Nietzsches Kunst des Überschreitens: eine Provokation 9783737001724, 9783847101727, 9783847001720

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Nietzsches Kunst des Überschreitens: eine Provokation
 9783737001724, 9783847101727, 9783847001720

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Günter Gersting

Nietzsches Kunst des Überschreitens: eine Provokation

Mit 5 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0172-7 ISBN 978-3-8470-0172-0 (E-Book) Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Foto des Verfassers: Sohn Søren W. Gersting, bearbeitet von dem Künstler Olaf Rauh, Leipzig Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Brigitte, Rike und Søren

»Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge.« Ecce homo, 1. Aufl. 77 Frankfurt (SV), S. 36

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. »Die fröhliche Wissenschaft« als Höhepunkt und Übergang . . . . 1. Von der »Morgenröte« zur »Fröhlichen Wissenschaft« . . . . . . 2. Botschaften und Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Im Geiste der ›gaya scienza‹ oder der provenÅalische Rhythmus

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49 49 59 64

III. Leitmotive »Zarathustras« . . . . . . . . . . . . . . 1. Befreiung vom »Geist der Schwere« . . . . . . . 2. Öffnung durch die Erweiterung des Horizontes 3. Distanz durch Verrätselung . . . . . . . . . . . .

I. Dionysos als Gegen-Bild und Symbol der Befreiung . 1. Nietzsches Denkweg . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nietzsches Abkehr und Befreiung vom Christentum 3. Nietzsches Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Überschreiten diskursiver Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom begrenzenden zum perspektivischen Denken . . . . . . 2. Vom argumentierenden zum schaffenden Menschen . . . . . 3. Von der Welt der Erscheinung zur Welt des schönen Scheins

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Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerung und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . Nietzsche – Quellen Weitere Literatur . . Abbildungsnachweis

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Einleitung

Lässt man sich auf Nietzsches philosophischen Denkweg ein, ist man fasziniert von den scharfsinnigen Versuchen, Begrenzungen in Frage zu stellen und zu überwinden. In einer kritischen Auseinandersetzung mit seiner Philosophie soll dem experimentellen Charakter seines Denkens dadurch entsprochen werden, dass verschiedene Ansätze möglicher Interpretationen zur Sprache kommen. Auf das Gesamtwerk sowie auf einige ausgewählte Aspekte bezogen wird eine an Hegel orientierte Deutung versucht.1 Die Konfrontation mit der in vielfacher Hinsicht konträren Position Hegels erlaubt einen spezifischen Bezug auf die philosophische Tradition, gegen die sich Nietzsche einerseits heftig und oft polemisch wehrt, andererseits in bescheidener Weise eingebunden sieht. Zudem kann man an den ausgewählten Fragen zu Nietzsches Werk eine frappierende Nähe zu Gedanken von Hegel konstatieren. Nietzsche würdigt in der »Fröhlichen Wissenschaft« den »erstaunlichen Griff« Hegels, mit dem er »durch alle logischen Gewohnheiten und Verwöhnungen durchgriff.« Zu dessen Neuerungen gehöre, dass er den entscheidenden Begriff »Entwicklung« in die Wissenschaft gebracht habe.2 In der »Morgenröte« attestiert er ihm: »Von den berühmten Deutschen hat vielleicht niemand mehr Esprit gehabt als Hegel.« Allerdings habe er aus Angst vor dem Esprit seine witzigen, oft vorlauten Einfälle über geistige Dinge und seine feinen, gewagten Wortverbindungen mehrmals umwickelt, so dass sich durch jene Umwicklungen das Wesen dieses Stils als »abstruse Wissenschaft selber und durchaus als höchste moralische Langeweile!« erweise.3 Diese kritische Distanz Nietzsches, 1 Für diese Idee, in besonderer Weise auf Hegel Bezug zu nehmen, fand ich während der Ausarbeitung des hier vorliegenden Textes Bestätigungen und neue Anstöße durch die von Klaus Vieweg und Richard T. Gray herausgegebene Schrift, Hegel und Nietzsche – eine literarisch-philosophische Begegnung, Bauhaus-Universität Weimar 2007, Schriften des Kollegs Friedrich Nietzsche, Hrsg. von Rüdiger Schmidt-Grepaly. 2 »Fröhliche Wissenschaft«(FW), Aph. 357, Bd. 3 der Kritischen Studienausgabe (KSA) in15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Massimo Montinari, dtv München 1988. 3 »Morgenröte«(M). Aph. 193, KSA 3, a. a. O.

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Einleitung

die sich nicht nur auf Hegels Stil, sondern auch auf dessen philosophische Auffassungen bezieht, gebietet es allerdings, eine hegelianische Interpretation nicht zu einer »Umwicklung« der Gedanken von Nietzsche geraten zu lassen. Der Vielfalt seines Denkens gemäß sollen die von ihm selbst eröffneten Perspektiven zum Tragen kommen. Eine Gemeinsamkeit beider Philosophen, die über den Gebrauch der selben Metapher »Morgenröte« hinausgeht, liegt in der Offenheit für die Zukunft, die jedoch zwischen beiden deutlich differiert in Gewichtung, Intensität und Bestimmtheit. So betont Hegel zwar, dass die Philosophie für das Belehren, wie die Welt sein soll, zu spät käme, da sie »als der Gedanke der Welt« erst erscheine, »nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat.« Mit dem Grau in Grau der Philosophie lasse sich die Welt »nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«4 Gleichwohl sieht sich Hegel von dem tieferen Geist seiner Zeit aufgefordert, der Seichtigkeit entgegenzuwirken und die Philosophie aus der Einsamkeit hervorzuziehen, um »gemeinschaftlich die Morgenr ö te einer sch ö neren Zeit zu beg r üß en.«5 Nietzsche, dem das »Unzeitgemäßsein« seines Denkens bewusst ist, richtet sein Interesse aus verschiedenen Perspektiven auch auf Vergangenes, aber viel emphatischer wendet er seine Gedanken auf Künftiges. Absicht der Darstellung ist es, den Grundzug der Philosophie Nietzsches deutlich werden zu lassen, wie er in dem Untertitel des brillanten Werkes von Rüdiger Görner zum Ausdruck kommt: »Annäherung an einen Denkartisten.«6 Ferner soll der durchgängige Bezug seines Denkens auf das Leben in vielfacher Hinsicht zur Sprache gebracht werden. Im Zentrum seiner Schriften über Geschichte, Kultur, Philologie, Religion, Philosophie, Politik und Moral steht die Kunst. Für Nietzsche ist sie die einzige Möglichkeit, die Grausamkeit des Lebens zu ertragen oder gar zu überwinden. Trotz dieser hohen Bewertung und der Entgrenzung der Kunst hat Nietzsche der Versuchung widerstanden, – wie es Eva Geulen in ihrer minutiösen, tiefgründigen Interpretation betont herausstellt – »die Kunst zu hypostasieren und zu totalisieren.«7 Das Provokante an Nietzsches Denken liegt in seinem Ü berschreiten. Dies provoziert vor allem diejenigen Philosophen, die ihn lieber ausschließlich als 4 Vorrede zu »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, Ullstein, Frakfurt/M. 1972, S. 14. 5 G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1969, Bd.18, Einleitung, S. 13. 6 Rüdiger Görner, Nietzsches Kunst – Annäherung an einen Denkartisten, Frankfurt/m und Leipzig, 1. Aufl. 2000 7 Eva Geulen, Das Ende der Kunst – Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt am Main, 1.Aufl. 2002. Außer Hegel und Nietzsche werden als weitere Theoretiker des Endes der Kunst Benjamin, Adorno, Heidegger und Hölderlin in fundierter Weise dargestellt.

Einleitung

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Literaten behandeln möchten, um sich seinen philosophischen Herausforderungen nicht öffnen zu müssen, oder ihm den Generalvorwurf machen – wie Jürgen Habermas –, dass er sich »außerhalb des Horizonts der Vernunft stellt.«8 Nietzsches Kritik an der akademischen Philosophie in den »Unzeitgemäßen Betrachtungen« ist wenig schmeichelhaft; seine Abrechnung mit ihr als »einem peinlichen Gegenstand«, da sie durch vom Staat ausgehaltene Professoren zur »Traum- und Denkwirtschaft« heruntergekommen sei, ist recht verletzend.9 Auch unter Theologen werden wegen des Satzes »Gott ist tot« in »Also sprach Zarathustra« und durch die provokanten, häufig missverstandenen Passagen im »Antichrist« meist nur die Verletzungen zur Kenntnis genommen. Oder man bewertet sein Schaffen als eine Kunstreligion und seine Religionskritik u. a. als eine verzweifelte Suche nach Gott. Die religiöse Prägung durch Elternhaus und Schule bleibt zwar bis zu den späten Werken in seinen Fragestellungen, Figuren und in seinem Sprachgebrauch erhalten, sie versperrt ihm aber nicht den Weg zu einer äußerst scharfen Religions- und Moralkritik. Ins Zentrum seiner Gedanken rückt er die Diesseitigkeit. An Nietzsches kritischen Positionen soll aufgezeigt werden, dass sein Lebensbezug, seine Fragen nach Erkenntnis und Sinn nicht nur von literarischer Qualität und appellativem Charakter sind, sondern in einem Begründungszusammenhang stehen bzw. sich in einen solchen einordnen lassen. So lässt sich z. B. ein Bogen spannen von dem von Kant formulierten Wahlspruch der Aufklärung »Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« zu Nietzsches Frage nach dem »Willen zur Wahrheit«. »Und was ihr Welt nanntet, da soll erst von euch geschaffen werden: eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe soll es selber werden!«10 Als Perspektive seiner »Ja-sagenden« Philosophie gilt es zu beachten, wie er sie verstanden und gelebt hat, als »das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in den Bann getan war.« Der eigentliche Wertmesser sei für ihn: »Wie viel Wahrheit er tr ä gt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?«11 Das perspektivische Denken wird zu Recht als allgemeiner Wesenszug in Nietzsches Philosophie gesehen.12 Auf das Abgründige, Irritierende und Fragwürdige in 8 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne: zwölf Vorlesungen, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1986 9 »Unzeitgemäße Betrachtungen«, Schopenhauer als Erzieher 8, KSA 1, S. 413 u. 421. 10 »Also sprach Zarathustra«, KSA IV. S. 110. 11 »Ecce homo«, Frankfurt am Main, 1.Aufl. 1977, S. 36. 12 In einem Interview ur Frage »Was bleibt von Nietzsche?« hat Volker Gerhard es als eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten von Nietzsche und Kant bezeichnet, dass beide radikal Kritik übten. »Die Leistungen Kants wird man umso eher schätzen können, wenn man sich in Nietzsches Perspektivismus eingeübt hat.« In: Informationen Philosophie, Heft1/2005

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Einleitung

Nietzsches Auffassungen wird in verschiedenen Zusammenhängen hingewiesen. Im Vordergrund stehen jedoch das Neue, das Anregende und das Grenzüberschreitende seines Denkens. Eine offene Position, die Nietzsche ebenso wie weiteren Künstlerphilosophen – Adorno, Benjamin u. a. – gerecht wird, vertritt Wolfgang Bock in einer durchaus pointierten Kritik an Nietzsches Metaphern in dessen Schrift »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten.«13 Dabei stellt er deutlich heraus, dass man sinnvollerweise an beiden Polen, Bild und Begriff festhalten müsse, »deren Verbindung man nicht auflösen, wohl aber die jeweilige Perspektive auf sie ändern kann.«14 Metapher ist für Wolfgang Bock »Ausdruck, nicht beiläufiges Vehikel eines Inhalts, und gehört auch zur Mitteilung selbst. Der Bildgehalt der Sprache eröffnet ein Band, das es dem Hörer erlaubt, seine Interpretation der Metaphorik in das Gehörte und Gelesene mit hineinzuweben. Was als das Uneigentliche beginnt, ist damit nicht allein rhetorische Figur, sondern zugleich das Medium der Sprache, die Bereiche menschlichen Lebens, zu einer neuen Form nennend, mimetisch und reflektorisch verbindet.«15 Aus einer solchen Sichtweise lässt sich eine kritische Distanz zu Nietzsche mit einer Offenheit vereinbaren, die einen Zugang ermöglicht zu Nietzsches facettenreicher Thematik, zu seinem Perspektivismus und seinem Überschreiten rein begrifflicher Darstellung. Einen besonderen Zugang zu Nietzsche eröffnet Morteza Ghasempour,16 der Nietzsche als einen interkulturellen Denker bewertet. In Abgrenzung zur Auffassung, dass Nietzsche nur die Figur des Zarathustra interessiert habe, zeigt Ghasempour auf, welche Berührungspunkte zur Lehre Zarathustras bestehen. Er benennt Übereinstimmungen, hebt aber auch deutlich hervor, inwiefern Nietzsche seinen Zarathustra als Gegenspieler zum historischen Zarathustra ausweist. Den zentralen Grund dafür, dass Nietzsche Zarathustra zum Verkünder seiner tragischen Philosophie werden lässt, sieht Ghasempour in Nietzsches Programm der Überwindung des Nihilismus. Das I. Kapitel ist ein Versuch, Nietzsches Denkweg in einer Kurzfassung nachzuzeichnen. Dies bedingt, dass etliche der zentralen Themen nur ansatzweise aufgegriffen werden. Auch die Kontrastierung mit Auffassungen von Hegel ist meist knapp gehalten, da sie in den folgenden Kapiteln deutlicher zur Sprache

13 Wolfgang Bock, Zwischen Feldzeichen und Fotografie, in: Hegel und Nietzsche – eine literarisch-philosophische Begegnung, a. a. O. S. 94 – 111. 14 A.a.O. S. 110, Anm. 15. 15 A.a.O. S. 99 f. 16 Morteza Ghasempour, Zarathustras Konzeption eine elementaren Ethik und Nietzsches Zarathustra-Rezeption, in: Ethik und Politik aus interkultureller Sicht, hrsg. von R.A.Mall und N.Schneider, Amsterdam- Atlanta 1996.

Einleitung

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kommt.17 In einer ersten Annäherung an Nietzsches Auffassungen über Kunst wird die Entwicklung seiner Position in drei Perioden gegliedert, anschließend Nietzsches theologische Prägung verstärkt in den Blick genommen. Dabei soll geklärt werden, wie sehr die religiösen Bindungen seine Befreiungen bedingt haben und welche Bedeutung die Religion in Nietzsches philosophischer Position einnimmt. Gedanken aus Nietzsches Werken werden weniger paraphrasiert, stattdessen häufiger als wörtliche Zitate angeführt, da seine eigenen Formulierungen, seine pointierte Ausdrucksweise und sein oft eigenwilliger Gebrauch der philosophischen Begriffe zum Tragen kommen sollen. Das II. Kapitel greift ebenfalls Formen der Befreiung in Nietzsches Entwicklungsgang auf. Deutlich werden soll hier vor allem, dass im Zentrum seiner philosophischen Werke »Die fröhliche Wissenschaft« steht. Gleichwohl ist dieser Höhepunkt auch als Übergang zu bewerten. »Zarathustra« und die »Lehre von der ewigen Wiederkehr« werden am Ende dieses zentralen Werkes intoniert. Demgemäß versucht die vorliegende Arbeit, die fließenden Übergänge in Nietzsches Denken widerzuspiegeln. Seine schöpferische Sprache soll u. a. durch den Bezug auf seinen aphoristischen Stil und auf die Bedeutung des Rhythmus gewürdigt werden. »Also sprach Zarathustra« kommt im III. Kapitel aus der Perspektive der zugrunde liegenden Motive auf wenige ausgewählte Aspekte reduziert zur Sprache. Damit verbunden ist die Absicht, aus dem rätselhaften Werk einige umstrittene, aber auch etliche der schönsten Passagen hervorzuheben, ohne das Werk seiner Rätselhaftigkeit allzu sehr entkleiden zu wollen. Die von Nietzsche gewählte literarische Form mit ihren vielfältigen, teils kulturübergreifenden Symbolen erfordert ein hohes Maß an Offenheit für Interpretationsspielräume. In der Konfrontation mit wesentlichen Gedanken aus Hegels »Ästhetik« sollen die Unterschiede in den Auffassungen über die Aufgabe und Wirkung der Kunst hervorgehoben, aber auch verdeutlicht werden, dass trotz der hier respektierten Rätselhaftigkeit in Nietzsches Werk begriffliche Anstrengungen zu plausiblen Lesarten führen können. Im Schlusskapitel wird Nietzsches provokantes Überschreiten mit unterschiedlichen philosophischen Positionen konfrontiert. Dabei werden differente Auffassungen über die Bedeutung von Diskursen zur Sprache gebracht. Dem Konzept der Untersuchung gemäß ist der Bezug auf Hegel von besonderem 17 Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass dem Schwerpunkt des Textes gemäß eher Hegels Gedanken zur Kunst detaillierter angeführt werden als solche zur Geschichte, zur Politik, zur Moral und Sittlichkeit. Der Hegel-Kenner Rolf-Peter Horstmann hat in einem Vortrag über »Hegels Auseinandersetzung mit Kant in der Differenz- Schrift« darauf hingewiesen, dass man sich damit abfinden müsste, über Hegels Philosophie »entweder zu pauschal oder zu detailliert« zu reden. Diese Ausführungen basieren auf seinem »Hegel-Bild«, dargestellt in D. Emundts, R.P.Horstmann: G:W.F. Hegel. Eine Einführung, Stuttgart 2002.

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Einleitung

Gewicht. In der Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie nehmen die vielfältigen Anknüpfungspunkte in der von Klaus Vieweg und Richard T. Gray herausgegebenen Schrift »Hegel und Nietzsche – Eine literarisch-philosophische Begegnung« (siehe Fn1) einen breiten Raum ein. In besonderer Übereinstimmung befindet sich die hier vertretene Position mit den erhellenden Gedanken von Klaus Vieweg in »Das Bildliche und der Begriff – Hegel zur Aufhebung der Sprache der Vorstellung in der Sprache des Begriffs«. Nietzsches Hervorheben des schaffenden Menschen erfordert eine Konfrontation von Philosophie und Dichtung, zu der Nietzsche selbst in seinen Reflexionen variierende Positionen einnimmt. In seinen Schriften sind – wie bereits in Kapitel II und III thematisiert – symbiotische Formen enthalten, in denen Philosophie und Dichtung eng verbunden sind. Zur Klärung dieser Thematik werden außer Philosophen auch Literaturwissenschaftler zitiert, da diese Perspektiven eröffnen, die über die engere philosophische Interpretation hinausgehen. Berücksichtigt ist ferner Richard Rorty, der von der Philosophie zur Literaturwissenschaft gewechselt hat. Bei ihm wird das Überschreiten Nietzsches deutlich herausgestellt. Zudem bietet er selbst eine Überschreitung Nietzsches, indem er Freuds Position gewissermaßen als Überbietung von Nietzsches Konzept darstellt.

Abb. 1: »Dionysos auf einem Tiger reitend« (Fragment eines Mosaiks)

Einleitung

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Die leitmotivische Frage der gesamten Darstellung, ob und in welcher Hinsicht Nietzsches Philosophie als Kunst gelten kann, führt zu grundlegenden Gedanken über Nähe und Distanz zwischen Philosophie und Kunst. Dazu sind einige Aspekte angeführt, die für Nietzsches Auffassung als besonders relevant gelten können. Statt der vielfach thematisierten Wirkungen Nietzsches auf die Kunst, insbesondere dessen Rezeption in dem Expressionismus, wird Nietzsches Denken, das von starken Anklängen an die Musik geprägt ist, hier mit Elementen der Malerei des Impressionismus verglichen. Darin sehe ich eine Möglichkeit, den nur knappen Bezug Nietzsches auf die bildende Kunst zu erweitern. Das Aufzeigen von Parallelen zwischen Nietzsches Denken und der impressionistischen Malerei soll zu einer weiteren Klärung von Nietzsches Philosophie beitragen, insbesondere den Charakter seiner ästhetisch geprägten Werke hervorheben.

I. Dionysos als Gegen-Bild und Symbol der Befreiung

1.

Nietzsches Denkweg

Nietzsche legt in seiner Philosophie einen weiten Denkweg zurück und ist zugleich wegweisend für Künftiges. Von den frühesten Zeugnissen aus seiner Zeit als Schüler in Naumburg und Schulpforta bis zu den letzten Äußerungen seines Denkens in den so genannten Wahnsinnszetteln werden seine Genialität, sein Tiefsinn und seine Weitsicht deutlich. Seine Entwicklung ist geprägt von zahlreichen Wandlungen, in denen als ein Merkmal seines Philosophierens der subjektive Bezug erhalten bleibt. Die Verbindung von Denken und Leben ist bei Nietzsche kein bloßes Postulat, sondern in seiner Lebensgeschichte ablesbar. Er ist davon überzeugt, »dass sein Leben, Leiden und Denken exemplarischen Charakter haben.«18 Seine großen Themen klingen bereits in seinen ersten Texten an. Die humanistische Bildung im Gymnasium bietet ihm Anlass, sich mit mythischen Gestalten und Denkern der Antike zu befassen. So entwirft er 1859 ein Prometheus-Drama, in dem Prometheus mit Selbstbewusstsein daran erinnert, dass er Zeus vom Thron gehoben habe. Am Schluss verkündet der Chor der Menschen, dass sie sich nur Göttern unterwerfen, die frei von Schuld sind19. Die bei Nietzsche sich anbahnende Auflehnung gegen Gott bleibt vorerst begrenzt durch den religiösen Einfluss von Elternhaus und Schule. Nach einer Vertiefung in die Genealogie der Weltreligionen schreibt er, dass sie »tiefsinnigen Männern« zu verdanken seien, »die von den Schwingen ihrer ungezügelten Einbildungskraft getragen sich als Gesandte der höchsten Götter ausgaben.«20 Die Frage nach den Ursprüngen, nach dem Genealogischen bleibt in seinen künftigen Reflexionen von Bedeutung. Auffallend bei den frühen autobiogra18 So Rüdiger Safranski in: Nietzsche – Biographie seines Denkens, München/Wien, 2000, S. 19. 19 Friedrich Nietzsche: Jugendschriften in fünf Bänden. Hrsg. von Hans Joachim Mette und Karl Schlechta (BAW) München 1994, Bd. 1, S. 68. 20 A.a.O., S. 239.

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Dionysos als Gegen-Bild und Symbol der Befreiung

phischen Aufzeichnungen ist, dass er sich bei allem Enthusiasmus nicht in Schwärmerei verliert. Nach Einschätzung von Rüdiger Görner ist es »nicht nur wohlgefällige Selbstbetrachtung, … sondern ein erstaunlich selbstkritisches Vermögen.«21 Die Kunst nimmt sowohl in der praktischen Betätigung, im Musizieren mit Freunden und ersten Kompositionen, als auch in der Verschriftlichung seiner Gedanken eine zentrale Rolle ein. Auch der Bezug auf die Natur und vor allem die Bewegung im Freien finden in Nietzsches Autobiographie ihren Niederschlag. Seine frühen Schilderungen von glücklichen Erlebnissen beziehen sich u. a. auf einsame Spaziergänge, das Schwimmen in der Saale sowie auf »Zaubernächte« beim Eislauf. Das »peripatetische« Philosophieren gelangt später zur höchsten Ausprägung, wenn Nietzsche die Entstehungsorte für den »Wiederkunftsgedanken« und seinen Zarathustra benennt. Der »Ewige-Wiederkunfts-Gedanke«, der in den August des Jahres 1881 fällt, ist von Nietzsche auf ein Blatt »hingeworfen« unter der Überschrift »6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit«.22 Er geht an jenem Tage durch die Wälder von Silvaplana, als ihm »bei einem mächtig pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlej« der Gedanke kommt. Im Winter 1882 lebt er in der »anmutig stillen Bucht von Rapallo unweit Genua« und steigt dort »in die Höhe, an Pinien vorbei und weitaus das Meer überschauend.«23 Für diese Wege konstatiert er, dass ihm der ganze erste Zarathustra einfiel, »vor allem Zarathustra selber, als Typus: richtiger, er überfiel mich …«24 Den zweiten Zarathustra findet er im Sommer 1883, »heimgekehrt zur heiligen Stelle, wo der Zarathustra-Gedanke« ihm geleuchtet hat.25 Für den dritten Zarathustra führt Nietzsche den »halkyonischen Himmel Nizzas« als Entstehungsort an. »Viele verborgene Flecke und Höhen aus der Landschaft Nizzas sind mir durch unvergessliche Augenblicke geweiht; jene entscheidende Partie, welche den Titel ›Von alten und neuen Tafeln‹ trägt, wurde im beschwerlichsten Aufsteigen von der Station zu dem wunderbaren Felsenneste Eza gedichtet – die Muskel-Behendheit war bei mir immer am größten, wenn die schöpferische Kraft am reichsten floß.«26 So bedeutungsvoll wie die Parallelität vom Bewegen der Gedanken und der Beine ist für Nietzsche die Gleichwertigkeit von Gedanken und Stil. Besonderen Einfluss nehmen dabei seine literarischen Entdeckungen während der Zeit in Schulpforta von Sallust und Hölderlin. In seiner Würdigung von Hölderlin zeigt er sich fasziniert von der »wohlklingenden Bewegung seiner Prosa« im ›Hyperion‹ und vergleicht sie 21 22 23 24 25 26

R. Görner, a. a. O., S. 28. »Ecce homo«, Frankfurt/M., 1. Aufl. 1977, S. 103. A.a.O., S. 104. A.a.O., S. 105. A.a.O., S. 108. Ebd.

Nietzsches Denkweg

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mit dem »Wellenschlag des erregten Meeres«. Diese Prosa ist »Musik« für ihn, er schätzt sie aber zugleich wegen ihrer »Gedankenfülle«.27 Als erster richtungsweisender Aufsatz von Nietzsche kann »Fatum und Geschichte« angesehen werden. In diesem Zusammenhang verweist R. Görner auf einen Brief an die Schwester Elisabeth, in dem er sie anhält, mindestens zweimal wöchentlich in die Bildergalerie von Dresden zu gehen. Für Nietzsche selbst bildet der Aufenthalt in Dresden »den farbenreichen Hintergrund für die Prosa meines Alltagslebens!«28 Der vielerorts vertretenen Auffassung, dass Nietzsche zur bildenden Kunst keine »ursprüngliche Beziehung« entwickelt habe, kann man – so Görner – angesichts neuerer Forschungen nur mit erheblichen Vorbehalten zustimmen. »Festzuhalten gilt, daß Nietzsche die interpretierende Verschriftlichung von Bildern suchte – als eine die Phantasie beflügelnde Gegenprosa zur ›Prosa des Alltagslebens‹!«29 Für die Zeit des ästhetischen Bildungserlebnisses ›Dresden‹ konstatiert Görner einen Durchbruch im Denken Nietzsches. An seine Freunde Pindar und Krug schreibt Nietzsche als Schüler, dass der ›Weltschmerz‹ ein christliches Produkt sei. Im Hinduismus sei dies undenkbar, da er das Fatum als die Taten begreife, »die wir in unserem früheren Zustande unseres Seins begangen haben.«30 Hier sind frühe Anzeichen für Nietzsches Abkehr vom Christentum zu erkennen, die im nächsten Abschnitt (I,2) thematisiert werden sollen. Auch das bezogen auf sein Gesamtwerk berechtigte Urteil, dass er ein »Denker der Interkulturalität«31 sei, findet hier erste Anhaltspunkte. Neu hinzu tritt in Nietzsches Horizonterweiterung das Denkbild des Kreises. In dem bereits genannten Aufsatz »Fatum und Geschichte« bedient er sich zur Beschreibung der klassischen Konfliktsituation von Einzelwillen und Gesamtwillen nicht mehr der Vorstellung von Stufen. »Alles bewegt sich in ungeheuren immer weiter werdenden Kreisen um einander ; der Mensch ist einer der innersten Kreise. Will er die Schwingungen der äußeren ermessen, so muss er sich und den nächsten weiteren Kreise[n] auf noch umfassendere abstrahieren. Diese nächst weiteren sind Völker-, Gesellschaft[s]- und Menschheitsgeschichte. Das gemeinsame Centrum aller Schwingungen, den unendlich kleinen Kreis zu suchen, ist Aufgabe der Naturwissenschaft.«32 Nietzsche stellen sich viele Fragen: »Hat dies ewige Werden nie ein Ende? Was sind die Triebfedern dieses großen Uhrwerks? […] könnte man als Triebfedern Friedrich Nietzsche, Jugendschriften in fünf Bänden. (BAW), München 1994, S. 3. Zit. Nach Görner, a. a. O., S. 43. Ebd. BAW 2, S. 61. Vgl. Elke Angelika Wachendorff, Friedrich Nietzsche – Denker der Interkulturalität, Nordhausen 2006. 32 BAW 2, S. 57. 27 28 29 30 31

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Dionysos als Gegen-Bild und Symbol der Befreiung

nicht die immanente Humanität nehmen? Oder lenken höhere Rücksichten und Pläne das Ganze? Ist der Mensch nur Mittel oder ist er Zweck?«33 Nietzsches Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Fatum und freiem Willen bezeichnet Görner als einen synästhetischen Zirkelschluß»34 : »Der freie Wille erscheint als das Fessellose, Willkürliche; er ist das unendlich Freie, Schweifende, der Geist. Das Fatum aber ist eine Notwendigkeit, wenn wir nicht glauben sollen, daß die Weltgeschichte ein Traumesirren, die unsäglichen Wehen der Menschheit Einbildungen, wir selbst Spielbälle unserer Phantasien sind. Fatum ist die unendliche Kraft des Widerstandes gegen den freien Willen; freier Wille ohne Fatum ist ebenso wenig denkbar, wie Geist ohne Reelles, Gutes ohne Bößes.«35 Der Blick auf die Geschichte dient dem jungen Nietzsche zunächst für die eigene Stilbildung, später eröffnet er ihm eine Vielfalt von Überlegungen, die zu Abgrenzungen, Bewertungen und zur Schärfung seiner eigenen Perspektiven führen. Nicht die systematische Betrachtung der Abfolge, vielmehr die Frage nach dem Ursprung, nach den Auswirkungen und den Schlussfolgerungen steht dabei im Vordergrund. Eine Systematisierung bietet Nietzsche allerdings in seiner Schrift »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, um zu verdeutlichen, dass die Geschichte in dreierlei Hinsicht dem Lebendigen gehört: »Sie gehört ihm als Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: Sofern es erlaubt ist eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie zu unterscheiden.«36 Der monumentalische Historiker sucht Schutz und einen Ehrenplatz im Tempel der Historie, »wo er selbst wieder dem Späterkommenden Lehrer, Tröster und Warner sein kann.«37 Während der antiquarische Historiker das Bestehende pflegen und bewahren will, ist die dritte Art, die Vergangenheit zu betrachten, notwendig um Vergangenes zu zerbrechen und aufzulösen. Im Vorwort betont Nietzsche bereits mit Bezug auf das Goethe-Zitat (›Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben‹), dass wir die Historie anders brauchen »als der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens.« »… wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, und nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat.«38 33 34 35 36 37 38

A.a.O., S. 56. Görner, a. a. O., S. 47. BAW 2, S. 61. »Vom Nutzen und Nachteil der Historie«, KSA 1, S. 258. A.a.O., S. 259. A.a.O., S. 245.

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Der Mensch muss die Kraft haben, die kritische Historie von Zeit zu Zeit anzuwenden, um Vergangenes zu verurteilen. »Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättliche sich selbst begehrende Macht.«39 Aber selbst, wenn die Gerechtigkeit das Urteil fällen würde, wäre der Spruch ebenso ungnädig. Nietzsche stützt seine These, dass viel Kraft dazu gehöre, leben zu können und zu vergessen, inwiefern leben und ungerecht sein eins seien, auf eine Äußerung Luthers. Dieser habe einmal gemeint, »daß die Welt nur durch eine Vergesslichkeit Gottes entstanden sei: wenn Gott nämlich an das ›schwere Geschütz‹ gedacht hätte, er würde die Welt nicht geschaffen haben.«40 Die Forderung Nietzsches, die Vergangenheit in dieser Weise kritisch zu betrachten, wenn es um die ungerechte Existenz eines Dinges, eines Privilegs, einer Kraft, einer Dynastie gehe, mündet in eine jener irritierenden Passagen, die in der vereinseitigten Sicht des Nationalsozialismus zum Missbrauch Anlass boten: »dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg.«41 Menschen und Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, sind nach Nietzsches Auffassung immer gefährlich und zugleich gefährdet. Als Resultat früherer Geschlechter »sind auch wir die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen.«42 Diese Schuldverstrickung (theologisch formuliert), bzw. das Gebundensein in Lebenszusammenhänge mit Lasten aus der Vergangenheit weicht in »Menschliches, Allzumenschliches« einer optimistischeren Perspektive. In Teil II (»Der Wanderer und sein Schatten«) formuliert Nietzsche unter der Überschrift »Zürnen und Strafen hat seine Zeit« eine Utopie für das Mündigwerden des Menschen »einige Jahrtausende vorwärts« auf der Grundlage der bereits überwundenen Entfernung, der erreichten Annäherung und unter der Voraussetzung, dass die Entwicklung der menschlichen Vernunft nicht stille steht. »Einstmals wird man die logische Sünde, welche im Zürnen und Strafen einzeln oder gesellschaftsweise geübt, verborgen liegt, nicht mehr übers Herz bringen : wenn Herz und Kopf so nah bei einander zu wohnen gelernt haben, wie sie jetzt noch einander ferne stehen.«43 Nietzsche gelangt auf seinem Denkweg, der sich in mancher Hinsicht den im »Zarathustra« beschriebenen Verwandlungen vom Kamel über den Löwen zum Kinde nachvollziehen lässt, im Blick auf den ganzen Gang der Menschheit zu einer hoffnungsvollen Perspektive. Als entscheidende Voraussetzung für ein 39 40 41 42 43

A.a.O., S. 269. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 230. »Menschliches, Allzumenschliches« II (Wan. 183), KSA 2, S. 631.

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friedlicheres Zusammenleben wird die Freude herausgehoben. »Seit es Menschen giebt, hat sich der Mensch zu wenig gefreut … Und lernen wir besser uns zu freuen, so verlernen wir am besten Anderen wehe zu thun und Wehes auszudenken.«44 Hegel, in dessen Philosophie die Geschichte von zentraler Bedeutung ist, hat sie als Prozess der Verwirklichung der Vernunft verstanden. Begriffen werden könne die reale Geschichte nur als eine Entwicklung des Weltgeistes zur Gegenwart. »Es muß endlich an der Zeit seyn, auch diese reiche Production der schöpferischen Vernunft zu begreifen, welche die Weltgeschichte ist; ob es an der Zeit ist, zu erkennen, muß davon abhängen, ob das, was Endzweck der Welt, endlich auf allgemeine, bewusste Weise in die Wirklichkeit getreten; diß-Verstehen unserer Zeit.«45 Wie eingangs angeführt, hat Nietzsche als Verdienst Hegels gewürdigt, dass er den Begriff »Entwicklung« in die Wissenschaft gebracht habe. Bezogen auf die modernen Menschen registriert Nietzsche ein »unermüdliches Zerspinnen und Historisieren alles Gewordenen« und ein Bekümmertsein über das »Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente«46 Er empfiehlt – anders als die Moralisten, Künstler und auch Staatsmänner – sich einmal zu erheitern, »dadurch, daß wir dies alles im glänzenden Zauberspiegel eines philosophischen Parodisten sehen.«47 Hegel habe uns gelehrt, ›wenn der Geist einen Ruck macht, da sind wir Philosophen auch dabei‹; die Zeit mache einen »Ruck zur Selbstironie, und siehe! Da war auch E. von Hartmann dabei und hatte seine berühmte Philosophie des Unbewußten – oder um deutlicher zu reden – seine Philosophie der unbewußten Ironie geschrieben.«48 Wer durch ihn nicht über das Werden aufgeklärt, innerlich aufgeräumt werde, sei reif zum Gewesensein. Hartman verkünde uns, »daß unsere Zeit uns gerade so sein müsse, wie es ist, wenn die Menschheit dieses Dasein einmal ernstlich sattbekommen soll.«49 Nietzsches Ironie richtet sich hier also nicht gegen Hegel, dessen Position insbesondere bezogen auf seinen berühmten – oft falsch verstandenen – Satz in der Vorrede zu den »Grundlinien der Philosophie des Rechts« ›Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig‹ als Rechtfertigung bestehender Missstände bewertet wird, sondern gegen den verflachten Hegelianismus. Zum Vergleich der Hegelschen Geschichtsauffassung mit der Perspektive Nietzsches ist aus den von Hegel zu Grunde gelegten allgemeinen Ka44 »Also sprach Zarathustra«, KSA 4, S. 114. 45 G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt a.M. 1969, Bd. 18, S. 149 f. 46 »Vom Nutzen und Nachteil…«, KSA 1, S. 313. 47 Ebd. 48 A.a.O., S. 314. 49 Ebd.

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tegorien der Veränderung, der Erneuerung und des Endes der Geschichte die letztere von großem Gewicht. Für Hegel ist das Ende der Geschichte die endgültige Versöhnung von Natur und Geist, die Idee des ewigen Friedens der Endzweck der Welt.50 In Nietzsches gesamtem Werk ist hingegen das Element der Erneuerung maßgeblich für Denken und Handeln – auch in der historischen Betrachtung. Der Blick auf das Ende gewinnt eine von Hegels Auffassung deutlich unterschiedene Gestalt. Das Teleologische weicht dem Gedanken der »Ewigen Wiederkehr«, an die Stelle des Linearen tritt vornehmlich das oben bereits genannte Denkbild des Kreises. Unter dem Aspekt über die Befreiung von der Metaphysik konstatiert Nietzsche, dass die Aufgeklärtesten es nur so weit brächten, mit Überlegenheit auf sie zurückzusehen: »während es doch auch hier, wie im Hippodrom nottut, um das Ende der Bahn herumzubiegen.«51 Das Bild des Kreises wird erweitert zu einem Oval, so dass eine für Nietzsche typische Variation ins Spiel kommt. Die Fortbewegung im Hippodrom bedeutet zwar auch wie im Kreis ein Wiederkehren auf der gleichen Bahn, aber es gibt lineare Strecken, nach denen ein Umbiegen erfolgt. Der Wechsel von der vorübergehend eingenommenen geraden Richtung – die als notwendig und sinnvoll gelten kann – in eine Rundung führt zu einer neuen Perspektive. Nietzsche verwendet in verschiedenen Zusammenhängen auch den Hegels System verwandt scheinenden Begriff der Stufen, aber dabei wird – wie häufig bei Nietzsche – das Ende verneint. Er hält eine rückläufige Bewegung für nötig. Wenn der Mensch auf der Stufe der Befreiung angelangt sei, würde er sich der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben, wenn er nicht erkennt, woher die größte Förderung gekommen sei. Es seien noch zu wenige, »welche einige Sprossen rückwärts steigen; man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen.«52 Zu dem Rückwärtssteigen Nietzsches gehört seine Auseinandersetzung mit 50 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 11 – 14. Zu dem oft missverstanden Begriff vom »Ende der Geschichte« gibt es umfangreiche Literatur. Einer der bedeutenden Interpreten ist Otto Pöggeler, der zu seinen Schriften in einem Vortrag eine Aktualisierung vorgenommen hat, in dem er einen Bogen von Hegels zu Fukuymas »Ende der Geschichte« spannt. Vgl. Studium generale (http://studgen.uni-mainz.de/index.php) 51 »Menschliches, Allzumenschliches« I, KSA 2, S. 42. Bei Hegel gibt es in Anbetracht der Orientierung an dem Entwicklungs- und Fortschrittsgedanken eine ausgeprägte Linearität. Dieser wird allerdings seiner dialektischen Methode gemäß das Bild des Kreises hinzugefügt. Jeder Teil der Philosophie ist für ihn ein philosophisches Ganzes, »ein sich in sich selbst schließender Kreis.« Da der einzelne Kreis aber in sich »Totalität« ist, durchbricht er »auch die Schranke seines Elementes und begründet eine weitere Sphäre; das Ganze stellt sich daher als ein Kreis von Kreisen dar.« Vgl. § 15 in Hegels »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« I, in Bd. 8, S.60. Auf diesen Aspekt wird in Kap. IV,3 im Zusammenhang der Kritik Derridas an Hegel erneut Bezug genommen. 52 Nietzsche, a. a. O., S. 42.

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der griechischen Antike. In den Griechen sieht er die »Erstlinge und Vorbilder aller Kulturen«, die am glücklichsten den ererbten Schatz bereichert und vermehrt hätten. »Die Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisieren, dadurch, daß sie sich, nach der delphinischen Lehre, auf sich selbst, das heißt auf ihre echten Bedürfnisse zurückbesannen und die Schein-Bedürfnisse absterben ließen.«53 Befremdlich wirkt in diesem Zusammenhang Nietzsches Betonung des Erfolgs durch Abwehr ausländischer Einflüsse. Die Griechen hätten niemals in »stolzer Unberührtheit« gelebt, ihre Bildung sei lange Zeit ein Chaos von semitischen, babylonischen, lydischen, ägyptischen Formen und Begriffen gewesen und ihre Religion »ein wahrer Götterkampf des ganzen Orients«; aber die hellenische Kultur sei kein »Aggregat« geworden. In ähnlicher Gefahr sieht Nietzsche seine eigene Zeit, »nämlich aus der Überschwemmung durch das Fremde und Vergangene, an der ›Historie‹ zugrunde zu gehen.«54 Zu beachten ist dabei allerdings, dass sich Nietzsche gegen die dekorative Kultur wehrt, die immer nur »nachspricht, nachlernt und nachahmt« und dass er zur Entschleierung des griechischen Begriffs gelangen möchte, wonach Kultur eine »Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen« beinhaltet.«55 Zudem spricht es auch für Nietzsches Realitätssinn, wenn er sich fragt, wie viel Fremdes die ›deutsche Bildung‹ in seiner Zeit verträgt, ähnlich der bereits zitierten Frage aus dem Vorwort von ›Ecce homo‹: »Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?« Sein überzeugtes Europäertum und sein interkulturelles Denken gehen weit über den Standpunkt Hegels hinaus. Für Nietzsches Kritik am Deutschtum gibt es vielfältige Belege. So beklagt er u. a. das Fehlen eines großen Erziehungsmittels bei den Deutschen »das Gelächter höherer Menschen; diese lachen nicht in Deutschland.«56 Auch die Ausprägung von Nietzsches Kunstverständnis zeigt Berührungspunkte und Abgrenzungen von Hegels Auffassung. Hegel hat in seiner umfangreichen ästhetischen Theorie unter der Überschrift »Das Kunstwerk als Produkt menschlicher Tätigkeit« die Frage nach dem Bedürfnis aus dem die Kunst »quillt«, mit dem Begriff der »Verdoppelung« beantwortet. Der Mensch verdoppelt sich erstens theoretisch »insofern er im Inneren sich selbst zum Bewusstsein bringen muß, was in der Menschenbrust sich bewegt, … und überhaupt sich anzuschauen, vorzustellen, … sich zu fixieren.« – Zweitens verdoppelt sich der Mensch durch praktische Tätigkeit, um sich selbst hervor53 »Vom Nutzen und Nachteil …«, KSA 1, S. 333. Später betont Nietzsche demgegenüber, dass sich die Griechen als ein Volk der Lernenden verstanden; sie »waren vielmehr unaufhörlich darauf bedacht, durch regen Austausch mit dem Fremden zu lernen.« (»Nachgelassene Fragmente«, KSA 8, S. 59). 54 Ebd. 55 A.a.O., S. 334. 56 »Fröhliche Wissenschaft«, Aph. 177, KSA 3, S. 501.

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zubringen und zu erkennen, »durch Veränderungen der Außendinge, welchen er das Siegel seines Inneren aufdrückt und in ihnen seine eigenen Bestimmungen wieder findet. Der Mensch tut dies, um als freies Subjekt auch der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen.«57 In kritischen Äußerungen über Hegels Ästhetik wird u. a. die Formulierung »der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen« als Beleg angeführt, dass für Hegel Natur das »Noch-Nicht-Begriffene« sei, das es zu bezähmen gelte. Kunst habe zwar die Bedeutung einer Vermittlerin zwischen Geist und Natur, stehe aber auf der untersten Stufe in dem Gang zum absoluten Geist. Der Kunsthistoriker Beat Wyss hat in »Trauer der Vollendung«58 eine detaillierte Kritik an Hegels Ästhetik entwickelt. In dem Kapitel »Hegels letzter Gang durch ein Museum« betont er Hegels Leistung, die Wissenschaftsfähigkeit der Kunst begründet zu haben. Dass Hegel die Kunst in die Sphäre des Geistigen erhoben habe, sei »zugleich ein Verdienst und Verhängnis für die Kunst.«59 Der Satz Hegels ›Das Reich der schönen Künste ist das Reich des absoluten Geistes‹ scheine zunächst schmeichelhaft, die Annäherung an die Wissenschaft bedeute aber auch ihr Ende. Mit seiner Dialektik habe Hegel »das raffinierte Instrument zur Disziplinierung der Natur« entwickelt.60 Boull¦es Tempel der Vernunft liefert nach Auffassung von Beat Wyss eine »vortreffliche Illustration« des Geist-NaturBegriffs, wie ihn der deutsche Idealismus entwickelt habe; die »regulierende Vernunft« strebe »zur Idee der Einheit.«61 Differenzierter als Beat Wyss hat sich Eva Geulen in der bereits in der Einleitung zitierten Schrift62 mit Hegels Gedanken über ein Ende der Kunst auseinander gesetzt. Schon mit dem Untertitel »Lesarten eines Gerüchts nach Hegel« verweist sie auf die gebotene Vorsicht im Umgang mit dieser Redewendung. Die Langzeitwirkung – nur Weniges aus dem Hegelschen Korpus sei derart ungebrochen aktuell geblieben – habe das Ende der Kunst auch entwickelt, »weil es schon bei Hegel so dicht von Widersprüchen und Fragwürdigkeiten umgeben ist, dass bisher noch nicht einmal Einigung darüber erzielt werden konnte, ob es überhaupt eine Hegelsche Rede vom Ende der Kunst gibt.«63 Hegels Feststellung, dass Kunst für uns etwas »Vergangenes« sei, stellt

57 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, suhrkamp taschenbuch, Frankfurt a.M., 1970, S. 51. 58 Beat Wyss, Trauer der Vollendung – Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkritik der Moderne, 2. Aufl., München, 1989. 59 A.a.O., S. 197. 60 A.a.O., S. 212. 61 A.a.O., S. 222. 62 Eva Geulen, Das Ende der Kunst – Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt am Main, 1. Aufl. 2002. 63 A.a.O., S. 22. Einen guten Überblick über die »schier endlose Literatur« zum Thema Ende

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Geulen die am Ende derselben Einleitung zu den »Vorlesungen über Ästhetik« I von ihm geäußerte Hoffnung gegenüber, dass ein Ende der Kunst vorläufig nicht zu befürchten sei.64 Für Geulen ergeben sich unter der Voraussetzung, dass Hegels Ästhetik ein Ende der Ästhetik behaupte, drei mögliche Positionen. Entweder wäre dies als Verlust zu beklagen, als Emanzipation zu feiern oder als Entlastung der Kunst von philosophischen Wahrheitsverpflichtungen zu begrüßen.65 Da ihrer Meinung nach Hegels Text jede dieser Positionen möglich, aber keine zwingend mache, entstehe ein »Interpretationsstrudel«. Sie moniert, dass die Rede über »Hegels These vom Ende der Kunst« derart verbindlich geworden sei, so dass auch diejenigen, die es besser wissen könnten und hinzusetzten, dass es richtiger sei vom »Vergangenheitscharakter der Kunst« zu reden, doch bei der Formulierung blieben, weil sie längst zur »stehenden Redewendung erstarrt« sei.66 Bei der weiteren Entfaltung bezieht sich Eva Geulen u. a. auf die Interpretationen von Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy, deren Bezug auf Hegel auch in der vorliegenden Arbeit im Schlusskapitel berücksichtigt wird. Als Antipoden zu Hegel benennt sie Nietzsche, der mit seiner »Entgrenzung« der Kunst über Hegel hinausgehe.67 Bevor sie in dem eigens Nietzsche gewidmeten Kapitel dessen »rückläufige Bewegung« (S. 61 – 87) darstellt, weist sie vorsorglich darauf hin, dass mit der gewöhnlichen Kennzeichnung der Position Nietzsches mit »Ästhetizismus« das Problem, das Nietzsche entdeckt habe, nur ungenügend benannt sei.68

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der Kunst gibt ihrer Meinung nach u. a. Otto Pöggeler, Hrsg., Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik, Bonn: Bouvier 1986 (Hegel-Studien, Beiheft 27). Eva Geulen, a. a. O., S. 22. A.a.O., S. 23. Auf diese Fragestellungen wird in Kap. IV näher eingegangen. Ebd. A.a.O., S. 60. Ebd. Zu den erfreulichen Klarstellungen Eva Geulens über Hegel zähle ich ihre Zurückweisung der von Boris Groys vertretenen Auffassung, der ähnlich wie Beat Wyss Hegel vorwirft, die ganze Welt als Museum zu begreifen und den musealen Blick zu totalisieren. Dem stellt Geulen entgegen, dass Hegels Philosophie sich gegen die Welt als totales Museum als »immun« erweise. »Denn die Einhegung der musealen Logik in jenem Museum, das die klassische Kunst darstellt, bezieht sich allein und ausschließlich auf die Kunst. Das ist keine endgültige Grenze, sondern eine virtuelle, denn nur wo Grenzen gezogen werden und Museen eingerichtet werden, bleiben Austausch und Veränderung möglich. (Daß eine Grenze benennen auch sie schon überschreiten heißt, wusste Hegel gegen Kant geltend zu machen. Daß eine Grenze nur zu überschreiten ist, wo neue Grenzen gezogen werden, indem anders sortiert und gesammelt wird, beweist bis heute seine Ästhetik).« (ebd.) In einem gewissen Kontrast zu der Auffassung Eva Geulens, dass Hegels Grenzziehung Überschreitungen nicht ausschließe, steht m. E. Dieter Henrichs Kritik an Hegel bezüglich der Reflexionsbildung der Kunst. Es lasse sich leicht einsehen, dass der Raum den Hegel ihr zugestehe noch immer zu eng bemessen sei. »Hegel hat die Reflektiertheit des Kunstwerks selbst nicht eingeräumt. Er konnte die Reflexion bestenfalls als die Bildung des poeta doctus beschreiben, der Künstler ist, ohne dass ihm die Kunst die Vollendung des Wissens von sich bedeutet. Wider Willen bestätigt jedoch seine eigene Theorie, dass das Kunstwerk selbst den Charakter besitzen

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Unter dem Stichwort »Negative Bilanz bei allen Künsten« verweist Wyss zu Recht auf den Unterschied zwischen dem jungen Hegel, der im »Systemfragment« noch ein Verschmelzen von Kunst und Religion durch die Philosophie für möglich hielt – die allgemeine Freiheit würde erreicht sein, »wenn das Volk sich zur Vernunft erhöbe und das Denken zugleich hinab tauche in die Farben des Mythos, …denn um das Denken farbig zu beleben, hätte es nichts Geringerem bedurft als › die Philosophen sinnlich zu machen ‹« – und dem späteren Hegel, für den der kulturelle Fortschritt im stets › sinnlichkeitsloseren Erfassen des Absoluten ‹ bestanden habe.69 Hierbei vernachlässigt Beat Wyss allerdings, dass Hegel für die Stufe des absoluten Geistes solche Abstraktionen von der Sinnlichkeit vorschwebten, für die Kunst aber ein Zusammenwirken von Geist und Sinnlichkeit von ihm als notwendig erachtet wurde (vgl. Vorlesungen über Ästhetik I, S. 63). Im Vorwort zur 2. Auflage, in dem Wyss die »Rettung der Bilder vor dem Begriff« als Hauptabsicht seines Buches bekundet, hat er Hegel mit den Worten gewürdigt, dass dieser »eine frühe, genial entwickelte Ausprägung einer modernen ästhetischen Haltung« vortrage.70 In seinem Epilog formuliert Wyss seine eigene Position, nach der Kunst nicht an die Bedürfnisse herrschender Vernunft zu binden sei, und kulturelle Tätigkeit aus dem Bedürfnis entstehe, »das Schweigen der Welt zu brechen.«71 Nietzsches Philosophie lässt sich als Denkweg interpretieren, auf dem Kunst und Kultur fortwährende Kristallisationspunkte bilden. Im Zentrum seiner kritischen Auseinandersetzungen steht Kultur in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist es – wie oben skizziert – sein Bezug auf die Ursprünge der Kultur, zum anderen geht es um die Bewertung der kulturellen Ausprägungen seiner Zeit. Eine weitere Dimension rückt die Kultur in den Zusammenhang der Bildung, der »Humanitätsbildung«, wie Nietzsche sie in seinen »Basler Vorträgen«72 entfaltet hat. Auf noch vielfältigere Weise thematisiert Nietzsche die Kunst. Seine Reflexionen und Wertungen führen zur Provokation bei Philologen und Philosophen, während die Künstler vieler Fachrichtungen sich als von ihm inspiriert bekennen. Um 1900 – dem Todesjahr Nietzsches – hat seine Wirkung bereits eingesetzt, und der Anfang des 20 Jahrhunderts wird häufig als nietzscheanisch gestimmt beurteilt. Stellvertretend sei Thomas Mann angeführt, der neben kriti-

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muß, reflektiert zu sein und sich selbst als Werk der Kunst zu implizieren.« Dieter Henrich, Fixpunkte – Abhandlungen und Essays zur Theorie der Kunst, 1. Aufl. 2003, Frankfurt am Main. Auf ähnliche Fragen zu den Kunstwerken wird in Kap. IV näher eingegangen. Zu Dieter Henrich gilt es zu betonen, dass er trotz einiger kritischer Einwände in vielen Schriften die Aktualität Hegels, auch die seiner Ästhetik, deutlich herausgestellt und detailliert interpretiert hat. Beat Wyss, a. a. O., S. 144 f. A.a.O., S. 13. Auch hier lässt sich eine Nähe zu Nietzsche konstatieren. A.a.O., S. 350. »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten«, KSA 1, S. 641 – 752.

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schen Äußerungen und Distanzierungen Nietzsche rühmt, er »verlieh der deutschen Sprache eine Sensitivität, Kunstleichtigkeit, Schönheit, Schärfe, Musikalität, Akzentuiertheit und Leidenschaft – ganz unerhört bis dahin und von unentrinnbarem Einfluss auf jeden, der nach ihm Deutsch zu schreiben sich erkühnte.«73 Auch seine »Verabschiedung« von Nietzsche mit Verweis auf dessen »Irrtümer« leitet Thomas Mann mit einem Superlativ ein: »wahrlich nach einer Gestalt, faszinierender als die des Einsiedlers von Sils Maria sieht man sich in der Weltliteratur und Geistesgeschichte vergebens um.«74 Im Blick auf Nietzsches gesamten Denkweg lassen sich drei Perioden unterscheiden, in denen Nietzsches Kunstauffassung teils recht differente Ausprägungen erfährt. a) Die erste Phase ist von einer metaphysischen Orientierung gekennzeichnet, die in der »Geburt der Tragödie«75 ihren Niederschlag findet und durch die Freundschaft mit Richard Wagner ihre Bekräftigung. In der Bedeutung von Kunstwerken haben die Menschen ihre »höchste Würde« – »denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.«76 Nietzsche sieht in der Kunst die »rettende, heilkundige Zauberin«, die es vermag, »jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden.«77 Die Fortentwicklung der Kunst ist für ihn gebunden an die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen. Die Griechen hätten ihre Kunstanschauung nicht in Begriffen, sondern in Gestalten der Götterwelt deutlich gemacht. Apollo steht für die bildnerischen, bildhaften und bildschaffenden Kräfte, die dem Traum zuzuordnen sind, während Dionysos die musikalischen Elemente verkörpert, die aus dem Rausch hervorgehen. Zunächst sind die beiden Triebe als getrennte Kunstwelten zu denken; wobei der Zauber des Dionysischen nicht nur den Bund zwischen Mensch und Mensch zusammenschließe, sondern »die entfremdete, feindliche und unterjochte Natur« mit dem Menschen »ihr Versöhnungsfest« feiere.78 Diese Auffassung hat deutliche Berührungspunkte mit Hegels Ästhetik, in der – wie oben bereits zitiert – der Natur im Schaffen des Künstlers die »spröde Fremdheit« ge-

73 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, in : ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Frankfurt a.M. 1960, S. 88. 74 Ebd. 75 »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« (GdT), KSA 1, S. 11 – 156. 76 A.a.O., S. 47. 77 A.a.O., S. 57. 78 A.a.O., S. 29.

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nommen werden soll, und die Kunst eine Vermittlerrolle einnimmt.79 Zur Annäherung an das Dionysische verweist Nietzsche auf die bildkräftigen Mythen der Antike und auf die Musik Beethovens. Der Wagen des Dionysos ist mit Blumen und Kränzen überschüttet: »unter seinem Joch schreiten Panther und Tiger. Man verwandle das Beethovensche Jubellied der ›Freude‹ in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück.«80 Schopenhauer, dessen Schrift »Die Welt als Wille und Vorstellung« Nietzsches Weg von der Philologie zur Philosophie maßgeblich beeinflusst hat und den er als seinen Lehrer und Erzieher bezeichnet, nimmt auch in der »Geburt der Tragödie« neben Wagner einen wichtigen Platz ein. Das Apollinische verdeutlicht Nietzsche, indem er Bezug nimmt auf das von Schopenhauer angesichts einer Welt von Qualen als stützendes Element vertretene ›principium individuationis‹. Schopenhauer habe nur das Grausen geschildert, das den Menschen ergreift, wenn er an den Erkenntnisformen der Erscheinung irre wird. Nietzsche nimmt zu diesem Grausen die »wonnevolle Verzückung« hinzu, »die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt.«81 Dadurch würde uns ein Blick in das Dionysische gewährt. Der dionysische Grieche, der die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft wollte, sah sich zum Satyr verzaubert. Das Publikum der attischen Tragödie – dies muss man sich nach Auffassung Nietzsches vergegenwärtigen – fand sich im Chor wieder, da es im Grunde keinen Gegensatz zwischen Publikum und Chor gegeben habe: »denn alles ist nur ein großer erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder solchen, welche sich durch die Satyrn repräsentieren lassen.«82 Die Voraussetzung dafür bot die Gestaltung des Theaters als in konzentrischen Kreisen sich erhebender Terrassenbau des Zuschauerraumes. So war es dem Publikum möglich, »die gesamte Kulturwelt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen und in gesättigtem Hinschauen selbst Chorent sich zu wähnen.«83 Hier wird deutlich, dass Nietzsche das individuelle Moment des Kunstschaffens und –erlebens aufgehoben sieht in der Rolle des Chores. Neben dem stark ausgeprägten subjektiven Bezug, dem Selbstbezug seines Denkens, kündigt sich die Bedeutung des »Wir« an.84 79 Vgl. dazu Siegfried Blasche, Hegelianismus im Umfeld von Nietzsches »Geburt der Tragödie«, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzscheforschung (15) 1986. 80 GdT, KSA 1, S. 29. 81 A.a.O., S. 28. 82 A.a.O., S. 59. 83 Ebd. 84 Später entwickelt sich ein Spannungsverhältnis zwischen Äußerungen in der Wir-Form und einem pointierten Ich.

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Den Niedergang der griechischen Tragödie bewertet Nietzsche als einen Selbstmord. Euripides sei es nicht gelungen, das Drama alleine auf das Apollonische zu gründen, seine »undionysische Tendenz« habe sich in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt. Darin liegt für Nietzsche eine Annäherung an den ästhetischen Sokratismus, dessen oberstes Gesetz folgendermaßen laute : »›Alles muß verständig sein, um schön zu sein‹, als Parallelsatz zu dem sokratischen ›nur der Wissende ist tugendhaft‹.«85 Der Sokratismus ist für Nietzsche der Antipode zur Kunst, denn das Schöne in jeder Kunst kann erst beginnen, wenn das rein Logische überwunden ist. Dem theoretischen Optimisten Sokrates, der dem Wissen und der Erkenntnis »die Kraft einer Universalmedizin beilegte« – selbst »jene schwer zu erreichende Meeresstille der Seele« werde von ihm und seinen Nachfolgern an der »Dialektik des Wissens abgeleitet und als lebbar bezeichnet«86 – stellt Nietzsche die »tragische Erkenntnis« gegenüber, die um ertragen werden zu können, »als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.«87 Bezogen auf den Mythos von dem im Gefängnis träumenden Sokrates, in welchem dieser aufgefordert wird, Musik zu treiben, spricht Nietzsche von einer Relativierung des Rationalismus und einer möglichen Wiederkehr des Mythos. Der »musiktreibende Sokrates« bietet ihm Anstoß zu einem Kampf für die Gegenwart und Zukunft, »das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst«, statt »unter dem ruhelos barbarischen Treiben und Wirbeln« zerreißen zu lassen, fester und zarter zu flechten.88 Die Wiederkehr der tragischen Kultur in der Tragödienschrift enthält gemäß der Interpretation von Gianni Vattimo eine Zweideutigkeit. Einerseits habe sie – unter dem Einfluss Wagners – den Charakter einer Predigt über die Wiederkehr des Mythos, andererseits sei in den Passagen über die ›dionysische Weisheit‹ der Kantschen Philosophie eine andere Lösung erkennbar, »die nicht unbedingt eine irrationale Remythologisierung im Stil Wagners impliziert.« Vattimo sieht diese Lösung in »Menschliches, Allzumenschliches« konkretisiert.89 Am Schluss der »Geburt der Tragödie« betont Nietzsche, dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion zu entfalten genötigt sind. »Wo sich die dionysischen Mächte so ungestüm erheben, wie wir diese erleben, da muß auch bereits Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns her85 86 87 88 89

GdT, KSA 1, S. 85. A.a.O., S. 101. Ebd. A.a.O., S. 102. Gianni Vattimo, Friedrich Nietzsche – Eine Einführung, Stuttgart 1992, S. 17. Auf diese Lösung wird in den folgenden Abschnitten eingegangen.

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niedergestiegen sein; dessen üppige Schöheitswirkungen wohl eine nächste Generation schauen wird.«90 Mit dieser Feststellung über die eigene Zeit und der Hoffnung für die künftige verbindet Nietzsche die Aufforderung, sich in die althellenische Zeit zurückzuversetzen: »im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Widerspiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor, rings um sich feierlich schreitende und zart bewegte Menschen, mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärdensprache …«91 Der sich anschließende imaginierte Aufruf, im Tempel beider Gottheiten zu opfern, scheint den von Vattimo konstatierten Predigtcharakter vollends zu bestätigen. Nietzsche rät im Rückblick auf die Tragödienschrift in »Ecce homo«, einiges zu vergessen, um gegen sie gerecht zu sein; sie sei eine Nutzanwendung auf die ›Wagnerei‹ gewesen. Mit Verweis auf die Entstehungszeit – während der Schlacht bei Wörth und seines Dienstes als Krankenpfleger vor den Mauern von Metz – stellt er fest, dass die Schrift politisch indifferent sei: »sie riecht anstößig Hegelisch.«92 Offensichtlich gilt hier sein Diktum über die Deutschen: »Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte …«93. b) Nach der Tragödienschrift vollzieht Nietzsche eine deutliche Wendung. Sie ist gekennzeichnet durch einen Bruch mit Wagner94, eine Hinwendung zur Naturwissenschaft und eine Überprüfung seiner bisherigen Positionen. Die Distanzierung von Wagner hat sich in mehreren Schritten vollzogen. Trotz seiner Freundschaft mit Wagner, seiner Begeisterung für dessen Musik und Kunstauffassung achtet Nietzsche auf eine gewisse Distanz, um seine Freiheit zu bewahren. Maßgeblich für den Bruch war das hinreichend thematisierte Bayreuth-Erlebnis, das Nietzsche davon überzeugt hat, dass dort nicht die Wiedergeburt des dionysischen Geistes geboten werde. In seiner vierten »Unzeitgemäßen Betrachtung« beklagt er, dass Kunst mit »Unterhaltung um jeden Preis« verwechselt werde. Am Ende dieser Schrift resümiert er – trotz aller Wertschätzung für das Kunstschaffen Wagners –, was dieser nicht sein könne, »der Seher einer Zukunft, wie er uns vielleicht 90 GdT, KSA 1, S. 155. 91 Ebd. Vgl. Dazu Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Nietzsches, Stuttgart 1988. 92 »Ecce homo«, a. a. O., S. 84. 93 »Fröhliche Wissenschaft«, Aph. 357, KSA 3, S. 599. 94 Mit größerem Abstand spricht Nietzsche in »Ecce homo« davon, dass es kein Bruch gewesen sei; er rückt das Abwenden in den Zusammenhang einer »Gesamt-Abirrung« seines Instinkts, wobei die »instinktwidrig gewählte« Berufstätigkeit ein Bedürfnis nach einer Betäubung durch eine »narkotische Kunst« geweckt habe. (»Ecce homo«, a. a. O., S. 95 f).

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erscheinen möchte«, er sei vielmehr »der Denker und Verklärer einer Vergangenheit.«95 Heftiger fällt Nietzsches Kritik am Bayreuther Publikum an der »erbarmungswürdige(n) Gesellschaft der Patronatsherrn und Patronatsweiblein« aus. »Man hatte das ganze müßiggängerische Gesindel Europas beieinander.«96 Nietzsches Abkehr von der »narkotischen Kunst« Wagners führt ihn zu neuen Sichtweisen und Bewertungen. In »Ecce homo« benennt er diese Zeit als eine Umkehr aller seiner Gewohnheiten, er habe sich vom Unzugehörigen in seiner Natur (insbesondere vom Idealismus) freigemacht, demgemäß trage seine Schrift »Menschliches, Allzumenschliches« den Untertitel »Ein Buch für freie Geister«.97 Seine Hinwendung zur Wissenschaft findet ihren Niederschlag auch in seinen Reflexionen über die Kunst. Er leugnet nicht den Abschiedsschmerz, der noch im »Freigeiste« nachklinge, »wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen hat.« Wenn er sich dieses Zustandes bewusst werde, in dem die höchsten Wirkungen der Kunst ihren Nachhall finden, so fühlt er wohl einen tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe. »In solchen Augenblicken wird sein intellektualer Charakter auf die Probe gestellt.«98 Die Wissenschaft bewirke eine größere Freiheit, der Mensch könne der Welt mit mehr Nüchternheit gegenübertreten. Auch für die Kunst sind diese Aspekte wichtig. Für Nietzsche bietet die Wissenschaft ein Denkmodell, das außerhalb der Interessen und Leidenschaften Urteilsfähigkeit erlaubt. Nicht angemessen scheint mir die Bewertung, die Safranski in diesem Zusammenhang vornimmt, Nietzsche wolle sich »enttäuschungsfest« machen.99 Zu den Wissensbereichen, die Nietzsche in den Mittelpunkt des notwendigen Lernens rückt, gehört die Physik. Unter dem Stichwort »Hoch die Physik!« beteuert er als Voraussetzung für die »Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!«, sie müssten »die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Notwendigen in der Welt werden.« Um Schöpfer sein zu können, müssten sie Physiker sein.100 Nietzsche spielt mit den Gegensätzen, insbesondere mit dem Gegensatz zwischen Kunst und Wissenschaft. Das Spiel entspringt der Heiterkeit seines Denkens, das auf Erkenntnis und Experiment zielt. Seine Liebe »Unzeitgemäße Betrachtungen«, KSA 1, S. 510. »Ecce homo«, a. a. O., S. 95. A.a.O., S. 93 u. 97. »Menschliches, Allzumenschliches« I, Aph. 153, KSA 2, S. 145. Safranski, a. a. O., S. 103. Zutreffend scheint mir, dass er die Enttäuschungen reduzieren will. 100 KSA 3, S. 563. 95 96 97 98 99

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zur Wahrheit ist keine »Wahrheit um jeden Preis«. Bezogen auf die Frage nach der Welt der Erfahrung und nach dem »Ding an sich« betont Nietzsche, dass »der stetige und mühsame Prozeß der Wissenschaft, welcher zuletzt einmal in seiner Entstehungsgeschichte des Denkens seinen höchsten Triumph feiert«, doch darauf hinausliefe, dass das, was wir Welt nennen, »das Resultat einer Menge von Irrtümern und Phantasien« sei.101 Zutreffend interpretiert m. E. Vattimo die von Nietzsche in »Menschliches, Allzumenschliches« reflektierte Annäherung des Menschen an die Wirklichkeit als ein komplementäres Verhältnis von Kunst und Wissenschaft: »Die Wissenschaft hat die Aufgabe, zum einen die Welt der Vorstellung methodisch zu erkennen und zum anderen den Prozeß zu erkennen, durch den diese Welt sich konstituiert (mithin auch das Bewusstsein ihrer Irrtümer). Die Kunst dagegen hat die Aufgabe, den Helden und Narren in uns am Leben zu halten und der Wissenschaft behilflich zu sein, das Bewusstsein unserer notwendigen Irrtümer zu ertragen.«102 Mit diesem Irrtumsbewusstsein unterscheidet sich – nach Auffassung von Vattimo – Nietzsches Konzeption der Wissenschaft von der des Positivismus. Einen weiteren Aspekt des ästhetischen Phänomens greift Nietzsche in »Der Wanderer und sein Schatten« auf. Die Stellung der Kunst zum Leben hat sich seiner Meinung nach durch das arbeitsame Zeitalter verändert, in dem Kunst zur Sache der Muße, der Erholung werde und »das Gewissen der Arbeitsamen und Tüchtigen gegen sich« habe.103 Daraus entwickelte sich eine kleine Kunst, die Erholung und Zerstreuung verspreche. Die große Kunst setze auf Betäubungen und Berauschungen, um die Ermüdeten zu überwältigen. Sie würde lieber in »dem reinen Elemente der morgendlichen Stunden« leben und sich an unverbrauchte Zuschauer und Zuhörer halten. Deshalb sollten wir der Kunst dankbar sein, »daß sie es vorzieht, so zu leben, als davonzufliegen.«104 c) Wo der Übergang zu einer dritten Periode in Nietzsches Denkweg verläuft, wird in der Forschung unterschiedlich bewertet. Nach einer Übergangsphase in den »Unzeitgemäßen Betrachtungen« hat nach Auffassung Görners Nietzsche mit »Menschliches, Allzumenschliches« ein stilistisches Verfahren gefunden, das er bis zu seinen letzten Schriften (außer im »Zarathustra«) beibehält. Den aphoristischen Stil beschreibt Görner mit folgenden Worten: »Auf ein gesperrt gedrucktes Stichwort folgen Erläuterungen, Improvisa101 »Menschliches, Allzumenschliches« I, Aph. 16, KSA 2, S. 37. Daraus sollte nicht abgeleitet werden, dass es für Nietzsche keine Wahrheiten gibt. (In Kap. IV wird dies näher ausgeführt.) 102 Vattimo, a. a. O., S. 38. 103 »Menschliches, Allzumenschliches« II, (Wan 170), KSA 2, S. 623. 104 A.a.O., S. 624.

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tionen, kleine Etüden … Dieses Stichwort-Denken gleicht streckenweise einer Parodie enzyklopädischer Wissensvermittlung.«105 In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der »Fröhlichen Wissenschaft« bestimmt Nietzsche sein Verhältnis zum Griechentum neu und verbindet damit ein Bild des Künstlers: »Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe! Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Waghalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehen haben, die wir von da aus hinabgesehen haben? Sind wir nicht darin eben – Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum – Künstler?«106 Noch deutlicher fällt Nietzsches Wertschätzung der Kunst in der »Fröhlichen Wissenschaft« aus. Er beteuert, wie gut uns die Schelmenkappe tut: »wir brauchen sie vor uns selber – wir brauchen alle übermütige, schwebende, tanzende, spöttische, kindische und selige Kunst, um jener Freiheit über den Dingen nicht verlustig zu gehen, welche mehr Ideal von uns fordert.«107 Nietzsche entwirft ein Projekt, bei dem der Mensch zum »Dichter seines Lebens« wird; dazu gehören neben den kleinsten und alltäglichsten Dingen auch Besonderheiten der Lebens- und Weltgestaltung. Unter dem Stichwort »Architektur der Erkennenden« zählt Nietzsche auf, was die großen Städte bieten müssten: »stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch des Wagens und der Ausrufer dringt und wo ein feinerer Anstand selbst dem Priester das laute Beten untersagen würde: Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken. Die Zeit ist vorbei, wo die Kirche das Monopol des Nachdenkens besaß, wo die vita contemplativa zuerst vita religiosa sein musste.«108 Städte gewinnen gegen Ende seines geistigen und tätigen Lebens eine spezifische Bedeutung. In Turin erfüllt sich für ihn ein Jugendtraum, den er ursprünglich mit seinem »treuesten und verständnißreichsten Freund« Erwin Rohde in Paris konkretisieren wollte. Mitten durch den Pariser Strom wollten sie als »philosophische Flaneurs mit ernstem Auge und lächelnder Lippe« hindurchschreiten.109 Nietzsches frühe Berufung als Professor nach 105 106 107 108 109

Görner, a. a. O., S. 187. KSA 3, S. 352. »Die Fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, S. 465. A.a.O., S. 524. »Nachgelassene Fragmente 1869 – 1874«, KSA 7, S. 358.

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Basel machte diesen Plan zunichte. Jetzt findet er in der französischsten aller italienischen Städte »ein Paradies für die Füße«. Die Bogengänge Turins bieten ihm ideale Voraussetzungen zum Flanieren. In Briefen an seine Freunde Carl Fuchs und Heinrich Köselitz im April 1888 schwärmt Nietzsche von diesem Ort, in dem er »möglich« sei, »eine capitale Entdeckung«, ein »süperbes Pflaster«, »die Stadt, die ich jetzt brauchen kann.«110 In einem beziehungsreichen Aufsatz über »Nietzsche als philosophischer Flaneur« stellt Jörg H. Gleiter fest, dass sich Nietzsche »folgenreich vom Spaziergänger der Oberengadiner Bergwelt zum Flaneur der modernen Metropole« gewandelt habe.111 Aber »die lange Übung als einsamer Spaziergänger von Sils-Maria« sei vielleicht nötig gewesen, »das Naturhafte in der Stadt nun als brutum factum, quasi als ›natura morte‹ zu erkennen.«112 Seine Begeisterung für Paris bringt Nietzsche auch in Turin in einer Lobeshymne zum Ausdruck: »Als Artist hat man keine Heimat in Europa außer in Paris, die delicatesse in allen fünf Kunstsinnen, […] die Finger für nuances, die psychologische Morbidität, findet sich nur in Paris.«113 Nach einer gewissen Ernüchterungsphase gelangt bei Nietzsche die Kunst auf ihre höchste Stufe; der Synthese bei Hegel vergleichbar, in der das Neue Elemente des Alten bewahrt bzw. auf eine höhere Ebene transformiert. Der Rausch hat jetzt weniger Bedeutung wegen seiner narkotischen Wirkung, der größere Wert liegt in seiner Kraftsteigerung. Künstler werden zu »Krafttieren«114 – und Kunstbetrachtung schließt das Wagnis der Erkenntnis ein. Neben der großen Vielfalt von Nietzsches Gedanken, die in der Form des Aphorismus einen enzyklopädischen Umfang erreichen, beinhaltet die dritte Periode115 seines Denkweges die zentralen Lehren vom Übermenschen und die Lehre von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen. Diese Besonderheiten sollen hier nur genannt werden, da sie in den Kapiteln II und III in den Mittelpunkt der dort behandelten Fragen und Aspekte zu Nietzsches philosophischem Schaffen gerückt sind. Die Frage, ob Nietzsches Denken erst in einer vierten Phase zur Vollendung gelangte, bleibt dem Schlusskapitel vorbehalten.

110 Ebd. 111 »Nietzsche als philosophischer Flaneur« von Jörg H. Gleiter, In: »Integrale Stadtkulturen«, Philosophische Diskurse 7, Bauhaus Universität, Weimar 2006, S. 14. 112 A.a.O., S. 26. 113 »Ecce homo«, a. a. O., S. 64 f. 114 Vgl. »Nachgelassene Fragmente« v. Colli u. Moutinari, VIII, 3, S. 85 ff. 115 Carl Paul Janz hat in seiner umfangreichen Nietzsche-Biographie das Denken des reifen Nietzsche als einheitlich angesehen, in: Friedrich Nietzsche, Biographie, München-Wien 1978 – 79.

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2.

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Nietzsches Abkehr und Befreiung vom Christentum

Nietzsches Entwicklung neuer Perspektiven ist verbunden mit Akten der Befreiung. Auf seinem Denkweg hat er vielerlei Hinwendungen vollzogen; als große Abkehr lässt sich seine emphatische Kritik am Christentum bewerten. Sein grundsätzlicher Einwand ergibt sich aus dem Konzept seiner Philosophie als Ja-sagen zum Leben. Das Christentum ist nach seiner Einschätzung lebensfern, bietet eher eine lebensfeindliche Orientierung; es gewährt dem Menschen nicht die nötige Ermutigung zum Leben. Nietzsches Abkehr vollzieht sich schrittweise. Recht früh, während der Zeit in Schulpforta, beginnen erste Distanzierungen von der christlichen Prägung, die er durch Elternhaus und Schule erfahren hat. In all seinen Schriften sind kritische Anmerkungen und teils heftige Bewertungen enthalten – meist eingebettet in andere thematische Zusammenhänge. Eine Zuspitzung erfolgt in der schon im Titel als kämpferisch erkennbaren Schrift »Der Antichrist«. Hier sind allerdings auch Momente eines gewissen Respekts enthalten, und eine Konfrontation mit zentralen Gedanken der christlichen Heilslehre, was auf fundierten Kenntnissen beruht. Im Folgenden sollen nicht in chronologischer Abfolge, sondern thematisch geordnet einige Schwerpunkte seiner Kritik angeführt werden. a) Ein Haupteinwand Nietzsches gegen das Christentum ist der Wirklichkeitsverlust dieser Lehre. Im Christentum berührten sich weder die Moral noch die Religion »mit irgend einem Punkt der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen (»Gott«, »Seele«, »Ich«, »Geist«, »der freie Wille« – oder auch »der unfreie«); lauter imaginäre Wirkungen (»Sünde«, »Erlösung«, »Gnade«, »Strafe«, »Vergebung der Sünde«).«116 Während die Traumwelt die Wirklichkeit widerspiegele, würde die Fiktions-Welt des Christentums die Wirklichkeit fälschen, entwerten und verneinen. Die Wurzel dafür liegt für Nietzsche im Hass gegen das Natürliche.117 b) Die Wirklichkeitsferne findet ihren Ausdruck auch in der Jenseits-Bezogenheit. Das Christentum habe ein Jenseits erfunden, »um das Diesseits besser zu verleumden«. Bereits in der »Geburt der Tragödie« konstatiert Nietzsche, dass das Christentum von Anfang an »Ekel und Überdruß des Lebens am Leben« gewesen sei und sich unter dem Glauben an ein »anderes« und »besseres« Leben »nur verkleidete, versteckte, nur aufputzte«. Dies bedeute ein »Fluch auf die Affekte«, die »Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit.«118 Hier wird deutlich – wie in vielen anderen Passagen –, dass Nietzsches 116 »Der Antichrist«, KSA 6, S. 181. 117 Ebd. 118 »Die Geburt der Tragödie«, Selbstkritik, KSA 1, S. 18.

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Kritik am Christentum nicht nur religiöse Aspekte in den Blick nimmt, sondern mit seinen großen Themen Moral, Kunst und Kultur verwoben ist. Das Leben ins »Jenseits« zu verlegen, bedeutet für ihn, dem Leben den Sinn zu nehmen, es ins »Nichts« zu verlegen. Das Genie von Paulus bestehe darin, dass er das Christentum als ungeheure Macht aufsummiert habe, unterschiedliche Kulte aller Art zu überbieten. In seinem »Augenblick von Damaskus« habe er begriffen, »daß er den Unsterblichkeits-Glauben nötig hatte, um ›die Welt‹ zu entwerten, daß der Begriff ›Hölle‹ über Rom noch Herr wird – daß man mit dem ›Jenseits‹ das Leben tötet …«119 Das Christentum bezichtigt Nietzsche in diesem Zusammenhang des »Vampyrismus«. Es habe »die ungeheure Tat der Römer, den Boden für eine große Kultur zu gewinnen, die Zeit hat, über Nacht ungetan gemacht.« Nietzsche nennt das imperium Romanum ein »bewunderungswürdiges Kunstwerk des großen Stils«, das sub specie aeterni errichtet worden sei, das auch schlechte Kaiser ausgehalten habe (»der Zerfall von Personen darf nichts mit solchen Dingen zu tun haben – erstes Prinzip aller großen Architektur«), aber gegen »die korrupteste Art Korruption, gegen den Christen« sei seine Organisation nicht fest genug gewesen.120 Vom Christentum aus hat sich nach Auffassung Nietzsches das Verhängnis bis in die Politik eingeschlichen. Das Besorgtsein um das eigene Seelenheil sei von größter Wichtigkeit, führe zur Steigerung jeder Art Selbstsucht, so dass gefragt werde: »Wozu Gemeinsinn, wozu Dankbarkeit noch für Herkunft und Vorfahren, wozu mitarbeiten, zutrauen, irgendein Gesamtwohl befördern und im Auge haben?«121 Diese Argumentation Nietzsches bietet – im Unterschied zu Aussagen, in denen er sich gegen »Demokratismus« wendet – in indirekter Weise ein Plädoyer für eine den Prinzipien der Demokratie gemäße wohlfahrtsstaatliche Orientierung und eine Kritik am Egoismus. Weniger überzeugend wirkt seine Darstellung des Kastensystems, das in seiner Beschreibung und Rechtfertigung teilweise Platons Entwurf eines Idealstaates ähnlich ist. Zur Erhaltung der Gesellschaft hält Nietzsche eine Rangordnung für erforderlich. »Eine hohe Kultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie hat zu allererst eine stark und gesund konsolidierte Mittelmäßigkeit zur Voraussetzung.«122 An der Spitze stehen die geistigen Menschen als die stärksten, die nicht aus Willkür herrschen, ihre Aufgabe gälte ihnen als Vorrecht, »mit Lasten zu spielen, die andere erdrücken, eine Erholung … Erkenntnis – eine Form des Asketis119 120 121 122

»Der Antichrist«, KSA 6, S. 247. A.a.O., S. 246. A.a.O., S. 217. A.a.O., S. 244.

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mus.«123 Hier vertritt Nietzsche das Asketische, das aber nicht mit Leib- oder Lustfeindlichkeit verwechselt werden darf. Aus seinem Mut zur Gesundheit ergibt sich das Verachten einer Religion, »die den Leib missverstehen lehrte! … die in der Gesundheit eine Art Feind, Teufel, Versuchung bekämpft! Die sich einredete, man könne eine ›vollkommene Seele‹ in einem Kadaver von Leib herumtragen.«124 c) Ein weiterer Einwand Nietzsches bezieht sich auf den im Christentum zentralen Gedanken von der Sündhaftigkeit des Menschen. In der »Fröhlichen Wissenschaft« thematisiert er die Herkunft der Sünde. Sie sei »ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der Tat das Christentum darauf aus, die ganze Welt zu ›verjüdeln‹.«125 Dieses Element der christlichen Lehre bietet ihm einen Anlass zu einem seiner häufigen Vergleiche zwischen Christentum und griechischem Altertum. Die Wirkung der christlichen Moralität wird für ihn daran deutlich, dass »eine Welt ohne Sündengefühle« in seiner Zeit immer noch einen hohen Grad von Fremdheit habe. Trotz allen Willens zur Annäherung an die Welt der Griechen sei immer noch die Vorstellung von einem Gott dominant, der dem Menschen nur gnädig ist, wenn er bereut. Die Herstellung der göttlichen Ordnung knüpfe sich folglich an die Bedingung der »Zerknirschung, Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen.«126 Den Griechen habe der Gedanke näher gelegen, »daß auch der Frevel Würde haben könne – selbst der Diebstahl, wie bei Prometheus, selbst die Abschlachtung von Vieh als Äußerung eines wahnsinnigen Neides, wie bei Ajax: sie haben in ihrem Bedürfnis, dem Frevel Würde anzudichten und einzuverleiben, die Tragödie erfunden – eine Kunst und eine Lust, die dem Juden trotz aller seiner dichterischen Begabung und Neigung zum Erhabenen im tiefsten Wesen fremd geblieben ist.«127 Dieser Interpretation eines Teilaspektes der griechischen Tragödie muss man nicht folgen, zumal sich in diesem Zusammenhang die befremdliche Auffassung Nietzsches von dem Begriff der Menschenwürde zeigt.128 Überzeugender ist seine Argumentation zur »Kasuistik« der Sünde. Gemäß seiner Moralkritik, die er in der »Genealogie der Moral« entfaltet hat, kommen im 123 A.a.O., S. 243. 124 A.a.O., S. 231. 125 »Fröhliche Wissenschaft«, Aph. 135, KSA 3, S. 486. Aus solchen Anmerkungen Nietzsches darf nicht – wie fälschlicherweise oft geschehen, besonders im Nationalsozialismus – der Schluss auf einen Antisemitismus gezogen werden. Für Nietzsches Distanzierung und Verurteilung des Antisemitismus gibt es hinreichend Belege. 126 Ebd. 127 A.a.O., s. 487. 128 Vgl. dazu Yong-Soo Kang, Nietzsches Kulturphilosophie, Würzburg 2003, S. 25 ff.

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Christentum die Instinkte Unterworfener und Unterdrückter zur Geltung. Als Mittel gegen die Langeweile werde »Gewissens-Inquisition« geübt. Das Höchste gelte als unerreichbar, als Geschenk, als ›Gnade‹. »Hier fehlt auch die Öffentlichkeit; der Versteck, der dunkle Raum ist christlich.«129 Der Bezug auf die Gnade berührt ein essentielles Element der christlichen Lehre, das mit Nietzsches Konzept eines selbstbestimmten Lebens, in dem der Mensch sich selbst den Sinn gibt und im Schaffensprozess seine Unabhängigkeit erreicht, unvereinbar ist. Die Zuordnung christlicher Praxis zur Sphäre des Dunklen lässt sich u. a. als eine Folge von Nietzsches eigenen – negativ empfundenen – Erfahrungen deuten. d) Auch dem Gedanken der Erlösung begegnet Nietzsche mit Skepsis. In »Menschliches, Allzumenschliches« stellt er die Frage: »Wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen, sollte es ihm nicht mißlungen sein?«130 Zum Typus eines Erlösers der Menschheit konnte der »Galiläer« nach Auffassung Nietzsches nur werden durch »Verstümmelung und Überladung mit fremden Zügen.«131 Das Verhängnis des Evangeliums habe sich mit dem Tod Jesu am Kreuz entschieden. Das am meisten unevangelische Gefühl, die Rache, kam wieder auf, da unmöglich mit diesem Tod die Sache zu Ende sein konnte. Das absurde Problem tauchte auf: »Wie konnte Gott das zulassen!«132 Darauf habe die kleine Gemeinschaft der Jünger die absurde Antwort gegeben: »Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer.«133 Nietzsche bewertet diese Auffassung von einem Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen als »schauderhaftes Heidentum«. Jesus habe den Begriff der »Schuld« selbst abgeschafft, er habe die Kluft zwischen Gott und den Menschen geleugnet, »er lebte diese Einheit von Gott und Mensch als seine ›frohe Botschaft‹.134 In Paulus sieht Nietzsche die Verkörperung des Gegensatz-Typus zum ›frohen Botschafter‹, den »Dysangelisten«, dem in seinem Hasse vieles zum Opfer gefallen sei: »Das Leben, das Beispiel, die Lehre, der Tod, der Sinn und das Recht des ganzen Evangeliums.«135 Paulus habe die Geschichte Israels nochmals umgefälscht, damit sie als Vorgeschichte für seine Tat erscheine: »alle Propheten haben von seinem ›Erlöser‹ geredet.«136 Später habe die Kirche sogar die Geschichte der Menschheit zur Vorgeschichte des Christentums verfälscht. Zu der heftigen 129 130 131 132 133 134 135 136

»Der Antichrist«, KSA 6, S. 188. »Menschliches, Allzumenschliches«, II (Mei 98), KSA 2, S. 419. »Der Antichrist«, KSA 6, S. 191. A.a.O., S. 214. Ebd. A.a.O., S. 215. A.a.O., S. 216. Ebd.

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Kritik Nietzsches an Paulus gehört der Vorwurf, dass in dessen Seele eine »unersättliche Eitelkeit« geflackert haben müsse, da er sich ausgedacht habe, Unzähligen sei seit Ewigkeiten die Verdammnis zuerkannt und der »schöne Weltenplan« mit Himmel, Hölle und Menschheit sei so eingerichtet, dass die Herrlichkeit und Eitelkeit Gottes offenbar werde. Paulus sei doch Saulus geblieben – »der Verfolger Gottes«.137 Mohammed habe vom Christentum die Erfindung des Paulus entlehnt, den Unsterblichkeits-Glauben als Mittel zur »Priester-Tyrannei«, zur »Herden-Bildung« – das heißt die Lehre vom Gericht.»138 In seiner Klage über verhängnisvolle Auswirkungen des Christentums verweist Nietzsche auch auf ein Missverständnis in seinem Zeitalter, das auf seinen »historischen Sinn« so stolz sei. Die »grobe Wundertäter- und Erlöserfabel« werde unsinnigerweise an den Anfang des Christentums verlegt, alles Spirituale und Symbolische als spätere Entwicklung angesehen. Dabei sei die Geschichte vom Tode am Kreuze ein immer größer werdendes Missverstehen »eines ursprünglichen Symbolismus.«139 Ein weiterer Vorwurf zielt auf die Tatsache, dass zu seiner Zeit die Menschen wissend sein könnten. »Gegen das Vergangene bin ich, gleich allen Erkennenden, von einer großen Toleranz, das heißt großmütigen Selbstbezwingung, ich gehe durch die Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende … – ich hüte mich, die Menschheit für ihre Geisteskrankheiten verantwortlich zu machen.«140 Aber sein Gefühl schlage um, sobald er in seine Zeit eintrete. Für Wissende sei es unanständig, Christ zu sein. Außer seiner Abscheu bringt Nietzsche damit ein philosophisches Kriterium ins Spiel, die Frage nach dem Wissen bezogen auf die Moral. In diesen Fragehorizont hat Nietzsche seine Kritik am Christentum eingebettet. Im Rahmen seiner allgemeinen Kritik am »Ressentiment«, das an die Stelle des Wissens trete, ist das Christentum für ihn nur ein Einzelfall.141 Nietzsches Befreiung vom Christentum vollzieht sich nach meiner Einschätzung noch stärker als in den referierten Einwänden gegen das Christentum in seiner provokativen Verkündung: »Gott ist tot.« Im fünften Buch der »Fröhlichen Wissenschaft« widmet er diesem »größten neueren Ereignis«, »daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist«, einen euphorischen 137 »Menschliches, Allzumenschliches«, II, (Wan. 85), KSA 2, S. 591. 138 »Der Antichrist«, KSA 6, S. 217. Hier spiegeln sich zentrale Gedanken aus der »Genealogie der Moral« wider. Gegen beide Religionen – Christentum und Islam – erhebt Nietzsche den Vorwurf, d¦cadence-Religionen zu sein. 139 A.a.O., S. 209. 140 A.a.O., S. 210. 141 Vgl. »Ecce homo«, a. a. O., S. 49 f.

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Hymnus. Einerseits verweist er auf die »lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz«, durch welche die »ganze europäische Moral« einfallen müsse, andererseits seien die Folgen, anders als man erwarten könnte, »durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine nur schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erheiterung, Ermutigung, Morgenröte … In der Tat, wir Philosophen und ›freien Geister‹ fühlen uns bei der Nachricht, daß der ›alte Gott tot‹ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis der Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ›offenes Meer‹.142

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Neben der radikalen Kritik am Christentum sind bei Nietzsche auch Überlegungen vertreten, in denen er ein – allerdings bescheidenes – Maß an Gelingen einräumt. Zu dem Stichwort »Das erfüllte Christentum« formuliert er in »Menschliches, Allzumenschliches« Gedanken über eine epikureische Gesinnung« innerhalb des Christentums.143 Unter der Voraussetzung, dass Gott von seinem Geschöpf und Ebenbild, dem Menschen, nur verlangen könne, was von den Menschen erfüllbar ist, seien christliche Tugend und Vollkommenheit erreichbar. Am Beispiel des Glaubens, seine Feinde zu lieben, zeigt Nietzsche auf, wie irdisches Leben zum ewigen Leben werden könne. Durch den Glauben, auch wenn er nur eine Einbildung ist, werde der Anspruch göttlicher Vollkommenheit gemäß der Aufforderung »seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« angeeignet und einverleibt. So werde durch den Irrtum »die Verheißung Christi zur Wahrheit.«144 Auch wenn in dem Aphorismus 95 (»Liebe«), der dem zuvor zitierten vorausgeht, ironische Anmerkungen enthalten sind, signalisiert doch Nietzsches Apostrophierung des Christentums als »lyrische Religion«, die von der Liebe redet, eine Zustimmung zu diesem Element, das in seiner Philosophie – obgleich mit anderer Orientierung – von großer Bedeutung ist.145 Auf Jesus bezogen reklamiert Nietzsche, dass »frei gewordene Geister« die Voraussetzung hätten, die Lüge von neunzehn Jahrhunderten zurückzuweisen. 142 »Fröhliche Wissenschaft«, Aph. 343, KSA 3, S.574. 143 »Menschliches, Allzumenschliches« II (Mei 96), KSA 2, S. 415. 144 Ebd. Kennzeichnend für Nietzsche ist auch in diesem Zusammenhang, dass wahre Aneignung mit »Einverleiben« verbunden ist. 145 Auf diesen Aspekt wird in Kap. III Bezug genommen.

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Der ›frohe Botschafter‹ starb nicht um die Menschen zu erlösen, »sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat.«146 Um sich im Himmel zu fühlen, sei nicht ein neuer Glaube erforderlich, sondern ein neuer ›Wandel‹. Der Christ unterscheide sich durch »ein anderes Handeln«, und »die evangelische Praktik allein« führe zu Gott, »sie eben ist ›Gott‹!«147 In der »Fröhlichen Wissenschaft« entwirft Nietzsche für den Menschen »eines Horizontes von Jahrtausenden vor sich und hinter sich« die Glücksmöglichkeit, die der Mensch bisher noch nicht gekannt habe, als »eines Gottes Glück«. »Dieses göttliche Gefühl hieße dann – Menschlichkeit.«148 Der Bezug auf Gott bzw. das Göttliche ist hier – wie oft bei Nietzsche – Ausdruck für das, was der Mensch durch Lebenssteigerung erreichen kann. Der Mensch selbst soll der Erlösende werden. In der »Genealogie der Moral« skizziert Nietzsche zur Frage, ob ein Ideal aufgerichtet oder eins abgebrochen werde, die Aufgabe des erlösenden Menschen. Dieser schöpferische Geist, »den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke mißverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei – während sie nur eine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, … der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurück gibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen …«149 Die beschwörenden Formulierungen lassen deutlich werden, wie sehr Nietzsche seine Hoffnung in die Zukunft verlagert. Sie bedeuten zugleich einen Verweis auf sein künftiges Hauptwerk »Also sprach Zarathustra«, dem große Aufgaben zum Erreichen der von ihm entworfenen Ziele für künftige Generationen zugedacht sind. Als Gegensatz zu den »freien Geistern«, zu denen Nietzsche auch Jesus rechnet, beschreibt er die Gläubigen, die nach seiner Auffassung abhängige Menschen sind. »Der ›Gläubige‹ gehört sich nicht, er kann nur Mittel sein, er muß verbraucht werden, er hat jemand nötig, der ihn verbraucht. Sein Instinkt gibt einer Moral der Entselbstung die höchste Ehre: zu ihr überredet ihn alles, seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Jede Art Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung, von Selbst-Entfremdung …«150 Der zuletzt verwendete Begriff legt einen Hinweis nahe auf das bei Hegel differenziert entfaltete Phänomen der Entfremdung. In Hegels »Phänomenologie des Geistes« ist Entfremdung eine notwendige Stufe in der Bewegung des Geistes. Der Mensch, der 146 147 148 149 150

»Der Antichrist«, KSA 6, S. 207. A.a.O., S. 206. »Die Fröhliche Wissenschaft«, Aph. 337, KSA 3, S. 564 f. »Genealogie der Moral« II, 24, KSA 5, S. 336. »Der Antichrist«, KSA 6, S. 236.

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sich in seiner sozialen Welt nicht wieder findet, wird sich selbst fremd.151 Diese Entfremdung kann allerdings in der für Hegel typischen Aufhebung überwunden werden und so die Selbstentfaltung und Selbsterzeugung des Menschen ermöglichen. Der Bezug auf die Religion in Hegels System findet bei Nietzsche insofern eine Parallele, als bei beiden Denkern Religion eine Unterordnung erfährt. Bei Hegel ist sie in der »Phänomenologie« dem absoluten Geist untergeordnet, in der »Rechtsphilosophie« wird sie dem Staat einverleibt; allerdings wird sie ebenso wie Erkenntnis und Wissenschaft als »Mittel der Bildung und Gesinnung«152 gewürdigt; Nietzsche hingegen hält die Befreiung von der Religion für eine wesentliche Voraussetzung auf dem Weg zum freien Geiste. Er differenziert zwar in seiner Bewertung zwischen unterschiedlichen Religionen, wobei die östlichen Religionen besser dastehen, aber insgesamt fällt sein Urteil sehr hart aus: »…alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten.«153 Als Beleg führt Nietzsche detaillierte Beispiele für – religiös motivierte – grausame Formen der Bestrafung an. Außer dem bereits angeführten Beispiel Jesu, den er als »Symbolist par excellence« bezeichnet, und dem unter bestimmten Voraussetzungen gelingenden ewigen Leben, gibt es bei Nietzsche einen Verweis auf einen vor dem Tode am Kreuz »durchaus ursprünglichen Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung.«154 Den zu Lebzeiten Jesu praktizierten Ansatz rückt Nietzsche in die Nähe des Buddhismus, da er darin die für ihn wesentliche Lebensbejahung sieht. Christentum und Buddhismus gehören zwar beide als nihilistische Religionen, als »d¦cadence-Religionen« zusammen, er möchte aber dem Buddhismus gegenüber kein Unrecht begehen, da dieser »hundertmal realistischer als das Christentum« sei und »die ewige positivistische Religion.«155 Statt ›Kampf gegen die Sünde‹ werde der ›Kampf gegen das Leiden‹ geführt und im Unterschied zum Christentum habe er »die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich.« In Nietzsches Sprache ausgedrückt, steht der Buddhismus »jenseits von Gut und Böse.«156 Als weitere Vorzüge führt Nietzsche an: »das Leben im Freien, das Wanderleben; die Mäßigung und die Wahl der Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa … Vorstelllungen, die entweder Ruhe geben oder erheitern … kein 151 Dieser konkrete Bezug Hegels ist auch in seiner »Rechtsphilosophie« von zentraler Bedeutung und soll hier entgegen den häufig auf abstrakter Ebene vollzogenen Interpretationen betont werden. 152 »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, a. a. O., S. 229. Verdächtig ist für Hegel, dass die Religion »für die Zeiten öffentlichen Elends, der Zerrüttung und Unterdrückung empfohlen und gesucht und an sie für Trost gegen das Unrecht und für Hoffnung auf Ersatz des Verlustes gewiesen wird.« a. a. O., S. 228. 153 »Genealogie der Moral« II, 3, KSA 5, S. 295. 154 »Der Antichrist«, KSA 6, S. 215. 155 A.a.O., S. 186. 156 Ebd.

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kategorischer Imperativ, kein Zwang überhaupt, seine Lehre wehrt sich gegen nichts mehr als gegen das Gefühl der Rache, der Abneigung, des ressentiment.«157 Trotz dieser – hier nur verkürzt wiedergegebenen – Auflistung von Gründen, die Nietzsche für seine Bevorzugung des Buddhismus anführt, scheint doch seine Bekenntnis zu Dionysos von größerem Gewicht. »Dionysos gegen den Gekreuzigten« lässt sich als eine Zuspitzung seines von ihm als notwendig erachteten Kampfes gegen das Christentum bewerten. Während in der »Geburt der Tragödie« die beiden Gestalten der Götterwelt Apoll und Dionysos in ihrer ergänzenden Bedeutung dargestellt sind, wird am Ende von »Ecce homo« Dionysos zur Gegenfigur von Jesus hochstilisiert. Zur Verdeutlichung seines Philosophie-Verständnisses und zur Bestimmung seiner eigenen Rolle als »Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat« nennt Nietzsche sich einen »Jünger des Philosophen Dionysos«.158 Angesichts der oben zitierten Kritik an den Gläubigen als abhängige Menschen stellt sich die Frage, wodurch Nietzsche sich trotz Jüngerschaft seine Freiheit zu bewahren glaubt. Ist es der Rausch, der mit dem Namen Dionysos verbunden ist und die im Zarathustra enthaltene Beteuerung, nur an einen Gott glauben zu wollen, der zu tanzen verstünde?159 Stärker noch richtet Nietzsche den Blick auf den Übermenschen, der an die Stelle von Gott rückt. In Anbetracht seines Bildes von der Schönheit des Übermenschen, den er als Schatten vorausgeworfen sieht, lässt er Zarathustra verkünden: »Was gehen mich noch die Götter an!«160 Und was den Geist eines Philosophen anbetrifft, gibt es für Nietzsche nichts mehr zu wünschen, als ein guter Tänzer zu sein. »Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch seine einzige Frömmigkeit, sein ›Gottesdienst‹.«161 Zur Frage, ob sich an der Religiosität Nietzsches trotz seiner Religionskritik festhalten lässt, und wenn ja, worin sie besteht, bieten folgende Auffassungen bedeutungsvolle Anhaltspunkte. Zur Verdeutlichung von Nietzsches Nihilismus-Kritik verweist Safranski auf dessen Erfindung des Mythos von der ›ewigen Wiederkehr‹. Da der moderne Nihilismus die Werke des Jenseits verloren habe, ohne das Diesseits als Wert zu gewinnen, böte Zarathustra eine Unterweisung in der Kunst, wie man gewinnt, wenn man verliert. Nietzsche, der alle ›Du sollst‹ von sich weise, lehre in dem Wiederkunftsgedanken doch ein neues ›Du sollst‹. Der Augenblick soll so gelebt werden, dass er ohne Grauen wiederkehren kann. Nietzsche sei mit dem ›Tod Gottes‹ »Der Wagnis- und Spielcharakter des

157 158 159 160 161

A.a.O., S. 187. »Ecce homo«, a. a. O., S. 35. »Also sprach Zarathustra«, KSA 4, S. 49. A.a.O., S. 112. »Die Fröhliche Wissenschaft«, Aph. 381, KSA 3, S. 635.

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menschlichen Daseins offenbar« geworden.162 Der Augenblick erhält die »Würde des Ewigen«. Der Wiederkunftsgedanke steht in Verbindung mit dem Entwurf des Übermenschen. Der Übermensch sei frei von Religion, nicht weil er sie verloren, sondern weil er sie in sich zurückgenommen habe. In einer »Dekonstruktion und Rekonstruktion der Werke des späten Nietzsche«163 rückt Heinrich Detering u. a. den Begriff des »d¦cadent« in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Nietzsche beobachte den leidenden d¦cadent Jesu im Bewusstsein der Verwandtschaft, mit dem Willen, eine Verwandtschaft zu konstruieren. Die »Imitatio Christi« vollziehe Nietzsche durch »Überwindung im Scheitern«. Der d¦cadent wird zum Ja-sager. Aber während es bei Jesus ein unwillkürlicher Vorgang sei, in dem die Kluft zwischen Gott und Mensch aufgehoben ist164, werde es bei Nietzsche zu einem Akt der Überbietung, der seinen Ausdruck in den sogenannten Wahnsinnszetteln findet, die Nietzsche mit »Der Gekreuzigte« oder »Dionysos« unterzeichnet. In Nietzsche sieht Detering eine Künstlerexistenz, an der sich wie schon vor ihm bei Hölderlin u. a. das Konzept einer Kunstreligion aufzeigen lasse. In »Ecce homo« schreibt sich Nietzsche selbst eine Doppelexistenz zu, er ist d¦cadent und dessen Gegensatz.165 Der japanische Religionswissenschaftler Okochi Ryogi bezeichnet in seinen »Gedanken zu Nietzsche aus östlicher Sicht« Nietzsche als einen tiefreligiösen Menschen.166 Nietzsches Ausspruch »Sie hätte singen sollen, nicht reden, diese neue Seele!« kommentiert er mit den Worten, sie hat »nicht nur geredet, sondern sogar gepredigt.«167 Obwohl Nietzsche dem Christentum so heftig widerspreche, »so fanatisch und verzweifelt den Krieg erklärt und es so radikal bekämpft«, sei er im Sinne des »Anti-« dem Christentum noch verhaftet. Löwith habe recht, wenn er den »Zarathustra« eine »antichristliche Bergpredigt« nenne.168 Unter der Überschrift »Amor fati und Karma« zeigt Ryogi Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Nietzsches Gedanken und dem Buddhismus auf. Von den von ihm konstatierten Gemeinsamkeiten halte ich den Hinweis auf den mythischen Charakter beider Denkweisen sowie die Betonung des Spiels als höchsten Zustand des Menschen für besonders wichtig. Bei dem Versuch Nietzsches Gedanken zu entschlüsseln, beklagt Ryogi, dass angesichts der sieben unterschiedlichen Aussagen zur Formel »amor fati«, wobei das Verb bald im Kon162 Rüdiger Safranski in: »Literarische Moderne«, Funkkolleg, Studienbrief 1, Deutsches Institut für Fernstudien, Tübingen 1993. 163 So der Titel des Vortrages von Heinrich Detering am 22. Jan. 2007 in der Paulinerkirche (Universitätskirche) in Göttingen. 164 Vgl. dazu »Der Antichrist«, KSA 6, S. 215. 165 »Ecce homo«, a. a. O., S. 43. 166 Okochi Ryogi: Wie man wird, was man ist: Gedanken zu Nietzsche aus östlicher Sicht, Darmstadt 1995. 167 A.a.O., S. 77. 168 A.a.O., S. 76.

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junktiv und bald im Indikativ gebraucht werde, es nicht klar sei, ob es sich um einen Wunsch, ein Postulat oder um ein Bekenntnis handele. Nietzsches Gedanken fehlt nach seinem Urteil hier ebenso wie bei der Deutung der Welt als »Wille zur Macht« die nötige Konsequenz im letzten Durchdenken. Dem fügt Ryogi allerdings eine Nietzsche gemäße Frage hinzu: »Oder sollte es eher künstlerisch interpretiert werden?«169 So bleibt zu fragen: Liegt in der Kunst die Religiosität Nietzsches oder entspricht es seiner Philosophie, sich von der Religion frei gemacht zu haben, so wie er es in der »Morgenröte« unter dem Stichwort »Die Verschönerung der Wissenschaft« als einen Traum einer bestimmten Philosophie bezeichnet, »die Religion entbehrlich zu machen«?170

169 A.a.O., S. 124. Ryogi betont, dass sich bei dem Verständnis der Welt ein deutlicher Unterschied auftue. Für den Buddhisten sei die Welt Natur, »die von Natur aus ist, wie sie ist.« (ebd.). 170 »Morgenröte« (427), KSA, III, S. 263.

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Abb. 2: Löwe auf Delos

Der Löwe steht bei Nietzsche in der Mitte der drei Verwandlungen: »Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. … Welches ist der grosse Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heissen mag? ›Du sollst‹ heisst der grosse Drache. Aber der Geist des Löwen sagt ›ich will‹. … Neue Werthe schaffen – das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen – das vermag die Macht des Löwen.« »Also sprach Zarathustra«, KSA 4, S. 29 f.

II. »Die fröhliche Wissenschaft« als Höhepunkt und Übergang

1.

Von der »Morgenröte« zur »Fröhlichen Wissenschaft«

Anders als in den scharfen Tönen seiner späten Werke »Antichrist« und »Götzendämmerung« ist die Moralkritik Nietzsches in seiner Schrift zur Vorbereitung des »Mittags«171 von »Flügeln der Morgenröte« getragen. Als einen »Unterirdischen« sieht er sich am Werk, der nur langsam und besonnen vorankommt. Aber diese »eigene, lange Finsternis« wollte er vielleicht haben in dem Wissen, »was er auch haben wird: seinen eigenen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigne Morgenröthe? …«172 Nietzsche bezeichnet sich als »davongekommen« und möchte nicht zu gleichem Wagnis oder zur gleichen Einsamkeit auffordern. Er sei in die Tiefe gestiegen, um unser Vertrauen zur Moral zu untergraben.«173 Seine Kritik setzt sehr überzeugend, wenn auch etwas überspitzt an. Über Gut und Böse sei bisher am schlechtesten nachgedacht worden, in Gegenwart der Moral solle – wie angesichts jeder Autorität – nicht nachgedacht, sondern gehorcht werden. Darüber hinaus wisse die Moral zu »begeistern«, sie lähme den kritischen Willen, sie habe sich als die große Meisterin der Verführung bewiesen »- und was uns Philosophen angeht, als die eigentliche Circe der Philosophen.«174 Seit Platon hätten alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut, weil sie – nach Kants Urteil – versäumt hätten, das Fundament zu prüfen. Aber auch Kant, der wie alle vor ihm, scheinbar auf Gewissheit, auf »Wahrheit« aus gewesen sei, das heißt eigentlich auf »majestätische sittliche Gebäude«, habe sein Ziel, »den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen« (Kritik der reinen Vernunft II, S. 257) nicht erreichen 171 In der Kommentierung seiner Schrift »Morgenröte« bezeichnet es Nietzsche als seine Aufgabe, »einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen »großen Mittag«; in »Ecce homo«, a. a. O., S. 100. 172 Vorrede zur »Morgenröte«, KSA 3, S. 11. 173 A.a.O., S. 12. 174 A.a.O., S. 13.

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»Die fröhliche Wissenschaft« als Höhepunkt und Übergang

können. Kant sei mit dieser schwärmerischen Absicht ein rechter Sohn seines Jahrhunderts geblieben; glücklicherweise auch in Bezug auf die wertvollere Seite; »zum Beispiel mit jenem guten Stich Sensualismus, den er in seine Erkenntnistheorie übernahm.«175 Auch Kant habe die »Moral-Tarantel Rousseau« gebissen und als dessen Jünger lag auch ihm »der Gedanke des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele.«176 Die Kritik der reinen Vernunft sei für Kant nötig gewesen, um das »moralische Reich« unangreifbar zu machen. Wie jeder gute Deutsche sei Kant Pessimist, »er glaubte an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte bewiesen, sondern trotzdem dass ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird.«177 Nietzsche erhebt die Frage, ob der deutsche Pessimismus vielleicht seinen letzten Schritt noch zu tun hätte, vielleicht müsse er noch einmal sein Credo und Absurdum nebeneinander stellen. Sein Buch »Morgenröte« stelle in der Tat einen Widerspruch dar : »in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt – warum doch? Aus Moralität!«178 Seinem Geschmack gemäß würde Nietzsche bescheidenere Werte vorziehen. »Aber es ist kein Zweifel, auch zu uns noch redet ein ›du sollst‹, auch wir noch gehorchen einem strengen Gesetze über uns, – und dies ist die letzte Moral, die sich uns noch hörbar macht, die auch wir noch zu leben wissen, hier, wenn irgend worin, sind wir noch Menschen des Gewissens: dass wir nämlich nicht mehr zurück wollen in Das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas ›Unglaubwürdiges‹, heisse es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe; dass wir uns keine Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten; dass wir von Grund aus allem feind sind, was in uns vermitteln und vermischen möchte, …«179 Hier zeigt sich Nietzsches Ablehnung einer Position, in der – wie insbesondere bei Hegel – Vermittlung ein zentrierendes Element darstellt. Nietzsche hält offensichtlich den Widerspruch in seiner Moral-Kritik für ein bloß temporäres Problem, von dem die künftige Entwicklung befreit sein kann. Auf einen einzelnen Menschen und dessen Möglichkeiten bezogen heißt dies, dass Nietzsche erst dem Übermenschen zutraut, frei von dem konstatierten Widerspruch sein zu können, wenn dieser Religion und Moral überwunden hat. Damit eröffnet sich für Nietzsche die Perspektive, den Pessimismus des dialektischen Grund-Satzes zu überwinden, mit welchem Hegel seine Zeit dem deutschen Geist zum Sieg über Europa verholfen habe: »der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend.«180 175 176 177 178 179 180

A.a.O., S. 14. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 16. Ebd. A.a.O., S. 13.

Von der »Morgenröte« zur »Fröhlichen Wissenschaft«

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Aus dieser Kritik an Hegel sollte kein fundamentaler Anti-Hegelianismus Nietzsches abgeleitet werden, wie er bei Gilles Deleuze in mehreren Passagen thematisiert wird.181 Deleuze legt seiner Interpretation die Auffassung zu Grunde, dass Nietzsche nur recht verstanden würde, wenn man beachte, gegen wen er sich richte. »Wie ein roter, aggressiver Faden durchzieht der Anti-Hegelianismus das Werk Nietzsches.«182 Was Nietzsches Philosophie der Geschichte und Religion betrifft, solle man allerdings »keine Reprise oder selbst Karikatur Hegelscher Konzeptionen sehen. Beider Beziehung ist tiefgründiger – wie auch ihre Differenz.« Außer dem Zugeständnis einer tiefgründigen Beziehung – die in der vorliegenden Arbeit zu verschiedenen Aspekten aufzuhellen versucht wird – verweist Deleuze durchaus auch auf eine Nähe von Nietzsches Theorie des schlechten Gewissens zu Hegels unglücklichem Bewusstsein. Der Übermensch allerdings habe nichts mit dem Gattungswesen der Dialektiker zu tun.183 Nach Auffassung von Deleuze hat der Empirismus den »Genuß der Differenz« an die Stelle der schwerfälligen Begriffe der Dialektik gesetzt, in deren Zentrum der Begriff »Arbeit« steht. Unter dem Aspekt der Bejahung von Genuss können von einem »nietzscheschen Empirismus« gesprochen werden.184 Auf kritische Äußerungen Nietzsches zur Philosophie Hegels ist oben – ebenso wie auf gelegentliche Zustimmung und frappierende Ähnlichkeiten – wiederholt hingewiesen worden; bezogen auf den englischen Empirismus urteilt Nietzsche weit heftiger. Hume und Locke bedeuten für ihn »eine Erniedrigung und Wertminderung des Begriffs ›Philosoph‹ für mehr als ein Jahrhundert. »Im Kampf mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmütig, jene beiden feindlichen Brüder-Genies in der Philosophie, welche nach den entgegengesetzten Polen des deutschen Geistes auseinanderstrebten und sich dabei unrecht taten, wie sich eben nur Brüder unrecht tun.«185 Die Überbetonung des Begriffs der Differenz ist eher ein Kennzeichen der Position von Deleuze als der von Nietzsche. Besonders in der »Morgenröte« ist Nietzsche darauf bedacht, dass seine Gedanken ohne Eile vorgetragen werden, dass er sich Zeit lässt, beiseite geht, still und langsam wird – »als eine Goldschmiedekunst und –kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht.«186 In »Ecce homo« beteuert Nietzsche, dass im ganzen Buch kein negatives Wort 181 Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1985. 182 A.a.O., S. 13. 183 A.a.O., S. 178. 184 A.a.O., S. 14. 185 »Jenseits von Gut und Böse« (252), KSA 5, S. 195. 186 »Morgenröte«, KSA 3, Vorrede, S. 17.

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vorkomme, kein Angriff, keine Bosheit. Angesichts seiner teils pointierten Moralkritik kann man dem nicht ganz zustimmen, aber die Charakterisierung des Buches, »daß es vielmehr in der Sonne liegt«, dass »dies jasagende Buch … sein Licht, seine Liebe, seine Zärtlichkeit auf lauter schlimme Dinge (ausströme)« und »ihnen die ›Seele‹, das gute Gewissen, das hohe Recht und Vorrecht auf Dasein zurück(gebe)«, lässt sich bei der Lektüre nachvollziehen. In einer »Zwischenrede« hat Nietzsche eine sehr schöne Anweisung gegeben. »Ein Buch wie dieses ist nicht zum Durchlesen oder Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und Reisen; man muss den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden.«187 Als Formel für seine Moralkritik in der »Morgenröte« formuliert er – vorausgesetzt, dass man eine solche wolle: »In uns vollzieht sich … die Selbstaufhebung der Moral.«188 Der Mensch habe allem eine Beziehung zur Moral beigelegt und damit der Welt eine ethische Bedeutung über die Schulter gelegt.«189 Diesen Irrtum würde sich der Mensch sehr spät und zu Zeiten Nietzsches noch nicht ganz eingestehen. Verglichen mit der Lebensweise ganzer Jahrtausende sei die Macht der Sitte erstaunlich abgeschwächt, sie habe sich verflüchtigt, weil sie verfeinert und in die Höhe getragen worden sei. Daraus zieht Nietzsche den Schluss, dass es den »Spätgeborenen« schwer falle, Grundeinsichten in die Entstehung der Moral zu gewinnen. Auf dem »Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens« ist nach Einschätzung Nietzsches jeder kleinste Schritt mit geistigen und körperlichen Martern erlitten worden.190 Dem neuesten Verständnis der Moral stemmen sich seiner Meinung nach der Stolz und die Art, ihn zu befriedigen, entgegen. Es gäbe angesichts der Empörung nach moralischen Leiden und dem Wissen, sich geirrt zu haben, nur einen Trost, »durch sein Leiden eine ›tiefere Welt der Wahrheit‹ zu bejahen, als alle sonstige Welt ist, und man will lieber leiden und sich über die Wirklichkeit erhaben fühlen (…), als ohne Leid und dann ohne dies Gefühl des Erhabenen sein.«191 Nietzsche hält es für eine Aufgabe der künftigen Menschheit, sich von den höheren Gefühlen zu reinigen. Im Bann der Sittlichkeit der Sitte verachte der Mensch Ursachen, Folgen und die Wirklichkeit und spinne »alle seine höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt an: die sogenannte höhere Welt.«192 Die Folge davon sei, dass dort, wo sich das Gefühl des Menschen erhebt, jene eingebildete Welt im Spiel sei. 187 188 189 190 191 192

A.a.O., Aph. 454, S. 274. A.a.O., Vorrede, S. 16. A.a.O., Aph. 3., S. 19. A.a.O., Aph. 18, S. 30 f. A.a.O., Aph. 32, S. 41. A.a.O., Aph. 33, S. 42.

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Zur Frage nach den moralischen Gefühlen gelangt Nietzsche zu der Ansicht, dass diese vor der Handlung lägen, während die moralischen Begriffe erst nach der Handlung mächtig würden, da man als vernünftiges Wesen »angebbare und annehmbare Gründe« haben müsse. Gefühle sind für ihn nichts Letztes, Ursprüngliches, vielmehr stünden hinter den Gefühlen Urteile und Wertschätzungen, welche uns in Form von Neigungen und Abneigungen vererbt würden. Seinen Gefühlen vertrauen bedeute insofern, seinen Vorfahren »mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung.«193 Durch die moralischen Urteile vollzieht sich seiner Meinung nach eine Umgestaltung der Triebe. An sich hätten Triebe keinen moralischen Charakter, auch keine bestimmte begleitende Empfindung der Lust oder Unlust. Jeder Trieb erwerbe dies alles erst »als seine zweite Natur, wenn er in Relation zu schon auf Gut und Böse getauften Trieben tritt, oder als Eigenschaft von Wesen bemerkt wird, welche vom Volke schon moralisch festgestellt und abgeschätzt sind.«194 Als Beispiel führt Nietzsche an, wie derselbe Trieb sich einerseits unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt habe, zum peinlichen Gefühl der Feigheit entwickele oder zum Gefühl der Demut, »falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich ans Herz gelegt und gut geheißen hat.«195 Ferner geht er auf die unterschiedliche Bewertung von Neid, Hoffnung und Zorn ein. Den Zorn hätten die Juden anders empfunden als wir und ihn heilig gesprochen: »dafür haben sie die düstere Majestät des Menschen, mit welcher verbunden er sich zeigte, unter sich in einer Höhe gesehen, die sich ein Europäer nicht vorzustellen vermag; sie haben ihren zornigen heiligen Jehova nach ihren zornigen heiligen Propheten gebildet.« Daran gemessen seien »die großen Zürner unter den Europäern gleichsam Geschöpfe aus zweiter Hand.«196 Eine differenzierte Wertbestimmung – ohne moralischen Charakter – nimmt Nietzsche zur vita contemplativa vor. In seiner kritischen Reflexion geht er auf die verschiedenen Nachwirkungen der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita activa ein. Er zeigt auf, welche »Gegenrechnung« die vita activa zu machen habe, »wenn wir allzu stolz mit unseren Wohltaten uns vor ihr brüsten.«197 Als erstes führt er die sogenannten religiösen Naturen an, die unter den Kontemplativen überwiegen. Sie hätten zu allen Zeiten den praktischen Menschen das Leben schwer gemacht und es ihnen womöglich verleidet: »den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerten, die tätige Hand lähmen, – das haben sie verstanden, ebenso wie sie für

193 194 195 196 197

A.a.O., Aph. 35, S. 43 f. A.a.O., Aph. 38, S. 45 f. Ebd. Ebd. A.a.O., Aph. 41, S. 48 f.

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elende Zeiten und Empfindungen ihre Tröstungen, Almosen, Handreichungen und Segenssprüche gehabt haben.«198 Als zweite Gruppierung nennt er die Künstler, die in diesem Zusammenhang – entgegen Äußerungen in anderen Textpassagen – kein gutes Zeugnis ausgestellt bekommen. Sie seien als Menschen meist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam und unfriedlich gewesen. Diese Wirkung müsse man von denen ansonsten erheiternden und erhebenden Wirkungen »in Abzug bringen«. Auch die Philosophen, bei denen neben religiösen und künstlerischen Kräften auch das Dialektische, »die Lust am Demonstrieren«, zu finden sei, hätten »durch ihren dialektischen Hang vielen Menschen Langeweile gemacht.«199 Anders verhält es sich mit den Denkern und wissenschaftlichen Arbeitern, sie hätten den Menschen der vita activa das Leben erleichtert, da sie selten auf Wirkungen ausgewesen seien, sondern sich still ihre »Maulwurfslöcher« gegraben hätten. An dem Ungemach, das viele empfinden würden, die zur vita activa vorherbestimmt waren und sich einen Weg zur Wissenschaft gebahnt hätten, seien jene nicht schuldig; vielmehr sei zuletzt »die Wissenschaft doch etwas Nützliches für alle geworden.«200 Zu den vielfältigen Aspekten, unter denen Nietzsche seine Moralkritik in der »Morgenröte« darlegt, gehört die Frage nach den Maßstäben der Moral. Der häufig vertretenen Auffassung, dass die Moral des Mitleidens eine höhere Moral sei als die des Stoizismus, begegnet er mit der Aufforderung zu einem Beweis. Da es seiner Meinung nach keine absolute Moral gibt, dürfe die Moral nicht wiederum nach »moralischen Ellen« abgemessen werden.201 Sehr behutsam trägt Nietzsche seine Argumentation gegen das Mitleiden vor. Angesichts der unterschiedlichen Formen, in denen Mitleid in Erscheinung tritt, hält er es für plump, dass die Sprache mit einem Wort über dieses »polyphone Wesen« herfalle.202 Er rät zu überlegen, warum man anderen beispringe, die in Not geraten sind. Dabei könne es sein, dass wir nicht mehr bewusst an uns denken, aber sehr stark unbewusst. »Der Unfall des Anderen beleidigt uns, er würde uns unserer Ohnmacht, vielleicht unserer Feigheit überführen, falls wir nicht Abhilfe brächten.«203 Als weitere Motive führt Nietzsche an, als Helfender sich als der Mächtigere zu fühlen und um das eigene Leiden von sich abzuwenden. Für gewiss hält er es, dass wir bei solchen Handlungen einem Antrieb der Lust nachgeben würden. Beim Anblick eines Gegensatzes zu unserer Lage würde Lust entstehen und gelingendes Helfen Ergötzen bereiten. Auch die Vorstellung, Lob und Erkennt198 199 200 201 202 203

Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., Aph. 139, S. 131. A.a.O., Aph. 133, S. 125 ff. Ebd.

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lichkeit für unsere Hilfe zu erhalten, würde zum Mitleid motivieren. Bei diesen entlarvenden Anmerkungen beruft sich Nietzsche auf die Erfahrung. Wer das Mitleiden verherrliche, dem fehle eben auf diesem Bereiche des Moralischen die ausreichende Erfahrung.204 Auch Schopenhauer habe mangelhaft beobachtet und das Mitleiden schlecht beschrieben. Er hätte uns zum Glauben an seine große Neuigkeit bringen wollen, dass das Mitleiden »die Quelle aller und jeder ehemaligen und zukünftigen Handlung« sei, indem er dem Mitleid diese Fähigkeit angedichtet habe.205 In einer historischen Herleitung macht Nietzsche das Christentum dafür verantwortlich, »dass der Mensch der sympathischen, uninteressierten, gemeinnützigen, gesellschaftlichen Handlungen jetzt als der moralische empfunden wird«.206 Obwohl das Christentum in seiner Lehre die Wichtigkeit »des ewigen persönlichen Heils« vertrete, sei mit den Dogmen, auf denen es ruhe, der Nebenglaube an die »Liebe«, an die »Nächstenliebe« im Zusammenhang mit der Praxis der kirchlichen Barmherzigkeit in den Vordergrund getreten. Mit der Loslösung von den Dogmen sei eine Rechtfertigung in einen »Cultus der Menschenliebe« einhergegangen. Für die französischen Freidenker – von Voltaire bis Augste Comte – ist es laut Nietzsche ein Ansporn gewesen, das christliche Ideal der Menschenliebe zu überbieten. Kant, der außerhalb dieser Bewegung stehe, die sich auf England und Deutschland ausweitete, habe ausdrücklich gelehrt, »dass wir gegen fremde Leiden unempfindlich sein müssen, wenn unser Wohltun moralischen Werth haben soll.« Ergrimmt darüber habe Schopenhauer dies die »Kantische Abgeschmacktheit« genannt.207 Nietzsche greift seine Kritik an Kants Morallehre, die er bereits in der oben zitierten Passage der Vorrede zur »Morgenröte« pointiert formuliert hat, erneut auf unter dem Stichwort »Verhalten der Deutschen zur Moral«. Die Deutschen hätten einen fast kindlichen Hang zum Gehorchen. »Der Vortheil und der Nachtheil der Deutschen, und selbst ihrer Gelehrten, war bisher, dass sie dem Aberglauben und der Lust, zu glauben, näher standen, als andere Völker.«208 Wenn ein Volk dieser Art sich mit Moral abgebe, würde der Hang zum Gehorsam idealisiert. Die deutsche Empfindung sei, dass der Mensch etwas haben müsse, »dem er unbedingt gehorchen kann.«209 Nietzsche hält dies für die Grundlage aller deutschen Morallehren. Im Unterschied dazu stünde bei den griechischen Denkern die persönliche Auszeichnung im Vordergrund. Dies sei die antike Tugend. Je weniger vom »Cultus der Religion« übrig geblieben sei, um so mehr 204 205 206 207 208 209

Ebd. Ebd. A.a.O., Aph. 132, S. 123 f. Ebd. A.a.O., Aph. 207, S. 185 ff. Ebd.

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sei der Gehorsam gegen die Person zum »Cultus der Deutschen« geworden. Kant habe seinen Umweg um die Moral nur genommen, um zu diesem Gehorsam zu gelangen. Vor Kants kategorischem Imperativ habe Luther aus der selben Empfindung gesagt: »es müsse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne, – es war sein Gottesbeweis.«210 Bei Griechen und Römern habe es zu ihrem südländischen Gefühl der Freiheit gehört, »sich des ›unbedingten Vertrauens‹ zu erwehren und im letzten Verschluss des Herzens eine kleine Skepsis gegen Alles und Jedes, sei es Gott oder Mensch oder Begriff, zurückzubehalten.«211 In einigen Aphorismen geht Nietzsche über seine Moralkritik hinaus. Er verfasst kulturkritische und gesellschaftskritische Gedanken, die Parallelen zu Denkfiguren von Hegel und Marx aufweisen. Aber anders als bei Hegel ist keine Höherwertigkeit der europäischen Kultur zugrunde gelegt. Nietzsche kritisiert den Fanatismus des Machtgelüstes, der durch den Glauben, im Besitze der Wahrheit zu sein, entzündet wurde und dazu führte, »mit gutem Gewissen unmenschlich zu sein (Juden, Ketzer und gute Bücher zu verbrennen und ganze höhere Culturen wie die von Peru und Mexiko auszurotten)«.212 Was man damals »um Gottes willen« getan habe, werde jetzt um des Geldes willen getan, d. h. was jetzt das höchste Machtgefühl gebe. Ebenso kritisch äußert sich Nietzsche zur »Fabrik-Sclaverei« der Arbeiter, die es als Schande empfinden müssten, »als Schrauben einer Maschine und als Lückenbüsser der menschlichen Empfindungskunst verbraucht zu werden.«213 Verabscheuungswürdig sei der Glaube, durch höhere Zahlung könne das Wesentliche ihres Elends, ihre »unpersönliche Verknechtung« aufgehoben (»gehoben«) werden. Die Arbeiter sollten sich nicht aufreden lassen, »durch eine Steigerung dieser Unpersönlichkeit, innerhalb des maschinenhaften Getriebes einer neuen Gesellschaft könne die Schande der Sclaverei zur »Tugend« gemacht werden!«214 Nietzsche rät den Arbeitern in Europa, »ein Zeitalter des großen Ausschwärmens« heraufzuführen und durch diese That der Freizügigkeit in grossem Stil, gegen die Maschine, das Capital und die jetzt ihnen drohende Wahl (zu) protestieren, entweder Sclave des Staates oder Sclave einer Umsturz-Partei werden zu müssen.»215 Eine andere Perspektive nimmt Nietzsche ein, wenn er – statt im Blick auf die historische Entwicklung und die Vorgänge seiner Zeit kritisch Stellung zu beziehen – seine Gedanken auf Künftiges, das Mögliche und Erstrebenswerte 210 211 212 213 214 215

Ebd. Ebd. A.a.O., Aph. 204, S. 180. A.a.O., Aph. 206, S. 183 ff. Ebd. Ebd.

Von der »Morgenröte« zur »Fröhlichen Wissenschaft«

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richtet. So weicht beispielsweise seine kritische Distanz zu anderen Denkern der Genugtuung über Gemeinsames. Die Gesellschaft der Denker sieht er im Bilde eines Inselchens »inmitten des Ozeans des Werdens«. Auf diesem kleinen Raum bereitet die Entdeckung anderer »Wandervögel« und das Hören von früheren »eine köstliche Minute der Erkenntnis und des Errathens«, und so »abenteuern (wir) im Geiste hinaus auf den Ozean, nicht weniger stolz als er selbst!216 Der Erkenntnis bzw. der Frage nach der Wahrheit widmet Nietzsche im Fünften Buch der »Morgenröte« noch weitere Aphorismen. Weil die Wahrheit keine Macht habe, sei es nötig, sich auf die Seite der Macht zu schlagen oder die Macht auf die Seite der Wahrheit zu ziehen, da diese sonst zugrunde gehe.217 Ein Grundzug von Nietzsches Philosophie wird deutlich unter dem Stichwort »Erkenntnis und Schönheit«. Hier findet meine Kernthese, dass die Kunst im Zentrum von Nietzsches Philosophie steht, weitere Anhaltspunkte.218 Auf die Frage, ob es denn etwas »an sich Schönes« gebe, antwortet er recht emphatisch: »Das Glück des Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger ; die Erkenntnis legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern auf die Dauer, in die Dinge; – möge die zukünftige Menschheit für diesen Satz ihr Zeugnis abgeben!«219 Im Unterschied zu der oben zitierten Umgestaltung der Triebe unter dem Einfluss der Moral gewinnt der Trieb zur Erkenntnis den Charakter einer unaufgebbaren Leidenschaft. Selbst wenn die Menschheit an dieser Leidenschaft zu Grunde ginge, würde sie sich doch unter dem Drange und Leiden »erhabener und getrösteter glauben.« Auch das Christentum habe sich vor einem ähnlichen Gedanken nicht gescheut. »Sind Liebe und Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei, – wir wollen alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntnis.«220 Kritikbedürftig ist für Nietzsche eine Leidenschaft, die »ins Toben gerät« und zum Argument für die Wahrheit gemacht wird. Diese Schwärmerei treibe es bis zum Hass gegen die Kritik, die Wissenschaft und die Vernunft. Eine solche Art des Philosophierens unterzieht er der Kritik, dass sie im Unterschied zu den Griechen, die über die »Erfindung des vernünftigen Denkens« gejauchzt hätten, die Intuition in den Vordergrund rücke. Als »künstlerische Naturen« würde man Philosophie betreiben in dem Glauben, mit dem »inneren Sinn« begabt und deshalb unbegreiflich zu sein. Damit setze man 216 A.a.O., Aph. 314, S. 227. 217 »Morgenröte«, KSA 3, S. 259 – 331. 218 Gemäß den unterschiedlichen Perspektiven ist Kunst bei Nietzsche Gegenstand seiner Reflexion über deren Bedeutung für das Leben, Bezugspunkt für Nähe und Unterschiede zur Philosophie, vor allem aber das Medium, in dem seine philosophischen Gedanken ihre faszinierende Gestalt gewinnen. 219 »Morgenröte« KSA 3, Aph. 550, S. 320 f. 220 A.a.O., Aph. 429, S. 264 f.

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an die Stelle der Philosophie die Religion.221 Seine Hoffnung gründet Nietzsche darauf, dass dieser Irrtum erkannt werde. Er fragt sich, wohin die Philosophie mit all ihren Umwegen wolle. Um zu den zukünftigen Tugenden zu gelangen, hält er es für notwendig, dass der Mut des Denkens so anwächst, »dass er als der äußerste Hochmuth sich über den Menschen und Dingen fühlt. Die Dichter müssten wieder zu dem werden, »was sie einstmals gewesen sein sollen: – Seher, die uns Etwas von dem Möglichen erzählen«222 In dem abschließenden Aphorismus der »Morgenröte« deutet Nietzsche an, dass es das Los der Luft-Schifffahrer des Geistes sein könne, an der Unendlichkeit zu scheitern.223 Als eine Gefahr für die Philosophie sieht er den geheimen Wunsch, in der Erkenntnis nach Art des Alexander oder des Kolumbus zum Ziele kommen zu wollen, in dem man alle Fragen mit einer Antwort erledigen möchte. In dem Kampf um die »Tyrannenherrschaft des Geistes« sei man davon ausgegangen, dass diese einem Einzigen (»sehr Glücklichen, Feinen, Empfindsamen, Kühnen, Gewaltigen«) vorbehalten sei. Künftig müsse die Wissenschaft mit einer großmütigen Grundempfindung getrieben werden und über der Tür des künftigen Denkers müsse stehen: »Was liegt an mir!«224 Der von Nietzsche entworfene Spannungsbogen für die Erkenntnis bzw. die Philosophie insgesamt umfasst sowohl die Aufforderung zum mutigen »Entdecken und Erraten«, zum selbstbewussten »Erschaffen« der Welt, wie er es später im »Zarathustra« deutlicher zum Ausdruck bringt, als auch das Bedenken des Eingebundenseins in einen Entwicklungsprozess und des möglichen Scheiterns angestrebter Ziele. Entschiedener als in der »Morgenröte« werden in der »Fröhlichen Wissenschaft« Widerspruch und Zusammenhang von Kunst, Wissenschaft und Philosophie thematisiert. Zu prüfen ist, ob es Nietzsche gelungen ist, da die Philosophie nicht mehr existiere, die Philosophen aber weiter existieren müssten – wie es Giorgio Colli überspitzt formuliert hat – nun in einer neuen Weise zu reden, »indem sie den Überlebenden, der Wissenschaft und Kunst, ihre Instrumente der Mitteilung entreißen und sie als Philosophen verwenden.«225 »Die fröhliche Wissenschaft« zählt Nietzsche zu seinen jasagenden Büchern; Tiefsinn und Mutwillen würden sich zärtlich an der Hand halten. Seine Dankbarkeit für seine Genesung käme zum Ausdruck und »aus welcher Tiefe heraus hier die ›Wissenschaft‹ fröhlich geworden ist.«226

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A.a.O., Aph. 543 f., S. 313 ff. A.a.O., Aph. 551, S. 321 f. A.a.O., Aph. 575, S.331. A.a.O., Aph. 547, S. 317 f. A.a.O., Nachwort S. 661. »Ecce homo«, a. a. O., S. 102.

Botschaften und Begründungen

2.

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Botschaften und Begründungen

In der »Fröhlichen Wissenschaft« wird in besonderer Weise deutlich, dass Nietzsches Kritik an Moral und Religion zur Überwindung dieser »Fesseln« beitragen soll. Er will den Blick dafür öffnen, dass der Mensch ein Schaffender werden kann. Darin besteht m. E. ein wesentliches Element seiner Vorstellung von einer Philosophie als Kunst. Wie oben mehrfach betont, sieht er dies als eine Aufgabe der künftigen Menschheit an. Gleich der Beteuerung in der »Morgenröte« beteuert er auch in der »Fröhlichen Wissenschaft«, dass es nicht um ihn ginge, aber anders als dort bekennt er, dass sich hier »etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes« ankündige. Dem ›incipit tragoedia‹ am Schluss dieses »bedenklich-unbedenklichen Buches« fügt er im Vorwort hinzu: »incipit parodia«.227 Seine variierenden kritischen Passagen zur Moral und Religion lassen sich als Vergewisserung seiner bereits in früheren Schriften formulierten Kritik verstehen. In strukturierender Absicht sollen aus der »Fröhlichen Wissenschaft« Aphorismen angeführt werden, die sich entweder als Botschaften oder eher als Begründungen charakterisieren lassen. Allerdings ist eine strikte Trennung nicht immer sinnvoll, da vielerorts Nietzsches Aussagen eine Kombination aus beiden darstellen. In der zitierten 2. Vorrede lässt sich seine Vorgehensweise klar ablesen. Er will die Reichtümer und Kräfte einer Philosophie darlegen, die seiner Einteilung gemäß es nicht nötig hat, aus Mangel nach Halt, Beruhigung, Arznei, Erlösung etc. zu suchen, sondern »ein schöner Luxus« sei, eine Philosophie, »welche sich zuletzt noch in kosmischen Majuskeln an den Himmel der Begriffe schreiben muß.«228 Damit kündigt Nietzsche den hohen Anspruch an, sich einerseits auf die Begriffswelt der Philosophie zu beziehen – wie es in den versprengten Textstellen in zustimmenden oder ablehnenden Kommentaren zu philosophischen Positionen geschieht – andererseits aber eine neu »Schreibweise« hinzufügen zu wollen. Philosophie ist für ihn »Kunst der Transfiguration«.229 Philosophen dürften nicht trennen zwischen Seele und Leib, noch weniger zwischen Seele und Geist. Er habe sich oft gefragt, »ob nicht im großen gerechnet, Philosophie überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Mißverständnis des Leibes gewesen ist«, ob Krankheit die Philosophen inspiriert habe, so dass sie eine »unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein Geistigen« vorgenommen hätten.230 227 228 229 230

Vorrede zur 2. Ausgabe »Die fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, S. 346. A.a.O., S. 347. A.a.O., S. 349. A.a.O., S. 348.

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Nietzsche rückt den Aspekt des Schmerzes – mit dem er durch seine Erkrankungen hinlänglich vertraut war – ins Zentrum seiner Reflexion. Der große Schmerz zwinge die Philosophen, in die letzte Tiefe zu steigen; er sei der letzte Befreier des Geistes und »Lehrmeister des großen Verdachtes«.231 Aus diesen Abgründen komme man neugeboren zurück »mit feinerem Geschmack für Freude, … mit lustigeren Sinnen.« Man verstünde sich besser auf das, was dazu nottut, eine andere Kunst, »eine Kunst für Künstler« hervorzubringen, auf die Heiterkeit. Diese Kunst sei »eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst.232 Dies möchte Nietzsche beweisen. Seine Liebe zur Wahrheit, sein Wille zur Wahrheit, sei aber keine ›Wahrheit um jeden Preis‹. In dem Beispiel des kleinen Mädchens, das auf die Frage, ob es wahr sei, dass Gott überall zugegen sei, antwortet, es fände dies unanständig, sieht Nietzsche einen »Wink« für Philosophen. Man solle die Scham besser in Ehren halten.233 Die Aktualität von Nietzsches Gedanken über den Schmerz in Verbindung mit Wahrheit und Ästhetik zeigt sich beispielhaft an der Preisfrage der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. »Was ist es, das in uns schmerzt?« In einem Plädoyer für eine ästhetische Anthropologie des Schmerzsinns hebt Franck Hofmann hervor, wie sehr dieser Anteil an der Bildung eines ästhetischen Menschen habe, »an einer Arbeit, durch die dieser die Begrenzung seiner biologischen Existenz zurück zu lassen sucht.« Die Ambivalenz der Schmerzerfahrung bringt Franck Hofmann mit dem Hinweis zum Ausdruck, dass sie eine »prekäre Energie« sei, »die hinter den symbolischen Formen des Menschen ebenso zerstörend wie bildend wirksam ist.«234 Gleich im ersten Aphorismus der »Fröhlichen Wissenschaft« beklagt Nietzsche, dass die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten nicht genug Genie gehabt hätten, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen, denn dazu müsste man über sich selbst lachen. Vielleicht würde sich in Zukunft das Lachen mit der Wahrheit verbinden. Einstweilen sei sich die Komödie des Daseins noch nicht ›bewußt geworden‹ – »einstweilen ist es immer noch die Zeit der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen.«235 Wie in der »Morgenröte« nimmt Nietzsche auch hier kritisch Bezug auf den kategorischen Imperativ. Er konstatiert Philosophien der Moral, die die Unterwerfung lehrten. »Alle feinere Servilität hält am kategorischen Imperativ fest und ist der Todfeind derer, welche

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A.a.O., S. 350. A.a.O., S. 351. A.a.O., S. 352. Franck Hofmann, Schmerz und symbolische Ordnung des Menschen, in: Preisfrage 2001 »Was ist es, das uns schmerzt?«, Die Junge Akademie 2003, Erfurt, S. 87 ff. 235 »Die Fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, Aph. 1, S. 369 ff.

Botschaften und Begründungen

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der Pflicht den unbedingten Charakter nehmen wollen.«236 In dem Stadium der moralischen Dinge eröffnet sich nach Einschätzung Nietzsches »ein ungeheures Feld der Arbeit«. Er sieht sich offensichtlich herausgefordert, auf die Vielfalt der Aspekte des menschlichen Zusammenlebens einzugehen, da es keine hinreichende historische Darstellung der Existenz-Bedingungen des Menschen, keine umfangreiche Sammlung zu einzelnen Phänomenen (wie Liebe, Habsucht, Neid, Gewissen etc.) gäbe. Bei diesem Einfordern von empirischem Material, das eine Arbeit für künftige Geschlechter sei, geht es ihm auch um »die Nachweisung der Gründe für die Verschiedenheit des moralischen Klimas.«237 Erst wenn auch die Irrtümer dieser Gründe und das Wesen des moralischen Urteils festgestellt sei, rücke die heikelste aller Fragen in den Vordergrund, »ob die Wissenschaft imstande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, daß sie solche nehmen und vernichten kann.«238 Die gegenwärtigen Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften scheinen Nietzsches Skepsis gegen überhöhte moralische Ansprüche zu bestätigen, bieten aber – zumindest in ihren teils radikalisierten Schlussfolgerungen mit problematischen Begriffen – keine philosophisch akzeptable Grundlegung für moralisches Handeln. Wird z. B. als vermeintlich schlüssiges Ergebnis der freie Wille dem Menschen vollends abgesprochen, d. h. die Wahlmöglichkeit zwischen Handlungsalternativen und damit das Verantwortlichsein, ist dies eher ein Beitrag zum »Vernichten« grundlegender Annahmen. Dies soll nicht heißen, dass für die Klärung ethischer Fragen naturwissenschaftliche Ergebnisse belanglos seien, im Gegenteil ist der empirische Gehalt ein maßgebliches Kriterium für überzeugende ethische Positionen. Somit ist der interdisziplinäre Austausch, der Diskurs in vielfältiger Gestalt – der Intention Nietzsches gemäß – ein aktuelles Erfordernis. Aber auch hier gilt, dass die mit der Aufklärung erneuerte Position des »Ausgangs aus der Unmündigkeit« – eine bis heute unabgeschlossene, vermutlich niemals abschließbare Aufgabe239 – bestrebt ist, sich vor einer Unterwerfung jedweder Autorität, auch der wissenschaftlichen gegenüber zu hüten. Zu einer skeptischen Haltung rät Nietzsche auch gegenüber den berühmten Männern, da diese – wie zum Beispiel Politiker – diesen Ruhm nötig hätten und ihre Verbündeten und Freunde mit Hintergedanken auswählten. Sie bedienten sich der Eigenschaften anderer nach Belieben und wollten angesichts des sich vollziehenden Wandels als »fest und ehern und weit glänzend stehen bleiben – und auch dies hat bisweilen seine Komödie und sein Bühnenspiel nötig.«240 236 237 238 239 240

A.a.O., Aph. 5, S. 377 f. A.a.O., Aph. 7, S. 378 ff. Ebd. Vgl. dazu Michel Foucault, Ethos der Moderne, Frankfurt am Main, New York 1990. »Die fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, Aph. 30, S. 401 f.

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Entgegen dieser Kritik an Politikern, die sich auf Nietzsches Zeit bezieht, stellt er das Verdienstvolle großer Staatsmänner der Vergangenheit heraus. So sei es Napoleon zu verdanken, »daß der Mann in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister geworden ist …«241 Napoleon habe sich als einer der größten Fortsetzer der Renaissance bewährt und ein Stück antikes Wesen heraufgebracht. Nietzsche sinniert darüber, ob dies auch den Weg bereiten könne zur Überwindung der nationalen Bewegung, um das »Eine Europa« zu schaffen. Diesem Element der europäischen Perspektive Nietzsches ist die irritierende und im Nationalsozialismus missbrauchte Formulierung hinzugefügt: »… und dies als Herrin der Welt.«242 Dieser Gedanke lässt sich in den Zusammenhang von Nietzsches problematischen Machtphantasien einordnen.243 Berücksichtigt man allerdings die von ihm u. a. in der »Morgenröte« beklagte Zerstörung außereuropäischer Kulturen, so ist auch eine andere Interpretation dieser Textpassage möglich. Zieht man die von »Zarathustra« verkündete Botschaft heran, »Bleibt der Erde treu«, so könnte auch in Parallele zu dem alttestamentarischen »Macht euch die Erde untertan«, eine Bemächtigung mit dem Ziele des Bewahrens gemeint sein. Mit diesem Hinweis soll das Irritierende und Ärgerliche in Nietzsches Philosophie nicht durch interpretatorisches Manövrieren hinweggezaubert werden. Er selbst hat in den in Kapitel I angeführten Aphorismen und Passagen – insbesondere in seiner Religionskritik – Interpretationstricks aufzudecken versucht. Bezüglich seiner politischen Themen lassen sich beim Vergleich einzelner Aspekte recht ambivalente Äußerungen gegenüberstellen. So werden Kriege oft als reinigende und scheinbar notwendige Mittel angeführt, andererseits auch die zerstörerischen Auswirkungen kritisch aufgezeigt. Ebenso verhält es sich bei seinen meist skeptischen Äußerungen zur Demokratie als Staatsform und zu bestimmten demokratischen Entwicklungen. Diesen gegenüber steht seine Erkenntnis, dass die Demokratisierung Europas unaufhaltsam sei, ein Glied in der Kette von prophylaktischen Maßregeln, mit denen man sich vom Mittelalter abhebe und mit den »Zyklopenbauten« beginnen könne. »Endlich Sicherheit der Fundamente, damit alle Zukunft auf ihnen ohne Gefahr bauen kann.«244 Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich bei dem großen Thema »Nietzsche

241 A.a.O., Aph. 362. 242 Ebd. Auch hier böte sich ein Vergleich an zu Hegels Bezug auf »welthistorische Individuen«, aber das würde ein zu weites Feld öffnen. 243 Vgl. dazu Margot Fleischer, Der »Sinn der Erde« und die Entzauberung des Übermenschen: Eine Auseinandersetzung mit Nietzsche, Darmstadt 1993. In ihrer tiefsinnigen Würdigung stellt sie u. a. als ein Versäumnis Nietzsches heraus, dass er keine Machttheorie entwickelt habe. 244 »Menschliches, Allzumenschliches« II, (Wan. 275), KSA 2, S. 671 f.

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und die Frauen«.245 Selbst wenn man einige verfälschte Zitate und abwegige Schlussfolgerungen zurechtrückt, bleiben genügend Äußerungen, die im krassen Gegensatz zu seinen Verehrungen von Frauen stehen. Herausragendes Beispiel für seine Wertschätzung ist seine Beziehung zu Lou von Salom¦, der er in »Ecce homo« trotz seiner Enttäuschung über unerfüllte Heiratsabsichten an prominenter Stelle eine wichtige Klarstellung widmet. In seiner Kommentierung zu »Also sprach Zarathustra« bezeichnet er die Zwischenzeit bis zur Niederschrift als einen Zustand, in dem ihm »das jasagende Pathos par excellence« innewohnte. Zu dieser Zeit gehört der Hymnus auf das Leben, dessen Text nicht von ihm stamme. »Er ist die erstaunliche Inspiration einer jungen Russin, mit der ich damals befreundet war, des Fräulein Lou von Salom¦. Wer den letzten Worten überhaupt einen Sinn zu entnehmen weiß, wird erraten, warum ich es vorzog und bewunderte: sie haben Größe. Der Schmerz gilt nicht als Einwand gegen das Leben.«246 Als Hymnus auf die Kunst möchte ich einen der schönsten Aphorismen in der »Fröhlichen Wissenschaft« bezeichnen: Vita femina.247 Hier ist das »jasagende Pathos« ebenfalls am Werke und vereint in großartiger Weise Gedanken über Schönheit, Leben und Frauen, so dass er zugleich als Hymnus auf das »Weib« benannt werden kann – zeit- oder Goethe-gemäß: Hymnus auf das Weibliche! Dieser Aphorismus enthält eine zentrale Botschaft, bietet aber zugleich auch Begründungen. Seiner Bedeutung und Schönheit wegen zitiere ich ihn in Gänze: Vita femina – Die letzten Schönheiten eines Werkes zu sehen – dazu reicht alles Wissen und aller guter Wille nicht aus; es bedarf der seltensten glücklichen Zufälle, damit einmal der Wolkenschleier von diesen Gipfeln für uns weiche und die Sonne auf ihnen glühe. Nicht nur müssen wir gerade an der rechten Stelle stehen, dies zu sehen: es muß gerade unsere Seele selber den Schleier von ihren Höhen weggezogen haben und eines äußern Ausdruckes und Gleichnisses bedürftig sein, wie um einen Halt zu haben und ihrer selber mächtig zu bleiben. Dies alles aber kommt so selten gleichzeitig zusammen, daß ich glauben möchte, die höchsten Höhen alles Guten, sei es Werk, Tat, Mensch, Natur, seien bisher für die meisten und selbst für die Besten etwas Verborgenes und Verhülltes gewesen – was sich aber uns enthüllt, das enthüllt sich uns einmal! – Die Griechen beteten wohl: ›zwei- und dreimal alles Schöne!‹ Ach, sie hatten da einen guten Grund, Götter anzurufen, denn die ungöttliche Wirklichkeit gibt uns das Schöne gar nicht oder einmal! Ich will sagen, daß die Welt übervoll von schönen Dingen ist, aber trotzdem arm, sehr arm an schönen Augenblicken und Enthüllungen dieser Dinge. Aber vielleicht ist dies der stärkste Zauber des Lebens: es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheißend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib! 245 Vgl. dazu die umfangreiche Zitaten-Sammlung: Friedrich Nietzsche – Über die Frauen, hrsg. und kommentiert von Klaus Goch, Frankfurt am Main und Leipzig 1992. 246 »Ecce homo«, a. a. O., S. 104. 247 »Die fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, Aph. 339, S. 568 f.

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Die zentrale Botschaft besteht m. E. in der Überzeugung, dass die Enthüllung der letzten Schönheiten eines Werkes zu den einmaligen und seltenen Augenblicken des Lebens gehört. Das Enthüllungs-Erlebnis fasst Nietzsche sehr weit, indem er auch »die höchsten Höhen alles Guten« einschließt und neben dem Werk auch Tat, Mensch und Natur anführt. Voraussetzung dafür sei, dass vieles zusammenkommt und in die gleiche Zeit fällt. Wenn Nietzsche das Wissen und den guten Willen für nicht ausreichend hält, heißt dies, dass noch etwas hinzukommen muss, die Selbstermächtigung der Seele. Anders als in Zusammenhängen, in denen Nietzsche die Seele aus dem Spiel lassen möchte, da der Leib »begeistert« sei (»Ecce homo«, a. a. O., S.108), dürfte hier im Sinne der alttestamentarischen Bedeutung der ganze Mensch gemeint sein. Der emphatische Abschluss – »Ja, das Leben ist ein Weib!« – verweist auf die Parallele des Zaubers in der Kunst und im Leben. Im »Weib« offenbart sich dieser Zauber als reale Verführung und als verführerischer Anstoß zum künstlerischen Entdecken. Den Charakter reiner Botschaften haben die letzten Aphorismen des 4. Buches der »Fröhlichen Wissenschaft«, in denen Nietzsche die Lehre von der »ewigen Wiederkehr« als »das größte Schwergewicht« ankündigt und auf »Zarathustra« vorbereitet unter dem Stichwort »Incipit tragoedia«. Eine deutliche Botschaft enthält auch der Epilog. Hier kommen die Lebenselemente Musik und Tanz zum Ausdruck und die in Kapitel I zitierte Begeisterung für Beethovens Neunte Symphonie, indem Nietzsche seinen eigenen düsteren Fragezeichen die Aufforderung entgegenstellt: »Nicht solche Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!«

3.

Im Geiste der ›gaya scienza‹ oder der provençalische Rhythmus

Zur Frage, welcher Instrumente sich Nietzsche in der »Morgenröte« und in der »Fröhlichen Wissenschaft« bedient, sind im vorausgehenden Abschnitt zur Strukturierung ausgewählte Aphorismen den Begriffen Begründungen und Botschaften zugeordnet. Besonders der letzte Begriff bedarf der Präzisierung. Bei Nietzsche sind Botschaften selten bloße Mitteilungen in nüchterner Aussageform. Da er den Menschen nicht auf den Verstand reduziert in den Blick nimmt, sondern als Sinnenwesen, das mit einer Vielfalt an Sinnen ausgestattet ist, variieren seine Aussageformen der Bandbreite der Rezeptionsmöglichkeiten gemäß. Dabei spielen musikalische Elemente und der Aspekt der Schönheit eine tragende Rolle. In der »Fröhlichen Wissenschaft« ist die Poesie in zweifacher Weise enthalten. Zum einen sind seine Aphorismen durch poetische Formu-

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lierungen bereichert, zum anderen wählt Nietzsche als Ergänzung die Form der Lyrik, indem er die »Lieder des Prinzen Vogelfrei« hinzufügt. Von diesen Liedern sagt Nietzsche, dass sie zum besten Teil in Sizilien entstanden seien und ganz ausdrücklich an den provenÅalischen Begriff der ›gaya scienza‹ erinnerten, »an jene Einheit von Sänger, Ritter und Freigeist.«248 In einem Vortrag am Kolleg Friedrich Nietzsche in Weimar hat die amerikanische Nietzsche-Forscherin Babette E. Babich sehr detailliert die Hintergründe der Entstehung der »Fröhlichen Wissenschaft« dargelegt und dabei den Einfluss des ProvenÅalischen aufgezeigt.249 Babichs Interpretation gemäß geht Nietzsches »Fröhliche Wissenschaft« von Anfang an über die Freude des Spottes und der ›Leichtfüßigkeit‹ hinaus. Wegen der Anspielungen des Buches auf die Singkunst der Troubadoure könnte es als ein Handbuch der Dichtung angesehen werden, da Nietzsche selbst in seinen Kurzgedichten »Scherz, List und Rache. Vorspiel in deutschen Reimen« die Möglichkeit eines Vademekums in Betracht ziehe. Der Titel sei eine Anspielung auf Goethes »Scherz, List und Rache, über eine musikalische Szenenfolge«. In ihrem Vortrag bringt Babich in einer tiefgründigen Argumentation und mit vielfältigen Bezügen auf Grundfragen der Philosophie anschaulich zum Ausdruck, dass »Die fröhliche Wissenschaft« beides enthält: die Wissenschaft der Philologie und die Kunst der Komposition.250 Mit Verweis auf das Tanzlied aus dem Anhang mit dem Titel »An den Mistral« empfiehlt sie dieses Gedicht gemeinsam mit Nietzsches Lob des Südens zu hören, in dem er seine Liebe zur Dame ›Wahrheit‹ bekräftige. Der offensichtliche Bezug der »Fröhlichen Wissenschaft« auf die Troubadouren-Kunst wirft laut Babich viele Fragen auf, da unterschiedliche Interpretationen möglich sind, welche Kunst des Liedes dies für Nietzsche bedeutet habe. Folgt man Nietzsches Hinweis in »Ecce homo«, so scheint er die Kunst der Troubadoure mit der antiken musikalischen Kunst der Tragödie in eine Linie zu setzen.251 Die Frage nach der Wissenschaft kann nach Auffassung Babichs auch in Begriffen der Musik aufgeworfen werden und dies nicht nur nach der musikalischen Kunst der Troubadoure, sondern auch der späteren Erben. Die Muster der Klangfiguren hätten Nietzsches Einbildungskraft sehr gefangen genommen. Diesem Aspekt fügt sie einen Gedanken über die Digitalisierung der Musik in heutiger Zeit hinzu: Für Nietzsches »Helmoltzia-

248 »Ecce homo«, a. a. O., S. 102. 249 Vortrag von Babette E. Babich am 15. Dezember 2004 unter dem Titel »Nietzsches ›fröhliche‹ Science und Wissenschaft, Musik und Leidenschaft«. 250 So in Babichs Textvorlage, S. 2. 251 Für diesen Zusammenhang bietet Babich eine weitergehende Diskussion von Nietzsches Venedig-Gedicht in »Zwischen Hölderlin und Heidegger: Nietzsches Verklärung der Philosophie«, in: Valerie Lawitschka (Hrsg.), Hölderlin-Turmvorträge, Tübingen 2004.

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nische Empfindungsfähigkeit« wäre die Erfindung digitaler Musikproduktion »unendlich faszinierend gewesen.«252 Zum Verständnis des Charakters der fröhlichen Wissenschaft gibt es nach Babich zu bedenken, dass es sich einerseits um »eine leidenschaftliche, ganz und gar frohe Wissenschaft« handelt, andererseits geht es um eine vollkommene Wissenschaft »bis ganz hinunter«.253 Dies entspricht dem schon eingangs betonten Philosophie-Verständnis Nietzsches, in dem das Jasagen zum Leben das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen einschließt. Die Frage nach der Wissenschaft wirft Nietzsche – so Babich – »nicht als ein lösbares, sondern vielmehr als ein kritisches Problem auf.«254 Damit wende er sich der Schwierigkeit zu, die Wissenschaft in Frage zu stellen; das zu befragen, was normalerweise nicht als fraglich gilt. Dazu gehöre auch eine hartnäckige Selbstkritik.255 Die tiefgründige Bedeutung der Troubadouren-Kunst als einer Wissenschaft liegt nach Meinung Babichs in der poetischen Kreativität, wie sie am Ende des Aph. 58 der »Fröhlichen Wissenschaft« zum Ausdruck kommt: »- Aber vergessen wir auch dieses nicht: es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue ›Dinge‹ zu schaffen.« Nach einer überzeugenden Entschlüsselung der vielfältigen Aspekte, unter denen Nietzsche in seinen Aphorismen auf die Wissenschaft Bezug nimmt, gelangt Babich zu dem Resümee, wie es auch in den vorausgehenden Abschnitten in unterschiedlichen Zusammenhängen darzulegen versucht wurde, dass nur die Kunst uns eine Perspektive auf die Dinge gibt und nur die Kunst uns erlaubt, die Dinge aus angemessener Distanz zu sehen. In Verbindung mit der Freude (oder Fröhlichkeit), einem Leitmotiv Nietzsches – wie ich es nennen möchte – ermuntere er uns, von den Künstlern zu lernen, in derselben Weise, in der wir von Medizinern lernen. Die Kunst habe eine ganze Skala von Mitteln zur Verfügung, um Dinge schön, verlockend und begehrenswert zu machen, auch wenn sie es nicht sind.256 In dem gleichen Aphorismus (FW 299), in dem Nietzsche seine hohen Erwartungen an die Kunst deutlich macht, fordert er auf, noch weiser als die Künstler zu sein, denn bei ihnen höre die »feine Kraft« auf, wo das Leben beginnt: »Wir aber wollen Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst.« Babich bezeichnet die Verbindung von Wissenschaft 252 Anm. 53 der Textvorlage zu ihrem Vortrag. 253 A.a.O., S. 4. 254 A.a.O., S. 16. Noch intensiver setzt sich Babette Babich mit den Fragen zum Wissenschaftsverständnis Nietzsches in einem neuen Werk auseinander : Nietzsches Wissenschaftsphilosophie – ›Die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens‹, Bern 2011. 255 Die damit verbundene Frage nach dem Subjekt wird im IV. Kapitel aufgegriffen. 256 S. Textvorlage des Vortrags, S. 22.

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(Notwendigkeit) und Kunst (Kreativität) als »die Kunst des Lebens, die tiefste Errungenschaft von Nietzsches fröhlicher Wissenschaft«,257 so wie er es nach dem lyrischen Vorspann über den Sanctus Januaris im einleitenden Aphorismus (276) als »seinen Wunsch und liebsten Gedanken« ausspricht: »Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! … Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, alles in allem und großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!« Wenn Nietzsche gleichwohl auch Pessimismus als erstrebenswert bezeichnet, muss dieser sich von den Erscheinungsformen seiner Zeit unterscheiden und eine bestimmt Ausprägung erfahren. Vermutlich ist Nietzsche im fünften Buch258 der »Fröhlichen Wissenschaft« zu einer neuen Erkenntnis gelangt. In seiner Kritik an der Romantik gewinnt er – Hegels Stufenleiter gemäß – eine höhere Stufe in der Bewertung des Dionysischen. Er verwirft den romantischen Pessimismus, wie er in der Willensphilosophie Schopenhauers und in der Musik Wagners seine ausdrucksvollste Form gefunden hätte, als »das letzte große Ereignis im Schicksal unserer Cultur« und benennt den Pessimismus der Zukunft als den »dionysischen Pessimismus.« Dieser enthält auch »das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel und Werden«, aber als »Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft« und der Wille zum Verewigen komme er »aus Dankbarkeit und Liebe«.259 Auch in der Bewertung des Rhythmus nimmt Nietzsche eine Differenzierung vor. Wagners Wirkung sei eine »Entartung des rhythmischen Gefühls« und in »Jenseits von Gut und Böse« (188, KSA 5, 108) spricht er von einer »Tyrannei von Reim und Rhythmus«. In der »Fröhlichen Wissenschaft« führt er unter dem Stichwort »Vom Ursprung der Poesie« ebenfalls missbräuchliche Formen des Rhythmus an. Die Rhythmisierung der Rede habe seit der Antike der »elementaren Ueberwältigung« gedient. Nach jahrtausend langer Arbeit würde »auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt.«260 In der »GötzenDämmerung« hingegen nimmt Nietzsche bei der Erneuerung der von ihm in die Ästhetik eingeführten Gegensatz-Begriffe apollinisch und dionysisch eine positive Bewertung des Rhythmus vor. Man habe »zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst eine Anzahl der Sinne, vor allem den Muskelsinn stillgestellt«, aber

257 Ebd. 258 Wie die Vorrede und die »Lieder des Prinzen Vogelfrei« fügt Nietzsche auch das fünfte Buch in der 2. Aufl. der »Fröhlichen Wissenschaft« hinzu. 259 »Die fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, Aph. 370. 260 A.a.O., Aph. 84.

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in einem gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu unseren Muskeln.«261 Die Musik erfährt in diesem über weite Passagen befremdlichen und ärgerlichen Werk ihre höchste Wertschätzung: »Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.«262 Befreiend wirkt Nietzsches Ironie am Ende der »Fröhlichen Wissenschaft« in dem Gedicht »Dichters Berufung«, in dem er sein eigenes Tiktak dem Lachen preisgibt: »Wie mir so im Verse-Machen – Silb’ um Silb’ ihr Hopsa sprang, – Musst ich plötzlich lachen, lachen – Eine Viertelstunde lang.«263 Besonders wegen der Heiterkeit am Ende seines Buches und in vielen weiteren Aphorismen, aber auch wegen des Verzichts auf den Fanatismus – dessen Gefahren Nietzsche bewusst waren, die er aber in den späten Schriften nicht immer vermieden hat – kann die »Fröhliche Wissenschaft« als das Werk angesehen werden, in dem ihm seine philosophischen Abhandlungen – öfters auf die knappe Form der Mitteilung verkürzt – am besten gelungen sind. Giorgio Colli hält dieses Werk in Nietzsches Leben nicht nur im äußeren Sinn für zentral, sondern auch in dem subtileren. Es füge sich »wie ein magischer Augenblick der Ausgewogenheit in seine Schriften.« Alle Extreme seien zwar auch hier vorhanden, aber in entspannter Weise miteinander verbunden und unter Kontrolle gehalten.264

261 262 263 264

»Götzen-Dämmerung«, KSA 6, S 117 f. A.a.O., S. 947. »Die fröhliche Wissenschaft« – Anhang: »Lieder des Prinzen Vogelfrei«, a. a. O., S. 639. Vgl. Nachwort, a. a. O., S. 660 f.

Im Geiste der ›gaya scienza‹ oder der provençalische Rhythmus

Abb. 3: Heitere Empfindungen in der Morgenröte in Schloss Tutzing am Starnberger See

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III. Leitmotive »Zarathustras«

1.

Befreiung vom »Geist der Schwere«

»Also sprach Zarathustra«, zweifellos das bedeutendste und schwierigste Werk von Nietzsche, hat dessen Ruhm begründet, ihm zugleich auch die heftigste Kritik eingebracht. Thomas Mann, der Nietzsche als »faszinierende Gestalt« würdigte und dessen Verdienste für die deutsche Sprache und den »unentrinnbaren Einfluss auf jeden, der nach ihm Deutsch zu schreiben sich erkühnte«, in Superlativen rühmte (vgl. Kap. I), bewertete den »Zarathustra« als »eine an der Grenze des Lächerlichen schwankende Unfigur.«265 Der bereits im Titel von Thomas Manns Vortrag in Zürich 1947 (»Nietzsche im Lichte unserer Erfahrung«) deutliche Zeitbezug, seine Eindrücke nach dem Missbrauch von Nietzsches Schriften in der NS-Diktatur, haben offensichtlich zu dem abwertenden Urteil beigetragen. Das Licht, das Nietzsches »Zarathustra« bringen sollte, hatte sich auch für Thomas Mann verdüstert; Heinrich Manns Urteil ist hingegen Nietzsches Anspruch eher gerecht geblieben.266 Zu den hellsichtigen Würdigungen des »Zarathustra« zählen Aufsätze von Morteza Ghasempour, in denen insbesondere die bei Nietzsche enthaltene interkulturelle Perspektive zum Ausdruck kommt. Ghasempours Lesart, die maßgeblich durch seinen kulturellen Hintergrund, die persische Rezeptionsgeschichte, geprägt ist, bietet den Vorzug fundierter Kenntnisse über den Religionsstifter Zarathustra und die von Nietzsche intendierten Bezüge auf dessen Lehre. Ghasempour verdeutlicht die Geistesaffinität und die Denkdifferenzen zwischen Zarathustra und Nietzsche.267 Um Nietzsches ambivalentes Verhältnis 265 Thomas Mann, Nietzsche im Lichte unserer Erfahrung, Berlin 1947, S. 15. 266 Heinrich Mann hat bereits 1939 Nietzsche gegen die Vereinnahmung durch die Faschisten in Schutz genommen. Vgl. dazu Manfed Hahn: Das Werk Heinrich Manns. Von den Anfängen bis zum »Untertan«. Leipzig 1965, S. 342 – 369. 267 Morteza Ghasempour, Zarathustras Konzeption einer elementaren Ethik und Nietzsches Zarathustra-Rezeption, in: Ethik und Politik aus interkultureller Sicht, Hrsg. von R.A. Mall und N. Schneider, Amsterdam – Atlanta 1996.

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Leitmotive »Zarathustras«

zum historischen Zarathustra aufzuzeigen, rekonstruiert er Grundtheoreme der Zarathustrischen Lehre. Die frühestens in das 6. Jahrhundert v. Chr. zu datierende »Weltauslegung« verdankt ihre Wirkungsgeschichte, die bis in die Moderne hineinreicht – nach Auffassung Ghasempours – dem beachtlichen Maß »an kosmologischem, anthropologischem, ethischem und bildungstheoretischem Deutungspotential.«268 Zarathustras Lehre sei als eine Reformbewegung, als eine radikale aufklärerische Reaktion auf den Zerfall geistigen Lebens seiner Zeit zu begreifen. Durch die kritische Erfassung der geistigen Krise und religiösen Depravation werde Zarathustra »zum Diagnostiker des geschichtlich entstandenen Nihilismus seiner Zeit.« »Zarathustras emphatische Selbstauslegung als Erneuerer und der subversive Charakter zentraler Fundamente seiner Lehre bezeugen sein historisch-prophetisches Bewusstsein von der Notwendigkeit einer neuen Sinngebung durch die Schaffung neuer Werte.«269 Das Gottesverständnis Zarathustras ist akzentuiert durch Wissen, Wahrheit und Aufrichtigkeit. Der Verhältnismodus von Gott und Mensch bestimmt sich nicht als Herr-Knecht-, sondern als Freundschaftsverhältnis. Dass zudem Gott nicht im Glauben, sondern im Medium vernünftigen Denkens dem Menschen zugänglich gemacht werden könne, lässt für Ghasempour »die intellektualistischen, aufklärerisch-undogmatischen Grunddimensionen zarathustrischer Weltauslegung deutlich werden.«270 Nach Erläuterung der metaphysischen Urprinzipien271 Zarathustras stellt Ghasempour den Kern der Sittlichkeitslehre heraus, die in den drei normativen Grundsätzen konkretisiert sind: rechtes Denken, rechtes Reden und rechtes Handeln. Im allgemeinen Kontext zarathustrischer Ethik sei recht mit wahr und wahrhaftig synonymisiert und lügenhaft und unaufrichtig als dessen Gegenteil bezeichnet. Somit bildeten die Kategorien Wahrhaftigkeit und Lügenhaftigkeit die zentralen Komponenten.272 Einen deutlichen Bezug auf den historischen Zarathustra sieht Ghasempour darin, dass Nietzsche Wahrhaftigkeit als Kardinaltugend betont. Auch biographische Daten nehme Nietzsche in »Also sprach Zarathustra« auf, wenn er Zarathustras Weg ins Gebirge, seine zehnjährige Einsamkeit und seine Rückkehr zu den Menschen, um ihnen seine Botschaft zu schenken, im Anfangskapitel beschreibt. Die größte Entsprechung liegt in der »historischen Aufgabe der Überwindung des Nihilismus durch die Schaffung neuer Werte und der opti268 269 270 271

A.a.O., S. 132. Ebd. A.a.O., S. 133. Vgl. dazu S. 133 f. Ghasempour hält in diesem Zusammenhang fest, dass Nietzsche einem verbreiteten Missverständnis folgend von einer Übersetzung der Moral ins Metaphysische gesprochen habe; stattdessen gehe es bei Zarathustra »umgekehrt von der Spezifikation des Metaphysischen zum Praktischen.« 272 A.a.O., S. 135.

Befreiung vom »Geist der Schwere«

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mistischen Verheißung des Sieges des Lichtes (Zarathustra) und des Aufhebens eines neuen Tages (Nietzsche).«273 Von Nietzsches »Zarathustra« werde allerdings die Überwindung des Nihilismus anders vollzogen als von dem historischen Zarathustra. »Nietzsches Zarathustra wird zum Wahrsager der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, deren kritischer Sinn darin besteht, daß dadurch auf ein vorchristliches, antikes und vor allem Heraklitisches Weltbild zurückgegriffen wird.«274 Nachdem die wahre Welt sich als Fiktion erwiesen habe, verkündige Nietzsches Zarathustra die Lehre der ewigen Wiederkehr ausgerechnet dieser sinnlosen Welt. Dies interpretiert Ghasempour als eine Steigerung des Nihilismus »zu seinem höchstmöglichen Gipfel«, um auf diesem Kulminationspunkt überwunden zu werden. Ghasempours Interpretation schließt den m. E. zentralen Aspekt des Befreiungsgedankens von Nietzsche ein, dass das Nichts durch den Sinn der Erde überwunden wird: »… diesseits aller jenseitigen Hoffnungen …, ohne irgendein überirdisches Refugium zu verheißen, wird ein neues Schwergewicht, ein neuer Sinn geschaffen.«275 Der Akt der Befreiung vollzieht sich in Nietzsches Gedanken- und Lebenswelt in jener Dublizität, die auch in anderen Zusammenhängen für ihn kennzeichnend ist, als ein Abwerfen bisheriger Last, die zum Tanzen befreit, aber ein neues Schwergewicht auf sich nimmt. Es ist ein Akt des Willens, bei dem der Mensch seine Souveränität gewinnt als Schätzender : »- er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn!«276 Da Schätzen für Nietzsche gleich Schaffen ist, lässt er »Zarathustra« verkünden, dass der Wandel der Werte ein Wandel der Schaffenden ist. Und wer ein Schöpfer ist, der muss die alten Werte vernichten und neue schaffen. Diese große Aufgabe wird erst dem Übermenschen gelingen, aber zuvor können sich die Menschen zu dessen Vätern und Vorfahren umschaffen.277 Zu dem heiklen Begriff des Übermenschen hat Margot Fleischer in der zum Thema Macht bereits zitierten Schrift278 eine detaillierte Abwägung der unterschiedlichen Bedeutungen und Interpretationsmöglichkeiten vorgenommen. Sie hat im Sinne der Entzauberung, die sie bei Nietzsche selbst schon angelegt sieht, es vorgezogen, den Begriff höherer Typus in den Vordergrund zu rücken. Nietzsche hat in den späten Schriften diesen und ähnliche Begriffe häufiger verwendet, so z. B. höherwertiger Typus, vornehmer und wohlgeratener Typus. Mit dieser Vielfalt »nicht so ambitiöser Bezeichnungen« sind zwar nicht alle 273 274 275 276 277 278

A.a.O., S. 137. A.a.O., S. 138. Ebd. »Also sprach Zarathustra«, KSA 4, S. 75. Ebd. Margot Fleischer, Der »Sinn der Erde« und die Entzauberung des Übermenschen: eine Auseinandersetzung mit Nietzsche, Darmstadt 1993, S. 180 ff.

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Leitmotive »Zarathustras«

problematischen Inhalte und negativen Konnotationen ausgeräumt, aber stärkere Differenzierungen in den Blick genommen. Margot Fleischer zitiert als ein Beispiel für den höheren Typus aus der »Götzen-Dämmerung« den Goethe gewidmeten Aphorismus (»Streifzüge eines Unzeitgemäßen«, 49), in dem Nietzsche seine besondere Hochschätzung entfaltet. In Goethe habe sich schon vieles erfüllt, wovon sonst meist abstrakt gesprochen werde und – so kann man hinzufügen – was Nietzsche weitgehend in die Zukunft verlegt. Abweichend von Margot Fleischer sei hier auch auf den Anfang des zitierten Aphorismus verwiesen, in dem Nietzsche Goethe nicht als ein deutsches, sondern als europäisches Ereignis rühmt, da er das 18. Jahrhundert zu überwinden versuchte als ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit. Goethe habe das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille bekämpft. Er ist der freigewordene Geist, der sich als »einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selber im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen« konzipierte. In »Also sprach Zarathustra« widmet Nietzsche dem höheren Menschen einen längeren Abschnitt, in dem bilderreich – wie in der gesamten Schrift – viele Gedanken aufgreifend und zusammenfassend die Überwindung beschworen wird.279 Die Metaphern für die Befreiung – Tanzen und Lachen – künden nach vielerlei Beschwernissen, Anfechtungen, Zweifeln und Verwandlungen vom nahen Ziel. »Der Schritt verräth, ob Einer schon auf seiner Bahn schreitet: so seht mich gehen! Wer aber seinem Ziele nahe kommt, der tanzt.«280 Als die größte Gefahr des Übermenschen werden die kleinen Leute benannt, bei denen »alle Ergebung und Bescheidung und Klugheit und Fleiss und Rücksicht und das lange Und-so-weiter der kleinen Tugenden« vorherrschen. Noch einmal fällt Zarathustra der »Geist der Schwermuth« an, »dieser AbendDämmerung-Teufel«,281 bevor er den Tag des »Sieges« erlebt, an dem der Geist der Schwere, der »alte Erzfeind« flieht, das »Nachtwandler-Lied« angestimmt wird und der grosse Mittag heraufkommen kann.282 Die hier als Beispiele angeführten Stationen mit bedeutungsvollem Inhalt283 markieren jeweils auf ihre eigene Weise den Weg zum Ende, zur Vervollkommnung. In seinen Interpretationen von nahezu allen wesentlichen Passagen des »Zarathustra« resümiert Christian Niemeyer zum Schlusskapitel »Das Zeichen«, dass Zarathustra – besser gesagt Nietzsche – nicht mehr an dem höheren Menschen interessiert sei, 279 Zur Interpretation dieses Abschnittes vgl. Christian Niemeyer, Friedrich Nietzsche ›Also sprach Zarathustra‹, Darmstadt, 2007. 280 A.a.O., S. 365. 281 A.a.O., S. 370. 282 A.a.O., S. 408. 283 Das gilt in besonderer Weise für das »Nachtwandler-Lied«: »Oh Mensch! Gieb Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? …?« A.a.O., S. 404.

Befreiung vom »Geist der Schwere«

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sondern an dem Übermenschen, dessen Vorbote der Löwe ist. Mit Verweis auf das Zitat »Wohlan! Der Löwe kam, meine Kinder sind nahe, Zarathustra ward reif, meine Stunde kam: – » konstatiert er einen Paradigmenwechsel, der wegführe von dem Widerkunftsgedanken zur wahren Zeitlosigkeit und Vollkommenheit. Dies habe eine Änderung in der Selbstauslegung Zarathustras zur Folge: »Zarathustra, der Erzieher – als welchen wir ihn eigentlich den gesamten ›Zarathustra‹ über die Tätigkeit gesehen haben –, hört auf zu existieren, dies jedenfalls in Sachen des auf intentionales Handeln bezogenen Gehalts des Erziehungsbegriffs. Stattdessen greift ein eher auf Selbsterziehung abstellendes Verständnis.«284 Ob dies von Nietzsches bedeutender und rätselhafter Lehre der ewigen Wiederkunft wegführt, ist m. E. sehr fraglich; überzeugend scheint mir hingegen die Betonung der Selbsterziehung, wozu Niemeyer lediglich auf »Zarathustra« I,2 (»Von den drei Verwandlungen«) verweist. Darüber hinaus lassen sich mehrere Abschnitte zur Bestätigung dieses Aspektes anführen; so z. B. III,11 (»Vom Geist der Schwere«), wo betont wird, dass es Den Weg nicht gibt, somit der eigene gefunden werden muss, zudem II,2 (»Auf den glückseligen Inseln«), jene bereits in der Einleitung zitierte Passage, in der der Schaffensprozess ins Zentrum gerückt wird: »Und was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen werden: eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe, soll es selber werden!« Befreiung vom »Geist der Schwere« lässt sich folglich als ein Prozess der Selbsterziehung verstehen, wenn der für Nietzsche typische Horizont berücksichtigt wird, der sowohl das Geistige als auch das Körperliche umfasst. Dem Leiblichen wird dabei größere Bedeutung beigemessen. Für den Weg zum Übermenschen bilden die »Verächter des Leibes« keine Brücke. Zarathustra verkündet, dass der Erwachte, der Wissende sagt: »Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem.« Dieser Pointierung folgt eine eigenwillige Verwendung des Begriffs Vernunft im Rahmen einer Skizzierung des Verhältnisses von Leib und Geist. »Der Leib ist eine grosse Vernunft, mein Bruder, die du ›Geist‹ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft.«285 Der Stolz auf das Wort »Ich« wird überboten durch das, was der Leib und seine große Vernunft sagen: »die sagt nicht Ich, aber thut Ich.«286 Als Ziel der Befreiung lässt sich festhalten, dass nach der Überwindung von Moral und Religion, nach dem Tod Gottes, das Befreitsein zur Tat erreicht ist, die 284 Christian Niemeyer, a. a. O., S. 128. In der Vorrede »Zarathustra« deutet sich für Niemeyer die »für das Gesamtwerk nachweisbare pädagogische Thematik und erzieherische Absicht« an. (A.a.O., S. 10.). 285 »Also sprach Zarathustra«, KSA 4, S. 39. 286 Ebd. Die Frage, ob Nietzsche damit einer »Vergöttlichung« des Leibes huldigt, wird im 4. Kapitel aufgegriffen.

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Leitmotive »Zarathustras«

Möglichkeit ein Schaffender zu sein in dem emphatischen Sinne Nietzsches. Dies kann man als eine Weise des Praktischwerdens der Philosophie bewerten, wie es mit ähnlichen Inhalten in Hegels objektivem Geist Gestalt gewonnen hat und in der berühmten Feuerfachthese von Marx287 zum generellen Postulat erhoben wird. Diesen Grundzug philosophischer Positionen, die sich nicht auf bloßes Aufweisen von Denkstrukturen und Argumentationsfiguren reduzieren, ist ein auch bei Nietzsche vernachlässigtes Element hinzuzufügen, der von Hannah Arendt entfaltete Begriff der Gebürtlichkeit.288 Bei Nietzsche wird das Gebären bei der Erläuterung des Wortes Dionysos aufgegriffen und in den Zusammenhang des Schaffens und der Lebensbejahung gerückt, aber dem Aspekt des Schmerzes zugeordnet. »Alles Einzelne im All der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle … Damit es die ewige Lust des Schaffens gibt, damit der Wille zum Leben sich bejaht, muss es auch ewig die ›Qual der Gebärerin‹ geben.«289 Der Gedanke ist eingebettet in ein Lob auf die Hellenen, die in ihren dionysischen Mysterien – anders als das Christentum, das mit seinem »Ressentiment gegen das Leben« aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht habe – im geschlechtlichen Symbol ihre Frömmigkeit und Lebensbejahung zum Ausdruck gebracht hätten: »Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens … das wahre Leben als das Gesamt-Fortleben durch die Zeugung.«290

2.

Öffnung durch die Erweiterung des Horizontes

Nietzsches Wiederkunftsgedanke spiegelt sich auch in der Art der Darstellung. So ist das Motiv der Öffnung in »Also sprach Zarathustra« unter variierenden Gesichtspunkten enthalten und lässt sich wie ein basso continuo als wieder287 11. Feuerbachthese: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.« Karl Marx, Friedrich Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1973. 288 Der bei Hannah Arendt zentrale Gedanke wird u. a. von Ronald Beiner in einer Kommentierung ihrer Schrift »Das Urteil« in Beziehung gesetzt zu Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkehr, in: Hannah Arendt, Das Urteilen – Texte zu Kants Politischer Philosophie, Hrsg. und mit einem Kommentar, München 1985. Vgl. auch Ludger Lütkehaus, Natalität – Philosophie der Geburt, Zug: Die Graue Edition 2006. 289 »Götzen-Dämmerung«, KSA 6, S. 159. Anna Hartmann Cavalcanti verdanke ich den Hinweis auf die Schrift von Michael Kahlenbach ›Immer neue Geburten‹, in der der Autor »die Aufmerksamkeit auf die Häufigkeit der Bilder von spiritueller Zeugung und Niederkunft sowohl in der Geburt der Tragödie als auch in den Erörterungen Nietzsches über dieses Buch« lenke. Nicht nur im Werk selbst, sondern auch in den Briefen sei »die Ausarbeitung des Tragödienbuches als geistige Geburt beschrieben.« Anna Hartmann Cavalcanti in »Sprache und Gedankenspiel – Zu Nietzsches frühem Denkexperiment«, unveröffentlichtes Manuskript, 2006, S. 18. 290 »Götzen-Dämmerung«, ebd.

Öffnung durch die Erweiterung des Horizontes

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kehrende Melodie erkennen. Der Vergleich mit einem musikalischen Begriff soll darauf hinweisen, dass Nietzsche sich von seinem »Zarathustra« erhoffte, dass er einmal unter die Musik gerechnet würde.291 Richard Strauss hat »Also sprach Zarathustra« wenige Jahre nach der Veröffentlichung als symphonische Dichtung komponiert und gemäß der Programmmusik jener Zeit den Text Nietzsches seiner Komposition zu Grunde gelegt. In Gustav Mahlers Symphony No. 3 wird das »Nachtwandlerlied« auf wunderbare Weise zum Erklingen gebracht. Nietzsches Überlegung, die er in seiner Selbstkritik der »Geburt der Tragödie« voranstellt »Sie hätte singen sollen, diese neue ›Seele‹ – und nicht reden!« ist hier von Mahler in vortrefflicher Art eingelöst.292 In seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Musik Wagners räumt Nietzsche ein, dass er wie Wagner auch ein Kind seiner Zeit sei, d. h. ein d¦cadent, er habe sich aber dagegen gewehrt. Zu dieser großen Aufgabe sei viel Selbstdisziplin vonnöten gewesen. »Eine tiefe Entfremdung, Erkältung, Ermüdung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemäße: und als höchsten Wunsch das Auge Zarathustras, ein Auge, das die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht – unter sich sieht … Einem solchen Ziele – welches Opfer wäre ihm nicht gemäß? Welche ›Selbst-Überwindung‹! Welche ›SelbstVerleugnung‹!293 Nietzsche gewinnt durch die Abkehr von Wagner, die ihm – wie andere Entwicklungen auch – zunächst Schmerzen bereitet, eine Öffnung für die Musik Bizets, die leicht, biegsam und mit Höflichkeit daherkomme. Bizet mache ihn fruchtbar. »Hat man bemerkt, daß die Musik den Geist frei macht? Dem Gedanken Flügel gibt? Daß man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird?«294 Die Musikalität Nietzsches findet in »Also sprach Zarathustra« u. a. darin ihren Ausdruck, dass er diese Schrift als einen dionysischen Dithyrambus konzipierte.295 Auch die bilderreiche Sprache bietet einen Beleg dafür. Zu den einprägsamsten und aussagekräftigsten Bildern rechne ich die Rede Zarathustras »Von den drei Verwandlungen«, die Nietzsche an den Anfang einer Vielzahl von Reden stellt. Die Entwicklung des Geistes wird mit folgender Metaphorik beschrieben: »Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie 291 In »Ecce homo« fügt er dieser Hoffnung hinzu: »Sicherlich war eine Wiedergeburt in der Kunst zu hören, eine Vorausbedingung dafür.« Mit seinem Freund Peter Gast, einem gleichfalls »Wiedergeborenen« habe er im Frühling des Jahres 1881 entdeckt, »daß der Phönix Musik mit leichterem und leuchtenderem Gefieder, als er je gezeigt, an uns vorüberflog.« (A.a.O., S. 103). 292 GdT, KSA 1, S. 15. Eine exzellente Aufführung von Mahlers Symphony No. 3 boten Claudio Abbado als Dirigent und Jessy Norman als Sängerin 1982 mit der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, den Wiener Sängerknaben und den Wiener Philharmonikern. 293 »Der Fall Wagner«, Vorwort, KSA 6, S. 11. 294 A.a.O., S. 14. 295 Vgl. dazu G. Kaiser: Wie die Dichter lügen. Dichten und Leben in Nietzsches ersten beiden Dionysos-Dithyramben. In: Nietzsche Studien 15, 1986, S. 184 – 224.

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der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.«296 Von den vielfältigen Aspekten dieser berühmten Rede »Zarathustras« soll über das »heilige Nein« hinaus, durch das der Löwe sich Freiheit schafft, die in der Verwandlung zum Kinde sich vollziehende Bejahung genannt werden. Wie in verschiedenen Zusammenhängen schon betont, verharrt Nietzsches Denken nicht in der Negation.297 Als stärkstes Element seines Philosophierens lässt sich die Überwindung des Abgründigen festhalten. Man kann diese als eine Besonderheit und Problematik von Nietzsches Horizonterweiterung bewerten, dass er, der »vom Ende nichts wissen wollte«, damit Anlass bot zu »Endphantasmagorien und Überwindungsszenarios.«298 Die Metaphorik des Kindes in der Rede von den »Verwandlungen« enthält eine positivere Wendung. Die Unschuld des Kindes ermöglicht ein »Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel.«299 Das Schaffen verliert den »Geist der Schwere«, es wird – dem Kinde gleich – als »ein aus sich rollendes Rad«, offen für das Spielerische als höchste Stufe, als »ein heiliges Ja-Sagen.«300 Die drei Verwandlungen sind nach Auffassung Niemeyers exemplarisch für den Prozess von Nietzsches Selbstkonstitution (als Subjekt). Hinter allen drei Handlungsträgern verberge sich Nietzsche.301 Als Beleg für seine Hypothese verweist er u. a. auf das Begriffskonzept des frühen Nietzsche. Dabei sollte m. E. eine allzu enge Übertragung auf Nietzsches Schul- und Studentenzeit vermieden werden, da sich für die Zeit des »Zarathustra« und der späten Schriften eher die Beachtung von Nietzsches Kritik am Subjektbegriff anbietet. Georges Goedert hat in einem Vortrag am Kolleg Friedrich Nietzsche in Weimar über die »Destruktion des althergebrachten Subjektbegriffes« referiert, wie sie sich verstreut im »Nachlass« der achtziger Jahre bei Nietzsche findet.302 296 »Also sprach Zarathustra«, KSA 4, S. 29. 297 Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, ob Nietzsche, wie Adorno meinte, indem er sich der Sprache der Hegelschen Philosophie bedient, der Begriff der ›bestimmten Negation‹ fehle, so dass er nicht berücksichtige, dass dem Neuen, das er dem als schlecht Erkannten gegenüberstellt, das Negierte in einer neuen Form enthalten sei. Nietzsche habe aus Verzweiflung einen Turm aus dem Nichts heraus bauen wollen. (So Adorno im »Frankfurter Gespräch« des Hessischen Rundfunks am 25. Aug. 1950 zum 50. Todestag Nietzsches). 298 Eva Geulen, Das Ende der Kunst, a. a. O., S. 61. Sie konstatiert ein Paradox bei Nietzsche: »Weil seine Philosophie kein Ende der Kunst kennt, muß Nietzsche das Finale sein.« Bezüglich Nietzsches »Die Muse als Penthesilea« resümiert sie, dass es ein Tragödien- und auch ein Komödien-Ausgang sein könne. »Auch dieses Ende mit offenem Ausgang ist Erbteil Nietzsches und bleibt Erbteil Hegels.« (A.a.O., S. 87). 299 »Also sprach Zarathustra«, KSA 4, S. 31. 300 Ebd. 301 Vgl. Niemeyer, a. a. O., S. 14. 302 Georges Goedert, Nietzsches Kritik am Subjektbegriff. Die im Folgenden angeführten

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Als allgemein bekannt bezeichnet Goedert, dass Nietzsche als Kritiker des abendländischen Logozentrismus die Rationalität hinterfrage, indem er auf ihre Entstehung hinweise. Eine wichtige Rolle spiele in diesem Zusammenhang »das Aufsprengen letzter Einheiten, speziell der Grundeinheiten Gott, Welt, Seele.«303 Mit dem Wort Seele sei auch schon das »Subjekt« angesprochen. Da es Nietzsche mit der Terminologie nicht so genau nehme, könne der Subjektbegriff in der einen oder anderen Weise gemeint sein, wenn die Ausdrücke »Seele«, »Geist«, »Bewusstsein« oder »Ich« gebraucht würden. Der Gebrauch hänge vom jeweiligen Kontext ab. Die einzelnen Doktrinen stünden nur als Modell für eine lange Entwicklung, »deren Wurzeln dort zu suchen wären, wo der Mensch anfing, als ein gesellschaftliches Wesen zu leben und eine für ihn notwendige und nutzbringende Art des Erkennens und der Kommunikation schaffen musste.«304 Daraus folgert Goedert, dass es müßig sei zu fragen, ob Nietzsche sich gerade mit der unsterblichen »Seele« Platons oder der des Christentums beschäftige, mit der »res cogitans« Descartes’, dem intelligiblen »Ich« Kants, dem »Ich« des subjektiven Idealismus oder dem wollenden »Subjekt« Schopenhauers. Für Nietzsche seien dies nur Varianten einer einzigen Fiktion, deren Herkunft und Funktion er bloßlegen wolle. Bezogen auf die »ewige Wiederkehr« hält es Goedert für wichtig zu wissen, dass »das Ich nicht als die ursprüngliche und einmalige Quelle des eigenen Schaffens angesehen werden darf, sondern nur als eine Passage im Spiel der kosmischen Kräfte.«305 Diesen Kräften korrespondieren m. E. die Kraftzentren des Leibes gemäß der Schlussfolgerung von Goedert, dass das Ich in Nietzsches Überwindung des herkömmlichen Subjektbegriffs als ein Werkzeug des Leibes angesehen wird, »hervorgebracht von einer Pluralität der Affekte.«306 Wird also die ›große Vernunft‹ des Leibes zum Träger der Identität, wirft dies in Verbindung mit der Diskrepanz »zwischen dem Pragmatismus des Perspektivischen und der als interesselos ausgehenden Suche nach der Wahrheit« für Goedert mehrere bedeutungsvolle Fragen auf. Daraus soll hier der Gedanke aufgegriffen werden, der einen Bezug zum 4. Kapitel des »Zarathustra« herstellt. Goedert fragt, ob es besser sei, »sich nur noch anhand künstlerischen Gestaltens, jenseits aller abstrakten Begrifflichkeit und logischen Einheitlichkeit, über das Ich zu äußern.«307 Bezogen auf die Aussage des Zauberers über Zarathustra im ›Lied der Schwermuth‹ »[…] Nur Narr! Nur Dichter!« stelle sich die Frage, ob nicht der Dichter zuständiger sei. Goederts Antwort entspricht der Offenheit, mit der man

303 304 305 306 307

Seitenangaben entsprechen dem Manuskript, das mir Georges Goedert freundlicherweise zugesandt hat. A.a.O., S. 1. A.a.O., S. 2. A.a.O., S. 20. Ebd. A.a.O., S. 21.

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sich bei Nietzsche häufiger konfrontiert sieht, und der oben thematisierten Aufforderung zum Selbst-Erschaffen in der Rede ›Auf den glückseligen Inseln‹. Goedert meint allerdings, dass eine Reduktion des Ich auf ein Masken-Spiel, auf ein »Produkt disparater Elemente des Unbewußten, die sich gegenseitig verneinen, bekämpfen und ablösen«, das Risiko birgt, »tief hineinzugeraten in denjenigen Nihilismus, der nach Nietzsche auf den ›Tod Gottes‹ folgt, und den er doch selber, mit seinem Ideal des ›Übermenschen‹ und seinem Glauben an die ›ewige Wiederkunft‹, so entschlossen zu überwinden trachtete.«308 Das Risiko des Scheiterns, das Hineingeraten in den Nihilismus ist ein schwerwiegendes Problem, aber m. E. nicht ausschließlich einem vorgeblich reduzierten Ich anzulasten und als Einwand gegen Nietzsches Vorstellung vom Subjekt zu verwenden. Zu Nietzsches Verdiensten gehört, dass er sowohl die Gründe aufzeigt, die ein Gelingen der Selbsterschaffung vereiteln, als auch Voraussetzungen in den Blick nimmt, wie den »Verwandlungen« gemäß (durch Beladen, Befreien und Entfalten im Spiel) das Leben zum Kunstwerk309 gemacht werden kann. Eine Erweiterung des Horizontes von der Selbsterschaffung erweist sich als erforderlich, wenn man stärker, als dies in Nietzsches »Zarathustra« geschieht, Gedanken über Gerechtigkeit hinzunimmt. Nietzsche übt zwar Kritik an der Instrumentalisierung des Begriffs Gerechtigkeit, in »Menschliches, Allzumenschliches« (I, 473) am Sozialismus, der den »halbgebildeten Massen das Wort ›Gerechtigkeit‹ wie einen Nagel in den Kopf« treibe, und in der »Genealogie« (I, 14) an den »Menschen des Ressentiments«, die als »Triumph der Gerechtigkeit« Vergeltung verlangten. Auch im »Zarathustra« wird den »Tugendhaften« vorgehalten, dass sie Gerechtigkeit im Sinne der Rache verwendeten. Nietzsche beklagt es als »eine der größten und unauflösbaren Disharmonien«, dass wir von vorneherein unlogische und ungerechte Wesen seien – »und können dies erkennen.« (Menschliches, Allzumenschliches I, 32). Welche Art Gerechtigkeit Nietzsche vermisst und einfordert, ist in die Frage »Zarathustras« gekleidet: »Sagt, wo findet sich die Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden Augen ist?«310 Als Gegengewicht zur Selbsterschaffung bleiben die Aussagen über Gerechtigkeit zu knapp, auch wenn – entgegen der besonders beim frühen Nietzsche vertretenen Metaphysik des Kampfes311 – in »Also sprach Zarathustra« ein an 308 A.a.O., S. 22. 309 Richard Rorty hat in einem Aufsatz in der »Zeit« die Hoffnung Nietzsches in den Vordergrund gerückt, dass in Zukunft die Freigeisterei und Vielgeisterei stärker und vollständiger zum Ausdruck kommen könnten. Er rät dazu, Nietzsche als Ermutigung zu lesen, »unser Leben zu einem idiosynkratischen Kunstwerk zu machen«. (»Ein Prophet der Vielfalt« in der »Zeit« vom 24. Aug. 2000, S. 41). 310 Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 88. 311 Wolfgang Bock hat in einem Aufsatz »Zwischen Feldzeichen und Fotografie« (in: Hegel und

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Verständigung orientierter, für das Zusammenleben wegweisender Gedanke erhalten ist: »Seit es den Menschen giebt, hat sich der Mensch zu wenig gefreut: … Und lernen wir besser uns freuen, so verlernen wir am besten Anderen wehe zu thun und Wehes auszudenken.«312 Anderen gerecht werden, kann sich nicht alleine in der Mitfreude erschöpfen, sie kann jedoch den Weg bereiten zu einem Solidarisch-Sein, das Empathie für die Leidenden und Tätigwerden zugunsten der Benachteiligten beinhaltet. Aber vielleicht ist es ein Ausdruck der Begrenztheit philosophischer Positionen, von der auch Nietzsche trotz seiner Horizonterweiterung nicht auszunehmen ist, dass sie sich entweder stärker dem Konzept der Selbsterschaffung widmen oder deutlicher auf gesellschaftliche Aspekte bezogen sind. Eine allzu starke Aufspaltung, wie sie Rorty in »Kontingenz, Ironie und Solidarität«313 vornimmt, mag die Entschlüsselung, die Einordnung der jeweiligen Position erleichtern, wird aber dem Denken Nietzsches – trotz etlicher origineller Interpretationselemente – nicht ganz gerecht, da er dessen Grenzüberschreitungen nur partiell berücksichtigt. Rorty bezeichnet Autoren wie Kierkegaard, Nietzsche, Baudelaire, Proust, Heidegger und Nabokov als »nützliche Beispiele, Erläuterungen dessen, was private Vervollkommnung – ein selbstgeschaffenes, autonomes, menschliches Leben – sein kann«, während Marx, Mill, Dewey, Habermas und Rawls eher Mitbürger seien, die sich dafür eingesetzt hätten, »unsere Institutionen und Verhaltensweisen gerechter und weniger grausam zu machen.«314 Auf theoretischer Ebene sieht Rorty keine Möglichkeit, Selbsterschaffung und Gerechtigkeit zusammenzubringen. »Das Vokabular der Selbsterschaffung ist zwangsläufig privat, wird von niemandem geteilt, ist ungeeignet zur ArguNietzsche – Eine literarisch-philosophische Begegnung, Hrsg. von Klaus Vieweg, Richard T. Gray, Weimar 2007) Nietzsches Metaphorik in der Schrift »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten« analysiert. Er verdeutlicht Nietzsches metaphorische Thesis, die von ›Wappenschild‹ und ›Feldzeichen‹ spricht, als eine Abschreckungsmethode, die »den Durchgang zum deutschen Geist regeln« solle. Nietzsche zeige in seiner Kritik am deutschen Bildungswesen »eine große Vorliebe für das, was sich später zum völkischen Gedankengut mausern wird.« Wolfgang Bock attestiert dem jungen Nietzsche »eine erstaunlich einfühlsame Erzählperspektive«, die aus einem engen physiologischen Bezug resultiere; die habe ihn »aber nicht gegen Subjektivismen und vor allem nicht gegen schiefe und unzutreffende Sprachbilder« geschützt. (A.a.O., S. 97) In den falschen Bildern sei dennoch auch etwas Richtiges. Nietzsche habe »in seiner atavistischen Rahmung eine pointierte Kritik der Bildungsmisere entwickelt; der Schüler des Philosophen im ersten Vortrag beklage »mit einigem Recht die modernen Bildungstendenzen in einer Weise, die bis heute nicht abgearbeitet sind.« Wolfgang Bock zitiert Nietzsches Kritik an »beliebten nationalökonomischen Dogmen«, auf deren Grundlagen man »möglichst courante Menschen« bilden wollte. (A.a.O., S. 108 f) 312 »Also sprach Zarathustra«, KSA 4, S. 114. 313 Richard Rorty, »Kontingenz, Ironie und Solidarität«, Frankfurt 1992. 314 A.a.O., S. 12.

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mentation. Das Vokabular der Gerechtigkeit ist zwangsläufig öffentlich, wird von vielen geteilt, ist Medium für den Austausch von Argumenten.«315 Diese strikte Trennung von privat und öffentlich vernachlässigt die Tatsache, dass es Bereiche gibt, in denen Überschneidungen stattfinden und durchaus ihre Berechtigung haben können – nicht im Sinne unzulässiger, zumindest nachlässiger Vermischung oder Verwechslung, wie sie bei Personen, die öffentliche Ämter bekleiden, aufgedeckt und zu Recht der Kritik unterzogen werden; es geht um das Bestreben als integrierte Person sehr wohl zu unterscheiden zwischen Erfordernissen des Privaten und des Öffentlichen, aber auch Räume zu schaffen und zu nutzen, in denen eine Kombination angebracht ist, wie z. B. bei der Berufstätigkeit junger Mütter, wo familiäre Belange mit dem Beruf vereinbar, d. h. teilweise in der gleichen Zeit und am gleichen Ort kombinierbar sein müssen.316 Für solche praktischen Ziele kann nach Auffassung Rortys weder die Philosophie noch sonst eine theoretische Disziplin den Weg bahnen. Man könne aber praktische Maßnahmen ergreifen, die dem Ziel einer gerechten, freien Gesellschaft gemäß es den Bürgern ermöglichst, »so privatisierend, ›irrationalistisch‹ und ästhetizistisch zu sein, wie sie mögen, solange sie es in der Zeit tun, die ihnen gehört, und soweit sie anderen keinen Schaden damit zufügen und nicht auf Ressourcen zurückgreifen, die von weniger Begünstigten gebraucht werden.«317 Diese Aussage bleibt der Trennung verpflichtet und ist in dem vagen Bezug auf die Ressourcen der weniger Begünstigten recht allgemein; zudem bezieht sie jene »ästhetische« Perspektive ein, die Rorty zuvor an Nietzsche kritisiert. Er zeigt mit deutlicher Zuspitzung der Schwächen und Verdienste der jeweiligen Philosophen die Entwicklung von Platon über Kant und Hegel zu Nietzsche und Heidegger auf.318 Bevor Rorty zu Freuds großer Bedeutung gelangt, stellt er Nietzsches Überschreitung der Grenze zwischen dem Alten und dem Neuen als entscheidend heraus. Für Nietzsche sei ein menschliches Leben siegreich, wenn es den überkommenen Beschreibungen der Kontingenzen seiner Existenz entrinnen kann und neue findet. Rorty sieht darin den Unterschied zwischen dem Willen zur Wahrheit und dem Willen zur Selbstüberwindung. »Es ist der Unterschied zwischen dem Verständnis von Erlösung als Herstellen der Verbindung zu etwas, das größer und dauerhafter ist als man selbst, und der

315 A.a.O., S. 13. 316 Der in den USA häufig zur Schau gestellte familiäre Bezug ist dafür weniger beispielhaft als die schon lange bestehende Praxis in Skandinavien, die in Deutschland nur zögerlich Eingang findet. 317 Rorty, a. a. O., S. 13. 318 Vgl. dazu seine differenzierte Herleitung der jeweiligen Neuerungen in seinem Kapitel »Die Kontingenz der Welt«, a. a. O., S. 52 – 83.

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Erlösung in der Beschreibung Nietzsches ›Alles ›Es war umzuschaffen‹ in ein ›So wollte ich es!‹‹319 Außer dem hier nur auszugsweise diskutierten umfangreichen Thema der Selbsterschaffung soll in ähnlich knapper Form der Abschnitt »Unter Töchtern der Wüste« aus dem IV. Kapitel des Zarathustra als Beispiel für die wiederkehrende Melodie der Öffnung aufgegriffen werden. Nach einer relativ kurzen Einleitung folgt ein längeres Lied320, das Nietzsche von dem Wanderer, welcher sich »Zarathustras Schatten« nennt, zum Vortrag bringen lässt. Auf die recht kontroversen Interpretationen mit oft starken psychologischen Implikationen soll verzichtet werden. Herausgehoben werden soll der interkulturelle Gehalt. Nachdem Nietzsche die in den »Basler Vorträgen« auf die Kultur bezogene deutsche Orientierung zugunsten der oben zitierten europäischen Perspektive überwunden hat, ist in diesem Abschnitt der Horizont gen Osten erweitert. In einem Brief an seinen Freund Peter Gast (im Dez. 1885) hat sich Nietzsche über seinen Aufenthalt in Nizza beglückt geäußert, wie gut ihm das Klima bekomme und wie sehr man dort »außerdeutsch« sei, das könne er nicht stark genug ausdrücken. Wesentliche Teile des »Zarathustra« hatte er in Nizza verfasst und den Abschnitt »Unter Töchtern der Wüste« über den eigenen Erfahrungshorizont hinaus ein Lob auf die »gute helle morgendländidsche Luft« quasi als Steigerung und weitere Befreiung formuliert: »dort war ich am fernsten vom wolkigen feuchten schwermüthigen Alt-Europa!« Statt jener Interpretationen, die sich offensichtlich gerechtfertigt durch Nietzsches Verbindung von Denken und Leben ausschließlich auf seine Erlebnisse und Phantasien rekurrieren, lässt sich der Text auch in den Zusammenhang seiner Gedanken über Kultur rücken. Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Kulturen hat Nietzsche wiederholt thematisiert. Bezogen auf die Griechen als »Erstlinge und Vorbilder aller Kulturen« hält er die in Kap. I321 bereits kritisierte Abwehr fremder Einflüsse für notwendig, da deren Religion lange Zeit »ein wahrer Götterkampf des ganzen Orients« gewesen sei. Von Schopenhauer und Wagner erhoffte sich Nietzsche die seiner Meinung nach vom Christentum vereitelte Renaissance der griechischen Kultur. Aber diese »zweite Renaissance« erfüllte sich für ihn nicht, da Wagner in rauschhafte Selbstinszenierungen und Bayreuther Rituale abglitt. Schopenhauers Verehrung des Buddhismus erkannte er mehr und mehr als

319 A.a.O., S. 62. Auf Rortys kritische Einwände gegen Nietzsche wird in Kap. IV Bezug genommen. Hier sei darauf hingewiesen, dass Rorty Nietzsche die Entgötterung der Wahrheit zuschreibt, erst Freud habe das Selbst entgöttert. 320 Dieses Lied hat Nietzsche in die Dionysos-Dithyramben aufgenommen, was ein Zeichen dafür ist, welche Bedeutung ihm Nietzsche beimisst. 321 Vgl. die betreffende Passage in Kap. I, 1 »Nietzsches Denkweg«.

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Flucht und Weg in den Nihilismus. Dem stellt Nietzsche seine Ideen in der Person und dem Text des »Zarathustra« gegenüber.322 Folgt man der Interpretation von Elke Angelika Wachendorff, verwirklicht sich in der Gestalt des Zarathustra »die Vision eines interreligiösen und interkulturellen synkretisierten Projektes in einer neuen agonalen Philosophie der Zukunft«.323 »Zarathustras« Aufgabe liegt ihrer Meinung nach nicht in der östlichen Ferne, es gehe vielmehr um die »Verwandlung und Erneuerung des eigenen aus der Rückkehr aus der Ferne und der Wiedererweckung und Er-innerung des eigenen ›inneren Asiens‹.324 Das bedeutet eine Abkehr von dem Schopenhauerschen Fluchtweg. es ist der Versuch durch eine »zyklisch dialogische Bewegung« zu einer »höheren Cultur« zu gelangen. In Nietzsches Augen hätte eine Rettung der griechischen Kultur durch die Auseinandersetzung mit der Religion Zoroasters gelingen können, »wenn Darius nicht überwunden wäre.« Der von ihm betrauerte Verlust der griechischen Kultur sollte seiner Auffassung nach in einer erneuerten interkulturellen Begegnung – zunächst mit Rückgriff auf das antike Griechentum – wettgemacht werden. Die europäische Selbstvergewisserung bleibt aber für Nietzsche unzulänglich, wenn sie sich nicht für den arabischen und asiatischen Raum öffnet. So beklagt Nietzsche ein Defizit, das offenkundig werde, wenn man einen Vergleich mit der Entwicklung in Indien vornehme. In religiösen Dingen habe Europa, so fortgeschritten es sonst sein mag, »noch nicht die feinsinnige Naivität der alten Brahmanen erreicht, zum Zeichen, dass in Indien vor vier Jahrtausenden mehr gedacht wurde und mehr Lust am Denken vererbt zu werden pflegte, als jetzt unter uns. Jene Brahmanen nämlich glaubten erstens, dass die Priester mächtiger seien als die Götter, und zweitens, dass die Bräuche es seien, worin die Macht der Priester inbegriffen liege … Noch einen Schritt weiter : und man hatte auch die Priester und Vermittler nicht mehr nöthig, und der Lehrer der Religion der Selbsterlösung, Buddha, trat auf: – wie ferne ist Europa noch von dieser Stufe der Cultur!«325 Dieser respektvolle und auf unterschiedliche Bereiche verweisende Kulturvergleich ist eine Abkehr von einer tief verankerten Höherbewertung Europas, wie sie auch in der Philosophie sowohl Kants als auch Hegels ihren Niederschlag findet und aus verschiedenen Motiven bis in die Gegenwart hinein oft undifferenziert aufrechterhalten wird. Nimmt man allerdings Nietzsches Lösungsweg 322 Siehe dazu Volker Zotz, Auf den Glückseligen Inseln: Buddhismus in der deutschen Kultur, Berlin 2000. 323 Elke Angelika Wachendorff, Friedrich Nietzsche: Denker der Interkulturalität, Nordhausen 2006, S. 97 ff. Was Nietzsche mit dem Konzept des »agonalen Denkens« von den Griechen übernehme, sei keine Orientierung am Krieg, sondern am Wettkampf. 324 A.a.O., S. 101. 325 »Morgenröte«, KSA 3, S. 87.

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hinzu, der seinen häufigen Machtphantasien entspricht (»zwanzig Millionen Menschen …, welche nicht mehr ›an Gott glauben‹, … – sie werden sofort Macht in Europa sein«)326, und seine gelegentliche Überbetonung des Erfolgs kritischen Denkens in Europa (wohingegen Asien »immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden« wüsste)327, relativiert sich seine Offenheit für andere Kulturen. Nietzsches Erweiterung des Horizontes liegt m. E. sehr viel stärker als in den durchaus bereichernden Bezügen auf Außereuropäisches (mit »Goethischem Blick«) in seiner Überschreitung der europäisch geprägten Rationalität. Hier besteht ein deutlicher Unterschied zu Hegel, für den das Erreichen der Rationalitätsebene einen Höhepunkt in der kulturellen Entwicklung darstellt. In der indischen Mythologie konnte für Hegel der Weltgeist seine Macht nur durch sinnliche Überschüsse ausdrücken. Die Kultur Indiens habe dem Geist zwar erste künstlerische Gestaltungen ermöglicht, aber im Blick auf das Ideal der klassischen Kunstform gelten die Kunstwerke des morgenländischen Raums seiner Auffassung nach nur als Vorkunst, die erst durch vielfache »Übergänge, Verwandlungen und Vermittlungen hinüberführten.«328 So sind die Personifizierungen jener Zeit für ihn nicht wahrhaft, »denn die Wahrheit in der Kunst fordert, wie die Wahrheit überhaupt, das Zusammenstimmen des Inneren und Äußeren, des Begriffs mit der Realität.«329 Die pantheistische Kunst, wie sie teils in Indien, teils bei den persischen Dichtern vorkomme, bezeichnet Hegel als die »erste affirmative Auffassungsweise.«330 Auf dieser Stufe werde die Substanz »als immanent in allen erschaffenen Akzidenzien angeschaut.«331 Der Pantheismus in seiner reinen Form kann sich – laut Hegel – nur durch die Dichtkunst aussprechen, nicht durch die bildenden Künste. In den Gedichten Hafis’ – in der Zeit des glänzenden Pantheismus – sieht Hegel »ein eigentümliches Verhältnis der subjektiven Empfindung und Seele des Dichters zu den Gegenständen,« die er besinge. Offensichtlich bewundert Hegel, dass das Gemüt des Dichters – »erfüllt von dieser beseelten Herrlichkeit« – »in sich selber ruhig, unabhängig,

326 Ebd. Allerdings rät Nietzsche den Deutschen, die der Abkunft nach sehr gemischt seien, nicht an »jener verlogenen Rassen-Selbstbewunderung« teilzunehmen und »gute Europäer« zu sein. (»Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 377.) 327 Zu einem »Kosmopolitismus des Geistes« kann nach Meinung Nietzsches »der besonnene und seines Verstandes sichere Mensch« gelangen. (»Menschliches, Allzumenschliches« II, Aph. 204.) 328 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über Ästhetik, Frankfurt am Main 1970, S. 393 329 A.a.O., S. 441 330 A.a.O., S. 469 331 Ebd. Den Bezug auf die Substanz stellt Hegel als den »darzustellenden Inhalt« dem Verständnis von Kant gegenüber, der »das bloß Subjektive des Gemüts und seiner Vernunftideen« in die Erhabenheit hineinverlegt habe.

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frei, selbständig, weit und groß« sei.332 Auch die »dichterischen Perlen« im Lied der Suleika von Goethe sind für Hegel keine »unbedeutenden gesellschaftlichen Artigkeiten, sondern aus solch einer freien, hingebenden Empfindung hervorgegangen« wozu »es eines zur größten Breite erweiterten, in allen Stürmen selbstgewissen Sinnes, einer Tiefe und Jugendlichkeit des Gemüts« bedurfte.333 Mit dieser Begeisterung Hegels für Goethes »kummerlose Heiterkeit«, die vom Hauch des Morgenlandes durchdrungen sei, sowie mit der Wertschätzung der griechischen Antike werden gewisse Parallelen zu Nietzsche erkennbar, wenngleich dieser in der morgenländischen Kultur größere Reichtümer entdeckt als Hegel.

3.

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Zu den rätselhaften Passagen im »Zarathustra« gehört die folgende Rede: »Unter den Töchtern der Wüste«. Sie endet so wie das Lied des Zauberers auch begonnen hat: »Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt!« Solche rätselhaften Formulierungen eröffnen ebenso wie die andeutungsreichen Strophen mit Bezügen auf das Alte und das Neue Testament Interpretationsspielräume. Wie im vorigen Abschnitt sollen auch hier Deutungen unberücksichtigt bleiben, die in trivialpsychologischer Manier Nietzsches Obsessionen aufzudecken versuchen, während sie meiner Einschätzung nach eher die Phantasien der betreffenden Autoren wiedergeben.334 Aufschlussreich ist hingegen das Kapitel »Erste Fragezeichen Nietzsches« in der bereits zu den Themen »Macht und höherer Typus« zitierten Schrift von Margot Fleischer, die die Absichten Nietzsches durch Verweise auf parallele Textstellen klar herausarbeitet.335 So verdeutlicht sie u. a., dass Nietzsche seiner bedeutungsvollen Lehre der ewigen Wiederkunft Fragezeichen entgegenstellt. Der Ausruf »Die Wüste wächst …« enthalte »die schmerzliche These des Liedes, daß die Welt sub specie aeternitatis betrachtet, ohne Leben ist, daß mit jedem neuen, doch immer gleichen Weltumlauf sich die Ansammlung des Nichts-an-Leben (die sandige Wüstenfläche) vergrößert.«336 Das Lied verrätsele diese These, sie werde »umphinxt« (wie der Schatten von den »Mädchen-Katzen« Dudu und Suleika). Dieser plausiblen Erklärung möchte ich den Aspekt hinzufügen, dass das »Wehe dem« auch diejenigen betrifft, die glauben unreflektiert – auf esoterische Weise – Zarathustras Weg folgen zu können. Zudem sehe ich einen Span332 333 334 335 336

A.a.O., S. 475 A.a.O., S. 477 Vgl. dazu die Literaturhinweise von Christian Niemeyer, a. a. O., S. 116. Margot Fleischer, a. a. O., S. 99 – 113. A.a.O., S. 105.

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nungsbogen zwischen der von Künstlern gerne in Anspruch genommenen Aussage in der Vorrede Zarathustras »man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können« und der »Wüste« in dem Lied des Zauberers: Chaos als Element, das eine Voraussetzung bietet zum SchöpferischSein, die Wüste hingegen als die Abwesenheit der Lebensgrundlage, als Bedrohung im Äußeren und Inneren. Nietzsche schafft in seiner rätselhaften philosophischen Dichtung337 auf vielfältige Weise Distanz. Zum einen distanziert er sich von »Alt-Europa«, indem er die europäische Perspektive überschreitet, zum anderen wird Zarathustra selbst durch »seinen Schatten« in Frage gestellt, was sich als Selbstdistanz Nietzsches338 interpretieren lässt; zudem werden diejenigen, die Zarathustra folgen, die »Kinder«, auf Distanz gehalten, auch gegenüber der jeweiligen Lebensphase soll Distanz gewonnen werden. In besonderem Maße verrätselt ist die an Schiffsleute gerichtete Rede Zarathustras, die den Hinweis enthält, dass Zarathustra an Bord gegangen sei und zunächst für zwei Tage schwieg, da er »kalt und taub vor Traurigkeit« war. Nietzsche bringt in der Überschrift »Vom Gesicht und Räthsel«339 bereits zum Ausdruck, dass eine Entschlüsselung erforderlich ist. Auf dem Schiff gibt es viel Seltsames und Gefährliches zu hören. Zarathustra wird als der Freund derer bezeichnet, »die weite Reisen thun und nicht ohne Gefahr leben mögen.« An diese allein richtet sich die durch ungewöhnliche Symbole verrätselte Rede, denn nur »den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte«, wird es möglich sein, Zarathustras Rätsel zu lösen. Als zentraler Gedanke wird Nietzsches Verständnis von Befreiung deutlich. Sie setzt die Bereitschaft voraus, zunächst und immer wieder in Abgründe zu steigen. Dabei gilt offensichtlich das gleiche Motto, das der ewigen Wiederkunft zugeordnet ist: »Wohlan! Noch Ein Mal!« Die stark ausgeprägte Neigung Nietzsches, Personen auszuschließen von einem Weg, der nur den besonders Mutigen und Harten zusteht, findet sich auch in dem Symbol des »Thorweges«. Dem Zwerg wird verkündet, dass der »Thorweg« zwei Gesichter hat. »Zwei Wege kommen hier zusammen: die gieng noch niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine andere Ewigkeit.« Die folgenden Schreckensbilder, insbesondere das von der Schlange im Schlunde des Hirten, er337 Vgl. dazu die dialektischen Begriffe, die Margot Fleischer in ihrem Kapitel »Erkennen des denkenden Dichters« zur Kennzeichnung des Zusammenhangs von Philosophie und Dichtung im »Zarathustra« verwendet: philosophische Dichtung und gedichtete Philosophie. 338 Volker Gerhard hält Nietzsches Pathos für erträglich, »wenn wir sehen, zu welcher Leichtigkeit des Denkens es ihn beflügelt und zu welcher Selbstdistanz es ihn befähigt«. In: Pathos und Distanz – Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 8. 339 »Zarathustra« III, 2, KSA 4, S. 197.

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lauben durch Bezug auf Kommentierungen Nietzsches und Parallelen in anderen Textstellen im »Zarathustra« plausible Erklärungen340, erzeugen aber offensichtlich auch bei härter Gesottenen Grauen und Ekel sowie die Erkenntnis, dass der Hirte, der der Schlange auf Geheiß Zarathustras den Kopf abbeißt, die menschliche Ebene verlassen hat. Als positive Deutung bietet sich an, dies als eine Antizipation der angestrebten Überwindung des Menschseins, als die »Verwandlung« in den »Übermenschen« zu sehen, der zur Bejahung der ewigen Wiederkunft befreit und befähigt ist. Die gepriesene Härte sollte aber nicht als Gewaltverherrlichung missdeutet werden, so wie der in der vorausgehenden Rede »Der Wanderer« enthaltene Imperativ »Gelobt sei, was hart macht« gerne als Beleg für Nietzsches martialische Seite verwendet wird. Niemeyer hat darauf aufmerksam gemacht, dass in fehlgeleiteten Interpretationen und Anwendungen die nachfolgende Erläuterung kaum beachtet werde: »Von sich absehn lernen ist nöthig, um Viel zu sehen […]. Wer aber mit den Augen zudringlich ist als Erkennender, wie sollte der von allen Dingen mehr als ihre vorderen Gründe sehen!«341 Sehr deutlich hat auch Adorno darauf hingewiesen, dass hinter der vordergründigen Brutalität Nietzsches »ein Äußerstes an Zartheit sich verbirgt.«342 Der Dramaturgie Nietzsches gemäß folgen nach befreienden Tänzen, jubelnden Gesängen und neu gewonnenen Werten erneute Zweifel, Abwege und Versuchungen. In der »Wüste« symbolisiert der moralisch brüllende Löwe das Aufbäumen der alt-europäischen Moral, beim »Eselsfest« wird der »alte Gott« vom »hässlichsten Menschen« wiedererweckt und das Mitleiden bleibt die letzte Versuchung. Verrätselung und Überwindung gelangen zum Höhepunkt, zu ihren Gipfeln343, in dem wunderbaren »Nachtwandler-Lied«. »Aus tiefem Traum« erwacht, scheint das Leid überwunden, zumindest wird das Ende beschworen: »Weh spricht: Vergeh!« Fortan gilt: »Doch alle Lust will Ewigkeit –, – will tiefe, tiefe Ewigkeit!« Hier versammeln sich Nietzsches Erkenntnis über die Bedeutung des Traums, seine Auffassung von Leid als notwendige, aber überwindbare Phase und seine Vorstellung von Lebens-Lust als Akt des Willens. Dem

340 Vgl. dazu Niemeyer, a. a. O., S. 68. 341 A.a.O., S. 64. 342 So Adorno in dem bereits zitierten Rundfunkgespräch zum 50. Todestag Nietzsches i.J. 1950. 343 Zum Verstehen dieser Kulminationspunkte gehört Nietzsche gemäß auch das Nach-Empfinden, indem man Gedanken und Beine bewegt, möglichst auf den von ihm beschrittenen Wegen, auf dem Sentier (»Chemin de Nietzsche«) nach Eze-Village und zu Engadiner Gipfeln. Wobei zu Letzterem zu beachten ist, dass Nietzsche wohl wegen seiner Erkrankung Pfade auf halber Höhe – den Gipfeln entgegen – bevorzugte. Zu seinen Lieblingsgipfeln gehörten des schönen Anblicks, der schönen Gestalt wegen Berge des Bergells, besonders der Piz Badile.

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»großen Mittag« geht die Mitternacht voraus, welcher – trotz aller Rätselhaftigkeit – der Entschluss zum Neubeginn, eine erneute Morgenröte folgt. Bezüglich der Frage nach der Lesbarkeit von Nietzsches rätselhaften Passagen in »Also sprach Zarathustra« eröffnet sich in Karlheinz Stierles perspektivischer Schrift zur Enträtselung des »Mythos von Paris«344 eine beachtenswerte Parallele. Nach Auffassung Stierles führt der von Walter Benjamin im Blick auf Paris verwendete Begriff der Lesbarkeit »auf die subtilen semiotischen Reflexionen des Zeichenphilosophen Friedrich Nietzsche zurück, den die Reflexion der Philologie zur Philosophie gebracht« habe.345 Stierle bezeichnet Nietzsche als »Erfinder sprachlicher Problemformeln und Problembegriffe«, der in seiner Vorrede zur »Genealogie der Moral« den Begriff der ›Lesbarkeit‹ erstmals verwende. Dazu zitiert er eine markante Textpassage: »Freilich tut, uns dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, eins vor allem not, was heutzutage gerade am besten verlernt worden ist – und darum hat es auch noch Zeit bis zur ›Lesbarkeit‹ meiner Schriften -, zu der man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ›moderner Mensch‹ sein muß: das Wiederkäuen …«346 Benjamin müsse diese prominente Stelle im Blick gehabt haben, als er seine Erfahrung der Kunst des Lesens mit dem Begriff der ›Lesbarkeit‹ zusammenfasste und in seinem »Passagen-Werk« die Frage nach der ›Lesbarkeit‹ der ›Hauptstadt des 19. Jahrhunderts‹ aufwarf. Die schon bei Nietzsche prospektive Kategorie bedeute auch bei Benjamin, dass die Lesbarkeit – von Texten und Städten – mit der Zeit reife. Einen Reifeprozess in der Lesbarkeit von Nietzsches Texten sehe ich darin, dass dessen Gedanken über die lange Zeit dominierende Beachtung in Dichtung und bildender Kunst hinaus vermehrt Eingang finden in diverse philosophische Diskurse. Nicht nur im postmodernen Denken, das sich eher dekonstruierend mit Nietzsche befasst, sondern auch in der hier vorzugsweise betriebenen Konfrontation mit Hegels Philosophie,347 die zur Rekonstruktion und zu begrifflicher Schärfe nötigt, gewinnt Nietzsches Philosophie zunehmend an Bedeutung. Hegels weit gefächerte Thematik und die differenzierte Entfaltung der jeweiligen Begrifflichkeit eröffnen vielfältige Vergleichsmöglichkeiten. Zu den

344 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris – Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München/ Wien 1998. 345 A.a.O., S. 18. 346 KSA 5, S. 255 f. 347 Außer der Konfrontation mit Hegel sind Gegenüberstellungen mit Kant, Wittgenstein u. a. für das Verständnis der Gedanken von Nietzsche erhellend, obgleich sie meist auf begrenzte Fragestellungen reduziert sind. Eine besonders starke Reduktion betreibt die analytische Philosophie, die sich fast ausschließlich auf Fragen zur Moral bezieht. Durch die Bestätigung etlicher Auffassungen von Nietzsche in den Neurowissenschaften sieht sich die analytische Philosophie offenbar dazu genötigt, einige der von ihr bisher vernachlässigten Aspekte in ihre Reflexionen aufzunehmen.

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besonders fruchtbaren Gebieten gehören die Reflexionen über Dichtung und bildende Kunst. In Hegels Ästhetik wird die Dichtung in der für seine Denk- und Darstellungsweise typischen Form der Vergegenwärtigung historischer Entwicklungen thematisiert. So führt Hegel nach der Kritik der frühen, seiner Meinung nach unreifen Werke von Goethe und Schiller als »vollendetes Musterbild« Goethes Herrmann und Dorothea an. Zu den Vorzügen rechnet er, dass in diesem Gedicht, das zwar im Ton idyllisch gehalten sei, »die großen Interessen der Zeit, die Kämpfe der Französischen Revolution, die Verteidigung des Vaterlandes höchst würdig und wichtig« hereinspielten.348 Kunst hat für Hegel die Aufgabe im Unterschied zur prosaischen Wirklichkeit den idealen Weltzustand darzustellen. Als Darstellung des Ideals müsse die Kunst dieses in allen Beziehungen zur äußeren Wirklichkeit in sich aufnehmen. Das Kunstwerk sei »als wirkliches, vereinzeltes Objekt nicht f ü r sich, sondern f ü r uns, für ein Publikum, welches das Kunstwerk anschaut und genießt.«349 In diesen vereinzelten Kunstwerken realisieren sich laut Hegel »dem Begriffe nach nur die allgemeinen Formen der sich entfaltenden Idee der Schönheit, als deren äußere Verwirklichung das weite Pantheon der Kunst emporsteigt, dessen Bauherr und Werkmeister der sich erfassende Geist des Schönen ist, das aber die Weltgeschichte erst in der Entwicklung der Jahrtausenden vollenden wird.«350 Was Hegel hier bezogen auf Skulpturen als Resümee und Vision entwirft, kann m. E. auch auf die Dichtung übertragen werden. Für Nietzsche ist statt des »sich erfassenden Geistes« der Mensch als »Schaffender« der Baumeister des Pantheons, aber auch er sieht sowohl das künstlerische Schaffen als auch die philosophische Reflexion in einen unaufhörlichen Prozess eingebunden.351 Ein großer Unterschied zu Hegels Auffassung besteht darin, dass bei Nietzsche das Rätselhafte als Wesenselement der Kunst erhalten bleibt. Für Hegel liegt der Fortschritt in der Entwicklung der Kunst eher darin, ob es gelingt, die Rätsel zu entziffern. Gemäß dem bereits zitierten Urteil 348 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I. a. a. O., S.339. 349 A.a.O., S. 341. Hegel weist in diesem Abschnitt über »Das Zusammenstimmen des konkreten Ideals mit seiner äußeren Realität« auch auf das Genießen des Rheinweins hin, wie es in Goethes Herrmann und Dorothea besungen wird, aber er beklagt, dass »hier nichts aus der eigentümlichen Sphäre eines in sich behaglichen, seine Bedürfnisse seiner sich gebenden Zustandes hinausgeht.« Hegel plädiert für eine d r i t t e Weise, »mit welcher jedes Individuum in konkretem Zusammenhang zu leben habe. Es sind dies die allgemeinen g e i st i g e n Verhältnisse des Religiösen, Rechtlichen, Sittlichen, die Art und Weise der Organisation des Staats, der Verfassung, der Gerichte, Familie, des öffentlichen und privaten Lebens, der Geselligkeit usf. Denn der ideale Charakter hat nicht nur in der Befriedigung seiner physischen Bedürfnisse, sondern auch seiner geistigen Interessen zur Erscheinung zu kommen.« (A.a.O., S. 340 f.) 350 A.a.O., S. 124. 351 Vgl. dazu Kap. IV,3.

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Hegels über die indische und persische Dichtung, dass es sich dabei um Vorkunst handele, erfährt auch die Lehre Zoroasters, die Nietzsche wichtige Anstöße zum Entwurf seines »Zarathustras« bot, eine deutliche Abwertung. Hegel bemängelt, dass dieser ganzen Anschauung der Typus des Symbolischen und der Charakter des K ü nstlerischen abgehe. Er konzediert, dass hin und wieder allgemeine Vorstellungen durch allgemeine Bilder versinnlicht würden, aber ohne daraus »ein gleichsam in unmittelbarer Lebendigkeit existierendes Kunstwerk zu bilden, wie es in Griechenland die Fechter, Ringer usf. in ihrer ausgearbeiteten Körperlichkeit darzustellen wussten.«352 Die erste Einheit geistiger Allgemeinheit und sinnliche Realität mache nur die Grundlage des Symbolischen in der Kunst aus. Um zu dem Symbolischen zu gelangen und Kunstwerke zustande zu bringen, sei »das Fortgehen aus der soeben betrachteten Einheit zur Differenz und zum Kampfe der Bedeutung und ihrer Gestalt erforderlich.«353 Am Ende seines Durchgangs durch die Entwicklung der symbolischen Formen in der Kunst gelangt Hegel zu der Forderung, von der symbolischen Kunstform Abschied zu nehmen, da der Charakter des Symbolischen gerade darin bestanden habe, »die Seele der Bedeutung mit ihrer leiblichen Gestalt immer nur unvollendet zu vereinigen.« Kunstwerke können ihren wesentlichen Gegenstand erst dann zu angemessener Darstellung bringen, »wenn die Sache durch ihre äußere Erscheinung und in derselben die Erklärungen ihres geistigen Inhalts gibt, indem das Geistige sich vollständig in seiner Realität entfaltet und das Körperliche und Äußere somit nicht als die gemäße Explikation des Geistigen im Inneren selber ist.«354 Eine Übereinstimmung mit Nietzsche liegt in der Beachtung des Körperlichen, das allerdings bei ihm ein viel größeres Gewicht erhält. Die von Hegel beschworene Entwicklung zur Vollendung erreicht in Nietzsches Kunstauffassung eine dialektisch zu nennende Version, in der der Zauber eines vollkommenen Endes aufgehoben, entzaub er t wird durch das Wissen, unvollendet zu bleiben.355 Insofern bleiben auch etliche der tiefsten Ideen Nietzsches in seiner als Kunst gestalteten Philosophie, insbesondere in dem poetischen Werk »Also sprach Zarathustra«, mehrdeutig und rätselhaft.356 Gleichwohl sehe ich in der Konfrontation mit den »Vorlesungen über die Ästhetik« von Hegel eine 352 353 354 355 356

A.a.O., S. 429. A.a.O., S. 430. A.a.O., S. 546. Diese Gedanken sind ebenfalls im Schlussteil von Kap. IV,3 erneut aufgegriffen. In den Dinysos-Dithyramben bezeichnet sich Nietzsche selbst als Rätseltier (KSA 6, S. 407): Wer sind mir Vater und Mutter? / Ist nicht der Vater Prinz Überfluss / und Mutter das stille Lachen? / Erzeugt nicht dieser Beiden Ehebund / mich Rätseltier, / mich Lichtunhold, / mich Verschwender aller Weisheit Zarathustra?

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Leitmotive »Zarathustras«

Möglichkeit, zur maßvollen Entzifferung der poetischen Gestaltungen in Nietzsches Werk zu gelangen.357 Lou Andreas-Salom¦ hat in ihrem Nietzsche-Buch358 die späte Philosophie Nietzsches als ein »wundersames Gedankenspiel« bezeichnet, »in dem Nietzsche und sein Zarathustra unablässig ineinander überzugehen und sich wieder von einander zu lösen scheinen.«359 Die letzten Reden Zarathustras hält sie für das Ergreifendste, was Nietzsche geschrieben habe, da er als der Untergehende gezeigt werde, der hinter einem Lachen seinen Untergang verberge. Der unversöhnliche Widerspruch werde klar, »der darin lag, daß Nietzsche seine Zukunftsphilosophie mit einer ›fröhlichen Wissenschaft‹ einleitete, daß er sie eine frohe Botschaft nannte, dazu bestimmt, das Leben in seiner ganzen Kraft, Fülle und Ewigkeit für immer zu rechtfertigen.360 Das Große sieht Lou Andreas-Salom¦ darin, dass er wusste, dass er unterging – wie es besonders in den Dionysos-Dithyramben zum Ausdruck komme -, »und doch schied er lachenden Mundes, ›rosenumkränzt‹ – das Leben entschuldigend, rechtfertigend, verklärend.«361 Ihrer Meinung nach, die durch persönliche Begegnungen geprägt wurde, zog sich »ein heroischer Selbstwiderspruch und ein heroisches Lachen durch Nietzsches ganzes Leben und Leiden. In der gewaltigen Sehkraft aber, durch die er sich so hoch über sich selbst zu stellen vermochte, lag, psychologisch betrachtet, für ihn eine innere Berechtigung, sich als mystisches Doppelwesen anzusehen, und liegt für uns der tiefste Sinn und Werth seiner Werke.«362

357 Auch zum Verständnis von Hegel, der ebenso wie Nietzsche häufig der Unverständlichkeit geziehen wird, kann diese Konfrontation beitragen, erfordert aber sich auf die differenzierte Entfaltung der Begriffe bei Hegel einzulassen. Vgl. dazu Kap. IV,1. 358 Lou Andreas-Salom¦, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, hrsg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt am Main/Leipzig 1994. Karl Löwith hat diese Darstellung, die erstmals 1894 erschien, wegen ihrer Umsicht und Reife der Charakterisierung gelobt. Es sei in den darauf folgenden 50 Jahren »keine zentraler ansetzende Darstellung erschienen«. (So im KlappenText der Ausgabe des Insel-Verlags von 1994.) 359 A.a.O., S. 268. 360 A.a.O., S. 295. 361 Ebd. 362 A.a.O., S. 296. Zur Frage der Selbsteinschätzung Nietzsches vgl. Kap. IV, 2. Im Rahmen der dort etwas weiter gefassten Erörterung des Verhältnisses von Philosophie und Dichtung werden unterschiedliche Bewertungen von Nietzsches Selbststilisierungen thematisiert.

IV. Überschreiten diskursiver Grenzen

1.

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Es wird zu den Verdiensten Kants gerechnet, dass er in seiner »Kritik der reinen Vernunft« für die Erkenntnistheorie eine »kopernikanische Wende«363 herbeigeführt hat, indem er die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt in einer Umkehrung der Vorgehensweise aufzeigt und eine Grenzziehung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich vornimmt. Folgt man im Blick auf den weiteren Verlauf der Geschichte der Philosophie dem Diktum Hegels – »so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst«364 – lassen sich eine Vielzahl von Stufen bzw. Richtungen der Entwicklungen nach Kant in Betracht ziehen. Hegel hat mit der maßgeblich von ihm entwickelten dialektischen Methode365 und seinem Wahrheitsbegriff gemäß (»das Wahre ist das Ganze«366) die von Kant gezogene Grenzlinie zu überwinden versucht. Wirklichkeit ist für Hegel kein Gegenstand hinter der Erfahrung, sondern der umfassende Zusammenhang, den er als »Geist« bezeichnet. Überschreiten vollzieht sich in der Erfahrung selbst. Erfahrung ist für den Menschen, der in seiner besonderen Perspektive auf die Welt immer schon zur Wirklichkeit ins Verhältnis gesetzt ist, Selbstüberschreitung. Im Bereich der Ethik sind Hegels Einwände gegen Kants Begrenzung der 363 Diesen hohen Anspruch erhebt Kant bekanntermaßen selbst für seine erkenntniskritische Schrift. Vgl. die Vorrede zur 2. Aufl. in »Kritik der reinen Vernunft«, a. a. O. 364 Vorrede zu den »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, a. a. O., S. 12. 365 Einen Zugang zu Hegels Dialektik boten für mich die verschiedenartigen Positionen in »Seminar : Dialektik in der Philosophie Hegels«, hrsg. u. eingeleitet von Rolf-Peter Horstmann, 1. Aufl.1978, Frankfurt am Main. Horstmann betont im Vorwort, diese längst noch nicht abgeschlossene Diskussion sei »nicht zuletzt deshalb mit erstaunlicher Ausdauer und Härte geführt worden, weil über das, was zugleich als Gegenstand und Motor des Streites betrachtet wird, nämlich die Dialektik in ihrer durch Hegel präsentierten Form, eine verwirrende Mannigfaltigkeit äußerst unklarer Meinungen im Spiele war und ist.«(S. 7) 366 Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes«, a. a. O., S. 24.

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Vernunft noch akzentuierter. Die praktische Vernunft sei zwar als konkret »ausgesprochen«, da sie sich das Sittengesetz gebe, aber die Freiheit bleibe leer »als das Negative alles anderen; kein Band, nichts anderes verpflichtet mich. Sie ist insofern unbestimmt; es ist die Identität des Willens mit sich selbst, daß er bei sich ist.«367 Auch bei dem Gesetz seien wir wieder bei der Inhaltslosigkeit, da es nichts anderes sein solle als Übereinstimmung mit sich selbst. Die rein formale Bestimmung bezeichnet Hegel als den Mangel des Kantisch-Fichteschen Prinzips. »Die kalte Pflicht ist der letzte unverdaute Klotz im Magen, die Offenbarung gegeben der Vernunft.«368 So bleibe die praktische Vernunft der praktischen Sinnlichkeit, den Trieben und Neigungen gegenüberstehen. Kant postuliere die Einheit des besonderen mit dem allgemeinen Willen; »der Mensch soll moralisch sein, er bleibt beim Sollen stehen.«369 Adorno kennzeichnet in seinen »Drei Studien über Hegel« die Kritik Hegels an der Moral als »unversöhnlich mit jener Apologetik der Gesellschaft, welche, um sich in ihrer eigenen Ungerechtigkeit am Leben zu erhalten, der moralischen Ideologie des Einzelnen, seines Verzichtes auf Glück bedarf.«370 Hegel habe den Wahn zerstört, der zur bürgerlichen Verherrlichung des Bestehenden gehöre, »daß das Individuum, das rein Fürsichseiende, als welches im Bestehenden das Subjekt sich selbst als notwendig erscheint, des Guten mächtig sei.«371 Diese Interpretation Adornos gewährt einerseits einen Beleg für die ins Konkrete gewendete Kritik Hegels am abstrakten Charakter der Morallehre Kants, andererseits bietet sie Anhaltspunkte für Parallelen zu Nietzsches fundamentaler Moralkritik, in der ebenfalls der Gesellschaftsbezug enthalten, aber anders akzentuiert ist. Hegel nimmt als »Interpret der bürgerlichen Gesellschaft«372 in seiner Moralkritik auf diese in besonderer Weise Bezug. Völlig zu Recht weist Adorno das »Clich¦ von Hegels Bürgerlichkeit« zurück. Habe man dies durchschaut, werde man nicht mehr länger der Suggestion von Schopenhauer und Kierkegaard erliegen, die Hegel als »konformistisch, unbeträchtlich abtun und nicht zuletzt daraus ihr Verdikt gegen seine Philosophie herleiten.«373 Hegels Philosophie zielt im Aufweis der Parallelität von Entwicklung des Begriffs und Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Widersprüche in beiderlei Hinsicht. Seine Kritik an den realen Verhältnissen richtet sich zeitgeVorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., Bd. 20, S. 367. A.a.O., S. 369. Ebd. Theodor W. Adorno, Drei Studien über Hegel, Frankfurt a.M., 1963, S. 50. Ebd. Diese Anerkennung zollt Karl Marx Hegel trotz tiefgreifender Kritik an Hegels Philosophie. Vgl. Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1974, S. 203 – 383. 373 Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 50. 367 368 369 370 371 372

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mäß gegen die Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft, die Hegel insbesondere in seiner »Rechtsphilosophie«374 aufgezeigt hat und die den Hintergrund für das von Adorno konstatierte Leiden Hegels abgegeben haben dürften. Wie kein philosophisches zuvor habe das Bewusstsein Hegels »an der Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Bewußtsein und der Realität gelitten.«375 Auch bei Nietzsche ist das Leiden eng verbunden mit seiner Erkenntnis und Moralkritik. Um unser Vertrauen zur Moral zu untergraben – was vor allem als Infragestellung der herrschenden Moralvorstellungen zu verstehen ist -, sei er in die Tiefe hinabgestiegen, die ihm eine lange Finsternis bereitet habe.376 Gemäß seiner oben zitierten Bekundung in »Ecce homo« gehört »das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in den Bann getan war«, zur Philosophie, wie er sie verstanden und gelebt habe. Hegel hat in seiner dialektischen Philosophie viel Sorgfalt darauf verwendet, die Widersprüche gesellschaftlicher Verhältnisse auf den Begriff zu bringen, dabei aber – wie in Kap. I bezogen auf seine Ästhetik bereits kritisch angemerkt – das Fremde eher reduziert dargestellt, es dem Ziel der Aufhebung folgend seiner Eigen- und Widerständigkeit letztlich zu entheben versucht.377 Ein weiterer Unterschied zwischen Hegels und Nietzsches Moralkritik besteht darin, dass Hegels Überschreiten der Kantischen Grenzziehung sich innerhalb der Möglichkeit der Vernunft bewegt, während Nietzsche vielfältige Formen des Überschreitens praktiziert. Zum einen wird der Begriff der Vernunft selbst erweitert. Zu Nietzsches Absichten gehört, den Menschen aus der Überbetonung des rein Rationalen zu befreien. Er wählt dafür u. a. den Begriff der »großen Vernunft des Leibes«.378 Man kann dies als einen Versuch bewerten, die unheilvolle Spaltung des Menschen in ein denkendes und ein leibliches Wesen zu überwinden. Allerdings ist damit auch die Gefahr begrifflicher Unschärfe379 verbunden. Weit bedeutungsvoller erscheint mir, dass Nietzsche die Grenzen vieler enger philosophischer Positionen sprengt. Hier passt Nietzsches eigene Kennzeichnung seines Philosophierens, wie er sie in »Ecce homo« voranstellt: »mein Versuch, mit dem Hammer zu philosophieren.«380 Diese gerne in ablehnender 374 375 376 377

Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., bes. in den §§ 243 – 246. Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 71. Vgl. dazu Kap. II.1. Dazu sind in Anlehnung an Bernhard Waldenfels (»Der Stachel des Fremden«) im angefügten Exkurs auf S. 150 einige Argumente angeführt. 378 Vgl. »Also sprach Zarathustra«, KSA 4, S. 39. 379 Auf die Frage der Unschärfe komme ich später zurück. 380 »Ecce homo«, a. a. O., S. 39. Ferner im Untertitel zur »Götzen-Dämmerung«: »Wie man mit dem Hammer philosophiert.«

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Haltung gegenüber Nietzsches Philosophie zitierte Formulierung sollte als Metapher für das Handwerk derjenigen Philosophen angesehen werden, die herausforderndes Denken betreiben, statt damit die von Nietzsche selbst – besonders in seinen späten Schriften – für sein Wirken reklamierte Zertrümmerung von Werten als seine ausschließliche Tätigkeit zementieren zu wollen. Dass Nietzsche die diskursiven Barrieren überschreitet, lässt sich als ein Weg interpretieren, den schon bei Platon thematisierten Streit zwischen Philosophie und Dichtung für sein Denken fruchtbar zu machen. Die rein diskursive Vorgehensweise, die nach strenger Auffassung über legitime Mittel der Philosophie als unaufgebbar und nicht überschreitbar gilt, wird von Nietzsche nur als eine Möglichkeit in Anspruch genommen, durch seinen Wahrheitsbegriff in Frage gestellt und durch literarische Gestaltung überschritten. Den Zielen der vorliegenden Darstellung gemäß sind in den vorausgehenden Kapiteln zahlreiche diskursive Elemente aus Nietzsches Philosophie aufgegriffen worden. Bei den Interpreten, die Nietzsches Perspektivismus betont herausstellen, ist diese Seite berücksichtigt, aber zugleich seine Horizonterweiterung gewürdigt.381 In einer kritischen Auseinandersetzung mit der französischen Philosophie, die ab 1970 Nietzsche in das Konzept der Dekonstruktion einbezogen hat, würdigt Ernst Behler382 die Demaskierungs- und Entschleierungsstrategie Nietzsches. Es sei typisch für Nietzsche, den er als Meister des dekonstruktiven Lesens bezeichnet, dass er den Begriff »Text« auf ganze Kulturen mit ihren wissenschaftlichen, metaphysischen, religiösen und moralischen Traditionen ausgedehnt habe, »um dann die Grundlagen zu unterminieren, auf denen diese Traditionen beruhen.«383 Schon in den 60er Jahren hätten Foucault384 und Ricœur385 Nietzsche, Freud und Marx als die Denker herausgestellt, deren Intention es gewesen sei, das Bewusstsein insgesamt als falsches Bewusstsein zu entlarven. Für Ricoeur seien diese drei Meister aber keine Skeptiker gewesen. »Sie öffneten neue Horizonte für eine authentischere Sprache und einen neuen Bereich der Wahrheit.«386 Eine Reduktion wurde nach Auffassung Behlers in den 70er Jahren im Bild des »neuen Nietzsche« vollzogen. Man habe Abschied genommen von jeder in381 Aus der umfangreichen Literatur sei stellvertretend auf das von Jörg Salaquarda herausgegebene Werk verwiesen: Nietzsche, 2. erw. Aufl., Darmstadt 1966, in der über die Entwicklung der philosophischen Nietzsche-Forschung vom Anfang der fünfziger bis zu den siebziger Jahren ein repräsentativer Überblick geboten wird. 382 Ernst Behler, Nietzsche jenseits der Dekonstruktion, in: Nietzsche und die philosophische Tradition, hrsg. von Josef Simon, Würzburg 1985. 383 A.a.O., S. 89. 384 Michel Foucault, Nietzsche, Freud, Marx, Cahiers de Royaumont (Philosophie, No. 6), Paris 1967. 385 Paul Ricoeur, De l’interpr¦tation. Essay sur Freud, Paris 1965. 386 Ernst Behler, a. a. O., S. 90.

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haltlichen oder thematischen Auffassung seiner Philosophie und in dem, was man als »l’exp¦rience Nietzsch¦enne« bezeichnen könnte, sich dem Stil Nietzsches gewidmet. In den Vordergrund rückte Nietzsches Essay »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«. Mit dem Hinweis auf diesen Text ist allerdings eine von der Nietzsche-Forschung durchaus als zentrales Thema behandelte Fragestellung berührt, die Frage nach dem Begriff der Wahrheit. So hat z. B. Rorty es als das große Verdienst Nietzsches bezeichnet, dass er den Begriff Wahrheit »entgöttert« habe.387 Auch Behler greift aus Nietzsches Essay die berühmte Passage auf: »Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind. Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.«388 Bezogen auf diese Destruktion des Wahrheitsbegriffs stellt Behler die Frage, ob Nietzsche wirklich im »unendlichen Zirkel dekonstruktiven Infragestellens und im Gefängnis der Sprache gefangen blieb.« Die dekonstruktive Tendenz Nietzsches hat seiner Ansicht nach nur im Kontext der Wechselwirkung von Schaffen und Vernichten funktioniert. »Sein ständiges Alternieren zwischen den Perspektiven des Starken und Schwachen, Gesunden und Kranken, Herren und Sklaven, Vitalen und Dekadenten«, resultiere nicht in einer »wechselseitigen Unterminierung und Aufhebung dieser beiden Systeme«, vielmehr habe Nietzsche »eine befreiende, progressive Dialektik erstellt.«389 Als Begründung fügt Behler diesem überzeugenden Urteil die Schlussfolgerung hinzu, die Nietzsche für sich selbst gezogen hat, »in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen zu reden« oder »wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffschroniken dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen.«390 Um zu den entscheidenden Fragen der dekonstruktiven Nietzscheinterpretation vorzudringen, nimmt Behler Bezug auf die Position von Derrida, der sehr effektvoll die widersprüchliche Komplexität Nietzsches aufrechterhalte und jedes Lesen seiner Werke im Stile der traditionellen Metaphysik ausschließe. In einer polemischen Wendung gegen Heidegger, der uns dazu habe bringen wollen, »Nietzsches innersten denkerischen Willen nach-gedacht zu haben«, betont Derrida die absolute »Heterogenität« von Nietzsches Texten. Diese Heterogenität sei jedoch kein Versagen der Sprache, sondern das Resultat einer klaren Überzeugung.391 Ernst Behler resümiert in seiner Analyse der französi387 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M., 1992, S. 80. 388 »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«, Friedrich Nietzsche, Werke in sechs Bänden, Bd. V, S. 314. 389 Behler, a. a. O., S. 103. 390 A.a.O., S. 103 f. 391 A.a.O., S. 101. Eine deutliche Differenz zwischen Heideggers Interpretation und Nietzsches

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schen Philosophie, die sich dekonstruierend mit Nietzsche befasst, dass er Strukturen in Nietzsches Werk sehe, besonders wenn es um die »wahren Artisten des Lebens« und die »ästhetische Rechtfertigung des Lebens« gehe, die über die Dekonstruktion hinausreichten. »Die Sprache, in der sich ein solches Denken mitteilt, ist nicht mehr begrifflich im klassischen Sinne, sondern metaphorisch und bekundet sich in einer performativen, epideiktischen Rhetorik der Vieldeutigkeit und des Versuchergeistes.«392 Behler plädiert dafür, die »positive, rekonstruktive Tendenz« Nietzsches stärker zu beachten, über die allerdings nicht so leicht eine Verständigung zu erzielen sei. Heute würden kaum noch substantielle Meinungsverschiedenheiten über die Art und Weise bestehen, in der Nietzsche »die westliche Metaphysik, das Christentum, die traditionelle Moral und das asketische Ideal« dekonstruiere.393 Verfolgt man die Debatten, die während und nach der Veröffentlichung von Behlers Aufsatz (von 1985) geführt wurden, lassen sich durchaus einige Differenzen festhalten. Nach wie vor gibt es Positionen Nietzsches Philosophie gegenüber, die dessen Kritik abwerten, weil er nicht mit Gründen überzeugen wolle. Beispielhaft sei dazu Reinhard Brandt angeführt, der in der Diskussion zur Frage »Was bleibt von Nietzsche?« (2005) eine solche Auffassung vertritt. Während John Locke zwischen sensation und reflection unterscheide, suche Nietzsche die Sensation statt der Reflexion, er setze auf die Macht der mitreißenden Bilder. »Der Lehrer soll überwältigt werden, er wird nicht wie in der von Nietzsche bekämpften Philosophie Platons oder Kants in das logon didonai, das reflektierte Begründen geführt.«394 Selbst wenn man die in der vorliegenden Untersuchung vertretene Einschätzung von Nietzsches Überschreiten als eine Erweiterung philosophischer Darstellungsformen nicht teilt, müsste auch eine skeptische Haltung einräumen, dass Nietzsche wiederholt Begründungen bietet, wenn diese auch oft – wie besonders im II. Kapitel thematisiert – ins Metaphorische übergehen oder mit Philosophie betont Derrida auch in seiner Schrift »De l’esprit Heidegger et la question« (Paris 1987). Derrida setzt sich darin mit dem Nazismus allgemein und Heideggers Nazismus im Besonderen auseinander. Es geht ihm auch um die Ausprägung einer »Politik des Geistes«. Er geht der Frage nach, warum Heidegger, der in »Sein und Zeit« davor warnte, bestimmte Begriffe zu verwenden, wozu auch der Geist gehörte, von seiner Rektoratsrede an wieder einen Lobgesang auf den Geist anstimmte. Auf Nietzsche bezogen reklamiert Derrida gegen Heidegger : »Nein, Nietzsche verwirft, er verleugnet, er meidet nicht den Geist.« Der Geist ist kein »Widersacher«, sondern ein »Schrittmacher«: er reißt die Seele mit sich, er führt sie und ebnet ihr den Weg. Setzt er sich ihr entgegen, setzt er sich dem Leben entgegen und wird zum »harten« Widersacher, so geschieht das nicht, weil er gegen, sondern weil er für das Leben streitet.« Zt. nach der dt. Ausgabe »Vom Geist – Heidegger und die Frage«, Frankfurt a.M. 1992, S. 89. 392 A.a.O., S. 107. 393 A.a.O., S. 104. 394 »Was bleibt von Nietzsche?«, a. a. O., S. 17.

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solchen Formen verwoben sind. Offenere Positionen erlauben einen besseren Zugang, da sie – wie in der Einleitung am Beispiel der pointierten Kritik von Wolfgang Bock aufgezeigt – auf beide Pole, Bild und Begriff, Bezug nehmen, »deren Verbindung man nicht auflösen, wohl aber die jeweilige Perspektive auf sie ändern kann.«395 Dieser perspektivische Wechsel wird ermöglicht, wenn man auch für philosophische Darstellungen neben Begriffen Metaphern gelten lässt. Metapher gehört für Wolfgang Bock zur Mitteilung selbst, sie ist »nicht beiläufiges Vehikel eines Inhalts«. »Der Bildgehalt der Sprache eröffnet ein Band, das es dem Hörer erlaubt, seine Interpretation der Metaphorik in das Gehörte und Gelesene mit hineinzuweben. Was als Uneigentliches beginnt, ist damit nicht allein rhetorische Figur, sondern das Medium der Sprache, die Bereiche menschlichen Lebens zu einer neuen Form nennend, mimetisch und reflektorisch verbindet.«396 Außer der Bereicherung, die die Metaphorik über das rein Begriffliche hinaus zu geben vermag, ist – wie oft bei Nietzsche – auch das Problematische zu berücksichtigen: das Vage, das Irritierende, das Bedrohliche, das er einzubeziehen versucht. Philosophen, die meinen durch begriffliche Schärfe solche Unklarheiten und Irritationen vermeiden zu können, sind zur Reduktion genötigt. Eine besondere Ausprägung erfährt dieser für die Philosophie als notwendig erachtete Verzicht auf das vermeintlich Unsagbare in dem berühmten Diktum von Wittgenstein: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«397 In einer Untersuchung »über Hegels und Nietzsches Unverständlichkeit« stellt Bernd Hüppauf heraus, dass Hegel in Ablehnung der Position von Friedrich Schlegel ebenfalls Verzicht forderte, und zwar auf eine bestimmte Art des Sprechens und Fragens, die keine unzweideutigen Antworten erlaubten. »Schlegels Sprache verweigert nach Hegels Einschätzung die Anstrengung des Begriffs.«398 Hegel wollte die Philosophie vor einer Tendenz seiner Zeit retten, in der Gefühl und Anschauung des Absoluten das Wort führten. Er forderte dagegen »Strenge der Methode« und »Strenge des Begriffs«. Vorstellungen sollten im Hegelschen System in Begriffe übertragen werden. Nicht zutreffend finde ich Hüppaufs Schlussfolgerung, dass damit die Philosophie für das Denken leiste, »was die bürgerliche Gesellschaft für die Praxis bietet.«399 In dieser vereinfachten 395 Wolfgang Bock, Zwischen Feldzeichen und Fotografie, a. a. O., S. 110. 396 A.a.O., S. 99 f. 397 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus – Logisch-philosophische Abhandlungen, 1. Auf. Frankfurt a.M. 1963, S. 115. Der späte Wittgenstein war allerdings im Gegensatz dazu der Meinung, dass man Philosophie eigentlich nur dichten(!) dürfe. 398 Bernd Hüppauf, Über die Unverständlichkeit bei Hegel und Nietzsche, in: Hegel und Nietzsche – eine literarisch-philosophische Begegnung, a. a. O., S. 226. 399 Ebd.

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Form entspricht diese Aussage dem von Adorno kritisierten Fehlurteil über Hegel, dass er ein bürgerlicher Denker sei. Bürgerliche Elemente sind in Hegels Philosophie durchaus enthalten, werden auch in Adornos Hegel-Interpretation angeführt, aber bezüglich der vereinfachenden Gleichsetzung Hüppaufs gilt es festzuhalten, dass Hegel als »Interpret der bürgerlichen Gesellschaft« zugleich ihr scharfsinniger Kritiker ist. In der »Rechtsphilosophie« legt Hegel außer den Grundlagen auch die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft frei; besonders deutlich in § 244: »Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise … – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Arbeit zu bestehen, – bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größte Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren mit sich führt.«400 Bedenkenswert ist Hüppaufs Feststellung, dass Hegel einerseits »Schlegels Usurpation der göttlichen Höhe« zurückweise und von der Philosophie fordere, dieser zu entsagen, andererseits nehme Hegel diese selbst in Anspruch und spreche selbst aus der Position der Höhe. Hegels Nein und gleichzeitiges Ja sei kennzeichnend für die Logik der Unverständlichkeit. Hüppauf sieht in Hegels Argumentation, die aus einer tieferen Schicht als der seiner philosophischen Systembildung stamme, »das Symptom vom Zerfall des cartesianischen Imperativs«, der die Theorie der Neuzeit und Hegels Eigenbild geleitet habe.401 Das cartesianische Erkenntnisideal (clare et distincte) habe Hegel entgegen seiner eigenen Forderung aber nicht eingelöst, stattdessen das neue Feld des Philosophierens eröffnet, in dem Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit keine Bedingungen mehr seien, sondern »die Mehrdeutigkeit von Perspektiven« gelte. Man könne Hegels Sprache »als den ersten Versuch verstehen, die Philosophie unter den Forderungen der modernen Theoriebildung aus dem Wagnis einer Sprache der Unschärfe zu entwerfen.«402 Diese Stellungnahme Hüppaufs, die eine Nähe zwischen Hegels und Nietzsches Sprachauffassung konstatiert, wobei ihm Schlegels Unverständlichkeit als tertium comparationis dient, ist ein Beitrag zu einem neueren Forschungsgebiet, in dem versucht wird, »das Gespräch zwischen so unterschiedlichen, ja in vieler Hinsicht diametral gegensätzlicher Köpfe wie Hegel und Nietzsche in einem produktiven Gang zu halten.«403 Zur Frage der häufig beklagten Unverständlichkeit von Hegels Schriften hat Adorno, der ebenfalls des Öfteren Verweise auf Nietzsches Philosophie in seine 400 401 402 403

G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., § 244. Hüppauf, a. a. O., S. 228. A.a.O., S. 229. So Klaus Vieweg u. Richard T. Gray im Vorwort zu »Hegel und Nietzsche«, a. a. O., S. 5.

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Hegel-Interpretationen einfügt, differenziert und ausführlich Stellung genommen. Im Unterschied zu Hüppauf wird bei Adorno das Hegelsche System, seine Dialektik zur Begründung angeführt. Hegel habe im Gegensatz zu Husserl viel energischer die Begriffe so bilden wollen, »daß das Leben der Sache selbst erscheint«, während Husserl z. B. mit der »reflexionsphilosophischen Disjunktion des Festen und Fließenden« vorlieb genommen hätte.404 Hegels Orientierung sei nicht das abstrakte Erkenntnisideal der Klarheit gewesen. Wenn Hegels Verdikt, dass philosophisch kein einzelner Satz wahr sei, seine Kraft über ihn hinaus behielte, wäre einem jeden auch seine sprachliche Unzulänglichkeit vorzuhalten. »Hegelisch könnte man, freilich ohne Rücksicht auf seine eigene sprachliche Praxis, sagen, die unermüdlich an ihm monierte Unklarheit sei nicht bloß Schwäche, sondern auch Motor zur Berichtigung der Unwahrheit des Partikularen, die als Unklarheit des Einzelnen sich einbenennt.«405 Was der Hegelschen Philosophie an »clart¦« mangele, könnte – so Adorno über Hegels »Phänomenologie des Geistes« – bedingt sein von der in das Beschreiben der Bewegung des Begriffs hineinragenden historischen Dimension. Hegel versuche gleichsam hastig, »die Darstellung danach zu modulieren; so zu philosophieren, als ob man Geschichte schriebe, durch den Denkmodus die in Dialektik konzipierte Einheit des Systematischen und Historischen erzwänge.« Dass Hegel sich gedrängt sah, das geschichtliche Moment ins Logische zu integrieren und zugleich zur Umkehrung dieser Vorgehensweise, verwandele sich in Kritik an seinem eigenen System. Es müsse »die begriffliche Irreduktibilität des in sich selbst historischen Begriffs einbekennen: nach logisch-systematischen Kriterien stört Geschichtliches, trotz allem, als blinder Fleck.«406 Bei aller Wertschätzung der Hegelschen Dialektik und deren besonderer Begriffsverwendungen ist die bereits zitierte Auffassung von Hüppauf, dass es Hegel um die Schaffung einer neuen Sprache gegangen sei, eher für Nietzsche zutreffend, zumindest in einem höheren Maße. Auch seine Einschätzung, dass Nietzsche, der als Stilist gepriesen wird, eine »Philosophie der Unschärfe«407 betrieben habe, bedarf der Ergänzung. Wie mehrfach betont, hat sich Nietzsche durchaus in vielen seiner Argumentationen einer klaren Begrifflichkeit408 bedient, aber die Möglichkeiten, philosophische Gedanken darzustellen, erweitert. Darin liegt für die einen der Reiz der Lektüre, für die anderen ist es meist ein Ärgernis und führt zu den bekannten Abwertungen. Bei einem Vergleich der 404 405 406 407 408

Adorno, a. a. O., S. 96 A.a.O., S. 97. A.a.O., S. 113 f. Hüppauf, a. a. O., S. 231. Dies gilt besonders für den Abschnitt »von den ersten und letzten Dingen« (in: »Menschliches, Allzumenschliches« I), in dem Nietzsche etliche zentrale philosophische Begriffe entfaltet.

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Philosophie Hegels mit der Nietzsches bezüglich der verwendeten Darstellungsformen ist der frappierende Unterschied unübersehbar, dass Hegel auf die Begrifflichkeit setzt, während bei Nietzsche die Metaphorik einen breiten Raum einnimmt. Für die hier vertretene Auffassung, dass die Kombination beider Darstellungsformen eine Erweiterung der Grenzen des philosophischen Terrains ermöglicht, bietet Klaus Viewegs Untersuchung »Das Bildliche und der Begriff«409 überzeugende Argumente. In seiner Konfrontierung von Hegel und Nietzsche misst er zwar dem Untertitel gemäß (»Hegel zur Aufhebung der Sprache der Vorstellung in die Sprache des Begriffs«) Hegels Begrifflichkeit das größere Gewicht bei, entfaltet aber eine ganze Palette an Fragestellungen, die zu beiden Philosophen einen produktiven Zugang eröffnet. Es geht ihm einerseits um die Frage nach der Möglichkeit der Unterscheidung von literarischen bzw. religiösen und philosophischen Texten, nach der Möglichkeit der Differenzierung der verschiedenen Formen und »Sprachen«, andererseits »um das Problem einer möglichen Transformation, eines Über-setzens zwischen diesen Ausdrucksformen und um die Frage nach Übergangs- oder Mischformen«.410 Eine weitere Frage ist für Vieweg, wie es mit der Präsenz der Metapher in der philosophischen Argumentation aussieht. Bezogen auf Hegel führt er dazu einige Beispiele an, die an dessen bestimmter Negation des Aufhebens, der Aufhebung der Form der Vorstellung in der Form des Begriffs, orientiert sind. Zunächst nennt er eine vorläufige Bestimmung des Terminus Vorstellung im Sinne Hegels: »Die Vorstellungen stehen zwischen dem Sinnlich-Anschaulichen und dem Begriff, sie repräsentieren die Mitte, das Zwischen, den Übergang, das Übertragen zwischen dem Einzelnen der Anschauung und der Allgemeinheit des Begriffs.411 Kunst und Religion, die bei Hegel als Arten des Erkennens gelten, führen nach dessen Auffassung zu Fanatismus, wenn sie auf Gefühl und Fantasie reduziert sind, »d. h. vom Begreifen abgekoppelt und in bloße Metaphorizität und deren Selbstlegitimation aufgelöst werden.«412 Religiöse Vorstellungen sind erst legitimiert durch begreifendes Denken. Beim Absoluten handelt es sich aber bei Hegel – nach Auffassung Viewegs – »nicht nur um das bloß in Begriffen sich haltende Wesen, nicht nur um das Denken als das Formelle des abstrakten Inhalts, nicht um bloße Logik, nicht als Geheimes, Verborgenes und Unerforschliches, sondern das Absolute manifestiert sich als das Andere seiner

409 Klaus Vieweg, Das Bildliche und der Begriff – Hegel zur Aufhebung der Sprache der Vorstellung in die Sprache der Begriffe, in: Hegel-Nietzsche, a. a. O., S. 9 – 28. 410 A.a.O., S. 9. 411 A.a.O., S. 15. Vgl. dazu die ausführlichen Angaben von Vieweg. 412 A.a.O., S. 18.

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selbst.«413 Zur Kennzeichnung von Kunst und Religion »als Formen des WiederZurückgehens zum Sinnlichen im Sinne einer Rück-Übertragung«, die Bilder schaffen, ohne die der Geist seinen Inhalt nicht vergegenwärtigen könne, verweist Vieweg auf Hegels große Wertschätzung des Metaphorischen. Hegel zufolge läge in der Vorstellung, im Metaphorischen, in der Imagination »die Kraft neue Bedeutung zu konstituieren.«414 In einem weiteren Beispiel hebt Vieweg hervor, dass Hegel bewusst die metaphorische Ausdrucksweise verwende, wenn er von der Darstellung Gottes spräche, »wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und des endlichen Geistes ist.« In der Enzyklopädie habe Hegel deutlich die Doppeldeutigkeit dieser Metapher herausgestellt, indem er das Göttliche, die Ewigkeit »als Gegenwart, das Jetzt ohne Vor und Nach« beschreibt. »Die Welt ist erschaffen, wird erschaffen jetzt und ist ewig erschaffen worden. … Erschaffen ist die Tätigkeit der absoluten Idee.«415 Entgegen einer Interpretationsweise, wie sie Derrida vertrete, bei dem in einseitiger Weise nur die Vernichtung, das bloße Zerstören in den Blick genommen werde, indem er Metaphern im Sinne einer Abnützung einer Münze gebrauche, betont Vieweg, dass auch der Gedanke des Bewahrens hinzukommen müsse. In diesem Zusammenhang konstatiert er eine Parallele zwischen Hegels und Nietzsches Sprachverständnis. Er empfiehlt das 1. Kapitel von Hegels »Phänomenologie« als Lehrstück, in dem der Sprache »göttliche Natur« zugesprochen werde. Durch das Sprechen in Begriffen werde unser Meinen, das Vermeintliche, Uneigentliche umgekehrt. Auch bei Nietzsche fände sich »eine euphorische Würdigung dieser Kraft der Sprache«, sie gälte »als die bewunderungswürdigste logische Operation und Distinktion«, als »Ausdruck der Befähigung des Menschen zur Erzeugung der Logik.«416 In dem angeführten Zitat wird deutlich, dass Nietzsche logisches Denken durchaus als eine wesentliche menschliche Befähigung ansieht. Er ist kein Feind der Logik, als solchen bezeichnet er vielmehr u. a. Wagner, der wie die französischen Frühromantiker »Fanatiker des Ausdrucks ›um jeden Preis‹ gewesen sei.«417 In einer Kritik an seiner eigenen Schulbildung beklagt Nietzsche, dass man Mathematik und Physik auf gewaltsame Weise aufgezwungen hätte, »anstatt uns erst in die Verzweiflung zu führen und … unserer Begierde dann zu zeigen, dass wir ein mathematisches und mechanisches Wissen zuallererst nöthig haben, und uns dann erst das wissenschaftliche Entzücken an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren!«418 Den »strengen Logikern« hält er 413 414 415 416 417 418

A.a.O., S. 19. Ebd. Verkürzt zitiert aus Vieweg, a. a. O., S. 25. »Nachgelassene Fragmente«, KSA 7, S. 457. Zit. nach Vieweg, a. a. O., S. 25. »Jenseits von Gut und Böse«, KSA 5, S. 201. »Morgenröte«, KSA 3, Aph. 195.

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zugute, dass sie »jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der unbekannten Welt in Abrede gestellt« hätten, aber auch diese hätten übersehen, dass »das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heißt – allmählich geworden ist, ja noch völlig im Werden ist und deshalb nicht als feste Größe betrachtet werden soll.«419 Zu dem Gewordensein zählt Nietzsche auch, dass die Welt »so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungsvoll, seelenvoll geworden ist, sie hat Farbe bekommen.« Als Begründung führt er an, »daß wir seit Jahrtausenden mit moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Untaten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben.«420 Ebenso wie Nietzsche zur Logik – die nicht gerade zu seinen philosophischen Begabungen zu rechnen ist – differenzierte Angaben macht, verwirft er auch die zentralen Begriffe Tatsachen und Wahrheit, trotz der erhobenen Einwände, nicht völlig. Seine Kritik richtet sich gegen die Beanspruchung von »ewigen Tatsachen« und »absoluten Wahrheiten«.421 Außer zu diesen Begriffen finden sich im Abschnitt »Von den ersten und letzten Dingen« (in »Menschliches – Allzumenschliches«) wohl begründete Gedanken zu philosophischen Grundbegriffen. In der verkürzten Form der Aphorismen genügen sie sicher nicht den Ansprüchen eines geübten Logikers, der auf stringenten Herleitungen besteht; sie enthalten aber teils vernachlässigte Aspekte und bieten dadurch Anstöße, die in jüngster Zeit auch in der analytischen Philosophie Eingang gefunden haben.422 Vieweg hat in der zitierten Untersuchung über »Das Bildliche und den Begriff«, die auf einem Forschungsprojekt »Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur bei Hegel und Nietzsche« basiert, das Bild der Brücke verwendet und u. a. die Frage gestellt, ob man die beiden Seiten als sich unterscheidende Brückenköpfe verstehen könne und welche Übergänge es gäbe. In kritischen Äußerungen über Derrida und Rorty weist Vieweg ihnen den Status von Brückenbewohnern zu, da sie für poetische Philosopheme und philosophische 419 »Menschliches, Allzumenschliches«, KSA 2, S. 36. 420 Ebd. 421 Dies gilt es bei Nietzsches Skepsis und Einwänden gegen bestimmt philosophische Begriffe zu berücksichtigen. 422 So ist in einer Ringvorlesung des Philosophischen Seminars in Göttingen (vom 22.10. 08 – 21.01. 09) Nietzsche vertreten in der Reihe »Philosophische Revolutionen – Philosophische Persönlichkeiten«. Holmer Steinfath, der den Lehrstuhl für Praktische Philosophie innehat, setzte sich unter dem Titel »Umwertung der Werte« mit Nietzsches Kritik der Moral auseinander. Als weiteren »revolutionären Philosophen« widmeten sich die Referenten in der Vorlesungsreihe Platon, Kant, Marx, Husserl, Wittgenstein und Heidegger. Eine solch weitgespannte Auseinandersetzung mit philosophischen Positionen kann dazu beitragen, eng abgesteckte Grenzen einzelner Lehrmeinungen zu überschreiten.

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Poeme votierten. Für den Aufsatz »Der Schacht und die Pyramide« zollt Vieweg Derrida Anerkennung, da er Hegel für die Aufklärung der hier behandelten Thematik große Verdienste zuschreibe. »Hegels Gedanken über den subjektiven Geist in der Enzyklopädie gelten ihm als riesiger Fortschritt in der Semiologie, die Grundzüge einer neuen Zeichentheorie und Linguistik würden formuliert.«423 In seinem Resümee hebt Vieweg hervor, dass es in den Hegelschen Denkbemühungen über den Zusammenhang von unendlichen und endlichen Verhältnissen um den Begriff der Freiheit gehe. Die Absenz dieses Begriffes ziehe unweigerlich das Fehlen einer praktischen Philosophie der Freiheit nach sich. »Für die Konstitution der modernen Freiheit reicht das unverzichtbare farbigbewegliche Heer von Metaphern nicht aus, erforderlich ist auch die Grau-in-Grau formierte Armee des Begriffs.«424 Solche Formen der Überbrückung sind wünschenswert, verzichtbar dabei dürften die ans Militärische angelehnten Metaphern sein. Nietzsche verwendet das Bild der Brücke in einer seiner berühmten Aussagen über den Menschen. In »Also sprach Zarathustra« heißt es: »Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.«425 Wie stets bei Nietzsche sind im Erwarten des Künftigen Aufstrebendes und Niedergehendes verbunden. Zur Freiheit gelangen setzt bei ihm Akte der Befreiung voraus. Wie bei Hegel ist der Prozess, das Werden von zentraler Bedeutung. Bei aller Vielfalt der Formen der Befreiung, die keine rein gedanklichen Akte sind, sondern die sinnliche und schöpferische Ebene einschließen, bleibt die politische Dimension bei Nietzsche verkürzt und vereinseitigt. Hier besteht ein deutlicher Unterschied zu Hegel, bei dem der Mensch in der Perspektive des bourgeois und der des citoyen entschiedener in den Blick genommen wird. Eine Brücke, die über die Verbindung von Bild und Begriff hinausgeht, wird durch Nietzsches Überschreiten der Rationalität eröffnet. Überschreiten bedeutet nicht, wie dies Habermas über Nietzsches Denkweg behauptet, dass das Programm einer subjektzentrierten Vernunft im ganzen aufgegeben werde. Nietzsche benutze die Leiter der historischen Vernunft, »um sie am Ende wegzuwerfen und im Mythos, als dem Anderen der Vernunft, Fuß zu fassen.«426 Nietzsches Kritik an der Vernunft führt nicht zur völligen Preisgabe, sondern zu der bereits angeführten Erweiterung des Vernunftbegriffs und zu der erweiterten Perspektive, die das Subjekt nicht auf pure Rationalität reduziert. Auch der Weltbezug ist mehrdimensional, schließt folglich die von Habermas abgewertete ästhetische Sicht ein und räumt dem Mythos erhellende und schöpfe423 424 425 426

Vieweg, a. a. O., S. 13. A.a.O., S. 27. »Also sprach Zarathustra«, a. a. O., S. 16 f. Jürgen Habermas, Der Philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1986, S. 107.

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rische Kraft ein, vorausgesetzt, dass – Nietzsche gemäß – der Mensch selbst zum Schöpfer des Mythos wird. Habermas engt seinen Blick auf Nietzsches Philosophie ein und verkürzt die Vielfalt seiner Perspektiven auf den Mythos; andererseits möchte er seinerseits »des Lichts der im Mythos aufbewahrten semantischen Potentiale« nicht verlustig gehen. Er glaubt den Bann des mythischen Denkens lösen zu können durch vermittelndes Denken, das sich dessen bewusst ist, dass die Konfusion von Vernunft und Macht nicht mit einem Ruck weggezogen werden könne. Da beide Sphären miteinander verwoben seien, müssten sie immer von neuem prozedural geschieden werden. »In der Argumentation verschränken sich stets Kritik und Theorie, Aufklärung und Begründung, auch wenn die Diskursteilnehmer unterstellen müssen, daß unter den unausweichlichen Kommunikationsvoraussetzungen der argumentativen Rede nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommt.«427 Dabei könne man wissen, dass die Idealisierung nötig ist, weil das Medium, in dem sich Überzeugungen bilden, nicht »rein« sei, »nicht nach der Art der platonischen Ideen der Welt der Erscheinungen enthoben ist.«428 Zu prüfen bleiben Notwendigkeit und Folgen der Idealisierungen, die in unterschiedlichen Ausprägungen auch in nachmetaphysischen Philosophien vertreten sind; ferner ob der ästhetische Bezug auf die Welt mythischer Elemente entbehren kann oder diese unabdingbar eingeschlossen sind. Auf diese Aspekte wird in den letzten Abschnitten eingegangen. Hier soll zuerst die Frage nach den Kommunikations- bzw. Diskursvoraussetzungen aufgeworfen werden, da sie für die Bewertung von Nietzsches Überschreiten von Diskursgrenzen und dem möglichen Abbau diskursiver Barrieren bedeutsam ist. Maßgeblich ist zunächst der Begriff Diskurs, da aus dem jeweiligen Verständnis sich ergibt, wer und was in den Diskurs eingeschlossen bzw. ausgeschlossen wird. Aus der Vielfalt differenter Auffassungen soll auf den Habermasschen Diskursbegriff verwiesen werden und auf das, was Foucault damit verbindet. Habermas unterscheidet in seiner Diskursethik verschiedene Diskursbereiche und legt als wesentliche Regel fest, dass möglichst viele (alle Sprachfähigen) sich beteiligen und alle Argumente eingebracht werden können. Ausgeschlossen wird, was nicht allgemeinerungs-

427 A.a.O., S. 157. 428 Ebd. Zu den Vorzügen der philosophischen Position von Habermas zählt, dass bei ihm ebenso wie bei Hegel – allerdings in aktualisierter Weise – das Politische großes Gewicht hat. Dabei praktiziert Habermas jedoch ein erhebliches Maß an Trennung in seinen Schriften. Einerseits betont er die seiner Meinung nach notwendige Reduktion auf Formalismus, insbesondere in seiner Diskursethik (wobei er sich des gegen Kant gerichteten Einwandes Hegels – eines abstrakten Universalismus nicht völlig entziehen kann); andererseits nimmt er mit dezidierten Stellungnahmen an aktuellen Diskursen teil. (So z. B. in einem Interview in der »Zeit« vom 06. Nov. 2008 zur Finanzkrise, wo er u. a. den »Privatisierungswahn« heftig kritisiert.)

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fähig ist.429 Diese Vorgaben sind einsichtig, wenn es z. B. um universell gültige Menschenrechte geht. Problematisch werden die Festlegungen, wenn soziale und kulturelle Differenzen in Betracht kommen. Auch die generelle Festlegung argumentativer Strenge engt das Terrain des jeweiligen Diskurses ein. Bei Foucault finden sowohl soziale als auch kulturelle Aspekte stärkere Berücksichtigung, so dass die entsprechenden Diskurse eine erweiterte Teilnahme und Thematik ermöglichen. Beispielhaft seien Foucaults Gedanken über »Die Anreizung zu Diskursen« angeführt, die er aus historischer und politischer Perspektive bezogen auf die abendländische Gesellschaft in »Sexualität und Wahrheit« darlegt.430 Sexualität ist für Foucault nur ein Beispiel für ein allgemeines Problem, wie in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, denen für eine bestimmte Zeit Wahrheit zugeschrieben wird, mit den Mechanismen und Institutionen der Macht zusammenhängen. Eine Erweiterung des Diskurses sehe ich darin, dass Foucault in seinen Untersuchungen Macht, Wissen und Lust in ihren Funktionen und in ihren Gründen zu bestimmen versucht.431 Der Auffassung Nietzsches, dass uns das Christentum den Körper verabscheuungswürdig gemacht habe, fügt Foucault hinzu, dass wir heute davon träumen müssten, »daß man vielleicht eines Tages, in einer anderen Ökonomie der Körper und Lüste, nicht mehr recht verstehen wird, wie es den Hinterhältigkeiten der Sexualität und der ihr Dispositiv stützenden Macht gelingen konnte, uns dieser kargen Alleinherrschaft des Sexes zu unterwerfen.« Die Ironie dieses Dispositives, das ab dem 17. Jahrhundert entwickelt worden sei, mache uns glauben, »daß es darin um unsere ›Befreiung‹ geht.«432 Worin unsere Befreiung bestehen könnte, bleibt bei Foucault offen. Hierzu bieten die oben beschriebenen Formen der Befreiung, die Nietzsches Denkweg prägen, deutliche Hinweise und Ermutigungen. Das Fehlen klarer Angaben ist als Manko bei Foucault zu beklagen, der in der Einleitung bezogen auf das thematisierte Problem feststellt, dass er es seit fünfzehn Jahren verfolge und dass es ihn ebenso lange verfolgt habe.433 Nicht angebracht scheint mir die Kritik von Habermas, 429 Diese sehr verkürzte Wiedergabe vernachlässigt detaillierte Begründungen und Regeln, die Habermas dazu entwickelt hat. Vgl. dazu »Erläuterungen zur Diskursethik«, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1992. Der von K.O. Apel und Habermas unternommene Versuch, »die Kantische Moraltheorie im Hinblick auf die Normenbegründung neu zu formulieren« (S. 9) enthält etliche Differenzen zu Kants Auffassung. Die größte Neuerung bzw. Weiterentwicklung besteht m. E. in der Überwindung des monologischen Ansatzes von Kant, »der damit rechnet, daß jeder Einzelne in foro interno (»im einsamen Seelenleben«, wie Husserl sagte) die Prüfung seiner Handlungsmaximen vornimmt.« (S. 20). Zudem reklamiert Habermas, anders als bei Kant habe die Diskursethik »die Folgeorientierung von vornherein in ihre Prozedur eingebaut.« (S. 23). 430 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Frankfurt a.M. 1983. 431 A.a.O., S. 21. 432 A.a.O., S. 190. 433 A.a.O., S. 8.

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dass Foucault »noch die letzte schwache Konnotation eines philosophischen Wahrheitsbezuges« eliminiere.434 Dieses Urteil resultiert aus einer philosophischen Sicht, die Darstellungsformen wie sie Foucault, Derrida u. a. praktizieren, mit der Begründung ablehnt, dass »die Unterscheidung zwischen Realitätsebenen, zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Alltagspraxis und außeralltäglicher Erfahrung, zwischen entsprechenden Textsorten und Gattungen unmöglich, ja sinnlos« werde.435 Eine Erweiterung der Diskurse über den abendländischen Rahmen hinaus bzw. eine Grenzüberschreitung wie sie durch Nietzsches interkulturelle Perspektive eröffnet wird, kennzeichnen die unterschiedlichen Ansätze, die im Rahmen der interkulturellen Philosophie entfaltet werden. Die Begriffsschöpfung bzw. Verwendung des Begriffs Polylog von Franz Martin Wimmer signalisiert eine dieser Neuorientierungen. In einem Beitrag zu »Ethik und Politik aus interkultureller Sicht« setzt sich Wimmer mit der Konfrontation von Universalismus und Ethnophilosophie auseinander.436 Er geht von der aufklärerischen Hoffnung aus, dass an die Stelle der verschiedenen, traditionell verankerten Lebensformen durch die Ausbreitung »einer wissenschaftlich fundierten Lebensformen eines Tages nicht nur in solchen Bereichen wie der Technik oder der politischen Organisation, sondern in allen Belangen des Lebens eine allgemeine, aus der Vernunft begründbare Form von allen Menschen anerkannt wird.«437 Dieser Hoffnung stellt er die gegenwärtige Realität entgegen, die gekennzeichnet sei von kultureller Vielfalt und kultureller Dominanz. In der akademischen Philosophie der Gegenwart spiegeln sich seiner Meinung nach alle Facetten dieses Problems wieder. Da das Projekt des Philosophierens darin bestünde, »in grundlegenden Fragen zu verbindlichen Einsichten zu kommen und diese in angemessener Weise auszudrücken und kommunikabel zu machen«, sei damit der Anspruch verknüpft, Denkweisen und Überzeugungen zu kritisieren und zu verändern.438 Heute werde in einer weit verbreiteten Haltung gegen die europazentrierte Philosophie der Vorwurf der Willkür erhoben. Setzt man gegen okzidentale Begrifflichkeit und Systeme, die sich allgemeingültig ausgeben, 434 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M. 1992, S. 246 f. 435 Ebd. Diese Position von Habermas wird in IV.2 mit anderen Auffassungen konfrontiert. Eine Alternative zu dem Begriff der kommunikativen Vernunft bietet Wolfgang Welsch mit seinem Plädoyer für eine »transversale Vernunft«. In seinem umfangreichen Werk »Vernunft – Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft«, 1. Aufl. Frankfurt am Main 1996, setzt er sich sehr differenziert mit verschiedenen Positionen auseinander, u. a. mit der von Habermas, und bezieht auch Fragen zur Ästhetik ein. 436 Franz Martin Wimmer, Polylog der Traditionen im philosophischen Denken, in: Ethik und Politik aus interkultureller Sicht (Hrs. Von R.A. Mall und Notker Schneider, Amsterdam/ Atlanta 1996.) 437 A.a.O., S. 39. 438 A.a.O., S. 40.

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etwas Eigenes, könne konsequenterweise dann der Allgemeinheitsanspruch nicht mehr erhoben werden. Dem Modell des einen Zentrums stünden wegen des jeweils unterschiedlichen kulturellen Kontextes dasjenige vieler Zentren gegenüber, »der behauptete Universalismus gegen die Ethnophilosophie.«439 Eine konsequente Durchführung führt für Wimmer im ersten Modell zu Totalitarismus, im zweiten zu Solipsismus. Dass in der Realität dies nicht so konsequent in Erscheinung tritt, sei für das theoretische Denken kein Trost. Zur Überwindung dieser Konfrontation hält Wimmer es für erforderlich, zunächst die bislang vernachlässigten und verdrängten Denktraditionen zu rekonstruieren. Wenn dies nicht zu weiteren Separationen, sondern zu neuen Verständigungen zwischen den Menschen unterschiedlicher Kulturtraditionen führen soll, »müssen auch wiederum Kategorien und Begriffe gefunden (und in unterschiedlichen Sprachen etabliert) werden, die in den Stand setzen, einander in Lebensfragen nicht nur besser zu verstehen, sondern aufzuklären.«440 Dies bedeutet für Wimmer eine Fortsetzung des Programms der Aufklärung mit anderen Mitteln. Das Mittel der voraussetzungslosen Wissenschaft möchte er durch einen Polylog der Traditionen ersetzen.441 Der Polylog ist Teil des Projektes interkultureller Philosophie, das anstatt der Alternative zwischen einem monokulturell-universalistischen oder einem multikulturell-separatistischen Philosophieren zu entwickeln ist. Dazu müsse die Geschichte des Philosophierens neu beschrieben werden, nicht aus einer, sondern aus vielen Perspektiven und in vielen Sprachen. Zudem sei es erforderlich, dass in jeder Sachfrage der Polylog möglichst zwischen allen relevanten Traditionen einer behaupteten Lösung vorangehe, und zwar in dem Wissen, dass es niemals eine Sprache der Philosophie gegeben habe oder gebe. Die Priorität liegt für Wimmer in der Praxis, für die eine Minimalregel formuliert werden könne: »Halte keine philosophische These für gut begründet, an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen kulturellen Tradition beteiligt waren.«442 Die Skepsis Wimmers bietet eine deutlich Parallele zu Nietzsches Bezug auf die Wahrheit in Aph. 260 in der »Fröhlichen Wissenschaft«: »Einer hat immer Unrecht: aber mit Zweien beginnt die Wahrheit.« Das Gelingen von Verständigung ist auf literarischer oder musikalischer Ebene eher möglich als insbesondere in ideologisch geprägten Zusammenhängen, da hier der Suche nach Gemeinsamkeiten oder gar nach Versöhnung von Verfeindeten meist eine auf Selbstbehauptung verfestigte Haltung entgegensteht. Die überspitzt anmutende Kritik an der Anstrengung, »das Ich zu439 A.a.O., S. 41. 440 Ebd. 441 Zur genaueren Beschreibung der Form des Polylogs, der damit verbundenen Fragen und angeführten Beispiele vgl. a. a. O., S. 41 – 48. 442 A.a.O., S. 50.

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sammenzuhalten«, von Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« hat sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene Bedeutung. Die Angst, das Ich zu verlieren sei stets gepaart gewesen »mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Selbstbehauptung.«443 Nietzsche attestieren Horkheimer und Adorno, dass er wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt habe. In der Aufklärung habe er einerseits »die universale Bewegung des Geistes« erblickt, andererseits die lebensfeindliche ›nihilistische‹ Macht.«444 Über die Erkenntnis des Doppelcharakters der Aufklärung hinaus ist m. E. Nietzsches perspektivisches Denken in vielen Zusammenhängen auf Mehrdimensionalität angelegt. Daraus ergeben sich interpretatorische Schwierigkeiten, besonders beim Versuch, Nietzsche auf eine bestimmte Sichtweise zu reduzieren, aber auch Anstöße zur Bewertung aktueller Entwicklungen, zu denen die Philosophie als Interpretin und Kritikerin differenzierte Begriffe und Bilder zu bieten vermag, wenn sie über stringente Argumentation hinaus sich perspektivische Vielfalt zu Eigen macht.

2.

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Nietzsches Skepsis gegen bestimmte Formen des Argumentierens ist besonders häufig in seinen Religions- und Moralkritiken vertreten. Dazu sind oben etliche seiner kritischen Einwände entfaltet worden. In der »Fröhlichen Wissenschaft« wendet er sich »Gegen manch Verteidigung«445, deren Begründungsweise die »perfideste Art« sei, einer Sache zu schaden, indem diese absichtlich mit fehlerhaften Gründen verteidigt werde. Gegen Nietzsche lässt sich kritisch einwenden, dass das Nachvollziehen seiner Gedankengänge öfters erschwert ist, da Begründungen fehlen oder unabgeschlossen bleiben. Die ebenfalls häufig beklagte »begriffliche Unschärfe« ist bereits thematisiert worden. Nicht in apologetischer Absicht, sondern um die Besonderheiten von Nietzsches Philosophie hervorzuheben, soll an Beispielen aufgezeigt werden, dass Nietzsche stärker den schaffenden Menschen in den Vordergrund seiner Reflexionen rückt und sich dabei häufig einer konstatierenden Form bedient, wenngleich in literarisch anspruchsvoller Form. So wird in »Also sprach Zarathustra« Schätzen als Schaffen deklariert und in biblischem Stil hinzugefügt: »hört es, ihr Schaffenden!« Begründend stellt er allerdings voran, dass erst der Mensch Werte in die Dinge gelegt habe, »- er schuf 443 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, Amsterdam 1868, S. 47. 444 Ebd. 445 »Fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, Aph. 191.

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erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Darum nennt er sich »Mensch«, das ist der Schätzende.«446 Dem Menschen wird von Nietzsche als künftige Aufgabe Welt- und Selbsterschaffung zugesprochen. In einer der rätselhaften Reden »Zarathustras« wird der Weg des Schaffenden thematisiert. Die Gedanken über eine neue Kraft und ein neues Recht münden in die Frage nach einer Bewegung: »Ein aus sich rollendes Rad?«447 Bereits in den drei Verwandlungen wird auf der Stufe des Kindes das Neubeginnen als ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad beschrieben, das »ein heiliges Ja-sagen« zum Ziel hat. Dieses steht – wie im Zarathustra-Kapitel bereits dargestellt – in Verbindung zur »Umwertung aller Werte«, einem zentralen Gedanken in Nietzsches Erwartungen vom Übermenschen. Ob dieses Schaffen des Neuen als künstlerischer Akt zu bewerten ist, soll unter den abschließenden Fragen zur Ästhetik bei Nietzsche erneut aufgegriffen werden. Hier soll zunächst Hegels Entfaltung der Gedanken über die Bedeutung des Schaffens als Gegenpol benannt werden. Deutlicher als in Nietzsches Philosophie werden m. E. bei Hegel die beiden Elemente des Schaffens, Kunst und Arbeit, in ihrem je eigenen Gewicht für die Selbsterschaffung des Menschen berücksichtigt. Arbeit wird bei Hegel nicht nur in der »Rechtsphilosophie« in ihrer ökonomischen und sozialen Bedeutung analysiert und in ihrer entfremdeten Form als Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft thematisiert, sondern auch in der »Phänomenologie« wird Arbeit als ein wesentliches Element angeführt, das den Weg des Selbstbewusstseins kennzeichnet. Durch die Arbeit kommt dieses zu sich selbst. Sie ist »gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet.«448 Die verstreuten Äußerungen Nietzsches zur Arbeit zielen weniger auf den von Hegel klar erkannten vermittelnden Charakter der Arbeit im System der Bedürfnisse, vielmehr sind sie in den Horizont der freien Entfaltung gerückt.449 Unter dem Stichwort »Das ewige Kind« betont Nietzsche den Zusammenhang von Arbeit und Spiel. »Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre in die Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten! Wir nennen’s und empfinden’s freilich anders, aber gerade dies spricht dafür, daß es dasselbe ist – denn auch das Kind empfindet Spiel als seine Arbeit und das Märchen als seine Wahrheit.«450 Insgesamt sind die gesellschaftlichen Aspekte weitaus weniger berücksichtigt als bei Hegel. Nietzsches Gedanken über den schaffenden Menschen sind am In446 447 448 449

KSA 4, S. 80. A.a.O., S. 31. »Phänomenologie des Geistes«, a. a. O., S. 153. In Kap. II sind Zitate aus den Passagen über das wissenschaftliche Arbeiten und über die Arbeit der »Fabrik-Sklaverei« angeführt. 450 »Menschliches, Allzumenschliches II« ( Mei 270), KSA 2, S.493.

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dividuum orientiert und oft in der verknappenden aphoristischen Form gestaltet. Damit stellt sich erneut die Frage nach Nähe und Differenz zwischen Philosophie und Dichtung. Heidegger hat in seinen Reflexionen über die Sprache diese Thematik wiederholt aufgegriffen. Einerseits sieht er in der »Nachbarschaft« zur Dichtung die Möglichkeit, »eine denkende Erfahrung mit der Sprache zu finden.«451 Andererseits betont er in einer pointierten Formulierung die Differenz, die trotz größter Nähe bestehe. Man könne zwar manches wissen über das Verhältnis von Philosophie und Poesie, aber nichts von der Zwiesprache der Dichter und Denker, die »nahe wohnen auf getrenntesten Bergen.«452 Das »Sagen« des Denkers und das »Nennen« des Dichters seien zwar von gleicher Herkunft, sie unterschieden sich aber dadurch, dass der Denker das »Sein« sage, während der Dichter das »Heilige« nenne. Statt auf die eigenwillige philosophische Diktion Heideggers einzugehen, die notwendigerweise eine Interpretation seiner Seins-Metaphysik erfordert, möchte ich gegenwärtige Darstellungen anführen, die einen stärkeren Bezug auf Nietzsche enthalten. Zum einen bietet die Schrift der Literaturwissenschaftlerin Daniela Langer mit dem Titel »Wie man wird, was man schreibt«453 ein überzeugendes Beispiel dafür, dass sich Gedanken über Philosophie und Dichtung in erhellenden Reflexionen verbinden lassen. Als weitere Anregung sollen Argumente von Richard Rorty bedacht werden, die teils schon in dem Abschnitt »Öffnung durch Erweiterung des Horizontes« zur Interpretation von Passagen aus dem »Zarathustra« herangezogen wurden. Bei Daniela Langer sind die literaturwissenschaftlichen Betrachtungen von größerem Gewicht, gleichwohl werden in ihrem Vergleich von »Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes«454 philosophische Aspekte einbezogen. Sie stellt in ihrer Untersuchung zahlreiche Gemeinsamkeiten beider Autoren heraus. Ausgangspunkt ist die Sprachkritik, die sowohl bei Nietzsche als auch bei Barthes »die Sprache als adäquates Instrument zur Darstellung von Wahrheit bzw. Realität desavouierte.«455 Beide hätten darüber hinaus den Zusammenhang zwischen Sprache und Gewalt dargestellt. Zudem lasse sich bei beiden eine Verbindung von Sprach- und Subjektkritik konstatieren. Hierzu hat Daniela Langer detaillierte Interpretationen vorgenommen, insbesondere zu Nietzsche. 451 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 188. 452 Ders., Was ist Metaphysik?, Frankfurt a.M., 9. Aufl. 1965. 453 Daniela Langer, Wie man wird, was man schreibt – Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, München 2005. Der Titel ist eine kongeniale Formulierung zu Nietzsches »Ecce homo« mit dem Untertitel »Wie man wird, was man ist«. 454 So der Untertitel ihrer Schrift. 455 A.a.O., im Vorwort.

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Ihr Bezug auf Nietzsches Schreibpraxis mündet in die These: »Sein Subjektbegriff unterläuft die gängige Vorstellung der Identität einer Person als Einheit.«456 Dieser gängigen Vorstellung stellt sie Nietzsches Auffassung vom Subjekt als »Vielheit« gegenüber und zeigt den Zusammenhang von Pluralität und Perspektivismus auf. Die von Nietzsche konstatierte »Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen« sieht sie zu Recht als »Ausdruck der Perspektivität der Triebe«, die das Subjekt zu einem pluralen machen, das zugleich unter dem Primat der Perspektivität stehe. Nietzsches Perspektivismus ist für sie eine Antwort auf die Frage, »wie es möglich ist, unter der von ihm selbst gesetzten Voraussetzung – es gibt keine Wahrheit457 – weiterhin zu schreiben und Aussagen zu treffen.«458 In ihren Ausführungen verweist Daniela Langer u. a. auf Paradoxien, in die der Perspektivismus gerät, wenn er seine Aussagen selbst als allgemeingültig setzt, aber ihrem Konzept gemäß geht es ihr nicht um eine philosophische Kritik des Perspektivismus, »vielmehr um eine Nachzeichnung von Nietzsches pluralem Ich-Entwurf und der daraus resultierenden These des Perspektivismus.«459 Auch wenn sie sich dabei überwiegend auf Aussagen in »Ecce homo« bezieht, beachtet sie Nietzsches Entwicklung, wie sie in früheren Schriften deutlich wird, und zitiert aufschlussreiche Passagen aus dem Nachlass. Das Zitat »Das Denken ist uns kein Mittel zu ›erkennen‹, sondern das Geschehen zu bezeichnen, zu ordnen, für unseren Gebrauch handlich zu machen […]« mit dem Nachsatz »[…] so denken wir heute über das Denken: morgen vielleicht anders«, verdeutlicht für Daniela Langer, dass Nietzsche seinen Entwurf der Perspektivität als Aneignung und Handhabung von Welt nicht absolut verstehe, sondern seine eigene Relativität und seine eigene Erweiterung immer schon einschließe.460 Ein Zitat aus der »Fröhlichen Wissenschaft« verweist auf Nietzsches Auffassung vom schaffenden Menschen und rückt das Denken in den Zusammenhang mit dem Empfinden: »Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspektiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen Menschen […] eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt […]. Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen!«461 Über diese von Daniela 456 A.a.O., S. 77. 457 Dass das Zitat dieser Kurzformel, »es gibt keine Wahrheit« Nietzsches differenzierten Aussagen insgesamt nicht gerecht wird, wurde im vorigen Abschnitt bereits erläutert. 458 Daniela Langer, a. a. O., S. 85. 459 A.a.O., S. 87. 460 A.a.O., S. 88. 461 »Die fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, Viertes Buch, Aph. 301.

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Langer zitierten Passagen hinaus halte ich die folgenden Zeilen des Aphorismus für wichtig: »er [der Mensch, G.G.] meint, als Zuschauer und Zuhörer vor das große Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben ist: er nennt seine Natur eine Contemplative und übersieht dabei, dass er selber der eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens ist.« Auch wenn Nietzsche davon spricht, dass der Mensch etwas schaffe, das noch nicht da ist, scheint mir die Verdopplung des Menschen in Dichter und Fortdichter wichtig. Nietzsche hat in verschiedenen Zusammenhängen betont, dass der Mensch in die Kette von Entwicklungen eingefügt ist. Erst das Bewusstwerden dieser Voraussetzung bietet dem Menschen, der nicht darin verharren will, die Möglichkeit zur Befreiung, zum Überschreiten. Dies erklärt m. E. die großen Anstrengungen, die Nietzsche darauf verwendet, seinen Zukunftsentwürfen Analyse und Kritik der vorherrschenden Auffassungen über Moral, Religion etc. voranzustellen. Wie viele Nietzsche-Interpreten bzw. -Kritiker thematisiert auch Daniela Langer dessen Selbststilisierung in seiner späten Schaffensphase, sie spricht von einer »Apotheose des Ichs.«462 Sie vermeidet in ihrer akribischen Darstellung dieses Phänomens allerdings das häufig anzutreffende Zerrbild, das Nietzsche auf diese Seite reduziert bzw. diese überbetont herausstellt. In ihrem Gesamtbild widmet sie der von Nietzsche selbst betriebenen »Aufhebung des Ichs«463 ähnlich viel Gewicht. Sie ordnet beides in den Kontext der Selbstvergewisserung. Ihre Gedanken über das »Verstanden-werden-wollen« und die von Nietzsche angestrebte »Unverwechselbarkeit«, die sie ihrem literaturwissenschaftlichen Interesse gemäß in die Frage nach der Autorenschaft einbindet, lassen sich auf eine stärker philosophisch orientierte Frage zuspitzen. Während Daniela Langer verständlicherweise deutlicher auf den Stil und den Rhythmus der Sprache eingeht, soll hier die Frage betont werden, welche philosophischen Erkenntnisse Nietzsche sich zuschreibt und welche Perspektive er sich offen hält. Langer berücksichtigt die Frage eher unter semantischen Gesichtspunkten und bezieht sich auf namhafte Interpreten aus der umfangreichen Literatur zu diesem Gebiet.464 Im Rückblick auf seine Schriften, den Nietzsche in »Ecce homo« mit eigenen Interpretationen und Bewertungen vornimmt, stellt er als sein großes Verdienst heraus, die christliche Moral in Frage gestellt zu haben. Er bezeichnet sie als »die bösartige Form des Willens zur Lüge, die eigentliche Circe der Menschheit.«465 Sie sei bisher auch die »Circe aller Denker« gewesen und diese hätten in deren 462 Daniela Langer, a. a. O., S. 101 – 130. 463 A.a.O., S. 131 ff. 464 U.a. kommentiert sie die Schrift von Stegmaier, Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens, in der ebenso wie bei Daniela Langer der biblische Bezug, die Konfrontation Dionysos-Jesus breiten Raum einnehmen. 465 »Ecce homo«, a. a. O., S. 133.

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Dienst gestanden. Wie bereits in der »Morgenröte« richtet sich Nietzsches Moralkritik gegen Christentum und Philosophie. In »Ecce homo« steht sie in engerem Zusammenhang mit der Beschäftigung Nietzsches mit sich selbst. Auf der einen Seite erhebt er den Anspruch, der erste zu sein, der die christliche Moral »unter sich gefühlt« habe. Dazu gehöre Höhe und Fernblick, »eine bisher ganz unerhörte psychologische Tiefe und Abgründlichkeit.«466 Nietzsche sieht andererseits darin einen Fluch für sich, sein Schicksal. Aber er hält eine Abgrenzung vom »ganzen Rest der Menschheit« für nötig, da die Falschmünzerei der christlichen Moral zu dem größten Selbstbetrug der Menschheit gehöre. Besonders kritikbedürftig ist für Nietzsche der Mangel an Natur. Die Widernatur habe als Moral die höchsten Ehren empfangen, als Gesetz, als kategorischer Imperativ sei sie über der Menschheit hängen geblieben. Nietzsche bezeichnet sie – ohne Differenzierung – als einzige Moral, die bisher gelehrt worden sei. Er nennt sie eine »Entselbstungs-Moral«, die im untersten Grunde das Leben verneine.467 Wenn Nietzsche für sich reklamiert, »Finger für nuance zu haben«, selbst eine nuance zu sein, beachtet er dies hier in seiner pauschalen Kritik an der Moral nicht. Auch in seiner Distanzierung von den Deutschen, die sich in die Geschichte der Erkenntnis mit lauter zweideutigen Namen eingeschrieben hätten, verfährt er sehr undifferenziert, indem er Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel und Schleiermacher ebenso wie Kant und Leibniz als »bloße Schleiermacher« auflistet.468 Die Enttäuschung darüber, dass seine Schriften in Deutschland zu seiner Lebenszeit wenig Beachtung finden, hat hier wie in weiteren überspitzt formulierten Passagen wohl die Feder geführt. In der »Morgenröte« hat er noch neben aller Kritik am kategorischen Imperativ Kants, dessen »guten Stich Sensualismus« gelobt, den dieser in die Erkenntnistheorie übernommen habe.469 In »Ecce homo« gerät das Resümieren seiner Schriften zu teils heftigen Abrechnungen. Klärend wirkt seine Gegenüberstellung von »Zarathustra« als jasagender Teil, dessen Grundkonzeption der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke sei, und seinen heftigen Moralkritiken »Jenseits von Gut und Böse« und »Genealogie der Moral«. Mit den letzteren sei die neinsagende Hälfte an der Reihe.470 Zu den Aufgaben, die diese beiden Schriften erfüllen sollen, gehört die Umwertung bisheriger Werte und das Aufzeigen unangenehmer Wahrheiten, dabei werde die Psychologie »mit eigenständiger Härte und Grausamkeit gehandhabt.«471 Im Zentrum der Kritik steht das Christentum, das aus dem »Geiste des Ressenti466 467 468 469 470 471

A.a.O., S. 132. Ebd. A.a.O., S. 123 f. »Morgenröte«, KSA 3, S. 14. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kap. II. »Ecce homo«, a. a. O., S. 116. A.a.O., S. 117.

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ments« hervorgegangen sei und eine Gegenbewegung bedeute, »der große Aufstand gegen die Herrschaft vornehmer Werte.«472 Eine Rückkehr zur Vornehmheit ist Teil von Nietzsches Gegenentwurf, der bei ihm keinen systematischen Charakter hat und kein umfassendes neues Moralkonzept enthält. Er stilisiert sich zum Immoralisten473, gleichwohl verwendet er in seiner Umwertung auch zentrale Moralbegriffe, die jedoch inhaltlich eine neue Bedeutung und Zielrichtung erlangen. Der häufig von ihm in negativer Weise angeführte Begriff der Tugend wird am Schluss des 1. Kapitels im »Zarathustra« als »schenkende Tugend« in vielfältiger Weise reflektiert. Zarathustra entschlüsselt seinen Jüngern das Streben nach dieser höchsten Tugend als den Willen, alle Reichtümer in der Seele zu häufen, um sie als Gaben der Liebe« zurückströmen zu lassen. Zum Ursprung dieser Tugend gehöre der Wille, allen Dingen zu befehlen.474 Nietzsche stellt in den Worten Zarathustras der Selbstverleugnung des Christentums die Aufforderung gegenüber, den Lehrenden zu verleugnen und an seinem »Kranze (zu) rupfen«. »Man vergibt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt.«475 Dies ist eine der zahlreichen Textpassagen, in denen Nietzsche seine Vorstellung von Eigenständigkeit und Schaffen des Neuen darlegt – wiederum verbunden mit irritierenden Abgrenzungen von dem Kranken und Entarteten. Sein Imperativ (die beschwörende Bitte Zarathustras) verweist auf die notwendige Bindung an das Irdische: »Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend! Eure schenkende Liebe und eure Erkenntnis diene dem Sinn der Erde!«476 Um dem Sinn der Erde dienen zu können, wird die Sollensforderung erhoben, Kämpfende und Schaffende zu sein. In »Jenseits von Gut und Böse« verbindet Nietzsche in seiner »Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen« Vornehmheit mit Schöpfertum. »Die vornehme Art Mensch fühlt sich als weltbestimmend, … sie ist wertschaffend.«477 Aus den weiteren Variationen zu diesem Thema scheint mir der folgende Satz maßgeblich für Nietzsches Auffassung: »Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsere Pflichten zu Pflichten für jedermann herabzusetzen; die eigene Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht teilen wollen; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen.«478 Daraus lässt sich ersehen, dass für Nietzsche Verantwortung und Pflichten bedeutungsvoll sind, sie müssen allerdings selbst gesetzt und dürfen nicht verallgemeinert, auf die Allgemeinheit 472 473 474 475 476 477 478

A.a.O., S. 118. A.a.O., S. 132. »Zarathustra«, KSA 4, S. 99. A.a.O., S. 101. A.a.O., S. 99. »Jenseits von Gut und Böse«, 250, KSA 5, S. 209. A.a.O., 277, S. 227.

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übertragen werden. Oben wurde bereits auf die Ergänzungsbedürftigkeit einer solchen Position hingewiesen, wenn es beispielsweise um allgemein anerkannte und gültige Menschenrechte geht. Nietzsches Aphorismus lässt aber deutlich werden, wie Verantwortung entwertet wird, wenn man sie auf die Allgemeinheit überträgt. Auch die Frage nach der Verallgemeinerungsfähigkeit von Handlungsnormen ist damit gestellt, zu der Nietzsches Schriften kritische Anstöße, aber keine umfassende Lösung bieten. Konkretisiert hat Nietzsche seinen Einwand gegen Verallgemeinerungen in der Moral-Philosophie am Beispiel des Utilitarismus, nachdem er diesen eingeordnet hat in die Reihe der Denkweisen des Hedonismus, Pessimismus und Eudämonismus, die nach Lust und Leid und somit nach »Begleitzuständen und Nebensachen« messen; die für ihn Vordergrund-Denkweisen und Naivitäten sind. Bentham und seine Nachfolger wollten, dass die englische Moralität recht bekäme, das »Glück der Meisten« ziele darauf, was dem Glück Englands am meisten diene, die Sache des Egoismus werde als Sache der allgemeinen Wohlfahrt zu führen unternommen.479 Dem stellt Nietzsche seine Forderung nach Redlichkeit gegenüber, die für ihn ein Kennzeichen für freie Geister ist. An dieser einzigen Tugend, die für ihn und Gleichgesinnte übrig geblieben sei, wolle er mit »Bosheit und Liebe« arbeiten und sich in ihr »vervollkommnen«.«480 In diesem Zusammenhang findet sich eine der häufigsten, oft missachteten Aufforderungen Nietzsches, hart zu bleiben, als die »letzten Stoiker!«481 Bei diesen Formulierungen sollte zweierlei bedacht werden; zum einen, dass Härte hier eher im Sinne von Willensstärke zu verstehen ist, zum anderen der Anspruch, die letzten Stoiker zu sein, zu Nietzsches Forderung nach Überwindung gehört, da er im Stoizismus und in dessen Erneuerungsformen die Neigung zur Selbstverachtung sieht. Wenn er zugleich auch vom »Willen zur Macht« und von »Welt-Überwindung« redet, sind seine Bedenken berechtigt, verkannt und verwechselt zu werden. Auch ist er besorgt, da jede Tugend zur Dummheit neige, dass wir zuletzt noch aus Redlichkeit »zu Heiligen und Langweilern« werden könnten. Ähnlich wie bei Nietzsche könnten auch bei Richard Rorty die Bedenken, sich selbst und seine Leser der Langeweile auszusetzen, ein Motiv gewesen sein, den begrenzten Raum der Philosophie zu erweitern oder – im Falle Rortys – zeitweilig zu verlassen, um sich der Literaturwissenschaft zu widmen. Auch Rorty wurde – so wie es einige bis heute mit Nietzsche partiell oder gänzlich halten – abgesprochen, Philosoph zu sein. In Rortys Schriften sind trotz seiner zeitweiligen Abkehr von der einen beide Disziplinen vertreten. Nach seinen sprachphilosophischen Untersuchungen sind Fragen zur Kultur ins Zentrum gerückt, 479 A.a.O., 228, S. 164. 480 A.a.O., 227, S. 162. 481 Ebd.

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die ja auch in Nietzsches kritischen Äußerungen einen zentralen Bezugspunkt bilden.482 Stärker als bei Nietzsche ist bei Rorty die politische Thematik berücksichtigt und mit einem klaren Plädoyer für die liberale Demokratie verbunden. Für Rorty gibt es keine »erste Philosophie«, weder die Metaphysik, noch Sprachphilosophie noch Wissenschaftsphilosophie sei so etwas, aber auch seine Behauptung sei »nur ein Vorschlag zur Terminologie, zugunsten derselben Sache: der gegenwärtigen liberalen Kultur ein Vokabular zur Verfügung zu stellen, das ganz ihr eigenes und von allen Rückständen eines älteren, für die Bedürfnisse vergangener Tage geeigneten anderen Vokabulars gereinigt ist.«483 Dieses Zitat bezieht sich auf seine Favorisierung der Philosophen Davidson, Wittgenstein und Dewey, die uns mit Neubeschreibungen vertrauter Phänomene ausgerüstet hätten. Einbezogen sei eine Neubeschreibung des politischen Liberalismus, die uns erkennen lasse, »daß es keine natürlichen Ordnungen philosophischer Untersuchungen gibt.«484 Nach Einwänden gegen die Wittgenstein’sche Analogie zwischen Vokabularen und Werkzeugen und mit Bezug auf Hegels Satz »Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, ist eine Gestalt des Lebens alt geworden«, folgert er, dass wir »Spätgeborenen« die Geschichte des Fortschritts erzählen könnten, wie es denjenigen, die ihn bewirkt haben, nicht möglich sei. Als Beispiele führt er u. a. an, dass das Christentum nicht hätte wissen können, dass sein Zweck Linderung der Grausamkeit gewesen sei. Ebenso hätten die romantischen Dichter nicht gewusst, »daß ihr Zweck ein Beitrag zur Entwicklung des ethischen Bewusstseins war, das sich für die Kultur des politischen Liberalismus eignete.485 Verfolgt man die weitere Argumentation Rortys, wird seine Absicht deutlich, Verbindungsmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Denkströmungen in der Philosophie aufzuzeigen, insbesondere zwischen dem amerikanischen Pragmatismus und europäischen Positionen. Ebenso sieht er die Möglichkeit einer Synthese zwischen »kraftvollen Dichtern« und »utopischen Revolutionären«, die für ihn die »Helden« der liberalen Gesellschaft sind.486 Dazu sei allerdings ein neues Verständnis von Entfremdung erforderlich, das beinhalte, »daß Dichter und Revolutionäre, im Namen der Gesellschaft selbst, gegen Aspekte 482 A.a.O., S. 163. Das große und häufig dokumentierte Thema »Nietzsches Kulturkritik«, das in Kap. I und II vorwiegend in historische Zusammenhänge eingebettet ist, wird in der jüngsten Schrift von Carlo Gentili umfassend entfaltet. Gentili vertritt darin die These, dass von einer kontinuierlichen Entwicklung Nietzsches vom Philologen zum Philosophen nicht ausgegangen werden könne, vielmehr habe er sich immer irgendwie »zwischen« diesen beiden Disziplinen bewegt. Carlo Gentili, Nietzsches Kulturkritik – zwischen Philollogie und Philosophie, 2010. 483 Richard Rorty, a. a. O., S. 101. 484 Ebd. 485 A.a.O., S. 102. 486 A.a.O., S. 109.

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dieser Gesellschaft protestieren, die Verrat an dem Bild üben, das sie von sich selbst hat.«487 Nach dieser neuen Vorstellung würde auch der Unterschied zwischen Revolutionär und Reformer aufgehoben. Liberal sei eine Gesellschaft dann, wenn sie ihre Ideale durch Überzeugung statt durch Gewalt durchsetze, somit keine andere Absicht verfolge als die, »Dichtern und Revolutionären das Leben leichter zu machen und darauf zu achten, daß sie ihrerseits anderen das Leben nur durch Wort, nicht durch Taten erschwere.«488 Gegen dieses nur knapp zitierte Demokratieverständnis Rortys lässt sich einwenden, dass er hier und in weiteren Passagen den liberalen Aspekten gegenüber den sozialen einen zu großen Vorrang einräumt. Was seine Position auszeichnet, ist die Perspektive, in der ein Zusammenhang von philosophischreflexiver Ebene und Alltagsebene besteht. Dabei spielt das Bewusstsein der Kontingenz eine zentrale Rolle. »Menschen, die ihre Sprache, ihr Gewissen, ihre Moral und ihre hochfliegenden Hoffnungen als kontingente Ergebnisse verstehen, die sehen, dass diese Ergebnisse zustande gekommen sind, weil Metaphern, die irgendwann zufällig gemacht wurden, in den täglichen Sprachgebrauch aufgenommen wurden – diese Menschen erwerben damit eine Identität mit ihrem eigenen Selbst, das sie zu geeigneten Bürgern eines ideal-liberalen Staates macht.«489 Bürger und Bürgerinnen kennen seiner Meinung nach genug Freud für den Alltagsgebrauch, um »Gründer und Umformer« der Gesellschaft als Menschen anzusehen, die zufällig treffende Worte für ihre Phantasievorstellungen gefunden hätten, »Metaphern, die zufällig den undeutlich empfundenen Bedürfnissen der übrigen Gesellschaft entsprachen.«490 Eine Distanzierung vollzieht Rorty von Nietzsches Gedanken über Selbsterschaffung. In einer sehr beziehungsreichen Darstellung und Bewertung unterschiedlicher philosophischer Denkrichtungen nimmt er Bezug auf die vermeintliche Notwendigkeit, sich zwischen Kant und Nietzsche zur Frage, was menschlich sei, entscheiden zu müssen. Durch Freud sieht er eine Möglichkeit gegeben, dieser Entscheidung enthoben zu sein. Freud habe mit dem »Restplatonismus« von Kant und der »Umkehrung des Platonismus« bei Nietzsche gebrochen. Für beide Positionen gäbe es zwar einige Argumente, Freud halte es aber nicht für notwendig, eine Theorie der Menschennatur zu konstruieren, die entweder den moralischen Menschen schütze, der bei Kant im Zentrum stehe, oder den Dichter, der bei Nietzsche eine besondere Rolle spiele. Rorty sieht in Freuds Auffassung den Verzicht darauf, »das Selbst zum Gott zu machen, um so Ersatz für eine vergöttlichte Welt zu schaffen«, wie es Kant versuche,491 ebenso 487 488 489 490 491

Ebd. A.a.O., S. 110. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 71

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müsse man nicht wie Nietzsche den »starken Dichter« als »Archetyp des Menschlichen« sehen.492 Rorty attestiert Nietzsche – wie bereits angeführt – das Verdienst, die Wahrheit entgöttert zu haben, man müsse dessen Pragmatismus und Perspektivismus ernst nehmen, aber erst Freud habe uns geholfen, »das Selbst zu entgöttern, indem er das Bewusstsein auf seinen Ursprung in den Kontingenzen unserer Erziehung zurückverfolgte.«493 In seinen zahlreichen Argumenten, warum Freud »nützlicher und plausibler« als Nietzsche sei, führt Rorty an, dass Freud nicht die große Mehrheit der Menschen so herabsetze, wie dies bei Nietzsche der Fall sei. Damit ist eine kritikbedürftige Seite Nietzsches angesprochen, aber nicht hinreichend geklärt, ob der Anspruch der Genialität, der Unverwechselbarkeit nur für bestimmte Menschen oder zumindest für diese in einem höheren Maße zutrifft. Rorty zitiert in diesem Zusammenhang Philip Rieff: »Freud demokratisierte das Genie, in dem er allen Menschen ein kreatives Unbewusstes gab«. Dasselbe habe Lionel Trilling im Sinn, der sagte, Freud habe uns gezeigt, »dass Dichten zu den Grundzügen der Seele gehört.«494 Das Bemühen Rortys, auch auf der Ebene des schöpferischen Wirkens eine Demokratisierung zu begründen, führt zu einer Entwertung des Begriffs Genie und zu – nicht nur von Nietzsche vorgebrachten – Einwänden gegen ein Demokratiekonzept, das eine Nivellierung aller Lebensäußerungen anstrebt.495 Rorty gerät damit auch in einen Selbstwiderspruch, wenn er einerseits Dichtern eine besondere Aufgabe zuschreibt, andererseits Dichten zu einem Alltagsphänomen herabstuft. Nietzsche, den er für sein Modell der liberalen Ironikerin496 in Anspruch nimmt, wird er hier nicht gerecht. Dieser hat entgegen der Auffassung von Interpreten, die ihn auf seine frühe Position in der Tragödienschrift festlegen oder auf seine Selbststilisierung in »Ecce homo« reduzieren wollen,497 das Wechselspiel von Verzauberung und Entzauberung eindrucksvoll beherrscht. So hat Nietzsche einerseits trotz seiner Kritik an Hegel und Schopenhauer diese als »Brüder-Genies« bezeichnet und in Bezug auf den Wahrheitssinn einen Mangel an Genie beklagt,498 andererseits übt er Kritik an dem Genie-Kult und entgöttlicht das Genie, in besonders amüsanter Form in »Menschliches, Allzu492 493 494 495

A.a.O., S. 69 A.a.O., S. 63 A.a.O., S. 72 Als Beispiel eines frühen Kritikers sei auf Alexis de Tocqueville verwiesen, der in Untersuchungen über die Anfänge der Demokratie in Amerika solche Gefahren für die Liberalität darstellt. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München 1976 (franz. 1835/40). 496 Vgl. dazu Rortys Einleitung, a. a. O., S. 14 ff. 497 Rorty ist im Allgemeinen nicht zu diesen Interpreten zu rechnen, da er Nietzsches Gesamtwerk würdigt, hier verengt er m. E. seinen Blick zugunsten Freuds. 498 »Die fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, S. 370.

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menschliches«: »Die Genies verstehen sich besser als Talente darauf, den Leierkasten zu verstecken, vermöge ihres umfänglichen Faltenwurfs: aber im Grunde können sie auch nicht mehr, als ihre alten sieben Stücke immer wieder spielen.«499 Auch zur Dichtung gibt es viele kritische, entzaubernde Äußerungen mit teils vereinfachenden Zuordnungen.500 In etlichen Aphorismen wendet sich Nietzsche gegen das Romantisieren und fordert mehr Realitätsbezug. Am Beispiel von Shakespeare zeigt er auf, was für ihn den großen Dichter ausmacht. Dieser schöpfe »nur aus seiner Realität.«501 Ob diese Ausschließlichkeit für Shakespeare zutreffend ist, scheint mir fraglich, sie ist eher kennzeichnend für Nietzsches Selbstbezug in »Ecce homo«, wo solche Anmaßungen wiederholt formuliert sind. So beansprucht er, dass in Zukunft Heine und er als »die ersten Artisten der deutschen Sprache« gelten würden. Heinrich Heine habe ihm den höchsten Begriff vom Lyriker gegeben, er habe jene »Bosheit« besessen, ohne die er sich das Vollkommene nicht zu denken vermag.502 Eine Überwindung der von Nietzsche wiederholt propagierten Bosheit liegt womöglich in seiner Perspektive, am Ende nur ein »Ja-Sagender« und »froher Botschafter« sein zu wollen. Aber daneben bleibt seine Unerbittlichkeit, vernichten zu müssen, was er sich und dem »Übermenschen«503 zuschreibt. Hier ist ihm das Maßvolle verloren gegangen, das noch in »Menschliches, Allzumenschliches« seinen Vorstellungen zugrunde lag; so in seinem Aphorismus »Der Dichter als Wegweiser für die Zukunft.«504 Die dichterische Kraft sollte nicht zur »Abmahnung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung und Verdichtung der Vergangenheit«, verbraucht werden. Der Wegweiser für die Zukunft sollte auch nicht »günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen«. Wie früher die Künstler an den Gottesbildern fortdichteten, soll er »an dem schönen Menschenbilde fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit … die schöne große Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmäßige Zustände einzuverleiben mag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit 499 »Menschliches, Allzumenschliches« II ( Mei 155), KSA 2, S. 442. 500 Dies ist bei seinen vorwiegend negativen Wertungen über deutsche Literatur besonders ausgeprägt. Goethe gilt dabei als »Zwischenfall ohne Folgen«. (»Menschliches, Allzumenschliches« II, Wan. 125). 501 »Ecce homo«, a. a. O., S. 63. 502 A.a.O., S. 62. 503 Am Schluss von »Ecce homo« schreibt Nietzsche von den »stolzen und wohlgeratenen«, den »zukunftsgewissen, zukunftsverbürgenden Menschen«. A.a.O., S. 135. 504 »Menschliches, Allzumenschliches« II (Mei 99), KSA 2, S. 419 f. Hier entwirft Nietzsche ein Bild, das auch Ansprüche an den Menschen stellt, die im Unterschied zu den überhöhten Erwartungen an den »Übermenschen« aber maßvoller sind, obwohl sie ebenfalls am Lebenssteigernden orientiert sind.

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bekommt und also, durch Erregung von Nachahmung und Neid, die Zukunft schaffen hilft«. In der Nähe dieser neuen Kunst würden die Dichter, die von Leidenschaften abgeschlossen und verwahrt sind, »unverbesserliche Fehlgriffe«, wie »das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels, Hohnlachen und Zähneknirschen … als lästige archaisierende Vergröberung des Menschenbildes« empfinden. Maßgeblich werden jetzt: »Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Maß in den Personen und Handlungen: ein geebneter Boden, welcher dem Fuße Ruhe und Lust gibt: ein leuchtender Himmel auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd: das Wissen und die Kunst zu neuer Einheit zusammengeflossen: der Geist ohne Anmaßung und Eifersucht mit seiner Schwester, der Seele zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend: – dies alles wäre das Umschließende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf dem jetzt die zarten Unterschiede der verkörperten Ideale das eigentliche Gemälde – das der immer wachsenden menschlichen Hoheit – machen würden.«505 Diesen hohen, aber maßvollen Erwartungen an die Dichtung stehen in »Also sprach Zarathustra« – dem Werke Nietzsches, das am stärksten dichterisch geprägt ist – Zweifel an der Dichtung gegenüber : »Und die Dichter lügen zuviel.«506 Vermutlich ist dieses Urteil nur auf Zusammenhänge gemünzt, in denen es um Religion oder um Gottesvorstellungen in der Philosophie geht. Nietzsche empört sich in der Rede Zarathustras über die bösen und menschenfeindlichen »Lehren vom Einen und Vollen und Unbewegten und Satten und Unvergänglichen!«507 In dem Gedicht »An Goethe« im Anhang zur »Fröhlichen Wissenschaft« parodiert Nietzsche die Schlussverse von Faust II, den Bezug auf das Göttliche: »Das Unvergängliche ist nur dein Gleichnis! Gott der Verfängliche ist Dichter-Erschleichniss …«508 Hier wendet Nietzsche seine Kritik an der Verführung durch Dichtung509 auch gegen Goethe, dem er sonst höchste Anerkennung zollt. Dies ist ein Beispiel für Nietzsches Ringen, seine Lehren ohne Langeweile, lesbar und unverwechselbar mitzuteilen. Sein Wechseln zwischen philosophischer Reflexion und Dichtung bzw. die Kombination aus beidem bleibt bis zum Schluss erhalten. Besonders deutlich tritt dies im »Zarathustra« zu Trage, wenn dieser im Gespräch von einem Jünger an seinen Ausspruch erinnert wird »Die Dichter lügen zuviel«. Die Antwort Zarathustras, dass er selbst Dichter sei, lässt sich auf Nietzsche übertragen, den die ambivalente Wirkung von Dichtung wohl zu seinen wechselvollen Äußerungen veranlasst hat. Die Dominanz der Dichtung in Nietzsches Schaffen ist nicht nur auf sein Talent zurückzuführen, das er früh 505 506 507 508 509

Ebd. »Also sprach Zarathustra« II, KSA 4, S. 110. Ebd. »Die fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, S. 639. Ähnliche Einwände Nietzsches gegen den Rhythmus sind oben bereits dargestellt.

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entwickelt hat und ihm meisterliche Werke in Poesie und Prosa ermöglichte, sondern auch Folge seiner Abgrenzung von solchen philosophischen Positionen, die er für zu moralfixiert und einengend hielt. Trotz mancherlei Einwände gegen die Dichtung im Allgemeinen und gegen bestimmte Ausprägungen in verschiedenen Zeiten und Ländern im Besonderen sieht er in ihr doch einen großen Reichtum an Ausdrucksformen. So ist bei ihm die philosophische Argumentation eher in seinen kritischen Auseinandersetzungen vertreten, während der Entwurf des Neuen in dichterische Gestalt gekleidet ist. Deshalb bleiben seine Auffassungen teils rätselhaft, sind oft pointiert, in mancher Hinsicht polemisch überspitzt und bieten einen breiten Spielraum für unterschiedliche Interpretationen und für Missverständnisse. Dies war Nietzsche selbst bewusst und erklärt seine Forderung, ihn richtig zu lesen und ihn vor allem nicht zu verwechseln.510 In einer überzeugenden Veranschaulichung der These, dass Dichten nicht einen anderen Bereich als das Denken abdecke, sondern dass er die »höhere Form« des Denkens sei, stellt Georg Stenger Kants Schrift »Zum Ewigen Frieden« dem Gedicht »Friedensfeier« von Hölderlin gegenüber.511 Kants »Ewiger Friede«, den Georg Stenger für eine immer noch aktuelle Schrift hält, da sie nichts weniger beanspruche, »als die bedrängenden Fragen einer Weltpolitik zu beantworten«,512 ziele nicht bloß auf einen vertraglich geschlossenen Frieden, Kants Konzept enthalte vielmehr einen »transzendentalen Frieden«, einen »Frieden schlechthin.«513 Das Ziel des »Weltfriedens« gelte in der philosophischen Konzeption Kants als erreicht, es bedürfe aber noch der Aufklärungsschritte aller Menschen und Völker, »um dieses Prinzip auch realiter einzulösen.«514 Die »transzendentale Kluft« zwischen dem Völkerbund auf der einen und dem Bürger- und Weltbürgerrecht auf der anderen Seite überbrücke Kant, indem er »naturale, sprich empirische Erfahrungen« einführe. Die problematische Frage besteht für Stenger darin, »dass Kant in potentia und realiter mit dem Menschen rechnete, der in principio, d. h. aus Vernunftgründen immer und überall derselbe ist.«515 Nietzsches Vernunftkritik, die in Kap. VI, 1 bezogen auf die Erkenntnis- und Morallehren referiert wurde, gewinnt bei Stenger eine konkrete Ausprägung, 510 Rüdiger Görner sieht in seiner jüngsten Schrift »Wenn Götzen dämmern« das Bemühen Nietzsches um einen »unverwechselbaren Sprachton« u. a. darin begründet, dass er eine Alternative zu Wagners Art der Moderne bieten wollte. Rüdiger Görner, Wenn Götzen dämmern – Formen ästhetischen Denkens bei Nietzsche, Göttingen 2008, S. 38. 511 Georg Stenger, Interkulturelle Kommunikation. Diskussion – Dialog – Gespräch, in: Philosophie aus interkultureller Sicht, Hrsg. von Notker Schneider u. a., Amsterdam – Atlanta, GA 1997. 512 A.a.O., S. 313, Anm. 33. 513 A.a.O., S. 302. 514 Ebd. 515 Ebd.

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indem er konstatiert, dass das Projekt einer »allumfassenden Vernunft« auseinander gefallen sei »in unversöhnlich sich gegenübertretenden Weltanschauungen«, es sei gleichsam von der Historie eingeholt worden. Der »ewige Friede« sei »der Friede als heuristisches Prinzip.«516 Der Konzeption Kants stellt Stenger Hölderlins Ansatz der »Friedensfeier« gegenüber, der deutlich mache, dass Friede niemals hergestellt und institutionalisiert werde, sondern sich als Feier und Fest ereigne.517 Der entscheidende Gedanke Hölderlins liegt für Stenger darin, dass die Gäste der Feier eine Verwandlung erfahren, jeder nimmt »Freundesgestalt« an, »in dem Augenblick, in dem jeder als er weit über sich hinausgerissen wird, um aus diesem gemeinsamen Geschehen neu zu erstehen«.518 Stenger vergleicht dieses Geschehen mit einem Gespräch, in dem Eigenes und Fremdes gesteigert werde. Ein solches Gespräch, in dem sich durchaus Hölderlin gemäß Streit vollziehe – wobei Auseinandersetzung und Konfrontation aber nur berechtigt sind, wenn »der Geist wirkt« -, ebene nicht ein, im Gegenteil, es nehme die Teilnehmer mit und führe sie so über sich hinaus, »dass sie in der Bewahrung und Erfahrung eines Gemeinsamen gerade ihr Eigenes und Besonderes finden.«519 Vergegenwärtigt man sich die Nähe der Gedanken über Verwandlung und Freundschaft sowie deren Ausprägung in dichterischer Gestalt zu Nietzsches Lehren und Gestaltungsformen, ist man erstaunt, dass Nietzsche relativ wenig auf Hölderlin Bezug nimmt. In den »Unzeitgemäßen Betrachtungen – Schopenhauer als Erzieher« beklagt Nietzsche, dass unter den deutschen Philosophen noch viele Grade der Befreiung unbekannt seien. Die Künstler hält er für kühner und ehrlicher. Aber wenn sie nicht »Naturen von Erz« gewesen seien wie Beethoven, Goethe und Schopenhauer, verdarben sie »wie unsere Hölderlin und Kleist« an »ihrer Ungewöhnlichkeit«; sie hätten das Klima der so genannten deutschen Bildung nicht ausgehalten.520 Nietzsche hat den von ihm kritisierten Philosophen voraus, dass ihm etliche der angestrebten Befreiungen gelungen sind, indem er das eng begrenzte Terrain der Philosophie in dichterischen Gestaltungen überschritten hat. Die in Kapital II zur Interpretation wesentlicher Passagen aus der »Fröhlichen Wissenschaft« zitierte Nietzsche-Forscherin Babette Babich entwirft in einer 516 517 518 519

Ebd. Ebd. A.a.O., S. 303. Ebd. Georg Stenger stellt zu Recht in seinem Aufsatz über »Interkulturelle Kommunikation« das Gespräch – über Diskussion und Dialog hinaus – als sehr offene Form und höchste Stufe der menschlichen Begegnung dar. 520 »Unzeitgemäße Betrachtungen – Schopenhauer als Erzieher«, KSA 1, S. 352. Hier wird deutlich, wie in vielen anderen Passagen, dass Nietzsches Gedanken über Kunst in den Horizont seiner Gedanken über Kultur eingebettet sind.

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ihrer neueren Schriften521 ein weiter gespanntes Beziehungsgeflecht zwischen Hölderlin und Nietzsche, als es bislang in einschlägigen Kommentaren vertreten wurde. Sie entfaltet eindrucksvoll ihre These, dass Hölderlins Einfluss auf Nietzsche »sowohl heller als auch komplexer« sei, als es Cosima Wagners oft zitierter, sorgenvoller Bericht darstelle.522 Sehr deutlich wird dies in Babichs Vergleich des Venedig-Gedichtes von Nietzsche mit ausgewählten Versen von Hölderlin. Dabei veranschaulicht sie, dass Nietzsche dieses Gedicht »in Hölderlins eigenstem Ton schreibt.«523 Hier soll auf das Referieren der nuancierten Gegenüberstellung verzichtet, stattdessen das von ihr zu Recht hoch gelobte »Gondel-Lied« seiner Schönheit und seines melancholischen Gehaltes wegen zitiert werden: An der Brücke stand jüngst ich in brauner Nacht. Fernher kam Gesang: goldener Tropfen quoll’s über die zitternde Fläche weg. Gondeln, Lichter, Musik – trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus… Meine Seele ein Saitenspiel, sang sich, unsichtbar berührt, heimlich ein Gondellied dazu, zitternd vor bunter Seligkeit – Hörte jemand ihr zu? …524

3.

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Nietzsche wird zu Recht als der Künstlerphilosoph par excellence angesehen. Seine Werke bieten zahlreiche Belege dafür, dass bei ihm Philosophie und Kunst in einem engen Zusammenhang stehen. In seinen vielfältigen Reflexionen über philosophische Fragen sind Kunst und Kultur – wie oben an ausgewählten Beispielen aufgezeigt – die zentralen Bezugspunkte. In einer markanten Formulierung, in der Nietzsche den Kantschen Terminus »Welt der Erscheinung« gebraucht, verdeutlicht er den Irrtum der Philosophen, sich vor das Leben und 521 Babette Babich, »Eines Gottes Glück voller Macht und Liebe« – Beiträge zu Nietzsche, Hölderlin, Heidegger, Schriften aus dem Kolleg Friedrich Nietzsche, Hrsg. von Rüdiger Schmidt-Grepaly, Bauhaus-Universität Weimar 2009. 522 A.a.O., S. 117 523 Vgl. a. a. O., S. 113 – 117. 524 Das Venedig-Gedicht bietet auch einen Beleg für Nietzsches bangendes Fragen, ob seine Schriften beachtet werden, da er sich dessen bewusst war, mit vielen seiner Gedanken zu früh zu kommen.

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die Erfahrung hinzustellen wie vor ein Gemälde, das ein für allemal entrollt sei und unveränderlich fest denselben Vorgang zeige. Diese Philosophen hätten ebenso wie die »strengeren Logiker« die Möglichkeit übersehen, »dass das Gemälde… allmählich geworden ist, ja völlig im Werden ist und deshalb nicht als feste Größe betrachtet werden soll.«525 Nach Jahrtausenden, in denen sich die Menschen »in den Untaten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt«526 hätten, habe die Welt Farbe bekommen, aber wir seien die »Koloristen« gewesen: »der menschliche Intellekt hat die Erscheinungen erscheinen lassen und seine irrtümlichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen.«527 Sehr spät habe sich der menschliche Intellekt besonnen und die Welt der Erfahrung und das Ding an sich getrennt, so dass er den Schluss von jener auf diese ablehne. Oder man habe zum Aufgeben unseres Intellekts, unseres persönlichen Willens aufgefordert, um wesenhaft zu werden. Andere hätten alle charakteristischen Züge der Welt der Erscheinung aus intellektuellen Irrtümern herausgesponnen und »anstatt den Intellekt als den Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses tatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt und die Erlösung vom Sein gepredigt.«528 Der stetige und mühsame Prozess der Wissenschaft wird – so die Perspektive Nietzsches – mit diesen Auffassungen fertig werden und in einer Entstehungsgeschichte des Denkens seinen höchsten Triumph feiern. Aber von diesen Irrtümern und Phantasien, die wir als »Schatz der Vergangenheit« geerbt hätten, – denn auf ihm ruhe der »Wert unseres Menschentums« – würde uns die strenge Wissenschaft nur in geringem Maße lösen, sie könne aber »die Geschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise aufhellen – und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang hinausheben.«529 Der zitierte Aphorismus aus »Menschliches, Allzumenschliches« ist ein Beleg dafür, dass Nietzsche sich in einer zweiten Periode530 deutlicher den Naturwissenschaften zuwendet und eine Distanzierung von seiner metaphysischen Auffassung vornimmt, die er in seiner »Tragödienschrift« entfaltet hatte. Aber die Kunst bleibt ein Kristallisationspunkt und entwickelt sich zu einem erneuerten Gegenpol – mit neuen Wertsetzungen und Orientierungen – in Nietzsches Wechselspiel zwischen Kunst und Wissenschaft. Dass die strenge Wissenschaft uns nur begrenzt zu »lösen« und »hinauszuheben« vermöge, ist ein deutlicher

525 526 527 528 529 530

»Menschliches, Allzumenschliches« I, (16), KSA 2, S. 36 f. Ebd. Vgl. dazu den Kontext in Kapitel IV, 1. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. dazu Kapitel I, 1.

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Hinweis auf das Konzept, das Nietzsche zu entwickeln beginnt und selber vermehrt praktizieren wird. In der »Fröhlichen Wissenschaft« stehen den Passagen, in denen der Wissenschaft hohes Lob gezollt wird,531 etliche skeptische Anmerkungen gegenüber. In dem Aphorismus »Inwiefern auch wir noch fromm sind« gibt Nietzsche zu bedenken, dass es immer noch ein metaphysischer Glaube sei, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruhe.532 Auch die Erkennenden, die sich als Gottlose und Antimetaphysiker verstünden, seien noch im Banne jenes »ChristenGlaubens«, der die Wahrheit für göttlich halte. Insofern steht nach Auffassung Nietzsches die wirkliche Befreiung noch bevor. Die wirksamste Kraft dazu liegt in der Kunst, die die entscheidenden Möglichkeiten bietet zur Lebenssteigerung, dem zentralen Kriterium Nietzsches für die künftige Entwicklung. Im ersten Buch der »Fröhlichen Wissenschaft« lässt sich aus der Abfolge einiger Aphorismen gewissermaßen eine Trias aus Kunst, Liebe und Freundschaft ablesen. Für Nietzsche, der die l’art-pour-l’art-Auffassung verwirft, ist Kunst die wesentliche Dimension, das Movens in allen Lebenszusammenhängen. Von der Voraussetzung ausgehend, dass »wir ein Weib lieben«, was uns leicht zu einem Hass auf die Natur verleite, denn allen Liebenden sei »der Mensch unter der Haut« ein Greuel – er wolle davon, dass der Mensch etwas anderes ist, »außer Seele und Form« nichts hören -, gelangt Nietzsche zur Haltung der Künstler, die ebenfalls »Verhehler der Natürlichkeit« seien. Nicht nur die Menschen »von ehedem« hätten es verstanden zu träumen, »auch wir Menschen von heute verstehen es noch viel zu gut, mit allem unseren guten Willen zum Wachsein und zum Tage! Es genügt zu lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt zu empfinden, – sofort kommt der Geist und die Kraft des Traumes über uns, und wir steigen offenen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinauf auf die Dächer und Thürme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel, wie geboren zum Klettern – wir Nachtwandler des Tages!«533 Ebenso bilderreich sind Nietzsches Reflexionen über Schönheit und Glück in dem Aphorismus »Die Frauen und ihre Wirkung in die Ferne«.534 Ähnlich wie in dem in Kapitel II angeführten Aphorismus »Vita femina« betont Nietzsche, dass es zum Entdecken der Schönheit glücklicher Augenblicke bedarf. Hier ist es das Erscheinen »zauberhafter Wesen.« Nietzsche entwirft zunächst das Bild eines Beobachters am Meer, das für ihn meist ein Zeichen der Offenheit und des

531 Besonders ausgeprägt in dem Aph. 335 »Hoch die Physik«, vgl. dazu die Anmerkungen in Kapitel I. 532 »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 344, KSA 3, S. 577. 533 Aph. 59, a. a. O., S. 423. 534 Aph. 60, a. a. O., S. 424.

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Aufbruches ist,535 aber zugleich das Bedrohliche beinhaltet. So wird die Brandung als ein »Heraufzüngeln« weißer Flammen erlebt und in der tiefsten Tiefe singt »der alte Erderschütterer seine Arie«, so dass selbst den Felsenunholden »das Herz darüber im Leibe zittert«. Als Gegenbild lässt Nietzsche ein Segelschiff vorbeiziehen, »schweigsam wie ein Gespenst dahergleitend.« Diese gespenstische Schönheit erfasst ihn mit großem Zauber und die Hoffnung auf »alle Ruhe und Schweigsamkeit der Welt« wird geweckt. Die zauberhaften Wesen, nach »deren Glück und Zurückgezogenheit« sich ein Mann sehne, der inmitten seines Lärmes stehe, »inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen«, sind die Frauen. Man könne meinen, sie seien »das bessere Selbst«, das Leben werde zum Traume, aber Nietzsche hält – wie so oft – auch die Entzauberung bereit. Er warnt die »edlen Schwärmer« vor dem Geräusch und Lärm, die es auch auf dem edelsten Segelschiff gebe. Und Lärm, so hat Nietzsche es im »Zarathustra« etwas martialisch ausgedrückt, »mordet Gedanken«. In einer aufschlussreichen Interpretation konstatiert Christa Bürger,536 dass Nietzsche der Konstruktion in dem zitierten Aphorismus »gründende Bedeutung« beimesse. Es gebe vielleicht in der philosophischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts keinen Text, »der mit ähnlicher Hellsicht die historische Konstruktion des Geschlechtsverhältnisses« beschreibe. Im Vergleich mit Schillers klassischen Versen (»Ewig aus der Wahrheit Schranken schweift des Mannes wilde Kraft, …«), in denen der Geschlechtsunterschied als naturgegeben erscheine, gehe es bei Nietzsche um dessen Herstellung. Er spreche Ende des 19. Jahrhunderts etwas aus, was die Geschlechterphilosophie des 18. Jahrhunderts verschweige, »dass das glänzende Schiff mit seinen weißen Segeln, das am Horizont des dunklen Lebens sich zeigt, ein Bild ist, eine Scheingestalt wie die Helena Fausts, deren zauberische Wirkung daher rührt, dass er selbst ihr Schöpfer ist.«537 Nietzsche sei aber klug genug zu wissen, dass seine Ideologiekritik diesem Zauber nichts anhaben könne. Die Kennzeichnung des Bildes als Scheingestalt wird von Christa Bürger variiert bzw. erweitert, in dem sie hinzufügt, dass Nietzsche es nicht bei der Benennung des Bildes belasse, er zeichne es aus, »wobei die Grenzen von Innen und Außen und von Schein und Wirklichkeit auf eine etwas unheimliche Weise verfließen. Das Segelschiff ist real und 535 Im Rahmen des Nietzsche-Kolloquiums (v. 25. – 28. Oktober 2008) in Sils Maria mit dem Thema »Nach neuen Meeren – Nietzsches Aufbrüche« hat der Literaturwissenschaftler David E. Wellbery (aus Chicago) u. a. herausgestellt, dass Nietzsches offene Horizonte auf das Meer hinausführen mussten, da es für ihn »keine letztgültige Sinngrenze« gegeben habe. 536 Christa Bürger, Die Frauen: die Leere, das Nichts und das Mehr – Zur Geschichte eines Frauenbildes, in: Zeitschrift für kritische Theorie, hrsg. von Wolfgang Bock u. a., 12. Jg. (2006), Heft 22/23. 537 A.a.O., S. 31 f.

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Erscheinung (Gespenst), aber seine gespenstische Schönheit übt reale Wirkung aus.«538 In der Interpretation Christa Bürgers kommt klar zum Ausdruck, wie Nietzsche in variierenden Ausdrucksformen Philosophie als Kunst praktiziert. Er reflektiert über ausgeprägte Formen des Welt- und Selbstverständnisses aus der tradierten Philosophie, übt Kritik und entwirft darüber hinaus experimentierend und im Sinne seines Überschreitens neue Möglichkeiten des Verstehens und Gestaltens. So wird auch das dritte Element der Trias aus Kunst, Liebe und Freundschaft von Nietzsche einerseits reflektierend und bewertend dargestellt. In dem Aphorismus »Zu Ehren der Freundschaft«539 bezieht er sich auf eine Geschichte über einen makedonischen König und einen »weltverachtenden Philosophen« Athens. Daraus geht für Nietzsche hervor, dass das Gefühl der Freundschaft im Altertum als das höchste galt, höher angesehen war »selbst als der gerühmteste Stolz des Selbstgenügsamen und Weisen.« Andererseits ist für Nietzsche Freundschaft eine Realität, die einen hohen Rang in seinem eigenen Leben einnimmt. Bereits in der Schulzeit und im Studium hat er freundschaftliche Beziehungen entwickelt, den Gedankenaustausch gepflegt und Pläne entworfen, die gemeinsam durchgeführt werden sollten. Zu den stimulierenden, aber nicht verwirklichten Ideen, zählte der aus Begeisterung für Frankreich entwickelte Plan, mit seinem Freund Erwin Rohde in Paris zu studieren und »als philosophische Flaneurs mit ernstem Auge und lächelnder Lippe« durch diese Stadt zu schreiten.540 Wegen seiner frühen Berufung als Professor nach Basel kam dies nicht zustande. Auch sein Plan mit Gersdorff für ein oder zwei Jahre nach Tunis zu gehen, um »unter Muselmänner eine gute Zeit zu leben« (»so wird sich wohl mein Urteil und mein Auge für alles Europäische schärfen«), wurde vereitelt, da in Tunis der Krieg ausbrach.541 Von den freundschaftlichen Beziehungen halte ich die zu dem Theologen Franz Overbeck besonders erwähnenswert. Der Theologe hat sich als älterer Freund gemeinsam mit seiner Frau häufig um Nietzsche gekümmert, ihn in schwierigen Zeiten aufgenommen und auch nach dem Turiner Zusammenbruch für ihn gesorgt.542 Das Bild von Nietzsche geriete einseitig, stellte man nicht seinen Freundschaften die Erfahrung von Einsamkeit gegenüber, die sein Leben oft stärker bestimmte, besonders zum Ende hin, und die in seinen philosophischen Ge538 539 540 541

A.a.O., S. 32. »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 61, KSA 3, S. 425. Vgl. dazu weitere Zitate und Anmerkungen in Kapitel I, 1. Vgl. Nietzsche-Chronik, Daten zu Leben und Werk, zusammengestellt von Karl Schlechta, München – Wien 1975, S. 76. 542 A.a.O., S. 113. Zu Nietzsches häufig thematisierten Krankheiten vgl. Friedrich Nietzsche, Langsame Curen – Ansichten zur Kunst der Gesundheit, hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung, Freiburg 2000.

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danken auf vielfältige Weise berücksichtigt ist. Teils greift Nietzsche konträre Erscheinungsformen auf. So rät er einerseits davon ab, der »hochmütigen Vereinsamung«543 so leicht das Wort zu reden, andererseits verwirft er die Furcht vor Vereinsamung, die aus dem Herdeninstinkt verwendet werde, um die besten Argumente für eine Person oder eine Sache niederzuschlagen.544 Der Kennzeichnung seiner Philosophie schickt er in »Ecce homo« voraus, dass die Luft seiner Schriften »eine Luft der Höhe« sei: »Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! Wie frei man atmet! Wie viel man unter sich fühlt!«545 Diese Höhen-Perspektive ist das Ergebnis von Nietzsches Wanderungen im doppelten Sinne. Sie ist konkret erwanderte Höhe in den Bergen. Auf seinen Wanderungen im Gebirge sind viele seiner philosophischen Entwürfe entstanden. Aber es ist auch die nach früh begonnener und intensiv betriebener Lektüre erreichte intellektuelle Höhe, die die nationale Ebene überschreitet, europäisches und asiatisches Gedankengut einbezieht. In den Dionysos-Dithyramben sind Zarathustras Einsamkeiten als ein bedeutender Erfahrungsraum dargestellt. Im Gedicht »Das Feuerzeichen« wird die Frage an Zarathustra gerichtet, wann er vor Tier und Mensch geflohen sei. Und weiter heißt es: »Was entlief er jäh allem festen Lande? / Sechs Einsamkeiten kennt er schon -, / aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam, / die Insel ließ ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme, / nach einer siebten Einsamkeit / wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt.«546 Nietzsches Verneinung eines verfrühten Endes wird deutlich. Das Erlebte bietet zwar Anlass zum Rückblick, es drängt aber auch zur Suche nach Neuem. Das Meer und die Berge bilden einerseits konträre Erfahrungshorizonte, andererseits sind sie in der Komplementarität Sinnerfüllung. In dem anschließenden Dithyrambus »Die Sonne sinkt« wird die »siebente Einsamkeit« näher in den Blick genommen: »Siebente Einsamkeit?! Nie empfand ich näher mir süße Sicherheit, wärmer der Sonne Blick. – Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch? Silbern, leicht, ein Fisch schwimmt nun mein Nachen hinaus…«547

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»Menschliches, Allzumenschliches« I, 375, KSA 2, S. 262. »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 50, KSA 3, S. 415. »Ecce homo«, Vorwort, a. a. O., S. 36. »Dionysos-Dithyramben«, KSA 6, S. 393. A.a.O., S. 397

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Die Dionysos-Dithyramben lassen sich insgesamt in ihrer vollendeten Form als Kennzeichen einer vierten Phase in Nietzsches Schaffen verstehen. In einer Vorbemerkung erklärt Nietzsche, dass er mit seinen Dithyramben »der Menschheit eine unbegrenzte Wohltat erweisen will.« Umstritten in den Interpretationen zu Nietzsches Kunstauffassung ist der Aspekt der Erlösung durch die Kunst.548 Die oben in Anlehnung an Eva Geulen vertretene Position, dass Nietzsche die Kunst nicht hypostasiere, soll hier bekräftigt und um den Aspekt ergänzt werden, der m. E. in Nietzsches Wertschätzung der Kunst von großem Gewicht ist. Wie dem Leben gegenüber will er auch der Kunst dankbar sein. In der »Fröhlichen Wissenschaft« reflektiert Nietzsche unter dem Stichwort »Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst« zunächst über die Gefährdung der Redlichkeit, die er als letzte und höchste Tugend zu retten versucht. Die Redlichkeit habe in der Kunst eine Gegenmacht, in ihr sieht er »den guten Willen zum Scheine.« »Wir verwehren es unserem Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu dichten: und dann ist es nicht mehr die ewige Unvollkommenheit, die wir über den Fluss des Werdens tragen – dann meinen wir eine Göttin zu tragen und sind stolz und kindlich in dieser Dienstleistung. Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können.«549 Nicht erlösen soll uns die Kunst, sondern befreien, unser Leben erträglich machen. Das unermüdliche Bemühen um Befreiung zieht sich durch Nietzsches gesamtes Werk und sein eigenes Leben. Sein künstlerisches Schaffen vollzieht sich auf drei Ebenen. Einmal in seinen sprachlichen Gestaltungen bis hin zur Krönung in den Dithyramben. Zum anderen ist seine Philosophie Denkästhetik. Dies ist in exzellenter Weise bei Rüdiger Görner dargelegt. Nietzsche sei mit dem Bild vom handlosen Maler, der das ihm vorschwebende Bild durch ein anderes Ausdrucksmittel artikuliere, nämlich den Gesang, neben der Vorstellung von der Wahrheit als einem »beweglichen Heer von Metaphern« ein zweites Analogiebild gelungen, das noch präziser als das bekannte Metaphern-Bild auf »denkästhetische Vorstellungsmuster« ziele. Nietzsche führe nicht nur ein ästhetisches Verhalten vor, sondern argumentiere auf »denksinnliche Weise.«550 Dieser 548 Zu seiner Schrift »Wenn Götzen dämmern« greift Rüdiger Görner zahlreiche Bezüge von Nietzsche Kunstauffassung zu anderen Positionen auf. Neben vielen überzeugenden Passagen scheint mir der Gedanke, dass Nietzsche nach seiner Kritik an Wagners Erlösungspathos schon bald mit seinem »Zarathustra« in Sachen Erlösungsverlangen mit Wagner konkurriert habe, nicht zutreffend. Mir scheint der Begriff der Befreiung für Nietzsches Denken und Leben geeigneter. Vgl. Rüdiger Görner, Wenn Götzen dämmern – Formen ästhetischen Denkens bei Nietzsche, Göttingen 2008, S. 41. 549 »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 107, KSA 3, S. 464. 550 Rüdiger Görner, a. a. O., S. 44.

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Ausdruck ist eine treffende Kennzeichnung für die enge Verbindung von Denken und Sinnlichkeit in der umfassenden Bedeutung bei Nietzsche. Die dritte Ebene ist die Gestaltung des eigenen Lebens als ästhetisches Phänomen. Gelegentlich wird dies als Rückzug auf die eigene Person, als Abwendung von anderen gedeutet. Hier sollte aber der von Nietzsche verwendete Plural (»aus uns … machen zu können«) ebenso wie in anderen Zusammenhängen ernst genommen werden. Die Ermutigung gilt gleichermaßen für ihn und andere. Dass auch der »Übermensch« den anderen Menschen braucht und zwar als »anderen Lebenskünstler« hat Schönherr-Mann in seiner Schrift »Der Übermensch als Lebenskünstlerin«551 dargelegt und zur Gestaltung des eigenen Lebens eine Vielzahl von Perspektiven aufgezeigt. Mit Bezug auf die historische Entwicklung stellt er in ähnlicher Weise wie Horkheimer und Adorno (in der »Dialektik der Aufklärung«) einen Verlust des emanzipatorischen Potentials fest, diverse rationalistische Vordenker hätten den Menschen das eigene Denken wieder abgenommen. Er hält es deshalb für notwendig, über das Programm der Aufklärung und der bisherigen Emanzipation hinaus weiterzudenken.552 Den Stil von Judith Butler und Richard Rorty führt er als beispielhaft an, da diese sich nicht in den »rationalistischen Himmeln« verirrten. Nietzsches Konzept überschreitend betont er, dass es erforderlich sei, das von Nietzsche vernachlässigte Gebiet der Emanzipation der Frauen stärker zu berücksichtigen, zumal heute die Perspektiven zur Gestaltung des eigenen Lebens zunehmend von Frauen entwickelt würden. Schon im Titel habe er deshalb für den Übermenschen die Gestalt der Lebenskünstlerin gewählt.553 In Foucaults Beschreibungen von »Wahnsinn und Vernunft« sieht er die kongeniale Erweiterung der Auffassung von Nietzsche, der das Gute »aus dem Bösen genealogischen Charakter« abgeleitet habe.554 Die archäologisch beschriebene Entwicklung von Diskursen, in denen Foucault den Wahnsinn als Grund und Motiv der Vernunft ausgegraben und zugleich »in eine Perspektive der Gegenläufigkeit zur Vernunft« gebracht habe, bietet für Schönherr-Mann eine weitere »Unterfütterung« des nietzscheschen Gedankens einer Neuschöpfung von Lebensformen. Um neue Werte zu schaffen bedürfe es des genealogischen und des archäologischen Blicks, »um nicht den historischen und rationalistischen Voreingenommenheiten und 551 Hans-Martin Schönherr-Mann, Der Übermensch als Lebenskünstlerin – Nietzsche, Foucault und die Ethik, Berlin 2009 552 A.a.O., S. 21 553 Bei der Vorstellung seines Buches am 26. Jan. 2010 in der Seidl-Villa in München im Rahmen der Vorträge des Nietzsche-Forums hat Schönherr-Mann dazu erklärt, dass er bei der Wahl des Titels eine konkrete Person im Blick hatte, eine allein erziehende Mutter, die es versteht, die Versorgung und Erziehung ihrer Kinder mit wissenschaftlicher Arbeit zu verbinden. 554 A.a.O., S. 66

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Schematismen aufzusitzen. Nur durch diese Perspektiven durchbricht der Übermensch die wissenschaftlich, ideologisch und vom gesunden Menschenverstand eng gestrickten, schier unüberwindbaren Kausalketten (…).«555 Das Moment des Subjektiven bleibt gleichwohl für Nietzsches Philosophie kennzeichnend und erlangt durch die künstlerische Gestaltung seiner Gedanken ihre besondere Rechtfertigung. Dass dies keine Reduktion auf das Subjektive bedeuten muss, kommt in Adornos ästhetischer Theorie zum Ausdruck: »Wer gegenüber dem unmäßigen kollektiven Druck auf dem Durchgang der Kunst durchs Subjekt insistiert, muss dabei keineswegs selber unter subjektivistischem Schleier denken.«556 Allerdings ist der Kunst allgemein und der von Nietzsche als Kunst praktizierten Philosophie ein beträchtliches Maß an Rätselhaftigkeit eigen. Auf diese Schwierigkeit für Theoretiker hat Adorno ebenfalls hingewiesen. »Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel, das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Dass Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.«557 Zur Frage des Verhältnisses von Philosophie und Kunst entfaltet Adorno zahlreiche Aspekte, wobei die Frage nach der Wahrheit im Zentrum steht. Eine Kernaussage dazu findet sich in einem Abschnitt, in dem er sich mit dem Idealismus auseinandersetzt und eine Konvergenz herausstellt. »Philosophie und Kunst konvergieren in deren Wahrheitsgehalt: die fortschreitend sich entfaltende Wahrheit ist keine andere als die des philosophischen Begriffs.«558 Erst die Wahrheit eines Werkes an sich sei der philosophischen Interpretation kommensurabel und koinzidiere, zumindest der Idee nach, mit der philosophischen Wahrheit. Dem Bewusstsein seiner Zeit, das laut Adorno ans Handfeste und Unvermittelte fixiert sei, falle es offensichtlich am schwersten, »dies Verhältnis zur Kunst zu gewinnen, während ohne es ihr Wahrheitsgehalt nicht sich eröffnet: genuine ästhetische Erfahrung muss Philosophie werden oder sie ist überhaupt nicht.«559 Eine Zuspitzung auf den gesellschaftlichen Aspekt nimmt Adorno vor, indem er das, was sich an den ästhetischen Bildern dem Ich entziehe, als das »Kollektive« bezeichnet, womit Gesellschaft dem Wahrheitsgehalt innewohne. In klarer dialektischer Vorgehensweise versäumt es Adorno aber nicht, das subjektive Moment einzubeziehen. »Kraft ihres subjektiv mimetischen, ausdruckshaften Moments münden die Kunstwerke in ihre Objektivität, 555 A.a.O., S. 68. Der differenzierten Bezugnahme auf Foucault steht leider ein verkürzter Blick auf Hegel gegenüber. Schönherr-Mann schreibt: »Für Hegel ist der Philosoph nur Funktionär des Weltgeistes.« (S. 103) 556 Theodor W. Adorno, Ästhetischen Theorie, Frankfurt a. M., 1970, S. 69. 557 A.a.O., S. 182. 558 A.a.O., S. 197. 559 Ebd.

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weder sind sie pure Regung noch deren Form, sondern der geronnene Prozess zwischen beiden, und er ist gesellschaftlich.«560 Der im Vergleich der Philosophie Nietzsches mit Hegels Position konstatierte stärkere Bezug auf gesellschaftliche Faktoren bei Hegel trifft bezüglich der ästhetischen Aspekte auch für Adorno zu. Zwar ist bei Nietzsche die ästhetische Perspektive seines Denkens durch die politische ergänzt, letztere bleibt aber eher untergeordnet, während bei Adorno die ökonomischen und politischen Zusammenhänge deutlicher aufgezeigt werden.561 Wolfgang Bock hat in seinem Aufsatz »Adorno in Spiegeln« Sichtweisen – wie sie in der vorliegenden Arbeit bezogen auf Nietzsche kritisiert werden – in der neuerlichen Rezeption der Philosophie Adornos aufgezeigt. Adornos ästhetische Theorie werde von ihren ökonomischen und politischen Verbindungen abgetrennt. Eine rein ästhetische Lektüre Adornos werde heute oft »im Lichte einer Reproduktionssphäre als jenes amusement gesehen …, in dem Narrenfreiheit gegeben werde, um das Funktionieren des gesellschaftlichen Ganzen zu befördern.«562 Dies gilt für Wolfgang Bock nach der Analyse der Kulturindustrie auch weiterhin. Bei Nietzsche wird die Instrumentalisierung der Kunst insbesondere in der Auseinandersetzung mit Wagner offen gelegt. Eine Gemeinsamkeit von Nietzsche und Adorno sehe ich in dem differenzierten Bezug auf den Wahrheitsgehalt von Kunstwerken. Adornos Auffassung, dass zur Wahrheit auch die Wahrheit über das Unwahre gehöre, fügt sich in den bereits zu Fragen der Erkenntnis dargelegten notwendig widersprüchlichen Charakter von Wahrheit bei Nietzsche, die Entzauberung von Wahrheit. Auch und gerade in der Kunst ist dieser Doppelcharakter zu beachten. Adornos Umkehrung des Hegelschen Diktums »Das Wahre ist das Ganze« in »Das Ganze ist das Unwahre« bildet allerdings eine deutliche Differenz zu Nietzsches Position, der über alle Abgründigkeit des Daseins hinaus zu einer »jasagenden« Philosophie gelangt. Ebenso ist Adornos Vergleich der Philosophie Nietzsches, die dessen Forderung gemäß antimetaphysisch, aber artistisch zu sein hätte, mit dem Baudelairschen spleen und dem Jugendstil nur begrenzt zutreffend.563 560 A.a.O., S. 198. 561 Zu dem Vergleich Nietzsche-Adorno siehe Rüdiger Görner, der auf die zeitlich bedingten Unterschiede verweist. Während Nietzsche in einer Epoche über Kunst nachgedacht habe, in der diese noch an der prinzipiellen Sinnhaftigkeit festhielt, habe Adorno seine »Ästhetische Theorie« entworfen, als die »Krisis des Sinns« dazu geführt habe, »dass die Kunst diese Krise in absurden Formen artikulierte.« (A.a.O., S. 158.). 562 Wolfgang Bock, Adorno in Spiegeln – Prolegomena einer Theorie der Aneignungsformen, in »Zeitschrift für Kritische« Theorie, 11. Jg. (2005), Heft 20/21, S. 131 f. 563 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 418. Adorno fügt allerdings hinzu, dass dies nur »mit leisem Widersinn« zuträfe: »als gehorche Kunst dem emphatischen Anspruch jenes Diktums, wenn sie nicht die Hegelsche Entfaltung der Wahrheit wäre und selbst ein Stück jener Metaphysik, die Nietzsche verfemt.« Adorno spricht von »Luftwurzeln«, die der

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Unter verschiedenen Aspekten lassen sich durchaus interessante Berührungspunkte zwischen Nietzsche und Baudelaire aufzeigen, zumal dann, wenn man der im abschließenden Teil in Anlehnung an Hegel zugrunde gelegten Auffassung folgt, dass die jeweilige Zeit in philosophischen Gedanken und künstlerischen Gestaltungen zum Ausdruck kommt. In einem Vergleich der Lyrik Baudelaires mit der von Nietzsche dürften sich etliche Parallelen ergeben, so z. B. bei einer Gegenüberstellung von Baudelaires zahlreichen Gedichten, die sich auf die Stadt Paris beziehen, und Nietzsches Gedichten, von denen nur wenige stadtbezogen sind, wie oben angeführt auf Venedig, viel häufiger auf Landschaften, die er als seelenverwandt bezeichnet. Befasst man sich stärker mit den Reflexionen über Kunst, ergibt sich teilweise eine deutliche Nähe zwischen Baudelaire und Hegel, da bei beiden das Begriffliche von großer Bedeutung ist. Das bei Hegel auch in der »Ästhetik« thematisierte Spannungsfeld zwischen Subjekt und Objekt findet sich in Baudelaires Aufsatz »L’art philosophique«564, wenngleich bei ihm die Synthese zwischen Subjekt und Objekt eher imaginären Charakter hat, zumindest wenn man der modernen Auffassung folge. »Qu’est-ce que l’art pur suivant la conception moderne? C’est cr¦er une magie suggestive contenant — la fois l’objet et sujet, le monde ext¦rieur — l’artiste et l’artiste luimÞme«. (»Was ist die reine Kunst nach der modernen Auffassung? Sie besteht darin, eine suggestive Magie zu erzeugen, die gleichermaßen das Objekt und das Subjekt enthält, die dem Künstler äußerliche Welt und den Künstler selbst.)«565 Eine Berührung zu Nietzsche besteht in Baudelaires Bezug auf die Musik. So scheint bei ihm Paris immer neu dem Wunder einer »amphionischen Musik« entsprungen zu sein, wie es Karlheinz Stierle in Anspielung auf die griechische Mythologie anmerkt und dazu weiter ausführt, »als gebe es ein geheimes Gesetz des Wohlklangs, das seine Steinmassen errichtet hätte, so ist auch der Mythos von Paris amphionisch, als hätten die Wörter wie die Steine sich zu einer Ordnung zusammengefunden, in der der Geist der Stadt erst wirklich lesbar wird.«566 Auch von der Vielfalt der Text- und Darstellungsformen lässt sich eine Parallele ziehen zu Nietzsches vielseitiger Entfaltung seiner philosophischen Gedanken. Ferner ist der Blick auf das Abgründige bei beiden ein wesentliches Element ihrer Weltbetrachtung und –darstellung. Eine beträchtliche Differenz sehe ich darin, dass bei Baudelaire zwar auch Faszinierendes zu seinen Erlebnissen in Paris gehört, Zerstörung und Zerrissenheit aber einen größeren Raum Jugendstil hervorgebracht habe und die z. T. Nietzsches Denken kennzeichnen würden. So in der bereits zitierten Rundfunkrede von 1950. 564 Charles Baudelaire, Oeuvres complÀtes, texte ¦tabli, pr¦sent¦ et annot¦ par Claude Pichois, BiblithÀque de la Pl¦iade, Bd. 1, Paris 1975. 565 A.a.O., S. 598. Diese Einschätzung orientiert sich an der Interpretation von Karlheinz Stierle in »Der Mythos von Paris«, a. a. O., S. 732 f., von dem auch die Übersetzung ins Deutsche übernommen ist. 566 Karlheiz Stierle, a. a. O., S. 903.

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einnehmen. Bei Nietzsche ist die Gewichtung umgekehrt, seinem Blick in die Abgründe der menschlichen Existenz wird die Befreiung durch die Kunst – wie in diversen Zusammenhängen bereits zu verdeutlichen versucht wurde – als erfahrbare Möglichkeit entschlossen entgegengestellt. In seinem Gedicht »An den Mistral – Ein Tanzlied« wird in den beiden letzten Versen dies klar zum Ausdruck gebracht: Jagen wir die Himmels-Trüber, Welten-Schwärzer, Wolken-Schieber, Hellen wir das Himmelreich! Brausen wir . . . oh aller freien Geister Geist, mit dir zu Zweien Braust mein Glück dem Sturme gleich. – – Und dass ewig das Gedächtnis Solchen Glücks, nimm sein Vermächtnis, Nimm den Kranz hier mit hinauf! Wirf ihn höher, ferner, weiter, Stürm’ empor die Himmelsleiter, Häng ihn – an den Sternen auf! 567

Dieser kämpferische Appell gehört zu dem für Nietzsche typischen Überschreiten. Auch in Derridas Reflexionen über die Kunst wird die Frage nach der Möglichkeit des Überschreitens gestellt. In seiner Schrift568, die dem Titel entsprechend auf die Malerei bezogen ist, stellt er sich angesichts der großen Philosophien der Kunst, die Kants, Hegels und Heideggers, die seiner Meinung nach noch immer die ganze Problematik beherrschten, die Frage, unter welchen Bedingungen sich das Erbe »überschreiten, abtragen oder verschieben« lasse.569Für seine dekonstruierende Vorgehensweise kündigt er treffender Weise an: »Ich schreibe hier viermal, u m die Malerei herum.«570 Demzufolge wählt er als Eröffnungszug für seine semiotischen Analysen nicht die Malerei Cezannes direkt, dessen Gestaltungen in Formen und Farben, sondern einen berühmten Satz aus Cezannes Brief an Emile Bernard: »Ich schulde ihnen die Wahrheit der Malerei, und ich werde sie ihnen sagen.«571 Zu diesem Versprechen Cezannes stellen sich für Derrida viele Fragen. Eine Frage, die in Richtung des Vergleiches weist, der gegen Ende dieses Kapitels in der vorliegenden Arbeit unternommen wird, ist die folgende: »Hat die Theorie der Sprechakte eine Entsprechung in der 567 Lieder des Prinzen Vogelfrei im Anhang an »Die Fröhliche Wissenschaft«, a. a. O. 568 Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Titel der Originalausgabe: La v¦rit¦ en peinture, aus dem Franz. von Michael Wetzel, 2. unveränderte Aufl. Wien 2008 569 A.a.O., S. 25. 570 A.a.O., S. 24. 571 A.a.O., S. 17.

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Malerei?«572 Aber anders als bei Derrida, dessen Dekonstruktion oft zu weiteren Fragen der Semiotik führt, soll im Schlussteil der Vergleich der Philosophie Nietzsches mit der Malerei des Impressionismus stärker auf inhaltliche Übereinstimmungen sowie auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Ausdrucksweisen eingehen. Derrida erhebt für sein »Umkreisen« der Malerei den Anspruch, dass er sich in den Gefilden aufhalte, für die er sich berechtigt hält; das sei die »Umgebung« des Kunstwerkes, die es uns ermögliche, höchstens die Anfänge zu erkennen und zu umfassen. Dazu zählt er auf: »Rahmen, Titel, Signatur, Museum, Archiv, Reproduktion, Diskurs, Markt.«573 Die Diskurse über die Malerei sind seiner Meinung nach dazu bestimmt, die Grenze, die diese konstituiere, zu reproduzieren. Um zu den Anfängen zu gelangen, bezieht er sich u. a. auf Hegel, der die Frage nach dem Ausgangspunkt gestellt habe, dabei aber in den »zirkulären Duktus« gerate.574 Da Hegel den Begriff von Philosophie der Kunst antizipatorisch behandele, müsse er zu der Metapher des Kreises zurückkehren und würde diese selbst als bloße Vorstellung ansehen. Aus der Argumentation Derridas gewinnt man den Eindruck, dass er den in der gesamten Philosophie Hegels wichtigen Begriff der Vorstellung nicht zutreffend bewertet, so wie es in der oben zitierten Interpretation bei Vieweg als Begriff der Mitte geschieht.575 572 A.a.O., S. 18. 573 A.a.O., S. 26. 574 A.a.O., S. 42. Dass die Metapher des Kreises bei Hegel durchaus bedeutungsvoll ist – wie in Kap. I im Zusammenhang des Vergleichs mit Nietzsches »Denkbild des Kreises« bereits angemerkt –, sollte nicht zu dem Fehlurteil verleiten, dass Hegels Argumentation in einen Zirkel gerate, der einen Teufelskreis, einen Circulus vitiosus, darstelle. Hegels Philosophie beinhaltet eine nachvollziehbare Kombination aus Linearität, bezogen auf Entwicklung und Fortschritt, und kreisförmigen Denkfiguren, die die Rückbezüglichkeit, das An-und-fürsich-Sein, die Wiederkehr der Ausgangsphänomene nach einem Prozess der Anreicherung (!) auf einer erhöhten Stufe, zum Ausdruck bringen. Das Absolute ist bei Hegel das Resultat des Weges. Die Gefahr in eine Diallele zu geraten hat Hegel in seiner Auseinandersetzung mit dem Pyrrhonischen Skeptizismus deutlich herausgestellt. In einer differenzierten Darstellung in seinen Jenaer Schriften hebt Hegel die Bedeutung des Skeptizismus hervor, »der in seiner reinen expliziten Gestalt im Parmenides auftritt, ist aber in jedem echten philosophischen Syteme implicite zu finden, denn er ist die freie Seite einer jeden Philosophie.« (Hegel, Bd. 2, S. 229.) In der Kritik der theoretischen Philosophie von Gottlob Ernst Schulze weist Hegel darauf hin, dass dieser eine bloße Gegenüberstellung von Dogmatismus und Skeptizismus betreibe, es aber eine »dritte Philosophie« gäbe. (»Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« II, Bd. 19. S. 400.) Diese »dritte Philosophie« hat Hegel in überzeugender Weise in seinem gesamten Werk entfaltet. Dabei kommt ihm u. a. das Verdienst zu, die Argumente der Skeptiker nicht beiseite geschoben, sondern ernst genommen und widerlegt zu haben. Seine Argumentation, die über die Dialektik hinaus in der Aufhebung gipfelt, ist auch bei der Kritik des Skeptizismus von entscheidender Bedeutung. Vgl. dazu Klaus Vieweg, Philosophie des Remis – Der junge Hegel und das »Gespenst des Skeptizismus«, München 1999. 575 Vgl. dazu die entsprechende Passage in Kap. IV,1. Eine gewisse Annäherung an Hegel

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Noch differenzierter entfaltet Vieweg die Bedeutung des Begriffs Vorstellung in seinem Beitrag zu dem »kooperativen Kommentar« zu Hegels »Phänomenologie des Geistes« mit dem Titel »Religion und absolutes Wissen – Der Übergang von der Vorstellung zum Begriff.«576 Vieweg führt aus, dass Vorstellung bei Hegel zwischen dem begrifflichen Denken und der sinnlichen Anschauung situiert werde. »Bei der im Zentrum des Vorstellens stehenden Einbildungskraft bzw. Phantasia geht es um eine Tätigkeit des produktiven Verbindens und Kombinierens von Bildern, um die innere Präsentation selbst geschaffener Vorstellungen, um das ›Hervor-Stellen‹ neuer Bilder. In diesem verbildlichten Inhalt sind der antizipierte Begriff und das Anschauliche in Einheit gebracht, worin die Intelligenz sich als bestimmende Kraft über die Bilder erweist.«577 Vieweg verdeutlicht, dass diese höhere Identität von Einzelheit und Allgemeinem zunächst nur die Stufe der formellen Vernunft darstelle. Die weiteren Formen, die die Vernunft auf dem Weg zum absoluten Wissen durchläuft, werden in Viewegs Interpretation detailliert aufgezeigt und in den Zusammenhang des Begriffs Freiheit gerückt, mit dem man in dem »Nervenzentrum des Hegelschen Denkens« anlange.578 Die das Reich des Vorstellens prägende Einbildungskraft oder Imagination sieht Vieweg als »Fundament und Quelle für die Entstehung unendlich vieler, verschiedener Bilder.«579 Derridas Umkreisen der Malerei ist über weite Strecken eine Auseinandersetzung mit Kants »Kritik der Urteilskraft«. Zunächst bezieht er sich auf die von Kant in der Einleitung beschriebene »Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen.«580 Kant sah bekanntlich keine Möglichkeit, diese immense Kluft zu überbrücken, was Derrida dazu veranlasst, über die Brücke als Analogie zu sinnieren, um schließlich festzustellen, dass es zwischen der Analogie des Abgrundes und der Analogie der Brücke über den Abgrund ein Drittes geben müsse, um die Kluft zwischen den absolut heterogenen Welten zu schließen.581 Deutlicher ist m. E. Hegels Bezug auf diese Problematik, der Kant zu Gute hält, dass er diesen Vereinigungspunkt erkannt habe, aber wieder zurückfalle »in den

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gelingt Derrida, indem er feststellt, dass die Kunst bei Hegel eine Mitte in dem Kreislauf darstelle. Sein Bezug auf den Begriff der Vermittlung in Hegels Dialektik bleibt aber vage und wird von Derrida als eine Domestizierung in der Geschichte der Wahrheit bewertet. (Vgl. Derrida, a. a. O., S.52 f.) Hegels Phänomenologie des Geistes – Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Hrsg. von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt a. M. 2008. A.a.O., S. 587. A.a.O., S. 598. Auf diesen Zusammenhang wird in dem Exkurs nach Kap. IV,3 nochmals Bezug genommen. A.a.O., S. 588. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 8, 3. Aufl. Wiesbaden 1968, S. 247. Derrida, a.a.o., S. 55.

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festen Gegensatz von subjektivem Denken und objektiven Gegenständen, von abstrakter Allgemeinheit und sinnlicher Einzelheit des Willens.«582 Zu Kants berühmter Formel vom »interesselosen Wohlgefallen« begnügt sich Derrida mit dem Hinweis auf die »Wut« Nietzsches, der die Uninteressiertheit für überflüssig halte, und auf das »Gemurmel« von Heidegger, dem das Wohlgefallen überflüssig erschienen sei. Er geht stattdessen auf Kants Unterscheidung von Wohlgefallen, Lust und Genuss ein, das offensichtlich durch die Übertragung ins Französische gewisse Schwierigkeiten bereitet. So bleibt es fraglich, ob Wohlgefallen mit dem franz. plaisir übereinstimmt.583 Konkreter fallen Derridas Interpretationen aus, wenn er Kunstwerke als Beispiele anführt. Eine eher schlichte Darstellung einer Tulpe von Nicolas Ropert bringt er in Verbindung mit einem Gedicht von Ponge mit hohem symbolischen Gehalt »La facon de faner des tulipes« und verknüpft diese mit Gedanken über das Schöne bei Kant.584 Aus Kants dritter Bestimmung des Schönen (»Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zweckes, an ihm wahrgenommen wird.« A.a.O., S. 319) interessiert ihn besonders die Fußnote: »Eine Blume hingegen, z. B., eine Tulpe, wird für schön gehalten, weil eine gewisse Zweckmäßigkeit, die so, wie wir sie beurteilen, auf gar keinen Zweck bezogen wird, in ihrer Wahrnehmung angetroffen wird.« (Ebd.) Derrida stellt dazu fest, dass die Tulpe nicht direkt aus der Natur stamme, sondern aus einem anderen Text. Kant weise nicht daraufhin, dass de Saussure, den Kant als einen »ebenso geistreichen als gründlichen« Mann bezeichne und häufig in der dritten Kritik zitiere, in seiner »Reise in den Alpen« (I. Band 431) berichtet habe: »Ich fand in den Wäldern unterhalb der Einsiedelei die wilde Tulpe, die ich niemals zuvor gesehen habe.« Derrida hält trotz dieses Verschweigens auch Kants Tulpe für natürlich und absolut wild. Kants Beispiel für die Zweckmäßigkeit ohne Zweck müsse wild sein, dies sei ebenso auch in § 42 (»Vom intellektuellen Interesse am Schönen«) anzutreffen. Den Ausdruck Kants »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« hält Derrida für ebenso verwelkt wie das »interesselose Wohlgefallen«, aber es bleibe nicht weniger rätselhaft.585 Kant habe damit sagen wollen, dass alles an der Tulpe zweckmäßig zu sein scheint. als müsse sie einer Absicht gehorchen. Aufschlussreich ist die Kommentierung Derridas, dass es hier um die Weise des a l s o b gehe, die diesen ganzen Diskurs über die Natur und die Kunst beherrsche.586 582 583 584 585 586

Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, a. a. O., S. 84. Derrida, a. a. O., S. 66 f. A.a.O., S. 105 ff. A.a.O., S. 107. In Parallele zu dem Diskurs über die Kunst steht m. E. das a l s o b in Kants kategorischem Imperativ. In- sofern ist der oft erhobene Einwand gegen Habermas, dass die Annahme eines »herrschaftsfreien Diskurses« an der Realität vorbeiginge, unangebracht. Bean-

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In weiteren Interpretationen nimmt Derrida Bezug auf die Spaltung zwischen dem Schönen und dem Geschmack sowie auf die für Kant wichtige Frage nach dem Erhabenen, von der Kant sagt, dass sie nur als Anhang zur Analytik des Schönen behandelt werden müsse.587 Kants Unterscheidung zwischen dem Gefühl des Erhabenen, das eine Lust ist, die nur indirekt entspringt (von Kant als negative Lust bezeichnet), und dem Schönen, das direkt »ein Gefühl des Lebens bei sich führt, und daher mit Reizen und einer spielenden Einbildungskraft vereinbar ist« (ebd.) fügt Derrida eher beiläufig hinzu, dass diese Wendung nietzscheanischer sei, »als Nietzsche gedacht hätte.«588 Hier vernachlässigt Derrida Nietzsches Anerkennung Kant gegenüber, dass dieser einen »Stich Sensualismus«« in die Erkenntnistheorie gebracht habe.589Auf ähnliche Weise könnte Nietzsche in einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit Kants »Kritik der Urteilskraft« durchaus die dem Leben und dem Spiel zugewandte Momente gelobt, aber die bereits von Hegel geübte Kritik an Kants Abstraktheit und dessen Neigung zu verfestigten Positionen noch schärfer formuliert haben. Entgegen einer oft verkürzten Sicht auf Nietzsche ist zu berücksichtigen, dass er wie bei dem »polyphonen Wesen« Mitleid, das er – wie Kant – mit allerdings anderen Argumenten zurückweist, dem aber auch etwas entgegensetzt, nämlich die Mitfreude, ebenso die Interesselosigkeit verwirft – gegen Kant – und dazu ebenfalls eine Alternative benennt, eine andere Orientierung: Stendahls »promesse de bonheur.«590 Das in der Einleitung bereits zitierte Urteil Nietzsches über Hegel, dem er von den großen Deutschen am meisten Esprit zusprach, dessen witzige, oft vorlaute Einfälle aber wegen ihrer Umwicklungen »moralische Langeweile« hervorriefen, hat – was den Bezug auf die Moral betrifft – Kant gegenüber noch mehr Berechtigung. Da es zu Nietzsches Bemühen gehörte, den besonders bei den Deutschen verbreiteten »Geist der Schwere« zu überwinden, galt sein Bestreben, der Leichtigkeit im Leben und der Kunst einen größtmöglichen Raum zu schaffen. Ein wesentliches, immer wiederkehrendes Element in Nietzsches Kunstauffassung, das der Zufälligkeit, findet auch in Adornos »Ästhetischer Theorie« wiederholt Berücksichtigung. Ausgehend vom Gedanken über die Emanzipation

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sprucht man in der philosophischen Ethik Allgemeingültigkeit, wird immer eine idealistische Annahme erforderlich bleiben, sei es Hegels »List der Vernunft«, Kants »als ob« oder K.O. Apels »ideale Kommunikationsgemeinschaft«. Vgl. dazu die in Kap. IV,1 angeführte Kritik Nietzsches. Kant, a. a. O., S. 328. Derrida, a. a. O., S. 126. Vgl. Kap. II, 1. »Zur Genealogie der Moral«, KSA 5, 347. Nietzsche stellt die beiden »Definitionen« gegenüber und weist in diesem Zusammenhang daraufhin, dass sich Schopenhauer hierin mit Unrecht Kantianer dünke, »dass er ganz und gar nicht die Kantische Definition Kantisch verstanden habe, – dass auch ihm das Schöne aus einem ›Interesse‹ gefalle«. (S. 349)

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des Harmoniebegriffs, die sich als »Aufstand gegen den Schein« enthülle, konstatiert er : »Wähnt man die Details der Kunstwerke unmittelbar in Händen zu halten, so zerrinnen sie ins Unbestimmte und Ununterschiedene: so sehr sind sie vermittelt.«591 Darin liegt für Adorno die Manifestation des ästhetischen Scheins im Gefüge der Kunstwerke. Der Objektivitätsanspruch der Kunstwerke werde an ihnen selber zuschanden. »Die Wahrheit der Kunstwerke haftet daran, ob es ihnen gelingt, das mit dem Begriff nicht Identische, nach dessen Maß Zufällige in ihrer immanenten Notwendigkeit zu absorbieren. Ihre Zweckmäßigkeit bedarf des Unzweckmäßigen.«592 Dass die Zweckmäßigkeit durch ihr Anderes sich suspendieren müsse, um bestehen zu können, habe Nietzsche mit dem problematischen Satz gestreift, dass im Kunstwerk ebenso gut alles anders sein könne. Der Scheincharakter der Kunstwerke werde herkömmlicherweise auf ihr sinnliches Moment bezogen, dies ist für Adorno besonders deutlich in der Formulierung vom sinnlichen Scheinen der Idee bei Hegel. Dessen Ansicht stehe noch »im Bann der traditionellen, Platonisch-Aristotelischen vom Schein der Sinnenwelt hier, dem Wesen, oder dem reinen Geist, als dem wahrhaften Sein dort.«593 Gegen Hegel gewendet ist auch die Beteuerung, dass in der Kunst die Identität von Wesen und Erscheinung nicht erreichbar sei. Das Wesen, das in die Erscheinung übergehe und diese präge, sprenge sie auch: »was erscheint, ist durch die Bestimmung als Erscheinendes immer auch Hülle.«594 Dies habe der ästhetische Harmoniebegriff verleugnen wollen. Der Versuch, in der modernen Kunst den Scheincharakter abzuschütteln, löst nach Adorno nicht die Aporien, die der geschichtlichen Bewegung insgesamt inhärent seien. Auch die Rebellion des Expressionismus und weiterer Ausprägungen der Kunst führen laut Adorno zu keiner Lösung und bergen die Gefahr einer neuerlichen Verdinglichung. »Das Legitime an der Rebellion gegen den Schein als Illusion und das Illusionäre an ihr, die Hoffnung, der ästhetische Schein könne am eigenen Zopf sich aus dem Sumpf ziehen, ist aber miteinander verquickt…Noch die reinste ästhetische Bestimmung, das Erscheinen, ist zur Realität vermittelt als deren bestimmte Negation.«595 An Adornos Gedanken über die ästhetischen Antinomie knüpft Christoph Menke sein Konzept, das das Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 155 f. Ebd. A.a.O., S. 165. A.a.O., S. 167. Zu den häufigen Passagen, die Hegel zugewandt sind, zählt eine Erwägung Adornos im Anschluss an die Frage nach der Legitimation des virtuosen Elements in der Kunst, eine »Probe« auf die Anfänge der Hegelschen Logik vorzunehmen. Das Urteil über Bach, dass dieser virtuos in der Vereinbarung des Unvereinbaren gewesen ist und seinem Werk das »singulär Schwebende« eignet, wäre auch an Beethoven mit nicht geringerer Strenge »die Paradoxie eines tour de force darzustellen: dass aus nichts etwas wird, die ästhetisch-leibhafte Probe auf die ersten Schritte der Hegelschen Logik.« (A.a.O., S. 163) 595 A.a.O., S. 158.

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Beharren Adornos auf der paradox formulierten These, dass gerade der Schein der Kunst ihre Wahrheit sei, durch eine Rekonstruktion überwinden möchte und mit den unter dem Titel »Dekonstruktion« versammelten Theorien zu verbinden sucht. Das schon im Untertitel596 von Menkes Schrift angezeigte Programm einer ästhetischen Theorie nimmt in starkem Maße auf Derrida Bezug und mündet in einer Konzentration auf den Ort der Kunst im »philosophischen Diskurs der Moderne.«597 Dieser Versuch einer Kombination rekonstruktiver und dekonstruktiver Ansätze zeigt neue Aspekte auf, bleibt aber – zeitgemäß – dem Gelingen nicht-ästhetischer Diskurse verpflichtet. Die Geltung des ästhetisch Erfahrenen hält Menke, orientiert an Kant und Max Weber, für partikular. »Wie und was wir ästhetisch erfahren, hat keinerlei bestreitende oder bejahende Kraft für das, was Gegenstand unseres nicht-ästhetischen Erfahrens und Darstellens ist.«598 Da sich Menke in seiner Darstellung häufig auf die »Negative Dialektik« bezieht und weniger die »Ästhetische Theorie« berücksichtigt, fehlt eine der tiefsten Erkenntnisse über die Kunst, die laut Adorno an der Anstrengung der Prosa seit Joyce deutlich werde, die diskursive Sprache außer Kraft zu setzen: »Die neue Kunst bemüht sich um die Verwandlung der kommunikativen Sprache in eine mimetische. Vermöge dieses Doppelcharakters ist Sprache Konstituens der Kunst und ihr Todfeind. Etruskische Krüge in der Villa Giulia sind sprechend im höchsten Maß und aller mitteilenden Sprache inkommensurabel. Die wahre Sprache der Kunst ist sprachlos.«599 Goethe habe, indem er vom Bodensatz des Absurden, dem Inkommensurablen in der künstlerischen Produktion sprach, die moderne Konstellation des Bewussten und Unbewussten erreicht.600 Den Künstlern ist vertraut, so Adorno, was den Theoretikern nichts als ein logischer Widerspruch ist. »Willkür im Unwillkürlichen ist das Lebenselement der Kunst, die Kraft dazu ein verlässliches Kriterium künstlerischen Vermögens, ohne dass die Fatalität solcher Bewegung verschleiert würde.«601 Bei Nietzsche, der allzu oft der Selbststilisierung und des Überbietungsgestus geziehen wird, finden sich zahlreiche Belege für die bereits erwähnte Bescheidenheit als Gegenpol sowie die Erkenntnis, dass auch der künstlerisch orientierte Philosoph in einer gewissen Ohnmacht feststellen muss, wie die »Verewiger der Dinge« nur das zu schreiben vermögen, was welk werden wolle. Dem Schreiben der Gedanken fügt er am Ende von »Jenseits von Gut und Böse« das Malen hinzu, wohl 596 Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst – Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, 1. Aufl. Frankfurt am Main 1991. 597 A.a.O., S. 278 – 293. 598 A.a.O.,S. 9. 599 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 171. 600 A.a.O., S. 174. 601 Ebd.

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wissend, wie sehr es des Überschreitens der Sprache bedarf. »Und nur euer N a c h m i t t a g ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths.«602 Auf die Verbindung von Dichtung und Malerei könnte Nietzsche u. a. beim Studium von Horaz gestoßen sein, der sich in einem Gleichnis – ut pictura poesis – auf einen Text bezieht, der den Zustand der Malerei anstrebt.603 Folgt man Hegels Äußerung über die Philosophie, dass sie ihre Zeit in Gedanken erfasst sei,604 lässt sich in Analogie für die Malerei festhalten, dass in deren Gestaltungen, in Formen und Farben, ebenfalls die jeweilige Zeit zum Ausdruck kommt. Da die Philosophie Nietzsches und die Malerei des Impressionismus weitgehend im gleichen Zeitraum hervorgebracht wurden, ergeben sich Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten in den Inhalten und Ausdrucksformen. Angesichts seiner großen Affinität zur Musik hat Nietzsche die bildende Kunst insgesamt weniger berücksichtigt. Gleichwohl sollen in ausgewählten Beispielen einige zentrale Gedanken Nietzsches in verdichteter Form den Ausdrucksmöglichkeiten der Malerei gegenüber gestellt werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Malerei in ähnlicher Weise wie die Lyrik, die in Nietzsches Gedanken zur Kunst und in seinem eigenen Schaffen einen gewichtigen Raum einnimmt, zu Verdichtungen fähig ist. Die Wahl der Perspektive, die Ausdruckskraft der Farben sowie die Gestaltung von Gegenständen, Landschaften und Portraits können als Ergebnisse spontaner schöpferischer Akte gesehen werden, sie lassen sich aber auch in den Zusammenhang von Reflexionen rücken, die für die Philosophie von grundlegender Bedeutung sind. Zur Faszination der Malerei gehört, dass sowohl das Hervorbringen als auch die Rezeption ihrer Werke in stärkerem Maße die Sinnlichkeit in Anspruch nehmen als dies die Philosophie gemeinhin vermag. Insofern soll auch hier Nietzsches Überschreiten enger philosophischer Grenzen, indem er die Ausdrucksformen er-

602 KSA 5, S. 240. Mit dieser Erkenntnis rückt Nietzsche in eine gewisse Nähe zu Hegels »Eule der Minerva«, die bekanntlich erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt. Gleichwohl sehe ich in Nietzsche den Philosophen, der die von Hegel bestrittene Möglichkeit der V e r j ü n g u n g, die Hegel aber selbst in vielfacher Hinsicht gelungen ist, in starkem Maße betrieben und Wege aufgezeigt hat, an dem allmählich gewordenen Gemälde weiterzumalen (vgl. KSA 2, S. 36 f.). Dazu reicht eben das G r a u i n G r a u nicht. 603 Zu der »Geschwisterbeziehung« zwischen Malen und Schreiben führt Eric Kerpeles in »Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit«, Berlin 2010, außer diesem Beispiel Beziehungen und Annäherungen zwischen Dichtern und Malern an, wobei er Proust als den »Abkömmling Watteaus« bezeichnet. Kerpeles fügt seinen Texten Bilder hinzu, die verdeutlichen, wie sehr Proust die Motive der Maler als »kongeniales Gestaltungsmittel« einzusetzen gewusst habe. (Vgl. a. a. O. bes S. 17 – 24.) 604 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 12.

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weitert, als Bereicherung deutlich werden. An folgenden Aspekten soll dies belegt werden: – Eine große Gemeinsamkeit besteht in der Bedeutung des Lichts,605 wobei der Perspektivenwechsel in Philosophie und Malerei eine Abkehr von bisherigen Gewohnheiten bewirkt. Der Aspekt des Schattens führt in Nietzsches Kapitel »Der Wanderer und sein Schatten« zu einer erweiterten Sichtweise philosophischer Fragen. Man kann darin u. a. eine Möglichkeit sehen, die Vielfalt einer Person bzw. deren Widerspieglung in einem Gegenüber zu verdeutlichen. Nietzsche spricht in Abwandlung des Begriffs Individuum von einem Dividuum.606 Auch in dem berühmten Vers über Sils Maria hat er in etwas verrätselter Form aus Eins Zwei werden lassen und zudem das Wechselspiel des Genießens von Licht und Schatten607 besungen: Hier sass ich, wartend, - doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei – Und Zarathustra gieng an mir vorbei…608

Für den Impressionismus wurde der »Sonnenaufgang« von Claude Monet namensgebend. Eine Besonderheit dieses Bildes, dem Monet den Titel »impression« (1872/73) gab, besteht in der Widerspieglung des Sonnenlichts. In einer neueren Interpretation hat Gabriele Crepaldi hervorgehoben, dass das Bild auf 605 Wie sehr sich die Bedeutung des Lichts durch die Geschichte der Kunst zieht, lässt sich an ausgewählten Bildern und brillanten Texten von Cees Nooteboom studieren. Cees Nooteboom, »Das Rätsel des Lichts – Kunststücke«, mit einer Einleitung von Susanne Schaber, München 2009. In der Einleitung heißt es, dass sich der Autor nicht hinter kunsthistorischer Terminologie verstecke. Er rücke die Kunst ins Licht und versuche, »ihr nahe zu kommen, um sich dann wieder zurückzuziehen.« Passend zu der oben versuchten Vorsicht bei der Entschlüsselung des »Zarathustra« und zu der von Adorno zitierten Auffassung über den Rätselcharakter der Kunst fügt sie hinzu: »Er läßt den Bildern ihr Geheimnis.« (S.5) 606 Dieser auf das Gebiet der Moral bezogene Begriff (vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, 57) lässt sich m. E. auf andere Bereiche des Menschseins übertragen. 607 Durch den Besuch einer Ausstellung in Madrid gelangt Cees Nooteboom zu der Erkenntnis, dass der Schatten der Widerschein von etwas Materiellem, zugleich aber etwas sei, das nicht Materie ist. Schatten als Gegenstück zum Licht gehöre noch zur Natur, das werde aber anders, sobald sich die Psyche einmische. »Dann wird wie bei de Chiroco der Schatten zu einem eigenständigen Element, nicht länger abhängig von einer objektiven Gegebenheit, sondern eine drohende Anwesenheit.« (A.a.O.,S. 136) Zur Frage des Unterschiedes zwischen abendländischer und asiatischer Kunst sieht Nooteboom das Urteil im Osten über eine gewisse Abwesenheit des Schattens in der westlichen Kunst durch ein Zitat von Benjamin bestätigt, »die Aufklärung sei nun mal ein abendländisches Phänomen gewesen, darauf erpicht, möglichst viel Schatten zu verjagen.« (S. 138) 608 »Lieder des Prinzen Vogelfrei«, in KSA 3, S. 649.

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die sinnliche Wahrnehmung eines vergänglichen Momentes ziele, »denn die Welt der Erscheinung ist in stetigem Fluss…«609 Dies verweist auf eine Parallele in Nietzsches Denken, der sich explizit auf den Philosophen Heraklit bezieht, dessen Grundauffassung in verkürzter Form im »panta rhei« enthalten ist. Auguste Renoirs »Pont-Neuf« (1872) zeigt eine Stadtansicht von Paris im Gegenlicht. Die Schatten der Personen treten trotz andeutungshafter Darstellung und in hellerer Farbe als herkömmlich deutlich hervor. Auch die Bewegungen der Personen kommen klar zum Ausdruck. Berthe Morisot lässt in »Le port de Nice« (1882) das Licht des Südens, der Cúte d’Azur, im Spiel der Wellen leuchten. Auch die Hafengebäude wirken in ihren hellen Farben lichtdurchflutet. Nietzsche, für den der Süden als gedankliche Orientierung und als konkreter Ort für seine Lebenserleichterung und –steigerung von großer Bedeutung war, rühmte in Nizza den halkyonischen Himmel, der in sein Leben »hineinglänzte« und ihn zum dritten Zarathustra inspirierte. 610 Auch in der Musik des Impressionismus spielt das Licht eine besondere Rolle. Clair de Lune in der Suite bergamasque von Claude Debussy ist dafür ein herausragendes Beispiel. Den Zauber des Mondlichtes hat Debussy – angeregt durch das gleichnamige Gedicht von Paul Verlaine – in zauberhafte Töne transformiert. Ebenso wie Nietzsche hat sich auch Debussy der außereuropäischen Kultur gewidmet. Sein Interesse galt besonders der asiatischen Musik und Malerei. Für eine Ausgabe von La mer wählte er einen Holzschnitt (von malerischer Qualität) »Die große Woge« von Hokusai als Titelbild.611 Darin kommt die von Nietzsche in dem Aphorismus »Die Frauen und ihre Wirkung in die Ferne« beschriebene ambivalente Wirkung des Meeres zum Ausdruck, die faszinierende Gestalt und Kraft hoher Wellen, die zugleich als das bedrohliche »Heraufzüngeln« weißer Flammen erlebbar sind. – Bewegung hat sowohl bei Nietzsche als auch im Impressionismus einen hohen Stellenwert. In einer etwas überhöhten Formulierung benennt Nietzsche den Prüfstein für Glaubwürdigkeit, »keinem Gedanken glauben zu schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.«612 Ein bekanntes und in Frankreich an betreffender Stelle dokumentiertes Beispiel dafür ist sein Aufsteigen zu dem »wunderbaren maurischen Felsenneste Eza«, das er zu seinen unvergesslichen Augenblicken rechnet, da er hier eine entscheidende Partie des »Zarathustra« gedichtet habe, die den Titel trägt, »von alten und neuen Tafeln.«613 Sicher sind Nietzsche auch Gedanken in seinen zahlreichen Studierzimmern gekommen, aber das peripa609 Gabriele Crepaldi, Der Impressionismus – Künstler, Werk, Fakten, Sammler, Skandale, Köln 2007, S. 64. 610 Siehe dazu die Quellenangaben im Kap. I. 611 Vgl. betreffende Angaben in: http://de.wikipedia.org/wiki/Claude-Debussy 612 »Ecce homo«, a. a. O., S. 58. 613 A.a.O., S. 108.

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tetische Philosophieren zählt zu seinen Vorlieben. Seine aus Krankheitsgründen früh beendete akademische Lehrtätigkeit und seine Suche nach Genesung boten ihm im Wechsel der Orte – allen voran im Engadin und am Mittelmeer – Anstoß und Gelegenheit, seine Philosophie beim Wandern zu entwerfen. Der Impressionismus hat seinerseits eine Abkehr von der akademischen Malerei, von der damals vorherrschenden Salon-Malerei, vollzogen, um Neues zu entwickeln. Die eigene Bewegung und das Darstellen von Bewegung bildeten ein zentrales Moment. Dazu wurden neue Techniken praktiziert, so z. B. wurden durch einige Striche und wenige Farben Kleidung und Köpfe von vorbeigehenden Personen dargestellt. Auch durch das »nass in nass« – Auftragen, das eine Mischung der Farben auf der Leinwand bewirkte, gewannen insbesondere Bilder von Flüssen und vom Meer den Eindruck der Bewegung. Auch Hegel, der nicht gerade als passionierter Wanderer galt und eher für das Verfassen seiner umfangreichen Vorlesungen in langen Nächten bekannt ist, hat sich überraschender Weise gelegentlich auf die Bewegung im Freien bezogen. Seiner Philosophie entsprechend ist hier das Dialektische von Innen und Außen maßgeblich. In seiner Ästhetik wird der griechische Tempel als Inbegriff schöner Architektur dargestellt. Dabei ist ihm das Erkennen der wesentlichen Funktionen in einem »sättigenden Anblick« wichtig.614 Die Säulengänge, »die unmittelbar ins Freie führen,« da sie »nichts Einschließendes« haben, erlaubten es den Menschen frei und offen umherzuwandeln.615 Hegel scheint einerseits den »tieferen Ernst« zu vermissen, da die nach außen gerichteten Bauwerke »die Vorstellung eines ernstlosen, heiteren, müßigen, geschwätzigen Verweilens« erwecken, andererseits bewundert er offensichtlich den einfachen und großartigen Eindruck der Tempel, die zugleich »heiter, offen und behaglich« sind, »indem der ganze Bau mehr auf ein Umherstehen, Hin- und Herwandeln, Kommen und Gehen als auf konzentrierte innere Sammlung einer ringsum eingeschlossenen, vom Äußeren losgelösten Versammlung eingerichtet ist.«616 – Mit dem Begriff der Plein-air-Malerei ist die neue Art des Malens, die schon vor dem Impressionismus entwickelt, aber durch diesen etabliert wurde, klar umrissen. Vorbild für die impressionistischen Maler war vor allem Camille Corot, der das Malen en plein air extensiv betrieb. Er gilt als Wegbereiter für den Realismus und Impressionismus. Für die Plein-air-Malerei schufen technische Neuerungen wichtige Voraussetzungen. Dazu gehörten Metalltuben, in denen Ölfarben länger aufbewahrt werden konnten, tragbare Staffeleien und Materialien aus industrieller Fertigung. Um sich außerhalb der Städte Motiven an der frischen Luft widmen zu können, waren die Fahrten mit der Eisenbahn eine 614 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt am Main 1970, S. 318 615 A.a.O., S. 320 616 A.a.O., S. 321

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willkommene Möglichkeit. Bei einigen Impressionisten ist die Eisenbahn selbst zu einem Motiv geworden, und die industrielle Entwicklung wurde kaum kritisch gesehen, sondern als Erweiterung der Motive geschätzt. Diese Bewertung weicht von Nietzsches Auffassung deutlich ab, zu dessen Kulturkritik skeptische Äußerungen über die Industrialisierung gehören. Die übrigen Momente zeigen deutliche Parallelen, so dass sich sein Denken als eine Plein-air-Philosophie617 apostrophieren lässt. – Eine deutliche Übereinstimmung liegt in der Heiterkeit. Der direkte Einfluss des Lichts beim Malen unter freiem Himmel und die Helligkeit der Farben führen zur heiteren Wirkung vieler impressionistischer Bilder. Nietzsche hat einem bedeutenden Aphorismus in der »Fröhlichen Wissenschaft« die Überschrift gegeben: »Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat.«618 Er erklärt sie als Folge einer großen Befreiung durch die Nachricht, dass der »alte Gott todt ist« und »wir Philosophen … von einer neuen Morgenröthe angestrahlt« werden. In sehr differenzierter Form, gewissermaßen als Auffächerung und Fortentwicklung des Gedankens von Nietzsche, heißt es bei Hermann Hesse: Heiterkeit ist weder Tändelei noch Selbstgefälligkeit, sie ist höchste Erkenntnis und Liebe, ist Bejahen aller Wirklichkeit, Wachsein am Rande aller Tiefen und Abgründe. Sie ist das Geheimnis des Schönen und die eigentliche Substanz jeder Kunst.619

Eine besondere Variante der Heiterkeit hat eine Ausstellung im Nietzsche-Haus in Sils Maria (2002) mit dem Titel »Paradoxe Heiterkeit« ins Spiel gebracht. Paul Gugelmanns bewegliche Plastik, die sich wechselnde Masken vors Gesicht hält, bot eine gelungene Veranschaulichung von Nietzsches Bezug auf das Maskenspiel. Der Gebrauch der Metapher »Maske« fällt allerdings bei Nietzsche recht unterschiedlich aus. Während er in der »Fröhlichen Wissenschaft« (Aph. 39) die »intellektuelle Maskerade« kritisiert, verweist er in dem Dithyrambus »Nur 617 Den Begriff Plein-air-Philosophie habe ich in pädagogischer Absicht für meine Lehrtätigkeit in Anlehnung an Heraklit, Aristoteles, Hegel und Nietzsche am Gymnasium eingeführt, um für Philosophie-Schülerinnen und -Schüler neue Lernhorizonte und Lernorte außerhalb der Schule zu ermöglichen. Vier Formen eines offeneren menschlichen Verhaltens dienten als Orientierung: sich bewegen/sich begegnen, sich öffnen, sich erinnern, sich freuen. Auch bei meinen peripatisch konzipierten Tagungen in Deutschland und in der Schweiz gelten diese Formen des Verhaltens als Anregung für ausgewählte Fragen zur Philosophie. 618 »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 343, KSA 3, S. 573 f. Die Bedeutung dieses Aphorismus ist mit weiteren Auszügen bereits im I. Kapitel thematisiert. 619 Hermann Hesse, Glasperlenspiel, Zürich 1943, S. 340 f.

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Narr, nur Dichter«620 eher verständnisvoll auf die Not des Dichters, seine Sehnsüchte »unter tausend Larven« verstecken zu müssen. Skeptisch äußert er sich in »Menschlich-Allzumenschliches« zum veränderten Verständnis von Architektur. Auf die Frage, was zu seiner Zeit die Schönheit eines Gebäudes bedeute, antwortet er : »Dasselbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.«621 Das Zitat über das Maskenhafte einer geistlosen Frau ist ein weiterer Beleg dafür, wie sehr Nietzsches Gedanken zur Schönheit von dem Blick auf die Frauen bestimmt sind. In Anknüpfung an den Begriff der paradoxen Heiterkeit lässt sich eine gewisse Paradoxie in Nietzsches Verhältnis zu Frauen feststellen, wobei ein Abwägen und gründliches Prüfen der jeweiligen Zusammenhänge, in denen er sich dazu äußert, ein höheres Maß an Faszination, Verehrung und Bewunderung als an Skepsis und Geringschätzung offen legt. Zu den bereits angeführten Beispielen sollen weitere Textpassagen hinzugefügt werden, um Nietzsches Auffassung über Kunst und wie er Philosophie als Kunst praktiziert noch klarer hervortreten zu lassen. In einer seiner skeptischen und irritierenden Passagen in der »Fröhlichen Wissenschaft« (Aph. 363)622 unterscheidet er die Liebe einer Frau von der eines Mannes. Seiner Meinung nach gehört es zu den Bedingungen der Liebe, dass das eine Geschlecht bei dem anderen nicht das gleiche Gefühl, nicht den gleichen Begriff voraussetze. Die Frau verstehe unter Liebe »vollkommene Hingabe (…) mit Seele und Leib, ohne jede Rücksicht, jeden Vorbehalt, mit Scham und Schrecken vielmehr vor dem Gedanken einer verklausulierten, an Bedingungen geknüpften Hingabe.« Der Mann wolle eben diese Liebe. Sollte es Männer geben, die ebenfalls nach vollkommener Hingabe verlangten, seien es eben keine Männer, sie würden dadurch zu Sklaven. Das Weib wolle genommen werden, es wolle »Einen, der nimmt, der nicht selbst giebt und weggiebt, der umgekehrt vielmehr reicher an ›sich‹ gemacht werden soll – durch Zuwachs an Kraft, Glück, Glaube, als welchen ihm das Weib sich selbst giebt.« Ärgerlicherweise sieht Nietzsche darin auch noch ein Naturgesetz. Immerhin lässt sich seiner Zuspitzung entnehmen, dass die Liebe einer Frau aus dem Mann etwas macht und dass dieser aus Dankbarkeit eine gewisse Treue entwickele, obwohl sie nicht »in’s Wesen seiner Liebe gehöre.« In »Menschliches, Allzumenschliches« betont Nietzsche für die Zweiheit*623 ebenfalls die Gegensätze der Geschlechter, aber er fügt das Verstehen und sich 620 KSA 6, S. 377 – 380. Hier ist auffällig, dass es Nietzsche am Beispiel des Dichters, als der er sich selbst sehen konnte und wollte, um ein Ringen nach Wahrheit, nicht um ein suchen nach Gott ging – wie es von religiös orientierten Interpreten teilweise vertreten wird. (Vgl. dazu Kap. I). 621 »Menschliches, Allzumenschliches« I, KSA 2, S. 179. 622 KSA 3, S. 610 ff. 623 »Menschliches, Allzumenschliches« II, (Mei 75), KSA 2, S. 408.

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darüber freuen hinzu, »dass ein anderer in andrer und entgegengesetzter Weise als wir lebt, wirkt und empfindet.« Zudem sollen die Gegensätze durch Freude überbrückt werden. Eine Erweiterung dieses Gedanken findet sich in »Also sprach Zarathustra«. Im Nachsinnen über das Eheschließen heißt es im Abschnitt »Von alten und neuen Tafeln:«624 »Es ist ein großes Ding immer zu Zwein zu sein.« Und aus Liebe zum Übermenschen rät »Zarathustra«, »nicht nur fort euch zu pflanzen, sondern hinauf – dazu, oh meine Brüder, helfe euch der Garten der Ehe!« In Hegels Stufengang der Entwicklung der Idee bilden Ehe und Familie die natürliche Basis, er bezeichnet sie als den »natürlichen Geist.« Vor der Entfaltung des »hohen C« seines Gedankengebäudes, das sich über die bürgerliche Gesellschaft zum Staat empor streckt, werden die Besonderheiten der unteren Etagen A (die Sphäre des abstrakten oder formellen Rechts) und B (die Sphäre der Moralität) dargestellt.625 Beim Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit hat die Ehe eine doppelte Bedeutung. Sie ist einerseits »das Moment der natürlichen Lebendigkeit«, aber im Selbstbewusstsein wird andererseits »die nur innerliche und an sich seiende und eben damit in ihrer Existenz nur äußerliche Einheit der natürlichen Geschlechter in eine geistige, in selbstbewußte Liebe, umgewandelt.626 Die bürgerliche Ehe, die auf freiwilliger Einwilligung basiere, gewähre trotz ihrer Selbstbeschränkung, die diese Personen in ihrer Einheit eingehen, deren Befreiung, da sie ein »substantielles Selbstbewusstsein gewinnen.«627 Bezüglich der Kinder, die für Hegel an sich Freie sind, hebt er hervor, dass der Mensch, das was er sein soll, nicht aus Instinkt habe, sondern erst erwerben müsse.628 In Nietzsches Sicht führt die Abwertung des Instinktes zu einem Verlust des Menschseins, da für ihn zur Natürlichkeit des Menschen der Instinkt als wesentliches Element gehört. Aber in Übereinstimmung mit Hegel sieht auch Nietzsche in der Ehe eine Möglichkeit der Fortentwicklung, die er – wie bereits zitiert – als Hinaufpflanzen bezeichnet. Die Zuschreibung der Geschlechterrollen in Hegels Rechtsphilosophie lässt sich anders als bei Nietzsche, der in seinem Urteil über Frauen teils recht widersprüchliche Positionen einnimmt, als eine Fortentwicklung seiner Auffassung in der Phänomenologie sehen. Diesen 624 KSA 6, S. 264. 625 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 47 – 143. Dabei spielen der freie Wille und das Eigentum, ein zentrales Moment der bürgerlichen Gesellschaft, eine besondere Rolle. Im § 141 erweist sich Hegel wie in vielen seiner Begriffsentfaltungen als Meister des Übergangs; hier von der Moralität zur Sittlichkeit. 626 A.a.O., (§ 161), S. 153. Im Zusatz zu diesem § bezeichnet Hegel die Ehe als »ein sittliches Verhältnis«. 627 Ebd. 628 A.a.O., (§ 174 Z), S. 162.

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Prozess hat Erzsebet Rozsa in einem Vortrag in Jena über »Hegels AntigoneDeutung«629 sehr überzeugend dargelegt. In der Phänomenologie habe die Familie ihren Boden in der bloß substantiellen und nicht in der subjektiv-sittlichen Welt. Hegels Rollenzuschreibung in der Phänomenologie eröffne nur dem Mann die Möglichkeit, in die wirkliche Sittlichkeit als eine frühe Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft einzutreten.«630 Der Mann verlasse die unmittelbare, elementare und ›natürliche‹ Sittlichkeit der Familie, während die Frau in die Rolle gefesselt bleibe. »Sie ist weiterhin Hüterin der Familie, die sich aber in der Moderne in einer andersartigen Situation befindet und darum mit der Antigone nicht mehr ohne Schwierigkeiten identifiziert werden kann.«631 Antigone und Kreon sind für Hegel Übergangsfiguren, wobei Kreon den Vorzug hat, mit dem menschlichen Gesetz und den menschlichen Institutionen verbunden zu sein, so dass er als Bürger bezeichnet werden könne. Erst in der Rechtsphilosophie, in der Hegel eine Konzeption der modernen Sittlichkeit ausarbeitet, wird nach Auffassung Rozsas der Trend der Moderne zur Individualisierung angemessen erörtert. Die Liebe als subjektive Grundlage und kulturell-institutionelle Form der modernen Familie werde hier bei Hegel nicht mehr als reine Sittlichkeit gesehen. Sie integriere in sich Empfindungen und Sinnlichkeit und werde nun auch der Frau zugeschrieben. Durch die Erziehung der Kinder als Bildungsaufgabe der Frau wird ihr ein höherer sozialer Stellenwert in der Gesellschaft zugeordnet. Das Recht der Besonderheit als Grundlage der Individuation wird jetzt beiden Geschlechtern zuerkannt. In ihrem Resümee weist Erzebet Rozsa daraufhin, dass heute gerne das phänomenologische Konzept aufgegriffen werde. Unsere schwankende Natur, die mal »poetisch«, mal »tragisch« oder auch »ironisch« sei, treibe uns dazu, »uns frei und autonom verstehen und bestimmen zu können. Die Beschränktheit der ›objektiven Ordnung‹ und die Mittelmäßigkeit der ›Prosa des Lebens‹ scheint uns etwas zu sein, womit wir uns nicht gerne identifizieren. Das Recht der Besonderheit zieht uns mehr an als das Akzeptieren einer institutionellen Ordnung. Aber am Ende müssen wir doch einsehen können, dass wir uns ohne vernünftige praktische Einstellungen zu Wirklichkeitssphären und Institutionen, d. h. ohne ›prosaische‹ Einstellungen in den Welten der Moderne nicht mehr orientieren können. Zumindest Hegel sah das so.«632 629 Der Vortrag mit dem Untertitel »Zum Status der praktischen Individualität in der Phänomenologie des Geistes« wurde im Rahmen einer von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch in Jena organisierten Tagung im Oktober 2006 gehalten und ist veröffentlicht in »Hegels Phänomenologie des Geistes – Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne«. Hrsg. von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch. Frankfurt am Main 2008. 630 A.a.O., S. 466. 631 Ebd. 632 A.a.O., S. 473.

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Es gehört m. E. zur Größe Hegels, dass bei ihm die notwendigen Dinge in ein Spannungsverhältnis zu den wünschenswerten gebracht werden. Aus diesem Kampf der Gegensätze gewinnt Hegel die befreiende Überwindung der prosaischen Welt durch die Aufhebung in der Welt der Kunst. Sehr früh – bereits im »Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus« – sieht Hegel in der Idee der Schönheit eine vereinigende Kraft. Er ist davon überzeugt, »daß der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist, und dass Wahrheit und Güte in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter.«633 Dieser Kraft hat sich Hegel mächtig erwiesen, aber seine Auffassungen über Kunst wandeln sich im Zuge der Entwicklung des Geistes bis zu seiner höchsten Stufe im absoluten Wissen.634 Vor seinem großen Werk über die »Ästhetik« sind wesentliche Gedanken zur Kunst auch in der »Phänomenologie« enthalten. Anders als in der Antigone-Deutung wird in der Passage über »das Mädchen, das gepflückte Früchte darreicht,«635 der Frau eine besondere Rolle zugeschrieben. Das Mädchen ist mehr »als die in ihre Bedingungen und Elemente, den Baum, Luft, Licht usf. ausgebreitete Natur derselben, welche sie unmittelbar darbot, indem es auf eine höhere Weise dies alles in den Strahl des selbstbewußten Auges und der darreichenden Gebärde zusammenfasst.«636 Jean-Luc Nancy, der dieser Passage aus Hegels »Phänomenologie« in seinem Kapitel »Das junge Mädchen als Nachfolgerin der Musen (Die Geburt der Künste bei Hegel)«637 eine detaillierte Interpretation mit tiefgründigen Schlussfolgerungen widmet, sieht das junge Mädchen u. a. als Begründerin und Hüterin des Museums. Ihr Schicksal sei das der Religion. »Man könnte sagen, es ist das in sich widersprüchliche, zerrissene Schicksal der Hegelschen (das heißt der christlichen) Religion: Diese meint nämlich ganz und gar nicht die unmittelbare Verbindung zwischen einer göttlichen und einer menschlichen Person, sondern eine Vermittlungsstufe in der Entwicklung der unendlichen Subjektivität, die sich ihrer selbst bewusst wird, indem sie aus sich selbst heraustritt, um in sich selbst zurückzukehren. Die Religion erfährt bei Hegel eine eigentümliche Wendung durch die ihr innewohnende, letztlich unaufhebbare Brüchigkeit.«638 Zu den bedenkenswerten Schlussfolgerungen von Nancy gehört, dass Hegel erst im Laufe der Zeit erahnt habe, das Geheimnis der Kunst bestünde darin, dass die Kunst ihren wahren Zweck unter der reinen Form verberge, während die G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, I, Frühe Schriften, a. a. O., S. 235. Vgl. dazu Gedanken im Anhang zur vorliegenden Arbeit. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 548. Ebd. Jean-Luc Nancy, Die Musen. Aus dem Franz. von Gisela Febel und Jutta Legueil. Dt. Erstausgabe, Stuttgart 1999. 638 A.a.O., S. 75. 633 634 635 636 637

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Philosophie ihren Zweck offen ausspreche.639 Dass Hegel – wie in Kap. III bereits betont – den Fortschritt in der Entwicklung der Kunst eher in der Enträtselung sieht, bedeutet aber nicht, dass er die Welt der Kunst als enträtselt sieht. Wie die Passage über das junge Mädchen zeigt, ist für Hegel das darüber Hinausweisen ein wesentliches Element in seinem Kunstverständnis. So wie er bei aller Anerkennung von Verdiensten Kants in der »Kritik der Urteilskraft« neue und weiterführende Gedanken im Bereich der Ästhetik entwickelt hat, lassen sich auch in Nietzsches Reflexionen über das Schöne neue Elemente entdecken, die in zweierlei Hinsicht eine höhere Wertschätzung der Kunst als bei Hegel bedeuten. Zum einen räumt Nietzsche auch dem Verbergen des Künstlers eine Berechtigung ein, zum anderen steigt er als Unzeitgemäßer im Vorgriff auf die Schrecknisse des 20. Jahrhunderts in deren Abgründe, die bei einigen Künstlern dieser Zeit durch Nietzsche angeregte Gestaltungen finden.640 Deutlich auf die Kunst bezogen ist der Aphorismus 361 in der »Fröhlichen Wissenschaft«.641 Um dem »gefährlichen Begriff ›Künstler‹« beizukommen, bezieht sich Nietzsche auf Schauspieler, Juden und Frauen. In einer breit gefächerten Interpretation dieser Thematik erschließt Babette Babich in ihrem 6. Kap. in der zur Beziehung Hölderlin–Nietzsche zitierten Schrift einen für Nietzsches Kunstverständnis zentralen Zusammenhang: »Eros und Kunst«.642 Dabei räumt sie mit einigen Missverständnissen und Fehldeutungen auf. Mit Bezug auf den Aphorismus »Was Europa den Juden zu verdanken hat« in »Jenseits von Gut und Böse«,643 klärt sie, dass der Passus »die Juden sind ohne Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse« aus dem Kontext heraus nicht rassistisch zu verstehen sei und »ganz und gar nicht auf Hitler« verweise. Die nationalistischen Überlegungen, die Nietzsche hier anstelle, zielten auf die Metapher Musik. »Es handelt sich um die erotische Musik, die Nietzsche uns als Kultur-Arzt mit dem Bild des Juden oder des Schauspielers oder der Frau verschreibt.«644 Als Beleg führt Babich den Aph. 255 (JGB) an, in dem Nietzsche zur Vorsicht gegenüber der deutschen Musik rät. Wenn einer den Süden liebe wie er selbst, »als eine große Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnenverklärung,« dann werde er sich vor der deutschen Musik in Acht nehmen, da sie ihm den Geschmack und die Gesundheit verderbe. Er könne sich eine Musik denken, frei von Gut und Böse, 639 A.a.O., S. 76, Anm. 7. 640 Anschauliche Beispiele dazu finden sich in einem Aufsatz von Wieland Schmied, Friedrich Nietzsche und die Bildende Kunst, in: Friedrich Nietzsche, Philosophie als Kunst – Eine Hommage, hrsg. von Heinz Friedrich, München 1999. 641 KSA 3, S. 608 f. 642 Babette Babich, a. a. O., S. 147 ff. 643 »Jenseits von Gut und Böse«, Aph. 250, KSA 5, S. 192. 644 Babich, a. a. O., S. 170

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»eine Kunst, welche von großer Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre.–«645 Wenn Nietzsche das Problem des Schauspielers als »Falschheit mit gutem Gewissen« definiert, lobt er – laut Babich – nicht nur die Kunst als eine ehrliche Lüge, vielmehr nehme dort, »wo die Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Wahrheit und ihr Wert selbst infrage gestellt werden, die Illusion (die Maske oder der Anschein) einen anderen Zug an: ›- Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft.‹«646 Zur Klärung dieses Zitates aus der »GötzenDämmerung« stellt Babich fest, dass Nietzsches Philosophie der Kunst keine Theorie einer kathartischen aristotelischen Erleichterung oder einer freudschen Therapie sei. Vielmehr sei bei ihm die Kunst als Kunst der Illusion »die grundsätzliche Errungenschaft menschlicher Intuition, und nur, wenn sie von ihrem Ursprung in sinnlicher Wahrnehmung ausgeht, kann sie zur freien Erfindung oder Imagination oder Kognition übergehen.«647 Mit Babichs Betonung des Ursprungs in der sinnlichen Wahrnehmung als ein Merkmal von Nietzsches Kunstauffassung wird erneut die Nähe zur Malerei des Impressionismus deutlich. Besonders in C¦zannes Kommentaren zu seiner Malerei zeigen sich Parallelen zu Nietzsches Betonung der Sinnlichkeit. Zunächst soll mit weiteren Hinweisen auf Berthe Morisot ein Manko Nietzsches deutlich werden, das in seinem häufigen, aber unzulänglichen Bezug auf die Frauen bei Gedanken über die Kunst zu Tage tritt. Wie die männlichen Vertreter des Impressionismus hat auch Berthe Morisot en plein air ihren Motiven gegenüber gestanden. So sind ihr Bilder von äußerster Zartheit und Leuchtkraft gelungen. Ihre Abkehr von dem Herkömmlichen, ihre Befreiung aus der Enge des Ateliers haben ihr einen unmittelbaren Zugang zur Natur, zu Personen und Gegenständen ermöglicht. Die bereits beschriebene Bedeutung des Lichts in der impressionistischen Malerei ist bei ihr durch die Transparenz ihrer Farben konkretisiert. In Anlehnung an Nietzsches Kennzeichnung seiner Philosophie in »Ecce homo« lässt sich die Wirkung von Morisots Malerei mit folgenden Worten beschreiben: Die Faszination ihrer Bilder berührt besonders die Menschen, die die Luft von Morisots Schaffensprozess zu atmen wissen, die ihren Blick geweitet haben für die zarten Töne und die Aura ihrer Gemälde. Kreativität äußert sich bei Morisot als ein Akt des Willens, der Öffnung und Hinwendung.648 645 »Jenseits von Gut und Böse«, Aph. 255, KSA 5, S. 201. 646 Babich, a. a. O., S. 163. 647 A.a.O., S. 164. Babich führt diese Gedanken weiter mit Bezug auf die Dichtung, die hier wegen des Vergleichs mit der Malerei des Impressionismus nicht aufgegriffen werden. 648 In dem Gemälde »Die Wiege« (1872) kommt diese Hinwendung im Bildnis ihrer Schwester in besonderer Weise zum Ausdruck. Schon früh – nach der ersten Ausstellung der Im-

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Für eine solche Würdigung weiblicher Kreativität hätte Nietzsche seine skeptische Haltung gegenüber der Emanzipation der Frauen überwinden und außer der Musik und der Dichtung auch die Malerei stärker in den Blick nehmen müssen. In »Also sprach Zarathustra« heißt es zwar, er wolle Mann und Weib, beide »tanztüchtig mit Kopf und Beinen,« aber »kriegstüchtig den Einen, gebärtüchtig das Andere.«649 Bei einer solchen Rollenzuschreibung folgt man gerne Nietzsches Äußerung, dass es nicht nötig sei für ihn Partei zu ergreifen, »im Gegenteil, eine Dosis Neugierde, wie von einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir.«650 In der vorliegenden Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie ist trotz aller Faszination versucht worden, keine Apologie oder Imitation zu betreiben, seine ärgerlichen und irritierenden Äußerungen nicht wegzuwischen und das Überschreiten, das er so meisterlich praktiziert hat, bezüglich seines zeitgebundenen und durch lebensgeschichtliche Erfahrungen verstärktes Urteil über die Rechte und die Schaffenskraft der Frauen auf ihn selbst anzuwenden. Zu den wenigen Malern, auf die Nietzsche ausdrücklich Bezug nimmt, gehört Claude Lorrain. Im Rückblick auf die Entstehungszeit des Vorworts zur »Götzendämmerung« bringt Nietzsche seine Begeisterung für Turin und den unvergleichlichen Herbst mit der Verwunderung zum Ausdruck, dass er nie etwas der Art auf Erden für möglich gehalten habe, » – ein Claude Lorrain ins Unendliche gedacht, jeder Tag von gleicher unbändiger Vollkommenheit. –«651 Hier verbindet Nietzsche das Erlebnis des Naturschönen mit dem Kunstschönen, wobei das Denken eine Fortsetzung, ein Überschreiten des sinnlich wahrgenommenen und im Gedächtnis bewahrten Bildes bewirkt. An Lorrains Gemälden hat ihn vermutlich die Weite der dargestellten Landschaften fasziniert, die pressionisten in Paris (1874) – wurde die lyrische Stimmung und die Intensität von Morisots Bildern gerühmt. Sie galt als die »impressionistischste« unter den Malern des Impressionismus und wurde – ungewöhnlich für die damalige Zeit – in der von Männern dominierten Kunst anerkannt, so dass es ihr gelang, sowohl ein bürgerliches als auch ein Leben als Künstlerin zu führen. In der Nachwelt wurde sie lange Zeit vergessen, erfährt aber in der Gegenwart die verdiente Wertschätzung durch große Ausstellungen in mehreren Städten in Deutschland, in den USA und 2012 in einer großen Retrospektive im Muse¦ Marmottan in Paris. Auch in der Literatur findet diese Wiederentdeckung ihren Widerhall. Unter dem Titel »Meisterinnen des Lichts«, hrsg. von Ingrid Pfeiffer, Ostfildern 2008, schreibt Alissa Walser in einer Erzählung über Morisots Unterricht gemeinsam mit ihrer Schwester bei Corot, dass er sie mitnahm in den Bois de Boulogne, zum Malen unter freiem Himmel. (Vgl. den Text »Ist ihr Leben, nicht ihr Bild«, a. a. O., S. 15 – 31.) Welche Bedeutung die Malerei für Berthe Morisot hatte, kommt am schönsten in ihrer Beteuerung zum Ausdruck, dass Malen für sie so wichtig sei wie das Atmen. 649 Zar. III, »Von alten und neuen Tafeln«, KSA 4, S. 264. Zu den Ausnahmen in Nietzsches Wertschätzung zählt Lou von Salom¦, der er in der oben bereits zitierten Würdigung in »Ecce homo« für »erstaunliche Inspiration und Größe« attestiert. 650 Friedrich Nietzsche, KSA 6. S. 365. 651 »Ecce homo« a. a. O., S. 120.

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eine Parallele zu Nietzsches offenen Horizonten bildet. Auch die in vielen Bildern dargestellten Hafenszenen dürften Nietzsche gefallen haben. Die Blicke auf das offene Meer decken sich mit seiner Vorliebe, in Italien und Frankreich an Küstenorten zu wohnen und mit der Metapher vom offenen Meer, mit der er seine Befreiung durch die Nachricht, dass der alte Gott tot ist, zum Ausdruck bringt. Der Mut zu seinen Aufbrüchen, die ihm trotz des geringen Echos auf seine Philosophie zu seinen Lebzeiten und seiner heftigen Erkrankungen gelungen sind, wird in dem folgenden Gedicht deutlich: Nach neuen Meeren Dorthin – w il l ich; und ich traue Mir fortan und meinem Griff. Offen liegt das Meer, in’s Blaue Treibt mein Genueser Schiff. Alles glänzt mir neu und neuer, Mittag schläft auf Raum und Zeit –: Nur dein Auge – ungeheuer Blickt mich’s an, Unendlichkeit! 652

Lorrain kann zwar nicht wie die Impressionisten oder einer ihrer großen Vorläufer Corot als Plein-air-Maler bezeichnet werden, da nicht sicher überliefert ist, ob er auch in Freien gemalt hat, aber seine immense Zahl an Zeichnungen ist größtenteils dort entstanden. Auch hat er intensive Naturstudien betrieben und sich in besonderer Weise mit Morgen- und Abenddämmerungen befasst. Der Kunsthistoriker Martin Sonnabend hat in einer Publikation anlässlich der Ausstellung »Claude Lorrain – Die verzauberte Landschaft« im Städel Museum in Frankfurt am Main (vom 3. Febr. bis 6. Mai 2012) zu dem Zeichnen im Freien angemerkt, dass Lorrain die Absicht hatte, »die flüchtigen Effekte des Wirklichen zu erfassen.« (S. 13) Auch wenn er sich großen Vorbildern (Poussin u. a.) verpflichtet gesehen habe, lasse sich doch schon früh seine besondere Begabung erkennen, »Naturphänomene mit subtilen malerischen Nuancen auszuarbeiten.« (S. 12) Im Laufe seiner Entwicklung habe sich der Schwerpunkt seines Arbeitens vom Äußeren ins Innere verschoben, vom Naturalistischen zum Idealen. »Die Natürlichkeit … wich einem Einarbeiten der beobachteten Dinge und Effekte in eine kunstvoll konstruierte Gesamtstruktur.« (S. 17)653 Lorrains 652 »Lieder des Prinzen Vogelfrei«, KSA 3, S. 649. 653 Diese Konstruktionen haben wohl Goethe, der seine Verehrung für Lorrain deutlich bekundete, zu dem etwas überspitzten, aber im Ganzen anerkennenden Urteil veranlasst: »Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis ins kleinste Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schönen Seele auszudrücken. Und das eben ist die wahre Idealität, die sich realer Mittel zu bedienen weiß, dass das erscheinende Wahre eine Täuschung hervorbringt, als sei es wirklich.« (zit. nach Sonnabend, a. a. O., S. 19)

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Kompositionen werden klassisch genannt, weil sie Ausgewogenheit und Ruhe ausströmen, »doch sie erschöpfen sich niemals in einem gefälligen Ausbreiten schöner Natur – sie enthalten immer Spannung und erzählen eine Geschichte.« (ebd.)654 Das sehr ausgeprägte Element des Narrativen mit häufigem Bezug auf die Antike traf sicher auf große Zustimmung bei Nietzsche. »Seehafen bei aufgehender Sonne« von Lorrain hätte Nietzsche auf Monets Sonnenaufgang bei Le Havre verweisen können, wahrscheinlich hätte er aber Lorrains Darstellung höher geschätzt, da in ihr antike Zeugnisse den Rahmen bilden. So wie Nietzsche fasziniert war von der Musik (»Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist frei macht ? den Gedanken Flügel gibt? dass man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird? – WAG 1, KSA 6, S. 14) haben ihn außer den eigenen Eindrücken in Hafenstädten und auf seiner Reise nach Sizilien womöglich Lorrains Darstellungen von mächtigen, erhaben wirkenden Segelschiffen zu der Aufforderung inspiriert: »Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!«655 In Hegels »Vorlesungen über Ästhetik« findet sich zur Frage nach der künstlerischen Produktivität die Anmerkung, dass es für eine bildliche und sinnliche Darstellung der Phantasie eines großen Geistes und Gemüts bedürfe. Diese Phantasie beruhe einerseits auf Naturgabe und Talent, »weil ihr Produzieren der Sinnlichkeit bedarf.«656 Andererseits sei die Kunstproduktion »geistiger, selbstbewusster Art,« um den Punkt zu erreichen, wo die eigentliche Kunst erst anfange, sei es notwendig »zu überschreiten.«657 Im Impressionismus ist dies wohl am stärksten bei Paul C¦zanne vertreten. Seine späten Werke markieren durch ihre Auflösung bzw. Zergliederung der Formen und durch die Rückführung der Wahrnehmung auf ihre Grundlagen deutliche Übergänge zur modernen Malerei. Er gilt als Vorläufer zahlreicher Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts. In seinen Reflexionen über malerische Wahrheit stellt er lapidar fest, dass für den Maler nur die Farben wahr seien. Ein Bild solle zunächst nichts darstellen als Farben. Da aber die Maler »keine Dummköpfe« seien, steckten auch Geschichten und Psychologie in ihren Werken. Der Maler müsse der Farbenlogik folgen, nicht der Logik des Gehirns, er müsse sich an die Augen verlieren. »Die Malerei ist eine Optik, der Inhalt unserer Kunst liegt primär in dem, 654 Nietzsche hat in seinen »Streifzügen eines Unzeitgemäßen« in der »Götzendämmerung« den »geborenen Maler« beschrieben: »Er arbeitet nie ›nach der Natur‹, – er überlässt seinem Instinkte, seiner camera obscura das Durchsieben und Ausdrücken des ›Falls‹, der ›Natur‹, des ›Erlebten‹.« ( KSA 6, S. 115.) 655 »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 289 (Au f d i e S c h i f f e ! ) KSA 3, S. 530. 656 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über Ästhetik I, a. a. O., S. 63. Das Element der Sinnlichkeit hat Nietzsche für die Philosophie insgesamt als wesentlich erachtet. Entsprechend ist sie in seinen Werken häufig thematisiert. 657 A.a.O., S. 64.

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was unsere Augen denken.«658 Mit der letzten Äußerung überschreitet C¦zanne trotz der erklärten Konzentration auf das Darstellen der Farben die Grenze zum Denken hin und vom Denken her. Seiner Malerei liegen bei aller Distanzierung von Theorien doch deutliche Absichten und eine Vorstellung davon zugrunde, wie er seine Bilder zu gestalten denkt. Die Verbindung von C¦zannes Malerei zum Denken hat in besonders feierlicher Weise Joachim Gasquet in einer Buchbesprechung zum Ausdruck gebracht: »Der Gedanke der Provence schlummert unter den Olivenhainen, die kräftige Landschaft umringt ihn, der Duft der Pinien strahlt ihn aus, die Sonne preist ihn… Doch eines Tages habe ich diesen Gedanken… plötzlich wahrgenommen, als ich die Gemälde C¦zannes betrachtete. Aus ihnen sprang er auf einmal in starker Ganzheit hervor, in seiner einzigartigen Pracht, die zugleich ländlich und mystisch ist, denn er herrscht in großartiger Wirklichkeit über das ganze Werk dieses von der Klarheit ergriffenen Malers.«659 Für C¦zanne blieb die Provence, wo er seine Kindheit verbrachte und wohin er nach seiner Zeit in Paris zurückkehrte, zeitlebens die entscheidende Kraftquelle. Bei seiner Suche nach Beständigkeit und Wahrheit bot ihm das intensive Licht des Südens eine entscheidende Voraussetzung. Inspiriert haben ihn auch Berge und Hügel, Seen und das Meer sowie die an die Hügel geschmiegten Dörfer. In einem Brief an Victor Choquet bekundete er : »Der Himmel und die unvergänglichen Dinge der Natur ziehen mich immer an und bieten mir Gelegenheit, mit Freude zu sehen.«660 Das Sehen war in C¦zannes Wahrnehmungsprozess das allein dem Auge überlassene Moment, während das Erkennen eine Verarbeitung der wahrgenommenen farbigen Muster einschloss. Die Realisierung seiner Malerei, bei der er seinem Motto »aller sur le motif« folgte, bezog sich zunächst auf das Naturmotiv in seiner unendlichen Vielfalt, aber zugleich auf die Empfindungen, die bei ihm ausgelöst wurden. In einem Brief an seinen Sohn Paul betont er, dass er als Maler vor der Natur »hellsichtiger« werde, aber die Realisierung seiner Empfindungen »immer sehr mühselig« sei.661 Die Zweifel, die C¦zanne bis in seine späte Schaffensperiode begleiteten, hat Merleau-Ponty in einem Aufsatz thematisiert und dabei die Nähe zur Philosophie herausgestellt: »Ein Maler wie C¦zanne, ein Künstler oder ein Philosoph müssen nicht bloß einen Gedanken fassen und ausdrücken, sie müssen auch noch die Erfahrungen wachrufen, die ihn in anderen Bewußtseinen auf einen fruchtbaren Boden fallen lassen.«662 658 Zit. aus Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Hamburg 1956, S. 17 f. 659 Zitiert aus Paul C¦zanne, Briefe, Zürich 1979, S. 246 f. 660 A.a.O., S. 212. 661 Zitiert aus Götz Adriani, Paul C¦zanne – Leben und Werk, München 2006, S. 54. 662 Maurice Merleau-Ponty, Der Zweifel C¦zannes, in: ders., Sinn und Nicht-Sinn, aus dem Franz. von Hans-Peter Gondek, München 2000, S. 25.

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Verglichen mit Nietzsche konnte sich C¦zanne größerer Beachtung und Wertschätzung bereits zu seinen Lebzeiten erfreuen, aber beiden war das Bewusstsein eigen, zu früh zu kommen.663 Eine Übereinstimmung besteht auch in dem entschiedenen Bezug beider auf die Diesseitigkeit. Die große Bedeutung C¦zannes für die Entwicklung der Malerei und die anstößige, aber unaufhaltsame Wirkung Nietzsches in der Philosophie bekunden sich darin, dass beide zu Wegbereitern wurden. Eine weitere deutliche Parallele zu Nietzsche sehe ich in C¦zannes unermüdlichen Versuchen, in denen er den Mont Sainte-Victoire aus unterschiedlichen Sichtweisen und in vielfältigen Darstellungsformen immer und immer wieder malte. Nietzsche hat seine Vorstellung vom »Übermenschen« in variierenden Texten Gestalt gewinnen lassen und seine Lehre von der »Ewigen Wiederkunft« in unterschiedlichen Zusammenhängen thematisiert. In einem frühen Entwurf hat er durch eine Aufgliederung dieser Lehre in mehrere Aspekte seinen Einfall bei Surlej verständlich zu machen versucht.664 Bei Nietzsche steht dem Bemühen, letztlich unverwechselbare und unvergängliche Werke zu schaffen, die Erkenntnis gegenüber, dass in der Kunst das Unvollkommene einen höheren Wert hat. Am Beispiel eines Dichters spricht Nietzsche von dem Vorteil der Unvollkommenheit, da der Schein erweckt werde, der Dichter habe »den Vorgeschmack einer Vision gehabt« und zurückgeblieben sei »eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision«, die ihn zur »ungeheuren Beredtsamkeit« führe. Den Zuhörern würden dadurch Flügeln gegeben, so dass sie selbst zu Dichtern und Sehern würden und dem »Urheber ihres Glücks« eine Bewunderung zollten, »als ob er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten geführt hätte.« Es komme dem Ruhm des Dichters zugute, »nicht eigentlich an’s Ziel gekommen zu sein.«665 Nietzsche geht es in seiner Philosophie einerseits um das Entlarven des Scheins, andererseits erzeugt er durch die künstlerische Gestaltung seiner Gedanken jenen »schönen Schein,«666 der das Dasein erträglich machen soll. Ihm ist es in besonderer Weise gelungen, in seine philosophischen Werke den Klang der Sprache mit einzuweben, so dass in seinen Versuchen der Welterklärung neue und andere Töne wahrnehmbar werden – als Provokation zu eigenem Denken und Bewerten. Seine Entwürfe lassen sich als Denkgemälde sehen, das in prosaischer und dichterischer Sprache die eigene Zeit und Unzeitgemäßes verbindet, so wie C¦zanne es mit seinen Farben und Formen zu gestalten wusste. 663 664 665 666

Vgl. dazu das Kapitel »Naturbetrachtung und Bildrealität« in Götz Adriani, a.a.O., S. 50– 56. Vgl. Friedrich Nietzsche, KSA 9, S. 494. »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 79, KSA 3, S. 434 f. In der »Geburt der Tragödie« hat er den schönen Schein als Voraussetzung aller bildenden Kunst bezeichnet (KSA Bd. 1, S. 26.), während er später – vermutlich im Zuge seiner Romantikkritik – diesen Ausdruck nicht mehr verwendet. Insofern ist er hier mit Vorsicht angeführt und nur mit »ironischem Widerstand« zu gebrauchen.

Von der Welt der Erscheinung zur Welt des schönen Scheins

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Das Faszinierende in Nietzsches Philosophie liegt darin, dass Begriffe und Metaphern bei ihm eine Komplementarität gefunden haben, in der die Unterschiede erhalten bleiben, aber auch die wechselseitige Bezogenheit deutlich wird. Insofern ist man immer aufs Neue dem Wechselspiel zwischen den getrennten und zugleich kommunizierenden Hemisphären667 von Philosophie und Kunst konfrontiert. Eine Differenz sehe ich darin, dass die Malerei den Vorzug hat, Bilder zum Abschluss zu bringen, somit ein Ganzes zu schaffen,668 während die Philosophie – Nietzsche gemäß – sich damit begnügen muss, dem »im Werden begriffenen Gemälde des Lebens« einige Facetten hinzuzufügen, die Licht auf neue Aspekte werfen und den Blick dafür öffnen, aus seinem Leben selbst ein Kunstwerk machen zu können – mit der beglückenden Erfahrung, für sich selbst ein Ende zu finden wissen. »Wer aber seinem Ziel nahe kommt, der tanzt«, so heißt es im Kapitel »Vom höheren Menschen« in »Also sprach Zarathustra.«669 Ob der Tanz zu einem apollinischen oder dionysischen Rausch führt, hängt laut Nietzsche davon ab, ob vor allem das Auge erregt ist, wie bei einem Maler, oder ob »das gesamte Affektsystem erregt und gesteigert« ist, so dass in einem dionysischen Zustand der höchste Grad von »Mitteilungskunst« erreicht wird.670 Wer der Orientierung nicht verlustig gehen will und sich lieber auf klare Begriffe konzentriert, könnte eher einen »bacchantischen Taumel« erleben, »an dem kein Glied nicht trunken ist«, aber das Ganze der Bewegung ist – gemäß Hegel – erst erreicht, wenn es sich das besondere Dasein gibt, »das sich erinnert, aufbewahrt, dessen Dasein das Wissen von sich selbst ist, wie dieses ebenso unmittelbar Dasein ist.«671 »Meister des ersten Ranges« sind für Nietzsche dadurch erkennbar, dass sie auf vollkommene Weise das Ende zu finden wissen. Aber sowohl für einen Gedanken als auch für eine Melodie bemerkt er einschränkend, dass sie gegen Ende hin unruhig werden, sie »fallen nicht in stolzem ruhigen Gleichmasse in’s Meer ab, wie zum Beispiel das Gebirge bei Porto fino – dort, wo die Bucht von Genua ihre Melodie zu Ende singt.«672

667 Das Bild der Hemisphären habe ich gewählt, um Nietzsches vorausschauende Vorstellung von einer höheren Kultur einzubeziehen, die dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern schaffen müsse, »einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden.« In einem Bereich solle die Kraftquelle, im anderen der Regulator liegen (»Menschliches, Allzumenschliches« I, S. 251). 668 Gleiches lässt sich für Musik und Dichtung – hier besonders für die Lyrik – behaupten. 669 »Also sprach Zarathustra«, KSA 4, S. 365. 670 »Götzendämmerung«, Str. 10, KSA 6, S. 117 f. 671 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., Vorrede, S. 46 f. 672 »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 281, KSA 3, S. 525.

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Abb. 4: Hafen von Porto fino in der Bucht von Genua

Überschreiten diskursiver Grenzen

Exkurs

Erinnerung und Freiheit Nietzsche hat zur Erinnerung – wie bei fast allen seinen Gedanken über philosophische Fragen – divergierende Seiten im Blick, die auch für das Urteil über ihn von Bedeutung sind. So sieht er im Rückblick, im Erinnern an die Entwicklung seines Geschmackes, eine große Veränderung: »Denn früher wollte man durch die Thür der Kunst gerade in das Element auf einen Augenblick hineintauchen, in welchem man nun dauernd lebt; damals träumte man sich damit in das Entzücken eines Besitzes, und nun besitzt man.«673 Das Erinnern verschafft Nietzsche eine gewisse Genugtuung vorangekommen zu sein, was sein Empfinden von Kunst betrifft. Einen Verlust in der allgemeinen Entwicklung sieht er darin, dass die »Kunst der Feste«674 abhanden gekommen sei. »Ehemals 673 »Morgenröte«, Aph. 531, KSA 3, S. 304. 674 Hans-Georg Gadamer hat in »Aktualität des Schönen«, Stuttgart 1977, Kunst unter den »Titeln« des Spiels, des Symbols und des Festes dargestellt. Fest und Kunst seien »aufs tiefste verwandt«, weil beide von der »erfüllten Zeit« geprägt seien (S. 55). In seinen Reflexionen orientiert er sich sehr stark an Kant und gibt ihm den Vorzug vor Hegels Ästhetik. Zu den anerkennenden Äußerungen über Hegel gehört sein Erstaunen darüber, dass man beim Rekonstruieren der Hegelschen Fragestellung zur »Vergangenheit der Kunst« feststellen müsse, wie sehr sie unsere eigenen Fragen an die Kunst vorformuliere (S.5). Auf Nietzsche nimmt Gadamer weniger direkt Bezug, er folgt eher der von Nietzsche inspirierten philosophischen Anthropologie Schelers, Plessners und Gehlens (S. 61). In der Nähe Adornos befindet er sich mit der Betonung der Mimesis: »In jedem Kunstwerk ist so etwas wie mimesis, wie imitatio. Mimesis heißt hier freilich nicht, was schon Vorbekanntes nachmachen, sondern etwas zur Darstellung bringen, so daß es auf diese Weise in sinnlicher Fülle gegenwärtig ist. Der antike Gebrauch dieses Wortes ist von dem Sternentanz her gewählt.« (S. 47.) Vgl. dazu auch Wolfgang Bock, Gegenwart und Zeitfluss – Überlegungen zur Jetztzeit mit Anleihen bei Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin, veröffentlicht in Sigrid Adorf u.a (Hg.), »Is it now? – Gegenwart in den Künsten«, Zürich 2007. Zur Verdeutlichung seiner Auffassung, dass Benjamins Zeitkonstruktion umgekehrt angelegt sei wie die von Nietzsche, der die Gegenwart abwerte, verweist er auf eine Besonderheit Benjamins, der die Jetztzeit nicht nur in einer »Kraft von außen » verfolge, sondern zugleich in einer Immanenz bemühe (S. 11). Zur Mimesis zitiert er die aporetische Formulierung

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Exkurs

waren alle Kunstwerke an der grossen Feststrasse der Menschheit aufgestellt, als Erinnerungszeichen und Denkmäler hoher und seliger Momente. Jetzt will man mit den Kunstwerken die armen Erschöpften und Kranken von der grossen Leidenstrasse der Menschheit bei Seite locken, für ein lüsternes Augenblickchen; man bietet ihnen einen kleinen Rausch und Wahnsinn an.«675 Anders als den hier kritisch bewerteten »kleinen Rausch« zählt er verschiedene Formen des Rausches, wozu auch der Rausch des Festes gehört, zur Vorbedingung für das künstlerische Schaffen. Dabei sei das Wesentliche das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. »Man bereichert in diesem Zustande alles aus seiner eigenen Fülle: was man sieht, was man will, man sieht es geschwellt, gedrängt, stark, überladen mit Kraft.«676 Was den Wahnsinn betrifft, hat Nietzsche, der selbst dort hineingeraten ist, schon vor den so genannten Wahnsinnszetteln sich mit einer seiner übersteigerten Selbsteinschätzungen in »Ecce homo« in die Nähe gerückt: »Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheueres anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenskollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.«677 Seine Einschätzung, Dynamit zu sein, hat sich durch entsprechende Wirkungen bis in die Gegenwart bestätigt, aber es fehlt die Bescheidenheit, zu der er in der »Morgenröte« den Philosophen rät. Die »Enträthsler der Welt« sollten keine »Tyrannenherrschaft des Geistes« anstreben, da man in der Erkenntnis nicht nach Art des Alexander oder des Kolumbus als »Einziger« zum Ziele kommen könne. Über der Tür des künftigen Denkers müsse stehen: »Was liegt an mir!«678 In besonders differenzierter Weise widmet sich Nietzsche dem »Zurückschauen« in der historischen Bildung. Wählt man ein knappes Zitat aus einer seiner mehrdimensionalen Betrachtungen, wie das leider – auch unter manchen Philosophen – gang und gäbe ist, kann man eine strikte Ablehnung des Erinnerns an vergangene Entwicklungen konstruieren. In seinen »Unzeitgemäßen Betrachtungen« bezeichnet Nietzsche die historische Bildung als »eine Art angeborener Grauhaarigkeit und die, welche ihr Zeichen von Kindheit her an sich tragen, müssen wohl zu dem instinctiven Glauben vom Alter der Menschheit gelangen: dem Alter aber gebührt jetzt eine greisenhafte Beschäftigung, nämlich Zurückschauen, Ueberrechnen, Abschließen, Trost suchen im Gewesenen,

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Valerys: »Das Schöne erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist.« (S.12.) »Die fröhliche Wissenschaft«. Aph. 89, KSA 3, S. 446. »Götzen-Dämmerung«, Str. 8 u. 9, KSA 6, S. 116 f. »Ecce homo«, a. a. O., S. 127. »Morgenröte«, Aph. 547, KSA 3, S. 517F. Vgl. dazu weitere Anmerkungen in Kap.II,1.

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durch Erinnerungen, kurz historische Bildung.«679 Dieses zugespitzte Urteil steht im Zusammenhang seiner Kritik am Einfluss einer christlich theologischen Vorstellung. Das gesteigerte historische »Richter-Bedürfnis« sehe sich befugt, das Weltgericht über alles Vergangene abzuhalten, und propagiere den Gedanken an ein nahes Weltende. Nietzsche sieht darin einen »lähmenden Glauben« an eine bereits »abwelkende Menschheit«, der die Menschen in dem memento mori gefangen halte. Das dem entgegen gerufene memento vivera der neueren Zeit sei noch ziemlich verschüchtert, es habe sich noch nicht ins Freie losreißen können, »ein tiefes Gefühl von Hoffnungslosigkeit ist übrig geblieben und hat jene historische Färbung angenommen, von der jetzt alle höhere Erziehung und Bildung schwermüthig umdunkelt ist.«680 Eine solche Verallgemeinerung, ein Vorgehen, das Nietzsche mit guten Gründen oft in Frage stellt, geht auch hier an der Realität vorbei, richtet sich wohl auch eher gegen einen ihm übermächtig erscheinenden Einfluss, gegen ein Übermaß an Historie. Bei seiner weiteren Argumentation greift er selbst Beispiele aus der Vergangenheit auf, macht folglich von seiner historischen Bildung Gebrauch. Wie in etlichen anderen Zusammenhängen bietet sich auch hier für ihn die Gelegenheit, seine Bewunderung für Goethe auszudrücken. Der »Belehrung«, dass Goethe mit 82 Jahren »ausgelebt habe«, setzt er entgegen, er würde »gern ein paar Jahre des ›ausgelebten‹ Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufte einhandeln, um noch einen Antheil an solchen Gesprächen zu haben, wie sie Goethe mit Eckermann führte.«681 Die Bewunderung und Verehrung Goethes nimmt auch in der Schrift von Walter Jens »Macht der Erinnerung«682 eine prominente Stelle ein. In dem Kapitel Kunst und Literatur bezieht er sich auf Beispiele für künstlerische Alterswerke. Nachdem er recht ausführlich die Kreativität im Alter bei Thomas Mann gewürdigt hat, widmet er Goethe einen Passus, der von höchster Anerkennung geprägt ist: »Nie, scheint mir, hat sich Alterskreativität so spielerisch, graziös und selbstverständlich artikulieren können wie in Goethes letzten Gedichten, mit ihrer Einheit von Reflexion und Bild, Beschreibung und symbolischer Erhöhung, der Unität von naturwissenschaftlicher Analyse und anschaulichchiffrierter Metaphysik. Gelassenheit, von Heiterkeit und Vertrauen bestimmtes Deuten der Welt, heißt das Stichwort, dem das Goethesche Spätwerk zugeordnet ist: kein großer effort, kein tiefsinniger Widerruf des Damals und Einst, sondern 679 »Unzeitgemäße Betrachtungen II« – Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 303. 680 A.a.O., S. 304. Nietzsches Gedanken über Bildung werden am Ende des Exkurses nochmals aufgegriffen. 681 A.a.O., S. 310: 682 Walter Jens, Macht der Erinnerung – Betrachtungen eines deutschen Europäers, Düsseldorf und Zürich 2001.

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Exkurs

ruhiges Ineinssetzen von Jugend und Alter als der Voraussetzung eines glücklichen Lebens.«683 Diese am Lebensglück orientierte Würdigung mit ihren Hinweisen auf das Spielerische, auf die Heiterkeit in Goethes Gedichten befindet sich in Übereinstimmung mit Nietzsches Maßstäben. Ebenso lässt sich das von Walter Jens angeführte Beispiel eines Gemäldes von Goya »Aun Aprendo«684 mit der nietzscheanischen Perspektive verbinden: Statt eines Festgelegtseins auf bloßes Zurückschauen ermöglicht auch das Alter noch den offenen Blick auf Zukünftiges, die Bereitschaft sich auf Neues einzulassen. Unter dem Stichwort »Der Philosoph und das Alter«685 zeigt Nietzsche in einer seiner umfangreicheren Aphorismen in der »Morgenröte« die Gefahren einer unangebrachten Verklärung des Alters auf. Den oft gebrauchten, mahnenden Spruch, man solle den Tag nicht vor dem Abend loben, kehrt er um: »Man thut nicht klug, den Abend über den Tag urtheilen zu lassen.« Als Begründung führt er an: »denn allzu oft wird da die Ermüdung zur Richterin über Kraft, Erfolg und guten Willen.«686 Nietzsche sieht eine Gefahr darin, dass die Pietät, die man einem alten Mann entgegenbringe, zumal wenn es ein Denker und Weiser sei, blind mache gegen die Alterung seines Geistes, denn nicht selten trete der alte Mann »in den Wahn einer großen moralischen Erneuerung und Wiedergeburt.«687 Alte Denker würden sich nur scheinbar über ihr Werk erheben, in Wahrheit werde es durch »eingemischte Schwärmereien, Süssigkeiten, Würzen, dichterische Nebel und mystische Lichter« verdorben. Als Beispiele führt er Platon und Auguste Comte an. Begründet sieht Nietzsche das Verhalten der alten Denker darin, dass sie die furchtbare Isolation des Alters nicht aushielten. Sie neigten dazu, aus sich eine bindende Institution für die künftige Menschheit zu machen.688 Besonders der zuletzt angeführte Aspekt macht deutlich, dass 683 A.a.O., S. 161. 684 A.a.O., S. 165. Das Bild stellt einen tief gebeugten Greis mit riesigem weißen Bart dar, dessen Augen voller List leuchten. Goya wolle damit zeigen, so Walter Jens, dass dieser Mann so schnell nicht aufgeben werde. »Ich lerne, ich reihe mich ein in die Phalanx von Ödipus und Sophokles, vom Rembrandtschen Saul, Archetypus aller Altersschwermütigen, vom Vater, der sich festhält am Nacken des Sohnes, vom Mann am Fenster der Dornburger Schlösser, von Adolph Menzel. der, die Einöde junger Schönheiten beklagend (nichts als Leere zwischen Ohr, Nase und Mund), auf der These beharrte, ›erst im Alter passierten im menschlichen Gesicht tausend interessante Dinge, mit merkwürdigen Faltenkombinationen.‹« 685 »Morgenröte« Aph. 542, KSA 3, S. 309 ff. 686 Ebd. 687 Ebd. 688 A.a.O., S.312. Das Bedauern dieser Entwicklung im Alter scheint bezogen auf Auguste Comte besonders groß zu sein, schließlich sieht Nietzsche in ihm jenen »grossen rechtschaffenen Franzosen, dem die Deutschen und Engländer dieses Jahrhunderts, als einem Umschlinger und Bändiger der strengen Wissenschaften, Keinen an die Seite zu stellen vermögen.« (ebd.) Eine neuere Würdigung Auguste Comtes, der der Soziologie ihren Namen gegeben und mit dem Positivismus eine philosophische Schule begründet hat, bietet

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Nietzsche damit die Weiterentwicklung des philosophischen Denkens gefährdet sieht, und Offenheit für die Zukunft ist auch hier sein entscheidendes Kriterium. Widmet man sich Hegels vielfältiger Verwendung des Begriffs der Erinnerung, gelangt man zu dem Eindruck, dass dieser bei ihm durchweg zentrale Stellen einnimmt689 und demgemäß von großer Bedeutung für angemessene Interpretationen ist. Der hohe Stellenwert resultiert m. E. aus dem ausgeprägten historischen Sinn und der von ihm mit den Denkern der Aufklärung geteilten Hoffnung, dass der Weltprozess in immer höheren Stufen zur größten Vollkommenheit gelangt. Dem für Hegels Philosophie typischen Gedanken des Aufbewahrens geht das Erinnern voraus. Der aus der Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes« bereits zitierte Passus über das Ganze der Bewegung, »das sich erinnert, aufbewahrt, dessen Dasein das Wissen von sich selbst ist, wie dieses ebenso unmittelbar Dasein ist,« wird am Ende dieses Werkes zu seinem Ziel, auf die höchste Stufe des Geistes im absoluten Wissen geführt. »Der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewissheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur – aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.«690 die ausgewogene Darstellung von Wolf Lepenies, Auguste Comte – Die Macht der Zeichen, München 2010. 689 In der Schrift »Hegels Begriff der Erinnerung – Subjektivität, Logik, Geschichte –« von Thamar Rossi Leidi (Wiener Arbeiten zur Philosophie – Band 3), Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2009,wird einleitend ebenfalls darauf verwiesen, dass bei Hegel der Begriff der Erinnerung an zentralen Stellen stehe und der »unerlässliche Schlüssel« der betreffenden Stellen in der Logik, der Phänomenologie des Geistes und der Geschichtsphilosophie sei. 690 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 591. In einem aufschlussreichen Vortrag über »Religion und absolutes Wissen – Der Übergang von der Vorstellung in den Begriff,« abgedruckt in dem bereits zitierten »kooperativen Kommentar« zu Hegels Phänomenologie des Geistes, nimmt Klaus Vieweg weniger den Aspekt der Erinnerung in den Blick, er thematisiert Hegels wichtige Begriffe des Absoluten und der Einheit. An dem »neuralgischen Punkt« der Versöhnung, der »Herstellung einer wirklichen, vollständigen, gegenwärtigen inhaltlichen Einheit des Einzelnen mit dem Allgemeinen« lasse sich das »Schlüsselargument« Hegels verdeutlichen: »An der Unmittelbarkeit der Vorstellung selbst tritt die Vermitteltheit hervor, somit das Verweisen im Sinne eines Vorwegweisens auf die Notwendigkeit des Übersetzens ins begreifende Wissen, im Sinne des Weges vom Ergreifen zum Begreifen. Die Versöhnung des Geistes mit sich selbst drückt ein Geschehen aus, in

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Auch in den »Vorlesungen über die Ästhetik« taucht wiederholt das Element des Erinnerns auf. Bevor Hegel die Stufen der »Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen«691 entwirft, widmet er sich u. a. der Frage nach der »Äußerlichkeit des idealen Kunstwerkes im Verhältnis zum Publikum.«692 Da die Kunst nicht der Verallgemeinerung des Stoffs entbehren könne, biete das Zurückweichen in die Vergangenheit den großen Vorteil, dass auch das »Hinausrücken aus der Unmittelbarkeit und Gegenwart,« durch die Erinnerung jene Verallgemeinerung zustande gebracht werde.693 Hegel setzt sich mit unterschiedlichen Formen der Vereinseitigung auseinander, um sich am Schluss der echten Originalität des Künstlers und des Kunstwerkes widmen zu können. Einen falschen Umgang mit der Vergangenheit sieht er zum Beispiel in dem so genannten guten Geschmack der Franzosen. Voltaire habe zu Unrecht gesagt, dass die Franzosen die Werke der Alten verbessert hätten. Nach Hegels Urteil haben sie die Werke »nur nationalisiert, und bei dieser Verwandlung verfahren sie mit allem Fremdartigen und Individuellen um so unendlich ekler, als ihr Geschmack eine vollkommen hofmäßige soziale Bildung, Regelmäßigkeit und konventionelle Allgemeinheit des Sinnes und der Darstellung forderte.«694 Hegels Kritik richtet sich gegen eine Subjektivität, die aus dem Hochmut der Bildung hervorgehe. Voltaire hat bekanntlich diese Haltung gegenüber den Deutschen häufig demonstriert, so dass Hegels Verärgerung über ihn verständlich ist. Nicht überzeugend ist sein Einwand gegen die Nationalisierung, da er für den Umgang mit dem historischen Material in der Kunst fordert, es zu dem »Unsrigen« zu machen. Dies werde nur erreicht, »wenn es der Nation angehört, der wir angehören.«695 Am Beispiel des Nibelungenliedes macht Hegel deutlich, dass die Burgunder und König Etzel, obwohl das Geschehen auf »einheimischem

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welchem das göttliche Wesen, das Allgemeine sich besondert, sich vereinzelt und in dessen Tod die Vereinigung des göttlichen Einzelnen mit dem Allgemeinen erfolgt«(S. 597). Vieweg verweist auf zwei Formen der Versöhnung: »Die Versöhnung des Vermittlers liege in der Ferne der Vergangenheit, die Versöhnung des einzelnen Menschen wird in die Zukunft verlegt, an den Jüngsten Tag.« A.a.O., S. 598. Zu der Verlegung der Versöhnung in die Zukunft gibt es eine gewisse Parallele in Nietzsches Vorstellungen vom Übermenschen. Die Höherentwicklung des Menschen, der Weg zur erweiterten Selbstbestimmung bzw. -entfaltung, sieht Nietzsche als ein Künftiges, das weitere Schritte der Befreiung erfordert. Auch der als Zitat aus Schillers Gedicht »Die Freundschaft« von Hegel zum Abschluss seiner Phänomenologie verwendete Begriff der Unendlichkeit hat in dem Gedicht Nietzsches »Nach neuen Meeren« eine Entsprechung: »Nur d e i n Auge – ungeheuer/ Blickt mich’s an, Unendlichkeit.« Neben aller Hoffnung, Gewissheit und Ruhe (»Mittag schläft auf Raum und Zeit«) bleibt die Unendlichkeit als etwas Beängstigendes, Bedrohliches, das weder durch Religion noch durch Kunst überwindbar – hegelisch gesprochen – aufhebbar wird. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke 13, S. 389 – 543. A.a.O., S. 341 – 362. A.a.O., S. 342. A.a.O., S. 345. A.a.O., S. 352.

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Boden« angesiedelt sei, doch von den »vaterländischen Interessen« abgeschnitten seien.696 Was die Wiedergabe fremder Eigenheiten betrifft, hätten sich die Deutschen besonders hervorgetan, gegenüber den Franzosen seien sie die »sorgsamsten Archivare« und es fehle ihnen nicht an Geduld, sich »mit saurer Mühe durch Gelehrsamkeit in die Denk- und Anschauungsweise fremder Nationen und entlegener Jahrhunderte hineinzustudieren.«697 Das mache die Deutschen in der Kunst tolerant gegen fremde »Sonderheiten«, aber auch »allzu peinlich in der Forderung genauester Richtigkeit solcher unwesentlicher Außendinge.«698 Ein Maßstab Hegels bezüglich historischer Stoffe ist die unmittelbare Verständlichkeit. Kunstwerke seien nicht für das Studium und die Gelehrsamkeit zu verfertigen, wir müssten darin »heimisch zu werden vermögen.« Die Kunst könne sich zwar nicht auf einheimische Stoffe beschränken, da die Völker miteinander in Berührung kämen, aber in der Darstellung müsse die geschichtliche Außenseite zur »unbedeutenden Nebensache für das Menschliche, Allgemeine« werden.699 Dem Künstler spricht Hegel zu, dass er die Wahrheit kenne und deshalb die erhobene Forderung nach Natürlichkeit bei der Darstellung historischer Stoffe zu »Schiefheiten« führe. Für die Kunst ist seiner Meinung nach die Verletzung der so genannten Natürlichkeit ein »notwendiger Anachronismus.«700 Anders stelle sich die Sache dar, wenn durch spätere Entwicklungen die Anschauungen und Vorstellungen auf eine Zeit oder Nation übertragen werden, deren ganze Weltanschauung den neuen Vorstellungen widerspreche. Die christliche Religion habe »Kategorien des Sittlichen zur Folge gehabt, die den Griechen noch fremd waren.« Gewissensbisse und Reue gehören – laut Hegel – »erst der moralischen Ausbildung der modernen Zeit an.«701 Damit das Kunstwerk »an und für sich objektiv« ist und unsere »wahre Subjektivität« ausspricht, so dass es zu unserem »Eigentum« wird, müssen wir Hegel gemäß bei fern liegenden Kunstwerken eine Versöhnung suchen.702 Das führt meines Erachtens zu dem Bestreben, den in der Kunst bedeutungsvollen »Sta696 697 698 699 700 701

A.a.O., S. 353. A.a.O., S. 348. Ebd. A.a.O., S. 355. A.a.O,. S. 359. A.a.O., S. 360. Folgt man der hier von Hegel betonten Prägung der Moderne durch die christliche Religion, könnte man in der von Allen Speight zitierten »noch andauernden Debatte, ob wir Hegel als eine Art Neo-Klassizisten oder doch lieber als einen Modernisten in der Philosophie der Kunst charakterisieren sollen, eher als Modernisten sehen. Allen Speight hat in seiner Untersuchung »Was ist das Schöne der schönen Seele? – Hegel und die ästhetischen Implikationen der letzten Entwicklungsstufen des Geistes« ( Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, a. a. O., S. 504 – 519) eine deutliche Parallele zur Kunstauffassung in Hegels Phänomenologie und in den Vorlesungen über die Ästhetik aufgezeigt. 702 A.a.O., S. 361.

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chel des Fremden« zu entfernen, und dient der Erfüllung des in der Einleitung genannten Zweckes, »als freies Subjekt auch der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen.«703 Bernhard Waldenfels hat in seiner Schrift »Der Stachel des Fremden«704 den Geltungsansprüchen, die durch Instanzen abgedeckt werden, auf die man sich beruft, Erfahrungsansprüche gegenüber gestellt, die auftreten, »indem sie Antworten hervorrufen, provozieren.« Diese Ansprüche müssten von einem Fremden ausgehen, »das seine unerhörten Ansprüche laut werden lässt, indem es sich innerhalb, aber zugleich außerhalb der jeweiligen Ordnung regt, angesiedelt an einem unwiderruflichen Draußen, das sich gegen jede Eingemeindung wehrt.« Waldenfels widersteht der Versuchung, »die Vernunft mit dem Bade auszuschütten«, die sich angesichts einer verengten Rationalität einstelle. So hält er den Umschlag der universalen Aneignung in eine d¦possession, wie sie der »Hegel-Rebell« Bataille als bloße Umkehrung betreibe, für verfehlt, da sie alle Mängel in ihr spiegelbildliches Gegenteil verkehrten. Den geeigneten Ausgangspunkt für eine ernsthafte Ethnologie sieht er im d¦tachement und d¦paysement von Levi Strauss,705 da es keine Flucht vor sich selbst, sondern einen »Umweg durch das Fremde« bedeute, »der nie wieder zu einem rein Eigenen zurückführen wird. Ich bleibe ein anderer. Was sich von daher empfiehlt, ist ein Agieren und Denken auf der Grenze.«706 Für den Austausch zwischen Eigenkultur und Fremdkultur hat Waldenfels in kritischer Anlehnung an Foucault die Begriffe Inter- und Transdiskursivität entwickelt. Wenn die Interdiskursivität die Andersheit einer fremden Ordnung erreicht hat, die aber niemals völlig anzueignen ist, müsse zur Steigerung des Eigengewichts der fremden Ordnung die Transdiskursivität hinzukommen, da sich dadurch die Möglichkeit einer Überschreitung bestehender Ordnungen böte.707 In seinen kunstphänomenologischen Betrachtungen über »Das Rätsel der Sichtbarkeit« hebt Waldenfels hervor, dass die Krise von Vernunft, Subjekt und Gesellschaft auch an der Kunst nicht vorübergehe, sie werde gerade dort auf spezifische Weise sichtbar. Die Kunst habe auf ihre Weise teil am Weltbezug, »nicht anders als Erkennen und Handeln; für ein ästhetisches Refugium bleibt in dieser Welt kein Raum.«708 Ob man selbst der Kunst eine exponierte Möglichkeit neben Erkennen und Handeln 703 A.a.O., S. 51. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. I. 704 Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden; Frankfurt am Main, 1. Aufl. 1990, Vorwort S. 7. 705 Dazu zitiert Waldenfels (a. a. O., S.63) aus Levi-Strauss »Strukturale Anthropologie«: »Wenn man die Menschen erforschen will, muß man sich in seiner eigenen Umgebung umsehen, will man jedoch den Menschen erforschen, so muß man lernen, seinen Blick in die Ferne zu lenken …« 706 A.a.O., S. 64. 707 A.a.O., S. 71. 708 A.a.O., S. 204.

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einräumt, wie es in Nietzsches Welt- und Selbstbezug konkretisiert ist, hängt meines Erachtens von der eigenen Orientierung ab, lässt sich aber – wie stark gewichtet auch immer – als Bereicherung in die eigene Lebensgestaltung integrieren. Bei Walter Benjamin ist die Kunst durch sein literarisches Schaffen in ausgeprägter Weise in die philosophische Reflexion einbezogen, so dass er von manchen Kritikern – ähnlich dem Urteil über Nietzsche – eher als Literat, denn als Philosoph angesehen wird. Das Phänomen des Erinnerns gewinnt bei Benjamin eine sowohl von Hegel als auch von Nietzsche abweichende Bedeutung. Wolfgang Bock709 hat die Besonderheiten von Benjamins Verständnis der Erinnerung in Abgrenzung von ähnlichen Positionen deutlich herausgestellt. Benjamin habe die komplexe Argumentation in Freuds Gedächtnistheorie »strategisch zugespitzt«, um die zunehmende Trennung von Wahrnehmungen zu zeigen, die sich auf die äußere Welt beziehen von denen, die nach innen gerichtet seien. Die Zunahme äußerer Reize – besonders in den Großstädten – bewirke eine Verkümmerung der bewussten Wahrnehmung nach innen und damit auch der Erinnerung.710 Dem aus dem Erfahrungsverlust resultierenden brüchig Werden der Subjektivität stelle aber Benjamin nicht einfach ein »Konzept der Antisubjektivität« gegenüber. Zu berücksichtigen ist laut Wolfgang Bock, »dass Benjamin die Idee der Kulte und der Kollektive nicht allein negativ als unterdrückende und verdummende Religion und als Hetzmasse denkt, die alle Individualität zu vernichten trachtet. Sondern hier liegt für ihn zumindest der Keim eines Versuches des ästhetischen Individuums vor, als Reaktion auf die Verschiebung der Kommunikationsverhältnisse diesen Rahmen neu zu gestalten und darzustellen.«711 Als Ausweg aus dem Dilemma des Kulturverlustes ergeben sich für Benjamin neue Möglichkeiten. Im Kunstwerk werde das Wissen gestisch gebunden und somit ein Abtrennen von Seele und Intellekt verhindert. Die Struktur des Kunstwerkes komme der veränderten äußeren Wirklichkeit so entgegen, »dass diese einer neuen Form von Ästhetik gehorcht.«712 Wolfgang Bock grenzt die Auffassung Benjamins mit differenzierter Begründung deutlich von der Lebensphilosophie ab. Eine gewisse Nähe zu Nietzsche, den man meines Erachtens nur bedingt, eher mit erheblichem Widerstand, zu den Lebensphilosophen rechnen kann, sehe ich in dem zur Integration der Chocks von 709 Wolfgang Bock in einer thematisch breit gefächerten Vortragsreihe in Rio de Janeiro, veröffentlicht unter dem schönen Titel »Vom Blickwispern der Dinge – Sprache, Erinnerung und Ästhetik bei Walter Benjamin,« Würzburg 2010. 710 A.a.O., S. 43 f. 711 A.a.O., S .45. Im Anschluss daran entfaltet Wolfgang Bock drei Begriffe, die Benjamin in diesem Zusammenhang neu bestimmt: Gemeinschaft, Kollektiv und kollektives Unbewusstes. 712 A.a.O., S. 46.

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Baudelaire in den Stil Benjamins angeführten Moment der »Einbindung auch der taktilen und körperlichen Sphäre beim Denken und Schreiben.«713 Zu Benjamins Reflexionen über eine notwendige Zerstörung von Kultur verweist Wolfgang Bock auf den zweiten Baudelairetext, in dem die Rolle der Tradition daraufhin überprüft werde, welcher Ballast abgeworfen werden könnte. Der objektive Ironiebegriff der Romantiker untersuche Gegenstände danach, »ob sie zur Destruktion ersonnen sind, damit in der Auseinandersetzung etwas Neues entstünde.«714 Zur Rolle des Lachens in diesem Text zieht Bock eine Parallele zu der »leichten Form« des Lachens am Ende der Hegelschen Ästhetik. Es nehme in seiner Freiheit leicht Abschied von Dingen, die man nicht mehr brauche. »Als oberstes dieser Dinge finden wir verstaubte Bildungsgüter.«715 Beim Entwurf seiner künftigen Philosophie entwickelt Benjamin in der Kritik an Kant einen umfassenderen Erfahrungsbegriff. Zur Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis wird – so Wolfgang Bock – die »immanente Erfahrung«, sie sei ein »apriorisches Kontinuum – ein Grund, von dem aus erst die Erkenntnisfigur hervortreten kann.«716 In Benjamins Auseinandersetzung mit Baudelaire gewinnt die Großstadt Paris als Erfahrungsraum besonderes Gewicht. Für Nietzsche blieb wegen der Berufung als Professor nach Basel der Jugendtraum unerfüllt, mit seinem Freund Erwin Rohde als »philosophische Flaneurs mit ernstem Auge und lächelnder Lippe durch den Pariser ›Strom‹ zu schreiten.«717 Wie sehr Nietzsches Philosophie, u. a. seine Lehre von der Ewigen Wiederkehr, bis in die Gegenwart – auch in Bezug auf Paris – von großer Wirkung ist, wird in dem erst kürzlich ins Deutsche übertragenen Roman »Im Caf¦ der verlorenen Jugend«718 von Patrick Modiano deutlich. In den aus verschiedenen Perspektiven erzählten Begebenheiten mit der rätselhaft auftretenden und bleibenden Schlüsselperson Loukie wird zum einen Paris wie sonst nirgends »so wehmütig, so schön und so französisch besungen,«719 zum anderen tauchen unter den literarischen Bezügen, die für die Begegnungen im Caf¦ von Bedeutung sind, beziehungsreiche Titel auf wie Der verlorene Horizont oder Reise in die Unendlichkeit. Mehrmals angeführt wird Nietzsches »Ewige Wiederkehr«. So 713 A.a.O., S. 48. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. IV über die Komplementarität von Denken und Leiblichkeit bei Nietzsche. 714 A.a.O., S. 107. 715 Ebd. 716 A.a.O., S. 120. 717 »Nachgelassene Fragmente 1869 – 1874«, KSA 7, S. 358. Vgl. weitere Angaben unter Kap. I.1: »Nietzsches Denkweg«. 718 Patrick Modiano, Im Caf¦ der verlorenen Jugend – Roman – Aus dem Französischen von Elisabeth Edl, München 2012. (Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Dans le Caf¦ de la jeunesse perdue bei Gallimard in Paris.) 719 So Alex Capus, abgedruckt auf dem hinteren Klappentext.

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verbindet Loukie mit ihren Gedanken an den angehenden Schriftsteller Roland, in den sie sich verliebt, die Erwartung, dass er, »der so oft von der Ewigen Wiederkehr spricht« (S. 71), sie verstehen und für sie alles wieder von vorne anfangen würde. Für Loukies Lebenssituation entwirft Modiano einen Spannungsbogen zwischen der Erfahrung von unüberwindlichen Grenzen (S. 87) und der Hoffnung, dass für sie sich alles ändern würde (S. 98), nachdem sie nach der Einnahme von Drogen »ein Gefühl der Frische und Leichtigkeit« durchströmte (S. 97). Aber obwohl das Leben nach Erinnerung an Flucht und Weglaufen wieder die »Oberhand« zu gewinnen scheint (S. 101) und neue Bekanntschaften ihre Einsamkeit hätten beenden können, steht am Ende der Sturz in den Tod, nachdem ihr gerade noch Zeit bleibt, »ein paar Worte zu sagen, als rede sie zu sich selbst, um sich Mut zu machen: ›Es ist so weit. Lass dich fallen‹.« (S. 158). In einer neueren Biographie über Nietzsche mit dem treffenden Untertitel »Wanderer und freier Geist«720 weist die Autorin Sabine Appel darauf hin, dass die Vorstellung eines zyklischen Zeitlaufs kulturgeschichtlich nichts Neues sei, und führt aus der Geschichte der Philosophie die Stoiker und vor allem die Pythagoreer an, in deren Kosmologie sich das gesamte Weltgeschehen nach Ablauf eines ›Großen Jahres‹, d. h. nach dem Erreichen der Anfangskonstellation aller Gestirne, wiederhole.721 Zu Nietzsches Entwurf der »Ewigen Wiederkehr« geht sie im Zusammenhang der Entstehungszeit auf die Probleme ein, die Nietzsche damit hatte, seinen großen Gedanken verständlich zu machen. Dabei räumt sie mit der Fehlinformation auf, dass Nietzsche erst nachträglich in naturwissenschaftlichen Schriften eine Bestätigung seines Einfalls bei Surlej im August 1881 gefunden hätte. Die Hauptschrift des Heilbronner Arztes Julius Robert Mayer »Die Mechanik der Wärme« hatte Nietzsche schon im April 1881 gelesen. Sie könnte nach Einschätzung von Sabine Appel »eine systematische Vorbereitung und Einstimmung« gebildet haben.722 Trotz der inzwischen sehr umfangreichen Literatur zur »Ewigen Wiederkehr« mit unterschiedlichen Wertungen, von der Betonung der naturwissenschaftlichen Grundlagen bis zur Einschätzung als Rückkehr zum Mythos, bleiben Fragen offen und die rätselhaften Seiten nicht völlig auflösbar.723 Beachtet werden sollte, dass der Gedanke 720 721 722 723

Sabine Appel, Friedrich Nietzsche – Wanderer und freier Geist, München 2011. A.a.O., S. 187. A.a.O., S. 189. Einen guten Einblick in die unterschiedlichen Positionen bietet die Schrift von Volker Gerhard, Pathos und Distanz, Stuttgart 1988, auf die viele Nietzsche-Interpreten Bezug nehmen. Nicht nachvollziehbar ist allerdings eines seiner Urteile im Schlusskapitel »Hundert Jahre nach Zarathustra – Zur philosophischen Aktualität Nietzsches«: »Nietzsche interessiert heute kaum noch als Künstler.«(S. 190.) Überzeugender scheint mir dazu die oben angeführte Position von Rüdiger Görner, in der gerade diese Seite Nietzsches besonders betont wird.

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von der Ewigen Wiederkunft, wie Nietzsche ihn auch bezeichnet, trotz aller Abgründigkeit und Bedrängnis (»die Frage bei Allem und Jedem ›willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?‹ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!«) für Nietzsche auch das beglückende Moment enthält, sich selber und dem Leben gut zu werden, »um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser ewigen Bestätigung und Besiegelung? –«724 Zur Frage nach der Bedeutung der Kunst in Nietzsches Philosophie ist bei Sabine Appel im Unterschied zu der hier vertretenen Auffassung, dass es ihm vor allem um die Möglichkeit, die Grausamkeit des Lebens zu ertragen, und um die Gestaltung des eigenen Lebens geht, der Gedanke der Erlösung in den Mittelpunkt gerückt. Dieser Begriff taucht bei Nietzsche auch auf, so in dem von ihr zitierten »Fazit eines Gekreuzigten«. In diesem Nachlass-Fragment aus dem Frühsommer 1888 führt Nietzsche die Kunst als Erlösung des Erkennenden, des Handelnden und des Leidenden an und spricht von einem »Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.«725 In der Götzendämmerung hat Nietzsche dem Erlösungsgedanken Schopenhauers heftig widersprochen. Schopenhauer spreche von der Sch ö nheit »mit einer schwermüthigen Gluth«, er preise sie als »Erlöserin« vom ›Brennpunkte des Willens‹, von der Geschlechtlichkeit.« Nietzsche nennt Schopenhauer einen »wunderlichen Heiligen«, dem die Natur und in gleicher Weise auch ein Philosoph widerspreche. Die Frage »Wozu gibt es überhaupt Schönheit in Ton, Farbe, Duft, rhythmischer Bewegung in der Natur? was t reibt die Schönheit heraus?« habe der »göttliche Plato«, an dem er sonst häufig Kritik übt, treffend beantwortet, da für ihn »alle Schönheit zur Zeugung reize.«726 Die Götzendämmerung fällt in das gleiche Jahr 1888 wie das von Sabine Appel zitierte Nachlass-Fragment, hat aber als von Nietzsche autorisierte Schrift größeres Gewicht. Auch dürfte das von vielen Interpreten – wie Volker Gerhard, Gianni Vattimo u. a. – beklagte Manko, dass es Nietzsche mit der Terminologie nicht immer so genau nehme, hier eine gewisse Rolle spielen. Setzt man die einleitende Kernthese des Nachlass-Fragmentes, dass die Kunst »die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens« sei, in Parallele zu Nietzsches Kritik an der L’art pour l’art-Auffassung in der Götzendämmerung, wird die Übereinstimmung bis in die Formulierung deutlich: » – Die Kunst ist das große Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l’art pour l’art verstehen.«727 Der Blick auf die Krankheitsphase nach dem 724 725 726 727

»Die fröhliche Wissenschaft«, a. a. O., Aph. 341, KSA 3, S. 570. Zit. bei Sabine Appel a. a. O., S.236. »Götzendämmerung«, Str. 22, KSA 6, S. 125. A.a.O., S. 126.

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Turiner Zusammenbruch im Jahr 1889, in der Nietzsche sich in Naumburg von seiner Mutter aus der Bibel vorlesen ließ und er selbst gelegentlich auf dem Klavier Choräle spielte, hat Sabine Appel wohl zu der Interpretation verleitet, dass Nietzsche bereits in seiner geistig noch wachen Zeit Erlösung religiös verstanden habe.728 Solange sein Wille ungebrochen war, hat ihn das Bestreben nach Befreiung von religiöser Orientierung und Bindung bestimmt. Dazu bot ihm die Kunst im eigenen Schaffen und im Rezipieren die besten Voraussetzungen.729 Nun einige Gedanken zum zweiten Begriff des Exkurses: zur Freiheit. Die große Bedeutung der Freiheit in Nietzsches und Hegels Philosophie erlaubt ein weiteres Mal – wie bei vielen der bisher erörterten Themen und Begriffe – beider Auffassung in Beziehung zu setzen. Für Hegel ist Freiheit »das Innerste, und aus ihr ist es, daß der ganze Bau der geistigen Welt hervorsteigt.«730 Mit der Orientierung an der geistigen Welt benennt Hegel einen Wesenszug seiner Philosophie. Dass der Bezug auf das Geistige sehr konkrete Momente einschließt, ist bei Hegel-Kritikern meist nicht beachtet worden, in kenntnisreichen Interpretationen dagegen deutlich hervorgehoben. So hat Klaus Vieweg in einer fundierten Kommentierung zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts klargestellt, dass Geist »Hervorbringung seiner Freiheit« ist, »indem er sich von allem, was seinem Begriffe nicht angemessen ist, trennt, sich davon löst und die Welt in einer seinem Begriffe angemessenen Weise formiert, umbildet, nach seiner Maßgabe Formationen konstituiert, in denen er zu Hause, bei sich selbst und damit frei sein kann.«731 Vieweg beklagt, dass Hegels Sicht nur eine marginale Rolle innehabe, obwohl Hegel »den wohl theoretisch fundiertesten Begriff moderner Freiheit konzipiert hat.«732 Die Modernität des Freiheitsbegriffs wird 728 Vg. Sabine Appel, a. a. O., S. 236 f. Zumindest rückt Sabine Appel beides in einen engen Zusammenhang. 729 Auch im Jahr 1888 berichtet Nietzsche in Briefen an seine Freunde von »glänzenden Aufführungen« der Carmen-Oper, die er in Turin erlebt. (Vgl. Karl Schlechta, NietzscheChronik, a. a. O., S. 108.). Seine Begeisterung für Bizet hat ihn in seiner Abwendung von Wagner bestärkt. 730 Hegel, Philosophie des Rechts – nach der Vorlesungsnachschrift von D. F. Strauß 1831 mit Hegels Vorlesungsnotizen, hrsg. von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart –Bad-Canstatt 1974, S. 925. Zit. nach Klaus Vieweg, ›Wer sich nicht gedacht hat, ist nicht frei‹ – Bildung und Freiheit in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Bildung zur Freiheit – Zeitdiagnose und Theorie im Anschluss an Hegel, Hrsg. von Eberhard Eichenhofer und Klaus Vieweg, Kritisches Jahrbuch der Philosophie Bd. 13, Würzburg 2010, S. 9. 731 Klaus Vieweg, a. a. O., S. 9. 732 Im Rahmen eines Forschungsvorhabens der transdisziplinären Forschungsgruppe »Bildung zur Freiheit – Zeitdiagnose und Theorie im Anschluss an Hegel« 2010 in Jena, veröffentlicht in: Klaus Vieweg, Das Recht der Besonderheit des Subjekts und die ›Reiche der Besonderheit‹. Zur Modernität von Hegels Begriff der Freiheit, in: Bildung und Freiheit – Ein vergessener Zusammenhang. Hrsg. von Klaus Vieweg, Michael Winkler, Paderborn

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in Viewegs Darstellung auf zwei bei Hegel untrennbaren Ebenen entfaltet. Zum einen im Nachweis des »intrinsischen Zusammenhangs« von Freiheit und Wissen, Freiheit und Bildung, zum anderen im klaren Bezug auf das logische Fundament praktischer Philosophie. Den von Hegel in der Rechtsphilosophie konzipierten Stufengang verdeutlicht Vieweg u. a. an den Gestalten der Moralität und der bürgerlichen Gesellschaft. Mit Moralität bezeichne Hegel die Referenz des subjektiv-besonderen auf den allgemeinen Willen. Dies wird deutlich in dem Zitat aus der Enzyklopädie: »In der Existenz ist das Subjekt nicht mehr unmittelbar qualitativ, sondern im Verhältnis und Zusammenhang mit einem Anderen, mit einer äußeren Welt.«»733 Die bürgerliche Gesellschaft ist bei Hegel als Sphäre zwischen Familie und Staat angesiedelt und wird u. a. als »das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit« bezeichnet. Für das Gewinnen subjektiver Freiheit ist – so Vieweg – das Sich-Selbst-Entfremden des Sittlichen unverrückbar. »Dieses eigentümliche Reich der Besonderheit in Gestalt des zerrissenen, entfremdeten Sittlichen besitzt transitorische Relevanz, bildet einen unabdingbaren Durchgangspunkt in der Entfaltung moderner Sittlichkeit hin zu einem Staat der Freiheit.«734 Die für Hegel wichtige Stufe des Staates als »Wirklichkeit der sittlichen Idee«, als »das an und für sich Vernünftige« wird in Fehlinterpretationen als eine Staatsvergottung angesehen. Hegel hat zu $ 258, in dem er das Verdienst Rousseaus anführt, dass es das Denken selbst ist, nämlich den Willen als Prinzip des Staates aufgestellt zu haben, in einem ausführlichen Zusatz betont, dass der Staat kein Kunstwerk sei, sondern in der Welt stehe, »somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums.« Davon leitet Hegel das Recht auf Widerstand ab und führt in weiteren Zusätzen mögliche Mängel an. Wenn der Staat das Glück der Bürger nicht befördere, stehe derselbe »auf schwachen Füßen.« (§ 265, Zusatz). Ebenso wie gegenüber den jeweiligen Ausprägungen des Staates gibt es auch für die bürgerliche Gesellschaft bei Hegel keine uneingeschränkte Rechtfertigung. Im Gegenteil hat Hegel – etliche Marxsche Theoreme vorwegnehmend735 – die Mängel der bürgerlichen Gesellschaft und die Notwendigkeit 2012, S. 63. Ausführlicher ist die Thematik behandelt in: Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München 2012. 733 Hegel: Enzyklopädie, 10, 312. Zit. nach Vieweg, a. a. O., S. 68. 734 Klaus Vieweg, a. a. O., S. 69. 735 Hiermit ist natürlich die gewichtige Frage aufgeworfen, inwieweit Marx Hegel zutreffend interpretiert hat. Zu den detaillierten Texten von Marx gehört die Schrift »Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, in der Marx sich explizit auf die §§ 261 – 313 der Rph bezieht. Zu den auffallenden Parallelen gehört Hegels Kritik an der »Anhäufung der Reichtümer« (Rph § 243) und Marx’ Akkumulationsthoerie. Aus der umfangreichen Literatur zum Bezug von Marx auf Hegel ist eine aktuelle Auseinandersetzung mit Hegels Begriff des »Pöbels« sehr aufschlussreich: Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, Konstanz 2011. Auf diese Schrift bin ich aufmerksam geworden durch die Rezension des Jenaer Politik- wissenschaftlers Andreas Braune (in: Portal für

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zur Entwicklung aufgezeigt (§§ 236, 241 – 248). Klaus Vieweg spricht von einem Respektieren der kapitalistischen Marktordnung im Hegelschen Staat »in bestimmten Grenzen« und fügt hinzu, dass der Staat die bürgerliche Gesellschaft »vor den ihr innewohnenden Selbstdestruktionskräften schützen« müsse. »Seine Aufgabe besteht darin, sie zu regulieren, sie vernünftig einzurichten, sie zu beaufsichtigen und ihr einen Ordnungsrahmen zu geben; er hat die Verpflichtung, die Sittlichkeit, die sich in ihre Extreme auseinandergelegt hat, wiederherzustellen und den Verstand so zur Vernunft zu bringen.«736 Angesichts der heutigen Zunahme destruktiver Kräfte und der Zuspitzung der bereits bei Hegel kritisierten Klassengegensätze, der Formen des Unrechts durch »das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise« (§ 244) ist die Kritik Hegels, der zu Recht als Interpret der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft gilt, insgesamt von aktueller Bedeutung. Zwar fällt es uns heute schwerer – sowohl im Rückblick auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts als auch im Blick auf die sich anbahnenden verheerenden Entwicklungen in der Zukunft – die von der Aufklärung geprägte Hoffnung Hegels auf eine »hineinscheinende Vernunft« uneingeschränkt zu teilen, aber eine gründliche Auseinandersetzung mit Hegels hoher Bewertung des Staates könnte Anstöße bieten, sich in Anbetracht der explodierenden Finanzmärkte auf die Notwendigkeit staatlicher Regulierungen zu besinnen. Dabei gilt es zu beachten, dass der Staat – auch im Verständnis Hegels – auf der Teilhabe wissender, gebildeter Bürger basiert.737 Die Möglichkeiten der Bildung Politikwissenschaft, http://www.pw-portal .de/index.php?). Darin schreibt er : »Von der Logik der Emergenz des Armuts- wie des Luxus-Pöbels über die Forderung des Pöbels auf das »Recht ohne Recht«(99) auf Subsistenz ohne Arbeit bis hin zur Bestimmung der PöbelGesinnung und der latenten Universalität des Pöbels finden sich eine ganze Reihe höchst spannender Einsichten. Gleichwohl steht und fällt die gesamte Argumentation Rudas mit einer entscheidenden Prämisse, nämlich der Feststellung, dass die »bürgerliche Gesellschaft(…) unausweichlich und notwendig Armut«(102) hervorbringt. Erstaunlicherweise wird diese Prämisse unhinterfragt von Marx und Hegel übernommen, ohne sie selbst auch einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Denn sollte sich der Kapitalismus als hinreichend lernfähig erweisen und das Versprechen auf Subsistenz aller durch Arbeit doch einmal einlösen, erwiese sich auch die Pöbel-Diskussion als hinfällig. Rudas Arbeit, die mittlerweile auch auf Englisch und bald auf Französisch vorliegt, ist dennoch ein ausgesprochen wichtiges Buch, das auf die Aktualität und fundamentale Bedeutung des Hegel’schen und Marx’schen Denkens verweist.« Vgl. zu dieser Thematik auch Walter Euchner, Egoismus und Gemeinwohl, die Kapitel »Freiheit, Eigentum und Herrschaft bei Hegel« sowie »Hegel und die Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft«, Frankfurt am Main, 1. Aufl. 1973, S. 132 – 199. 736 Klaus Vieweg, a. a. O., S. 69. 737 Ein überzeugendes Beispiel bietet Ingo Schulze mit seiner Stellungname zur deutschen und europäischen Politik in seiner Streitschrift »Unsere schönen neuen Kleider. Gegen eine marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte«, Berlin 2012. Der mehrfach ausgezeichnete Literat sieht sich nach 3jährigem Schweigen (so in einem Gespräch mit dem NDR Kultur am 27. 07. 2012) veranlasst, öffentlich Position zu beziehen. Er bestätigt

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scheinen bei kritischer Sicht auf heutige Verlusterfahrungen und Bedrohungspotentiale738 erheblich eingeschränkt, bilden aber unausweichlich die Voraussetzungen für das Erreichen von demokratischeren und sozial gerechteren Verhältnissen. Das Aufbegehren junger Menschen in vielen Ländern der Welt zeugt von einem Erfolg allgemeiner und politischer Bildung und lässt eine gewisse Hoffnung entstehen auf das Konkretisieren des Bildungsziels, das mündige und handlungsfähige Bürger hervorbringen möchte. Eine Bildung, die sich vornehmlich auf das Ökonomische ausrichtet, hat Nietzsche in seinen Basler Vorträgen »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten« einer pointierten Kritik unterzogen. »Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn… Die eigentliche große Bildungsaufgabe wäre demnach möglichst ›courante‹ Menschen zu bilden, in der Art dessen, was man an einer Münze ›courant‹ nennt. Je mehr es solche courante Menschen gäbe, um so glücklicher sei ein Volk: und gerade das müsse die Absicht der modernen Bildungsinstitute sein, Jeden so weit zu fördern, als es in seiner Natur liegt ›courant‹ zu werden… Jede Bildung ist hier verhasst, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht: man pflegt wohl solche andere Bildungstendenzen als ›höheren Egoismus‹, als ›unsittlichen Bildungsepikureismus‹ abzuthun. Nach der hier geltenden Sittlichkeit wird freilich etwas Umgekehrtes verlangt, nämlich eine rasche Bildung, um schnell ein geldverdienendes Wesen werden zu können. Dem Menschen wird nur so viel Kultur gestattet als im Interesse des Erwerbs ist …«739 In einem Aufsatz hat Wolfgang Bock diese Kritik in Beziehung zur Gegenwart gesetzt. Der Schüler des Philosophen in Nietzsches Vortrag beklage »mit einigem Recht die modernen Bildungstendenzen in einer Weise, die bis heute noch nicht abgearbeitet ist:«740 Eine weitere Kritik Nietzsches richtet sich gegen die »pädagogische Geistesarmut«, es fehle an wirklich erfinderischen Begabungen. Notwendigerweise müssten sich rechte damit in gewisser Weise die oben zitierte Auffassung von Richard Rorty, dass in der liberalen Gesellschaft die »Helden« der kraftvolle Dichter und der utopische Revolutionär sind. (Vgl. dazu die Darstellung in Kap IV, 2). Nach seinen Interessen gefragt, würde Ingo Schulze antworten: »Als Bürger dieses Landes bin ich auf Demokratie angewiesen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Demokratie bedeutet ein Gemeinwesen, das in der Lage ist seiner Verantwortung gerecht zu werden. (…) Es braucht Vertreter, die Willens und in der Lage sind, die marktkonforme Demokratie zu verhindern und demokratie- konforme Märkte zu schaffen. Es braucht Vertreter, für die Freiheit und soziale Gerechtigkeit untrennbar voneinander sind – nicht nur auf nationaler Ebene. Und es braucht eine Mehrheit, die das will und einfordert.« (a. a. O., S. 77.) 738 Vgl. dazu den erhellenden Aufsatz von Claudia Wirsing, »Wir sind ohne Bildung«. Eine Kritik der Bildungskritik., in : Klaus Vieweg, a. a. O., S. 43 – 53. 739 Nachgelassene Schriften: »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten«, Vortrag I, KSA 1, S. 667 f. 740 Wolfgang Bock in »Hegel und Nietzsche«, a. a. O., S. 108.

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Genialität und rechte Praxis im gleichen Individuum begegnen. An der pädagogischen Literatur zeige sich die allerhöchste Geistesarmut. Nietzsche, für den der Tanz ein Ausdruck für Befreiung und gelingendes Leben ist, spricht in diesem Zusammenhang von einem »täppischen Cirkeltanz«. Die Philosophie müsse hier nicht mit dem Erstaunen, sondern mit dem Erschrecken beginnen.741 Nietzsches Gedanken über die Freiheit enthalten über die Möglichkeiten der Bildung hinaus den hohen Anspruch einer gro ß en Losl ö sung . In »Menschlich-Allzumenschliches« zählt er dazu eine ganze Reihe von notwendigen Faktoren auf, um ein freier Geist werden zu können. Auffallend dabei ist, dass die Loslösung von bisherigen Fesseln angetrieben werde von dem Wunsch und Willen fortzugehen, »irgendwohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugier nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen.«742 Dem entspricht auch Nietzsches Aufforderung an die Philosophen: »Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!«743

Für Nietzsche ist der Wagnischarakter ein Wesensmerkmal des Menschseins. Die Frage, die er sich in Verbindung mit der gro ß en Losl ö sung stellt, »Kann man nicht alle Werte umdrehen?« wird zum Motto seines unvollendet gebliebenen Spätwerkes. Zu diesem überzogenen Ziel einer Umwertung aller Werte sah er sich herausgefordert durch die »d¦cadents«, die sich mit der Moral zu »Wertbestimmern« emporgelogen und eine Umwandlung aller Werte ins »Lebensfeindliche« bewirkt hätten.744 Entgegen den zugespitzten Auffassungen und Selbststilisierungen in »Ecce homo« hat sich Nietzsche in seiner wohl gemäßigsten Lebensphase in seiner zentralen Schrift »Die fröhliche Wissenschaft« noch differenzierter und selbstkritischer geäußert. Unter dem Stichwort »Unser neues ›Unendliches‹« schreibt er : »Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ›Sinn‹ eben zum ›Unsinn‹ wird, ob, andererseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist – das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der 741 Nietzsche, a. a. O., Vortrag II, S. 673 f. Im Vergleich zu Nietzsche hatte Hegel sicher die größere Erfahrung durch seine Lehrtätigkeiten als Privatlehrer, als Lehrer und Schulleiter an Gymnasien und als Hochschullehrer, so dass er über die von Nietzsche geforderte Verbindung von Genialität und Praxis verfügte. Deshalb bieten seine »Nürnberger und Heidelberger Schriften«, 1808 – 1817, Bd. 4 der Gesamtausgabe, Frankfurt am Main, 5. Auflage 2008, auch für die gegenwärtigen Diskussionen über Bildung vielfältige Anregungen. 742 »Menschliches, Allzumenschliches« I (Vorrede 3), KSA 2, S. 16. 743 »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 289, KSA 3, S. 530. 744 »Ecce homo«, a. a. O., S. 133 f.

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menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und n u r in ihnen zu sehen… Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unserer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben d ü rfe. Die Welt ist vielmehr noch einmal ›unendlich‹ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst … Ach, es sind zu viele ung ö ttliche Möglichkeiten der Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretationen, – unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst, die wir kennen‹«745 Trotz des Unabgeschlossenen von Nietzsches Werk und der teils heiklen Seiten seiner Auffassungen und Ausdrücke ist ihm durch das Ü b erschreiten diskursiver Grenzen eine Erweiterung des philosophischen Terrains gelungen.746 Zudem sind durch seine kritische Sicht auf vorherrschende Lehren und Meinungen neue Perspektiven entstanden für den Blick auf die eingangs konstatierte enzyklopädische Fülle von Phänomenen, die Nietzsche durch seine weitgehend aphoristische Darstellung entwickeln konnte. Dem hier gewählten Schwerpunkt gemäß ist auf die Kunst als Stimulans zu einer lebensbejahenden Auffassung am häufigsten Bezug genommen worden. Die Idee zu einem Vergleich der Philosophie Nietzsches mit der Malerei des Impressionismus in Kap IV,3 ist entsprungen aus dem zur Beachtung der historischen Dimension des Philosophierens maßgeblichen Diktum Hegels: »So ist auch die Philosophie Ihre Zeit in Gedanken erfaßt.«747 Angeregt hat mich darüber hinaus Nietzsches Aphorismus über »Erscheinung und Ding an sich«, in dem wie in anderen Zusammenhängen auch Nietzsches Wertschätzung von Hegel deutlich wird, dem er von den großen Deutschen am meisten Esprit zugesprochen hat und das Verdienst, den Begriff der Entwicklung in die Wissenschaft gebracht zu haben. In diesem Aphorismus bezeichnet er es als einen Irrtum der Philosophen – wie oben bereits zitiert –, sich »vor das Leben und die Erfahrung – vor Das, was sie die Welt der Erscheinung nennen – wie vor ein Gemälde hinzustellen, das ein für allemal entrollt ist und unveränderlich fest den selben Vorgang zeigt«, anstatt zu sehen, dass jenes Gemälde »allmählich geworden ist, ja noch völlig im Werden ist und

745 »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 374, KSA 3, S. 626 f. 746 Dies sollte insbesondere in Kap. IV in der Konfrontation mit ausgewählten philosophischen Positionen zum Ausdruck kommen. Auf die geringere Berücksichtigung der problematischen Seiten Nietzsches in der gesamten Darstellung wurde in der Einleitung hingewiesen. Einige Zuschreibungen einer angeblichen Nähe Nietzsches zu dem Gedankengut, das der Nationalsozialismus später vertreten hat, wurden durch Interpretationen kompetenter Nietzsche-Forscherinnen – wie Babette Babich u. a. – aufzuklären versucht. 747 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 12.

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desshalb nicht als feste Größe betrachtet werden soll.«748 Zu den bei Nietzsche eher seltenen, aber meines Erachtens nachdrücklichen und aussagekräftigen Passagen, die sich auf die Malerei beziehen, gehört der Aphorismus »Wir Anf ä nger !« aus der »Morgenröte«, in welchem er sein Verlangen bekundet, auch für »das Reich der menschlichen Seele« das Auge des Schauspielers und des Malers zu haben. Der Maler sehe auf einen vor ihm sich bewegenden Menschen »Vieles hinzu, um das Gegenwärtige zu vervollständigen und zur ganzen Wirkung zu bringen; er probirt im Geiste mehrere Beleuchtungen des selben Gegenstandes, er dividirt das Ganze der Wirkung durch einen Gegensatz, den er hinzustellt.«749 Was in Nietzsches Aphorismus nur andeutungsweise zur Sprache kommt, ist in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik in vielen Facetten entfaltet und an zahlreichen Beispielen veranschaulicht. In seinem dritten Abschnitt über »Die romantischen Künste« widmet er der Malerei das erste Kapitel750 mit vielfältigen Reflexionen.751 In seinen häufigen Vergleichen mit der Skulptur hebt er als Besonderheit der Malerei hervor, dass in ihr »das Göttliche an sich selber als geistiges lebendiges Subjekt« erscheine und sich ein Charakter zur »Tätigkeit und Handlung nach außen« entwickele und zur »Besonderung und Vertiefung des Inneren übergehe »(S.17). Bei der Malerei werde uns sogleich »einheimischer«. In der Betonung des »Einheimischen«, das in dem gesamten Werk Hegels zentrale Stellen einnimmt, liegt eine Besonderheit seines Philosophierens – von ihm u. a. als »Abarbeiten am Begriff« bezeichnet. Das Einheimische stellt eine hohe und beglückende Stufe dar, die das erstrebenswerte Moment der Rückkehr in das »An-und-für-sich-Sein« beinhaltet, aber auch die Gefahr der nur begrenzten Offenheit für das Fremde in sich birgt, wie es mit Bezug auf Waldenfels zu demonstrieren versucht wurde.752 748 749 750 751

»Menschliches, Allzumenschliches« I (16), KSA 2, S. 36. »Morgenröte«, Aph. 533, KSA 3, S. 305. G.W,F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke 15, S. 16 – 131. Reflexionen ist hier in dem allgemeinen Sinne von Nachdenken gemeint. In Hegels differenzierter Begrifflichkeit ist Reflexion ebenso wie Verstand ein negativer Terminus. Reflexion ist bloß ›verständiges Denken‹, während ›vernünftiges Denken‹ als ›Spekulation‹ bezeichnet wird. Diese Unterschiede sind von Rolf-Peter Horstmann in »Das Hegel-Bild« deutlich herausgearbeitet, zuletzt dargestellt in D.Edmundts, R.P. Horstmann, G.W.F. Hegel. Eine Einführung, Stuttgart 2002. 752 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass bei Hegel der Bezug auf den Anderen konstitutive Bedeutung hat für die »Bewegung des Anerkennens« (Phän 146). In der Vortragsreihe »Hegel in Transformation« in Jena (April – Juni 2012) hat Jens Bonnemann diesen Hegelschen Gedanken konfrontiert mit phänomenologischen und existentialistischen Positionen. In seinem Vortrag »Der unüberwindbare Skandal – Die Erfahrung des Anderen bei Hegel und Sartre« verdeutlicht er »den Blick auf den Anderen« als einen bei Merleau-Ponty und Sartre häufig verwendeten Aspekt. Der Überbetonung des Augenblicks bei Sartre, die sich als eine Reduktion auf die jeweilige Situation bewerten lässt, steht m. E. ein eher

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Was die häufig kritisierte Überbetonung des Geistigen bei Hegel betrifft, gilt es zu beachten, dass sowohl in seiner Erkenntnistheorie als auch in seinem Kunstverständnis der Sinnlichkeit exponierte Bedeutung beigemessen wird. Bei der Malerei nimmt er in besonderer Weise das sinnliche Material in den Blick (S. 26 – 34). Das Licht, das für Nietzsche als Metapher und als konkrete Erfahrung zur Lebenserleichterung eine große Rolle spielt, ist bei Hegel in den Gegensatz von Hell und Dunkel gerückt und wird von ihm als »reine Identität mit sich«, als die »erste Idealität« und das »erste Selbst in der Natur« bezeichnet. Die Natur beginne im Licht zum ersten Mal subjektiv zu werden, die »bloße Objektivität und Äußerlichkeit der schweren Materie« würden aufgehoben (S. 31).Im Zusammenhang seiner Gedanken über den Bezug der Malerei zur Architektur greift Hegel die aktuell gebliebene Frage nach der Freiheit der Kunst auf. Wenn die Malerei zur Ausgestaltung öffentlicher Gebäude beitrage, wozu Hegel etliche Beispiele anführt, dürfe jedoch »ihre Selbständigkeit als freie Kunst nicht verloren gehen« (S. 30). In deutlicher Nähe zu Nietzsche befindet sich die Betonung der Heiterkeit, die bei Hegel, der ansonsten eher die Tiefe und den Ernst hervorhebt, im Kapitel über die Malerei sehr oft als Kennzeichen angeführt wird. Bei seiner Darstellung der historischen Entwicklung der Malerei verweist er zur Charakterisierung der italienischen Malerei darauf, dass sie bei der künstlerischen Ausarbeitung des religiösen Kreises die »lebendige Wirklichkeit« moderner Menschen und die »natürliche Heiterkeit« hinzubringe (S. 112). Noch größere Begeisterung zeigt Hegel gegenüber der holländischen Malerei, die in Szenen aus dem Kriegs- und Soldatenleben, in Auftritten in Schänken, bei Hochzeiten und anderen bäurischen Gelagen, keine gemeinen Empfindungen und Leidenschaften zum Ausdruck brächten, sondern das Bäurische und Naturnahe in den unteren Ständen »froh«, »schalkhaft » und »komisch« darstellten. Der unschätzbare Wert dieser Gemälde liegt für Hegel in der »Heiterkeit« und der »Komik« (S. 130). Zur Malerei gehöre, was jedes Kunstwerk auszeichne, »Die Anschauung, was überhaupt am Menschen, am menschlichen Geist und Charakter, was der Mensch und was dieser Mensch ist.« (S. 130 f.) Den nach meinem Eindruck höchsten Wert misst Hegel der Kunst im Zusammenhang der Freiheit bei. Da der Geist »in der Endlichkeit des Daseins und dessen Beschränktheit und äußerlichen Notwendigkeit den unmittelbaren Anblick und Genuß seiner wahren Freiheit nicht wiederzufinden vermag«, ist er genötigt, »das Bedürfnis prozessuales Verhältnis der Personen bei Hegel gegenüber. Die Besonderheiten der Position von Merleau-Ponty sind klar hervorgehoben bei Lambert Wiesing. In einem aufschlussreichen Nachwort zu der von Ihm herausgegebenen Schrift von Maurice Merleau-Ponty »Das Primat der Wahrnehmung«, Frankfurt am Main 2003, stellt er das »komplementäre Ergänzungsverhältnis« zwischen Phänomenologie und Psychologie heraus und verdeutlicht die Unterschiede zwischen Merleau-Ponty und Sartre bezüglich des Verhältnisses von Imagination und Wahrnehmung.

Erinnerung und Freiheit

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dieser Freiheit … auf einem anderen, höheren Boden zu realisieren. Dieser Boden ist die Kunst und ihre Wirklichkeit das Ideal.«753 Ob man Hegel in seiner letzten Abstraktion folgen möchte, in der er trotz der Würdigung der Kunstwerke als wichtige Basis den Geist754 als Höchstes begreift, um in den »reinen Gedanken«, die allerdings einen weiten Weg voraussetzen, in das »Schweigen der Interessen«755 zu gelangen, oder angeregt durch Nietzsche, die Potentiale der Kunst zur Gestaltung des eigenen Lebens und als Stimulans zu Steigerungen in allen Lebensbereichen in Anspruch nehmen möchte, ist keine Entscheidung, die den jeweils anderen Weg auszuschließen nötigt. Hegels Weg in die »stillen Räume« geht das »Abarbeiten am Begriff« voraus, das das hochgesteckte Ziel einschließt, eine Einheit zu konstruieren, die die Entzweiung in Begriff und Wirklichkeit zu überwinden vermag.756 Nietzsches Ü b erschreiten diskursiver Grenzen757 bietet Anstöße zu neuen 753 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke 13, S. 202. 754 Klaus Vieweg hat in seinem Aufsatz in »Hegel und Nietzsche« auf einen »erstaunlichen Aphorismus« von Nietzsche hingewiesen, in dem seiner Meinung nach Nietzsche »das Geheimnis des Hegelschen Idealismus zu ahnen« scheine: »Wir kennen nur eine Realität – die des Gedankens. Wie, wenn das das Wesen der Dinge wäre?« (KSA 7, 471). Zit. a.a.o., S. 27. Eine der überraschenden Fragen Nietzsches, über die es sich lohnt nachzudenken, ohne jedoch vorschnell seine entgegengesetzten Äußerungen – als ein Wesensmerkmal seiner Philosophie – zu vernachlässigen. 755 Das Schweigen der Interessen, »welche das Leben der Völker und der Individuen bewegen«, ist für Hegel erst »in den stillen Räumen des zu sich selbst gekommenen und nur in sich seienden Denkens« erreicht. So in seiner Vorrede zur zweiten Ausgabe der Wissenschaft der Logik, Werke 5, S. 23. Und weiter : »Das System der Logik ist das Reich der Schatten, die Welt der einfachen Wesenheiten, von aller sinnlichen Konkretion befreit.« (S. 55.) Offenbar steht Hegel hier in der von Platon ausgehenden philosophischen Tradition, die letztlich das Sinnliche abstreifen möchte, um sich aus dem Gefängnis des Körpers zu befreien. Das Sinnliche, dem Hegel in der Ästhetik noch große Bedeutung beimisst, hat auf der höchsten Stufe, auf der Ebene des Absoluten Geistes keine Berechtigung mehr, da die Sphäre der Anschauung aufgehoben ist. Aber vermutlich bleibt bei dem großen Denker Hegel seiner häufig gebrauchten Formulierung gemäß »Bleibend im Verschwinden« das Sinnliche als Erinnerung aufbewahrt. Auf diese Formulierung geht ausführlicher Hans-Georg Gadamer ein in: Gesammelte Werke, Bd. 3 Neuere Philosophie: 1. Hegel, Husserl, Heidegger, Tübingen 1987. 756 Hier liegt für mich ein wesentlicher Grund dafür, dass Hegel aus politischer Perspektive aktuell geblieben ist, da seine Diagnose der Entzweiung nicht nur für seine Zeit, sondern auch für eine der großen Herausforderungen der Gegenwart Orientierung bietet. 757 Ergänzend zur Darstellung von Nietzsches »Überschreiten diskursiver Grenzen« in Kap. IV sei hier auf die Argumentation des renommierten Vertreters der Interkulturellen Philosophie Ram Adhar Mall verwiesen. Die folgenden Zitate sind entnommen aus einem Aufsatz über »Interkulturelle Philosophie und die Historiographie« in: Manfred Brocker/Heino Heinrich Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus – Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997. Für Ram Adhar Mall ist Interkult. Philosophie kein »Eklektizismus der verschiedenen philosophischen Traditionen«(73), der Begriff mache deutlich, »daß der absolute Anspruch auf die absolute Wahrheit seine eigene Absolutheit mit der der Wahrheit verwechselt; denn es gibt weder den absoluten Text noch die absolute Interpre-

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Weltdeutungen in einer global orientierten Welt und erfordert zugleich im Sinne des »unvollendeten Gemäldes«, neue Perspektiven zu entwickeln, die die aktuellen Herausforderungen stärker in den Blick nehmen. Die notwendigen Veränderungen kann die Philosophie nicht alleine bewirken, aber ihre Anstöße können neben Politik, Kunst und Literatur wegweisend sein.

Abb. 5: »Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« – »Die fröhliche Wissenschaft«, Aph. 289. In: KSA 3, S. 530.

tation.« (74) Auf Hegel bezogen hält er fest, dass er einer der wenigen Philosophen sei, »der sich systematisch mit den außereuropäischen Philosophien beschäftigt«, aber »die sog. orientalische Gestalt der Philosophie« vergleiche er »unter Verwendung seiner berühmten Metapher vom Lebensalter mit dem Kindesalter.« (80) In weniger differenzierten Kritiken an einer logozentrischen Position wird dieser vor allem auf Derrida zurückgehende Begriff meist nur auf Hegel bezogen, ist aber zutreffender bei Ram Adhar Mall und weiteren Vertretern der Interkulturellen Philosophie allgemein an die europäische Überbetonung des Logos zur Welterschließung gerichtet. In einer gut begründeten Auseinandersetzung mit dem Eurozentrismus hat Heinz Kimmerle nicht ausschließlich Kritik an der seiner Meinung nach dominierenden Rolle der europäischen Philosophie geübt, sondern »Erste Schritte innerhalb der westlichen Philosophie zur Wertschätzung anderer Kulturen« aufgezeigt. In: »Ethnozentrismus«, a. a. O. S. 92 ff. Karl Jaspers hat in seiner »Philosophischen Autobiographie«, München 1977, S.122 (zit. nach Ram Adhar Mall, a. a. O., S. 81) die Hoffnung auf eine positive Entwicklung interkultureller philosophischer Orientierung in die schöne Formulierung gebracht, die sowohl bei Hegel als auch bei Nietzsche verwendete Metaphern enthält: »Wir sind auf dem Wege vom Abendrot der europäischen Philosophie zur Morgenröte der Weltphilosophie.«

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Abbildungsnachweis Das Copyright für die Skizzen (Abb. 1 – 3) und die Fotos (Abb. 4 – 5) liegt beim Autor.