Leo Baeck Werke. Band 3 Wege im Judentum: Aufsätze und Reden
 9783641248444

Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
Leo Baeck. Rabbiner und Lehrer
Vorrede
VOM GLAUBEN
Vollendung und Spannung
Geheimnis und Gebot
Tod und Wiedergeburt
Geist und Blut
Die Mystik im Judentum
Bedeutung der jüdischen Mystik für unsere Zeit
Das Geistige im Wohltun
BINDUNGEN UND WEGE
Kulturzusammenhänge
Lebensgrund und Lebensgehalt
Boden, Erde, Welt
Religion und Erziehung
Natur und Weg
Philosophie und Religionsunterricht
GESCHICHTE UND KAMPF
Weltgeschichte
Volksreligion und Weltreligion
Neutralität
Staat, Familie und Individualität
Friedensbahn und Friedensziel
Wohlfahrt, Recht und Religion
ZIEL UND WIDERSTREIT
Das Judentum
Jüdische Religion der Gegenwart
Zwischen Wittenberg und Rom
Gemeinde in der Großstadt
Frauenbund
Predigt und Wahrheit
MENSCHEN UND GESCHICKE
Motive in Spinozas Lehre
Moses Mendelssohn
Nehemia Anton Nobel
Franz Rosenzweig
Eugen Caspary
HOCHSCHULE UND AKADEMIE
Heimgegangene des Krieges
Helfer und Lehrer
Gustav Bradt
Quellennachweis

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Herausgegeben von Albert H. Friedlander (London) † Bertold Klappert (Wuppertal), Werner Licharz (Frankfurt a.M.), Michael A. Meyer (Cincinnati/Ohio), im Auftrag des Leo Baeck Instituts, New York Die Herausgeber danken Marianne C. Dreyfus, James N. Dreyfus und Richard B. Dreyfus für die Erlaubnis, Leo Baecks Werke wieder im Druck erscheinen zu lassen.

Band 1 Das Wesen des Judentums Band 2 Dieses Volk Band 3 Wege im Judentum Band 4 Aus Drei Jahrtausenden. Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte Band 5 Schriften aus der Nachkriegszeit Band 6 Briefe, Reden, Persönliches

Gütersloher Verlagshaus

Band 3

Wege im Judentum Aufsätze und Reden Herausgegeben von Werner Licharz

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Inhalt

Vorwort der Herausgeber.............................................................

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Leo Baeck. Rabbiner und Lehrer von Werner Licharz ......................................................................

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VORREDE......................................................................................

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VOMGLAUBEN Vollendung und Spannung....................................................... Geheimnis und Gebot............................................................... Tod und Wiedergeburt ............................................................. Geist und Blut............................................................................ Die Mystik im Judentum.......................................................... Bedeutung der jüdischen Mystik für unsere Zeit.................. Das Geistige im Wohltun .........................................................

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BINDUNGEN UND WEGE Kulturzusammenhänge ............................................................ Lebensgrund und Lebensgehalt ............................................. Boden, Erde, Welt ..................................................................... Religion und Erziehung ........................................................... Natur und Weg .......................................................................... Philosophie und Religionsunterricht ......................................

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GESCHICHTE UND KAMPF Weltgeschichte .......................................................................... Volksreligion und Weltreligion................................................ Neutralität.................................................................................. Staat, Familie, Individualität.................................................... Friedensbahn und Friedensziel............................................... Wohlfahrt, Recht und Religion ................................................

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ZIEL UND WIDERSTREIT Das Judentum........................................................................... Jüdische Religion der Gegenwart........................................... Zwischen Wittenberg und Rom............................................... Gemeinde in der Großstadt ..................................................... Frauenbund ............................................................................... Predigt und Wahrheit ...............................................................

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MENSCHEN UND GESCHICKE Motive in Spinozas Lehre......................................................... Moses Mendelssohn ................................................................. Nehemia Anton Nobel. Über schöpferische Empfänglichkeit........................................................................ Franz Rosenzweig. Über Bildung ............................................ Eugen Caspary. Über den bürgerlichen Menschen ..............

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HOCHSCHULE UND AKADEMIE Heimgegangene des Krieges. Über den preußischen Staat ... Helfer und Lehrer. Über Mittelalter und neue Zeit .............. Gustav Bradt. Über Begabung.................................................

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QUELLENNACHWEIS..................................................................

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Vorwort

Dieser Band mit Aufsätzen und Reden Leo Baecks erschien zum ersten Mal im Jahr 1933 und wurde damals vom Schocken-Verlag herausgegeben. Die zahlreichen Themen, die Baeck hier anspricht, sind zu verschiedenen Zeiten und Gelegenheiten und an unterschiedlichen Orten von ihm behandelt, aufgeschrieben und veröffentlicht worden. Mit diesem Buch wollen wir, die Herausgeber, den Band 3 der Werkausgabe- es ist der zweite Band der zum Erscheinen kommtpräsentieren und damit ein wichtiges Gedankengut Leo Baecks, das jahrzehntelang als Buch im Buchhandel nicht mehr zu haben war, der deutschen und internationalen Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Der vorliegende Band hält sich textlich und inhaltlich streng an die Vorgaben der Schocken-Ausgabe von 1933. In der Einleitung wird der Leser in den biographisch-theologischen Werdegang und in die denkerische Welt Leo Baecks eingeführt. Darüber hinaus wird der Inhalt eines jeden Aufsatzes kurz dargestellt. Wir, die Herausgeber, möchten uns herzlich bei Frau Adelheid Licharz und Herrn Ulrich Lilienthai M.A. für ihre Mitarbeit an diesem Band bedanken.

Albert H. Friedlander Bertold Klappert

Werner Licharz Michael A. Meyer

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Leo Baeck, Rabbiner und Lehrer von Werner Licharz

In der Vorrede zu seinem Buch Wege im Judentum aus dem Jahr 1933 stellt uns Leo Baeck sein Erkenntnisinteresse und seine Zielsetzung für die Zusammenstellung so unterschiedlicher Aufsätze von Wegen aus dem Judentum in das Judentum dar: Ging es im Wesen des Judentums (Baecks Systematische Religionsphilosophie) um das Herausstellen einer Mitte jüdischen Denkens, Glaubens und Wissens, so werden im vorliegenden Buch einzelne Reden, Begegnungen, Geschicke, sowie geistesgeschichtliche und soziale Analysen aneinandergefügt, die nicht über das Judentum informieren, sondern aus gelebter, rabbinischer Praxis in den Alltag und die gesellschaftliche Wirklichkeit der deutschen Juden hineinwirken wollen. Was hat Leo Baeck im Sinn, wenn er von den >>Wegen im Judentum>Der Weg fordert immer ein Gehen und Weiterschreiten und damit die Entfaltung, im Gehen gestaltet sich der Mensch. Natur bezeichnet leicht einen Platz, der nun einmal umschrieben ist; der Weg bezeichnet die Aufgabe, die sich immer erneut, die stete Sendung ...... Das Wort >Weg< ist wie ein Programm« (141). In sechs Schwerpunkten sind die Schriften für dieses Buch angeordnet: - Vom Glauben - Bindungen und Wege - Geschichte und Kampf

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- Ziel und Widerstreit - Menschen und Geschicke - Hochschule und Akademie. In fast allen Aufsätzen bedient sich Baeck der Methode des Denkens in Polaritäten; z. B.: Vollendung und Spannung, Geheimnis und Gebot, Tod und Wiedergeburt, Geist und Blut. Um diese Denkweise verstehen zu können, empfiehlt es sich, Baecks Werdegang von seinem Geburtsort Lissa aus zu verfolgen, denn Lissa und die damalige Provinz Posen übten auf die Entwicklung des jungen Leo Baeck einen kaum zu unterschätzenden Einfluß aus. Posen lag umgeben von jüdischen Zentren in Polen, und Lissa war bis zur Aufklärungszeit ein echtes jüdisches Schtetl mit einer Vielzahl von religiösen Traditionen. In seinem Buch Deutsch-jüdische Symbiose oder die mißglückte Emanzipation hat Julius H. Schoeps ein ganzes Kapitel dem Schriftsteller Ludwig Kalisch gewidmet, der 1872, ein Jahr vor Leo Baecks Geburt, Bilder aus meiner Knabenzeit veröffentlichte, in denen die Geschichte und das jüdische Leben der Stadt plastisch geschildert werden.• Demnach war Lissa zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Städtchen in Posen, das zum Großherzogtum Warschau gehörte. Hier existierte eine blühende jüdische Gemeinde, deren verschiedene Lehrhäuser seit dem 17. Jahrhundert wichtige geistige Zentren dieser Region darstellten. Kalisch hat noch in seiner Jugendzeit die alte Chedererziehung durchlaufen. Schoeps schreibt: >>Kalischs Beschreibung des jüdischen Lebens in Lissa läßt vor unseren Augen noch einmal die Welt des Schtetls erstehen. Am Beispiel Lissa wird das Leben einer Judengemeinde im Osten nachgezeichnet, eine Gemeinschaft beschrieben, die ihre eigenen Wertvorstellungen, ihre eigenen Traditionen und Gesetze hatte.>Aus dem einen Gott kommt das Geheimnis wie das Gebot, als eines aus dem Einen, und als eines erfährt es die Seele. Alles Geheimnis bedeutet und besagt hier zugleich das Gebot, und alles Gebot bedeutet und besagt hier zugleich das Geheimnis, alle Demut zugleich die Ehrfurcht, aller Glaube zugleich das Gesetz, und alles Gesetz zugleich den Glauben, alles Bewußtsein, geschaffen zu sein, zugleich die Forderung zu schaffen, und alle Forderung, zu schaffen, zugleich das Bewußtsein, geschaffen zu sein«. (46f) Leo Baecks Frömmigkeit ist mit der der Chassidey Aschkenas, der Frommen Deutschlands im Mittelalter, verglichen worden. Kann man sagen, daß Leo Baeck ein Chassid war? Die Frage ist zu bejahen, wenn man gleichzeitig zur Kenntnis nimmt, daß er ein hochgebildeter Frommer war, ein Mensch, der aber in der Fülle des Wissens nie die praxis pietatis, die gelebte Frömmigkeit, vergessen hat. Eva G. Reichmann hat in ihrem Buch Größe und Verhängnis deutsch-jüdischer Existenz. Zeugnisse einer tragischen Begegnung ein ganzes Ka-

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pitel Leo Baeck gewidmet, wobei sie auch sehr ausführlich auf die Frömmigkeit des Rabbiners zu sprechen kommt, den sie bereits als Kind in Oppeln in der Synagoge gehört hatte. Sie sagt: >>Er war der postkritische Fromme kat exochen, er war fromm, nicht weil er an der Aufdeckung letzter Geheimnisse zweifelte, sondern weil ihn all sein Wissen, allsein scharfer und wacher Verstand doch immer wieder zu dem Geheimnis hinführte, zu dem Geheimnis, in dem er Gott suchte und fand, dem Geheimnis, ohne das man nicht sein könne, man sei denn im Grunde ohne Religion.die Würde der Religion ihm anvertraut ist. Demgemäß ist es seine vornehmste Pflicht, zu belehren und emporzuhebenden Menschen zu gefallenhinuntersteigendem Eigenen und Besten des Judentums treu bleiben>Und aus Theresienstadt kam das Wort der Thora«. 5 Fassen wir zusammen: Leo Baeck hatte sich ein ungeheures Wissen aus zwei unterschiedlichen Kulturkreisen erworben. Im hebräisch-biblischen Humanismus war er geistig und existentiell zu Hause, in der griechisch-römischen und in der christlich-abendländischen Welt erwuchs ihm eine weite, geistige Kompetenz. Aus beiden zusammen ist sein Denken in Polaritäten entstanden, ebenso wie seine Auffassung über den Rabbiner als lernenden Lehrer. 6 4. 5. 6.

Vgl. Eva G. Reichmann (Hg.), Worte des Gedenkens für Leo Baeck, Heidelberg 1959, 165. Vgl. Albert H. Friedlander, Leo Baeck. Leben und Lehre, München 1990, 15. Auf den pädagogischen und religionspädagogischen Anteil im Baeck'schen Werk, insbesondere in der Schrift Das Wesen des Judentums, hat Ralf Koerrenz in seiner Schrift Das Judentum als Lerngemeinschaft. Die Konzeption einer pädagogischen Religion bei Leo Baeck, Weinheim 1992, besonders aufmerksam gemacht. Er schreibt: >>Der (religions-)pädagogische Aspekt seines Wissens ist bisher noch nicht in größerem Umfang gewürdigt worden. Die pädagogische Dimension steht jedoch im Mittelpunkt seiner Theologie, die das Judentum gerade als Pilgrimschaft der Lernenden beschreibt>Gedanken von gleicher Notwendigkeit stehen in einem Widerspruch zueinander, und die philosophische Logik kann ihn nicht lösen, in der Welt des Abstrakten bleibt es der Widerstreit, aber für das religiöse Denken tritt daraus eine Einheit und Geschlossenheit hervor, eine Geschlossenheit, in der sich erst das Ganze gibt, eine Einheit, in der erst die Antwort gewährt ist. Glaube ist ganz wesentlich auch Fähigkeit zu dieser Paradoxie, Wissen um sie und um die höhere Wirklichkeit, um die Harmonie, die in ihr wohnt. Für ihn braucht darum nicht der Zwiespalt zu bestehen zwischen Diesseitigkeit und Jenseitigkeit, Immanenz und Transzendenz, zwischen Endlichem und Unendlichem, Individuellem und Ewigem, zwischen Nähe und Ferne, Freiheit und Gnade, Ethischem und Mystischem, zwischen Erfaßbarkeit und >AndersseinNein>Siehe, Gottesfurcht, das ist Weisheit.>GesetZGedenken« steht über diesem Gesetze: >>Damit ihr gedenket und tut alle meine Gebote und heilig seid eurem Gotte!« Gedankenlosigkeit ist die eigentliche Gottlosigkeit, die Heimatlosigkeit der Seele. Vor ihr, vor dieser Geheimnislosigkeit und Gebotlosigkeit, will das Gesetz bewahren; es will aller Oberfläche immer wieder ihr Symbolisches, aller Prosa ihr Gleichnis geben. Jeder Mensch soll zum Priester seines Lebens gemacht werden. Daher die Fülle dieser Bräuche, dieser Einrichtungen und Ordnungen, von denen alles umzogen wird, >>Wenn du in deinem Hause sitzest und wenn du auf deinem Wege gehest, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst«, bis hin zu der weiten Prosa des Essens und Trinkens. Sie alle haben dem Tage, und besonders auch dem Abend, seine Weihe gebracht, und in seinen Abenden, wohl mehr noch als in seinen Tagen, lebt der Mensch, und er stirbt an seinen Abenden. Eine Lebensform ist hier bereitet worden, wenn auch die Gefahr ihr nicht fernblieb, die in jedem Lebensstile liegt, daß er aufhört, ein Personliches, Lebendiges des Menschen zu sein, und zur bloßen Äußerlichkeit, zur bloßen Tradition wird. Auch das >>Gesetz« hat diese Niederungen gehabt; was Heiligung sein sollte, ist bisweilen bloßes Handwerk, Übung eines Überlieferten geworden. Aber selbst dann ist es besser gewesen als die reine Stillosigkeit. Und es I liegt in ihm die Kraft, immer wieder zu erwachen, seine Seele wieder zu haben. Die ganze Liebe des >>Gesetzes •• hat hegend und pflegend einem gegolten, dem Sabbat. Er gibt, als der Tag der Ruhe, dem Leben sein Gleichgewicht, seinen Rhythmus; er trägt die Woche. Ruhe ist ein ganz anderes als Rast, als Arbeitsunterbrechung, ein ganz anderes als Nichtarbeiten. Die bloße Rast gehört wesentlich in das Physische, in das Irdische und Alltägliche. Die Ruhe ist ein wesentlich Religiöses, sie ist in der Atmosphäre des Göttlichen, sie führt zum Geheimnis hin, zu dem Grunde, von dem auch alles Gebot kommt. Sie ist das Wiederschaffende und Versöhnende, die Erholung, in der die Seele sich zurückholt, das Atemholen der Seele - das Sabbatliehe des Lebens. Der Sabbat ist das Bild des Messianischen, er spricht von der Schöpfung und der Zukunft, er ist das große Symbol, wie die Bibel sagt: >>ein Zeichen zwischen Gott und Israel••, oder wie ein Wort des Talmud sagt: >>das Gleichnis der EwigkeitAllen und Einen«, dem Ev xai :n:av. Ihm tritt keine Grenze zwischen das Ich und die Welt, es nimmt die Welt in sich auf und läßt sich in die Welt hineinströmen, es weiß um keinen Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen dem Äußeren und dem Hintergrund, zwischen Geschehen und Bedeuten. Mit großen Augen sieht es die Dinge an, und von großen Augen der Dinge fühlt es sich angeblickt. Es kennt keine Ereignisse, sondern nur Offenbarungen. Das Künstlerische, das Ursprüngliche und Geniale des Menschen, die Gabe des Fragens I und Suchens lebt in dieser Naivität des Kindes, in diesem Positiven, diesem steten Bejahen. Aber diese Zeit endet. Das Auge, das, so weit geöffnet, staunend in die Welt hinausgeschaut hatte, verengt sich, und die Welt tritt zurück. Das Kind im Menschen stirbt. Die andere Epoche wird geboren, die zweite Lebenszeit, der zweite Mensch. Der Mensch ist jetzt nicht mehr unmittelbar und ursprünglich in der Welt, nicht mehr ist er mit ihr eines und sie mit ihm, sondern zwischen ihm und der Welt steht nun etwas: der Intellekt, der Zweifel, das Bild - bald geistig, bald sinnlich-, die Ungewißheit mit ihrem Schmerz und ihrer Sehnsucht, mit ihren Gestalten und ihren Götzen. Der Gedanke tritt abgrenzend und scheidend zwischen die Welt und ihn. Was von ihm ausgeht zu der Welt hin und zu ihm hinkommt von der Welt her, geht durch dieses Dazwischen hindurch, durch den Intellekt mit seinem Bohren und Grübeln, durch ihn gebrochen und abgelenkt. Der Mensch lebt nicht mehr eigentlich in der Welt, sondern in dieser Brechung, in seiner Vorstellung von der Welt, nicht mehr eigentlich in seinem Leben, sondern in Bildern seines Lebens, Bildern, die ihn anreizen oder bedrängen. Er steht darum der Welt gegenüber, sie ist ihm freundlich oder feindlich, sie ist etwas anderes als er, er kämpft mit ihr, sucht sie zu gewinnen oder ihr zu entfliehen. Es gibt kein Unmittelbares mehr, alles, und auch er selbst, wird zum Superlativ. Auch diese Zeit stirbt, und eine neue Zäsur tritt ein. Der Mensch der Arbeit und des Berufes, der Mensch der Ehrsucht und der Besitzsucht, der Mensch des Genusses oder des Geizes wird geboren. Die Nützlichkeit mit ihrem Komparativ, der Erfolg mit seiner Steigerung, die Tätiglkeit mit ihrem Weiterbauen, das Haben mit seinem Verlangen ist nun das Eigentümliche. Eine Verbindung mit der Welt beginnt wieder, aber nicht mit der Welt als solcher, mit der ganzen Welt, wie sie das Kind besessen hatte, sondern mit einem Teile der

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Welt, dem Teile, der durch Kämpfen und Siegen, durch Erwerb und Gut, durch Amt und Wissenschaft bezeichnet wird. Es bildet sich eine Heimat, ein bestimmter Lebenskreis, der den Menschen umschließt und von den anderen Teilen der Welt absondert, bis daß er mit ihm verwächst. Der Mensch lebt nicht mehr unmittelbar in der Welt, wie einst in vergangenen Tagen, er steht auch nicht mehr der Welt gegenüber wie in den Jahren der Jugend, sondern ist verbunden mit seinem Stücke Welt und setzt sich auseinander mit dem Stükke der Welt, das an das seine grenzt oder es behindert, neben dem er bleibt oder in das er einzudringen sucht, um das seine zu dehnen. Zu Acker und Haus wird die Welt. Auch dieses Leben, das zumeist das längste ist, endet, und ein anderes kommt, ein anderer Mensch gewinnt sein Leben. Eine Trennung von der Welt, auch von dem Teile der Welt, mit dem er verwoben war, von ihrer starken Gegenwart vollzieht sich ihm wieder. Wieder tritt etwas zwischen ihn und sie. Jetzt ist es die Ermattung nach der Arbeit, die Sattheit nach dem Genusse, die Müdigkeit der Enttäuschung, die Erschöpfung in der Vergeblichkeit, die ihn und sie trennt. Richtung und Wirkung von ihm zur Welt und von der Welt zu ihm finden dieses Scheidende, diesen Nebel, der sich zwischen sie geschoben hat, und selten dringen sie hindurch. Mensch und Welt werden einander fremd, sie versinken einander. Er zieht sich in sein Inneres zurück, und sie I wird ihm zur Vergangenheit, zur Erinnerung - bis in der letzten Zäsur der Erdentod, das letzte Sterben ihn aufnimmt. Ist es, damit er wieder, wie einst als Kind, unmittelbar die Welt empfange, unmittelbar von ihr umfaßt werde? So hat das Leben seine Zäsuren, nach der Geburt seine Geburten, vor dem Tod die Tode, und in ihnen allen auch ist der Mensch gefragt, ob durch sie nur etwas geschieht und sie damit zum Schicksal werden, oder sie eine Gewißheit dessen sind, daß er geschaffen worden ist und seinen Ursprung hat. Was nur geboren ist, stirbt. Und es ist wahrhaft ein Sterben, wenn nicht der Ursprung wieder erfaßt, nicht wieder die Erschaffung des Lebens, die Verbindung mit dem Einen ergriffen wird. So kann das Kind im Menschen gestorben sein, und mit ihm ist dann alle Originalität, alles Künstlerische gestorben, alle Kraft der Phantasie, die im Menschen angelegt ist. Der Dichter, der im Menschen ist, hat zu leben aufgehört, und nur ein Mensch des bloßen Denkens und des bloßen Suchens bleibt übrig. So stirbt oft auch der Mensch der Jugend für immer, und es lebt nur ein Gedankenloser, ein Sehnsuchtsloser weiter, der Ideallose der Arbeit, der Ideallose des Genusses. Der Träumer und Kämpfer, der im Menschen ist, ist entschlafen, und nur ein Mensch der Nützlichkeit be-

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steht noch fort. Und wenn dann der Mensch, der erringen und erreichen will, der Mensch der Arbeit, auch gestorben ist, dann bleibt nur noch ein Mensch ohne Kindheit, ohne Jugend, ohne Macht, ein Mensch ohne Dichtung, ohne Sehnsucht, ohne Platz, ein Mensch der Negation, der Murrende und Klagende, der Greis ohne sein Leben. Das im Leben, was bloß entstanden ist und in der Reihe I des Geschehens verläuft, hat dieses Schicksal des Sterbens. Aber eben nur das. Was seinen Ursprung, die Verbundenheit, die darin gegeben ist, sich bewahrt, das alles bleibt im Leben. Es wird wiedergeboren. Wann immer der Mensch die Beziehung dazu gewinnt, daß er geschaffen worden ist, wenn er die Ewigkeit, das Woher und das Worin seines Lebens erfährt, wenn er ihre Frage vernimmt: wo bist du?, dann tritt aus Gewesenem etwas wieder herauf, ins Jetzt und zur Zukunft hin. Über alles Sterben hin ersteht es wieder und lebt fort. Wenn so dem Menschen sein Leben zur Offenbarung Gottes wird, wenn er in der Tatsache seines Lebens lebt, dann bleibt er im Werden ein Seiender, dann ist ein Dahingehen und ein Vergehen, eine bloße Existenz überwunden, alles Wachstum seines Daseins bleibt sein Vermögen. So kann die Kindheit mit all ihrem Künstlerischen, so kann die Jugend mit ihrem Sinnen und Sehnen, so kann die Zeit des Mannes, die Zeit der Frau mit ihrem Gefühl des Platzes, mit ihrer Heimatskraft, so kann jede lebendige Zeit des Lebens im Eigentum des Ursprungs wiedererwachsen. Diese Fähigkeit der Wiedergeburt ist die wahre Religiosität. Aller Reichtum des Lebens, alle seelische Begabung, alle innere Fülle des Daseins ist darin gegeben. Immer wieder das Geschaffensein, den Ursprung erfahren und zu eigen gewinnen und damit aus allem bloßen Ereignis heraustreten, dieses Wiedererstehen ist Verbundenheit mit Gott. Das erst und das allein ist Religiosität. Nur wer das besitzt, ist fromm. Der Gegensatz gegen den Frommen ist nicht der sogenannte Atheist, nicht der Irrgläubige, nicht der Ungläubige - gibt es denn den überhaupt, gibt es einen negativen Glauben?-, sondern ist I der Philister, der Mensch, in dessen Leben alles nur versunken, nur gestorben ist, aber nichts wiedergeboren, der alles nur einmal gewesen ist, einmal ein Kind gewesen, einmal jung gewesen, einmal auf einem Platze des Daseins gewesen, der vielleicht eine Vergangenheit, vielleicht Erinnerungen hat, aber kein bleibendes, kein wiedergeborenes Leben. Dieser nur ereignishafte, nur schicksalhafte Mensch, der nicht darum weiß, worin er seinen Ursprung hat, von wem er geschaffen worden ist, dieser Tatsachenlose, Geheimnislose, Problemlose ist der Glaubenslose, wie er im Grunde der Heimatlose ist, er ist der Gegen-

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satz zum Frommen, er ist der sterbende Mensch, da er der Mensch ist, der nur sein Diesseits hat. Aus diesen Geburten und Toden fügt sich unser Leben zusammen. Und wenn dann der Tod kommt, der die tiefste Zäsur bedeutet, welche so tief ist, daß in ihr der Körper zerfällt und seine Daseinseinheit verliert, sollte es nicht in diesem Tode ebenso sein? Sollte es nicht auch hier so sein, daß das Geschehende wohl, das Ereignishafte stirbt, an diesem Einschnitte des Lebens stirbt, wie es an den anderen allen vorher gestorben ist, daß aber die Richtung, die vom Ursprunge herkommt, weiterführt? Der Mensch, der in allen den anderen Zäsuren wiedergeboren wird, sollte er nicht in dieser tieferen auch wiedergeboren werden, in tieferem Sinne noch als in ihnen allen? Für das Geschehen des Lebens ist dieser Tod Ereignis des Endes, Ende aller Perioden, Ende aller Möglichkeiten, letztes Schicksal. In der Tatsache des Lebens wird auch er, und er vor allem, zur Offenbarung des Ewigen, des Unendlichen. Sollte es nicht auch hier so sein: der Mensch, der nur seine Geburt hat, aber keinen Ursprung mehr besitzt, hat nur ein Sterben; der aber, I der in der Schöpfung steht und mit dem Ursprung begabt bleibt, wird wiedergeboren und lebt fort? So tief ist diese Zäsur, daß von dem, was jenseits ihrer ist, nur das Gleichnis sprechen kann. Alles Gleichnis ist eine Tangente, es führt an den Rand heran. In einem alten jüdischen Wort ist ein solch Hinleitendes gegeben: »Das Gleichnis des Jenseits ist der Sabbat.« Sabbat besitzen heißt: Zeit haben, Zeit nicht für irgend etwas im Leben nur, sondern für das Leben selbst, für das Seiende, Bleibende des Lebens. Zeit haben bedeutet immer: für die Ewigkeit Zeit haben. Das besitzen, das allein schenkt dem Leben eine Ruhe. Es ist das Wesen des Irreligiösen, daß er nie Zeit hat. Er hat sein müdes Stillestehen, sein schlafendes Rasten, er hat vielleicht Langeweile, er ist vielleicht in der Trägheit. Aber er hat keine Zeit und darum keine Ruhe. Und es gibt nichts Gewöhnlicheres, als keine Zeit haben. Die Ruhe ist die Vornehmheit des Lebens. Aus dem Sabbat spricht dieses Bejahende; er ist nichts weniger als ein bloßes Nichtarbeiten. Der Mensch holt sich durch ihn aus seinen Stunden und Tagen zurück zu seiner Lebenstatsache, zum Ewigen zurück, dorthin, wo das Leben das Gebiet seines Ursprungs, sein Gottesreich hat, wo der Frieden, in welchem Diesseits und Jenseits zusammenkommen, es umfängt. Beides in einem bezeichnet das biblische Wort, das den Sabbat benennt: ein Aufhören und das Ruhen, ein Enden und das Wiedererstehen. Der Sabbat ist die Wiedergeburt der Woche, das Neuwerden der Seele Woche um Woche, 63

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die Rückkehr, in der das Seiende des Lebens sich wiedergewinnt, die neue Schöpfung Woche um Woche. Nur das Gleichnis kann von dem künden, was jenseits der tiefsten Zäsur ist, nur jene Poesie, die allein es ver! mag, vom Bezirk des Wissens zu den letzten Antworten hinzuführen. Und kein inhaltvolleres Gleichnis kann hier sprechen als eben dieses vom Sabbat: >>Das Gleichnis des Jenseits ist der Sabbat«. In der Ewigkeit hat der Mensch Zeit, sie ist >>ganz Sabbat«, wie ein alter Satz sagt; in ihr ist der Mensch >>im Friedendas Leben und das Gute und den Tod und das Böse vor ihn hingegeben«. Doch auch hier, und hierin offenbart sich das religiöse Eigentum am stärksten, gibt es eine Überwindung des Sterbens. Im Menschen ist die Kraft, welche dieses Ende mit seinem Ereignis besiegt; vermöge seines Ursprungs, vermöge dessen, daß er von Gott geschaffen worden ist, so erlebt es der Fromme, kann der Mensch immer wieder schaffen, er kann den Weg wiedergewinnen, er kann immer wieder beginnen. Er hat diese stärkste Wirklichkeit seines Lebens: die stete Kraft des Neuen oder, wie das biblische Wort sie nennt, die Kraft der Umkehr. Er kann sein Leben immer neu machen, jede Stunde kann ihm zu I einer Stunde wieder werden, in der er zurück-

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kehrt. Die Sünde ist kein Fatum, kein Endgültiges. Das Leben behält die stete Gabe des Anfanges, der Mensch vermag den Rhythmus, die Richtung seines Lebens immer wiederherzustellen. Denn in aller Sünde hört der Ursprung nie auf, Ursprung zu sein, und der Weg, der von ihm herkommt, hört nie auf, der Weg des Lebens zu sein. Die Tatsache, die zum Gebote wird, der Grund und das Ziel des Lebens, bleibt immer. Der Mensch kann sich zu seinem Leben, zu sich selbst wieder zurückwenden und zurückbringen, er kann wieder ursprünglich, gleichsam wieder rein werden, er wird wiedergeboren. Wer es erlebt, dem ist es das eigentliche Erlebnis seiner Verbundenheit mit Gott. Das tiefste Erlebnis der Freiheit ist es, denn diese Wiedergeburt wird vom Menschen verwirklicht, sie ist der große Erweis des Schöpferischen in ihm. Sie ist die Entscheidung im Menschen, die Entscheidung, die er über sein Leben getroffen hat. Er war geboren worden, das war das Ereignishafte seines Daseins gewesen; er wird wiedergeboren, das ist jetzt das Freie seines Lebens. Durch seinen Willen wird er wiedergeboren, er selbst hat seinen Ursprung und sein Leben gewählt, er selbst hat sich einen Anfang gegeben, er hat den Sinn seines Lebens wiederhergestellt. Nichts vom bloßen Geschehnis ist darin; es ist eine Schöpfung, in der das Leben sich wiederschafft. Die Tatsache des Lebens, der Widerspruch gegen das Ende, gegen das bloße Diesseits offenbart sich in dem Menschen der Umkehr. Aus der Sünde mit ihrem Gefüge, mit ihrer Gewaltsamkeil und ihrem Einschnitt erhebt er sich in seine Welt des Seins, er verbindet sich mit der Unendlichkeit und Ewigkeit, er wird in sie hinein wiedergeboren. I Für den Menschen, der es so in allen den Zäsuren seines Lebens erfährt, sind Diesseits und Jenseits eins geworden, eins in der Tatsache. Die Unsterblichkeit tritt in sein Leben ein, in den Bereich seiner Freiheit, in die Bahn des Gebotes. Sie wird zum eigentlichen Gebote seines Lebens, zur Aufgabe, die ihm gestellt ist. Sie wird die Bestimmung über sein Leben, die er herbeiführt. Unsterblich ist, wer Unsterblichkeit wählt und seine Unsterblichkeit schaffi. Auch die Wiedergeburt, die als die letzte, die beschließende erscheint, ist der Weg des Menschen zu sich selbst, der Weg, den er gehen soll. Im Leben setzt die Ewigkeit ein, seinem Beginnen ist sie anheimgegeben. Auch ihr gilt die Mahnung: du sollst leben. Das Gleichnis der Ewigkeit ist der Sabbat. Im Gange des Lebens kommt mancher Sabbat, aus Kindheit und Jugend und Alter; er kommt zu uns Menschen, wenn wir seinen Rhythmus zu unserem Besitztum, zum Rhythmus unseres Lebens machen, indem wir das Gewesene überwinden, so daß es nicht bloß gewesen ist, indem wir 66

aus Vergangenheit Wiedergeburt, Leben werden lassen. Aus allen Irrungen des Lebens auch können wir zu einem Sabbat gelangen, wir können ihn schaffen, ihn erringen, indem wir umkehren und zum Gebote uns hinwenden, darin uns entdecken und uns zu eigen gewinnen, darin wiedergeboren werden. Ein Sabbat, den wir Menschen uns schaffen, ist ein Tag der Versöhnung. Das ist dem Frommen der Tod: der große Tag der Versöhnung. Dasein und Ewigkeit, Werden und Sein versöhnen sich miteinander. Nicht mehr im Schatten des Todes steht das Leben, der Tod ist jetzt im Lichte des Lebens, in seiner Tatsache, in seinem Problem und Gebot. Wie es der Mensch in seinen Tagen so erfährt, ebenso I wird es den Völkern zu ihrer Geschichte. Auch Völker haben ihre dichtende Kindheit, ihre suchende, wandernde Jugend, ihre Zeit der Heimatskraft, auch das Leben der Völker hat seine Zäsuren. Und auch ihnen können die Perioden bloßes Ereignis sein, kommend, nur um zu vergehen, um nicht wiedergeboren zu werden. Ein Volk stirbt, wenn seine Kindheit, seine Jugend, seine Eigentumsgabe, eine nach der anderen, gestorben ist, wenn es nur noch Vergangenheit hat und nur in seinen Erinnerungen lebt, wenn alle seine Ausdrucksfähigkeit, Periode um Periode, nur endete und nie wieder neu wurde. Wenn ein Volk naiv, ursprünglich nur einmal gewesen ist, wenn es sein Ideal, seine Sehnsucht nur einmal gehabt, wenn es um seinen Platz nur einmal gewußt hat, dann existiert es wohl noch weiter, in der Mühe oder im Genusse, aber es lebt nicht mehr; an ihm geschieht alles nur noch. Die Atmosphäre, in der es atmet, ist dann der Pessimismus mit seiner Schicksalsfurcht und seinem Untergangsbangen, in dieser Daseinsluft stirbt es. Das Ende kommt zu den Völkern, die ohne Problem sind, den irreligiösen Völkern, denen alle ihre Tage nur da sind, aber nichts bedeuten, die nur einen Kreis ihrer Existenz, aber keinen Weg haben, die kein Gebot, keine Aufgabe ihres Lebens kennen, keine Verbindung mit dem Ewigen, Unendlichen, keine Idee ihres Lebens besitzen. Es sind Völker, die nur Rasse sind oder bloße Rasse dadurch wieder geworden sind, daß sie den Sinn ihrer Geschichte verloren. Rasse ist nur etwas Ereignishaftes, etwas Biologisches, sie hat nur ihr Werden und Schwinden, sie ist Stoff, Materie, aber keine Form, kein Ideal; sie hat nur eine Geburt, aber keinen Ursprung, sie kann nur eine Vergangenheit sein, aber keine Zulkunft. Rassen sterben; sie werden, um zu sterben. Eine Rasse kann nicht neu werden; sie ist noch nie wiedergeboren worden. Sein Bleibendes, seinen wahren Charakter und seine Persönlichkeit hat ein Volk zu eigen nur durch eine Idee, die es gestaltet, durch

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ein Lebensgebot, das es erfüllt. Nur dadurch wird es wahrhaft ein Volk, gewinnt es die Wirklichkeit, das Seiende seines Lebens. Jedes Volk der Geschichte hat seine bestimmte Aufgabe, die ihm gestellt, seinen Weg, der ihm gewiesen ist; es hat sein Problem, mit dem zu kämpfen ihm zu seiner Geschichte wird. Seine Bedeutung, die es erreichen kann, hängt davon ab, ob es dieses sein wahres Leben findet, es erfaßt und verwirklicht. Sein Aufgang und sein Niedergang ist darin gegeben. Ein Volk verflacht und veräußerlicht sich, wenn es nur an der Außenfläche dieser seiner Bestimmung bleibt, es verirrt sich, wenn es neben diesem seinem Wesen seine Existenz hat, es verliert sich, wenn es von diesem seinem Eigensten, von dieser Tatsache seines Lebens, von dem, was sein Schöpfer ihm gegeben hat, fortgeht. Es ist seine Tragik, wenn es eine Idee sucht und zu der seinen nicht gelangen kann, wenn es nach einem Problem begehrt und das seine nicht zu begreifen vermag und sich darum in Scheinideen und Zerrgedanken ergeht. Es ist sein Ende, wenn alle wahre Aufgabe, alles Ideal in ihm erstirbt, jede Verbindung mit der Wirklichkeit seiner Geschichte in ihm aufgehört hat. Und es ist der schlimmste Tod, wenn so die Idee, der Geist versunken und verschwunden ist und eine Macht der Existenz noch geblieben, wenn aller Daseinskreislaufnun in das Geistlose und Sinnlose, in die Mängel und Gebrechen hineinströmt und alles Daseinsvermögen zum I Krankheitszucken wird, in dessen Krampf das Volk zerbricht. Aber auch ein Volk kann umkehren; es kann wiedergeboren werden. Ihm auch ist das Gebot gekündet: du sollst leben. Ein Volk bestimmt über sich, über Sein und Nichtsein, über den Weg zu sich hin oder von sich fort. Ein Volk kann, nachdem es sich verloren, sich wiedergewinnen. Wenn es sich selbst, seinen Charakter wieder entdeckt, wenn es zu seinem Eigenen, zu seiner Idee und seinem Gebote wieder hingelangt, dann erfährt es den neuen Anfang. Vom Abstiege, von dem Niedergang zum Tode hin, kehrt es um und tritt in die Tatsache seines Lebens, in seine Geschichte wieder ein. Es erlebt seine Renaissance, seinen Tag der Versöhnung. In der Hinwendung zu seiner Aufgabe, die ihm gestellt ist, zu seiner Schöpfung schaffi ein Volk sich von neuem. Es gewinnt seine Lebenskraft wieder, und sie gibt ihm seine Gestaltung. Während im bloßen Geschehen sich alle Auslese als Auslese vollzieht, welche die Schlechten übrig läßt, alle Entwicklung hier zuletzt eine Vernichtung wird, ist nun die Auslese der Geschichte eine Auslese des Guten. Die Schöpfung schaffi sich immer neu. Ein Volk entscheidet über sich, indem es über seine Aufgabe entscheidet. Nie ist ein Volk gestorben, dem sein Problem nicht vorher

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gestorben war. An seiner Geistlosigkeit und Gedankenlosigkeit stirbt ein Volk, an seinen Mißgedanken und Ungedanken, an dem Dienst der Götzen, die es sich aufrichtet. Wenn diese dann zusammenbrechen, wie sie zusammenbrechen müssen, dann ist ihm sein letzter Tag gekommen. Ein Wort des Talmud sagt: Bevor ein Volk stirbt, sind seine Götter gestorben. Götter sind Gestalten des Geschehens und Werdens, Geistalten des Schicksals, des Geschickes von Geburt und Tod, Bildner und Gebilde der bloßen Existenz, dieser äußerlichen Macht, welche kommt und vergeht; sie sterben und machen sterben. Der eine Gott ist der Gott des Seins, der Gott der Wirklichkeit und des Gebotes; er ist der Schöpfer der Kraft, welche bleibt. Das Volk, das ihn zu eigen hat, stirbt nicht, es wird immer wiedergeboren. Und es wird dessen immer neu gewiß. Es weiß um die Dauer seines Lebens, da es um seinen Ursprung und seinen Weg weiß. Im Buche des Propheten Jesaja ist ein Gemälde vom Untergang eines Volkes. Seine Götzen sind zu Boden gesunken, und die Menschen laden die geborstenen Gebilde auf die Schultern und brechen unter der Last zusammen. Dieses Bild schaut der Prophet, und er vernimmt das offenbarende Wort, das Wort Gottes für das Volk, welches ihm zugehört: >>Wenn ihr alt werdet, ich bleibe derselbe. Ich habe geschaffen, ich trage euch und mache euch frei.« Das ist das Wort von der Wiedergeburt des Menschen und des Volkes. Ereignisse werden geboren und sterben, und die in ihnen nur sind, sterben wie sie. Schicksale kommen und gehen, und wer von ihnen umfangen ist, endet in ihnen. Aber die Tatsache des Lebens, sein Grund, sein Problem, seine Aufgabe bleibt. Im Ursprunge ragt das Unendliche ins Leben hinein, im Gebot dringt das Leben ins Unendliche hinaus. Wer darin lebt, wird immer neu, von Zäsur zu Zäsur und von Geschlecht zu Geschlecht. Wer mit dem Ewigen verbunden ist, wird wieder geboren.

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Geist und Blut

Das eigentliche Schicksal in jedem Menschendasein, das Schicksal, das unter allem Einzelschicksal wohnt, ist, daß jedes Leben begonnen hat, ehe es beginnt. Wenn es seine Tage zu haben anhebt, hat es seine Jahrhunderte schon gehabt. Was immer im Gange des Daseins einsetzen mag, alles ist doch immer ein Fortsetzendes nur, und wollte man abmessen und abwägen, dies nun dahingehende individuelle Leben versänke und verschwände gegenüber der Erstreckung jenes schon dahingegangenen, das ihm von Schicksalswegen dauernd angehört, und dem es dadurch immer zugehört. Darin liegt das Zwingende, das Unabänderliche unseres Daseins, daß ihm kein eigentlicher Aufgang, kein wahrer Anfang gewährt ist. Nicht die Linie, sondern der sich weitende Kreis ist das Bild der Menschheitsgeschichte; der Kreis dehnt sich und scheint neue Ringe anzusetzen, aber Geschlecht um Geschlecht bleibt in ihm, wir mit unseren Kindern und Kindeskindern. Niemals wird unser Leben aus der Vergangenheit entlassen. Sine missione nascimur. >>Um nie freigegeben zu sein, werden wir geboren.>Blut••, was das Goethesche Wort von den >>Müttern•• meint, es ist diese Vergangenheitsseele. Wenn Menschen über das Nächste hinaus dieses Schicksal erlebten oder erahnten, so haben sie sich entweder überwältigt ihm zugewandt, oder sie haben erschreckt sich von ihm abgekehrt. Vor dem einen erscheint so die Vergangenheit mit ihrem Geschick als die große Gebende und Fügende; sie steht vor dem rückwärtsgerichteten Auge, wie vor dem Gläubigen in Ephesos die uralte Göttermutter, die hundertbrüstige Artemis. Alles Endgültige, aller Wert soll dieses I Einstmalige sein. Die Vergangenheit wird das nicht zu Überbietende, das Erste und Letzte, und alle Reinheit und Echtheit wird darum in ihr und dem, was mit ihr verbindet, in dem Blute, in der Rasse gesucht. Mannigfaltige Empfindungen und Stimmungen treffen und vereinen sich hier. Bald ist es ein Kompensationsbedürfnis gegenüber einer versagenden Gegenwart, das sich hier regt, ein romantisches Geltungsverlangen - Romantik als allgemeine Stimmung ist oft nur ein retrovertiertes, rückwärtsschauendes Geltungs begehren. Oder es ist auch eine Schicksalsliebe, die hier hervortritt, nicht selten, ähnlich wie gewisse Erscheinungen der Mystik, mit erotischen Zügen, dieser eigentümliche, amoureuse amor fati, der sein Bild der Vergangenheit mit den Blicken des Entzückten und Verliebten immer wieder betrachtet. Oder es wirkt hier schließlich ein illusionistischer Drang, in welchem der Mensch ein Wollender und Vollbringender zu sein sich vorstellt, wenn er an das sich anklammert, was ihn umklammert hält. In all diesem Wechselnden ist immer der eine Grundzug: die auch gewollte Hineinsetzung des Lebens in den Vergangenheitskreis, die Überbetonung und Überbejahung der Vergangenheitsseele. Ebensosehr hat jenes entgegengesetzte Verlangen, sich der Vergangenheit zu entheben, seine Zeiten und seine Wirksamkeit ge-

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wonnen. Es hat seinen Ausdruck gefunden in dem vielmeinenden Gedanken der Entwicklung, vor allem in dessen zwei wesentlichsten Formen, dem Gedanken eines Fortschritts und dem der Leistung. Die erste Erfüllung schien jenes Begehren durch die Vorstellung von einem Fortschritt zu erhalten. Sie ist, um es im Bilde zu verdeutliehen, der Versuch, dem steten Verjgangenheitsbereich, dem Kreise eine Richtung nach oben, eine vertikale Linie zu geben, ihn zum Kegel oder zur Spirale aufwachsen zu lassen, deren jeweilige Spitze die Gegenwart ist, die damit von der umfassenden Vergangenheit fortgerückt werde. Im letzten Jahrhundert ist auch die Theorie hierfür bereitgestellt worden. Bald war es die von der Differenzierung, der stets weitergehenden Verunähnlichung, vermöge deren sich eine immer größere Entfernung, eine immer stärkere Loslösung vom Kreise, vom Blute, von der Vergangenheit vollziehe. Bald wiederum war es die von dem sogenannten biogenetischen Grundgesetz, daß die Vergangenheit immer von neuem in der Gegenwart, das Phylogenetische im Ontogenetischen aufgenommen und damit, in der steten Wiederholung, eigentlich aufgehoben sei. Der gleiche, scheinbar so realistische, in Wahrheit oft so illusionistische Drang, vergangenheitslos zu sein, spricht in dem anderen Entwicklungsgedanken, dem von der Leistung. Denn das besagt doch Leistung: eine immer weiter sich fortsetzende Verfeinerung und Intensivierung, eine immer höher steigende SuperlaUvierung und damit eine Überholung und Überwindung der Vergangenheit, eine Unabhängigkeit von ihr. Leistung meint reine Gegenwart, Hinausdringen aus dem Vergangenheitskreis. Ein auch im Seelischen bestimmender Zug der Gegenwart befriedigt sich hierin. Das, was man die Industrialisierung unserer Tage nennt, ist nicht nur ein Gewerbliches, sondern ebenso und vorerst ein Seelisches, ein psychologisch zu Betrachtendes. Eine veränderte Formung, vielleicht wird mancher sagen wollen, eine Entformung der Psyche hat sich vielfach vollzogen. Schon das Milieu wirkt auch hier umbildend; die Umwelt bestimmt die I Innenwelt. Wer Industrialisiertes, Maschinelles immer um sich sieht, um sich hört, um sich fühlt, wird leicht psychisch maschinell, wird l'homme machine, Menschenmaschine, in einem anderen Sinne, als La Mettrie es einst meinte. Das vielbesprochene Tempo unserer Tage, das noch mehr psychisch als physisch sich darstellt, die Weise, in der schon Tolstoi den Grund alles Übels sah, daß unsere Generation keine Zeit hat, fast möchte man hinzufügen, daß sie die Zeit verloren hat wie in Chamissos Märchen Peter Schlemihl seinen Schatten, ist Ausdruck

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dieses homme machine -die Natur hat Zeit, sie ist die große Offenbarung des Zeithabens, die Maschine hat keine Zeit, sie hat nur ein Pensum und nur ein Tempo. Oder das andere Kennzeichnende, die Ersetzung der Freude durch das Vergnügen, auch das ist ein Maschinelles - Freude hat Zeit, Glück hat Zeit, Vergnügen hat keine Zeit, es ist nur ein Pensum, eine Leistung mit ihrem Tempo. Oder auch das, worin desgleichen ein Charakteristisches unseres Geschlechtes gesehen wird, daß es geheimnislos ist, auch das ist zu einem Wesentlichen das Maschinenhafte - die Maschine hat kein Geheimnis; hätte sie es, so wäre sie keine Maschine. Und schließlich das noch, worin weiterhin unsere Generation sich darstellt, ihr zumeist so Unpersönliches, so Kollektives, auch das ist ein Zeichen des Maschinenmäßigen-die Maschine hat keinen individuellen Wert; hätte sie ihn, so wäre sie Werk der Kunst und nicht Maschine; ihr Wert ist gleichbedeutend mit der Arbeitsleistung, ist daher nur ein kollektiver Wert, sie ist ins unendlich Uniforme zu vervielfältigen. Aber ebenso bestimmend und formend ist an sich schon der Gedanke der Leistung und dessen, was aus ihr notlwendig folgt, der Höchstleistung. Er besagt doch im Letzten die Ersetzung des Individualitätswertes durch den Arbeits- und Wirkungswert, die Ablösung des Lebensinhaltes durch die Zahl und Formel des Übertreffens und Übersteigerns. Er bedeutet das stete Wettrennen, über die Vergangenheit hinauszugelangen, in welchem jedes Jahr über das frühere hinausgetrieben werden soll von der Vergangenheit fort zur ferneren Möglichkeit des Überholens und Überbietens hin. Derhomo sapiens wird zum homo industriosus und damit zum homo concurrens. Das ist die eigentliche Industrialisierung unserer Zeit. So steht dieses Beides, kennzeichnend für unser Jahrhundert zumal, beieinander, diese Flucht vor der Vergangenheit und jene Flucht in die Vergangenheit, dieser Drang, sich ihr zu entrücken, der den Menschen und sein Leben blutleer und schicksalsarm macht, und jener Drang, sich in sie einzuschränken, der den Menschen und sein Leben zukunftsfremd und richtungslos werden läßt. Beiden gemeinsam ist das Ermangeln des Geistes, das Fehlen des Schöpferischen. Denn, um es durch den Gegensatz zunächst zu bezeichnen, Geist, der Geist, wie er jenseits alles Definierens in die Wirklichkeit tritt, wie er im Menschen des Geistes sich kundtut, ist der Widerspruch, die Polarität, die Spannung einerseits zum Schicksalhaften, zum Blute, zur Vergangenheit, anderseits zu dem nur Geltenden, Momentanen, zu dem nur Geleisteten, Erreichten. Er ist, wenn es im Vergleiche in zwei aneinander klingenden Worten gesagt werden darf, der Widerspruch zu dem nur Triebhaften und dem nur Betriebhaften.

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Denn Geist, um es nun positiv zu benennen, ist die in den Menschen gelegte Potenz, diese Kraft und dieser Wille, das Gegebene, das I Daseiende, das Vorliegende, das Erlangte zu durchdringen und zu gestalten, das Starre zu beleben, das Ungelöste zu erlösen. Er ist darum die Fähigkeit, sowohl der Vergangenheit, diesem eigenen Leben, das in ihr befaßt ist, als auch der Leistung, diesem eigenen Leben, das in ihr begriffen ist, gegenüberzutreten. Geist ist Fähigkeit der Distanz - nur wer diese Distanz hat, kann formen und bilden-, der Distanz zur Vergangenheit und zur Leistung, zum Schicksal und zum Fortschritt. Er ist darum, ganz anders als der Intellekt, als der Verstand, eine Gabe und ein Können der Phantasie und der Poesie, ein metaphysischer Drang; das Rationale ist sein Werkzeug, er selbst ist ein Irrationales. Geist, in dieser klassischen Bedeutung des Wortes, die der Bibel sowohl als der griechischen Philosophie eignet, ist eine Kraft des Komponierens, des Zusammenschauens und Zusammenhörens, die Kraft, Einheit zu geben und dadurch Richtung zu gewähren. Geist ist die Kraft, Einheit zu geben, und ist darum eine schöpferische Kraft des Menschen. Denn Einheit wird nicht durch Zusammenfügung oder Zusammenbindung von Einzelnem, Vielem gebracht, sondern ist immer Ausdruck und Erweis eines Schöpferischen. So ist das eine Universum, die Welteinheit Ausdruck des höchsten Schöpferischen, Gottes. So ist der wahre Gedanke, so die wahre, sittliche Tat, so das wahre Kunstwerk, weil sie eben das, und das heißt doch Einheit, Offenbarung eines Menschen und nicht bloße Leistung eines Menschen sind, der Erweis eines Schöpferischen in ihm. Sie lassen das Unendliche, Ewige, Ureine, das Göttliche in das Endliche, Gespaltene, Mannigfaltige eingehen. Das zu vermögen, dieses Schöpferische und damit Überwindende, I das ist Geist. Der Geist vermag dem Schicksal und der Entwicklung überwindend, schöpferisch gegenüberzutreten. So gehört Geist nicht der Vergangenheit, dem Kreise, und nicht der erreichten Gegenwart, der Spirale an, sondern er gehört der ganz anderen Sphäre, der des Göttlichen, der Unendlichkeit und Ewigkeit zu. Er ist so in der Spannung zu dem Blute, das aus der Weite der Vergangenheit strömt, aber in ihren Kreis hinein gebannt ist, und in der Spannung zu der Leistung, die aus der Gegenwart fließt, aber immer in einen Punkt hin mündet. Geist ist damit auch in der Spannung zum Tierhaften; Blut und Leistung kommen auch dem Tiere zu, er erscheint erst im Menschlichen. Geist ist Kundgebung des Zeitlosen und Raumlosen, der Ewigkeit und Unendlichkeit. Er ist darum ein Religiöses. Ohne das wäre er nur Intellekt, und darin

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unterscheidet sich dichterischer, künstlerischer, denkender, sittlicher Geist vom dichterischen, künstlerischen, denkenden, sittlichen Intellekt. Der Geist ist das Ebenbild Gottes. Geist ist demnach der polare Gegensatz zunächst zum Blute. Blut bedeutet ein Insichbleiben, Geist ein Gegenübertreten. Blut bedeutet Gattung, die aus Begattung sich ergibt; alles Individuum ist hier nur Gattungsindividuum, Gattungsdifferenzierung. Geist ist reine Individualität, die darum der Gattung in gewissem Sinne gegenübersteht, individuum ineffabile, wie es aus dem Eintreten des Göttlichen in die Menschengattung erwächst. Geist ist gattungslos oder, wie ein altes jüdisches Wort sagt, jedesmalige, einmalige Prägung durch den einen Gott. Das Einmalige und darum Einzigartige ist ein Hinausgehobensein über die Gattung, die Möglichkeit einer I Distanz zu ihr. Durch den Geist geht eine Art über sich hinaus. Geist ist insofern, man möchte sagen, zunächst ein gewisses Vergessen, während Blut mit seinem Instinkt und Trieb das große Gedächtnis, das Gedächtnis der Jahrtausende, das Gedächtnis im Unterbewußten ist. Es ist eine Legende im Talmud, ähnlich einer Erzählung Platons, vielleicht auf diese zurückgehend, vielleicht mit ihr auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen, daß, wenn der Mensch aus dem Mutterleibe kommt, um zu seinem Leben und seinem Geiste geboren zu werden, ein Engel ihm die Lippen berührt und er dann alles, die Fülle dessen, was bisher in ihm gewesen, vergißt. Das ist, im Bildlichen, Geburt des Geistes. Alles Schöpferische bedeutet im Objektiven: ein Neues werden lassen, ein Altes zum mindesten in seiner Geltung und seinem Sinne aufhören lassen. Im Subjektiven bedeutet es gleichsam ein Vergessen. Das scheidet ja das Genie vom Talent; das Talent ist ein starkes, könnendes Sicherinnern, das Genie ist ein großes, lebendiges Vergessen und Vergessenmachen. An dem durch Kunst oder Denken gestaltenden Genie wird diese Eigentümlichkeit am deutlichsten erkennbar; denn ein solches Genie ist diese Gabe, ein Aufhören zu bewirken, diese Lösung von einer Vergangenheit, diese menschlich-schöpferische Fähigkeit in ihrem höchsten und seltensten Sinne. Ein solches Genie ist eine große Revolution, ein großes Erdbeben- ein um so zentraleres, je zentraler das Genie ist -, und die Menschheit verträgt darum nur wenige Genies. Aber ein besonderes Genie, ein nicht erregendes, sondern nur befriedendes, ist jedem Menschen verliehen, in einem vermag jeder I Mensch den Geist zu bewähren: in der sittlichen, hingebenden, opferwilligen Tat oder, um es religiös zu benennen, in der Erfüllung des Gottesgebotes. Auch in der sittlichen Tat ist der Wider-

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spruch zum Vergangenen; denn sie ist doch im Widerspruch zum Triebhaften und Instinkthaften, zu diesem Blutmäßigen und Vergangenheitsmäßigen. Aus diesem sogenannten Natürlichen heraus ist der Mensch immer nur ein Selbstling, ein Eigennütziger, ein dem wechselnden Verlangen und Begehren Nachgebender. Erst in der guten Tat überwindet er dieses Natürliche und Gattungshafte, tritt er aus diesem Vergangenheitskreis, diesem Schicksalsbezirk heraus. Indem er das Gottesgebot erfüllt, führt er ein Zeitloses, ein Ewiges ins Zeitliche, in die Stunde hinein. Sein Geist, seine Individualität, seine wahre Persönlichkeit erweist sich darin. Wie über diese Vergangenheit, so hebt die gute Tat, schon sie, über die bloße Entwicklung hinaus. Sie ist als ein Geisthaftes, als ein Geniehaftes nicht eine Leistung, sondern eine Schöpfung. Ja sie bedeutet einen Widerspruch gegen die Leistung; denn sie ist in ihrem Eigentlichen unnützlich und vielleicht bisweilen unpraktisch, in ihr ist nichts Maschinelles. Ganz wie der Geist ein polarer Gegensatz gegen das Vergangenheitsschicksal ist, so ist er es auch zur bloßen Leistung und allem bloßen Fortschritt, zu alle dem, was das Wort von der Entwicklung allgemein umfassen will. Kennzeichnend ist schon, daß keine der großen Religionen und keine der großen Philosophien die Leistung an sich und den Fleiß an sich, geschweige das Überholen, als Wert oder als Tugend kennt. Das Alte Testament mit seinem Dynamischen, mit seiner lebendigen Kraft des Gebietensund Beanspruchens forldert ebenso wie das Arbeiten, und eindringlicher noch, das Vermögen des Nichtarbeitens; die ganze Würde der Forderung gilt der Ruhe: dem Sabbattag, dem Sabbatjahr, dem Jubeljahr. Fleiß ist ein Mittel, ein unentbehrliches, aber er bezeichnet noch keinen Sinn oder Wert, noch kein Geistiges. Er ist ein Vehikel, ein Betreibendes, aber kein Schöpferisches, kein Bahnen eines Weges. Gewiß, als dieses Betreibende ist er ein Mittel, dessen die menschliche Kraft niemals entraten kann. Selbst das Genie ist im Grunde auch eine große Geduld, und das heißt doch auch, ein großer Fleiß- durch diese Geduld und durch diesen Fleiß unterscheidet sich vielleicht das echte, das verwirklichende von dem vermeintlichen, falschen Genie. Aber einen Lebensinhalt, einen Lebensgeist kann der Fleiß, kann die Tüchtigkeit mit ihrer Leistung noch nicht gewähren. Von dem Fortschritt überhaupt, von der Entwicklung, die er bringen soll, gilt es ganz ebenso. Er gehört zum Technischen, zur Geschichte des Werkzeuges, also zur Zivilisation hin - dieses Wort in der Bedeutung genommen, die es in der deutschen Sprache hat. Ein fortschrittlicher Geist oder gar eine fortschrittliche Frömmigkeit, das ist ein Widerspruch in sich, ein belachenswertes Wort- >>der im Hirn76

mel wohnet, lachet dessen!>schöpferischen Resultanten« einen Raum und eine Wirkung, so daß er dem Blut und der Vergangenheit nun eine Bedeutung und einen Wert gewähren kann, und das Schicksal jetzt zu einer Würde wird. Durch den Geist wird die Gebundenheit zur Verbundenheit; er überwindet das Vergangenheitsschicksal, indem er es formt. Schicksal wird damit zur Erfüllung, Vergangenheit zum Gegenwärtigen, Blut erst wahrhaft zum Menschenleben. Die Bibel hat ein eigentümliches Wort, ein sinnhaftesund sinnbildliches, für diese Spannung von Geist und Blut. Es ist das Wort von dem Bunde zwischen Gott und der Erde, zwischen Gott und den Vätern. Fast könnte man im Gleichnis dafür auch sagen: der Bund zwischen Geist und Blut, durch den der Mensch mit seinem Leben zur Begegnungzweier Welten wird. Der Geist im Menschen und das Blut im Menschen sind zueinander gewiesen. Zu einer höheren Einheit soll dieser polare Gegensatz gelangen, zu der Einheit des Schicksalhaften und des Bildenden, Verwirklichenden, zu dem Bunde der Vergangenheit, aus welcher der Mensch sein Leben nicht lösen kann, die als sein Blut in ihm rollt, und des Schöpferischen, Göttlichen, das als sein Geist in ihn gelegt ist, damit er im Gestalten eine Freiheit bewähre. Gewordenes und Gebietendes, 78

Gegebenes und Aufgabe, Daseiendes und Bestimmung finden ihre Einheit. Durch die Vergangenheit hat der Geist seinen Stoff, den er formen kann, und durch den Geist I gewinnt die Vergangenheit ihren Ausdruck und damit ihre Richtung. Nicht mehr der Kreis mit seinem Verhaftenden und nicht mehr die Spirale mit ihrer letzten Übersteigerung, sondern der Weg von Geschlecht zu Geschlecht, die Bahn zur Zukunft kann nun Bild und Bezeichnung sein. Dieses Eigene des Geistes, das sich in dieser Spannung zur Vergangenheit und zur Leistung erweist, stellt sich auch als die Jugend dar, die immer in ihm gegeben ist. Vergangenheit ist Alter, und im Wesen der Leistung liegt es, daß sie überholt wird und damit veraltet ist. Geist ist der Widerspruch hiergegen, die Distanz zu dem nur Gewesenen und zu dem Modernen, nur Heutigen; seine Kraft ist die des Schaffens, und das heißt doch, des Erneuens und Verjüngens. Wissen und Denken ohne den lebendigen Geist ist entweder bloßer Intellekt, der ja nur zur Leistung hingehört, oder ist bloßes Gedächtnis, das ja nur in der Vergangenheit seinen Ort hat, beides, bloßer Intellekt und bloßes Gedächtnis, bedeutet Alter und bewirkt Alter. Geist dagegen ist Jugend und läßt den Menschentrotz aller Vergangenheit und in aller Leistung jung sein, so lange das menschliche Daseinswerkzeug, der Körper, noch Werkzeug ist. Älterwerden ist Sache des Ganges der Jahre. Altsein, im Innerlichen, Seelischen es sein, bezeugt ein Ermangeln des Geistes oder, von der menschlichen Aufgabe her, die Sünde wider ihn; solches Altsein ist nichts anderes als geistlos sein und damit gottlos sein. Ein durch die Bibel, um zu ihr wiederum hinzuführen, angedeuteter Vergleich stellt es so zueinander. Zweimal ist in ihr, in den Psalmen, das harte Wort >>Fortwerfen« gesprochen, beidemal zu dem Menschen hin. Zuerst: >>Wirfmich nicht fort von dir, I o Gott, und deinen heiligen Geist nimm nicht von mir!>Wirf mich nicht fort in eine Zeit des Altseins!>Fortschrittguten GewissenS>Und ich - dies ist mein Bund mit ihnen, spricht der Ewige,

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mein Geist, der bei dir ist, und meine Worte, die ich in deinen Mund legte, sollen nicht weichen aus deinem Munde, noch aus dem Munde deiner Nachkommen, noch aus dem Munde der Nachkommen deiner Nachkommen, spricht der Ewige, von jetzt bis zur Ewigkeit.>Du sollst leben>Durch das Wort des Ewigen«, so hatte ja der Psalm verkündet, >>Sind die Himmel gemacht worden.« Wenn nun dieses Wort sich dem frommen Menschen in der Intuition seiner Gottesfurcht offenbarte, dann war das Unendliche mit seinen Gesetzen, das Gebiet des Schaffens ihm erschlossen. Dem Frommen, und allein ihm,

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sollte es so gegeben sein; es handelt sich um keine Kunst, um keine bloße Leistung des Geistes. Das Ethische wird auch hier festgehalten, die rechte Tat, die Erfüllung des Gottesgebotes bleibt die erste Forderung, der notwendige Anfang zu allem; nur daß sie nun über sich hinausträgt, daß ferne Ziele ihr winken. Das Mittelalter hindurch hat aber gerade das Spielerische viele angezogen, vor allem Menschen außerhalb der jüdischen Gemeinde. I Diese Sehnsucht, die Menschenspanne ins Universum zu dehnen, hat in der weiteren Entwicklung mit mannigfaltiger Gedankenarbeit ihre mystische Theologie auch gestaltet, die dann im Buche >>Sohar>Fülle« des Alls erschaffen worden. Zwischen der Erde und Gott sind darum Welten, die zehn Sphären, die seinem Schöpferwillen entströmt sind, Emanationen seines Pleroma. Sie sind der Kosmos, Welten eines Geistigen und Sittlichen, Wirklichkeiten des Guten, Energien einer Vollkommenheit, Sphären der Weisheit, Einsicht, Gerechtigkeit, Liebe, Barmherzigkeit, Größe, Hoheit. Sie sind die stete Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf, in ihnen fließt Fülle aus der Fülle bei Gott hernieder. Von ihnen her ist die Kraft, und in ihnen ist der Weg, sich dem nur Irdischen zu entheben, über die Erdengrenze emporzusteigen. Zu ihnen hin, und in ihrer Stufenfolge immer höher hinauf, vermag der Mensch zu gelangen, wenn er dem Guten, dem Gottesgebot sich eröffnet. Durch stete fromme Tat und Innigkeit, durch diese Ganzheit und Einheit seiner Seele vermag er Wesen von ihrem Wesen zu werden, in ihrer Welt zu leben, in dieser Nähe Gottes, in diesem Bereich des Schöpferischen und dadurch selbst eine Quelle der Kraft zu sein. Von seiner Entscheidung, von seinem Tun hängt es ab. Er kann aufwärts und er kann abwärts gehen. Denn unter ihm ist die >>Kehrseite« des Alls, durch die Sünde sinkt er zu ihr, zu diesem Verneinenden, Nichtseienden, Zerstörenden, Unwirklichen, Unkosmischen, das nur >>Schale« ist, die sich anheftet und bedrückt. So ist auch hier der alte Standort, der ethische festgehalten, dieses Gebot: >>du sollst leben.« Der Mensch gibt sich selbst und gibt I der Welt eine Weite und eine Enge, ein Sein und ein Nichtsein. Die Geschichte der Frommen wird zu einer Geschichte der Welt, Schaffen der Zukunft, der durch das Gebot verheißenen Zeit. Von dieser Theologie aus sind die Ideen, besonders auch im sogenannten Chassidismus, weitergeschritten, vor allem zu einer kosmischen Psychologie und so zu einer tieferen Verinnerlichung hin. Der Gedanke der Einheit wird betont, der Einheit, die ist, und der Einheit, die der Mensch erlebt, dieser Gedanke der Kraft und Fülle 84

des Göttlichen, die in allem ist und von der Menschenseele erfahren werden soll. Nichts ist an sich außerhalb der Einheit, in allem ist darum die Möglichkeit des Guten und Heiligen, alles ist dazu bestimmt, daß es erlöst, mit Gott geeint werde. Bestes der Erkenntnis ist deshalb Versenkung hierein, Edelstes im Fühlen die Freude hieran, Höchstes der Frömmigkeit die betende Inbrunst, in der alle Schranken versinken, und die Ewigkeit und Unendlichkeit, diese Einheit, den Menschen aufnimmt. Wer das erlebt und besitzt, ist ein Frommer, ein »Gerechter« geworden, ein Verbindender zwischen Schöpfer und Geschöpf. Er ist es für sich und für die, die ihm nahe sind, geworden. Durch ihn und um ihn herum wird wahre Gemeinschaft geschaffen, Zusammensein von Menschen im Kosmischen, kosmische Gemeinschaft. Um es so zu erfahren, bedarf der Mensch des Tiefsten und Geheimnisvollsten, das seinem Leben zugeteilt worden ist, der seelischen Ruhe, des Sabbats. In den sechs Tagen der Arbeit hat der Mensch Leben und Gemeinschaft in der Erdenwelt, aus ihr kann er hinausziehen in den siebenten Tag. Der Sabbat ist die mystische Zeit, die Zeit, wo die Seele sich befreit und neu wird, Woche um I Woche, der Tag des Lebens in der Nähe Gottes, der Gemeinschaft zwischen Menschen in dieser wirklichen Wirklichkeit. Er läßt die Musik der Ewigkeit, den Gesang der Welten vernehmen. Wenn der Menschheit der Sabbat gekommen sein wird, dann ist die Erde in die Harmonie der Sphären eingegangen, der Tag des Messias, der Tag der ganzen Erfüllung ist gekommen. Die kosmische Sehnsucht wird hier zur Zukunftssehnsucht. In der Idee vom Sabbat und von der messianischen Zeit vollendet sich die Mystik des Judentums- wie ein altes Wort sagt: >>Auf den Sabbat und auf den Messias hin hat Gott die Welt geschaffen. « Diese Mystik hatte in vielem und oft ihr Erdachtes und ihr Gesuchtes, ihr Künstliches und ihr Spielerisches, sie hat nicht selten auch ihr Unechtes gehabt, an Stelle des lebendigen Geheimnisses die hingestellte Verborgenheit. Abertrotz allen Wirrungen sind der Grundzug und das Endziel in ihr immer geblieben. In ihnen hat sie den eignen Platz in der Geschichte der Mystik. Mystik sonst in all ihrer Vielgestaltigkeit bedeutet Erlösung vom Willen, vom Ich, vom Leben. Die Mystik im Judentum bejaht den Willen, um ihn ganz zu befreien, bejaht das Gebot, um es ganz zu verwirklichen, bejaht das Leben, um es mit Gott zu einen. Sie ist Mystik von der Kraft und Genialität menschlicher Persönlichkeit und darum eine Mystik, welche von den kommenden Tagen, von der Gründung des Gottesreiches auf Erden spricht. Die Eigenart des Judentums hat ihr die Eigentümlichkeit gegeben.

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Bedeutung der jüdischen Mystik für unsere Zeit

In der Entwicklung der Mystik hat die jüdische ihren besonderen Weg. Alle Mystik sonst will in ihrem wesentlichen die Erlösung vom Willen aufzeigen, von ihm und darum von allem, was ihn bestimmt, was ihn verpflichtet oder führt, ihn fordert oder versucht, von allem, worin er sein Gebiet findet, sei es die Welt mit ihren Gestaltungen und Ordnungen, sei es das Leben mit seinen Richtungen und Zielen, sei es schließlich die Gottheit mit ihren Schöpfungen, ihren Gedanken und ihren Geboten. Sie will von allen Motiven entbinden. All diese Erlösungsmystik ist darum Erlösung vom Ich; denn als wollendes Wesen wird der Mensch ein Ich, eine Persönlichkeit. Und sie wird an ihrem letzten Ende nihilistisch, ihr Ziel ist das Nichts; denn jeder Wille bedeutet ein Ja, und nur das Nein und das Nichts können ganz von ihm befreien. Ihr Lieblingswort ist darum das vom Aufhören und Sterben, vom Ertrinken und Versinken, vom Vergehen und Erlöschen, vom Nichtsein und vom Nirwana; >>in Gott ein froher Untergang«. Ihre äußerste Sehnsucht ist, wann immer sie bis zum äußersten hin träumte und sann, die Erlösung der Menschheit von sich selbst, der Tod von allem, was lebt. Ob die Mystik von der >>Vergottung« spricht, wie die christliche, oder ob sie, wie der Buddhismus, auch in der Gottheit das Hemmnis der Erlösung sieht und die Gottheit auch ins Nichts auflöst, es ist immer dasselbe; immer ist diese unio mystica eine Verdampfung des Persönlichen, eine Verwandlung von Gott und Welt und Leben und Ich in den einen gleichen Aggregatzustand, in den einen Ozean, in dem alles ineinander geworden, um in ihm nur das ganz Unmittellbare, diese Einigung, in der alles eins ist und aller Wille dadurch von sich selber erlöst worden, zu besitzen. Ob dieses Eins nun Gottheit oder Nichts heißt, es ist im wesentlichen dasselbe. Gemeinschaft und Erlöschen sind hier das gleiche: Ich und Du verbinden sich, indem sie aufhören, ein Ich und ein Du zu sein; Gott und Mensch werden eins, indem sie aufhören,

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Gott und Mensch zu sein. Diese Mystik kennt darum auch kein Gebet, sondern nur den Hymnus und den Monolog und auch keine eigentliche Liebe, so gern sie dieses Wort gebraucht, sondern nur das schwärmende Entzücken. Ob sie Traum oder Taumel, ein Schauen oder eine Trunkenheit, Kontemplation ist oder Ekstase, ob der Glanz der Beseligung aus ihr strahlt oder alle die Finsternis des Leidens sie umhüllt, ob sie Mystik des Himmels oder des Abgrundes ist, Mystik des Einatmens oder Mystik des Ausatmens, sie ist immer das nämliche: Erlösung vom Willen, von der Welt und vom Leben, vom Ich und von Gott - Aufhören, Untergehen, >>wie Ströme rinnen und im Ozean, verlierend Name und Gestalt, verschwinden«. Es ist das Besondere der jüdischen Mystik, daß sie gegenüber dieser Mystik des Sterbens, dieser passiven Erlösungsmystik, eine Mystik des Lebens sein will. Sie ist eine Mystik des Willens und seiner Versöhnung, des Gebotes und seiner Verwirklichung, eine aktive Mystik. Auch sie hat das Eigentümliche des Judentums, daß die Tat ein Entscheidendes ist. Für das Judentum gibt es nur einen Zugang zum Sinn des Lebens und nur einen Weg vom Menschen zu Gott, den der Erfüllung des Gottesgebotes. Alles Gebot kommt von Gott, aus der Tiefe des Geheimnisses hervor; wer in das Gebot eindringt, ist zu Gott hingedrungen, er hat das Bestimmte zum Verborgenen I hin und das Verborgene zum Bestimmten hinauf gebracht. Je stärker der Wille zum Guten ist und je lebendiger es erfaßt wird, je inniger einer das Gebot übt, sein ganzes Herz, seine ganze Seele und seine ganze Kraft darein legt, desto enger verbindet er sich mit Gott. Ein altes Gleichnis sagt: Die Tat des Gerechten bewirkt die Nähe Gottes, führt Gott zur Welt her, und die Tat des Bösen legt wieder eine Weite zwischen Gott und die Welt. Alles fromme Handeln ist gleichsam ein Kampf um die Distanz zwischen Gott und uns; wahrhaft fromm ist der, durch dessen Tat der Platz Gottes auf Erden bereitet wird. So haben es die Frommen aller Zeiten vermocht, sie haben die Entfernung überwunden, sie haben das Heiligtum Gottes inmitten dieser Welt gegründet. Diesen Gedanken hat die jüdische Mystik sich zu ihrem Eigensten genommen, durch ihn ist sie Mystik geworden, das heißt die Gewißheit der unmittelbaren Verbindung mit Gott. Sie hat die Lehre von der Tat zur Mystik der Tat werden lassen. Für sie gibt es nur ein Weltenschicksal, das Tun des Menschen. Vom Willen des Menschen gehen die Geschicke des Alls aus, er schaffi ins Unendliche hinein, seine Lebensführung gibt der Welt ihren Gang und ihre Richtung. Die Geschichte der Frommen, der Gerechten, der >>Zaddikima, die auf Erden sind, ist die wahre Geschichte der Welt. Und sie ist gleich-

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sam die Geschichte Gottes. Denn ohne den Menschen, der den Weg zu Gott, den einen Weg, geht, und dessen Herz ganz mit Gott und dadurch in sich eins ist, gibt es auf Erden keine Einheit Gottes, gibt es darum gleichsam keinen Gott auf Erden. Die Poesie von der Schöpferkraft der menschlichen Persönlichkeit ist hier gestaltet worden. Nicht die Kontemplation, in der die Persönlichkeit verlsinkt, nicht die Ekstase, in der sie sich auflöst, nicht der Traum, in dem sie verfliegt, bringt hier die Verbindung mit Gott. Nur die Tat, in der die Persönlichkeit sich gestaltet, indem sie die Welt zu gestalten sucht, gibt diese unio mystica. Mystik ist hier nicht das Erlebnis des Einsamen, der sich den Menschen entrückt und dem die Einsamkeit Ziel ist, sondern eine Lebensaufgabe des Menschen unter den Menschen, dem die Einsamkeit nur die Stunde ist, in der er sich von den Menschen zurückholt, um die Kraft für die Menschen wiederzufinden, nicht ein ,,frui deoGenießen GotteSGott will nicht mehr, daß sein Getreuer ihm gleich werde; er will, daß er in seiner Gottesfurcht er selbst sein soll.>Fülle der Seele>Gottes Willen zu dem unseren wird und damit unser Wille zu Gottes Willen>die Welt erschaffen wird zum Gottesreichvon Geschlecht zu GeschlechtTrostSo tröstet der Ewige sein Volk.>geprägte Form, die lebend sich entwickelt«. Sie ist der Lebensstil einer Gesamtheit. Kultur ist darum von der bloßen Zivilisation zu unterscheiden. Zivilisation ist die Leistung des Werkzeugs. Die Fähigkeit, sich Werkzeuge zu bereiten, ist das, was den Menschen ganz eigentlich vom Tiere unterscheidet. Das Tier bleibt an sich gebunden, weil ihm nur seine Glieder die Mittel des Thns sind. Der Mensch tritt aus dieser Gebundenheit heraus durch das Werkzeug, das seine Glieder vertritt. Mit ihm unterwirft er die Natur und ihre Lebewesen und stellt ein äußeres Gefüge und Gehäuse des Daseins her. Auch der Kulturlose besitzt dies, schon der primitivste Mensch hat seine Werkzeuge und damit seine Zivilisation. Sie ist so alt wie der Mensch. Sie ist überlieferbar, indem ein Geschlecht vom anderen die Kunstfertigkeit erlernt. Aber es ist nur eine äußerliche Weitergabe mit ihrer Verbesserung und Verfeinerung, eine Reihenfolge, aber keine Geschichte. Während die Kultur ein Geistiges, ein Seelisches ist, ein Wachsendes oder Welkendes, ist die Zivilisation etwas Verfertigtes, ein Mechanisches, Technisches, das angenommen und fortgesetzt wird. I Die Zivilisation, welche die Menschen der Kultur haben, kann da und dann eine bescheidene und dort eine vielfältige sein. Sie ist hier nichts Charakteristisches und nichts Bestimmendes. Nicht auf das, was der Mensch herstellt, sondern darauf, wie er sich darstellt, kommt es hier an. Völker mit geringer Zivilisation können Kulturvölker sein und Völker mit reicher Zivilisation arm an Kultur. Manchem Kulturleben hat die Ausbildung der Zivilisation den Raum eingeengt; sie hat sich der Seelen bemächtigt, und Völker sind mechanisiert und veräußerlicht worden, die Kultur ist unter ihr erstarrt und erstorben. Es gibt die Sklaven der Zivilisation. Oder wenn Kulturvölker ihre Zivilisation und die Macht, die darin gegeben ist, als ihren wesentlichen Besitz und ihre eigentliche Aufgabe ansehen, wenn sie nur in einem Übergewicht vermöge dieser Macht ihr Eigenes ausdrücken wollen, auch dann geschieht es unter Einbuße der Kultur. So manche Kultur ist daran zu Grunde gegangen; es gibt keine Machtkultur. Es ist ein Geistiges, wodurch sich eine Kultur entfaltet. Sie hat ihren Stoff, ihre natürlichen Gegebenheiten, ihre Welt, in ihnen bringt sie dieses Geistige zum Ausdruck. Aber ebenso ist sie daher nicht ohne diese ihre bestimmte Welt; sie ist kein abstraktes Geistiges, sie

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ist nicht im Reiche der Ideen. Kultur ist auch keine reine Innerlichkeit, keine bloße Pflege persönlichen Lebens, sondern sie ist immer eine Beziehung zur Welt, ein Arbeiten und Wirken in ihr. Inneres und Äußeres verbinden sich darin, es ist die Durchdringung einer Welt durch einen Geist, die Betätigung eines Geistes in einer Welt. In diese Kultur seines Geschichtskreises ist der Einzelne eingefügt. Es ist ein dreifaches, worin diese Verlbindung besteht und zu einem Lebenszusammenhange wird. Zunächst zeigt sie sich als eine vertikale Linie. Das Individuum, das aus einem geschichtlichen Boden erwächst, ist vor Jahrhunderten geboren. Sein Leben begann, als vor ihm Geschichte begonnen hatte. Es ist schon gewesen, lange ehe dieses sein individuelles Dasein anhob. Seinen Erdenweg trat es an, erfüllt von dem Leben vor ihm. In ihm ist ein Wesentliches von dem, was alle die Geschlechter, von denen es herkommt, dachten und erkannten, empfanden und hoffien, fürchteten oder ersehnten. Sein Geschick liegt nicht in dem nur, was ihm begegnet, sondern mehr noch in dem, was seinen Vorfahren Lebensfügung war. Der Wilde erbt körperliche Eigenschaften, Triebe und Instinkte, aber er erbt kein eigentliches Leben. Der Mensch der Kultur tritt in ein Lebenserbe ein, er hat als seinen Lebensbesitz das Leben der Generationen, von denen das seine ausgeht. Es ist ein Eigentum, das er nicht ablehnen, und aus dem er sich nicht herauslösen kann. Diese Erstreckung in die Geschichte kann länger oder kürzer sein. Es gibt ältere Kulturen und jüngere, Gesamtheiten, die in der Weite der Zeit und die in der Begrenztheit der Tage sind. Die einen blicken in die Welt mit Augen, aus denen Jahrtausende schauen, und hören die Welt mit Ohren, die die Jahrtausende vernommen haben, während in dem Sehen und Erfahren der anderen vielleicht nur wenige Jahrhunderte sind. Es gibt ein Denken und Fühlen, das vielen Geschlechtern von Seelen, und eines, das wenigen entstammt. Hier hatte ein Leben, eine Kultur schon die Dauer der Geschichte, als dort eine bloße Existenz erst bestand; hier war ein Geistiges, Seellisches weitergewachsen, als dort nur erst ein Körperliches, Triebhaftes vererbt worden war. Und es kann ein Platz der Konflikte sein, wenn die einen mit den anderen zusammengeführt werden, die einen verstehend und nicht verstanden, die anderen verstanden und nicht verstehend. Die Geschichte der Juden hat nicht selten davon zu erzählen gehabt. Diese Vertikale kann wie in ihrer Ausdehnung, so in ihrem Gehalte verschieden sein. Sie ist bald schwächer, bald dichter und fester gewachsen. Hier wirkt in einer Weite von Welt nur ein Weniges von

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Geist durchdringend und bildend; die Kultur ist extensiv, sie nähert sich der bloßen Zivilisation. Dort ist der Bereich enger, aber ein lebendiger Geist hat ihn immer neu durchackert und gestaltet; die Kultur hat ihre Intensität. So kann es eine Geschichte höherer oder minderer Stärke sein, die den Einzelnen formt; Jahrhunderte mit größerer oder geringerer Geschlossenheit und Kraft können ihn aus sich hervorgehen lassen. Die Seele des Juden gibt wieder ein Beispiel. Das Leben aller der jüdischen Generationen war ein Kampf, der zu bestehen war, ein Kampf, in dem wenige den vielen gegenübergestellt waren, und, was noch schwerer wog, es war immer ein Kampf auch gegen die äußeren Tatsachen und damit gegen den seelischen Druck, mit dem die steten Siege und Erfolge aller der anderen auf den Gemütern lasteten, ein Kampf, der dafür immer wieder die Matten und Haltlosen aussonderte. Die eigene Kultur mußte nicht bloß, wie bei den anderen, übernommen und erworben werden, sondern sie mußte erstritten und errungen sein, und nur, wer das vermochte, konnte sie besitzen. Das Eigentum verlangte oft ein Heldentum. I Dieses Eigentum war zudem das Innerste und Tiefste, es war ein Eigentum an den ewigen Gütern, den Kampf dafür forderte das Gottesgebot. So erhielt das Leben der Jahrhunderte seine Intensivität, seine Energie, die den Einzelnen immer entschiedener bestimmte. In diesem Zusammenhang mit den Jahrhunderten liegt ein Schicksal des Menschen, das Schicksal in seinem tiefen Sinne, das in jeder Ausprägung gegeben ist. Der Wilde ist schicksalslos, weil er unausgeprägt ist, er hat vielleicht einen Schmerz oder einen Kummer, einen Wunsch oder eine Hoffnung, aber er hat kein eigentliches Schicksal seines Lebens. Mit diesem, wie mit einem jeden Geschicke kann ein Zwiespalt in das Leben des Menschen eintreten. In seinen Jahrhunderten hat der Mensch seine stärkste Verbundenheit, aber er wird sie bisweilen nur als Gebundenheit empfinden. Er hat durch sie seine bestimmteste Ausdrucksfähigkeit, aber sie kann ihm bisweilen als die Begrenztheit seines Ausdrucks erscheinen. Sie ist, da sie ihn nicht nur in seinen Jahrzehnten leben läßt, seine stärkste Lebenskraft und Lebenssicherheit, aber sie kann ihn bisweilen wie ein Lebenszwang bedrücken. So erhebt sich der Kampf der Individuen gegen ihre Jahrhunderte, aus denen heraus sie geboren sind. Er kann die Tragödie eines Lebens werden, aber er ist noch häufiger die Komödie. Es ist die Komödie des Menschen, welcher meint, daß die Geschichte seines Lebens ein Gewand oder eine Maske sei, daß er imstande sei, das abzulegen, was er ist, daß er sich selber zu entweichen oder vor sich selber sich zu verstecken vermöge, daß er

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sein Leben unsichtbar machen könne. Wenn einer aus einer Kultur der Wenigen, der Verfolgten und Bedrücklten hervorkommt, dann kann sich in ihm dieses Verlangen einstellen, nicht als der unter den Menschen zu sein, der er ist, das Verlangen, gewissermaßen eine Schutzfarbe anzunehmen. Vielleicht wird dies dort, wo jemand einer Kultur ohne starken Ausdruck angehört, auch gelingen können. Wo aber einer durch eine tiefdringende Geschichte in seinem Wesen ausgeprägt worden ist, dort wird dieser Versuch zumeist einen Bruch im Persönlichsten des Menschen entstehen lassen. Bisweilen kann dieser Bruch verborgen bleiben unter dem Nichtwissen eines gepflegten matten Ästhetizismus, unter der Täuschung eines dünnen farbigen Scheines oder unter jenem Spotten, welches das eigene Ich und alles verspottet, weil es um das Gebrochene im eigenen Innern weiß. Aber zumeist zeichnet er das Leben, ein Gezeichneter geht durchs Dasein, eine Figur der Komödie oder gar eine Possenfigur, der Mensch, der sich vor seinem Leben verstecken, der nicht sich erkennen noch gekannt sein will, der ein Mensch der Kultur, ein Aristokrat sein konnte und sich selber zum Parvenu gemacht hat. In tieferen Persönlichkeiten wird der Kampf zur Tragödie. In ihnen ist nicht ein bloßes Verlangen der Nützlichkeit, sondern es ist hier der seelische Zwiespalt des Menschen, welcher glaubt, seiner eigenen Geschichte widersprechen zu müssen, ihr entweichen zu sollen, weil seine Seele nach einer anderen Geschichte, nach einer anderen Kultur wie nach einem Lande der Verheißung sucht - die Tragödie eines Heinrich Heine, das Trauerspiel eines Otto Weininger. Es ist der tragische Kampf des Menschen gegen sich selbst, seiner Jahrzehnte gegen seine Jahrhunderte. Er ist desto tragischer, je stärker eine Kultur ist. I Im Tiefsten ist das Bemühen ein vergebliches. Der Mensch kann sich vielleicht von seinen Jahrzehnten lossagen und loslösen, vielleicht auch von seinen Eltern und Großeltern, aber er kann nicht von seinen Jahrhunderten, von der Reihe der Ahnen loskommen. Die Persönlichkeit, wofern sie es ist, welche es doch will, zerbricht daran. Keine Ironie, die von dem Ernst dieser Tragödie befreien will, indem sie nichts ernst nimmt, kann davor retten. Das Ende ist der innerliche Riß, je tiefer der Mensch begabt ist, desto tiefer, bis der Mensch daran seelisch stirbt, oder die heilende große Sehnsucht in ihm erwacht und ihn zu seiner Welt, zu den Jahrhunderten seines Ichs zurückgelangen läßt. So ist es Heine zuletzt zu seinem Leben geworden. Je geistiger, je intellektueller einer veranlagt ist, desto zackiger und schärfer wird dieser Bruch, der Mensch endet in einem geistigen Flagellantentum, in dem er sich selber martert, in

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jede alte Wunde eine neue reißt und sich schließlich vernichtet; so ist es das Ende Weiningers gewesen. Auch die, meist kaum bewußte und nur dem schärferen Blicke erkennbare Tragödie kann es sein, daß einer immer nur neben sich hergeht, sein Leben lang an den Rändern seines Lebens bleibt und zu seinem eigensten Können so nicht gelangt, den letzten, den wahren Ausdruck seiner Begabung, den Ton seiner Seele nicht findet. Er kommt zu seiner Erfüllung, zu dem Werke seiner ganzen Kraft nicht, weil er nicht erfährt oder sich dagegen sträubt und wehrt, zu erfahren, wo sein Leben wurzelt, von wo es den Ausgang seiner Gewißheit und Sicherheit nimmt. Am letzten Ende bleibt er darum in der bloßen Technik, wie vollendet sie auch sei, in der Virtuosität des Denkensund Empfindens oder des Tuns. I Manch ein Name spricht hiervon auch, von dem Menschen ohne sein Letztes. Diese vertikale Linie bezeichnet den stärksten Zusammenhang. Alle Verbundenheit hat aber auch ihre Erstreckung in die Breite, ihre horizontale Linie. Denn alle Geschichte, alle Kultur schaffi dauernde Gemeinschaft. Es gibt keine Sonderkultur eines Einzelnen, so wenig Geschichte das Leben eines Einzelnen ist. Alle Kultur stellt den Menschen in eine Gesamtheit hinein, in ihr, in der Zugehörigkeit zu ihr wird er seiner Geschichte bewußt und besitzt er seine Kultur. Im Mittelalter schrieb man die Romane von dem ohne Gemeinschaft werdenden Menschen, von dem Menschenkinde, das auf einsamer Insel ohne Beziehung zu anderen sein Leben gestaltet und alle Kultur nur von sich her gewinnt. In der Welt der Wirklichkeit ist es anders, hier erlangt sie der Mensch nur als der Teil eines großen Ganzen. Auch hier entstehen darum die Zwiespalte und die Konflikte. Die gegebene Gemeinschaft kann als Druck und Beschränkung, als Hemmnis der Entfaltung empfunden werden. Der Wunsch nach Freiheit wird zum Verlangen nach Freiheit von der Gemeinschaft. Schon innerhalb der engsten Gemeinschaft, der Familie kann es so sein. Das Individuum will nur sich selbst angehören, es will ganz Individuum sein, unverbunden und unbeengt. Wohl jeder Suchende und Ringende hat diesen Widerstreit einmal durchzukämpfen gehabt. In der Lebenszeit des Sturmes und Dranges regt er sich, in dieser Zeit, wo der Mensch etwas Genialisches in sich zu fühlen meint, wo er die Schwingen seines Wesens ausbreiten möchte, um emporzufliegen, und glaubt, daß nur die Wände und Dächer der Gemeinschaft, alle die Pflichten und Anlsprüche, mit denen sie ihn umgibt, den Aufstieg hindern. Das Recht des genialen Menschen ist es, gegen die Gemeinschaft zu stehen, es ist sein Recht auf das Anarchische und Radikale, da er in

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sich ein Neues darstellt und darum einen neuen Mittelpunkt, die Forderung neuer Gemeinschaft bedeutet. Alles Geniale ist zunächst ein >>Ferment der DekompositionBürger zweier Welten>nicht!« Es ist eines der klassischen Worte der Bibel, von dem >>du sollst nicht>daß ich nicht komme und die Erde mit dem Banne schlage!>du sollst nicht, behüte dich!«; sie belehrt, wonach sich die Hand nicht ausstrecken, wonach das Herz nicht begehren soll. Dieses Nicht ist das Deutliche, das erste Bestimmte der Pädagogik, ihr Greifbares; es ist das, was unser altes Wort >>Gottesfurcht>Zum Menschen spricht er: Siehe, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, und das Böse meiden, das ist Vernunft.>du sollst nicht lügen>Sprich die Wahrheit>Gesetz>Leben>du sollst nicht« gewannen so ihre klare Bedingung und auch eine Sammlung in diesem Nicht, welches an das Volk erging, in diesem Gebot der nationalen Reinheit und Sonderung. Daher setzt denn der klassische Midrasch über die großen Gebote die Überschrift: >>ihr sollt anders sein!« Die Voraussetzung und in gewissem Sinne die Summe von allem ist in diesem Satze gegeben. Er will sagen, daß das Wesen und das Leben des jüdischen Volkes nur darin sich gründen und sich finden kann, daß es sich von den anderen unterscheidet; darin ruhen ihm die Existenz und die Bedeutung. Im allgemeinen ist das allerdings von jeder großen Kulturaufgabe gesagt, von dem Glauben an den eigenen Besitz mit seinem Gefühle der Verantwortung vor den kommenden Geschlechtern. Jede Kultur beginnt mit dem Anderssein und besteht durch das Bewußtsein ihrer Eigenart. Es ist eine alte Wahrheit, daß die Form des I Entstehens auch die des Bestehens ist. Und ebenso ist es in aller Erziehung ein Lehrsatz, daß sie auf die Gesamtheit sich auch richten muß. Überall, wo nicht die Jünger Buddhas hinausgesandt werden sollen, muß die sittliche Umgebung, die engere und weitere, gefordert werden. In sie tritt der Einzelne hinein, und sie wird ihn gestalten, und an sie ergeht darum das Gebot ihrer Reinheit und Unterschiedenheit, das Gebot der Sitte und des daraus erwachsenden Rechtes. Aber für die jüdische Welt gilt das alles in weit eigentlicherem Sinne, schon wegen ihrer Kleinheit, die sehr bald als geschichtlicher Minoritätscharakter erscheint, und vor allem vermöge dessen,

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daß Anfang und Zweck, Volkstum und Religion in ihr völlig eines sind. Sie ist eine Glaubenswelt, die von Beginn an und je länger, desto mehr ihr ganzes Dasein durch den Widerspruch gegen den Glauben aller der anderen bestimmt wußte, und die gegenüber so vielen widersprechenden Tatsachen der harten Wirklichkeit existieren konnte, nur durch den Glauben an sich selbst. Sie ist geistig geschaffen worden durch die Erkenntnis von dem eigenen Licht, von dem eigenen Mittelpunkt der Bewegung. Das ist die Form ihrer geschichtlichen Existenz, die Bedingung ihrer geschichtlichen Dauer geworden. Das Bewußtsein der Berufung, der Auserwählung trägt hier die Geschichte. >>Siehe, ein Volk, das besonders wohnt und unter die Völker nicht gerechnet wirdJerusalem>Nicht« der Bibel hat das jüdische Dasein erzogen, als der große Pädagoge unserer Geschichte steht es da. Aber jede Erziehung muß zur Beschränkung werden, wenn sie in ihrem Nicht ihr Genüge findet und vergißt, daß in ihm der Anfang gegeben ist, der notwendige, der inhaltreiche, aber doch erst der Anfang. Soll das Nicht alles sein, auch Zweck und Ziel werden, so wird nur jene Bewegung gewonnen, die nirgends weiterführt, die immer auf ihrer Stelle bleibt. Wir haben in unserer Geschichte Zeiten völligen Stillstandes gehabt, und sie sind Zeiten unermüdlicher Pädagogik gewesen. Es waren die Tage, in denen der Gedanke und der Wille auch sein Ghetto hatte; das Suchen und das Wissen hatten sich in der Fülle des Nicht eingeschlossen. Die Erziehung ist I kein Selbstzweck, sie erhält ihre ganze Bedeutung erst durch das, wofür sie erzieht. Mit dem Anderssein ist noch nicht genug getan. Zu ihm müssen die großen Gedanken hinzukommen, die Gedanken von dem, wofür man anders ist. Sie sind das große Ja des Lebens, dieses Ja, das der vielgestaltigen Freiheit ihre Aufgaben und Wege zeigt; ihm wollte das Nicht nur den Raum umfrieden und sichern. Das Nicht erzieht das Leben, und das Ja schaffi neues Leben. Für uns sind die großen Gedanken, ist der große Zug eine Lebensnotwendigkeit. Sie geben erst eine Zukunftsrichtung, und das will sagen: überhaupt erst eine Richtung des Daseins. Wahrhaft lebendig ist nur das Judentum, welches sie besitzt, welches nicht bloß dasein, sondern zu etwas hinführen will. Eins behalten wir zwar immer, die große Richtung zu uns her, den großen Zug unserer Vergangenheit, und es ist sicherlich ein Besitztum der Seele, ihn in sich aufzunehmen, innerlich wieder aus den Tiefen hervorzuwachsen, in denen unser Dasein verwurzelt ist. Man hat mit Recht von einer rückwärts gewandten Prophetie gesprochen. Das vergangene Jahrhundert hat sie in so manchen Sehern unserer gewaltigen Erinnerungen zu eigen gehabt. Sie haben viel von jenem Enthusiasmus wach werden lassen, den die Geschichte wecken kann. Er ist in so

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manchem ein Aufatmen gewesen. Aber in wie vielen war er nur ein schwärmender Geist, der sich der Größe rühmt, weil einst die Vorfahren groß gewesen sind. Und wir wissen von denen auch, die durch unsere Vergangenheit nur bedrückt worden sind, unter ihr die Empfindung des Unabänderlichen, das Gefühl der Schicksalstragik hatten, und wir wissen auch von den Sentimentalen, den Helden des Weltschmerzes, die ob der Verlgangenheit sich beweinten und ihre Tränen dabei bespiegelten. Wir haben sie alle in unserer Mitte gesehen, und sie haben alle den Blick in die früheren Zeiten zu wenden vermocht. Die Geschichte lehrt vieles erkennen, sie zeigt auch notwendige Ausgangspunkte, aber sie allein, sie als solche, kann noch nicht führen und weiterführen. Wir brauchen die Prophetie, welche nach vorn ausschaut, diese messianische Prophetie der großen Gedanken, die uns die Richtung geben. Die großen Gedanken sind immer die richtigen, weil in ihnen das Menschentum erwacht und erwächst. Sie haben immer den Erfolg, auch wenn sie zunächst erfolglos scheinen; denn sie haben immer den inneren Erfolg, sie werden zur seelischen Kraft, zu der inneren Stärke, durch welche die Zukunft gezeugt wird. Der große Gedanke schaffi vielleicht noch nicht Dinge, aber er schaffi Menschen, und Menschen sind doch die stärksten Realitäten, sie sind die entscheidende Wirklichkeit. Die Frage der Macht ist für uns ausgeschaltet; wir sollen dafür unsere Kraft haben, die Kraft, die in den großen Ideen besteht. In ihnen drängt sich aus der Spannung das Leben hervor. Sie sind das große Ja unseres Daseins. Unser Ja kann seinen verschiedenen Ton, seinen verschiedenen Akzent haben- wenn es nur eben ein Ja ist, ein großer Gedanke, der zugleich auch groß gedacht wird, groß, das heißt ehrlich und rein. Man hat bisweilen draußen und drinnen über den Gedanken der jüdischen Mission gespottet; aber in ihm liegt doch, wenigstens, der große Zug, und es wäre ein großer Tag, an dem die ersten Sendboten wieder hinausgingen, um die Wahrheit unseres Gottes zu verkünden. Man hat bisweilen draußen und drinnen gespottet über den Gedanken des freien I jüdischen Hauses im Lande der Väter; aber er hat doch, wenigstens, den großen Zug, und es wäre ein großer Tag, wenn die Stätte entstünde, welche suchende Körper und suchende Seelen aufnehmen will. Ja, mag das jüdische Dasein sich in ihm betonen wie immer- wenn es nur eben ein großer Gedanke ist, ein Gedanke, der aus dem Engen und Kleinlichen herauszuführen vermag, um eine Zukunft zu zeigen. Wir brauchen ihn, um unseres Lebens und unseres Weiterlebens willen.

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Wir dürfen hoffen, daß wir ihn wieder zu besitzen beginnen. Der jüdische Gedanke erhebt sich wieder zur Höhe. Es ist damit auch die Ehrfurcht wieder stärker geworden, dieses Gefühl des Freien gegenüber dem Großen, und das Wort Jude und Judentum hat wieder den heiligeren, volleren Klang gewonnen. Es sind mannigfache Gedanken, in die der jüdische Gedanke heute auseinandertritt, und man hat zwischen ihnen oft nur den Gegensatz gesehen. Aber sie finden ihre Einheit in der jüdischen Individualität, in dieser Einheit von Lebensgrund und LebensgehalL Sie sind aus ihr geboren, denn aller Genius ist in der Individualität, und sie kommen in ihr auch wieder zusammen. Nicht der Zwiespalt ist zwischen ihnen, sondern die gegebene Spannung. Es ist kein Gegensatz, um eines zu nennen, zwischen der Idee Hermann Cohens, die das Judentum wieder in die geistige Weltgeschichte hineinstellt, ihm den Platz der Weltreligion wieder erweist, und dem Gedanken, der bisweilen dagegen tritt, der den Boden unserer Eigenart, unsere besondere Lebenstiefe, unsere Religiosität darlegt. In den Spannungen wächst das Leben. Wenn es nur die großen Gedanken sind, groß gedacht, die ihren Ausdruck und ihre Wirklichkeit suchen! I In einem vor allem will sich diese Zuversicht heute offenbaren. Unsere Zeit erscheint nicht mehr als eine, die bloß wartet, wie manche früheren Geschlechter auf das Ende oder auf das Wunder warteten. Unsere Zeit erwartet wieder; sie hat den Blick und den Willen in eine Zukunft gerichtet. Das Wort eines Dichters sagt: das Alter wartet, und die Jugend erwartet. Das Enge ist alt, und das Große ist jung. Wer die großen Gedanken hat, der erwartet. Sie werden entscheiden, daß er recht hat.

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Boden, Erde, Welt

Auch über die entscheidenden Anfangszeiten hinaus, in denen der Kern eines Volkes noch in hohem Maße bildsam ist, wirken die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Formen und Gefüge auf den Weg des Denkensund Suchens, nicht zum mindesten des religiösen, ganz wesentlich ein. Zwar ist es die Geschichte jeder lebensstarken Idee, daß sie aus den Verhältnissen und Bedingungen, unter denen sie geschaffen und ausgestaltet worden ist, schließlich heraustritt; sie wird selbständig und gewinnt ihre Eigengesetzlichkeit und bedeutet dann eine dauernde, feste Einstellung gegenüber dem jeweiligen ökonomischen und sozialen Aufbau. Aber auch der Gedanke, der sein eigenes Dasein erlangt hat und in die Sphäre des Abstrakten eingetreten ist, steht doch nun nicht bloß im platonischen Jenseits, sondern er hat seine Geschichte auch dadurch, daß er sich mit einzelnen Menschen und Gruppen verbindet und durch sie lebendig wird. Und in all seinem Eigendasein wird so seine Ausdrucksform und ganz ebenso seine Richtung durch soziale Kräfte mannigfacher Art bewirkt, durch dieselben Kräfte, die in dem Menschen, der ihn zu eigen gewonnen hatte, sich bezeugen. Ein Gleiches gilt selbst von dem Denken der revolutionären Persönlichkeiten, dieser Menschheitspersönlichkeiten, kraft deren ein Volkserlebnis zu einem Menschheitserlebnis werden kann, zu einer seelischen Erfahrung und Erkenntnis also, die von der besonderen Voraussetzung einer Zeit und eines Gebietes unabhängig wird. Wie sehr es ihnen eigentümlich ist, daß ihnen ihre Idee die ganz neue, die Offenbarung ist, wie sehr sie es darum I vermögen, das Bestehende zu verwerfen und von ihm zu befreien und dadurch einen geistigen Erlösungsprozen einzuleiten, wie sehr sie damit dann auch neue Gedanken- und Gesinnungsgemeinschaften und dadurch neue soziale Schichten schaffen, so ist doch das Daseins- und Darstellungsgebiet, zu dem sie gehören, das sowohl, von welchem sie fortgehen,

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wie das, in welches sie eindringen wollen, ein vorhandenes gesellschaftliches; sie stehen unter dieser Einwirkung im positiven wie im negativen Sinne. Und in noch weit höherem Maße trifft dieser Einfluß die Utopisten auch, in denen ja kein neues Prinzip erwacht, die nur über das langsame Daseiende hinausführen wollen, indem sie zu seinen eigenen fernen und fernsten Zielen hinweisen. Diese besondere Wirkung des bleibenden oder wechselnden sozialen Gefüges ist derart eine wesentliche Größe auch in der Geschichte des Judentums, nicht nur des jüdischen Volkes. Eine Wandlung auch im religiösen Denken brachte es z. B., als sich, schon auf dem Boden Palästinas, ein Übergang vom Ackerbau zu den vom Akkerbau losgelösten Berufen vollzog, als aus den alten Bauern auch Gewerbetreibende wurden. Die alte Frömmigkeit war mit dem Acker und dem Lande, zu dem er gehörte, verwachsen gewesen. Das Land war der Acker, und es war die Welt. Es ist bezeichnend, daß in der Sprache jener Tage dasselbe Wort >>EreZ>EreZ>Olam>diese Weltjene Welt••, der Olam haba. Während bis dahin die Linie, auf der die Gedanken hinauszogen, die von der Gegenwart des Landes zu seiner Zukunft, von den jetzigen Tagen des Bodens zu seinen kommenden war, ist es jetzt die von unten I nach oben, von dieser Welt der Mangelhaftigkeit zu jener der Vollkommenheit. Das Transzendente tritt an den Platz des Erdgemäßen, das geistig Abstrakte an den des Konkreten, das Gedankliche an die Stelle des persönlich und räumlich Bestimmten. Wenn auch das Frühere vermöge seiner Eigengesetzlichkeit und der Traditionskraft, die allem religiös einmal Anerkannten innewohnt, weiterhin ein Dasein behält und oft in eine Spannung zu dem Neuen gelangt, so hat dieses Neue doch jetzt, aus den neuen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen hervor, deutlich und bestimmt seine wirksame Geschichte. Diese Bedingungen verstärkten sich noch, als nach und mit jener allmählichen Loslösung vom Acker das beginnende Mittelalter für den Juden schließlich auch die dauernde Scheidung vom alten Lande gebracht hatte und die Erez also für ihn ganz aufhörte, etwas Unmittelbares, Gegenwärtiges, in ihrem Dasein Erlebtes zu sein. Abgesehen von einzelnen glücklicheren Perioden, wohnt er nur noch in einem Lande, er ist in ihm ohne die persönliche Eingliederung in das große Ganze des Staates und seines Schicksals. Selbst die Stadt, in die er hineingedrängt wurde, bedeutete für ihn mehr und mehr nicht das lebendige Ganze; er war auch in bezug auf sie nur der Einwohner, in eine ihrer Gassen hineingeschlossen. Er war der Städter ohne die Stadt. Kein konkreter Boden war mehr da, und so mußte jener Zug, der zum Gedanklichen und Transzendenten hinführte, in der Religiosität noch mehr der bestimmende werden. Die mannigfache abstrakte Wissenschaft ist die Wirkung, die dann wieder mannigfach zur Ursache wird. Es scheint zwar ein entgegengesetzter Zug sich darzutun. I In seinen Arbeits- und Lebensverhältnissen war der Jude zumeist der Kleinbürger geworden, dessen Welt die Begrenztheit ist, dieser Besitzende in der Enge, dieser Mensch der kleinen KonkretheiL Die Frömmigkeit zeigt denn auch kleinbürgerliche Linien. Sie ist eine Gemeindefrömmigkeit. Die Sphäre, welche einst der Acker und das Land gewesen waren, sind jetzt die Gemeinde, die Synagoge und das Lehrhaus; sie sind für die Menschen der Wanderung und der äußeren Unsicherheit das Beständige in dem Wechsel. Auch ein Teil dessen, was als Talmudismus und Ritualismus bezeichnet wird, dieses Hinstreben zur Verästelung des Gedankens und zur Vervielfälti-

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gung der Übung, gehört in das Kleinbürgerliche hinein. Vielleicht, ja ein Wesentliches daran, ist zwar Ausdruck der inneren Logik, die zu immer weiteren Folgerungen notwendig hinleitet, und auch Ausdruck des eigentümlich jüdischen Zuges zum Zuendedenken und Zuendehandeln. Vieles ergab sich auch aus dem Gebote der Zeit, den Zaun um die Gemeinde zu errichten, aus diesem Erfordernis der Absonderung. Aber unverkennbar ist daran doch auch das Gepräge der kleinbürgerlichen Religiosität, die im Kleinen und Kleinsten eine Größe und Ganzheit bewähren will. Allein jener andere soziologische Faktor, der, welcher zum Transzendenten hinführen mußte, blieb doch der entscheidende und gestaltende. Er hat das Wesen dieser Frömmigkeit bestimmt. Denn die durch die Jahrhunderte gewordene religiöse Intensität war doch zu groß, als daß sie sich innerhalb der Grenzen der Gemeinde ihre Befriedigung hätte bereiten können. Sie suchte ihre Welt, in die sie hinausdringen, in der sie leben konnte, diese Welt, die sie in dem Gegebenen, Konkreten ihres I engen Daseins nicht haben konnte. Da ihr die Erde, die Erez nicht gewährt war, wurde der Olam, das Kosmische ihr Gebiet. Hienieden, in der Judengasse, wohnte sie, und dort, im Olam, lebte sie. Der mittelalterliche Jude, der Mensch mit den kleinbürgerlichen Linien, der Mensch der Gemeinde, der >>Kehilla«, ist im wesentlichen seiner Religiosität der kosmische Mensch, der Mensch des metaphysischen Ich. Eine kleinbürgerliche Natur, einer von der Art der Kleinen und Stillen im Lande ist er daher nicht geworden. Der eigenartige Reiz seines geistigen Antlitzes liegt in diesen scheinbar widerspruchsvollen Zügen. Auch der Charakter seiner Ethik zeigt sie auf. So sehr sie mannigfach das Gepräge einer Gemeindemoral, dieser Nachbarschaftsmoral mit ihrem Kleinen und Traulichen aufweist, so war doch die von altersher auch in ihr gesammelte innere Kraft zu stark, als daß sie darin ihr Genüge sich hätte bereiten können. Auch sie ist mit ihrem Wesentlichen im Olam, sie ist Unendlichkeitsethik, sie will kosmische Gründe und kosmische Wirkungen zu eigen haben. Es konnte desto mehr sich so gestalten, da der Jude des Mittelalters in gewissem Sinne staatsfrei war, der Staat ihn nur neben sich gestellt hatte. So war auch seine Moral nicht staatlich bestimmt, nicht an staatlichen Geltungen und Kompromissen orientiert; sie war nicht bloße bürgerliche und gesellschaftliche Moral, nicht diese Moral des Wohlverhaltens. Ihre Sphäre war bei all ihrem Kleinbürgerlichen die der Welt. Die Voraussetzungen und Umstände, aus denen heraus die jüdische Religiosität diese Richtung ins Transzendente erhalten hatte, begannen sich seit der französischen Revolution, vielfach in einer

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geschichtlichen Plötzllichkeit, umzugestalten. Diese neue Zeit schuf für den Juden in den meisten Ländern einen Boden, auf dem er nun nicht mehr nur wohnte, sondern lebte; sie gab ihm eine persönliche Verbindung mit dem Lande und eine persönliche Eingliederung in die Gesamtheit seiner Menschen. Sein Daseinsplatz und sein Daseinsumkreis waren andere geworden. Das alte Geschick wurde Freiheit. Er konnte nun wenn auch in ganz anderer Weise als ehedem, es empfinden, einen Diesseitsboden, eine Erez zu besitzen. So mußte der Olam, das Jenseitsgebiet, in dem er mit seiner Frömmigkeit bis dahin gelebt hatte, mehr und mehr zurücktreten und schließlich entschwinden, und für nicht wenige entschwand damit die Religiosität. Und für die, in denen sie vermöge der Traditionskraft blieb, gewinnt sie nunmehr weithin einen Diesseitscharakter, in einem ganz anderen Sinne allerdings, als er ehedem eigen gewesen war. Denn das Diesseits ist jetzt nicht mehr, wie einst, der Acker, der das Land und die Welt bedeutet; jetzt ist es das bürgerliche Lebensgebiet, dieses Gebiet des Kampfes um den Platz und auch des Kampfes um das Recht, der einen religiösen Ton gewinnen kann. Nur zu leicht wird die jüdische Religiosität jetzt dieser Sphäre, ihren Bedürfnissen, ihren Geboten, ihrer Weltanschauung angepaßt- eine bürgerliche Diesseitsreligion. Dazu kommt, daß aus dem Juden des Mittelalters zumeist auch wirtschaftlich ein anderer geworden war, aus dem Menschen der Enge, dem Kleinbürger, der Mensch der sich dehnenden Geräumigkeit, der Bourgeois. Und dieser wurde jetzt vielfach- wenigstens in Westeuropa- der Typus. Der Jude des Mittelalters war der Kleinbürger gewesen, aber in seiner Frömmigkeit war er in den I Olam, in das Jenseits und seinen Himmel hinausgezogen; der jüdische Mensch von jetzt war der Bourgeois, der auf der Erde blieb. Jene Spannung zwischen der Gasse des Diesseits und dem Unendlichen des Jenseits, die den Juden einst weit über seine Daseinssphäre hinausgehoben hatte, fehlte jetzt, und auch die Spannung der Umwelt, die soziale Spannung, die des Gegensatzes zwischen den Gesellschaftsschichten, trat in die Gemeinde nicht ein. So konnte die Religion nur zu leicht, in ihrer liberalen wie in ihrer orthodoxen Richtung, eine Bourgeois-Religion werden, mitallihrer Befriedigtheit und Problemlosigkeit, oft mehr ein häusliches Zubehör als eine religiöse Kraft. Aber auch hier hat es sich erwiesen, daß die Energie, die der jüdischen Religion innewohnt, eine zu große ist, als daß sie in dieser Enge bleiben konnte. Der Drang aus ihr heraus mußte mehr und mehr sich regen und sich dehnen und weiten. In doppelter Weise, beides auch zueinander hinlangend, hat er sich gestaltet: in dem

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Verlangen nach der alten Erez, dem alten Diesseits mit seiner Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit des Bodens, seinem Geheimnisvollen, seiner Kraft und seiner Poesie, und in dem Verlangen nach dem ewigen Olam, dem großen Zuge zum Jenseits mit seiner Gegenwärtigkeit, seinem Geheimnisvollen, seiner Kraft und seiner Poesie. In der Zeit, die so es sucht, leben wir heute.

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Religion und Erziehung

Einen Menschen erziehen, ist das Künstlerischste, was ein Mensch vollbringen kann. Der Erzieher wie der Künstler will >>bilden>Stoff«, der kein bloßer Stoff ist, kein bloßes willenloses Material, das erst durch die Form zu etwas Lebendigem, Sinnvollem werden soll, sondern sein Wunsch, zu bilden, ist einem Stoffe zugewandt, der schon von sich aus einen Sinn hat, dem schon eine Form, die sich gestalten und entfalten will, eigen ist, einem Stoffe, der nicht bloß Mittel des Ausdrucks, sondern schon selber Ausdruck ist, selber einen Zweck bedeutet. Sein Stoff ist die Seele des Menschen. Der Erzieher will eine Form, eine Individualität formen, er will eine Form zur Selbstverwirklichung, zur Selbstgestaltung bringen. Sein Werk ist daher etwas nie Fertiges, nie Abgeschlossenes. Er kann sich von seinem Werke zurückziehen, es seiner eigenen inneren Bestimmtheit, I seiner Kraft der Selbstentfaltung überlassen, aber er erfährt nie die Künstlerstunde, in der es beendet ist. Ein künstlerisches Vermögen ist auch alle Religiosität. Auch sie will bilden und formen, sie will einem Gegebenen, einem Stoffe, einen Sinn geben; sie will verwirklichen und erfüllen. Seinen Gegen-

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satz hat der religiöse Mensch im Philister, dem Menschen, der zu leben meint, schon wenn er etwas hat oder etwas tut, und der um keinen Wert seines Lebens, um keine Formung und Heiligung seines Daseins ringt, dem Philister in seiner mannigfachen Erscheinung, der des Besitzes oder des Vergnügens, der Arbeit oder der Bildung. Der Philister ist der irreligiöse Mensch, er ist der eigentliche >>Amhaarez,,; in diesem weiteren Gehalt hat das Wort Hillels doch recht: >>Ein Amhaarez ist nicht fromm.>Bereschith>Im Anfange>Väter und Söhne>Scham ihnDeine Kinder alle werden Jünger des Ewigen sein, und reich wird der Friede deiner Kinder sein«- >>geschrieben steht: banajich, deine Kinder, und das Wort sagt dir: bonajich, deine ErbauerNatur«. Dilthey und, nach ihm, Troeltsch mit ihrer großen Kunst, Wurzeln und Verästelungen in der Geistesgeschichte nachzuspüren, haben es aufgezeigt, wie er in seinem einen bestimmenden Sinn von der wieder entdeckten stoischen Philosophie herkommt und die Gedankenwelt der neuen Zeit durchzieht. Aber ihm gegenüber steht in gleichem und doch ganz anderem Wort der Begriff, der denselben Namen trägt und doch den völlig verschiedenen Inhalt hat, der Begriff >>Natur«, welcher aus der mittelalterlichen Theologie stammt und auch von Luther und seinen Nachfolgern aufgenommen ist. Hier bezeichnet er die Welt des Ungöttlichen, das Niedrige, Gemeine, das, was der Welt der >>Gnade>Natur>Natur>Gott im Innersten meines Wesens - das ist die Kraft der NaturSo verbindest du, erhabene Natur, in deiner Bildung meine Pflichten und meine Genießungen.« Alle Erziehungskunst ist daher hier die Gabe, die Natur des Menschen zur Entfaltung zu bringen; alle >>Organische Bildung« ist darin gegeben. Ein Wort von dieser >>Organischen Bildung>Sprüchen SalomonS>Erziehe den Knaben seinem Wege gemäß; auch wenn er alt wird, geht er dann davon nicht ab.>Wie man einen Knaben gewöhnet, so läßt er nicht davon, wenn er alt wird.>Seinem Wege gemäß>Natur>> reden, dort spricht die Bibel, wie in diesem Satze so auch sonst, von dem Wege; Levi Ven Gerson erläutert denn auch in seinem Kommentar zu den Sprüchen unser Wort >>Weg>NaturWeg>Natur>Laß mich deine Absichten wissen.>Sie sollen den Weg des Ewigen wahren: zu üben Gerechtigkeit und Rechtmit Gott gehenWegdas Werk der Gerechtigkeit« sind. Wert und Bestand sind dem Frieden, dem innern wie dem äußern, nur durch die Forderung der Gerechtigkeit bereitet. Eine gewisse Ähnlichkeit mit der bloßen Nächstenliebe, derjenigen, welche nur Nächstenliebe ist, tritt hier hervor. Auch diese bleibt ohne die erfüllte Voraussetzung der Gerechtigkeit leer, bleibt bei allem, was sie tut, doch eigentlich ein bloßes Empfinden und Schwärmen. Und wie die Wohltätigkeit bisweilen dazu dient und nicht selten auch dazu dienen soll, ein Ersatz für die Gerechtigkeit zu sein, in dem Schuldenden, aber auch in dem Verlangenden die Forderung der Gerechtigkeit zum Schweigen zu bringen, ganz so kann der Frieden für den Satten und auch für den Hungrigen ein Surrogat der Gerechtigkeit werden. Er kann dazu führen und dazu nützlich sein, die Stimme der Gerechtigkeit zu beschwichtigen und stille werden zu lassen. Ohne das deutliche und ganze Gebot der Gerechtigkeit ist der Frieden nur ein schöner Schein, und vielleicht nicht einmal ein schöner Schein, da er zuletzt die mahnende Wirklichkeit vergessen macht. Ohne die Gerechtigkeit fehlt ihm die Verwirklichung. I Hier zeigt es sich, in welch entscheidendem Maße dieser wahre Friedensgedanke eine Kraft der Weltgeschichte ist. Ja es kann gesagt werden, daß durch ihn erst die Weltgeschichte ihren Gehalt und Sinn gewinnt. Das, was gemeinhin als Weltgeschichte erscheint, ist in seinem Ergebnis etwas Sinnloses und gewährt jedem Geschichtspessimismus ein Recht. Alles Ende und Ziel ist hier nichts anderes als ein

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immer wiederholter Untergang. Jedes Buch dieser Weltgeschichte dürfte dieses dunkle Wort in seinen Titel aufnehmen. Denn die letzten Ernten, von denen sie berichtet sind Ernten des Todes, das letzte Bild ihrer Felder ist immer wieder das eines Trümmerfeldes. Vor den rückwärtsgewandten Blick treten Ruinen der Reiche, welche geherrscht hatten, der glänzenden ZivilisaHonen und auch der großen Pazifismen. Die letzte Antwort gibt auch hier wieder ein prophetischer Satz, ein Satz des Jeremias, den der Skeptiker Erneste Renan gerne anführte: >>So mühen sich die Völker um ein Nichts und die Nationen um ein Entschwindendes und vergehen.« Ebenso sinnlos ist, was sich als der Verlauf dieser Weltgeschichte darlegt. Denn das, was sie die Jahrhunderte hindurch sehen läßt, ist doch nicht die Geschichte einer Menschenwelt, sondern nur die Geschichte verschiedener entgegengesetzter Völker; trotz aller aufgezeigten Beziehungen, Ähnlichkeiten und Wiederholungen bieten sich hier nur Teile dar, die für sich sind. Und es kann hier im Grunde gar nicht anders sein. Denn wie jeder Mensch ist jedes Volk ein Bereich für sich; es lebt sein besonderes Leben, es steht in seinen Grenzen und Bestimmtheiten, es ist zum mindesten in den Bezirk seiner Sprache eingefügt und eingeschlossen. Alle die verlschiedenen Völker sind zueinander gestellt im Nebeneinander, das meist nur dafür da ist, um immer von neuem gestört und zerstört, ein Gegeneinander zu werden. Auch der Gang dieser Geschichte ist so nicht nur sinnlos, sondern destruktiv, sie führt einen Weg durch Trümmer. Es fehlt in ihr das Aufgebaute, das Bleibende, die Einheit. Jeder Weltgeschichte, die derart nur Geschichte von vielen Völkern und Mächten und daher Geschichte bloß von Auseinandersetzungen, Kriegen und Friedenszeiten sein soll, geht in der Tat alles innerlich Verbindende und Gemeinschaftliche, alles Einheitliche, alles das also ab, was in Wahrheit erst die Weltgeschichte ausmacht. Einheit entsteht nicht durch Summierung und Verknüpfung vom Einzelnen; sie ist vielmehr immer Ausdruck und Ergebnis eines Schöpferischen. So ist der Kosmos als Schöpfung des einen Gottes eine Einheit; so bedeutet die sittliche Tat, so die Idee, so das Kunstwerk als Schöpfung des Menschen eine Einheit. Nur durch ein Schöpferisches kann auch die Geschichte eine Einheit besitzen und damit Weltgeschichte sein. Jedes sittliche Vollbringen, jedes geistige Durchdringen, jedes künstlerische Gestalten, alles also, was das tiefste Menschliche verwirklicht, schöpferisch das Unendliche in das Endliche eintreten läßt, eine Einheit, eine Harmonie, einen Frieden in die Welt führt, ihr einen Sinn gibt, das allein schaffi Weltgeschichte.

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Jedes Volk, jede Gemeinschaft, in der etwas von allen diesen schöpferischen Aufgaben lebt, ist weltgeschichtlich; jeder Mensch, der darin gebend und führend voransteht, ist eine weltgeschichtliche Persönlichkeit. Jede Leistung, die darin vollbracht wird, hat wahrhaft geschichtliche Bedeutung. Und Darstellung der Weltgelschichte ist Darstellung dieser Aufgaben in ihrem Werden und ihrem Weiterwirken, in ihrem Ruhen und Wiedererwachen, in ihren Niederlagen und Erfolgen. Eigentlichste Weltgeschichte ist daher die Geschichte der großen offenbarenden Religionen. Ihre Geschichte, soweit sie eben wirkliche Geschichte ist- nicht ihre weit umfangreichere Kirchengeschichte, die nur ein besonderes Gebiet der politischen Geschichte bezeichnet -, ist wahrhaft konstruktiv, Einheit schaffend und darum weltgeschichtlich, Friedensgeschichte. Die letzte vollendende Schöpfung, diese Harmonie, in der sich die ganze Menschheit formt und eint, ist das ZukunftszieL Den Weg dahin, diese Geschichte der Welt, bezeichnet die Anerkennung und die Erfüllung aller Aufgaben, die diesem Ziele gelten. Und die Führenden auf diesem Wege sind die Aufgaben, die Gebote und die Ideen der wahren, der positiven, der sozialen, messianischen Gerechtigkeit, die in der Menschheit ihre Verwirklichung finden; denn sie schaffen am innerliebsten und stärksten menschliche Gemeinschaft, diesen Ausdruck menschlicher Einheit. Die nur verbietende, negative Gerechtigkeit schützt Menschen und Völker in ihrem Nebeneinander; diese fordernde, positive, diese soziale, messianische Gerechtigkeit vereint Menschen und Völker, sie ist wahrhaft geschichtlich. Weltgeschichte ist vor allem Geschichte dieser Gerechtigkeit. Es ist die große Bedeutung des prophetischen, messianischen Gedankens, daß durch ihn zuerst aufgezeigt worden ist, was wahre Weltgeschichte ist, wie sie ihren Sinn in der Einheit der Aufgabe, diesem wahren Frieden gewinnt, und wie das Bewegende in ihr die Gerechtigkeit ist, diese Bewegung zum Ziel des Friedens hin. Als I letzter Sinn und Ausdruck der Weltgeschichte ist dies hier erkannt worden. Hiernach, von diesem messianischen Standpunkt allein kann auch die Frage beantwortet werden, welche geschichtliche Bedeutung einer Zeit zukommt, welches ihr Platz im Leben der Menschheit ist.

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Volksreligion und Weltreligion

Es ist immer wieder versucht worden, die Religionen in ihrer ganzen weiten Mannigfaltigkeit und doch auch in einem deutlichen Zusammenhang dadurch vor den Blick zu führen, daß in ihnen einzelne Gattungen aufgezeigt wurden, in die sie eingeteilt und eingeordnet werden konnten. Nur wenn Gemeinsames oder wenigstens Verbindendes in der Fülle des Verschiedenen entdeckt war, wurde es, schon durch den Vergleich, möglich, das Eigentümliche und Wesentliche der einzelnen Religion hervortreten zu lassen und so ihren Platz nicht nur zu beschreiben, sondern zu bestimmen. Ohne solche Begriffe, zu denen sich die zahlreichen Besonderheiten zusammenfügen, würde die Darstellung der Religionen in der Tat weniger zu einer eigentlichen Geschichte als zu einem bloßen Verzeichnis werden, und man müßte dann jenem Worte, welches Max Müller scherzhaft und doch im Ernst auf die Religionen anwandte: »Wer eine kennt, kennt keine« das andere anschließen: >>auch wer nur alle kennt, kennt keinenatürliche>ursprüngliche, allgemeine Muttersprache« noch heraushören zu können. Wenn so im Eigentlichen alles eines sein sollte, wenn es so nur Wege des Zusammenhangs gab, so bedurfte man keiner Linien der Einteilung. Erst als, vornehmlich dank Herders Erkenntnissen, sich der Sinn für die selbständige Eigentümlichkeit jedes menschlichen Gebildes und so auch jeder Religion zu schärfen begann, mußte sich damit auch das Erfordernis einstellen, in allen diesen besonderen Formen bei allihrer Verschiedenheit das Gleichartige und Ähnliche zu suchen, um sie alle planmäßig aneinanderzufügen und anzuordnen. Als einer der ersten hat Hegel es so unternommen; er hat seinem System gemäß die geschichtliche Mannigfaltigkeit der Religion in aufsteigende Begriffe, von dem der Naturreligion bis zu dem der absoluten Religion hinauf, gefaßt. Seit ihm, und zumeist durch ihn beeinflußt, sind dann, von den verschiedenen Voraussetzungen aus, immer wieder I andere Gedanken für diese Gliederung bestimmend geworden. Bald gingen sie von den Familien der Sprache oder auch von den Völkergruppen aus, bald wieder von der Richtung, welche die Entstehung einer Religion ihr gewiesen hat. Dann wieder sollte die Art, in welcher der Glaube sich aussprach und sich darstellte, auch der Bereich, den er beanspruchte, maßgebend sein, oder auch der seelische Bezirk, Geist, Wille, Gefühl, aus dem er hervorzukommen schien. Fast jeder Forscher bereitete sich nun gern, als neuer Hegel, den eigenen Grundriß und die eigenen Maßstäbe für die Schilderung der Religionen. Unter diesen zahlreichen Prinzipien darf eines besonders hervorgehoben werden, weil es oft wegweisend, aber ebenso oft auch irreführend geworden ist. Es ist das, durch welches Landes- oder Volksreligionen und Weltreligionen einander entgegengesetzt werden. In einer Abhandlung der >>Theologischen Quartalschrift« hat Johann Sebastian Drey, einer der Begründer der katholischen >>Tübinger Schule«, es 1827 zum ersten Male aufgestellt, und einen bleibenden Platz in der Wissenschaft von den Religionen hat ihm dann ein richtunggebender Mann, der Holländer Abraham Kuenen, in seinen Hibbert-lectures von 1882 bereitet.

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Die Begriffe, die dieser Einordnung zugrunde liegen, sind nicht so eindeutig, wie es zunächst erscheinen mag. Besonders in dem Begriffe der Volksreligion können verschiedenartige Inhalte beschlossen sein. Es kann mit ihm vorerst die Tatsache bezeichnet werden, daß eine Religion ihre Bekenner in einem bestimmten Volke gewonnen hat, so daß also diese beiden Kreise, Bekennerschaft und Volk, zusammenfallen. Hiermit wäre aber noch I nichts aufgewiesen, was einigen Religionen im besonderen zuzusprechen wäre. Diese Eigentümlichkeit, Volksreligion zu sein, kommt vielmehr den Religionen des Altertums bis zu seiner letzten Epoche, die im zweiten vorchristlichen Jahrhundert anhebt, insgesamt zu. Bis dahin waren sie alle ausnahmslos territorial und national bestimmt; von da ab begannen sie alle, soweit sie nicht in dieser Wende der Zeiten untergingen, diese Grenzen zu überschreiten. Auch die jüdische Religion bildet hiervon keine Ausnahme; sie auch fing damals an, über den Bezirk des jüdischen Volkes hinauszudringen, ganz wie sie schon vorher von dem Gebiete des jüdischen Landes unabhängig geworden war. Eine Einteilung, die von einem derart gefaßten Begriffe der Volksreligion ausgeht, scheidet daher weniger Religionen als Epochen; sie hat nicht so sehr einen sachlichen als einen historischen Wert. Im Begriffe der Volksreligion könnte es fernerhin liegen, daß eine Religion ihre besondere Ausprägung durch die Eigenart eines bestimmten Volkes erhalten hat. Aber auch hierin ist wieder nichts gegeben, was nur für eine Gruppe von Religionen kennzeichnend wäre. Für jede Religion, zumal für jede höhere, gilt es, daß sie von einem Volke, aus dem sie hervorgegangen oder zu dem sie hingelangt ist, durch seine naturhafte und geschichtliche Eigentümlichkeit ein Charakteristisches empfangen hat und immer wieder empfängt. Darum ist auch jede Religion, deren Bereich sich über viele Völker erstreckt, bei aller Einheit der Lehre und aller Gemeinschaft des Glaubens, in diesem Sinn eigentlich ein Gliederturn aus vielen Volksreligionen. Sie ist insofern, wenigstens in ihren einzelnen Teilen, national und territorial belschränkt Bei allem Gleichen ist so z. B. der spanische Katholizismus ein anderer als der deutsche, der schweizerische Calvinismus ein anderer als der schottische, der japanische Buddhismus ein anderer als der indische. Jede Religion der Gegenwart bietet die Beispiele für solche volkhafte und landschaftliche Ausprägung. Und es kann auch hier wieder auf das Judentum hingewiesen werden. Bei aller Gemeinschaft im Geistigen und nicht unwesentlich im Blute tritt doch innerhalb seiner Ganzheit dieses Mannigfaltige und Verschiedenartige, wie es durch die einzelnen historischen und kulturellen Bezirke geschaffen worden ist, nicht weniger als in anderen univer-

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sellen Religionen hervor; seine weite Erstreckung im Räumlichen und im Zeitlichen wirkt sich hierin aus. Wahrscheinlich ist auch fast jede Religion vielfach gewissen klimatischen und geophysischen Bedingungen unterworfen, so daß sie dadurch Züge einer Landesreligion erhält. Es müßte denn ein Zufall sein, daß sich die Herrschaftsbereiche der katholischen und der protestantischen Kirche nach allen Kämpfen schließlich in Grenzen solcher Art festlegten, oder daß der Islam trotz allen immer wieder unternommenen und so oft siegreichen Vorstößen doch zuletzt in seinem erdhaften Grundgebiete bleiben mußte. Das, was die Anfänge einer Religion umhegt hat und formen half, beherrscht und beschränkt offenbar auch ihre weiteren Wege. Es wird dadurch auch begreiflich, daß eine Religion ihre Daseinsmöglichkeit oder ihre Wesensart verlieren kann, wenn sie in einen ihrem Ursprung fremden Boden umgepflanzt werden soll. So würde ein Buddhismus in Europa, zumal im mittleren oder nördlichen, alsbald vertrocknen, während allerdings andererseits das Judentum in einem Maße, wie I kaum eine andere Religion, sich einem klimatischen Wechsel und auch sonstigem Wandel gewachsen erwiesen hat. Umgekehrt wieder wirkt die Geschlossenheit eines weiten geographischen und kulturellen Raumes mit der Gleichheit seiner Atmosphäre verbindend und vereinheitlichend auf die verschiedenen Religionen, die darin wohnen, und schaffi gewissermaßen eine Volksreligion. Einst war es so in dem Mittelmeerreiche des imperium romanum erkennbar gewesen, und noch mehr zeigen heute die Vereinigten Staaten, wie sehr ein Gebiet allen Religionen, die in ihm sind, einen gemeinsamen Zug zu geben vermag. Die so oft geschilderte Harmonie der Religionen in diesem Lande wird dadurch verständlich; ihr Grund ist, neben einer Harmonie der Interessen, welche sich geltend macht, doch auch darin zu finden, daß sie alle in gewissem Sinne >>denominations« einer großen Volksreligion, der einen großen amerikanischen Religion sind. Hieran wird es wieder sichtbar, welche Vieldeutigkeit der Begriff Volksreligion deckt. Dazu kommt, daß ihm, nach einer anderen Richtung hin, die genügende Abgrenzung gegen einen Begriff fehlt, der für die Biologie und Geschichte der Religion wichtig ist, gegen den der Stammesreligion. Jede menschliche und auch jede religiöse Gemeinschaft, die sich über den Kreis der Familie und Sippe ausgedehnt hat, beginnt als Stamm; er ist überall das ursprüngliche Gesamtgebilde. Zwischen ihm und dem Volke besteht keine eigentliche, begriffiiche Trennung; der Unterschied zwischen beiden ist höchstens ein quantitativer, aber kein qualitativer. Den wesenhaften Gegensatz zum Stamme und sei-

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ner Daseinsform bildet erst der Staat. Ein Stamm hört auf, Stamm zu sein und das Stammesleben zu führen, dadurch allein und dadurch I immer, daß er ein Staatsgefüge schaffi oder in ein solches eingegliedert wird, dadurch also, daß er eine eigene staatliche Bestimmtheit oder Anteil an einer solchen gewinnt. Im Staate endet sein Stammestum, hier wird er in genauem Sinne zum Volke. Der Staat macht das Volk, nicht umgekehrt. Ein Volk ohne Staat bleibt, so zahlreich es wird, ein Stamm. Das Entscheidende ist immer der entstehende oder aufnehmende Staat. Durch ihn wird der bloße Raum der Existenz, der für den Stamm charakteristisch war, zur Stätte der Geschichte, wie sie eben der Staat erst werden läßt. In ihm verliert auch die alte Religion des Stammes die besondere Art der Stammesreligion, sie erhält das geschichtliche, staatliche Gepräge an Stelle des Familienhaften und Sippenhaften, durch das sie bisher gekennzeichnet war. Erst diese Religion, die sich im Staate und durch ihn formt, die in ihm und durch ihn ihren Boden und ihren Horizont hat, so daß er ihr gleichsam Erde und Himmel zuteilt, die von seiner geschichtlichen Erstreckung und seinem geschichtlichen Lose die eigene Geschichte, von seiner Kraft und seiner Schwäche das eigene Schicksal erhält, erst die Staatsreligion hat ihre genauen Merkmale, die nur ihr zugehören. Nicht der alte Begriff der Volksreligion, sondern dieser andere der Staatsreligion ist der charakteristische und für die Einteilung wesentliche. Von ihm aus gewinnt dann auch der einer Weltreligion seine deutliche Beziehung und seinen klaren Inhalt. Der Begriff der Weltreligion ist nämlich richtig gefaßt und fest umrissen, nur wenn auch er rein qualitativ bestimmt wird, wenn er daher nicht, wie es häufig geschieht, im Sinne des Extensiven, sondern ganz in dem des Intensiven genommen wird. Nicht auf Erfolge der Eroberung, I nicht auf die Größe und Weite der Zahl der Gläubigen, sondern auf die Form, die Idee des Glaubens kommt es hier an. Der Erweis dafür, daß eine Religion als Weltreligion anzusprechen ist, darf nicht von dem Siege der Ausbreitung, von dem Raume der Ausdehnung hergeleitet werden, sondern nur von dem Besonderen ihres Charakters. Nicht die Erstreckung, der Umfang, sondern der religiöse Inhalt, das Wesen ist das Entscheidende und Kennzeichnende. Die Weltreligion darf daher nicht der Volksreligion gegenübergestellt werden, so daß sie als die Religion erscheint, welche die Grenzen eines Volkes zu überschreiten vermocht hat. Das Universelle tritt überhaupt nicht eigentlich dem Volkstum als solchem gegenüber - ein Volk als solches könnte sich in seinem Geistigen, Seelischen zu einem Weltvolk entwickeln-, sondern es steht gegenüber dem Staatentum, gegenüber dem bloß staatlichen Streben, das

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sich immer wieder nach dem Eigenmächtigen und Partikularen hin richtet. Und im charakteristischen Widerspruch ist die Weltreligion demgemäß zur Staatsreligion, zu dieser immer wieder politischen Religion, mag sie nun ihre Gestalt darin gewinnen, daß sie sich als Veranstaltung des Staates, oder darin, daß sie den Staat als ihre Veranstaltung erachtet. Alle Weltreligion bedeutet eine Unabhängigkeit von dem Politischen, ohne das es ein Leben des Staates kaum gibt, ein Hinausdringen über die Wege und Ziele des Staatlichen, über die staatliche Raison und die staatlichen Zwecke. Die Weltreligion zeigt den menschlichen Aufgaben den universellen, den überstaatlichen Bereich. An diesem Wesentlichen und Bestimmenden ist der Charakter der Weltreligion erkennbar. Alle Weltreligion hat zur Voraussetzung die Idee einer menschlichen Gemeinlschaft, d.h. einer Gemeinschaft des Menschlichen, welche über die Kreise, die durch die Staaten dargestellt sind, hinausgreift und sich über die Mächte, die in ihnen organisiert sind, erhebt. Eine Religion wird Weltreligion, wenn sie grundsätzlich, in ihrem Glauben und mit ihrer Forderung - auf dieses Qualitative kommt es hier mehr an als auf das Faktische -über die Grenzen eines Staates hinausgelangt, mag selbst der Staat ein Gefüge oder ein Bund von Staaten sein oder sich als eine in der Idee bestehende Staatengemeinschaft darbieten; eine Empire-Religion ist noch keine Weltreligion. In einem wird dieses Universelle daher zumeist seinen Ursprung haben. Wenn der Weg einer Religion nicht nur davon herkommt, daß sie dieses und jenes umgestalten wollte, sondern davon, daß sie der Aufgabe gewiß wurde, ein neues Prinzip in die Welt hineinzuführen, so ist damit zugleich gegeben, daß sie sich der ganzen Menschheit zuwendet. Vermöge dieses Prinzips, in welchem sich ihr Wesentliches ausspricht, ist sie universell; sie will eine neue Welt schaffen, in alle den neuen Geist und das neue Herz geben. Den eigentümlichen Unterschied kann ein Beispiel verdeutlichen. Die soziale Frage ist ein staatliches, staatsreligiöses Problem, wenn sie nur an der Gegebenheit eines Staates, an seiner gegenwärtigen Not und seinem gegenwärtigen Bedürfen orientiert ist, so sehr auch dies selbstverständlich eine große Bedeutung hat. Sie wird ein universelles, religiöses Problem, sobald sie am Menschentum und an dem bleibenden Gottesgebot, das diesem gilt, ihre Richtung hat. Hierin unterschied sich einst der Gedanke der Propheten Israels von dem der Gracchen in Rom, und hierin scheiden sich stets das soziale Verlangen der Weltreligion und das des Staates oder der Staatskirche, I so sehr diesem sein eigener Wert und seine Geltung zustehen. Am grundsätzlich Überstaatlichen, Universellen ist die Weltreligion gekennzeichnet.

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Wenn so Staatsreligion und Weltreligion einander gegenübergesetzt werden, so sind sie doch keine Gegensätze, welche einander dauernd ausschließen müßten. Vielmehr kann eine Staatsreligion im Wachstum ihres Prinzips zur Weltreligion werden, und es kann umgekehrt, und vielleicht häufiger noch, eine Weltreligion durch Abschwächung des Prinzips sich zur Staatsreligion zurückbilden. So ist, um von Europa zu sprechen, der Calvinismus, wie sehr er als Staatsreligion begonnen hat, vielfach ins Universelle emporgestiegen. Andererseits hat der Protestantismus in entscheidenden Zeiten davon Abstand genommen, Weltreligion zu sein, dadurch, daß er seine Aufgaben in die staatlichen hineinstellte; ihm wurde, nach der Formulierung von Troeltsch, >>der Zusammenfall des Kirchlichen und Politischen in dem Begriff einer christlichen Gesellschaft« eigentümlich. Dasselbe gilt von den griechischen Kirchen, auch in ihnen sind, und in noch höherem Maße, Staatliches und Religiöses eines geworden. Die Idee des Gottesreiches trat hier immer zurück hinter die des konfessionellen Staates. Erst durch ein geschichtliches Geschehen ist jetzt der russischen Kirche, und ebenso der protestantischen, ein Weg zur Weltreligion wieder geöffnet. Der römische Katholizismus hat in den meisten seiner Zeiten und seiner Gebiete den Charakter einer Weltreligion gewahrt; in den zahlreichen Kämpfen , die er gegen die staatliche Macht geführt hat, darf nicht ein Kampf um die Macht nur erblickt werden, auch ein Ringen um Recht und Aufgabe der universalen Religion ist darin sicherlich oft zu erkennen. Im Judenitum lebt von seinem Beginn, von seinen Propheten her, eine Weltreligion, und es hat sie, trotz manchen Tagen der Schwäche und der Müdigkeit, festgehalten, zumal die geschichtliche Fügung es über seinen Staat und seine staatliche Religion hinausgeführt hat. Eine ganz besondere Eigentümlichkeit besitzt es in einer Verbindung dieses Universellen, dieser Weite des religiösen Horizontes mit der historischen Bestimmtheit einer an sich festhaltenden religiösen Gemeinschaft, in diesem lebendigen Ineinander einer Gewißheit sowohl von der Würde der Weltreligion wie von dem Werte des Trägers der Religion. Es ist nicht zu verkennen, daß die Religionen heute mehr die Kraft des Universellen begreifen. Ungeachtet aller Rückbildungen zur Rassereligion, die das Religiöse in das Physische einordnet, und zur politischen Religion, die es in ein vorhandenes oder verlangtes Machtgebilde eingliedert, ist das Verständnis für das Menschheitliche in den Religionen lebendiger geworden. Als im vergangenen Jahrhundert wieder die Bedenken gegen die Verbindung von Staatlichem und Kirchlichem sich zu regen begannen, sprach darin vornehm-

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lieh die Sorge um den Staat, um den Schaden, den er litte, wenn er kirchliche Wünsche und Pläne zu den seinen machen wollte oder machen müßte. Es ist interessant, heute wieder Macaulays Essay über Kirche und Staat zu lesen, den er 1839 im Anschluß an das Buch des jungen Gladstone »The state in its relations with the church« geschrieben hat; die Fragen, die hier laut werden, sind an den Staat gerichtet. Heute ist es anders, heute wenden sie sich an die Kirche. Um der Aufgabe und um des Schicksals der Religion willen, die ihres Bleibenden und Ewigen wegen I sich von dem Wandel und den Schwankungen des Staates frei erhalten solle, wird vor der Verwobenheil mit dem Staatlichen gewarnt, wird das Überstaatliche oder wenigstens das Außerstaatliche verlangt. Damit tritt zugleich wieder die Bedeutung hervor, die darin gegeben sein kann, daß der Bürger des Staates und der Angehörige einer wirtschaftlichen Gruppe in eine universelle religiöse Gemeinschaft hineingestellt sind. Das Unvergleichliche erschließt sich, das neben dem gesellschaftlichen Zusammenschluß, welchen der Staat gewährt, und dem, welchen die Wirtschaft bewirkt, die Gemeinde einer Weltreligion zu eigen gibt. Um ein gutes Wort von Albert Görland, einem Schüler und Fortsetzer der Philosophie Hermann Cohens, aus seiner >>Ethik als Kritik der Weltgeschichte ... weder Ökonomie noch Staat ist Gemeinde, noch werden sie Gemeinde zu irgendeiner Zeit werden. Sie hat über ihnen und ewig vor ihnen voraus ein freies Reich . . . . Alles Leben der Gemeinde setzt voraus, daß die Unterschiede der Menschen, die von der Ökonomie und dem Staate hervorgebracht sind, nur Oberfläche und Wesenlosigkeit bedeuten. Fürst und Bettler sind in der Gemeinde Mensch, nichts als Mensch, sind Mensch in der Unendlichkeit der Würde.« Wir bedürfen dieser Gemeinde, auch schon, damit das immer unruhige religiöse Gewissen den Staat aus seinem so leicht beruhigten guten Gewissen erwecke, damit immer wieder das Gebot zu ihm spreche, das dem Menschen kündet, >>was gut ist und was der Ewige von ihm fordert«. Aber nur eine Weltreligion besitzt diese Gemeinde. Es ist wahr, von ihr geht so mancher, oft tragische Widerstreit aus. Der Mensch der Staatsreligion weiß von ihm I nicht, er hat es leicht. Denn er lebt in einem geistigen Bezirke nur, in dem einen Kreise, in dessen Bereich Geschichtliches, Politisches, Soziales, Religiöses, Zukünftiges allesamt eins und beschlossen ist; Gottesreich und konfessionelles Staatswesen gehen für ihn in seinem Denken und Begehren ineinander über. Der Mensch der Weltreligion lebt in der zweifachen Sphäre, in der seines Staates und in der seiner Religion; 161

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beiden gehört er durch Geschichte, Geschick, Wille, Arbeit, Treue, Hoffnung zu. Er ist auch hienieden gleichsam der Bürger zweier Welten. Und es ist wahr, es ist oft eine Spannung darin bewirkt, aber es ist die Spannung, aus welcher menschlicher und geschichtlicher Segen, Segen auch für den Staat, geboren wird. Und nur, wo es so zu eigen wird, ist eine Weltreligion.

Nachwort: Die Weltreligionen

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Dem Aufsatze >>Yolksreligion und WeltreligionMorgen>das Judentum heute nicht in dem gleichen Sinne Weltreligion sein kann, wie es das Christentum istein Jude Jude bleibt, wenn er Atheist oder Agnostiker ist«. In dieser Anlsicht ist sicherlich ein Richtiges. Im Judentum ist der individuellen Glaubensauffassung gemeinhin ein weiterer Raum gewährt als zumeist innerhalb des Christentums. So sehr hier die Grundgedanken der Religion feststehen, so hat ihr gedanklicher Ausdruck doch immer eine erhebliche Freiheit besessen. Wenn der Glaube sich aussprechen wollte, so hat er es, von sehr gelegentlichen Ausnahmen abgesehen, nicht in der Weise des begriffiichen Gefüges, sondern in der des Gebetes getan. Das Glaubensgebet mit dem oft vielgestaltigen, bisweilen auch vieldeutigen Sinn seiner Worte steht hier an der Stelle des geprägten Glaubenssatzes. Die Poesie gibt die Form des Bekenntnisses; es sei nur an die Dichtungen Gabirols und Jehuda Halevis erinnert. Wie sehr dem auch Männer entgegenkamen, die als Talmudisten ein umrissenes Denken zu fordern gewohnt waren, zeigt ein Responsum des Chacham Zebi (1656-1718), das eine Beschwerde zurückweist, welche die Londoner Gemeinde Schaare Schamajim gegen eine recht pantheistisch klingende Predigt ihres Rabbiners David Nieto erhoben hatte. Diese Duldsamkeit, ja Gelassenheit gegenüber dem Glaubensausdruck darf auch ganz allgemein ein gutes Recht haben. Denn wenn es irgendein Wort gibt, dem der deutliche Inhalt und die klare Umschriebenheit abgehen, so sind es die Worte >>Agnostiker>ehrfurchtlos gegenüber dem Göttlichen>Atheislmus>Atheisten>Atheismus>Atheisten>sich so gleichmäßig bewahrheite wie die Beobachtung, daß die Menschen nicht geneigt sind, dem Gottesdienste von Leuten beizuwohnen, welche weniger als sie selbst glauben, oder bei Wahlen für Leute zu stimmen, welche mehr als sie selbst glauben.>Ein Jüdisches, welches bloße jüdische Nation wie alle die anderen aufunserer Erde sein wollte und nicht das ••eine Volk«, von dem das Gebet spricht, das bedeutete die raldikalste Assimilation, eine Assimilation, die nicht den einen und anderen nur ergriffe, sondern das Ganze und Gesamte enteignete- ein expropriiertes jüdisches Dasein. Und wiederum ein Jüdisches, welches bloß die jüdische Idee sein möchte und nichts von ihrem Lebensträger wußte, nichts von der Daseinsbedingung und dem Daseinsgebot, das bedeutete eine Sterilisation, eine Versetzung in den luftleeren Raum -ein Judentum unter der Glasglocke.>Was ist Musik ohne die gute Tat!>fromme« Menschen, die so unbedingt den Krieg verdammen, die nur im Frieden den Sinn des Lebens vernehmen. Auch hier könnte daher das bittere, spottende Wort gesprochen werden, daß von hüben und drüben, auch für den Krieg und gegen ihn, Gott angerufen werde. Für die jüdische Religion will dieser Widerspruch zur Antwort werden. Denn es ist ihr Eigentümliches, daß in ihr die Gewißheit des Weges und die des Zieles, die Pflicht und die Sehnsucht eines geworden sind. Um seinen Weg, welcher vor ihm ist, weiß danach der Mensch dann allein, wenn er um das unendliche Ziel auch weiß, und um dieses letzte Ziel vermag er hier nur dann zu wissen, wenn er um den bestimmten Weg weiß, auf dem er dahin gehen, den er dorthin bahnen soll. Das ist das Kennzeichen des rechten Weges, daß er zu dem Ziele des Ideals hinweist und hinleitet, und daran wird die Echtheit des Zieles, des Ideales erkannt, daß zu ihm der deutliche Weg vom Menschen her und von seiner Aufgabe hinführt. Oder um es theologisch auszudrücken: es gibt hier nie die bestimmte Forderung des Tages ohne das Messianische und das Messianische nie ohne die bestimmte Forderung des Tages; jedes Gebot schließt die Verheißung in sich und jede Verheißung das Gebot. Daraus folgt, daß ein Gebot wahrhaft ein Gebot, das Gebot von Gott ist, nur wenn es die Bahn zur Erfüllung des Letzten bezeichnet, und daß ein Ideal wahrhaft ein Ideal, das Ideal von Gott her, ist, nur wenn sich in ihm die klare Aufgabe dessen, was wir jetzt tun sollen, an uns I wendet. In jedes wahre Gebot ist wie seine Voraussetzung die Gewißheit eingefügt, daß es der messianischen Erfüllung dient, daß es zu seinem Teile ein Schritt dahin ist; und in jeder Idee von der Erfüllung, in jeder messianischen Zuversicht ist es wie ein Wesensbestand, daß sie uns selber erst dadurch zugehört, daß sie an uns ein bestimmendes Gebot immer wieder richtet. Wie eine Einheit steht in dem Prophetenwarte zusammen: >>was gut ist und was der Ewige von dir fordert« - dieses Unmittelbare und dieses Unendliche.

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Hierin findet die Frage nach der Friedensaufgabe und der Friedensidee darum ihre Antwort. Die Friedensaufgabe darf nie die bloße gegenwärtige Nützlichkeit befassen, nicht in dem Tages- und Jahresgetriebe nur ihr Genüge finden, so daß Frieden dann nur eine gewisse Befriedung der jeweiligen wirtschaftlichen oder politischen Nöte in oder zwischen den Staaten bedeutet; sie wird religiös erst dadurch, daß sie dessen immer bewußt und durch das immer bestimmt bleibt, was von Gott als Ziel alles menschlichen Suchens und Ringens gesetzt ist. Und das Friedensideal darfnie bloßes Zukunftshoffen und -sinnen und damit bloßer Stimmungsgehalt werden, nie nur eine Musik und eine Erbauung bedeuten, so daß man hingeht, um am Frieden sich zu erheben und zu begeistern; das Friedensideal wird religiös erst dadurch, daß es unabweisbar dem Menschen sagt, was um des Friedens willen Gott ihm heute und morgen und immer gebietet. Alle religiöse Friedensaufgabe ist ein Arbeiten und Mühen, um Frieden im Nahen zu beginnen, damit der Weg zum Fernsten beschritten sei, ihn dem Menschen, dem Mitmenschen, zu erweisen, damit er der Menschheit einst zum Anteil werde. Um eine Aufgabe des Gegenlwärtigen und Persönlichen, die im Dienste der letzten Bestimmung steht, handelt es sich hier. Damit wird nun auch das Weitere erkennbar, weshalb der Krieg, obwohl Menschen mit dem ehrlichen Gedanken der Pflicht in ihn hinauszogen, doch nicht zum Guten zu sein vermag. Er kann es nicht, weil er kein Weg im sittlichen, im religiösen Werte des Wortes ist. Der Krieg ist kein Weg, sondern ist nur eine Richtung der Gewalt. Alles Gewaltsame ist weglos, sinnlos, weil es ohne Ziel ist. Gewalt führt nie über sich hinaus zu einem Ziele hin, sie führt immer nur zu sich selber zurück, zur Gegengewalt, ob diese nun sich im Verüben oder im Erdulden, im Aktiven oder im Passiven zeigt. Es ist hier wie ein steter Kreislauf der Gewalt, die sich vielleicht zuletzt in sich selber erschöpft, aber es ist kein Weg, der weiterführt, der zu einem letzten Sinn, zu einem wahren Ziele hinweist. Gewalt will immer nur unterdrücken oder zurückstoßen, um zu bestehen oder sich aufzurichten; sie befaßt keine Aufgabe, welche vorwärts leitet und sich fortsetzt, sie ist ohne die wahre Bestimmung. Der Krieg, diese eigentlichste Gewalt, hat ein Ende oder einen Zweck, aber er bleibt ohne Ziel. Und darum ist der Friede, der von den Kriegen an ihrem Ende und für ihren Zweck hingestellt wird, kein Friede. Er ist nur eine andere Form der Gewalt, die konservierende an Stelle der angreifenden; an den Platz des Krieges ist der Zwang getreten. Und Gewalt ist Gewalt, welcher Mittel sie sich auch bedient. Wenn Menschen diesen vermeintlichen Weg gehen, der doch in Wahrheit kein

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Weg ist, weil er ohne Ziel bleibt, und wenn sie Menschen ehrlichen Denkens und ehrlicher Motive sind, sie verstricken sich doch nur in das schmerzliche Geschick, daß sie, um dem zu I folgen, was sie für ihre Pflicht erachten, das Sinnlose, das Weg- und Ziellose, das Ungute, ja das Böse nur tun. Der Krieg führt nicht zum Frieden. Zum Frieden der Menschheit führt nur der Weg, welcher wahrhaft ein Weg, welcher allein der Weg ist, der des Zieles gewisse, der, aufwelchem Frieden geschaffen wird durch Gerechtigkeit und Liebe, durch die Arbeit jedes Menschen und jedes Volkes, die Arbeit aller für einander, für das Recht eines jeden auf seinen Lebensplatz und seine Lebensluft und auf Güte und Wärme -welch Garten Gottes hätten Stätten der Trübsal, Stätten ohne Licht und ohne Freude, werden können, wenn diesem wahren Frieden auch nur ein Teil der Opfer gewährt worden wäre, die dem Kriege und seinem vermeintlichen Frieden gebracht worden sind! Wie viel könnte aufgebaut werden, wenn nur ein Teil der Leben, die sich für den Krieg einsetzten, hinträte zu diesem Frieden, zu dem Beginne der Arbeit für den Nächstenfrieden, diese beste Nächstenliebe, damit einst Fernstenfriede werde, zu diesem Frieden, der die Zukunft anrufen darf, weil er den Tag aufruft, der den Tag fordern kann, weil er an der Zukunft festhält. So meint es das Wort >>Frieden>Schalom«. Es hat einen ganz anderen Inhalt, als dieses Wort sonst hatte; es hat neue Bedeutung überall in dieses Wort hineingetragen. Es besagt nicht bloß, wie anderwärts sonst, Unterbrechung oder Beendung des Krieges, Nichtkrieg, sondern es spricht ein Positives aus, ein unbedingt Bejahendes, ein Kategorisches, und das Gegenwort zu ihm ist daher Sünde, Selbstsucht und Härte, Lieblosigkeit und Machtverlangen, Unglaube und Dünkel. Friede, wie die Bibel dieses Wort gestaltet hat, bedeutet I die Wahrheit und Erfüllung des Gottesgebotes, die jedem zugesprochene Verheißung, die in dem Gebote ist, das an jeden ergeht. Wo Gebot und Verheißung ist, dort kann es die Spannung, das Problem und auch die Tragik geben, wie immer, wenn die Idee in den Menschen eintritt. Aber auch sie bringen zuletzt den Frieden. So spricht darum auch zu uns, trotz aller Frage und allem Leid, das Prophetenwort: >>Frieden, Frieden dem Fernen und dem Nahen, spricht der Ewige, ich heile ihn«.

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Wohlfahrt, Recht und Religion

Wenn von der Beziehung zwischen Wohlfahrtspflege und religiöser Lehre gesprochen wird, so ist dabei, was die Wohlfahrtspflege anlangt, natürlich nicht an ihre Methode gedacht. Die Methode ist eine Sache der Technik, und jede Technik wandelt sich mit den Fortschritten der Zeit. Der Zusammenhang, der hier aufgezeigt werden soll, erstreckt sich auf die Voraussetzungen, welche die Wohlfahrtspflege in der religiösen Lehre findet, welche die jüdische Wohlfahrtspflege im besonderen in der Eigenart der jüdischen Religion besitzt. Damit dieser Zusammenhang hervortreten kann, ist einiges vorauszuschicken. Es ist für die Frühzeit der Religion und der menschlichen Gesellschaft bezeichnend, daß das Religiöse von den wirtschaftlich bedingten Klassenzuständen abhängig ist, so sehr abhängig, daß die Religion vielfach eine Spiegelung der Klassenzustände ist. Ganz ebenso besteht umgekehrt eine gewisse Gebundenheit von Gesellschaft und Wirtschaft an die kultischen Gestaltungen jedes Gebietes und jeder Zeit. Die Entwicklung von Religion und Gesellschaft besteht sehr oft, ja zumeist darin, daß sie beide diese gegenseitige Beziehung lockern und lösen, daß also die selbständigen Kräfte, die im Gesellschaftlichen und Wirtschaftlichen liegen, der Rationalismus, der darin gegeben ist, mehr und mehr zu einer Verselbständigung des Wirtschaftlichen und Gesellschaftlichen führen, und daß wiederum die Religion sich auf das rein Religiöse zu begrenzen strebt und sich von allen Verbindungen mit dem Gesellschaftlichen und Wirtschaftlichen mehr und mehr löst. Aber diese Trennung und Lösung ist bei den einzelnen I Religionen verschieden. Man kann, wenn man die Eigenart der Religionen nach dieser Richtung hin kennzeichnet, zwei Typen des Religiösen unterscheiden: die prophetische Religion und die Erlösungsreligion. Im Wesen der prophetischen Religion liegt es, daß sie als Aufgabe und Ziel erkennt, bestehende Verhältnisse umzugestalten, das

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Daseiende zu einem Seinsollenden hin umzuwandeln, das Reich der Menschen zu einem Reiche Gottes werden zu lassen. In der prophetischen Religion liegt darum immer - Mommsen hat das in bezug auf das Judentum gesagt - ein gewisses >>Ferment der Dekomposition«. Sie enthält einen Gärungsstoff, etwas, was immer wieder das Bestehende, das im Ruhezustand Befindliche in Bewegung und in Unruhe versetzt. Von der Zeit an, in der die prophetische Religion in die Welt eingetreten ist, ist es im Gesellschaftlichen, im Sozialen mit der Ruhe der Welt vorbeigewesen. Die Forderung, umzugestalten, die Forderung, das Menschliche, Allzumenschliche zu dem werden zu lassen, worin der Gottesgedanke und das Gottesgebot zum Ausdruck kommen, ist in der Tat ein stetes Element der Unruhe, ein Faktor der Dekomposition, des Auseinandergliederns, damit die Komposition, die wahre Gliederung, der wahre Organismus, die wahre menschliche Gesellschaft und Gemeinschaft hergestellt werde. Dem gegenüber ist der andere Typus des Religiösen die Erlösungsreligion. Sie will nicht umändern und umgestalten, sondern will den einzelnen Menschen erlösen, und sie stellt darum als wesentlich und entscheidend nur die Beziehung des einzelnen Menschen zur Gottheit hin. Die Menschenseele und ihr Gott, das und nichts Weiteres ist der eigentliche Inhalt der Erlösungsreligion. Darum ist I sie verhältnismäßig gleichgültig gegen die Zustände auf Erden. Was bedeuten diese Zustände auf Erden, durch die der Mensch siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre hindurchschreitet, gegenüber der Ewigkeit, deren Los für ihn davon abhängt, ob er erlöst wird oder nicht? Was hat es für eine Bedeutung, daß der Mensch sich mit den Verhältnissen dieser Erde befaßt, wenn er dadurch von dem einen Gedanken, der der entscheidende ist, abgezogen wird, dem Gedanken seiner Erlösung, der Frage: >>Wie werde ich armer, sündhafter Mensch erlöst?das Priestertum und das Heiligtum« gegeben, jedem die Priesterpflicht auferlegt. Das, was der Mensch schaffi und bereitet, sein tägliches Tun also wird hier ein Bestimmendes; in der Erfüllung des Gebotes wird die Gnade empfangen, in der Verwirklichung des Guten bewährt sich der Glaube, glaubt er gewissermaßen sich selber. Und dieses Gebot ist, da es dem Heiligen, dem Göttlichen gilt, ohne Ende, es dehnt sich ohne Grenzen; es ist nie in seinem Letzten, in seinem Ganzen erfüllt. Das alles ist in ihm, was Paulus als quälend empfunden hatte. Und auch das alles kann darin sein, was man oft als das Pharisäerturn bezeichnen wollte, das, was man heute gern den Aktivismus des Judentums nennt; die Religion droht zur bloßen Religion der gebotenen Tat zu werden, ihr Wesentliches scheint mehr in eine Breite als zur Tiefe zu führen, das Ethische, so wichltig und wertvoll es ist, bisweilen das eigentlich Religiöse zurücktreten zu lassen. Um so mehr, da das Gebot oder wie man hier, freundlich bisweilen und zumeist im Unfreundlichen, sagte, das >>Gesetz>Von Geschlecht zu Geschlecht«, das menschliche Abbild des anderen, »von Ewigkeit zu Ewigkeit«, das von Gott ausgesagt ist, ist hier das Wort des Betens, des Sinnens, des Hoffens geworden. Immerwiederward eines darin gewährt: die innere Freiheit gegenüber dem Erfolg, gegenüber der Geltung des Jahres, diese Ironie der Distanz wie dieses Pathos der Distanz, und ebenso, meist untrennbar davon, das andere: die heilige Unzufriedenheit und der heilige Zorn, dieses Leiden unter einer bestehenden Welt, diese Verwerfung dessen, was sich schon vollkommen dünkt. So manches, was am Juden und auch ihm selber nicht selten mißfallen darf, ein gewisses Weltverbesserertum, ein Meinen, über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinwegsehen zu können, bis schließlich zu einem ewig besserwissenden und ewig besserwollenden Literatenturn und Politikerturn hin, hängt hiermit zusammen. Aber in seinem Ganzen und Wesentlichen erkannt, ist hier ein eigentümlich Wertvolles, eine eigentümliche Mischung von gesetzlich Konservativem und vorwärtsdrängend Gläubigem; sie ist, ähnlich wie z. B. für die calvinistische Welt, für die Gemeinde des Judentums bezeichnend. Der Blick auf die Jahrtausende des Judentums zeigt es so; aber der auf das letzte Jahrhundert scheint doch anderes sehen zu lassen. Es ist in der Tat ein Besonderes, das damals die Gemeinde des Judentums erfahren hat; ein Entscheidendes der Geschichte begann damals zu ihr zu sprechen. Ein Auszug aus den alten Lebensverhältnissen, der Eintritt in neue Beziehungen, eine neue Eingliederung

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hob an. Die neue Umwelt fing an, auf die Eigenwelt, auf die innere Welt zu wirken. Neues Denken, neues Empfinden, neues Hoffen, eine neue Zunge auch I war gefordert. Man kann von dem allen nicht erzählen, ohne immer wieder dieses Wort >>neu« zu gebrauchen. Es war eine Umwälzung, wie sie selten von einem Menschentum verlangt worden ist, gleichsam ein Klimawechsel sondergleichen; er hat eine Krisis sondergleichen für den Juden gebracht. Der alte Bezirk seines Lebens, die alte Form seines Gottesreiches auf Erden, seines Hauses, seiner Gemeinde hörte auf. In dem bürgerlichen Lebensgebiet, in das er nun gestellt war, ergriff ihn ein Diesseits und griff nach ihm mit klammernden Organen. Er, der bis dahin ein Mensch jenseits der Stände, in seiner eigenen Exklusivität gewesen war, wurde nun ein bürgerlicher Mensch, und auch seine Religion schien mehr und mehr sich zu verbürgerlichen, schien mehr und mehr nun verdiesseitigt zu sein. Viel von dem Konservativen seiner Art wollte jetzt verschwinden, um so mehr, da sich in vielen Ländern die konservativen Mächte und Gruppen gegen ihn stellten. Von dem alten reizvollen Ineinander, das für sein Wesen bezeichnend gewesen war, dem von Gläubigkeit und Intellekt, von Naivität und Dialektik, versank nur zu oft das Naive, das Gläubige, und es blieb die bloße Fähigkeit, die bloße Intelligenz, oft nur der bloße Witz. Und noch mehr als das: gemäß dem Gesetz der Verdrängung wurde durch all das Neue nun dem, was bisher Generation um Generation die Seele des Juden erfüllt hatte, der Religion, ihr Raum beengt. Ihr drohte der Bereich versagt zu sein. Und für den Juden bedeutete das mehr als für den Menschen sonst; denn sie war durch die Jahrhunderte zum Eigensten seines Lebens, seines Wesens geworden. Ohne sie wurde er nur zu leicht ein Mensch mit einem Zwiespalt in seinem Innersten, und wie meist dann, wenn ein Seelisches verdrängt wird, I wurde oft eine Unsicherheit und Unstetigkeit, eine Hinwendung zum Übersteigerten bisweilen mit ihrem Erschütternden, bisweilen mit ihrem allzu Gewöhnlichen zum Geschicke seines Gemüts. Es war eine Krisis, oder, um es religiös zu sagen, eine Prüfung sondergleichen. Sie hat, wie es jeder wahren Prüfung eignet, eine Aufgabe sondergleichen gebracht, die Aufgabe voller Geschichte, das Alte im Neuen zu besitzen. Sie lösen, das ist eine Wiedergeburt. Wenn der Blick der Liebe deutlich sieht, und Liebe macht ja sehend, hat diese Renaissance des Judentums begonnen, dieses Sichbesinnen in anderer Welt, dieses Sichentdecken in anderer Zeit, dieses Sichzurückholen in neuen Tagen. Die verdrängte alte Kraft ist wieder zur Kraft der Seele geworden; Menschen haben sich wieder zu den Gründen ihres Le-

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bens, die in die Jahrtausende reichen, zu dem Unbedingten ihres Wesens zurückgefunden. Der alte Gedanke von der Heiligung Gottes und von seinem Reiche hienieden ist wieder Leben und Wirklichkeit geworden. Der große, der heroische Zug beginnt wieder zu bezwingen, hier in neuem Denken aus altem Geist, hier in neuer Arbeit auf altem Boden, und beides will vielfach seine Einheit erfahren. Auch zu so manchem Volke hat die Geschichte damit ein neues Wort gesprochen, das Wort von einem neuen, einem großen Möglichwerden, das ihnen in der Gemeinde des Judentums gewährt ist. Es will scheinen, als spräche es in der Gegenwart vernehmlicher, nachdem vorher die Prüfung, mit der das Judentum rang, so selten dem Mitempfinden und dem Verstehen, so oft der Gleichgültigkeit und der Kälte begegnet war. Im Judentum ist eine Kunde aus alten Tagen, daß auch Völker und Staaten vor den Richterstuhl Gottes gerufen werden für das, I was sie getan, für das, was sie verabsäumt. Es ist aus jener Poesie der Jahrtausende, aus dem großen Mysterium, von dem der Römerbriefin seinem vielleicht ergreifendsten Satze spricht, daß die Völker der Erde werden Rechenschaft ablegen müssen für das Geschick der Gemeinde des Judentums in ihrer Mitte an diesem Tage des Gerichts >>teste David cum Sibyllakleinen Leute« ferngehalten. Diese unpathetische Art ist für das Judentum um so kennzeichnender, als sie ihren Grund auch in einem ganz Eigentümlichen hat, durch das sich das Judentum unterscheidet und doch auch wieder über sich hinaus besonders wirksam wurde, darin nämlich, daß es eine Religion des Gebotes und der Tat, oder, wie man gern auch absprechend zu sagen pflegt, eine Gesetzesreligion ist. Das Wort,

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auch das des Bekenntnisses, der Glaubensausdruck überhaupt, hat in ihm geringeres Gewicht als das I Tun. Gott, der Eine und Einzige, der Schöpfer des Alls und der Schöpfer des Menschen, der Gebietende und Versöhnende- in diesem Einen ist alles gekündet, aber jede Rede davon ist nur ein Versuch, das Unaussprechbare aussprechbar zu machen. Die letzte Vergeblichkeit alles dessen ist hier so sehr empfunden worden, daß man das alte Wort für den ewigen Gott mit Schweigen bedeckte. Für den Menschen, der seinen Weg hienieden sucht, wird vor allem die Tat, die das Gottesgebot erfüllt, zur Bekundung von Gott. Darum steht hier Gott vorerst als der Gebietende, der Fordernde vor dem Menschen, und ein großes Ernstnehmen kommt damit in die Religion. Die Selbstverständlichkeit der Aufgabe, im Religiösen etwas zu verwirklichen, sich nicht mit dem Bekenntnis und nicht mit der Stimmung zu begnügen, von sich und von anderen etwas zu fordern, ist so der entscheidende Charakter der Religiosität geworden. Das starke und stete >>du sollst« ist hier lebendig und bedeutet ein Eigenes gegenüber der Art, die den Glauben haben und doch zu nichts oder wenigstens nur zu einem Geringsten verpflichtet sein will. Es ist wahr, daß diese Religiosität der Tat nicht selten mehr in die Breite zu gehen als aus der Tiefe zu kommen, die Religion damit eine praktische zu werden scheint, aber das Eigentliche bleibt doch, daß hier eine Religion mit einem Mindestmaß des gemeinhin Gebenden, ohne Sakrament und ohne Jenseitsmittlung, und mit einem Höchstmaß des Fordernden vor dem Blick steht. Ihre Besonderheit gewinnt diese gebotene Tat hier dadurch noch, daß durch sie der religiöse Gedanke der Gerechtigkeit, dieser positiven, sozialen Gerechtigkeit, der Gedanke der Verpflichtung gegen den Mitmenschen, I der Anerkennung des Anspruchs, den er als Mitmensch hat, seine Erfüllung erhalten soll. Auch der Tat des Menschen mit all ihrem Täglichen will damit der messianische, der große Zug zu eigen werden. Sie darf um ein letztes Ziel wissen und wird damit einerseits über das Augenblickliche und Zufällige, andererseits über das Herablassende und Almosenhafte herausgehoben. Die Idee der großen Verpflichtung, welche dem Menschen zukommt, ihm, dem >>es gekündet ist, was gut ist und was der Ewige fordert«, kann hier lebendig bleiben. Es kann verhütet werden, daß die Gerechtigkeit trivialisiert und daß sie durch das bloße Wohltun abgefunden oder beschwichtigt wird. So sehr in der jüdischen Gemeinde, und immer über sie hinausreichend, die Wohltat geübt und das alte Verlangen, den Zehnten dem Bedürftigen zu geben, grundsätzlich festgehalten wird, das Kennzeichnende ist hier nicht das Wohltun als solches, sondern die Idee der Gerechtigkeit, die sich darin 203

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offenbaren will. Die Selbstverständlichkeit alles Sozialen ist damit gegeben, wenn auch mit den mancherlei Gefahren chiliastischer Art besonders in bewegten Tagen. Sie ist ein Bedeutungsvolles in dieser Religion. Nahe hierbei, für viele wohl befremdend nahe, steht das, was das Wort »Gesetz>Gesetz,, seine besondere Geltung. Eines in ihm, der Sabbat mit seinem >>Gesetz,,, hat vor allem sein Eigenes. In seiner Idee wie in seiner Wirklichkeit ist er ein anderes als der bürgerliche Rasttag; er ist ein Tag, der allen, welche die Arbeit trennt, in der Ruhe eine Gemeinsamkeit, eine Gleichheit gibt, ein Tag des Atemschöpfens der Seele, der Zurückholung des Menschen aus dem Alltag. In ihm ist ein Beispielhaftes dafür, daß der Mensch zu ruhen vermag und nicht bloß auszuruhen, sich wiederzufinden und nicht bloß stillzustehen, daß es ihm, ohne alle staatliche oder gesellschaftliche Zurüstung, gegeben sein kann, sich und seinem Hause einen Sabbat zu schaffen, einen Bezirk der Poesie in seinem Dasein. Es ist ein religiöser Verlust, wenn das vergangene Jahrhundert innerhalb des Judentums diesem Gesetz und diesem Sabbat oft viel von seinem Wesentlichen genommen hat. Dieses letzte Jahrhundert war für die Juden eine Zeit der Umwälzung: die Lebensverhältnisse haben für sie eine Umgestaltung erfahren, wie wohl nirgend anders Menschen sie bestehen mußten, und das sich wandelnde Äußere hat auf das Innere zurückgewirkt. Durch all das Neue, das in den Kreis des Gesichtes und des Geistes trat und neues Denken, oft auch neues Empfinden forderte, wurde dem, was bisher Geschlecht um Geschlecht die Seele erfüllt hatte, mehr und mehr der Platz beengt oder genommen. Das seelische Gefüge, das Jahrhunderte hinldurch das innere Leben bedeutete, wurde verdrängt, und es geschah, was immer geschieht, wenn ein Seelisches, aus dem die Seele des einzelnen herausgewachsen ist

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und das in ihr weiterlebt, verdrängt wird: das Unsichere und selbst das Abnorme wurde zur Art des Menschen, und wie bei allem Anomalen trat in den einen und andern die Tragik und in viele das Lächerliche, das Komische ein. Es ist so ein Geschick im Jahrhundert der Umwälzung gewesen. Und es ist das große Geschehen, das in den letzten Jahrzehnten durchbrach und sich vollzieht, daß die verdrängte alte Kraft, die religiöse, in der die lange Reihe der Geschlechter ihr Seelisches geschaffen hatte, sich nun wieder ihre Bahn bereitete, daß die seelische Anomalie nun der Gesundung wich. Es ist das, was man die jüdische Wiedergeburt zu nennen pflegt, dieses Erwachen und Sichzurechtfinden, das sich in allen Richtungen des Judentums offenbart. Nicht zum mindesten durch diese Renaissance darf das Judentum in der Gegenwart seine Bedeutung haben.

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Zwischen Wittenberg und Rom

In dem Buche von Hellpach >>Zwischen Wittenberg und Rom. Eine Pantheodizee zur Revision der ReformationZwischen Wittenberg und RomAllchristlichesmit aller Unerbittlichkeit und Gelehrsamkeit gedacht, durchdacht werdeAnderssein«. Darum treten hier auch das Kosmische und das Persönliche nicht nur gegeneinander. Dasselbe Geheimnis, das im Kosmischen webt, wird hier vom Menschen in seinem Persönlichen erfahren, und dasselbe Persönliche, das der Mensch in seinem Tiefsten vernimmt, spricht zu ihm aus dem Kosmischen auch. In der Abstraktion der Gedanken bedeuten die beiden ein Gegeneinander, für die Religiosität werden sie zu dem letzten Einen. Sie werden hier zu dem Sinn, der sich aus dem Gegensatz emporhebt, zu der Glaubenswahrheit, die den Menschen jenes Letzten gewiß werden läßt. Von dieser Spannung, dieser Polarität geht hier die >>Pantheologie« aus. Um zu ihr hinzugelangen, ist es allerdings notwendig, einem Gedanken seinen bestimmenden Platz zu geben, dem des Geheimnisses und der Schöpfung. Alle Schöpfung bedeutet Möglichkeit, die Möglichkeit, die dem Endlichen gegeben ist. Das Wort von der Schöpfung besagt, daß die Unendlichkeit, die Wirklichkeit in das Endliche eintritt, sich in ihm offenbaren will. Der gesamte Kosmos bedeutet diese große Möglichkeit, ist diese große Schöpfung, diese große Offenbarung. Alles in ihm, alles Gesetz und Werden, alle Unerfaßbarkeit, alle Erhabenheit und Schönheit ist dies, ist dieses Hervortreten des Ewigen, Unendlichen in den Grenzen des Endlichen. Die Idee von der Schöpfung ist daher im Tiefsten auch die Ablehnung des Schicksalsgedankens; denn Schicksal besagt Unmöglichkeit. Schicksal ist endgültiges Ende, Sinnlosigkeit, die in jeden Anfang schon gelegt ist; Schöpfung dagegen meint Sinngebung, wahren Anfang, Gabe und Kraft des steten Erneuens. Man könnte das, was der Schöpfungsgedanke bezeichnet, auch so ausdrücken, daß I hier von einem Jenseitigen her, von einem Unergründlichen, Unberechenbaren her das Diesseitige, das Ergreifbare, das Festzuhaltende und zu Bemessende seinen Sinn gewinnt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der allgemeinen Auffassung in der Antike und der israelitischen tut sich hier kund. Für die Antike war das Jenseits nichts als eine Projizierung des Irdischen in ein Fernes, dem Irdischen Entrücktes, nicht mehr also als eine Superlativierung, eine Übersteigerung des Irdischen, so daß das Jenseits immer ein Relatives blieb. Nur Platos Lehre von den Ideen bildet hier eine gewisse Ausnahme, und es ist darum kein Zufall, daß sich mit ihr jüdische Gedanken so oft verbunden haben. Denn das war eben das Eigentümliche, fast möchte man sagen, das Kopernikanische, das der jüdische Genius dem Erkennen gegeben hat: er hat vom Jenseitigen her begreifen gelehrt, indem er dieses als das Absolute, das Schöpferische, das Eine, das Göttliche

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begriff, von dem her alles Irdische, dieses Relative, erst seine Beziehung, seine Bedeutung und seinen Wert erhält. Hierin hat die biblische Schöpfungserzählung ihren eigentlichen und bleibenden Gehalt, durch den sie etwas ganz anderes ist als alle kosmogonischen Mythen. Sie ist daher doch wohl nicht so »unbedeutend, schwunglos und überlebt«, wie Hellpach meint. Vielleicht hatte doch wohl eher noch Wilhelm Heinrich Riehl recht, als er, vor einem Menschenalter, in seinen >>Religiösen Studien eines Weltkindes« das Kapitel über die Schöpfung mit den Worten schloß: >>So birgt die uralte Kindesweisheit des Volkes im Osten, welches von den Schöpfungstagen sang und sagte, denselben Lichtstrahl, zu welchem auch die moderne Wissenschaft des Westens aufblicktWunder>Zehn Gerechte dort sindEros: Fleisch und Sünde>Ethos: Du und Ich>Anstandsposik>GeboteIch bin der I Ewige, dein Gott, du sollst!>Gebotalttestamentliche Deutlichkeit>Die Bibel außerhalb der Kirche ist BlasphemieGeheimnisverlust« eintritt, so ist dies nur die Folge und die Form dieser weltgeschichtlichen Wandlung. In das Besondere der Religion, wofern sie nur das Neue in seinem Wesen und seinem Wert anerkennt, dringt diese Krisis jedoch nicht ein. Denn auch inmitten dieses entscheidenden Wechsels, den unsere Tage hier erfahren, bleibt doch eines immer das, was es immer gewesen ist: das wahre Geheimnis, das mit jedem Menschen geboren wird, und das mit jeder Gemeinschaft, die Mann und Frau schaffen, neu erwacht. Von Geltung und Raum ist dieses nicht bedingt. Die Würde und das Gebot, die aus ihm hervorwachsen, sind jenseits der Veränderungen, welche die Geschichte bringt. Und hierin, in diesem von aller Zeit und aller Entwicklung Unabhängigen, liegt das unvergleichlich Wertvolle, das in Tagen der Krisis die Religion zu geben imstande ist. Krisen können überwunden werden, um schließlich zum Segen zu sein, nur wenn etwas da ist, was bleibt. Neben diesem einen ist es hier ein Geringeres, aber ein doch zu Beachtendes, daß die religiöse Sitte, mit ihrer häuslichen Weihe vor allem, stets vermocht hat, der Frau eine Stellung zu gewähren, die weit über die hinausreichte, welche das überkommene Recht oder Unrecht ihr zuwies. Auch darum ist diese zweite große Krisis in das eigene Gebiet der Religion weniger hineingelangt. In eine andere Atmosphäre als die der Krisis führen die Fragen und Antworten in dem vierten Hauptstück >>Pathos: Dienst und Feier«. Eine Fülle von anregenden, wichtigen Bemerkungen ist in ihm wieder enthalten, besonders auch, und jede Gemeinde angehend, über die I Predigt; aber im allgemeinen sind es Überlegungen, die sich ausschließlicher zwischen Wittenberg und Rom bewegen und hier darum außer Betracht bleiben können. Zu dem, was der erste Teil des Buches über Pantheismus und »Pantheologiemonotheologisch« oder >>pantheologisch«, beinahe gleichgültig werden kann, doch die Frage davon, ob die Religion geneigt und bereit ist, zu einem >>guten Gewissen« mitzuhelfen, indem sie um des Tageswillen mit jeder Macht paktiert, auch wenn sie widergöttlich ist, oder ob sie fähig und entschlossen ist, jeder Macht Widerstand anzusagen und Widerstand zu leisten, wenn es um das Ewige geht. Das ist die oberste Wahrheitsfrage und auch die oberste Freiheitsfrage in der Religion, und es ist darum eine Frage nicht nur >>Zwischen Wittenberg und RomSperlingsgasse« mit ihrer Traulichkeil und Heimlichkeit, mit ihrer Gemeindestimmung, mit ihrer Liebe zur Fülle des Kleinen und Einzelnen als ihr Tägliches gab, trat stetig die Welt der Ewigkeit hinein mit ihrer Harmonie und Disharmonie der Sphären, mit ihrer concordia discors, mit ihren geheimnisreichen Bahnen, die vom Letzten und Einen zu dieser Gasse herniederreichten und unmittelbar von hier den Menschen dorthin zu leiten vermochten; es war ein eigenes Gefüge von Kleinstadt und Kosmos, von Erdenlwinkeln und überirdischen Welten. Praktisches und Mystisches, Gemeinde und Himmelsbahn verwoben sich miteinander, selbst im Ethischen: Nähe und Ferne fanden sich immer wieder im Symbole. Naivität und Grübelei, anfassendes Leben und sinnende Gelehrsamkeit, Haus und Buch waren wie zu einem geworden; die >>Worte Gottes« waren für diese Religiosität Zeichen vom Jenseits, und sie waren doch >>geschrieben an die Pfosten des Hauses und an die Torebaal habbajisbaalas habbajiSeine Seele von Israel>eine SeeleNur ein Entschluß, und die Natur ist überwundenneu«. In der Bibel steht dieses Wort in dieser ganzen Tiefe seines Gehaltes. >>Neu werden«,- für den Menschen ist es das Größte; neu werden, das ist wahrhaft Geschichte. Ein wundersames Wort ist im Psalm oft gesprochen: >>Singet dem Ewigen ein neues Lied!>Dann, wenn Gott ein Neues fügt, dann darf der Mensch ein neues Lied singenSinget dem Ewigen ein neues Lied!Menschen von heute>Botschaftvon heuteUp to date>Von heute>MMenschen von heutedie Welt«, wie das alte Wort unseres Gebetes sagt, »ZU ordnen durch das Gottesreich«. Oder sollten wir etwa den Text ändern und sagen: »das Gottesreich anzupassen der Welt, der heute bestehendenBotschaft an den Juden von heute