Kunst und Sehen: Eine Psychologie des schöpferischen Auges [Reprint 2013 ed.] 9783111501581

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Kunst und Sehen: Eine Psychologie des schöpferischen Auges [Reprint 2013 ed.]
 9783111501581

Table of contents :
BRIEF AN EINEN DEUTSCHEN FREUND
INHALT
EINFÜHRUNG
I. GLEICHGEWICHT
II. GESTALT
III. FORM
IV. WACHSEN
V. DER RAUM
VI. DAS LICHT
VII. FARBE
VIII. BEWEGUNG
IX. SPANNUNG
X. AUSDRUCK
ANMERKUNGEN
LITERATUR
NAMENVERZEICHNIS

Citation preview

RUDOLF A R N H E I M • K U N S T U N D S E H E N

RUDOLF A R N H E I M

KUNST UND SEHEN E I N E PSYCHOLOGIE DES SCHÖPFERISCHEN AUGES

1965

WALTER

DE G R U Y T E R

& CO

.

BERLIN

VORMALS G. J. G D S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G · J. G U T T E N T A G , V E R L A G S B U C H H A N D L U N G · G E O R G R E I M E R · K A R L J. T R O B N E R · V E I T & C O M P .

M I T 278 A B B I L D U N G E N U N D Z W E I FARBTAFELN Titel der Originalausgabe : A R T A N D V I S U A L P E R C E P T I O N — a psychology of the creative eye © 1954 and 1960 by the Regents of the University of California Berkeley and Los Angeles I N S DEUTSCHE Ü B E R T R A G E N V O N H E N N I N G BOCK

Ardiiv-Nr. 35 35 641 © 1964 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sdie Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Printed in Germany Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck : Thormann & Goetsch, Berlin 44 Einbandgestaltung und Umschlag: Rudolf Wiesner, Berlin

BRIEF AN EINEN DEUTSCHEN FREUND An den Architekten Professor Dipl.-Ing. K A R L Hochschule für Bildende Künste Berlin-Charlottenburg, Germany

OTTO

Liebei Fieund, Die Sintflut hat sich füi eine Weile verlaufen, und die Tauben fliegen über den Ozean mit tausend Kilometern Stundengeschwindigkeit, von euch zu uns, von uns zu euch. Da können wir kaum Besseres austauschen als Proben unserer Arbeit, die wir während der jahrzehntelangen Trennung verrichtet haben; denn ein Mann versteht ja wohl am besten, wie es einem anderen ergangen ist, wenn er sich ansieht, was der andere inzwischen getan hat: ob er kräftig, wesentlich, scharfsinnig und verantwortungsvoll gelebt hat, ober ob er sich im Kleinlichen verfangen, um die Probleme herumgedrückt, und ins Weichliche gerettet hat. Deine berufliche Arbeit und deine Bauten sprechen für sich. Wie wirst du nun meine Worte aufnehmen! Schon in unseren Schultagen warst du wohl mehr dem Handeln, idi dem Beschauen zugewandt. Mein Vater war ein Kaufmann, ein Mann der Papiere und Zahlen; deiner, ein Bildhauer, modellierte lebensgroße Tiere. Und dodi liefen unsere Interessen und Bewertungen parallel. Wir lachten und ärgerten uns über die gleichen Dinge, und als wir uns vor einigen fahren zum erstenmal in New York wiedersahen, da freute und erstaunte es uns zu finden, daß wir trotz der Verschiedenheit der Geschicke uns doch auf dem gleichen Geleise gehalten hatten und ohne Anpassung wieder die gleiche Sprache redeten. Die Zeit unserer Schüler- und Studentenjahre war fruchtbar und lebendig. Es war eine Periode des Umsturzes und der Neubetrachtung, politisch, künstlerisch, wissenschaftlich. Die junge Republik suchte sich stolpernd ihren Weg, die Expressionisten stellten im »Sturm« aus, und die abstrakten Maler und Zwölftonmusiker beschäftigten unsere Phantasie. Die Gestalttheorie machte ihre ersten Entdeckungen. Die Bücher von Freud, die wir damals im Laden kauften, sind jetzt »Erstausgaben«; und mancher von unsern damaligen Freunden und Kollegen steht nun schon, vielleicht etwas voreilig, auf dem Klassikerregal. Was war es denn, worin wir in den Jahren der befruchtenden Unbestimmtheit vor allem übereinstimmten und das uns dann während der großen Zerstörung und Trennung auf der gleichen Linie hieltl Doch wohl die Uberzeugung, daß eine Kraft nur dann eine aufbauende Wirkung tut, wenn sie eine bedeutende und bleibende Form schafft; so daß man also die Kräfte an ihren Formen erkennt und die Formen ihrerseits

VI zur Veredelung der Kiäfte beitragen. Da wir die Form nicht /ür ein bloßes gefälliges Spiel hielten, konnten wir auch mit gutem Gewissen auf unserer Beschäftigung behauen, als alles um euch und so vieles um uns in Stücke ging; denn was ist unter Trümmerhaufen nützlicher als die Suche nach Form l Du hast diese Überzeugung durch Planen und Bauen anschaulich betätigt. Ich meinerseits habe versucht, einige der Regeln, die unserm Weltbild seinen sichtbaren Ausdruck geben, zu formulieren und zu belegen — teils aus dem Basteltrieb, den der Forscher mit dem Baumeister gemein hat, teils weil ich hoffte, daß eine klarere Formulierung der Grundbegriffe dem Praktiker behilflich sein könnte. Und es scheint mir bemerkenswert, daß, wenn du etwa in deinem Werkbundvortrag von der »Untergliederung unserer strukturlosen Städte« sprichst, die in »überschaubare Lebensbereiche« aufzuteilen wären, oder von der Wechselwirkung zwischen der Stadt und dem umliegenden Lande, du aus praktischer Einsicht zu Begriffen kommst, die ich als Probleme der Unterteilung oder der Figur- und Grund-Beziehung mit meinen Linien, Flächen und Farben zu behandeln suchte. Seit ich in den zwanziger Jahren im kaiserlichen Schloß, wo das Psychologische Institut der Universität damals zuhause war, von meinen Lehrern zuerst in diese Probleme eingeführt wurde, habe ich die Sprache gewechselt und auch mein Verfahren in vielem, obwohl nicht grundsätzlich, geändert. Die schöne Handgreiflichkeit und Unbeschwertheit des Englischen kam meiner ganz auf das Gegenständliche abgestellten Unternehmung aufs Beste entgegen, und der amerikanische Drang nach Klarheit, Einfachheit, Nützlichkeit, und Beweis bedeutete für mich eine willkommene Schulung. Ich hoffe, daß von all dem in der deutschen Ausgabe manches zum Vorschein kommt. Zwar kann ich im Buche mit dir und deinen Studenten nicht, wie in diesem Brief, in meinem eignen Tonfall reden: ich konnte mir die Zeit nicht nehmen, das Buch selbst zu übersetzen,· denn in unserm Alter muß man ja anfangen, mit seinen Jahren sparsam zu sein. Ich bin dem Übersetzer, Herrn Dr. Henning Bock, dankbar dafür, daß er Monate seiner eigenen Arbeitszeit an das Werk eines anderen gegeben hat; dankbar auch für seine Bereitwilligkeit, mich das Manuskript der Übersetzung überarbeiten zu lassen. Der Text ist sachlich korrekt; wenn du aber einmal an einer Stelle ganz genau wissen willst, was ich sagen wollte, muß ich dich doch bitten, den Urtext aufzuschlagen. Vergiß vor allem nicht die fast unüberbrückbaren Schwierigkeiten der Terminologie! Der grundlegende Unterschied zwischen »shape« und »form«, zum Beispiel, ist im Deutschen nicht ausdrückbar; das Wort »Gestalt«, mit dem die Übersetzung sich behelfen muß, ist zumal im Buche eines Gestaltpsychologen unerwünscht zweideutig. Ein »pattern« ist nur selten ein »Muster«. Ganz zu schweigen von dem unentbehrlichen »mind« — das doch weder Geist ist noch Seele, noch auch Bewußtsein! Und so fast auf jeder Seite. Ich kann da nur mit dem Sendbrief vom Dolmetschen

sagen:

»Lieber,

jeder lesen und meistern;

nu es verdeutscht

und

bereit

ist, kanns

ein

läuft einer itzt mit den Augen durdi drei oder

VII vier Blattei und stößt nicht einmal an, wird aber nicht gewahr, welche Wacken und Klötze da gelegen sind, da er itzt über hin gehet, wie über ein gehobelt Biett, da wir haben müsst schwitzen und uns ängsten, ehe denn wir solche Wacken und Klötze aus dem Wege läumeten, auf daß man künnte so fein daher gehen.« Nur noch eins! Wir sind, zumal in den Künsten, von einem Kult der Formlosigkeit umgeben. Wir sehen das in den Ausstellungen, wir lesen es in den Büchern, und es tönt aus der Musik. Gewiß hast du, so wie ich, im Klassenzimmer, im Atelier, und nach Vorträgen zu hören bekommen, daß unser Streben nach Form ganz aus der Mode und daher nutzlos sei. Ohne Zweifel ist unsere Arbeit alles andere als »informell«. Sie beabsichtigt keine passive Hingabe an die Verwirrung. Damit ist unser Tagewerk zugleich auch ein Bekenntnis und ein Ausdruck des Optimismus. Er bedeutet zwar nicht notwendig ein Vertrauen auf die nächsten Jahre — denn wer könnte sich verhehlen, daß wir physikalisch, chemisch, und geistig am Selbstmord arbeiten} — aber ein Vertrauen auf die im Menschen wohnende Kraft und damit auf seine Möglichkeiten. Wie ich's dieser Tage in einer Novelle von Joseph Conrad las: »Der Menschengeist ist zu allem fähig — denn alles ist in ihm enthalten, die ganze Vergangenheit und auch die ganze Zukunft.« Mit den besten Wünschen für dich und deine Frau Dein Rudolf Amheim Yonkers, New York August 1962

INHALT EINFUHRUNG I. G L E I C H G E W I C H T Die verborgene Struktur eines Quadrates Was verstehen wir unter Wahrnehmungskräften? Zwei Scheiben in einem Quadrat Psychologisches und physikalisches Gleichgewicht Wozu Gleichgewicht? Gewicht Richtung Gleichgewichtsstrukturen Oben und unten Rechts und links Gleichgewicht und der menschliche Geist Gleichgewicht ist Bedeutungsträger Madame Cézanne auf einem gelben Stuhl II. G E S T A L T Sehen als aktives Erforschen Das Erfassen des Wesentlichen Wahmehmungsbegriffe Was ist eine Gestalt? Der Einfluß der Vergangenheit Gestaltsehen Einfachheit Die Voraussetzungen der Einfachheit Physische Einfachheit Angewandte Vereinfachung Angleichung und Verschärfung Eine physiologische Theorie Warum die Augen die Wahrheit sagen Unterteilung in der Kunst Was ist ein Teil? Regeln der Gruppenbildung Beispiele aus der Kunst Das Strukturgerüst III. F O R M Wechsel der Raumlage Kopfstehen Projektion Der Wahrnehmungsbegriff von Körpern Welche Ansicht paßt am besten? Die ägyptische Methode Verkürzung Uberschneidung Wozu kann Uberschneidung nützen? Die Wechselwirkung von Fläche und Tiefe Die Dynamik der Schrägen Realismus

Seite XIII ι ι 5 7 8 9 12 14 16 17 19 21 23 25 29 29 30 31 34 35 36 39 44 46 48 50 51 53 54 56 57 61 65 68 68 71 73 75 75 78 81 84 86 90 93 94

χ

Die neue Freiheit der modernen Kunst Was sieht naturgetreu aus? Durchsichtigkeit Widerstreitende Ansichten Reduzierte Darstellung Kinder und Primitive Rückzug vom Hier und Jetzt Die geometrische Form in der modernen Kunst Ornament Form und Realität Die Einbildungskraft La Source Information durch Sichtbares

IV. W A C H S E N

Warum zeichnen Kinder so? Die intellektualistische Theorie Sie zeichnen, was sie sehen Das Material Darstellungsbegriffe Zeichnen als Bewegung Der ursprüngliche Kreis Das Gesetz der Differenzierung Geradheit und Eckigkeit Schrägheit Das Verschmelzen von Teilen Die Größe Die falsch benannten Kaulquappen Die Ubersetzung in zwei Dimensionen Alles auf einer Fläche Schachteln in drei Dimensionen Erzieherische Schlußfolgerungen Die Geburt der Form in der Skulptur Stöcke und Scheiben Der Kubus und das Runde

V. D E R R A U M

Seite 95 97 102 103 106 108 109 112 114 119 120 124 128

134

135 136 138 140 142 144 146 149 153 157 158 162 165 166 169 170 173 177 178 184

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Die Fläche teilt sich auf Der gemeinsame Umriß Figur und Grund Tiefenstaffelung Anwendung auf die Malerei Rahmen und Fenster Das Konkave in der Skulptur Tiefenwirkung durch Überschneidung Raum durch Verzerrungen Ein Gehirnmodell Einfachheit statt Naturtreue Unvollständige Dreidimensionalität Die früheren Erfahrungen und der Muskelsinn Die Gegenstände schaffen den Raum Der pyramidenförmige Raum Das zugrundeliegende Gesetz Frontalität und Schrägheit Zur Vereinheitlichung des Raumes Die Zentralperspektive

187 190 192 196 198 201 203 208 213 216 220 223 225 228 232 235 238 241 245

Fotografische Perspektive

250

Die Symbolik der zentralisierten Welt

247

XI Die Unendlichkeit im Bild De Chirico und die Kubisten

Seite 253 254

VI. D A S L I C H T Die Erfahrung des Lichts Relative Helligkeit Beleuchtung Raum durch Licht Schatten Malerei ohne Beleuchtung Die Symbolik des Lichtes In der modernen Kunst

259 259 261 263 267 271 275 278 284

VII. F A R B E Form und Farbe Die Reaktionen auf Farbe Warm und kalt Der Ausdruck der Farben Bevorzugte Farben Das Streben nach Harmonie Die Glieder der Reihe Die Syntax der Mischungen Die Komplementärfarben Gegenseitige Erfüllung Matisse und El Greco

287 287 290 291 295 298 299 303 307 310 314 317

VIII. B E W E G U N G Zeit und Abfolge Die Komposition im Tanz und Drama Wann sehen wir Bewegung? Richtung Die Offenbarungen der Geschwindigkeit Stroboskopische Bewegung Probleme der Filmmontage Sichtbare motorische Kräfte Eine Rangordnung der Vielfältigkeit Der Körper als ein Instrument Das kinästhetische Körperschema Mechanische und aufgezeichnete Bewegung IX. S P A N N U N G Bewegung ohne Ortsveränderung Gerichtete Spannung Wodurch entsteht Bewegung? Die Dynamik der Schrägen Spannung in der Entstellung Eine stroboskopische Wirkung Sichtbare physische Kräfte Die Dynamik der Komposition Spannung und Einfachheit X. A U S D R U C K Das Innere ist verbunden mit dem Äußeren Ausdruck in der Struktur Die Priorität des Ausdrucks Die Physiognomik der Natur Symbole in der Kunst

322 323 325 327 330 332 335 339 340 34s 350 352 354 356 356 358 362 365 368 37 t 373 375 381 383 383 38s 388 390 394

XII

Die psychoanalytische Deutung Alle Kunst ist symbolisch Zurück zum Anfang

Seite 395 398 400

ANMERKUNGEN Kapitel I Kapitel II Kapitel III Kapitel IV Kapitel V Kapitel VI Kapitel VII Kapitel VIII Kapitel IX Kapitel X

401 402 405 409 41a 417 418 420 422 423

LITERATUR

4*5

NAMENVERZEICHNIS

434

EINFÜHRUNG Die Kunst scheint in Gefahr zu sein, durch Reden ertränkt zu werden. Nur selten begegnen wir etwas Neuem, das wir als echte Kunst anzuerkennen bereit sind. Und doch werden wir überschüttet durch eine Flut von Büchern, Aufsätzen, Doktorarbeiten, Ansprachen, Vorlesungen und Führungen, die bereitwillig uns sagen, was Kunst ist und was nicht, was wann und warum, durch wen oder was geschaffen wurde. Wir werden verfolgt von der Vorstellung eines kleinen zarten Körpers, der durch viele eifrige, aber oft laienhafte Ärzte und Analytiker seziert wird. Wir meinen annehmen zu müssen, daß die Kunst in heutiger Zeit etwas Unsicheres geworden sei, weil wir zu viel über sie denken und reden. Wahrscheinlich bleibt eine solche Diagnose an der Oberfläche. Zugegebenermaßen erscheint der heutige Zustand fast allen unbefriedigend. Sobald wir aber mit einiger Sorgfalt nach den Ursachen suchen, finden wir, daß wir in einer kulturellen Situation leben, die sich wenig dazu eignet, Kunst hervorzubringen, dafür aber umso mehr in eine falsche Auffassung von der Kunst geraten ist. Unsere Erfahrungen und Vorstellungen neigen dazu, allgemein, aber nicht tief oder tief, aber nicht allgemein zu sein. Wir vernachlässigen die Gabe, die Dinge durch das zu verstehen, was uns unsere Sinne über sie sagen. Das Begreifen hat sich vom Wahrnehmen gelöst. Das Denken bewegt sich zwischen Abstraktionen. Unsere Augen werden Instrumente zum Messen und Bestimmen — daher der Mangel an Vorstellungen, die in Bildern ausgedrückt werden können, und die Unfähigkeit, in dem Gesehenen Bedeutungen zu erkennen. Deshalb fühlen wir uns hilflos in der Gegenwart solcher Dinge, die nur aus der reinen Anschauung ihren Sinn erhalten, und suchen nun Unterstützung in dem vertrauteren Bereich des Wortes. Es genügt dabei nicht, sich dem Genuß von Meisterwerken hinzugeben. Zu viele Leute besuchen Museen und sammeln Kunstbücher, ohne einen Zugang zur Kunst zu finden. Die angeborene Fähigkeit, durch die Augen zu verstehen, ist verschüttet und muß wieder aufgefunden werden. Am meisten kann hier der Gebrauch von Bleistift, Pinsel oder Meißel wirken. Aber auch hier versperren ohne Anleitung und Unterstützung schlechte Gewohnheiten und Mißverständnisse den Weg. Die Hilfe muß durch das Wort erfolgen, da Augen wenig den Augen sagen können. In diesem Punkt hemmen uns starke Vorurteile. Eines dieser Vorurteile besagt, daß Seh-Dinge nicht durch Worte ausgedrückt werden können. In dieser Warnung liegt ein Kern Wahrheit. Die besondere Art des Erlebnisses eines Bildes von Rembrandt ist nur teilweise in beschreibende und erklärende Begriffe zu fassen. Diese Einschränkung gilt jedoch nicht nur für die Kunst. Sie trifft für jedes Objekt in der Erfahrung zu. Jede Beschreibung oder Erklärung — sei es die mündliche Schilderung des Arbeitgebers durch seine Sekretärin, sei

XIV es der Bericht eines Arztes über das Drüsensystem eines Patienten — kann nur einige allgemeine Kategorien in einer bestimmten Zusammenstellung benutzen. Der Wissenschaftler formuliert Begriffssysteme, welche im besten Fall diejenigen wesentlichen Züge eines gegebenen Phänomens decken, die er verstehen will. Aber ihm ist bewußt, daß es keine vollständige Wiedergabe eines Objektes gibt und daß keine Notwendigkeit besteht, etwas schon Vorhandenes zu verdoppeln. In ähnlicher Weise benutzt der Künstler seine Kategorien von Form und Farbe, um etwas allgemein Bedeutsames im besonderen einzufangen. Er hat weder die Absicht noch die Fähigkeit, das Einzigartige zu erfassen. Und ebenso, wenn wir Kunstwerke verstehen oder erklären wollen, ist es nun notwendig, vorher einige leitende Grundsätze aufzustellen. Dieses für die Kunst zustande zu bringen, sollte nicht schwieriger sein, als für andere vielschichtige Bereiche wie den physischen oder geistigen Aufbau von Lebewesen. Kunst ist das Werk von Lebewesen und sollte daher nicht komplizierter sein als diese selbst. Wenn wir in einem Kunstwerk gewisse Eigenschaften sehen oder fühlen, diese jedoch nicht beschreiben oder erklären können, so liegt der Grund für unser Versagen nicht darin, daß wir die Sprache benutzen, sondern daß Augen und Gedanken keine allgemeinen Kategorien entdeckt haben, die diese Aufgabe vollbringen können. Die Sprache ist kein Mittel, über die Sinne eine Verbindung zur Realität zu erlangen — sie dient nur dazu, das Gesehene, Gehörte oder Gedachte zu benennen. Sie ist kein fremdes, für sichtbare Dinge ungeeignetes Medium. Sie versagt, sobald und weil die visuelle Analyse zusammenbricht. Aber die Analyse im Sehen kann glücklicherweise weit vorangetrieben werden und damit die angelegte Begabung zum »Sehen« hervorlocken, durch die wir das nicht mehr Analysierbare erreichen. Ein anderes Vorurteil besagt, daß eine Analyse durch das Wort spontanes Schaffen und Verstehen lähmt. Auch in ihm ist ein Kern Wahrheit enthalten. Die Geschichte der Vergangenheit und die Erfahrungen der Gegenwart geben viele Beispiele, wie zerstörerisch Formeln und Rezepte wirken können. Aber müssen wir daraus schließen, daß auf dem Gebiet der Kunst eine Geisteskraft ausgeklammert werden muß, damit eine andere wirken kann? Trifft es nicht zu, daß Störungen genau dann eintreten, wenn eine Geisteskraft auf Kosten einer anderen arbeitet? Die Ausgewogenheit aller unserer Kräfte — durch die allein wir aus dem Vollen leben und gut arbeiten können — ist nicht nur dann gestört, wenn der Intellekt die Anschauung beeinträchtigt, sondern auch wenn das Gefühl den Verstand verdrängt. Ein Ubermaß an Sichgehenlassen ist ebenso unproduktiv wie blindes Einhalten von Regeln. Rücksichtslose Analyse des Ich wird schaden, ebenso aber auch die künstliche Primitivität eines Menschen, der zu wissen ablehnt, wie und warum er arbeitet. Der moderne Mensch kann und muß daher mit einer Selbstbewußtheit leben, die ohne Beispiel ist. Vielleicht ist die Aufgabe zu leben schwieriger geworden, aber entgehen können wir dieser Aufgabe nicht. Es ist die Aufgabe dieses Buches, einige Wirkungsweisen des Sehens zu beschreiben und sie dadurch aufzufrischen und anzuleiten. So-

XV lange ich mich erinnern kann, habe ich mich mit der Kunst beschäftigt, ihr Wesen und ihre Geschichte studiert, meine Augen und Hände an ihr versucht und die Gesellschaft von Künstlern, Kunsttheoretikem und Kunsterziehern gesucht. Dieses Interesse ist durch meine psychologischen Studien noch verstärkt worden. Alles Sehen gehört in das Gebiet des Psychologen, und niemand kann den Schaffensprozeß oder das Kunsterleben analysieren, ohne Psychologie zu treiben. (Psychologie bedeutet natürlich die Wissenschaft vom Seelischen in allen Manifestationen, nicht nur die begrenzte, aber heute so beliebte Beschäftigung mit »persönlichen« Problemen.) Einige Kunsthistoriker haben die Arbeiten von Psychologen mit Gewinn verwendet. Andere haben nicht erkannt oder wollen nicht zugeben, daß sie sie benutzen; aber unausweichlich verwenden auch sie Psychologie, ob aus selbstgemachten oder aus überlieferten Theorien der Vergangenheit, die meist unter dem Stand unserer heutigen Kenntnisse stehen. Aus diesem Grund habe ich versucht, die Methoden und Ergebnisse der modernen Psychologie auf das Studium der Kunst anzuwenden. Die von mir erwähnten Experimente und die Leitsätze meines psychologischen Denkens sind zum größten Teil aus der Gestalttheorie abgeleitet. Diese Bevorzugung scheint mir gerechtfertigt zu sein. Sogar Psychologen, die gegen die Gestalttheorie eingestellt sind, geben zu, daß die Grundlagen unserer heutigen Kenntnisse der Sehwahrnehmung in den Untersuchungen dieser Schule gelegt sind. Aber das ist noch nicht alles. Die Gestaltpsychologie hat von Anfang an und in ihrer ganzen Entwicklung während des letzten halben Jahrhunderts immer eine Verwandtschaft zur Kunst gezeigt. Die Schriften von Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka sind davon geprägt. Hier und da werden die Künste in diesen Schriften ausdrücklich erwähnt, aber es zählt mehr, daß der Geist, der sich im Denken dieser Forscher ausspricht, dem künstlerischen verwandt ist. In der Tat mußte ein fast künstlerischer Standpunkt gegenüber der Wirklichkeit den Wissenschaftler daran erinnern, daß die meisten Phänomene in der Natur nicht adäquat beschrieben sind, wenn sie stückweise analysiert werden. Für den Künstler war es keine neue Erkenntnis, daß eine Ganzheit nicht durch das Zusammenfügen von Einzelteilen zu erreichen ist. Jahrhunderte hindurch konnten Wissenschaftler wesentliche Aussagen über die Wirklichkeit machen, ohne eine verhältnismäßig einfache Methode zu verlassen, die die komplexeren Formen der Organisation und Wechselwirkung ausschließt. Aber zu keiner Zeit konnte ein Kunstwerk von einem Geist geschaffen oder verstanden werden, der nicht fähig war, die gegliederte Struktur eines Ganzen zu erkennen. In der Arbeit, die der Gestalttheorie ihren Namen gab, führte von Ehrenfels aus, daß, wenn von zwölf Beobachtern jeder nur einen der zwölf Töne einer Melodie hörte, die Summe ihrer Erfahrungen nicht dem entsprechen würde, was ein einzelner beim Anhören der ganzen Melodie erfahren würde. Die meisten späteren Experimente sollten zeigen, daß die Erscheinungsform eines jeden Dinges von seiner Stellung und Aufgabe in einem Gesamtzusammenhang abhängig ist. Ein auf-

XVI merksamer Leser kann diese Arbeiten nur mit Bewunderung für das aktive Streben nach Einheit und Ordnung lesen, das sich in der einfachen Handlung des Anschauens eines Linienmusters zeigt. Anstatt nur eine mechanische Aufzeichnung von Sinnesdaten zu sein, erwies sich das Sehen als ein wirklich schöpferisches Erfassen der Wirklichkeit — fantasievoll, einfallsreich, scharfsinnig und schön. Es ergab sich, daß die Qualitäten, die einen Denker oder einen Künstler auszeichnen, auch allen anderen seelischen Tätigkeiten zu eigen sind. Die Psychologen erkannten, daß diese Tatsache kein Zufall war. Dieselben Grundsätze wirkten in den verschiedensten geistigen Fähigkeiten, weil der Geist nur als Ganzheit arbeitet. Alles Wahrnehmen ist Denken, alles Denken ist Anschauung, alle Beobachtung ist Erfinden. Die Bedeutung dieser Ansichten für Theorie und Praxis in der Kunst liegt auf der Hand. Wir können den künstlerischen Schaffensvorgang nicht mehr als eigenständig ansehen, geheimnisvoll von oben inspiriert und ohne Beziehung zu dem, was Menschen sonst tun. Dafür erscheint die übersteigerte Weise des Sehens, die zur Schöpfung großer Kunstwerke führt, als ein Herauswachsen aus den einfacheren und allgemeineren Tätigkeiten des Auges im täglichen Leben. Wie das alltägliche Sichzurechtfinden »künstlerisch« ist, weil es Finden und Geben von Form und Bedeutung einschließt, so ist die schöpferische Tätigkeit des Künstlers ein Lebens-Mittel, eine verfeinerte Möglichkeit des Verständnisses, wer und wo wir sind. Solange man das Rohmaterial der Erfahrung nur als eine ungestaltete Anhäufung von Reizen ansah, schien der Betrachter alle Freiheit zu haben. Sehen war ein völlig subjektives Umformen der Realität in Gestalt und Bedeutung. In der Tat würde kein Kunstwissenschaftler bestreiten, daß Menschen oder Kulturen die Welt nach ihrer Vorstellung gestalten. Die Arbeiten im Sinn der Gestalttheorie ließen jedoch deutlich werden, daß die Situationen, denen wir ausgesetzt sind, zumeist ihre eigenen charakteristischen Merkmale haben und »richtig« gesehen werden wollen. Der Vorgang des die-Welt-Betrachtens erwies sich als ein tätiges Wechselspiel zwischen den vom Objekt vorgegebenen Eigenschaften und der Natur des beobachtenden Subjekts. Diese sachliche Gegebenheit in der Erfahrung rechtfertigt den Versuch, zwischen angemessener und nicht angemessener Konzeption der Wirklichkeit zu unterscheiden. Außerdem kann man annehmen, daß alle angemessenen Vorstellungen einen Kern allgemeiner Wahrheit enthalten, durch den die Kunst aller Zeiten und Länder allen Menschen jedenfalls potentiell verständlich sein würde — ein dringend notwendiges Gegengewicht gegen den Alptraum eines ungezügelten Subjektivismus und Relativismus. Schließlich ergaben diese Entdeckungen die heilsame Lehre, daß Sehen kein mechanisches Aufnehmen einzelner Elemente sei, sondern das Erfassen von sinnvollen Strukturen. Wenn dieses für den einfachen Vorgang des Wahrnehmens eines Dinges galt, mußte es mit aller Wahrscheinlichkeit auch für die künstlerische Annäherung an die Wirklichkeit

gelten.

Offensichtlich

war

der

Künstler

ebensowenig

wie

sein

Sehorgan eine mechanische Aufnahmemaschine. Die künstlerische Dar-

XVII Stellung eines Objektes konnte nun nicht mehr als eine langweilige Umschreibung der zufälligen Erscheinung, Stück für Stück, gedacht werden. In anderen Worten: Hier war die wissenschaftliche Begründung für die immer mehr umsichgreifende Uberzeugung, daß Bilder der Wirklichkeit gültig sein können, auch wenn sie weit von »realistischer« Ähnlichkeit entfernt sind. Es war für mich ermutigend, daß ähnliche Schlußfolgerungen unabhängig davon im Gebiet der Kunsterziehung gezogen worden waren. Angeregt durch die Theorien von Gustaf Britsch hatte besonders Heinrich Schaefer-Simmern dem künstlerischen Schaffensprozeß viele Uberlegungen gewidmet. Er bestätigte die Annahme, daß das Bewußtsein in seinem Bemühen um eine geordnete Auffassung der Wirklichkeit in gesetzmäßiger und logischer Entwicklung von den in der Wahrnehmung einfachsten Formen zu einer sich steigenden Vielfalt vorgeht. Offensichtlich ließen sich die Prinzipien der Wahrnehmung, wie sie aus den Experimenten der Gestalttheorie gewonnen waren, auch genetisch aufzeigen. Das vierte Kapitel dieses Buches gibt die Stellungnahme eines Psychologen zu den Hauptthesen dieser Theorie. Die Theorie selbst wird ausführlich in dem Buch The Unfolding of Aitistic Activity von Schaefer-Simmern behandelt. Er hat überzeugend dargelegt, daß die Fähigkeit, das Leben künstlerisch zu begreifen, nicht das Privileg weniger auserwählter Menschen sei, sondern zu der Begabung eines jeden gesunden Menschen gehöre, dem die Natur Augen gegeben habe. Für den Psychologen bedeutet dies, daß das Studium der Kunst untrennbarer Teil der Studien über den Menschen ist. Auf die Gefahr, meinen wissenschaftlichen Kollegen zu mißfallen, wende ich die für richtig gehaltenen Grundsätze mit sehr rücksichtsloser Einseitigkeit an. Erstens würde das Einfügen von dialektischen Feuerleitern, Wartezimmern, Seiten- und Notausgängen mein Gebäude unpraktisch, umfangreich und die Orientierung schwierig gemacht haben. Zweitens ist es in gewissen Fällen besser, die These mit harter Einfachheit vorzutragen und die Verfeinerungen dem nachfolgenden Spiel von Druck und Gegendruck zu überlassen. Kunsthistoriker seien um Nachsicht gebeten, daß ihr Material weniger kompetent gebraucht worden ist, als es wünschenswert gewesen wäre. Es würde heute wahrscheinlich über die Kräfte eines Einzelnen gehen, eine zufriedenstellende Ubersicht über das Verhältnis zwischen der Theorie der Künste und den betreffenden psychologischen Arbeiten zu geben. Wenn wir versuchen, zwei Dinge einander anzupassen, die zwar zueinander gehören, aber nicht füreinander gemacht sind, so sind viele Berichtigungen nötig, und viele Lücken mußten provisorisch geschlossen werden. Ich mußte spekulieren, wo ich nicht beweisen konnte, und mußte meine eigenen Augen benutzen, wo ich mich nicht auf andere verlassen konnte. Ich habe mich bemüht, überall die Probleme anzuzeigen, die auf systematische Bearbeitung warten. Aber nach allem möchte ich mit Herman Melville sagen: »Das ganze Buch ist nur ein Entwurf — nein, nur ein Entwurf eines Entwurfes. O Zeit, Kraft, Bargeld und Geduld!« Das Buch beschäftigt sich mit dem, was jedermann sehen kann. Es be2

Arnheim

XVIII schäftigt sich mit Gedrucktem nur so weit, wie es mir und meinen Schülern zum besseren Sehen verholfen hat. Aber da ist auch noch der schlechte Geschmack, der einem vom Lesen der vielen Dinge, die nicht diesem guten Zweck dienen, nachgeblieben ist. Einer der Gründe, dieses Buch zu schreiben, war meine Uberzeugung, daß vielen Leuten die schillernde Unbestimmtheit des Geredes über Kunst leid ist, das Balanzieren auf Schlagworten und die verwässerten ästhetischen Systeme, die pseudo-wissenschaftlichen Schaufensterdekorationen, das unverschämte Jagen nach klinischen Symptomen, das umständliche Messen von Nichtigkeiten und die niedlichen Bonmots. Die Kunst ist das konkreteste Ding in der Welt, und es gibt keine Rechtfertigung, die Vorstellungen von Menschen, die mehr darüber wissen wollen, zu verwirren. Sogar konkrete Dinge sind oft verwirrend. Ich habe versucht, sie so einfach wie möglich zu behandeln. Das bedeutet nicht, daß ich mich immer an kurze Worte und Sätze gehalten habe, denn wenn die Form einfacher ist als der Inhalt, so erreicht die Botschaft nicht ihre Bestimmung. Außerdem ist kein Schriftsteller berechtigt, unsere Sprache auf die kümmerliche Ebene des kleinsten gemeinsamen Nenners herabzubringen. Einfach zu sein heißt, die Dinge gerade heraus zu sagen und immer wieder mit Beispielen zu belegen. Einigen Leuten mag dies Verfahren unangemessen hölzern und nüchtern erscheinen. Sie könnten zur Antwort haben, was Goethe einmal an seinen Freund Christian Gottlob Heyne, Professor der Rhetorik in Göttingen, schrieb : »Sie sehen, daß ich sehr von der Erde anfange, und daß es manchem scheinen dürfte, als behandelte ich die geistigste Sache zu irdisch; aber man erlaube mir zu bemerken: daß die Götter der Griechen nicht im siebenten oder zehnten Himmel, sondern auf dem Olymp thronten und nicht von Sonne zu Sonne, sondern allenfalls von Berg zu Berg einen riesenmäßigen Schritt taten.« Der erste Versuch, dieses Buch zu schreiben, geht auf die Jahre 1941 bis 1943 zurück, als ich für diesen Zweck ein Stipendium der John Simon Guggenheim Memorial Foundation erhielt. Während der Arbeit kam ich zu der Uberzeugung, daß zu dieser Zeit die Voraussetzungen in der Wahrnehmungspsychologie noch nicht gegeben waren, um sich mit den wichtigeren Problemen des Sehens in der Kunst zu beschäftigen. Anstatt das Buch zu schreiben, unternahm ich einige Spezialuntersuchungen über Raum, Ausdruck und Bewegung, um einige Lücken zu füllen. Das Material wurde bei meinen Vorlesungen über die Psychologie der Kunst im Sarah Lawrence College und an der New School in New York geprüft und vermehrt. Als mir im Sommer r95i ein Stipendium der Rockefeller Foundation ermöglichte, mich ein Jahr beurlauben zu lassen, glaubte ich imstande zu sein, eine einigermaßen zusammenhängende Ubersicht über dieses Gebiet zu geben. Was der Wert dieses Buches auch sein mag, so bin ich den Herren von der Humanities Division sehr verpflichtet, daß sie mir ermöglichten, meine Ergebnisse zu Papier zu bringen. Doch muß erwähnt sein, daß die Stiftung keine Aufsicht über das Unternehmen hatte und für die Ergebnisse nicht verantwortlich ist.

XIX Meine Dankbarkeit möchte ich drei Freunden ausdrücken, Heinrich Schaefer-Simmern, dem Kunsterzieher, Meyer Schapiro, dem Kunsthistoriker, und Hans Wallach, dem Psychologen, daß sie einige Kapitel des Manuskriptes lasen und mir durch wertvolle Vorschläge und Verbesserungen halfen. Die aufmerksamen Kommentare meiner Studenten im Verlauf der Jahre haben wie ein Strom von Wasser gewirkt, der die Kiesel, aus denen dieses Büch besteht, geglättet hat. Privatpersonen oder Institutionen, die mir Kunstwerke aus ihrem Besitz zu reproduzieren gestatteten, sind in den Anmerkungen am Ende des Buches genannt. Ich möchte besonders den mir meist persönlich nicht bekannten Kindern danken, deren Zeichnungen ich benutzen durfte. Im besonderen bin ich glücklich, daß dieses Buch einige Zeichnungen von Allmuth Laporte bewahrt, deren junges Leben voller Schönheit und Begabung durch Krankheit im Alter von 13 Jahren zerstört wurde. Im Nachdruck konnte ich ungefähr zwanzig Verbesserungen und auf Seite 400 eine abschließende Zusammenfassung einfügen. Die Verbesserungen wurden fast alle von einer sehr aufmerksamen Leserin vorgeschlagen, Mrs. Alice Bradley Sheldon in Washington D. C. Sarah Lawrence College, Bronxville, New York R. A.

ν

I. G L E I C H G E W I C H T Die verborgene

Struktur eines

Quadrates

Schneide aus dunkler Pappe eine runde Scheibe und lege sie auf ein weißes Quadrat wie in Abb. i. Der Ort der Scheibe könnte durch Messung bestimmt und beschrieben werden. Ein Zentimetermaß würde die Entfernung von den Seiten des Quadrats in Zentimetern angeben. So könnte gezeigt werden, daß der Kreis exzentrisch liegt. Aber dieses Ergebnis würde nicht überraschen. Wir brauchen nicht zu messen — wir können sehen, daß der Kreis exzentrisch liegt. Wie geht dieses »Sehen« vor sich? Welches seelische Vermögen sagt diese Feststellung an? Es ist nicht der Verstand, da das Ergebnis nicht durch abstrakte Begriffe erreicht wird. Es ist kein Gefühl, denn der Anblick eines exzentrischen Kreises mag zwar einigen Menschen unangenehm sein oder in ihnen angenehme Empfindungen erregen, aber dieses kann nur eintreten, nachdem sie die Lage ausgemacht haben. Das Gefühl ist eine Folge und nicht ein Mittel der Entdeckung. Wir machen dauernd Aussagen, in denen Dinge in ihrem Verhältnis zur Umgebung beschrieben werden. »Meine rechte Hand ist größer als die linke.« »Diese Fahnenstange ist nicht gerade.« »Das Klavier ist verstimmt.« »Dieser Kakao ist süßer als die Sorte, die wir früher hatten.« Ein Gegenstand wird unmittelbar als von einer bestimmten Größe gesehen, d. h. als irgendwie zwischen der Größe eines Salzkornes und eines Berges. In der Skala der Hell-Dunkel-Werte liegt unser Quadrat hoch, der schwarze Kreis tief. In gleicher Weise wird jedes Objekt als an einem bestimmten Ort befindlich gesehen. Das Buch, das man liest, erscheint an einer bestimmten Stelle, die durch den Raum und die darin befindlichen Objekte bestimmt ist — unter ihnen der Leser selbst. Das Quadrat erscheint irgendwo auf der Buchseite, und die Scheibe ist im Quadrat außerhalb der Mitte. Kein Objekt wird allein oder getrennt wahrgenommen. Irgend etwas sehen bedeutet, ihm einen Ort im Ganzen anzuweisen: einen Standort im Raum, eine Markierung auf dem Maßstab der Größe, der Helligkeit oder der Entfernung. In anderen Worten, jeder Sehakt ist ein Sehurteil. Urteile werden manchmal für eine Domäne des Intellekts gehalten. Aber Sehurteile sind keine nachträglichen Zutaten des Verstandes, nachdem das Sehen bereits geschehen ist. Sie sind unmittelbare und notwendige Bestandteile des Sehaktes selbst. Den exzentrischen Ort der schwarzen Scheibe wahrnehmen, ist untrennbarer Teil des Sehens selbst. Die Wahrnehmungen des Auges beziehen sich nicht nur. auf die örtlichkeit. Beim Betrachten der Scheibe merken wir, daß sie nicht nur einen bestimmten Platz einnimmt, sondern auch Unruhe zeigt. Diese Un-

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Gleichgewicht

ruhe der Scheibe kann als ein Streben erfahren werden, seinen Ort zu verändern, oder genauer gesagt, als ein Zug in eine bestimmte Richtung — zum Beispiel zur Mitte. Obgleich die Scheibe ortsgebunden und zu keiner wirklichen Bewegung fähig ist, kann sie doch eine innere Spannung im Verhältnis zum umgebenden Quadrat zeigen. Auch hier ist diese Spannung keine nachträgliche Zutat des Verstandes oder der Einbildungskraft. Wie Größe, Ort oder Schwärze ist sie Teil der Wahrnehmung selbst. Da diese Spannung eine Größe und Richtung hat, kann sie als eine psychologische »Kraft« bezeichnet werden. Wenn die Scheibe zum Mittelpunkt des Quadrates zu streben scheint, wird sie durch etwas angezogen, was eigentlich nicht im Bild enthalten ist. Der Mittelpunkt ist in Abb. ι durch keine Markierung dem Auge sichtbar, er ist unsichtbar wie der Nordpol und der Äquator, und doch ist er mehr als nur eine Vorstellung. Er ist offensichtlich Teil der wahrgenommenen Figur, ein unsichtbares Kraftzentrum, das von dem Umriß des Quadrates hervorgebracht wird. Wir können es »induziert« nennen (wie ein elektrischer Strom einen anderen erzeugen kann). Es gibt also mehr Dinge im Sehfeld, als nur solche, die die Netzhaut des Auges erreichen. Es gibt viele Beispiele solcher »induzierten« Strukturen. In einem Bild mit Zentralperspektive kann zum Beispiel der Fluchtpunkt durch die zusammenlaufenden Linien bestimmt werden, obgleich keine tatsächliche Markierung am Schnittpunkt zu sehen ist. In einer Melodie kann man den regelmäßigen Takt »hören«, von dem die synkopierten Töne abweichen, wie unsere Scheibe vom Mittelpunkt abweicht. Wieder muß betont werden, daß diese Induktion kein verstandesmäßiger Vorgang ist. Sie ist kein Einbauen früherer Kenntnisse, sondern untrennbarer Bestandteil der unmittelbaren Wahrnehmung selbst. Eine sichtbare Figur wie ein Quadrat ist leer und doch zugleich nicht leer. Der Mittelpunkt ist Teil einer komplexen, verborgenen Struktur, die durch die Scheibe erforscht werden kann, wie etwa Eisenspäne die Kraftlinien eines elektrischen Feldes anzeigen. Indem man die Scheibe an verschiedene Stellen im Quadrat setzt, ergibt sich, daß sie an einigen in Ruhe erscheint, an anderen zeigt sie einen Zug in eine bestimmte Richtung, oder ihre Stellung kann unklar und mehrdeutig sein. Die Scheibe ist am besten stabilisiert, wenn ihr Mittelpunkt mit dem des Quadrates übereinstimmt. In Abb. 2 scheint sie rechts zum Rahmen gezogen zu sein. Wenn die Entfernung verändert wird, wird dieser Eindruck abgeschwächt oder gar in sein Gegenteil verkehrt. Man kann zum Beispiel eine bestimmte Entfernung herausfinden, in der die Scheibe »zu dicht« erscheint, d. h., von der Begrenzung wegstrebt. Dann erscheint der leere Zwischenraum zwischen Rahmen und Scheibe gedrückt, als ob mehr »Atem«-Raum nötig wäre. Es ergibt sich, daß die Scheibe außerdem von den Diagonalen des Quadrates und von dem Kreuz der senkrechten und waagerechten Mittellinien beeinflußt wird (Abb. 3). Der Mittelpunkt ergibt sich aus dem Schnittpunkt dieser vier Strukturlinien. Andere Punkte haben weniger Bedeutung als der Mittelpunkt, aber ihre Anziehungskraft kann ebenso

nachgewiesen werden.

Gleichgewicht

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An jeder Stelle wird die Scheibe durch die Kräfte aller verborgenen Strukturfaktoren beeinflußt. Die relative Größe und Entfernung dieser Faktoren bestimmt ihre Wirkung im Gesamtkräftefeld. Im Mittelpunkt gleichen sich alle Kräfte aus, daher steht er für Ruhe. Einen anderen verhältnismäßig ruhenden Ort kann man zum Beispiel herausfinden, indem man die Scheibe auf der Diagonale bewegt. Das Gleichgewicht scheint sich dann auf einem Punkt etwas näher zur Ecke des Quadrates als zum Mittelpunkt einzustellen. Das mag bedeuten, daß die Mitte stärker als die Ecken ist und das Ubergewicht durch größere Entfernung ausgeglichen werden muß, als ob sie zwei Magneten ungleicher Größe wären. Im allgemeinen wird jede mit einer Markierung auf dem »Strukturplan« übereinstimmende Position ein ruhendes Element bedeuten, dem natürlich andere Kräfte entgegenwirken können.

Abb. 3 Wenn der Einfluß einer bestimmten Richtung überwiegt, ergibt sich ein Zug dorthin. Wenn die Scheibe sich genau in der Mitte zwischen Ecke und Mittelpunkt befindet, sehen die meisten Betrachter ein Streben zur Mitte. Eine unangenehme Wirkung zeigt sich in Orten, deren Zugkräfte so vieldeutig sind, daß das Auge nicht entscheiden kann, ob die Scheibe in irgendeine Richtung strebt. Solches Schwanken macht eine visuelle Feststellung unklar und verhindert das visuelle Urteil des Betrachters. In vieldeutigen Orten kann die Sehstruktur nicht mehr das Gesehene bestimmen. Die subjektiven Faktoren im Betrachter wirken sich aus, wie etwa das Zentrum seiner Aufmerksamkeit oder seine Vorliebe für eine bestimmte Richtung. Wenn man Bedingungen schafft, die konstante Beobachtung verhindern, können die hier besprochenen Kräfte unter Umständen eine echte Verschiebung anstatt einer nur gerichteten Spannung hervorbringen. Wenn man Abb. ι nur für den Bruchteil einer Sekunde sieht, erscheint die Scheibe vielleicht näher zum Mittelpunkt als bei einem ausgiebigen Betrachten. Nach Wertheimer wird ein Winkel von etwas mehr oder we-

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Gleichgewicht

niger als 90 0 als rechter Winkel gesehen, wenn er nur kurz gezeigt wird. Ein ähnliches Phänomen kann man beobachten, wenn der Uhrzeiger eine Hauptstellung — etwa 12, Uhr — verläßt. Die gleichmäßige Bewegung scheint unterbrochen zu sein, indem der Zeiger einen Augenblick in dieser Stellung verharrt und sich dann mit einem Ruck befreit. Diese Beobachtungen sind Beispiele einer Tendenz, strukturell einfache Gestalten zu erreichen und zu erhalten — was später noch zu besprechen sein wird. Sind diese Zugkräfte der Scheibe aktiv oder passiv? Das heißt, bewegt diese sich »aus eigener Kraft« oder nur durch Anziehungskräfte, die von dem Quadrat ausgehen? Diese Unterscheidung entscheidet über den Ausdruck der Figur. Es bedarf exakter Versuche, um nachzuweisen, ob bestimmte Bedingungen immer aktiv oder passiv wirken. Eine andere Frage kann sicherer beantwortet werden. Der Kreis scheint immer vom Quadrat und nicht das Quadrat vom Kreis beeinflußt zu sein. Dieses erinnert an Experimente von Duncker, in denen in einem dunklen Raum selbstleuchtende Linienmuster in Bewegung zueinander gesetzt wurden. Ganz gleich, was sich objektiv bewegte, die eingeschlossene Gestalt erschien bewegt, während die umschließende fast oder sogar ganz ruhig blieb. Dieser Effekt war besonders stark, wenn der Betrachter seine Aufmerksamkeit mehr auf den Kreis als auf das Quadrat richtete. Ähnlich ist das Quadrat in unseren Abbildungen die ruhende Basis, im Verhältnis zu dem der sichtbare Vorgang stattfindet. Wenn man das Quadrat im hellen Tageslicht sieht, scheint es nicht wie die Dunckerschen Gestalten im Dunkelraum von der Umgebung getrennt, sondern mit ihr verbunden zu sein. Das Quadrat erhält durch die Buchseite, auf die es gedruckt ist, eine zusätzliche Stabilität. Diese gibt eine Umschließung, innerhalb deren eine größere Unabhängigkeit von der umgebenden Fläche herrscht. Bilderrahmen schaffen solche Umschließungen. Sie wirken wie ein Zaun, der bis zu einem gewissen Grad das Kräftespiel im Bild vor den ablenkenden Einflüssen der Umgebung bewahrt. Das Hin- und Herbewegen der Scheibe zeigte, daß ein Seh-Muster aus mehr Elementen zusammengesetzt ist, als die Netzhaut registriert. Die Hell-Dunkelwerte haben auf der Netzhaut ein Muster erzeugt, das in Begriffen der Größe, Form, Abmessung und Richtung adäquat beschrieben werden kann. Die Untersuchungen wiesen jedoch außer diesem Seh-Muster eine verborgene Struktur nach, deren Hauptmerkmale auf Abb. 3 angegeben sind. Diese stellt ein Bezugssystem dar, mit dem man die Gleichgewichtswertigkeit eines jeden Bildelementes genauso bestimmen kann, wie die Tonreihe die Höhe jeder Note in einer Komposition festlegen hilft. In einer anderen wichtigeren Richtung mußten wir über das »Reizmuster« auf der Netzhaut hinausgehen. Offensichtlich war die Gestalt mit der verborgenen Struktur nicht nur ein Liniengitter. Das Seh-Muster ist eigentlich ein Kräftefeld, wie auf Abb. 3 angegeben. In dieser dynamischen Landschaft stellen die Linien scharfe Grate dar, von denen die Kraftintensität nach beiden Seiten abfällt. V o n diesen Graten aus wir-

ken die anziehenden und abstoßenden Kräfte, deren Einflüsse die ganze

Gleichgewicht

S

Umgebung erfassen. Die sogenannte innere Struktur des Quadrates — es gibt nebenbei ebenso eine äußere Struktur außerhalb der Gestalt — ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Kräfte, die von den sichtbaren Figuren ausgehen, d. h. den Seiten des Quadrats. Keine Stelle ist von dieser Spannung frei. Sicherlich wurden »ruhende« Punkte im Quadrat gefunden, aber ihre Ruhe deutet nicht auf eine Abwesenheit aktiver Kräfte hin. Der Mittelpunkt ist nicht tot; kein Zug in irgendeiner Richtung wird fühlbar, weil dort alle Kräfte sich ausgleichen. Das Gleichgewicht des Mittelpunktes ist für das aufmerksame Auge mit Spannung erfüllt. Man denke an ein bewegungslos gespanntes Tau, an dem zwei Männer mit gleicher Kraft ziehen. Es ist ruhig, aber mit Kraft gespannt. Im folgenden muß man sich immer vor Augen halten, daß jede visuelle Gestalt dynamisch ist. Wie ein Lebewesen nicht durch seine Anatomie beschrieben werden kann, so auch nicht das Wesen der Wahrnehmung in Maßen von Größe und Umfang, in der Winkelgröße oder in der Wellenlänge der Farbe. Diese statischen Maßangaben definieren nur den »Reiz«, d. h. die Botschaft der physikalischen Umwelt an das Auge. Aber die Lebendigkeit einer Wahrnehmung — ihr Ausdruck und ihre Bedeutung — leitet sich nur von der Tätigkeit der oben beschriebenen Kräfte ab. Jeder Strich auf einem Bogen Papier oder jede noch so einfache, aus Ton modellierte Form wirkt wie ein Stein, der in einen See geworfen wird. Sie stören die Ruhe und machen den Raum aktiv. Sehen ist das Wahrnehmen von Handlungen.

Was verstehen wir unter

Wahrnehmungskräftent

Der Leser mag mit gewissem Argwohn die Verwendung des Begriffes »Kraft« bemerkt haben. Sind diese Kräfte nur bildlicher Ausdruck, oder existieren sie wirklich? Wenn ja, wo befinden sie sich dann? Man nimmt an, daß sie in beiden Existenzweisen, d. h. als psychologische und als physikalische Kräfte wirksam sind. Psychologisch insofern, als die Zugkräfte der Scheibe in der Erfahrung jedes Betrachters wirklich gegeben sind. Da diese Kräfte einen Ansatzpunkt, eine Richtung und eine Größe haben, entsprechen sie den Bedingungen, nach denen die Physiker physikalische Kräfte bestimmen. Deswegen haben die Psychologen den gleichen Begriff übernommen. In welcher Weise können diese Kräfte nicht nur in der Erfahrung, sondern auch in der physikalischen Welt existieren? Sie sind sicherlich nicht in den Objekten enthalten, die wir betrachten, wie etwa das weiße Papier mit dem Quadrat oder mit der Scheibe aus schwarzer Pappe. Molekular- und Gravitationskräfte wirken in diesen Dingen, halten ihre Mikroteilchen zusammen und verhindern, daß diese davonfliegen. Aber es gibt keine bekannte physikalische Kraft, die den exzentrisch gelegenen Papierkreis nach Möglichkeit zum Mittelpunkt des Papierquadrates stoßen würde. Ebensowenig strahlen die Linien aus Tinte irgendeine magnetische Kraft auf die umliegende Papierfläche aus. Wo befinden sich also diese Kräfte?

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Gleichgewicht

Man erinnere sich, wie ein Betrachter das Quadrat und die Scheibe zur Kenntnis nimmt. Lichtstrahlen der Sonne oder irgendeiner anderen Lichtquelle treffen das Objekt, werden teilweise absorbiert und teilweise reflektiert. Einige der reflektierten Lichtstrahlen treffen die Linse des Auges und werden auf die empfindliche Rückwand, die Netzhaut, projiziert. Entstehen die fraglichen Kräfte aus den Reizen, die das Licht in den Millionen kleiner Rezeptoren auf der Netzhaut hervorruft? Diese Möglichkeit ist nicht völlig auszuschließen. Aber die Aufnahmeorgane der Netzhaut sind selbständig. Besonders die »Zäpfchen«, die im wesentlichen für das Muster-Sehen verantwortlich sind, haben keine anatomisch nachweisbare Verbindung untereinander. Viele sind unmittelbar mit dem Sehnerv verbunden. Die Voraussetzungen für diesen Vorgang scheinen jedoch im Sehzentrum des Hinterkopfes gegeben zu sein. Nach den Untersuchungen von Gestaltpsychologen enthält die Großhirn-Fläche ein Feld elektrochemischer Kräfte. Diese wirken aufeinander ohne die trennende Aufteilung, wie bei den Aufnahmeorganen der Netzhaut. Die Reizung an einer Stelle breitet sich wahrscheinlich auch auf die umgebenden Flächen aus. U m ein Beispiel zu geben, das solche Zwischenwirkung voraussetzt, seien hier Wertheimers Untersuchungen über phänomenale Bewegung erwähnt. Wenn zwei Lichter in einem dunklen Raum kurz nacheinander aufblenden, berichtet der Betrachter oft nicht zwei getrennte, unabhängige Wahrnehmungen. Anstatt erst das eine Licht und dann in einiger Entfernung das andere, sieht er nur ein Licht, das sich von einem Ort zum anderen hinbewegt. Diese »scheinbare« Bewegung ist so überzeugend, daß sie von der tatsächlichen Ortsveränderung eines Lichtes nicht unterschieden werden kann. Wertheimer Schloß daraus, daß dieser Effekt das Ergebnis eines »physiologischen Kurzschlusses« im Sehzentrum des Gehirns sei, durch den die Energie von dem Ort der ersten Reizung auf einen zweiten verlegt würde. In anderen Worten meinte er, daß lokale Reize im Gehirn dynamisch aufeinander einwirkten. Andere Untersuchungen bestätigten die Gültigkeit dieser Hypothese und gaben weitere Einzelheiten über Art und Auswirkung von Kräften in der Großhirnrinde. Diese Ergebnisse waren nur indirekte Schlußfolgerungen, da sie die Kenntnis physiologischer Vorgänge aus psychologischen Beobachtungen ableiteten, aber Untersuchungen von Köhler haben kürzlich den Weg für eine direkte Untersuchung der Vorgänge im Gehirn selbst geöffnet. Man kann die Kräfte, die man beim Betrachten sichtbarer Objekte erlebt, als psychologisches Gegenstück oder Äquivalent der im Gehirn wirkenden physiologischen Kräfte ansehen. Obgleich diese Vorgänge — physiologisch gesehen — im Gehirn ablaufen, werden sie psychologisch erfahren, als ob sie Eigenschaften der wahrgenommenen Gegenstände selbst seien. Nur durch Betrachten lassen sie sich genausowenig von den physikalischen Vorgängen in den Objekten unterscheiden, wie ein Traum oder eine Halluzination von der Wahrnehmung eines »tatsächlichen« Vorganges unterschieden werden kann. Erst durch den Vergleich verschiedener Erfahrungen kann man die Unterschiede von Vorgän-

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gen, die nur aus der Tätigkeit des Nervensystems resultieren und anderen, die in äußeren Dingen vonstatten gehen, erschließen. Es hat aber keinen Sinn, diese Kräfte nur als »Täuschung« zu bezeichnen. Sie täuschen nicht mehr vor als etwa Farben, die zwar als Eigenschaften der Dinge angesehen werden, in Wirklichkeit aber nur die Reaktion des Nervensystems auf Lichtstrahlen bestimmter Länge sind. Diese Kräfte sind psychologisch so wirklich wie alles, was wir wahrnehmen, fühlen oder denken. Der Begriff »Täuschung« gilt nur dann, wenn ein Unterschied, der zwischen der physikalischen und psychologischen Umgebung auftritt, uns im Umgang mit physikalischen Dingen Fehler begehen läßt — zum Beispiel in einen Spiegel zu laufen oder eine Mauer schräg zu bauen, die gerade sein sollte. Für den Künstler gibt es solche Gefahren nicht, denn was richtig aussieht, ist auch richtig. Der Künstler gebraucht seine Augen nicht, um mit Farbmaterialien zu hantieren. Er verwendet die Farben, um ein sichtbares Bild zu schaffen, da das Bild und nicht die Farbpaste das Kunstwerk ist. Wenn eine Mauer im Bild senkrecht aussieht, so ist sie auch senkrecht. Wenn ein begehbarer Raum in einem Spiegel zu sehen ist, so besteht kein Grund, warum Bilder von Menschen nicht in ihn hineingehen sollten, wie es in einigen Filmen geschehen ist. Daher würden die Kräfte, die unserer Scheibe ihre Zugkraft geben, nur einen Menschen täuschen können, der sie zum Antrieb einer Maschine benutzen wollte. Künstlerisch und in der Wahrnehmung gibt es sie wirklich. Zwei Scheiben in einem Quadrat

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Abb. 4

Eine zweite Scheibe wird in das Quadrat eingeführt, um der Vielgliedrigkeit des Kunstwerkes wenigstens etwas näher zu kommen. Was ist das Ergebnis? Einige Auswirkungen des Verhältnisses Quadrat-Scheibe werden auch bei zwei Scheiben auftreten. Liegen die Scheiben dicht beieinander, so ziehen sie einander an und erscheinen beinahe als unteilbare Einheit. In einem bestimmten Abstand stoßen sie sich ab, da sie einander zu nahe sind. Der Abstand, in dem diese Wirkung eintritt, ist abhängig von der Größe der Scheiben und des Quadrates und dem Ort der Scheiben im Quadrat. Die Anordnung der Scheiben kann ein Gleichgewicht ergeben. Jeder der beiden Orte in Abb. 4a mag, für sich allein gesehen, unausgeglichen erscheinen. Zusammen bilden die Scheiben ein symmetrisch angeordnetes, ruhendes Paar. Das gleiche Paar erscheint aber unerträglich unausgeglichen, wenn es an eine andere Stelle verschoben wird (Abb. 4b). Die oben ausgeführte Analyse der Struktur gibt einige Hinweise für die Ursachen. Die beiden Scheiben bilden durch ihre Nähe und ihre Gleichheit in Größe und Form ein Paar. Außerdem sind sie der einzige »Inhalt« des Quadrates. Als Glieder eines Paares erscheinen sie nach Möglichkeit symmetrisch — d. h. im Ganzen sind ihnen gleicher Wert und gleiche Aufgabe zugeteilt. Dieses Wahrnehmungsurteil steht jedoch im Gegensatz zu einem anderen, das sich auf den Ort des Paares aufbaut. Die untere Scheibe befindet sich an einem besonderen, ruhenden

Gleichgewicht

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Ort, dem Mittelpunkt. Die obere befindet sich dagegen auf einem weniger ausgewogenen Ort. So ergibt sich durch diese unterschiedliche Anordnung eine Unterscheidung beider Scheiben, die zu der paarweisen Symmetrie in Gegensatz steht. Dieser Konflikt kann nicht aufgehoben werden. Der Betrachter schwankt zwischen zwei einander aufhebenden Auffassungen. Dieses Beispiel zeigt, daß eine gesehene Gestalt nur unter Berücksichtigung der Struktur ihrer räumlichen Umgebung beurteilt werden kann, und daß eine Doppeldeutigkeit sich durchaus aus einem Widerspruch zwischen dem Form-Muster und dem Muster der räumlichen Anordnung ergeben kann. Psychologisches

und physikalisches

Gleichgewicht

Bei der Untersuchung der Auswirkungen der Wahrnehmung räumlicher Anordnungen müssen wir uns mit dem Faktor des Gleichgewichts beschäftigen. Besonders in einem Kunstwerk müssen alle Glieder so angeordnet sein, daß sich daraus ein Gleichgewichtszustand ergibt. Was ist Gleichgewicht, und warum kann man ohne es nicht auskommen? Für den Physiker ist Gleichgewicht der Zustand eines Körpers, in dem die einwirkenden Kräfte sich gegenseitig aufheben. Im einfachsten Beispiel ziehen zwei gleichstarke Kräfte in entgegengesetzter Richtung. Diese Definition kann auch auf das visuelle Gleichgewicht bezogen werden. Jedes begrenzte gesehene Muster hat wie alle physikalischen Körper einen Dreh- oder Schwerpunkt. Wie man den Schwerpunkt der seltsamst geformten flachen Körper dadurch bestimmen kann, daß man den Drehpunkt auf einer Fingerspitze balanziert, so kann man den Mittelpunkt eines Musters durch Ausprobieren ermitteln. Nach Denman W.Ross ist die einfachste Methode, einen Rahmen so lange um das Muster zu verschieben, bis beide ausgewogen sind. Dann liegen Mittelpunkt des Rahmens und des Musters übereinander. Keine logische Rechenmethode könnte die spontane Beurteilung durch das Auge ersetzen, wenn man von den allerregelmäßigsten Formen absieht. Nach den bisherigen Ergebnissen würde das bedeuten, daß das Auge dann Gleichgewicht sieht, wenn die physiologischen Kräfte im Gehirn so verteilt sind, daß sie sich ausgleichen. Der Schwerpunkt in einem Gemälde stimmt ungefähr mit dem Mittelpunkt des Rahmens überein. (Gewisse Abweichungen von der geometrischen Mitte ergeben sich meist aus folgenden Gründen: Das unterschiedliche »Gewicht« von Oben und Unten bei einem sichtbaren Objekt kann den Schwerpunkt nach oben verlagern; auch kann die Wechselwirkung zwischen Bildgestalt und Flächenstruktur den Mittelpunkt verschieben.) In einem Kunstwerk ohne Rahmen — einer Plastik zum Beispiel — bestimmt die Figur ihren eigenen Schwerpunkt, wenn man von Einflüssen der Umgebung absehen will — etwa einer Nische, in der die Figur steht, oder einer Basis. Bevor zwei Waagschalen sich in ein Gleichgewicht einspielen, schwingen sie auf und ab, bis sie zum Stillstand kommen. Danach ist keine

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weitere Zugkraft mehr zu beobachten. Unsere Überlegungen am Kreis im Quadrat haben gezeigt, daß dieses für ein gesehenes Gleichgewicht nicht zutrifft. In einem Kunstwerk bleiben die ins Gleichgewicht gebrachten Kräfte sichtbar. Daher können eigentlich bewegungsunfähige Darstellungsmittel wie Malerei oder Plastik Leben darstellen, das in Bewegung ist. Es gibt noch einige andere Unterschiede zwischen dem visuellen und dem physikalischen Gleichgewicht. Die Fotografie einer Tänzerin kann unausgeglichen wirken, obgleich die Tänzerin sich während der Aufnahme in einer bequemen Stellung befand. Es kommt vor, daß ein Modell eine Stellung nicht einhalten kann, die auf der Leinwand vollkommenes Gleichgewicht wiedergibt. Plastik kann ein inneres Stützgerüst zum aufrechten Stehen benötigen, obgleich der äußere Eindruck gut ausgewogen ist. Eine Ente schläft friedlich, obgleich sie nur auf einem schräggestellten Bein steht. Diese Widersprüche ergeben sich daraus, daß die Faktoren des visuellen Gleichgewichts oft nicht gleichen physikalischen Faktoren entsprechen. Das Kostüm eines Clowns — die linke Seite rot, die rechte blau — kann in seiner Farbzusammenstellung dem Auge asymmetrisch erscheinen, obgleich beide Hälften des Kostüms — und des Clowns — gleiches physikalisches Gewicht haben. In einem Gemälde kann die unsymmetrische Haltung einer menschlichen Figur durch ein physikalisch beziehungsloses Objekt — etwa durch einen Vorhang im Hintergrund — ausgeglichen werden. Ein gutes Beispiel ist ein Gemälde des 15. Jahrhunderts, auf dem der hl. Michael beim Wägen der Seelen dargestellt ist (Abb. 5). Nur durch die Kraft des Gebets kann eine kleine zarte nackte Figur das Übergewicht über vier große Teufel und zwei Mühlsteine bekommen. Die Schwierigkeit für den Maler ist, daß das Gebet nur geistige Kraft hat und keinen sichtbaren Zug ausüben kann. Zur Abhilfe hat der Maler eine große dunkle Fläche auf dem Gewand des Engels unterhalb der Waagschale mit der frommen Seele angebracht. Dieser Fleck schafft durch visuelle Anziehungskraft, die physikalisch nicht existiert, das Gewicht, das der Szene eine ihrer Bedeutung gemäße äußere Erscheinung gibt. Wozu Gleichgewichtl Warum ist Gleichgewicht im Bild unentbehrlich? Es sei daran erinnert, daß visuell und physikalisch im Gleichgewicht alle Glieder so verteilt sind, daß sie zur Ausgeglichenheit und zur Ruhe kommen. In einer ausgewogenen Komposition sind alle Faktoren wie Form, Richtung und Anordnung gegenseitig festgelegt, so daß keine Änderung mehr möglich scheint, und das Ganze den Charakter der »Notwendigkeit« in allen Teilen angenommen hat. Eine nicht ausgewogene Komposition erscheint zufällig, transitorisch und daher eigentlich nicht gültig. Ihre Glieder streben danach, Ort und Gestalt zu wechseln, um einen der Gesamtstruktur eher angemessenen Zustand zu erreichen. Die künstlerische Aussage wird unter diesen Umständen unbegreifbar. Das Muster ist viel-

Abb. 5

Gleichgewicht

II

deutig und läßt keine eindeutige Entscheidung zu, welche besondere Konfiguration gemeint ist. Wir haben den Eindruck, daß der Schaffensprozeß plötzlich und zufällig irgendwo unterbrochen worden ist. Da nun eine Veränderung nötig sein würde, erweist sich die Bewegungslosigkeit des Werkes als ein Hindernis. Zeitlosigkeit wird durch die beklemmende Erfahrung einer angehaltenen Zeit ersetzt. Dieses Phänomen steht zu meiner früheren Behauptung in Beziehung, daß jeder Wahrnehmungsakt ein Wahrnehmungsurteil sei. Eine Kugel in einem leeren Raum würde weder klein noch groß, hoch oder niedrig, schnell oder langsam sein, sie würde weder stillstehen noch in irgendeiner Richtung sich bewegen. Jede Wahrnehmungsqualität muß durch ihre raumrestliche Umgebung bestimmt werden. Ein ausgewogenes Muster leistet das. Der Künstler möchte natürlich immer irgendeine Art von Ungleichheit ausdrücken. Zum Beispiel ist in einer Darstellung der Verkündigung von El Greco der Engel wesentlich größer als die Jungfrau. Aber dieses symbolisch gemeinte Mißverhältnis der Größe wirkt nur dadurch überzeugend, daß es durch ausgleichende Faktoren festgelegt wird. Andernfalls würde die verschiedene Größe der Figuren nicht endgültig erscheinen und damit bedeutungslos sein. Die Behauptung, gestörtes Gleichgewicht könne nur durch Gleichgewicht dargestellt werden, ist nur scheinbar paradox; denn auch ein Mißton kann nur durch Harmonie, Trennung nur durch Einheit gezeigt werden. Die folgenden Beispiele sind einem Test von Maitland Graves entnommen, in dem das künstlerische Empfindungsvermögen von Studenten geprüft werden sollte. Vergleiche (a) und (b) in Abb. 6. Die linke Figur ist ausgewogen. Die Zusammenstellung von verschiedenen Quadraten, Rechtecken unterschiedlicher Größe, Proportion und Richtung ist sehr lebendig, aber sie halten sich gegenseitig, so daß jedes Glied an seinem Ort bleibt; alles ist notwendig, nichts kann geändert werden. Vergleiche die überzeugend eingezeichnete innere Vertikale in (a) mit dem betrüblichen Schwanken ihres Gegenstücks in (b). In (b) unterschei-

IUI a

b Abb. 6

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Abb. 7

Ii

den sich die Proportionen nur durch kleine Differenzen, wodurch das Auge im Ungewissen bleibt, ob es mit Gleichheit oder Ungleichheit, mit Rechteck oder Quadrat zu tun hat. Wir können nicht erkennen, was das Muster aussagen will.

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Abb. 7a ist zwar vielgliedriger, aber nicht weniger irritierend in seiner Doppeldeutigkeit. Die Überschneidungen sind weder eindeutig rechtwinklig noch schräg. Die vier Linien unterscheiden sich in ihrer Länge nicht genügend, um das Auge zu überzeugen, daß sie ungleich sind. Das Muster treibt im Raum ohne Anker und gleicht einerseits einer symmetrischen, kreuz-ähnlichen Gestalt in vertikal-horizontaler Ausrichtung, andererseits aber auch einer Drachen-ähnlichen Form mit diagonaler Symmetrieachse. Beide Interpretationen sind nicht schlüssig. Sie haben nicht die überzeugende Klarheit von Abb. 7b. Gestörtes Gleichgewicht versetzt nicht immer die ganze Gestalt in Bewegung. Die Symmetrie des lateinischen Kreuzes in Abb. 8 ist so sicher gefügt, daß die unpassende Krümmung wie eine Verletzung aussieht. Hier kann eine ausgewogene Gestalt die Unstimmigkeit in der Teilform aussondern. Unter solchen Bedingungen gerät das gestörte Gleichgewicht in begrenzten Abschnitten in Konflikt mit der Einheit des Ganzen. Gewicht Bei diesem Stand der Untersuchung wird es gut sein, zwei Faktoren näher zu beschreiben, die das Gleichgewicht bestimmen: Gewicht und Richtung. Das Gewicht hängt von dem Ort ab. Ein Bildelement auf oder in der Nähe des Kompositionszentrums oder der senkrechten Mittelachse hat weniger Gewicht, als wenn es außerhalb der Hauptstrukturlinien liegt, wie sie auf dem Plan von Abb. 3 angegeben sind. Zum Beispiel können in einer Bildkomposition Christus oder die Jungfrau, zentral angebracht, besonders groß oder durch Farbe oder einen .anderen Faktor besonders ausgezeichnet sein, ohne daß das Gleichgewicht gestört wird. Van Pelt hat ausgeführt, daß in einer symmetrischen Folge von drei Bogen der mittlere größer sein sollte. Wenn er nur so groß wie die anderen wäre, würde er zu schwach aussehen. (Kompositionsgewicht darf nicht mit »Bedeutung« verwechselt werden. Ein zentral angeordnetes Objekt nimmt immer mehr Bedeutung an als ein seitliches.) Ein Objekt in der oberen Hälfte der Komposition ist schwerer als eines in der unteren; auf der rechten Seite hat es mehr Gewicht als auf der linken. Auch das Hebelgesetz ist auf Bildkompositionen angewendet worden. Dieses Gesetz besagt, daß das Gewicht eines Bildelementes sich im Verhältnis zu seiner Entfernung vom Gleichgewichtspunkt verstärkt. Obgleich dieses wahrscheinlich zutrifft, muß man bedenken, daß das Abwägen im Bild nicht beziehungslos im leeren Raum erfolgt wie das physikalische Wägen, sondern daß meistens andere wichtige Anordnungsfaktoren das Hebelgesetz beeinflussen. Es scheint auch einen Hebeleffekt in der Tiefendimension eines Bildes zu geben — d. h. je weiter vom Betrachter entfernt die Dinge sich im Bildraum befinden, umso schwerer sind sie. Puffer hat beobachtet, daß Durchblicke, die den Blick in einen entfernten Raum lenken, eine starke ausgleichende Wirkung haben. Das mag ein besonderer Fall in der all-

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-I Abb. 9

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gemeinen Wirkung der Entfernung sein. Es ist schwer, diesen Faktor abzuschätzen, denn ein entferntes Objekt scheint wegen der Perspektive verhältnismäßig groß zu sein. Weil es größer erscheint, kann es mehr Gewicht haben, als ein Objekt dieser Flächengröße sonst aufweisen würde. In Manets Déjeuner sui l'heibe hat das in der Ferne Blumen pflückende Mädchen ein beträchtliches Gewicht im Verhältnis zu der Gruppe der drei Personen im Vordergrund. Wieviel mag daher kommen, daß sie durch die Entfernung perspektivisch größer erscheint als der Raum, den sie einnimmt? Gewicht ist auch von Größe abhängig. Unter gleichen Bedingungen ist das größere Objekt das schwerere. Bei Farben ist Rot schwerer als Blau und helle Farben sind schwerer als dunkle. Eine schwarze Fläche muß größer sein als eine weiße, um sie ausgleichen zu können. Zum Teil erklärt sich diese Feststellung aus dem Irradiationseffekt, der eine helle Fläche verhältnismäßig größer erscheinen läßt. »Inhaltliches Interesse« ist nach Puffer auch ein bestimmender Faktor des Kompositionsgewichts. Eine Bildfläche kann die Aufmerksamkeit des Betrachters wegen des Bildinhaltes auf sich ziehen — z. B. die Fläche um das Christkind in einer Anbetung — oder wegen ihrer formalen Vielgliedrigkeit, Verschachtelung oder anderer Eigenschaften. (Vergleiche den vielfarbigen Blumenstrauß in Manets Olympia.) Gerade die Kleinheit eines Dinges kann eine Anziehungskraft ausüben und dadurch das geringe Gewicht ausgleichen, das unter anderen Umständen mit seiner geringen Größe verbunden sein würde. Kürzlich haben Untersuchungen die Möglichkeit angedeutet, daß Wünsche und Befürchtungen des Betrachters die Wahrnehmung beeinflussen können. Es müßte interessant sein herauszufinden, ob Gleichgewicht im Bild durch die Einführung eines sehr erstrebenswerten oder eines furchterregenden Gegenstandes verändert wird. Isolierung verstärkt das Gewicht. An einem leeren Himmel sind Sonne und Mond schwerer als ein Objekt ähnlicher Erscheinung, das von anderen Dingen umgeben ist. Im Theater wird auf der Bühne die Isolierung als ein Mittel zur Betonung verwendet. Große Schauspieler lehnen oft ab, während wichtiger Szenen zu nahe an andere Schauspieler heranzugehen. Form und Ausrichtung scheinen ebenfalls das Gewicht zu beeinflussen. Eine regelmäßige Gestalt, wie z. B. einfache geometrische Formen, wirkt wahrscheinlich schwerer als eine unregelmäßige Gestalt. Auch die Dichte — d. h. das Maß, in dem die Masse um den Mittelpunkt konzentriert ist — scheint Gewicht zu erzeugen. In Abb. 9 (aus dem GravesTest) hält ein verhältnismäßig kleiner Kreis einem großen Rechteck und einem Dreieck das Gegengewicht. Vertikal ausgerichtete Formen scheinen schwerer als schräge zu sein. Die meisten »Regeln« dieser Art müßten erst noch durch genaue Versuche bestätigt werden. Welchen Einfluß hat das Wissen? Kein Wissen auf Seiten des Betrachters wird in einem Bild ein Bündel Baumwolle leichter erscheinen lassen als einen Klumpen Blei von ähnlichem Aussehen. Dieses Problem hat sich in der Architektur ergeben. Nach Mock und Richards »wis3

Arnheim

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sen wir aus wiederholten. Erfahrungen, wie stark Holz oder Stein sind, da wir diese Materialien in anderen Zusammenhängen gebraucht haben, und wenn wir ein Stück Holz oder eine Steinmetzarbeit anschauen, wissen wir sofort, daß es seine Aufgabe erfüllen kann. Aber bei der armierten Betonkonstruktion ist es anders,· ebenso bei einem Gebäude aus Stahl und Glas. Wir können nicht die Eisenstangen im Beton sehen und uns überzeugen, daß es den mehrfachen Abstand überspannen kann wie ein Sturz aus Stein, dem es so ähnlich sieht, noch können wir die Stahlstützen hinter einem Schaufenster sehen, so daß ein Gebäude scheinbar auf einer unsicheren Basis aus Glas steht. Man muß sich jedoch bewußt sein, daß die Erwartung, wir könnten auf einen Blick verstehen, warum ein Gebäude aufrecht steht, das Überbleibsel aus einem Zeitalter der Handwerkskunst ist, das schon vor William Morris vergangen war.« Diese Art zu argumentieren ist heute sehr verbreitet, läßt aber dem Zweifel weiten Spielraum. Zwei Dinge müssen auseinandergehalten werden. Einerseits gibt es das technische Verständnis des Fachmannes, das sich auf Faktoren wie Konstruktionsmethoden oder Materialstärke bezieht. Die meisten dieser Faktoren können nicht aus dem Ansehen eines fertigen Gebäudes erschlossen werden, und es gibt auch keinen künstlerischen Grund, warum das sein sollte. Etwas anderes ist das visuelle Verständnis eines Gebäudes. Der Betrachter muß Faktoren wie die Verteilung von visuellem Gewicht und das Verhältnis von tragenden und lastenden Teilen erfassen können. Technische Kenntnis oder Unkenntnis wird kaum die visuelle Bewertung beeinflussen können. Vielleicht fallen gewisse stilistische Konventionen ins Gewicht — ζ. B. die Weite einer Bogenspanne. Solche Konventionen stehen dem Wechsel in der Kunst überall entgegen. Ein gewisser Widerstand gegen die visuelle Statik moderner Architektur kann aus dieser konservativen Haltung herrühren. Aber die Hauptsache ist, daß die rein visuelle Zwiespältigkeit einer großen Masse und einer dünnen Stütze keineswegs von der Versicherung des Architekten berührt wird, das Ding werde physikalisch nicht zusammenbrechen. Sobald der Architekt die Erscheinungsform eines massiven Kubus oder einer Mauer aufgibt, die Reste älterer Konstruktionsmethoden sind, und das schlanke Gerüst der Träger freilegt, holt der Stil den Vorsprung der Technik auf, und das Auge hat keine Schwierigkeit mehr. Richtung Wie das Gewicht, so bestimmt auch die Richtung das Gleichgewicht. Wie das Gewicht, so ist auch die Richtung durch den Ort beeinflußt. Das Gewicht jedes Kompositionselementes, ob es zur unsichtbaren Struktur gehört oder ein sichtbares Objekt ist, übt auf Dinge der Umgebung eine Anziehungskraft aus und bestimmt daher deren Richtung. Ich habe schon auf den zentripetalen Zug der kleinen Scheibe, ausgelöst durch den Mittelpunkt des Quadrates, hingewiesen. Das Pferd auf Abb. ro wird durch die Anziehungskraft der Reiterin scheinbar zurückgehalten, während es

Gleichgewicht

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auf Abb. ι ι durch das andere Pferd vorangezogen zu werden scheint. In der Zeichnung Toulouse-Lautrecs, nach der diese Skizze gemacht wurde, gleichen sich beide Kräfte aus. Gewicht durch Anziehungskraft wurde auch in Abb. 5 gezeigt. Gelängte Formen, deren Ausrichtung in der Fläche nur durch einen kleinen Winkel von der vertikalen oder horizontalen Achse abweicht, zeigen einen kräftigen Zug in die strukturell starke Richtung. Eine entsprechende Neigung zur Diagonalen kann ebenfalls vorkommen.

Abb. 10

Abb. Ii

Die Form der Bildelemente gibt Achsen an, und die Achsen schaffen gerichtete Kräfte. Das gilt nicht nur für klar umschriebene Objekte wie ζ. B. eine menschliche Figur, deren aufrechte Position eine vertikal ausgerichtete Kraft ausdrücken kann, sondern auch für jedes Detail — wie ζ. B. eine Mundlinie — oder jede Gruppierung von Objekten — etwa eine Reihe von Männern, die ein langes Rechteck bilden. Dreieckskompositionen pressen die Einzelfiguren in eine aufwärtsstrebende Pyramide — ζ. B. in El Grecos Pietà (Abb. 12). Die durch eine Form angegebenen Achsen ermöglichen eine Bewegung in zwei entgegengesetzten Richtungen. Eine Ellipse (Abb. 13 J ist aufwärts und abwärts gerichtet. Verschiedene Faktoren ergeben dann die Bevorzugung einer bestimmten Richtung. Man kann eine Form eher nach rechts als nach links gerichtet sehen, weil man im allgemeinen visuelle Muster von links nach rechts liest. Oder wenn ein Punkt der Form »verankert« ist — so z. B. im Schwerpunkt — scheint die Kraft von dort auszugehen. Wenn eine Seite der Form mit dem Rahmen verbunden ist, während die andere in der freien Fläche endet — wie z. B. das Dreieck in Abb. 12 — dann wird die Kraft zum freien Ende gerichtet sein. Ähnlich ist die Form eines Armes zur Hand oder eines Zweiges zu seiner Spitze ausgerichtet.

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Der Bildinhalt schafft ebenfalls Kraftlinien. Er legt eine menschliche Figur fest als vorwärts schreitend oder rückwärts fallend. In Rembrandts Bildnis eines jungen Mädchens im Art Institute in Chicago sind die Augen des Mädchens nach links gewendet und verleihen auf diese Weise der symmetrisch frontal gegebenen Figur eine starke seitliche Neigung. Auf der Bühne kennt man »visuelle Linien« — durch die Blickrichtung der Schauspieler. In jedem Kunstwerk arbeiten viele dieser aufgezählten Faktoren mitund gegeneinander, um ein Gleichgewicht des Ganzen zu ergeben. Gewicht der Farbe kann durch Gewicht der Anordnung ausgeglichen werden. Die Richtung einer Form kann durch eine Bewegung zum Mittelpunkt der Anziehungskraft aufgehoben werden. Die Vielschichtigkeit dieser Verhältnisse hat großen Anteil an der Lebendigkeit eines Kunstwerkes. Wenn beim Tanz, im Theater oder im Film wirkliche Bewegung stattfindet, wird die Richtung durch die Bewegung angegeben. Gleichgewicht kann sich durch Handlungen, die gleichzeitig oder nacheinander eintreten — wenn zwei Tänzer symmetrisch aufeinander zugehen — ergeben. Filmcutter lassen oft einer Szene mit einer Bewegung nach rechts eine Szene mit Bewegung nach links vorangehen oder nachfolgen. Das elementare Bedürfnis nach einem solchen Ausgleich wurde eindeutig durch Experimente nachgewiesen. Nachdem die Spitze eines stumpfen Winkels einige Zeit lang betrachtet worden war, bogen sich gerade Linien der gleichen Anordnung und Richtung scheinbar in die entgegengesetzte Richtung. Ähnliche Effekte ergeben sich, wenn ein Betrachter eine gerade Linie sieht, die nur wenig von der Vertikalen und Horizontalen abweicht, und dann später die Vertikale oder Horizontale selbst, die sich in die entgegengesetzte Richtung zu neigen scheinen. Sprechen richtet das Gewicht auf den Ort, von dem es ausgeht. Zum Beispiel kann in dem Duett zweier Tänzer, von denen der eine Verse spricht und der andere schweigt, die Asymmetrie durch die lebhaftere Bewegungen des schweigenden Tänzers ausgeglichen werden. Gleidigewichtsstiuktuien Das Gleichgewicht ist oft in einem oder mehreren Knoten- oder Mittelpunkten konzentriert, die das Hauptgewicht tragen. Zum Beispiel können zwei menschliche Figuren das Doppelzentrum eines Kunstwerkes abgeben. Jede Figur ist in sich selbst um Gleichgewichtspunkte zweiten Grades aufgebaut, die je nach der Komposition im Gesicht, dem Schoß oder den Händen liegen können. Das gleiche gilt für das übrige Gemälde. Dadurch wird ein Hauptthema angegeben, das in der hierarchischen Ordnung die Spitze einnimmt. Von den beiden Figuren und ihrem Gleichgewicht im Gesamtwerk steigt das Auge zu niedrigeren Strukturen herab zu kleinen und kleinsten Einheiten. Die »Steilheit« der hierarchischen Ordnung hängt von dem Stil des Kunstwerkes ab. In einigen dominiert ein kraftvolles Thema, das von einem zurücktretenden »Hintergrund·· umgeben wird. In anderen — zum Beispiel in bestimmten Arbeiten

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von Klee, Matisse, Braque, den Kubisten oder Impressionisten — kann das Gleichgewicht aus einer größeren Zahl untergeordneter Zentren gleicher Kraft resultieren. Im Extrem bewirkt diese Methode eine gleichmäßige Verteilung der Bildelemente, die eher den allgemeinen Charakter einer Stimmung oder einer Existenzweise wiedergeben kann als das Leben beschreiben, wie es von zentralen Kräften oder Ereignissen abhängt. In Gemälden dieser Art ist der Einfluß des Strukturplanes nur schwach. Gleichförmigkeit ist das Ergebnis, das man sehr wohl »atonal« nennen kann, da das Verhältnis zu der unterlegten »Tonika« aufgegeben und durch ein Netz von Beziehungen zwischen den Kompositionselementen selbst ersetzt ist. Oben und unten Es ist oft bemerkt worden, daß der untere Teil einer visuellen Komposition mehr Gewicht verlangt. Man muß zwischen zwei Dingen entscheiden. Entweder erhält der untere Teil gerade so viel Gewicht, daß das Gleichgewicht hergestellt wird, oder der Teil erhält so viel Ubergewicht, daß er schwerer erscheint. Langfeld berichtet: »Wenn man ohne zu messen eine senkrechte Linie halbieren soll, wird die Markierung fast immer zu hoch angegeben. Wird die Linie tatsächlich halbiert, hat man Mühe sich zu überzeugen, daß die obere Hälfte nicht länger als die untere ist.« In diesem Falle wirkt die Verlängerung der unteren Hälfte einfach als Ausgleich. Beide Hälften scheinen dann gleich zu sein. Horatio Greenough dagegen meint etwas ganz anderes: »Es ist eine alte Regel, daß Gebäude, wenn sie sich vom Grund erheben, in der Basis breit und einfach sein sollen, damit sie beim Anstieg nicht nur tatsächlich sondern auch im Ausdruck leichter werden. Dieses Axiom ist von den Schwerkraftgesetzen abgeleitet. Der Turm gehorcht ihm. Der Obelisk ist sein einfachster Ausdruck.« Hier soll die Form am Boden schwerer aussehen. Wahrscheinlich ist die Schwerkraft die Ursache dieser Asymmetrie der vertikalen Richtung, aber wie daraus eine Wirkung auf das Sehen entsteht, ist nicht bekannt. Im Umgang mit physikalischen Objekten lernt der Mensch, daß ein schweres Unten Stabilität gewährleistet. Möglicherweise beeinflußt diese Kenntnis den Betrachter, wenn er visuelles Gleichgewicht abschätzt. Es ist auch möglich, daß außer der Erfahrung ein physiologischer Faktor im Gehirn diese Asymmetrie verursacht, oder daß beide Faktoren vereint wirken. Das Kugelgebäude auf der Weltausstellung 1939 in New York machte den unangenehmen Eindruck, als ob es sich vom Boden erheben wollte, an den es gebunden war. Während ein gut ausgeglichenes Gebäude frei nach oben deutet, erzeugte der Zwiespalt zwischen der symmetrischen Kugel und dem asymmetrischen Raum in diesem besonderen Gebäude eine verhinderte Ortsbewegung. Die Verwendung einer absolut symmetrischen Form in einer asymmetrischen Umgebung ist ein schwieriges Unternehmen. Als ein Beispiel, wie solche Aufgabe gelöst werden kann, sei die Rose der Westfassade von Notre Dame in Paris genannt. (Abb. 14) Sie ist im Verhältnis klein genug, um

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die Gefahr des »Treibens« zu verhindern und »personifiziert« den Ausgleich der umgebenden vertikalen und horizontalen Elemente. Da die Vertikale stärker ist, hat die Rose ihren Ruhepunkt etwas über dem Mittelpunkt der annähernd quadratischen Fläche gefunden, aus dem das Hauptfeld der Fassade besteht. Ein Ausgleich ist immer notwendig, damit der untere Teil einer Struktur weder zu leicht noch zu schmal erscheint. Ausgenommen sind die in ihrer Struktur kräftigsten Formen, die der Verzerrung der Winkel widerstehen können. Ein Bilderrahmen kann genau rechtwinklig sein, weil jedes Rechteck seine regelmäßige Form beibehält. Bei weniger regelmäßigen Formen muß jedoch der notwendige Ausgleich einkalkuliert werden. Man kann jedoch kaum behaupten, daß ganz allgemein in der künstlerischen Tätigkeit die geschaffene Form unten schwerer gehalten würde — d. h. daß der Schwerpunkt nach unten verlegt würde. Es trifft zwar zu, daß der Mensch — ein Lebewesen auf dem Land — in der umgebenden Landschaft den unteren Teil seines Sehfeldes mit Häusern, Feldern, Bäumen oder Vorgängen angefüllt sieht, während der Himmel verhältnismäßig leer ist. Eine ähnliche Wirkung wird in der Kunst absichtlich hervorgerufen, wenn eine realistische Wiedergabe von massiven materiellen Körpern beabsichtigt ist. Der Maler oder Bildhauer verlegt den Schwerpunkt nach unten und paßt dadurch sein Werk der Asymmetrie des physikalischen Raumes an. Das geschieht jedoch nicht immer, sondern nur in bestimmten Stilepochen. Die moderne Kunst macht wegen ihrer Neigung zur Abstraktion kaum Gebrauch von dieser ungleichen Verteilung der Massen. Im Raum schwebend und in sich selbst ruhend zeigt das Bild seine Loslösung von der materiellen Wirklichkeit, indem es irdisches Gewicht negiert. Auch in bestimmten Werken der modernen Plastik und Architektur kann man solche Tendenzen feststellen. Die Entwicklung zu diesem Punkt hat eine wesentliche Stütze in dem Erlebnis gefunden, in der Luft fliegen zu können. Die visuellen Konventionen sind durch Luftfotos sehr gestört worden. Die Filmkamera braucht ihre Sehachse nicht parallel zum Boden zu halten und kann daher Blickwinkel bringen, in denen die Schwergewichtsachse absichtlich versetzt und der untere Teil des Bildes nicht mehr angefüllt ist als der obere. Der moderne Tanz befindet sich in einem bezeichnenden inneren Konflikt. Einerseits wird das Gewicht des menschlichen Körpers betont — den das klassische Ballet aufzuheben versucht hatte —, gleichzeitig aber folgt man dem allgemeinen Zug weg von der realistischen Pantomime zur Abstraktion. Einige moderne abstrakte Künstler haben behauptet, man könne ihre Werke frei drehen, da sie in allen räumlichen Orientierungen ausgewogen seien. Da dieses aber einen Ausgleich der Asymmetrie des Raumes ausschließt, klingt der Anspruch verdächtig. Kürzlich sollten in einem Experiment zwanzig Betrachter ein Urteil abgeben, welche Seite eines gegenstandlosen Bildes »oben« sei. Sie urteilten bezeichnenderweise in signifikanter Häufung richtig, wobei Kunststudenten und Nicht-Kunststudenten gleich gut abschnitten.

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Rechts und links Ein schwieriges Problem ergibt sich aus der Asymmetrie von rechts und links. Ich werde es hier nur soweit einbeziehen, als es die Psychologie des visuellen Gleichgewichts betrifft. Der Kunsthistoriker Wölfflin hat darauf aufmerksam gemacht, daß Gemälde ihre Form verändern und ihre Bedeutung verlieren, wenn sie spiegelbildlich gesehen werden. Er gab als Ursache an, daß Bilder von links nach rechts »gelesen« werden und sich natürlich die Abfolge ändert, wenn das Bild umgedreht wird. Wölfflin stellte fest, daß eine Diagonale von links unten nach rechts oben als ansteigend und die andere als absteigend gesehen wird. Jedes Bildelement sieht auf der rechten Seite schwerer aus als auf der linken. Wenn zum Beispiel der heilige Sixtus in der Sixtinischen Madonna von Raffael durch spiegelbildliche Umkehrung des Bildes auf die rechte Seite gesetzt wird, so wird er dort so schwer, daß die ganze Komposition ein Ubergewicht erhält. (Abb. 15) Gaffron hat diese Untersuchung weitergeführt. In einem Buch versucht sie durch detaillierte Analyse zu zeigen, daß Rembrandts Radierungen ihre wahre Bedeutung dem Betrachter erst dann zeigen, wenn dieser sie so betrachtet, wie der Künstler sie auf die Platte zeichnete und nicht als umgedrehte Drucke, an die wir gewöhnt sind. Nach Gaffron erlebt ein Betrachter ein Bild, als ob er auf dessen linker Seite sich befände. Er identifiziert sich subjektiv mit links, und was auf dieser Seite geschieht, nimmt größte Bedeutung für ihn an. Dieses stimmt mit Deans Beobachtungen über die Raumorte auf der Bühne überein. Er stellte fest, daß beim Hochgehen des Vorhangs zu Beginn eines Aktes die Zuschauer zuerst nach links sehen. Die linke Seite der Bühne wird für die wichtigere gehalten. In einer Gruppe von zwei oder drei Schauspielern beherrscht der linke die Szene.

Folgerichtig wird ein zweites, asymmetrisches Zentrum auf der linken Seite geschaffen, sobald der Betrachter diese Seite beobachtet. Dieses subjektive Zentrum hat wie der Mittelpunkt des Rahmens eine Bedeutung und kann dementsprechend die Komposition beeinflussen. Es ergibt sich ein kontrapunktisches Verhältnis zwischen beiden Zentren. Die Fläche um den subjektiven Mittelpunkt kann wie die Fläche um den Mittelpunkt des Rahmens mehr Gewicht tragen. Dieses scheint der

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Grund zu sein/warum die schwere Figur des Sixtus (Abb. 15) auf der linken Seite nicht das Gleichgewicht stört. Sobald sie nach rechts gesetzt wird, zieht sie im Verhältnis zu den beiden Mittelpunkten Nutzen aus dem »Hebeleffekt«. Daher wird sie schwer — und erscheint hervorgehoben. Daraus folgt eine seltsame Unterscheidung von wichtig und »zentral« auf der linken Seite und schwer und betont auf der rechten. In der Kreuzigung des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald haben nach Christus, der die Mitte einnimmt, Maria und Johannes die größte Bedeutung, während Johannes der Täufer der auffällige Prophet ist, der hinüberdeutend die Aufmerksamkeit auf diese Szene lenkt. Wenn ein Schauspieler die Bühne von rechts betritt, wird er unmittelbar bemerkt, aber das Zentrum der Handlung liegt links, falls es nicht die Mitte einnimmt. In der traditionellen englischen Pantomime erscheint die Feenkönigin, mit der sich der Zuschauer identifizieren soll, immer von links, während der Dämonenkönig von der anderen Seite kommt, d. h. von der rechten Seite der Zuschauer. Am Ende seiner Bemerkungen über das Rechts-Links-Phänomen erinnert Wölfflin seine Leser daran, daß er zwar beschrieben, aber keine Erklärungen gegeben habe, und er fügt hinzu: »Es hat offenbar tiefe Wurzeln, Wurzeln, die in die untersten Gründe unserer sinnlichen Natur hinabreichen.« Heute ist eine empiristische Theorie am weitesten verbreitet: Bilder von links nach rechts zu lesen, ist eine Gewohnheit, die vom Bücherlesen übernommen ist. Der Neuropsychiater Stanley Cobb schreibt über die Rechts- oder Linkshändigkeit: »Es sind viele fantastische Theorien vorgetragen worden; von der Theorie, daß die linke Hirnhälfte einen besseren Kreislauf habe als die rechte, zu der heliozentrischen Theorie, daß die rechte Hand dominiert, weil der Mensch nördlich des Äquators entstand und, indem er die Sonne betrachtete, von der Tatsache beeindruckt war, daß alle großen Dinge sich nach rechts bewegen. Rechts wurde so das Symbol für Rechtschaffenheit und Dexterität, und Dinge auf der linken Seite waren »sinister«. Nach einer interessanten Beobachtung liegen etwa 70 % der menschlichen Foetusse im Uterus in der linken Hinterkopflage nach rechts sehend. Niemand hat bis jetzt herausgefunden, ob diese die Majorität der Rechtshänder-Babys werden oder nicht. Wahrscheinlich erklärt sich die Dominanz der Rechtshändigkeit aus dem Zufall der Vererbung.« Gaffron bezieht dieses Phänomen auf die Dominanz der linken Gehirnrinde, die bei einem Rechtshänder die höheren Gehirnzentren für Sprache, Schreiben und Lesen enthält. Wenn diese Dominanz ebenfalls für das linke visuelle Zentrum gilt, heißt es, daß »eine Unterscheidung getroffen wird in unserer Aufnahme visueller Daten zu Gunsten derjenigen, die im rechten visuellen Feld wahrgenommen werden.« Das Sehen zur Rechten würde schärfer gegliedert sein, wodurch die Deutlichkeit der Objekte in diesem Feld sich erklären würde. Die Aufmerksamkeit für die Vorgänge auf der linken Seite würde diese Asymmetrie ausgleichen, und das Auge würde sich spontan von der Stelle der ersten Aufmerksamkeit zu der Stelle des genauesten Sehens hin bewegen. So formuliert man heute diese Hypothese.

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Gleichgewicht und dei menschliche Geist Das von mir bis jetzt beschriebene Gleichgewicht kann Mehrdeutigkeit und Undeutlichkeit aufheben, d. h. es ist ein unentbehrliches Mittel, eine künstlerische Aussage verständlich zu machen. Meist wird das Thema nicht auf diese Weise abgehandelt. Nach der allgemeinen Uberzeugung erstrebt der Künstler ein Gleichgewicht, weil es um seiner selbst willen wünschenswert ist. Warum ist es erstrebenswert? »Weil es gefällt und befriedigt.« Das entstammt einer hedonistischen Auffassung, die in der menschlichen Motivation ein Streben nach angenehmen und ein Vermeiden von unangenehmen Dingen sieht. Es sollte heute klar sein, daß diese ehrwürdige Theorie zwar stimmt, aber nutzlos ist. Sie erklärt alles und nichts. Wir müssen wissen, warum eine besondere Handlung oder Situation angenehm ist. Es ist gesagt worden, der Künstler strebe nach einer Ausgewogenheit, weil das Erhalten des körperlichen Gleichgewichts eine elementare Notwendigkeit des Menschen sei. Durch irgendeine Art spontaner Analogie soll ein Betrachter das Gefühl des verlorenen Gleichgewichts in seinem eigenen Körper erleben, wenn er ein nicht ausgeglichenes Muster sieht. Daher die Notwendigkeit einer ausgeglichenen Komposition. Diese Meinung beruht mehr auf Theorie als auf Beobachtung. Es gibt keinen wirklich eindeutigen Nachweis, daß Muskelreaktionen auf die visuellen Erfahrungen häufig, stark und entscheidend sind. Die Neigung, Seh- und Hörreaktionen durch kinästhetische Reaktionen zu erklären, ist nicht auf die Psychologie des Gleichgewichts beschränkt. Sie wird weiter unten kritisch behandelt werden. Ich habe bereits die Gegentheorie aufgestellt, daß die visuelle Reaktion des Beobachters als das psychologische Gegenstück zum Streben nach Gleichgewicht angesehen werden kann, das in den physiologischen Kräften des Großhirnfeldes rege ist. Beide Theorien reichen nicht aus. Sie beziehen sich auf besondere Tendenzen des Körpers und können daher der tiefen geistigen Funktion, die die Kunst ausfüllt, nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wir müssen annehmen, daß das Bedürfnis nach Gleichgewicht einer universalen menschlichen Erfahrung von weit größerer Reichweite entspricht. Das Gleichgewichtsphänomen muß man in einem größeren Zusammenhang sehen. Die Motivationspsychologie hat kürzlich aus einer Denkweise Gewinn gezogen, die Wissenschaftler verschiedener Wissenszweige zu ähnlichen Ergebnissen geführt hat. In der Physik besagt das Prinzip der Entropie — der zweite Hauptsatz der Wärmetheorie —, daß in jedem geschlossenen System jeder Zustand eine nicht umzukehrende Abnahme aktiver Energie darstellt. DasUniversum strebt nach einem Zustand des Gleichgewichts, in dem alle existierenden Asymmetrien der Verteilung ausgeglichen werden. Daher können alle physikalischen Vorgänge als ein Streben nach Gleichgewicht definiert werden. In der Psychologie sind Gestalttheoretiker zum Schluß gekommen, daß jedes psychologische Feld zu der einfachsten, ausgeglichensten und regelmäßigsten Organisation strebt, die möglich ist. Freud hat sein »Lust-Prinzip« dahingehend interpretiert, daß

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der Ablauf psychischer Handlungen durch eine unangenehme Spannung ausgelöst ist und eine Richtung einschlägt, in der die Spannung vermindert wird. Schließlich war der Physiker L. L. Whyte durch die Universalität dieser Idee so beeindruckt, daß er ein »Einheits-Prinzip« aufstellte, dem alle Tätigkeit in der Natur unterworfen ist und demzufolge »Asymmetrie in isolierten Systemen abnimmt«. In Ubereinstimmung mit dieser Denkweise haben Psychologen Motivation definiert als »ein gestörtes Gleichgewicht eines Organismus, das zu Handlungen führt, um die Stabilität wiederherzustellen«. Die Formulierung dieses Gesetzes bedeutet unbestreitbar einen Schritt vorwärts. Gleichzeitig führt seine einseitige Anwendung zu einer unhaltbaren statischen Auffassung der Motivation. Der Organismus gleicht einem gestauten Teich, der nur zu Leben erwacht, wenn ein Kieselstein den ausgeglichenen Frieden der Oberfläche stört, und dessen Tätigkeit auf das Wiederherstellen des Friedens beschränkt ist. Freud kam den äußersten Konsequenzen dieser Ansicht am nächsten. Er beschrieb die Grundtriebe des Menschen als einen Ausdruck der konservativen Natur der lebendigen Substanz, als ein eingeborenes Streben, zu einem früheren Zustand zurückzukehren. Er sprach von der fundamentalen Bedeutung des »Todestriebes«, einem Streben nach Rückkehr zur anorganischen Existenz. Nach Freuds »Ökonomie-Prinzip« versucht der Mensch dauernd, so wenig Energie wie möglich auszugeben. Der Mensch ist von Natur aus träge. Gegen diese Ansicht kann man anführen, daß der Mensch, wenn er durch kein körperliches oder geistiges Gebrechen behindert ist, seine Erfüllung nicht in der Untätigkeit, sondern im Handeln, Bewegen, Wachsen, Vorwärtsgehen, Hervorbringen, Schaffen und Erforschen findet. Es gibt keine Rechtfertigung für die seltsame Annahme, das Leben bestünde aus den Bemühungen, sich selbst so bald wie möglich zu beenden. Stattdessen ist es ein Hauptmerkmal eines Organismus, daß er in der Natur eine Ausnahme ist, weil er einen verzweifelten Kampf gegen das universale Gesetz der Entropie führt und dauernd neue Energien aus seiner Umgebung zieht. Solche Ansichten verkennen die Bedeutung des Gleichgewichts nicht. Gleichgewicht bleibt das ersehnte Endziel jedes zu erfüllenden Wunsches, jeder zu vollbringenden Aufgabe und jedes zu lösenden Problems. Aber das Rennen findet nicht nur um des Gewinnens willen statt. Im menschlichen Leben kann Gleichgewicht nur teil- und zeitweise erreicht werden. Trotzdem — während man strebt und handelt, versucht man dauernd, die verschiedenen Kräfte, die diese Lebenssituationen ergeben, so zu organisieren, daß sich das bestmögliche Gleichgewicht ergibt. Bedürfnisse und Pflichten, die oft in entgegengesetzte Richtungen drängen, müssen miteinander vereint werden, und in der Gruppe von Menschen, zu der man gehört, findet ununterbrochen ein Manövrieren zu neuen Stellungen statt, um die Reibung der auseinanderstrebenden Interessen möglichst gering zu halten.

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Gleichgewicht ist Bedeutungsträger Diese Überlegungen beziehen sich in zweierlei Hinsicht auf die Kunst. Einmal reflektiert Gleichgewicht der Komposition ein Streben, das wahrscheinlich die Ursache aller Tätigkeit im Universum ist. Die Kunst vollbringt, was sonst durch die sich überschneidenden Bestrebungen, aus denen das menschliche Leben besteht, nie realisiert werden kann. Zum anderen aber ist ein Kunstwerk weit davon entfernt, nur ein Abbild des Gleichgewichts zu sein. Wenn wir Kunst — und das ist meine zweite These — als ein Streben nach und Erreichen von Gleichgewicht, Harmonie, Ordnung und Einheit definieren, kommen wir zu der gleichen perversen Einseitigkeit wie die Psychologen, die die statische Konzeption der menschlichen Motivation vortrugen. So wie die Betonung des Lebens auf gerichteter Tätigkeit liegt und nicht auf leerer Ruhe, so liegt das Schwergewicht in einem Kunstwerk nicht auf Gleichgewicht, Harmonie, Einheit, sondern auf einer Struktur gerichteter Kräfte, die ausgeglichen, geordnet und geeint werden. Ein Kunstwerk ist eine Aussage über das Wesen der Wirklichkeit. Aus der unendlich großen Zahl der möglichen Kräftefelder sondert es eines heraus und stellt es dar. In jeder Konfiguration bestimmt das Ganze den Ort, Charakter und die Größe jeder Einzelkraft. Umgekehrt ergibt sich eine einheitliche Struktur aus dem Zusammensein aller Kräfte, aus denen sie besteht. Das bedeutet, daß jede Existenzgestalt in ihrer gültigen Form dargestellt wird. Ein Kunstwerk ist die notwendige und endgültige Lösung des Problems, welche Form eine Wirklichkeitsstruktur von bestimmtem Charakter annehmen muß. Wenn stattdessen dem Laien gesagt wird, Kunst befasse sich mit der Darstellung von Gleichgewicht oder Harmonie, so sollte er mit Uberraschung daraus schließen, daß sich die berühmte Zunft der Künstler mit nichts besserem befasse als einer bescheidenen Befriedigung, die ebenfalls von einem Hausmädchen erlebt wird, wenn sie Nippesfiguren auf dem Kamin symmetrisch anordnet. Und wenn ein Dozent versucht, die raison d'être eines Gemäldes dadurch zu begründen, daß er im einzelnen aufzeigt, wie Farben, Massen und Richtungen sich ausgleichen, so könnte der Laie annehmen, daß die Künstler aus gewissen Gründen das Spiel des Hausmädchens in einen schwierigeren Beruf verwandelt haben. Vieles von dem, was heute über Kunst gesagt wird, versetzt den Zuschauer an die Stelle eines Menschen, dem die Arbeitsweise einer unbekannten Maschine erklärt wird, ohne daß er den Zweck der Maschine erfährt. Nur wenn ihm gesagt wird, daß das Kunstwerk einen Inhalt habe — und daß die ganze Anordnung von Form und Farbe nur zu dem Zweck erfolgt, Bedeutung zu übertragen — nur dann kann er verstehen, daß diese ausgewogenen Formen auch ihn angehen können. Diese Auffassung, die Kunst sei nur mit dem Vervollkommnen formaler Verhältnisse beschäftigt — etwa mit dem Gleichgewicht — verfremdet das Publikum und führt es in die Irre. Sie hat eine verheerende Wirkung auch auf die Ausübung der Kunst. Wenn ein Künstler sich seinem Werk mit der einzigen Absicht nähert, Gleichgewicht und Harmonie zu

Abb. 16

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erreichen, und nicht überlegt, was er denn ausgleichen will, verliert er sich im zufälligen Spiel der Formen, wodurch so viele Talente in den letzten Dekaden verschwendet worden sind. Ob ein Werk gegenständlich oder abstrakt ist — nur der Inhalt kann die Form bestimmen, die ausgewählt und dem Prozeß der Bildgestaltung und Komposition unterworfen wird. Die Aufgabe des Gleichgewichts kann deshalb nur durch Aufzeigen der Bedeutung, die es sichtbar macht, gezeigt werden. Nach Leonardo ist in einem guten Gemälde »die Verteilung oder die Anordnung der Figuren in Ubereinstimmung mit den Bedingungen, die nach deinem Willen die Handlung darstellen soll, entworfen.« Der Bezug auf den Gehalt braucht weder bewußt noch intellektuell formuliert zu sein. Es handelt sich um die Einstellung, deren der Künstler selbst durchaus nicht gewahr zu sein braucht. Madame Cézanne auf einem gelben Stuhl Nach so viel Theorie soll nun ein Beispiel der von mir vertretenen Methode gegeben werden. Ich habe absichtlich ein Gemälde gewählt, das auf den ersten Blick einfach erscheint — schön, aber vielleicht kunstlos — ein Werk, vor dem viele Museumsbesucher nicht lange verweilen. Meine Analyse muß ins Einzelne gehen, um den Reichtum dieses Meisterwerkes aufzuzeigen. Cézanne malte das Bildnis seiner Frau im gelben Stuhl (Abb. 16) in den fahren 1888—1890. Dem Betrachter fällt zuerst die Verbindung einer

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äußerlichen Ruhe und einer starken inneren Spannung auf. Die zurückgelehnte Figur ist geladen mit Kraft, die in Richtung des Blickes der Frau drängt. Die Figur ist ruhend und verwurzelt, zugleich aber leicht, wie im Raum schwebend. Sie scheint zu steigen und ruht doch in sich selbst. Diese subtile Mischung von Gelassenheit und Kraft, von Sicherheit und unkörperlicher Freiheit kann man als eine bestimmte Zusammenstellung von Kräften beschreiben, die das Thema dieses Bildes ist. Wie kommt diese Wirkung zustande? Das Bild ist ein Hochformat im Verhältnis etwa 5 : 4. Dadurch wird es in der Vertikalen gestreckt und betont den aufstrebenden Charakter der Figur, des Stuhls und des Kopfes. Der Stuhl ist etwas schmaler als der Rahmen und die Figur als der Stuhl. So entsteht eine Skala von abnehmenden Breiten, die von dem Hintergrund über den Stuhl zu der Figur im Vordergrund führt. Gleichzeitig bilden die Schultern und Arme ein Oval um den Mittelpunkt des Bildes — einen ruhenden Kern in der Mitte, der gegen das Muster der Rechtecke wirkt und in kleinerem Maßstab im Kopf wiederholt wird. Ein dunkles Band teilt den Hintergrund in zwei Rechtecke (Abb. 17). Beide sind gestreckter als der ganze Rahmen, das untere Rechteck im Verhältnis 3 : 2 und das obere 2 : 1 . Das heißt, daß diese Rechtecke mehr die Horizontale betonen als der Rahmen die Vertikale. Obgleich diese Rechtecke den Kontrapunkt zur Vertikalen abgeben, verstärken sie auch die Bewegung des Ganzen nach oben, da das untere Rechteck breiter als das obere ist. Nach Denman Ross bewegt sich das Auge in Richtung der sich verringernden Abstände — d. h. in diesem Bild aufwärts. Die Skala abnehmender Breite, die vom Hintergrund nach vorn verläuft, ist schon erwähnt worden. Diese crescendo-Wirkung wird durch einige andere Merkmale unterstützt. Drei Hauptelemente des Bildes überschneiden sich im Raum: eine Reihenfolge von drei Flächen führt vom Hintergrund über den Stuhl zur Figur. Diese dreidimensionale Anordnung wird durch eine zweidimensionale unterstützt — eine Reihe von Stufen, die von dem schmalen Stück schwarzen Bandes ganz links über die Ecke des Stuhls zum Kopf ansteigt. In gleicher Weise führt eine Folge von ansteigender Helligkeit von dem dunklen Streifen zum hellen Gesicht und den Händen, die die beiden Zentren der Komposition sind. Das helle Rot des Mantels läßt die Figur ebenfalls vortreten. Alle Faktoren verbinden sich zu einer kraftvollen und schrittweisen Bewegung nach vorn. Die drei Hauptebenen überschneiden sich in der Richtung von links hinten nach rechts vorn. Dieser seitlichen Bewegung nach rechts wirkt die Stellung des Stuhls entgegen, der sich fast ganz in der linken Hälfte des Bildes befindet und daher eine retardierende Gegenbewegung nach links einführt. Aber die dominierende Bewegung nach rechts wird durch die asymmetrische Position der Figur im Verhältnis zum Stuhl verstärkt, da sich die Figur hauptsächlich auf der rechten Hälfte des Stuhls befindet. Die Neigung nach rechts ist weiterhin durch die ungleiche Teilung der Figur verstärkt, von der sich der größte T e i l auf der linken Seite befindet.

(Die Nase teilt das Gesicht in einem Verhältnis von ungefähr 5 : 2.) Auch

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V

hier bewegt sich das Auge in Richtung der abnehmenden Abstände — d. h. von links nach rechts. Der keilförmige Kragen ist ebenfalls nach rechts gerichtet. Figur und Stuhl sind im Verhältnis zum Rahmen ungefähr im gleichen Winkel geneigt. Es sei daran erinnert, daß alle Richtungen an sich doppeldeutig sind: diese Drehung kann nach oben links und nach unten rechts oder nach beiden Seiten erfolgt sein. Durch die Gesamtkomposition läßt sich aber die Richtung der Bewegung festlegen. Die Spitze der Figur und die Mitte des Stuhls unten befinden sich auf der mittleren Vertikalen des Bildes. Dadurch erhält der Stuhl einen Verankerungs- oder Angelpunkt, um den er nach links gedreht ist. Der Kopf der Frau, doppelt gefestigt durch seine Position auf der mittleren Vertikalen und im Mittelpunkt des oberen Rechtecks im Hintergrund, ist der Drehpunkt, um den der Körper der Figur nach rechts vorn gedreht ist. Daher sind die beiden Zentren der Komposition einander entgegengesetzt. Der Kopf — wohin wir den Geist lokalisieren — ruht sicher; die Hände — Werkzeuge der Arbeit — sind leicht nach vorn genommen zu potentieller Tätigkeit. Aber ein genialer Kontrapunkt kompliziert die Situation. Obgleich der Kopf in Ruhe gegeben ist, enthält er doch Aktivität durch die wachsamen Augen und die dynamische Asymmetrie des Viertelprofils. Die Hände sind zwar vorwärts getrieben, liegen aber doch gefaltet in ruhender Symmetrie. Die Vorwärts-Neigung der Figur und des Stuhls sind dadurch ausgeglichen, daß sie unten am Bild fest verankert sind, während sie oben frei im Raum endigen. Aber das freie Aufsteigen des Kopfes ist durch die zentrale Position und durch die Nähe zur Oberkante des Rahmens kontrolliert. Er steigt so weit auf, bis er zu einem neuen Hafen gekommen ist. Wie die Tonleiter vom Grundton aufsteigt bis zum neuen Grundton eine Oktave höher, so steigt die Gestalt vom unteren Rahmen an, um oben am Rahmen einen neuen Halt zu finden. Der Kopf in seiner hohen Lage ist ebenso wie der Leitton einer Tonreihe nicht nur so weit wie möglich von dem unteren Ausgangspunkt entfernt, sondern ist zugleich durch den oberen Haltepunkt eingefangen, dem er sich annähert. (Es gibt also eine Ähnlichkeit zwischen der Struktur einer musikalischen Reihe und einer gerahmten Komposition. Sie zeigen beide die Verbindung zweier Strukturprinzipien: die allmähliche Zunahme der Intensität beim Anstieg von unten nach oben und die Symmetrie von unten und oben, durch die der Vorgang des Ansteigens von der Grundlage sich schließlich in einen Fall »nach oben« zu der neuen Basis wandelt, so daß sich das Aufgeben des Ruhezustandes als das Spiegelbild einer Rückkehr zu einem Ruhezustand erweist.) Wenn diese Analyse stimmt, deckt sie nicht nur den Reichtum der dynamischen Beziehungen in einem Kunstwerk auf, sondern weist auch nach, daß diese Verhältnisse das besondere Gleichgewicht von Ruhe und Spannung eintreten lassen, das oben als Inhalt oder Thema eines Bildes beschrieben wurde. Wir können die künstlerische Qualität nur dann verstehen und würdigen, wenn wir erkennen, wie diese Beziehungen den Inhalt interpretieren. Zwei allgemeine Bemerkungen müssen noch nachgetragen werden.

2,8

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Es ergibt sich, daß das Thema des Bildes untrennbarer Teil des Entwurfes ist. Nur wenn die Formen als Kopf, Körper, Hände oder Stuhl erkannt werden, können sie ihre besondere Aufgabe in dieser Komposition erfüllen. Genauso wichtig wie die Gestalt, Farbe oder Anordnung des Kopfes ist die Tatsache, daß er Sitz des Geistes ist. Als abstraktes Muster müßten die Formglieder ganz anders sein, um eine ähnliche Bedeutung auszudrücken. Das Wissen des Betrachters, was der Begriff einer sitzenden Frau mittleren Alters enthält, trägt viel zu der tieferen Bedeutung dieses Werkes bei. Außerdem hat sich gezeigt, daß die Komposition auf einer Art Kontrapunkt beruht — d. h. auf vielen sich gegenseitig ausgleichenden Gliedern. Aber diese antagonistischen Kräfte widersprechen oder bekämpfen sich nicht. Sie schaffen keine Doppeldeutigkeit. Doppeldeutigkeit verwirrt die künstlerische Aussage, weil sie den Betrachter zwischen zwei oder mehreren Aussagen stehen läßt, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenfügen. In der Regel ist der malerische Kontrapunkt im Bilde hierarchisch — d. h. er setzt eine dominierende Kraft gegen untergeordnete Kräfte. Jede Beziehung allein ist unausgeglichen: in der Struktur des ganzen Werkes gleichen sie sich aus.

II. GESTALT Ich sehe ein Ding. Ich sehe die Welt um mich herum. Was besagen diese Feststellungen? Im täglichen Leben ist das Sehen hauptsächlich ein Mittel der praktischen Orientierung. In diesem Sinn bedeutet Sehen durch die Augen bestimmen, daß ein bestimmtes Ding an einem bestimmten Ort sich befindet. Das ist das Minimum des Erkennens. Ein Ehemann betritt nachts das Schlafzimmer und sieht einen dunklen Fleck auf dem weißen Kopfkissen und »erkennt« seine Frau an dem gewohnten Platz. Bei hellerer Beleuchtung sähe er mehr, aber grundsätzlich erfordert die Orientierung nur sehr wenige Hinweise. Durch eine Hirnverletzung hatte ein Mann die Fähigkeit des Gestaltsehens so weit verloren, daß er allein durch das Anschauen nicht einmal einen Kreis erkennen konnte. Er konnte jedoch seiner Arbeit nachgehen und sein tägliches Leben führen. Er konnte einen Menschen, schmal und lang, von einem Auto, das viel breiter ist, unterscheiden. Mehr als diese elementaren Informationen waren nicht nötig, um sich in den Straßen zu behaupten. Viele Menschen gebrauchen ihren unversehrten Gesichtssinn fast den ganzen Tag zu nichts besserem. Sehen als aktives

Erforschen

Sehen kann offensichtlich mehr bedeuten. Was schließt es ein? Der von den Physikern beschriebene optische Vorgang ist bekannt. Die Augenlinsen projizieren Bilder der Objekte auf die Netzhaut, die ihrerseits die Botschaft zum Gehirn weiterleitet. Aber wie steht es mit den damit verbundenen psychologischen Vorgängen? Es gab unter den Wissenschaftlern Vertreter einer Richtung, die die Erfahrungen des Sehens analog zum physikalischen Vorgang beschrieben. Das Bewußtsein sollte, soweit das Sehen betroffen war, eine ähnliche Funktionsweise haben wie ein Fotoapparat. Sobald aber die Wissenschaftler unvoreingenommen und ohne voreilige Schlußfolgerungen an die Tatsachen herangingen, entdeckten sie, daß Sehen alles andere als ein mechanisches Aufnahmeverfahren ist. Zum ersten ist Sehen kein passives Empfangen. Die Welt der Bilder prägt sich nicht einem zuverlässig aufnehmenden Organ einfach ein. Vielmehr greifen wir durch das Anschauen nach den Objekten. Mit einem unsichtbaren Finger bewegen wir uns durch den Raum, gehen zu entfernten Orten, wo sich Dinge befinden, berühren sie, fangen sie, ertasten ihre Oberfläche, umfahren ihre Umrisse, erforschen ihre Oberflächenstruktur. Es ist eine eminent aktive Tätigkeit. Von diesem Erlebnis beeindruckt, beschrieben frühe Denker den physikalischen Vorgang des Sehens in gleicher Weise. Zum Beispiel behauptete Plato im Timaios, daß das sanfte Feuer, das den menschlichen Körper erwärmt, durch die Augen als ein glatter, dichter Strom 4

Arnheim

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von Licht fließe. Eine materielle Brücke wird zwischen dem Betrachter und dem betrachteten Ding hergestellt, und über diese Brücke strömen Lichtimpulse, die von dem Ding ausgehen, zum Auge und hindurch zur Seele. Eine solche primitive optische Lehre gilt heute nicht mehr, aber die durch sie beschriebene Erfahrung bleibt lebendig und schlägt sich noch immer in poetischen Beschreibungen nieder — zum Beispiel in folgenden Worten von T. S.Eliot: »Und der unsichtbare Augenstrahl durchquert, denn die Rosen sahen aus wie angesehene Blumen.« Sehen unterscheidet sich also von der Tätigkeit des Fotoapparates dadurch, daß es mehr ein aktives Erforschen als ein passives Aufnehmen ist. Das Sehen wählt aus, indem es sich auf das, was die Aufmerksamkeit erregt, konzentriert und gleichzeitig das Objekt in einer ganz bestimmten Art aufnimmt. Physikalisch ist das Sehen nur durch die begrenzte Auflösungsfähigkeit der Netzhaut beschränkt. Wenn wir ein Ding aufmerksam betrachten, können die Augen jedes Detail wahrnehmen. Aber im allgemeinen ist das Sehen kein mechanisches Abtasten. Was sehen wir, wenn sie sehen? Das Eifassen des Wesentlichen Sehen heißt, einige wesentliche Merkmale des Objekts erfassen — die Bläue des Himmels, den Schwung eines Schwanenhalses, den Glanz eines Metalls, die Geradheit einer Zigarette. Einige wenige, einfache Linien und Punkte werden sofort als »Gesicht« akzeptiert, nicht nur von erwachsenen Bewohnern der westlichen Hemisphäre, die sich auf eine solche »Zeichensprache« geeinigt haben könnten, sondern auch von Kleinkindern, Wilden oder Tieren. Köhler erregte bei seinen Schimpansen große Furcht, als er ihnen »ganz einfache ausgestopfte Spielzeuge« zeigte mit schwarzen Knöpfen als Augen. Ein einfallsreicher Karikaturist kann mit einigen gut ausgewählten Strichen eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Menschen erreichen. Wir erkennen einen Bekannten von weitem schon durch die einfachsten Proportionen oder Bewegungen. Ein schlecht vergrößertes Foto kann ein Gesicht zu Flecken in verschiedenen Grautönen vereinfachen, und doch läßt es ein Erkennen zu. Einige ausgesuchte Merkmale können also die Erinnerung an vielschichtige Dinge wachrufen. Sie genügen tatsächlich nicht nur zur Identifizierung, sondern übertragen auch den lebendigen Eindruck, als seien sie das ganze »wirkliche« Ding. Die Fähigkeit einiger wesentlicher Wahrnehmungsmerkmale, das Ganze zu repräsentieren, zeigt sich höchst eindrucksvoll bei einigen primitiven, angeborenen Reaktionen von Tieren. Lorenz hat von Versuchen berichtet, daß ein männliches Rotkehlchen zu kämpfen beginnt, wenn man ihm einige Quadratzentimeter rostbrauner Brustfedem seiner Art zeigt. Auf Attrappen mit einem oder mehreren der Hauptmerkmale (Größe, Gestalt, Farbe oder Bewegung) reagieren Vögel oder Fische, als ob das wirkliche Tier anwesend wäre. Nach Lorenz sind die geometrische Regelmäßigkeit der Form und Bewegung, die reinen Töne und ungemischten Spektralfarben typische Qualitäten solcher Wahrnehmungsauslöser.

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Diese Experimente beweisen natürlich nur, daß isolierte Merkmale das gleiche Verhalten auslösen wie der Anblick des ganzen Tieres, nicht aber daß beide Auslöser gleich aussehen. Lorenz hat beobachtet, daß ein Fisch zwischen seinem eigenen Männchen und einem feindlichen Eindringling der gleichen Art unterscheidet, obgleich beide die gleichen Kampffarben zeigen. Menschen nehmen sofort geringe Unterschiede bei Dingen wahr, die sie gut kennen. Die kleine Änderung einer Muskelspannung oder Hautfarbe, durch die ein Gesicht müde erscheint, eine kleine Änderung des Striches eines Augenbrauenstiftes oder die Wirkung einiger zusätzlicher Körperfülle werden sofort bemerkt, obgleich der Beobachter nicht in der Lage sein mag, genau anzugeben, was den Wechsel in der Gesamterscheinung ausmacht. Kurzgefaßt: einige hervorragende Merkmale bestimmen die Identität eines wahrgenommenen Objektes und schaffen eine zusammenhängende Gestalt, die aber auch durch Qualitäten zweiten Ranges bestimmt wird. Es erfordert besondere Übung, Bilder zu lesen, die hauptsächlich realistische Details enthalten, aber keine besonderen Wahrnehmungsmerkmale hervorheben. Jung berichtet von Eingeborenen in Afrika, die die von ihm gezeigten Bilder aus Illustrierten nicht erkennen konnten, bis einer von ihnen die Umrißlinien mit seinem Finger nachzeichnete und ausrief: »Es sind Weiße!«

Wahmehmungsbegiiffe Es gibt genügend Hinweise, daß in der organischen Entwicklung die Wahrnehmung mit dem Erfassen der hervorragenden Strukturmerkmale beginnt. Wenn ζ. B. Kinder im Alter von zwei Jahren oder wenn Schimpansen gelernt hatten, daß von zwei ihnen vorgesetzten Kästen der eine mit einem Dreieck von besonderer Form und Größe immer besonders anziehendes Futter enthielt, konnten sie das Gelernte ohne Schwierigkeiten auch auf Dreiecke ganz verschiedener Erscheinung anwenden. Das Dreieck wurde verkleinert oder vergrößert oder ganz umgedreht. Ein schwarzes Dreieck auf weißem Grund wurde durch ein weißes Dreieck auf schwarzem Grund ersetzt oder ein gezeichnetes durch ein gemaltes. Diese Verschiedenheiten scheinen kaum Schwierigkeiten beim Erkennen zu bereiten. Ähnliche Ergebnisse wurden mit Ratten erzielt. Lashley hat die Behauptung aufgestellt, Übertragungen dieser Art seien »allgemein von Insekten zu den höchsten Lebewesen«. Das sich in diesem Wahrnehmungsprozeß zeigende Verhalten wird von den Psychologen immer noch als »Generalisierung« bezeichnet. Dieser Begriff stammt noch von einer theoretischen Annäherungsweise, die durch dieselben Experimente, auf die er angewendet wird, widerlegt worden ist. Man nahm an, daß die Wahrnehmung mit der Aufnahme einiger individueller Merkmale begann, deren allgemeine Eigenschaften nur durch solche Geschöpfe erkannt werden konnten, die Begriffe auf dem Verstandesweg formen konnten. So glaubte man, die Gleichheit von Dreiecken verschiedener Größe, Richtung und Farbe könnte nur durch einen Verstand entdeckt werden, der aus der Verschieden4"

Gestalt heit der individuellen Beobachtungen den allgemeinen Begriff Dreieck gezogen hätte. Da kam es denn als eine Überraschung, daß junge Kinder und Tiere ohne Schulung zur logischen Abstraktion solche Aufgaben ohne Schwierigkeiten lösten. Die experimentellen Ergebnisse verlangten eine völlige Umkehr in der Wahrnehmungstheorie. Man konnte sich das Sehen nicht mehr als eine Entwicklung vom Einzelnen zum Allgemeinen vorstellen. Im Gegenteil zeigte sich, daß die allgemeinen Strukturmerkmale die primären Wahrnehmungsdaten sind, so daß Dreieckigkeit nicht das Endergebnis einer verstandesmäßigen Abstraktion ist, sondern eine unmittelbarere und elementarere Erfahrung als das Aufnehmen von Details. Das kleine Kind sieht eine »Hundheit«, ehe es einen Hund vom anderen unterscheiden kann. Ich werde gleich nachweisen, daß diese psychologische Entdeckung von entscheidender Bedeutung für das Verständnis künstlerischer Form ist. Die neue Theorie stellt ein besonderes Problem. Die übergreifenden Strukturmerkmale, aus denen die Wahrnehmung bestehen soll, werden offensichtlich nicht durch einzelne Reizmuster ausgelöst. Wenn ζ. B. ein oder mehrere menschliche Köpfe als »rund« angesehen werden, ist die Rundheit nicht Bestandteil des Reizes. Jeder Kopf hat seinen besonderen vielteiligen Umriß, der sich der Rundheit annähert. Wenn aber diese Rundheit nicht verstandesmäßig erschlossen, sondern tatsächlich gesehen wird — wie gerät sie in die Wahrnehmung? Meine Antwort wäre, daß die Reizfiguration in dem Wahrnehmungsvorgang nur so weit enthalten ist, als sie im Gehirn eine Konstellation allgemeiner, sinnlicher Kategorien hervorruft. Diese Konstellation entspricht dem Reiz ebenso wie eine wissenschaftliche Beschreibung, die ein System allgemeiner Begriffe als Äquivalent für die Erscheinungsformen der Wirklichkeit anbietet. Gerade das Wesen der wissenschaftlichen Begriffsbildung schließt die Möglichkeit aus, je die Erscheinungsform »selbst« zu treffen, da die Begriffe das Reizmaterial nie ganz oder teilweise enthalten können. Ein Wissenschaftler kann nur so weit an einen Apfel herankommen, als er die Maßangaben von Gewicht, Größe, Form, Ort und Geschmack gibt. Ebenso kann die Wahrnehmung den Reiz »Apfel« nur annähernd durch eine besondere Konstellation allgemeiner sinnlicher Qualitäten wie Rundheit, Schwere, saftiger Geschmack, Grünheit bestimmen. Nehmen wir beim ersten Anblick eines menschlichen Gesichts passiv alle oder einige besondere Details wie Umrisse, Maße, Farbschattierungen wahr? Ein Gesicht sehen heißt doch, eine Gestalt von allgemeinen Qualitäten der Schlankheit des Ganzen, der Geradheit der Augenbrauen, des Schwunges der Nase, der Bläue der Augen zu schaffen. Es ist eher ein Anpassen von Wahrnehmungskategorien an die von dem Reizmaterial angegebene Struktur als eine Aufnahme des Rohmaterials selbst. Verwenden wir nicht ganz allein diese Gesamtmuster oder Kategorien von Form, Größe, Proportion und Farbe, wenn wir sehen, erkennen und erinnern? Sind nicht diese Kategorien die unumgänglichen Voraussetzungen, um überhaupt eine Wahrnehmung verstehen zu können?

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Wenn wir eine einfache, regelmäßige Form betrachten — ζ. B. ein Quadrat — wird dies nicht so in Erscheinung treten. Das Quadratische scheint schon im Reiz gegeben zu sein. Wenn wir aber die Welt der wohldefinierten und von Menschen gemachten Formen verlassen und eine Landschaft betrachten — was sehen wir dann? Eine Masse Bäume und Buschwerk bietet einen ziemlich verwirrenden Anblick. Einige Baumstämme und Zweige können bestimmte Richtungen zeigen, an die sich das Auge halten kann; das Ganze eines Baumes oder Busches kann oft eine verhältnismäßig einfach zu begreifende Kreis- oder Kegelform sein. Außerdem kann eine allgemeine »Belaubtheit« oder das Grün gesehen werden, aber trotzdem gibt es in der Landschaft vieles, was ein Auge einfach nicht begreifen kann. Nur so weit, wie das verwirrende Panorama als ein Zusammenspiel eindeutiger Richtungen, Gestalten, geometrischer Formen und Farben gesehen wird, kann man behaupten, es sei tatsächlich wahrgenommen. Die Vorgänge im Gehirn, die dieses ermöglichen, sind nicht bekannt. Wir können annehmen, daß als Antwort auf Wahrnehmungsqualitäten, die mehr oder weniger deutlich im Rohmaterial der Reizung enthalten sind, entsprechende einfache strukturierte Gebilde in der Sehrinde entstehen. Aber das ist zur Zeit reine Theorie, die nur aus Wahrnehmungserlebnissen erschlossen ist. Wenn diese Darstellung richtig ist, müssen wir annehmen, daß Wahrnehmen eine Formierung von »Wahrnehmungsbegriffen« ist. Für die übliche Denkweise ist dieses eine unangenehme Terminologie, da doch die Sinne auf das Konkrete beschränkt sein sollen und sich die Begriffe mit dem Abstrakten beschäftigten. Der oben beschriebene Sehvorgang scheint sich jedoch mit den Bedingungen der Begriffsbildung zu decken. Sehen bezieht sich auf das Rohmaterial des Erlebnisses, indem es entsprechende Gestalten aus allgemeinen Formen schafft, die sich nicht nur auf den einen besonderen Fall, sondern auf eine unendliche Zahl anderer Möglichkeiten anwenden lassen. Keineswegs sollte der Gebrauch des Wortes »Begriff« andeuten, daß Wahrnehmen ein Verstandesvorgang ist. Der beschriebene Vorgang muß als im visuellen Apparat vonstatten gehend gedacht werden. Aber »Begriff« weist darauf hin, daß eine auffällige Ähnlichkeit zwischen den elementaren Tätigkeiten der Sinne und den höheren des Denkens und Folgerns besteht. Diese Ubereinstimmung geht so weit, daß Psychologen voreilig oft Errungenschaften der Sinne einer geheimen Hilfe durch den Intellekt zugeschrieben haben. Sie sprachen von unbewußten Schlußfolgerungen oder Schätzungen, weil sie es für selbstverständlich hielten, daß die Wahrnehmung nur das mechanische Aufnehmen der Eindrücke der Außenwelt vollbringe. Die gleichen Vorgänge scheinen nun aber auf der Ebene der Wahrnehmung und des Verstandes abzulaufen, so daß notwendigerweise Worte wie Begriff, Urteil, Logik, Abstraktion, Schlußfolgerung, Abschätzen auch auf die Arbeit der Sinne angewendet werden müssen. Diese neue psychologische Denkweise läßt uns daher Sehen als eine schöpferische Kraft des menschlichen Geistes bezeichnen. Wahrnehmen

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vollbringt auf der sinnlichen Ebene, was im Bereich des Denkens Verstehen genannt wird. Jeder nimmt im Sehen, wenn auch in bescheidener Weise, die bewunderte Begabung eines Künstlers vorweg, die Gestalten hervorbringt und dadurch Erfahrung als gestaltete Form wiedergibt. Sehen ist Einsehen. Was ist eine Gestalt¿ Die Gestalt ist ein wesentliches Merkmal eines durch die Augen erfaßten Objektes. Sie enthält die räumlichen Charakteristiken eines Dinges außer Ort und Richtung. D. h. die Gestalt allein läßt nicht erkennen, wo sich ein Objekt befindet, ob es umgedreht oder richtig liegt. Sie betrifft als erstes die Begrenzungen. Dreidimensionale Körper werden durch zweidimensionale Oberflächen begrenzt. Oberflächen werden durch eindimensionale Begrenzungen eingefaßt — z. B. durch Linien. Die äußeren Begrenzungen eines Objektes können ohne Schwierigkeit durch die Sinne erforscht werden. Aber die Gestalt eines Zimmers, einer Höhle oder eines Mundes werden durch die inneren Begrenzungen eines Körpers gegeben; bei Tassen, Hüten oder Handschuhen ergeben Innen und Außen zusammen die Form oder streiten sich um den Titel. Die Erscheinung eines Objektes wird nicht nur durch das bestimmt, was das Auge erreicht. Die verborgene Seite eines Balles, die die sichtbare Vorderseite logisch zur runden Gestalt vervollständigt, ist tatsächlich ein Teil der Wahrnehmung. Wir nehmen nicht den Teil einer Kugel wahr, sondern die ganze Kugel. Wissen ist so sehr mit Wahrnehmen verbunden, daß beim Betrachten eines menschlichen Gesichts die unsichtbaren Haare auf dem Hinterkopf Teile des aufgenommenen Bildes sind. Auch die innere Gestalt der Dinge ist bei visueller Konzeption oft mitbestimmend. Ein Betrachter kann eine Uhr als etwas sehen, das ein Uhrwerk enthält. Er kann die Kleidung eines Menschen als Einhüllung des Körpers sehen, oder den Körper als aus Höhlungen, Organen, Muskeln und Blutgefäßen bestehend. Die Kunst reflektiert verschiedene Möglichkeiten, die sichtbare Gestalt der Dinge zu bestimmen. Seit der Renaissance hat sich die Malerei des Westens auf die Darstellung beschränkt, die von einem bestimmten Augenpunkt aus gesehen wird. Die Ägypter, Indianer oder Kubisten haben diese Einschränkung übergangen. Kinder zeichnen das Kind im Leib der Mutter, das Bild eines Känguruhs von einem Buschmann enthält die inneren Organe und Eingeweide, und der Bildhauer Henry Moore gestaltet den menschlichen Kopf wie einen leeren Helm, dessen Inneres genauso wichtig ist wie das Äußere. Davon später mehr. Schließlich ergibt sich aus dem oben Gesagten, daß die Gestalt eines Körpers nicht notwendig mit der tatsächlichen Begrenzung des physikalischen Körpers identisch zu sein braucht. Wenn jemand eine Wendeltreppe beschreiben soll, und zeigt dafür mit dem Finger eine ansteigende Spirale, gibt er nicht den Umriß an, sondern die charakteristische Hauptachse, die im Objekt selbst nicht sichtbar ist. Abb. 18 gibt ein Gesicht wieder, obgleich die äußere Umrandung fehlt. Die wahre Gestalt eines

Ì Abb. 18

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Objektes wird also durch die wesentlichen räumlichen Merkmale konstituiert.

Der Einfluß dei Vergangenheit Die Gestalt wird durch mehr Faktoren bestimmt, als im Augenblick das Auge des Beobachters treffen. Die Erfahrung der Gegenwart steht niemals isoliert. Sie ist nur die jüngste in einer unendlichen Zahl sinnlicher Erfahrungen, die bis dahin im Leben des Menschen stattgefunden haben. So berührt sich das neue Bild mit Erinnerungsspuren von früher wahrgenommenen Gestalten. Diese Gestaltspuren wirken aufeinander ein auf Grund ihrer Ähnlichkeit. Das neue Bild kann sich nicht ihrem Einfluß entziehen. Bilder von eindeutiger, klarer Gestalt sind oft stark genug, um allen feststellbaren Einflüssen der Erinnerungsspuren zu widerstehen. Manchmal aber können die Bilder mehrdeutige Merkmale enthalten, die unter entsprechenden Einflüssen sich ändern. Abb. rçd erscheint deutlich als eine Kombination einer vertikalen Linie und eines Dreiecks. Dasselbe Muster als letztes in einer Reihe erscheint uns

b

I

Abb. αο

c

d

Abb. 19 mit Sicherheit als die Ecke eines Quadrates, das gleich hinter einer Mauer verschwinden wird. In gleicher Weise verändert Abb. 20 plötzlich die Gestalt, wenn uns gesagt wird, es stelle eine hinter dem Fenster vorübergehende Giraffe dar. In diesem Fall klingen durch die Beschreibung in Worten visuelle Erinnerungsspuren an, die der Zeichnung genügend gleichen, um eine Verbindung mit ihr einzugehen. Unter dem Druck dieser Verbindung nimmt die mehrdeutige Zeichnung eine Form an, die nun die Ubereinstimmungen umso stärker erscheinen läßt. In einem allen Psychologiestudenten bekannten Experiment wurde nachgewiesen, daß die Wahrnehmung und Wiedergabe von mehrdeutigen Mustern unter dem Einfluß verbaler Anweisung stehen. Ζ. B. wurde

a

b

c

Abb. 21 Abb. 2 1 a als b wiedergegeben, wenn das auf der Leinwand nur kurz gezeigte Objekt vorher der Versuchsperson als Sanduhr beschrieben worden war, während sich c ergab, wenn die Versuchsperson einen Tisch erwartete. Solche Versuche sind fälschlicherweise als Beweis ge-

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nommen, daß alles, was wir sehen, durch unser vorheriges Wissen bestimmt sei. In Wahrheit bezeugen sie nur, daß das letzte Bild unteilbarer Bestandteil des unendlich großen Vorrats an Bildern in unserem Gedächtnis ist. Diese Bindung an die Vergangenheit kann sich sichtbar auswirken oder auch nicht. Es hängt davon ab, ob die angesprochenen Gedächtnisspuren stark genug sind, die strukturelle Mehrdeutigkeit der wahrgenommenen Gestalt auszunutzen, was durch die relative Stärke der Reizstruktur im Verhältnis zur Strukturstärke der betreffenden Spuren bedingt ist.

a

b

c

Abb. 22 Andere Versuche haben gezeigt, daß eine gegebene Figur durch wiederholtes Vorführen dem Betrachter eingeprägt werden kann, wobei sie trotzdem in einem anderen Zusammenhang nicht immer erkannt wird. Wenn z. B. Abb. 22a sorgfältig betrachtet wurde, erscheint b immer noch spontan als ein Rechteck und ein Quadrat und nicht als das vertraute Sechseck mit den umgebenden Formen c. Abb. 23 enthält die wohlbekannte Zahl 4. Diese Beispiele von Tarnung beweisen, daß bei einem starken Widerstand der inneren Struktur eines Reizmusters gegen eine vorher gewußte Gestalt sogar eine Uberdosis früherer Erfahrung ohne Wirkung bleiben kann. Der Einfluß der Erinnerung ist dann besonders stark, wenn eine besondere Notwendigkeit den Betrachter in gegebenen Wahmehmungseigenschaften ein bestimmtes Objekt sehen läßt. Gombrich schreibt: »Je größer die biologische Bedeutung eines Objektes für uns ist, umso mehr sind wir auf das Erkennen eingestellt — und umso anspruchsloser sind wir daher in bezug auf formale Übereinstimmung.« Wenn ein Mann an der Straßenecke auf seine Freundin wartet, erkennt er sie fast in jeder näherkommenden Frau, und die Tyrannei seiner Erinnerungsspuren wird immer stärker, je mehr die Minuten auf der Uhr verstreichen. Ein Psychoanalytiker entdeckt Geschlechtsorgane in jedem Kunstwerk. Der durch Zwang auf die Wahrnehmung ausgeübte Druck wird von Psychologen im Rorschach-Test verwendet. Die strukturelle Mehrdeutigkeit von Tintenklecksen in diesem Test erlaubt eine große Variationsbreite der Interpretation, so daß der individuelle Betrachter spontan diejenige auswählen kann, die seiner Bewußtseinslage am meisten entspricht. Gestaltsehen Wie kann man die räumlichen Merkmale beschreiben, die eine Gestalt ergeben? Es wäre am sichersten, alle räumlichen Orte der Punkte zu bestimmen, aus denen diese Merkmale bestehen. Dieses kann man durch eine Methode verdeutlichen, die der Renaissancearchitekt

Leon

Battista Alberti in seinem Traktat Della Statua — aus dem Abb. 24 ge-

Abb. 24

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nominen ist — den Bildhauern empfohlen hat. Mit einem Lineal, einem Bogenmaß und einer mit einem Blei beschwerten Schnur kann man jeden Punkt der Statue in Begriffen von Winkel und Abstand beschreiben. Eine ausreichende Zahl solcher Maßangaben genügt, um eine Kopie der Statue anzufertigen. Oder — so sagt Alberti — eine Hälfte der Figur kann auf den Parischen Inseln und die andere in den Bergen von Carrara gehauen werden, und die Teile passen doch zusammen. Es kennzeichnet diese Methode, daß sie ein individuelles Objekt zu reproduzieren ermöglicht und das Ergebnis doch eine Überraschung ist. Auf keine Weise kann man die Art der Gestalt der Statue aus den Maßangaben erschließen, da diese erst angewendet werden müssen, ehe das Ergebnis bekannt wird. Ein ähnlicher Vorgang in der analytischen Geometrie steht dieser Methode sehr nahe. Um die Gestalt einer Figur zu bestimmen, werden alle Punkte, aus denen diese Figur besteht, räumlich durch ihre Entfernung von einer vertikalen (y) und einer horizontalen (x) kartesianischen Koordinate festgelegt. Auch hier ermöglicht eine ausreichende Zahl von Maßangaben, die Figur zu rekonstruieren. Wenn irgend möglich, versucht der Mathematiker allerdings über die Anhäufung von beziehungslosen Angaben hinauszukommen. Er versucht, eine Formel zu finden, die den Ort eines jeden Punktes der Figur angibt — d. h. er sucht ein allgemeines Konstruktionsgesetz. Z. B. heißt die Gleichung eines Kreises mit dem Radius r : (x—a)2+ (y-b) 2 = r2 wenn der Mittelpunkt des Kreises die Entfernung a von der y-Achse und die Entfernung b von der x-Achse hat. Selbst eine solche Formel aber gibt nicht mehr als die Orte einer unendlichen Zahl von Punkten zusammengefaßt, aus denen zufällig der Kreis besteht. Sie sagt nicht viel über die Art der sich ergebenden Figur aus. Wie ist die Situation in der Wahrnehmung? U m eine Gestalt zu sehen, könnten die Augen die räumliche Anordnung vieler Punkte, aus denen die Gestalt besteht, aufnehmen und zusammensetzen. So verhalten sich etwa Hirnverletzte, die die Fähigkeit des Formsehens verloren haben. Durch Kopf- oder Fingerbewegungen zeichnen sie den Umriß einer gegebenen Gestalt und schließen dann aus dem Ergebnis, daß das Ganze etwa ein Dreieck sein muß. Sie verhalten sich wie ein Reisender, der den Zickzackweg durch den Irrgarten einer unbekannten Stadt rekonstruiert, nur um festzustellen, daß er im Kreis gegangen ist.

Das normale Auge verhält sich nicht so. Meist erfaßt es die Gestalt unmittelbar — d. h. es ergreift die Gesamtordnung. Welche Gestalt sieht

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das Auge? Die Antwort ist naheliegend, wenn es sich um sehr einfache, regelmäßige Figuren handelt, die die Gestalt dem Auge in klaren Begriffen nahebringt. Aber wie verhält es sich mit Abb. 26? Man muß überlegen, warum die meisten Personen spontan ein Quadrat sehen (Abb. 25a) und nicht eine in b oder c vorgeschlagene Figur. Wenn vier weitere Punkte zu Abb. 26 hinzugefügt werden, verschwindet das Quadrat aus der nun oktogonalen oder sogar kreisförmigen Gestalt (Abb. 27). Weiße Kreise oder — für einige Betrachter — Quadrate erscheinen in der Mitte des Kreuzes in Abb. 28, obgleich kein Anhaltspunkt für eine runde oder quadratische Kontur gegeben ist. Warum eher Quadrate und Kreise als irgendwelche anderen Figuren?

Abb. 28 Phänomene dieser Art finden ihre Erklärung in dem, was die Gestaltpsychologen das Grundgesetz der visuellen Wahrnehmung nennen. Dieses Gesetz besagt, daß jede Reizkonfiguration danach strebt, so gesehen zu werden, daß die sich ergebende Struktur die einfachste ist, die unter den gegebenen Umständen möglich ist. Einfachheit Was bedeutet »Einfachheit« ? Man kann Einfachheit als eine bestimmte Wirkung bezeichnen, die von gewissen Faktoren auf den Betrachter ausgeübt wird, und ihre Bedeutung in dieser Weise auf subjektive Reaktionen beschränken. Zum Beispiel machte Spinoza eine Aussage über Ordnung, die ebenso auf Einfachheit angewendet werden kann. Seiner Uberzeugung nach glauben wir fest, die Ordnung sei in den Dingen selbst angelegt, obgleich wir über sie oder über ihr Wesen nichts wissen. »Denn wenn Dinge so angeordnet sind, daß, wenn sie uns durch die Sinne dargeboten werden, wir sie uns leicht vorstellen und daher leicht im Gedächtnis behalten, nennen wir sie gut geordnet und im umgekehrten Fall schlecht geordnet oder verworren.« Bei einer ähnlichen Überlegung kann man Einfachheit als den Spannungsgrad definieren, den ein Phänomen in der Wahrnehmung des Betrachters und in den entsprechenden Vorgängen, die in dessen Gehirn ablaufen, schafft. Solche Definitionen sind aus mehreren Gründen unvollständig. Erstens kann die Reaktion des Beobachters unangemessen sein. Entsprechend seiner Bewußtseinslage kann er ein Phänomen als sehr kompliziert oder sehr verworren ansehen, weil er nicht die Einfachheit einsieht; oder umgekehrt kann er eine Situation als einfach erleben, weil er die Vielschichtigkeit nicht sieht. Für unsere Zwecke müssen wir Einfachheit nicht nur nach der Wirkung auf den Beobachter, sondern auch nach den genauen strukturellen

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Bedingungen definieren, durch die eine Gestalt einfach wird. Das muß nicht nur für die erlebte Gestalt, sondern auch für den Reiz, der die Erfahrung auslöst, geschehen. Tatsächlich kann das Wesen der Einfachheit nur dann verstanden werden, wenn es als zur körperlichen Gestalt selbst zugehörig betrachtet wird, ohne Rücksicht darauf, ob sie von irgend jemandem gesehen wird oder nicht. Praktisch wird der Begriff »Einfachheit« in zweierlei Hinsicht gebraucht. Man kann sagen, ein Volkslied sei einfacher als eine Symphonie, oder eine Kinderzeichnung einfacher als ein Gemälde von Tiepolo. In diesem Sinn hat der Begriff eine mehr quantitative Bedeutung, da er sich auf Muster mit nur wenigen Elementen bezieht, die nur wenige Beziehungen untereinander zulassen. Hier ist Vielschichtigkeit der Gegensatz zur Einfachheit. Im Bereich der Kunst bezeichnet der Begriff oft etwas anderes und wichtigeres. Typische Kinderzeichnungen und wirklich primitive Kunstgegenstände erreichen Einfachheit oft durch wirklich einfache Mittel. Das gilt aber nicht für reife Kunststile. Oft sind Werke, die »einfach« aussehen, sehr komplex. Wenn wir die Oberfläche einer guten ägyptischen Statue, die Formen, aus denen ein griechischer Tempel besteht, oder die Formbeziehungen in einer guten afrikanischen Plastik prüfen, erweisen sie sich als alles andere als einfach. Das gleiche gilt für die Bisons in den praehistorischen Höhlen, für byzantinische Heilige oder Bilder von Henri Rousseau. Wir zögern, eine durchschnittliche Kinderzeichnung, eine ägyptische Pyramide oder gewisse »funktionale« Gebäude als »Kunstwerke« zu bezeichnen, weil ein Minimum an Komplexität oder Reichtum unerläßlich scheint. Kürzlich schrieb der Architekt Peter Blake: »In einigen Jahren wird es in den USA nur noch einen Typus der industriellen Produkte geben — eine polierte, sauber gearbeitete Rautenform. Die kleinen Rauten sind Vitamintabletten; die größeren Fernsehapparate oder Schreibmaschinen,· und die größten sind Autos, Flugzeuge oder Eisenbahnzüge.« Blake wollte damit nicht sagen, daß wir seiner Meinung nach auf einen Höhepunkt der künstlerischen Kultur zustreben. Wenn man ein Kunstwerk wegen seiner »Einfachheit« lobt, so meint man, daß die Gesamtstruktur einen Reichtum an Bedeutung und Form enthält, und daß diese Struktur Ort und Funktion eines jeden Gliedes im Ganzen festlegt. Es scheint paradox, wenn Kurt Badt Rubens als einen der einfachsten unter allen Künstlern bezeichnet. Er erklärt es so: »Es trifft zu, daß man eine Ordnung, in der ein reiches Spiel an aktiven Kräften herrscht, verstehen muß, um seine Einfachheit zu begreifen.« Badt definiert die künstlerische Einfachheit als das »einsichtige Ordnen der Mittel auf Grund der Kenntnis des Wesentlichen, dem alles sich unterzuordnen hat«. Als ein Beispiel für künstlerische Einfachheit nennt er zum Beispiel Tizians Methode, ein Gemälde aus einem Gewebe von kurzen Pinselstrichen zu schaffen. »Das zweifache System von Flächen und Umrissen ist aufgegeben. Eine neue Einfachheit ist erreicht. Das ganze Bild ergibt sich nur durch ein Verfahren. Bis dahin war die Linie durch den Gegenstand bestimmt; sie wurde nur für die Umgrenzung oder für den Schatten, unter Umständen auch für die Glanzlichter

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verwendet. Jetzt stellen die Linien ebenfalls Helligkeit, Raum und Luft dar und gehorchen so der Forderung nach größerer Einfachheit, die ausdauernde Festigkeit der Form mit dem immer wandelnden Prozeß des Lebens verbinden will.« Ähnlich gab Rembrandt an einem bestimmten Punkte seiner Entwicklung der Einfachheit willen die Anwendung von Blau auf, weil es nicht in den Akkord des goldenen Braun, Rot, Ocker und Olivgrün sich einfügte. Badt weist auch auf die graphische Technik Dürers und seiner Zeitgenossen hin, die Schatten und Volumen mit den gleichen gebogenen Strichen darstellten, die sie zum Zeichnen ihrer Figuren nahmen und so durch eine Vereinheitlichung der Mittel auch eine Einfachheit erlangten. In einem reifen Kunstwerk scheinen sich alle Dinge einander anzugleichen. Himmel, See, Erde, Bäume und Menschen scheinen aus ein und derselben Substanz gemacht zu sein, die die Natur von keinem verfälscht, sondern alles durch die vereinigende Kraft des großen Künstlers wieder neu schafft. Jeder Künstler gebiert ein neues Universum, in dem bekannte Dinge neu, wie nie zuvor, erscheinen. Statt einer Verzerrung oder Verfälschung gibt diese neue Erscheinung die alte Wahrheit in einer ergreifend frischen, einleuchtenden Weise wieder. Die Einheit der künstlerischen Konzeption führt zur Einfachheit, die keineswegs unvereinbar mit Komplexheit ist und ihr Genie mehr im Beherrschen des Reichtums der Existenz zeigt, als in die Armut der Enthaltsamkeit zu fliehen. Das Gesetz der Sparsamkeit — oder das Oekonomieprinzip — der wissenschaftlichen Methode verlangt, daß von mehreren zutreffenden Hypothesen die einfachste auszuwählen ist. Nach Cohen und Nagel »wird diejenige Hypothese für einfacher gehalten, in der die Zahl der unabhängigen Typen der Grundeinheiten geringer ist als in der anderen«. Eine solche Hypothese muß dem Wissenschaftler ermöglichen, alle Aspekte des untersuchten Phänomens unter einer möglichst geringen Zahl von Voraussetzungen zu vereinigen. Sie sollte nach Möglichkeit nicht nur eine besondere Reihe von Dingen oder Vorgängen, sondern alle die in diese Kategorie fallen, èrklâren. Das Oekonomiegesetz gilt im ästhetischen Bereich insofern, als der Künstler nicht über das, was für den Zweck benötigt wird, hinausgehen darf. Er folgt dem Beispiel der Natur, die nach den Worten Isaak Newtons »nichts vergeblich tut. Alles Darüberhinaus ist umsonst, wenn weniger genügt; denn der Natur gefällt die Einfachheit, und sie ziert sich nicht mit dem Pomp überflüssiger Gründe.« Es hat sich schon gezeigt, daß Einfachheit nicht durch die Zahl der in einer Gestalt enthaltenen Elemente bestimmt wird. Zwar hat die Anzahl der Elemente einen Einfluß auf die Einfachheit des Ganzen, aber die Beispiele in Abb. 29 und 30 zeigen, daß die Gestalt mit der größeren Zahl von Gliedern immer noch die einfachere Struktur haben kann. Die sieben Glieder einer Ganztonreihe sind zu einer Gestalt verbunden, die gleichmäßig und schrittweise wächst. Abb. 2,9b enthält nur vier Glieder, ist aber weniger einfach, weil es aus einer Quart nach unten, einer Quinte und einer Terz nach oben besteht. Zwei verschiedene Richtungen und drei verschiedene Intervalle sind verwendet. Die Struktur der Gestalt ist komplexer trotz

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der geringeren Zahl der Glieder. In gleicher Weise ist ein Quadrat mit seinen vier Seiten und vier Winkeln einfacher als ein ungleichmäßiges Dreieck (Abb. 30). Im Quadrat sind alle Seiten von gleicher Länge und gleicher Entfernung vom Mittelpunkt. Nur zwei Richtungen sind vorhanden, die Vertikale und die Horizontale, und die Winkel sind von gleicher Größe. Die ganze Gestalt ist äußerst symmetrisch (in bezug auf vier Achsen). Das Dreieck hat weniger Glieder, aber sie unterscheiden sich in Größe und Lage. Es herrscht keine Symmetrie.

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b

Abb. 2,9 Eine gerade Linie ist einfach, weil sie eine unveränderte Richtung benutzt. Parallele Linien sind einfacher als die sich in einem Winkel schneidenden, weil ihr Verhältnis zueinander durch eine gleichbleibende Entfernung bestimmt wird. Ein rechter Winkel ist einfacher als andere Winkel, weil er eine Unterteilung der Fläche gibt auf Grund der Wiederholung des gleichen Winkels (Abb. 31). Abb. 32a und b sind identisch, außer daß der Ort der Glieder in b einen gemeinsamen Mittelpunkt gibt und dadurch die Gestalt vereinfacht. Eigentlich einfache Glieder können zu einer sehr komplexen Gestalt angeordnet werden. Durch diese Methode haben einige moderne abstrakte Maler wie Joseph Albers, Piet Mondrian oder Ben Nicholson ihren Kompositionen aus geometrischen Formen genügend Vielfältigkeit gegeben. Abb. 33 gibt das Kompositionsschema eines Reliefs von Ben Nicholson wieder. Die Glieder sind so einfach, wie sie in einem Kunstwerk überhaupt zu finden sein können. Die Komposition besteht aus einem regelmäßigen, vollständigen Kreis und einer Anzahl rechteckiger Formen, die zueinander und zum Rahmen parallel liegen. Doch sogar ohne die unterschiedliche Tiefenschichtung, die im Originalrelief die verschiedenen Ebenen gegeneinander wirken läßt, ist der Gesamteindruck nicht einfach. Zumeist beeinträchtigen sich die verschiedenen Formeinheiten nicht, aber Rechteck Β überschneidet D und E (Abb. 34). Β stößt mit seiner oberen Seite an den Rahmen der größeren Rechtecke, die Β sonst nur umrahmen, und schafft dadurch eine komplizierende Unregelmäßigkeit. Die drei äußeren Rechtecke haben ähnliche, aber nicht genau gleiche Proportionen. Ihre Mittelpunkte liegen dicht beieinander, fallen aber nicht auf einen Punkt zusammen. Die starke Annäherung der Lage und Proportionen schafft beträchtliche Spannung, indem sie im Betrachter Feinfühligkeit für ganz geringe Unterschiede erfordert. Dieses gilt für die ganze Komposition. Von den inneren Gliedern sind A und C eindeutig rechteckig. D ergibt ein Quadrat, wenn es vervollständigt wird (weil es etwas breiter als hoch ist, wodurch die schon erwähnte Uberschätzung der Vertikalen ausgeglichen wird); Β und das vervollständigte E erscheinen rechteckig, aber sie sind nur so wenig nach oben gerichtet, daß ihre Proportionen sich dem Quadratischen

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annähern. Auch diese Annäherung schafft Spannung, da sie subtiles Unterscheidungsvermögen erfordert. Der Mittelpunkt des gesamten Musters fällt mit keinem Punkt der Komposition zusammen, und die mittlere Horizontale berührt keine Ecke. Die mittlere Vertikale nähert sich genügend dem Mittelpunkt von B, um im Verhältnis zwischen dem Rechteck und der gesamten Fläche ein Element der Einfachheit zu bilden. Das gleiche gilt für den Kreis; und doch weichen Β und der Kreis genügend von der mittleren Vertikalen ab, um eindeutig asymmetrisch im Verhältnis zueinander zu erscheinen. Der Kreis befindet sich weder in der Mitte von Β noch vom gesamten Muster, und die überschneidenden Ecken von Β stehen in keinem einfachen Verhältnis zu der Form der Rechtecke D und E, in die sie hineinragen.

Abb. 33

Abb. 34 Warum hält die ganze Komposition trotzdem zusammen? Einige vereinfachende Faktoren sind bereits erwähnt worden. Außerdem würde die Verlängerung der unteren Seite von C den Kreis berühren. Und wenn A zu einem Quadrat vervollständigt würde, berührten die Ecken des Quadrats ebenfalls den Kreis. Diese Ubereinstimmungen tragen dazu bei, den Kreis an seinem Platz zu halten. Außerdem ist natürlich ein allgemeines Gleichgewicht aller Proportionen, Abstände und Richtungen gegeben, das die unentbehrliche Einfachheit des Werkes als Ganzheit ergibt. Trotzdem zeigt dieses Beispiel, daß sehr einfache Glieder sich zu einer komplexen Gestalt verbinden können. Jetzt kann ich Einfachheit durch die Anzahl der Strukturmerkmale

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definieren, die eine Gestalt ergeben. Absolut gesehen ist ein Ding dann einfach, wenn es aus einer geringen Anzahl von Strukturmerkmalen besteht. Relativ gesehen hat ein Ding Einfachheit, wenn in ihm ein komplexer Gehalt durch eine möglichst geringe Zahl von Strukturelementen organisiert wird. »Merkmale« sind keine stückhaften Elemente. Sie sind Eigenschaften der Struktur, die für die Form in Begriffen von Abstand und Winkel beschrieben werden können. Wenn ich die Zahl der Radien in einem Kreis von zehn auf zwanzig erhöhe, hat sich die Zahl der Glieder vermehrt, aber die Zahl der Strukturmerkmale ist unverändert geblieben. Denn unabhängig von der Zahl der Radien genügen eine Entfernung und ein Winkel, um den Aufbau des Ganzen zu beschreiben. Strukturmerkmale müssen für die Gesamtgestalt festgelegt werden. Eine Ersparnis von Merkmalen in einer Teilfläche kann zu Vermehrung im Ganzen führen,· das heißt, eine Vereinfachung im Teil kann das Ganze komplizieren. In Abb. 35 ist eine Gerade zwischen den Punkten a und b nur so lange die einfachste Verbindung, wie wir nicht sehen, daß ein Bogen eine einfachere Gesamtgestalt ergibt. Die Voraussetzungen der Einfachheit Meine Annahme ist, daß die Tendenz zur einfachsten Struktur im Gehirnfeld die Wahrnehmung so einfach wie möglich macht. Aber die Einfachheit der resultierenden Erfahrung hängt auch ab a) von der Einfachheit des Reizes, der die Wahrnehmung entstehen läßt, b) von der Einfachheit der durch die Wahrnehmung zu übertragenden Bedeutung, c) von dem Verhältnis Bedeutung — Wahrnehmung, und d) von der seelischen Anlage des individuellen Beobachters. Der Reiz ist die auf die Netzhaut des Auges projizierte geometrische Gestalt. Er ist keine psychische Erfahrung, sondern ein körperlicher Vorgang. Als solcher hat er gewisse objektive Eigenschaften, die unabhängig von der ausgelösten Erfahrung beschrieben werden können. Wenn man ζ. B. gerade auf Abb. 26 blickt, besteht das in das Auge projizierte Reizmuster aus vier gleichmäßig runden Punkten. Von den Entfernungen zwischen den Punkten sind vier gleich lang, viermal ergeben drei Punkte eine rechtwinklige Konstellation. Im Psychischen drängen diese geometrischen Eigenschaften auf geradlinige Verbindungen zwischen den Gliedern und auf rechte Winkel. Andererseits würde ein Kreis die einfachste Verbindung zwischen den vier Einheiten sein. Wenn die Einfachheit der Wahrnehmung der einzige in Betracht zu ziehende Faktor wäre, würde man vom Betrachter die Wahrnehmung eines Kreises erwarten. Aber das Wahrnehmungsergebnis ist bestimmt von der Wechselwirkung zwischen der Struktur des Reizes und dem Streben nach größter Einfachheit im Gehirnfeld. Das bedeutet, die wahrgenommene Gestalt verbindet den Reiz auf der Netzhaut mit dem dynamischen Streben des Gehirnfeldes zur einfachst möglichen Struktur. Wenn im Falle von Abb. 2.6 die Tendenz zur Rundheit im Gehirnfeld die potentielle Rechtwinkligkeit der Reizkonfiguration überstimmen würde, so ergäbe

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sich größere Spannung (weniger Einfachheit), als wenn das Gehirn »einwilligt«, sich mit dem weniger (doch immer noch genügend) einfachen Quadrat abzufinden, das besser zum Reiz paßt. In Abb. 27 überzeugen die rechtwinkligen Verhältnisse zwischen den Reizgliedern weniger, und die Lage der acht Punkte nähert sich mehr der Kreisform an. Unter diesen Umständen gibt der Sieg der Rundform die einfachste Lösung. Soviel über den Einfluß der Reizgestalt auf die Wahrnehmung. Es gehört zum Wesen der künstlerischen Form, Bedeutung zu tragen. Form weist immer auf etwas außerhalb ihrer selbst hin. Ein Klumpen Ton oder ein Linienbündel können eine menschliche Gestalt darstellen. Ein abstraktes Bild kann Sieges-Boogie-Woogie heißen. Die Bedeutung oder der Inhalt können verhältnismäßig einfach sein (ruhende, nackte Figur) oder auch komplex (Aufruhr, durch die gerechte Regierung überwunden). Die Art der Bedeutung und das Verhältnis zur sichtbaren Form, die diese ausdrücken soll, tragen dazu bei, den Grad der Einfachheit des ganzen Werkes zu bestimmen. Wenn eine an sich einfache Wahrnehmung etwas Komplexes ausdrücken soll, ist das Ergebnis nicht einfach. Wenn ein Taubstummer eine Geschichte erzählen will und ein Grunzen hervorbringt, so ist die Struktur des Geräusches einfach, aber das Gesamtergebnis enthält so viel Diskrepanz zwischen der hörbaren Form und dem gemeinten Inhalt, als ob man einen menschlichen Körper in ein zylindrisches Korsett pressen wollte. Einige kurze Worte in kurzen Sätzen schließen nicht notwendig eine einfache Aussage ein — obwohl das so vielfach geglaubt wird. Der Zwiespalt zwischen komplexer Bedeutung und einfacher Form kann etwas sehr Kompliziertes ergeben. Eine sehr simple Bedeutung in einer entsprechend simplen Form wird natürlich größte Einfachheit ergeben. (Im künstlerischen Bereich kann es Langeweile erzeugen). Angenommen, ein Maler stellte Kain und Abel durch zwei Personen dar, die genau gleich aussehen und sich in gleicher Haltung symmetrisch gegenüberstehen. Die Bedeutung würde hier die Unterscheidung von Gut und Böse, Mörder und Opfer, Annahme und Ablehnung einschließen, während das Bild Gleichheit der beiden Männer ausdrückte. Die Wirkung des Bildes würde nicht einfach sein. Diese Beispiele zeigen, daß Einfachheit eine Ubereinstimmung der Struktur des Inhalts und der sichtbaren Gestalt erfordert. Solche strukturelle Ubereinstimmung wird von den Gestaltpsychologen »Isomorphismus« genannt. Schließlich muß die Einstellung oder Haltung des individuellen Betrachters in Betracht gezogen werden. In einem psychologischen Test wird ein Quadrat langsam auf einer Leinwand sichtbar gemacht, indem die Helligkeit des Projektors gesteigert wird. Wenn der Betrachter ein Quadrat zu sehen erwartet, wird er wahrscheinlich die Figur eher sehen, als wenn ihm gesagt wurde, er würde einen Kreis sehen. Die zweite Aufgabe ist schwerer, weil das Verhältnis zwischen dem Wahrgenommenen und dem Erwarteten eine weniger einfache Struktur hat. Ein Stück von Alban Berg kann einem Konzertbesucher, der mit diatonischer Musik vertraut ist, komplizierter erscheinen, als es in seiner Art 5

Arnheim

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ist, weil dieser Zuhörer es einem falschen Strukturmodell zuordnet. Außerdem können tief in der menschlichen Persönlichkeit liegende Faktoren eine Komplizierung ergeben. Die schlanken, schwingenden Figuren El Grecos können einen Betrachter, dem asketische Ekstase fremd ist oder den sie abstößt, Schwierigkeiten bereiten. Bogen waren mit Piet Mondrians Auffassungen unvereinbar. Seine Persönlichkeit verlangte offensichtlich die feste Stabilität der geraden Vertikalen und Horizontalen. Physische

Einfachheit

Das Streben nach Gleichgewicht (vgl. Kap. i) kann als Streben nach Einfachheit beschrieben werden. Gleichgewicht verstärkt die Einfachheit einer Komposition, indem Mehrdeutigkeit und Zwiespalt ausgeschieden werden. Gleichgewicht gibt es in psychischen und physischen Situationen, wie beschrieben wurde. Gilt dies für Einfachheit im allgemeinen? Ist Einfachheit eine objektive Eigenschaft materieller Dinge, oder bezieht sie sich nur auf ein subjektives Erlebnis oder Urteil des Betrachters? Es kann gezeigt werden, daß die oben gegebene Definition der Einfachheit unmittelbar auf körperliche Strukturen bezogen werden kann. Die Tatsache, daß der Körper eines Seesterns weniger Strukturmerkmale hat als der Körper eines Menschen, besteht unabhängig von der Reaktion irgendeines Beobachters. Ein Gänseblümchen ist objektiv einfacher als eine Orchidee. Das Grabmal Theoderichs in Ravenna besteht aus einer einfacheren Ordnung der Steine als die Kathedrale in Mailand, unabhängig, ob unter gegebenen kulturellen Bedingungen den Leuten das eine oder das andere Bauwerk leichter eingeht. In der körperlichen Einfachheit gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Gegenständen der Natur und Kunstwerken. In einem Kunstwerk bezieht sich Einfachheit nur auf die äußere Oberfläche. Die Einfachheit einer Tonfigur ergibt sich nicht aus der inneren Struktur des Tons, sondern aus dem, was der Mensch daraus gemacht hat. In den bildenden Künsten — abgesehen von der Wirkung solcher feststehenden Eigenschaften eines Werkstoffes wie dem Gewicht des Steines, der Holzmaserung, der Flüssigkeit der Farbe — wird die Form dem Material durch äußeren Einfluß aufgeprägt. Tatsächlich vermeiden Künstler meist komplizierte Werkstoffe wie Kristalle oder Pflanzen. Die Kunst des Blumenarrangements ist zwitterhaft, weil organische Formen dem menschlichen Befehl unterstellt werden. Wir neigen dazu, Tanz und Theater als zweitrangige Kunst anzusehen, weil sie auf der gegebenen Form und Funktion des menschlichen Körpers beruhen. Kracauer hat die Bemerkung gemacht, daß in einer Fotografie die hochgezüchtete Kompositionsform das Material verfälscht, welches ein gemeinsames Produkt der körperlichen Wirklichkeit und des organisierenden Verstandes ist. Künstlerische Form wird geschaffen, während organische Form wächst. »Obgleich wir selbst in unbewußtem Wachstum gemacht oder

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gebildet sind, können wir nichts auf diese Weise schaffen«, schreibt Paul Valéry. Die Form einer Muschel oder eines Blattes ist die äußere Manifestation innerer Kräfte, die das Objekt hervorbringen. Ein Baum bringt die Geschichte seiner Entwicklung sichtbar vor Augen. Die Wellen des Ozeans, die sphärischen Planetenbahnen und die Umrisse des menschlichen Körpers reflektieren die Kräfte, die sie hervorgebracht haben und aus denen sie bestehen. Wenn die pythagoreische Sphärenharmonie wirklich bestünde, würde sie das Beispiel einer Kunst als einer unmittelbaren Manifestation eines Naturprozesses sein. Aber Marmor, Holz und Farbe sind die amorphen Substrate einer von Menschen geschaffenen Form. Die auffällige Einfachheit einiger Naturformen ist das Ergebnis ähnlich einfacher Kräfteverteilung, durch die das Objekt geschaffen ist. Diese Formen zeigen das Streben nach Einfachheit in der Natur ganz offensichtlich. Falls dieses ein allgemeines Streben ist, warum gibt es verhältnismäßig selten regelmäßige, symmetrische Formen? Die Antwort ist, daß das Streben nach Einfachheit sich ungestört nur in »isolierbaren Systemen« auswirken kann (um einen Ausdruck L. L. Whyte's zu gebrauchen) — d. h., in Konfigurationen, die so abgeschlossen sind, daß praktisch kein Einfluß der Umgebung eintreten kann. Organismen sind offene Systeme, die dauernd Energie aufnehmen und abgeben. Diese Energie wird in Handlung umgesetzt, die man als Funktionen des Organismus bezeichnen kann. Eine solche Funktion ist der Wachstumsprozeß. Der Stengel oder der Stamm einer Pflanze wächst aufwärts. Innerhalb der Grenzen dieses gerichteten Vorganges ergibt sich die möglichst einfache Form. So wird der Stengel oder Stamm verhältnismäßig gerade wachsen und einen kreisförmigen Querschnitt haben. In Beziehung auf die mittlere Vertikalebene ist der menschliche Körper annäherungsweise symmetrisch. In Einzelheiten seines Baues können nahezu sphärische, zylindrische, parabolische oder geràde Formen überall gefunden werden. Einmischungen in das Streben nach Einfachheit gibt es in der Natur genügend. Wärme bringt Moleküle zu einem amorphen Durcheinander, wie z. B. in Gasen oder Flüssigkeiten. Uberall stören sich die Dinge gegenseitig. Die mögliche Symmetrie eines Baumes wird durch die Nachbarschaft anderer Bäume und die gerichtete Einwirkung von Wind, Wasser und Licht gestört. Wir lesen über den italienischen Dichter Giacomo Leopardi: »Während der Junge gelehrt den Inhalt obskurer Foliobände bemeisterte, degenerierten seine Knochen, sein Rückgrat war hoffnungslos verkrümmt und seine Sehschärfe ruiniert.« Man kann Dinge oder Körper als Vorgänge ansehen, die wir in einem mehr oder weniger dauernden Zustand beobachten. In diesem Zustand zeigen sie die Anzeichen eines Strebens nach Einfachheit und zugleich die Anzeichen gerichteter Einwirkungen, die sie wachsen und ihre Aufgabe erfüllen lassen oder ihr inneres Streben stören. Darum genießt der Mensch in der Betrachtung regelmäßiger und symmetrischer Formen die Sinnbilder der Vollkommenheit und Ausgeglichenheit. Solche Einfachheit muß, um wertvoll zu sein, durch einen Sieg über die störenden Naturkräfte erreicht werden. Wenn wir einen Gegenstand am Strand 5»

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seiner regelmäßigen Form wegen aufsammeln, warum werfen wir ihn enttäuscht und verächtlich fort, wenn er sich als maschinell hergestellter Kamm oder Büchse erweist? Wir tun das, weil die Einfachheit des Fabrikproduktes billig erreicht ist. Sie ist nicht den Naturkräften abgerungen, sondern der Materie von außen aufgezwungen. Angewandte

Vereinfachung

Nach dem Grundgesetz visueller Wahrnehmung will jede Reizgestalt so gesehen werden, daß die sich ergebende Struktur unter den gegebenen Umständen so einfach wie möglich ist. Dieses Streben ist weniger auffällig, sobald ein starker Reiz die wahrzunehmende Gestalt beherrscht. Unter solchen Bedingungen ist der Wahrnehmungs-Mechanismus auf die Gruppierung oder Vervollständigung beschränkt, die das einfachste Ergebnis verspricht. Je schwächer aber der Reiz ist, umso mehr kann sich das Wahrnehmungsstreben selbst äußern. Leonardo da Vinci beobachtete, daß ein von Ferne gesehener Mensch »als ein sehr kleiner, runder, dunkler Körper erscheint. Er sieht deswegen rund aus, weil die Entfernung die verschiedenen Glieder so verkleinert, daß nichts außer der großen Masse sichtbar bleibt.« Warum läßt die Vereinfachung den Betrachter eine runde Form sehen? Die Antwort ist, daß die Entfernung den Reiz so sehr abschwächt, daß der Wahrnehmungsmechanismus ihm die einfachst mögliche Form aufprägen kann, nämlich den Kreis. Solche Reizabschwächung kommt auch unter anderen Bedingungen vor, wenn ζ. B. eine wahrgenommene Gestalt nur schwach beleuchtet ist oder nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen wird. Der zeitliche Abstand hat einen ähnlichen Effekt wie der räumliche Abstand; sobald der tatsächliche Reiz verschwunden ist, läßt die Erinnerung nach. In Experimenten hat man die Auswirkungen dieser verschiedenen Bedingungen untersucht. In solchen Experimenten gibt es viele Reizveränderungen. Zuerst scheinen die Ergebnisse aus leicht durchschaubaren Gründen verwirrend oder sogar widersprüchlich zu sein. An erster Stelle sind Wahrnehmungen und Erinnerungsspuren nicht unmittelbar dem Forscher zugänglich. Sie müssen ihm entweder durch verbale Beschreibung, durch Zeichnung oder durch Vergleichen einiger Formen, von denen der Betrachter eine der beobachteten Figur am meisten ähnliche auswählen soll, auf indirekte Weise mitgeteilt werden. Keine dieser Methoden reicht aus, weil sich nicht unterscheiden läßt, wie weit die Ergebnisse der primären Erfahrung selbst oder dem Medium der Mitteilung zuzuschreiben sind. Diese Unterscheidung ist aber glücklicherweise für unseren Zweck nicht entscheidend. Begutachtet man die Zeichnungen einer Versuchsperson, muß man die technische Begabung und den persönlichen Maßstab hinsichtlich der erforderlichen Genauigkeit in Betracht ziehen. Jemand kann ein ziemlich unregelmäßiges Gekritzel für das ausreichend genaue Abbild einer b e s t i m m t e n F o r m halten, so daß m a n unmöglich, die Einzelheiten einer

solchen Zeichnung wörtlich nehmen darf. Läßt man nicht einigen Spiel-

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räum zwischen der tatsächlichen Zeichnung und dem beabsichtigten Bild, so kann die Interpretation der Ergebnisse Verwirrung stiften. Z u m anderen sind das Wahrnehmen und das Erinnern einer Gestalt nicht isolierte Vorgänge. Sie sind den Einflüssen unzähliger Erinnerungsspuren zugänglich, die im Bewußtsein der Versuchsperson potentiell aktiv sind. Unter solchen Umständen kann man nicht erwarten, daß die innewohnenden Tendenzen sich in allen Beispielen klar zeigen. M a n m u ß daher am besten die Interpretation auf solche Beispiele stützen, die einen bestimmten Effekt deutlich aufweisen. Ich werde mich nicht einzeln mit den Ergebnissen befassen, die durch verschiedene Arbeitsweisen und von verschiedenen Wissenschaftlern erzielt worden sind, sondern werde das Gesamtergebnis zu fassen suchen. Die ältere Theorie besagt, daß Erinnerungsspuren im Verlauf der Zeit verblassen. Sie lösen sich auf, werden ungenau, verlieren ihre individuellen Merkmale und sehen mehr und mehr wie alles und nichts aus. Dieses würde ein Prozeß allmählicher Vereinfachung durch den Verlust einer ausgeprägten Struktur sein. Neuere Forschungen stellten die Frage, ob dieser Vorgang nicht greifbare Veränderungen von einer Strukturform zur anderen einschlösse, die konkret beschrieben werden könnten. Solche Veränderungstypen sind tatsächlich gefunden worden. A l s ein einfaches Beispiel ist Abb. 36 für den Bruchteil einer Sekunde einer Gruppe von Personen gezeigt worden. Ihnen war vorher gesagt worden, Papier und Bleistift bereitzuhalten und ohne viel Überlegung das Gesehene so genau wie möglich wiederzugeben. Die Beispiele in Abb. 37 geben schematisch die Art der Resultate, die typisch erzielt wurden. Diese Auswahl gibt eine Vorstellung der eindrucksvollen Reaktionsbreite, die sich teils aus individuellen Verschiedenheiten, teils aus Faktoren wie unterschiedliche Vorführungszeit oder Abstand vom Betrachter erklären. Alle sind Vereinfachungen der Reizgestalt. Ich bewundere den Einfallsreichtum der Lösungen, die Vorstellungskraft, die sich darin zeigt, obgleich diese Zeichnungen schnell, spontan und ohne andere Absicht, als das Gesehene getreu wiederzugeben, entstanden. Obgleich einige Eigenschaften der Zeichnungen mehr die graphische Interpretation der Wahrnehmung als Eigenschaften der Wahrnehmung selbst sein mögen, so erbringt ein solcher Versuch doch genügend Beweismaterial, daß der Vorgang des Sehens die Lösung eines Problems enthält, nämlich das Schaffen eines gegliederten Ganzen.

Aiigleichung

und

Veischäifung

Obgleich die Zeichnungen offensichtlich ein Streben nach Verringerung der Strukturmerkmale zeigen, würde es ungenau sein zu sagen, in diesen Experimenten sei nur e i n Streben zu erkennen, nämlich auf die einfachste Strukturform hin. Besonders interessante Ergebnisse wurden mit solchen Formen erzielt, die mehrere Deutungen wie in Abb. 38 zuließen, a und d weichen etwas von der symmetrischen Form ab. Führt man solche Formen unter Bedingungen vor, die die Reizkontrolle

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Verstärkte Symmetrie

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Verstärkte Unterteilung

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Ubergang vom Schrägen zum Vertikalen Abb. 37 schwach raum zu personen gern die

genug lassen, um der Versuchsperson einen gewissen Spielgeben, so folgen zwei typische Reaktionen. Einige Versuchsvollenden die Symmetrie des Modells (b, e), andere übersteiAsymmetrie (c, f). b und e sind eine offensichtliche Verein-

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Abb. 38 fachung, ebenso aber auch c und f, indem sie eine Figur, in der zwei Strukturen um Dominanz ringen, so verändern, daß eine von ihnen klar dominiert. Ausscheiden von Mehrdeutigkeit ergibt Vereinfachung. Die Lösungen c und f sind zwar einfacher als a und d, aber weniger einfach

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[VI a

b

Abb. 39

Abb. 40

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als b und e. Die Lösungen c und f verschärfen die in a und d angelegte Vielschichtigkeit. Wulf nannte dieses Streben »Verschärfung«; die entgegengesetzte Tendenz — Ausscheiden der Vielschichtigkeit — nannte er »Angleichen«. Angleichen entsteht durch Faktoren der Vereinheitlichung, Verstärkung der Symmetrie, Wiederholung, Ausscheiden von nichtpassenden Details und von Schrägheit. Hingegen ensteht Verschärfung durch Unterteilungen, Zunahme der Unterschiede und Betonung der Schrägheit. Verschärfung bewirkt Vereinfachung, wenn sie Mehrdeutigkeit ausscheidet. Das gilt nicht für solche Beispiele, in denen eine Verschärfung vorkommt, ohne daß Mehrdeutigkeit vorhanden wäre. In letzterer ist eine Ablehnung gegen Vereinfachung enthalten. Auf diese wichtige Ausnahme wird später eingegangen werden. Oft kommen die Faktoren der Angleichung und Verschärfung in derselben Zeichnung vor. In Abb. 39 wird die Vereinfachung des Reizes a in b durch Begradigung der vertikalen Umrisse (Angleichung) und einer stärkeren Unterscheidung der zwei Spitzen über eine Mehrdeutigkeit hinaus (Verschärfung) erreicht, d vereinfacht c, indem eine Figur in zwei aufgespalten wird (Verschärfung) und sich dadurch zwei regelmäßige Formen ergeben — der Kreis und das offene Quadrat (Angleichung) . Bis jetzt habe ich nur solche Veränderungen erwähnt, die sich durch die gegebenen Kräfte in den einzelnen Formen ergeben. In anderen Beispielen kann man die Wirkung nicht nur durch die Beziehung zwischen Versuchsperson und isolierter Form erklären. Wenn man Gestaltfolgen für Versuche benützt, weisen die Zeichnungen oft den gegenseitigen Einfluß verschiedener Figuren auf, indem Angleichungen auftreten. Auch werden die Reizmuster oft mit Objektformen verbunden, die die Versuchsperson aus früheren Erfahrungen kennt. In Abb. 40 wurde das Vorbild (Abb. 39a) der Form eines Zweigs angeglichen. Ein solcher Vorgang kann zur Vereinfachung oder Komplizierung der ursprünglichen Form führen. Wichtig ist jedoch, daß die Versuchsperson beim Angleichen neuer Wahrnehmungserfahrungen an bestehende Erinnerungsspuren immer ihr gesamtes Erinnerungsvermögen vereinfacht. Angleichung an frühere Erfahrung ist daher keine Ausnahme von der allgemeinen Regel der Einfachheit. Eine physiologische Theorie Woher kommt dieses Streben zur Vereinfachung? Diese Frage versetzt den Psychologen in ein eigenartiges Dilemma. Wenn er sich auf die Vorgänge im Bewußtsein beschränkt, kann er das Phänomen nui beschreiben und durch Beispiele aufzeigen. Er vermutet, daß er die Vorgänge im entsprechenden Gehirnfeld erforschen muß, um die Ursachen fassen zu können. Die Gehirnphysiologie ist aber noch nicht so weit entwickelt, um dieses zu ermöglichen. Der Psychologe kann daher nur eine Theorie nach analogen Vorgängen unter ähnlichen Bedingungen aus dem Bereich der allgemeinen Physik anbieten.

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Der Physiker sagt, daß sich die Kräfte in einem »Feld« so anordnen, daß die einfachste, regelmäßigste, symmetrische Gliederung eintritt. Je unabhängiger das Feld und je ungehinderter das Spiel der internen Kräfte ist, um so einfacher ist die sich ergebende Verteilung. Ich habe darauf hingewiesen, daß sich solche einfache Kraftverteilung oft in einer regelmäßigen, symmetrischen Gestalt äußert. Nimmt man die Sehrinde des Gehirns als ein solches Kräftefeld, so kann man die Neigung zur einfachsten Gliederung in ihr erwarten. Ein auf das Gehirnfeld projiziertes Reizmuster stört das Gleichgewicht, das das Kräftefeld wiederherzustellen versucht. Wie weit das gelingt, hängt von der Reizstärke ab. Wie ein Tropfen Wasser oder ö l leichter eine einfache Form annimmt als ein festes Stück Holz, so widersteht der Sehreiz der Vereinfachung seiner Form, wenn er stark genug ist — d. h. wenn das Auge eindeutige Impulse von dem wahrgenommenen Objekt erhält. Sobald der Reiz jedoch schwach ist, wirkt sich das Streben zur Vereinfachung stärker aus. Die beschriebenen Versuche beweisen diese Ergebnisse. Ein starker Reiz läßt zwar keine wesentliche Änderung seiner Form zu, aber die Auswirkungen unseres Prinzips können unter normalen Sehbedingungen dodi auch beobachtet werden. Das Streben zur Vereinfachung zeigt sich besonders in den Unterteilungen der Form. Wir wissen bereits, daß bei einer Anzahl verschiedener Einheiten in einem Sehfeld einige oder auch alle so gesehen werden können, daß die einfachste Gestalt resultiert. Die 8 Punkte von Abb. 41 werden als Kreis oder Achteck (a) und nicht als zwei Quadrate (b) oder als Kombination dreier Teile wie in c gesehen; die neun Punkte von d teilen sich in zwei Haupteinheiten — den Kreis und einen Außenseiter. Unterteilung des Ganzen wird daher gesetzmäßig von der bekannten Regel kontrolliert. Und geschlossene Formen? Abb. 42 erscheint für jeden als eine ungebrochene, einheitliche Scheibe. Abb. 43 ist ein durch die Unterteilung in Zacken charakterisierter Stern,· aber in Abb. 44 ist der kontinuierliche äußere Umriß aufgebrochen. Sofort oder — für einige Versuchspersonen — nach einiger Zeit entsteht ein unangenehmes Drängen und Ziehen, da die Gestalt »ihre Form zu finden versucht«, bis das ganze Muster sich in Dreieck und Rechteck aufspaltet. Diese Unterteilung wirkt so überzeugend, daß der Betrachter überrascht ist festzustellen, daß keine tatsächlichen Teilungslinien durch die schwarze Fläche laufen. Wie verhält es sich mit Linienfiguren? Ein Blick auf Abb. 22 zeigt, daß sich auch hier die Unterteilung der einfachsten Struktur annähert. Man kann jedoch beobachten, daß trotz der Unterteilungen die Form noch als Ganzes wahrgenommen wird. Abb. 22b zeigt ein verhältnismäßig einheitliches sternähnliches Gebilde, das als zwei Hauptglieder gesehen wird. Diese Glieder wiederum bestehen jeweils aus vier Linien — d. h. es gibt zwei Schichten von Gliederungen. Die relative Stärke des Ganzen und der Teile ändert sich von Figur zu Figur. Wenn wir die Formen in Abb. 45 von links nach rechts vergleichen, scheinen sie immer weniger einem Ganzen zu gleichen, sondern zunehmend einer Kombination von Teilen. Und doch werden das Ganze sowohl wie die Teile in allen Formen gesehen.

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Abb. 41

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Ρ li Abb. 45

Die diesen Vorgängen zugrunde liegende Regel liegt auf der Hand. Die Wirkung hängt ab von der Einfachheit des Ganzen im Verhältnis zur Einfachheit der Teile. Größere Einfachheit des Ganzen bewirkt größere Einheit. Je einfacher die Teile, umso klarer sondern sie sich aus als unabhängige Einheiten. Gilt dieses für isolierte Formen, so muß es auch auf den gesamten Sehbereich angewendet werden können. In der vollständigen Dunkelheit im wolkenlosen Himmel liegt ungebrochene Einheit. Meistens jedoch besteht die sichtbare Welt aus mehr oder weniger unterschiedlichen Einheiten. Wieweit man den gegebenen Teil eines Feldes als abgeschlossene Einheit ansieht, hängt von der Einfachheit seiner Beziehungen zu dem umgebenden Feld ab. Man kann eine Fläche eindeutig als Einheit sehen, weil sie selbst eine einfache Form hat, oder weil keine Strukturmerkmale der Umgebung sie in ein größeres Ganzes einbinden. Andererseits kann es schwierig sein, eine Fläche herauszunehmen, weil ihre Gestalt unregelmäßig ist, oder weil sie sich als Teil oder als Ganzes nahtlos in einen größeren Zusammenhang einfügt. (Abb. 22a verschwindet in b, während sie in Abb. 46 viel von ihrer Eigenart behält.) Warum die Augen die Wahrheit sagen Die Untergliederung hat den größten biologischen Wert, da von ihr die Fähigkeit des Objektsehens abhängt. Goethe bemerkt: »Erscheinung und Entzweiung sind synonym.« Ausführlicher gesagt: »Was in Erscheinung tritt, muß sich teilen, um zu erscheinen.« Wir müssen fragen, warum die Untergliederung des subjektiven Gesichtsfeldes meist der objektiven Verteilung der Dinge in der körperlichen Welt entspricht. Warum können wir das Auto und den Fahrer unabhängig voneinander erkennen, anstatt paradoxerweise Auto und Fahrer zu einem irreführenden Ungeheuer zu vereinigen? Manchmal täuschen uns unsere Augen. Wertheimer hat als Beispiel eine Brücke genannt, die mit ihrem eigenen Spiegelbild im Wasser ein überzeugendes Ganzes bildet (Abb. 47). Am Himmel werden Konstellationen gesehen, denen keine tatsächliche Lokalisierung der Sterne im wirklichen Raum entspricht. In der militärischen Tarnung wird die Einheit von Objekten in Teile aufgespalten, die oft in ihre Umgebung übergehen — eine auch von der Natur zum Schutz der Tiere verwendete Maßnahme. Gertrude Stein berichtet, daß Picasso im Ersten Weltkrieg, als er die Tambemalung der Kanonen sah, erstaunt ausrief: »Wir haben das gemacht — das ist Kubismus!« Warum dienen uns unsere Augen meistens dennoch richtig? Es ist

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mehr als ein glücklicher Zufall. Vor allem dient der von den Menschen gemachte Teil der Welt menschlichen Ansprüchen. Nur Geheimtüren in alten Burgen sehen aus wie die Mauern. Die Briefkästen in London sind leuchtend rot gemalt, damit sie sich von der Umgebung abheben. Außerdem folgt nicht nur das menschliche Bewußtsein, sondern auch die körperliche Welt dem Gesetz der Einfachheit, was bedeutet, daß die äußere Erscheinung natürlicher Dinge so einfach ist, wie die Bedingungen es zulassen; und einfache Formen fördern die Teilung. Getrennte physikalische Vorgänge bringen oft entsprechend unterschiedene visuelle Einheiten hervor. Die Röte und runde Form der Äpfel im Unterschied zu den verschiedenen Farben und Formen der Blätter und Zweige bestehen nicht zur Bequemlichkeit der Apfelpflücker, sondern sind die äußeren Manifestationen der Tatsache, daß der biologische Prozeß, durch den Äpfel entstehen, sich unterscheidet und ein anderer ist als der, der Blätter oder Zweige entstehen läßt. Schließlich trägt die einfache Form — besonders die Symmetrie — zum körperlichen Gleichgewicht bei. Sie bewahrt Mauern, Bäume und Flaschen vor dem Fall und wird daher von Natur und Mensch beim Aufbauen bevorzugt. Im letzten Grunde also ergibt sich die nützliche Ubereinstimmung, wie wir Dinge sehen und wie sie wirklich sind, daraus, daß Sehen als die Reflektion körperlicher Vorgänge im Gehirn dem gleichen Grundgesetz des Aufbaus unterworfen ist wie die Dinge der Natur. Unterteilung in der Kunst In den Bildenden Künsten ist Untergliederung ein wichtiges Kompositionsmittel. Sie wird in verschiedenen Schichten vollzogen, die in jedem Kunstwerk hierarchisch geordnet sind. Eine Hauptgliederung gibt die Hauptmerkmale des Werks. Die größeren Teile sind in kleinere gegliedert, und es ist Aufgabe des Künstlers, Maß und Art der Unterteilungen und Verbindungen der beabsichtigten Bedeutung anzupassen. In Manets Gemälde Der Guitarienspieler (Abb. 48) trennt die erste Gliederung die ganze Vordergrundszene vom neutralen Hintergrund. In der Szene vorn geben Musiker, Bank und das kleine Stilleben mit dem Krug eine zweite Unterteilung. Die Trennung von Mann und Bank wird teilweise durch eine Gegengruppierung ausgeglichen, die die Bank und die in den Farben ähnlichen Hosen verbindet und von dem dunkleren Oberkörper der Figur abhebt. Diese Teilung der Figur durch Helligkeit und Farbe betont die Bedeutung der Guitarre, die zwischen oberer und unterer Hälfte des Körpers sich befindet. Andrerseits kräftigt der Künstler die gefährdete Einheit der Figur durch solche Hilfsmittel, wie die Verteilung von weißen Flächen über das ganze Bild. Auf diese Weise werden Schuhe, Ärmel, Kopftuch und das Hemd, von dem ein winziges aber wichtiges Stückchen unter dem linken Ellenbogen erscheint, zusammengehalten. Jeder Hauptteil ist seinerseits unterteilt, und auf jeder Ebene erscheinen ein oder mehrere begrenzte Konzentrationen von mehr oder weniger verdichteter Form in verhältnismäßig leerer Umgebung. So steht die stark betonte Figur gegen den leeren

Abb. 48

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Grund, und Gesicht und Hemd, Hände und Griffbrett, Schuhe und Stillleben stehen als Inseln verstärkter Aktivität auf der zweiten Ebene der Hierarchie. Die verschiedenen Brennpunkte wollen zusammengesehen werden; sie stellen die Zentren dar, die den größten Teil der Bedeutung in sich vereinigen. Die besonderen Organisationsprinzipien werden später noch untersucht werden. Wie ich gesagt habe, setzt Untergliederung eine gewisse Einfachheit der zu teilenden Einheiten voraus. Gelegentlich bauen sich Kompositionen auf so unabhängigen Einheiten auf, daß nur eine einseitige Beziehung zwischen ihnen und ihrer Umgebung besteht — d. h. sie bestimmen das übrige Werk, von dem sie selbst nur wenig beeinflußt werden (vgl. den Hinweis auf die Rose in der Westfassade von Notre Dame in Paris S. 17). Meist muß jedoch die Einfachheit eines jeden Gliedes weitgehend abgeschwächt werden, um den Teil von der Umgebung abhängig und daher mit ihr eins werden zu lassen. Dies scheint sogar für organische Formen zuzutreffen. Der Genetiker Waddington berichtet, das gesamte Skelett habe zwar »Vollständigkeitsqualität«, die Zufügungen oder Auslassungen widerstünde, aber die einzelnen Knochen hätten nur ein »gewisses Maß von Vollständigkeit«. Ihre Form enthalte Hinweise auf andere Teile, mit denen sie verbunden seien, und herausgenommen »gleichen sie einer Melodie, die in ihrer Mitte plötzlich abbricht«. Was ist ein Teil! Was bedeutet eigentlich ein »Teil«? Im rein quantitativen Sinn kann jeder Abschnitt eines Ganzen ein Teil genannt werden. Sobald wir uns auf irgendetwas Homogenes beziehen, ist dieses die einzig mögliche Definition. Ein Stück blauer Himmel ist so gut wie jedes andere. Aber homogene Strukturen sind selten. Die meisten sind unterteilt — d. h. sie enthalten Brüche, Nähte und Gelenke, die die durch die Struktur bestimmten Teile andeuten. Sogar in einer Wurst, in einer geraden Linie von bestimmter Länge sind nicht alle Abschnitte von gleicher Art. Ein Schnitt in der Mitte ergibt eine Unterteilung, die sich der Gestalt des Ganzen anpaßt. Daher gibt es einen Unterschied zwischen Stücken und Teilen. Eine Skulptur kann zum Transport willkürlich in eine Anzahl von Stücken zerlegt werden, aber ihre Teile sind nicht willkürlich. Sie können der Skulptur nicht von außen aufgezwungen werden, sondern sind durch die Struktur bestimmt. Sobald eine Linie hinreichend starke Ecken oder Wendungen aufweist, sind die durch die Ecken oder Bogen abgeteilten Abschnitte die Teile — wie ζ. B. die Schenkel eines Winkels oder einer Parabel. Ein Teil ist also ein Stück eines Ganzen, das unter gegebenen Bedingungen in gewissem Maß von der Umgebung getrennt ist. Art und Bedeutung der Umgebimg bestimmen, ob und wieweit ein bestimmtes Stück als echter Teil erscheint. Wertheimer benutzt Abb. 49, um zu zeigen, daß im begrenzten Sinne die Bodenlinie des Kastens als ungeteiltes Ganzes in den rechten Flügel des Bogens hineingleitet, während als Gesamtstruktur die gleiche Linie in zwei Abschnitte aufgeteilt wird, die zu verschie-

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denen Teilen gehören. Ist das Hakenkreuz in Abb. 50b enthalten? Offensichtlich nicht, weil die abgegrenzten Verbindungen und Teilungen, aus denen das Hakenkreuz besteht, durch andere im Zusammenhang des Quadrates überspielt werden. Man muß also zwischen »echten Teilen« — d. h. solchen Teilen, die eine getrennte Untereinheit im Gesamtzusammenhang darstellen — und »unechten Teilen« unterscheiden — d. h. solchen Abschnitten, die nur im Hinblick auf einen begrenzten Zusammenhang und nicht auf das Ganze abgeteilt sind. Sobald wir vom Ganzen und »seinen« Teilen sprechen, beziehen wir uns immer auf die wirklichen Glieder. Die Feststellung, »das Ganze ist mehr als die Summe der Teile«, weist immer auf diese Beziehung. Diese Formulierung ist manchmal abgelehnt worden, weil sie sagte, das Ganze bestünde aus einer Anzahl Teilen und einer zusätzlichen mysteriösen Qualität. Dieser Einwand stimmt, aber die Aussage »das Ganze unterscheidet sich von der Summe der Teile« ist ebenso unbefriedigend, weil sie bedeuten kann, daß sich der Charakter der Einzelteile einfach im Ganzen auflöst — was jedoch nicht stimmt. Zum Wesen eines echten Gliedes gehört ein gewisses Maß an Selbständigkeit. Je unabhängiger es ist, um so mehr kann es aus seiner Art zum Charakter des Ganzen beitragen. Die Einzelglieder fügen sich sehr unterschiedlich in das Ganze ein, aber ohne eine solche Vielfalt würde jedes organisierte Ganze — besonders jedes Kunstwerk — langweilig sein. Man kann sich eine »Gestalt« genausowenig als eine Suppe aus zerkochten Zutaten vorstellen, in der jedes sich in allem auflöst, wie man sich eine Harmonie ausschließlich als jene vollkommene Zusammenstellung denken darf, die in Farben von Kinderzimmern oder in der »Stimmungsmusik« in Restaurants vorkommt. Regeln dei Giuppenbildung Sobald man sich darüber klar ist, daß das Verhältnis der Teile von der Struktur des Ganzen abhängig ist, kann man ohne Gefahr einzelne Beziehungen der Glieder untereinander herausnehmen und untersuchen. Um solche Beziehungen »rein« aufzuzeigen, kann man entweder wirre Formen nehmen, deren Struktur, abgesehen von den zu untersuchenden Merkmalen, minimal ist, oder solche Gestalten, deren Charakter die betreffenden Beziehungen nicht stört. Die unter solchen Bedingungen gewonnenen Ergebnisse können dann auf Kunstwerke angewendet werden. Die Regeln der Gruppenbildung, wie Wertheimer sie formuliert hat, beziehen sich auf Faktoren, durch die einige Teile als stärker zueinander gehörend gesehen werden. Diese Regeln können als Anwendung eines Grundprinzips gelten — des »Prinzips der Ähnlichkeit«. Dieses Prinzip besagt, daß das Maß, in dem sich Glieder einer Gestalt in irgendeiner Wahrnehmungsqualität gleichen, den Grad des Zusammengesehen-werden-könnens bestimmen hilft. Auf Abb. 51 ist eine Gruppe von 6 Einheiten in gleicher Form und Orientierung ziemlich unregelmäßig auf der Fläche verteilt. Man kann

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Abb. 51 erkennen, daß die Verschiedenheit der Größen zur Gruppenbildung beiträgt. Die größeren und die kleineren gehören jeweils zusammen. Das ist ein Beispiel für die »Ähnlichkeit der Größe«. Eine entsprechende »Ähnlichkeit der Form« zeigt Abb. 52 mit einer Gruppierung von Dreiecken und Kreisen. In Abb. 53 scheidet die »Ähnlichkeit der Helligkeit oder Farbe« schwarze und weiße Kreise. Die »Ähnlichkeit des Ortes« (von Wertheimer »Faktor der Nähe« genannt) ergibt die visuellen Zusammenballungen in Abb. 54, und die Striche in Abb. 55 ordnen sich gemäß der »Ähnlichkeit der räumlichen Anordnung«. Solche durch Ähnlichkeit verbundenen Elemente versuchen, in der gleichen Ebene zu liegen. Maler wie Matisse mildern oft die Tiefenwirkung ihrer Kompositionen, indem sie die gleiche Farbe — ζ. B. ein starkes Gelb — einem Objekt im Vordergrund und einem im Hintergrund geben und damit die Einheitlichkeit des Bildes in der Bildfläche gewährleisten. Sobald bewegte Objekte in die Betrachtung einbezogen werden, kommen weitere Faktoren hinzu. Wenn sich Tänzer in den durch Pfeile angegebenen Richtungen bewegen (Abb. 56), sieht man sie entsprechend der »Ähnlichkeit der Richtung« gruppiert. Bewegen sich einige Tänzer schnell und andere langsam, so ergibt sich die Gruppierung durch die »Ähnlichkeit der Geschwindigkeit« (Abb. 57). Die Ähnlichkeit der Geschwindigkeit erleichtert die Tiefenwahrnehmung, wenn eine Landschaft aus einem sich bewegenden Fahrzeug oder von der Filmkamera aufgenommen gesehen wird. Da sich Objekte in gleicher Entfernung vom Betrachter mit gleicher Geschwindigkeit zu bewegen scheinen, wird die Entfernung visuell durch die Geschwindigkeit bestimmt, indem die schnelleren Objekte die näheren sind. Ähnlichkeit ergibt jedoch mehr als nur eine Zusammenordnung der Dinge. Ähnliche Einheiten bilden Muster. Die schwarzen und weißen Kreise in Abb. 53 fügen sich jeweils zu einem Dreieck zusammen. Bei den Tests auf Farbenblindheit ergeben sich die regelmäßigen Figuren — wie das Dreieck in Abb. 58 — durch die Gleichheit der Farbe. Je einfacher das so geschaffene Muster ist, um so zwingender wirkt die Gruppierung der Einheiten. Von hier ab aber kann die Auswirkung des Prinzips der Gruppenbildung nicht mehr nur aus den addierten Ubereinstimmungen der Einheiten erklärt werden. Die Annäherung »von unten« erklärt nicht die durch die Glieder geformten Gesamtgestalten. Eine Annäherung »von

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Abb. 54

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Abb. 53

Abb. 55

oben« ist erforderlich, die von der Struktur des Ganzen ausgeht. In anderen Worten, wir befinden uns wieder bei dem Begriff »Unterteilung«, der z. B. erklären würde, daß sich Abb. 58 nach dem Prinzip der Einfachheit in schwarzes Dreieck und Hintergrund gliedert. Unterteilung und Gruppierung sind reziproke Begriffe, indem der erste »von oben« bewirkt, was der zweite »von unten« ergibt. Der wichtigste Unterschied zwischen beiden Methoden ist, daß wir »von unten« das Prinzip der Einfachheit nur auf die Ubereinstimmungen zwischen den Gliedern anwenden können, während bei dem Weg »von oben« das gleiche Prinzip die Gesamtordnung erklärt. Die Teile zusammenzusetzen, ist nützlich, aber wir kommen damit nicht weiter als jene Blinden in einer indischen Fabel, die einen Elefanten trafen und begannen, die Gestalt des unbekannten Körpers mit ihren Händen durch Ertasten zu erforschen. Man kann sich die Blinden beim Ergründen vorstellen, Gleichheiten und Unterschiede von Form, Größe, Material zu entdecken, um doch nur bei einer Anzahl von Verhältnissen zu enden, anstatt der visuellen Vorstellung eines Elefanten.

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Abb. 58 Das Gruppierungsprinzip der »übereinstimmenden Form« geht über die bloße Gleichförmigkeit der Glieder noch hinaus, da es sich auf die Eigenform eines Objekts bezieht. Abb. 59 zeigt, daß aus verschiedenen möglichen Fortsetzungen spontan diejenige vorgezogen wird, die die innere Struktur am folgerichtigsten fortführt. Abb. 59 a wird eher als eine Kombination der in b als der in c angegebenen Teile gesehen, weil b die einfachere Struktur ergibt. Je einfacher die Gestalt eines Teils ist, um so eher löst er sich von seiner Umgebung. Abb. 60 zeigt, daß gerade Linien schneller gesehen werden als krumme. Wenn in der unruhigen Menge von Schauspielern oder Tänzern eine Person gerade ihren Weg geht, wird sie viel leichter vom Betrachter im Auge behalten. Diese Regel findet eine interessante Anwendung in der sogenannten Akkordfolge in der Musik. Hier besteht das Problem, die »horizontale« Einheit der Melodie gegen die vertikal aufgebaute Harmonie der Akkorde zu bewahren. Es ist dann gelöst, wenn die Melodie so einfach und fortlaufend ist, wie die musikalische Aufgabe es zuläßt. Für das Fortschreiten von einem Akkord zum anderen gilt ζ. B. das, was wir die Gruppenbildung durch Ähnlichkeit des Ortes nannten. Walter Piston schreibt: »Wenn in zwei Dreiklängen eine oder mehrere Noten gemeinsam vorkommen, werden diese in der gleichen Stimme wiederholt, während die übrigen Stimmen so nah wie möglich placiert werden.« (Abb. 61). Ziehen wir die Gesamtstruktur in Betracht, so können wir einige Regeln erweitern. Ähnlichkeit des Ortes gilt nicht nur für nahegelegene Teile, sondern auch für Teile in gleichgelegenen — ζ. B. symmetrischen — Orten innerhalb des Ganzen (Abb. 62). Ähnlichkeit der Richtung und Orientierung kann ebenfalls über die reine Parallelität erweitert werden — wenn ζ. B. Tänzer sich symmetrisch bewegen (Abb. 63). Bei der Ähnlichkeit des Ortes liegt ein Grenzfall vor, sobald Kontinuität gegeben ist. Wenn zwischen den Einheiten keine Grenze mehr zu ziehen ist, entstehen geschlossene visuelle Objekte. Es mag überflüssig erscheinen, eine Linie oder eine Fläche für eine Anhäufung von Einheiten zu halten und erklären zu wollen, warum eine rote Kirsche auf grünem Grund

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als das gesehen wird, was sie ist. Man erinnere sich jedoch daran, daß das durch die Augenlinsen geformte Bild Punkt für Punkt durch Millionen kleiner Rezeptoren auf der Netzhaut gebildet wird, die größtenteils voneinander getrennt sind. Das heißt, daß das Gehirn die Aufnahmestation für ein Mosaik punktförmiger Reize ist, die in unserem Beispiel aus einigen Millionen »roter« und weiteren Millionen »grüner« Reize bestehen. Die Gesetzmäßigkeiten, nach denen diese Teile zu visuellen Objekten zusammengefaßt werden, müssen definiert werden. Sie erweisen sich als Anwendungen des Prinzips der Einfachheit, zu dem auch die Regeln der Ähnlichkeit gehören. Ein visuelles Objekt ist umso einheitlicher, je mehr sich seine Glieder in Farbe, Helligkeit, Geschwindigkeit, Bewegungsrichtung usw. gleichen. Ein Gemälde ist ein weniger einheitliches Objekt als eine einfarbige Wand, und eine Rauchwolke ist weniger einheitlich als ein Ballon. Beispiele aus der Kunst In den darstellenden Künsten bewirkt die Ähnlichkeit des Ortes eine Gruppenbildung von Objekten, die nahe beieinander auftreten. Man sieht eine Menschenmenge gegenüber einzelnen Personen als Einheit. Überzeugende Gruppenbildung gibt es auch zwischen entfernten Dingen. Sie entsteht durch andere Ähnlichkeiten. Die in dem Bilde Sitzende Frau von Picasso (Tafel I) überall verwendeten geometrischen Formen betonen die Einheit des Ganzen und vermindern die Unterscheidung von Frau und Hintergrund. Die Trennung geschieht auf andere Weise. Die Formen innerhalb der Figur sind nach links und die Formen des Hintergrundes sind nach rechts gerichtet — d. h. eine Ähnlichkeit der Richtung gliedert das Bild in zwei Hauptthemen. Von den Einzelformen kommen die runden nur bei der Figur vor. Sie sind so verteilt, daß eine pyramidenähnliche Gestalt hervorgehoben wird. Die Armlehne des grünen Stuhls ist die einzige runde Form außerhalb der Figur der Frau und vermittelt zwischen dem eckigen Raum und dem organischen Körper. Die Farbigkeit unterstützt diese Gliederung durch Richtung und Form, bereichert aber die Komposition auch bis zu einem gewissen Grad durch ein Gegenspiel. Außer den dunkelbraunen Tönen in- und außerhalb der Figur gehört jede Farbe entweder nur zur Figur oder nur zum Hintergrund. Die vertikale Kette der Gelbskala verleiht der Frau Einheit und Auszeichnung. Das stufenweise Fortschreiten auf der linken Seite von Kopf, Schultern und Körper wird durch das helle Braun vereinheitlicht. Das Orange hält die rechte Seite zusammen und verbindet sie mit dem eiförmigen Fleck unten. Der durch die Figur unterbrochene einheitliche Hintergrund wird durch Ähnlichkeit der Farben zusammengehalten. Das Grün flickt den unterbrochenen Stuhl zusammen, und rechts verbindet ein dunkles Braun die durch den Arm der Frau getrennten Teile des Hintergrundes. Diese netzähnlichen Beziehungen im Zwischenspiel von Gleichheiten und Verschiedenheiten könnten im Bild noch weiter verfolgt werden. Das Prinzip der Gruppenbildung gilt nicht nur für die formale Orga6

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nisation einer Komposition, sondern unterstützt auch, deren symbolische Bedeutung. Die Kreuzigung des Isenheimer Altars von Grünewald ist ein besonders treffendes Beispiel. Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist stehen in leuchtendem Rot einander gegenüber; weiß ist der Mantel der Jungfrau, das Lamm, die Bibel, das Lendentuch Christi und die Inschrift am Kreuz. Auf diese Weise sind die verschiedenen symbolischen Bedeutungen — Jungfräulichkeit, Opfer, Offenbarung, Keuschheit, Hoheit — nicht nur in die Komposition eingebunden, sondern auch dem Auge in ihrer verwandten Bedeutung nahegebracht. Im Gegensatz zu ihnen ist das Rosa des Gewandes der Maria Magdalena, der Sünderin, das Symbol des Fleisches und ist so mit den nackten Gliedern der Männer verbunden. Gombrich hat darauf hingewiesen, daß außerdem in diesem Bild eine unrealistische, aber symbolisch bedeutungsvolle Größenskala von der riesigen Figur Christi zu der kleinen Maria Magdalena reicht. Das Zusammenfassen von Einheiten durch Ähnlichkeit der Farbe, Form, Größe oder Richtung wird besonders wichtig in »diffusen Kompositionen«. Diese sind auf eine übergreifende Einheit angewiesen, weil sie aus mehr oder weniger isolierten Gliedern bestehen, die rhythmisch über die ganze Bildfläche verteilt sind. Dafür gibt es Beispiele in persischen Miniaturen, Gemälden von Brueghel und in Werken neuerer Meister — ζ. B. La Grande Jatte von Seurat. In diesem Bild wird die Einsamkeit des Stadtbewohners eindrucksvoll durch eine große Zahl von Personen ausgedrückt, die unter Bäumen sitzen oder gehen, ohne zu einer wirklich sozialen Gemeinschaft verbunden zu sein. Gleichzeitig wird aber ihre Ähnlichkeit als Menschen, die die gleichen Bedürfnisse haben, durch die Anwendung der verschiedenen Prinzipien der Wahrnehmungsgruppierung verdeutlicht. Die bis jetzt behandelten Regeln der Ähnlichkeit können also auch zwischen ganz unregelmäßig verteilten Objekten eine Einheit schaffen. Der Faktor der »übereinstimmenden Form« bezieht sich immer auf umfassende Formelemente. Er schafft Einheit durch die inneren Beziehungen, anstatt nur isolierte Monaden zu verbinden. Die tiefen seelischen Beziehungen in einer Pietà können visuell durch eine geometrisch einfache Form, die die Gruppe umfaßt, ausgedrückt werden (vgl. Abb. 12). Die bekannte Form der Dreieckskomposition in der Renaissance ergibt sich durch das Verschmelzen verschiedener Einheiten, wodurch Gleichförmigkeit entsteht. Ein extremes Beispiel bietet eine Skulptur von Brancusi (Abb. 64), in der zwei Liebende sich umarmen und so sehr durch einen symmetrischen, rechteckigen Umriß verbunden sind, daß sie zu einem einzigen Objekt geworden sind. Die einigende Kraft der »konsistenten Form« als Symbolträger ist in Cézannes Bild benutzt (Abb. 65). Die Geste der gekreuzten Arme hat etwas Zwingendes, da diese an ihren Platz geschmiedet zu sein scheinen, als ob sie nie geöffnet werden könnten. Diese Wirkung entsteht teilweise durch die Festlegung der Ärmelborte auf der mittleren Vertikalen, die durch die Symmetrie des Gesichts und Kreuzes gegeben wird. Die kraftvolle Verbindung von menschlichem Geist und Glaubens-

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symbol, dem die Gedanken geweiht sind, zwingt auf diese Weise die Körperlichkeit in ihre Gewalt und bringt die Ruhe einer gesammelten Kraft. Der Faktor der übereinstimmenden Form kann über einen verhältnismäßig großen Abstand Verbindungen schaffen, solange die gegebenen Einheiten die gemeinsame Struktur deutlich genug zeigen. Der Betrachter neigt dazu, in Abb. 66 eher einen Kreis und ein großes Kreuz als vier unabhängige Einheiten zu sehen. Die gebogenen und die geraden Stücke verbinden sich und überspannen so den leeren Raum.

Abb. 6s In einer Komposition können sich die Faktoren der Ähnlichkeit unterstützen oder gegeneinander wirken. Die runden oder ovalen Flächen in Picassos Bild (Tafel I) gleichen sich in der Form, unterscheiden sich aber in Farbe und Größe — d. h. sie sind zugleich verbunden und getrennt. Ein visueller Kontrapunkt entsteht, der das Ganze aus einem vielfachen Netz von Anziehendem und Abstoßendem aufbaut. Tatsächlich kann die Einheit eines Ganzen, das irgendwelche Untergliederungen enthält, nur dann erreicht werden, wenn Trennungen durch Verbindungen aufgehoben werden. Würden ζ. B. alle Faktoren der Wahrnehmung in einem Portrait zusammenwirken, u m die Menschenfigur zu vereinheitlichen und sie vom Grund abzuheben, so müßte das Bild auseinanderfallen. Eine besondere Unähnlichkeit kann hervorgehoben werden, wenn die anderen Faktoren konstant bleiben. Auf dem Bild van Goghs von seinem Schlafzimmer befinden sich zwei Stühle von annähernd gleicher Farbe, Form und Position (Abb. 67). Dadurch wird der Unterschied der Größe viel überzeugender, als wenn beide sich auch in Form und Farbe unterschieden, weil die Gleichheit das Auge zwingt, sie in Beziehung zu setzen und zu vergleichen und so ihre Verschiedenheit zu entdecken. Gleichheit und Verschiedenheit sind immer relativ. Die Frage »wieweit gleichen sich diese beiden Dinge?« ist unbeantwortbar, solange nichts über den Zusammenhang gesagt wird. Ein Dreieck und ein Quadrat wirken oft ganz verschieden, aber wenn man ein dreieckiges und ein rundes Stück aus einem Kinderbaukasten auf einem sonst ordentlichen Ra-

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sen liegen sieht, gleichen sie sich sehr. Z w e i N o n n e n in einer belebten Straße sehen sehr ähnlich aus, aber sieht man sie allein, so kommen die individuellen Unterschiede zur Geltung. Fotografen ist bekannt, wie relativ die Ähnlichkeit der Placierung im Räume ist. In einem ziemlich nah aufgenommenen Bild scheinen zwei Personen weiter voneinander entfernt zu sein als in Wirklichkeit, weil im Verhältnis zu dem schmaleren Bildraum der Abstand zwischen ihnen zunimmt.

In einem Kunstwerk sind die Beziehungen, die auf besonderen Wahrnehmungsfaktoren beruhen, selten nur auf Gruppen identischer Glieder beschränkt, ζ. B. fünf große Figuren gegen fünf kleine. Die Ähnlichkeit ist meist auf eine große Wertskala verteilt, ζ. B. auf alle Größenmaße v o m kleinsten bis z u m größten (Abb. 68). Sogar der Grad der Ähnlichkeit kann sich ändern (Abb. 69). Sind solche abgestuften Werte unregelmäßig in der Komposition verteilt, verbindet das A u g e sie in der Rangordnung ihrer Position und verfolgt so ihre hierarchische Abstufung auf dem in der Komposition angelegten Weg. In Seurats La Grande Jatte kann das Auge bei den größten Figuren beginnen, zu den kleineren im Zickzack weitergehen und so vom Vordergrund zum Hintergrund gelangen. In diesem Beispiel erweist sich die Ähnlichkeit als der Führer des Auges. Blickbewegungen sind in der Komposition von Bedeutung. Sie tragen oft wesentlich zu der künstlerischen Wirkung bei. El Grecos Austreibung aus dem Tempel (Abb. 70) ist in trüben Gelb- und Brauntönen gemalt. Ein starkes Rot ist den Kleidern Christi und dem einen Geldwechsler vorbehalten, der sich in der linken Ecke des Bildes niederbeugt. Da die Aufmerksamkeit des Betrachters durch die zentrale Figur Christi angesprochen ist, läßt die Gleichheit der Farbe den Blick nach links und nach unten zu dem zweiten roten Fleck wandern. Diese Bewegung verdoppelt genau den Schwung der Geißel Christi, deren W e g außerdem durch die erhobenen Arme zweier Figuren betont ist. Das A u g e vollzieht daher genau die Handlung nach, die das Hauptthema des Bildes darstellt. Ein anderes Beispiel bietet Pieter Brueghels Blindensturz. Die Blinden führen einander in einen Teich. Die sechs Figuren sind als eine Reihe von Körpern, die sich nach vorn neigen und immer schneller fallen, z u einer geschlossenen Form verbunden. Das Bild gibt die auf-

Abb. 69

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Abb. 70 einanderfolgenden Stufen eines einzigen Vorganges : unbesorgtes Gehen, Stutzen, Erschrecken, Stolpern und Fallen. Ähnlichkeit der Figuren ist keine Wiederholung, sondern allmählicher Wechsel (Abb. 71), und das Auge des Betrachters muß dem Ablauf der Handlung folgen. Das Prin-

Abb. 71 zip des Films ist hier auf eine Folge von gleichzeitigen Vorgängen im Raum angewandt. Später soll gezeigt werden, daß die Scheinbewegung im Film auf der Anwendung der Regeln der Ähnlichkeit in der Dimension der Zeit beruht. Das Strukturgerüst Es hat sich gezeigt, daß die Gestalt eines visuellen Objektes nicht nur aus seinem Umriß besteht. Ein Beispiel verdeutlicht diese Feststellung noch einmal. Ein Mensch soll den auf Abb. 72a angegebenen Weg einschlagen: »Gehe zwei Ecken weit, wende dich nach links, gehe zwei weitere Ecken, drehe dich nach rechts, gehe eine Ecke weiter...« Hat er das getan, findet er sich wieder am Ausgangspunkt. Er wird wahrscheinlich überrascht sein. Obgleich er den gesamten Umriß selbst verfolgt hat, enthält seine Erfahrung wahrscheinlich nicht die wesentlichen Merkmale, die wir wahrnehmen, wenn wir die kreuzähnliche Zeichnung betrachten (Abb. 72b), denn die unterscheidende Qualität einer solchen Zeichnung besteht darin, daß sie aus zwei sich kreuzenden Balken oder aus vier Enden mit einem gemeinsamen Mittelpunkt besteht. Delacroix hat gesagt, daß man, um eine Zeichnung von einem Objekt machen zu können, zuerst den Kontrast der Hauptlinien erfassen müsse. »Man muß sich darüber ganz im klaren sein, ehe man den Bleistift ansetzt.« Meist beziehen sich diese Hauptlinien nicht auf irgend-

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rr•wk Abb. 73

welche tatsächlichen Umrisse des Objekts. Sie sind das, was ich das »Strukturgerüst« nennen werde. Ζ. B. haben verschiedene Dreiecke verschiedene Strukturgerüste. Die fünf Formen von Abb. 73 ergeben sich durch die vertikale Bewegung einer Ecke, wobei die beiden anderen fest bleiben. Wertheimer hat beobachtet, daß beim gleichmäßigen Herunterführen des eines Punktes keine entsprechend gleichmäßige Veränderung des Dreieckscharakters erfolgt. Es entsteht eher eine Reihe von Umformungen, aus denen sich die fünf Formen von Abb. 73 herauskristallisieren. Obgleich sie durch einen Wechsel des Umrisses entstehen, können die strukturellen Unterschiede der Dreiecke nicht in Begriffen des Umrisses allein beschrieben werden. Dreieck a (Abb. 74) wird durch eine Hauptvertikale und eine zweite horizontale Achse im rechten Winkel charakterisiert. In b ist die Hauptachse nach rechts geneigt und teilt das Ganze in zwei symmetrische Hälften. Die linke Seite, obgleich immer noch eine Vertikale, scheint nicht mehr vertikal zu sein. Sie ist eine Abweichung von der Hauptachse der Gestalt und dadurch zur Schrägen geworden. In c ist die Schrägheit des Ganzen verschwunden, dagegen herrscht die kürzere, horizontale Achse vor, weil sie das Zentrum der neuen symmetrischen Teilung ist. Dreieck d geht zurück zur Schrägheit usw. Man erkennt, daß die spontane Organisation der Dreiecke dem Gesetz der Einfachheit folgt. Weniger einfache Strukturen kann man sich nur mit Gewalt anschaulich machen — z. B. c als ein unregelmäßiges, schräges Dreieck oder d als eine Abweichung von dem rechtwinkligen T y p e (Abb. 75). D i e Symmetrie tritt an allen nur möglichen Positionen

auf (b, c, d) ; in a und e gibt der rechte Winkel die einfachste Gestalt.

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Die »Identität« eines jeden Dreiecks — sein Charakter oder seine Natur — hängt von dem Strukturgerüst ab, das hauptsächlich aus den verspannenden Achsen und dann auch aus den charakteristischen Entsprechungen von Gliedern besteht. In den beiden gleichschenkligen Dreiecken von Abb. 73 entsprechen sich die beiden gleichen Seiten. Sie werden die Schenkel, während die dritte Seite als Basis gesehen wird. In den beiden anderen Dreiecken gibt der rechte Winkel die Verbindung zwischen den beiden der Hypotenuse gegenüberliegenden Seiten. Das strukturelle Gerüst läßt die Identität der Formen entstehen. Daraus lassen sich weitgehende Konsequenzen ziehen. Sie geben die Bedingungen an, unter denen eine gegebene Form eine andere darstellen oder ihr ähnlich sein soll. Wenn eine Anzahl Formen in einem einzelnen Kunstwerk sich gleichen sollen, werden tiefgehende Verschiedenheiten so lange kein Hindernis sein, wie ihr Strukturgerüst sich einigermaßen ähnlich ist. Das Bild der menschlichen Figur kann auf wenige Elemente reduziert werden; es kann in Einzelheiten weitgehend von der bekannten Erscheinung einer Person abweichen — es wird trotzdem immer ohne Schwierigkeiten erkannt werden, wenn das Strukturgerüst des Bildes dem des visuellen Begriffs entspricht, das der Betrachter von dem menschlichen Lebewesen hat. Die Beziehung zwischen visuellen Bildern und der Bedeutung, die sie übermitteln sollen, wird im nächsten Kapitel weiter ausgeführt werden. Von den verschiedenen Moderichtungen, die heute das Gespräch über die Kunst beeinflussen, beunruhigt besonders eine den Künstler — daß das Verstehen eines Kunstwerks ein völlig subjektiver Vorgang sei. Uns wird gesagt, daß das, was jemand sieht, ganz davon abhängt, wer er sei, wofür er sich interessiere, was er früher erlebt habe und wie er sich den Dingen nähere. Wenn dieses zuträfe, müßte der Künstler glauben, alles, was er in seinen Bildern oder Skulpturen sähe, sei nur vorhanden, wenn er es ansähe, und daß ein anderer nichts dergleichen sehen würde. Balzacs Unbekanntes Meisteiwerk, das für den Maler ein herrliches Portrait einer schönen Frau und für seine Freunde nichts als ein Chaos von sinnlosen Pinselstrichen war, würde dann das passende Symbol der Kunst sein. Es stimmt zwar, daß nicht einmal zwei Personen dasselbe in einem Kunstwerk sehen. Aber das bedeutet nicht, daß das Bild oder die Figur eine tabula rasa ist, auf die jeder Betrachter die Vorstellungen seines eigenen Bewußtseins reflektiert. In diesen Seiten habe ich hauptsächlich solche Phänomene behandelt, die von der individuellen Sphäre größtenteils unabhängig sind. Die Einfachheit wurde in objektiven Begriffen definiert, ebenso Gliederung und Gruppenbildung. Sobald ein gesundes Nervensystem im Betrachter vorausgesetzt werden kann, ergeben objektive Bedingungen der auslösenden Reize voraussagbare Ergebnisse. Diese Phänomene sind zugegebenermaßen sehr elementar. In der Kunst tragen jedoch die elementaren Formbildungen den Kern der Bedeutung. Wenn diese Formen eine eigene, objektive Struktur besitzen, werden sie höchstwahrscheinlich eine solide Basis abgeben, auf die der Künstler sich verlassen kann.

III. F O R M Die Worte »Gestalt« und »Form«, die hier als Ubersetzungen des englischen »shape« und »form« dienen, werden oft im gleichen Sinne verwendet. Und doch besteht da ein nützlicher Unterschied zwischen zwei Begriffen. Das vorhergehende Kapitel behandelte die Gestalt — d. h. die räumlichen Komponenten ihrer Erscheinung. Aber keine visuelle Gestalt stellt nur sich selbst dar. Sie repräsentiert immer etwas außerhalb der eigenen individuellen Existenz — man könnte sagen, daß jede Gestalt die Form eines Inhalts sei. Inhalt darf natürlich nicht mit »Thema« verwechselt werden, denn in der Kunst dient das Thema auch nur als Form eines Inhalts. Doch ist die Darstellung von Dingen der Wirklichkeit durch visuelle Muster eines der Formprobleme, dem die meisten Künstler sich stellen müssen. Darstellung bedingt einen Vergleich von dem Ding als Vorbild mit seinem Abbild. Da aber das Bild kaum jemals seine mechanisch exakte Kopie ist, ergeben sich einige Probleme. Unter welchen Umständen wird ein Abbild erkennbar? Welche Wahrnehmungsbegriffe werden von Künstlern verwendet, um ein Ding darzustellen? Woraus entsteht die Vielfalt dieser Begriffe? Wechsel dei Raumlage Was geschieht mit einer zweidimensionalen Figur, wenn sie in einer Ebene gedreht wird? Wird sie anders aussehen, wenn die geometrische Gestalt genau gleich bleibt und nur ihre räumliche Lage verändert wird? Wird ein Muster mit einem verhältnismäßig eindeutigen Achsengerüst seitlich gedreht, zeigt die sich ergebende Figur meist keine neue, eigene Struktur. In Abb. 76 finden wir das Dreieck und das Rechteck nur in seiner Richtung verändert. Sie erscheinen nicht als neue Dinge, sondern als die alten in einer neuen Position. Diese Tatsache wurde überzeugend durch Experimente von Gellermann nachgewiesen. Kleinen Kindern und Schimpansen wurden Abwandlungen eines Dreiecks gezeigt, auf das sie zu reagieren gelernt hatten. Als das Dreieck um 60 Grad gedreht wurde, wendeten die Kinder und die Schimpansen ihren Kopf um den gleichen Winkel, um die »normale« Richtung der Figur wiederherzustellen. Die Raumlage eines Objektes ist ein relatives, kein absolutes Phänomen. Im leeren Raum würde ein Objekt weder umgekehrt noch in der richtigen Lage sich befinden, weil es keine anderen Objekte gibt, mit deren Richtung es verglichen werden könnte. Wir wissen nichts davon, daß das auf die Netzhaut projizierte Bild im Verhältnis zur körperlichen W e l t umgedreht ist, nicht weil das Bild »im Gehirn gedreht

wird«, oder weil »das Kind schon lernt, es herumzudrehen« — wie im-

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mer noch in einigen Lehrbüchern zu lesen ist — sondern weil das visuelle Bild der Welt selbst weder nach oben noch nach unten gerichtet ist. Es gibt nichts Vergleichbares in Raum oder Zeit, so daß eine Richtung ebensoviel wert ist wie die andere. Nur innerhalb dieses Bildes kann man zwischen oben und unten unterscheiden, so daß wir sagen können: »Dieser Affe hängt verkehrt herum« (im Verhältnis zu seiner Umwelt). Raumlage gibt es also nur in Beziehung auf einen Rahmen. In der Tat wird das Sehen nicht von einer, sondern von drei solcher Umrahmungen beeinflußt, nämlich die Position des Objektes im Verhältnis zu 1) der Struktur der umgebenden visuellen Welt; 2) dem Gehirnfeld, auf das das Bild projiziert wird; und 3) dem Körper des Betrachters, wie er kinaesthetisch durch Muskelspannungen und das Gleichgewichtsorgan im inneren Ohr wahrgenommen wird. In einem Raum ζ. B. gibt die Richtung der Mauern, des Bodens und der Decke die Position der Vertikalen und Horizontalen an. Nach dem Staubwischen hängen die Bilder schief im Verhältnis zu dem Rahmen des Raumes. Wenn ich aufrecht stehe, werden diese Bilder ebenfalls schief auf das Sehfeld des Gehirns projiziert. Halte ich aber den Kopf schräg, kann ich die Bilder im Verhältnis zu mir gerade sehen, obgleich sie im Verhältnis zum Raum immer noch schief erscheinen. Das Bild erscheint so lange aufrecht, wie seine Vertikalachse mit der inneren Vertikalen meines Sehfeldes (die durch das entsprechende Gehirnfeld bestimmt wird) übereinstimmt, wobei es keine Rolle spielt, ob es an der Wand hängt, auf einem Tisch liegt oder in einer ungewöhnlichen Position gehalten wird. Meine kinaesthetischen Wahrnehmungen geben mir die Position meines Körpers im Verhältnis zum Zug der Schwerkraft an. Diese kinaesthetischen Wahrnehmungen stimmen im täglichen Leben meist mit dem visuellen Rahmen der Umgebung überein. Blicke ich an einem hohen Gebäude hinauf, so erfahre ich mich selbst in der Ubereinstimmung von geneigter visueller Welt und kinaesthetischer Wahrnehmung meines gehobenen Kopfes als rückwärts geneigt im Verhältnis zu einer ungefähr aufrechten Welt. Erscheint aber die gleiche Ansicht auf einer Leinwand im Kino, lassen meine aufrechte Haltung und der aufrechte Bilderrahmen die fotografierte Welt als schief erscheinen. Wenn wir herausfinden wollen, ob die Raumlage stärker vom Faktor des Sehens oder von der Körperhaltung bestimmt wird, müssen wir sie unter besonderen Versuchsbedingungen gegeneinander wirken lassen. Das folgende Experiment wurde von Witkin durchgeführt. Der Betrachter saß in einem vollkommen dunklen Raum und sah auf einen quadratischen Rahmen, der aus leuchtenden Linien gebildet und in einem bestimmten Winkel gedreht war. In diesem Rahmen befand sich ein leuchtender Stab, der um seine Mitte gedreht werden konnte, so daß seine Richtung verändert werden konnte. Unter diesen Bedingungen wurde die visuelle Welt auf einen leuchtenden Rahmen reduziert und im Verhältnis zu dem Körper des Betrachters geneigt, wie er durch das kinaesthetische Gleichgewichtsempfinden wahrgenommen wurde. Auf diese Weise konnte der Betrachter sich nicht zur gleichen Zeit nach beiden

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Maßstäben richten, wenn er »den Stab vertikal einstellen« sollte. Die meisten Betrachter paßten den Stab der Achse des Quadrats mehr oder weniger an und gaben so dem Sehbereich den Vorrang trotz einer abweichenden Haltungswahrnehmung. Einige Betrachter ließen sich von ihrem Haltungssinn führen und richteten den Stab mehr oder weniger nach der Vertikalen des Körpers aus, d. h., sie vernachlässigten den visuellen Rahmen. Außerdem gab es einen auffallenden Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Versuchspersonen: Frauen orientierten sich meist nach dem Sehbereich in der äußeren Umwelt, während Männer sich auf die körperlichen Erfahrungen der Innenwelt verließen. In einem Kunstwerk wird die Richtung jedes einzelnen Teils hauptsächlich durch die Hauptachsen des Werkes festgelegt, wie ζ. B. durch die Vertikalen und Horizontalen des Bilderrahmens. Innerhalb der Komposition gibt es jedoch oft schräg orientierte Untereinheiten, die als unabhängige Rahmenmaßstäbe bestehen. Neigt sich ein Gesicht zur Seite, wird die Nase im Verhältnis zum Gesicht als gerade aufrecht gesehen, aber geneigt im Verhältnis zum ganzen Bild. Abb. 77 stammt aus einer Untersuchung über Raumwahmehmung. Sie zeigt, daß unter dem Einfluß des rechteckigen Rahmens die innere Figur wie ein gedrehtes Quadrat auszusehen scheint, obgleich sie außerhalb des Rahmens eher als aufrecht stehender Rhombus gesehen wird. Abb. 78 ist dem Dekor eines Tischtuchs in einem Stilleben von Picasso entnommen. Hier scheinen die Rhomben einander parallel zu sein, obgleich in bezug auf den Bilderrahmen sie sich in ihrer Richtung unterscheiden. Kinder zeichnen oft den Schornstein in rechtem Winkel zu einem schrägen Dachfirst, obgleich die Bevorzugung des besonderen Rahmens den Schornstein in eine schräge Position setzt. Im allgemeinen wird also die räumliche Richtung von Einheiten in einem Kunstwerk durch eine Anzahl verschiedener Einflüsse bestimmt. Der Künstler muß nicht nur darauf achten, daß die beabsichtigte Wirkung vorherrscht, sonderii daß die Stärke dieser Einflüsse so klar abgestuft wird, daß sie gegenseitig in einen festen Aufbau eingebunden sind oder sich ausgleichen, anstatt ein verwirrendes Hin und Her zu erzeugen. Man vergleiche die verwirrend unentschiedene Richtung der Mittellinie in Abb. 79. Durch eine schräge Stellung wird oft dynamische Wirkung hervorgebracht. Manchmal drehen Fotografen ihre Bilder im Verhältnis zum Rahmen, um ihnen gesteigerte Lebendigkeit oder Bedeutung zu geben. Die Kubisten und Expressionisten verwandelten ihre Landschaften zu einer gewalttätigen Handlung, indem sie die vertikale Ausdehnung von Häusern, Bergen oder Bäumen als Anhäufung von schrägen Einheiten wiedergaben. Eine Neigung bringt dann einen tatsächlichen Gestaltwechsel hervor, wenn keine Achse in dem Muster stark genug ist, um nicht durch eine andere ersetzt werden zu können. Eine gerade Linie verändert sich in keiner Position. Wenn aber ein Quadrat um 45 Grad gedreht wird, wird es zu einer neuen Gestalt — einer Raute —, weil nun die Diagonalen als Symmetrieachsen eintreten können. Die Begründung liegt in dem Gesetz der Einfachheit, das sich nicht nur im Muster auswirkt, sondern

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auch das Verhältnis des Musters zu dem obengenannten Beziehungssystem des Raumes bestimmt. Gibt es mehrere Strukturgerüste, bestimmt das mit der einfachsten Beziehung zum Raumsystem die Wirkung. In dem erwähnten Beispiel des Quadrates verlaufen die Seiten parallel zu den Raumachsen und bestimmen daher die Gestalt der Figur. Im Rhombus liegen die Ecken auf den Raumachsen. Die Formunterschiede zwischen Quadrat und Rhombus haben unmittelbare Auswirkungen. Das Quadrat mit seinen eindeutigen Vertikalen und Horizontalen ist sicher, ruhig und einfach. Der Rhombus balanciert auf einem Winkel anstatt auf einer sicheren Basis und ist wegen der Neigung seiner Seiten dynamischer und weniger einfach in der Wahrnehmung. Winkel von 90 Grad scheinen in der schrägen Position der Figur ihre Rechtwinkligkeit zu verlieren. Ihre Schenkel weichen scheinbar schräg von der mittleren Achse ab. Dieser Unterschied in der Einfachheit zeigt sich auch in der Tatsache, daß Kinder leichter ein Quadrat als einen Rhombus zeichnen können. Die Ergebnisse des StanfordBinet-Intelligenz-Tests zeigen, daß ein normaler Fünfjähriger wohl ein Quadrat nachzeichnen kann, während erst ein normaler Siebenjähriger erfolgreich einen Rhombus kopieren kann. Kopfstehen Wird ein Muster, in dem eine Hauptachse so sehr vorherrscht, daß keine andere daneben bestehen kann, herumgedreht, nimmt es eine andere Gestalt an, obgleich nichts an der geometrischen Form geändert wurde. Eine Drehung um r8o Grad wird nicht als eine Abweichung von der aufrechten Position wahrgenommen; sie ergibt eher eine neue Gestalt mit eigenem, stabilem Gerüst. In surrealistischen Filmen werden menschliche Gesichter manchmal umgedreht gezeigt. Die Wirkung ist furchterregend; obgleich wir es besser wissen, besteht der Augenschein darauf, daß wir eine neue Gesichtsart sehen, eine furchtbare Abart, die den Mund über den Augen hat, die Augenlider nach oben schließt und das Haar nach unten trägt. Das neue Gesicht wird durch eine eigene Symmetrie gesichert: es erscheint unabhängig und aufrecht. Man kann weniger dramatische Beispiele überall finden — wie z. B. in den gleichschenkligen Dreiecken (Abb. 80). Obgleich bei beiden die gleichen allgemeinen Eigenschaften eines Dreiecks vorhanden sind, unterscheiden sie sich doch in ihrer Gestalt. Version a steigt von einer sicheren Basis zu einer scharfen Spitze auf; in der Version b balanciert ein breites Oberteil schwer und gefährlich auf einem spitzen Fuß. Warum ergibt eine Richtungsänderung diesen Gestaltwechsel? Im Gehirnfeld scheint die Vorherrschaft einer Richtung gegeben zu sein, die der von uns als »Vertikale« bezeichneten entspricht. Innerhalb dieser Achse muß es die Vorherrschaft einer Richtung geben, die die Unterscheidung zwischen oben und unten bewirkt. Beim Sehen ist die Vertikale als Basis hervorgehoben, auf die alles andere bezogen wird, so daß z. B. die Symmetrie eines Musters nur dann voll erfahren wird,

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wenn die Achse vertikal ausgerichtet wird. Eine Geige ist dann ganz symmetrisch, wenn sie aufrecht gesehen wird. Außerdem besteht ein Unterschied in der Gestalt einer aufrecht oder umgekehrt gehaltenen Geige. Köhler schreibt über die physiologische Ursache dieses Phänomens: »Man muß annehmen, daß das Gewebe des Sehzentrums dauernd einen Gradienten von bestimmter Richtung besitzt, wodurch der Ablauf gewisser Prozesse in diesem Zentrum ebensosehr beeinflußt wird wie durch die Verteilung der Netzhautreize in jedem einzelnen Fall.« Wir dürfen ebenfalls nicht übersehen, daß auch im physikalischen Raum die vertikale Richtung hervorgehoben ist, weil sie mit der Schwerkraft übereinstimmt, und daß auch dort die Zugkraft eine Asymmetrie innerhalb der Orientierung bewirkt. Aufwärts gehen heißt, sich gegen die Schwerkraft bewegen, und abwärts gehen bedeutet, ihr nachzugeben. Man könnte daher behaupten, dieses Phänomen beruhe nicht auf inneren Eigenschaften des Sehmechanismus, sondern auf unseren Beobachtungen der physikalischen Welt. Es gibt tatsächlich einige Hinweise, daß Dinge, die wir oft in verschiedenen räumlichen Positionen sehen (Schirm, Knochen, Schlüssel, Trompete), in jeder Lage leichter erkannt werden als andere, die meist nur in einer einzigen Position gesehen werden (eine sitzende Katze, Hase, Spielzeugkanone, Sonnenhut). Es hat sich jedoch gezeigt, daß das Gefühl für Richtungsunterschiede im täglichen Leben nicht so schnell erworben wird, wie man denken sollte, wenn es nur auf Erlernen beruhen würde. Für kleine Kinder haben diese Richtungsänderungen keine Bedeutung. Es gibt zwar keinen Grund für die Annahme, sie sähen diese Unterschiede nicht, aber es macht ihnen nichts aus, ζ. B. ein Bild umgekehrt zu betrachten. Die Orientierung scheint erst im 6. Lebensjahr eine Bedeutung zu erhalten. Nach Versuchen kann man möglicherweise annehmen, daß sogar noch elfjährige Kinder durch ein Drehen ihres Textes um 90 Grad beim Lesen weniger gehindert sind als Erwachsene. Zeichnungen kleiner Kinder enthalten keinen Hinweis auf eine einheitliche Raumvorstellung, außer daß die Einzelformen oft mit einem überraschenden Sinn für Rhythmus und Gleichgewicht verteilt sind. Isolierte Figuren liegen in allen Richtungen, und in extremen Fällen werden sogar die Körperteile unregelmäßig verteilt. Die Kinder zeichnen spontan Figuren umgedreht oder drehen das Papier in jede Richtung, ohne sich um die wechselnde Richtung zu bekümmern. Ein einheitlicher räumlicher Rahmen entwickelt sich nur langsam. Es ist schwierig, die Tatsachen in diesem Gebiet richtig zu interpretieren. Möglicherweise treffen wir hier auf eine Auswirkung der »Reifung«, d. h. auf eine Entwicklung des Nervensystems auf Grund des physiologischen Wachstums und nicht des Lernens. Gleichgültigkeit gegenüber der Raumlage wurde jedoch auch bei erwachsenen »Primitiven« beobachtet. Kofïka berichtet, daß Bantu-Neger Abbildungen von Dingen, die ihnen bekannt waren, ebensogut erkannten, wenn sie verkehrt oder richtig gezeigt wurden. Ebenso konnten die wenigen unter ihnen, die Lesen gelernt hatten, mit unveränderter Schnelligkeit lesen, wenn der Text herumgedreht wurde.

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Gewisse Bedingungen können tatsächliche Änderungen der subjektiven Orientierung hervorbringen. Als Stratton in einem bekannten Versuch eine Brille, die die Welt umgekehrt erscheinen ließ, für eine Woche getragen hatte, begann er die Dinge aufrecht zu sehen. Auch in anderen Situationen scheint diese Angleichung vorzukommen, wenn der Vergleich zur anders orientierten Umgebung zwar nicht ausgeschlossen ist — wie bei Stratton — aber durch Konzentration auf ein verhältnismäßig unabhängiges Objekt beschränkt ist. Lewin bringt das Beispiel eines Druckers, der Muster auf der Tapete aufrecht sah, während sie abwärts durch die Druckmaschine liefen, in einer Untersuchung mit der Entdeckung, daß umgekehrte Buchstaben oder Worte gerichtet werden, wenn sie oft genug tachistoskopisch gezeigt werden. Piojektion

ΑΛ 81

Man hätte wohl kaum erwartet, daß schon allein die Änderung der Raumlage die Identität eines Objektes beeinflussen würde, weil dabei die geometrische Form selbst nicht verändert wird. Stattdessen ergab sich, daß unter bestimmten Bedingungen eine neue Orientierung ein anderes Strukturgerüst hervorbringt, das dem Objekt eine andere Eigenart verleiht. Wenden wir uns nun zu den Abänderungen, die tatsächlich eine Modifikation der geometrischen Gestalt bewirken, so läßt sich zeigen, daß ein solcher Wandel den Charakter der Form ändert oder audi nicht, je nachdem, ob er das Strukturgerüst beeinflußt. Man schneide aus Pappe ein mäßig großes Rechteck und beobachte die Schatten, die durch eine Kerze oder eine andere kleine Lichtquelle entstehen. Es ergeben sich unzählige Projektionen des Rechtecks, von denen einige etwa den Beispielen in Abb. 8r gleichen. Trotz ihrer gleichen Ursache unterscheiden sich die Muster, indem a sofort als eine Ableitung von einem Rechteck erscheint, während die anderen beiden keine solche Beziehung verraten. Die wesentlichen Merkmale des Strukturgerüsts des Rechtecks sind in a beibehalten — die annähernde Parallelität und gleiche Länge der beiden sich entsprechenden Seitenpaare,· die beiden anderen Figuren besitzen ganz eindeutig andere, eigene Gerüste. Die Wahrnehmung eines Papprechtecks beruht auf retinalen Projektionen, die ungefähr den Schatten an der Wand in ihrer Gestalt ähneln. Je nach der Raumbeziehung zwischen Objekt und Beobachter empfängt die Netzhaut entweder eine »gute« Projektion oder eine mehr oder weniger uncharakteristische, d. h. eine mit einer prägnanten, von der des abgebildeten Objektes abweichenden Eigenstruktur. Es bleibt die Tatsache, daß der Wahrnehmungsbegriff eines gegebenen Rechtecks mehr oder weniger überzeugend durch eine Anzahl von Formen dargestellt werden kann, die nicht immer rechteckig sind. Einige nicht-rechteckige Figuren erscheinen als Rechtecke, die im Raum gedreht oder gewendet sind. Wenn wir uns nur auf ein flaches Objekt beschränken wie das Rechteck aus Pappe, so gibt es immer e i n e Projektion, die dem visuellen

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Begriff, den wir von ihm haben, so sehr entspricht, daß die beiden als identisch angesehen werden können. Diese Bedingung ist in der orthogonalen Projektion erfüllt, sobald die Fläche des Objekts im rechten Winkel von dem Sehstrahl getroffen wird. In diesem Fall haben Objekt und retinale Projektion ungefähr die gleiche Gestalt.

Abb. 82 Bei dreidimensionalen Objekten ist die Sachlage viel komplizierter, weil ihre Gestalt durch keine zweidimensionale Projektion wiedergegeben werden kann. Die Projektion auf der Netzhaut entsteht, indem die Lichtstrahlen in gerader Linie von dem Objekt zum Auge verlaufen. Infolgedessen gibt diese Projektion nur die Punkte des Objekts wieder, die in gerader Linie ungestört mit dem Auge verbunden sind. Abb. 82 zeigt, wie die Auswahl und relative Position dieser Punkte beim Beispiel eines Kubus wechseln (b, c, d,) durch die Abhängigkeit von dem Winkel, unter dem sie vom Betrachter (a) gesehen werden. Die entsprechenden Projektionen sind ungefähr bei b', c' und d' angegeben. Wenn die Projektion sich ändert, könnte man erwarten, daß auch der Betrachter ein Objekt von wechselnder Gestalt sehen müßte. Der Kubus würde einer dauernden amöbenhaften Wandlung in Quadrate oder Sechsecke der verschiedensten Proportionen unterworfen sein. Dieses würde eine verzweifelte Situation abgeben, weil das unwandelbare physikalische Objekt unzureichend durch ein dauernd sich wandelndes Bild wiedergegeben würde, das einmal dem Objekt in seiner Struktur gleichen würde und dann wieder nicht. Das schwindelerregende Erlebnis mit einem Zerrspiegel würde dann die normale visuelle Reaktion auf alle Objekte in der Umgebung sein. Glücklicherweise, doch überraschend genug, tritt dieses nicht ein. Bei den normalen Bedingungen des täglichen Lebens ergibt die dauernd sich ändernde Gestalt der retinalen Projektion die Erscheinung eines dreidimensionalen Kubus von unveränderter Gestalt. Dieses Phänomen, über das in Kapital V mehr zu sagen sein wird, ist den Psychologen als »Formkonstanz« bekannt.

Form Der Wahrnehmungsbegriff

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von

Köipem

Der Wahrnehmungsbegriff eines Objektes, den wir aus der Gesichtserfahrung ableiten, hat drei wichtige Eigenschaften. Er begreift den Gegenstand als dreidimensional, als von konstanter Gestalt und als nicht auf eine bestimmte projizierte Ansicht beschränkt. Francis Galtons Untersuchungen über Vorstellungsbilder bringen dazu Beispiele. Er behauptet, daß »einige Personen durch eine Art von Berührungs-Sicht sich zur selben Zeit ein allseitiges Bild von einem soliden Körper machen können. Manche können sich die Erdkugel annähernd, aber nicht ganz rundherum vorstellen. Ein bedeutender Mineraloge versicherte mir, er könne sich zur selben Zeit alle Seiten eines ihm bekannten Kristalls vorstellen.« Vorstellung und Wahrnehmungsbegriff sind aber nicht das gleiche. Die Fähigkeit, sich ein nicht anwesendes Objekt tatsächlich vorzustellen, ist nicht für das Begreifen seiner visuellen Struktur notwendig. Trotzdem können Galtons Beispiele zeigen, was mit einem dreidimensionalen Begriff gemeint ist, der an keine bestimmte Ansicht gebunden ist. Wenn jemand einen allseitigen Begriff von einem Kristall oder von einer Kugel hat, tritt kein Gesichtspunkt besonders hervor. Dieses trifft zu, weil der Wahrnehmungsbegriff von einem Objekt meist aus der Gesamtheit der Beobachtungen aus verschiedenen Winkeln entsteht. Trotzdem ist es ein Anschauungsbegriff und nicht eine Definition durch Worte, die aus der intellektuellen Abstraktion der Wahrnehmungserfahrung deduziert wurde. Verstandesmäßige Kenntnis unterstützt manchmal die Entstehung eines Wahrnehmungsbegriffs, geht jedoch nur so weit, als sie in visuelle Attribute übersetzt werden kann. Genau genommen könnte der Wahrnehmungsbegriff eines Körpers nur in einem dreidimensionalen Medium wiedergegeben werden, z.B. in der Plastik oder Architektur. Wollen wir Bilder auf einer ebenen Oberfläche herstellen, können wir nur eine Übersetzung geben — d.h. einige wesentliche Eigenschaften der Struktur des visuellen Begriffs durch zweidimensionale Mittel darstellen. Bilder dieser Art können flächig wie Kinderzeichnungen oder räumlich wie Bilder der Renaissance aussehen, aber in beiden Fällen bleibt das Problem, daß die Rundheit des visuellen Begriffs nicht direkt auf der Fläche wiedergegeben werden kann. Welche Ansicht paßt am bestenl Bei einer solchen Ubersetzungsmethode werden ein oder mehrere Aspekte des Objektes (Projektionen) als Repräsentanten des wahrgenommenen Ganzen ausgewählt. Es entsteht das Problem: welche Ansicht soll ausgewählt werden? Bei einigen Objekten sind alle Ansichten gleichwertig — ζ. B. für eine Kugel oder ein unregelmäßig geformtes Felsgestein. Meistens jedoch bestehen eindeutige Unterscheidungen. Die orthogonale Projektion hebt bei einem Kubus eine der sechs Seiten hervor. Die Schrägansichten der Flächen werden in der Tat nur als Abwandlungen von solchen gesehen, die in der retinalen Projektion quadratisch sind. Diese

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Bevorzugung beruht auf dem Gesetz der Einfachheit: die bevorzugten Projektionen haben die einfachste Gestalt. Können diese einfachen und in der Wahrnehmung bevorzugten Ansichten die beabsichtigte Ubersetzung des Wahrnehmungsbegriffs in ein flächiges Bild am besten leisten? Einige von ihnen sicher. Unsere Wahrnehmungsbegriffe von vielen Objekten werden durch strukturelle Symmetrien charakterisiert, die in gewissen Aspekten unmittelbar zum Ausdruck kommen. So ergibt die Frontalansicht einer menschlichen Figur die Hauptmerkmale. Man betrachte aber Abb. 83. Es ist wahrscheinlich die einfachste Darstellung eines Mexikaners mit einem Sombrero. Trotzdem wird ein solcher Blickpunkt nur als Spaß ausgewählt werden, der sich eben aus dem Zwiespalt von Genauigkeit und Ungenügendheit der Darstellung ergibt. Das Bild ist sicherlich richtig — man kann es aus dem Fenster im dritten Stockwerk eines Hotels mit der Kamera aufnehmen — aber für die meisten Zwecke reicht es nicht aus, weil es einen Mexikaner nicht von einem Mühlstein unterscheidet. Das Strukturgerüst von Abb. 83 hat zu wenige Beziehungen zu der Struktur des darzustellenden visuellen Begriffs,· es schafft dagegen andere, irreführende Assoziationen. Die meisten Kunstwerke versuchen allerdings, mehr als nur die Grundstrukturen der Dinge mit äußerster Klarheit wiederzugeben. Es trifft aber auch zu, daß keine Darstellung eines Objekts künstlerisch oder visuell gültig sein wird, wenn die Augen sie nicht als eine direkte Abwandlung von dem grundlegenden Wahrnehmungsbegriff des Objektes erfassen können. Die Augen können gerade dieses nicht bei dem Bild des Mexikaners vollbringen, da es nur durch verstandesmäßiges Wissen gedeutet werden kann. Die grundlegende Aufgabe, auf einer Fläche die Haupteigenschaften der Gestalt eines Objektes abzubilden, ist also schwierig. Soll das Portrait einer Person im Profil oder frontal gegeben sein? G. K. Chesterton spricht von »einer von den Frauen, die man sich immer im Profil vorstellt wie die scharfe Schneide einer Waffe«. Polizeiakten oder anthropometrische Untersuchungen erfordern beide Ansichten, weil gewisse wichtige Merkmale in einer Ansicht, aber nicht in der anderen sichtbar werden. Eine weitere Komplizierung entsteht daraus, daß einige Teile eines Objekts aus einem bestimmten Winkel am besten zu sehen sind, andere jedoch aus einem anderen. Die typische Form eines Stieres wird in der Seitenansicht gegeben, die jedoch die charakteristische Lyra-Form der Hörner verbirgt. Die ausgebreiteten Flügel einer fliegenden Ente sind im Profil nicht sichtbar. Der Winkel, unter dem man Kelch und Schaft eines Weinglases am besten sieht, zerstört die Rundheit von Mund und Fuß. Das gleiche Problem stellt sich bei einer Kombination von Objekten: wie kann man einen See, dessen unverzerrter Umriß nur aus der Vogelperspektive gesehen werden kann, und Bäume, die ihre typische Form nur im Profil zeigen, auf einem einzigen Bild zeigen? Man nehme ein scheinbar einfaches Objekt — einen Stuhl (Abb. 84) : die Oberansicht (a) gibt die Form des Sitzes genau wieder,· die Frontal-

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Abb. 84 ansieht (b) zeigt die Form der Lehne und ihre symmetrischen Beziehungen zu den Vorderbeinen; die Seitenansicht verbirgt fast alles (c), gibt aber deutlicher als alle anderen Ansichten das wichtige rechtwinklige Arrangement von Lehne, Sitz und Füßen. Als einzige enthüllt die Unteransicht (d) die symmetrische Anordnung der vier Füße an den Ecken des quadratischen Sitzes. Diese Erkenntnisse sind insgesamt notwendig und gehören zum normalen Anschauungsbegriff dieses Objektes. Wie können sie in einem einzigen Bild ausgedrückt werden? Es gibt keine sprechendere Darlegung der Schwierigkeiten, die in dieser Aufgabe enthalten sind, als die Zeichnungen in Abb. 85, die den Ergebnissen Kerschensteiners entnommen sind. Diese Zeichnungen geben schematisch die Lösungsarten wieder, die durch Schulkinder ausgearbeitet wurden, denen die Aufgabe gestellt worden war, aus dem Gedächtnis »ein dreidimensionales Bild mit genauer Perspektive von einem Stuhl« zu zeichnen. Die ägyptische Methode Eine der Lösungen des Problems läßt sich am besten durch ägyptische Wandgemälde oder Reliefs oder durch Kinderzeichnungen belegen. Sie besteht darin, für jeden Teil des Objektes oder der Kombination von Objekten diejenige Ansicht auszuwählen, die dem Bildzweck am besten entspricht. Die nach dieser Methode angefertigten Bilder wurden früher verdammt oder bestenfalls als die minderwertigen Schöpfungen von Leuten verachtet, die nichts Besseres konnten. Erst als eine annähernd ähnliche Methode von erwachsenen Künstlern unserer Zeit und unseres Kulturkreises übernommen wurde, begann sich zögernd eine Würdigung ihrer künstlerischen Gültigkeit zu entwickeln. Eine angemessene psychologische Interpretation ist allerdings immer noch nicht zum Allgemeingut geworden. Man nahm allgemein an, daß die Ägypter — ebenso die Babylonier, die alten Griechen, die Etrusker, die einen ähnlichen Darstellungsstil 7

Arnheim

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L

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λ λ

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ΠΓ+τί

Abb. 85 anwendeten — die Verkürzung vermieden, weil sie zu schwierig sei. Diese Auffassung wurde von Heinrich Schaefer widerlegt. Er zeigte, daß die Seitenansicht der menschlichen Schulter in einigen frühen Beispielen schon in der 6. Dynastie vorkam, aber in der Geschichte der ägyptischen Kunst immer eine Ausnahme blieb. Er zitiert zwei Reliefs als Beispiel, in denen Arbeiter eine Statue meißeln oder ziehen. Die Schultern der Männer sind in der üblichen Frontalansicht wiedergegeben, während die Statue die perspektivisch »korrekte« Seitenansicht zeigt (Abb. 86). U m leblose Starre auszudrücken, griffen die Ägypter auf ein Verfahren zurück, das nach der Meinung eines durchschnittlichen Zeichenlehrers des 19. Jahrhunderts einen viel lebensvolleren Effekt hatte. Schaefer führt weiterhin aus, daß man, um eine Sphinx aus dem Stein zu meißeln, schon um 1500 v. Chr. und früher den Aufriß auf die Seiten des rechtwinkligen Blocks gezeichnet hat. Man kann daraus schließen, daß die Ägypter die Methode der orthogonalen Projektion nicht deshalb benutzten, weil sie keine andere Möglichkeit gehabt hätten, sondern weil sie sie bevorzugten. Diese Methode gab ihnen die Möglichkeit, die charakteristische Symmetrie von Brust und Schultern und die Vorderansicht des Auges in der Proñlansicht zu bewahren.

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Wenn wir diesen Vorgang begreifen wollen, müssen wir uns daran erinnern, daß die bildliche Darstellung auf dem Wahmehmungsbegriff des gesamten dreidimensionalen Objekts beruht. Die Methode, ein Objekt oder eine Zusammenstellung von Objekten von einem einzigen Betrachtungspunkt aus abzubilden — etwa wie eine Kamera — wird diesem Begriff nicht besser gerecht als die von den Ägyptern benutzte Methode. Das unmittelbare Zeichnen nach dem Modell war nicht oft in der Vergangenheit üblich. Sogar in derjenigen Epoche der westlichen Kunst, die mit der italienischen Renaissance begann, war das Arbeiten nach dem Modell meistens den vorbereitenden Studien vorbehalten und machte auch dann nicht immer von der fotografischen Perspektive Gebrauch. Nicht weil die Ägypter den menschlichen Körper in der »richtigen« Weise nicht darstellen konnten, mögen die Figuren in der ägyptischen Kunst einem modernen Betrachter »unnatürlich« erscheinen, sondern weil er ihre Werke mit dem Maßstab einer anderen Annäherungsweise mißt. Sobald sich aber der Betrachter von diesem verzerrenden Vorurteil gelöst hat, wird es schwierig, die ägyptischen Figuren als »falsch« zu sehen. Eine Frage könnte man stellen: warum soll man sich um die primitiven Versuche, dieses Problem zu bewältigen, kümmern, wenn es doch schon zur Zufriedenheit durch die Regeln der Perspektive gelöst worden ist? Enthält nicht Abb. 84 die Zeichnung eines Stuhls, die alle erforderlichen visuellen Eigenschaften aufweist? Ich werde versuchen, als Antwort auf diesen Einwand die Bedenken eines Ägypters zu rekonstruieren, die er gegen ein Bild in der Zentralperspektive gehabt haben könnte. Abb. 87 und 88 zeigen schematisch zwei Versionen desselben Gegenstandes — ein quadratischer, von Bäumen umstandener Teich. Abb. 87 ist nach der Zentralperspektive gezeichnet, Abb. 88 nach einer Methode, die in Ägypten und in anderen Kulturen ebenso wie in Kinderzeichnungen aus aller Welt vorkommt.

Der Ägypter könnte die perspektivische Zeichnung etwa folgendermaßen kritisieren: »Dieses Bild ist völlig falsch und sehr verwirrend! Die Form des Teiches ist verzerrt. Sie ist ein unregelmäßiges Viereck und nicht ein Quadrat. In Wirklichkeit stehen die Bäume in symmetrischer Anordnung um den Teich und zum Boden in einem rechten Win-



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kel ; außerdem haben sie gleiche Größe. In dem Bild befinden sich einige Bäume im Wasser, andere außerhalb. Einige stehen gerade auf dem Boden, andere schief, und einige sind größer als die anderen.« Wenn der Mann aus der westlichen Welt antworten würde, der Teich des Ägypters sei nur als eine Luftaufnahme annehmbar, und alle Bäume lägen flach auf dem Boden, so würde der Ägypter dieses nicht sehen und kaum verstehen können. Die anscheinend bescheidene Forderung, ein Bild solle das Strukturgerüst eines Wahrnehmungsbegriffs wiedergeben, scheint verwirrende Konsequenzen nach sich zu ziehen. Der Ägypter erfüllt diese Forderung wortgetreu, indem er Quadrat zu Quadrat, Symmetrie zu Symmetrie und außen zu außen ordnet. Es trifft nun allerdings zu, daß das perspektivisch verzerrte Bild eines Quadrats nicht nur für einen Erwachsenen aus dem Westen wie ein Quadrat aussieht, sondern auch für seine Kinder oder gar für einen Ägypter, wenn dieser die perspektivische Zeichnung betrachten kann, als ob sie nicht ein Abbild, sondern ein reales Objekt wäre. Schaefer berichtet das Erlebnis eines Künstlers, der ein deutsches Bauernhaus malte, während der Eigentümer ihm zusah. Als er die schrägen Linien der Verkürzungen zog, protestierte der Bauer: »Warum machen Sie mein Dach so schief — mein Haus ist gerade!« Als er später das Bild sah, gab er aber mit Überraschung zu: »Malen ist ein seltsames Geschäft! Jetzt ist es mein Haus geworden, wie es wirklich ist!« Das Rätselhafte der perspektivischen Darstellung ist also, daß sie die Dinge durch die falsche Darstellung richtig erscheinen läßt. Zwischen den beiden hier erörterten Methoden besteht eben ein tiefgehender Unterschied. Der Ägypter oder das Kind antwortet auf das Quadratische, das er in der Wirklichkeit sieht, mit einem tatsächlichen Quadrat in seinem Bild. Dadurch verstärkt er den Wahrnehmungseindruck des abgebildeten Objektes. Man könnte sagen, er mache es tatsächlich zu dem, was es sein wolle. Obgleich die »Konstanz der Form« den richtigen Teich annähernd quadratisch erscheinen läßt, liegt eine abschwächende Indirektheit in der Wahrnehmung; das verzerrte Reizmuster, das die Erfahrung entstehen läßt, spielt eine Rolle in der Wahrnehmung, obgleich der Betrachter sich dessen nicht bewußt sein mag oder es nicht verstehen und abbilden kann. Dieses gilt noch mehr für Bilder — sogar für die »naturgetreuesten« — weil die Tiefenwirkung reduziert wird und die Konstanz der Form daher unvollständig ist. Die Aussagekraft aller visuellen Darstellungen entsteht direkt aus Eigenschaften im Medium und erst dann aus dem, was diese Eigenschaften in einer indirekten Weise andeuten. Die künstlerisch zutreffendste und wirkungsvollste Lösung wäre also, Quadratisches durch ein Quadrat darzustellen. Es ist keine Frage, daß durch den Verzicht auf diese direkte Darstellung die Kunst einen schweren Verlust erlitten hat. Es geschah zugunsten neuer Ausdrucksmöglichkeiten, die den Künstlern, die die perspektivische K u n s t entwickelten, wichtiger w a r e n als die auf-

gegebene Kunstform.

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Verkürzung In der ägyptischen sowohl wie der perspektivischen Methode soll eine besondere Ansicht oder eine bestimmte Projektion des Objektes das Ganze repräsentieren. Dazu sind zwei Bedingungen zu erfüllen. Erstens muß die Ansicht klarmachen, daß sie nicht das vollständige Objekt, sondern nur Teil eines Größeren ist; zweitens muß die so suggerierte Struktur die richtige sein. Betrachten w i r einen Kubus genau v o n vorn, so zeigt nichts in dem wahrgenommenen Quadrat, daß es Teil eines kubischen Körpers ist. Diese Projektion kann daher die dreidimensionale Struktur des Kubus nicht wiedergeben. Nach einer Wahrnehmungsregel — wieder eine A n w e n d u n g des Prinzips der Einfachheit — wird die Form des wahrgenommenen Aspekts (Projektion) spontan als eine Verkörperung der Gesetzmäßigkeit des Ganzen gesehen. Wenn uns ein flächiges Quadrat gezeigt wird, halten wir es f ü r die einzige Ansicht eines flachen Dinges. W e n n ein kreisförmiges Ding abgerundet ist — z. B. durch Schattierungen — sehen wir es als Teil einer Kugel. Es kann irreführen — das runde Objekt kann die Unterseite eines Fernsehbildschirms sein — aber die Wahrnehmung vervollständigt den ganzen Körper zur einfachsten Gestalt, die mit der wahrgenommenen Projektion zu verbinden ist. Diese Tendenz in der Wahrnehmung ergibt meist ausreichende Ergebnisse. Eine Kugel ist in Wirklichkeit, was ihr Aspekt verspricht. Bis zu einem gewissen Grad gilt dieses auch f ü r den menschlichen Körper. Die ganze Körperlichkeit — das Volumen — deckt sich ungefähr mit den Angaben der Frontalansicht. Es gibt keine grundsätzlichen Überraschungen mehr, w e n n der Körper gedreht wird. Nichts Wichtiges ist verborgen. Innerhalb bestimmter Grenzen verkörpert die Gestalt der Projektion das Gesetz des Ganzen. Dieses gilt nicht f ü r die Zeichnung von dem Mexikaner (Abb. 83), bei der das Gesetz der Vervollständigung einen scheibenähnlichen Körper in Aussicht stellt. Ebensowenig gilt es f ü r eine genaue Frontalansicht eines Pferdes, wie etwa f ü r Abb. 89 v o n einer griechischen Vase. Unser Wissen kann uns sagen, dieses sei ein Pferd, aber gegenteilige Wahrnehmungserfahrung — sie sollte in der Kunst immer vorherrschen — verwirft solches Wissen und sagt uns, dieses sei ein Pinguin-förmiges Geschöpf, ein zwitterhafter Pferde-Mensch. Nichttypische Frontalansichten dieser Art sind künstlerisch verdächtig. Der Begriff »Verkürzung« kann in dreifacher Weise verwendet werden: r. er kann bedeuten, daß die Projektion des Objektes nicht orthogonal ist — d. h. der sichtbare Teil erscheint nicht in voller Größe, sondern durch die Projektion verkürzt. In dieser Bedeutung würde m a n die Frontalansicht eines menschlichen Körpers nicht verkürzt nennen. 2. Ein Bild könnte verkürzt genannt werden, obgleich die sichtbaren Teile des Objekts in voller Größe wiedergegeben sind, weil das Bild nicht die charakteristische Ansicht des Ganzen enthält. In dieser Bedeutung würden der Vogelschau-Mexikaner und das griechische Pferd verkürzt sein, aber nicht in einem wirklichen, wahrnehmungsgemäßen

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und bildhaften Sinn. Nur unsere Kenntnis des Vorbildes läßt uns diese orthogonalen Ansichten als Abarten eines anders geformten Objekts erkennen. Die Augen können es nicht sehen. 3. Von einem geometrischen Standpunkt aus setzt jede Projektion eine Verkürzung voraus, weil alle Glieder des Körpers, die nicht parallel zur Projektionsebene verlaufen, in ihren Proportionen verändert werden oder vollständig verschwinden. Delacroix bemerkte in seinem Tagebuch, überall komme Verkürzung vor, sogar bei einer aufrechten Figur mit herabhängenden Armen. »Die Kunst der Verkürzung und der Perspektive sind ein und dasselbe. Einige Malerschulen versuchten bewußt, (Verkürzungen) zu vermeiden. Da sie keine auffallenden Verkürzungen verwendeten, glaubten sie wirklich, davon frei zu sein. In der Profilansicht eines Kopfes sind bereits die Augen, die Stirn usw. verkürzt, ebenso alles andere.« Verkürzung in der Projektion setzt immer eine schräge Lage im Raum voraus. Die von Max Wertheimer »Dingfront« oder »Fassade« genannte Seite wird verkantet gesehen, und die gegebene Projektion erscheint als eine Abwandlung dieser »Fassade«. Schrägheit zeigt sichtbar an, daß das Objekt Volumen hat — d. h. daß einige Glieder sich in verschiedener Entfernung zum Betrachter befinden. Gleichzeitig bleibt aber die direkte Wahrnehmung des Strukturgerüsts bestehen, von dem sich die Projektion unterscheidet. Ein verkürztes Gesicht, das durch eine Wendung in eine schiefe Haltung gebracht ist, wird nicht als selbständige Form gesehen, sondern nur als eine Abweichung von der frontalen Symmetrie. Nichts von dieser Symmetrie ist in einer Profilansicht erhalten. Darum wird das Profil meist nicht für eine Verkürzung gehalten. Das Profil hat eine eigene Struktur. Es scheint das beste zu sein, eine Form dann verkürzt zu nennen, wenn sie als eine Abwandlung der strukturell einfacheren Gestalt wahrgenommen wird, von der sie durch Änderung der Orientierung in der Tiefendimension abgeleitet ist. Nicht alle projizierten Verkürzungen bringen zum Ausdruck, von welchem Strukturmuster sie abgeleitet sind. Es werden viele Probleme der Wahrnehmung dabei berührt, von denen ich nur einige erwähnen möchte. Hat z. B. die projizierte Gestalt eine verhältnismäßig einfache Form, wird die Einfachheit ihre Funktion beeinträchtigen, denn je einfacher die Form eines Objekts ist, um so mehr sträubt sie sich gegen eine dreidimensionale Ansicht und neigt dazu, flach zu erscheinen. Es ist schwer, einen Kreis als verkürzte Ellipse oder ein Quadrat als ein verkürztes Rechteck zu sehen. Abb. 90 ist die Oberansicht eines sitzenden Mannes, die in eine quadratähnliche Projektion verkürzt ist. Durch diese quadratische Form hat die Figur große Stabilität in der Fläche und will nicht in ein weniger einfaches dreidimensionales Objekt verändert werden. Die Bedingungen für eine Untergliederung in der Fläche stimmen also auch bei der dritten Dimension. Verkürzungen in Richtung der Symmetrieachse müssen mit Vorsicht behandelt werden. Die Wirkung eines von oben oder unten gesehenen Gesichts (Abb. 91) ist viel gewaltsamer als eine seitliche Verkürzung.

Dieses findet seine Erklärung nicht nur darin, daß Form und relativer

Abb. 91

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Ort der Glieder weiter von dem visuellen Grundbegriff entfernt sind, sondern weil die symmetrische Ansicht »eingefroren« und in sich ruhend aussieht. Die asymmetrische Seitenansicht weist deutlich auf die »normale« Frontalansicht hin, von der sie abgeleitet ist, während die verkürzte Vorderansicht leicht wie ein gepreßtes Lebewesen eigener Art aussehen kann. Das gleiche gilt für Ansichten ganzer Figuren von unten oder oben. Bezeichnenderweise kommen diese »unnormalen« Ansichten in der Kunst sehr selten vor ; bei dem bekanntesten Beispiel — Mantegnas Bild des toten Christus — wird die erstarrende Wirkung der Symmetrie durch die Neigung von Kopf und Füßen zur Seite gemildert. Ein anderes Problem entsteht oft bei dem Verkürzen von gekrümmten Formen, wenn in der Projektion die Kontinuität des Körpers (Abb. 92a) durch getrennte, einander überschneidende Einheiten ersetzt wird (b). Das Herausfallen verborgener Glieder und der Wechsel von Kontinuität zu Nicht-Kontinuität ergeben einen starken Zwiespalt zum grundlegenden visuellen Begriff. Als weitere Beispiele gibt es Fäuste, die aus dem Bild herausragen auf den Betrachter zu und von ihren Armen gelöst zu sein scheinen oder die Rückansichten von Pferden, deren Hinterbacken die Hälse überschneiden. Der Bildhauer Ernst Barlach sagt: »Ich gebe wieder, nicht was ich für mein Teil sehe oder wie ich es von hier oder da sehe, sondern das, was es ist, das Wirkliche und Wahrhaftige, das ich erst aus dem, was ich vor mir sehe, heraussuchen muß. Vor dem Zeichnen gebe ich dieser Art der Darstellung unbedingt den Vorzug, denn hier fällt alle Künstelei weg, ich möchte sagen, die Plastik ist eine gesunde Kunst, eine freie Kunst, nicht behaftet mit solchen notwendigen Übeln wie Perspektive, Verlängerung und Verkürzung und andern Künsteleien.« Überschneidung Uberschneidung — oder Übereinanderlegen — ist eine der Möglichkeiten, die vom zugrundeliegenden Wahrnehmungsbegriff abweichen. Überschneidungen entstehen, wenn ein Teil teilweise einen anderen verbirgt, der in einem einzelnen Objekt oder einer Gruppe von Objekten hinter ihm liegt. Die Voraussetzungen für eine angemessene Wahrnehmung sind, daß die Teile, die sich durch die Projektion in einer Ebene berühren, gesehen werden müssen als 1. voneinander verschieden und 2. in verschiedenen Ebenen liegend. Die Beispiele in Abb. 93 zeigen, daß das Uberschneiden dann viel klarer empfunden wird, wenn jede Einheit in sich ruhend ist und als individuelle Form scharf gegen

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die anderen abgesetzt wird. Die spezielleren Probleme von »Figur und Grund« werde ich in Kapitel V erörtern. Wenn einander überschneidende Einheiten zusammen eine besonders einfache Gestalt bilden, können sie als eine einzige Form gesehen werden. Schulter und Arm der Frau in Abb. 94 können zum Mann gehörig -»» gehalten werden — eine Fehlinterpretation, verstärkt durch die sich ergebende einfache Symmetrie, die ebenfalls zur visuellen Grundvorstellung vom menschlichen Körper gehört. Da in jedem Fall von Uberschneidung eine Einheit teilweise durch die andere verdeckt wird, muß die geteilte nicht nur unvollständig erscheinen, sondern auch die richtige Vervollständigung notwendig erfordern. Werden Glieder in den Gelenken abgetrennt (Schultern, Ellbogen, Knie), ergibt sich eher eine visuelle Amputation als eine Uberschneidung, weil die sichtbaren Teile jetzt selbständig erscheinen. Wenn die Richtung des Schnittes in einem einfachen Verhältnis zu der Struktur der sichtbaren Einheit steht (ζ. B. ein menschliches Gesicht, das parallel oder im rechten Winkel zur mittleren Achse überschnitten wird), wird das Fragment wahrscheinlich eine nicht erwünschte Vollständigkeit haben. Schräge Trennungen können diese Wirkung vermeiden. Diese Regeln gelten nicht nur für das Innere eines Bildes, sondern auch für die Überschneidungen durch den Bilderrahmen. (Man vergleiche die Faustregeln für das Beschneiden von Fotografien, die Auswahl von Ausschnitten für Vergrößerungen, den Gebrauch des Suchers). Wird ein Arm durch Uberschneidung des Handgelenks verdeckt, ergibt sich visuell keine verborgene Hand, sondern ein Stumpf. Das Gesetz der einheitlichen Form setzt das unterbrochene Glied logisch nach der in dem sichtbaren Teil angegebenen Struktur fort. Dadurch ergibt sich ein Problem, sobald sich in dem verborgenen Teil eine Form- oder Richtungsänderung vollzieht. Wenn ein Mann einen Arm um die Schultern einer Frau legt, verschwindet in der Frontalansicht der Gruppe der Arm hinter dem Rücken, und nur die Finger erscheinen wieder an den Schultern. Es ist fast unmöglich, visuell den Zusammenhang zu finden, nicht nur wegen der Größe der Unterbrechung, sondern auch wegen des Wechsels der Richtung am Ellbogen und des Wechsels der Form vom Oberarm zu den Fingern, was beides dem Auge nicht sichtbar ist. Schließlich gibt es ein Umgruppieren organischer Teile durch projiziertes Uberschneiden — Hände wachsen hinter dem Kopf hervor, Ohren gehören zum Kinn, Knie fügen sich an die Brust. Sogar die wagemutigsten modernen Künstler können sich selten mit dem paradoxen Umgruppieren der menschlichen Glieder messen, das durch eine genaue Nachahmung der Natur entsteht. Meist kann die organische Einheit des Körpers nur durch Wissen rekonstruiert werden. Wieviel davon für erlaubt gehalten wird, hängt vom Stil der Zeit ab. Eine Betrachtung großer Meisterwerke zeigt, wieviel Sorgfalt diese Meister darauf verwendet haben, die v i s u e l l e Grundkonzeption in der Projektion sichtbar zu erhalten. Dies gilt sogar für den Barock, der die Vorliebe für Verkürzungen zu einem Höhepunkt führte — ζ. B. in Werken von El Greco oder Rubens. Obgleich viele kleinere Künstler durch die Ver-

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lockung der Virtuosität und der zufälligen, am lebenden Modell beobachteten Projektionen irregeführt wurden, hat selbst ein Michelangelo noch etwas von dem ägyptischen Streben nach visueller Verständlichkeit. Wozu kann Überschneidung nützen} Wenn wir erst einmal die komplizierten technischen Probleme der projizierten Darstellungsform und die Bedrohung der visuellen Klarheit und des Aussagevermögens begriffen haben, die diese Methode einschließt, dann können wir wohl fragen, warum sich jemand überhaupt freiwillig jemals diese Mühe gemacht hat. Jahrhundertelang haben wir im Westen die Annahme für selbstverständlich gehalten, allein die Methode der Projektion befähige den Künstler, die Welt darzustellen, wie sie wirklich sei. Jetzt aber beginnen wir zu merken, daß diese Methode sich der »Wirklichkeit« nicht mehr nähert als ζ. B. die ägyptische Methode. Wir argwöhnen sogar, man könnte sehr wohl den westlichen »Realismus« für die radikalste Abweichimg von der Wirklichkeit in der gesamten Kunstgeschichte halten. Dieser Stil kann nur dann als besonders wirklichkeitsgetreu bezeichnet werden, wenn der zweideutige Begriff »Realismus« im Sinne westlicher Vorstellungen definiert wird. Wir müssen schon nach überzeugenderen Rechtfertigungen für die Verwendung dieser Methode suchen.

nx Abb. 95

Wenn wir die einfachste Art visueller Darstellung, die es gibt, als Ausgangspunkt heranziehen — ζ. B. Zeichnungen kleiner Kinder, vorgeschichtlicher Höhlenbewohner oder das chinesische Ideogramm für »Mensch« (Abb. 9s) — so können wir behaupten, die Methode der Projektion enthielte zwei Abweichungen von diesem »Grundton«.

Abb. 96 Zum einen wird das einfache Strukturgerüst in unzähligen Modifikationen gebogen und verdreht. Diese ergeben sich, wenn ein Körper in Tätigkeit gezeigt wird — Gehen, Arbeiten, Gestikulieren, Sitzen, Steigen, Fallen. Eine solche Umformung wird überall dort notwendig, wo der Künstler mehr als nur die bleibende Existenz eines Objektes darstellen will. Zum anderen wird der Körper einer Veränderung ausge-

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a

b Abb. 97

setzt, die sich aus der Projektion auf eine Fläche ergibt. Diese Veränderung erfordert eine eingehendere Rechtfertigung. Ich werde sie mit der Beantwortung der folgenden Frage versuchen: Was hat der Künstler von der Uberschneidung? Vergleicht man Abb. 96a mit einer anderen Darstellung, in der zwei Enten in einer Reihe watscheln, ohne sich zu überschneiden (Abb. 96b), so erkennt man, daß die Parallelität zweier Tiere, durch die das Auge ihre Zusammengehörigkeit erkennt, überzeugender zum Ausdruck gebracht wird, wenn sie in einer einzigen visuellen Einheit vorkommt. Ähnlich wirkt in Abb. 97 der Kontrast zwischen dem vertikalen Körper und dem schrägen Arm mehr, wenn die beiden Richtungen im Raum in einer Einheit zusammenfallen (a), als wenn sie sich in der seitlichen Folge (b) entfalten. In der Musik wird die Harmonie oder Disharmonie viel eindrücklicher, wenn verschiedene Töne in einem Akkord verbunden sind, als wenn sie nacheinander gespielt werden. Die Uberschneidung intensiviert also die formalen Beziehungen, indem sie sie in einer stärker vereinheitlichten Gestalt zusammenfaßt. Die durch Uberschneidung erzielte enge Verbindung hat einen ganz besonderen Charakter. Sie beeinträchtigt die Vollständigkeit mindestens von einer — meist von allen — beteiligten Formen. Das Ergebnis besteht nicht nur aus einer »Beziehung« — d. h. einem Kräfteaustausch zwischen unabhängigen, völlig unversehrten Einheiten. Es ist eine Zu-

Abb. 98

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sammengehörigkeit als Bindung durch gegenseitige Modifikation. Der Künstler gibt eine subtilere und spannungsreichere Interpretation der Zusammenhänge, indem er die Klarheit der Reihung aufgibt. Er zeigt die Spannung zwischen den sich bekämpfenden Richtungen im sozialen Gefüge und die Notwendigkeit, die Integrität des Individuums sicherzustellen. Die Bindung durch Uberschneidung ist, genau betrachtet, nicht gegenseitig. Eine Einheit hat immer das Ubergewicht und beeinträchtigt die Ganzheit der anderen. In Abb. 98 ist die Wirkung ziemlich einseitig. König Sethos im Vordergrund ist nicht überschnitten, während Isis, die als Gottheit seine Majestät unterstützt, alle Unbequemlichkeiten eines Sitzes aushalten muß. Überschneidungen ergeben durch die Unterscheidung von dominierenden und untergeordneten Einheiten eine Rangfolge. Eine Bedeutungsfolge führt über jede beliebige Zahl von Zwischenstufen vom Vordergrund zum Hintergrund. Diese Beziehung ist jedoch nur im begrenzten Einzelfall von Uberschneidung einseitig. In einem komplexen Ganzen kann das Verhältnis Dominanz — Unterordnung an der einen Stelle durch das Gegenteil an einer anderen ausgeglichen werden, so daß jeder Teil aktiv und passiv zugleich erscheint. Ein Vergleich von Abb. 98 mit dem Kompositionsschema eines Gemäldes von Rubens (Abb. 99) verdeutlicht diese Feststellung, ohne eine weitere Analyse zu erfordern. Der Verhältnis von Innen und Außen wird am klarsten ohne Uberschneidungen ausgedrückt. Kinder zeichnen einen Haarschopf, als ob er aus dem Umriß des Kopfes herauswüchse, und Personen, als ob sie im Rechteck eines Hauses wohnten. Diese Methode kann nicht die besonderen Ausdrucksqualitäten des Verbergens oder Verborgenseins wiedergeben, die dann entstehen, wenn die Verschiedenheit von Innen und Außen durch Überschneidungen erfaßt wird. Überschneidungen zeigen, wie die Kleidung einen Körper bedeckt oder enthüllt. Filmt die Kamera einen Gefangenen hinter Gittern, so hat die Szene eine andere Bedeutung, wenn die Aufnahme innerhalb oder außerhalb der Zelle gemacht wurde, auch wenn die objektive Raumsituation nicht verändert wurde. Wird die Szene vom Inneren der Zelle aus aufgenommen, sehen wir den Rest Freiheit, der dem Mann gegen den Hintergrund des Gefängnisses bleibt; wird die Szene von außerhalb aufgenommen, erkennen wir das Gitter, das ihn visuell abschließt, weil es vor seinem Körper steht. Alschuler und Hattwick weisen darauf hin, daß kleine Kinder, die in ihren Bildern eine Farbe über die andere legten, gegenüber anderen, die die Farben nebeneinander setzten, zu »Verdrängungen« neigten und (wenn kalte Farben über warme gelegt wurden) eine »passive Natur« hatten. Diese Ergebnisse mögen andeuten, daß sogar kleine Kinder von der verbergenden Wirkung der Überschneidungen angesprochen werden und sie suchen, wenn sie ihrer eigenen Art entspricht. Man muß sich aber klar sein, daß diese Reaktion primär nicht auf dem visuellen Ergebnis, das sich auf dem Papier ergibt, zu beruhen braucht, sondern eher auf der Tätigkeitsfolge, erst das eine zu tun und es dann wieder zuzudecken.

Foim

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Da die Überschneidungen Teile von Objekten herausnehmen und doch die Integrität des Ganzen bewahren können, geben sie dem Künstler, der nur ungern die körperliche Vollständigkeit von Objekten beeinträchtigt, ein willkommenes Auswahlprinzip in die Hand. Läßt ein moderner Künstler Arme oder Augen weg, so beraubt er die Wahrnehmungsfigur um diese Teile, während Überschneidungen sie zwar aus der Sichtbarkeit herausnehmen, aber gleichzeitig andeuten, sie seien an ihrem Ort vorhanden. Der Bilderrahmen wählt einen Ausschnitt aus dem unendlichen Kontinuum der Welt aus, beeinträchtigt aber nicht die visuelle Vorstellung dieser Unendlichkeit, wobei vorausgesetzt werden muß, daß der Rahmen zu verbergen und nicht den Rest abzuschneiden scheint. Auch innerhalb des Bildes decken sich die Figuren und Objekte so weit, daß das, was nötig ist, sichtbar ist und das Unnötige verborgen bleibt.

c Abb. ιοο

Außer dieser Auswahlmöglichkeit läßt das Uberschneiden auch die Formen sich zu auffallend neuen Mustern gruppieren, die durch neu entdeckte Beziehungen verborgene Merkmale der Objekte aufdecken. So schreibt Wölfflin über Michelangelos Sklaven auf der Sixtinischen Decke: »Die Abweichung vom Normalen in der Körperbildung ist unbedeutend gegenüber den Umständen, in die Michelangelo die Glieder bringt. Er entdeckt ganze neue Wirkungsverhältnisse. Da bringt er den einen Arm und die Unterschenkel als drei Parallelen hart zusammen, beinah unter einem rechten Winkel, da faßt er die Figur vom Fuß bis zum Scheitel fast mit einem gleichen Linienzug. Und nun sind das nicht mathematische Variationsaufgaben, die er sich stellte, auch die seltsame Bewegung wirkt überzeugend.« Überschneidungen sind auch eine bequeme Lösung für das Problem, wie Symmetrie im Bild im Verhältnis zu einer Gruppe darzustellen sei. Man stelle sich vor, ein Maler wolle das Parisurteil malen. Die drei Göttinnen sollen so dargestellt werden, als ob sie gleiche Aussichten, ausgewählt zu werden, haben. Das bedeutet wahrnehmungsmäßig, daß sie im Verhältnis zum Urteilenden symmetrisch gestellt werden müssen. Es ist einfach genug, diese Symmetrie dem Betrachter, der auf das Bild schaut, zu zeigen (Abb. iooa), weil sein Blick die Fläche senkrecht trifft. Dieses ist mit gleichen Mitteln nicht möglich, wenn der Betrachter (Paris) sich in der gleichen Bildebene befindet (b). Die drei Frauen stehen ihm nicht symmetrisch gegenüber, die erste ist die nächste, die zweite ist entfernter und die dritte hat die geringsten Aussichten. Diese Anordnung widerspricht dem Wahmehmungsbegriff des Themas. Der Maler kann auch die zweite Dimension der Fläche in Anspruch nehmen (c). Dieses stellt die Symmetrie wieder her, türmt aber die Göttinnen unangenehm übereinander wie bei einem Totempfahl. Um das Muster auf der Grundebene des Bildes zu zeigen, muß der Bildraum in die dritte Dimension durch eine schräge Anordnimg erweitert werden, die meist (obgleich nicht notwendigerweise) Überschneidungen bedingt (d). Diese Verkantung kann auch vertikal angewendet werden (e). Der Wagenlenker mit seinen Pferden ist ein weiteres Beispiel für

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das gleiche Problem. Die Darstellungsform der Horatier und Curatier würde zwei Dreiergruppen einander symmetrisch gegenüber erfordern. Die Aufgabe ist noch schwieriger, wenn die Gruppe zu einem anderen Komplex des Bildes in Beziehung gesetzt werden soll und selbst nicht gerade, sondern kreisförmig ist. Abb. ror zeigt das Kompositionsschema eines Kalenderbildes aus dem 12. Jahrhundert. St. Ursula wird, umgeben von ihren Jungfrauen, von einem Bogenschützen angegriffen. Die Gruppe ist für den Betrachter symmetrisch, nicht aber für den Schützen.

Abb. 101 Das gleiche Dilemma entsteht bei der Darstellung von individuellen Objekten. Mittelalterliche Maler standen immer vor dem Problem, wie der Evangelist in seinem Buch schreibend gezeigt werden solle. Der Wahrnehmungsbegriff verlangt, daß das Buch dem Schreiber symmetrisch gegenüberliege — was nicht ohne Überschneidungen und Verkürzungen erreicht werden kann. Letzten Endes kommen wir auf das Problem des Ägypters zurück, der die Form eines jeden Teiles möglichst klar wiedergab, aber — darauf müssen wir jetzt bestehen — die Winkelbeziehungen verfälschte, indem er alles in dieselbe Ebene brachte. Da ich ausgeführt habe, daß der visuelle Begriff eines Objektes auf einem dreidimensionalen Strukturgerüst beruht, kann ich kaum behaupten, die Wiedergabe von Winkeln sei weniger wichtig als die der Form. Die einzige Methode, die die räumliche Richtung in allen drei Dimensionen eindeutig darstellt, ist die sogenannte »isometrische« Perspektive. Aber obwohl diese Methode die genaue Rekonstruktion dreidimensionaler Körper gestattet, hat sie den visuellen Nachteil, daß sie Winkel und Formen entstellt. Für das Problem der Darstellung von Volumen in der Fläche gibt es grundsätzlich keine Lösung. Es liegt beim Künstler, das System zu wählen, bei dessen Vorteilen er die Nachteile in Kauf zu nehmen gewillt ist. D i e Wechselwirkung v o n Fläche u n d Tiefe

Die dritte Dimension schafft eine Bereicherung, die etwa dem Vorgang in der Musik vergleichbar ist, wenn zu einer Melodie harmonische Akkorde hinzugefügt werden. Es bestehen auffällige Parallelen in der Entwicklung beider Künste. In der Musik werden zuerst zusätzliche »Stimmen« eingeführt, und erst allmählich wachsen die unabhängigen melodischen Linien aus ihrer Gleichzeitigkeit in die neue Dimension

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einer echten »vertikalen« Struktur. Sobald diese erreicht ist, gehört jeder Ton in zwei Zusammenhänge. Er steht in der melodischen Folge ebenso wie in dem Akkord der gleichzeitig angeschlagenen Töne. Die Verbindung dieser beiden strukturellen Dimensionen ergibt die Vielfalt unserer modernen polyphonen Musik. Annähernd vergleichbar wurden bildliche Szenen zunächst in getrennte Reihen oder Streifen geteilt, die allmählich zu einem dreidimensionalen Ganzen verschmolzen. Auch hier gehört jede Form in zwei Zusammenhänge, sobald die Verbindung vollzogen ist. Jede Form gehört in die Bildfläche und gleichzeitig in den im Bild dargestellten dreidimensionalen Raum. Infolgedessen hat jedes Ding im Bild zwei Formen: die des dreidimensionalen Objekts und die der ebenen Projektion. Das Bild als Ganzes besteht aus zwei ganz verschiedenen Kompositionen: eine von ihnen ist eine Anordnung auf einer »Bühne«, die sich in die Tiefe erstreckt, und die andere ist die Zusammenstellung in der Bildebene. Die Synthese der beiden ergibt die Bedeutung des Ganzen. Ein Beispiel soll diese Tatsache verdeutlichen. Die dreidimensionale Gruppenanordnung der Seidenklopfeiinnen (Abb. 102) zeigt vier Frauen, die um einen Tisch als rechteckige Gruppe herumstehen. Diese ist eine schräge Variation der Tischform selbst (Abb. 103). Drei Figuren stehen sich symmetrisch gegenüber (II, III, IV); die vierte bereitet sich auf die Arbeit vor und steht etwas zur Seite gewendet. Die vierfache Gruppe ist also in ein Dreieck und einen Außenseiter unterteilt, wobei die Frau IV das Verbindungsglied zwischen den beiden schon arbeitenden und der noch nicht arbeitenden Frau bildet. Die Verbindungen zwischen den beiden dunklen Kleidern und den beiden hellen entsprechen den Diagonalen der rechteckigen Gruppe. Die äußeren dunklen Figuren geben die Begrenzung der Gruppe. Die hellen bewirken das gleiche in der Tiefendimension; II dominiert im Vordergrund und III ist auf die größte Entfernimg zurückgesetzt.

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Abb. 103 Die Anordnung in der Bildebene ist davon ganz verschieden. Die Frauen stehen nicht um den Tisch. Zwei von ihnen stehen links und rechts, die beiden anderen überschneiden ihn. Die Gruppe ist nun eindeutiger in zwei Paare gegliedert, von denen jedes durch Überschneidungen zusammengehalten und vom anderen durch leeren Raum getrennt wird. Die dreieckige Symmetrie von II, III und IV entfällt; die vierte Figur bleibt nicht mehr vereinzelt. Stattdessen entsteht annähernd eine Folge von vier »Mondphasen«, die abnehmend von der

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dominierenden Vollansicht von I über die schräge Stellung von III zum Profil von II und dem fast ganz verborgenen Gesicht von IV führt. Diese ergibt eine lineare Zickzackverbindung, die in der dreidimensionalen Komposition nicht vorhanden ist. Jetzt haben wir zwei Außenfiguren (dunkel) und zwei innere Figuren (hell) — fast eine Symmetrie der Seiten um die Mittelachse aus den beiden Stöcken. Die vier Köpfe bilden die Ecken eines Parallelogramms, in dem die Figuren I und III durch ihre höhere Position über die anderen dominieren, selbst aber überschnitten werden, wenn man die Körper als ganze betrachtet. Ein Reichtum von Form und Bedeutung entsteht aus den Beziehungen zwischen beiden Kompositionsformen, die sich teils stützen, teils kontrapunktisch widerstreben. Es lohnte sich, die relativen Funktionen der beiden Muster näher zu prüfen. Offenbar beschreibt die dreidimensionale Gruppierung immer die tatsächliche oder »geographische« Situation (ζ. B. Christus im Kreise seiner Jünger). Ihre Ausdrucks- oder Symbolfunktion ist wahrscheinlich geringer als die des visuell unmittelbareren, projizierten Musters. Da aber die relative Stärke beider von der Stärke der Tiefenwirkung in jedem einzelnen Bild abhängt, wird eine Untersuchung ihrer Aufgaben wohl zu unterschiedlichen Ergebnissen bei verschiedenen Stilen führen. Die Dynamik dei Schlägen Schrägheit bedingt immer ein crescendo oder ein decrescendo, weil sie immer als eine zunehmende Abweichung oder Annäherung von der ruhenden Position der Vertikalen und Horizontalen gesehen wird. Bei der Schrägheit durch Perspektive ergeben sich zwei Wirkungen. Erstens zeigt ein schräggestelltes Objekt eine Spannung in Richtung auf die vordere Ebene oder eine orthogonale Ebene, (senkrecht zu der vorderen Ebene) (Abb. 104a) oder umgekehrt von der Ebene fort. Ein schräggerichtetes Objekt ist mit potentieller Energie geladen im Gegensatz zu der Ruhe jeder Position parallel zur Bildebene. Man vergleiche den Tisch und die Wände in Leonardos Abendmahl. In einer Planzeichnung würden sie parallel verlaufen (Abb. ros). In der perspektivischen Zeichnung reflektieren Tisch und Rückwand die majestätische Ruhe Christi, während die seitlichen Wände nach außen geschwungen sind wie die geöffneten Flügel in der Geste der Offenbarung, die der Bedeutung der Szene entspricht. Dasselbe Bild kann auch als Beispiel für einen anderen dynamischen Effekt dienen, wie er schematisch in Abb. 104b dargestellt wird. Tisch und Rückwand bleiben in ihrer ganzen Länge in gleicher Entfernung vom Betrachter. Wenn das Auge jedoch vom Mittelpunkt des Bildes an einer Seitenwand entlanggleitet, nimmt die Entfernung schnell ab, und es entsteht der Eindruck einer kraftvollen Annäherung und eines Wachsens, die noch durch das entsprechende Größerwerden der Formen verstärkt wird. Der Vorgang kann ebenso als ein allmähliches Zurückweichen von der orthogonalen Ebene verstanden werden. Im Abendmahl wird dadurch der pyramidenähnlich geformte Raum dramatisch ausgedehnt oder zusammengezogen. 8

Arnheim

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Abb. 105 Diese Phänomene können nur eintreten, weil die »Konstanz« nicht vollständig ist und daher dem Raum etwas von der projizierten Schrägheit beläßt, anstatt die objektive Rechteckigkeit zu zeigen. Unvollständige Konstanz ist auch die Ursache für einen anderen Verkürzungseffekt. Man würde eine ausgestreckt liegende Figur mit den Füßen zum Betrachter in richtiger Länge sehen, wenn die Verkürzung völlig durch die Konstanz der Form ausgeglichen würde. Stattdessen wird die projektive Verkürzung teilweise wahrgenommen, so daß die Figur zusammengeschrumpft erscheint. Auf Grund der Doppeldeutigkeit dynamischer Bildelemente, die oben erörtert worden ist, kann diese Verkürzung auf verschiedene Art gesehen werden. Der Körper kann zusammengedrückt erscheinen — als ob er durch eine Glasplatte komprimiert worden wäre,· dabei kann die Wirkung hauptsächlich in dem Zusammendrücken liegen oder in der expansiven Gegenhandlung, die als Reaktion auf den Druck entstanden ist. Auch kann der Körper anschwellend, das heißt vom Kleinen zum Großen sich steigernd, gesehen werden. Je nach der Wahrnehmung der dynamischen Wirkung wird der entsprechende Ausdruck sich ändern, so daß eine Verkürzung die erdrückende Macht des Todes oder das lebendige Wachstum ausdrücken kann. Rathe hat diese Polarität im Symbolismus der Verkürzung beschrieben. Es würde interessant sein herauszufinden, ob die unterschiedlichen Interpretationen hauptsächlich von dem Thema des Bildes, von der subjektiven Einstellung des Betrachters oder von den wahrnehmungsmäßigen Eigenschaften der Bildgestalt abhängen. Realismus Tiefenwirkung und Körperlichkeit tragen sehr dazu bei, das Bild dem Eindruck der physischen Wirklichkeit anzunähern. Eine runde Gestalt gleicht mehr einem realen Ding als eine flache. Diese Wirkung ist am stärksten in tatsächlichen Illusionen, wie sie manchmal in Bühnendekorationen beabsichtigt werden; sogar wenn ein Betrachter genau weiß,

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daß er ein flächiges Bild ansieht, so bringt die Lebensnähe ihn oft zu der Annahme einer Haltung, die auch durch das wirkliche Ding hervorgerufen worden wäre. Diese Verwendung von Bildern kann man kaum künstlerisch nennen, wenn man Kunst als eine Interpretation der Wirklichkeit und nicht als eine reine Kopie ansieht. Diese Verwendung von Bildern als Stellvertretern der Wirklichkeit ist jedoch weitverbreitet und wichtig. Obgleich eine solche Auffassung der Kunst keine illusionistische Darstellungsart erfordert, wird sie dennoch sehr durch diese unterstützt. In einigen Bildern von Caravaggio oder in holländischen Stillleben überwältigt das materielle Dasein der einzelnen Personen oder Dinge so sehr, daß es schwierig wird, sie als symbolische Darstellungen eines allgemeineren Themas zu sehen. Ein großer Meister (Giorgione, Rembrandt, Vermeer) mag beide Aufgaben erfolgreich verbinden können; aber je schwächer ein Künstler ist, um so mehr wird die Illusion der materiellen Anwesenheit die visuell verständliche Bedeutung verdrängen. (Man vergleiche die Tradition des tiom-pe l'œil von Harnett bis Dali.) Selbst nachdem moderne Künstler viele Jahrzehnte Pionierarbeit geleistet haben, kann »der gemeine Mann« nur schwer begreifen, daß ein Bild eine perfekte Ähnlichkeit mit Personen oder einer Landschaft haben und trotzdem visuell völlig unverständlich und daher ohne künstlerischen Inhalt sein kann. Diese Schwierigkeit ergab sich durch die »wissenschaftliche« Methode, ein Modell mit mechanischer Genauigkeit zu kopieren, und durch Momentfotografie und Film. Die kontemplative Haltung ist auf Bilder ausgedehnt, die visuell nur annäherungsweise erfaßt werden können, weil sie das Rohmaterial der Wirklichkeit verwenden. Auf diese Weise wurde das Auge darauf beschränkt, nur die Gegenwart des Inhalts zu registrieren — eine Reaktion, die nur zu einer Zivilisation paßt, in der Ideen von ihrer konkreten Erscheinungsform getrennt wurden, so daß das materielle Objekt nur um seiner selbst willen als Ziel des sozialen, wirtschaftlichen und instinkthaften Strebens gewertet wird. Nach H. Kühn findet man den Illusionismus in der Kunst nur in Zivilisationen, die auf Ausbeutung und Verbrauch ausgerichtet sind. Nur in einem solchem Milieu wurde es möglich, in vollem Ernst Kunst aus der Sucht nach Ansehen, Macht, Ruhm, Reichtum und Liebe der Frauen zu erklären, wie es Freud in seinen Vorlesungen über Psychoanalyse tat. Die neue Fieiheit dei modernen Kunst Die »realistische« Kunst hat die radikalste Abweichung von den visuellen Grundbegriffen hervorgebracht, indem die besondere Erscheinungsform und Tätigkeit der Dinge getreulich nachgebildet und die Projektion als ein Mittel verwendet wurde, die dreidimensionale Welt in flächige Bilder zu übersetzen. Der Realismus ist jedoch nicht die einzige Methode, mit der die Künstler die Identifizierung von Bildern zu einer mühsamen Aufgabe gemacht haben. Es wird viel bereitwilliger anerkannt, daß die »moderne« Kunst in einigen Gebieten das gleiche erreicht hat. Allgemein werden »moderne« Kunst und »Realismus« für 8*

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krasse Gegensätze gehalten. Die erstere soll sich weit von der Wirklichkeit entfernt und die letztere sich ihr ganz angenähert haben. Für meine Überlegungen muß ich betonen, daß die Freiheit des »modernen« Künstlers erst durch seine Vorgänger, die »Realisten«, ermöglicht wurde, die die Bindung zwischen Darstellung und dem innewohnenden visuellen Begriff der Dinge bis zum äußersten dehnten. Die Künstler hatten unter dem Schutz der »Richtigkeit« ihrer Verkürzungen die Körperachsen verdreht, die symmetrische Entsprechung der Glieder aufgehoben, Proportionen verändert und die relative Position der Dinge neu festgelegt. In einem realistischen Bild konnte eine menschliche Figur über die Bäume in den Himmel greifen, die Füße konnten an das Gesicht anschließen und der Umriß des Körpers fast jede Form annehmen. Moderne Künstler eigneten sich viel von dieser Freiheit an, verzichteten aber auf ihre traditionelle Rechtfertigung. Sie gaben den doppelten Maßstab der Realisten auf, wonach es erlaubt war, den Dingen in der Bildfläche Gewalt anzutun, weil sich diese Vergewaltigung aus einer »korrekten« Projektion der dreidimensionalen Objekte ergab. Dabei ist zu bemerken, daß selbst die radikalsten unter den modernen Künstlern sich selten zu solcher Kühnheit der Verzerrung verstiegen haben, wie sie in der Blütezeit des projektiven Realismus annehmbar war, und zwar deshalb, weil sie sich nicht mehr auf die organische Richtigkeit ihrer Darstellungen im dreidimensionalen Raum stützen konnten. Die Realisten hatten mit der Zerstörung der organischen Einheit begonnen. Sie machten die Objekte unvollständig oder trennten ihre Glieder durch eingeschobene fremde Teile. Die modernen Künstler taten das gleiche, jedoch ohne die Entschuldigung der Uberschneidung. Schrägheit war früher zur Darstellung der Tiefe verwendet worden. Die modernen Künstler verzerrten die Achsenrichtungen ohne diese Rechtfertigung. Die Impressionisten hatten die Zerstörung der Lokalfarben bis zum äußersten getrieben. Sie benutzten die Widerspiegelungen, um das Grün einer Wiese auf den Körper einer Kuh oder das Blau des Himmels auf die Steine einer Kathedrale aufzutragen. Daraus entwickelte sich für die modernen Künstler nicht nur die Freiheit, ein rotes Objekt blau zu machen, sondern auch die Einheit einer Lokalfarbe durch eine Kombination verschiedener Farben zu ersetzen. Die Künstler hatten in der Vergangenheit gelernt, organische Untergliederungen mit paradoxen Ergebnissen zu reorganisieren. Sie verschmolzen mehrere menschliche Figuren zu einem Dreieck oder lösten einen Arm von der Masse des Körpers und verbanden ihn mit dem Arm einer anderen Figur zu einem neuen, einheitlichen Ganzen. Dies gab dem modernen Künstler die Möglichkeit, ζ. B. ein Gesicht aufzuteilen und einen Teil mit dem Hintergrund verschmelzen zu lassen. Durch Beleuchtung aus einer bestimmten Richtung hatten die Realisten Schattenstreifen über die Objekte gezogen, durch die sie ohne organische Rechtfertigung untergliedert wurden. Braque ging noch weiter, indem er eine weibliche Figur aus zweien bestehen ließ — eine dunkle Frau im Profil und eine helle in Vorderansicht (vgl. Abb. 233 b).

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Was sieht naturgetreu ausI Wir befinden uns heute in der seltsamen Situation, wonach die »moderne« Kunst unangenehm weit von der Wirklichkeit entfernt sein soll, während der projektive Illusionismus völlig mit ihr übereinstimmen soll, obgleich die eben durchgeführte Analyse zeigt, wie schwierig es ist zu entscheiden, welche Methode sich wagemutiger von den visuellen Grundbegriffen entfernt hat. Woher kommt diese unterschiedliche Bewertung? Wodurch können wir bekannte Dinge leicht in Bildern wiedererkennen, die für fast alle anderen Zivilisationen rätselhaft und verwirrend gewesen wären? Und warum erscheinen ihnen manche Bilder und Statuen naturgetreu und uns nicht? Nach welchen Gesichtspunkten wird Wirklichkeitstreue beurteilt? Man könnte meinen, es ließe sich einfach durch Vergleich der Bilder mit dem, was in dem »wirklichen Leben« gesehen würde, erreichen. Es ist jedoch aufschlußreich, daß dieses nicht zutrifft. Soweit wir aus überlieferten Schriftstücken schließen können, sind Kunstwerke immer für getreue Kopien der Wirklichkeit gehalten worden. Ihr höchster Lobpreis bestand im Aufzählen ihrer Naturgetreue, die so groß gewesen sein sollte, Mensch und Tiere zu täuschen. Die Theorie wurde oft dahin erweitert, daß sie dem Künstler das Recht zugestand, auszuwählen, was am schönsten oder bedeutungsvollsten sei, aber auch das idealisierte Bild wurde nur für eine getreue Kopie dessen, was eigentlich sein sollte oder existieren könnte, angesehen. Die griechischen oder chinesischen Geschichten über die Vorspiegelung einer Wirklichkeit durch bestimmte Meisterwerke beziehen sich auf Kunststile, die alles andere als illusionistisch im modernen Sinn des Wortes sind. Um ein jüngeres Beispiel aus der westlichen Kunst zu zitieren, so lesen wir in Boccaccios Decamerone, der Maler Giotto »war ein Genius solchen Ranges, daß es kein Ding in der Natur g a b . . . , das er nicht mit dem Stift, der Feder oder dem Pinsel so ähnlich dem Objekt abmalte, daß es das Ding selbst zu sein schien, anstatt ihm nur zu gleichen,· dies ging so weit, daß oft Menschen beim Betrachten getäuscht wurden durch die Dinge, die er machte, und für wirklich hielten, was nur gemalt war.« Die weitgehend stilisierten Bilder Giottos könnten seine Zeitgenossen kaum getäuscht haben, wenn ihre Natürlichkeit unmittelbar mit der Wirklichkeit verglichen worden wäre anstatt mit der Malart, an die sie gewöhnt waren. Im Vergleich zu den besten Vorläufern konnte Giottos Wiedergabe von ausdrucksvollen Gesten, Tiefe, Volumen und Szenerie wirklich naturgetreu genannt werden, und gerade dieser Unterschied ergab die erstaunliche Wirkung. Auch in jüngster Vergangenheit gibt es Beispiele, daß der Fortschritt zur größeren Naturnähe die Illusion des Lebens selbst hervorbringt. Die ersten Filme, die um 1890 aufgeführt wurden, waren technisch unvollkommen, aber die Zuschauer schrien vor Furcht, wenn ein Zug gerade auf sie zuraste. Diese Erfahrung wiederholte sich bei den sogenannten »dreidimensionalen« Filmen. Tatsächliche Illusionen gibt es natürlich selten; aber in ihnen mani-

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festiert sich am extremsten und genauesten die Tatsache, daß in der Regel in einem gegebenen Kulturkreis der vertraute Stil der bildlichen Wiedergabe nicht bewußt wird — das Bild erscheint einfach als eine genaue Kopie des Objekts. In unserer Zivilisation gilt dieses für »realistische« Werke; sie sehen für viele Personen aus »wie die Natur«, weil sie sich ihres außerordentlich komplizierten und eigentümlichen Stils nicht bewußt sind. Dieser »künstlerische Realitätsmaßstab« kann sich jedoch schnell ändern. Wir können uns heute kaum vorstellen, daß vor wenigen Jahrzehnten Bilder von Cézanne oder Renoir störend unwirklich wirkten. Wahrscheinlich braucht nur noch eine weitere Verschiebung des künstlerischen Realitätsmaßstabes einzutreten, um Bilder von Picasso, Braque oder Klee genauso erscheinen zu lassen, wie die Dinge, die sie darstellen. Wer sich mit moderner Kunst befaßt, findet es immer schwieriger, auf die Abweichungen von der realistischen Darstellungsart zu achten, die einen Neuling so stark berühren. Obgleich unser tägliches Leben von Ideen der modernen Kunst durchdrungen ist, die von den Designern für Tapeten, Schaufenster, Bucheinbände, Plakate und Einschläge benutzt werden, hat der gemeine Mann kaum den Realitätsmaßstab von 1850 für Malerei und Plastik verlassen. Ich muß betonen, daß ich mich hier nicht auf Geschmacksfragen, sondern auf die viel elementarere Erfahrung der Wahrnehmung beziehe. Ein moderner Kritiker sieht in einem Stilleben von van Gogh tatsächlich ein ganz anderes Objekt als sein Kollege im Jahre 1890. Es scheint kein Zweifel zu bestehen, daß die Künstler in ihren Werken nur ein genaues Äquivalent des Objektes sehen. Ihre Äußerungen machen ganz klar, daß sie »Stil« nur für ein Mittel zu diesem Zweck halten. »Originalität« ist das ungewollte und unbeabsichtigte Ergebnis des erfolgreichen Versuchs des Künstlers, ehrlich und getreu zu sein. Die absichtliche Suche nach einem persönlichen Stil verringert unvermeidlich die Gültigkeit des Werks, weil sie Willkür in einen Prozeß hineinträgt, der nur durch Notwendigkeit geregelt sein darf. Der Bildhauer Jacques Lipchitz erzählt, wie er einst ein Bild von Juan Gris bewunderte, das sich noch auf der Staffelei befand. Es war eines jener kubistischen Werke, in denen der Laie nur eine Anhäufung von Baumaterial erkennen kann. Lipchitz rief aus: »Das ist herrlich! Rühre es nicht mehr an! Es ist fertig.« Gris wurde zornig und antwortete: »Fertig? Siehst Du nicht, daß ich den Schnurrbart noch nicht vollendet habe?« Das Bild enthielt offensichtlich für ihn eindeutig das Bild eines Mannes, und — er erwartete von jedem, es sofort in allen Einzelheiten zu erkennen. Man kann diese Tatsachen kaum durch eine Wahrnehmungspsychologie erklären, nach der zwei Formen nur dann identisch oder ähnlich erscheinen, wenn die eine in den zählbaren Elementen und meßbaren Werten der Größe, Form, Richtung und Farbe eine annähernd genaue und vollständige Kopie der anderen wäre. Alle von mir aufgezählten problematischen Gleichheiten zwischen Objekt und Abbild sind nur möglich, weil die Wahrnehmung auf den wesentlichen Strukturmerkmalen,

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die den Ausdruck tragen, und nicht auf Genauigkeit und Vollständigkeit beruht. Ich habe von dem Rotkehlchen berichtet, das zu kämpfen begann, als ihm ein Quadratzentimeter roter Brustfedern vorgehalten wurde (vgl. S. 30). Dies ist ein extremer Fall, aber unterscheidet er sich grundsätzlich davon, daß wir kleine Figuren im Umriß auf einer flachen Unterlage als sprechende Ähnlichkeit zu einem großen körperlichen Objekt ansehen? Wir sagen von einer Zeichnung Michelangelos: »Dies ist ein Mann« anstatt: »Dies stellt einen Mann dar!« Dieser Brauch ist mehr als eine bequeme Abkürzung des Ausdrucks. Er enthält die Aussage, daß die Linien auf dem Papier tatsächlich als menschliche Figur wahrgenommen werden. Sieht man einmal ein, daß erhebliche Unterschiede zwischen dem Objekt und seinem Abbild keine Beeinträchtigung der Identifikation durch Wahrnehmung sind, so gibt es keine Berechtigung für die Annahme, daß eine solche Identifikation vor den Kubisten haltzumachen habe. (Erörterungen des Identitäts- oder Ähnlichkeitsproblems sind schwierig geworden, da uns die westliche Logik an ein »Alles-oder-Nichts«Denken gewöhnt hat. Dieses besagt, daß ein Abbild entweder eine vollständige Illusion schafft oder nur eben eine »Bedeutung« auf Grund der Konvention haben kann. In Wirklichkeit werden alle Bilder — bis zu einem gewissen Grad — für das gehalten, was sie darstellen. Anstatt dummerweise zu glauben, das Kind, das einen Stock als Puppe nehme, sei das Opfer einer Illusion, sollten wir erkennen, daß nichts Ungewöhnliches darin liegt, daß ein Objekt zur gleichen Zeit ein Stück Holz und ein Baby darstellt. Amerikanische Indianer schoben die Schuld für eine Hungersnot auf einen weißen Forscher, weil er so viele Bisons in sein Skizzenbuch aufgenommen hätte, daß für sie keine Nahrung übrigbliebe. Sie identifizierten Objekt und Abbild auf Grund der Ähnlichkeit in der Wahrnehmung. Sie versuchten aber weder, die Bisons in dem Buch zu schlachten und zu verspeisen, noch nahmen sie die Bilder für bloße magische »Symbole«. Die Bisons waren wirklich und unwirklich zur gleichen Zeit. Die teilweise Identifizierung eines Bildes mit dem wirklichen Objekt ist normal, nicht nur bei Kindern oder Wilden, sondern in allen menschlichen Reaktionen auf Bilder in Träumen, Kirchen, Kinos, Fotoalben oder Museen.) Malstile scheinen dem psychologischen Gesetz zu unterliegen, daß konstante Faktoren einer Situation aus dem Bewußtsein schwinden. Ein Gerach kann beim Betreten eines Zimmers sehr stark sein, er wird aber nach einiger Zeit nicht mehr bemerkt. Millionen Amerikaner verbringen den Winter in überheizten Zimmern, ohne ihr eigenes Leiden zu bemerken. Geräusche, Bilder an der Wand, die Eigentümlichkeiten unserer Mitmenschen — alles verschwindet. Ein Gesetz der Sparsamkeit scheint unsere Aufmerksamkeit auf Änderungen zu beschränken, die eine Reaktion erfordern könnten. Aus diesem Grund erscheinen bildliche Darstellungen aus dem kulturellen Kreis des Betrachters als »stillos« — d. h. als in der einzig natürlichen und richtigen Art. Aus diesem Grund wird der moderne Künstler beschuldigt, die Dinge nicht »wie sie wirklich sind« zu zeigen. Hinzuzufügen ist allerdings, daß die Gewöhnung an

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etwas Neues am einfachsten und vollständigsten eintritt, wenn die entsprechenden Merkmale dem Charakter und den Absichten des Betrachters entgegenkommen. Moderne Kunst ist besonders dort sehr störend, wo ihr Stil nicht nur neuartig ist, sondern Gewalttätigkeit und Spannung bringt. Aber selbst Gewalttätigkeit kann unbemerkt bleiben, wenn sie der Bewußtseinslage der Person oder Gruppe entspricht. Meyer Schapiro bemerkt, daß van Gogh von einem Bild in seinem Schlafzimmer in Arles als von einem Ausdruck »vollständiger Ruhe (spricht, obgleich es) mit seinen jähen Verjüngungen und verwirrenden Eckigkeiten, seinen starken Farbkontrasten und den in diagonale Gruppen verteilten Flecken gerade das nicht ist«. Diese Beobachtung kann man dahingehend verallgemeinern, daß der Künstler selbst sich am wenigsten des Stils seiner Arbeiten bewußt sei, weil sie eine direkte Reflektion seiner eigenen Persönlichkeit sind. Man kann wohl die Behauptung aufstellen, daß jedes gelungene Kunstwerk, wie stilisiert oder von einer mechanischen Genauigkeit entfernt es auch sein mag, den ganzen natürlichen Eindruck des dargestellten Objektes enthält. Das Portrait eines Schulmädchens von Picasso ist in sich scharf überschneidenden geometrischen Formen mit starken Farben ausgeführt. Beim ersten Betrachten bleibt das Thema weitgehend verborgen. Und doch gibt das Bild meisterhaft die elementare Lebendigkeit des jungen Geschöpfs wieder, die mädchenhafte Haltung, den scheuen Gesichtsausdruck, das streng gekämmte Haar, die mühevolle Tyrannei des großen Schulbuchs. Warum besteht der Künstler auf einem kunstvollen Verbergen dessen, was viel deutlicher durch das realistische Portrait eines Schulkindes dargestellt worden wäre? Die Antwort muß lauten, daß in Picassos Augen — und nicht nur für ihn allein — diese Methode das Schulkind viel lebendiger werden ließ als jede andere. Zu diesem Zweck war die Einzelheit der materiellen Erscheinung des Modells weniger wichtig als die Ausdrucksqualitäten, die durch Picassos Formen und Farben übermittelt werden. Picasso versucht, sein Thema ganz in den Griff zu bekommen, indem er es durch einfache geometrische Formen und reine Farben, die klar voneinander abgehoben sind, darstellt. Das fast gewaltsame Streben vieler moderner Kunstwerke nach einfacher, klarer Form kann historisch erklärt werden. Ich habe gezeigt, wie die mechanische Nachahmung des Modells die Bildgestalt für das Auge unbegreifbar gemacht hat. In solchen Werken beging die Kunst Selbstmord. Als man Cézanne berichtete, das Publikum hielte ein gewisses Bild von Rosa Bonheur für »sehr stark«, bemerkte er: »Oui, c'est horriblement ressemblant!« Gleichzeitig hatten die Impressionisten begonnen, die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Sehens auf ein Mindestmaß zu beschränken. Sie verlangten vom Maler, nur die kleinsten wahrnehmbaren Farbeinheiten, wie sie an einer bestimmten Stelle für einen bestimmten Augenblick vorkamen, wahrheitsgetreu wiederzugeben. Diese Methode war zwar als A n n ä h e r u n g an die Wirklichkeit so gültig w i e jede andere,

bedrohte aber den Künstler mit dem Verlust der Objekt- und Bildform.

Form

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Der Sehbereich geriet in Gefahr, ein Kontinuum von gleichwertigen Einheiten zu werden, die einander ebenso gleich wie verschieden waren. Das ganze Gemälde war ein einziges Ding und zugleich eine Unendlichkeit von Dingen. Wurde diese Methode bis zum Äußersten durchgeführt, blieb keine »Gruppierung« und daher keine Form und kein Objekt. Auf dieser entscheidenden Entwicklungsstufe klammerten sich einige Künstler an das bildliche Atom — den Farbpunkt —, der keine Form und zugleich die einfachste Form hatte. Auf dieser letzten festen Basis bauten sie von neuem das Alphabet von Form und Farbe ohne das Objekt auf, nur von der visuellen Verständlichkeit abhängig. Gleichzeitig erwachte jedoch auch der Wunsch nach Rückeroberung der Welt der Dinge, die entglitten war. Paul Klee schrieb 1902 als Dreiundzwanzigjähriger in sein Tagebuch: »Es ist eine große Not und eine große Notwendigkeit, beim Kleinsten beginnen zu müssen. Wie neugeboren will ich sein, nichts wissen von Europa, gar nichts. Keine Dichter kennen, ganz schwunglos sein, fast Ursprung. Etwas ganz Bescheidenes will ich dann tun, ein ganz, ganz Kleines, ganz Formales mir ausdenken. Mein Stift wird es festhalten können, ohne alle Technik. Ein günstiger Moment genügt, leicht ist das Knappe darstellbar. Und schon ists vollbracht. Es war eine winzige, aber wirkliche Handlung, und aus der Wiederholung kleiner, aber eigener Taten wird einmal ein Werk, auf das ich bauen kann. Der nackte Körper ist ein durchaus geeignetes Objekt. Ich habe ihm in den Aktsälen allmählich von allen Seiten etwas abgeguckt. Nun will ich aber nicht mehr irgendein Schemen davon projizieren, sondern so vorgehen, daß alles Wesentliche, auch das durch die optische Perspektive verdeckte Wesentliche, auf den Plan tritt. Und schon ist ein kleines unbestrittenes Eigentum entdeckt, ein Stil geschaffen.« Die doppelte Suche der modernen Maler nach Objekt und Form könnte etwas so Einfaches und Konkretes wie Kinderzeichnungen ergeben haben — und erreichte sie manchmal fast. Die Gestalt der Dinge wurde auf die einfachste Form zurückgeführt. Realistische Aufmachung und Abwandlung wurden zugunsten einer sparsamen Geometrie aufgegeben. Gerade Vorder- und Seitenansichten ersetzten die Verkürzungen. Und doch war diese Kunst nicht einfach; sie spiegelte nicht die naive Ansicht einer sicheren Welt wider, sondern war ein Zufluchtsort vor der erschreckenden Vielfalt, die der Künstler um sich oder in sich selbst fand. Einige Künstler fanden die Einfachheit, indem sie sich in das Kloster der Abstraktion zurückzogen. In dem Werk anderer schien der zugrundegelegte Begriff des Objektes einfach genug, und das von ihnen verwendete Bildmuster war ebenfalls nicht kompliziert. Aber die Strukturen von Form und Objekt widersprachen einander. Abb. 106 enthält die Hauptlinien von Paul Klees Bruder und Schwester. Die organische Trennung beider Köpfe wird verneint durch das Rechteck, das sie zusammenbindet und gleichzeitig das Gesicht des Bruders halbiert. Die beiden rechten Beine tragen einen Körper, der zu beiden Köpfen gehören kann.

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