zionismus, durch den Einstein schon sptestens 1927 mit Baeck in Kontakt kam und der die beiden Mnner dazu fhrte, 1948 eine gemeinsame ffentliche Erklrung abzugeben, in der sie ihre Position zu der Situation in Palstina zum Ausdruck brachten (siehe oben unter »Zionismus und Israel«). Die hier aufgenommene Korrespondenz stammt aus den Jahren nach dem 2. Weltkrieg und enthlt Reflexionen ber die Nazi-Jahre von seiten Baecks und bringt Baecks Achtung fr den Wissenschaftler zum Ausdruck. Die Verehrung beruhte auf Gegenseitigkeit. Zu Ehren Baecks 80. Geburtstag im Jahre 1953 schrieb Einstein eine großmtige Wrdigung fr die New Yorker deutsch-jdische Zeitung Aufbau, in welcher er Baeck eine »einzigartige Persnlichkeit« nannte, die tiefe Einsicht in menschliche Beweggrnde mit »angeborener Gte« verbinde. * London, 3. August 1945 Hochgeehrter Herr Professor! Die Worte, die Sie mir geschrieben haben, waren eine der grossen Freuden, die hier zu mir kamen. Von Herzen danke ich Ihnen. Eine meiner ersten Fragen war es hier gewesen, wie es Ihnen ergehe, und ich war innig dankbar, als ich erfuhr, dass Sie wohlauf sind. Hinter mir liegt es wie ein graues zerklftetes Dunkel, in dem alles Einzelne sich zusammendrngt. Dass ich den Menschen bisweilen etwas geben durfte dadurch, dass ich unter ihnen war, und hier und dort ein wenig helfen konnte, sind die lichten Punkte, die darauf und dazwischen sind. Lassen Sie mich nochmals fr Ihren Brief danken; er ist mir ein Besitztum. Albert Einstein Archives. Jewish National and University Library, Jerusalem. 4˚ 1576.

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New York, 14. Januar 1946 Hochverehrter Herr Professor! bermorgen will ich nach London zurckkehren. Mit einigen wenigen Wnschen kam ich hierher, und mit einem unerfllten Wunsche, dem, Sie wiederzusehen, reise ich ab. Die Verschwrung der Umstnde war strker als meine Zeit. Aber ganz wie in den Jahren, die nun hinter mir liegen, habe ich Sie in diesen Tagen hier so oft vor mir und mit mir gesehen. Mir war es bisweilen fast so, als sprche ich mit Ihnen und hrte Sie. Vielleicht, sogar wahrscheinlich, werde ich im Sptsommer oder Herbst wieder hierherkommen. 1 Dann, so hoffe ich, wird mein Wunsch Erfllung erfahren. Quelle: wie oben.

* Albert Einstein zu Leo Baecks 80. Geburtstag am 11. Mai 1953 Geburtstage gehren zu den Ereignissen, denen das Opfer wehrlos gegenbersteht. Das Erfreuliche an den Geburtstagen aber liegt darin, dass sie es den Mitmenschen erlauben, einem verehrten und geliebten Menschen ohne Scheu ihre Gefhle auszudrcken. In diesem Sinne freue ich mich, Leo Baecks 80. Geburtstag erleben zu drfen. Was dieser Mann den in Deutschland gefangenen und dem sicheren Untergang entgegensehenden Brdern gewesen ist, kann der in dem Gefhl usserer Sicherheit Dahinlebende nicht voll begreifen. Er empfand es als selbstverstndliche Pflicht, in dem Lande ruchloser Verfolgung auszuharren, um seinen Brdern bis zuletzt eine seelische Sttze zu sein. Keine Gefahr schauend, unterhandelte er mit den Vertretern einer aus ruchlosen Mrdern bestehenden Regierung und wahrte in jeder Situation seine und seines Volkes Wrde. Anmutige Schlichtheit ist ihm angeboren und ein intuitives Verstndnis fr die menschliche Natur mit all ihren Hhen und Tiefen. Dies Verstehen schtzte ihn davor, dem Hasse sich hinzugeben. Denn wahres Begreifen schliesst das Hassen aus und verleiht jene Art menschlicher berlegenheit, welche nur bei Vlkern uralter Kultur weniger selten aufzutreten scheint als bei solchen, die erst vor historisch kurzer Zeit sesshaft geworden sind. Die tiefe Einsicht in die menschlichen Motive kann leicht zu Skep1. Nach New York.

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sis, ja zu einer zynischen Einstellung den Menschen gegenber fhren, wenn sie nicht mit angeborener Gte verbunden ist. In dieser Vereinigung liegt der ganze Charme seiner einzigartigen Persnlichkeit. Ich habe es erlebt, wie sich bei Dr. Baeck diese wunderbare Anlage bei anscheinend unerheblichen Anlssen wie etwas Selbstverstndliches entfaltet hat. Wahrhaft menschlich zu sein ist doch das Hchste, was einem Menschen beschieden sein kann. Aufbau 19.21 (1953). [22. Mrz]

* Cincinnati, 17. Mrz 1954 Mit tiefer Dankbarkeit erfllt es mich, dass ich an Ihrem Geburtstage Ihnen meinen Glckwunsch aussprechen und ihm den persnlichen Ausdruck geben darf. In Tagen, in denen ein sittlicher Zweifel nur ein Nein zu finden schien oder diese Frage nach dem Menschlichen selbst unterhalb des Zweifels blieb, habe ich an Sie denken drfen, und eine Ruhe, eine Bejahung kam ber mich. In so mancher Stunde haben Sie vor mir gestanden und zu mir gesprochen. Meine innigen treuen Wnsche ziehen zu Ihnen hin, die besten meiner Wnsche fr all Ihre Tage. Albert Einstein Archives. Jewish National and University Library, Jerusalem. 4º 1576.

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Ernst Ludwig Ehrlich Ernst Ludwig Ehrlich (geb. 1921) studierte von 1940 bis Juni 1942 unter Leo Baeck an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums, zu welchem Zeitpunkt er sein Religionslehrerexamen ablegte und in den Untergrund ging. 1943 kam er als illegaler Flchtling in die Schweiz. Spter promovierte er in Basel, wurde dort Dozent fr Jdische Religionsgeschichte und verffentlichte zahlreiche Werke zur jdischen Geschichte und Religion. Baeck und Ehrlich trafen sich nach dem Krieg wieder, als Baeck seinen ehemaligen Studenten einlud, 1946 in London an der ersten Nachkriegskonferenz der World Union for Progressive Judaism teilzunehmen. In den folgenden Jahren sahen sich die beiden hufig, in der Schweiz und anderorts. Der wesentlichste Teil ihrer Nachkriegskorrespondenz stammt aus der Zeit vom November 1946 bis Oktober 1947. Baecks Briefe aus diesen Monaten konzentrieren sich auf zwei Themen: die Schuld der deutschen Intellektuellen und die jngsten Ereignisse in der zionistischen Bewegung. Der respektierteste deutscher Historiker des frhen 20. Jahrhunderts, Friedrich Meinecke, hatte als toleranter Mann gegolten, der jdische Studenten aufnahm und dem Nationalsozialismus ablehnend gegenberstand. Im Jahre 1933 hatte sich Meinecke jedoch mit dem Regime ausgeshnt, so daß er seine Arbeit ohne Unterbrechungen fortsetzen konnte. Baeck kritisiert seine unmittelbar nach dem Krieg verffentlichten Reflexionen ber das Dritte Reich, hauptschlich dahingehend, was sie schweigend bergehen, besonders den »Bankrott der Universitten«. Er stellt es kritisch dem Buch des Philosophen Karl Jaspers gegenber, welches zur selben Zeit erschien und welches das moralische Versagen Deutschlands voll anerkennt. Fr Baeck bestand der Mangel an Zivilcourage der deutschen Historiker sowohl in ihrer kleinbrgerlichen Bewunderung fr Autoritt als auch in einer Geschichtsauffassung, die amoralisches Verhalten durch eine Erklrung seiner »historischen Grnde und Hintergrnde« entschuldigte. Und er fgt sarkastisch hinzu: »Moralische Tapferkeit wre ja so unhistorisch«. Da diese Korrespondenz aus den entscheidenden Jahren fr die zionistische Bewegung stammt, berrascht es nicht, daß Baeck ebenfalls die Frage nach der Zukunft fr die jdische Besiedlung Palstinas anspricht (siehe auch oben das Kapitel »Zionismus und Israel«). Baeck lehnt maximalistische Positionen ab und akzeptiert die Teilung in einen jdischen und einen arabischen Staat nur widerwillig. Er betont, wie wichtig es sei, wirtschaftliche Einheit zwischen den beiden Teilen zu schaffen. Davon ausgehend, daß drei Viertel der arabischen Bevl636

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kerung Frieden und Freundschaft mit der jdischen Bevlkerung wollten und sich die Juden gegebenenfalls verteidigen knnten, bringt Baeck zumindest ein gewisses Maß an Optimismus fr die Zukunft zum Ausdruck. * London, 10. November 1946 Lieber Herr Ehrlich, […] Was Sie ber das Buch von Meineke 1 sagen, stimmt mit dem berein, was ich von hieraus auch an Prof. Sigmund Schulze, 2 der mir das Buch geschickt hatte, schrieb. Das Buch ist im Grunde eine Verteidigungsschrift fr Professor Meineke, etwa auf der Linie der Schacht’schen 3 Apologie: ich bin ja immer schon dagegen gewesen. Und das Interessante ist auch bei ihm, worber er schweigt. Er schweigt von dem Bankrott, der ihn doch zuerst angehen sollte, von dem Bankrott der Universitten. Er schweigt auch, obwohl er von Treitschke 4 immer wieder redet, von der Vorarbeit, die dieser sowohl dem gewissenlosen Militarismus wie dem Nazitum geleistet hat. Er schweigt auch von Houston Stuart Chamberlain, 5 dem die Kreise, die M. nicht fern stehen, so gern huldigten. Und er schweigt, schliesslich, von der grossen Schuld der schweigenden und dabeistehenden Kirchen; das Goethe-Krnzchen am Schluss wirkt dann, soll man sagen: noch lcherlicher, oder: noch dmmer. Dass ein Buch, das Meineke schreibt, voll von feinen Zgen und feinen Erkenntnissen ist, bedarf keines Wortes, ebenso die Bewunderung fr den 85jhrigen Mann, der die Kraft hat, dieses Buch zu schreiben, um sich doch noch zu verteidigen. Ich erhielt auch die Schrift von Jaspers 6 ber die Schuldfrage. Das 1. Friedrich Meinecke (1862-1954). Fhrender deutscher Historiker. Verffentlichte 1946 Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. Baeck buchstabiert seinen Namen durchweg »Meineke«, vielleicht wegen der Meinekestraße in Berlin, wo sich die Bros der zionistischen Bewegung befunden hatten. 2. Nicht zu ermitteln. 3. Hjalmar Schacht (1877-1970). Prsident der Reichsbank von 1933 bis 1939. Verffentlichte nach dem Krieg Abrechnung mit Hitler. 4. Heinrich von Treitschke (1834-1896). Deutscher nationalistischer Historiker und Politiker, prgte den Slogan: »Die Juden sind unser Unglck«. 5. Houston Stewart Chamberlain (1855-1927). Autor des rassistischen antisemitischen Werks Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1902). 6. Karl Jaspers (1883-1969). Deutscher Existenzialist. Verffentlichte 1946 Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage.

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ist ein Buch voller Rechtschaffenheit des Denkens und Klarheit der Erkenntnis. Sie haben es gewiss gelesen. […] Im Privatbesitz Ernst Ludwig Ehrlichs.

* London, 17. Dezember 1946 Lieber Herr Ehrlich! […] Sie haben durchaus recht in Bezug auf Meineke. 1 Mnner wie er sind geschichtlich die Schuldigsten; er und seinesgleichen haben gelehrt, sich vor jeder Macht, die massiv wurde, d. h. Macht auch, bedenkenlos, ausbte, gehorsam und schliesslich bewundernd zu beugen. Er ist ein reiner Typus auch des professoralen Kleinbrgers, der immer davon erzhlen muss, welch »feinen« Verkehr er gehabt hat, welch feine Leute mit ihm gesprochen haben. Ich hatte ein paar Mal Gelegenheit, von der Zuschauergallerie zu beobachten, wie Professoren sich vor hohen Herrschaften verbeugten; besonders das Bild von Eduard Meyer, 2 wie sein Rckgrat sich in ein Reptil zu verwandeln schien, – schade, dass ich nicht zeichnen konnte – ist mir in einer lebhaften Erinnerung. Dabei sind alle diese Mnner wirklich Gelehrte und zum Teil Mnner von Geist. Aber der Kleinbrger kommt immer wieder zum Vorschein, vielleicht mssen sie deshalb Antisemiten sein und darber auch schliesslich ihren Geist verlieren. Vielleicht knnen sie deshalb die jdische Geschichte auch nie verstehen. N. B.: Auf dem Wege ber den Professor wird der Jude auch bisweilen ein Kleinbrger und dann schliesslich ein Antisemit. In seiner Stellung zur Arbeiterbewegung ist M. der Jnger Treitschke’s; vielleicht hat die Baseler Bibliothek dessen gesammelte Aufstze, darin sind, ich glaube, zwei Aufstze ber die Arbeiterfrage, mit der Leitfrage: woher bekommen wir unser Dienstpersonal, ohne das wir doch keine Menschenwrde haben wrden, wenn die Arbeiter mehr als bloss Arbeiter sein wollen? Das alles hlt mich, wie ich Ihnen schrieb, nicht ab, die wissenschaftliche Leistung und eine gewisse Conservierung der wissenschaftlichen Fhigkeit – als Professor hat man es meist leicht, sein Pfund zu conservieren – an diesem Manne, der wie seinesgleichen im Kleinen gross und im

1. Siehe Anmerkung zum vorigen Brief. 2. Eduard Meyer (1855-1930). Semitist und Historiker des frhen Judentums und Christentums, der das postbiblische Judentum als wertlos betrachtete.

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Grossen klein ist, anzuerkennen. Im brigen, Mommsen 1 oder Virchow 2 gehrten z. B. nicht zu diesen Meistern und Knstlern kleinbrgerlicher Verbeugung. Aber all das hat, was manche Historiker anlangt, noch eine andere »raison«. Es gibt einen »Historismus«, der der Schlupfwinkel, der so bequeme und schne, fr die Feigheit. Man ist, so bequem und so schn, der Stellungnahme enthoben, wenn man die historischen Grnde und Hintergrnde nur aufzeigt, moralische Tapferkeit wre ja so unhistorisch. Und nebenbei ist man in seiner gehorsamen Feigheit dann auch noch historisch gerechtfertigt; denn die Niedertracht erscheint nun als historischer Process. […] Quelle: wie oben.

* London, 24. Dezember 1946 Lieber Herr Ehrlich, […] Vielen Dank, dass Sie mir ber den Congress 3 geschrieben haben. Es wre so gut, wenn es Weizmann 4 mglich gemacht wrde, an der Spitze zu bleiben, und er wrde jetzt mit grsserer Autoritt dort stehen, vor allem auch gegenber Bin-Gurion, 5 der ihm in den letzten Jahren oft das Leben schwer gemacht hatte. In diesen Jahren ist die Flle der Fehler begangen worden, besonders durch die revisionistischen 6 und amerikanischen Maximalprogramme – welche Geschmacklosigkeit war es schon auch, ein jdisches Programm nach einem Hotel 7 – ausgerechnet! zu benennen. Aber die Lebenskraft des jdischen Volkes ist indertat so gross, dass selbst diese 1. Theodor Mommsen (1817-1903). Deutscher Historiker des antiken Roms und liberaler Politiker. Gegner des Antisemitismus. 2. Rudolf Virchow (1821-1902). Fhrende Persnlichkeit in der medizinischen Forschung und Verfechter des politischen Liberalismus. Er untersttzte Versuche, den Antisemitismus in Deutschland zu bekmpfen. 3. Der 22. Zionistenkongress, der erste nach dem Krieg, fand vom 9. bis 24. Dezember 1946 in Basel statt. 4. Wegen Unstimmigkeiten mit seinen Kollegen trat Chaim Weizmann (18741973) auf dem 22. Kongress vom Amt des Prsidenten der World Zionist Organisation zurck. 5. Nach dem Krieg vertrat David Ben-Gurion [Baeck schreibt: Bin-Gurion] (1886-1973) eine militantere anti-britische Position als Weizmann. 1948 wurde Ben-Gurion der 1. Premierminister des Staates Israel. 6. Bezieht sich auf Revisionismus, einen Zweig des Zionismus, der die hchsten Ansprche in bezug auf Territorium und Staatswesen stellte. 7. Auf einem Treffen in dem Biltmore Hotel 1942 in New York nahmen die Zio-

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Menge der Fehldiagnosen und falschen Kuren ihr auf die Dauer nichts anhaben kann. Die Geschichte vom Berditschewer, 1 mit der Raw Brod 2 seine Rede schmckte, wird dafr bis zur Grenze der Geschmacklosigkeit leider oft verwendet und verbraucht. Es gibt etwas, und auch die Geschichte von dem Berd. ist das, was so tief persnlich, wie aus der Seele eines Hiob hervor, erfahren ist, dass man vielleicht davon, in Bescheidenheit und Demut, sprechen darf, aber niemals darf man pathetisch oder elegisch sein Ich darin sich bespiegeln lassen, um es dann noch in der Rede so aufzuzeigen. Es gibt einen Punkt, wo die Rhetorik zur Gottlosigkeit wird. Silver 3 ist brigens ein wahrhaftiger und reiner Mensch, aber in seinem berschuss an rednerischem Temperament kommt er immer wieder dazu zu rasen und ber Dinge zu sprechen, ber die er nicht zur Genge nachgedacht hat; er ist oft zu unkritisch gegen sich und andere. An Stephen Wise 4 soll der Brief noch heute abgehen; er ist ein hilfsbereiter, gtiger Mensch, und man darf es ihm nachsehen, dass er gern »auftritt«. […] Quelle: wie oben.

* London, 17. Januar 1947 Lieber Herr Ehrlich! Herzlichen Dank fr Ihren Brief vom 27. XII., und wenn ich oben das Datum lese, das ich ber diese Zeilen gesetzt habe, erschrecke ich fast, wie lange er ohne meinen Dank geblieben ist. Aber ich hatte inzwischen oft einmal an Sie gedacht; denn was Sie mir ber den Congress schrieben, ist durch Teilnehmer, die mir be-

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nisten das »Biltmore Program« an, das die Grndung eines jdischen »Commonwealth« in Palstina forderte. Levi Jitzchak von Berditschev (1740-1809). Berhmter chassidischer Rabbiner. Verteidiger Israels vor Gott und Held vieler Erzhlungen. Max Brod (1884-1968). In Tschechien geborener deutscher Schriftsteller, Zionist und enger Freund Franz Kafkas. Die Bezeichnung »Raw« (d. h. Rabbiner) ist hier von Baeck ironisch gemeint. Die erwhnte Rede hatte Brod auf dem Zionistenkongress gehalten. Abba Hillel Silver (1893-1963). Amerikanischer Reformrabbiner und zionistische Fhrungspersnlichkeit. Stephen Samuel Wise (1874-1949). Liberaler Rabbiner und Konkurrent Abba Hillel Silvers im amerikanischen Zionismus.

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richteten, immer wieder lebendig geworden. Was mir erzhlt worden ist, stimmt mit dem berein, was Sie sagten, besonders das, was Dr. Weltsch, 1 den Sie gewiss als frheren Redakteur der Jdischen Rundschau kennen, schilderte. Weizmann 2 schrieb mir bald nach seiner Ankunft hier ein paar Zeilen, voller Trauer, aber doch auch voller Stolz. Es ist doch bezeichnend, dass man nicht gewagt oder nicht vermocht hat, ihm einen Nachfolger zu geben. Viel Malheur brachte die Tatsache, dass die allgemeine amerikanische Parteipolitik sich auch den Congress zur Bhne, vielleicht unbewusst, suchte. Wise 3 ist Demokrat und Silver 4 ist Republikaner; so wurde der Sieg der Republikaner auch in Basel erfochten. Mein Trost ist, dass unter den jngeren amerikanischen Rabbinern Gedanken, die ich zu vertreten suche, Aufnahme finden. Ich werde von drben dringend gebeten, im Herbst hinberzukommen, um zu helfen. Wahrscheinlich werde ich dem Folge leisten. Ich glaube es zuversichtlich, dass sich die Synthese, nicht etwa im Compromiss, von Liberalismus und Zionismus, die so lange als These und Antithese einander gegenbergestanden hatten, jetzt vollziehen will. Ohne einander werden die beiden nicht leben knnen. […] Quelle: wie oben.

* London, 22. Oktober 1947 Lieber Herr Ehrlich, […] ber Palstina kann ich kurz schreiben. Partition means Balkanisation, mit dieser Tatsache muss man sich, leider, abfinden. Ihr gegenber steht: a) die Empfehlung einer wirtschaftlichen Einheit, und alles kommt darauf an, dass sie an den Anfang, d. h. vor und ber die Teilung gesetzt wird; dann bedeutet Teilung nur Cantonizierung und die Balkanisierung wird gemindert und schliesslich behoben, b) drei Viertel der Araber in Palstina, und mehr, wollen den Frieden, den Frieden im Lande und Frieden und Freundschaft mit den Juden, c) die Liga der arabischen Staaten ist ein brchiges Gebilde, und neue wie alte arabische Geschichte zeigt, dass Araber 1. Robert Weltsch (1891-1982). Fhrender deutscher Zionist, der von 1919 bis 1938 die zionistische Zeitschrift Jdische Rundschau herausgab. 2. Nachdem Chaim Weizmann das Amt des Prsidenten der World Zionist Organisation niederlegte, wurde er nicht sofort ersetzt. 3. Siehe Anmerkung zum vorigen Brief. 4. Siehe Anmerkung zum vorigen Brief.

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nach einer Niederlage auseinanderlaufen, d) die Hagana 1 ist, wie mir gesagt wird, militrisch beachtlich, e) wenn man die Juden nicht schtzt, wird man die bestehende und die geplante Pipeline schtzen. So kann auch ein gewisser Optimismus sich bezeugen. Quelle: wie oben.

1. Die Hagana (hebr.: »Schutz«) war das 1920 gegrndete jdische Militr in Palstina, spter Zahal, die Armee Israels.

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Gertrud Luckner Dr. Gertrud Luckner (1900-1995) war Wirtschaftswissenschaftlerin und arbeitete als Expertin auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege fr den Katholischen Caritasverband in Freiburg. Whrend der Nazi-Jahre war sie als geheimer Kurier zwischen den Juden und der Außenwelt ttig und berbrachte Botschaften und geldliche Mittel aus katholischen Kreisen, durch welche Juden die Flucht ber die schweizerische Grenze ermglicht wurde. Im November 1943 wurde sie von der Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Ravensbrck gebracht, wo sie bis zu der Befreiung des Lagers anderthalb Jahre spter berleben konnte. Nach dem Krieg widmete sie sich der Aufgabe, die Beziehungen zwischen Christen und Juden zu verbessern. Zu diesem Zweck grndete sie nach dem Krieg die Zeitschrift Freiburger Rundbrief, als deren Herausgeberin sie viele Jahre fungierte. Im Jahre1966 wurde sie von dem Israeli Holocaust Memorial in Jerusalem, Jad Waschem, fr ihren Einsatz zur Rettung deutscher Juden als »Righteous Gentile« gewrdigt. Luckner blieb im nationalsozialistischen Berlin mit Leo Baeck bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt im Januar 1943 in hufigem Kontakt. Durch ihre Zusammenarbeit gelang es ihnen so, das Leben einiger Juden zu retten. Nach dem Krieg erfuhr Baeck zu seiner großen Erleichterung, daß auch sie berlebt hatte. Whrend der folgenden Jahre trafen sie sich zu verschiedenen Anlssen und schrieben sich regelmßig, wobei nur wenige von Baecks Briefen fr uns von grßerer Bedeutung sind. Im Jahre 1951 arrangierte Baeck Luckners ersten Besuch im Staat Israel. In den hier aufgenommenen Briefen drckt Baeck seine Achtung fr Luckners Arbeit in der Vergangenheit und Gegenwart aus, schreibt ber seine Aktivitten in den Vereinigten Staaten und ber seine Haltung zu den Versuchen der christlichen Kirchen, eine Vershnung mit den Juden herbeizufhren. Er verleiht außerdem der von ihnen beiden geteilten Begeisterung fr das jdische Leben in dem Staat Israel Ausdruck. * London, 21. Januar 1946 Liebes Frl. Dr. Luckner, ich kann es Ihnen kaum sagen, welch tiefe Freude ich empfunden habe, als Ihr Brief vom 19. Dezember von mir gelesen wurde. Er hat mich erst erreicht, als ich jetzt aus Amerika zurckkehrte, wo ich einen Monat gewesen war, um dem grossen jdischen Hilfswerk fr 1946, dem United Jewish Appeal, ntzlich zu sein. 643

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Wie oft hatte ich mit den herzlichsten Wnschen und voller Dankbarkeit an Sie gedacht. Als ich hierher kam, erkundigte ich mich berall, wo ich eine Auskunft erhoffte, nach Ihnen, und im Oktober erfuhr ich zu meiner ausserordentlichen Freude, dass Sie am Leben sind. Ihren Wohnort konnte ich nicht erfahren. Meine innigen Wnsche von mir zu Ihnen. […] Deutscher Caritasverband-Archiv: Briefe von Leo Baeck an Gertrud Luckner. 093.2 + 284.01/2

* 27. Februar 1948 Liebes Frulein Dr. Luckner, […] Ich selbst bin seit dem 5. Januar in U.S.A. Ich war eine Woche in Florida, zwei Wochen in Californien, eine Woche in Detroit und Pittsburgh, dazwischen zweimal in Washington, sowie in Philadelphia und Baltimore. Von hier will ich fr eine Woche nach Texas fahren und dann fr anderthalb Monate nach New York, von wo aus ich fr Tage nach Cincinnati, Chicago, Boston und vielleicht auch nach Canada reisen will. Meine Reise hat dieselbe Aufgabe, wie die, die mich vor zwei Jahren hierher fhrte: die Juden des Landes zur Religion aufzurufen, und dann: die Menschen aus den lieben alten, vergessenen jdischen Gemeinden Deutschlands wiederzusehen; sie sind von Herzen dankbar dafr. Aber berall und von allen erfahre ich hier im Lande viel Gte und Herzlichkeit. Quelle: wie oben.

* London, 28. Juni 1950 Liebes Frl. Dr. Luckner, Ich bin Ihnen noch einen Dank schuldig fr Ihren April Rundbrief. 1 Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, mit welch grossem Interesse und mit welcher Dankbarkeit ich ihn gelesen habe. Ganz be-

1. Der Freiburger Rundbrief wurde 1948 von Dr. Gertrud Luckner begrndet »zur Frderung der Freundschaft zwischen dem alten und dem neuen Gottesvolk – im Geiste der beiden Testamente«.

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Gertrud Luckner

sonders mchte ich den Hirtenbrief von Graf Preysing 1 hervorheben. Es ist ein Wort wie es gesprochen werden sollte. Sie haben gewiss inzwischen auch den Beschluss der Synode, 2 die in Spandau zusammen getreten war, gelesen. Er stellt unzweifelhaft einen grossen Fortschritt dar, wenn er auch etwa 5 Jahre zu spt gefasst worden ist. Aber immerhin ist er dankbar anzuerkennen. Jedoch verglichen mit dem Hirtenbrief des Grafen Preysing wirkt dieser Beschluss verhltnismssig schwach. Allein er verdient immerhin Dank – »better half a loaf than no bread«. Ich hoffe, dass es Ihnen wohl ergeht und dass Sie nicht allzu sehr angestrengt sind. Besteht die Aussicht, dass Sie im Herbst wieder hierherkommen? Ich hoffe, dass es dann etwas frher als im vergangenen Jahre sein wird. Ich soll Ende Oktober wieder nach Amerika reisen. Ich selbst war seit meiner Rckkehr hierher sehr betrchtlich in Anspruch genommen, was auch der Grund dafr ist, dass ich von mir bisher nichts hren liess. Aber ich hoffe, dass die nchsten Wochen und vielleicht auch Monate ruhiger sein werden und ich vielleicht auch etwas Ferien werde machen knnen. Quelle: wie oben.

* London, 18. Mai 1953 Liebes Frulein Dr. Luckner! […] Was Sie in den dunklen Jahren gewesen sind und gegeben haben und was Sie heute in anderen Tagen, aber auf dem gleichen Wege, sind und geben, erfllt mich immer wieder mit Dankesempfin-

1. Konrad Graf von Preysing (1880-1950). Bischof von Berlin, spter Kardinal, versuchte vergeblich, ein ffentliches Eintreten fr die verfolgten Juden zu gewinnen. In seinem Hirtenbrief (Rundbrief (April 1950): S. 8-9) zum elften Jahrestag des Novemberprogroms von 1938 bezeichnete er den Massenmord an den europischen Juden als »ein Verbrechen, das beispiellos dasteht« und schloß mit den Worten: »Wir hoffen und wnschen, daß das Unrecht, das an Millionen geschehen ist, an den Tausenden Hinterbliebenen irgendwie wieder gutgemacht wird«. 2. Die Evangelische Synode, die im April 1950 in Berlin-Spandau tagte, hatte mitunter beschlossen: »Wir sprechen es aus, daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist«.

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den und auch mit einem Trostgefhl. Eine lebendige Hoffnung gewinnt darin eine Kraft. Das Tagebuch von Alfred Delp 1 habe ich zu lesen begonnen. Es hat mich tief ergriffen und stark zu mir gesprochen. Ich bin Ihnen herzlich dafr verpflichtet, dass Sie es mir zu lesen gaben, und ich wnschte, dass viele es lesen. In den Jahren des Martyriums sind innerhalb des Deutschen Katholizismus Quellen aufgebrochen, die, wie mich dnken will, sich im Deutschen Protestantismus nicht geffnet haben, oder wenigstens nicht aus gleicher Tiefe. […] Quelle: wie oben.

* London, 23. April 1954 Liebes Frulein Dr. Luckner, Nochmals danke ich Ihnen fr das edle Buch von Edzard Schaper. 2 Ich habe es nun gelesen, und es hat mich tief ergriffen. Es ist so gut, dass ich durch Sie es kennen lernte und es besitzen darf. Was Sie ber die christlich-jdische Zusammenarbeit schreiben, sagt das, was auch ich denke und empfinde. Sie hat jetzt ihren Kairos; sie ist die große Gelegenheit und Mglichkeit, die uns in unseren Tagen gesandt ist. »Wenn nicht jetzt, wann dann?« 3 Die Zusammenarbeit kann nicht und nirgends durch die »Brotherhood« ersetzt werden – die Voraussetzungen unserer Arbeit sind andere, und auch die Wege und Ziele unserer Arbeit sind anders, sie sind in ihrer Weise einzigartig, unersetzlich. Darum mssen wir alle ihnen so dankbar sein, liebes Frulein Luckner. […] Quelle: wie oben.

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1. Alfred Delp (1907-1945). Angehriger des Jesuitenordens in Mnchen, wo er Kontakt zu Widerstandskreisen unterhielt, fr die er inhaftiert und am 2. Februar 1945 hingerichtet wurde. Nach seinem Tod wurden seine Aufzeichnungen und Briefe aus der Zeit seiner Haft verffentlicht. 2. Edzard Schaper (1908-1984). Bedeutender, sehr produktiver, christlicher Schriftsteller. Es ist nicht klar, auf welches Buch Schapers Baeck sich hier bezieht. 3. Sprche der Vter, 1,14.

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Gertrud Luckner

London, 12. Januar 1956 Liebes Frulein Dr. Luckner, […] Was Sie mir von Ihrer Reise nach dem Heiligen Lande und Ihren Tagen dort erzhlen, hat mir und ebenso meiner Tochter eine grosse Freude geschenkt. Die Fahrt ber das Mittelmeer, wenn das Wetter halbwegs gut ist, ist eine der schnsten, die es gibt. Ich erinnere mich an eine solche Fahrt mit meiner Frau vor mehr als 20 Jahren, von Genua nach Haifa und dann von Haifa nach Venedig mit Aufenthalten in Sizilien, auf Rodos und auf Korfu. Es war, ganz abgesehen von dem Unvergesslichen, welches uns die Wochen in Palstina damals gaben, eine der schnsten Reisen, an die ich mich erinnere. Wenn Sie Dr. Elk 1 in Haifa sprechen, bestellen Sie ihm viele Grsse und ebenso allen in der Hebrew University in Jerusalem, daneben auch Dr. Philip 2 von der Gemeinde Emeth we Emunah. Sollte Ihr Weg Sie auch nach dem Kibbutz Hazorea 3 fhren, bestellen Sie bitte auch dort viele Grsse von mir. Verleben Sie weiterhin recht gute Tage im Heiligen Lande. Es ist doch Wunderbares, was sich dort erschliesst. Quelle: wie oben.

* London, 19. Januar 1956 Liebes Frulein Dr. Luckner, Aufs herzlichste danke ich Ihnen fr Ihren lieben Brief vom 10. ds. M. Inzwischen hatte ich Ihnen auch nach Haifa ein paar Zeilen gesandt und ich hoffe, dass diese Sie erreicht haben. Alles, was Sie schrieben, hat innig zu meinem Herzen gesprochen. Ich fhle mit Ihnen alles das, was in Ihr Empfinden dort einkehrt und was zu Ihrem Hoffen so eindringlich redet. Immer, wenn ich im Lande dort war, habe ich Freude und Respekt immer neu erlebt. Wenn etwas ein Beweis fr das Leben eines Staates ist, dass er nmlich vermag, Menschen glcklich zu machen, so hat dieser Staat die1. Max Meir Elk (1898-1984). Deutscher liberaler Rabbiner, der in Haifa eine Schule und eine liberale jdische Gemeinde grndete. 2. Alfred Aharon Philipp [Baeck schreibt: Philip] (1904-1970). Deutscher liberaler Rabbiner in Oppeln und Wuppertal-Ebersfeld bis 1938. Spter Rabbiner einer konservativen Gemeinde in Jerusalem. 3. Kibbutz Hazorea ist eine kollektive Siedlung in der Nhe von Haifa, deren frheste Siedler deutsche Juden waren.

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sen Beweis erbracht. So viel glckliche Gesichter wie dort sieht man kaum irgendwo anders. Verleben Sie recht gute Tage im Lande und wo immer Sie Bekannte von mir treffen, bestellen Sie bitte viele Grsse. Quelle: wie oben.

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Gershom Scholem Die Beziehung zwischen Gershom Scholem (1897-1982) und Leo Baeck geht mindestens auf die frhen 30er Jahre zurck, zu welchem Zeitpunkt Scholem aus seiner neuen Heimat Jerusalem auf Besuch nach Berlin kam und eine Unterhaltung mit Baeck fhrte, die Scholem berzeugte, daß Baeck der zionistischen Sache wohlwollend gegenberstand. Nach dem Krieg erneuerten die beiden Mnner ihre Bekanntschaft. Wie die hier vorgestellten Briefe aufzeigen, bewunderte Baeck Scholems Pionierarbeit auf dem Gebiet der jdischen Mystik sehr. Er hatte sich in zunehmender Weise selbst mit der Kabbala auseinandergesetzt und religisen Wert in den jdischen mystischen Traditionen gefunden. Zweifelsohne war die Kabbala bei Baecks regelmßigen Besuchen bei Scholem zuhause in Jerusalem auf seinen verschiedenen Reisen nach Israel ein Gesprchsthema, das sie immer wieder aufgriffen. In einem der hier aufgefhrten Briefe erinnert Baeck besonders den Seder-Gottesdienst zu Pessach, den er zusammen mit Scholem und seiner Frau feierte. Die beiden Mnner mssen sich außerdem ber das deutsche Judentum unterhalten haben, da Baeck in einem anderen seiner Briefe Scholem von den zahlreichen Vortrgen erzhlt, die er vor ehemaligen deutschen Juden in Israel auf einem seiner Besuche zu halten eingeladen worden war. In dem inhaltsreichsten der Briefe reflektiert Baeck ber das Konzept des »Mythos«, ein Thema, ber das Scholem kurz zuvor geschrieben hatte. Er weist darauf hin, daß sich ein nationaler Mythos im Falle einer Kanonisierung zu einer potentiellen Gefahr entwickeln knne und sich, in bezug auf die Nazis, sogar in eine »Personifikation der deutschen Torah« verwandelt hatte. * London, 21. Dezember 1947 Lieber Herr Professor Scholem, ein verspteter Gratulant komme ich zu Ihnen, aber ich komme mit herzlichen Glckwnschen, und eine aufrichtige, treue Dankbarkeit will in ihnen sprechen. 1 Wie viel haben wir alle Ihnen zu danken, aber ich danke Ihnen ganz besonders. Immer wieder habe ich mich an Ihrer klaren, quellenden Menschlichkeit, an Ihrer nie wankenden und nie zgernden inneren Freiheit, an Ihrer Kraft, in allem sich selbst zu geben, erfreut und erbaut. Und immer wieder haben Sie mich durch den Genuss 1. Scholem feierte 1947 seinen 50. Geburtstag.

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Ihres Wissens und Ihres Entdeckens in neues Land hineingefhrt und mich dort sehen lassen, was ich vorher kaum geahnt hatte. Mgen Sie noch so manche Jahrzehnte hindurch in Gesundheit, in Frische und im Guten der Tage auf dem Platze stehen, der der Ihre ist, und auf dem Wege weiterziehen, den Sie gezeigt und gebahnt haben! Scholem Archives. Hebrew University, Jerusalem. Arc. 1599/481.

* London, 22. August 1950 Lieber Herr Professor Scholem, ein wenig schuldbewusst sende ich diese Zeilen zu Ihnen, schon seit langem bin ich in Ihrer Schuld. Aber oft einmal habe ich an Sie gedacht, so oft und so viel, dass ich darber ganz das Schreiben vergass. Besonders Ihr »Kabbalah und Mythus« 1 hat mich gar nicht losgelassen, und beschftigt mich immer noch. Ich kann mir denken, dass den Leuten in Ascona 2 eine neue Welt aufgetan worden ist, vor der sie verblfft und erstaunt standen, wie nach Raschi’s 3 Erklrung die Menschenkinder vor dem Tohu. 4 Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar, und erneut dankbar fr Ihren elbse vjuat, 5 den ich nach der wiederholten Lektre Ihres Vortrages wiederum, um zu vergleichen, vorgenommen habe. Ich bin schon sehr neugierig, was Sie dieses Jahr in Ascona sagen werden. Schade, dass ich Sie nicht hren kann. Und wie schade vor allem, dass diesmal Ihre Frau Sie nicht hrt. Um das Wort Mythus habe ich immer Anfhrungsstriche, inverted commas, herumgelegt. Ich weiss nicht, ob Sie sich noch aus vergangenen Tagen an Arthur Bonus 6 erinnern, der sich seinen Namen 1. Scholems Artikel »Kabbalah und Mythus« erschien im Eranos Jahrbuch 17 (1949): S. 287-334. 2. Nachdem sich Scholem bei Baeck C. G. Jungs Verhalten in der Nazi-Zeit versichert hatte, nahm er die von Jung ausgegangene Einladung an, auf der Eranos-Tagung 1949 in Askona in der Schweiz zu sprechen. Diese Tagungen, an denen Scholem hiernach regelmßig teilnahm, waren der Diskussion von Fragen der Geistes- und Naturwissenschaften gewidmet. 3. Mittelalterlicher jdischer Kommentator der Bibel und des Talmud. 4. Hebr.: »dem Wsten«. Vgl. Gen 1,2. 5. Hebr.: »Anfang der Kabbala«. Scholems hebrischer Band zu diesem Thema erschien 1947/48. 6. Arthur Bonus (1864-1941). Evangelischer Theologe und Vertreter eines undogmatischen Christentums.

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machte, indem er den Mythus selig sprach – von ihm hat dann Buber 1 empfangen –. Von den Nazis ist dann er, der Mythus, heilig gesprochen worden als Personification der deutschen Torah; ich erinnere mich noch, dass in dieser Zeit seiner Canonisation an den deutschen Schulen und Hochschulen gelehrt wurde: er ist »die Gesamtheit der Glaubens- und Weltanschauungskrfte des Volkes,« gewissermassen das pleroma aus dem Colosser- und Epheserbriefe. Um so mehr habe ich mich dankbar gefreut, dass Sie von der »Lebendigkeit« und der »Flle« sprechen, von diesem Willen zum Drama, von den dramatis personae. – Ich hoffe, dass es Ihrer Frau wieder gut geht. Knnten Sie in einer Zeile mir gelegentlich mitteilen, was fr ihre Nachpflege, und vielleicht auch ein wenig fr ihre Nebenpflege, durch eine Sendung aus America geschehen knnte; ich will Ende Oktober wieder dorthin fahren. Vielen Dank auch von mir fr Ihre lieben Glckwnsche zur Hochzeit meiner Enkelin; 2 ihr Mann ist vorgestern abgereist, sie wartet auf das immigrant visa, das ihr erlaubt, ihrem Manne zu folgen. Ob die Welt einmal den Befreiungskampf, den zur Brechung der Pass- und Visa-knechtschaft fhren wird? Aber wenigstens hat die junge Ehefrau auf das non quota visa Anspruch und wird wohl in wenigen Wochen in America sein. Quelle: wie oben. Arc. 1599/482.

* Cincinnati, 22. Mrz 1951 Liebe Frau und lieber Herr Professor! Sie kennen mich als sumigen Briefeschreiber, und wieder kommt mein Dank fr Ihren lieben Brief reichlich spt – mir will scheinen diesmal noch spter als blich. Ich kann Ihnen kaum sagen, wie sehr ich mich freue, Sie wiederzusehen, in Jerusalem zumal, in Ihrem Hause. Die Stunden, die ich vor vier Jahren dort mit Ihnen hatte, stehen noch vor mir, als seien sie gestern gewesen. Im nchsten Gestern habe ich hier meine Vorlesungen geschlos1. Martin Buber (1878-1965). Philosoph und Popularisierer des Chassidismus. Scholem stand Bubers Arbeiten zum Chassidismus kritisch gegenber. 2. Baecks Enkelin Marianne heiratete 1950 den amerikanischen Reformrabbiner A. Stanley Dreyfus.

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sen, und am Donnerstag, dem 29. d. M., will ich von New York nach London zurckkehren. Am Mittwoch, dem 18. April, will ich mit dem raschen Flugzeuge der British Overseas, das frh 8 3⁄4 Uhr London verlsst, am Abend um 10.20 in Lydda eintreffen. In Jerusalem soll meine Wohnung die alte sein: 30, Ramban Road, bei Frau Hirsch; ich will mich alsbald bei Ihnen melden. Ich freue mich sehr, dass mein Paket gut angekommen ist; hoffentlich haben Sie sich alles gut schmecken lassen. Quelle: wie oben. Arc. 1599/483.

* London, 24. Mai 1951 Verehrte Frau und lieber Herr Professor, voll tiefer Dankbarkeit fr das, was ich im Lande erlebt habe, bin ich hierher zurckgekehrt. Ein grosses Stck der Dankbarkeit gilt Ihnen. Immer wieder hat mich Ihre liebenswrdige Gte innig bewegt – von der Stunde meiner Ankunft an, als Sie, lieber Herr Professor, mich in Lud 1 erwarteten, bis zu dem Abschiedsabend in Jerusalem in Ihrem Hause. Und wie viele Umstnde und Mhen habe ich Ihnen, liebe Frau Scholem, in diesen Wochen doch verursacht. Aufs herzlichste danke ich Ihnen beiden. Hier habe ich viel erzhlen knnen, nicht zum mindesten von dem Seder 2 in Ihrem Hause; meine Kinder haben die Freude mit mir geteilt, auch sie voller Dank. Die sechs Tage in Haifa sind programmssig, mit allen den Ausflgen, verlaufen und haben mir viel Gutes gebracht. Ob auch den Leuten berall! Denn ich musste, abgesehen von Conferenzen, sechsmal publice reden: dreimal in Haifa und je einmal in Schave Zion, Naharija und Hazorea. 3 In Deganja 4 und Tiberias konnte ich mich eines ganz privaten Daseins, gewiss auch im Interesse der anderen, erfreuen. In Lud bernachtete ich gut und verbrachte dann, bis auf eine Stunde bei Rom, die Tagesstunden im Flugzeug. Hier kam ich pnktlich an, von meinen Kindern erwartet. 1. Wo sich der Flughafen befindet. Heute: Ben-Gurion Airport. 2. Huslicher Familiengottesdienst an den beiden ersten Abenden des Pessachfestes; in Israel nur am ersten Abend gefeiert. 3. Kibbutz Hazorea ist eine kollektive Siedlung in der Nhe von Haifa, deren frheste Siedler deutsche Juden waren. 4. Die erste jdische kollektive Siedlung (Kibbutz), sdlich des Sees Genezareth.

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Ich hoffe, dass ich bald wieder in Israel sein werde, und dass ich dort, oder schon vorher anderswo, Sie in guten Stunden wiedersehen werde. Quelle: wie oben. Arc. 1599/484.

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Robert Raphael Geis Im Jahre 1932 war Robert Raphael Geis (1906-1972) Student Baecks an der Hochschule fr die Wissenschaft des Judentums in Berlin gewesen und diente danach bis zu seiner Auswanderung nach Palstina 1939 als liberaler Rabbiner in verschiedenen deutschen Stdten. Nach dem Krieg kehrte er nach Europa zurck und bernahm Rabbinate zunchst in England und der Schweiz, dann in Amsterdam und schließlich in Karlsruhe. In seinen Briefen an Geis greift Baeck auf seine frheren Erfahrungen als Gemeinderabbiner in Berlin zurck, um seinem ehemaligen Studenten mit praktischen Ratschlgen fr sein Rabbinat zur Seite zu stehen. Hier wie anderorts zieht er es vor, prospektive Konvertiten zum Judentum zu ermutigen anstatt zu entmutigen. Obwohl er die revolutionre Bedeutung der Bewegung zur Gleichberechtigung der Frau anerkennt, bleibt er der Ansicht, daß die Trennung der Geschlechter in der Synagoge dem Gottesdienst »eine ganz eigene Wrde« verleihe. Nichtsdestotrotz zieht er es vor, daß den individuellen Gemeindegliedern die Wahl gelassen wird, ob sie nach Geschlechtern getrennt oder mit ihren Familien zusammensitzen mchten (Vgl. oben unter »Progressives Judentum«, 1929). Er setzt sich nachdrcklich fr den Gebrauch der hebrischen Sprache im Gottesdienst ein und verfolgt das Ziel, die gemeinsame Basis der verschiedenen Richtungen innerhalb des Judentums aufzuzeigen, anstatt deren Unterschiede zu betonen. Ein Brief ist einem gnzlich anderen Thema gewidmet: Baecks Reaktion auf eine kurz zuvor gehaltene Ansprache des Bundesprsidenten Theodor Heuss. Whrend Baeck Heuss’ Eingestndnis der »Kollektivscham« in bezug auf die Vernichtung der europischen Juden begrßt, kritisiert er jedoch, daß Leben und Leistungen der deutschen Juden nicht angesprochen werden. Diese Unterlassung wird fr ihn ein »Zeugnis dessen, wie einsam wir Juden unter allen den Menschen im deutschen Lande waren, und wir selber ahnten es kaum«. * London, 14. 12. 1947 Lieber Herr Kollege Geis, […] In der Frage des hebrischen Unterrichtes stehe ich ganz auf Ihrer Seite. Es ist der Standpunkt, den ich seit Jahrzehnten in der Theorie vertrete und so lange ich unterrichtete in der Praxis durchzufhren suchte. Das Gebetbuch hatte ich als Lesebuch den Schlern nahezubringen mich bemht, bis sie die wichtigeren Gebete, 654

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fast von selbst, auswendig kannten, und sie verstanden sie, auch wenn sie nur weniges von ihnen bersetzen konnten. Konservative Kollegen haben meine Theorie und meine Methode, in der ich auch den Unterricht in der biblischen Geschichte mit dem hebrischen Unterricht zu verbinden suchte, oft und nicht selten auch entschieden, abgelehnt. Begreiflicherweise. Das Gegenteil wre befremdlich. Und berhaupt, wer hat den Anspruch nicht, und eventuell heftig, angegriffen zu werden. Elbogen 1 sagte einmal zu mir: »Ich glaube, eine ganze Reihe von Leuten in unseren Gemeinden wre doch sehr glcklich, wenn Sie aufgehngt, oder eventuell auch verbrannt, wrden«. Wahrscheinlich urteilte er nicht ganz falsch. Mein Grundsatz war immer: fva wjluj fjbjfa wc uja jktd ’e vfrtb 2 – und das heisst doch eben, dass sie vor dem Frieden und der Freundschaft Feinde oder Gegner gewesen sind. Mit Freunden schließlich Freundschaft haben ist doch sozusagen kein Kunststck. In der Sache des »vom Stammesgottes zum Weltgott« hat Dr. Taubes 3 vllig recht. Denn erstens: wie kann oder muss auf den harmlosen Menschen in der Gemeinde solch eine berschrift wirken, welche Verwirrung kann sie in den leeren oder verwirrten Kpfen anrichten; Sie haben doch gewiss schon einmal ber lfukm xvv al tfp jnqlf 4 gepredigt. Und zweitens: woher wissen Sie, und welche religionsgeschichtliche Quelle knnen Sie dafr anfhren, dass die israelitischen Stmme ihre Stammesgtter hatten? Der Segen Jakob’s reicht doch dafr nicht aus. Der Stammesgott setzt Totemismus voraus bzw. schliesst ihn in sich. Der israelitische Stammesgott stammt aus einer – trotz Robertson Smith 5 – tendenzisen Religionswissenschaft. Im brigen warne ich jeden vor »schnen« Titeln. Was das Kppchen schließlich anlangt, so haben Sie wiederum recht getan, als Sie es sich auch im Religionsunterricht aufsetzten. Wie schn, wenn man auf so leichte Weise anderen eine Freude machen und Gegenliebe bewhren kann.

1. Ismar Elbogen (1874-1943). Siehe oben Baecks Briefe an ihn. 2. Spr 16,7. »Wenn Jemandes Wege dem Herrn wohlgefallen, so macht er auch seine Feinde mit ihm zufrieden«. 3. Jacob Taubes (1923-1987). Religionshistoriker, unterrichtete ab 1959 Judaistik an der Freien Universitt in West-Berlin. 4. Lev 19,14. »Du sollst vor den Blinden keinen Anstoß setzen«. 5. W. Robertson Smith (1846-1894). Schottischer Philologe und Bibelkritiker. Baeck bezieht sich hier wahrscheinlich auf seine Lectures on the Religion of the Semites (1889).

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Darum schließlich mein alter Rat: Mensch, rgere Dich nicht. Dietrich Goldschmidt in Zusammenarbeit mit Ingrid Ueberschr, Hg. Leiden an der Unerlstheit der Welt. Robert Raphael Geis 1906-1972. Briefe, Reden, Aufstze. Mnchen: Chr. Kaiser, 1984. S. 109-110.

* London, 4. Mai 1949 Lieber Kollege Geis, […] Soweit ich sehen kann, bietet Amsterdam sowohl Mglichkeiten wie Schwierigkeiten. Unter den ersteren steht vorn die große Mglichkeit aufzubauen. Ein Mann wie Sie wird dort Menschen gewinnen und wird ihnen viel geben, Menschen drinnen und auch draußen. Auch das ist eine Mglichkeit, Brcken zu schlagen; zu der Orthodoxie im jdischen Holland und zur Theologie im christlichen Holland. Das Land hat zudem seine Reize, und die Menschen dort ebenso: sie haben, wie ein alter Freund einmal zu mir sagte, wenig Grazie, aber viel Charakter. Es ist ein Volk mit seiner eigenen Geschichte. Die Schwierigkeit ist die finanzielle Basis und danach die Starrheit der Orthodoxie. Was die erstere anlangt, so hngt alles davon ab, wie groß die Opferwilligkeit ist – Juden aus Deutschland haben darin allerdings eine gute Tradition. […] Mit allem, was ich Ihnen schrieb, habe ich Ihnen sicherlich nichts Neues gesagt und Ihnen die Qual der Wahl kaum erleichtert. Aber es war mir ein Bedrfnis, mit Ihnen zu denken und Ihnen zu zeigen, daß ich mit meinen herzlichen Wnschen bei Ihnen bin. Quelle: wie oben. S. 110-111.

* Cincinnati, 31. Oktober 1949 Lieber Kollege Geis, […] Ihr Prinzip, betr. Aufnahme ins Judentum, ist, soweit ich urteilen darf, das richtige. Es ist umso ratsamer auch, diesem Prinzip zu folgen, da unser altes Religionsgesetz hier im wesentlichen sehr liberal ist. Die bedauerliche Praxis der meisten orthodoxen Rabbiner, die Tore einfach zu schließen, grenzt sehr nahe an das, was juristisch Rechtsbeugung und moralisch Verweigerung der Nothilfe ge656

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nannt wird. Proselyten haben uns oft wertvolles Menschentum und wertvolle Nachkommenschaft gebracht. Nun die andere Frage. Hier stehen zwei Erwgungen einander gegenber. Auf der einen Seite ist die Gleichberechtigung der Frau die grßte und bedeutungsreichste Revolution des letzten Jahrhunderts. Wir knnen dessen nicht enthoben sein, dieser Revolution die religise Anerkennung zu gewhren. Aber auf der anderen Seite gehren Sitten und Formen zu den Dingen, die eine ntzliche Bremse in revolutionren Zeiten sind. Die Trennung der Geschlechter im Gottesdienst, die sich brigens hier und dort auch im calvinistischen Gebiete findet, gibt dem Gottesdienst eine ganz eigene Wrde auch – vorausgesetzt natrlich, daß der Dialog der Menschen mit Gott nicht durch den Dialog der Menschen miteinander ersetzt oder beeintrchtigt wird. Mein Rat wrde dahin gehen – und ich setze voraus, daß die Verbannung der Frau nach der Galerie nicht in Frage steht –, in dem einen Synagogenraum, und wo eine Galerie ist, auch auf dieser, die eine Hlfte den Mnnern und die andere den Frauen zuzuteilen. Ich wrde der Minoritt dahin entgegenkommen, daß, wenn Mann und Frau Wert darauf legen, nebeneinander zu sitzen, dies verstattet werden sollte. Alle diese Dinge regulieren sich nach einiger Zeit von selbst. Quelle: wie oben. S. 111.

* Cincinnati, 13. November 1949 Lieber Kollege Geis, Jetzt, wo in Ihrer Gemeinde Amsterdam der erwhnte Beschluß gefaßt ist, darf ich Ihnen verraten, daß, wenn ich dort gewesen wre, ich vermutlich in gleicher Weise gestimmt htte, nachdem einmal die itio in partes [Geschlechterteilung in der Gemeinde] vorher aufgehoben war. Immer wieder, wenn ich die Geschichte der letzten drei Generationen berdenke, steht die Gleichberechtigung der Frau als eine entscheidende Revolution vor mir. Meine Frau hatte mich oft daran erinnert, daß, als sie um die Wende des Jahrhunderts mir aus der Zeitung vorlas, daß in Preußen Gymnasium und Universitt fr die jungen Mdchen geffnet wrden, ich ihr gesagt hatte: »Nun hat die Revolution begonnen«. Wir sollten dies in jeder Beziehung anerkennen. Mit jeder Form des Gottesdienstes will ich einverstanden sein, wenn nur das Hebrische in ihm einen Platz behlt. Jede Richtung 657

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bin ich bereit anzuerkennen, wenn nur das Wort »Judentum« das Substantiv bleibt, und die Worte »liberal«, »konservativ«, »orthodox« etc. nicht mehr als Adjektive sein wollen. Wenn eine Gemeinde einen stndigen, gebildeten Rabbiner hat, der außerdem noch ein guter Prediger und ein guter Lehrer ist, dann wird sie gedeihen und eine Keimzelle lebendigen Judentums sein. Quelle: wie oben. S. 112.

* Cincinnati, 10. Mrz 1950 Liebe Frau Geis und lieber Kollege, […] Vielmals danke ich Ihnen, lieber Kollege Geis, fr die sorgsame Mhe, die Heuss’sche Ansprache abzuschreiben. 1 Der Eindruck, den ich von der Rede empfing, ist ein zwiespltiger. Einerseits spricht aus ihr der Wunsch, anstndig zu sein – in den Jahren der Bsartigkeit ringsumher hatten manche Deutsche diesen Wunsch, und sie flchteten gern in dieses Wunschland, und manche meinten damit dem Gewissen Genge getan zu haben. Ich habe, ich glaube, es war 1937, Dr. H. und seine Frau kennen gelernt. […] wie viel htte sie [die Rede] bedeutet, wenn sie am 7. 6. 45, 16 Uhr, gehalten worden, oder einiges aus ihr in der ersten Woche seiner Prsidentschaft ausgesprochen worden wre – bei der Rede eines Politikers ist das »wann« oft ein Entscheidendes. Aber es ist eine anstndige Rede, davon darf nichts abgezogen werden, und das Wort von der Kollektivscham ist ein rechtschaffenes. Aber auf der anderen Seite war ich betrbt, als ich die Rede las. Von dem, warum wir Juden in Deutschland uns deutsche Juden nannten, was dort wuchs mit tiefen Wurzeln und die starken Stmme hatte, was dort die Ringe der Jahrhunderte angesetzt hatte, was dort sein Leben, seinen Ausblick und seine Zuversicht hatte, dort, wo jetzt der schwarze Abgrund ghnt, davon weiss oder sagt diese Rede nichts. Mit all dem Guten, was diese Rede will, wird sie doch zum Zeugnis dessen, wie einsam wir Juden unter

1. »Mut zur Liebe. Rede gehalten am 7. Dezember 1949 anlßlich einer Feierstunde der Gesellschaft fr christlich-jdische Zusammenarbeit in Wiesbaden«. In: Hans Lamm, Hg. Theodor Heuss an und ber Juden. Dsseldorf und Wien, 1964. S. 121-127. Das Wort »Kollektivscham« befindet sich auf S. 122. Siehe auch unten Baecks Korrespondenz mit Heuss.

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allen den Menschen im deutschen Lande waren, und wir selber ahnten es kaum. Nur einige wenige hatten wir ringsumher. […] »Letters by Leo Baeck«. Leo Baeck Institute Year Book 10 (1965): S. 230-231.

* London, 24. Mai 1950 Lieber Herr Kollege Geis, […] Sie knnen es kaum ermessen, wie reich Sie mich mit dem, berall gesuchten, Bande der Monatsschrift 1 beschenkt haben – er ist ein wahrer Schatz. Lassen Sie mich Ihnen aufs herzlichste danken und mir zu dem Siege gratulieren, den Sie im Hause des Antiquars davongetragen haben. Vielen Dank nun auch fr Ihren Brief und die Predigt, die Sie beilegten – ich fge sie wieder bei. Ich habe sie, um wieder das zweite vorwegzunehmen, mit aufrichtiger Freude und Dankbarkeit gelesen; sie ist in ihrem Inhalt wie in ihrer Form ausgezeichnet. Jdische Predigt ist haggadisch, 2 im klassischen Sinne dieses Wortes, oder sie ist eben nicht jdische Predigt. Nur eine kleine Bemerkung mchte ich machen: ich mchte glauben, dass der Wille und Wunsch, die in Parashat Amalek und in Megillath Esther 3 zum Ausdruck kommen, nicht Hass bedeuten, sondern der Gedanke, dass mit dem Gift einmal entschieden »aufgerumt« werden msse, hier sich seinen Wunsch und seine Erzhlung schafft – ein Gedanke, wie er dem »Nrnberger Process« zu Grunde lag, aber dort leider nicht zur Entwicklung gelangte, oder wie er, vor vierhundert Jahren, aus dem Kampfruf der Scharen von John Knox 4 sprach: Jesus and no quarter! Ein immerhin gefhrlicher Gedanke, wenn er aus der gttlichen Sphre – Rache ist in der Bibel gttliches Reservat – in die menschliche hinein localisiert wird! Dennoch: die Predigt ist ausgezeichnet. Nun zum Schluss: die Kehillah. 5 Zu meinen Schlern, in vergangenen Tagen, pflegte ich zu sagen – vielleicht auch zu Ihnen: »Denkt 1. Nur wenige Kopien der letzten Ausgabe (1939) der Monatsschrift fr Geschichte und Wissenschaft des Judentums hatten die Konfiszierung durch die Nazis berlebt. 2. Die Haggada oder Aggada besteht aus den jdischen Erzhltraditionen. 3. Dtn 25,17-19. Moses ruft das Volk Israel dazu auf, »das Gedchtnis Amaleks auszutilgen«. hnlicherweise rchen sich die Juden im 9. Kapitel der Estherrolle an ihren Feinden, die sie zu zerstren suchten. 4. John Knox (ca. 1505-1572). Schottischer Reformtheologe und Historiker. 5. Hebr.: »Gemeinde«.

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Korrespondenzen

mglichst wenig an die Vorsteher und mglichst viel an die Kinder – die Schler – die ersteren sind bisweilen ein notwendiges bel, die Kinder sind immer ein freier Segen.« Sodann: warum sollte sich irgend ein Vorsteher nicht ber den Rabbiner rgern, und seinem rger gelegentlich auch, und auch unvernnftig, Ausdruck geben? […] Die Hauptsache ist, dass der Rabbiner der rechte Mensch und der rechte Rabbiner ist; und das sind Sie. […] Quelle: wie voriger Brief. S. 231-232.

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Ernst G. Lowenthal Ernst G. Lowenthal (1904-1994) war Publizist und diente als einer der Herausgeber der Zeitung des Centralvereins deutscher Staatsbrger jdischen Glaubens. Er war außerdem Mitglied der Exekutive der Reichsvertretung der deutschen Juden, der Baeck als Prsident vorstand. Im Jahre 1939 emigrierte Lowenthal nach England, ließ sich aber nach dem Krieg wieder in Deutschland nieder. Als Baeck 1948 zum ersten Mal nach dem Krieg sein frheres Heimatland besuchte, stand ihm Lowenthal als sein Begleiter zur Seite. Die inhaltsreicheren Briefe ihrer Korrespondenz behandeln religise Angelegenheiten, die fr die deutschen Juden von Belang waren. Einige Fragen betreffen die jdischen Friedhfe in Deutschland: ist es erlaubt, die Bestatteten auf andere Friedhfe umzubetten; sollte es gestattet werden, Nicht-Juden auf einem jdischen Friedhof zu beerdigen; sollte die deutsche Regierung dazu angehalten werden, die Friedhfe den jdischen Gemeinden zurckzugeben, oder sollte sie nur dafr verantwortlich sein, daß die Friedhfe nicht entweiht wrden? Außerdem verleiht Baeck in dem ersten hier aufgefhrten Brief seiner Sorge um das Schicksal der jdischen Bcher Ausdruck, die den zerstrten deutsch-jdischen Institutionen gehrt oder sich in seinem eigenen Besitz befunden hatten. In dem bedeutungsvollsten der Briefe deckt Baeck seine persnliche Beziehung zu dem prominenten deutschen Theologen Rudolf Otto auf, der großen Einfluß auf seine Arbeit ausgebt hatte. In dem letzten Brief schließlich spricht er von einem Projekt, eine umfassende Geschichte der deutschen Juden des letzten Jahrhunderts zu schreiben. Das Projekt, fr das, wie Baeck glaubte, »fast die letzte Stunde« angebrochen war, wurde zu seinen Lebenszeiten nicht ausgefhrt. * London, 3. Januar 1947 Lieber Herr Dr. Lwenthal, 1 haben Sie vielen Dank fr Ihren Brief vom 17. Dezember und lassen Sie mich nochmals Ihnen danken, dass Sie meinen Freund in Solingen 2 besucht haben. Er selbst schrieb mir davon voller Dankbarkeit.

1. Eine Zeit lang schrieb Baeck »Lwenthal« oder »Loewenthal«. 2. Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau. Siehe oben Baecks Korrespondenz mit ihm.

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Korrespondenzen

Nun der Inhalt Ihres Briefes. Die Society of Jewish Learning 1 wrde in der Tat gern Bcher aus Deutschland erwerben und, vor allem, es wrde sehr gut sein, wenn ein test case geschaffen wrde, um festzustellen, wer Eigentumsrecht auf die Bcher erheben darf oder zum mindesten den Anspruch darauf machen kann, dass ihm die Bcher als Treuhnder anvertraut werden. Es wrde darauf ankommen festzustellen, wo vor allem sich die Bcher der Lehranstalt fr die Wissenschaft des Judentums befinden, und sie, damit sich nicht – je lnger, desto mehr – Liebhaber fr sie finden, nach England zu bringen. Ich nenne diese Bibliothek vor allen, weil ich der einzige noch briggebliebene von den Dozenten und von der Verwaltung der Lehranstalt bin. Ein Interesse wrde ich an meiner eigenen Bibliothek haben. Erich Warburg 2 hatte meine Wohnung in Berlin besucht. Das Haus ist ausgebrannt, am wenigsten meine Parterre-Wohnung. Aber es ist in ihr keine Spur meiner Bibliothek zu finden, und alles deutet darauf hin, dass sie abgeholt worden ist, um irgendwo in Verwahrung genommen zu werden. Daneben kmen die Bibliotheken der Jdischen Gemeinde in Berlin, des Jdisch-Theologischen Seminars in Breslau, des Rabbiner-Seminars in Breslau und die Bibliothek der Jdischen Gemeinde in Frankfurt/Main in Betracht. […] Im Privatbesitz Dr. Ccile Lowenthal-Hensels.

* Cincinnati, 29. November 1949 Lieber Herr Dr. Lowenthal: […] An Marburg denke ich gern und dankbar zurck. Ich habe dort an der Universitt Ende der 20er Jahre Vorlesungen gehalten und war dort Gast von Professor Rudolf Otto, 3 zu dem ich, und ebenso meine Frau, eine aufrichtige Zuneigung empfand. Haben Sie Professor Frick 4 dort gesprochen? 1. Siehe oben Baecks Brief an Hermann Muller vom 18. Mai 1949. 2. Erich Warburg (1900-1990). Mitglied der bekannten jdischen Bankiersfamilie. Nach einer Karriere in der amerikanischen Armee kehrte er nach dem Krieg nach Deutschland zurck. 3. Rudolf Otto (1869-1937). Religionswissenschaftler. Besonders bekannt fr seine Analyse der religisen Erfahrung als ein numinoses mysterium tremendum et fascinans. Sein berhmtes Buch Das Heilige. ber das Irrationale in der Idee des Gttlichen und sein Verhltnis zum Rationalen (1917) beeinflußte die berarbeitete Ausgabe von Baecks Wesen des Judentums (1922). 4. Heinrich Frick (1893-1962). Theologe. Ab 1929 Ottos Kollege in Marburg.

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Ernst G. Lowenthal

Die neue Generalsekretrin der J.C.R., 1 Dr.Hannah Ahrendt, 2 ist mir sehr gut bekannt. Ich glaube, man hat es sehr gut mit ihr getroffen. Ich freue mich, dass Sie an der deutsch-jdischen Presse mitarbeiten, die es doch verstanden hat, trotz aller Schwierigkeiten ein gutes Niveau zu bewahren. Gern wrde ich den einen oder anderen Aufsatz, den Sie schreiben, lesen, aber hier habe ich kaum eine Mglichkeit, eine jdische Zeitung aus Deutschland zu sehen. Meine Arbeit, nach der Sie sich erkundigen, ist zu 2/3 druckfertig und das letzte Drittel soll es in einigen Monaten sein. 3 Von meiner und meiner Enkelin Gesundheit kann ich nur Gutes berichten. Erkltungen gehren zu den Dingen, fr die ich sehr wenig Talent habe. Der Aufenthalt im College tut mir wiederum sehr wohl. Quelle: wie oben.

* London, 18. Juni 1950 Lieber Dr. Lowenthal, […] Nun Ihre Anfrage. Der Talmud, und ihm folgend der Schulchan Aruch, ist in dieser Frage sehr weitherzig. Das talmudische Prinzip, das bestimmend blieb, ist: »Man bestatte die Toten der Andersglubigen zusammen mit den jdischen Toten«. 4 Auf Grund dieses Prinzips ist auch vom orthodoxen Standpunkte aus kaum etwas dagegen zu sagen, dass die Halle des jdischen Friedhofes von den christlichen Gemeinden bentzt werde. Die eigentliche fragliche Seite hierbei ist, ob die christlichen Confessionen hiervon Gebrauch machen werden. Fr den glubigen Christen ist, wegen der Auferstehungsidee, die den christlichen Glauben trgt, das Cruzifix ein wichtiges Symbol an der Sttte der Trauerfeier. Dem knnte Genge damit getan werden, dass vor der Trauerfeier ein Cruzifix aufgestellt und nach ihr wieder hinaus1. Jewish Cultural Reconstruction. Die 1947 gegrndete Krperschaft nahm sich der jdischen kulturellen und religisen Besitztmer an, die von den Nazis geplndert und dann von der amerikanischen Militrregierung wiedergefunden wurden. 2. Hannah Arendt (1906-1975). Philosophin und Politologin. In der englischen Ausgabe ihr hchst kontroversen Buches Eichmann in Jerusalem (1963) bezeichnet sie Baeck als den »Jewish Fhrer«. 3. Bezieht sich wahrscheinlich auf Dieses Volk. Jdische Existenz. Der erste Band erschien jedoch erst 1955, das zweite nach Baecks Tod im Jahre 1957. 4. Babylonischer Talmud, Gittin 61a.

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Korrespondenzen

getragen wrde. Ich wrde persnlich, vom jdischen Standpunkte aus, keine Bedenken dagegen haben. Aber die weitere Frage, von katholischen Grundstzen aus, ist die der von der katholischen Kirche immer sehr bestimmt abgelehnten communicatio in sacris. 1 Ich hege gewisse Zweifel, ob die katholische Kirche eine Benutzung dieser Halle gestatten werde. Meine Anfrage ist daher: Hatte die »massgebende Stelle«, von der Sie schreiben, sich vorher mit dem bischflichen Ordinariat in Verbindung gesetzt? Wenn jdischerseits die Mitbentzung der Halle angeboten und von katholischer Seite, dankend oder auch nicht dankend, abgelehnt wrde, so wrde die Endwirkung nicht eine Annherung, sondern das Gegenteil oder zum mindesten eine heftige Verstimmung sein. Und gewisse Leute von dem Biertisch oder der Weinstube wrden die ihnen erwnschte Gelegenheit finden, wieder einmal von jdischer Anbiederung und Aufdringlichkeit zu sprechen. Meinem Empfinden wrde es sicherlich wohltun, die Halle zur Verfgung zu stellen, aber ich habe schon in der Quinta gelernt: quidquid agis prudenter agas et respice finem. 2 Freitag Abend war ich zu meiner Freude bei meinen Kindern mit Ihrer Gattin zusammen. Quelle: wie oben.

* London, 11. Juni 1952 Lieber Herr Dr. Lowenthal, […] In der Frage, die Sie betreffs des geschlossenen Friedhofs in Niederaussem beschftigt, 3 habe ich ein allgemeines Gutachten vor mehreren Monaten Herrn Dr. Katzenstein bermittelt. 4 Er wird es Ihnen sicherlich zustellen knnen. Diese Form meiner Meinungsusserung ist mir die erwnschtere, da ich sie vor lngerer Zeit ab-

1. D. h. die Teilnahme der Katholiken an heiligen Riten anderer Konfessionen oder Religionen. 2. Lat.: »Was immer du tust, tue mit Vorsicht und ziehe das Ergebnis in Betracht«. 3. Lowenthal hatte Baeck gefragt, ob er es erlauben wrde, die sich auf einem geschlossenen jdischen Friedhof in Niederaussem bei Kln befindlichen Gebeine zu exhumieren und auf dem in der Nhe liegenden jdischen Friedhof in Elsdorf wiederzubeerdigen. Der Friedhof in Niederaussem lag inmitten eines Braunkohlenbergwerkes, wo durch herabfallende Erdmassen und durch Wasser der Bestand des Friedhofs gefhrdet und die Ruhe der Toten beeintrchtigt war. 4. Nicht erhalten.

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Ernst G. Lowenthal

gegeben habe und sie so nicht zu der Differenz zwischen den beiden rabbinischen Gutachten, 1 die Ihnen vorliegen, Stellung nimmt. Ganz persnlich mchte ich die entscheidenden Punkte Ihnen nochmals vortragen. 1) Das jdische Religionsgesetz, das ber die meisten Dinge sehr ausfhrliche Bestimmungen trifft, gibt fr das Bestattungs- und Friedhofswesen nur einige wenige, sehr lockere, Vorschriften. Im Jore dea 2 sind nur einige kurze Paragraphen darber enthalten. 2) Die bestimmende Regel ist, dass das Grab als dauerndes Besitztum des in ihm Beigesetzten angesehen ist und daher grundstzlich nicht verussert werden darf. 3) Die zweite allgemeine Regel, durch die die erste eingeschrnkt wird, ist die, dass alles geschehen solle, was eine Wrde des Bestattungsplatzes erhlt oder erhht oder sichert. Infolgedessen darf, und unter Umstnden soll, eine Exhumierung stattfinden, wenn der Friedhof oder eine Gruppe von Grbern der berschwemmungsgefahr oder sonstiger Beschdigung durch hhere Gewalt ausgesetzt ist. Desgleichen ist die Exhumierung zulssig, wenn die berfhrung nach dem Lande Israel oder in ein Erbbegrbnis der Familie oder nach einem sonstigen Platze hherer Wrde erfolgen soll. ber die tatschlichen Umstnde kann ich im vorliegenden Falle aus eigener Kenntnis selbstverstndlich nicht urteilen. Aber wenn es der Fall ist, dass durch herabfallende Erdmassen oder durch Wasser infolge der ringsum den Friedhof betriebenen Braunkohle-Frderung die Wrde oder der Bestand des Friedhofs gefhrdet ist, so ist es nicht nur zulssig, sondern knnte unter Umstnden geboten sein, dass die Verlegung nach dem Friedhofe in Elsdorf erfolge. Bemerken mchte ich noch, dass das Gutachten von Rabbiner Levinson 3 durchaus das wiedergibt, was das Religionsgesetz bestimmt. […] Quelle: wie oben.

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1. Zwei Gutachten mit gegenstzlichen Schlußfolgerungen lagen vor. 2. Ein Teil des Schulchan Aruch, des jdischen Gesetzeskodex. 3. Der liberale Rabbiner Nathan Peter Levinson. Siehe oben Baecks Brief an ihn vom 2. Mrz 1951. Das andere rabbinische Gutachten stammte von dem orthodoxen Rabbiner Paul Holzer (1892-1975), der von 1951 bis 1958 als Landesrabbiner in Dortmund amtierte.

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Korrespondenzen

London, 16. Juli 1952 Lieber Herr Dr. Lowenthal, […] Ich glaube, wir sind nicht berechtigt, den Begriff der Pflege von Friedhfen zu weit auszudehnen. Wer alte jdische Friedhfe im Westen wie im Osten Europas, wie auch in Afrika und Asien kennt, weiss, dass sie oft eine romantische Wildnis darstellen. Wenn Sie einmal Ruysdaels Bild »Der jdische Friedhof« gesehen haben, so werden Sie sich an das Gleiche erinnern. Deshalb wre es das beste, sich darauf zu beschrnken, dass eine Umzunung, Mauer, Hecke oder Gitter, angebracht wird bzw. gesichert bleibt, dass ein verschliessbares Tor vorhanden ist und dass der Zugangsweg und ein Hauptweg auf dem Friedhof selbst in Ordnung gehalten werden. Wenn das geschieht, wird sich die Natur als die beste Grtnerin erweisen und die schnste Poesie schaffen. Wenn dann Angehrige ein weiteres tun wollen, ist es natrlich umso besser. Im allgemeinen glaube ich, dass, wenn Forderungen den Eindruck der Mssigung machen, auch ihre Erfllung fr die Dauer – und auf die Dauer kommt es ja vor allem an – am ehesten sichergestellt ist. Quelle: wie oben.

* London, 6. August 1954 Lieber Herr Dr. Lowenthal, […] Um mit der Hauptsache zu beginnen: ich glaube, dass es jetzt fast die letzte Stunde ist, in der daran gegangen werden kann, eine Geschichte der Juden in Deutschland im letzten Jahrhundert zu schreiben. 1 Ich will mich mit Erich Warburg 2 demnchst in Verbindung setzen, um das Finanzielle, ohne das es ja nun einmal nicht geht, mit ihm zu errtern. Fr all das andere, d. h. fr die wissenschaftliche Ordnung und Arbeit, rechne ich sehr auf Sie. Quelle: wie oben.

1. Lowenthal hatte Baeck am 1. August 1954 geschrieben: »Ihre und Mr. Warburgs Idee ist wichtig und richtig – sie wre ein Anfang fr eine berhaupt zu schreibende Geschichte der Juden in Deutschland, eine Sache ber deren Ausfhrung manch einer in den Nachkriegsjahren nachgedacht hat; aber dabei ists geblieben«. 2. Siehe oben Anmerkungen zu Baecks Brief vom 3. Januar 1947.

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Rudolf Jaser

Rudolf Jaser (1896-1981) war Arzt und lebte in der kleinen Stadt Neustadt im Schwarzwald. Seine Korrespondenz mit Baeck begann im Jahre 1946, nachdem Jaser einen der Vortrge gehrt hatte, die Baeck im Rahmen der Sendereihe »Lebendiges Abendland« fr den Deutschen Dienst des Londener Rundfunks gehalten hatte (die drei Vortrge sind unter der berschrift »Der Sinn der Geschichte« in Band 5 dieser Werkausgabe abgedruckt. Siehe S. 23-34). Obwohl Baeck Jaser bis August 1951 nicht persnlich kennenlernte, fhrten die beiden eine inhaltsreiche Korrespondenz, die 10 Jahre anhielt und sich bis in die letzten Monate von Baecks Leben fortsetzte. Whrend der wirtschaftlich armen Nachkriegsjahre in Deutschland sandte Baeck der Familie Jaser wiederholt Pakete mit Nahrungsmitteln und Kleidung. Jaser wiederum schickte Baeck Bcher, die er fr Baeck von Interesse glaubte und ber die Baeck sich dann schriftlich mit ihm auseinandersetzte. Baeck war tief beeindruckt von den weitreichenden Interessen dieses Landarztes und von der Art, »wie Sie mit Menschen der geistigen Welt von Neustadt aus in Verbindung treten«. In seinen Briefen an Jaser spricht Baeck verschiedene Themen an. Er reflektiert ber das Deutschland der 20er Jahre, als so viele Deutsche bereit waren, sich dem Nationalsozialismus zu fgen und verleiht seiner Ansicht Ausdruck, daß ein neues Deutschland nur langsam und nur durch Erziehung entstehen knne. Er schreibt ber seine Eindrkke von Gertrud Luckner und Theodor Heuss (siehe Baecks Korrespondenz mit den beiden in diesem Band). Aus Cincinnati, Ohio, wo Baeck nach dem Krieg jedes Jahr einige Monate als Gastprofessor ttig war, beschreibt er seine Eindrcke vom Leben in den Vereinigten Staaten. Hierbei bringt er wiederholt seine Bewunderung fr das amerikanische politische System zum Ausdruck, in dem Verlierer ihre Niederlagen ohne Bitterkeit akzeptierten und Idealismus die politische Fhrung durchdringe. Wie in anderen Korrespondenzen drckt Baeck auch hier sein Mißtrauen gegenber romantischen Konzepten wie der »Kollektivseele« aus, die es Individuen ermglichten, sich moralischer Verantwortung zu entziehen. Er schreibt: »Es gibt nur einen individuellen Geist, eine individuelle Frmmigkeit«, und fgt hinzu: »Das Wort ist individuell, die Redensart kollektiv«. Er ußert sich ebenfalls kritisch zu dem »selbstgengenden Humanismus«, der unfhig sei, sich mit Tragdien auseinanderzusetzen. Zu den Autoren, deren Werke Baeck kommentiert, gehren Frank Thiess, Dostojewski, Malthus, Heinrich Weinstock, Romano Guardini und Romain Rolland. ber 667

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Korrespondenzen

letzteren, den er besonders bewunderte, schreibt er: »Er knnte fr Deutschland ein Lehrer sein«. * London, 6. Mrz 1947 Sehr verehrte Frau und sehr verehrter Herr Doktor! […] Je mehr ich nachdenke, desto gewisser wird es mir, dass am letzten Ende alles darauf ankommt, dass es die rechten Menschen gibt. In jedem Land gibt es eine Gruppe offener und geheimer Verbrecher und eine Gruppe rechtschaffener, gerader, echter Menschen, und zwischen ihnen ist die grosse Zahl derer, die brgerlich korrekt, aber im Grunde weder gut noch schlecht sind und die in Zeiten einer Krise in manchem Volke den Verbrechern die Mehrheit liefern knnen. Die entscheidende Sicherung ist, dass die Zahl der Rechtschaffenen, der wirklichen Menschen wchst und ihr Gewicht verstrkt wird. Die Kraft dieser Sicherung ist z. B. die Strke Englands; die Schwche Deutschlands war, dass diese Sicherung fehlte oder versagte; der Fehler Englands, und ebenso Frankreichs, war, dass sie nicht zur rechten Zeit auf die Erhaltung und Festigung dieser Sicherung in Deutschland bedacht waren. Der Genesungsprocess hngt heute davon ab. Der grosse Trost ist immer, dass eine neue Generation und damit eine neue grosse Mglichkeit heranwchst; die Erziehungsaufgabe ist darum doch die grsste. Es kommt hier alles darauf an, die Wahrheit, die in jedem Kinde, in jedem gesunden Kinde sicherlich, ist und sich entfalten will, zu nhren und zu entwickeln – meine Frau, die vor zehn Jahren heimgegangen ist, pflegte zu sagen: Die Natur und die Kinder sind immer wahr. So lange ihm Kinder geboren werden, braucht kein Volk verloren zu sein, braucht keiner zu verzagen. Ich glaube zudem, dass bessere Zeiten sich in Mittel- und Westeuropa vorbereiten. Wie alles, was wachsen will, brauchen sie freilich Zeit. Ihre Kinder, so hoffe ich zuversichtlich, gehen besseren, helleren Tagen entgegen. Um Ihren drei Buben und Ihrem Mdel eine kleine Freude zu machen, habe ich ein Pckchen mit etwas Chocolade und Cacao an Sie abgeschickt, mit dem stillen Gebet, dass die Post es wohlbehalten zu Ihnen hinbringen mge. Gern htte ich mehr geschickt, aber diese Dinge sind auch hier rationiert, und auch nur rationierte drfen versandt werden. Ich hoffe, dass sich allmhlich berall wieder die Tore ffnen werden, und ich dann wieder einmal nach dem Schwarzwalde werde 668

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Rudolf Jaser

kommen knnen, und die Freude mir dann zuteil werden wird, sie alle kennenzulernen. Meine Frau und ich, ich schrieb es Ihnen wohl schon, waren oft dort und haben die Menschen und die Landschaft liebgewonnen. Unsere Tochter und ebenso unser Schwiegersohn – sie sind mit ihrer Tochter seit 1939 in London und ich wohne in ihrer Nhe – hatten in Freiburg studiert und hatten, fast mchte ich sagen: selbstverstndlich, ihre Hochzeitsreise dorthin gemacht. Wir sprechen oft auch von den Wegen zwischen Freiburg und Neustadt. […] Im Privatbesitz Renate Jasers.

* London, 12. Oktober 1947 Sehr verehrter lieber Herr Dr. Jaser, […] Die Wochen in Palstina waren reich an wertvollen Eindrkken. Ich war vorher 1935 dort, mit meiner Frau damals, und mir war es jetzt immer, als begleitete sie mich wieder und sprche zu mir. Fast Tag um Tag zog ich im Lande umher; ich war auch im sogenannten »Negev« am Rande der arabischen Wste. Immer wieder erfasste mich die Bewunderung fr das, was in dem letzten Jahrzehnt dort geschaffen worden ist, besonders auch an seinen sozialen Gestaltungen. Einen wohltuenden Tag verlebte ich auch in der Colonie »Schawe Zion« im Norden, die von Juden aus Rexingen in Wrttemberg, die 1939 alt und jung geschlossen nach Palstina ausgewandert waren, aus Sumpf und Sand hervor – ich kannte die Gegend – fast mchte man sagen: hervorgezaubert worden ist. Die Siedlung ist ein Platz blhender Land- und Viehwirtschaft, ganz wie alle die anderen, und wie sie eine Sttte glcklichen Lebens. berall, wohin ich kam, erfuhr ich unendlich viel Liebe und Gte, viel Freundlichkeit auch von der arabischen Bevlkerung. Juden und Araber leben in guter Nachbarschaft und vielfach auch in Freundschaft bei einander. Nur von aussenher, von den Nachbarstaaten und von einer kleinen feudalen Gruppe im Lande, werden Gegenstze erzeugt. Ich bin innerlich bereichert, dankbar von dort zurckgekehrt. Quelle: wie oben.

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Korrespondenzen

London, 26. April 1948 Sehr verehrter lieber Herr Dr. Jaser, […] Haben Sie herzlichen Dank, dass Sie mir so oft schrieben, und fr alles, was Sie schrieben. Alles hat zu mir gesprochen, und hat noch mehr den Wunsch in mir lebendig gemacht, dass es mir eines Tages gewhrt sein mge, mich mit Ihnen ber so manches, was uns gemeinsam und in gleicher Weise bewegt, zu unterhalten. Bis dahin mssen die Briefe dazu helfen. Mit meinem Danke verbinde ich meine aufrichtigen Glckwnsche fr Sie und Ihre verehrte Gattin zu Ihrem vereinten ersten Jahrzehnt. Mgen noch viele, viele gemeinsame Jahre Ihnen in Gesundheit und Freude, ein Glck Ihres Hauses Ihnen geschenkt sein! Sie hatten und haben Jahre zusammen zu tragen, gute schwere Jahre, denn auch die schwereren sind doch gut, wenn sie gemeinsam bestanden werden, gemeinsam von Mann und Frau – ich weiss es von dem, was Gott mir gegeben hatte und Gott mir nahm. Mgen nun die guten lichten Jahre zu Ihnen und Ihren Kindern kommen! Ich glaube, dass trotz allem der Friede nher kommt. Man darf nicht vergessen, dass, seitdem die Kriege zu Kriegen der Vlker geworden sind – die frheren Kriege waren nur Kriege der Herren, erst 1870/71 war auf franzsischer Seite, nach dem Vorbilde der leve en masse in der grossen Revolution, der Beginn eines Krieges des Volkes – es ebenso lange dauert, den Frieden herzustellen, wie es gedauert hatte, den Krieg zu Ende zu fhren. So war nach dem mehr als vierjhrigen ersten Weltkrieg erst Ende 1923 tatschlich der Friede herangekommen. Dieser furchtbare Krieg jetzt hatte fast sechs Jahre gewhrt. Aber ich glaube, wir sind unterwegs zum Frieden. Vielen Dank fr das Zeitungsblatt. Trotz einer gewissen Vereinfachung hat der Verfasser richtig gesehen. Zwischen den Arabern in Palstina selbst und den Juden ist der Wunsch, zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten, nur immer lebendiger geworden. ber America will ich demnchst einmal Ihnen schreiben. Heute nur das eine Americanische: ich habe ein Care-Paket an Sie abgehen lassen, und dieser Tage geht ein Kleider-Paket an Ihre Kinder ab. Seit einigen Tagen bin ich nun wieder hier und freue mich des Zusammenseins mit den Meinen. Quelle: wie oben.

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Cincinnati, 3. Februar 1949 Lieber Herr Dr. Jaser! […] Ich bin nun fast drei Monate hier; wie blich, vergingen mir die ersten Wochen langsam und die folgenden dann schnell und schneller. Die Einladung hierher habe ich angenommen, um hier die Ruhe fr eine Arbeit zu finden, mit der ich seit Jahren beschftigt bin. 1 Diese Ruhe ist mir hier in der Tat gewhrt; ich halte zwei Stunden in der Woche eine Vorlesung fr die Studenten des letzten Jahrgangs 2 und habe die brige Zeit im wesentlichen fr mich. Das College, 3 in dem ich sehr behaglich in einer abgeschlossenen Wohnung – Wohn-, Schlaf-, Badezimmer und Vorraum – untergebracht und sehr gut verpflegt bin, so gut, dass ich von Anfang an einen erheblichen Teil des Essprogramms gestrichen habe, liegt mit seinen vier grossen Gebuden auf einem Hgel, von Wiesen umgeben, mit eigenem, im Winter geheizten Schwimmbassin, ist eine kleine Welt fr sich. Besonders freue ich mich der ausgezeichneten Bibliothek, der grssten in ihrer Art. Durch sie stehen mir auch Photokopien der am Toten Meer gefundenen Handschriften zur Verfgung, von denen der Zeitungsaufsatz erzhlt, den Sie so freundlich waren mir zuzusenden. Die Handschriften sind von grosser Wichtigkeit, obwohl ich ber so manches darin mir noch nicht klar bin. In Palstina geht jetzt offenbar alles seiner Lsung entgegen, eines besseren, als man vor Monaten noch hoffen durfte. Die Worte, die ich von dort erhalte, sind voller Dankbarkeit und Glck. Hier steht das Volk in allen seinen Kreisen in den beiden grossen Parteien, hinter dem neuen Staate. Man verkennt es in Europa oft, wie der Grundzug des amerikanischen Volkes ein sehr lebendiger Idealismus ist, wie ihn Jefferson und Lincoln vor allem eingepflanzt haben; man kann an ihn immer appellieren. Die religise Tradition ist hier auch sehr lebendig. Von ihr und einem neuen Humanismus hngt auch, darin stimme ich Ihnen ganz bei, die Wiedergeburt des europischen Kontinents ab. […] Mit mir ist hier meine Enkelin, die das College auch eingeladen hatte, um mich dadurch noch mehr zu bewegen, hierherzukommen. Sie hat ihr hbsches Zimmer neben meiner Wohnung, als das einzige weibliche Wesen, das im College wohnen darf. Ihr erschliesst

1. Dieses Volk. Jdische Existenz (Siehe Band 2 dieser Werkausgabe). 2. D. h. die Studenten in ihrem letzten Jahr des Rabbinatsstudiums. 3. Hebrew Union College, das Rabbinerseminar der jdischen Reformbewegung in Amerika.

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sich in America eine neue Welt, und sie erfhrt hier auch viel Freundlichkeit. Quelle: wie oben.

* London, 28. Juli 1949 Sehr verehrter Herr Dr. Jaser, […] Ein Brief von Ihnen bringt mir auch immer wertvolle Anregung und Belehrung. Ich erfahre durch Sie, verehrter Herr Doktor, von so manchem, was sonst zu mir nicht hinlangte. Mit grossem Interesse werde ich das Buch von Frank Thiess, 1 das Sie mir schilderten, lesen. Der Begriff der Collectivseele, den Sie aus ihm erwhnen, ist ein sehr bedenklicher und bisweilen gefhrlicher, weil er dazu fhren kann, dass das Individuum ihre Verantwortung oder Schuld auf ein Collectivum abzuschieben beginnt, worauf dann von einer gegnerischen Seite dasselbe Wort als Echo kommt – das Wort »Collectivschuld« von drben ist meist die Antwort auf diesen Begriff des Totalen, Totalitren hben. Das Herdentier im Menschen erhlt durch diesen Begriff eine Art von Anerkennung. Das Wort der Bibel sagt: »Du bist der Mann«. 2 Ganz wie Sie stelle ich das dichterische Werk von Franz Werfel 3 sehr hoch. Sollten Sie in einer Bibliothek einmal sein Buch »Die vierzig Tage des Musa Dag« – er schildert das Schicksal des armenischen Volkes im Jahre 1917 – finden knnen, Sie wrden tief erfasst werden; es ist einer der grssten Romane der Weltlitteratur; ich selbst habe es leider eingebsst und kein Exemplar mehr erlangen knnen. […] Hinter mir liegt eine unruhige Zeit. Ich war zuerst fr eine Woche in Irland, um, seit langem versprochen, Vorlesungen dort zu halten. Dann fand hier eine, aus allen fnf Erdteilen beschickte, Conferenz statt, 4 die den religisen Aufgaben des Judentums galt. Das wesentliche Referat und ein wesentliches Stck der Leitung lag mir ob. Zu-

1. Frank Thiess (1896-1977). Deutscher Schriftsteller und Essayist. Verffentlichte 1949 Ideen zur Natur- und Leidensgeschichte derVlker. 2. 2 Sam 12,7. Der Prophet Nathan zu Knig David. 3. Franz Werfel (1890-1945). Verffentlichte 1933 Die 40 Tage des Musa Dagh. 4. Die 6. internationale Konferenz der World Union for Progressive Judaism.

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dem war recht warmes Wetter. Aber nun ist es bestanden, und ich ruhe mich ein wenig aus. Leo Baeck Institute Yearbook 10 (1965): S. 233.

* London, 5. September 1949 Lieber Herr Dr. Jaser! In unserer Correspondenz bleibe ich immer etwas zurck. Sie sind stets der gebende Teil, und ich stehe im Debet. Zur Entschuldigung, soweit eine solche zulssig ist, kann ich immer nur auf die Sule hinweisen, zu der sich allwchentlich die Briefe, die bei mir einlaufen, aufhufen. Jetzt bin ich noch besonders in Ihrer Schuld: fr das Buch von Frank Thiess, 1 mit dem Sie mich beschenkt haben. Ich habe schon ein gut Teil davon gelesen, und schon jetzt mchte ich meinen, dass es ein sehr gutes Buch ist. Ich stimme manchem nicht ganz bei, und ich glaube manchem widersprechen zu sollen, manches scheint mir auch nicht gengend durchdacht, sondern einer Hast zum Opfer geworden zu sein. Und trotzdem, es ist, soweit ich bisher urteilen darf, ein Buch, das vielfach belehrt und aufhellt, und berall anregt. Ich fhle mich dem Autor sehr verpflichtet, und bin Ihnen, lieber Herr Doktor, aufrichtigen Dank schuldig. Es will mir scheinen, es gibt kollektive Krankheiten, Epidemien, kollektives Unheil, Drre, berschwemmung, Naturkatastrophen, aber es gibt nur einen individuellen Geist, eine individuelle Frmmigkeit. Selbst das Leid, auch das physische, ist individuell. Hungersnot ist im Kollektiven, aber der Hunger ist individuell. Die Industrie mit ihrem laufenden Bande gibt dem Kollektiven sein Feld, die Arbeit gibt es dem Individuellen. Daher gewinnt das Kollektive sein Gebiet durch die Technik, das Individuelle durch das Arbeitsgewissen des Menschen. Das Unglck in den Jahren des Verhngnisses war, dass das Individuum weithin abdankte und sich seine Philosophie der Collectivitt zurecht machte oder fertig liefern liess, in der Form der Phrase, der geschwollenen Redensart – das Wort ist individuell, die Redensart kollektiv – und nun berhoben war, selber zu denken und dafr auf das Kommando wartete. Das Gottesgebot richtet sich an das Individuum, das Kommando an das Bataillon, und das Eigentmliche 1. Siehe Anmerkung zum vorigen Brief.

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dieser Zeit war, dass es auch das Bataillon der in Reih und Glied stehenden Generle, der kommandierten Generle, das Generalskollektiv, umgab. Man knnte die Geschichte dieser Jahre berschreiben: der Krieg des Kommandos gegen das Gottesgebot. Mit den, von Thiess gern gebrauchten, Worten vom Organteil und der Zelle machten die abdankenden Individuen sich ihre Abdankung recht leicht. Ich bin dem Thiess’schen Buche dankbar dafr, dass es mich neu nachdenken lsst. […] Quelle: wie voriger Brief. S. 234.

* London, 17. August 1950 Lieber Herr Dr. Jaser! […] Inzwischen haben wir hier ein anderes Fest gefeiert: das Hochzeitsfest meiner Enkelin, am 25. Juli. Meine Enkeltochter, die mich in den beiden letzten Jahren nach America begleitete, hatte dort einen fellow des Colleges, an dem ich Vorlesungen hielt, Dr. A. Stanley Dreyfus, kennengelernt, und zwischen den beiden jungen Leuten war eine tiefe Neigung erwachsen, und sie haben dann, bevor wir von America abreisten, ihre Verlobung bekannt gegeben. Mein neuer Enkelsohn war im vorigen Sommer auch hier, damit meine Kinder ihn kennenlernten, und ich war mit Marianne mehrmals im Hause seiner Eltern in Youngstown, Ohio, die sie mit sehr grosser, beglckter Liebe aufgenommen haben, ganz wie meine Kinder mit ihrem Schwiegersohn voller Liebe beglckt sind. So waren, sozusagen, meine Reisen doch nicht ganz fruchtlos. Das junge Paar war nach der Hochzeit nach Holland und Frankreich und fr einige Tage auch nach Weissenburg im Elsass gereist, der alten Heimat der seit langem in U.S.A. ansssigen Familie Dreyfus. Jetzt sind sie als Eheleute wieder fr kurze Zeit hier und rsten zur Reise nach der nun gemeinsamen Heimat. Im November hoffe ich sie dort zu sehen. […] Es wird oft vergessen, wie sehr im Volke der Vereinigten Staaten in allen seinen Schichten ein Idealismus lebt, an den immer wieder appelliert werden kann. Kaum ein anderes Volk ist, in den letzten sechs Generationen, so stark durch Mnner bestimmt worden, die im Grunde ihres Wesens Idealisten, im edelsten Sinne dieses Wortes, gewesen sind – um nur Mnner in den Reihen der Prsidenten zu nennen: Washington, Jefferson, Lincoln, Wilson, Franklin Roo674

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sevelt, und ganz von denen zu schweigen, die neben ihnen standen wie Harry Hopkins z. B. Vor zwei Jahren wurde ich von Praesident Truman empfangen und durfte eine lngere Unterhaltung mit ihm haben, und der Eindruck, den ich von ihm hatte, zeigte neben einer tiefen Frmmigkeit diesen Idealismus. Auch in Churchill, dessen Mutter eine Americanerin war, lebt etwas davon. In seinem Charakter ist wohl der hervorstehende Zug die eigentmlich englische generosity; aus seinem wunderbaren Auge, das ja die Zeitungsbilder nicht wiedergeben knnen, spricht sie auch. »Geist und Blut« 1 ist die Wiederverffentlichung einer Vorlesung, die ich 1930 in der Keyserling-Gesellschaft 2 in Darmstadt gehalten hatte; ich sah damals voller Sorge, was zu kommen drohe. An den Grafen Keyserling denke ich voller Dankbarkeit zurck, nicht nur, weil ich so manches durch ihn neu sehen gelernt habe, sondern auch seiner noblen und tapferen Persnlichkeit wegen. Er hat mir auch in den bsen Jahren, wo so manche mir aus dem Wege zu gehen suchten, eine Treue bewiesen. Mit seiner Frau stehe ich, nach wie vor, in Verbindung. Im Privatbesitz Renate Jasers.

* London, 25. August 1950 Lieber Herr Dr. Jaser! […] Die Brder Karamasow sind der erschtterndste Roman, den ich kenne und zugleich, wie Sie mit Recht schreiben, aufrttelnd wie wenige Bcher. Mir schien oft, er knnte berschrieben sein: das Buch von der Demut: was kann der Mensch bedeuten, wenn er in der Demut bleibt, und was wird aus dem Menschen, wenn er sich bewusst von der Demut abwendet. Jedes grosse Buch bleibt irgendwie eine Einleitung, sein Motto ist: nun denke nach, denke weiter; das habe ich dir gezeigt, nun sieh um dich und sieh in dich. Das Buch ist ein tief menschliches und zugleich doch ein ganz russisches. Ich habe im Laufe der Jahre viele russische Menschen kennengelernt; sie sind indertat anders als der Westeuroper. Der Westeuroper erscheint dem Russen als konventionell, als verusserlicht, weil er ber alles spricht, nur nicht ber das Wesentliche, weil dort die Sprache nur dazu da zu sein scheint, um das Wesentliche zu verhl1. Siehe Band 3 dieser Werkausgabe, S. 70-81. 2. Siehe oben Baecks Korrespondenz mit Keyserling.

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len. Der Russe bekennt sich immer und beichtet immer, er will sein Innerstes aufschliessen. Die beinahe schwrmerische Offenheit, mit der die Politiker des heutigen Russland sprechen, und die laute Innigkeit, mit der nach dem Ostergottesdienst der Russe auf der Strasse irgendeinen Unbekannten mit den Worten begrsst und ksst: »Christ ist auferstanden« und die Antwort erwartet: »in Wahrheit auferstanden« – das eine ist vom anderen durch eine Welt geschieden, aber psychologisch ist es dasselbe. Der Russe spricht so auch immer mit seiner Vergangenheit, und auch mit den Verstorbenen; der russische Gottesdienst will die Gemeinschaft der Lebenden und der Verstorbenen sein. […] Leo Baeck Institute Yearbook 10 (1965): S. 235.

* Cincinnati, 14. Januar 1951 Sehr verehrter, lieber Herr Jaser! Aufs herzlichste danke ich Ihnen fr das Wiechert’sche 1 Buch, mit dem Sie mich beschenkt haben. Es ist wahrhaft ein Geschenk fr mich. Ich lese es mit tiefer Ergriffenheit, und sie erfasst mich so sehr, dass ich immer nur einige Seiten lesen kann. Hier sind Wirklichkeit und Poesie, Erscheinung und Sinn wie zu einem geworden. Doch ich habe erst etwa die Hlfte der Bltter gewendet, und wenn ich sie beendet habe, will ich nochmals darber schreiben. Bisher schien es mir bisweilen, als sprche das Buch zu mir von mir, und ergriff mich auch dadurch. Was Sie ber den Aufsatz von Julian Huxley 2 schrieben, erinnerte mich daran, dass die dstere Doctrin, 3 die Sie erwhnen, vor zwei Jahren ihr hundertfnfzigjhriges Bestehen htte »feiern« knnen. Im Jahre 1798 verffentlichte Thomas Robert Malthus seinen Essay On the principle of population, in welchem er darzutun suchte, dass die Menschen in geometrischer Proportion zunehmen und die Lebensmittel nur in arithmetischer Proportion sich steigern lassen. 4 1. Ernst Emil Wiechert (1887-1950). Produktiver deutscher Schriftsteller und Gegner des Nationalsozialismsus. Baeck bezieht sich hier auf Wiecherts Jahre und Zeiten. Erinnerungen (1949). 2. Julian Huxley (1887-1975). Biologe und Propagator des Evolutionismus. 3. Wirtschaftslehre. 4. In dem erwhnten Essay behauptet Thomas Robert Malthus (1766-1834), daß unkontrolliertes Bevlkerungswachstum immer den Nahrungsmittelvorrat bersteigen wird.

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Vor einiger Zeit las ich Dokumente aus jenen Jahren im Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts; sie zeigen eine erstaunende hnlichkeit mit der Stimmung in unseren Tagen auf. Es scheint, dass das Gefhl, der Boden, auf dem man steht, sei ins Wanken geraten, geeignet ist, solch dstere Gedanken zu wecken. Malthus hatte Krankheit, Krieg, Armut und Laster vorausgesagt fr den Fall, dass dem Geburtenzuwachs nicht Einhalt getan wrde. Es war eine irrige Prophetie; denn die Bevlkerung hat sich so vermehrt wie Huxley es sagt, aber Krankheit und Armut haben trotzdem sicherlich erheblich abgenommen, vielleicht auch aufs ganze gesehen, Laster und Krieg. Das Problem der Lebensmittel ist zunchst eines der Verteilung; es gibt doch Lnder, wo Getreide verbrannt wurde, um Platz fr den neuen Erntevorrat zu schaffen. Sodann gibt es auf unserer Erde noch weite Gebiete, die des Pfluges harren; vielleicht fr Jahrhunderte, aber gewiss fr Generationen ist hier eine Flle von Arbeit noch zu leisten und ein steigender Reichtum an Ernte zu erwarten. Die gegenwrtige Stimmung hier im Lande ist die, dass man entschieden pazifistisch ist, aber ebenso entschieden dazu entschlossen, einen notwendigen Krieg bis zum Ende zu fhren. Der sogenannte isolationism hat im Volke nur wenige Anhnger; die meisten von ihnen gehren dem Cirkel der Millionre an, von denen einige auch einige Zeitungen besitzen oder, wie man hier sagt, »controllieren«. Die Formel dieses Kreises ist etwa die: mag die Welt dort draussen vor unseren Toren zu Grunde gehen oder sich zu Grunde richten; wir werden selbstverstndlich bereit sein, denen die brig bleiben werden, relief zukommen zu lassen, auch damit sie sich weiter vermehren. Die Fragen, die mit alle dem zusammenhngen, dringen (begreiflicherweise) auch sehr lebendig in das College hinein; immer wieder haben die Studenten den Wunsch, ber das alles mit mir zu sprechen, um sich ber den Sinn von dem allen klar zu werden. Zu uns Europern hatte die Geschichte eine strkere Sprache bisher geredet als zu den Menschen hier. Was den Krieg anlangt, so bin ich persnlich geneigt, anzunehmen, dass der Krieg vermieden werden wird. Eine sogenannte Wiederbewaffnung Deutschlands sollte aus den verschiedensten Grnden ausser Betracht bleiben, sowohl um Deutschlands willen wie im Interesse der Mchte des Atlantic Pact. […] Quelle: wie voriger Brief. S. 235-237.

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Cincinnati, 21. Mrz 1952 Lieber Herr Dr. Jaser! […] Der Eindruck, den ich von dem Menschen Heuss 1 empfing, – oder richtiger wieder empfing, denn ich kenne ihn von frher her – ist der eines glubigen Menschen oder, was dasselbe meint, einer anima candida, 2 oder was nicht selten das gleiche meinen kann, einer knstlerischen Natur. Er hat einen lebendigen Sinn fr Wahrhaftigkeit und Rechtschaffenheit, die ja auch beide im Grunde dasselbe sind, den Sinn fr etwas, was die Politik lenkt, aber sich nicht von ihr lenken lassen soll. Dazu hat er etwas, was dem Schwaben seinen Wert gibt. Im ganzen mchte ich glauben, dass es eine glckliche Wahl war, die ihn auf seinen Platz berief. Es ist um ihn eine reine Atmosphre. […] Im Privatbesitz Renate Jasers.

* Cincinnati, 11. Dezember 1952 Lieber Herr Dr. Jaser! […] Heute vor sechs Wochen bin ich hier eingetroffen und habe sogleich meine Vorlesungen aufgenommen. Ich kam in die Erregung der Prsidentenwahl hinein, die in diesem Jahre durch die Vervollkommnung und Verbreitung von Television ganz unmittelbar an jeden herangebracht war: in seinem Zimmer konnte jeder die beiden Kandidaten sprechen hren und sprechen sehen. Der Ausgang der Wahl hat fast alle Denkenden im Lande befriedigt: Eisenhower hat die Wahl und Stevenson ein grosses, bleibendes Ansehen gewonnen. Manche, die im Grunde fr Stevenson waren, haben fr Eisenhower gestimmt, weil sie sich sagten, dass es zum Wesen der Demokratie gehrt, dass eine der beiden grossen Parteien nicht dauernd in der Regierung bleiben drfe, dass nach krzerer oder lngerer Zeit die andere in das Recht und die Verantwortung eintreten solle. Und manche, die fr Eisenhower waren, haben fr Stevenson gestimmt, weil dieser Mann ihnen imponierte. Was auf mich einen besonderen Eindruck macht, ist, wie also nach der Wahl ein ehrliches Zusammenarbeiten einsetzte. Es ist hier keine blosse Formsache, dass der

1. Siehe unten Baecks Korrespondenz mit Heuss. 2. Lat.: »Ehrliche Seele«.

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Erste, der dem Sieger gratuliert, der unterlegene Gegenkandidat ist. Der Gegner bleibt der Mitbrger. […] Quelle: wie voriger Brief.

* Cincinnati, 18. Januar 1953 Lieber Herr Dr. Jaser! […] Eine grosse Freude war es fr mich, von Ihnen zu erfahren, dass Sie fr Weihnachten den Besuch von Frl. Dr. Gertrud Luckner 1 erwarteten; ich hoffe, dass es sich so verwirklicht hat, und Sie haben dann gewiss frohe Stunden mit ihr zusammen gehabt. Ich kenne Dr. Luckner seit fast zwanzig Jahren, und ich hege fr sie aufrichtigen Respekt. Sie ist ein wahrhaft frommer und tapferer Mensch; in den schweren Jahren hatte sie sich in vorbildlicher Weise bewhrt, und nach dem Kriege hat sie auf neuen Wegen mutig ihr Werk wieder aufgenommen. Wir haben in allen Lndern nicht viele, die ihr gleichkommen. Im ganz Persnlichem verbindet sie mich noch mit Freiburg. In meinen Erinnerungen hat Freiburg einen eigenen Platz. Meine Frau und ich hatten zweimal unsere Sommerferien in Gnterstal, von wo aus wir unsere Ausflge machten, unsere Tochter hatte dort eine glckliche Studienzeit ganz wie schon vorher unser Schwiegersohn. Nahe stand mir dort der verewigte Prlat Krentz, 2 der Prsident des Caritas-Verbandes, den ich noch wenige Monate vor seinem Tode hatte wiedersehen drfen. Durch das Haus Jaser in Neustadt ist mir jetzt Freiburg von neuem nher gerckt. […] Vor kurzem hatte ich die Freude, einen Bekannten, Dr. Erich Fromm, 3 der als Psychologe und Psychiater in America Ansehen geniesst, nach fnfundzwanzig Jahren wiederzusehen. Er hatte auf Einladung der Regierung von Mexico sich dort lngere Zeit lehrend aufgehalten; auf der Rckreise war er hier einige Tage, und wir waren tglich ein paar Stunden zusammen. Er wußte viel Interessantes von Mexico zu erzhlen. Quelle: wie voriger Brief.

* 1. Siehe oben Baecks Briefe an Luckner. 2. Nicht zu ermitteln. 3. Erich Fromm (1900-1980). Mitglied des Franz Rosenzweig Zirkels in Frankfurt.

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Korrespondenzen

London, 1. September 1953 Lieber Herr Jaser! Fr mehrere liebe Briefe bin ich wieder einmal in Ihrer Schuld. Aufs herzlichste danke ich Ihnen fr jeden einzelnen, ein jeder hat mich reich beschenkt. Ganz besonders danke ich Ihnen fr die »Tragdie des Humanismus«. 1 Das Buch ist eines der eindrucksvollsten und anregendsten der letzten Jahre; ich bin Ihnen aufrichtig dafr verpflichtet, dass Sie mir gewhrt haben, es zu lesen. Soweit ich zu urteilen vermag, ist das Beste darin das Kapitel ber Aeschylos und ber Platon, und das Bedeutendste darin die Auseinandersetzung mit dem Humanismus. Die Art, wie der Autor das Zusammenkommen von Gttlichem und Menschlichem in der Orestie aufzeigt, ist meisterhaft, und hier ist er offenbar auf seinem eigensten Gebiete. Aber auch dort, wo er das hier Erkannte als den Maßstab an vieles andere – bisweilen, wie es scheint, etwas gewaltsam – anlegt, ist er beraus anregend. Immer wieder fhrt er hier zu neuem Nachdenken; ein grsseres Lob kann kaum gezollt sein als dieses, dass hier ein neuer Standort aufgezeigt ist. Voller Bedeutung ist es, dass er das Problem des Humanismus vor uns hinstellt. Er hat es richtig gesehen, dass die strkste Widerlegung des reinen, sich selbst gengenden Humanismus die Tatsache der Tragdie ist – und in unserem menschlichen Bereich ist jede Tatsache zugleich ein Problem. Der Titel des Buches htte auch lauten knnen: Humanismus und Tragdie. Vielleicht htte er besser so gelautet; denn das ist ja die innere Schwche des Humanismus, wenn er sich mit sich selber begngt, dass er des Tragischen nicht fhig ist und darum auf das Tragische keine Antwort weiss. Der reine Humanismus will auf alles die Antwort aus einer reinen menschlichen Sphre herholen und vergisst, was der Vater der Medizin, Hippocrates, gesagt hatte: »p€nta jeffla caffl €njrðpeia p€nta« »alles ist gttlich und menschlich ist alles«, auf Erden wenigstens. Ich bin dem Buche zu grossem und bleibendem Danke verpflichtet. Ihnen danke ich herzlich fr das Geschenk Leo Baeck Institute Yearbook 10 (1965): S. 237.

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1. Heinrich Weinstock. Die Tragdie des Humanismus. Wahrheit und Trug im abendlndischen Weltbild (1953). Weinstock (1889-1960) hatte einen Lehrstuhl fr Philosophie und Pdagogik an der Universitt Frankfurt inne.

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London, 10. Mrz 1955 Lieber Herr Dr. Jaser, […] Ich bin Ihnen dafr sehr verpflichtet, dass Sie mir mitteilen, dass Romano Guardini 1 seinen 70sten Geburtstag begangen hat. Seit langen Jahren ist er mir wohl bekannt und ich schtze ihn sehr hoch, sowohl seiner geistigen wie seiner moralischen Kraft wegen. Ich will ihm demnchst ein paar Glckwunsch-Zeilen senden. Dr. von Veltheim 2 ist mir seit langem ein treuer Freund; schon mit seiner Mutter, die vor Jahren in Mnchen infolge eines Autounfalls starb, war er mir wohl bekannt. Sein Buch »Der Atem Indiens« hat er mir sofort nach dem Erscheinen zugesandt und die Botschaft, die Gandhi an mich ihm mitgab, ist mir durch ihn begreiflicherweise erst in den letzten Jahren mitgeteilt worden. 3 Sie ist so, wie sie in dem Buche mitgeteilt ist, erfolgt und sie ist charakteristisch fr zwei verschiedene Welten. Ich war tief bewegt als ich sie erhielt. Oft einmal tritt so ein Stck Geschichte wieder an uns heran und jedem von uns, jedem in seiner Weise, ist es in manchem Jahre so gefgt worden, dass die Geschichte in sein persnliches Leben eintritt. Wir haben hier einen ungewhnlichen langen Winter, wie das Radio vor kurzem mitteilte, den lngsten seit 1865. Wie Sie wissen, sind die englischen Huser nicht immer ganz auf eine andauernde Klteperiode berechnet. Aber immerhin habe ich mich des warmen Zimmers und auch, wenn die Sonne schien, eines gelegentlichen Spazierganges erfreuen knnen. Eine Arbeit, die ich vorhabe, 4 nimmt mich sehr in Anspruch und in ihr geht die Zeit, ob sie kalt ist oder warmes Wetter bringt, schnell vorber. […] Im Privatbesitz Renate Jasers.

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1. Romano Guardini (1885-1968). Italienisch-deutscher Philosoph und Theologe. Vertreter der katholischen Kulturphilosophie. 2. Siehe oben Baecks Korrespondenz mit Veltheim-Ostrau. 3. Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau. Der Atem Indiens. Tagebcher aus Asien. Hamburg, 1954. Bei einem Treffen mit Gandhi bat Veltheim diesen um eine Botschaft, die er Leo Baeck fr die verfolgten Juden berbringen knne. Gandhi riet den Juden, »kollektiven Selbstmord zu verben und dadurch das Gewissen der Welt aufzurtteln« (S. 16). 4. Dieses Volk. Jdische Existenz (Siehe Band 2 dieser Werkausgabe).

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London, 28. September 1955 Lieber Herr Dr. Jaser, […] Immer wieder bewundere ich es, wie Sie mit Menschen der geistigen Welt von Neustadt aus in Verbindung treten. Eine ganz besondere Freude war es fr mich, von Ihnen zu hren, dass Sie mit der Witwe von Romain Rolland 1 in Verbindung stehen. Wenige Bcher haben in vergangenen Jahren auf mich einen so tiefen Eindruck gemacht wie die von Romain Rolland. Ich glaube, ich habe manches, was er schrieb, dreimal und viermal gelesen. Fr unsere Zeit wrde es viel bedeuten, wenn Jung und Alt – und die Jugend ganz vornehmlich –, wieder diesen ausserordentlichen Menschen durch seine Werke kennenlernte. Er knnte fr Deutschland ein Lehrer sein. […] Quelle: wie voriger Brief.

1. Romain Rolland (1866-1944). Franzsischer Schriftsteller und Nobelpreistrger. Als er 1915 den Nobelpreis fr Literatur erhielt, hob das Komitee besonders die liebevolle und einfhlsame Weise hervor, mit der Rolland verschiedene Menschentypen beschreiben konnte.

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Theodor Heuss Vor der Machtbernahme der Nazis war Theodor Heuss (1884-1963) als Journalist, Politiker und als Dozent an der Hochschule fr Politik in Berlin ttig gewesen. Whrend der NS-Zeit war er Gegner des Regimes, jedoch nur im Stillen und konnte sich so Verhaftungen und Inhaftierungen entziehen. Nach dem Krieg kehrte er in die Politik zurck und wurde 1949 zum 1. Deutschen Bundesprsident gewhlt, ein Amt, das er ein Jahrzehnt lang bekleidete. In seiner Jugend in Stuttgart war Heuss ein enger Freund Otto Hirschs gewesen, der 1933 nach Berlin zog, um dort geschftsfhrender Leiter der Reichsvertretung zu werden, und der bis zu seiner Ermordung in Mauthausen sehr eng mit Baeck zusammenarbeitete. Es war bei Hirsch zuhause, daß Baeck in den 30er Jahren Heuss und seine theologisch gebildete Frau Elly HeussKnapp kennenlernte, mit der Baeck lngere und tiefergehende Gesprche fhrte, und die ihm deshalb von dieser Begegnung eher in Erinnerung blieb als Heuss selbst. Als Heuss nach dem Krieg herausfand, daß Baeck einen Besuch in Deutschland plante, lud er ihn zu sich nach Hause ein, um ihre Bekanntschaft zu erneuern. Hier fanden dann die ersten einer Reihe von Gesprchen statt, die ber die kommenden Jahre weitergefhrt wurden. Nach Heuss war es ihre gemeinsame Bewunderung fr den ermordeten Otto Hirsch, die sie so eng miteinander verband. Zu mehreren Anlssen sprach Heuss ffentlich seine Verehrung fr Baeck aus, mit dem er, wie er behauptete, nur in einem Punkt nicht bereinstimmte: Baecks Definition des Christentums als eine romantische Religion. In seiner Korrespondenz mit Heuss ußert sich Baeck wiederholt dahingehend, daß Staat und Gesellschaft eine Abgrenzung respektieren mßten, die das Individuelle und Persnliche beschtze. Der autoritre Staat sei dadurch charakterisiert, daß er Grenzen verleugne, wohingegen der demokratische Staat sie anerkenne. Er kritisiert Deutschland außerdem fr sein moralisches Versagen im Angesicht einer Herausforderung und aus einer Freiheitsangst heraus, die das deutsche Brgertum veranlaßt habe, sich fr ein autoritres Regime zu entscheiden. Aber er denkt auch an die Deutschen, die sich weigerten, dem Regime zu erliegen. In einem Brief an Elly Heuss-Knapp stellt Baeck heraus: »Wir sollten, wenn wir an die Jahre der Niedertracht denken, und denken mssen, doch nie vergessen, dass es diese Menschen gegeben hat […] die nun Frbitter fr ihr Volk sein drfen«. In Hinblick auf Heuss selbst glaubte Baeck, daß die deutsche Gesamtheit durch ihre Wahl des Bundesprsidenten einen Mann auserwhlt hatte, der das neue deutsche Volk widerspiegeln knnte. ber Leo Baeck schreibt der 683

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Bundesprsident kurz nach Baecks Tod an dessen Tochter: »Ich habe ihn bewundert und geliebt.« * London, 26. September 1951 Hochverehrter Herr Bundesprsident! Ein Wort des Dankes fr alle die Freundlichkeit, die Sie und Frau Heuss mir in Stunden, die noch oft zu mir sprechen werden, geschenkt haben, kommt erst spt zu Ihnen. 1 Nach meiner Rckkehr wurde ich alsbald und sehr stark beansprucht, hier wie ausserhalb Londons, und ich kann einen Brief, der mir ein Persnliches ist, nur in einer ruhigen Stunde schreiben. Aber meine Gedanken waren oft einmal bei Ihnen und Frau Heuss. Inzwischen habe ich durch das Radio Ihre Berliner Rede gehrt – die deutsche Geistesgeschichte des letzten Jahrhunderts in ihrem Auf und Nieder stellt sich doch sehr wesentlich in dem Verhltnis zu Lessing und Kant und Schiller dar, weit mehr als in dem zu Goethe; Goethe wurde der Mann fr die stillen Stunden unter der mit dem Schirm bedeckten Lampe, leider, leider, und daher so oft die Zuflucht fr die moralischen Drckeberger, leider, leider; es ist bezeichnend, dass ein jmmerliches Buch eines bedeutenden Mannes, die Deutsche Katastrophe von Meinecke 2 mit dem Aufruf zum »Goethekrnzchen« schliesst. Voller Dankbarkeit habe ich zusammen mit den Meinen, Ihre Rede zu mir sprechen lassen. Mit der gleichen dankbaren Ergriffenheit habe ich Ihre Wiesbadener Rede und die beiden Neujahrsansprachen gelesen. 3 Sicherlich sind sie vielen ein Besitztum geblieben. Darf ich Ihnen einen besonderen Dank fr die Tbinger Rede aussprechen. Ich habe durch sie viel gelernt, und alte Gedanken sind lebendig geworden. Grenzen abzustecken ist doch die civilisatorische Aufgabe, die jeder Generation und jeder Generations-Besonderheit gestellt ist. Alles Recht, und das heisst: alle Civilisation, begann doch damit und besteht darin, dass der Begriff der Grenze erfasst und festgelegt und auf immer neue Gebiete angewandt wur1. Baeck hatte Deutschland frher in diesem Jahr besucht. 2. Friedrich Meinecke (1862-1954). Fhrender deutscher Historiker. Verffentlichte 1946 Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. 3. Siehe »Glckwnsche zum Neujahrsfest« und »Mut zur Liebe. Rede gehalten am 7. Dezember 1949 anlßlich einer Feierstunde der Gesellschaft fr christlich-jdische Zusammenarbeit in Wiesbaden«. In: Hans Lamm, Hg. Theodor Heuss an und ber Juden. Dsseldorf und Wien, 1964. S. 113-127.

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de, um schliesslich zur konstitutiven Idee zu werden. Alles Zusammenleben von Menschen, alles Zusammenstehen von Gemeinschaften, alles Zusammenkommen geistiger, seelischer, religiser Krfte ist doch durch gegenseitigen Respekt bestimmt, und Respekt ist der Sinn fr die Abgrenzung, fr dieses Individuelle und Persnliche. Autoritres Regiment setzt dann ein, wenn die Idee der Grenze geleugnet oder verleugnet ist; Recht und Coexistenz sind damit beseitigt und die statische Uniformitt, diese Grenzlosigkeit, erstreckt sich. Demgegenber ist Demokratie, die ja ein sich immer erneuernder Process ist, der Respekt vor der Grenze, vor der individuellen Sphre. Der Conflict zwischen Religion und Politik scheint oft der zwischen der echten Grenze und der knstlichen Grenze zu sein. Alle Individualitt, diese wahrste Grenze, wurzelt in der Ewigkeit; die Politik, mit ihren fabrizierten Grenzen wohnt in Tagen und Jahren. Echt ist nur, was irgendwie aus der Ewigkeit herkommt, auch die wahre Scham kommt von dort. In der Collectiv-scham 1 – dieses Ihr Wort wird ein geschichtliches bleiben – wird darum im Volke wie zu einer Gemeinde, die vor den ewigen Gott hintritt, und die Grenze, die er gesetzt hat, nun erfhrt. […] Theodor Heuss Nachlass. Bundesarchiv Koblenz. Bestand N 1221.

* Leo Baeck an Elly Heuss-Knapp London, 26. September 1951 Hochverehrte Frau Heuss! Dem Brief an Herrn Professor, der auch an Sie gerichtet ist, fge ich diese besonderen Zeilen an Sie bei, um Ihnen aufs herzlichste fr das viele zu danken, das Ihr Buch 2 mir gegeben hat. Auf »schmalen Wegen« geht das, wovon Sie erzhlen, aber wahrhaftige Menschen gingen sie, und es sind darum die Wege. Wir sollten, wenn wir an die Jahre der Niedertracht denken, und denken mssen, doch nie vergessen, dass es diese Menschen gegeben hat, welche Sie schildern, die »schlicht mit ihrem Gotte gingen«, und die nun Frbitter fr ihr Volk sein drfen. Ich habe in den bsen und bsesten Tagen solche Menschen kennen gelernt, und es ist mir 1. Der Ausdruck »Kollektivscham« findet sich in Heuss’ Rede »Mut zur Liebe« (S. 122). Siehe auch oben Baecks Brief an Geis vom 10. Mrz 1950. 2. Elly Heuss-Knapp (1881-1952). Schmale Wege. Tbingen und Stuttgart, 1946.

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wie eine Lebensaufgabe, zu beweisen, dass ich ihnen innig dankbar bin. Lassen Sie mich auch Ihnen aussprechen, dass ich immer wieder an die Stunden denke, die ich in Ihrem Hause, in der klaren Luft, die es erfllt, habe verleben drfen. […] Quelle: wie oben.

* Theodor Heuss zu Leo Baecks 80. Geburtstag am 23. Mai 1953 Ich bin dankbar dafr, meine Verehrung fr Leo Baeck zu seinem 80. Geburtstag ausdrcken zu drfen, und ich darf in diese Bekundung auch die herzlichen Empfindungen einbeziehen, die meine verstorbene Frau, mit Baecks theologischem Werk viel nher vertraut als ich es bin, dem Gelehrten und dem Menschen entgegen brachte. Sein geistiger Rang, die Wrdigung, die er als Berliner Oberrabbiner nicht bloß bei den Juden, sondern auch in den theologisch interessierten Gruppen ber den jdischen Kreis hinaus genoß, waren mir schon bekannt, ehe ich ihn im Hause meines wrttembergischen Landsmannes und Studienfreundes Dr. Otto Hirsch 1 persnlich kennen lernte. Hirsch war, als der Nationalsozialismus mit seiner Vernichtungspolitik gegen den jdischen Menschen begann, aus Stuttgart nach Berlin bergesiedelt und hatte sich – dem bedeutenden Manne waren vom Ausland her starke berufliche Wirkungsmglichkeiten angeboten – an die Spitze der »Reichsvertretung der deutschen Juden« stellen lassen. Die Gesprche mit ihm, mit Leo Baeck, waren, wie konnte es anders sein, tragisch durchfrbt – beide Mnner illusionslos, und es wre ein Selbstbelgen gewesen, htte ich wagen knnen, der ich vor ihnen in der inneren Scham stand, mit billigen Worten das sie bedrohende Schicksal an die Seite zu reden. Aber es war dann doch eine tiefe Erschtterung, als ich von Otto Hirschs Frau erfuhr, daß sie ihn in Mauthausen ermordet hatten, ihr eigenes, gleiches Los hrte ich, von Berlin verzogen, erst nach 1945, und auch dies, daß Baeck nach Theresienstadt verschleppt worden, aber noch am Leben war. Leo Baeck wird, denke ich, nicht widersprechen, wenn ich sage, 1. Otto Hirsch (1885-1941). Geschftsfhrender Leiter der Reichsvertretung, umgekommen in Mauthausen.

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daß die gleiche Liebe zu Otto Hirsch und die gemeinsame Trauer um seinen Mrtyrertod das Band waren, das unseren Begegnungen in den letzten Jahren den Charakter des Menschlich-Unmittelbaren gab. Wir haben Geschichtliches, Politisches, Theologisches besprochen – Otto Hirsch war der schweigende, aber von uns in der Kraft seiner mnnlichen Natur ersprte Partner unserer Gesprche. Von diesen will ich nicht weiter erzhlen. Ich bewahre sie als Geschenke in meinem Gedchtnis, weil es eine Gnade ist, in dieser Zeit der seelischen Verwirrung drei Krften in einem Menschen zu begegnen: der ruhigen Wrde, der souvernen Bildung und der inneren Freiheit. Aber dies darf ich sagen: Nach solch einem Besuch reflektierte ich ber den Einfall, wenn Lessing wieder gespielt wird, mßte der Darsteller des Nathan vorher ein paar Tage den Umgang Leo Baecks zu erreichen suchen. Natrlich weiss ich, daß Lessing 18. Jahrhundert ist und Nathan gar kein Rabbiner, daß Generationen inzwischen jdische und christliche Theologie sehr wechselreicher Frbung entwickelt haben und Baeck darber nicht bloß Bescheid weiß, sondern daran Teil hatte. Aber das strt mich nicht, diese berlegung mitzuteilen. Sie mchte im rechten Sinne verstanden werden. Das gelingt, wenn man Lessing wieder liest. In dieser Klage webt aber die schmerzliche und nur allzu berechtigte Frage an die christliche Kirche, warum sie die Prdikate, die der jdischen Gemeinde gehren, sich beimesse, als der wahren Gemeinde, dem wahren Israel, der eigentlichen Erbin der Verheißungen an Abraham, dem »dritten Geschlecht«, whrend doch Israel immer noch Israel sei und unter den Verheißungen Gottes als das »dritte Geschlecht« stehe. Dr. Baeck hat allen Grund zu dieser Frage, und man beginnt auch in der christlichen Theologie und Kirche ihm recht zu geben. Man ahnt, daß es hier um Urworte geht, mit denen man nicht spielen darf, und liest auch in der Bibel neu, selbst wenn man mit Baeck ber Mißverstndnisse, wie etwa den Vorwurf, das Christentum sei die romantische Religion, rechtet. Hier halte ich inne. Es darf nicht beim Abbruch der Gesprche mit Israel bleiben. Und wenn gerade der furchtbare Ausbruch der Tragik des Sich-Nichtverstehens in Haß, in Verachtung und Schndung zu unserer Zeit geschehen ist und auch an Leo Baeck, dem stillen, alten Mann, nicht vorberging, sondern ihm furchtbare Wunden schlug, so ist sein 80. Geburtstag ein erschtternder Weckruf fr die christliche Kirche. Und so mag dieser Tag nicht bloß ein großer Tag fr das Judentum sein, sondern auch ein Tag, an dem die Kirche ihm Dank zollt und das Gelbnis zu einer neuen Stellung zu Israel ablegt und zur Tat werden lßt. Es geht ja um das Heilige und um einen 687

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Mann, der ein langes Leben dem Heiligen diente. Nathan Sderblom, 1 ein anderer großer Mann dieser apokalyptischen Zeit, sagte einmal: »Heilige sind Menschen, die als Salz der Erde dazu beigetragen haben, die Welt vor Fulnis zu bewahren, und solche, die das gttliche Licht voll ausstrahlen lassen fr sich und andere, und schließlich Menschen, die durch ihr Wesen, ihr Leben und ihre Taten zeigen, daß Gott lebt. Sie leuchten durch die Zeiten.« Mit diesem Wort grße ich Leo Baeck in dankbarer Ehrfurcht. Theodor Heuss. »Leo Baeck zum 80. Geburtstag«. Die Neue Zeitung. 23./24. Mai 1953. Wiedergedruckt in: Hans Lamm, Hg. Theodor Heuss an und ber Juden. Dsseldorf und Wien: Econ, 1964. S. 141-143.

* Cincinnati, 24. Januar 1954 Hochverehrter Herr Bundesprsident! Meine treuen Gedanken und innigen Wnsche ziehen zu Ihnen hin, um wie im stillen an Ihrem siebzigsten Geburtstage einer tiefen Dankbarkeit und Verehrung Ausdruck zu geben. Darf ich aber ein Zweifaches auch aussprechen? Manches Leben erfllt sich in einer Frhe, und davon zehrt es dann, und fast unwirklich wird es schliesslich. Manches Leben gewinnt erst spt eine Erfllung, Jugend und Anstieg sind seine Wege geworden; eine grosse Wirklichkeit verkndet sich. Es ist Gabe eines gtigen Geschickes, wenn eine Gesamtheit einen Mann erhlt, in dem sie selbst sich offenbart, an dem sie sich wiedererkennen darf – sie selbst und nicht nur das, was in einer vielleicht notwendigen Sonderung sich gebildet hat. Dem deutschen Volke ist es, in einem seltenen Glcke, so durch Sie zu teil geworden. Mge beides Ihnen noch lange, lange hin beschieden bleiben, und mge Deutschland es so empfangen! Nachlass Theodor Heuss. Deutsches Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar.

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1. Nathan Sderblom (1866-1931). Schwedischer Theologe und Gelehrter. Erzbischof von Uppsala und Grnder der kumenischen Bewegung in Europa.

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Theodor Heuss

Theodor Heuss an Leo Baeck Bonn [?], 5. Februar 1954 Verehrter, lieber Dr. Baeck! Ob das Buch, das meine Freunde Bott und Leins zu meinem 70. Geburtstag als Festgabe bereiten konnten, schon in Ihre Hand kam, weiss ich nicht. Es ist ein seltsames Buch geworden in der grossen Flle der verschiedenen Herknfte, Weltanschauungen, Berufe usf. Aber es hat mich doch sehr bewegt, dass, wie ich erfahren habe, nur ganz wenige sich wegen einer Verhinderung der Mitarbeit entziehen mussten. Ich habe mit Bewegung Ihren Beitrag 1 gelesen und danke Ihnen von Herzen. Ich glaube, es werden auch die anderen, die das Buch in die Hand nehmen, die Meditationen, mit denen Sie Ihren Aufsatz einleiten, zu ihrem Herzen sprechen lassen. Ich bin Ihnen dankbar, wie Sie von hier aus den Weg zu einer Wrdigung meines Seins in dieser Zeitenstunde gefunden haben. […] Quelle: wie voriger Brief.

* Seelisches Schicksal Zu Theodor Heuss’ 70. Geburtstag In der Art, wie sie es in sich aufnehmen, wenn das Schwere in ihr Leben hineingreift, scheiden sich die Menschen. Im ußeren, im Erdgemßen kann es fr sie bleiben, oder es kann ihnen zu einem seelischen Geschicke werden. Nach Tagen, die sein Dasein erfaßte, weiß der eine nur, daß ihm etwas genommen worden ist, und er wartet nun auf den Wechsel des Geschehens, der ihm das, was er eingebßt hat, wiederbringen soll. Doch ein anderes auch kann der Mensch hier erfahren: eine innere Not kommt ber ihn. Dort, wo etwas wuchs und einer Ernte harrte, ist nur noch eine de, eine Leere. Sie spricht zu ihm und scheint eine Antwort zu erwarten. Und diese Frage der Leere ist eindringlicher als je die der Flle gewesen war. Er muß nun um die Antwort ringen. Er hat ein Schicksal erleben mssen. Die Tragik hat ihre Furchen durch seine Tage gezogen. In diesen Boden kann das Moralische tief eine Wurzel hineinsen1. Siehe die hiernach folgende Wrdigung.

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ken. Wenn Tage im Ruhigen und Stetigen dahinziehen, wenn alles in gleichem Flusse zu sein scheint, knnen Menschen meinen, daß sich das Moralische von selbst verstehe. Es dnkt selbstverstndlich, weil kaum je gefordert ist, daß es bewiesen werde, weil immer eines das andere mit sich fhrt, gleichsam eine Welle die andere trgt. Die sogenannte brgerliche Moral ist oft nur diese weitergetragene, diese nicht erprobte Moral. Und wenn es nie wirklich geprft wird, kann das Moralische zu einem »Adiaphoron« werden, und das Moralische und das Unmoralische gehen ineinander ber. Wenn ernste, fordernde Tage dem Menschen in den Weg treten, wenn gewissermaßen das Dahinfließende sich an einem Harten bricht und die Welle nun gegen die Welle stßt, dann hrt jene Selbstverstndlichkeit auf. Das Moralische wird nun zum Problem und damit wird es zur Aufgabe, die den Kampf verlangt. Die wahre Aufgabe bedeutet immer eine Frage an den Menschen, um deren Beantwortung er innerlich ringen muß. Der seelische Auftrag, das seelische Geschick beginnt hier. Auch hier wieder sondern sich darum die Wege. Wenn die Moral zur Erprobung wird, wenn ihr Gebot heischend und erwartend uns anblickt, dann erschrecken viele vor ihr. Sie sehen dann ngstlich von ihr fort oder berheblich ber sie hinweg. Oder man erklrt, sie sei berwunden und abgetan, sie sei von ihrem Throne gefallen – in Wirklichkeit hatten Menschen moralisch abgedankt. Keine wahre Aufgabe wird mehr vernommen. An den Platz des Sittlichen tritt der laute Befehl, kraft dessen die Selbstverstndlichkeit der Moral so bald zur Selbstverstndlichkeit der Unmoral werden kann. Die Seele hrt keine Frage mehr und verlernt es, selbst Fragen zu stellen. Die Fhigkeit zum inneren Schicksal geht verloren. Nur das ußere Geschehen spricht noch: das Gewinnen und das Verlieren, das Fangen und Gefangenwerden. Der Aufgabe ist ihre Sttte versagt. Noch ein anderes schwindet dann dahin. Mit dem Sinn fr die wahre Aufgabe verkmmert der Sinn fr die wahre Gemeinschaft. An deren Stelle ist das Rottenbewußtsein getreten. Nicht auf ein echtes Ziel hin sind Menschen verbunden, sondern auf Gedeih und Verderb. Das wahre Wir setzt das wahre Ich voraus. Nur aus lebendigen Persnlichkeiten kann lebendige Gemeinschaft emporwachsen. Sie wird nun ersetzt durch die gleiche Fracht und das gleiche Reden und Schweigen. Wenn dann diese Gleichmßigkeiten sich lsen oder zerbrochen werden und der Einzelne eines Tages auf sich gestellt sein soll, selber eine Antwort geben soll, dann erfaßt ihn die Furcht vor der Freiheit, die Angst vor der Selbstndigkeit. Er sehnt sich nach Banden, die ihn wieder umschließen und ihn festhalten. 690

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In nichts erstarkt dagegen das sittliche Ich mehr als in dem Schicksal und seiner Aufgabe, die einer in seiner Seele einkehren ließ. Und mit dem Ich festigt sich in ihm das Verlangen nach sittlicher Gemeinschaft. Sein Hoffen ist nun, von dem anderen gehrt zu werden und ihn zu hren, so daß Fragen und Antworten einander begegnen. Jedem ist seine Frage gestellt, aber sie alle sind doch die ewigen Fragen des Lebens. Verstanden zu werden, das ist die Sehnsucht dessen, der die ernsten Stunden erlebt hat. Um so tiefer ist sie, da seelisches Geschick so oft eine Einsamkeit auch meint. Die alte Dichtung vom Hiob spricht hiervon. Als ihm genommen war, was er besessen hatte, konnte er sagen: »Der Ewige hat gegeben, und der Ewige hat genommen«. Aber als die Gefhrten aus vergangenen Tagen, an die das Leben keine Frage gerichtet hatte, vor ihm saßen und kein Verstehen ihm nahte, da erhob er die Klage und die Anklage. Begriffen werden, das ist seelische Wohltat, die einem zuteil wird. Einander begreifen, darin formt sich innere Gemeinschaft mit ihrem Frieden, den sie gibt. Ein Ich hat zu einem Ich gesprochen, seelisches Geschick ist vernommen worden, das Wissen von einer inneren Verbundenheit ist erwacht. Diese Gedanken, die hier Ausdruck suchten, wollen zu einem Manne hinziehen, der Tage seines Lebens als Tage des Schicksals in seine Seele eintreten hieß und dem darum das Amt, zu dem er berufen wurde, auch einen seelischen Auftrag bedeutet. Es ist die vornehmste Aufgabe, die der, welcher das Staatsoberhaupt ist, erfllen darf, daß er Menschen zu begreifen strebe, so daß sie, wenn ein Weg sie zu ihm fhrt, es wissen oder ahnen mgen, daß sie von ihm verstanden werden. Das bedeutet mehr, als das bliche Wort meint, daß er ber den Parteien stehe. Man knnte eher sagen, daß er zu ihnen allen steht. Das will besagen, daß alle Menschen und alle Parteien ehrlichen Willens das eine fhlen drfen, daß, wenn er ihnen naht, ein Verstehen ihnen naht. Eine Brcke von Seele zu Seele ist damit gebaut, ein Friede ist bereitet. Manch einer hat es so erfahren, wenn er zu Theodor Heuss – und einst zu seiner Frau – kam. Auch Menschen jdischen Schicksals wissen voller Dankbarkeit darum, sie, denen mehr als anderen das Leben seine schweren Fragen gestellt hat. Mehr noch als andere vielleicht sehnen sich diese Menschen danach, begriffen zu werden, denn sie sind, wie das Prophetenwort sie nennt, »die an die Hoffnung gebundenen«, die, die von der Hoffnung nicht lassen knnen. Wenn Theodor Heuss zu ihnen sprach, konnten sie dessen bewußt werden, wie ein Geschick und eine Hoffnung, beide in einem, und darum ein 691

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seelisches Begreifen, zu ihnen sprach. Kaum kann ein reinerer Dank und ein edleres Lob gezollt sein. »Seelisches Schicksal.« Begegnungen mit Theodor Heuss. Hg. H. Bott und H. Leins. Tbingen, 1954. S. 418-421.

* London, 11. November 1954 Hochgeehrter Herr Bundesprsident! […] Ihnen verdanke ich es auch, und ich bin Ihnen aufrichtig dafr verpflichtet, dass ich das Buch von Friedrich Hielscher 1 kennenlernte. Mit Ergriffenheit, ich kann es kaum anders ausdrcken, habe ich es gelesen. Es ist ein so ehrliches, ein so anstndiges Buch, so ganz anders als jene vielen Bcher aus jener Zeit und von jener Zeit. Es ist so ehrlich auch dadurch, dass es nicht ber jene Tage redet, sondern sie selber durch den Mund ihrer Menschen sprechen lsst. Das Kapitel ber Lietzmannstadt hat mich ganz besonders aufhorchen lassen. Ich will im Kreise meiner Bekannten, und vielleicht auch in der ffentlichkeit, eindringlich auf das Buch hinweisen. Theodor Heuss Nachlass. Bundesarchiv Koblenz. Bestand N 1221.

* Theodor Heuss an Leo Baeck Bonn [?], 8. Mrz 1956 Verehrter Herr Dr. Baeck! Der Besuch von Professor Norman Bentwich 2 ist sehr angenehm verlaufen. Ich habe mich gefreut, in ihm einem Mann aus der ja fr unser Betrachten schon fast etwas historisch gewordenen grossen englischen liberalen Tradition zu begegnen, in dem sich, wenn ich den Mann richtig deute, eine realistische Erfassung der konkreten Aufgaben mit einer nicht fragenden, fast jugendlich wirkenden Bereitschaft, dem Guten zu dienen und dem Schlechten zu wehren, 1. Friedrich Hielscher (1902-1990). Autor von Fnfzig Jahre unter Deutschen (1954). 2. Norman Bentwich (1883-1971). Englischer Jurist, Politologe und liberaler Zionist. Von 1932 bis 1951 Professor fr Internationale Beziehungen an der Hebrew University in Jerusalem.

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vereinigen. Es war auch sehr nett, dass Herr Dr. Reichmann 1 zur gelegentlichen kleinen Dolmetscherhilfe dabei war. Ich konnte mit ihm dann aber auch sonst noch ein paar Dinge besprechen, die individuelle Fragen betreffen, die an uns herankommen, was ja hufig genug der Fall ist. Mit Herrn Dr. Reichmann habe ich mich doch ber folgendes unterhalten: krzlich hat mich wieder Friedrich Hielscher 2 besucht, auf dessen Buch »50 Jahre unter Deutschen« ich Sie seinerzeit aufmerksam gemacht habe wegen seiner eindrucksvollen Beschreibung des Besuches in dem jdischen Arbeitslager in Lietzmannstadt. Ich hatte ihm damals davon erzhlt, dass ich Sie auf das Buch hinwies, und dass ich ein freundliches Echo von Ihnen erhielt. Dr. Hielscher, der in den letzten paar Jahren die »Deutsche Korpszeitung« geleitet hat, scheidet in ein paar Wochen dort aus. Jetzt sucht er fr ein paar Manuskripte Verleger. Das eine Buch scheint sich mit dem Nibelungenlied zu befassen, das andere stellt, wie er mir erzhlte, den Versuch dar, die elementaren Dinge der grossen Weltreligionen in einem antithetischen Verfahren herauszuarbeiten, um die Gemeinsamkeiten und die Nuancierungen darzustellen. Nun sagte er mir, er mchte dieses Buch am liebsten in einem jdischen Verlag herausbringen, und ich soll bei Ihnen anfragen, ob Sie hier raten knnen. Ganz kann ich mich nun dieser Bitte nicht entziehen, aber ich ahne nicht, ob Sie selber die Zeit und das Interesse haben, eine solche Frage zu berprfen, oder ob Sie jemanden an Ihrer Seite wissen, der das tun kann. Ich selber halte mich dafr bildungsmssig nicht fr zustndig, aber davon abgesehen habe ich Hielscher wie zahllosen anderen Menschen, die mir Manuskripte schicken, die ich nicht lesen kann, mitgeteilt, dass ich weder Bundeslektor noch Bundesdramaturg bin. 3 Entschuldigen Sie, bitte, diese Inanspruchnahme, aber ich habe nun eben Hielschers dringende Bitte nicht abweisen knnen. In der Anlage erlaube ich mir, die Wiedergabe einer kurzen Ansprache 4 zu senden, mit der ich half, die »Woche der Brderlichkeit« vor ein paar Tagen einzuleiten. Quelle: wie voriger Brief.

* 1. Hans Reichmann (1900-1964). Jurist und Direktor des Centralvereins deutscher Staatsbrger jdischen Glaubens, lebte ab 1939 in England. 2. Siehe Anmerkung zum vorigen Brief. 3. Hielschers Manuskript scheint nicht verffentlicht worden zu sein. 4. Siehe Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland. 9. Mrz 1956. S. 5.

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Theodor Heuss an Ruth Berlak Bonn [?], 2. November 1956 Verehrte, gndige Frau! Heute frh erhielt ich die Nachricht vom Heimgang Ihres Vaters, die mich sehr bewegt hat. 1 Ich darf Ihnen meine aufrichtige Teilnahme aussprechen. Es liegen ja einige Jahrzehnte – und was fr Jahrzehnte – zwischen heute und der ersten Begegnung mit Ihrem Vater im Hause meines alten Freundes und Studienkollegen Otto Hirsch. 2 Zwischen Ihrem Vater und mir, zumal auch meiner Frau, war gleich eine Atmosphre freundschaftlichen Verstehens, und diese unmittelbare Vertrautheit im Denken und im Fhlen hat sich erneut besttigt, als nach den schlimmen, schlimmen Jahren Ihr Vater Deutschland wieder besuchte. Er hat dann, wenn immer es mglich war, bei mir vorgesprochen oder ich habe einen Vortrag von ihm, wie etwa in Dsseldorf ber Maimonides, 3 angehrt, und jedes Mal war das Zusammensein menschlich wie sachlich eine Bereicherung. Ich habe ihn bewundert und geliebt und spre die Verarmung, die Ungezhlte mit seinem Hinscheiden erfahren haben, aber sein Gedchtnis wird im Segen bleiben. Quelle: wie voriger Brief.

1. In einem Brief an Heuss, in dem er diesen ber Baecks Tod informiert, schreibt Hans Reichmann, daß Baeck seine Arbeit fast bis zum Ende fortgesetzt und die Korrekturen des 2. Bandes seines Buches Dieses Volk vier Tage vor seinem Tod abgeschlossen hatte. 2. Otto Hirsch (1885-1941). Geschftsfhrender Leiter der Reichsvertretung, umgekommen in Mauthausen. 3. Heuss war anwesend, als Baeck am 7. Juli 1954 in Dsseldorf seinen Vortrag »Maimonides der Mann, sein Werk und seine Wirkung« hielt (Siehe Band 5 dieser Werkausgabe, S. 139-157).

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From generation to generation this is the people that should stand for the one God against the gods, for the one Way against all other ways, for the one Kingdom above the kingdoms, for the one Hope above all other hopes. »Ye are my witnesses is the word of He Who Is« 1 – thus had the prophet of exile shown the people the way of the future. The people have fought for this oneness, and in their struggle the soul has made the spirit fruitful and caused it to remain so. This oneness has been its salvation, and power has created for it an ever-changing form. For the sake of this one affirmation it has had to make many a renunciation, and dared be weary neither in yea nor in nay. This oneness has made it what it has become and it dared not cease to grow, to enter new worlds, to live out its epochs. History only comes alive and becomes fruitful if it is the equal of its epochs. If events follow merely on events – now of victories, now of defeats, now of enslaving, now of enslavement – then history has no importance to matters outside itself. A mere continuance without epochs is possible. In the sight of ultimate things, in the sight of the Messianic, all great historical life is a struggle for epochs. Even the personal life of man, the struggle of man for his own self, acquires its stamp when it acquires its life’s ages, its epochs. A new epoch can open for a community, a people, a group of peoples – just as for the individual – when a new question, a new task confronts them, provoked by the erection, no matter where, of a new concept, the taking up of a new attitude. Now the old answers no longer suffice. The old types of relationship no longer apply or are no longer equal to the task. This is now decisive – whether what has grown, what has developed, is able to develop further, is able to shape itself anew, whether a new form of thought can develop, whether the old and 1. Jes 43,10.

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lasting faith can give expression to the new. If this is achieved then a new epoch begins, or, what is the same thing, a power of rebirth is affirmed. If this power fails, this capacity for a new epoch, then there comes an era of petrifaction. Rebirth is the beginning, the breakthrough; the epoch is the expanse, the breadth which the reborn then prepares for itself in all the realm of its possibilities. »End of an Epoch.« Leo Baeck Institute Yearbook 1 (1956): S. V.

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Zeittafel

23. Mai 1873 1891-1893

Leo Baeck wird in Lissa, Posen geboren Studium an der Universitt Breslau und am Jdisch-Theologischen Seminar Breslau 1893-1896 Studium an der Kniglichen Friedrich Wilhelms-Universitt in Berlin und an der Lehranstalt fr die Wissenschaft des Judentums in Berlin Mai 1895 Promotion ber »Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland« Mai 1897 Ordination zum Rabbiner 1897-1907 Erstes Rabbineramt in Oppeln, Schlesien in der Nhe von Breslau 1899 Eheschließung mit Natalie Hamburger 1900 Geburt der Tochter Ruth 1905 Das Wesen des Judentums 1907-1912 Rabbiner in Dsseldorf ca. 1912 nderung der Namensschreibung von Bck zu Baeck 1912-1943 Rabbiner in Berlin 1913-1942 Dozent an der Hochschule/Lehranstalt fr die Wissenschaft des Judentums 1914-1918 Feldrabbiner 1922 Vorsitzender des Rabbinerverbandes in Deutschland 1922 Wesen des Judentums (2., berarbeitete Ausgabe) 1924 Großprsident des deutschen Distriktes des Ordens Bne Briss 1925 Erster U.S.A.-Besuch als Großprsident der deutschen Bne Briss Logen 1930 Zweiter U.S.A.-Besuch als Großprsident der deutschen Bne Briss Logen 30. Jan. 1933 Adolf Hitler wird Reichskanzler ab 1933 Prsident der »Reichsvertretung der Deutschen Juden« 1. April 1933 Boykott jdischer Geschfte in Deutschland Feb. 1935 Besuch Palstinas Sept. 1935 Nrnberger Gesetze

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Zeittafel Sept. 1935 1936 April 1936 5. Mrz 1937 19. April 1937 17. Aug. 1938 9. Nov. 1938 Frhjahr 1939 4. Juli 1939 Okt. 1940 16. Okt. 1941 18. Okt. 1941 23. Okt. 1941 Juni 1942 6. Juni 1942 27. Jan. 1943 10. Mai 1945 1. Juli 1945 1945-1956 8. Jan. 1947 12. Feb. 1947 1947 1948 18. Dez. 1950 1951 1955 1955 2. Nov. 1956 1957

Zwangsumbenennung zu »Reichsvertretung der Juden in Deutschland« Invasion des Rheinlandes Unruhen in Palstina Tod Natalie Baecks Auflsung der Bne Briss Logen und Konfiskation der Gelder Alle Juden in Deutschland mssen den Namen Israel bzw. Sara annehmen Novemberprogrom Ruth emigriert mit Ehemann Hermann Berlak und Tochter Marianne nach England Umgestaltung zu »Reichsvereinung der Juden in Deutschland« Erste Massendeportationen aus Sdwest-Deutschland nach Gurs Deportationswellen beginnen Erster Transport von Berlin nach Lodz Emigrationssperre fr deutsche Juden Schließung der Lehranstalt fr die Wissenschaft des Judentums Erster Transport nach Terezin Leo Baecks Deportation nach Terezin Rote Armee befreit Terezin Leo Baeck verlßt Terezin und wird dann zu seiner Familie in England gebracht Vortrags- und Lehrttigkeit in England und in den U.S.A. Empfang bei U.S. Prsident Harry Truman Erffnungsgebet im U.S. Reprsentantenhaus Siebenwchiger Palstina-Besuch Erster Besuch Nachkriegsdeutschlands, weitere Aufenthalte folgen Erlangung der britischen Staatsbrgerschaft Besuch Israels, wo er Vorlesungen an der Hebrischen Universitt hlt Dieses Volk, Bd. 1 Mehrwchiger Krankenhausaufenthalt nach einer Darmoperation Leo Baeck stirbt in London Dieses Volk, Bd. 2

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Namenregister

Abaja 33 Adler, Hans Gnther 338, 365-367 Agnon, S. Y. 577 Akiba, Rabbi 41-42, 526 Akosta, Uriel (auch Acosta) 39 Arendt, Hannah 663 Arndt, Adolf 630 Asch, Schalom 571 Auerbach, Selig Avi’ezri 35 Baldensperger, Wilhelm 70 Bamberger, Fritz 143, 329 Bamberger, Ludwig 106 Baneth, Eduard 566 Bar Kochba 526 Baron, Salo 381, 384 Barth, Karl 247, 588 Bauer, Bruno 76-77 Beecher-Stowe, Harriet 408 Benamozegh, Elia 171, 191 Ben-Gurion, David (auch Bin-Gurion) 639, 652 Bentwich, Norman 692 Bentinek, William Lord 408 Berditschev, Levi Jitzchak von 640 Berdyczewski, Micha Josef (auch Berditschewski) 14, 559-561 Berlak, Hermann 538 Berlak, Ruth 694 Berliner, Cora 316, 334, 358 Bernays, Jacob 400 Berner, Albert Friedrich 68 Bernfeld, Simon 143 Bettmann-Hollweg 140 Bialik, Chajim Nachman 292 Bias von Priene 609 Bin-Gorion, Immanuel 561 Blank, Sheldon 525-526, 528 Bluhm, Arthur 329 Blumenthal-Weiss, Ilse 316, 334, 336

Bonus, Arthur 650 Brandt, Klaus 599 Brasch, Rudolph 575 Brod, Max 640 Brodnitz, Friedrich 625 Bryce, James 534 Buber, Martin 14, 120, 142, 315, 323, 336, 460, 481, 576-578, 585, 600, 605-606, 651 Budde, Karl 138 Buddha, Gotama 78 Burckhardt, Jakob 306-307 Burke, Edmund 343 Caesar, Julius 57, 204, 346, 349-351, 567 Calas, Jean 355 Capek, Karel 356 Carlyle, Thomas 109, 387 Carus, Carl Gustav 598 Chamberlain, Houston Stewart 637 Christus, Jesus 78-80, 160-161, 164 Cohen, Alfred Morton 315-316, 318 Cohen, Elliot E. 365 Cohen, Hermann 342, 468, 576, 582 Cohen, Richard 16 Cohn, Emil (auch Bernhard-Cohn, Emil) 459, 461 Cramer von Laue, Constantin 373, 613 Dahlke, Paul 588 David, Abraham ben 168, 411 Delp, Alfred 646 Dickens, Charles 408 Dienemann, Max 504, 515, 569 Dohm, Christian Wilhelm von 388 Drews, Arthur 77 Dreyfus, A. Stanley 16, 651, 674 Dreyfus, Marianne C. 16, 630, 651, 674

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Namenregister Ebner-Eschenbach, Marie von 446, 476 Edelstein, Jakob 358 Ehrlich, Ernst Ludwig 17, 636-641 Einstein, Albert 460, 482, 486, 633635 Eisenhower, Dwight 491, 678 Elbogen, Ismar 563, 565-566, 573, 575, 655 Elk, Max Meir 484, 647 Emerson, Ralph Waldo 110, 387, 531, 535 Fackenheim, Emil 567 Farbstein, David 399 Finkelstein, Louis 570-571 Fischhof, Adolf 83 Flavius, Josephus (auch Matthias, Joseph ben) 79 Frankel, Zacharias 568 Freudenthal, Max 507 Frick, Heinrich 662 Friedrich Wilhelm VI 81 Fromm, Erich 679 Fuchs, Hugo Henoch 567 Geis, Robert Raphael 17, 312, 403, 405, 567, 654, 656-659, 685 Geist, Raymond 319 Gerschom ben Jehuda 254 Glatzer, Nahum 579 Glck, Paula 397 Glueck, Nelson 553 Goldwater, Monroe 386-387 Goldzieher, Ignaz 27 Gordon, Charles George 433 Grillparzer, Franz 103 Grotius, Hugo 449 Grnewald, Matthias 247-248 Grnewald, Max 316, 326 Grnfeld, Heinrich 565 Guardini, Romano 588, 667, 681 Guttmann, Jakob 564-565 Guttmann, Julius 565, 577 Hahn, Hugo 329 Halevi, Jehuda 576, 583 Hamburger, Natalie 697 Hamburger, Werner 322 Hamburger, Wolfgang 17, 332 Harnack, Adolf von 77, 578 Hecker, Isaac 533

Heidegger, Martin 250 Hellpach, Willy Hugo 417 Henschel, Hildegard 359 Henschel, Moritz 359 Herodes 82 Herodot 345-348, 351, 356 Hertz, Joseph Herman 325 Hettner, Hermann 174 Heuss, Theodor 14, 630, 654, 658, 667, 678, 683-686, 688-689, 691-692, 694 Heuss-Knapp, Elly 683, 685 Hielscher, Friedrich 692-693 Hildesheimer, Esriel 35 Hindenburg, Paul von 209, 211-213, 537 Hirsch, Hans George 17, 316, 331 Hirsch, Martha 397, 686 Hirsch, Otto 211, 290, 314, 316, 396-397, 486, 625-626, 683, 686-687, 694 Hitler, Adolf 209, 213, 356, 371, 637, 697 Hollitscher-Bogic´eric´, Maria von 616 Holzer, Paul 665 Humboldt, Alexander von 351, 377, 388 Huxley, Julian 676 Ireland, John 533 Israels, Joseph 98 Jacobi, Friedrich Heinrich 252-253 James, William 543 Jaser, Renate 17 Jaser, Rudolf 667, 669-676, 678-682 Jaspers, Karl 636-637 John, August 629 Jlicher, Adolf 77 Jung, Carl Gustav 650 Kahn, Bernhard 320 Kalthoff, Albert 77 Karminski, Hannah 316, 333, 397 Karo, Joseph 33, 564 Karpf 329 Kassel, Eric 48 Keyserling, Goedela 586, 590 Keyserling, Hermann Graf 171, 185, 586-592, 597, 675 Kipling, Rudyard 346 Knox, John 659

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Namenregister Koestler, Arthur 487 Kohn, Salomon 566 Kraus, Adolf 538-539, 544 Kubatzki, Hanna 472 Kulka, Dov 17 La Follette, Robert 544 Lamm, Hans 619 Landauer, Georg 383 Laupheimer, Friedrich Elias 567 Lazarus, Paul 567 Lecky, W.E.H. 88 Lederer, Zdenek 366 Lemle, Henrique (auch Lemle, Heinrich) 390 Lessing G.E. 76, 252, 306, 308-311, 377, 388, 684, 687 Levinson, Nathan Peter 17, 401, 403, 665 Lewandowski, Louis 138 Lewis, Sinclair 543 Lewkowitz, Julius 574 Lewy, Israel 564 Lewy, Julius 570 Lilienthal, Arthur 396 Lincoln, Abraham 388, 408, 449, 532, 549, 554, 611-612, 671, 674 Lb, Rudolf 332 Loebner 561 Loewe, Herbert 574 Lw, Immanuel 330, 339 Lowenthal, Ernst G. (auch Lwenthal oder Loewenthal) 17, 385, 661-664, 666 Lucas, Leopold 572, 574 Luckner, Gertrud 643-647, 667, 679 Lurja, Isaak 148 Magnes, Judah Leon 460, 480-481 Maimonides, Moses 26-28, 165, 168, 341, 364, 406, 411, 694 Malthus, Thomas Robert 667, 676 Marti, Karl 70 Marx, Wilhelm 355, 486, 519, 537 Mattuck, Israel 329 Meidner, David 628-632 Meidner, Ludwig 628 Meinecke, Friedrich 636-637, 684 Mendelssohn, Moses 31, 332, 341, 393, 565, 571 Meyer, Eduard 17, 628, 638 Meyer, Else 628

Meyerbeer 80 Mielziner, Moses 552 Minden, Henry 629 Minz, Juda ben Elieser Halevi 404 Molho, Isaak 481 Modena, Leon da (auch Modena, Leon) 39 Mommsen, Theodor 59, 355, 639 Montagu, Lilian Helen (auch Lily genannt) 323, 329, 497, 515, 575 Montefiore, Claude G. 325, 495, 497, 499, 534, 581 Morgenstern, Julian 315, 321-322, 563, 570 Muller, Hermann 382, 662 Nachmanides, Moses (auch Ramban genannt) 564 Nadler, Josef 259 Nathan, Else 358 Nathan, Johanna 397 Nietzsche, Friedrich 141, 245, 559 Nobel, Nehemia Anton 577, 579 Nussbaum, Max 324 Otto, Rudolf 661 Paeschke, Hans 487 Pallire, Aim 171, 188, 191, 193 Papen, Franz von 599 Papini, Giovanni 595 Perles, Felix 567 Philipp, Alfred Aharon 647 Polybios 348-349, 351 Preysing, Konrad von 645 Prudentius 354 Raabe, Wilhelm 43, 193 Rabba 33, 42, 185 Rade, Martin 66 Ranke, Leopold von 102, 355, 357 Rant 339 Raschi 229, 254, 281, 393, 413, 650 Reichmann, Hans 693-694 Reimarus, Hermann Samuel 76-77 Ritschl, Albrecht 65, 73-74, 77 Ritter, Karl 351 Rolland, Romain 667, 682 Romberg, Rachel 561 Rosenzweig, Franz 576-583, 585, 679 Rosenzweig, Schmuel 579 Rothschild, Lionel 626

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Namenregister Rubinow, Isaac Max 315, 320 Ruskin, John 86 Saadja ben Josef 27 Schacht, Hjalmar 637 Schffer, Hanns 316, 333-334 Schaper, Edzard 646 Schnabel, Moritz 317 Schneider, Reinhold 541, 615 Scholem, Gershom 14, 382, 491, 649-652 Schreiner, (Mordechai) Martin 23, 26-27, 564 Schulman, Samuel 322 Schtze, Alfred 612 Seeck, Otto 176 Seligmann, Caesar 57, 204, 567 Seligsohn, Julius L. 396, 486, 567 Senator, David Werner 475, 481, 491, 625 Shakespeare 269-270, 388, 428 Shereshevsky, Simon 481 Silver, Abba Hillel 640-641 Simon, Ernst 16, 114, 143, 313, 460, 481 Singer, Charles Joseph 527 Smith, W. Robertson 655 Sderblom, Nathan 688 Sonderling, Jacob 539 Spanier, Arthur 335 Spencer, Herbert 446 Spurgeon, Charles Haddon 85, 96 Starr, Joshua 384 Stern, Heinrich 503 Stern, Simon 37, 39 Stern-Tubler, Selma 573 Stevenson, Adlai 491, 678 Strauß, David Friedrich 76-77 Strauss, Herbert 17 Strauss, Hermann 340-341 Streicher, Julius 213 Swarsensky, Ida 328, 330 Swarsensky, Manfred Erich 316, 324, 327, 569 Tacitus 349-351

Taine, Hippolyte Adolphe 274, 355 Taubes, Jacob 655 Tubler, Eugen 572-573, 575 Thiess, Frank 667, 672-674 Thukydides 347-348, 351 Thun-Hohenstein, Paul 592-593, 595-596 Torczyner, Harry 565 Treitschke, Heinrich von 637 Turenne, Henri 596 Veltheim-Ostrau, Hans-Hasso 373, 597, 604, 614-618, 661, 681 Virchow, Rudolf 639 Vogelstein, Hermann 52 Wagner, Richard 81 Walk, Joseph 15 Walz, Hans 369, 375-376 Warburg, Erich 662, 666 Warburg, Felix 476-477 Weiß, Johannes 69-72 Weinstock, Heinrich 667, 680 Weizmann, Chaim 371, 476, 622-623, 625-627, 639, 641 Wellhausen, Julius 73-74 Weltsch, Robert 641 Wendt, Hans Hinrich 67 Werfel, Franz 672 Weyl, E. 138 Wiechert, Ernst Emil 676 Wiener, Adolph 52 Wiener, Max 504, 571 Wiener, Theodore 15 Wilberforce, William 408 Wilhelm, Kurt 481 Winz, Leo 24 Wise, Isaac Mayer 551-553 Wise, Stephen Samuel 563, 566-567, 640-641 Wyclif, John 449 Zarathustra 78, 263 Zimet, Erwin 328 Zunz, Leopold 400, 434, 508 Zyl, Werner van der 328, 567

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